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»Nackte Gewalt« Santa Fe: Als der Galeriebesitzer Larry Olafson erschlagen wird, bekommen die ermittelnden Polizisten Darrel Two Moons und Steve Katz viel Arbeit: Olafson hatte viele Feinde, entsprechend groß ist der Kreis der Verdächtigen. Bei einer Bestandsaufnahme in der Galerie stellt Olafsons Assistentin fest, dass vier Gemälde fehlen. Die verschwundenen Bilder, von denen Fotos vorliegen, sind Porträts entblößter Kinder, die durchaus als pornographisch bezeichnet werden könnten. Als die Detectives auf einen alten Zeitungsartikel stoßen, beschleicht sie ein furchtbarer Verdacht. Aufs Höchste beunruhigt, fahren sie zum Haus der Malerin. Aber sie kommen zu spät -und ihnen bietet sich ein schreckliches Szenario ... »Denn dein ist die Macht« Boston: Die Polizistin Dorothy Breton wird zu einem Fall gerufen, der mehr als nur Routine für sie ist: Julius Van Beest, der bei einer Schießerei getötet wurde, war ein Klassenkamerad ihres ältesten Sohnes. Und er war der Basketballstar des Colleges, was ihm nicht nur Bewunderung, sondern auch Neid einbrachte. Genau hier scheint auch das Tatmotiv zu liegen. Mehrere Schüler können bezeugen, dass Pappy Delveccio von der gegnerischen Basketball-Mannschaft nach einem Streit auf Julius geschossen hat. Doch die Obduktion ergibt, dass das Opfer nicht an einer Kugel gestorben ist. Und Dorothy findet heraus, dass Julius ein tragisches Geheimnis hatte ... Autoren Sowohl Faye Kellerman als auch ihr Mann Jonathan gehören zu den bekanntesten und erfolgreichsten Kriminalautoren Amerikas. Mit »Nackte Gewalt/Denn dein ist die Macht«, dem ersten gemeinsamen Buch der Autoren, beginnt die Reihe »Doppelmord«, in der Faye und Jonathan weitere gemeinsame Titel veröffentlichen werden. Eine Liste aller lieferbaren Titel der Autoren finden Sie am Ende des Bandes.
Faye und Jonathan Kellerman
Nackte Gewalt Denn dein ist die Macht Zwei Romane in einem Band
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Double Homicide. Boston: In the Land of Giants / Santa Fe: Still Life« Nackte Gewalt Für unsere Kinder Jesse und Gabriella Kellerman Jonathan und Rachel Kessler liana Kellerman Aliza Kellerman Besonderer Dank an Michael McGarrity, Santa Fe, New Mexico, Polizeichef Beverly Lennen und Detective Sergeant Jerry Trujillo 1 Darrel Two Moons und Steve Katz nahmen gerade ein spätes Abendessen im Cafe Karma ein, als der Anruf kam. Das Restaurant hatte Katz ausgesucht. Mal wieder. Two Moons beobachtete, wie sein Partner äußerst widerwillig das Stück Eden-Yield-Biolamm samt Gemüse-Burrito beiseite schob und in der Jackentasche nach seinem piepsenden Pager tastete. Es war kurz nach halb elf. Vermutlich wieder ein Fall von häuslicher Gewalt im Süden der Stadt. Fünf Wochen hintereinander machten Darrel und Katz jetzt schon die Schicht von vier Uhr nachmittags bis zwei Uhr morgens. Die Schicht für ganz besondere Ermittlungen. Sie waren wegen sich bekriegender Ehepaare gerufen worden, Übergriffen jugendlicher Gangs und diverser durch Alkohol bedingter Probleme. Und alles spielte sich unterhalb des St. Michael's Drive ab, der Santa Fe so teilte, wie die Mason-Dixon-Linie die Nord-von den Südstaaten trennte, und mehr war als nur ein willkürlicher Schnörkel auf dem Stadtplan. In drei Wochen war Weihnachten. Die ersten Dezembertage hatten einen milden Winter verheißen, mit Tagestemperaturen um sieben Grad. Doch vor vier Tagen war es deutlich kälter geworden, nachts bis minus zehn Grad. Der Schnee, der in diesem extrem trockenen Jahr bisher gefallen war, blieb weiß und locker liegen. Die Luft war schneidend kalt. Jetzt konnte man sich bei dieser Schicht nur noch Frostbeulen holen. 3 Zumindest heizten die schrägen Typen, die das Cafe Kar-ma führten, den Laden gut. Es war richtig heiß hier drin. Und Darrel, der ein großer und kräftiger Mann war und dennoch in seinem schwarzen Wollhemd samt schwarzer Krawatte, dem schwarzen Sportjackett aus Kord und der schweren schwarzen Gabardinehose, die in Deutschland geschneidert worden war und die er von seinem Vater geerbt hatte, fast ertrank, schwitzte fürchterlich. Seinen schwarzen Steppanorak hatte er über einen scheußlichen handbemalten Stuhl gelegt, doch das Sportjackett behielt er an, damit man den 45er Dienstrevolver in dem rindsledernen Schulterholster nicht sah. Seine unerlaubte zusätzliche Waffe, eine vernickelte Pistole Kaliber 22, ließ sich mühelos verbergen. Sie schmiegte sich in seinem linken spezialgefertigten Tony-Lama-Cowboystiefel aus Elefantenleder behaglich an seine Wade.
Katz hatte die Sachen an, die er jeden Abend trug, seit das Wetter umgeschlagen war: ein weiches, braun-weiß kariertes Flanellhemd über einem weißen Rollkragenpullover, ausgebleichte Blue Jeans, hohe schwarz-weiße Turnschuhe. Über seinem Stuhl lag dieser bescheuerte graue Wollmantel - typisch New York. Wie konnte er in diesen dünnen Keds aus Segeltuch nur warme Füße haben? Two Moons nippte an seinem Kaffee und aß weiter, bis es Katz schließlich gelang, seinen mittlerweile verstummten Pager aus der Tasche zu befreien. Gegenüber an der Kuchentheke stand die vielfach gepiercte Grufti-Kellnerin, die sie bedient hatte - oder es zumindest versucht hatte -, und starrte in die Luft. Sie hatte ihre Bestellung mit leerem Blick aufgenommen, war dann zu den Kaffeemaschinen gegangen, wo sie, wie die Detectives beobachteten, geschlagene sechs Minuten brauchte, um die Milch für den grünen Chai Latte von Katz aufzuschäumen. Sechseinhalb genau gesagt - die Detectives hatten nämlich die Zeit gestoppt. 4 Sie hatte unentwegt in den Schaum gestarrt, als ob dieser ein großes kosmisches Geheimnis enthielte. Darrel und Katz hatten wissende Blicke getauscht, dann hatte Two Moons eine leise Bemerkung darüber gemacht, was sich im Raum hinter der Theke tatsächlich abspielte. Katz hatte so heftig losgeprustet, dass sein dicker roter Schnurrbart auf- und abhüpfte. Diesen Monat kümmerte sich ein anderes Team um Drogen. Katz betrachtete die Nummer auf dem Pager und sagte: »Einsatzzentrale«. Nach erneutem kurzen Wühlen in einer anderen Tasche zog er ein kleines blaues Handy hervor. Wieder einmal konnten sie nicht zu Ende essen. Two Moons nahm noch rasch ein paar Bissen, während Katz telefonierte. Er hatte das halbwegs Normalste bestellt, was man in dieser Klapsmühle kriegen konnte: einen Pilz-Burger mit nach rauchigem Chili-Aroma schmeckenden hausgemachten Pommes und Tomatenscheiben. Er hatte ausdrücklich gesagt, dass er keine Sprossenkeimlinge wollte, aber sie hatten trotzdem ein Gestrüpp davon auf seinen Teller gelegt. Darrel hasste das Zeug. Es erinnerte ihn an Viehfutter oder an Haare, die man aus einem Kamm gepult hatte. Schon beim bloßen Anblick hätte er am liebsten gespuckt. Er nahm es vom Teller und packte es in eine Serviette, worauf Katz sich sofort darüber hermachte. Wenn es nach Katz ginge, wären sie jeden Abend hier. Darrel musste zwar zugeben, dass das Essen konstant gut war, aber die Atmosphäre war eine andere Sache. Mit seinem gewundenen Zugangsweg, der mit Kieselsteinen und Spiegelglasscherben bestreut war, den Antikriegspamphleten, die in dem winzigen Vorraum an die knallbunten Wände getackert waren, und den wahllos mit Möbeln aus dem Wohltätigkeitsladen voll gestellten, zellenartigen Räumen, in denen es nach Weihrauch roch, war das Karma genau das, was sein Vater, der
Sergeant bei den Marines gewesen war, als »linke gequirlte Hippiescheiße« bezeichnet hätte. Sein Vater hatte sich irgendwann völlig verändert, doch Darrel war seine militärisch geprägte Erziehung nie losgeworden. Ihm war ein Hamburger mit normalen Pommes in einer politisch neutralen Umgebung immer noch am liebsten. Katz hatte endlich jemanden bei der Einsatzzentrale erreicht. Das Büro war aus dem Santa Fe Police Department in ein Gebäude auf dem Land am Highway 14 ausgelagert worden und nun für Polizei und Feuerwehr in der Stadt und im ganzen Bezirk zuständig. Die Stimmen der meisten Mitarbeiter waren ihnen nicht mehr vertraut. Doch diesmal war es anders. Katz lächelte und sagte: »Hey, Loretta, was gibt's?« Dann wurde sein Gesicht ernst, und der dicke, an Kupferdraht erinnernde Schnurrbart senkte sich. »Oh ... Ja, natürlich ... Wo? ... Soll das ein Witz sein?« Er trennte die Verbindung. »Rate mal, Big D?« Darrel kaute heftig auf seinem Burger herum und schluckte. »Ein Serienkiller.« »Halb daneben«, sagte Katz. »Nur ein einfacher Killer. Brutaler Mord auf der Canyon.« Die Canyon Road war eine Gegend mit extrem hohen Mieten ein Stück östlich der Plaza im historischen Bezirk, eine schmale, begrünte, ruhige, schöne Straße mit eingezäunten Wohnanlagen, Galerien und teuren Cafes. Das Zentrum der Kunstszene von Santa Fe. Darrels Pulsschlag beschleunigte sich von vierzig auf fünfzig. »Ein Privathaus, oder? Kann ja um diese Uhrzeit keine Galerie sein.« »Oh doch, eine Galerie, Amigo«, erwiderte Katz, während er aufstand und in seinen bescheuerten grauen Mantel schlüpfte. »Und was für eine Galerie. Der Tote ist Larry Olafson.« 2 Two Moons fuhr. Er hielt das Lenkrad fest mit seinen in Wildlederhandschuhen steckenden Händen umklammert, während der Wagen im Leerlauf den Paseo de Peralta hinunterrollte, die Hauptstraße, die hufeisenförmig um das Stadtzentrum lief. Schnee lag dick und schwer auf den Ästen der Pinien und Wacholdersträucher, doch die Straße war frei. In drei Wochen war Weihnachten, und überall in der Stadt schmückten farolitos mit ihrem gedämpften sepiafarbenen Kerzenlicht die Dächer der Häuser. Wie jedes Jahr waren die Bäume auf der Plaza mit bunten Lichterketten behängt. Noch reichlich Zeit, überlegte Darrel, um in die Geschäfte zu laufen und Geschenke für Kristin und die Mädchen zu kaufen - falls er jemals freibekäme. Und jetzt das. Und ausgerechnet der.
Lawrence Leonard Olafson war vor zehn Jahren über Santa Fe hereingebrochen wie eines dieser plötzlichen Sommergewitter, die am helllichten Tag den Himmel erzittern lassen und die Wüste elektrisieren. Anders als so ein Wolkenbruch im Sommer war Olafson geblieben. Als Sohn eines Lehrers und einer Buchhalterin hatte er mit einem Stipendium in Princeton studiert, einen BA in Finanzwissenschaft mit Nebenfach Kunstgeschichte gemacht und alle erstaunt, als er nicht an die Wall Street ging. Stattdessen nahm er einen untergeordneten Job bei Sotheby's an, wo er als Laufjunge für einen arroganten Spezialisten für amerikanische Malerei tätig war. Dort lernte er, was sich verkaufte und was nicht, dass Kunstsammeln für manche eine Sucht sein konnte, für andere ein jämmerlicher Versuch, sozial auf 6 zusteigen. Er kroch Leuten in den Hintern, holte Kaffee, suchte sich die richtige Sorte von Freunden und stieg rasch auf. Nach drei Jahren war er Abteilungsleiter. Ein Jahr später handelte er einen besseren Vertrag bei Christie's aus und nahm eine Menge reicher Kunden mit. Nach weiteren achtzehn Monaten war er Leiter einer schicken Galerie auf der Upper Madison Avenue, die sowohl europäische als auch amerikanische Kunst verkaufte. Und verschaffte sich noch mehr Beziehungen. Mit dreißig besaß er eine eigene Galerie im Füller Building auf der Siebenundfünfzigsten Straße West, ein gedämpft beleuchtetes Gewölbe mit hohen Decken, wo er Bilder von Sargent, Hassam, Frieseke und Heade sowie drittklassige flämische Blumengemälde an Leute mit altem Geld verkaufte und an solche mit etwas neuerem Geld, die so taten, als gehörten sie zu den Leuten mit altem Geld. Innerhalb von drei Jahren eröffnete er eine weitere Galerie, Olafson South, auf der Einundzwanzigsten Straße in Chelsea. Sie wurde mit einer Soiree eingeweiht, über die Voice berichtete. Bei Musik von Lou Reed übertrumpften sich großkotzige Europäer mit Tränensäcken unter den Augen, Parvenüs mit teurer Privatschulbildung und schnell reich gewordene Besitzer von Internetfirmen mit ihren Angeboten für das, was in der modernen Malerei gerade angesagt war. Mit diesen beiden Galerien machte Olafson ein Vermögen, heiratete eine Konzernanwältin, bekam zwei Kinder und kaufte an der Ecke Neunundsiebzigste Straße und Fifth Avenue eine Zehnzimmerwohnung mit Blick auf den Central Park. Und verhalf sich zu noch mehr Beziehungen. Trotz einiger Fehlschläge. Wie zum Beispiel mit dem Trio von Yosemite-Gemälden von Albert Bierstadt, das an den Erben einer Münchner Bank verkauft worden war und vermutlich von einem weni 6 ger bekannten Maler stammte - Experten tippten auf Hermann Herzog. Oder mit der unsignierten Gartenszene von Richard Miller, die bei einer Nachlassversteigerung in Indianapolis aufgetan und in einer Nacht-und-
Nebel-Aktion an den Erben eines Pharmakonzerns in Chicago weiterverkauft worden war. Dieser präsentierte das Bild voller Stolz in seinem Penthouse auf der Michigan Avenue, bis sich herausstellte, dass die Herkunft des Gemäldes äußerst zweifelhaft war. Es hatte wohl im Laufe der Jahre noch einige weitere Missgeschicke gegeben, doch diese Zwischenfälle wurden vor den Medien geheim gehalten, da die Käufer nicht wie Idioten dastehen wollten. Außerdem war Olafson immer schnell bereit gewesen, die Bilder zurückzunehmen und den vollen Kaufpreis zu erstatten, hatte sich stets aufrichtig entschuldigt und beteuert, dass es sich um einen Irrtum gehandelt hätte. Alles lief glänzend, bis Olafson in die mittleren Jahre kam, ein Alter, wo jeder, der in New York wer war, irgendeine größere, lebensverbessernde, bewusstseinserweiternde spirituelle Veränderung durchmachte. Mit achtundvierzig war Olafson geschieden, hatte keine Beziehung zu seinen Kindern, war rastlos und bereit, neue Horizonte zu erobern. Etwas Ruhigeres. Und auch wenn er niemals seine Galerien in New York aufgeben würde, begann er sich nach etwas zu sehnen, das sich deutlich vom New Yorker Tempo unterschied. Die Hamptons waren auch nicht das Richtige. Wie jeder, der sich ernsthaft mit Kunst beschäftigt, hatte Olafson auch einige Zeit in Santa Fe verbracht, herumgestöbert, Dinge gekauft und bei Gerónimo gespeist. Ein paar unbedeutendere Bilder von Georgia O'Keeffe und einen Henning erstanden, die er alle innerhalb weniger Tage weiterverkaufte. Er genoss das Essen, die Atmosphäre und den Son 7 nenschein, beklagte jedoch, dass es kein wirklich gutes Hotel gäbe. Es wäre schön, etwas Eigenes zu besitzen. Die günstigen Immobilienpreise entschieden die Sache. Für ein Drittel von dem, was er vor zehn Jahren für seine Eigentumswohnung bezahlt hatte, konnte er hier ein ganzes Anwesen kriegen. Er kaufte sich einen Klotz aus Adobeziegeln mit sechshundert Quadratmetern Wohnfläche auf zwei Hektar pflegeleichtem Land in Los Caminitos nördlich von Tesuque. Von der Dachterrasse des Hauses konnte man bis nach Colorado sehen. Alle dreizehn Zimmer richtete er raffiniert ein und begann, die Strukturputzwände mit Kunst zu behängen: einige Taos-Meister und zwei Zeichnungen von O'Keeffe, die er in Connecticut gekauft hatte, damit die Leute was zu reden hatten. Doch zum größten Teil ging er in eine neue Richtung, nämlich Malerei und Skulpturen junger Künstler aus dem Südwesten, die ihre Seele dafür verkaufen würden, dass eine Galerie ihre Werke ausstellte. Durch strategisch geschickte Spenden an die richtigen Wöhltätigkeitseinrichtungen und durch rauschende Feste auf seinem Anwesen festigte er seine soziale Stellung. Innerhalb eines Jahres war er in. Seine äußere Erscheinung trug das ihre dazu bei. Schon in der High School hatte Olafson erkannt, dass seine Größe und seine sonore Stimme
von Gott gegebene Vorzüge waren, die es auszunutzen galt. Er war fast eins neunzig groß, schlank mit breiten Schultern und hatte immer als gut aussehend gegolten. Selbst in jüngster Zeit, wo von seinem Haar nur noch ein weißer Pony und ein ebenfalls weißer Pferdeschwanz übrig geblieben waren, machte er noch eine gute Figur. Ein kurzer, schneeweißer Bart gab ihm etwas Vertrauenswürdiges. Bei Opernpremieren pflegte er zwischen den Reichen zu flanieren, bekleidet mit einem schwar 8 zen Anzug, dazu ein weißes Seidenhemd ohne Kragen, das am Hals mit einem Zierknopf aus Türkis geschlossen war, handgefertigte Clogs aus Straußenleder, die er ohne Strümpfe trug, und eine junge Brünette am Arm, obwohl Letztere Gerüchten zufolge nur Show war. Für ernsthaftere Kontakte bevorzugte der Kunsthändler, wie man munkelte, die zierlichen jungen Männer, die er als »Gärtner« beschäftigte. Santa Fe war immer eine liberale Stadt in einem konservativen Staat gewesen, und Olafson passte perfekt dorthin. Er spendete reichlich Geld für diverse Anliegen, manche populär, andere weniger. In jüngster Zeit hatten die weniger populären überwogen. Olafson war in die Schlagzeilen geraten, nachdem er zum Sprecher einer Umweltorganisation namens Forest Haven geworden war und eine Reihe von Prozessen gegen kleine Rancher angestrengt hatte, die ihre Herden auf staatlichem Grund und Boden weiden ließen. Sein Engagement in dieser Sache hatte für viel Bitterkeit gesorgt. In den Zeitungen erschienen herzzerreißende Artikel darüber, wie sehr sich die Rancherfamilien abrackern müssten, um über die Runden zu kommen. Als man ihn um einen Kommentar dazu bat, hatte Olafson einen arroganten und unsympathischen Eindruck gemacht. Steve Katz kam auf diese Geschichte zu sprechen, während er und Two Moons zum Tatort fuhren. »Ja, ich erinnere mich«, sagte Darrel. »An deren Stelle war ich auch stinksauer.« Katz lachte. »Keinen Sinn für die Heiligkeit des Landes, Häuptling?« Darrel deutete auf die Windschutzscheibe. »Das Land sieht für mich ganz okay aus, Rabbi. Meine Sympathie liegt bei den einfachen Leuten, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten.« 8 »Meinst du, Olafson hat nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen?«, fragte Katz. »Ist doch egal, was du oder ich darüber denken.« Two Moons schnaubte verächtlich. »Unser Job ist es herauszufinden, wer ihm den Schädel eingeschlagen hat.« Olafson Southwest befand sich auf dem höchsten Punkt eines ansteigenden Grundstücks am oberen Ende der Canyon Road, weit entfernt vom Gourmet-Aroma, das Geronimo verströmte, und von dem gebührenpflichtigen Parkplatz, den die Stadt betrieb, um an den
Geländewagen der Touristen zu verdienen. Das Grundstück war weitläufig und besaß einen alten Baumbestand. Es gab kiesbedeckte Wege, einen Springbrunnen und ein handgeschmiedetes Tor aus Kupfer. Im hinteren Teil stand ein Gästehaus aus Adobeziegeln, doch das Gebäude war dunkel und abgeschlossen, und niemand konnte Katz und Two Moons sagen, ob dort jemand wohnte. Die Galerie bestand aus vier Flügeln mit weiß getünchten Wänden. Dazu kam ein großer rückwärtiger Raum, wo in etlichen schmalen Regalen noch mehr Gemälde und Zeichnungen lagerten. Es mussten Hunderte von Kunstwerken sein. Die Detectives gingen langsam wieder zurück. Dieser ganze helle Putz, die gebleichten Böden und die Halogenlampen zwischen den handbehauenen Deckenbalken, den so genannten vigas, das alles schuf ein seltsames Pseudotageslicht. Katz spürte, wie sich seine Pupillen so stark zusammenzogen, dass ihm die Augen wehtaten. Es hatte keinen Sinn, hier herumzustöbern. Die Hauptattraktion befand sich in Zimmer Nummer zwei. Die Leiche lag so, wie sie gestürzt war, auf dem gebleichten Kiefernboden. Ein großes, scheußliches Stillleben. Larry Olafson lag auf dem Bauch, den rechten Arm unter 9 dem Körper angewinkelt, den linken mit gespreizten Fingern von sich gestreckt. An der Hand waren zwei Ringe, ein Diamant und ein Saphir, und das Handgelenk zierte eine sehr elegante goldene Uhr von Breguet. Olafson trug ein hellbeiges Wollhemd, eine Kalbslederweste, die die Farbe von Erdnussbutter hatte, und eine schwarze Hose. Alle drei Kleidungsstücke waren voller Blut, und auf dem Boden hatte sich eine Blutlache gebildet. Olafsons Füße steckten in halbhohen Wildlederstiefeln. Wenige Schritte entfernt stand eine Skulptur, eine riesige Chromschraube auf einem schwarzen Holzsockel. Katz sah sich die Aufschrift an: Beharrlichkeit. Von einem Künstler namens Miles D'Angelo. Es gab noch zwei weitere Arbeiten von demselben Typ: einen massiven Schraubenzieher und einen Bolzen von der Größe eines LkwReifens. Dahinter ein leerer Sockel: Gewalt. Katz' Exfrau hatte sich für eine Bildhauerin gehalten, doch er hatte schon lange nicht mehr mit Valerie oder einem ihrer neuen Freunde gesprochen, und von D'Angelo hatte er noch nie gehört. Er und Darrel traten nahe an die Leiche heran und betrachteten das, was einst der Hinterkopf von Larry Olafson gewesen war. Gebräunte, kahle Kopfhaut war zu Brei geworden. Der weiße Pony und der Pferdeschwanz waren blutverkrustet und mit Gehirnmasse beschmiert. Das hatte die Haare völlig steif werden lassen und dunkelrot, wie mit blutigem Henna gefärbt. Ein feiner Sprühregen winziger Blutströpfchen war gegen die Wand rechts von Olafson gespritzt. Er musste heftig aufgeschlagen sein. Ein kupfriger Geruch lag in der Luft. Der Schmuck, den Olafson trug, sprach gegen einen Raubüberfall.
Doch Katz schalt sich sogleich, dass das sehr einseitig gedacht war. Olafson handelte schließlich mit richtig teurer Kunst. Es gab ja alle möglichen Arten von Raub. Der leere Sockel ... Dr. Ruiz, der Gerichtsmediziner, hatte Olafson ein Thermometer in die Leber gestoßen. Er sah die Detectives an, dann steckte er das Thermometer in eine Hülle und begutachtete die Wunde. »Maximal zwei bis drei Stunden.« Two Moons wandte sich der uniformierten Beamtin zu, die sie am Tatort empfangen hatte. Sie hieß Debbie Santana und machte diesen Job noch kein Jahr. Zuvor hatte sie als Büroangestellte in Los Alamos gearbeitet. Das hier war ihre erste Leiche, sie wirkte aber ganz okay. Vielleicht war der Umgang mit nuklearem Kram beängstigender. Darrel fragte sie, wer den Fall gemeldet hätte. »Olafsons Hausboy Sammy Reed«, antwortete Debbie. »Er kam vor einer halben Stunde hierher, um seinen Boss abzuholen. Anscheinend hatte Olafson länger gearbeitet, weil er einen Termin mit einem Kunden hatte. Er und der Hausboy wollten um zehn zusammen essen gehen, drüben in der Osteria.« »Hat der Kunde einen Namen?« Debbie schüttelte den Kopf. »Reed sagt, er weiß es nicht. Er ist ziemlich hysterisch, kann überhaupt nicht aufhören zu heulen. Er sagt, die Tür sei verschlossen gewesen, er habe sie mit seinem Schlüssel geöffnet und Olafsons Namen gerufen. Als niemand antwortete, ist er hineingegangen und hat ihn gefunden. Keine Anzeichen, dass jemand gewaltsam eingedrungen ist. Deshalb dürfte seine Geschichte wohl stimmen.« »Wo ist Reed jetzt?« »Im Streifenwagen. Randolph Loring passt auf ihn auf.« Katz sagte: »Es muss also zwischen acht und zehn passiert sein.« 10 »So ungefähr«, erwiderte Dr. Ruiz. »Rechnen Sie vorne noch eine halbe Stunde dazu, also halb acht.« Two Moons verließ den Raum und kehrte einen Augenblick später zurück. »An der Tür steht, dass die Galerie bis sechs geöffnet hat. Olafson muss diesen Kunden für einen ernsthaften Interessenten gehalten haben, wenn er wegen ihm zwei Stunden länger geblieben ist.« »Oder man hat ihn reingelegt«, sagte Katz. »Wie dem auch sei, wenn er geglaubt hat, dass es um viel Geld geht, war er notfalls die ganze Nacht geblieben.« Darrel biss sich auf die Unterlippe. »Der Typ war versessen auf Geld.« Eine so feindselige Bemerkung wirkte angesichts der Situation ziemlich deplatziert. Santana und Ruiz starrten Two Moons an. Dieser ignorierte ihre Blicke und begann, die Bilder an der Wand zu begutachten. Es handelte sich um eine Serie abstrakter Gemälde in Graublau. »Was hältst du davon, Steve?«
»Die sind okay«, sagte Katz. Er kniete immer noch neben der Leiche. Ihn hatte der Ausbruch von Feindseligkeit zwar schon ein wenig überrascht, aber nicht schockiert. Darrel war bereits seit ein paar Tagen ziemlich mürrisch. Doch das würde vergehen. Das tat es immer. Er fragte Dr. Ruiz, was die Blutflecken aussagten. »Ich bin kein Experte für so etwas«, erwiderte Ruiz, »aber da in keinem der anderen Räume Blutspuren sind, können wir wohl davon ausgehen, dass er hier erschlagen wurde. Ein gewaltiger Hieb direkt auf das Occiput - also auf den Hinterkopf. Sieht nach einem einzigen Schlag aus. Ich kann keine Anzeichen für einen Kampf entdecken. Er bekam den Schlag verpasst und krachte auf den Boden.« »Er war sehr groß«, sagte Katz. »Wurde ihm der Schlag von oben oder von unten verpasst?« 11 »Eher aus gleicher Höhe.« »Also muss der Täter ebenfalls groß gewesen sein.« »Das scheint plausibel«, erwiderte Ruiz, »aber ich kann Ihnen mehr sagen, wenn ich ihn aufgeschnitten habe.« »Irgendeine Vermutung bezüglich der Waffe?«, fragte Katz. Ruiz dachte einen Augenblick nach. »Im Moment kann ich nur sagen, dass es etwas Großes und Schweres mit abgerundeten Ecken gewesen sein muss.« Er kniete sich neben Katz und deutete auf die breiige Stelle. »Sehen Sie mal hier. Eine Furche, aber die ist extrem tief. Durch den Aufprall wurde die Schädeldecke zertrümmert. Es sind allerdings keine Splitter zu sehen, wie das bei einem scharfkantigen Gegenstand der Fall wäre. Auch keine Schnittspuren. Was auch immer für ein Objekt benutzt wurde, es hat einen relativ großflächigen Schaden angerichtet und die Splitter ins Gehirn gedrückt. Muss außerdem ganz schön schwer gewesen sein.« »Wie ein Brecheisen?« »Größer. Die Wucht muss ungeheuer gewesen sein.« »Sehr viel Wut«, sagte Darrel. Ruiz stand auf und streckte sich, berührte sein Knie und zuckte zusammen. »Schmerzen, Doc?« »Altwerden ist beschissen.« Katz lächelte und deutete mit dem Kopf auf den leeren Sockel. »Der ist mir auch aufgefallen«, sagte Ruiz. »Könnte schon sein. Wenn dieses Ding genauso schwer ist wie die anderen.« Darrel sagte: »Etwas so Schweres wegzutragen war ja echt heftig. Außerdem gibt es keine Blutspur.« »Wenn das Ding auch verchromt ist«, erwiderte Ruiz, »wäre wohl eh kaum Blut daran haften geblieben, sondern 11 gleich nach dem Schlag wieder abgetropft. Oder unser Mörder hat es abgewischt und mitgenommen.« »Als Souvenir?«, sagte Darrel. Ruiz lächelte. »Vielleicht ist er ein Kunstliebhaber.«
Katz lächelte zurück. »Oder er stand gewaltig unter Strom, voll gepumpt mit Adrenalin, und hat es einfach so mitgenommen und irgendwo in der Nähe weggeworfen.« Darrel sah auf seine Uhr. »Dann wird's Zeit zu suchen.« »Es ist ziemlich dunkel draußen«, sagte Katz, »und ich hab beim Gästehaus keinerlei Außenbeleuchtung gesehen.« »Kein Problem«, konterte Two Moons. »Wir riegeln einfach das gesamte Grundstück ab und besorgen uns ein paar Nachtscheinwerfer. Außerdem sperren wir den oberen Teil der Canyon Road.« Ruiz grinste. »Wenn Sie den oberen Teil der Canyon Road sperren, sollten Sie am besten früh fertig sein.« Was für ein klugscheißerisches Lächeln, dachte Katz, aber das konnte auch Ruiz' Art sein, mit Leichen umzugehen. David Ruiz, ein kleiner, rundlicher, hochintelligenter Mann hispanischer Abstammung, Sohn eines Stuckateurs, hatte mit einem Stipendium an der University of New Mexico studiert, an der Johns Hopkins University seinen Doktor gemacht und anschließend am New York Hospital als Assistenzarzt im Bereich forensische Pathologie gearbeitet. Außerdem war er zwei Jahre unter Michael Baden am gerichtsmedizinischen Institut in New York tätig gewesen. Er und Katz tauschten gerne Geschichten aus New York aus. Der Job in Santa Fe hatte Ruiz in seinen Heimatstaat zurückgeführt. Er wohnte außerhalb der Stadtgrenze auf einer kleinen Ranch in der Nähe von Galisteo, mit Pferden, Kühen, Hunden, Katzen und zwei Lamas. Er hatte eine Frau, die Tiere liebte, und einen ganzen Haufen Kinder. »Spätestens um neun«, fuhr Ruiz fort. »Dann kommen 12 nämlich die ersten Touristen. Wenn Sie dann immer noch die Canyon Road gesperrt haben, werden Sie zum öffentlichen Ärgernis.« »Und ich habe immer geglaubt, ich würde der Öffentlichkeit dienen«, entgegnete Two Moons mit lakonischer Stimme. »Stellen Sie sich das mal vor«, sagte Ruiz. »Noch vor wenigen Stunden war Olafson ein wichtiger Mann. Jetzt ist er auch nur noch ein Ärgernis.« Die Detectives ließen die Techniker die gesamte Galerie und Olafsons Büro nach Fingerabdrücken absuchen. Sofort wurden ungeheure Massen von latenten Fingerabdrücken sichtbar, was beinahe genauso schlimm war, als hätte man überhaupt nichts gefunden. Nachdem alles fotografiert war, streiften sie sich Handschuhe über und untersuchten den Schreibtisch des Kunsthändlers. In der obersten Schublade fand Katz Olafsons Palm Pilot. Jede Menge Namen, von denen er einige wenige kannte. Einschließlich Valeries. Das überraschte ihn. Soweit er wusste, hatte sie ihren Traum, Künstlerin zu werden, begraben und war jetzt halbwegs damit zufrieden, in der Sarah Levy Gallery drüben an der Plaza hochpreisige Pueblo-Töpferwaren zu verkaufen. »Diese Leute haben wirklich Talent, Steve«, hatte sie ihm erklärt, als er mal vorbeigekommen war. »Zumindest bin ich schlau genug, den Unterschied zu erkennen.«
Katz hatte den Eindruck gehabt, dass ihre Augenwinkel ein wenig feucht waren. Aber vielleicht hatte er sich ja getäuscht. Bei Valerie hatte er sich ziemlich häufig getäuscht. Er prüfte seine Handschuhe auf winzige Löcher oder Falten und scrollte weitere Namen auf dem Pilot durch. »Zu viel Zeug«, sagte Two Moons. »Das wird mal wieder einer von diesen Fällen. Lass uns alles eintüten, beschriften 13 und später durchgehen. Wie wär's, wenn wir uns erst mal den Hausboy vorknöpfen?« Sammy Reed war vierundzwanzig, zierlich, schwarz und weinte immer noch. »Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben.« Er bat darum, aus dem Auto aussteigen und sich ein wenig strecken zu dürfen, was die Detectives ihm erlaubten. Reed trug einen zu großen Tweedmantel im Fischgrätmuster mit schwarzem Samtkragen, der sehr altmodisch aussah. Schwarze Jeans, schwarze Doc Martens, ein Diamantstecker im rechten Ohrläppchen. Während er Arme und Beine streckte, taxierten sie seine Figur. Eins fünfundsechzig in den Doc Martens und etwa fünfundfünfzig Kilo. Als er wieder ins Auto stieg, setzten sich Two Moons und Katz rechts und links von ihm auf den Rücksitz. Das Heizungsgebläse summte in periodischen Abständen, und die Temperatur schwankte zwischen kühl und annehmbar. Reed erklärte schniefend, er wisse nicht, mit wem »Larry« sich so spät treffen wollte. Olafson sprach mit ihm nicht über geschäftliche Dinge. Seine Pflichten als Hausboy bestanden darin, das Anwesen sauber und ordentlich zu halten, ein bisschen zu kochen und sich um den Teich, den Pool und um Larrys Barsoi-Hündin zu kümmern. »Es wird ihr das Herz brechen«, sagte er. »Sie wird todtraurig sein.« Wie um das zu illustrieren, fing Reed wieder an zu weinen. Darrel gab ihm ein Papiertaschentuch. »Der Hund?« »Anastasia. Sie ist sechs. Barsois werden nicht so alt. Und jetzt, wo Larry tot ist... Ich kann kaum glauben, dass ich das gerade gesagt habe. Tot. Oh mein Gott.« 2 5 »Können Sie sich vorstellen, wer das getan haben könnte?« »Nein«, antwortete Reed. »Absolut nicht. Larry wurde geliebt.« »Er war populär?« »Mehr als populär. Er wurde geliebt.« »Trotzdem«, sagte Katz, »gerät man manchmal an schwierige Leute.« »Wenn das bei Larry der Fall war, dann weiß ich nichts davon.« »Er hat mit Ihnen also nicht über geschäftliche Dinge geredet?« »Nein«, sagte Reed. »Das war nicht meine Aufgabe.« »Wer arbeitet denn in der Galerie?« »Nur Larry und eine Assistentin. Larry hat versucht zu rationalisieren.« »Finanzielle Probleme?«
»Nein, natürlich nicht.« Reed schluckte. »Zumindest nicht, dass ich wüsste, und Larry schien sich keine Sorgen zu machen oder so. Ganz im Gegenteil. Er sprach davon, noch mehr Land zu kaufen. Also muss alles gut gelaufen sein.« »Wo wollte er Land kaufen?« Reed schüttelte den Kopf. »Wie heißt die Assistentin?«, fragte Darrel. »Summer Riley.« Katz erinnerte sich, den Namen auf dem Palm Pilot gelesen zu haben. »Wo wohnt sie?« »Im Gästehaus dahinten.« Die Detectives schwiegen, da sich beide fragten, was sich wohl hinter der Tür zum Gästehaus befinden mochte. Schließlich fragte Darrel: »Hat Larry irgendwelche Drohungen erhalten, von denen Sie wissen?« Reed schüttelte den Kopf. 14 »Anrufe, bei denen sofort der Hörer aufgelegt wurde, merkwürdige Post, so was in der Art?« Dreifaches Kopfschütteln. »Nichts Außergewöhnliches?«, fragte Katz. »Besonders während der letzten Wochen?« »Nichts«, beharrte Reed. »Larry führte ein ruhiges Leben.« »Ruhig«, sagte Two Moons. »Ich meine, verglichen mit seinem Leben in New York«, erklärte Reed. »Er liebte Santa Fe. Er hat mir mal erzählt, dass er ursprünglich nur ein paar Monate hier bleiben wollte, aber dann gefiel es ihm so gut, dass er beschloss, es zu seinem Hauptwohnsitz zu machen. Er sprach sogar davon, eine der New Yorker Galerien zu schließen.« »Welche?«, fragte Katz. »Bitte?« »Er hatte doch zwei, oder?« »Ja«, antwortete Reed. »Die in Chelsea.« »Einundzwanzigste West - zeitgenössische Kunst«, sagte Katz. Reeds Augen weiteten sich vor Überraschung. »Sie waren schon mal dort?« »Ich hab früher in New York gewohnt. Mr Olafson dachte also daran, sich zu verkleinern.« »Ich weiß es nicht genau, aber er hat es erwähnt.« »Wann?« »Hmm ... vielleicht vor einem Monat.« »In welchem Zusammenhang?«, fragte Katz. »Wie meinen Sie das?« »Er sprach doch normalerweise nicht mit Ihnen über geschäftliche Dinge.« »Ach so«, sagte Reed. »Nun ja, das war nichts Geschäftliches. Es war mehr... Larry war gut gelaunt, irgendwie... zum 2-7
Reden aufgelegt ... dachte über das Leben nach. Wir saßen auf dem portal - nachts. Als es ein paar Tage so warm war.« »Yeah, vor einem Monat«, sagte Two Moons. Eher vor einem Jahrhundert, in Winterstunden gerechnet. »Wo war ich stehen geblieben?«, fragte Reed. »Veranda«, soufflierte Katz. »Ja, richtig«, sagte Reed. »Auf dem portal. Larry wartete auf sein Essen und trank Wein. Ich hatte Heilbutt in Olivensauce gekocht, dazu Penne mit Pistazien. Nachdem ich das Essen auf den Tisch gestellt hatte, sagte Larry, ich solle mich zu ihm setzen und mitessen. Es war ein langer Tag gewesen. Anastasia hatte irgendwelche Magenprobleme. Larry meinte, ich hätte eine Pause verdient. Also setzte ich mich hin, er schenkte mir Wein ein, und wir plauderten.« Reed seufzte. »Es war eine richtig klare Nacht, ganz viele Sterne. Larry sagte, er spüre eine solche Erhabenheit, wie er es drüben an der Ostküste nie erlebt hatte.« Die Lippen des jungen Manns zitterten. »Und jetzt das. Ich kann es nicht glauben ...« »Eine Galerie schließen«, sagte Katz. »Was hätte das für die Künstler bedeutet, die er vertrat?« Reed versuchte, mit den Schultern zu zucken. Eingekeilt zwischen den beiden Detectives, war das jedoch nicht so einfach. »Ich nehme an, sie würden jemand Neues finden, der sie vertritt.« »Bis auf die, denen das nicht gelingt«, sagte Katz. »So läuft das doch in der Welt der Kunst. Dreierkandidaten gegen Einserkandidaten. Einige wären dann wahrscheinlich von niemandem mehr repräsentiert worden.« Reed starrte ihn an. »Vermutlich.« »Sind Sie Künstler?« »Nein, überhaupt nicht. Ich kann noch nicht mal eine gerade Linie zeichnen. Ich bin Koch. Ich hab eine Ausbildung zum Chefkoch beim CIA - dem Culinary Institute of Ameri 15 ca im Hudson Valley - gemacht, aber meistens nur als einfacher Koch gearbeitet. Ich hab in Restaurants wie Le Bernar-din zum Mindestlohn Hilfsarbeiten in der Küche gemacht. Als Larry mir den Job in Santa Fe anbot, hab ich sofort zugegriffen. « »Wie hat Mr Olafson Sie gefunden?« »Ich hab bei einem Partyservice schwarz gearbeitet, bei einem sehr edlen, aber ich könnte Ihnen Geschichten erzählen ... Jedenfalls gab Larry einen Sonntagsbrunch in der Galerie. Ich bin wohl ganz gut bei den Gästen angekommen. Die geräucherte Ananas und die mit Habanero-Chili gewürzten Shrimps haben auch nicht gerade geschadet.« Ein vages Lächeln. »Er sagte, ihm gefiele mein Auftreten.« »Seit wann arbeiten Sie für ihn?« »Seit drei Monaten.« »Hat es Ihnen gefallen?«
»Es war der Himmel auf Erden.« Reed brach zusammen und schaffte es gerade noch, um ein weiteres Papiertaschentuch zu bitten. Eine weitere halbstündige Vernehmung blieb ergebnislos. Reed stritt ab, dass er eine persönliche Beziehung zu seinem Chef gehabt hätte, aber er war nicht überzeugend. Katz bemerkte, wie Two Moons ihm über den Kopf des Hausboys hinweg einen wissenden Blick zuwarf. Sieh mal im Computer nach, bevor wir ihn laufen lassen. Aber keiner von ihnen glaubte, dass viel dabei herauskommen würde. Als sich herausstellte, dass der Hausboy bis auf einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens vor zwei Monaten auf dem Highway 25 in der Nähe von Albuquerque nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, überraschte das denn auch niemanden. Reed hatte eine knabenhafte Figur, und um Olafson einen Schlag aus gleicher Höhe auf den 16 Hinterkopf versetzen zu können, hätte er schon auf einer Leiter stehen müssen. Ebenso unvorstellbar war, wie er einen schweren, abgerundeten Gegenstand hätte handhaben sollen. Es wurde Zeit, danach zu suchen. Vermutlich eine weitere Sackgasse. Katz und Two Moons blieben noch anderthalb Stunden, beaufsichtigten die Absperrungen und das Aufstellen der Nachtscheinwerfer und suchten mit drei zusätzlichen uniformierten Beamten und zwei Technikern das Grundstück ab. Ein großer Teil der Mitarbeiter des Santa Fe Police Department war anwesend. Für alle uniformierten Beamten war es der erste Mordfall, und niemand wollte Mist bauen. Man brach das Schloss an der Tür zum Gästehaus auf. Dahinter keine Leiche, nur ein ziemlich unaufgeräumtes Ein Zimmer-Apartment. Persönliche Dinge von Summer Riley: In einer Nachttischschublade fand man ein bisschen Gras und eine Wasserpfeife. In der Küche standen eine Staffelei und ein Farbkasten. Einige wirklich schlechte Ölgemälde krumme, hässliche Frauen in schlammigen Farben - lehnten an den Wänden. Auf dem Bett lag ein Haufen schmutziger Kleidungsstücke. Two Moons fand Summer Rileys Handynummer in Olafsons Palm Pilot, wählte und erreichte ihre Voicemail. Feinfühlig wie er war, hinterließ er ihr die Nachricht, sie solle nach Hause kommen, weil ihr Boss tot sei. Katz war es, der die Mordwaffe fand. Sie lag neben dem Weg, der zum Gästehaus führte, unter einem Wacholderstrauch. Man hatte in keiner Weise versucht, sie zu verstecken. Das Ding war einfach an einen niedrigen Punkt im Garten gerollt. 16 Es handelte sich um einen riesigen verchromten Kugelhammer, so groß wie ein Motorradmotor, auf dem einige blassrosa Streifen zu sehen waren. Wie Dr. Ruiz vorhergesagt hatte, war kaum Blut haften geblieben. An der Kugel klebten allerdings ein paar Gehirnfetzen. Es war genau die große, runde Fläche, die Ruiz beschrieben hatte.
Drei Techniker hatten Mühe, den Hammer einzutüten und zu beschriften. Er war groß und sperrig und wog bestimmt sechzig bis siebzig Pfund. Was bedeutete, dass der Täter sehr stark sein musste, selbst wenn man den Adrenalinschub einrechnete. »Kunst als Mordwaffe«, sagte Darrel. »Gab es nicht mal einen Typ, irgendeinen Maler, der gesagt hat, er wolle ein Bild schaffen, bei dessen Anblick man tot umfällt?« »Nie gehört«, erwiderte Katz. »Das hab ich in einem Kurs gelernt. Der Typ hatte einen komischen Namen. Man irgendwas.« »Man Ray?« »Genau.« »Du hast Kunst belegt?«, fragte Katz. »Kunstgeschichte«, sagte Darrel. »Am College. Weil es ziemlich einfach war.« »Irgendwas gelernt?« »Dass mir wirklich schöne Sachen genauso gefallen wie allen anderen, dass es aber Quatsch ist, so was ernsthaft zu studieren.« »Das ist mit allem so«, sagte Katz. »Gott gibt uns gute Sachen, und wir verkomplizieren alles.« Darrel sah ihn an. »Bist du plötzlich religiös geworden?« »Ich meinte das ... metaphorisch.« »Ach so«, sagte Two Moons. »Nun ja, die große Metapher des heutigen Abends ist wohl >tot wie ein rostiger Nageh. Hast du eine Idee?« 3i »Sein Haus durchsuchen«, erwiderte Katz. »Uns seine Telefonunterlagen besorgen, Summer Riley finden und hören, was sie weiß, mit seiner Exfrau in New York reden oder wo auch immer die ist, mehr über Olafsons Geschäfte herausfinden. Auch über diese Forest HavenGeschichte. Wäre doch interessant zu hören, was die Rancher, die er verklagt hat, zu sagen haben.« »Klingt nach einem wohl durchdachten Plan, Steve.« Sie gingen zum Auto. Darrel sagte: »So wie ich die Sache sehe, werden wir damit genau an den richtigen Stellen nach Feinden suchen. Und ich fürchte, wir kriegen viel zu tun.« Als sie gerade losfahren wollten, sagte einer der uniformierten Beamten: »Seht mal, wer da kommt.« Mit hektisch blinkenden Blaulichtern, die schließlich abgeschaltet wurden, näherte sich rasch ein Streifenwagen. Chief Shirley Bacon stieg aus. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug aus Strickstoff unter einem langen schwarzen Lammfellmantel. Ihre dunklen Haare waren hoch aufgetürmt und mit reichlich Haarspray versehen, und sie hatte mehr Make-up aufgelegt, als sie je im Dienst trug. Sie war kompakt gebaut und hatte ein aufrichtiges Gesicht, eine achtundvierzigjährige ehemalige Lehrerin, Tochter eines County Sheriffs und Schwester eines Staatspolizisten, eines weiteren Sheriffs und eines Bewährungshelfers. Sie hatte als Kind Geige spielen gelernt, dann Musikunterricht gegeben und als Sekretärin an der Oper gearbeitet, während sie auf etwas Besseres hoffte. Als sie sich mit fünfunddreißig die
Hand brach, nahm sie einen Job als Sekretärin beim Department an. Eins kam zum anderen, und so wurde sie schließlich Polizistin beim Santa Fe Police Department. Da sie klug und tüchtig war, stieg sie rasch auf und wurde im letzten Jahr zum Chief ernannt. Sie behandelte ihre Be 18. arriten mit Respekt, gestattete ihnen, mit den Streifenwagen nach Hause zu fahren, sofern das nicht weiter als sechzig Meilen war, und setzte für sie in einer Zeit, in der überall die Etats gekürzt wurden, eine Gehaltserhöhung durch. Niemand missgönnte ihr irgendetwas, und niemand dachte über ihr Geschlecht nach. Sie kam schnurstracks auf die beiden zu. »Darrel, Steve.« »Heute Abend groß ausgegangen, Boss?«, fragte Katz. »Benefizveranstaltung. The Indian Art Foundation, bei Dr. und Mrs Haskell auf dem Circle Drive. Was ist das hier für eine Geschichte?« Während Katz und Two Moons berichteten, verzog sie immer wieder das Gesicht. »Das könnte in alle möglichen Richtungen gehen. Ich kümmere mich um die Zeitungen. Haltet mich auf dem Laufenden.« Wenige Sekunden später tauchte Lon Maguire, der Vertreter von Chief Bacon, in seinem privaten Truck auf, und kurz danach erschien auch noch Lieutenant Almodovar. Von den Bossen kamen keine neuen Ideen. Aber sie zeigten sich auch nicht nervös oder übten Kritik. Während der drei Jahre, die Katz nun beim Department war, hatte ihn immer beeindruckt, wie wenig dort gelästert wurde und wie wenig offene Aggression man spürte. Das war in New York ganz anders gewesen. Allerdings hatte das NYPD in einer Woche mehr Mordfälle zu bearbeiten, als er hier in drei Jahren erlebt hatte. Chief Bacon winkte ihnen kurz zu, dann wandte sie sich zum Gehen. »Zurück zur Party, Boss?«, fragte Katz. »Bloß nicht, das war so langweilig, wie man's sich nur vorstellen kann«, rief sie ihm im Weggehen zu. »Aber gebt mir nächstes Mal bitte einen einfacheren Grund, mich zu entschuldigen!« 18 Um 2:53 Uhr, fast eine Stunde nach dem offiziellen Ende ihrer Schicht, als sie gerade zum Haus von Olafson fahren wollten, entdeckten sie ein gut aussehendes junges Paar, das vor der Absperrung auf der anderen Seite des Grundstücks stand und mit Officer Randolph Loring sprach. Sie gingen hinüber, und Loring sagte: »Das ist Ms Riley. Sie wohnt dort drüben.« Summer Riley hatte rabenschwarzes Haar, elfenbeinfarbene Haut und eine kurvenreiche Figur, die sie selbst unter ihrer unförmigen Skijacke nicht verbergen konnte. Ihre großen blauen Augen waren so verängstigt wie die eines in die Enge getriebenen Kaninchens. Katz schätzte sie auf Ende zwanzig.
Der mit Jeansklamotten bekleidete junge Mann war groß, dunkel und attraktiv, der typische Latin Lover. Braune, wellige Haare, die ihm über die Schultern fielen, und ein blasses Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen. Er wirkte ebenfalls völlig verstört. Das könnte eine Calvin-Klein-Werbung sein, dachte Katz. Sogar die Angst passt. Besonders die Angst. Summer Riley hatte Two Moons' Nachricht nicht abgehört, sondern kam einfach von einem Date zurück. Darrel erzählte ihr genauso unverblümt, was geschehen war, wie er es auf ihrer Voicemail hinterlassen hatte, worauf sie umgehend in die Arme des jungen Mannes sank. Er hielt sie unbeholfen fest. Streichelte mit der Lebendigkeit eines Roboters über ihr Haar. Sein Name war Kyle Morales. Er hatte an der University of New Mexico Tanz studiert und wirkte als Aushilfskraft bei der Flamenco-Show im Radisson Hotel mit. Bis zum Frühjahr nächsten Jahres war er ohne volles Engagement. Katz hatte die Show gesehen. Er hatte allein ganz hinten im Raum gesessen mit dem einen Gin Tonic, den er sich erlaubte, und sich ein wenig ausgeschlossen vom übrigen Pub 19 likum gefühlt, dessen Durchschnittsalter schätzungsweise fünfundsechzig war. Er war von der Vorführung angenehm überrascht gewesen, gute Tänzer, gutes Gitarrenspiel. Das sagte er zu Morales. Dieser bedankte sich, ohne irgendein Gefühl zu zeigen. Als Katz fragte: »Wie wär's, wenn wir mit jedem von Ihnen einzeln reden?«, fügte sich Morales ohne Murren. Darrel führte Summer Riley durch die Absperrung zum Gästehaus, während Katz mit Morales an Ort und Stelle stehen blieb. Es war das zweite Mal, dass Morales mit Summer ausgegangen war. Er hatte sie in einer Bar auf der San Francisco Street kennen gelernt und fand sie »cool«. Er hatte keine Ahnung, wer Lawrence Olafson war, und verstand überhaupt nichts von Kunst. »Das zweite Date also«, sagte Katz. »Beim ersten Mal waren wir nur einen trinken«, erklärte Morales. »Und heute?« »Heute Abend haben wir uns im DeVargas Center eine Komödie angesehen.« »Lustig?«, fragte Katz. »Yeah«, sagte Morales und versuchte noch nicht einmal, ein wenig Begeisterung vorzutäuschen. Ein Tänzer und kein Schauspieler. »Was dann?« »Dann haben wir 'ne Pizza gegessen. Anschließend sind wir hierher zurück.« »Zum ersten Mal bei ihr?« »Sollte so sein.« Seine Stimme klang bedauernd.
So ein Pech, dachte Katz. Jede Chance auf Sex dahin, weil so etwas Unerfreuliches wie ein Mord dazwischengekommen war. 20 Er befragte Morales noch eine Weile und kam zu dem Schluss, dass der Mann nicht besonders helle war. Mal wieder ein Fall von zur falschen Zeit am falschen Ort. »Okay, Sie können gehen.« »Ich dachte, wenn Sie mit ihr fertig sind, könnten wir immer noch was zusammen machen«, sagte Morales. »Sie können natürlich Ihr Glück versuchen und warten«, erwiderte Katz und klopfte auf das Absperrband, »aber aus Erfahrung, Kumpel, kann ich Ihnen nur sagen, es wird ganz schön kalt werden.« Schließlich entschloss sich Morales abzuziehen. Katz ging zu Two Moons und Summer Riley ins Gästehaus. Neben dem bisherigen Durcheinander war nun auch noch alles mit einer Schicht Pulver von der Spurensicherung bedeckt. Die junge Frau trocknete gerade ihre Tränen. Schwer zu sagen, ob sie über die Situation weinte oder wegen Darrels sensibler Vorgehensweise - oder wegen beidem. Darrel sagte: »Ms Riley kann sich niemanden vorstellen, der Mr Olafson etwas hätte antun wollen.« »Er war wunderbar«, schniefte Summer. Darrel schwieg, und die junge Frau fuhr fort: »Wie ich bereits sagte, man sollte wirklich überprüfen, ob Kunstwerke fehlen.« »Raubüberfall«, sagte Darrel mit seiner tonlosen Stimme. »Ist doch möglich«, erwiderte Summer. »Larry ist der Topkunsthändler in Santa Fe, und er hat einige ziemlich teure Bilder in der Galerie.« »O'Keeffe?« »Nein, zurzeit nicht«, sagte Summer defensiv. »Aber wir haben schon einiges von ihr verkauft.« »Was ist denn jetzt an teuren Sachen da?« »Es gibt ein großartiges Indianergemälde von Henry 20 Sharp, einige Sachen von Berninghaus und einen Thomas Hill. Das sagt Ihnen vielleicht nichts, aber es sind sehr wertvolle Bilder.« »Sharp und Berninghaus waren Taos-Meister«, sagte Katz. »Ich wusste allerdings nicht, dass Hill New-Mexico-Bilder gemalt hat.« Summer wich mit dem Kopf zurück, als ob Katz sie angegriffen hätte. »Hat er nicht. Es ist ein kalifornisches Motiv.« »Ach so.« »Die sind sehr teuer. Jeweils sechsstellige Zahlen.« »Und er hat sie in der Galerie aufbewahrt?«, fragte Katz. »Bis auf die, die er mit nach Hause nimmt«, sagte Summer, immer noch am Präsens festhaltend. »Für seinen persönlichen Bedarf?« »Er tauscht die Kunstwerke in seinem Haus immer wieder gegen andere aus. Zum einen, weil er Kunst liebt, und außerdem, damit er Gästen etwas zeigen kann.« »Als Musterbeispiele«, sagte Katz.
Die junge Frau sah ihn an, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. »Wo werden denn diese Meisterwerke in der Galerie gelagert?«, fragte Darrel. »Wo alle anderen Bilder auch sind«, erwiderte Summer. »Im Lagerraum. Er hat ein spezielles Schloss und ein Alarmsystem, und nur Larry kennt die Kombination.« »Sie meinen diesen Raum auf der Rückseite des Gebäudes?«, fragte Two Moons. »Der mit den hohen, schmalen Regalen?« Summer nickte. Die Detectives waren einfach hineinspaziert. Die Tür hatte offen gestanden. Katz wurde bewusst, dass er das Schloss noch nicht einmal bemerkt hatte. »Wo finden wir eine Inventarliste?« 21 »Auf Larrys Computer zu Hause«, antwortete Summer. »Ich führe außerdem ein Journal, sozusagen als Back-up. Ich bin echt gut im Organisieren. Das schätzt Larry an mir.« Der Zustand ihres Zimmers sagte zwar etwas anderes, aber man konnte ja nie wissen. Dann dachte Katz: Sie hat noch nicht mal aufgeräumt, bevor sie Kyle Morales mit hierher nahm. Vielleicht hatte sie ja was anderes vorgehabt als er. Er fragte sie nach dem Tänzer. Ihre Geschichte stimmte mit der von Morales überein. »Sie und Kyle wollten also zu Ihnen«, sagte Katz. »Er hat mich nach Hause gebracht«, erwiderte Summer, warf ihre Haare zurück und wurde rot. »Das war alles. Ich hatte nicht vor, ihn wiederzusehen.« »Schlechtes Date?« »Langweilig. Er ist nicht sehr helle.« Ihre Stimme hatte einen metallischen Klang bekommen. Sie konnte bestimmt ziemlich tough sein. »Der Künstler, von dem der Hammer stammt - Miles D'Angelo«, sagte Katz. »Was können Sie mir über den erzählen?« »Miles? Er ist dreiundachtzig und lebt in der Toskana.« »Hatte Mr Olafson irgendwelche Probleme mit ihm?« »Mit Miles?« Summer lächelte süffisant. »Er ist der sanfteste Mann auf Erden. Er hat Larry geliebt.« »Wir müssen uns Ihr Journal ansehen«, sagte Two Moons. »Klar«, erwiderte Summer. »Es ist in der Galerie. In Larrys Schreibtisch.« Die Detectives hatten nichts dergleichen gesehen. Sie kehrten zu Olafson Southwest zurück, und die junge Frau zeigte ihnen, um welche Schublade es sich handelte. Darrel streifte Handschuhe über und zog die Schublade auf. 21 Viele Papiere, aber kein Journal.
»Es ist nicht da«, sagte Summer Riley. »Es sollte aber hier sein.« 3 Um 3 :10 Uhr saß Katz am Steuer des Crown Victoria, und Two Moons hockte schweigend auf dem Beifahrersitz. Sie fuhren die Bishop's Lodge Road in nördlicher Richtung nach Tesuque, einem hinter Bäumen verborgenen Dorf in einer flachen Talmulde. Eine merkwürdige Mischung aus Reiterhöfen, Mobilheimen und Häusern jeder Größe mit schöner Aussicht lag in den Hügeln verstreut, die den Ort umgaben. Die Bevölkerung bestand aus Filmstars und Wirtschaftsbossen, die abwesende Rancher spielten, aus Malern, Bildhauern und Pferdeliebhabern sowie den Arbeitern hispanischer und indianischer Herkunft, die die ursprünglichen Einwohner von Tesuque gewesen waren. Außerdem gab es noch einige sehr sonderbare Einsiedler, die ab und zu auf dem Markt von Tesuque auftauchten, um Biogemüse und Bier zu kaufen, und dann wieder wochenlang verschwanden. Genau das, was Katz für eine brisante Mischung gehalten hätte, doch wie im übrigen Santa Fe war es auch in Tesuque ziemlich ruhig. Der Himmel war ein einziges funkelndes Sternenmeer, und die Luft roch nach Wacholder, Pinien und Pferdemist. Das Haus von Lawrence Olafson lag an einer schmalen unbefestigten Straße weit hinter der Ortsgrenze, am oberen Ende von Los Caminitos, einer noblen Gegend, in der auf Grundstücken von zwei bis sechs Hektar wunderschöne große Traumhäuser aus Adobeziegeln standen. Seit sie die Plaza verlassen hatten, waren sie an keiner ein 22 zigen Straßenlaterne vorbeigekommen, und hier draußen hatte sich die Dunkelheit wie eine dicke, fast mit Händen greifbare Masse über alles gelegt. Selbst mit Fernlicht konnte man das Grundstück leicht verfehlen. Es war nur durch dezente Kupferziffern an einem einzelnen Steinpfosten gekennzeichnet. Katz schoss daran vorbei, setzte zurück und fuhr dann die gewundene Auffahrt hoch, die wegen zahlreicher gefrorener Pfützen ziemlich glatt war. Fast zweihundert Meter schlängelte sich die lange unbefestigte Straße durch einen schneebedeckten Pinienkorridor. Bis zur dritten Kurve war von dem Haus nichts zu sehen, aber als man es schließlich sah, war es unübersehbar. Drei Stockwerke hoch, abgerundete Ecken und vielgestaltige Mauern mit offenbar einem halben Dutzend offener patios und ebenso vielen überdachten portales. Blass und monumental hob sich das Gebäude, das dezent von Mond, Sternen und Sparlampen beleuchtet wurde, von dem hügeligen Hintergrund ab. Es lag mitten in einem Meer von einheimischen Gräsern und Minikakteen, von Zwergfichten und blattlosen Espen, deren Zweige im Wind zitterten. Trotz seiner Größe fügte sich das Haus harmonisch in seine Umgebung ein: Wie eine natürliche Formation thronte es über einer Landschaft aus Sand, Fels und Gestrüpp.
Officer Debbie Santanas Streifenwagen stand vor der Vierergarage, die die unterste Ebene des Hauses bildete. Er war schräg geparkt, so dass er zweieinhalb Garagentore zustellte. Katz parkte das nicht gekennzeichnete Fahrzeug einige Meter entfernt, und er und Two Moons stiegen aus und traten auf den knirschenden Kies. Zwanzig steinerne Treppenstufen führten sie vorbei an einem breiten Band von Sträuchern zu einer massiven Doppeltür, die aus einem Holz gefertigt war, das sehr alt aussah. Die Ränder waren mit dicken Nagelköpfen verziert, und handge 23 schmiedete Eisenbeschläge hielten sie in den Angeln. Über der Tür stand auf einem geschnitzten Brett: ZUFLUCHT. Darrel drückte gegen die Tür, dann traten sie in eine Eingangshalle, die größer war als Katz' gesamte Wohnung. Gefliester Boden, sieben Meter hohe Decke mit einem gläsernen Leuchter, der von Dale Chihuly stammen könnte, apricotfar-bene Strukturputzwände, herrliche Kunst, herrliche Möbel. Am anderen Ende der Eingangshalle ging es eine Stufe hinunter in ein großes Zimmer mit einer noch höheren Decke und mit Wänden, die größtenteils aus Glas bestanden. Officer Santana saß neben Sammy Reed auf einem Gobelinsofa. Reed weinte nicht mehr, sondern war jetzt wie betäubt vor Schmerz. »Nette Bude«, sagte Darrel. »Nehmen wir sie auseinander.« Während der nächsten drei Stunden durchsuchten sie sechshundert Quadratmeter Wohnraum. Sie erfuhren eine Menge über Olafson, aber nichts, was sie in dem Mordfall weiterbrachte. In der Garage stand ein grüner, windschnittiger Jaguar, außerdem ein alter weißer Austin Healey und ein roter Alfa Romeo GTV Den Wagen in der Auffahrt zur Galerie hatte man als Olafsons Land Rover identifiziert. Sie gingen Schränke voller teurer Klamotten durch, größtenteils mit New Yorker Etiketten. Sparbücher und Maklerrechnungen besagten, dass Olafson mehr als solvent war. Schwule und heterosexuelle Pornographie lag ordentlich gestapelt in einer verschlossenen Schublade im Medienraum. Im Arbeitszimmer, dessen Wände mit Leder bespannt waren, gab es viele Bücherregale, aber nur wenige Bücher. Und das waren hauptsächlich Bildbände über Kunst und Inneneinrichtung, außerdem Biographien über Angehörige von Kö4-1 nigshäusern. Die Barsoi-Hündin, groß mit langem weißen Fell, schlief während der ganzen Aktion. Überall war Kunst, viel zu viel, um bei einem einzigen Besuch alles aufnehmen zu können, doch ein Gemälde in dem großen Zimmer fiel Katz besonders auf. Es stellte zwei nackte Kinder dar, die um einen Maibaum tanzten. Die Pastelltöne deuteten einen milden Sommertag an. Die Kinder waren etwa drei und fünf, hatten flauschiges gelbes Haar, den Po voller Grübchen und engelhafte Gesichter. Bei so einem süßlichen
Thema hätte es sich durchaus um Plakatkunst handeln können, doch der Maler war geschickt genug, dem Bild eine ästhetische Qualität zu verleihen. Katz beschloss, dass es ihm gefiel, und sah nach der Signatur. Jemand namens Michael Weems. »Meinst du, wir sollten nach Kinderpornos suchen?«, fragte Two Moons. Das überraschte Katz, entsetzte ihn sogar ein bisschen. Er versuchte, in der Miene seines Partners einen Anflug von Ironie zu entdecken. »Das Auge des Betrachters«, sagte Two Moons und ging zu Olafsons Computer. Der PC ließ sich zwar anschalten, doch der Bildschirm verlangte sofort nach einem Passwort. Die Detectives versuchten es gar nicht erst. Bobby Boatwright, ein Experte für Sexualdelikte, der in der Schicht von zwei bis halb acht arbeitete, kannte sich so gut mit Maschinen aus wie ein absoluter Technofreak. Sollte der sich daran versuchen, bevor sie die Kiste ins Polizeilabor auf dem Highway 14 schickten. Sie zogen die Stecker heraus und brachten den Computer samt Drucker und Akku in die Eingangshalle. Dann hieß es zurück in die private "Welt von Lawrence Olafson. Unter dem Himmelbett im geradezu königlichen Schlaf4z zimmer fanden sie ein Sammelalbum mit gepunztem Ledereinband. Drinnen waren ausgeschnittene Artikel über Olafson. »Was ist das denn?«, sagte Darrel. »Hat er sich vor dem Einschlafen immer vor Augen geführt, wie toll er doch ist?« Sie blätterten das Album durch. Das meiste waren lobhudelnde Artikel aus Kunstzeitschriften, in denen die jüngste Auktion, die neueste Anschaffung oder der letzte, alle Preislimits sprengende Verkauf des Kunsthändlers beschrieben wurden. Aber es gab auch negative Berichte, Gerüchte über Käufe, die sich als Fehlschlag erwiesen, Fragen bezüglich der Authentizität bestimmter Kunstwerke. Warum Olafson diese Artikel aufbewahrt hatte, wussten die Götter. Unter dem Sammelalbum lag ein weiterer Band, kleiner und in billiges grünes Leinen gebunden. Dieser enthielt Zeitungsausschnitte über Forest Haven, einschließlich der News-Press-Geschichte über die kleinen Rancher, gegen die die Gruppe prozessierte. Bart Skaggs (68) und seine Frau Emma (64) wurden besonders hervorgehoben, weil sie unter großen finanziellen Mühen fünfhundert Rinder bis auf Marktgewicht großzogen, indem sie ihre Weiderechte im Carson Forest bei der Bank als Sicherheit für Kredite einsetzten, mit denen sie Futter kauften, den Viehbestand erneuerten und Geräte anschafften. Zwar fraßen die Zinsen jährlich 31.000 Dollar von ihrem Bruttoeinkommen von 78.000 Dollar auf, doch bevor Forest Haven die Skaggs aufgrund des Gesetzes zum Schutz gefährdeter Tierarten verklagt hatte, hatten sie sich irgendwie durchgeschlagen. Die Anklage lautete, dass der Schaden, den die Herde der Skaggs' anrichtete, den einheimischen Bestand an Nagetieren, Reptilien,
Füchsen, Wölfen und Elchen gefährde. Der Richter hatte dem zugestimmt und angeordnet, dass das Paar 25 seine Herde auf 420 Tiere verringern müsse. Eine weitere Eingabe der Gruppe hatte zur Folge, dass diese Zahl auf 280 reduziert wurde. Da sie nun die Hälfte ihrer Herde auf angemietetem Gelände weiden lassen mussten, gerieten die Skaggs in die roten Zahlen. Sie gaben ihre Ranch auf, gingen in Ruhestand und lebten nun von tausend Dollar Sozialhilfe im Monat. »Meine Familie hat seit 1834 auf diesem Land Viehwirtschaft betrieben«, sagte Bart Skaggs. »Wir haben jede Naturkatastrophe überstanden, die man sich vorstellen kann, aber gegen diese verrückten radikalen Umweltschützer sind wir machtlos.« Emma Skaggs wurde als »zu aufgeregt, um einen Kommentar abzugeben« beschrieben. Nach seiner Reaktion auf den Bankrott des Paares befragt, hatte sich der Sprecher und Hauptkläger von Forest Haven ungerührt gezeigt. »Die Natur ist bedroht, und die Natur hat höchste Priorität - vor den eigennützigen Bedürfnissen eines Individuums«, sagte Lawrence Olafson, ein prominenter Kunsthändler mit Galerien in Santa Fe und New York City. »Man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen.« Olafson hatte seine Kommentare mit gelbem Marker hervorgehoben. »Ganz schön selbstgefällig«, sagte Darrel. »Die Natur hat höchste Priorität«, sagte Katz. Sie vermerkten das Buch als Beweismittel und nahmen es mit. »Eier zerschlagen«, murmelte Two Moons, als sie das Haus verließen. »Und nun ist ihm der Schädel eingeschlagen worden.« Katz zog die Augenbrauen hoch. Sein Partner hatte eine merkwürdige Art, mit Worten umzugehen. 25 Sie luden den Computer samt Zubehör in den Kofferraum des Wagens, und Katz ließ den Motor warm laufen. »Dieser Typ«, sagte Two Moons. »Der hat ja jede Menge Zeug im Haus, aber etwas fehlt.« »Bilder von seinen Kindern«, sagte Katz. »Bingo. Dass er keins von seiner Exfrau hat, kann ich ja verstehen, aber von den Kindern? Kein einziges Bild? Vielleicht mochten sie ihn nicht. Der Doc hat gesagt, die Umstände am Tatort deuten auf sehr viel Wut hin. Und was kann mehr Wut erzeugen als familiäre Dinge?« Katz nickte. »Wir müssen in jedem Fall die Kinder ausfindig machen. Und auch mit der Ex reden. Sollen wir das tun, bevor oder nachdem wir mit Bart und Emma Skaggs gesprochen haben?« »Danach«, sagte Darrel. »Aber erst morgen. Den beiden hat man übel mitgespielt. Ich möchte sie nicht um« - er sah auf seine Uhr - »vier Uhr achtzehn wecken. Außerdem machen wir längst Überstunden, Partner.«
4 Katz fuhr so schnell, wie die dunklen, kurvigen Straßen es erlaubten, und um 4.45 Uhr waren sie wieder in der Polizeizentrale auf dem Camino Entrada. Nachdem sie Olafsons Computer bei der Spurensicherung abgeliefert hatten, erledigten sie die ersten Schreibarbeiten zu dem Fall, beschlossen, sich um neun zum Frühstück bei Denny's in der Nähe der Polizeistation zu treffen, und fuhren nach Hause. In diesem Monat durfte Two Moons den Crown Vic mitnehmen, und Katz musste sich mit seinem verdreckten kleinen Toyota begnügen. Doch angesichts seines desolaten sozialen Lebens brauchte er kein besseres Auto. 26 Darrel Two Moons fuhr zu seinem Haus im Stadtteil South Capital, zog vor der Tür die Schuhe aus und trotzte einen Moment der Kälte, die sofort in seine Füße kroch, während er die Tür aufschloss und ins Wohnzimmer trat. Ein schönes Zimmer, auf das er sich immer freute, wenn er nach Hause kam, mit dem Kiva-Kamin und den alten gebogenen vigas an der Decke. Das Holz war richtig alt und hatte die Farbe von Melasse. Nicht wie die auf alt getrimmten Balken, die ihm in Olafsons Anwesen aufgefallen waren. Wem machte er hier eigentlich etwas vor? Olafsons Anwesen war einfach unglaublich. Er zog seinen Mantel aus, nahm sich einen Eistee mit Himbeergeschmack aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Küchentisch und trank. Durch den Bogendurchgang blickte er in sein Wohnzimmer. Fotos von Kristin, den Mädchen und ihm, die letztes Jahr an Weihnachten im Photo Inn im DeVargas Center aufgenommen worden waren. Fast genau vor einem Jahr. Die Mädchen waren seitdem ganz schön gewachsen. Seine Burg. Genau. Er liebte sein Haus, aber nachdem er in Olafsons riesigem Anwesen herumgelaufen war, kam ihm das hier winzig vor, vielleicht sogar erbärmlich. Hundertachtzig Riesen hatte es gekostet. Und das hatte sich als gutes Geschäft erwiesen, weil South Capital im Kommen war. Als einfacher Polizist hatte er es sich nur dank einer Lebensversicherung und dem Testament und letzten Willen von Sergeant Edward Two Moons geb. Montez, United States Army (LR.), leisten können, in diese Gegend zu ziehen. Danke, Dad. 26 Seine Augen fingen an zu brennen, und er stürzte den Eistee so schnell hinunter, dass er von der Kälte fast Kopfschmerzen bekam.
Mittlerweile musste das Haus fast dreihunderttausend wert sein. Eine gute Investition für jemanden, der es sich leisten konnte zu verkaufen, um sich was Besseres zu kaufen. Ein Typ wie Olafson konnte mit kleinen Häusern handeln wie mit Spielkarten. Hatte gekonnt. Two Moons rief sich Olafsons eingeschlagenen Schädel in Erinnerung und schimpfte mit sich selbst. Sei dankbar für das, was du hast, du Idiot. Er trank den Eistee aus, fühlte sich aber immer noch wie ausgedörrt. Also nahm er sich eine Flasche Wasser und ging damit ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich hin, legte die Füße hoch und atmete tief durch in der Hoffnung, einen Hauch von dem Duft nach Wässer und Seife aufzunehmen, den Kristin im Vorbeigehen verströmte. Sie liebte das Haus wirklich, sagte immer, es sei alles, was sie brauche, und sie wolle niemals umziehen. Hundertvierzig Quadratmeter auf einem Grundstück von siebenhundertfünfzig Quadratmetern, das reichte aus, dass sie sich wie eine Königin fühlte. Was eine Menge über Kristin aussagte. Das Grundstück war schön, musste Darrel zugeben. Hinter dem Haus war viel Platz, wo die Mädchen spielen und Kristin ihren Wunsch nach einem Gemüsegarten verwirklichen konnte. Er hatte versprochen, einige Kieswege anzulegen, es bisher aber nicht getan. Bald wäre der Boden gefroren, und die Aufgabe musste bis zum Frühjahr warten. Mit wie vielen Toten mochte er bis dahin noch zu tun haben? 27 Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn aufblicken. »Hi, Honey«, sagte Kristin blinzelnd und rieb sich die Augen. Ihr rotblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber einige Strähnen hatten sich gelöst. Ihr pinkfarbener Frotteebademantel wurde von einem engen Gürtel um ihre straffe Taille gehalten. »Wie spät ist es?« »Fünf.« »Oje.« Sie kam zu ihm herüber und strich ihm über die Haare. Sie war halb irisch, ein Viertel schottisch und der Rest Minnesota Chippewa. Das indianische Blut machte sich in ausgeprägten Wangenknochen und mandelförmigen Augen bemerkbar. Augen, die die Farbe von Salbei hatten. Darrel hatte sie bei einem Besuch im Indian Museum kennen gelernt. Sie hatte dort während der Sommerferien als Aushilfssekretärin gejobbt, um Geld für einen Malkurs zu verdienen. Ihre Augen hatten ihn zuerst gefangen genommen, und dann hatte ihn auch der Rest von ihr nicht mehr losgelassen. »Ein Fall?«, fragte sie. »Ja.« Darrel stand auf und nahm sie mit ihren ganzen ein Meter fünfzig in den Arm. Dazu musste er sich weit hinabbeugen. Wenn er mit Kristin
tanzte, bekam er manchmal Rückenschmerzen. Doch das machte ihm nichts aus. »Was für ein Fall, Honey?« »Das willst du gar nicht wissen.« Kristin sah ihn starr mit ihren grünen Augen an. »Wenn ich es nicht wissen wollte, hätte ich nicht gefragt.« Er nahm sie auf den Schoß und erzählte es ihr. »Hast du's Steve gesagt?«, fragte sie. »Was gesagt?« »Dass du mal mit Olafson aneinander geraten bist?« »Ist doch völlig irrelevant.« Kristin schwieg. 28 »Was soll das ?«, sagte er. »Das ist doch schon ein Jahr her.« »Acht Monate«, sagte sie. »Daran kannst du dich erinnern?« »Ich weiß, dass es im April war, weil das in der Woche war, in der wir Ostereinkäufe gemacht haben.« »Acht Monate, ein Jahr, was macht das schon?« »Da hast du sicher Recht, Darrel.« »Lass uns schlafen gehen.« In dem Moment, als sie die Matratze berührte, schlief sie sofort wieder ein, doch Two Moons lag auf dem Rücken und dachte daran, wie er mit Olafson »aneinander geraten« war. Er war ins Indian Museum gegangen, um sich eine Ausstellung anzusehen, in der auch einige Aquarelle von Kristin hingen. Bilder, die sie im Sommer zuvor hinten im Garten gemalt hatte. Blumen und Bäume in einem schönen weichen Licht. Two Moons hielt das für ihre bisher besten Arbeiten und hatte sie gedrängt, sie bei einem Wettbewerb einzureichen. Als sie prämiert wurden, schwoll ihm vor Stolz die Brust. Er ging ein halbes Dutzend Mal während der Mittagspause in die Ausstellung. Zweimal nahm er Steve mit. Steve hatten Kristins Arbeiten auch sehr gut gefallen. Bei seinem fünften Besuch war Larry Olafson mit einem Paar mittleren Alters hereingeschneit - beide von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und beide mit den gleichen bescheuerten Sonnenbrillen. Arrogante Kunstfreaks von der Ostküste. Die drei waren mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Ausstellung gerast. Olafson hatte gelächelt oder eher spöttisch gegrinst -, wenn er glaubte, dass niemand hinsah. Und die ganze Zeit seinen unglaublich coolen Freunden gegenüber abfällige Kommentare abgegeben. Als Olafson an Kristins Aquarellen vorbeikam, hatte 28 Darrel ihn sagen hören: »Hier ist genau das, was ich meine. Abgestanden wie Spülwasser.« Two Moons spürte, wie ihm diesmal auf andere Weise der Brustkorb schwoll. Er versuchte, ruhig zu bleiben, doch als Olafson mit dem Paar auf den Ausgang zuging, sprang er spontan vor und verstellte ihnen den Weg. Er wusste zwar, dass er sich töricht verhielt, konnte sich aber nicht beherrschen.
Als hätte etwas von ihm Besitz ergriffen. Olafson verging das Lächeln. »Entschuldigen Sie.« »Diese Bilder von dem Garten«, sagte Darrel. »Ich finde sie gut.« Olafson strich sich über seinen weißen Bart. »Tatsächlich?« »Ja, das tue ich.« »Das freut mich für Sie.« Two Moons antwortete nicht, rührte sich aber auch nicht von der Stelle. Das schwarz gekleidete Paar wich zurück. Schließlich sagte Larry Olafson: »Da wir offensichtlich unser fachmännisches Gespräch beendet haben, würden Sie jetzt bitte aus dem Weg gehen?« »Was ist an den Bildern so schlecht?«, fragte Two Moons. »Warum haben Sie sie runtergemacht?« »Ich hab sie nicht runtergemacht.« »Das haben Sie wohl. Ich hab es gehört.« »Ich hab ein Handy bei mir«, sagte die Frau. »Ich ruf jetzt die Polizei.« Sie griff in ihre Handtasche. Two Moons trat zur Seite. Olafson ging an ihm vorbei und murmelte: »Banause.« Darrel hatte sich wochenlang wie ein Idiot gefühlt. Selbst als er jetzt daran dachte, kam er sich immer noch blöd vor. Warum hatte er Kristin überhaupt davon erzählt? 29 Weil er mies gelaunt nach Hause gekommen war und die Mädchen ignoriert hatte. Und Kristin ignoriert hatte. Rede, sagte sie immer zu ihm. Du musst lernen, über die Dinge zu reden. Also hatte er geredet. Und sie sagte: »Oh, Darrel.« »Ich hab Scheiß gebaut.« Sie seufzte. »Honey ... vergiss es. Es ist keine große Sache.« Dann runzelte sie die Stirn. »Was ist?« »Die Bilder«, sagte sie. »Sie sind wirklich nicht gut.« Er stellte fest, dass er bei diesen Erinnerungen angefangen hatte, mit den Zähnen zu knirschen, und zwang sich, sich zu entspannen. Er mochte also das Opfer nicht. Das war ihm schon bei früheren Fällen passiert, an denen er gearbeitet hatte, sogar bei einer Menge Fälle. Manchmal erlitten Leute Verletzungen oder noch Schlimmeres, weil sie schlecht oder dumm waren. Steve hatte er die Geschichte nie erzählt. Es gab damals keinen Grund dafür, und jetzt auch nicht. Er würde hart an diesem Fall arbeiten. Irgendwie bewirkte dieser Gedanke, dass er sich besser fühlte. Sergeant Edward Montez war durch und durch Soldat gewesen, und Darrel, sein einziges Kind, war auf Militärstützpunkten von North Carolina bis Kalifornien aufgewachsen und so erzogen worden, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde.
Mit siebzehn, als sie gerade in San Diego lebten, erfuhr er, dass sein Vater nach Deutschland versetzt werden sollte. Darrel rebellierte, ging zum nächsten Rekrutierungsbüro des Marine Corps und meldete sich als Freiwilliger. Wenige Tage später hatte man ihn bereits zur Grundausbildung nach Del Mar geschickt. 5i Seine Mutter weinte beim Kofferpacken. Sein Vater sagte: »Ist schon okay, Mabel.« Dann richtete er seine schwarzen Augen auf Darrel. »Die sind zwar ein bisschen extrem, aber zumindest ist es Militär.« »Mir wird es schon gefallen«, erwiderte Darrel und dachte: Was zum Teufel hab ich nur getan! »Wir werden sehen. Sorg dafür, dass du noch was anderes bei denen lernst außer töten.« »Was zum Beispiel?« Darrel rieb sich den gerade erst kahl rasierten Kopf. Der Verlust seiner schulterlangen Haare innerhalb von zehn Sekunden und der Anblick, wie sie in einem Friseurladen in Old Town auf dem Fußboden lagen, brachte ihn immer noch fast zum Ausflippen. »Zum Beispiel irgendwas Nützliches«, sagte sein Vater. »Ein Handwerk. Falls du nicht vorhast, den Rest deines Lebens strammzustehen.« Mitten während seines Militärdiensts starb seine Mutter. Mabel und Ed Montez waren beide Kettenraucher, und Darrel hatte sich immer Sorgen gemacht, sie könnten Lungenkrebs kriegen. Es war jedoch ein Herzinfarkt, der seine Mutter ins Grab brachte, als sie erst vierundvierzig war. Sie saß im Wohnzimmer einer Militärunterkunft außerhalb von Hamburg und sah Wkeel o f Fortune auf dem Kabelkanal der U. S. Army, da fiel plötzlich ihr Kopf nach vorn, und sie rührte sich nie wieder. Ihre letzten Worte waren: »Kauf einen Vokal, du Idiot.« Die Marines gaben Darrel wegen einer dringenden Familienangelegenheit eine Woche Urlaub, dann kehrte er zu seinem Stützpunkt in Oceanside zurück. Er war inzwischen Obergefreiter, bildete Infanteriesoldaten aus und erwarb sich einen Ruf als harter Ausbilder. Das bisschen Weinen, nach dem ihm zumute war, erledigte er für sich allein. 30 Sein Vater verließ die Armee und zog nach Tampa in Florida, wo er von seiner Pension lebte und Depressionen bekam. Ein halbes Jahr später rief er Darrel an und verkündete, er würde nach Santa Fe ziehen. »Warum ausgerechnet dahin?« »Wir sind Santa-Clara-Indianer.« »Na und?« In Darrels Erziehung hatte seine Herkunft keine große Rolle gespielt. Sie war etwas Abstraktes, etwas Historisches. Die wenigen Male, die er seine Eltern danach gefragt hatte, hatten diese einen tiefen Zug aus ihren ungefilterten Camels genommen und gesagt: »Sei stolz darauf, aber lass dich nicht dadurch behindern.«
Nun zog sein Vater gerade deswegen um? Nach New Mexico? Dad hatte die Wüste immer gehasst. Als sie in Kalifornien lebten, konnte man ihn nicht mal dazu kriegen, nach Palm Springs zu reisen. »Wie dem auch sei«, sagte Ed Montez, »es wird Zeit.« »Wofür?« »Zu lernen, Darrel. Wenn ich nicht anfange, etwas zu lernen, schrumpfe ich immer mehr zusammen und sterbe wie eine Motte.« Das nächste Mal sah Darrel seinen Vater, als er seinen Dienst bei den Marines quittierte. Er hatte nämlich beschlossen, dass er wieder mehr Haare auf dem Kopf haben wollte, und sich deshalb kein weiteres Mal verpflichtet. »Komm doch hierher, Darrel.« »Ich dachte an L. A.« »Was willst du denn da?« »Vielleicht studieren.« »Aufs College?«, fragte sein Vater erstaunt. »Yeah.« »Was willst du denn studieren?« 31 »Vielleicht was mit Computern«, hatte Darrel gelogen. Er hatte keine Ahnung, was er tun wollte, wusste nur, dass er die Möglichkeit haben wollte, lange zu schlafen und Mädchen kennen zu lernen, die weder Nutten noch Marine-Groupies waren. Er wollte ein bisschen Spaß haben. »Computer sind eine gute Sache«, sagte sein Vater. »Die Talismane unseres Zeitalters.« »Die was?« »Talismane«, sagte Ed Montez. »Symbole - Totems.« Darrel antwortete nicht. »Es ist kompliziert, Darrel. Komm hierher, hier kannst du auch studieren. Die UNM ist eine gute Uni. Sie hat einen schönen Campus, und es gibt alle möglichen Stipendien für Indianer.« »Ich mag aber Kalifornien.« »Ich hab doch niemanden«, sagte sein Vater. Als Darrel in Albuquerque aus dem Flugzeug stieg und seinen alten Herrn sah, hätte es ihn fast umgehauen. Ed Montez war vom Unteroffizier mit Bürstenhaarschnitt zum großen Häuptling mutiert. Sein grau meliertes Haar war in der Mitte gescheitelt und fiel ihm weit über die Schultern. Es wurde von einem Perlenstirnband gehalten. Er hatte jetzt eine viel längere Mähne, als Darrel zu der Zeit gehabt hatte, als sein Vater sich über ihn lustig machte und ihn einen »gammligen Hippie« nannte. Die Kleidung seines Vaters hatte sich genauso radikal verändert. Keine Polohemden, gebügelten Stoffhosen und blank polierten geschnürten Halbschuhe mehr. Ed Montez trug jetzt ein locker sitzendes Leinenhemd über Blue Jeans und Mokassins. Und er hatte einen dünnen Kinnbart.
Er umarmte Darrel - eine weitere Neuerung -, nahm des32 sen Bordtasche und sagte: »Ich hab meinen Namen geändert. Ich heiße jetzt Edward Two Moons. Solltest du vielleicht auch mal drüber nachdenken.« »Genealogie«, erklärte der alte Mann während der einstündigen Fahrt nach Santa Fe. Bisher war die Gegend flach und trocken, sehr viele brachliegende Flächen entlang des Highways, nur ab und zu ein Indianerkasino. Genau wie in Palm Springs. Höchstgeschwindigkeit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde. Darrel hatte kein Problem damit, dass sein Vater neunzig fuhr. Das taten alle anderen auch. Dad zündete sich eine Zigarette an und pustete Qualm durch den Innenraum des Toyota Pick-up. »Interessiert dich das nicht?« »Was?« »Genealogie.« »Ich weiß, was es heißt. Du hast nach deinen Wurzeln gesucht. « » Unseren Wurzeln, mein Sohn. Auf der Fahrt von Florida hierher hab ich in Salt Lake City Station gemacht, bin in diese Mormonenbibliothek gegangen und hab ernsthafte Nachforschungen betrieben. Einige interessante Dinge rausgefunden. Als ich dann hier war, hab ich weitergeforscht, und es wurde immer interessanter.« »Was zum Beispiel?«, fragte Darrel, obwohl er sich nicht sicher war, ob ihn das überhaupt interessierte. Die meiste Zeit warf er verstohlene Blicke zu dem alten Mann hinüber. Edward Two Moons? Wenn er redete, zitterte der Kinnbart. »Zum Beispiel, dass wir in direkter Linie vom Santa Clara Pueblo abstammen. Jedenfalls auf meiner Seite. Deine Mutter war eine Apache und Mohawk, aber das ist eine andere Geschichte. Der muss ich noch nachgehen.« 5 5 »Okay«, sagte Darrel. »Okay?« »Was soll ich denn dazu sagen?« »Ich dachte«, erwiderte Ed, »es würde dich neugierig machen. « »Du hast immer gesagt, das war alles Vergangenheit.« »Ich habe die Vergangenheit schätzen gelernt.« Sein Vater klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen, streckte die rechte Hand aus und packte Darrel am Handgelenk. Hielt fest. Merkwürdiges Gefühl. Der Alte hatte es nie mit Körperkontakt gehabt. »Wir sind mit Maria Montez verwandt, mein Sohn. Wir können unsere Abstammung in gerader Linie bis zu ihr zurückverfolgen, daran besteht kein Zweifel.« »Wer ist das?« »Möglicherweise die größte indianische Töpferin, die es je gegeben hat.« Ed ließ ihn los und drehte seine Hand um. Die Handfläche war grau, wie mit einer Staubschicht bedeckt.
»Das ist Ton, mein Junge. Ich bin seit längerem dabei, die alte Kunst zu erlernen.« »Du?« »Sei doch nicht so überrascht.« Das Einzige, was es bei seinen Eltern an Kunst gegeben hatte, waren Weihnachtskarten, die man in den wechselnden Behausungen mit Tesafilm an die Wände klebte. »Wir ziehen ja ständig um«, hatte seine Mutter ihm erklärt. »Wenn man Löcher in die Wände bohrt, muss man sie wieder zustopfen. Ich mag zwar nicht die Hellste sein, aber ganz blöd bin ich auch nicht.« »Die ganze Prozedur ist wirklich faszinierend«, fuhr sein Vater fort. »Man muss die richtige Sorte Ton finden, ihn ausgraben und mit der Hand formen - wir benutzen keine Töpferscheibe.« 33 Wir? Darrel hielt den Mund. Sie waren jetzt fünfzehn Meilen von Santa Fe entfernt, und die Landschaft hatte sich verändert. Sie waren jetzt deutlich höher, und überall um sie herum ragten ansehnliche Berge in die Höhe. Alles war grüner. Dazwischen standen Häuser in Rosa-, Braun- und Goldtönen, die das Licht reflektierten. Der Himmel war gewaltig und von einem so intensiven Blau, wie Darrel es noch nie gesehen hatte. Eine Reklametafel warb für Duty-free-Benzin im Pojoaque Pueblo. Eine andere verkündete, dass an einem Ort namens Eldorado nach individuellen Wünschen gestaltete Adobehäuser gebaut würden. Nicht schlecht, aber trotzdem nicht mit Kalifornien zu vergleichen. »Keine Töpferscheibe«, wiederholte sein Vater. »Alles wird mit der Hand geformt, und das ist ganz schön schwierig, kann ich dir sagen. Dann kommt das Brennen, und damit wird's erst recht kompliziert. Einige Leute benutzen einen Brennofen, aber ich mach's an einem Feuer im Freien, weil draußen die Geister stärker sind. Man legt ein Holzfeuer an, und die Wärme muss genau richtig sein. Wenn was nicht stimmt, kann alles kaputtgehen. Um verschiedene Farbschattierungen zu erzeugen, benutzt man Kuhmist. Den muss man genau im richtigen Moment aus dem Feuer ziehen und dann wieder reintun - das ist kompliziert.« »Klingt auch so.« »Willst du denn nicht wissen, was ich mache?« »Was machst du?« »Bären«, sagte sein Vater. »Und die werden ganz gut. Sehen halbwegs wie Bären aus.« »Klasse.« Ton, Kuhmist. Freiluftgeister. Die Haare von seinem Vater mein Gott, die waren ja echt lang. War das vielleicht alles nur ein Traum? 33 »Ich lebe, um Bären zu machen, Darrel. All die Jahre, wo ich das nicht gemacht habe, waren vergeudete Zeit.« »Du hast deinem Land gedient.« Ed Montez lachte, zog an seiner Zigarette und beschleunigte den Truck auf fast hundert. »Dad, lebst du in dem Pueblo?«
»Das tat ich gerne. Aber die wenigen Bodenrechte, die wir je in Santa Clara hatten, sind längst verfallen. Doch ich gehe zum Unterricht dorthin. Ist gar nicht so weit zu fahren. Ich hab's geschafft, bei Sally Montez unterzukommen. Sie ist die Ururenkelin von Maria. Großartige Töpferin, hat zwei Jahre hintereinander auf der indianischen Kunstgewerbeshow den ersten Preis gewonnen. Sie benutzt Kuhmist, um eine Mischung aus Schwarz und Rot hinzubekommen. Letztes Jahr hatte sie die Grippe und kriegte es nicht auf die Reihe. Deshalb wurde sie nur lobend erwähnt. Trotzdem ist das alles ziemlich beeindruckend.« »Wo wohnst du denn, Dad?« »In 'ner Eigentumswohnung. Die Rente von der Army reicht für die laufenden Kosten und für noch ein bisschen mehr. Ich habe zwei Zimmer, ist also reichlich Platz für dich da. Und ich hab Kabelfernsehen, weil das mit der Schüssel bei dem vielen Wind nicht funktioniert.« Er brauchte einige Zeit, um sich an das Zusammenleben mit seinem Vater zu gewöhnen - seinem neuen Vater. Edward Two Moons' Zweizimmerwohnung im Süden der Stadt war eher eine Einzimmerwohnung mit einem kleinen Arbeitsraum. Darrel wohnte in einem Raum von zweieinhalb mal drei Metern, dessen Wände von Regalen gesäumt waren und in dem eine Schlafcouch stand, die sich zu einem Doppelbett ausklappen ließ. Die Regale waren voller Bücher, auch das war etwas 34 Neues. Amerikanische Geschichte, Geschichte der Indianer. Kunst. Sehr viel über Kunst. Im Zimmer seines Vaters stand eine Weihrauchpfanne, und Darrel fragte sich kurz, ob der Alte wohl Dope rauchte. Aber der fand es einfach schön, beim Lesen Weihrauch zu verbrennen. Keramikbären waren keine zu sehen. Darrel fragte nicht danach, weil er es gar nicht wissen wollte. Eines war unverändert geblieben: Sein Dad stand jeden Morgen um sechs Uhr auf, auch am Wochenende. Allerdings machte er keine Liegestütze mehr mit einer Hand. Exsergeant Ed Montez begrüßte jeden Tag mit einer einstündigen stillen Meditation. Darauf folgte eine Stunde Bücken und Strecken nach einem der Dutzend Yoga-Videos, die er besaß. Dad ließ sich von Frauen in Trikots Anweisungen erteilen. Nach dem Yoga kamen ein langer Spaziergang und ein halbstündiges Bad, anschließend gab es in der Pfanne geröstetes Brot und schwarzen Kaffee zum Frühstück. Bis dahin war allerdings schon fast Mittagszeit. Um zwei Uhr war der alte Mann bereit, zum Santa Clara Pueblo hinauszufahren, wo die immer gut gelaunte, korpulente Sally Montez in dem Studio im rückwärtigen Teil ihres geräumigen Adobehauses saß und wunderschöne Meisterwerke aus schwarzem Ton mit eingelegten Schmucksteinen anfertigte. Im vorderen Bereich befand sich ein Laden,
den Sallys Ehemann Bob führte. Er war ein Cousin zweiten Grades von Sally, deshalb hatte sie ihren Namen nicht zu ändern brauchen. Während Sally Tontöpfe machte, saß Dad mit gerunzelter Stirn vornübergebeugt an einem Tisch in ihrer Nähe, kaute an seiner Wange herum und formte seine Bären. Ganze Familien von ihnen in diversen Posen. 35 Als Darrel die kleinen Tiere zum ersten Mal sah, hatte er an Goldilocks denken müssen. Doch dann dachte er: Die sehen ja noch nicht mal wie Bären aus. Eher wie Schweine. Oder Igel. Oder etwas völlig Undefinierbares. Dad war kein Meister im Töpfern, und Sally Montez wusste das. Aber sie sagte immer lächelnd: »Ja, Ed, das wird schon was.« Sie machte es nicht wegen des Geldes, Dad zahlte ihr nämlich keinen Heller. Sondern einfach nur, weil sie nett war. Das war Bob auch. Und ihre Kinder. Die meisten Leute, die Darrel im Pueblo kennen lernte, waren nett. Das gab ihm zu denken. Dad erwähnte die Sache mit der Namensänderung erst wieder, als Darrel bereits ein halbes Jahr bei ihm wohnte. Die beiden saßen an einem wunderbaren Sommertag auf einer Bank auf der Plaza und aßen Eis. Darrel hatte sich an der University of New Mexico in Betriebswirtschaft eingeschrieben, im ersten Semester eine 3,6 erzielt, ein paar Mädchen kennen gelernt und Spaß gehabt. »Ich bin stolz auf dich, mein Sohn«, sagte Ed und gab Darrel sein Zeugnis zurück. »Hab ich dir eigentlich jemals erzählt, wo mein Name herkommt?« »Dein neuer Name?« »Mein einziger Name. Das Hier und Jetzt ist das Einzige, was zählt.« Sein Haar war um weitere zehn Zentimeter gewachsen. Der alte Mann rauchte immer noch, und seine Haut sah aus wie uraltes Leder. Aber sein Haar war dick, kraftvoll und glänzend, trotz der grauen Strähnen. Lang genug für einen richtigen Zopf. Heute trug er es geflochten. »An dem Abend, an dem ich mich dazu entschlossen habe«, sagte er, »standen zwei Monde am Himmel. Nicht 35 wirklich, ich habe es nur so wahrgenommen. Wegen des Monsunregens. Ich kochte mir gerade was zum Abendessen, da kam plötzlich so ein Monsunregen. Du hast bisher noch keinen erlebt, wirst du aber irgendwann. Der Himmel reißt einfach auf und wum. Dann regnet es wie aus Kübeln. Es kann ein ganz trockener Tag sein, knochentrocken, und plötzlich ist alles anders.« Er blinzelte, und für eine Sekunde wurden seine Lippen schlaff. »Arroyos verwandeln sich in reißende Sturzbäche. Das ist ganz schön eindrucksvoll, mein Sohn.« Ed leckte an seinem Pecannusseis. »Jedenfalls war ich mit Kochen beschäftigt, als es anfing zu regnen. Ich aß, was ich gekocht hatte, und saß da und fragte mich,
wohin das Leben mich wohl führen mochte.« Er blinzelte erneut. »Ich fing an, über deine Mutter nachzudenken. Ich hab nie viel darüber geredet, was sie mir bedeutet hat, aber du kannst mir glauben, sie hat mir eine Menge bedeutet.« Er wandte sich ab, und Darrel beobachtete die Touristen, die an den indianischen Schmuckhändlern und Töpfern vorbeischlenderten, die in einer Nische des Gouverneurspalastes saßen. Gegenüber auf der anderen Straßenseite standen zahlreiche Verkaufsbuden mit Kunstgegenständen auf der Plaza und ein Musikpodium mit einem Mikrofon, an dem sich Amateursänger versuchen konnten. Wer behauptete denn, dass das Singen von Folksongs eine aussterbende Kunst sei? Oder vielleicht galt das nur für das richtig gute Singen von Folksongs. »Das Nachdenken über deine Mutter machte mich traurig, aber auch ein bisschen high. Nicht so, wie wenn man betrunken ist. Es machte mir Mut. Plötzlich wusste ich, dass es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Ich sehe aus dem Fenster, die Scheibe ist ganz nass, und alles, was man vom Himmel sieht, ist tiefes Schwarz und ein großer verschwommener Mond. Nur waren es diesmal zwei Monde - durch das 36 nasse Glas wurde das Licht so gebrochen, dass dieser Eindruck entstand. Drücke ich mich verständlich aus?« »Das nennt man Refraktion«, sagte Darrel. Er hatte Physik als Nebenfach studiert und eine Zwei bekommen. Ed betrachtete seinen Sohn voller Stolz. »Genau. Refraktion. Es waren nicht zwei separate Monde, sondern eher zwei übereinander liegende, die sich zu etwa zwei Dritteln überlappten. Es war schön. Plötzlich hatte ich ganz stark das Gefühl, dass deine Mutter Kontakt zu mir aufnahm. Genauso waren wir nämlich gewesen. Die ganze Zeit zusammen, aber zwei eigenständige Personen, die sich gerade genug überlappten, dass es funktionierte. Wir waren fünfzehn, als wir uns kennen lernten, und mussten warten, bis wir siebzehn waren, damit wir heiraten konnten. Ihr Vater war ein schwerer Alkoholiker und konnte mich auf den Tod nicht ausstehen. « »Ich hab immer geglaubt, dass Großvater dich mochte.« »Er lernte mich allmählich schätzen«, erklärte Ed. »Zu der Zeit, als du ihn gekannt hast, mochte er jeden.« Darrel hatte nur angenehme und erfreuliche Erinnerungen an seinen Großvater. Schwerer Alkoholiker? Was für Überraschungen hatte sein Vater sonst noch für ihn in petto? »Jedenfalls waren die beiden Monde offensichtlich deine Mutter und ich, und in dem Moment beschloss ich, ihr zu Ehren diesen Namen anzunehmen. Hab einen Anwalt hier in der Stadt konsultiert, bin zum Gericht gegangen und hab's gemacht. Was den Staat New Mexico betrifft, ist es damit offiziell und völlig legal, mein Sohn. Und noch wichtiger, für mich ist es etwas absolut Heiliges.«
Ein Jahr, nachdem Darrel zu seinem Vater gezogen war, wurde bei Edward Two Moons ein bilaterales kleinzelliges Lungenkarzinom in der Lunge festgestellt. Der Krebs hatte be6z reits in der Leber gestreut, und die Ärzte sagten, er solle nach Hause gehen und die Zeit genießen, die ihm noch blieb. In den ersten Monaten ging es ihm noch ganz gut, außer dass er an Kurzatmigkeit und einem ständigen trockenen Husten litt. Dad las eine Menge über die alte indianische Religion und schien mit sich im Einklang zu sein. Darrel gab sich entspannt, doch ihm brannten die ganze Zeit die Augen. Der letzte Monat, den sie komplett im Krankenhaus verbrachten, war hart. Darrel saß am Bett seines Vaters und lauschte seinem Atem. Beobachtete untätig die Monitoren und freundete sich mit ein paar von den Krankenschwestern an. Tränen vergoss er nicht, spürte nur einen Schmerz ganz tief im Bauch. Er nahm fünfzehn Pfund ab. Doch er fühlte sich nicht geschwächt. Ganz im Gegenteil, es war, als würde er von einer ungeahnten Reserve zehren. Die letzten beiden Tage seines Lebens schlief Edward Two Moons. Nur einmal erwachte er mitten in der Nacht, setzte sich keuchend auf und wirkte verängstigt. Darrel eilte zu ihm und nahm ihn in den Arm. Versuchte, ihn vorsichtig wieder hinzulegen, doch Dad wehrte sich, wollte sitzen bleiben. Darrel ließ ihn gewähren, und irgendwann entspannte sein Vater sich wieder. Das Licht von den Monitoren gab seinem Gesicht eine leicht grünliche Farbe. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus. Er wollte unbedingt etwas sagen. Darrel blickte ihm tief in die Augen, doch zu dem Zeitpunkt sah sein Vater bereits nichts mehr. Darrel hielt ihn ganz fest und legte ein Ohr an die Lippen seines Vaters. Ein trockenes Röcheln kam heraus. Dann: »Veränderung. Mein Sohn. Ist. Gut.« Dann fiel er wieder in tiefen Schlaf. Eine Stunde später war er tot. 37 Am Tag nach der Beerdigung ging Darrel zum Gericht und reichte einen Antrag auf Namensänderung ein. 5 Katz dachte während der Heimfahrt über den Mord an Olafson nach. Sowohl der Doc als auch Darrel hatten von Wut gesprochen, und sie könnten durchaus Recht haben. Aber wenn Wut das Hauptmotiv war, hätte man eher zahlreiche Verletzungen erwartet, nicht einen einzigen massiven Schlag. Ein Einbrecher, der überrascht wurde, würde dazu passen. Der offen stehende Lagerraum ebenfalls. Es könnte zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, Olafson erklärte, er würde die Polizei rufen, und wandte dem Schurken den Rücken zu.
Dämliches Verhalten. Olafsons Kommentare hinsichtlich der Klage gegen Bart und Emma Skaggs trieften vor Arroganz. Vielleicht war er zu selbstsicher geworden und hatte den Einbrecher nicht ernst genommen. Der überdimensionale Chromhammer deutete darauf hin, dass der Mörder nicht bereits mit der Absicht gekommen war zu töten. Lag in der Wahl der Waffe etwas Symbolisches - Kunst als Mordwaffe, wie Darrel gesagt hatte -, oder war es reiner Opportunismus gewesen? Katz hatte gelernt, mit Symbolen zu leben. Das kam ganz von allein, wenn man eine Künstlerin heiratete. Eine Möchtegernkünstlerin. Erst die Skulpturen, dann die beschissenen Gemälde. Sei gnädig. Valerie hatte schon Talent. Aber nicht genug. Er verdrängte den Gedanken an sie und wandte sich wieder dem Fall zu. Ihm fiel zwar nichts Neues ein, aber als 38 er zu Hause ankam, den Wagen parkte und in seine Bude ging, dachte er immer noch darüber nach. Das Zimmer war noch so, wie er es verlassen hatte: blitzsauber. Er klappte das Schrankbett herunter, aß eine Kleinigkeit, sah fern und dachte noch ein bisschen nach. Er wohnte in einem dreißig Quadratmeter großen, mit einem Blechdach versehenen Anbau hinter dem Rolling-Stone-Marmor-und-Granitwerk auf dem südlichen Teil der Cerrillos Road. Es gab ein Wohnzimmer und eine Nasszelle aus Fiberglas. Warm wurde es dank eines Heizgeräts, Klimaanlage funktionierte durch Öffnen der Fenster. Er kochte auf einer Elektroplatte und bewahrte seine wenigen Habseligkeiten in einem Stahlspind auf. Aus dem Fenster fiel der Blick auf übereinander gestapelte Steinplatten und Gabelstapler. Eine provisorische Behausung, die dauerhaft geworden war. Oder zumindest halbwegs dauerhaft, denn vielleicht fand er ja doch eines Tages ein richtiges Haus. Zurzeit sah er dafür keine Veranlassung, denn die Miete war minimal, und er brauchte niemanden zu beeindrucken. In New York hätte er für dieselbe Knete noch nicht mal ein Feldbett in irgendeinem Keller bekommen. Er war der mittlere Sohn eines Zahnarztes und einer Hygienikerin, Bruder von zwei weiteren Zahnärzten, in Great Neck bei New York aufgewachsen, ehemaliger Sportler, hatte aber keinen Studienabschluss, das schwarze Schaf einer sich entschieden zur Mittelschicht zugehörig fühlenden Familie. Nachdem er sein Studium an der State University of New York in Binghamton abgebrochen hatte, hatte er fünf Jahre als Barkeeper in Manhattan gearbeitet, war dann ans John Jay College gegangen und hatte einen Abschluss in Strafrechtspflege gemacht. Während der anschließenden fünf Jahre beim New York Police Department war er Streifenwagen in Bedford Stuyve 38 sand, Brooklyn, gefahren, hatte undercover als Drogenermittler gearbeitet, war im Gefängnis eingesetzt worden und schließlich im Revier
Zwo-Vier in der Innenstadt gelandet, wo er für die Westseite des Central Park zwischen Neunundfünfzigster und Sechsundachtzigster Straße zuständig war. Es war schön, so viel im Park zu tun zu haben. Bis es nicht mehr schön war. Er arbeitete weiter nebenbei als Barkeeper und konnte genügend Geld sparen, um sich eine Corvette zu kaufen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wo er sie parken und wann er sie benutzen sollte. An dem Abend, an dem er Valerie kennen lernte, war er gerade in einem Laden im Village damit beschäftigt, lächerliche Früchtemartinis zu mixen. Zunächst war sie ihm nicht besonders aufgefallen. Ihre Freundin Mona hatte ihn angemacht. Damals stand er auf vollbusige Blondinen. Als er später erfuhr, wie durchgeknallt Mona war, war er froh, dass er sich nicht mit ihr eingelassen hatte. Nicht dass mit Valerie alles so toll gelaufen wäre, aber das konnte man nicht darauf schieben, dass sie verrückt war. Bloß ... Schluss mit der Grübelei. Er las eine Weile in einem Taschenbuch, einem Polizeiroman, der keinerlei Ähnlichkeit mit der Realität hatte, die er kannte, doch das war genau das, was er jetzt brauchte. Schon nach wenigen Minuten war er schläfrig, legte das Buch auf den Boden, schaltete das Licht aus und streckte sich. Bald würde die Sonne aufgehen, und um sieben Uhr würden Al Kilcannon und die Arbeiter auf dem Hof der Marmorfabrik rufen und lachen und die Maschinen in Gang setzen. Manchmal brachte Al seine Hunde mit, die wie verrückt kläfften. Katz hatte seine Ohrstöpsel auf dem Nachttisch bereitliegen. Aber vielleicht würde er sie gar nicht benutzen. Vielleicht 39 sollte er einfach aufstehen, sich warm anziehen und ein Stück laufen, bevor er sich mit Darrel bei Denny's traf. In dieser hässlichen Bude hier aufzuwachen konnte deprimierend sein. Er vermisste zwar Valerie nicht, doch er vermisste es, morgens neben einem warmen Körper aufzuwachen. Vielleicht vermisste er sie doch ein bisschen. Vielleicht war er einfach zu müde, um zu wissen, wie er sich fühlte. An dem Abend, an dem sie sich kennen lernten, wurde Mona von irgendeinem Losertyp abgeschleppt, und Valerie blieb allein zurück. Nun, da sie nicht mehr in Monas Schatten stand, war sie irgendwie auffälliger, und Steve betrachtete sie genauer. Dunkle, zu einem Pagenkopf geschnittene Haare, blasses ovales Gesicht, vielleicht zehn Pfund zu viel, aber die waren gut verteilt. Große Augen, selbst aus der Ferne gesehen. Sie wirkte verloren und tat ihm Leid, deshalb ließ er ihr einen Cosmopolitan bringen. Sie blickte zur Bar, zog die Augenbrauen hoch und kam herüber. Die Proportionen stimmten eindeutig.
Sie gingen zusammen in ihre Wohnung im East Village, weil sie ein eigenes Zimmer hatte und er nur einen durch Vorhänge abgeteilten Bereich in einer Zweizimmerwohnung auf der Dreiunddreißigsten, die er mit drei Kumpels teilte. Valerie wirkte weiterhin wie verloren und redete nicht viel, doch beim Sex drehte sie voll auf und liebte wie eine Tigerin. Hinterher nahm sie einen Joint aus ihrer Handtasche. Während sie ihn rauchte, erzählte sie ihm, sie sei Malerin und Bildhauerin, stamme aus Detroit, habe einen Abschluss der New York University und würde bisher von keiner Galerie vertreten, hätte aber schon einige Stücke auf Straßenmärkten verkauft. Darauf erzählte er ihr, was er beruflich mach 40 te. Sie blickte auf die Asche, die von dem Joint zurückgeblieben war, und fragte: »Nimmst du mich jetzt fest?« Er lachte und zeigte ihr seinen eigenen Vorrat. Sie teilten sich das Hasch. Drei Monate später ließen sie sich ganz spontan standesamtlich trauen, womit Katz seine Familie ein weiteres Mal enttäuschte. Valerie ihre Familie ebenfalls, wie sich herausstellte. Ihr Vater war Anwalt. Sie war als Jugendliche in leicht zwielichtige Kreise geraten und hatte ihren Eltern nichts als Probleme bereitet. Zunächst schien diese Art von Rebellion ihre Beziehung genügend zu festigen. Doch schon bald reichte das nicht mehr. Nach einem Jahr gingen sie sich meist aus dem Weg und beschränkten ihren Kontakt auf höfliche Floskeln und gelegentlichen Sex, der immer leidenschaftsloser wurde. Katz gefiel die Polizeiarbeit ganz gut, doch er redete mit Valerie nie darüber, weil Reden nichts brachte und Schilderungen von Gewalt ihre Veganerseele erschütterten. Außerdem kam sie beruflich nicht besonders voran, und die Tatsache, dass er mit seinem Job zufrieden war, half ihr auch nicht weiter. In der Nacht, die alles veränderte, machte er mit einem Exsoldaten namens Sal Petrello als Partner die zweite Hälfte einer Doppelschicht. Es war eine ruhige Nacht. Sie hatten ein paar Jugendliche verfolgt, die offensichtlich irgendwelchen Unfug im Park vorhatten, einem deutschen Touristen zurück zur Fifth Avenue geholfen und waren einem Hinweis auf einen tätlichen Angriff nachgegangen, der sich jedoch als lautstarkes Gezänk zwischen einem Paar mittleren Alters entpuppte. Zehn Minuten vor Mitternacht kam die Meldung, dass nahe Central Park West und Einundachtzigster Straße ein offensichtlich verwirrter Mann nackt herumliefe. Als sie dort hinkamen, fanden sie nichts. Keinen Verrückten, nackt oder sonst wie, keinen der Zeugen, die angerufen 40 hatten, überhaupt keinen Menschen. Nur Dunkelheit und dichtes Laubwerk im Park und die Geräusche vom Verkehr auf der Straße. »Vermutlich eine Falschmeldung«, sagte Petrello. »Irgendwer wollte uns verarschen.«
»Vermutlich«, stimmte Katz ihm zu. Aber er war sich nicht sicher. Irgendwas juckte ihn im Nacken, und zwar so beharrlich, dass er tatsächlich nach hinten griff, um festzustellen, ob da nicht ein Käfer seine Haut erkundete. Kein Käfer, nur dieses Kribbeln. Sie suchten noch fünf Minuten herum, fanden nichts, meldeten die Sache als Fehlanzeige und gingen zurück. Auf dem Weg zum Auto sagte Petrello: »Besser so. Wer will schon was mit Verrückten zu tun haben?« Sie waren fast am Auto, als der Mann plötzlich von irgendwo hervorsprang, sich vor ihnen aufbaute und ihnen den Weg versperrte. Ein großer muskulöser Typ mit kantigem Gesicht und breitem Kiefer, rasiertem Schädel und einem Brustkorb wie ein Bär. Splitterfasernackt. Und erregt. Er schrie und fuhr dabei mit dem linken Arm wild durch die Luft. In der Hand hatte er etwas Glänzendes. Petrello war näher an ihm dran, wich ein Stück zurück und griff nach seiner Waffe, aber nicht schnell genug. Der Typ machte erneut eine heftige Bewegung mit dem Arm. Petrello schrie auf und hielt sich die Hand. »Steve, er hat mich erwischt!« Katz hatte inzwischen die Waffe gezogen. Der nackte Irre kam grinsend auf ihn zu, trat in das durch die Bäume schimmernde Licht der Straßenlaternen. Nun konnte Steve erkennen, was er in der Hand hielt. Ein Rasiermesser. Mit Perlmuttgriff. Rostrot von Petrellos Blut. Katz behielt die Waffe im Auge, während er gleichzeitig einen verstohlenen Blick zu seinem Partner warf. Sal presste 41 eine Hand fest auf die Wunde. Blut sickerte hervor, aber nur langsam. Gut. Sah nicht so aus, als wäre eine Ader verletzt. Sal stöhnte. »Arschloch. Erschieß ihn, Steve.« Der Wahnsinnige bewegte sich auf Katz zu und beschrieb dabei mit dem Rasiermesser kleine konzentrische Bögen. Katz zielte auf sein Gesicht. »Stillgestandenkeinebewegung!« Der Verrückte blickte auf seinen Schritt hinunter. Er war wirklich erregt. Sal schrie. »Erschieß ihn, Steve! Ich sag auch nichts. Mein Gott, ich brauch einen Arzt. Nun erschieß ihn doch endlich, um Himmels willen!« Der Wahnsinnige lachte, den Blick immer noch auf sein steifes Glied gerichtet. Katz sagte: »Leg das Rasiermesser hin. Sofort.« Der Irre senkte den Arm, als wollte er gehorchen. Lachte in einer Weise, die Katz das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Oh Gott«, sagte Sal. Er und Katz starrten ungläubig, als der Verrückte eine rasche hackende Bewegung nach unten machte und ein Organ weniger hatte. Das Department schickte Katz und Petrello zu diversen Psychologen. Petrello machte das nichts aus, weil er trotzdem bezahlt wurde und
ohnehin ernsthaft erwog, den Dienst zu quittieren. Katz hasste es aus allen möglichen Gründen. Valerie wusste, was passiert war, weil es in der Post stand. Diesmal wollte sie anscheinend, dass Steve darüber redete, also tat er es schließlich. »Ist ja widerlich«, sagte sie. »Ich glaube, wir sollten nach New Mexico ziehen.« Zuerst hatte er das für einen Scherz gehalten. Als er merk42 te, dass es ihr ernst war, fragte er: »Wie soll ich das denn machen?« »Tu es einfach, Steve. Wird Zeit, dass du mal ein bisschen spontan bist.« »Was soll das denn heißen?« Valerie antwortete nicht. Sie waren in ihrer Wohnung auf der Achtzehnten Straße West, Valerie schnitt Salat, Katz machte sich ein Cornedbeef-Sandwich. Kaltes Rindfleisch. Valerie hatte nichts dagegen, dass er Fleisch aß, aber sie konnte den Geruch nicht ertragen, wenn es gebraten wurde. Einige Sekunden herrschte frostige Stimmung, dann hörte sie mit dem Hacken auf, kam zu ihm herüber, legte den Arm um seine Taille und berührte seine Nase mit ihrer. Sie zog sich allerdings sofort wieder zurück, als hätten beide die Geste unpassend gefunden. »Lass uns doch mal ehrlich sein, Steve. Mit uns beiden läuft es seit einiger Zeit nicht so toll. Aber ich glaube, das liegt nicht an uns. Es ist die Stadt, die uns unsere Energie raubt. All diese spirituelle Verunreinigung. Was ich an diesem Punkt in meinem Leben brauche, Steve, ist Heiterkeit und keine vergiftete Umgebung. Santa Fe ist heiter. Es ist völlig anders als hier.« »Du warst schon mal dort?« »Als ich auf der High School war, hab ich mit meinen Eltern und Geschwistern dort Urlaub gemacht. Sie sind bei Gap und Banana Republic shoppen gegangen, und ich bin durch die Galerien gerast. Davon gibt es dort Unmengen. Es ist nur eine kleine Stadt, aber es gibt tolles Essen, tolle Clubs und vor allem ganz viel Kunst.« »Wie klein?« » Sechzigtausend.« Katz lachte. »Die wohnen ja hier in einem einzigen Block.« »Genau das meine ich.« 7i »Und wann hast du vor, das zu machen?« »Je eher, desto besser.« »Val«, sagte er, »es dauert noch Jahre, bis ich eine halbwegs anständige Rente kriegen würde.« »Renten sind was für alte und kranke Leute. Du hast immer noch die Chance, jung zu sein.« Was sollte das denn bedeuten? »Ich muss es tun, Steve. Ich ersticke hier.« »Ich werde darüber nachdenken.« »Denk aber nicht zu lange nach.«
An diesem Abend hatte er, nachdem Valerie ins Bett gegangen war, die Website des Santa Fe Police Department im Internet aufgerufen. Ein kleines schnuckeliges Department, das Gehalt reichte allerdings nicht an das beim NYPD heran. Dafür gab es einige nette Dinge. Übernahme auf gleicher Ebene war möglich, und es bestand die Regelung, dass man mit dem Streifenwagen nach Hause fahren konnte, sofern das nicht weiter als sechzig Meilen war. Und ein Stellenangebot für einen Detective. Er hatte in letzter Zeit häufig daran gedacht, sich für einen Detective-Posten zu bewerben, wusste jedoch, dass es sowohl beim ZwoVier als auch in den benachbarten Revieren eine Warteliste gab. Außerdem erzählte Sal Petrello allen, dass Katz vor Schreck erstarrt wäre und dass sie von Glück sagen könnten, dass der Verrückte seinen eigenen Pimmel abgeschnitten hätte und nicht ihre. Er spielte noch eine Weile an dem Computer herum. Holte sich einige Farbfotos von Santa Fe auf den Bildschirm. Schön war das zweifellos. So blau konnte kein Himmel sein, vermutlich hatte jemand an dem Foto rummanipuliert. Eher ein Dorf als eine Stadt. Wahrscheinlich todlangweilig, aber so viele faszinierende 43. Dinge machte er in der großen bösen Stadt auch nicht. Er schaltete alle Lichter aus, ging ins Bett und kuschelte sich an Valerie. Er legte seine Hand auf ihren Hintern und sagte: »Okay, wir machen's.« Sie brummte und schob seine Hand weg. Das meiste, was sie besaßen, war ohnehin Schrott, und was sie nicht auf dem Flohmarkt loswerden konnten, ließen sie da. Nachdem sie ihre Klamotten und Valeries Kunstutensilien zusammengepackt hatten, flogen sie an einem warmen Frühlingstag nach Albuquerque, nahmen sich am Flughafen einen Mietwagen und fuhren nach Santa Fe. Der Himmel konnte tatsächlich so blau sein. Diese ungeheure Weite und die Ruhe drohten Katz in den Wahnsinn zu treiben. Er hielt den Mund. In den letzten beiden Nächten hatte er von dem Wahnsinnigen mit dem Rasiermesser geträumt. In den Träumen war die Sache nicht so glimpflich ausgegangen. Vielleicht musste er wirklich seine Seele reinigen. Sie mieteten ein Haus in der Nähe des St. Francis Drive, nicht weit vom DeVargas-Einkaufszentrum entfernt. Val ging Kunstutensilien kaufen, Steve schaute beim Police Department vorbei. Wirklich ein winzig kleiner Laden. Hinter dem Haus gab es reichlich Parkplätze. Alles ganz relaxed. Und diese Ruhe. Der Boss war eine Frau. Das könnte interessant sein. Er nahm ein Bewerbungsformular mit nach Hause, wo er eine ganz aufgeregte Valerie antraf, die gerade eine große Tüte voller Farbtuben und Pinsel auf dem Klapptisch ausleerte, an dem sie aßen. »Ich bin noch mal in der Canyon Road gewesen«, erzählte sie ihm. »Da gibt es ein Fachgeschäft für Künstlerbedarf. Man sollte ja meinen, die sind teuer, aber die Sachen kosten
44 ungefähr zwei Drittel von dem, was ich in New York dafür bezahlt hätte.« »Ist ja toll«, sagte er. »Warte, das ist noch nicht alles.« Sie begutachtete eine Tube mit Kadmiumgelb und legte sie lächelnd wieder hin. »Während ich warten musste, fiel mir ein Scheck auf, der hinter der Kasse an der Wand klebte. Ein alter Scheck, das Papier ist schon ganz vergilbt. Aus den Fünfzigerjahren. Und rate mal, von wem der war?« »Van Gogh.« Sie starrte ihn wütend an. »Von Georgia O'Keeffe. Sie hat ganz in der Nähe gewohnt, bevor sie die Ranch kaufte. Sie hat ihre Sachen in demselben Laden gekauft wie ich.« Katz dachte: Als ob das was nützen würde. Er sagte: »Das ist ja irre.« »Machst du dich über mich lustig, Steve?«, fragte sie. »Natürlich nicht«, behauptete er. »Ich find das echt cool.« Er war ein schlechter Lügner, und beide wussten das. Es dauerte drei Monate, bis sie ihn verließ. Genau gesagt vierundneunzig Tage. In der Zeit bekam Katz eine Stelle als Police Officer III, und man versprach ihm, ihn nach sechzig Tagen zum Detective zu ernennen, falls sich niemand mit mehr Erfahrung bewarb. »Um ganz ehrlich zu sein«, erklärte er Lieutenant Barnes, »ich hab zwar undercover gearbeitet, aber keine echte Detective-Arbeit gemacht.« »Hey«, sagte Barnes, »Sie waren fünf Jahre in New York. Da kommen Sie ganz bestimmt mit dem Kram zurecht, den wir hier kriegen.« Als er am Tag vierundneunzig nach Hause kam, stellte er fest, dass Valeries Sachen weg waren, und fand einen kurzen Brief auf dem Klapptisch. 44 Lieber Steve, sicher kommt das für Dich nicht überraschend, denn Du bist genauso unzufrieden wie ich. Ich habe jemanden kennen gelernt und möchte mir nicht die Chance entgehen lassen, glücklich zu sein. Du solltest ebenfalls glücklich sein. Sieh es so, dass ich Dir helfen und nicht wehtun will. Ich zahle die halbe Monatsmiete plus Nebenkosten. V . Der Mann, den sie kennen gelernt hatte, war ein Typ, der tagsüber Taxi fuhr und sich als Bildhauer ausgab. So war das nun mal in Santa Fe, hatte Katz rasch gelernt. Jeder war kreativ. Val und Taxi hielten es einen Monat miteinander aus, aber sie hatte keine Lust, zu Katz zurückzukehren. Stattdessen ließ sie sich auf eine Reihe von Beziehungen mit ähnlichen Typen ein, hatte keine feste Adresse und malte ihre scheußlichen abstrakten Bilder. Da sie in einer kleinen Stadt lebten, lief Valerie ihm ständig über den Weg. Die Männer, mit denen Valerie zusammen war, waren anfangs immer nervös, wenn sie Katz kennen lernten. Doch wenn diese Typen merkten, dass Katz ihnen nichts tat, entspannten sie sich und bekamen
diesen verschlagenen und zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Katz wusste genau, was das bedeutete: Die Kerle hatten Val als Tigerin erlebt. Er selbst hatte überhaupt keinen Sex, was nicht schlimm war. Seine Libido war gleich null, stattdessen engagierte er sich in seinem neuen Job. Trug eine blaue Uniform, die besser saß als seine NYPD-Klamotten, fuhr viel herum und bekam ein Gefühl für die Gegend, genoss die Gesellschaft diverser Partner, die alles locker angingen, und löste Probleme, die lösbar waren. Es schien zwar töricht, die Miete für eine viel zu große Wohnung zu bezahlen, doch er war zu träge, um sich ernst 45 haft nach etwas Neuem umzusehen. Dann erhielt er eines Nachts die Meldung, dass sich im Rolling-Stone-Marmor-und-Granitwerk ein Eindringling herumtreiben würde. Meist war so etwas falscher Alarm, doch diesmal erwischte er einen Jugendlichen, der sich zwischen den Steinplatten versteckte. Keine große Sache, bloß ein Loser, der einen Ort suchte, an dem er ein bisschen Koks sniffen konnte. Katz verhaftete ihn und übergab ihn dem Drogendezernat. Der Werkseigentümer, ein großer, schwerer Mann mit rötlichem Gesicht namens Al Kilcannon, tauchte in dem Moment auf, als Katz den Jungen abführte. Er hörte Katz sprechen und fragte: »Sind Sie aus der Stadt?« »Aus New York.« »Gibt es eine andere Stadt?« Kilcannon stammte aus As-toria im Stadtteil Queens, war dort mit ein paar Griechen im Marmorgeschäft tätig gewesen. Vor zehn Jahren war er nach Santa Fe gezogen, weil seine Frau sich nach Ruhe und Frieden sehnte. »So bin ich auch hierher geraten«, sagte Katz, während er den Jungen hinten in den Streifenwagen verfrachtete und die Tür zuknallte. »Und gefällt's ihr?« »Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, tat's das.« »Oje«, sagte Kilcannon. »Also eine von diesen ... eine Künstlerin?« Katz lächelte. »Noch einen schönen Abend, Sir.« »Bis demnächst, Officer Katz.« Eine Woche später trafen sie sich an der Theke einer Bar in der Water Street. Kilcannon war schon ziemlich betrunken, aber ein guter Zuhörer. Als Katz ihm erzählte, dass er daran dächte umzuziehen, sagte Kilcannon: »Weißt du was, ich hab da 'ne Bude hinten auf dem Werksgelände. Nichts Besonderes. Mein Sohn hat 45 dort gewohnt, als er auf dem College war und mich nicht ausstehen konnte. Jetzt wohnt er in Boulder, Colorado, und die Bude steht leer. Wir könnten folgenden Deal machen: Zweihundert Dollar im Monat, einschließlich Nebenkosten, und du bewachst das Werksgelände, wenn du da bist.« Katz dachte darüber nach. »Was ist, wenn ich schlafe?« »Dann schläfst du, Steve. Die Hauptsache ist, dass jemand da ist.«
»Mir ist trotzdem nicht ganz klar, was du von mir erwartest. « »Da zu sein«, sagte Kilcannon. »Ein Polizist auf dem Gelände ist eine wunderbare Abschreckung. Park deinen Polizeiwagen so, dass man ihn von der Straße aus sehen kann. Ich hab einen großen Warenbestand. Für mich war das 'ne preiswerte Versicherung.« »Mein Partner und ich wechseln uns ab«, sagte Katz. »Ich kann den Wagen nicht jeden Tag mit nach Hause nehmen.« »Kein Problem, Steve. Wenn er da ist, ist er da. Die Hauptsache ist, du bist da, und jeder weiß es. Ich mach dir keinen Druck, aber es könnte für uns beide eine gute Sache sein. Die Bude hat sogar Kabelanschluss.« Katz trank sein Glas aus. Dann sagte er: »Gut, warum nicht?« Seitdem wohnte er dort, hatte mal einen Möchtegernmarmordieb geschnappt, einen echten Trottel, der sich ohne fremde Hilfe mit Kilcannons letzter Nordland-Rose-Platte davonmachen wollte. Sonst war nichts gewesen außer streunenden Hunden und einer denkwürdigen Situation, als ein trächtiges Kojotenweibchen tatsächlich den weiten Weg von den Sangre de Cristo Mountains hierher gefunden und zwischen zwei Paletten Brasilien-Blau ihre Jungen geworfen hatte. War wohl tatsächlich ein guter Deal für ihn und für Al. Wenn es einem nichts ausmachte, so zu wohnen. 46 Er lag auf seinem Bett und war kein bisschen müde. Er würde den morgigen Tag mit Hilfe des überschüssigen Adrenalins durchstehen und irgendwann am Abend umkippen. Doch er schlief trotzdem ein. Dachte über Valerie nach. Und darüber, warum ihr Name in Larry Olafsons Palm Pilot gestanden hatte. 6 Mit dem Frühstück waren die beiden Detectives rasch fertig. Darrel war früh aufgestanden, hatte sich an den Computer gesetzt und nach der aktuellen Adresse von Emma und Bart Skaggs gesucht. »In Embudo. Die haben eine Zusatznummer, das heißt, dass sie in einem Apartment wohnen«, erklärte er Katz. »Große Umstellung vom Leben als Viehzüchter.« »Embudo ist ganz hübsch«, sagte Katz. »Es ist nur ein Apartment, Steve.« Zorn blitzte in Darrels Augen auf. »Du magst unser Opfer wohl nicht.« Darrel starrte ihn an. Schob seinen Teller von sich. »Lass uns losfahren. Der Highway sollte jetzt angenehm leer sein.« Embudo lag fünfzig Meilen nördlich von Santa Fe, dort wo der Highway auf den tosenden Rio Grande stößt. Ein netter kleiner Ort mit viel Grün, so etwas wie eine Oase in der Hochwüste. Selbst wenn große Trockenheit herrschte, sorgte der Fluss dafür, dass der Boden feucht und die Vegetation üppig blieb. Die Wohnung der Skaggs bestand aus einem Zimmer über einer Garage hinter einem Laden an der Straße, der altmodische Klamotten, Chilis, eingelegtes Gemüse und Yogakasset
47 ten verkaufte. Die Besitzerin des Ladens war eine leicht versponnene weißhaarige Frau Mitte fünfzig mit einem mitteleuropäischen Akzent. Sie sagte: »Die putzen für mich, dafür berechne ich ihnen weniger Miete. Nette Leute. Was wollen Sie von ihnen?« »Wir mögen nette Leute«, sagte Two Moons. Katz betrachtete ein Päckchen mit gemahlenen Chilischoten. Sie waren bei der Landwirtschaftsausstellung im letzten Jahr mit dem blauen Band ausgezeichnet worden. »Die sind gut«, sagte die weißhaarige Frau. Sie trug eine schwarze Yogahose mit einer roten Seidenbluse und ungefähr zwanzig Pfund Bernsteinschmuck. Katz lächelte sie an, legte das Päckchen wieder hin und eilte hinter Two Moons her. »Polizei?« Emma Skaggs öffnete die Tür und stieß einen Seufzer aus. »Kommen Sie rein. Wir finden schon irgendwo ein bisschen Platz für Sie.« Die Wohnung war nicht größer als Katz' Schuppen, mit dem gleichen Heizgerät, zwei Kochplatten und einem Bad im hinteren Teil. Doch die niedrige Decke und die winzigen Fenster, die nachträglich in die offenbar echten Adobewände eingebaut worden waren, gaben dem Ganzen die Atmosphäre einer Gefängniszelle. Man hatte mit kleinen Mitteln versucht, für ein bisschen Behaglichkeit zu sorgen: verschlissene Kissen auf einem alten klobigen viktorianischen Sofa, zerlesene Taschenbücher in einem billigen Büchergestell, abgewetzte, aber hübsch gefärbte Navajo-Läufer auf dem Steinfußboden und etwas Pueblo-Töpferware auf der Theke in der Kochnische. Über dem zugemauerten Kamin hing ein Foto von mageren Kühen, die auf einer gelben Weide grasten. Im Bad rauschte die Toilette, doch die Tür blieb geschlossen. 47 Emma Skaggs räumte Zeitungen von zwei Klappstühlen und bedeutete den beiden Detectives, sich zu setzen. Sie war eine kleine, dürre Frau mit von der Sonne gegerbter Haut, der man ihr Alter ansah. Sie hatte rot gefärbtes Haar, und ihr Gesicht war von unglaublich tiefen Falten durchzogen. Blue Jeans spannten sich über ihren knochigen Hüften, dazu trug sie einen handgestrickten Wollpullover. Drinnen war es nämlich kalt. Sie hatte flache Brüste, und ihre Augen waren grau. »Sie sind wegen Olafson hier«, sagte sie. »Sie haben also davon gehört«, sagte Katz. »Ich sehe fern, Detective. Und wenn Sie etwas Hilfreiches erfahren wollen, verschwenden Sie hier nur Ihre Zeit.« »Sie hatten Streit mit ihm«, sagte Darrel. »Nein«, entgegnete Emma Skaggs. »Er hatte Streit mit uns. Uns ging's gut, bis dieser Dreckskerl auftauchte.« »Sie mochten sich also nicht.«
»Kein bisschen. Wollen Sie 'nen Kaffee?« »Nein danke, Ma'am.« »Aber ich hol mir einen.« Emma ging die zwei Schritte bis zur Kochnische und schenkte sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. Geschirr war in einem Abtropfgestell gestapelt, Dosen, Flaschen und andere Behälter waren ordentlich sortiert, aber trotzdem wirkte der Raum unaufgeräumt. Zu viele Sachen und zu wenig Platz. Die Badezimmertür ging auf, und Bart Skaggs kam, sich die Hände abtrocknend, heraus. Er war breit und o-beinig und hatte einen Bauch, der über seine Rodeo-Gürtelschnalle hing. Er war nicht viel größer als seine Frau, und seine Haut hatte das gleiche verbrannte und ledrige Aussehen, das entsteht, wenn man jahrzehntelang zu viel UV-Strahlung abbekommen hat. Offenbar hatte er die Detectives sprechen gehört, denn er zeigte sich keineswegs erstaunt. 48 »Kaffee?«, fragte Emma. »Ja, klar.« Bart Skaggs kam herüber, hielt ihnen seine wie Sandpapier aussehende linke Hand hin und blieb stehen. Um seine rechte Hand war ein Verband gewickelt. Geschwollene Finger ragten aus der Gaze hervor. »Ich hab ihnen gerade erklärt«, sagte Emma, »dass sie von uns nichts erfahren können.« Bart nickte. »Ihre Frau hat gesagt, dass alles ganz gut lief, bis Olafson auftauchte«, erklärte Two Moons. »Er und die anderen.« Bart Skaggs fuhr mit der Zunge innen an seiner Wange entlang, als versuche er, einen Tabakpriem zu lösen. »Die anderen, das bedeutet ForestHaven.« »ForestHell würde besser passen«, sagte Emma. »Ein Haufen Weltverbesserer, die es keine zwei Stunden im Wald aushalten würden, wenn man sie ohne ihre Handys dort aussetzte. Und er war der Schlimmste.« »Olafson.« »Bis der kam, haben die eigentlich nur geredet. Dann kriegten wir plötzlich eine gerichtliche Verfügung.« Ihre Haut verfärbte sich leicht rosa, und die grauen Augen wurden zornig. »Es war so unfair, dass der arme Junge, der uns die Papiere zustellte, sich entschuldigt hat.« Bart Skaggs nickte erneut. Emma reichte ihm eine Tasse. Er ließ sich auf ein Knie nieder und trank. Über den Rand der Tasse betrachteten seine Augen forschend die Detectives. »Wenn Sie in der Erwartung herkamen, wir würden abstreiten, dass wir stinksauer sind, dann haben Sie Ihre Zeit verplempert«, sagte Emma. »Das tun wir häufiger«, erwiderte Katz. »Kann ich mir vorstellen«, sagte Emma. »Aber wir waren so was nicht gewöhnt. Damals, als man uns noch erlaubte, 8T
eine ehrliche Arbeit zu leisten. Wir waren jede Minute beschäftigt, und das nicht, weil wir es uns in den Kopf gesetzt hatten, reich zu werden. Mit Rinderzucht wird man nicht reich. Haben Sie eine Vorstellung, was heutzutage pro Tier bezahlt wird? Diese ganzen Vegetarier, die Lügen über gutes, gesundes Fleisch erzählen.« Ein weiteres Nicken von ihrem Mann. Starker, schweigsamer Typ? »Trotzdem«, fuhr sie fort, »haben wir es gerne getan. Es ist das, was unsere Familien seit Generationen gemacht haben. Wem haben wir denn damit geschadet, dass unsere Tiere Unkraut und Pflanzen abweideten, die wegen der Brandgefahr eh hätten geschnitten werden müssen? Als würden Elche nicht genau das Gleiche tun. Und als würden Elche nicht ihren Mist in die Flüsse ablassen. Das ist etwas, was wir nie getan haben, egal was manche Leute behaupten.« »Was haben Sie nie getan?«, fragte Darrel. »Das Wasser verschmutzt. Wir haben immer dafür gesorgt, dass die Herde ihr Geschäft abseits vom Wasser erledigte. Wir haben das Land und die Natur geachtet, und zwar mehr als diese Weltverbesserer. Sie wollen eine gesunde Umwelt? Ich sage Ihnen, wie die Umwelt gesund bleibt: durch Viehzucht. Da tun die Tiere, was sie tun sollen und wo sie es tun sollen. Da ist alles am richtigen Platz, so wie Gott es gewollt hat.« »Und Larry Olafson hat alldem ein Ende bereitet«, sagte Katz. »Wir haben versucht, mit ihm zu reden, vernünftig zu reden. Stimmt doch, Barton?« »Ja.« »Ich hab ihn persönlich angerufen«, fuhr sie fort. »Nachdem wir die gerichtliche Verfügung erhalten haben. Er wollte noch nicht mal ans Telefon kommen. Ließ den Anruf von 49 irgendeinem pampigen jungen Schnösel entgegennehmen, der wie eine kaputte Schallplatte immer wiederholte: >Mr Olafson ist beschäftigte Gerade darum ging es uns ja auch. Wir wollten uns weiter mit unserer gottgegebenen Arbeit beschäftigen. Er hatte andere Pläne.« »Haben Sie ihn jemals erreicht?«, fragte Two Moons. »Ich musste rüber nach Santa Fe fahren, in diese Kunstgalerie, die er dort hat.« »Wann war das?« »Vor etwa zwei Monaten, wer erinnert sich schon an so was?« Sie schnaubte verächtlich. »Das nennt man also Kunst. Beschäftigt? Er lungerte da herum und trank schaumigen Kaffee. Ich hab mich vorgestellt und ihm gesagt, dass er einen großen Fehler macht, wir wären nicht die Feinde der Natur oder seine oder von sonst wem. Wir wollten nichts weiter als unsere Rinder auf den Markt bringen, und wir brauchten auch nur noch ein paar Jahre, dann würden wir vermutlich eh in Ruhestand gehen. Also möge er uns doch bitte in Ruhe lassen.« »Hatten Sie tatsächlich vor, in Ruhestand zu gehen?«, fragte Katz. Sie ließ die Schultern sinken. »Es blieb uns keine andere Wahl. Wir sind die letzte Generation, die an Viehzucht interessiert ist.«
Katz nickte verständnisvoll. »Die Kinder haben ihre eigenen Vorstellungen.« »Unserer ganz bestimmt. Ein Sohn, Bart junior. Er arbeitet als Steuerberater in Chicago, hat dort an der Northwestern University studiert und ist geblieben.« »Er verdient gut«, sagte Bart. »Macht sich nicht gern schmutzig.« »Das hat er nie gemocht«, erklärte Emma. »Ist aber ganz in Ordnung.« Ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. 50 »Sie haben also Olafson erklärt, Sie brauchten noch ein paar Jahre, bis Sie in Ruhestand gehen könnten«, sagte Two Moons. »Was hat er darauf erwidert?« »Er hat mich angesehen, als war ich ein begriffsstutziges Kind. Hat gesagt: >Das alles ist nicht mein Problem, meine Liebe. Ich spreche für die Natur.<« Emmas Stimme hatte eine Baritonlage angenommen und klang nun wie die hochnäsige Stimme eines Butlers in einer Sitcom. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. »Er wollte nicht zuhören«, sagte Katz. »Als ob er ein Gott wäre«, sagte Emma. »Als wäre jemand gestorben und hätte ihn zu einem Gott gemacht.« »Und jetzt ist er gestorben«, sagte Bart. Er sprach die Worte leise, aber deutlich aus. Das war die einzige halbwegs eigenständige Bemerkung, die von ihm gekommen war, seit die Detectives da waren. Sie wandten sich ihm zu. »Haben Sie irgendeine Meinung darüber, Sir?«, fragte Two Moons. »Worüber?« »Über den Tod von Mr Olafson.« »Eine gute Sache«, antwortete Bart. »Ganz und gar nicht schlecht.« Er nippte an seinem Kaffee. »Was ist mit Ihrer Hand passiert, Mr Skaggs?«, fragte Darrel. »Er hat sie sich am Stacheldraht aufgerissen«, sagte Emma. »Wir hatten noch ein paar alte Rollen übrig, und er wollte sie zu einem Händler fahren, der Lagerbestände billig verkauft. Beim Aufladen ist er abgerutscht und mit der Hand in den Stacheldraht geraten. Das sind große Rollen. Ich hab ihm gesagt, das ist 'ne Arbeit für zwei Leute, nicht für einen, aber wie immer wollte er nicht auf mich hören. Er ist ganz schön stur.« »Du etwa nicht?«, giftete Bart zurück. 50 »Wann ist das passiert?«, fragte Two Moons. »Vor vier Tagen«, antwortete Bart. »Ich hab's dann nicht mehr geschafft, den Draht zu dem Händler zu bringen.« »Muss ziemlich wehtun.« Bart zuckte mit den Achseln. Die Detectives schwiegen. »Sie machen einen Fehler, wenn Sie glauben, dass er etwas damit zu tun hat.« Emma schüttelte den Kopf. »Bart hat in seinem ganzen Leben nie
etwas Grausames gemacht. Selbst wenn er ein Tier schlachtet, macht er das behutsam.« »Wie machen Sie das denn, Mr Skaggs?«, fragte Katz. »Was?« »Behutsam schlachten.« »Ich erschieß sie«, sagte Skaggs. »Genau hier.« Er griff mit der Hand in den Nacken und fühlte nach der weichen Stelle, an der die Wirbelsäule auf den Schädel trifft. »Man schießt in einem ganz bestimmten Winkel. Man muss sie nämlich im verlängerten Rückenmark erwischen.« »Aber nicht mit einer Schrotflinte, oder?«, sagte Katz. »Zu viel Sauerei aus der Nähe.« Bart sah ihn an, als wäre er ein Außerirdischer. »Man nimmt ein Gewehr mit langem Lauf oder eine großkalibrige Handfeuerwaffe mit einer Magnum-Ladung.« Emma stellte sich vor ihren Mann. »Eines wollen wir mal klarstellen: Wir haben nie in großem Stil geschlachtet. Das wäre gegen die Bestimmungen gewesen. Wir haben das Vieh zu einem Schlachthof in Iowa transportiert, und die haben alles von dort aus erledigt. Ich hatte gemeint, wenn wir Fleisch für uns brauchten. Dann hab ich's ihm gesagt, und er hat einen alten Ochsen in den Pferch getrieben und ihn von seinem Elend erlöst. Wir haben das gute Fleisch nie für uns selbst genommen. Aber wenn man das Fleisch von alten Tieren ein paar Tage im Kühlraum abhängen lässt, es dann in 51 Bier oder sonst was mariniert, kriegt man immer noch ein leckeres Steak.« Bart Skaggs streckte den verletzten Arm aus. Der Gazeverband war an den Rändern vergilbt und mit Blut besprenkelt. »Jüdische Rabbis schneiden den Tieren mit einem Messer die Kehle durch. Ich hab in Iowa gesehen, wie sie das machen. Wenn sie gut mit dem Messer umgehen können und das Messer richtig scharf ist, geht das sehr schnell. Diese Rabbis schneiden gut. Sie betäuben die Tiere noch nicht einmal. Wenn sie nicht gut sind, ist es eine ziemliche Sauerei.« »Sie selbst betäuben die Tiere also«, sagte Katz. »Nur für alle Fälle.« »Bevor Sie sie erschießen.« »Genau. Um sie zu beruhigen.« »Wie macht man das?« »Man lenkt sie ab, indem man leise, freundlich und tröstend auf sie einredet. Dann haut man ihnen auf den Kopf.« »Auf das Rückenmark?« Bart schüttelte den Kopf. »Von vorne, über die Augen. Um sie zu verwirren.« »Womit schlägt man sie?«, fragte Katz. »Mit einer Stange«, antwortete Bart. »Oder einem Vorschlaghammer. Ich hatte ein Stück Achse von einem alten Lastwagen. Das hat gut funktioniert.«
»Ich versuch mir das gerade vorzustellen«, sagte Katz. »Erst schlagen Sie das Tier vorn, dann laufen Sie drum herum und erschießen es von hinten?« Schweigen. »Hab ich was nicht mitgekriegt?«, fragte Katz. Emmas Blick wurde steinern. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, und ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie Ihre Zeit verschwenden.« Plötzlich fasste ihr Mann sie am Arm und zog sie so weit 52 zurück, dass sie nicht mehr vor ihm stand. Sie wollte etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. Bart hielt den Blick starr auf Katz gerichtet. »Wer das Schießen übernimmt, betäubt nicht. Jemand anders betäubt sie, und wenn sie in den Beinen einknicken, erschießt man sie. Andernfalls wird das Tier unruhig, springt vielleicht, und man schießt daneben. Wenn das passiert, muss man mehrmals schießen, und das ist dann eine echte Sauerei.« Eine lange Rede für ihn. Offenbar regte ihn das Thema an. »Klingt wie eine Aufgabe für zwei Personen«, stellte Two Moons gelassen fest. Ein weiteres Schweigen. »Ja«, sagte Bart schließlich. »Wir haben das zusammen gemacht«, sagte Emma. »Ich mit dem Hammer und Bart mit dem Gewehr. So wie wir alles zusammen gemacht haben, als wir die Ranch noch hatten. Teamarbeit, das ist wichtig. Deshalb führen wir auch eine gute Ehe.« »Kühe sind große Tiere«, sagte Darrel. »Um einen besseren Winkel zu haben, mussten Sie sich auf irgendwas drauf-stellen, richtig?« »Warum ist das alles so wichtig?«, fragte Emma. »Sagen wir mal, wir sind neugierig, Ma'am.« Sie starrte ihn an. Katz fragte: »Haben Sie eine Leiter benutzt, Mr Skaggs?« »Das Tier ist in einem Pferch«, sagte Bart. »Der ist so eng, dass es sich nicht allzu viel bewegen kann. Auf unserer Ranch lag der Pferch tiefer als der übrige Hof. Man musste die Tiere über eine Rampe hineinführen. Außerdem haben wir Bänke benutzt, damit wir groß genug waren.« Ein kleiner Mann, der sich groß fühlte, wenn er schlachtete, dachte Katz. »Schlachten ist doch keine Wissenschaft.« Emma starrte 52 sie wütend an. »Außerdem sollten Sie sich schämen ... zwei Alte wie uns als Kriminelle hinzustellen.« Two Moons zuckte mit den Achseln. »Ich hab doch nur gesagt, dass ich an Ihrer Stelle ziemlich sauer auf Olafson wäre. Der Mann hat Ihnen die Existenz geraubt.« »Er hat noch was Schlimmeres getan. Er hat sie uns geraubt und verbrannt. Er wusste, dass wir uns gerade so über Wasser halten konnten, und hat dafür gesorgt, dass wir ertranken.« Sie wies mit einer
heftigen Armbewegung auf das überfüllte, enge Zimmer um sie herum. »Glauben Sie, dass wir so leben wollen? Okay, der Mann ist tot, und ich weine ihm keine Träne nach. Aber wir haben ihm ganz bestimmt kein Härchen gekrümmt. Und dadurch, dass er tot ist, geht es uns kein bisschen besser. Das Gericht hat gesagt, wir dürfen die Herde nicht weiden lassen, und das war's.« »Vorhin haben Sie gesagt, dass diese Leute fast nur geredet haben, bevor Olafson der Gruppe beitrat«, wandte Two Moons ein. »Jetzt, wo er weg ist, könnten Sie da nicht noch einmal vor Gericht gehen?« »Wovon sollen wir das denn bezahlen?« Sie sah Darrel forschend an. »Sie sind doch Indianer, oder? Ich hab von irgendwelchen Vorfahren Choctaw-Blut in mir. Vielleicht habe ich deshalb so gern das Land bearbeitet. Sie sollten das verstehen. Der Mann hat uns beschuldigt, wir würden das Land zugrunde richten, aber er hat uns zugrunde gerichtet.« »Rache kann süß sein«, sagte Katz. »Das ist doch idiotisch!«, blaffte Emma ihn an. »Warum sollte ich wegen ihm mein Leben zerstören? Ich bin noch gesund, und Barton auch.« Plötzlich lächelte sie, allerdings leicht giftig. »Außerdem bekomme ich jeden Monat einen Scheck von der US-Regierung, egal ob ich den ganzen Tag im Bett liege oder aufstehe. Ist das nicht himmlisch? Das muss das Gelobte Land sein.« 53 Das Ehepaar führte die Detectives zu einem Lagerschuppen hinter der Garage, der aussah, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Drinnen war es eiskalt. Die Kälte kroch einem vom Fußboden sofort in die Schuhe. Bart zeigte den Detectives die besagte Stacheldrahtrolle und anderes Gerumpel, zum Beispiel eine Zugwinde. Ein großes schweres Ding, das an einigen Stellen rostig war. Blut konnten die Detectives keins entdecken. Ohne Vorwarnung wickelte Bart die Gaze von seiner Hand und zeigte ihnen die übel gezackte Wunde, die etwa fünf Zentimeter lang war und von der Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger bis zu seinem knorrigen Handgelenk verlief. Sie war mit dem dicksten chirurgischen Garn genäht worden, das Katz je gesehen hatte. An den Rändern begann sie zu verschorfen, während sie um die Einstichstellen noch ein wenig nässte. Die Haut war entzündet und geschwollen. Die Verletzung schien erst wenige Tage alt zu sein. Katz erkundigte sich nach dem Namen des Arztes, der die Wunde genäht hatte. Emma Skaggs lachte. »Der steht vor Ihnen«, sagte Bart. »Sie, Mrs Skaggs?« »Höchstpersönlich.« »Sind Sie gelernte Krankenschwester?« »Gelernte Ehefrau«, sagte Emma. »Flicke ihn schon seit vierzig Jahren immer wieder zusammen.«
Bart fuchtelte grinsend mit seiner verletzten Hand herum. »Ich hab noch Veterinärspritzen und Garn von der Ranch übrig. Für ihn braucht man Zeug in dieser Größe. Er hat eine Haut wie ein Bulle. Antibiotika für Tiere hab ich auch noch. Ist das Gleiche wie für Menschen, nur viel billiger.« »Was haben Sie denn zum Betäuben benutzt?«, fragte Katz. »Aber vielleicht will ich das auch gar nicht wissen.« 54 »Crown-Royal-Whiskey, fünfundvierzig Prozent.« Bart brach in schallendes Gelächter aus und brauchte eine Weile, um sich wieder zu beruhigen. »Haben Sie jetzt genug gesehen?« Er begann, seine Hand wieder zu umwickeln. »Sieht ein bisschen entzündet aus«, sagte Darrel. »Ein bisschen ist das entscheidende Wort«, erwiderte Emma. »Ein bisschen von irgendwas kann niemandem schaden.« »Im Gegensatz zu Mr Olafson«, sagte Katz. »Kennen Sie noch jemanden, der ihn nicht mochte?« »Nein«, antwortete Emma, »aber wenn er andere so behandelt hat wie uns, muss es eine Menge Leute geben, die ihn nicht mochten.« Katz fragte: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir einen Techniker vorbeischicken, der Ihnen beiden die Fingerabdrücke abnimmt?« »Hab ich kein Problem mit«, sagte Bart. »Behandeln uns wie Kriminelle«, murmelte Emma. »Das ist reine Routine«, erwiderte Two Moons. »Seine müssen irgendwo in den Akten sein«, sagte Emma. »Von damals, als er in Korea gedient hat. Meine sind nicht erfasst, aber machen Sie, was Sie wollen. Muss schön sein, so viel Zeit zu haben.« »War gut, wenn Sie vorläufig keine weiten Reisen oder so was machen«, sagte Darrel. »Klar doch«, entgegnete Emma. »Wir wollten gerade nach El Morocco fliegen oder wie auch immer das heißt.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Dieser Ort, wo die spielen und Fräcke tragen wie bei James Bond?« »Monaco«, antwortete Bart. »Sean Connery spielt dort Bakkarat.« »Na bitte«, sagte sie. An die Detectives gewandt: »Er war immer ein großer Filmfan.« 54 Auf der Rückfahrt sagte Katz: »Kipp mir Whiskey in die Kehle, Alte, und fang an zu nähen.« »Du denkst, sie könnten den Mord begangen haben?« »Gehasst haben sie ihn genug dafür, und sie wissen, wie man einem kräftig eins auf den Kopf gibt. Aber wenn Ruiz mit dem Schlagwinkel Recht hat, sind sie zu klein.« »Vielleicht haben sie eine Leiter mitgebracht.« Selbst Darrel musste bei dieser Vorstellung lächeln.
»Und lustige Clownschühchen und eine Blume, die Wasser spritzt«, sagte Katz. »Wenn sie so gut vorbereitet waren, hätten sie auch eine Waffe mitgebracht. Die Tatsache, dass eine zufällig verfügbare Waffe benutzt wurde, legt nahe, dass es kein vorsätzlicher Mord war. Ich nehme zwar an, dass es in Kunstgalerien Leitern gibt, um Bilder aufzuhängen, also hätte theoretisch eine rumstehen können. Andererseits sind die Wände in Olafsons Galerie nicht sehr hoch, und die Vorstellung, dass einer von denen auf die Leiter steigt, um Olafson eins über die Birne zu ziehen, ist ziemlich lächerlich.« »Da hast du Recht«, sagte Darrel. »Wenn die beiden ihn hätten umbringen wollen, hätten sie das genau geplant. Was ist mit dem Sohn?« »Der Steuerberater in Chicago? Wieso der?« »Er hat sich zwar nicht gern die Hände schmutzig gemacht, aber wenn Mom und Pop die Ranch verlieren, könnte ihn das schon ärgern. Vielleicht hat er geglaubt, er als zivilisierter Mensch könnte das in einem Gespräch mit Olafson klären. Vielleicht ist er hierher geflogen, um sich mit Olafson zu treffen, und Olafson hat ihn genauso behandelt, wie er's mit seiner Mutter gemacht hat. Ein Wort gab das andere, Olafson hat ihn runtergeputzt, ihn auf seine arrogante Art einfach stehen lassen, und Bart junior ist ausgeflippt.« Auf seine arrogante Art. Klang fast, als ob Darrel etwas wüsste, das Katz nicht wusste. Katz sagte: »Wenn man die 9* Mutter von irgendwem beleidigt, kann man nie wissen, was passiert. Knöpfen wir uns den Sohn vor.« 7 Kurz vor der Stadtgrenze gerieten sie in einen Stau und waren erst um 13.45 Uhr wieder in der Polizeistation. Auf der Rückfahrt von Embudo nach Santa Fe waren sie an der Abzweigung zum Santa Clara Pueblo vorbeigekommen, doch Two Moons hatte das anscheinend nicht bemerkt. Selbst wenn, hätte er es wahrscheinlich nicht erwähnt. Das einzige Mal, als Katz versucht hatte, mit seinem Partner über seine indianischen Wurzeln zu sprechen, hatte Darrel das Thema gewechselt. Am nächsten Tag hatte er ihm allerdings einen kleinen Keramikbären mitgebracht. War zwar nicht ganz gelungen, aber trotzdem sah das Tierchen ganz niedlich aus. »Das hat mein Vater in den letzten Monaten seines Lebens gemacht«, erklärte Two Moons. »Er hat ungefähr fünfhundert Stück davon hergestellt und sie in Schachteln aufbewahrt. Nach seinem Tod hat seine Töpferlehrerin sie mir gegeben. Sie sagte, er wäre nicht stolz auf seine Schöpfungen gewesen und hätte warten wollen, bis er die Kunst wirklich beherrscht, bevor er mir seine Arbeiten zeigt. Meine Anerkennung wäre ihm wichtig gewesen. Sie war der Meinung, dass ich die Bären haben sollte. Du kannst ihn behalten, wenn du willst.« »Er gefällt mir«, hatte Katz gesagt. »Bist du sicher, Darrel?«
»Yeah, das ist schon in Ordnung.« Two Moons hatte mit den Schultern gezuckt. »Ich hab ein paar davon meinen Töchtern gegeben, aber was sollen die mit so vielen Bären 56 anfangen? Wenn du irgendwelche Kinder kennst, ich hab noch reichlich.« Seitdem hatte der Bär Katz beim Kochen Gesellschaft geleistet, beziehungsweise, wenn er sich irgendwas aufwärmte. Er stand neben seiner Kochplatte. Katz hatte keine Ahnung, was der Bär symbolisieren sollte, aber er nahm an, es hatte etwas mit Kraft und Stärke zu tun. Die beiden Detectives holten sich Sandwiches aus einem Automaten in der Polizeistation und gaben dann Barton Skaggs jr. in diverse Datenbanken ein. Keine Vorstrafen, doch der Steuerberater tauchte zweimal bei Google auf. Junior war als Partner in einer großen Chicagoer Kanzlei aufgeführt, und er hatte im vergangenen Sommer einen Vortrag über Steuerparadiese gehalten. Nach einiger Sucherei in nach Nummern geordneten Telefonbüchern fanden sie auch seine Privatadresse - ein Haus am North Shore, nicht weit von der Michigan Avenue entfernt. »Das ist eine schöne Gegend«, sagte Katz. »Direkt am Wasser, glaub ich.« »Zahlen verarbeiten bringt mehr als Viehzucht«, sagte Two Moons. »Rufen wir ihn an.« Sie erreichten Skaggs in seiner Steuerberatungsfirma. Ein gebildet klingender Mann, der sich gut ausdrücken konnte. Von seiner Herkunft war nichts mehr zu spüren. Auf den ersten Blick hin schien er mit seinen Eltern nichts gemein zu haben, doch je länger er redete, desto bestimmter wurde er, und die Detectives konnten etwas von der Streitbarkeit seiner Mutter heraushören. »Es überrascht mich, dass Sie meine Eltern in diesem Zusammenhang überhaupt in Erwägung ziehen.« »Das tun wir nicht, Sir«, erwiderte Katz. »Wir stellen nur Nachforschungen an.« 56 »Reicht es denn nicht, dass man sie schon einmal vor Gericht gestellt hat? Man hat sie finanziell ruiniert und seelisch zugrunde gerichtet, und nun unterstellen Sie ihnen etwas so Fürchterliches. Das ist unglaublich. Sie wären gut beraten, Ihre Bemühungen auf etwas anderes zu konzentrieren.« »Wann waren Sie das letzte Mal in Santa Fe, Mr Skaggs?« »Ich? Letztes Jahr an Weihnachten. Warum?« »Sie stehen also nicht in regelmäßigem Kontakt mit Ihren Eltern?« »Natürlich tue ich das. Wir telefonieren regelmäßig.« »Aber Sie kommen sie nicht besuchen?« »Ich hab doch gesagt, ich war letztes Weihnachten dort. Mit meiner Familie. Wir sind eine Woche geblieben. Aber warum ist das -«
»Ich hab mich bloß gefragt«, sagte Katz, »ob Sie Lawrence Olafson zufällig mal getroffen haben.« Mehrere Sekunden vergingen, bevor Barton Skaggs jr. sagte: »Nein. Warum sollte ich?« Er lachte schroff. »Das ist mit Sicherheit das hirnrissigste Gespräch, das ich seit langem geführt habe. Und ich glaube, ich werde es jetzt sofort beenden.« »Sir«, sagte Darrel, »eine Sache würde mich noch interessieren. Ihre Eltern wurden finanziell ruiniert. Nach dem zu urteilen, was ich gesehen habe, leben sie unter ziemlich ärmlichen Bedingungen. Während Sie andererseits -« »Viel Geld verdiene«, blaffte Junior. »Am North Shore wohne. Einen Mercedes fahre. Meine Kinder auf eine Privatschule schicke. Meinen Sie, ich hab nicht versucht, ihnen zu helfen? Ich hab ihnen sogar angeboten, sie hierher zu holen, ihnen eine hübsche Eigentumswohnung zu kaufen und alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Aber weiß der Himmel, wie sie in der Stadt zurechtkommen würden. Ich hätte ihnen auch in New Mexico ein neues Haus gekauft, irgendwo, wo 57 sie ein paar Tiere halten könnten und nicht von linken Idioten belästigt würden. Das alles haben sie abgelehnt.« »Warum?« »Warum?« Junior hörte sich fassungslos an. »Sie haben sie doch kennen gelernt. Es kann doch nicht sein, dass Sie so ... so wenig einfühlsam sind. Was glauben Sie denn, warum? Meine Eltern haben ihren Stolz. Sie sind eigensinnig. Doch vielleicht ist es auch nur, weil sie nicht über ihren Schatten springen können. Sie sind die Eltern, ich bin das Kind, sie haben mich großgezogen, also kann nur ich von ihnen etwas annehmen. Es darf niemals andersherum sein. Und nun, um Himmels willen, lassen Sie sie in Ruhe. Lassen Sie sie in Frieden leben.« Die nächsten zwei Stunden versuchten die Detectives herauszufinden, ob Barton Skaggs junior in jüngster Zeit nach Santa Fe gereist war. Das war seit dem u. September viel schwieriger als früher, da die Fluggesellschaften nervös waren. Deshalb gerieten ihre Anfragen in einen wahren Sumpf von Bürokratismus. Sie wurden von einer Abteilung zur nächsten verbunden und bekamen allmählich am Hörer heiße Ohren. Am Ende waren Katz und Two Moons einigermaßen überzeugt, dass Skaggs in letzter Zeit nicht von Chicago nach Albuquerque oder von einer anderen Stadt im Mittleren Westen zu einer anderen Stadt in New Mexico geflogen war. Auch hatte er keinen Privatflug direkt nach Santa Fe gebucht. Keines der großen Hotels hatte seinen Namen im Register verzeichnet. »Ich glaube ihm«, erklärte Two Moons. »Hey«, sagte Katz, »vielleicht ist er die ganze Strecke mit seinem Mercedes gefahren. Hat im Auto geschlafen. Bei all dem Leder war das doch ganz bequem.« »Das glaub ich nicht.« 57
»Warum nicht?«, fragte Katz. »Ich glaub es einfach nicht.« »Hat dir das irgendein Geist zugeflüstert, Darrel?« »Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass er seinen Job und seine Familie verlässt, um nach Santa Fe zu düsen und Olafson den Schädel einzuschlagen. Und warum gerade jetzt? Das ergibt alles keinen Sinn. Es muss eine bessere Erklärung geben.« »Dann nenn sie mir«, sagte Katz. »Würd ich gerne tun, wenn ich sie wüsste.« Two Moons kratzte sich am Kopf. »Was nun?« Katz kratzte sich ebenfalls am Kopf. Die Marotte war ansteckend. »Wir rufen den Doc an und hören mal, ob er die Autopsie schon gemacht hat.« Ruiz hatte die Obduktion durchgeführt, konnte ihnen aber nichts Neues mitteilen. »Es stimmt alles mit meiner ursprünglichen Hypothese überein. Ein extrem heftiger Schlag auf den Schädel - man kann sehen, wo der Knochen ins Gehirn getrieben wurde -hat allen möglichen Schaden angerichtet.« »Und Sie glauben immer noch, dass der Täter ein großer Mann war?«, fragte Two Moons. »Oder ein kleiner Mann auf Stelzen.« »Wie sieht der toxikologische Befund aus?« »Die spezielleren Untersuchungen sind noch nicht fertig, aber ich kann Ihnen sagen, dass Olafson keinen Alkohol und keine Drogen im Körper hatte.« »Gesunde Lebensweise.« »Zumindest in jüngster Zeit«, sagte Dr. Ruiz. »Einige ältere Vernarbungen an der Leber deuten auf starken Alkoholmissbrauch in der Vergangenheit hin.« »Ein trockener Alkoholiker.« 58 »Oder einfach jemand, der beschlossen hat, sich zu mäßigen.« »So viel zum Thema gute Vorsätze«, sagte Two Moons. Darrel rief seine Frau an. Katz rief in der Galerie an. Summer Riley meldete sich. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, fragte sie. »Noch nicht, Ms Riley. Irgendwelche fehlenden Kunstgegenstände?« »Ich hab gerade erst angefangen, die Inventarliste durchzugehen. Bisher ist mir nichts aufgefallen, aber es gibt hier jede Menge ungerahmte Gemälde.« »Hat Mr Olafson je erwähnt, dass er früher mal ein Alkoholproblem hatte?« »Klar«, sagte Summer. »Er war da sehr offen. Wie in allem. « »Was hat er Ihnen darüber erzählt?« »Wir sind häufig zusammen Mittagessen gegangen. Ich hab mir dann ein Glas Wein bestellt, und Larry sah dieses Glas irgendwie ... sehnsüchtig
an, verstehen Sie, was ich meine? Aber er hat trotzdem Mineralwasser bestellt. Er hat mir erzählt, er hätte in jüngeren Jahren sehr viel getrunken. Das war auch einer der Gründe, weshalb seine Ehe kaputtgegangen ist. Er sagte, er hätte großes Glück gehabt, die richtige Hilfe zu bekommen.« »Wo?« »Von irgendeinem spirituellen Therapeuten.« »In New York?« »Genau«, sagte sie. »Das ist schon lange her.« »Wissen Sie, wie Mr Olafsons Exfrau heißt?« »Chantal. Sie ist jetzt Chantal Groobman. Frau von Robert Groobman.« Schweigen in der Leitung. »Groobman und Partner? Investment Banking? Er ist riesigl« 59 Diese Begeisterung. Das bewies, was Katz schon immer vermutet hatte. Die Größe ist wirklich entscheidend. Eine Frau mit englischem Akzent meldete sich in der Wohnung der Groobmans auf der Park Avenue. Anhand der Adresse wusste Katz genau, wo das war: zwischen Dreiundsiebzigster und Vierundsiebzigster Straße. Er stellte sich zehn Zimmer mit hohen Decken vor, ein hochnäsiges uniformiertes Dienstmädchen drinnen und draußen ein hochnäsiger uniformierter Türsteher. Einen Augenblick empfand er einen Anflug von Sehnsucht. »Mrs Groobman?« »Hier ist Alicia Small, ihre persönliche Assistentin.« Katz stellte sich vor und versuchte, ein bisschen New Yorker Smalltalk zu machen. Das war der falsche Schachzug. Alicia Small war nicht in Stimmung für Kumpelhaftigkeit und wurde frostig. »Mrs Groobman ist indisponiert.« »Können Sie mir vielleicht sagen, wann sie nicht mehr indisponiert ist?« »Nein. Ich werde Ihre Nachricht weiterleiten.« »Weiterleiten?«, fragte Katz. »Heißt das, dass sie nicht in der Stadt ist?« Pause. »Sie ist schon in der Stadt. Geben Sie mir Ihre Nummer, und ich werde ihr mitteilen -« »Ist Ihnen bekannt, dass Mrs Groobmans Exmann ermordet wurde?« »Das ist mir durchaus bewusst«, erwiderte Alicia Small. »Wie lange arbeiten Sie schon für >Madame« »Seit drei Jahren. Wenn das alles ist, Mr Katz -« »Detective Katz.« »Verzeihung. Detective Katz. Also, wenn das alles ist -« »Ist es nicht. Ich brauche die Namen der Kinder von Mr Olafson.« 59 »Es ist mir nicht gestattet, über Familienangelegenheiten zu sprechen.« »Das sind frei zugängliche Informationen.« Katz bemühte sich nicht, seine Verärgerung zu unterdrücken. »Warum wollen Sie mir das Leben unbedingt schwer machen?« »Woher weiß ich denn, dass Sie tatsächlich derjenige sind, der Sie zu sein behaupten?«
»Hier ist meine Nummer beim Santa Fe Police Department. Rufen Sie an, und verlangen Sie nach mir, aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit.« Ein solches Angebot hätten die meisten Leute abgelehnt. Alicia Small sagte jedoch: »Wiederholen Sie die Nummer bitte noch mal.« In der zweiten Runde des Gesprächs war sie zwar immer noch cool, fügte sich aber resigniert. »Was möchten Sie wissen?« »Die Namen der Kinder des Opfers.« »Tristan und Sebastian Olafson.« »Wie alt sind sie?« »Tristan ist zwanzig und Sebastian dreiundzwanzig.« »Und wo kann ich sie erreichen?« »Mr Katz, mir ist wirklich nicht wohl -« »Detective -« »Ja, ja, Detective Katz.« Sie war verärgert, aber er war es auch. »Ms Small, Ihr Wohlbefinden hat nicht die höchste Priorität. Ich muss mit den Söhnen reden.« Ein tiefer Seufzer kam durch den Hörer. »Tristan studiert an der Brown University, und Sebastian reist in Europa umher. « »Wo in Europa?« »Italien.« »Wo in Italien?« 60 »Venedig.« »Wo in Venedig?« »Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er im Hotel Danieli wohnt.« »Urlaub?« »Er treibt Studien in der dortigen Peggy-Guggenheim-Sammlung.« »Er ist Kunsthistoriker?« »Er malt«, sagte Alicia Small. »Guten Abend, Mister Katz.« Sie teilten sich die Olafson-Söhne auf. Katz erreichte Tristan in seinem Zimmer im Studentenwohnheim der Brown Uni-versity. Der Junge hatte eine tiefe, männliche Stimme. Er hatte durch seine Mutter vom Tod seines Vaters erfahren. »Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte?«, fragte er Katz. »Wer es getan hat.« »Noch nicht. Sie vielleicht?« »Könnte sonst wer sein. Er war nicht sehr beliebt.« »Wieso das?« »Er war kein netter Mensch.« Ein zynisches Lachen. »Wenn Sie auch nur ein bisschen recherchiert hätten, würden Sie das wissen.« Katz ignorierte die Spitze und versuchte, mehr aus ihm herauszubekommen, doch der junge Mann hatte nichts mehr zu sagen. Es schien ihn nicht zu berühren, dass er einen Elternteil verloren hatte. Als Katz auflegte, wurde ihm bewusst, dass er von Olafson immer nur als »er« gesprochen hatte. Two Moons berichtete Katz, er hätte Sebastian ausfindig gemacht. Er hatte in seinem Zimmer im Hotel Danieli geschlafen. »Der Junge war genervt. Nicht nur weil ich ihn geweckt
ioo habe. Fühlte sich belästigt, weil ich ihm Fragen über Olafson gestellt habe. Er sagte, sein Vater wäre ein fieser Typ.« »Bei dem anderen Sohn klang das genauso.« »Enge Familienbande.« »Beliebtes Opfer«, sagte Katz. »Das kann ja nur saukomisch werden.« Um sieben Uhr abends wollten sie Feierabend machen. Sie zogen gerade ihre Jacken über, da klingelte das Telefon auf Katz' Schreibtisch. Es war Chantal Groobman, die zurückrief und eine Nachricht hinterließ. Überrascht raste Katz zu seinem Schreibtisch zurück. Er und Darrel nahmen gleichzeitig die Hörer ab. »Hier ist Detective Steve Katz. Danke, Ma'am, dass Sie so schnell zurückrufen.« »Womit kann ich Ihnen helfen, Detective Katz?« Sie hörte sich angenehm an und hatte eine sanfte, freundliche Stimme. Nachdem er von ihrer persönlichen Assistentin so von oben herab behandelt worden war, hatte er mit einer Abfuhr gerechnet. »Alles, was Sie uns über Ihren Exmann erzählen können, könnte eine Hilfe sein, Ma'am.« »Der arme Larry«, sagte sie. »Er konnte ganz umgänglich sein, aber er hatte auch ein Talent, die Leute gegen sich aufzubringen. Ich bin überzeugt, dass das zum Teil mit Geltungsbedürfnis zu tun hatte. Der Rest war Taktik. Als Larry sein Geschäft aufbaute, hat er rasch gemerkt, dass Kunst die Leute unsicher macht, sogar reiche Leute. Er wurde ein Meister darin, Menschen subtil einzuschüchtern. Er stellte fest, dass man mit einer gewissen, bewusst kalkulierten Unverschämtheit ganz gut weiterkommen kann.« »Kunstkäufer mögen es also, wenn man sie schlecht behandelt?«, fragte Katz. »Manche ja, manche nein. Das Entscheidende ist, man muss spüren, zu wem man unverschämt sein kann und wem man um den Bart gehen muss. Larry war gut darin. Aber manchmal unterläuft selbst dem besten Tänzer ein falscher Schritt. Haben Sie irgendwelche Verdächtigen?« »Bisher nicht.« »Der arme Larry«, wiederholte sie. »Er hat tatsächlich geglaubt, er sei unsterblich.« »Wenn Sie mir die Frage erlauben, Ma'am, war Mr Olafsons aggressives Verhalten der Grund, warum Sie sich von ihm haben scheiden lassen?« »Das hat sicher dazu beigetragen«, antwortete Chantal Groobman. »Aber der Hauptgrund war, dass sowohl Larry als auch ich festgestellt haben, dass er etwas desorientiert war.« »In welcher Hinsicht?« »Stellen Sie mal eine wilde Vermutung an, Detective Katz.« Ein kehliges Lachen. Wie Valerie, wenn sie sich wie eine Tigerin fühlte. »In sexueller«, sagte Katz. »Richtig. Sie haben einen New Yorker Akzent. Sind Sie von hier?«
»Ja, Ma'am.« »Wir New Yorker merken auch wirklich alles.« »Mr Olafson hat sich also geoutet?« »Zu der Zeit, als ich ihn kannte, war er darum bemüht, sein inneres Ich zu finden. Sie können mir eher was darüber sagen, wie er sein Liebesleben letztlich geregelt hat. Ich habe Larry seit Jahren nicht gesehen. Meine Söhne ebenfalls nicht. Ich weiß, dass Sie sich mit ihnen in Verbindung gesetzt haben, und ich nehme an, es war notwendig. Trotzdem möchte ich, dass Sie sie in Ruhe lassen. Sie sind sehr erschüttert über Larrys Tod.« 62 »Bei allem Respekt, Ma'am«, sagte Katz, »ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sehr erschüttert waren.« »Sie kennen sie nicht, Detective Katz. Ich bin ihre Mutter.« »Was hatten die beiden für ein Verhältnis zu ihrem Dad?« »Sie haben ihn verachtet. Als sie noch klein waren, hat Larry sie ignoriert. Als sie heranwuchsen, hat er ihnen ein bisschen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings nur in Form von scharfer Kritik. Larry konnte ziemlich fies sein. Doch wie dem auch sei, der Mangel an väterlicher Zuwendung hat nichts mit Larrys Tod zu tun. Gestern hatte Tristan seine Abschlussprüfung an der Brown University, und ich bin bereit, jede Menge eidesstattlicher Erklärungen zu besorgen, die das bestätigen. Was Sebastian betrifft, der hat in der Guggenheim-Sammlung gearbeitet, wie er es seit vier Monaten tut, und zwar vor den Augen sämtlicher Angestellter.« »Sie haben sich gut vorbereitet, Mrs Groobman.« »Das muss man auch, wenn man seine Aufgabe als Elternteil ernst nimmt.« »Wann ist Mr Olafsons sexuelle Desorientierung erstmals deutlich geworden?« »Er war immer schon desorientiert, Detective. Ich war nur zu blöd, um das zu merken. Es wurde zum Problem, als Larry es merkte.« »Fing er da an zu trinken?« »Ach, das wissen Sie also auch«, sagte sie. »Ist Larry rückfällig geworden?« »Bei der Autopsie wurden alte Vernarbungen auf seiner Leber bemerkt.« »Oh«, sagte Chantal Groobman. »Wie ... traurig.« Ihre Stimme brach tatsächlich zwischen den beiden Worten. »Mr Olafson hat Freunden erzählt, er hätte Hilfe von einem spirituellen Therapeuten erhalten.« »So hat er ihn genannt?«, fragte sie. »Ich habe Dr. Weems 62 nie als besonders spirituell gesehen. Wirkte auf mich eher wie ein religiöser ... Coach.« Der Name kam Katz bekannt vor, aber er konnte ihn nicht einordnen. »Was für ein Arzt war er denn?«
»Das weiß ich nicht genau. Larry hat nichts darüber gesagt, und ich hab ihn nie gefragt.« Da fiel es Katz wieder ein: das Gemälde in Olafsons Haus. Kleine Kinder, die um einen Maibaum tanzen. Die Signatur: Michael Weems. »Könnte es sein, dass Dr. Weems auf ganz anderer Ebene eine Verbindung zu Ihrem Exmann suchte?« »Sie meinen auf sexueller Ebene?« Chantal Groobman lachte. »Das glaub ich nicht.« »Eher als Repräsentant. Er als Künstler und Ihr Mann als Kunsthändler.« »Weems ein Künstler?« Wieder dieses Lachen. »Sie machen wohl Witze! Das kann ich wirklich nicht glauben.« »Wieso, Ma'am?« »Myron Weems wäre der Letzte, von dem ich erwarten würde, dass er zum Künstler wird.« »Ich meinte Michael Weems«, sagte Katz. »Ach so ... natürlich. Jetzt verstehe ich Ihre Verwirrung. Ja, Michael Weems ist eine angesehene Malerin. Eine Frau, Detective. Myron war ihr Mann.« »War?« »Ein weiteres eheliches Band, das zerrissen ist. Trotz My-rons angeblicher Spiritualität.« »Eine Künstlerin und ein Prediger. Interessante Mischung.« »Sie kommen aus Nebraska«, sagte sie. »Oder irgendeiner anderen langweiligen Gegend. Provinzielle, bodenständige Leute. Sind beide zur Bibelschule gegangen. Michael hatte Talent und ging nach New York. Denn wo zieht es talentierte Menschen sonst schon hin? Sie ist ziemlich schnell groß 63 rausgekommen - sie ist nämlich eine erstklassige Künstlerin. Myron ist hinter ihr hergezockelt und hat den sozialen Aufstieg versucht.« »Spiritueller Therapeut für die Kunstwelt?«, sagte Katz. »So was in der Art. Dann beschloss er, dass ihm diese Welt nicht gefiel. Sie haben sich scheiden lassen, und er ist nach Nebraska zurückgekehrt. Oder wo auch immer er herkam.« »Vorher hat er allerdings noch Mr Olafson geholfen.« »Wenn Larry das den Leuten erzählt hat, dann ist es auch sicher so gewesen. Jetzt muss ich aber wirklich Schluss machen, Detective. Ich muss zu einer Veranstaltung und bin bereits spät dran.« Klick. Katz hatte noch ein paar Fragen, doch als er Chantal Groobman zurückrief, klingelte das Telefon und kein Anrufbeantworter schaltete sich ein. Katz und Two Moons unternahmen einen zweiten Versuch, das Gebäude zu verlassen. Diesmal kamen sie bis zur Treppe ins Erdgeschoss, als
ihnen Bobby Boatwright von unten aus der Eingangshalle laut »Hey!« zurief. Er hatte Olafsons Computer geknackt und gab ihnen eine kurze Zusammenfassung. »Keine großen Sicherheitsmaßnahmen und auch kein Versuch, irgendwas zu verbergen. Der Typ hat >01afsonart< als Passwort benutzt. Hatte allerdings auch nichts zu verheimlichen. Er hat mehrere Seiten mit Preislisten für Kunstwerke und die Adressen der wichtigsten Auktionshäuser als Bookmark gespeichert, ein bisschen Porno, das meiste schwul, ein bisschen hetero, und einen Haufen Restaurantführer sowohl hier aus der Gegend als auch für New York. Außerdem hat er ein Depot bei Merrill Lynch, Aktien und Wertpapiere, et 64 was über zwei Millionen Dollar. Soweit ich erkennen kann, ist der Kurswert seiner Anlagen seit dem Tech-Boom gefallen, hat sich aber inzwischen wieder etwas erholt.« »Was ist mit seinen Geschäftsfinanzen?«, fragte Two Moons. »Nicht im Computer«, sagte Bobby. »Versucht's mal bei seinem Steuerberater.« Es war mittlerweile zwanzig Uhr, zu spät, um noch irgend-wen anzurufen. Im Grunde hatten sie nichts erfahren. Schon bald würden die hohen Tiere bis hinauf zum Chief anfangen, Fragen zu stellen. Two Moons war klar, dass der Fall viele Spalten im Santa Fe New Mexican füllen würde - dem lokalen Tageblatt, dessen Sportteil genauso groß war wie der Nachrichtenteil. (Als sein Vater ihm erzählte, dass das örtliche Team The Isotopes hieß, war Darrel überzeugt gewesen, dass der Alte ihn zum Narren hielt.) Ein so spektakulärer Fall würde selbst vom Albuquerque Journal gerne aufgegriffen werden. Er hoffte, dass seine Töchter nicht darunter litten. All ihre Freunde wussten, womit ihr Vater sein Geld verdiente. Sie traten in die kalte Nachtluft hinaus und gingen zu ihren Autos. Darrel sagte: »Da ist noch etwas, das du wissen solltest. Ich hatte mal ... ich weiß nicht genau, wie man es nennen soll. Eine Auseinandersetzung, könnte man wohl sagen. Mit Olafson.« »Tatsächlich?«, fragte Katz. »Yeah.« Two Moons erzählte ihm die Geschichte. »Da war ich auch sauer gewesen«, sagte Katz. »Nun ja, ich dachte, du solltest es wissen.« Katz lächelte. »Scheint mir nicht relevant zu sein, Häuptling. Es sei denn, du hast ihn umgebracht.« 64 »Wenn ich ihn umgebracht hätte, hätte man keine Leiche gefunden.« »Sehr witzig, Partner.« Kurzes Schweigen. »Das hab ich mir allerdings schon gedacht.« Two Moons gestattete sich ein winziges Lächeln.
Sie waren bereits einige Schritte weitergegangen, als Katz sagte: »Wo wir gerade beim Beichten sind, ich hab auch was: Valeries Name steht in Olafsons Palm Pilot.« »Sie ist Künstlerin«, sagte Darrel. »Es gibt sicher eine logische Erklärung dafür.« »Sie hält sich für eine Künstlerin, Darrel. Du hast ihre Sachen doch gesehen.« »Stimmt.« »Und so, wie sie in letzter Zeit redet«, fuhr Katz fort, »hab ich sogar den Eindruck, dass sie selbst nicht mehr dran glaubt. Olafson war ein sehr anspruchsvoller Kunsthändler. Er hätte niemals auch nur in Erwägung gezogen, etwas von ihr zu nehmen.« »Also muss es einen anderen Grund dafür geben, dass sie in seinem Adressenverzeichnis steht«, sagte Darrel. »Genau.« Katz seufzte. »Ich dachte, ich geh mal rüber und red mit ihr. Eigentlich wollte ich es erst tun und dir anschließend davon erzählen. Weil ich nicht glaube, dass was Wichtiges dabei rauskommt.« »Vermute ich auch.« »Ich möchte aber nicht, dass du denkst, ich verheimliche dir was oder so.« »Das denke ich nicht.« »Gut«, sagte Katz. »Ich wollte eigentlich bis morgen damit warten, aber ich glaube, ich gehe jetzt gleich zu ihr. Wir können auch zusammen hingehen.« »Wenn du nichts dagegen hast, würd ich jetzt gern nach Hause fahren«, sagte Two Moons. 65 »Kein Problem, Darrel. Ich kann das auch alleine machen. « »Ja, ich denke, das ist eh besser.« 8 Katz saß bei laufendem Motor und Wärme produzierendem Gebläse in seinem Toyota und versuchte, Valerie zu Hause zu erreichen. Ihr Anrufbeantworter sprang an, und niemand unterbrach ihn, als er seinen Namen nannte. Darauf fuhr er zur Plaza, parkte auf der unteren Ebene des städtischen Parkhauses in der Nähe des La Fonda Hotel und ging zur Sarah Levy Gallery hinüber. Auf dem Schild an der Tür stand Geschlossen, doch da der Laden rundum Fenster hatte und das Licht brannte, konnte er Sarah an ihrem Schreibtisch sitzen sehen, umgeben von wunderbarer schwarzer Töpferware aus dem San Ildefonso Pueblo und einer Gruppe von Geschichtenerzählerfiguren mit weit aufgesperrten Mündern aus dem Cochiti Pueblo. Auf ihrer Nase saß eine Lesebrille. Katz klopfte leise an den Türpfosten. Sarah blickte über ihre Brille, lächelte, kam herüber und schloss die Tür auf. »Steve.« »So spät noch bei der Arbeit, Sarah?« »Immer.« Santa Fes Tophändlerin in Pueblo-Töpferware war eins sechzig groß, gertenschlank und äußerst attraktiv. Sie hatte dichte,
bläulich weiße Haare, die bis zu ihrem wohlgeformten Hintern reichten, und ein herzförmiges Gesicht, das keinerlei Make-up brauchte. Ihr Mann war plastischer Chirurg, und es ging das Gerücht, dass sie seine Dienste in Anspruch nähme. Katz wusste, dass das nicht stimmte. Sarah hatte einfach von Natur aus eine junge Haut. »Ist Val in der Nähe?« 66 »Hier ist sie nicht, aber du weißt schon, wo.« Ihr Blick deutete den Block hinauf. »Okay, danke.« »Keine Ursache, Steve.« Sie berührte ihn am Ärmel. »Sie war guter Laune, als sie gegangen ist.« Eine Warnung, dass er stören könnte. »Ich werd versuchen, sie ihr nicht zu verderben.« Die Parrot Bar war nur wenige Minuten entfernt auf der San Francisco Street zwischen einem Fossilienladen und einem Geschäft, das nur weiße Kleidung verkaufte. An diesem Abend spielte eine Doobie-BrothersCoverband, und die dröhnenden Bässe waren bereits draußen zu hören. Oh, oh, oh ... listen to the music. Rechts neben dem Eingang standen drei Motorradfahrer am Straßenrand und tranken Bier. Das war verboten, und fast jeder hier wusste, dass Katz Polizist war. Aber sie wussten außerdem, dass ihn das einen Dreck interessierte. Die Biker grüßten ihn mit Namen, und er winkte grüßend zurück. Er drängte sich durch die Menge der Trinker und swingenden Tänzer zu der auf Hochglanz getrimmten Bar, wo Val mit großer Wahrscheinlichkeit zu finden war. Und dort saß sie auch auf einem Barhocker in einem schwarzen ärmellosen und rückenfreien T-Shirt, Jeans und Stiefeln. Eingekeilt zwischen zwei Typen mit Pferdeschwänzen und krummen Rücken. Der alte Lammfellmantel, den sie im Winter trug, war ihr vom Schoß gerutscht und lag nun auf dem Boden, wo die Leute darauf herumtrampelten. Der Pferdeschwanz zu ihrer Linken hatte graue Haare und einen dürftigen Bart. Seine Hand lag auf Vals Rücken und verdeckte teilweise die tätowierte Gladiole, die sie sich im letzten Sommer hatte machen lassen. Dem Pferdeschwanz zur Rechten hing der Bauch über den Gürtel. Seine Wurstfin66 ger streichelten Vals Hintern, doch sie schien das nicht zu bemerken. Ganz schön breiter Hintern, fiel Katz auf. Die überflüssigen zehn Pfund hatten sich auf zwanzig erhöht. Waren zwar immer noch auf die richtigen Stellen verteilt, doch ihr Rücken war etwas füllig geworden, und kleine Fettpölsterchen wölbten sich über die obere Naht ihres Shirts. Außerdem hatte sie sich die Haare schneiden lassen. Richtig kurz, fast schon maskulin. Als sie sich umdrehte, sah Katz die lockere Haut an ihrem Hals, die Anfänge eines Doppelkinns. Blass wie immer. In dieser schummrigen Barbeleuchtung wirkte sie regelrecht bleich, doch das alles spielte keine Rolle. Sie zog die Männer magisch an. Das war schon immer
so gewesen und würde immer so sein. Und das nicht, weil sie locker war. Das war sie nicht. In mancher Hinsicht war sie die wählerischste Frau, die Katz je gekannt hatte. Vielleicht lag es an ihrer Unberechenbarkeit. Ihr Körper, üppig, kurvenreich und - machen wir uns doch nichts vor schwabbelig, versprach auf berauschende Weise sexuelle Erfüllung, doch ob dieses Versprechen eingelöst würde, war das große Geheimnis. So war sie schon gewesen, als sie noch mit Katz verheiratet war. Ja, das war's, entschied er. Val war geheimnisvoll. Verkorkst, scharfzüngig, distanziert, von Anfällen schwachen Selbstbewusstseins geplagt, die dadurch noch schlimmer wurden, dass sie tatsächlich wenig Talent hatte, aber schlagfertig, humorvoll und liebenswürdig, wenn ihr danach war. Und eine Tigerin, wenn es sie überkam. Der Typ rechts von ihr schob seine Hand unter ihren Hintern. Sie warf lachend den Kopf zurück und stieß ihn von sich. Tippte kurz mit einem spitzen roten Fingernagel auf seine Nase. HO
Katz ging hinüber, hob den Lammfellmantel auf und klopfte ihr ganz leicht auf die Schulter. Sie drehte sich um, dann formten ihre Lippen ein aufgrund der ohrenbetäubenden Version von »China Grove« unhörbares »Du«. Es lag keine Überraschung darin. Auch keine Verärgerung. Einfach »Du«. Katz bildete sich ein, dass sie sich freute, ihn zu sehen. Er hielt ihr den Lammfellmantel hin. Zeigte auf den Fußboden. Sie nickte lächelnd und nahm den Mantel. Dann rutschte sie vom Hocker, schlang ihre Finger um die von Katz und sah ihm tief in die Augen. Die Idioten an der Bar beobachteten fassungslos, wie sie mit Katz hinausging. Val zog den Lammfellmantel erst an, als sie einen halben Block vom Parrot entfernt waren. Auf ihren weißen Schultern bildete sich Gänsehaut. Auf ihrem Dekollete ebenfalls. Locker hüpfende weiße Brüste. Katz kämpfte gegen den Impuls an, einen Arm um sie zu legen, um sie vor der Kälte und allem anderen zu beschützen. Im Laufen sagte sie: »Deine Fantasie geht mit dir durch, Steve.« Er zog die Augenbrauen hoch. Sie blieb stehen und breitete die Arme aus. »Nimm mich in den Arm. Ganz fest.« Das tat er, und während sie sich umarmten, biss sie ihm ins Ohr und flüsterte: »Gut siehst du aus, Exmann.« »Du auch, Exfrau.« . »Ich bin fett wie ein Schwein.« »Das stimmt doch gar nicht. Ihr Frauen mit eurem verzerrten Körperbild -«
Sie legte ihm einen Finger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Sei nicht nett, Steve. Sonst geh ich am Ende noch mit dir nach Hause.« Er wich zurück und sah ihr tief in die braunen Augen. Zwischen ihren gezupften Brauen waren einige Pickel. In ihren Augenwinkeln hatten sich neue Falten gebildet. Das alles nahm er mit den Augen auf, doch sein Gehirn registrierte nichts davon. Er sah nur das Geheimnisvolle. Sie gingen weiter. »War das eine Tragödie?«, fragte er. »Was?« »Wenn du mit mir nach Hause kämst.« »Wahrscheinlich«, sagte sie. »Wir sollten es gar nicht erst ausprobieren.« Sie ging schneller, atmete durch den Mund und stieß weiße Wölkchen aus. Er holte sie ein. Inzwischen hatten sie die Grünanlage in der Mitte der Plaza erreicht. In warmen Sommernächten trieben sich hier Jugendliche herum, manchmal betrunken und häufig randalierend. Gelegentlich lagen Obdachlose auf den Bänken, bis die Streifenpolizisten alle vertrieben. An diesem Abend war außer ihnen beiden kein Mensch hier. Die Plaza strahlte im Glanz der Weihnachtsbeleuchtung, Schneewehen glitzerten blauweiß, und über ihnen funkelten hunderte von Sternen hell wie Diamanten - alles pure Magie. Viel zu fröhlich für einen Mann, der neben einem Granitwerk wohnte. Katz fühlte sich plötzlich deprimiert. »Geht es um Olafson?«, fragte Valerie. »Woher weißt du das?« »Weil Olafson tot ist und weil ich weiß, was für einen Job du machst. Was ist los, Steve? Ist mein Name irgendwo aufgetaucht?« »In seinem Palm Pilot.« »Na bitte.« Sie rieb sich die Hände. »Ich könnte auch als Detective arbeiten.« Sie setzte sich auf eine Bank und steckte ihre steifen Finger in die Manteltaschen. »Und eben saß ich noch in einer netten warmen Bar und bekam nette männliche Aufmerksamkeit.« »Lass uns irgendwo reingehen«, sagte Katz. »Wir könnten uns in mein Auto setzen, und ich stell die Heizung an.« Sie lächelte. »Und knutschen?« »Hör auf damit«, sagte er, überrascht über den Zorn in seiner Stimme. »Tut mir Leid, wenn ich Dich beleidigt habe.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Abweisend und noch eisiger als die Luft. »Entschuldige«, sagte er. »Ich arbeite seit vierundzwanzig Stunden und hab so gut wie nicht geschlafen.« »Das ist allein deine Entscheidung, Steve.« »Es tut mir Leid, Val. Okay? Fangen wir noch einmal von vorn an.« »Klar«, sagte sie. »Und wenn wir schon mal dabei sind, schaffen wir gleich den Weltfrieden.« Sie drehte sich zu ihm, betrachtete ihn forschend und sah ihn so an, dass er befürchtete, sie würde gleich anfangen zu weinen. Was nun? »Val...«
»Warst du in letzter Zeit mal wieder im Bandelier-Natio-nalpark, Steve?« »Schon länger nicht mehr«, sagte er. An freien Tagen fuhr er manchmal in den Park und wurde von dem Ranger ohne zu bezahlen durchgewinkt. Gefälligkeit unter Beamten. Wenn viele Touristen dort waren, wanderte er. An ruhigen Tagen kletterte er eine Leiter zu einer der uralten AnasaziHöhlen hinauf, saß einfach da und blickte auf den alten Pue-bloMarktplatz unter ihm hinunter. Two Moons würde darüber lachen, doch Katz fühlte sich tatsächlich in Einklang mit den Geistern dieses Landes. Er hatte den Park unmittel 69 bar nach seiner Scheidung entdeckt, war ziellos darin herumgefahren und hatte die Wildnis erkundet. Im Gegensatz zum Big Apple gab es in New Mexico reichlich Freiraum. Er konnte sich nicht erinnern, dass er Valerie von seinen Ausflügen in den Bandelier-Nationalpark erzählt hatte. Doch andererseits konnte er sich ohnehin kaum daran erinnern, worüber sie überhaupt gesprochen hatten. Sie schienen eine Ewigkeit auf dieser Bank zu sitzen. Dann nahm sie plötzlich sein Gesicht in ihre eiskalten Hände und küsste ihn heftig auf den Mund. Kalte Lippen, aber eine warme Zunge. Als sie ihn losließ, sagte sie: »Gehen wir zu mir.« Val holte ihren VW, der hinter der Galerie parkte, und Katz folgte ihr, während sie leicht chaotisch zu ihrer Studiowohnung fuhr, die in einer namenlosen Nebenstraße des Paseo de Peralta lag, nicht allzu weit vom Tatort entfernt. Sie wohnte im Gästehaus eines großen Adobe-Anwesens, das einem kalifornischen Ehepaar gehörte, das nur selten nach Santa Fe kam. Von Val wurde erwartet, dass sie sich um kleinere Reparaturen kümmerte. Doch die meiste Zeit hatte sie das von einem Kojotenzaun umgebene, achttausend Quadratmeter große Areal für sich. Einmal hatte sie Katz mit ins Haupthaus genommen, und sie hatten sich auf dem riesigen Himmelbett der Besitzer geliebt, umgeben von Fotos der Kinder der Besitzer. Hinterher hatte er angefangen aufzuräumen, doch sie hatte ihm gesagt, er solle das lassen, sie würde sich später darum kümmern. Sie parkten nebeneinander auf der Kiesfläche vor dem Haus. Val hatte ihre Eingangstür nicht abgeschlossen und stieß sie einfach auf. Katz unterdrückte den Reflex, ihr einen Vortrag zu halten, folgte ihr nach drinnen und nahm das kalte Sam-Adams-Bier, das sie ihm anbot. Sie setzte sich auf ihr 69 Bett, und Katz versuchte, die scheußlichen abstrakten Bilder zu ignorieren, die die Wände verschandelten. Dann trat sie dicht vor ihn, stieg rasch aus ihren Kleidern und sagte: »Worauf wartest du?« Gute Frage. Es war vehement, schnell und großartig, und Katz musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.
Später, als sie nackt nebeneinander im Bett lagen, sagte sie: »Mein Name stand in seinem Palm Pilot, weil er mich wollte.« »Oh«, sagte Katz. »Nicht sexuell«, erklärte sie. »Ich meine, das spielte auch eine Rolle. Obwohl er eigentlich schwul war. Aber nicht ausschließlich. Es gab auch unterschwellige Heterogelüste - eine Frau spürt so etwas. Was er jedoch eigentlich von mir wollte, war, dass ich von Sarah weggehe und für ihn arbeite.« »Warum?« »Weil ich ein Genie bin.« Sie lachte. »Er wollte ins Geschäft mit PuebloTöpferware einsteigen. Er hat mir erzählt, indianische Kunst würde an der Ostküste immer mehr zum Renner. Mit seinen Verbindungen nach New York könnte er dreimal so viel umsetzen wie Sarah. Außerdem wollte er online gehen. Für die preiswerteren Sachen würde er die Auktionsdienste benutzen und die teuren auf den Kunst-Websites anbieten und auf seiner Homepage Werbung dafür machen. Er hatte vor, so richtig groß einzusteigen. Innerhalb eines Jahres würde Sarah das unangenehm zu spüren kriegen, meinte er, und sechs Monate später wäre sie erledigt.« »Netter Kerl.« »Furchtbarer Kerl.« Val zeichnete einen Kreis um Katz' linke Brustwarze. »Ich glaube, das war der eigentliche Reiz für ihn. Nicht bloß Erfolg zu haben, sondern Sarah kaputtzumachen.« 70 »Und womit hat er dich gelockt?« »Fünfzig Prozent Gehaltserhöhung und die Aussicht, irgendwann als Partner einzusteigen. Ich nehme an, die Gehaltserhöhung hätte er mir wohl gezahlt, zumindest am Anfang. Das mit der Partnerschaft war Blödsinn. Er hätte mich benutzt, um in dem Geschäft Fuß zu fassen, dann hätte er mich in die Wüste geschickt und irgendeinen Lakaien eingestellt.« »Du hast ihn also abgewiesen.« »Ich hab gesagt, ich würd darüber nachdenken. Dann hab ich mich nicht mehr bei ihm gemeldet.« Sie spielte mit Katz' Schnurrbart. »Eine Woche später rief er bei mir an. Ich hab nicht zurückgerufen. Einige Tage später rief er wieder an. Ich hab ihm gesagt, ich hätte mich immer noch nicht entschieden. Er war ein bisschen eingeschnappt. Offenbar war er es gewohnt, seinen Willen zu bekommen. Der dritte Anruf kam erst drei Wochen später. Ich hab ihm erklärt, ich war gerade mit einem Kunden beschäftigt und würde ihn zurückrufen. Als ich das tat, gab er sich empört. Ob ich denn nicht wüsste, wer er sei? Ob ich nicht wüsste, wie sehr er mir schaden könnte?« Sie lehnte sich zurück. Ihre schweren Brüste fielen flach zur Seite. »Ich hab sein Spielchen nicht mitgespielt. Ich bin ganz freundlich geblieben und hab gesagt, ich hätte über sein äußerst großzügiges Angebot nachgedacht und würde es im Hinterkopf behalten, doch im Moment könnte ich mich nicht festlegen. Er war so schockiert, dass er, ohne ein weiteres Wort zu sagen, aufgelegt hat. Kurz
darauf hab ich ihn an der Plaza gesehen, er kam direkt auf mich zu. Als er mich bemerkte, ging er auf die andere Straßenseite.« »Warum hast du nicht einfach Nein gesagt?« Sie lächelte. »Du kennst mich doch, Steve. Du weißt doch, wie ich bei Männern bin.« 71 Sie kochte Spaghetti mit Tofuwurst, die beide schweigend aßen. Als Katz das Geschirr spülte, sah er, wie sie demonstrativ gähnte. Er zog den Bademantel aus, den sie ihm gegeben hatte -ein alter von ihm, doch der Frotteestoff verströmte den Geruch anderer Männer. Das störte ihn nicht. Er war jetzt auch nur ein weiterer Mann. Er zog sich an und gab ihr einen Gutenachtkuss. Sanft und keusch, ohne irgendwelche Versprechungen. Er fuhr zum Granitwerk zurück. Vielleicht würde er diese Nacht einigermaßen gut schlafen können. 9 Beide Detectives schliefen am nächsten Tag lange und waren gegen zehn in der Polizeistation. Auf ihren Schreibtischen lag jeweils die gleiche Nachricht - Treffen mit Chief Bacon in einer Stunde. Die Besprechung dauerte zwei Minuten. Die Chefin fragte, was sich bislang ergeben hätte. Two Moons und Katz sagten, bisher nichts. Das Opfer hätte zu viele potenzielle Feinde gehabt. »Sieht es so aus, als müssten wir den Fall ungeklärt zu den Aken legen?« »Vielleicht«, antwortete Two Moons. »Vielleicht auch nicht.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Das wäre nicht gerade toll, aber ich glaube auch nicht, dass es irgendwelche Auswirkungen hätte. Weder in touristischer Hinsicht, noch was das Vertrauen der Bürger angeht. Gerade weil er so viele Feinde hatte, könnte man es als große Ausnahme sehen.« Die Detectives schwiegen. 71 Chief Bacon sagte: »Das soll nicht heißen, dass ich pessimistisch wäre. Okay, dann setzt euch in Bewegung und tut euren Job.« Was war denn ihr Job? Two Moons stellte die Frage. »Wir sollten dafür sorgen, dass die Fingerabdrücke der Skaggs überprüft werden«, sagte Katz. »Das steht für morgen auf dem Programm.« »Warum nicht heute?« »Du kennst doch diese Typen - es gibt immer einen Grund.« Two Moons rief im staatlichen Kriminallabor an und bat, die Sache vorzuziehen. Kopfschüttelnd legte er auf. »Ein Vergewaltigungsfall in Bernalillo nimmt ihre ganze Zeit in Anspruch.« »Vergewaltigung wichtiger als Mord?«, fragte Katz. »Das Opfer war zwölf, lebte mit ihrer ständig betrunkenen Mutter in einem großen Mobilhaus. Das Arschloch ist in ihr Schlafzimmer eingestiegen. Vermutlich ein ehemaliger Freund der Mutter - da gibt's 'ne Menge Kandidaten.«
Katz erzählte ihm von Olafsons Plänen, Sarah Levy das Geschäft kaputtzumachen. »Vielleicht hat Sarah ihm den Schädel eingeschlagen«, sagte Two Moons. Er nahm einen Bleistift und machte mit dem Handgelenk eine hackende Bewegung. »Ihr Mann könnte es getan haben«, sagte Katz. »Wer ist das?« »Dr. Oded Levy, ein plastischer Chirurg. Er ist Israeli und hat dort in der Armee gedient. Außerdem ist er ein großer Junge.« »Jähzornig?«, fragte Darrel. »Die Male, wo ich ihn gesehen habe, nicht. Aber das war immer bei angenehmen Anlässen. Du weißt schon ... gesellschaftliche Anlässe.« 72 »Du verkehrst gesellschaftlich mit Chirurgen?« »Einmal«, sagte Katz. »Nachdem Val bei Sarah im Laden angefangen hatte, hat Sarah sie mal zu sich nach Hause zu einer Dinner Party eingeladen. Val brauchte einen Begleiter, da hat sie mich gefragt.« »War sicher nett.« Absolut nicht. Val hatte den ganzen Abend mit einem Orthopäden geflirtet und sich kurze Zeit später mit dem Knochenbrecher zusammengetan. »Danach bin ich ihm noch ein paar Mal zufällig begegnet«, sagte Katz. »Wie das so ist, wenn man jemanden kennen gelernt hat. Dann fällt er einem plötzlich auf. Er schien mir immer sehr umgänglich zu sein. Er ist übrigens jünger als Sarah.« »Und das bedeutet...« Katz hob die Hände und zuckte mit den Schultern. »Nichts. Das eine Mal, wo ich bei ihnen zu Hause war, hatte ich den Eindruck, dass er ganz verliebt in sie ist.« »Sie ist eine schöne Frau«, sagte Two Moons. »Ich weiß, wie sauer ich war, als Olafson meine Frau kritisiert hat. Wer weiß, zu was ein Israeli mit militärischer Ausbildung in der Lage wäre, nachdem er erfahren hat, dass Olafson vorhatte, das Geschäft seiner Frau platt zu machen.« Die Praxis von Dr. Oded Levy nahm das komplette Erdgeschoss eines Ärztehauses auf dem St. Michael's Drive ein, östlich vom Hospital Drive und gleich unterhalb des St. Vincent Hospital. Das Wartezimmer, das zurzeit leer war, war dezent eingerichtet mit butterfarbenen Ledersofas und indianischen Läufern auf einem antiken Eichenholzboden. Exemplare der Zeitschriften Architectural Design und Santa Fe Style lagen ordentlich aufgefächert auf Tischen mit Granitplatten. 72 Katz identifizierte die Gesteinsart automatisch. Spotty-Ribbon-Granit. Platten von dem Zeug standen nur wenige Schritte entfernt bei ihm zu Hause vor dem Fenster. Sie wurden von einer netten Empfangsdame begrüßt. Als sie baten, Dr. Levy sprechen zu dürfen, blieb sie immer noch nett und freundlich.
»Er ist gerade zum Mittagessen gegangen.« »Wissen Sie zufällig, wohin?« »Ins Palace«, sagte sie. Sie fuhren zur Plaza, fanden einen Parkplatz am Straßenrand und gingen zum Palace Hotel. Dr. Oded Levy saß für sich allein in dem viktorianischen Speisesaal, etwas abseits in einer mit rotem Leder ausgekleideten Ecknische. Er aß gebratene Forelle und trank eine Cola light. »Steve«, sagte er. Selbst im Sitzen war offenkundig, dass er sehr groß war. Katz wusste, dass er um die eins neunzig war, breitschultrig und sehr fit. Seine Haut war gebräunt, und er hatte schwarzes lockiges Haar, das er kurz geschnitten trug. »Dr. Levy.« Katz stellte ihm Two Moons vor. »Sie beide müssen sicher hart arbeiten«, sagte Levy. »Da haben Sie sich ein schönes Mittagessen verdient.« Der Arzt sprach mit einem ganz leichten Akzent. Seine Hände hatten die Größe von Baseballhandschuhen mit langen, spitz zulaufenden Fingern, die perfekt manikürt waren. Seine dunkelrote Krawatte war locker unter dem breiten Kragen seines himmelblauen Hemds geknotet. Ein dunkelblauer Kaschmirblazer lag ordentlich gefaltet über dem Geländer der Nische. »Woher wissen Sie, dass wir hart arbeiten?«, fragte Katz. »Wegen des Mords an Mr Olafson. Das steht doch groß im Santa Fe New Mexican. Im Albuquerque Journal ebenfalls.« »Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, die Zeitung zu lesen«, sagte Two Moons. »Da haben Sie vermutlich nichts versäumt«, erwiderte I 73 Levy. »Außerdem hat Valerie Sarah erzählt, dass Sie an dem Fall arbeiten.« Levy deutete nach rechts. Wo der Blazer lag. »Wo Sie schon einmal hier sind, haben Sie Lust, mir Gesellschaft zu leisten?« »Eigentlich wollten wir mit Ihnen reden«, sagte Darrel. Levy zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich. Nun ja, dann setzen Sie sich und erzählen mir, worüber.« Der Chirurg aß weiter, während Katz ihm erzählte, um was es ging. Levy schnitt die Forelle in exakte Quadrate, spießte diese auf seine Gabel und betrachtete jeden Bissen genau, bevor er ihn vorsichtig in den Mund schob. Als Katz mit seinem Bericht zu Ende war, sagte Levy: »Letztes Jahr hat er versucht, Sarahs Laden aufzukaufen. Als sie das nicht wollte, hat er gedroht, sie geschäftlich zu ruinieren.« »Gab es irgendeinen Grund, weshalb er sie auf dem Kieker hatte?«, fragte Katz. Levy dachte darüber nach. »Ich glaube nicht. Sarah hatte den Eindruck, es war Schadenfreude.« »Was ist das?«, fragte Darrel. »Ein deutscher Ausdruck«, sagte Levy. »Die Freude am Unglück anderer. Olafson war ein machtgieriger Mensch, und laut Sarah war es sein Ziel,
die Kunstszene von Santa Fe zu beherrschen. Sarah ist etabliert, erfolgreich und beliebt. Für einen Mann wie ihn war sie wohl ein lohnendes Ziel.« »Muss ein unangenehmes Gefühl gewesen sein, Doc«, sagte Katz. »Dass da jemand Ihre Frau auf die Abschussliste gesetzt hat.« »Interessante Wortwahl.« Levy lächelte. »Natürlich war das unerfreulich, aber ich hab mir keine Sorgen gemacht.« »Wieso nicht?« »Sarah kann allein auf sich aufpassen.« Der Chirurg aß ein weiteres aufgespießtes Stück Forelle und trank einen Schluck Cola. Dann sah er auf seine Armbanduhr, die so dünn wie eine Spielkarte war, und legte Geld auf den Tisch. »Ich muss wieder an die Arbeit.« »Fettabsaugen?«, fragte Darrel. »Wiederaufbau eines Gesichts«, sagte Levy. »Ein fünfjähriges Mädchen ist bei einem Unfall auf der Interstate 25 schwer verletzt worden. Solche Operationen befriedigen mich am meisten.« »Das Gegenteil von diesem Schadendingsbums«, sagte Two Moons. Levy sah ihn fragend an. »Die Freude daran, jemanden wiederherzustellen.« »Ah«, sagte Levy. »So habe ich das noch nie gesehen, aber es gefällt mir.« Als sie das Restaurant verließen, fragte Two Moons: »Was meinst du?« »Groß genug ist er ja«, sagte Katz. »Hast du gesehen, was der für Hände hat?« »Seine Fingerabdrücke sollten eigentlich auch erfasst sein. Bei der Ärztekammer.« Sie gingen zum Crown Victoria. Diesmal setzte sich Two Moons hinters Lenkrad. »Muss ein merkwürdiges Gefühl sein .... das Gesicht von einem Kind zusammenzusetzen.« »Eindrucksvoll«, sagte Katz. Eine Meile später erklärte Two Moons: »Wäre eine Schande, so einen Mann aus dem Verkehr zu ziehen.« Von der Polizeistation aus riefen sie bei der Ärztekammer an und baten um Übermittlung der Fingerabdrücke von Dr. Oded Levy. Die Bearbeitung der Anfrage und das Heraussuchen der Abdrücke würde Tage in Anspruch nehmen. Außerdem gab es keine Möglichkeit, die Daten direkt an das Kriminallabor zu faxen. 74 »Es sei denn, wir schalten die Chefin ein«, sagte Two Moons. »Dazu haben wir nicht genügend in der Hand.« »Levy wird wohl kaum abhauen.« »Meinst du, er könnte es gewesen sein?«, fragte Katz. »Eigentlich nicht, Rabbi. Was meinst du?« »Mittlerweile weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich von alldem halten soll.« Katz seufzte. »Der Fall fängt allmählich an, übel zu riechen. Nach Scheitern.« Gegen Ende des Tages erlebten sie eine angenehme Überraschung, zumindest eine kleine. Die Techniker waren nach Embudo gefahren, um
den Skaggs die Fingerabdrücke abzunehmen. Man hatte bereits mit dem Einscannen begonnen, und gegen fünf Uhr würden erste Daten zur Verfügung stehen. Alle nicht eindeutigen Ergebnisse würden durch die Leiterin der Fingerabdruckabteilung, eine geniale Analytikerin namens Karen Blevins, noch einmal per Hand gecheckt werden. Two Moons und Katz blieben im Büro, um auf die Ergebnisse zu warten, gönnten sich einen Hamburger mit Pommes zum Abendessen, erledigten die Schreibarbeit zu anderen Fällen und zerbrachen sich den Kopf, wie sie an den Fall Olafson noch anders herangehen könnten. Um halb acht war klar, dass sie einen solchen neuen Ansatz dringender brauchten denn je. Weder die Fingerabdrücke von Barton noch die von Emma Skaggs stimmten mit einem der latenten Abdrücke in Olafson Southwest oder im Haus des Opfers überein. Emma war zwar in der Galerie gewesen, hatte aber keinerlei Spuren hinterlassen. Um acht Uhr abends machten sich Katz und Two Moons ausgelaugt und erschöpft zum Gehen bereit. Bevor sie die Tür erreicht hatten, klingelte Katz' Telefon. Es war Streifenpolizistin Debbie Santana. 75 »Ich sollte die Galerie bewachen, während Summer Riley das Inventar durchgeht. Sieht so aus, als hätte sie was gefunden.« Bevor Katz antworten konnte, kam Summer an den Apparat. »Stellen Sie sich mal vor, es war doch ein Kunstraub! Vier Gemälde von der Liste fehlen.« Katz jubelte innerlich. Ein Motiv! Nun brauchten sie nur noch den Dieb zu finden. »Eines ist allerdings merkwürdig«, fügte Summer hinzu. »Was denn?«, fragte Katz. »Es waren viel teurere Werke da, und die wurden nicht gestohlen. Außerdem stammen die verschwundenen Bilder alle von derselben Künstlerin.« »Von wem?« »Michael Weems. Sieht so aus, als hätte sie einen großen Fan. Sie ist zwar wichtig - künstlerisch gesehen -, aber keine von den ganz Großen, jedenfalls noch nicht. Larry hatte vor, sie größer herauszubringen.« »Wie viel sind die vier Gemälde denn wert?« »Etwa fünfunddreißigtausend. Das ist Larrys Einzelhandelspreis. Normalerweise zieht er automatisch zehn Prozent vom Katalogpreis ab. Das ist zwar nicht gerade Kleinkram, aber neben den vier Bildern von Weems hing eins von William Wendt, das hundertfünfzigtausend wert ist, und ein kleines Gemälde von Guy Rose, das noch viel mehr kostet. Beide sind noch da. Außer den Weems-Bildern fehlt nichts.« »Sind Sie die ganze Inventarliste durchgegangen?« »Mindestens zwei Drittel hab ich bereits geschafft. Es gibt übrigens eine Datenbank für Kunstdiebstähle. Ich könnte die Informationen selber dort eingeben, aber ich dachte, ich sollte zuerst Ihnen Bescheid sagen. Möchten Sie die Titel der Bilder wissen?«
»Lassen Sie mal, Summer. Wir kommen vorbei.« 76 10 Merry und Max im Pool, 2003, 36"x 48", Öl auf Leinwand, $ 7,000.00 Merry und Max essen Cornflakes, 200z, 54"x 60", Öl auf Leinwand, $ 15,000.00 Merry und Max mit Gummienten, 2003, 16"x 24", Öl auf Leinwand, $ 5,000.00 Merry und Max träumen, 2003, i6"x 24", Öl auf Leinwand, $ j,500.00 Katz und Two Moons betrachteten die Fotos von den Bildern. »Wofür sind die?«, fragte Darrel Summer Riley. »Die schicken wir an Kunden, die sich für den Künstler interessieren. Oder manchmal auch nur an Kunden, von denen Larry meint, dass dieser Künstler das Richtige für sie sein könnte.« Sie sprach von ihrem toten Chef immer noch in der Gegenwart. Katz sah sich die Fotos erneut an. Vier Bilder, die alle um das gleiche Thema kreisten. Zwei nackte, engelhafte blonde Kinder, ein kleines Mädchen und ein etwas älterer Junge. Katz hatte sie schon einmal gesehen. Wie sie um den Maibaum tanzten, auf dem Bild in dem großen Zimmer in Larry Olafsons Haus. Das Bild, das selbst seinem ungeschulten Auge aufgefallen war. Die Darstellung hatte nicht geschmacklos gewirkt, weil Michael Weems malen konnte. Dass Olafson eine Arbeit von Weems bei sich privat aufhängte, konnte werbetaktische Gründe gehabt haben - um die Künstlerin größer herauszubringen, wie Summer gesagt hatte. 76 Oder vielleicht mochte er auch einfach ihren Stil. Das tat offenbar noch jemand anders. Two Moons' Blick blieb an einem der Fotos haften. Er runzelte die Stirn, und Katz schaute ihm über die Schulter. Merry und Max mit Gummienten. Die Kinder saßen auf dem Rand einer Badewanne und begutachteten die gelben Spielzeugtiere. Unverhüllte frontale Nacktheit. Zu Füßen des Mädchens lag ein zusammengeknülltes Handtuch auf dem grün gefliesten Badezimmerboden. Katz räusperte sich. Two Moons schob die Fotos in einen Plastikbeutel und gab ihn Debbie Santana. Er bat Summer Riley, im Büro der Galerie zu warten, und ging mit Katz in den vorderen Raum. Das Band, mit dem der Umriss von Olafsons Leiche markiert worden war, klebte noch auf dem Hartholzboden. Katz kam plötzlich der Begriff Stillleben in den Sinn. Er stellte sich vor, einer der rostbraunen Tupfen getrockneten Bluts wäre so ein roter Punkt, der an einem Bild befestigt wird, um zu kennzeichnen, dass es bereits verkauft ist. »Was hältst du von diesen Bildern?«, fragte Two Moons. »Ist doch egal, was ich denke«, antwortete Katz. »Du hältst sie eh für Kinderpornographie.«
Darrel kratzte sich an der Nase. »Vielleicht meinst du ja, das war Kinderpornographie, und du tust das, was die Seelenklempner immer sagen ... du projizierst es auf mich.« »Danke, Dr. Freud«, erwiderte Katz. »Dr. Schadenfreude.« Katz lachte. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Als ich das eine Bild bei Olafson hängen sah, fand ich es gut - vom künstlerischen Standpunkt her. Doch wenn man vier davon zusammen sieht, besonders das, das du dir gerade angeguckt hast...« »Wie das kleine Mädchen dasitzt«, sagte Darrel. »Die Bei 77 ne gespreizt, das Handtuch zu seinen Füßen - so was haben wir doch alles schon mal gesehen.« »Ja«, sagte Katz. »Trotzdem sind das offensichtlich Kinder, die Michael Weems kennt. Vielleicht sogar ihre eigenen Kinder. Künstler haben ... Musen. Leute, die sie immer wieder malen.« »Würdest du so was bei dir zu Hause aufhängen?« »Nein.« »Olafson hat's getan«, sagte Darrel. »Vielleicht hatte er mehr als nur ein berufliches Interesse an Weems. Vielleicht stand er auf das Thema.« »Schwul und hetero, bösartig und pervers«, sagte Katz. »Alles ist möglich.« »Besonders bei diesem Kerl, Steve. Er ist wie eine Zwiebel. Wir schälen immer weiter, und er riecht immer schlimmer.« »Was auch immer er getan hat oder nicht getan hat, irgendwer wollte diese Bilder so unbedingt haben, dass er sogar bereit war, dafür zu töten. Was auch dafür spricht, dass es kein vorsätzlicher Mord war. Unser Bösewicht kam wegen der Bilder, nicht wegen Olafson. Entweder hat er versucht, sie heimlich zu entwenden, ist von Olafson ertappt worden, und es gab eine Auseinandersetzung. Oder er ist hier aufgetaucht, hat die Bilder haben wollen, und es gab eine Auseinandersetzung.« »Klingt plausibel«, sagte Two Moons. »Wie dem auch sei, die beiden streiten sich, Olafson auf seine übliche dreiste und arrogante Art. Er dreht dem Kerl den Rücken zu und butn.« »Ganz gewaltig bunt«, erwiderte Katz. »Summer hat gesagt, Olafson hätte Fotos an Leute geschickt, die Interesse an einem bestimmten Künstler hatten. Lass uns doch mal sehen, wer sich für Weems interessierte.« 77 Fünfzehn Kunden hatten die Weems-Fotos per Post bekommen: vier in Europa, zwei in Japan, sieben an der Ostküste und zwei aus der Gegend. Das waren Mrs Alma Maarten und Dr. und Mrs Nelson Evans Aldren, beide mit erstklassigen Adressen in Las Campanas - einem exklusiven Wohngebiet mit privatem Golfplatz und großer Reitanlage, wo Anwesen mit spektakulärer Aussicht standen. Katz fragte Summer Riley, ob sie Maarten und die Aldrens kennen würde.
»Klar«, sagte sie. »Alma Maarten ist ein Schatz. Sie ist etwa achtzig Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. In jüngeren Jahren hat sie anscheinend große Partys gegeben. Larry hat sie auf der Verteilerliste gelassen, damit sie das Gefühl hat, sie gehört noch zur Szene. Die Aldrens sind etwas jünger, aber nicht sehr viel. Vielleicht Anfang siebzig. Joyce - Mrs A. - ist diejenige, die sich für Kunst interessiert.« »Was für eine Art Arzt ist der Mann?« »Ich glaube, er war Kardiologe. Er lebt jetzt im Ruhestand. Ich hab ihn nur einmal hier gesehen.« »Groß?« Summer lachte. »Ungefähr eins sechzig. Warum wollen Sie das alles wissen? Keiner von Larrys Kunden hat ihn getötet, da bin ich mir ganz sicher.« »Wieso?«, fragte Two Moons. »Weil sie ihn alle geliebt haben. Das gehört dazu, wenn man mit Kunst handelt.« »Was?« »Man muss einen guten Draht zu den Leuten haben. Wissen, welcher Künstler zu welchem Kunden passt. Das ist so was wie Ehen stiften.« »Larry war also ein guter Ehestifter«, sagte Katz. »Der beste.« Die Augen der jungen Frau wurden feucht. »Sie vermissen ihn.« 78 »Ich hätte noch so viel von ihm lernen können«, erwiderte sie. »Er hat gesagt, ich würde es bis ganz nach oben schaffen. « »Als Händlerin?« Summer nickte heftig. »Larry hat gesagt, ich hätte das Zeug dazu. Er wollte mir eine Filiale einrichten, eine Galerie, die indianische Töpferwaren verkauft. Ich sollte als Partnerin einsteigen. Und jetzt ...« Sie gestikulierte aufgeregt mit den Armen. »Darf ich jetzt gehen? Ich muss mich wirklich ausruhen.« »Die Kinder auf den Gemälden«, sagte Darrel. »Merry und Max. Das sind Michaels Kinder. Sie sind wirklich süß, und sie trifft ihr Wesen ausgezeichnet.« Die letzten Worte klangen wie Werbung aus einem Kunstkatalog. »Wo wohnt Michael?«, fragte Katz. »Direkt hier in Santa Fe. Sie hat ein Haus nördlich der Plaza.« »Haben Sie vielleicht die Adresse?« Theatralisch seufzend begann Summer in einem Rolodex zu blättern. Sie fand die Karte und zeigte auf die Adresse. Michael Weems wohnte auf der Artist Road. »Darf ich jetzt gehen?«, fragte sie und fügte mit leiserer Stimme, mehr für sich als für die Detectives, hinzu: »Verdammt noch mal! Jetzt kann ich noch mal ganz von vorn anfangen.« Weinend verließ sie die Galerie.
Bevor sie sich auf den Weg machten, um mit der Porträtistin von Merry und Max zu reden, recherchierten die Detectives im Computer. Michael Weems war nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, obwohl es in dieser Hinsicht zunächst einige Verwirrung 79 gegeben hatte. Ein Mann mit gleichem Namen saß nämlich wegen Raubüberfalls in Marion, Illinois, im Gefängnis. Michael Horis Weems, männlich, schwarz, sechsundzwanzig Jahre alt. »Vielleicht hat sie sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen«, sagte Two Moons. »Könnte schon sein.« Katz zog seinen roten Schnurrbart hoch. »Mittlerweile würd ich alles glauben.« Michael Andrea Weems brachte es bei Google auf vierundfünfzig Treffer. Die meisten waren Besprechungen von Ausstellungen, die fast alle in Olafsons Galerien in New York und Santa Fe stattgefunden hatten. Treffer zweiundfünfzig war jedoch etwas, das den beiden Detectives den Atem nahm. Es handelte sich um einen kurzen Abschnitt aus den New York Daily News und stammte, dem mokanten Tonfall nach zu urteilen, eher aus einer Klatschspalte als aus einer seriösen Reportage. Im letzten Jahr war eine Michael-Weems-Vernissage, auf der ein Dutzend neuer Merry-und-Max-Gemälde ausgestellt wurde, durch das Erscheinen des von der Künstlerin getrennt lebenden Ehemanns gestört worden, einem Prediger und selbst ernannten »spirituellen Therapeuten« namens Myron Weems. Myron hatte die fassungslosen Zuschauer wütend dafür beschimpft, dass sie sich in eine Lasterhöhle begaben und sich »Sauereien ansahen«. Bevor das Galeriepersonal einschreiten konnte, hatte er sich auf eins der Bilder gestürzt, es von der Wand gerissen, war auf der Leinwand herumgetrampelt und hatte das Kunstwerk irreparabel zerstört. Als er das Gleiche mit einem zweiten Bild machen wollte, gelang es Zuschauern und einem Wachposten, den tobenden Mann zu überwältigen. 79 Man hatte die Polizei gerufen, und Myron Weems war verhaftet worden. Sonst nichts. Katz sagte: »Das klingt viel versprechend.« Two Moons sagte: »Lass uns mal Myrons Namen eingeben.« Fünf von sechs Treffern bezogen sich auf Predigten, die in Myron Weems' Kirche in Enid, Oklahoma, gehalten worden waren. Die Worte »Sünde« und »Abscheulichkeit« kamen häufig vor. Auch gab es zwei direkte Anspielungen auf »diese Sauerei von Pornographie«. Der sechste Treffer war wiederum jener Abschnitt aus den Daily News. »Es wurde also keine Anklage erhoben?«, fragte Katz. »Lass uns mal in den juristischen Datenbanken nachsehen«, erwiderte Two Moons. »Vielleicht finden wir irgendwelche Zivilklagen.«
Eine halbe Stunde später hatten sie immer noch keinen Hinweis darauf gefunden, dass Myron Weems wegen seines Tobsuchtsanfalls zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Two Moons stand auf und streckte seinen großen, kräftigen Körper. »Er demütigt seine Frau, macht ein Werk von ihr kaputt, und sie zeigt ihn nicht an?« »Sie lebten getrennt«, sagte Katz. »Das heißt, dass sie sich vermutlich scheiden lassen wollten. Die Situation zwischen den beiden war womöglich kompliziert. Vielleicht wurde dieser Zwischenfall benutzt, um ein besseres Sorgerecht oder eine bessere finanzielle Regelung auszuhandeln. Oder vielleicht hat sich Myron auch ein bisschen beruhigt. Schließlich malt sie die Kinder immer noch.« »Ich weiß nicht, Steve. Der Mann hat feste Grundsätze, was seine Kinder betrifft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich auf einen Handel einlässt.« Katz dachte: Hey, Partner, willkommen in der Welt der 80 ehelichen Zwietracht. Er sagte: »Man muss noch eine Sache berücksichtigen. Myron hatte eine Beziehung zu Olafson, die nichts mit der Kunstszene zu tun hatte. Er hat Olafson geholfen, vom Alkohol loszukommen.« »Ein Grund mehr, auf ihn wütend zu sein, Steve. Er therapiert den Kerl, und dieser Kerl stellt die Arbeiten seiner Ex-frau aus, Bilder, die er für unanständig hält. So langsam frage ich mich, wie groß Myron eigentlich ist.« Ein Anruf bei der Zulassungsstelle für Kraftfahrzeuge in Oklahoma klärte diese Frage. Myron Manning Weems war männlich, weiß und fünfundfünfzig Jahre alt. Doch viel wichtiger: laut den Unterlagen der Behörde war er eins zweiundneunzig groß und wog zweihundertachtzig Pfund. Sie baten um ein Fax von Weems' Führerschein. »Wenn da zweihundertachtzig steht, bedeutet das, dass er bestimmt drei Zentner wiegt«, erklärte Two Moons. »Die Leute lügen immer.« Das Faxgerät surrte. Das abgebildete Foto war klein, und sie vergrößerten es auf dem Kopierer in der Polizeistation. Myron Weems hatte ein rundes Gesicht, struppiges graues Haar und ein ausladendes gespaltenes Kinn. Eine winzige Brille hockte auf seiner Knollennase, was ziemlich absurd aussah. Weems' Hals war noch breiter als sein Gesicht und bildete Ringe wie ein mit Schnüren umwickelter Schmorbraten. Er sah aus wie ein aus dem Leim gegangener ehemaliger Football-Spieler. »Großer Junge«, sagte Two Moons. »Sehr großer Junge«, erwiderte Katz. »Ich frag mich, ob er hier in der Stadt ist.« Als die Detectives versuchten, Myron Weems in seinem Haus in Oklahoma anzurufen, meldete sich nur der Anrufbeantworter. »Hier ist Reverend Dr. Myron Weems ...« Seine öli
81 ge Stimme klang erstaunlich jungenhaft. Weems' Ansage endete damit, dass er dem Anrufer segensreiche Wünsche für ein »spirituelles und persönliches Wachstum« erteilte. In seiner Kirche meldete sich auch niemand. Es gab keinen Nachweis, dass Weems innerhalb der letzten sechzig Tage nach Albuquerque oder von Albuquerque weggeflogen war. Während der nächsten drei Stunden riefen Katz und Two Moons sämtliche Hotels in Santa Fe an, weiteten ihre Suche aus und wurden schließlich in einem schäbigen Motel im südlichen Teil der Stadt fündig, nur zwei Meilen von der Polizeistation entfernt. Sie fuhren dorthin und sprachen mit dem Mann an der Rezeption, einem jungen Navajo, der gerade dem Teenageralter entwachsen war. Er hatte absolut glatte schwarze Haare und einen dünnen Schnurrbart. Vor drei Tagen hatte Myron Weems unter seinem Namen eingecheckt. Er war in einem Fahrzeug mit Oklahoma-Kennzeichen angekommen, dessen Nummer ordnungsgemäß eingetragen worden war. Ein 94er Jeep Cherokee, was mit den Daten übereinstimmte, die sie aus Enid erhalten hatten. Weems hatte für eine Woche im Voraus bezahlt. Der Angestellte, dessen Name Leonard Cole war, hatte ihn gestern noch gesehen. »Sind Sie sicher?«, fragte Katz. »Absolut«, antwortete Cole. »Der Typ ist schwer zu übersehen. Er ist riesig.« »Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen«, sagte Two Moons. »Nein, Sir.« Cole sah auf die Uhr. Aus dem Zimmer hinter der Rezeption war ein Fernseher zu hören. Cole wollte offenbar unbedingt seine Sendung weiterschauen. Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und fragte: »Wollen Sie einen Blick in sein Zimmer werfen?« 81 »Das dürfen wir ohne Durchsuchungsbefehl nicht. Aber Sie könnten hineingehen, weil Sie glauben, dass irgendwas nicht in Ordnung ist.« »Was denn?«, fragte Leonard Cole. »Undichte Stelle in der Gasleitung oder ein kaputtes Wasserrohr, irgend so was.« »Wir haben kein Gas, alles ist elektrisch«, sagte Cole. »Aber die Duschen tropfen manchmal.« Sie folgten Cole zu dem Zimmer im Erdgeschoss. Cole klopfte, wartete, klopfte erneut, dann benutzte er seinen Generalschlüssel. Sie ließen ihn als Ersten eintreten. Er hielt die Tür weit auf und blickte ins Zimmer. Alles war sauber und aufgeräumt. An einer Wand lehnten hintereinander vier Bilder, gleich neben dem gemachten Einzelbett. Katz dachte: Kann für so einen großen Mann kein Vergnügen sein, in diesem Bett zu schlafen. Ist vermutlich einfacher, wenn man gut motiviert ist.
Und der Grund für die Motivation war unübersehbar: Auf einer Resopalkommode lag ein Teppichmesser. Das oberste Bild bestand nur noch aus gewellten Leinwandstreifen, die immer noch fest im Rahmen steckten. Leonard Cole schaute hinter das Bild und sagte: »Die sind alle zerschnitten. Ist ja Wahnsinn.« Two Moons forderte ihn auf, das Zimmer zu verlassen und abzuschließen. »Wir schicken ein paar Polizeibeamte vorbei, die hier Wache halten werden. Lassen Sie in der Zwischenzeit niemanden rein oder raus. Wenn Weems auftaucht, rufen Sie uns sofort an.« »Ist der Typ gefährlich?« »Für Sie vermutlich nicht.« Katz nahm sein Handy heraus. »Aber kommen Sie ihm nicht in die Quere.« Er forderte per Telefon uniformierte Beamte zur Unterstützung an 82 und gab eine Suchmeldung für den Jeep von Myron Weems durch. Dann sah er seinen Partner an. »Denkst du, was ich denke?« »Ich glaube ja«, sagte Two Moons. »Fahren wir los.« Die Detectives liefen zu ihrem Crown Victoria. So viel Wut. Die Exfrau. 11 Die Adresse gehörte zu einem asymmetrisch gestalteten Adobehaus auf der Artist Road, zwei Blocks östlich der Bishop's Lodge Road und kurz vor dem Hyde Park. Hier war man nur fünfzehn Meilen vom Skigebiet entfernt, und die Luft roch bereits frisch und lieblich. Das Grundstück wurde von Sparlampen beleuchtet, die einen eher ökologisch ausgerichteten Garten mit einheimischen Gräsern, Büschen und Felsblöcken erkennen ließen. Umrahmt wurde das Ganze von schneebedeckten Pinien. Der Gehweg war mit Arizona-Steinplatten belegt, die Haustür aus altem grauem Teakholz gefertigt. Die Metallbeschläge waren aus Kupfer und von einer feinen Patina überzogen. Auf Two Moons' Klopfen reagierte niemand. Er versuchte, den Türknauf zu drehen. Die Tür ging auf. Katz dachte: Noch eine, die ihre Haustür nicht abschließt. In diesem Fall ausgesprochen leichtsinnig. Die Frau musste doch den Verdacht haben, dass ihr verrückter Exmann Olafson ermordet hatte. Er zog seine Waffe aus dem handgepunzten Holster. Das tat auch Two Moons. Er hielt die Waffe mit beiden Händen und rief Michael Weems' Namen. Schweigen. 82 Sie gingen durch die Eingangshalle ins Wohnzimmer. Es war niemand dort, doch sämtliche Lichter brannten. Hohe Decken mit schönen vigas und latillas. Und der obligatorische K/va-Kamin. Das Zimmer war stilvoll eingerichtet -schwere alte Möbel, die das trockene Klima gut vertrugen, und einige asiatische Antiquitäten. Schöne Ledersofas. Abgenutzte, aber teuer aussehende Teppiche. Zu verdammt ruhig.
An den Wänden hingen keine Gemälde. Nur nackter Putz, ein gebrochenes Weiß mit bläulichem Schimmer. Merkwürdig, dachte Two Moons. Aber wie heißt es doch so schön? Die Kinder von Schuhmachern laufen immer barfuß. Apropos! Wo waren die Kinder? Two Moons' Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht übernachteten sie bei Freunden. Vielleicht war das aber auch reines Wunschdenken! Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums führten zwei Verandatüren auf einen schattigen portal. Hier standen Balkonmöbel und ein Grill auf Rollen wie in den meisten Häusern. Die Küche war unaufgeräumt, auch wie fast überall. Auf einem steinernen Kaminsims standen Fotos der Kinder. Schulfotos. Merry und Max lächelten strahlend. Wo zum Teufel waren die Kinder? »Mrs Weems!«, brüllte Two Moons. Sein Magen fing an zu rebellieren. Er musste an seine eigenen Kinder denken. Er versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, doch je mehr er das versuchte, desto deutlicher sah er ihre Gesichter vor sich. Wie ein verdammtes Tangram-Puzzle. Ganz ruhig, Darrel. Die Stimme seines Vaters sprach zu ihm. Ganz ruhig. 83 Das half ein wenig. Er sah zu Katz und deutete mit dem Kopf nach links auf einen Durchgang, der in einen Flur führte. Das war die einzige Möglichkeit weiterzugehen, ohne dass sie sich umdrehen mussten. Katz gab seinem Partner Rückendeckung. Die erste Tür rechts gehörte zum Zimmer des kleinen Mädchens. Two Moons graute es davor hineinzugehen, doch er hatte keine andere Wahl. Er richtete seine Waffe auf den Fußboden, nur für den Fall, dass das Mädchen in seinem Bett schlief und sie nicht hatte rufen hören. Er wollte keinen Unfall riskieren. Leer. Er hätte das Mädchen zwar lieber schlafend vorgefunden, doch besser so, als eine Leiche zu finden. Das Zimmer war in Rosa gehalten, verspielt und sehr hübsch, das Bett nicht gemacht. Über dem Kopfteil stand mit Haftbuchstaben aus Plastik MERRY an der Wand. Max' Zimmer war nebenan. Ebenfalls leer. Ein typisches Jungenzimmer, fast schon ein Museum für Matchboxautos und Actionfiguren. Hinter der letzten Tür befand sich ein Erwachsenenschlafzimmer. Getünchte Wände, ein eisernes Bettgestell, ein einzelner Nachttisch aus Kiefernholz und nichts, auch keine Leiche. Wo war sie? Wo waren die Kinder? »Mrs Weems?«, brüllte Katz. »Polizei.« Nichts.
Rechts war eine weitere doppelte Verandatür, die auf einen zweiten portal führte. Two Moons atmete hörbar aus. Katz folgte seinem Blick durch die Glasscheibe. Draußen stand eine Frau im gleißenden Lichtstrahl eines Scheinwerfers an einer tragbaren Staffelei und malte. Einen 84 Pinsel mit dem Stiel im Mund, den anderen in der Hand, die in einem Wollhandschuh steckte, betrachtete sie gerade überaus kritisch die Leinwand. Hinter ihr war ein schneebedeckter Hang. Schließlich brachte sie eine Reihe von Tupfern an, hielt dann wieder inne, um das Bild erneut kurz zu betrachten. Katz und Two Moons blickten auf die Rückseite der Staffelei. Die Künstlerin hätte sie sofort gesehen, wenn sie hochgeschaut hätte. Was sie nicht tat. Michael Weems war schätzungsweise Ende dreißig - mindestens fünfzehn Jahre jünger als ihr Exmann. Sie hatte ausgeprägte Wangenknochen, schmale Lippen und eine spitze, prägnante Nase. Gute Haltung und lange, schlanke Beine. Sie trug eine gesteppte weiße Skijacke über Leggins, die in Wanderstiefeln steckten. Ihr blondes, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar trug sie nach hinten gekämmt und zu einem langen Zopf gedreht, der ihr über die linke Schulter hing. Um den Hals hatte sie einen schwarzen Schal mit Fransen geschlungen. Ihr Gesicht war ungeschminkt, doch sie hatte Sonnenbrandflecken auf Wangen und Kinn. Noch eine, die auf Georgia O'Keeffe macht, dachte Katz. Two Moons klopfte leicht gegen die Glastür, und Michael Weems blickte endlich von ihrem Gemälde auf. Sie sah sie kurz an, dann tupfte sie weiter Farbe auf das Bild. Die Detectives traten auf die Veranda. »Sie sind von der Polizei«, sagte sie, nahm den Pinsel aus dem Mund und legte ihn auf einen Beistelltisch. Dort stand eine Dose Terpentin, und daneben lag ein großer Haufen Lumpen sowie eine Glaspalette mit kreisförmigen Vertiefungen, in denen sich Pigmente befanden. »Das hört sich ja an, als hätten Sie uns erwartet, Ma'am.« 84 Michael Weems lächelte und malte weiter. »Wo sind die Kinder, Mrs Weems?«, fragte Two Moons. »In Sicherheit«, antwortete sie. Two Moons spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. »In Sicherheit?«, fragte Katz. »Soll das heißen, sicher vor Ihrem Exmann?« Michael lächelte rätselhaft. »Er ist nämlich in der Stadt«, sagte Katz. Die Künstlerin antwortete nicht. »Wir haben vier Gemälde von Ihnen in seinem Motelzimmer gefunden.«
Michael Weems hörte auf zu malen. Sie legte ihren Pinsel neben dem Stapel Lumpen auf den Tisch und schloss die Augen. »Gott segne Sie«, sagte sie leise. »Sie sind jedoch leider alle zerstört, Ma'am.« Weems riss die Augen auf. Dunkle Augen, die einen dramatischen Kontrast zu ihrem hellen Haar bildeten. Die Augen eines Habichts und absolut unversöhnlich. »Leider«, sagte sie. Es klang, als ob sie Katz nachäffen würde. Sie starrte an den Detectives vorbei. Katz sagte: »Es tut mir Leid, Mrs Weems.« »Tatsächlich?« »Ja, Ma'am«, erwiderte Katz. »Sie haben sehr viel Arbeit in diese -« »Er war ein Teufel«, sagte Michael Weems. »Wer?« Sie wies mit einem Finger hinter sich auf den Hang in ihrem Rücken. Es war ein sanft abfallender Hang voller Schneeverwehungen, roter Felsen, Pinien, Wacholdersträucher und Kakteen. Dann drehte Michael Weems sich um, ging zum Rand des portal und schaute nach unten. Im diffusen Licht konnten die Detectives einen flachen 85 Graben erkennen, der parallel zu Weems' Grundstück verlief. Zu klein, um bereits als arroyo bezeichnet zu werden, handelte es sich eher um eine breite Vertiefung im Boden, die voller Geröll, Unkraut und größerer Steine war. Etwa sechs Meter von der Mitte des Grundstücks nach rechts lag etwas noch Größeres. Die Leiche eines Mannes. Auf dem Rücken, den Bauch nach oben gewölbt. Und was für ein riesiger Bauch das war. Myron Weems' Mund war weit aufgerissen, im Ausdruck permanenten Staunens erstarrt. Eine Hand war unnatürlich gespreizt, die andere lag neben dem massiven Oberschenkel. Selbst im Dunkeln und trotz der Entfernung konnten Katz und Two Moons das Loch in seiner Stirn erkennen. Michael Weems ging wieder zu dem Beistelltisch und nahm eine Hand voll Lumpen von dem Haufen. Darunter lag ein Revolver, offenbar ein alter Smith & Wesson. Eine Cowboywaffe. »Gib mir Deckung«, flüsterte Two Moons. Katz nickte. Langsam ging Darrel zu Michael hinüber, den Blick starr auf ihre Hände gerichtet. Sie wirkte nicht beunruhigt oder verängstigt, selbst als er den Revolver nahm und fünf Kugeln aus der Trommel entfernte. Weems konzentrierte sich wieder ganz auf ihr Bild. Katz und Two Moons konnten nun sehen, was es darstellte.
Merry und Max standen am Rand eines portal. Beide waren nackt. Sie starrten mit einer Mischung aus Grauen und Entzücken über die wunderbare Entdeckung, dass ein Kindheitsalbtraum nichts als Einbildung war, auf die Leiche ihres Vaters. Michael Weems drückte ihren Pinsel in den roten Kreis auf 86 ihrer Palette und gab dem Loch in der Stirn eine kräftigere Farbe. Das malte sie alles aus dem Kopf, ohne einen Blick auf die reale Vorlage zu werfen. Die Darstellung war perfekt. Die Frau hatte Talent. Denn dein ist die Macht Für unsere Eltern Sylvia Kellerman Anne Marder David Kellerman alaw ha-Schalom Oscar Marder - alaw ha-Schalom Besonderer Dank gilt Jesse Kellerman, einem außergewöhnlichen Fotografen Nicht dass Dorothy neugierig wäre. Sie inspizierte den Rucksack nur, weil er stank. Aus fünf braunen Lunchtüten sickerte das verdorbene Essen von fünf Tagen - Traum einer jeden Mikrobe. Nachdem sie vorsichtig mit den Fingerspitzen das die Geruchsnerven beleidigende Zeug entfernt hatte, bemerkte sie etwas zwischen den zusammengeknüllten Blättern und Lehrbüchern auf dem Boden des Rucksacks. Es war nur ein winziges Aufblitzen von etwas Metallischem, doch es traf sie wie ein bösartiger Schlag. Ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb. Vorsichtig schob sie den ganzen Kram beiseite, bis das Objekt völlig freigelegt war - ein Smith-&-Wesson-Revolver, ein alter. Dorothy nahm die Waffe aus dem Rucksack und untersuchte sie. Sie war voller Kratzer und Kerben und um die Mündung herum rostig. Sehr schlecht gepflegt. Die sechs Kammern waren leer, aber das war nur ein schwacher Trost. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben, dann wurde sie wütend. »Spencer!« Ihre normalerweise tiefe Stimme klang schrill. »Spencer, beweg deinen traurigen Arsch hierher, und zwar plötzlich!« Ihr Schreien war nutzlos. Spencer spielte ein Stück den Block hinunter beim YMCA mit der Gang Basketball. Mit Rashid, Armando, Cory, Juwoine und Richie. Der Fünfzehnjährige hatte keine Ahnung, dass seine Mutter zu Hause war, geschweige denn, dass sie a) in seinem Zimmer war, b) seine 86 persönlichen Sachen durchsuchte und c) eine Waffe in seiner Büchertasche gefunden hatte. Sie hörte die Treppenstufen unter schweren Schritten quietschen. Das war Marcus, ihr älterer Sohn. Dann stand er wie ein Wachposten in der Zimmertür - die Arme über der Brust verschränkt, die Beine gespreizt. »Was ist denn los, Ma?« Dorothy wirbelte herum und hielt ihm die ungeladene Waffe vors Gesicht. »Was weißt du darüber?«
Marcus verzog das Gesicht und trat einen Schritt zurück. »Was machst du da?« »Das hab ich bei deinem Bruder im Rucksack gefunden!« »Was hast du in Spencers Rucksack zu suchen?« »Darum geht es nicht!«, fauchte Dorothy wütend. »Ich bin seine Mutter, und ich bin deine Mutter, und ich brauche keinen Grund, deinen Rucksack durchzusehen oder seinen!« »Doch, den brauchst du«, konterte Marcus. »Unsere Rucksäcke sind unser Privateigentum. Es gibt Gesetze, die die Privatsphäre ...« »Im Moment interessiert mich eure Privatsphäre einen Dreck!«, brüllte Dorothy. »Was weißt du darüber?« »Nichts!«, brüllte Marcus zurück. »Absolut gar nichts, okay?« »Nein, es ist nicht okay! Ich finde bei deinem Bruder im Rucksack einen Revolver, und das ist nicht okay, okay?« »Okay.« »Das will ich aber auch meinen.« Dorothy tat der Hals weh. Er war wie zugeschnürt. Mühsam holte sie Luft. Im Zimmer war es heiß und stickig, und es stank. Die Heizung im Gebäude war launisch und unzuverlässig, die Temperaturen schwankten zwischen Sahara-artiger Hitze und arktischer Kälte. Dorothy ließ sich auf Spencers Bett fallen und versuchte, sich zu beruhigen. Die Matratze hing unter ihrem 87 Gewicht durch. Sie hatte zweifellos zu viele Fettpolster angesetzt, doch darunter waren starke, harte Muskeln. Das winzige Zimmer erdrückte sie. Die beiden Betten standen so dicht nebeneinander, dass kein Nachttisch dazwischen passte. Die Tür des Wandschranks stand offen. Er war bis zum Überlaufen voll gestopft mit T-Shirts, Jogginghosen, Shorts, Socken, Schuhen, Büchern, CDs, Videos und Sportausrüstung. Das Rollo war seit einem Monat nicht mehr abgestaubt worden. Die Jungen hatten zwar einen Wäschekorb, doch jedes noch so kleine Fleckchen Fußboden war übersät mit schmutzigen Kleidungsstücken. Überall lag Papier herum, zerknüllte Verpackungen von Süßigkeiten, leere Tüten und Schachteln. Warum konnten die Jungen das Zimmer nicht wenigstens minimal sauber halten? Marcus setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter. »Geht's dir wieder besser?« »Mir geht's überhaupt nicht besser!« Sie wusste, dass sie den Falschen anblaffte. Doch sie war überarbeitet, erschöpft und desillusioniert. Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, rieb sich die Augen, versuchte, ihre Stimme sanfter klingen zu lassen. »Du weißt also nichts darüber?« »Nein.« »Lieber Gott«, sagte Dorothy. »Was mag als Nächstes kommen?« Marcus wich ihrem Blick aus. »Er macht halt eine schwierige Phase durch ...« »Das ist mehr als eine schwierige Phase!« Sie hielt die Waffe fest umklammert. »Das ist illegal und potenziell tödlich!«
»Ich weiß, Ma. Es ist nicht gut.« Der Einundzwanzigjährige betrachtete das Gesicht seiner Mutter. »Aber wenn du das klären willst, darfst du nicht hysterisch sein.« »Ich bin nicht hysterisch, verdammt noch mal. Ich ... ich 88 bin eine Mutter! Und ich mache mir Sorgen als Mutter!« Sie blaffte erneut los. »Wo hat er das her?« »Ich hab keine Ahnung.« »Ich könnte die Waffe durch den Computer laufen lassen.« »War das nicht ein bisschen übertrieben?« Dorothy schwieg. »Warum redest du nicht erst mal mit ihm?« Marcus sah seine Mutter an. »Reden, Ma. Nicht schreien. Reden.« Kurze Pause. »Oder vielleicht sollte besser ich mit ihm -« »Du bist nicht seine Mutter! Das ist nicht deine Aufgabe!« Marcus hob abwehrend die Hände. »Na schön. Mach, was du willst. Das tust du ja eh immer.« Dorothy richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was soll das denn heißen?« »Das ist doch offenkundig.« Marcus trat seinen Rucksack um, dann hob er ihn auf, indem er einen Fuß unter einen Gurt schob und ihn nach oben schnellen ließ. Er wühlte eine Weile darin herum und nahm dann ein Buch heraus. »Falls du es noch nicht wissen solltest, ich hab heute Abend ein Spiel und außerdem noch zweihundert Seiten europäische Geschichte zu lesen. Und außerdem mache ich nach dem Training morgen früh um halb sechs die Frühschicht in der Bibliothek. Hast du was dagegen?« »Werd nicht frech.« »Ich bin überhaupt nicht frech, ich versuche nur, meine Arbeit zu erledigen. Du bist schließlich nicht die Einzige, die Verpflichtungen hat.« Marcus stand auf, dann ließ er sich so heftig auf sein eigenes Bett fallen, dass beinahe die durchhängenden Federn gebrochen wären. »Mach die Tür zu, wenn du gehst.« Dorothy wusste, dass es an der Zeit war, die Taktik zu ändern. Sie bemühte sich, leise zu sprechen. »Was meinst du 88 denn, was ich tun sollte? Es einfach auf sich beruhen lassen? Das kann ich nicht, Marcus.« Er legte das Buch beiseite. »Nein, ich meine nicht, dass du es auf sich beruhen lassen solltest. Aber es wäre vielleicht nicht schlecht, das Ganze etwas objektiver zu sehen. Stell dir einfach vor, er wäre einer deiner Verdächtigen. Du gibst doch immer damit an, dass du im Department diejenige mit dem feinfühligen Händchen bist. Benutz es.« »Marcus, warum schleppt Spencer eine Waffe mit sich herum?« Er zwang sich, seiner Mutter fest in die Augen zu sehen. Große braune Augen. Eine große, kräftige Frau. Ihr beinahe militärisch kurz geschnittenes krauses Haar ließ ihr Gesicht größer erscheinen. Sie hatte vorstehende Wangenknochen, und die Lippen waren zu einem Schmollmund verzogen. Sie war fast eins achtzig groß, hatte große,
schwere Knochen, aber lange, graziöse Finger. Eine schöne Frau, die Respekt verdiente. »Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber es ist vermutlich keine große Sache. Da draußen geht's ziemlich brutal zu. Vielleicht gibt ihm das ein Gefühl der Sicherheit.« Er konzentrierte sich auf Dorothys Augen. »Gibt es dir nicht auch ein Gefühl der Sicherheit?« »Für mich gehört das zur Standardausrüstung, Marcus, und ist nichts, womit ich mich wichtig machen will. Außerdem geht es hier nicht um eine Zigarette, noch nicht einmal um Marihuana. Waffen sind Instrumente zum Töten. Genau das tun sie. Sie töten Menschen. Ein Junge in dem Alter sollte auf keinen Fall eine Waffe haben, egal wie bedroht er sich fühlt. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, sollte er mit mir reden.« Sie sah ihren älteren Sohn forschend an. »Hat er dir was erzählt?« »Worüber?« 89 »Über das, was ihn so ängstigt, dass er es für nötig hält, mit einer Waffe herumzulaufen.« Marcus biss sich auf die Unterlippe. »Nichts Konkretes. Hör mal, wenn du willst, geh ich zum YMCA rüber und bring ihn nach Hause. Aber er wird ziemlich sauer sein, dass du in seinen Sachen rumgewühlt hast.« »Ich hätte es ja gar nicht gemacht, wenn sein Rucksack nicht so fürchterlich gestunken hätte.« »Yeah, hier riecht es, als hätte jemand einen Megafurz gelassen.« Er schüttelte lachend den Kopf. »Mama, was hältst du davon, wenn du vor dem Spiel mit Aunt Martha noch irgendwo einen Happen essen gehst? Oder vielleicht ein paar Weihnachtseinkäufe machst.« »Mir ist nicht danach, Geld auszugeben, und ich hab auch keine Lust, mir alles Mögliche über Marthas GERD anzuhören. « »Die plappert ja nur so viel, weil du nichts sagst.« »Ich rede schon.« »Du brummst.« Genau das hatte sie gerade tun wollen. Sie unterdrückte es und zwang sich zur Ruhe. »Ich gehe jetzt deinen Bruder holen. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir, und ich muss ihn zur Rede stellen. Du konzentrierst dich einfach auf deine Aufgaben, okay?« »Wird's laut werden?« »Es könnte ... etwas heftig werden.« Marcus küsste sie auf die Wange und stand vom Bett auf. Er warf sich seine dicke Daunenjacke über die Schulter und klemmte sich sein Lehrbuch unter den Arm. »Ich glaube, dann bin ich in der Bibliothek besser aufgehoben. Kommst du heute Abend?« »Hab ich jemals ein Spiel von dir verpasst?« Sie strich ihm übers Gesicht. »Brauchst du Geld fürs Abendessen?« 15z »Nee, ich hab noch ein bisschen was vom Stipendium vom letzten Monat übrig. Warte mal.« Er ließ seine Jacke auf den Boden fallen und gab seiner Mutter das Buch. »Ich hab Gutscheine.« Er suchte in seinem
Portemonnaie herum und zog vier Coupons hervor. Einen behielt er, die anderen gab er seiner Mutter. »Die haben sie gestern beim Training verteilt.« Dorothy sah auf die Zettel. Für jeden gab es bis zu fünf Dollar kostenlose Lebensmittel. »Von wem hast du die?« »Von örtlichen Sponsoren. Die verteilen die Dinger an jeden. Damit der Universitätssportverband um Gottes willen nicht meint, wir würden was umsonst kriegen.« Er schüttelte den Kopf. »Mann, ein mieser Gutschein ist doch das Mindeste, was die dafür tun können, dass sie uns ausbeuten. Das Spiel letzte Woche war komplett ausverkauft. Wegen Julius natürlich. Er ist der Star. Wir sind nur die Nebendarsteller -seine persönlichen Kammerdiener. So ein Arschloch!« »Sei nicht so ordinär.« »Yeah, yeah.« Dorothy hatte plötzlich das mütterliche Bedürfnis, ihren Sohn zu verteidigen. »Dieser Junge könnte nichts machen, wenn ihr anderen ihm nicht perfekte Bälle zuspielen würdet. « »Yeah, versuch mal, dem Schwein klar zu machen, dass Basketball ein Mannschaftssport ist. Wenn ich oder jemand anders dem Trainer was sagt, ist Julius sauer, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, bin ich draußen. Und auf der Warteliste stehen ungefähr dreihundert schwarze Jungs, die glauben, dass das Boston Ferris College für sie das Sprungbrett in die National Basketball Association ist. Nicht dass Träumen was Schlimmes war ...« Er seufzte. »Scheiße, ich träume.« Eine Woge von Zärtlichkeit erfasste sie. »Es gibt Träume, Marcus, und es gibt Hirngespinste«, erklärte Dorothy. »Wie 90 ich dir schon oft gesagt habe, ein guter Sportagent mit einem HarvardExamen in Jura kann eine Menge Geld verdienen, ohne sich den Rücken und die Knie kaputtzumachen und mit dreißig am Ende zu sein.« »Yeah, yeah.« »Du hörst mir nicht zu.« »Doch, ich hör dir zu. Es ist bloß ...« Der junge Mann kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht, Ma. Ich tappe wie alle anderen in die gleiche Falle. Ich habe diesen Traum. Aber ich kenne auch die Realität. Ich versuche, in beiden Welten zu leben, aber auf Dauer kann ich nicht in diesem Tempo weitermachen. Irgendwas muss auf der Strecke bleiben.« Dorothy schlang die Arme um ihren Sohn. »Ich weiß, dass du das Spiel liebst, Marcus. Ich liebe das Spiel auch. Und ich möchte auf keinen Fall diejenige sein, die dir deinen Traum zerstört, aber ich will halt das Beste für dich.« »Das weiß ich doch, Ma. Und ich weiß auch, dass die Juristischen Fakultäten der Elite-Unis die großen schwarzen Jungs mit den guten Testergebnissen und dem super Notendurchschnitt einfach lieben. Ich müsste ein Idiot sein, mir eine solche Chance zu vermasseln. Trotzdem, man macht sich halt so seine Gedanken.« Sein Blick wurde vage und
nachdenklich. »Ist schon alles in Ordnung. Wenn's so weit ist, werd ich das Richtige tun.« Dorothy küsste ihren Sohn auf die Wange. »Das tust du doch immer.« »Ja, das stimmt.« Er hielt inne. »Der gute alte zuverlässige Marcus.« »Lass das!« Dorothy runzelte die Stirn. »Du hast vom lieben Gott wertvolle Gaben erhalten. Sei nicht undankbar.« »Natürlich nicht.« Marcus schlüpfte in die Jacke und warf sich den Rucksack über die Schulter. »Ich weiß, wo ich herkomme. Und ich weiß auch, wo du herkommst, Mama. Ich *54 weiß, wie hart du arbeitest. Ich nehme nichts als selbstverständlich hin.« 2 Michael Anthony McCain saß zusammengesunken auf dem Fahrersitz des Wagens und trank Kaffee, der zu stark und zu heiß war. Während er durch die beschlagene Windschutzscheibe spähte, schwelgten seine Gedanken in Erinnerungen an die Zeit, wo er alles hatte, was man sich nur wünschen konnte. Das war ungefähr zehn Jahre her. Als er Anfang dreißig war, etwa zu der Zeit, als er zum Detective befördert wurde. Als Muskelpaket von knapp achtzig Kilo bei einer Größe von eins achtundsiebzig hatte er an guten Tagen beim Bankdrücken drei komplette Durchgänge geschafft. Seine Haare waren dicht gewesen, hellbraun im Winter, dunkelblond im Sommer. Mit seinen leuchtenden blauen Augen und den strahlend weißen Zähnen, für die er tausende Dollar beim Zahnarzt gelassen hatte, hatte er die Mädels magisch angezogen. Selbst Grace hatte ihm seine gelegentlichen Affären verziehen, weil er so ein unglaubliches Exemplar der männlichen Spezies war. Nun kannte sie überhaupt keine Nachsicht mehr. Wenn er eine Minute zu spät nach Hause kam, wurde sie richtig giftig und zeigte ihm tagelang die kalte Schulter, selbst wenn er gar nichts getan hatte. Was leider ständig der Fall war, es sei denn, er machte sich auf die Pirsch, wozu er jedoch in der Regel keine Lust hatte, weil er zu pleite, zu beschäftigt und zu müde war. Selbst damals hatte er sich nicht an die Frauen herangemacht. Sie waren einfach zu ihm gekommen. McCain machte ein griesgrämiges Gesicht. 91 Es war lange her, dass jemand - irgendetwas - zu ihm gekommen war. Beschissen lange her. Er stellte zum x-ten Mal das Gebläse an, das erst kalte, dann heiße Luft produzierte, bis es im Innern des Ford so heiß und feucht war wie im Regenwald. Sobald er den Schalter ausstellte, drang eisige Luft durch alle Ritzen und Spalten, was wieder einmal bewies, wie nachlässig das Auto gebaut und verarbeitet war. Er verlagerte sein Gewicht und versuchte, seine Beine unter den beengten Bedingungen so gut es ging
auszustrecken. Sein rechter großer Zeh war taub, sein Hintern ebenfalls. Zu lange gesessen. Er hatte sich in mehrere Schichten Kleidung gehüllt, so dass ihm an einigen Stellen zu warm und an anderen zu kalt war. Seine Hände steckten in dicken Lederhandschuhen, mit denen er zwar schlecht den Becher halten konnte, sich aber andererseits nicht die Finger verbrannte, wenn der Kaffee über den Rand schwappte. Seine Nase war kalt, aber die Füße waren warm dank einer kleinen elektrischen Fußheizung, die man in den Zigarettenanzünder des Escort einstöpseln konnte. Damit würde er es angenehm haben - relativ angenehm -, bis das Gerät einen Kurzschluss hatte. Angesichts seiner Erfahrung mit Geräten, die das Department zur Verfügung stellte, gab er dem Teil zwei Wochen. Durch die Windschutzscheibe wirkte die Aberdeen Street auf den ersten Blick recht freundlich. Es war eine ruhige Nacht. Lichterketten, die an den Dachrinnen der schäbigen Holzhäuser befestigt waren, blinkten in der Dunkelheit. Immer noch bedeckte der Schnee, der vom Schneesturm der letzten Woche liegen geblieben war, Büsche und Bäume. Eiszapfen hingen wie gefrorene Tränen von den Dächern der Häuser in diesem Straßenabschnitt. In diesem Teil von Somerville gab es nicht mehr viele Hau 92 ser, in denen Familien wohnten; die meisten waren an mehrere Einzelpersonen vermietet. Die Gegend war jedoch nicht mit South Boston oder Roxbury vergleichbar. Die meisten Einwohner waren anständige Leute, ganz normale Arbeiter, die in der Stadt selbst oder in der Umgebung geboren und aufgewachsen waren. Auch relativ viele Studenten wohnten hier, die nach billigeren Wohnungen suchten, weil die Mieten in Cambridge exorbitant hoch waren. Allerdings gab es in der Gegend auch einen gewissen Anteil an Übeltätern. Das gelbe Haus, das McCain beobachtete, wurde von Studenten bewohnt, unter anderem von der derzeitigen Freundin des gerade gesuchten Übeltäters - einer total verknallten Soziologiestudentin von der Tufts University. Ein privilegiertes Mädchen, das momentan Romeo Fritt bumste, den mordgierigen Psychopathen. Die heftigen Einwände ihrer Eltern hatte sie als rassistisch abgetan. Idioten waren halt nicht lernfähig. Normalerweise war das nicht McCains Problem, bloß dass Fritt wegen besonders brutalen Mehrfachmordes in Perciville, Tennessee, gesucht wurde und einem anonymen Hinweis zufolge in der Wohnung des verknallten Mädchens kampierte - und das war sein Problem. McCain hatte unter seinem Parka den obersten Hosenknopf geöffnet, damit sein Bauch sich besser ausbreiten konnte. Früher hatte er essen können, was er wollte. Viermal die Woche zwei Stunden im Fitnesscenter hatten dafür gesorgt, dass er nicht zunahm. Die Zeiten waren vorbei.
Vor fünf oder sechs Jahren hatte er angefangen, morgens zu joggen - erst zwei Meilen, dann drei, dann vier. Das funktionierte eine Zeit lang. Und jetzt? Vergiss es. Ganz gleich, wie oft er die Commonwealth Avenue auf und ab lief, seine Taille uferte immer mehr aus. Zu allem Überfluss begannen ihm zu der Zeit, als er anfing, Pfunde anzusetzen, auch die 93 Haare auszufallen. Dann, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wuchsen ihm plötzlich Haare aus Nase und Ohren. Was zum Teufel sollte dieser Scheiß? Er trank den letzten Schluck Kaffee und warf den Pappbecher auf den Rücksitz. In dem gelben Haus hatte sich seit einer Stunde nichts gerührt. Noch eine Stunde musste er ausharren, dann endete seine Schicht. Wegen der Kälte wechselten sie sich alle zwei Stunden ab. Die hohen Tiere waren wohl der Meinung, dass es kein gutes Licht auf das Department werfen würde, wenn es wegen Frostbeulen verklagt würde. Nur noch eine verdammte Stunde, doch warum ihn das überhaupt kümmerte, war ihm schleierhaft. Zu Hause erwartete ihn niemand. Grace war mit Sandy und Micky junior für einen zweiwöchigen Urlaub nach Florida gefahren, in die Eigentumswohnung ihrer Eltern. Er sollte gegen Ende der Woche nachkommen, auf alle Fälle hoffentlich zu Weihnachten. Doch wenn es auch dann nicht klappte, würde er halt über Neujahr hinfahren. Jedenfalls war zurzeit niemand zu Hause. Im ganzen Haus gab es nichts Lebendiges außer ein paar Pflanzen. Sally war vor drei Monaten gestorben, und er trauerte immer noch um sie. Die siebzig Kilo schwere Rottweilerhündin war sein bester Freund gewesen. Sie war nachts mit ihm aufgeblieben, wenn die übrige Familie ins Bett ging, und hatte mit ihren Blähungen sein Arbeitszimmer voll gestunken. Mann, hatte die furzen können. Er hatte ihr ein Mittel gegen Blähungen ins Futter mischen müssen, so schlimm war es gewesen. An chronischer Herzinsuffizienz war sie gestorben. Hatte drei Wochen dahinvegetiert. Er vermisste sie wahnsinnig. In letzter Zeit hatte er überlegt, ob er sich einen neuen Rottweiler zulegen sollte, sich aber schließlich dagegen entschieden. Es würde nicht Sally sein. Außerdem war diese Hunderasse nicht allzu langlebig, 93 und er wusste nicht, ob er ein zweites Mal eine längere Trauerphase durchstehen würde, in der ihm häufig die Augen wehtaten und er niemandem erzählen konnte, wie er sich fühlte. Vielleicht würde ja so ein kleiner Tischweihnachtsbaum helfen, das Haus ein wenig aufzuhellen, aber wer hatte dafür schon Zeit? McCain rieb sich den Nacken, streckte sich erneut und starrte über die dunkle Straße zu dem dunklen Haus. Ganz nett für die Gegend. Allerdings dringend renovierungsbedürftig. Hier in Somerville gab es viele alte Bäume und Parks, und in dem Teil, der an Medford grenzte, waren viele gemütliche Studentencafes. Trotzdem, wo immer Studenten
waren, mischte sich übles Volk dazwischen und betrieb seine zwielichtigen Geschäfte. McCain sah durch das Fernglas. Im Haus regte sich immer noch nichts. Fritts Freundin hatte das Schlafzimmer im Obergeschoss. Das war das einzig Konkrete, was die Polizei herausgefunden hatte, seit die Fahndungsmeldung aus Perciville eingegangen war. Doch das brachte sie nicht unbedingt weiter. Noch fünfzig Minuten. Plötzlich wurde McCain bewusst, dass er sich einsam fühlte. Er nahm sein Handy und drückte Kurzwahlnummer drei. Sie hob beim zweiten Klingeln ab. »Hey«, sagte er in den Hörer. »Hey«, antwortete Dorothy. »Hat sich was getan?« »Nichts.« »Absolut gar nichts?« »Alles dunkel wie eine Hexentitte.« Kurzes Schweigen in der Leitung. »Wie dunkel ist eine Hexentitte?« »Sehr dunkel«, antwortete McCain. 94 »Glaubst du, er ist abgehauen?« »Ja, kann schon sein. In dem Fall sollten wir uns wohl ein bisschen Sorgen um das Mädchen machen. Sie hat sie zwar nicht mehr alle, diese dämliche Collegestudentin, sich in diesen Psychopathen zu verknallen, aber deswegen zu sterben hat sie nun auch nicht verdient.« »Wie nett, dass du ihr das zugestehst. Ist sie heute im Unterricht aufgetaucht?« »Keine Ahnung. Ich überprüf das mal und ruf dich dann zurück. Ich hoffe wirklich, dass sie nicht mit ihm mitgegangen ist.« »Ja«, sagte sie. »Das wäre schlimm. Wie lange musst du noch?« »In diesem Augenblick« - McCain sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr - »sind es noch fünfundvierzig Minuten. Löst du mich ab?« »Feldspar springt für mich ein.« »Was?«, knurrte McCain. »Wieso der?« »Weil Marcus heute Abend ein Spiel hat, und Feldspar war der Nächste auf der Bereitschaftsliste, deshalb er!« »Mein Gott, Dorothy, ich hab Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, und meine Beine sind ganz taub. Zick hier nicht rum.« »Du bist derjenige, der rumzickt. Ich hab nur deine Frage beantwortet.« Schweigen. Dann sagte McCain: »Viel Spaß beim Spiel. Wir reden später -« »Hör auf damit!« »Womit?« »Dich so hängen zu lassen. Das passiert jedes Mal, wenn Grace wegfährt.« »Ich komm schon allein klar, vielen Dank.« 94 »Natürlich tust du das.« »Bye, Dorothy.«
»Warum kommst du heute Abend nicht mit zu dem Spiel?« McCain dachte einen Augenblick nach. »Keine gute Idee. Du würdest nur die ganze Zeit rummeckern, dass ich mies drauf bin.« »Du bist immer mies drauf. Aber komm trotzdem mit.« »Ist doch angeblich ausverkauft.« »Mit mir kommst du immer rein.« McCain antwortete nicht. »Na komm schon, Micky! Sie sind zwölf plus einer - sicherer Sieger in der regionalen Collegeliga, und mit Julius streben sie sogar noch höher hinaus. Du solltest sie mal erleben, wenn sie so richtig in Fahrt sind. Das ist wie ein Ballett.« »Ich hasse Ballett.« »Yeah, deshalb hab ich ja auch gesagt, das ist wie ein Ballett. Hör auf zu schmollen. Du wirst dich besser fühlen, wenn du mal rauskommst.« McCain schwieg erneut. »Mach, was du willst, Micky«, sagte Dorothy. »Um wie viel Uhr?« »Um acht.« McCain sah erneut auf seine Uhr. »Das wird aber echt knapp.« »So weit weg bist du doch gar nicht vom Boston Ferris. Auch wenn du's nicht verdient hast, ich hinterleg für dich 'ne Karte an der Kasse.« »Was soll das denn heißen, ich hab's nicht verdient?« »Ist doch wohl klar.« Dorothy trennte die Verbindung. McCain drückte die Austaste und warf das Handy auf den Beifahrersitz. Dann nahm er noch einmal das Fernglas. 95 Noch immer nichts. Nun ja, vielleicht hatte Feldspar ja Glück. So ungern er es auch zugab, er fühlte sich besser, seine Stimmung war nicht mehr ganz so mies. Es war schön, willkommen zu sein. 3 Das Boston Ferris College war vor fünfzig Jahren gegründet worden, doch der Campus hatte bereits hundert Jahre früher existiert. Der Komplex war behutsam in einen typischen Neuengland-Wald integriert. Der High-Society-Architekt, der das Ganze entworfen hatte, hatte ein gutes Gespür dafür gehabt, wie der Wald sich über die Jahrhunderte hinweg entwickeln würde. Zwischen den Backsteingebäuden im Georgian-Revival-Stil, die von turmhohen Bäumen gesäumt wurden, verliefen gepflasterte Gehwege. Das Zentrum des Campus bildete ein großer natürlicher See, der zurzeit mit einer Eisschicht bedeckt war. Im Herbst gab es keinen schöneren Ort, wo man sitzen und die Enten mit Brot füttern konnte, als eine der Bänke unter rauschenden Ulmen. Doch im Winter, und besonders nachts, wenn die Gehwege überfroren und die leicht hügeligen Rasenflächen mit Schnee bedeckt waren, fegte ein eisiger Wind durch die Bäume und überdachten Durchgänge.
Am heutigen Abend war es hier kälter als in einem Kühlraum. Als McCain ankam, konnte man nur noch weit weg vom Stadion parken. Also musste er im Dunklen durch die Gegend schlittern und hoffen, dass sein Hintern gut genug gepolstert war, um einen dieser plötzlichen Stürze auszuhalten, 96 die einen wie ein Blitz aus heiterem Himmel trafen. Während er sich mühsam vorwärts bewegte, kam er sich sehr unbeholfen vor und verfluchte die Kälte und sein Leben. Und Dorothy, weil sie ihn hierher zitiert hatte. Hatte sie ja eigentlich gar nicht. Er war freiwillig gekommen, weil es bei ihm zu Hause nicht so wahnsinnig aufregend war und er die Schnauze voll davon hatte, in einem überheizten Schlafzimmer, bis auf die Unterwäsche ausgezogen, durch die Kabelkanäle zu zappen. Nun war das Stadion zu sehen. Es war mit weihnachtlicher Beleuchtung geschmückt und grüßte ihn wie ein lang ersehnter riesiger Leuchtturm. McCain ging hinein, holte seine Eintrittskarte ab und kaufte am Würstchenstand für sich und die anderen Proviant. Die Uhr an der Anzeigetafel sagte ihm, dass schon zehn Minuten der ersten Halbzeit vergangen waren. Die Boston Ferris Pirates spielten gegen die Seahawks der Ducaine University und lagen bereits mit einer zweistelligen Punktezahl in Führung. Das scheinbar bessere Team löste wahre Begeisterungsstürme in der Menge aus. Während er den Gang zum Spielfeldrand hinunterging, ein graues Papptablett mit Kaffee, Softdrinks und Hotdogs in der Hand, nahm er sämtliche Verwünschungen zurück, die er gegen Dorothy ausgestoßen hatte. Nun, wo seine Finger aufgetaut waren, war er froh, dass er hier war. Es war zwar nur College-Basketball, doch an Karten für die Spiele des Boston Ferris war schwer heranzukommen. Und ab und zu musste er seinem Alltag entfliehen, selbst wenn es nur für ein paar Stunden war. McCain war immer deprimiert, wenn Grace nicht da war. Auch wenn er nicht immer der treueste Ehemann gewesen war, war ihm seine Familie doch sehr wichtig. Denn wenn einem die Familie scheißegal war, warum sollte man sich dann überhaupt noch die Mühe machen, morgens aufzustehen? 96 Die Pirates spielten gerade mit ihrer zweiten Garnitur, um dem zwei Meter fünf großen Star des Teams, dem Power Forward Julius Van Beest, eine Verschnaufpause zu gönnen. Das »Biest« saß gelassen da und wischte sich mit einem Handtuch über das schweißüberströmte Gesicht. Während er die Treppe hinunterging, warf McCain einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel. Erst zehn Minuten gespielt, und Van Beest hatte bereits zwölf Punkte erzielt und sechs Rebounds geholt. Und nur einen einzigen Pass für einen Korberfolg gegeben, doch das war mehr, als Van Beest normalerweise pro Spiel machte. Vielleicht konnte man nicht gerade sagen, dass der junge Mann ein Ballschwein war ... Doch, genau
das war er. Aber wen kümmerte das? Schließlich liefen die meisten Angriffe über ihn. Marcus Breton war gerade in Aktion und lief mit dem Ball in die gegnerische Hälfte, als McCain seinen Sitzplatz erreichte - siebte Reihe Mitte. Dorothy nahm McCains Anwesenheit kaum wahr, so sehr war sie auf ihren Sohn konzentriert. Er reichte ihr einen Hotdog. Sie nahm ihn, hielt ihn in der Hand, biss aber nicht hinein. Ihr Blick blieb starr auf das Spielfeld gerichtet. Marcus dribbelte einen Moment auf der Stelle, dann sprang er auf den Korb zu. Als er zum Korbwurf ansetzte, wurde er stark bedrängt und reagierte mit einer atemberaubenden Drehung um neunzig Grad, wobei er den Ball hinter dem Rücken zum Center passte, der ihn im Korb versenkte. Die Menge toste, aber niemand brüllte so laut wie Dorothy. Sie klatschte kräftig in die Hände, und erst in dem Moment merkte sie, dass sie einen Hotdog in der Hand hatte. Die Wurst flog aus dem Brötchen heraus und prallte am Stuhl vor ihr ab. Dorothy fing schallend an zu lachen. »Hast du das gesehen! Hast du das gesehen}« Sie schlug McCain so fest auf 97 den Rücken, dass er fast vornüberfiel. Gut, dass er das Tablett mit dem Essen unter seinen Sitz gestellt hatte. Andernfalls wäre das nicht so witzig gewesen. »Ja, ich hab's gesehen«, antwortete McCain. Er blickte zu dem Fremden, der links neben Dorothy saß. »Wo ist Spencer?« Ihr Gesicht wurde ernst. »Zu Hause. Er musste zur Strafe daheim bleiben.« Das gab McCain zu denken. Dorothys jüngerer Sohn liebte Basketball, und er vergötterte seinen Bruder. Wenn Dorothy so eine drastische Strafe verhängte, musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein. »Was hat er getan?« »Das erzähl ich dir in der Halbzeit.« Sie begann in singendem Tonfall zu rufen: »Verteidigen ... verteidigen ... verteidigen. « Marcus deckte nun einen Spieler, der mindestens zehn Zentimeter größer war als er. Doch was dem Jungen an Körpergröße fehlte, machte er durch Geschwindigkeit wett. Er setzte seinem Gegner mit der Hartnäckigkeit einer Stechmücke zu und zwang ihn, den Ball weiterzugeben. Der Center der Seahawks fing ihn, zielte auf den Korb und verfehlte ihn, wurde dabei allerdings gefoult. Er führte den ersten Freiwurf aus, dann ertönte die Trillerpfeife, und es gab zwei Spielerwechsel. Marcus ging hinaus, und der Guard, der das Spiel begonnen hatte, ein schnellfüßiger Neunzehnjähriger namens B. G., kam wieder aufs Spielfeld. Doch seine Rückkehr blieb praktisch unbemerkt. Denn sobald sich Julius von der Bank erhob, verdoppelte sich der Lärmpegel. Mit wiegenden Schritten betrat er das Spielfeld und nahm seine Position am Wurfkreis ein. Van Beests bloße Anwesenheit machte den Werfer nervös. Der Center der
gegnerischen Mannschaft verpatzte den zweiten Wurf, und Julius schnappte sich den abprallenden Ball. 98 Ein Pfiff ertönte. Dorothy lehnte sich zurück und stieß gegen die harte Lehne des Stadionsitzes. »Hat sich da draußen irgendwas getan?« Das bezog sich auf die Überwachung. Die Frage hätte unpassend gewirkt, hätte jemand anders als Dorothy sie gestellt. Die Frau verstand sich meisterhaft darauf, von einer Sache zur anderen umzuschalten. Sie nannte das Multitasking, das neueste Modewort für das gleichzeitige Ausführen mehrerer Arbeitsgänge. McCain fragte sich, was Jugendliche heutzutage veranlasste, aus Substantiven wie Party und Task Verben zu machen. »Nichts«, antwortete McCain. »Feldspar hat versprochen anzurufen, wenn jemand auftaucht, aber meiner bescheidenen Meinung nach ist der Kerl längst abgehauen.« »Was ist mit dem Mädchen?« »Nichts.« »Hast du bei den Eltern nachgefragt?« McCain hob den Arm, und eine fünfzehn Jahre alte Timex kam zum Vorschein. »Vor genau sechsundzwanzig Minuten, und sie hatten immer noch nichts von ihr gehört. Was ist mit Spencer?« »Hab ich nicht was von Halbzeit gesagt?« »Ich dachte, du könntest mir mit ein paar kurzen Worten sagen, was los ist.« »Es ist kompliziert, Micky.« McCain zog die Augenbrauen hoch. Das Spiel wurde fortgesetzt. Zur Halbzeit führte das Heimteam mit einem Dutzend Punkten. Während die Pirates das Spielfeld verließen, jubelte Dorothy Marcus lauthals zu. Dieser winkte höflich zurück. »Warum tust du ihm das an?« McCain reichte ihr ein frisches Würstchen. 98 »Was tu ich ihm an?« Dorothy biss in ihren Hotdog. »Du bringst ihn mit deiner Ruferei in eine peinliche Situation.« »Das ist ihm nicht peinlich.« »Doch, ist es.« »Ist es nicht.« »Doch, und ob.« Dorothy sah ihn beleidigt an. »Darf ich bitte in Ruhe meinen Hotdog essen?« »Was ist mit Spencer?« »Kannst du mich nicht eine Minute in Frieden lassen, bevor du mich mit unangenehmen Dingen bombardierst?« »Du hast eben auch von was Unangenehmem angefangen. « »Nein. Das war was dienstlich Unangenehmes. Du kommst mit was privat Unangenehmem.« »Du bist unschlagbar, Dorothy.« Sie tätschelte McCains Knie. »Was machst du mit dem übrig gebliebenen Hotdog, der offensichtlich für Spencer bestimmt war?« »Willst du ihn?«
»Sollen wir ihn uns teilen?« »Das musst du machen«, sagte McCain. »Ich hab keine Lust, mir die Hände mit Senf und Zwiebeln zu beschmieren.« Ohne zu zögern, teilte Dorothy den Hotdog geschickt in der Mitte und leckte sich Senf und Soße von den Fingern. Sie gab McCain seinen Anteil, dann biss sie in ihre Hälfte. »Er hatte eine Waffe, Micky.« McCain verschluckte sich fast. »Wovon redest du?« »Von Spencer.« Sie biss noch einmal in ihren Hotdog. »Ich hab in seinem Rucksack eine Waffe gefunden.« »Wow ... das ist nicht gut.« 99 Dorothys Gesicht verdunkelte sich von Mahagoni zu Ebenholz. »Ich bin noch nie im Leben so wütend gewesen!« »Du warst ganz schön wütend, als Gus Connelly dich in die Hand gebissen hat.« »Das war gar nichts dagegen.« »Wie hast du sie gefunden?« »Ich hab seinen Rucksack sauber gemacht.« Sie drehte den Kopf in seine Richtung. In einem Mundwinkel klebte Senf. »Da war Lunch von fünf Tagen drin, und das stank gen Himmel. Ich hab das Zeug rausgenommen, und dabei habe ich die Waffe entdeckt.« Sie schüttelte den Kopf. »Micky, ich war so wütend ... so enttäuscht]« »Hast du ihn gefragt, warum er die Waffe mit sich rumschleppt?« »Natürlich hab ich ihn gefragt!« »Und was hat er gesagt?« »Den üblichen Mist, den alle erzählen. >Die Welt da draußen ist schlecht. Man muss sich schützen.< Ich hätte ihm am liebsten eine runtergehauen. Nach all den Gesprächen, die wir über Waffen geführt haben, den ganzen Predigten und den Autopsiefotos! Was ist mit diesem Jungen nur los?« »Vielleicht fühlt er sich bedroht.« »Dann sollte er zu mir kommen und es mir erzählen!« »Vielleicht ist es einem fünfzehnjährigen Jungen von ein Meter neunzig peinlich, seiner Mutter, die Polizistin ist, was vorzujammern.« Dorothy wurde giftig. »Für was hältst du dich eigentlich? Für seinen verdammten Seelenklempner}« McCain zuckte mit den Schultern und biss erneut in seinen Hotdog. »Was hast du mit der Waffe gemacht?« »Die liegt bei mir zu Hause.« »Wirst du sie in der Datenbank des National Crime Information Center abfragen lassen?« 99 »Wahrscheinlich.« Sie zuckte mit den Achseln. »Man kann ja nie wissen. Er wollte mir noch nicht mal sagen, wo er sie herhat. Das regt mich am meisten auf.« »Willst du, dass dein Sohn ein Petzer ist?«
Sie starrte ihn erneut wütend an. »Tu mal was Nützliches, und hol mir noch 'nen Kaffee.« »Ja, Ma'am.« Dorothy sah ihm hinterher und rief dann zu Hause an. Zu ihrer großen Erleichterung nahm Spencer beim zweiten Klingeln ab. Sie hatte ihn zum Dableiben verdonnert, und er war dageblieben. Ein guter Anfang. »Ich bin's.« Schweigen in der Leitung. »Was machst du?«, fragte Dorothy. »Seh mir das Spiel an.« »Ganz allein?« »Yeah, ganz allein. Du hast gesagt, es darf niemand kommen. Was soll das, Ma? Willst du mich kontrollieren?« Ja, genau das tat sie. Sie hörte die Anklage in seiner Stimme: Du vertraust mir nicht. »Na ja, wenn einer von deinen Freunden rüberkommen und sich mit dir das Spiel ansehen will, hab ich nichts dagegen.« Zögern. »Was ist los, Ma? Hast du ein schlechtes Gewissen oder was?« »Ich hab keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, Spencer Martin Breton. Ich zeige mich nur ein bisschen flexibel. Hast du was dagegen?« »Nein, natürlich nicht.« Kurze Pause. »Danke, Ma. Ich weiß, dass Rashid bei Richie ist und sich mit ihm das Spiel anguckt. Können sie beide rüberkommen? Wir machen auch ganz bestimmt kein Durcheinander, und wenn, dann räumen wir's wieder auf.« »Ja, ist wohl -« »Danke, Ma. Du bist die Beste!« 100 »Im Schrank sind noch eine Tüte mit Brezeln und Kartoffelchips. Auch ein paar Softdrinks. Aber kein Bier, Spencer. Das ist mein Ernst.« »Ich mag gar kein Bier.« Woher weiß er das? »Wir müssen trotzdem noch mal über die Sache reden, das ist dir ja wohl klar«, sagte Dorothy. »Ich weiß, ich weiß. Kann ich sie anrufen, bevor die Halbzeitpause vorbei ist?« »Okay -« »Bye.« Bevor Dorothy antworten konnte, hatte der Junge bereits aufgelegt. McCain setzte sich und reichte ihr den Kaffee und einen weiteren Hotdog. »Alles in Ordnung?« »Ja. Warum?« »Du hast so einen Gesichtsausdruck - eine Mischung aus sauer und zerknirscht.« Dorothy verdrehte die Augen. »Du hast mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Ich hab ihm gesagt, er könnte zwei Freunde einladen und sich
mit ihnen das Spiel ansehen.« Sie nippte an der heißen Flüssigkeit. »Meinst du, ich hab das Richtige getan?« »Klar. Ist allerdings eh egal. Du kriegst immer die Schuld, egal was passiert.« »Das ist wahr.« Dorothy dachte einen Augenblick nach. »Es macht mir wirklich Angst ... dass Spencer eine Waffe hat. Das regt mich wahnsinnig auf, Micky.« McCain stellte das Tablett auf den Boden und legte den Arm um seine Kollegin. »Das stehst du schon durch, Honey.« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Es passiert so viel Scheiße, Micky. Ich versuche mir immer einzureden, dass das, was wir sehen, nicht der normale Alltag ist. Aber bei all dem, was an den Schulen passiert, sogar an Privatschulen, fällt mir das immer schwerer.« 101 »Bedenk doch mal, was du alles hast, Dorothy«, sagte McCain mit beruhigender Stimme. »Sieh dir Marcus an! Der Junge hat einen sicheren Studienplatz und kriegt vermutlich sogar ein volles Stipendium.« »Spencer ist nicht wie Marcus. Er ist nicht so gut in der Schule wie Marcus, und gut Basketball spielen zu können allein genügt nicht!« »Es reicht, um ihn aufs College zu kriegen.« Dorothy warf ihm einen Blick zu. »Wenn er sich im Studium nicht bemüht, bringt das überhaupt nichts.« »Eins nach dem anderen, Baby.« Die Trillerpfeife ertönte. Die Halbzeitpause war vorbei. »Darf ich vorschlagen, dass wir jetzt nicht über Arbeit, Kinder oder Ehe nachdenken und uns einfach entspannen und das Spiel genießen?« »Yeah, deshalb ist Sport ja auch so eine gute Sache. Wir können so tun, als würde ganz viel auf dem Spiel stehen, aber in Wirklichkeit hat es keine Bedeutung.« »Wie wahr«, erwiderte McCain. Die gegnerische Mannschaft war im Ballbesitz und verpatzte den ersten Korbwurf. Sofort war Julius zur Stelle, schnappte sich den abprallenden Ball und warf ihn zum Point Guard, damit der ihn in die gegnerische Spielfeldhälfte brachte. Die Seahawks bezogen Position. Sie spielten eher mit einer Art Raumdeckung statt Mann gegen Mann. Sobald Julius den Ball hatte, wurde er von zwei Verteidigern bedrängt, deshalb passte er zur Wurfkreislinie. B. G. versuchte es mit einem Drei-Punkte-Wurf. Der ging daneben, doch Julius holte sich den Rebound. Julius setzte zum Korbwurf an. In diesem Moment versetzte ihm der Center der Gegenmannschaft einen heftigen Schlag mit dem Arm gegen den Brustkorb. Julius wurde nach hinten geschleudert und schlug mit dem Kopf auf dem Fußboden auf. Es gab einen 101
lauten Knall, als sein Schädel gegen das Holz prallte. Die Menge stöhnte auf. Dann herrschte fassungsloses Schweigen, als Betreuer, Trainer und Mannschaftskameraden auf das Spielfeld liefen und Van Beests reglosen Körper umringten. Die nächsten Sekunden vergingen so langsam, dass es fast schien, als wäre die Zeit stehen geblieben. »Mein Gott, was hat sich der Kerl dabei gedacht?«, murmelte McCain. »Das ist doch hier keine Kneipenprügelei.« »Und da heißt es immer, Basketball wäre kein Kontaktsport«, erwiderte Dorothy. »Dämliche Kids.« »Dämliche Trainer. Ich bin überzeugt, der Trainer von Ducaine hat gesagt: >Es ist mir verdammt noch mal egal, wie du es anstellst, aber hau ihn um.<« »Wenn er das gesagt hat, sollte er gefeuert werden«, entgegnete Dorothy. »Verhaftet.« »Ganz deiner Meinung.« McCain starrte auf das Spielfeld. »Ich glaube, er bewegt den Fuß. Julius meine ich.« Dorothy reckte den Hals und sah auf die riesige Leinwand. »Ja, sie reden mit ihm.« »Dann ist er also bei Bewusstsein?« »Ja, ich glaub schon. Gott sei Dank!« Zwei Männer brachten eine Trage aufs Spielfeld, doch der Boston-FerrisCoach schickte sie weg. Ganz langsam setzte Julius sich auf und winkte. Die Menge brach in ohrenbetäubenden Jubel aus. Zwei Trainer der Pirates halfen Julius auf die Beine. Offenkundig noch unsicher legte Van Beest einen Arm um einen der Trainer und ging ein paar Schritte, um die Unsicherheit loszuwerden. Wenn Van Beest nicht in der Lage war, seine Freiwürfe auszuführen, wäre das Spiel für ihn zu Ende. Nach ungefähr einer Minute gelang es Van Beest, ohne Hilfe zur Kreislinie zu gehen. Daran, wie er mehrfach den Kopf schüttelte und heftig blinzelte, konnte man erkennen, 102 dass er immer noch unsicher und noch nicht wieder bei Kräften war. Er verpatzte den ersten Wurf, doch der zweite saß. Selbst in seinem angeschlagenen Zustand konnte er einen Ball so versenken, dass dieser nichts außer dem Netz berührte. Unglaublich, dachte McCain. Ein solches Talent musste von Gott kommen. Weil das Foul als schwerwiegend bewertet wurde, blieben die Pirates im Ballbesitz. Sofort verlangten sie eine Auszeit und tauschten mehrere Spieler aus. Julius erhielt stürmischen Applaus, als er zu den Umkleideräumen geführt wurde. Marcus kam zurück aufs Spielfeld. Die Pirates mussten mehr als zehn Minuten effektive Spielzeit ohne ihren Star auskommen, was dem Ducaine-Team Gelegenheit gab, sich mächtig ins Zeug zu legen und die Führung der Pirates auf zwei Punkte zu verkürzen. Aber dann -wie einem Hollywoodfilm entsprungen - kam Julius in seinem Trainingsanzug die Rampe hochgelaufen. Mit übertrie-
benem Getue zog er den Reißverschluss auf, und ohne auch nur einen Blick zu dem Coach hinüberzuwerfen, setzte er sich vor den Tisch des Anschreibers und wartete auf einen Pfiff, um sich zurückzumelden. Eine Minute später war er wieder auf dem Spielfeld, das Gesicht starr vor Konzentration und Entschlossenheit. Er setzte zum ersten Versuch an einem Drei-Punkte-Wurf von der Kreislinie aus -, um allen zu beweisen, dass seine Hände und Augen noch immer perfekt koordiniert waren. Auf der anderen Seite des Spielfelds fing er einen abprallenden Ball der Seahawks, brachte ihn selbst in die gegnerische Hälfte zurück und warf einen weiteren Korb. Julius war zornig. Julius stand unter Strom. Julius war nicht aufzuhalten. 103 Am Ende erzielten die Pirates ein Rekordergebnis gegen Ducaine und gewannen mit vierundzwanzig Punkten Vorsprung. 4 Damit ihm die Zehen nicht erfroren, trat McCain von einem Fuß auf den anderen, während er mit Dorothy vor dem Stadion wartete. Sie musste ihrem Sohn unbedingt auf Wiedersehen sagen. Die Platzanweiser hatten sie aus dem Gebäude rausgeschmissen, und nun warteten sie in der Kälte auf das Team, weil der Coach nach dem Spiel einen schweren Anfall von Geschwätzigkeit erlitten hatte. Sie standen inmitten einer Gruppe von Gratulanten, Freunden und Verwandten plus den eingefleischten Fans mittleren Alters, die ihren Lebensinhalt einzig in den Siegen des Teams sahen. Typen, die kein eigenes Leben hatten. McCain empfand plötzlich einen heftigen Anflug von Depression, wehrte ihn jedoch ab, schützte sein Gesicht mit seinen behandschuhten Händen und stieß einen kräftigen Hauch warmen Atems aus, der ihm über die Nase strich. »Ich weiß nicht, ob ich es noch viel länger hier draußen aushalten kann, Dorothy.« »Dann geh doch nach Hause.« »Erst wenn du nach Hause gehst.« Sie wandte sich ihm zu. »Ich bin doch nicht diejenige, die friert.« »Er will dich doch überhaupt nicht hier haben, Dorothy.« Sie starrte ihn wütend an. »Wer sagt das?« »Ich sag das - ein männliches Wesen, das sich noch weit genug zurückerinnern kann, um zu wissen, dass junge Männer ihre Mütter nicht um sich haben wollen.« 103 Eine Hintertür ging auf, und die Mitglieder des Teams kamen einer nach dem anderen heraus. Sofort brandete Jubel auf. Alles umarmte und küsste sich. Marcus kam auf seine Mutter zu, und Dorothy, deren Stärke nicht gerade Zurückhaltung war, schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihn so fest, dass durchaus ein paar Gelenke hätten brechen
können. Er klopfte ihr gönnerhaft ein paar Mal auf den Rücken, dann machte er sich los. »Hey, Micky.« Marcus strahlte. »Danke, dass du gekommen bist.« »Du hast heute Abend einige großartige Pässe hingelegt, Marcus.« »Yeah, es war ein gutes Spiel.« »Wie wär's, wenn wir das mit Käsekuchen im Finale's feiern?«, fragte Dorothy. Marcus lächelte, aber verhalten. »Weißt du, Ma, eigentlich wollte ich mit den Jungs einen trinken gehen.« Dorothys Augen verengten sich. »Wo?« »Wo?« »Ja, wo?« »Ma, ich bin einundzwanzig.« »Ich weiß, wie alt du bist. Ich hab dich schließlich geboren, falls du das vergessen hast.« »Dieses Gespräch können wir doch nicht ernsthaft führen, Ma -« »Versuch nicht, mich abzuservieren.« Marcus blieb gelassen, doch sein Gesicht war angespannt. »Wir gehen halt in ein paar Clubs, das ist alles.« Er küsste sie auf die Wange. » Geh nach Hause. Und warte nicht auf mich.« Marcus lief zu seinen Mannschaftskameraden hinüber, und man boxte sich gegenseitig mit den Fäusten und warf sich in die Brust. Julius kam auf ihn zu, packte ihn am Kopf und fuhr mit den Knöcheln durch Marcus' dichtes, krauses Haar. 104 Dorothy schnalzte mit der Zunge und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. McCain legte einen Arm um sie. »Wir beide könnten doch ins Finale's gehen.« Sie antwortete nicht. »Dorothy?« »Yeah, ich bin noch da. Ich glaube, ich bin ein bisschen müde. Und ich muss noch mit Spencer reden. Ich sollte lieber nach Hause gehen.« Sie wandte sich ab. »Trotzdem danke.« McCain sagte: »Reiß mir nicht gleich den Kopf ab, Dorothy, aber ich glaube, dass ... Warum lässt du mich nicht mit Spencer reden? Nur ein Vorschlag, okay? Und denk einen Augenblick nach, bevor du Nein sagst.« Sie erwog den Gedanken eine Weile. »Okay.« McCain war fassungslos. »Okay?« »Ich bin im Moment nicht gut drauf, Micky. So schlau bin ich auch, dass ich das merke.« »Na schön.« McCain nahm einen Nikotinkaugummi aus der Tasche und schob ihn sich in den Mund. »Dann treffen wir uns bei dir.« »Danke, Mick. Du bist ein echter Freund.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf den Kopf. Sie war drei Zentimeter größer und zwanzig Pfund schwerer als er. An guten Tagen konnte sie es beim Armdrücken mit ihm aufnehmen. Sie war stark, klug und furchtlos, und sie wurde von allen sofort akzeptiert, von den hohen
Tieren bis hin zu den abgebrühtesten Verbrechern. Die Leute hörten ihr zu ... nur ihre eigenen Kinder natürlich nicht. Man konnte nicht sagen, dass Spencer mürrisch oder respektlos gewesen wäre. Er unterbrach McCain nicht und verdrehte kein einziges Mal die Augen - etwas, worauf Micky junior sich vorzüglich verstand. Er nickte an den passenden Stellen und wirkte einigermaßen ernst. Doch McCain war 105 klar, dass die Botschaft nicht ankam. Spencer hatte sich eine Waffe besorgt, weil er sich gefährdet fühlte, auch wenn es laut Statistik wahrscheinlicher war, dass der Junge sich selbst oder einen unbeteiligten Zuschauer erschoss, als dass er von einem Gangster abgeknallt wurde, der ihm eine Waffe unter die Nase hielt. »Du musst wissen, was du tust, Spence«, sagte McCain. »Sonst stehst du wie angewurzelt da, und der Verbrecher hat plötzlich eine Waffe, die er auf dich richten kann.« Ein Nicken. »Du würdest es dir niemals verzeihen, wenn du jemanden aus Versehen töten würdest... und auch dann nicht, wenn es kein Versehen war. Jemandem das Leben zu nehmen, selbst wenn es gerechtfertigt ist... da kommt man nie drüber hinweg. Damit willst du dich doch wohl nicht belasten. Deshalb ist es das Risiko einfach nicht wert.« Schweigen. Sie saßen am Esstisch. In einer Ecke des bescheidenen Wohnzimmers stand der kleine Weihnachtsbaum der Bretons. Er stellte eine Auflockerung in der ansonsten ernsten Atmosphäre dar. Dorothy hatte eine frische Kanne koffeinfreien Kaffee aufgesetzt, als sie nach Hause kamen. McCain hatte mittlerweile fast die ganze Kanne geleert, während sich der Junge an einer Dose Cola festhielt. Dorothy hatte sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, aber vermutlich saß sie mit einem Ohr an der Tür da. Schließlich sprach der Junge mit leiser, leidenschaftsloser Stimme. »Hast du schon mal jemanden getötet, Micky?« McCain zögerte, dann nickte er. »Zweimal. Und beim zweiten Mal war es in keiner Weise leichter.« Spencer nickte. »Es war also echt hart für dich?« »Hart ist überhaupt kein Wort dafür. Es ist eine Qual.« 105 »Aber du stehst doch jeden Morgen auf und gehst mit einer Waffe im Holster zur Arbeit, obwohl du weißt, dass es wieder passieren könnte. Warum?« »Warum ich das tue?« McCain lachte kurz auf. »Das gehört zu meinem Job, Spencer. Ich bin Polizeibeamter. Ich bin verpflichtet, eine Waffe zu tragen. Es wäre mir sogar ganz recht, wenn ich keine Waffe zu tragen brauchte. Jedenfalls nicht bei dem, was ich tue. Bei uniformierten Beamten ist das was anderes. Die müssen eine Waffe tragen.« »Warum?«
»Weil die Uniformierten manchmal zu sehr riskanten Einsätzen geschickt werden. Ohne Waffe ... puuuh. Das könnte böse enden. Und bevor du was sagst, ich weiß schon, was du denkst. Ich behaupte nicht, dass die Situation an den öffentlichen Schulen sonderlich rosig ist, Spence. Ich verstehe deine Situation. Aber man muss ein gewisses Risiko eingehen. Und das Risiko ist sehr viel größer, wenn man bewaffnet ist, als wenn man es nicht ist.« »Yeah, erzähl das mit dem Risiko mal Frankie Goshad und Derek Trick. Bloß dass die dich unter der Erde nicht hören können.« »Freunde von dir?« »Derek mehr als Frankie, aber darum geht's nicht. Die haben nichts getan. Die standen einfach irgendwo rum und kümmerten sich um ihren eigenen Kram. Dann kommt so ein Arschloch daher, redet Scheiße und fuchtelt mit 'ner Automatik herum. Im nächsten Moment sind beide tot. Wenn sie 'ne Waffe gehabt hätten, hätten sie sich vielleicht schützen können.« »Vielleicht aber auch nicht.« »Dann wären sie zumindest wie Männer gestorben und nicht in die Luft geflogen, als wären sie nur Bonuspunkte in einem Videospiel.« 106 »Oder sie hätten womöglich irgendeinen Unschuldigen erschossen, bevor sie selbst erschossen wurden.« McCain rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Die Sache ist die, Spence, egal wie sehr du versuchst, das Ganze rational zu begründen, es ist illegal. Und du setzt nicht nur dich selbst einem Risiko aus, sondern auch deine Mom.« Der Junge wandte den Blick ab. Das Klingeln des Telefons ersparte ihm die Antwort. Spencer zog die Augenbrauen hoch. »Einer von deinen Kumpels?«, fragte McCain. »Nein, ich hab 'n Handy.« Der Junge stand gemächlich auf und nahm den Hörer ab. »Yeah?« Seine verschlafenen Augen wurden plötzlich ganz groß. »Was ist los? Alles okay mit dir, Marcus?« McCain hörte Sirenen aus dem Hörer und eine männliche Stimme, die schrie: »Hol sofort Mom!« Er nahm Spencer den Hörer ab. »Marcus, hier ist Micky. Was ist passiert?« »Es ist schlimm, Mick!« »Was ist passiert? Alles okay mit dir?« »Ja, mit mir schon. Aber es ist schrecklich. Jemand hat hier rumgeballert...« »Oh mein Gott!« »Alle weinen und schreien. Überall ist Blut. Die Cops haben die Türen abgesperrt.« »Wo bist du, Marcus?« McCains Herz raste. »In einem Club in Downtown Boston.« »Wo genau in Downtown Boston?« »Auf der Lansdowne Avenue.« »Im Avalon?« »Nein, ein neuer Club ... irgendwas mit Genie ... Einen Moment... Yeah, er heißt Pharaoh's Genie. Zwei Blocks vom Avalon entfernt.«
»Ich bin sofort mit deiner Mutter da. Du verheimlichst mir auch wirklich nichts? Mit dir ist alles okay?« 107 »Ja, mir fehlt nichts, Micky. Aber ich kann dir sagen, es ist echt schrecklich. Julius ist tot.« 5 Tiefschwarzer Himmel, schlechte Sicht und vereiste Straßen, die das Autofahren mühsam und gefährlich machten. Das einzig Positive war, dass es um diese späte Stunde kaum Verkehr gab. McCain fuhr, weil er Dorothy nicht ans Steuer lassen wollte. Selbst unter seinen sicheren Händen bewegte sich das Auto holpernd und schlitternd über verengte Straßen, provisorische Fahrbahnen und Umleitungen. Downtown Boston war eine einzige wahnwitzige Umleitung dank der »großen Buddelei«, einem gigantomanischen Straßenbauprojekt, das sich als riesige Geldverschwendung erwiesen hatte. Jahrzehnte waren seit dem Baubeginn vergangen, und obwohl die ursprünglich veranschlagten Kosten längst weit überschritten waren, pumpte man immer noch Abermillionen Dollar in das Projekt, doch während der Rushhour herrschte weiterhin absolutes Chaos. Zwei Hauptverkehrsadern waren mittlerweile für den Verkehr freigegeben worden, doch die Planer hatten nicht berücksichtigt, dass die Stadt und ihre Umgebung schneller wachsen würden, als sie das in den Griff bekommen konnten. Einfach genial. Irgendwer verdiente sich mal wieder eine goldene Nase. Und wie gewohnt war das nicht er. Die Frau, die seit acht Jahren seine Partnerin war, saß auf dem Beifahrersitz. Sie trug einen Mantel, Handschuhe und einen Schal. Von ihrer Stirn tropften winzige Schweißperlen, weil die Heizung auf vollen Touren lief. McCain überlegte, ob er ein Gespräch anfangen sollte, verwarf den Gedanken aber. Was konnte er schon sagen? Da ihn ansonsten im Mo 107 ment nichts beschäftigte, begann er darüber nachzudenken, was sie beide wohl erwartete. Marcus war in Bezug auf die Details vage gewesen. Eine Schießerei im Anschluss an eine lautstarke Auseinandersetzung. Etwas über ein Mädchen, das mit dem falschen Typ getanzt hatte, doch unterschwellig hatte da noch etwas anderes mitgeklungen. Mitglieder des Basketballteams der Ducai-ne University hatten sich mit zwei von den Pirates angelegt. Vielleicht hatten sie auf Julius geschossen, oder vielleicht war Van Beest auch nur ins Kreuzfeuer geraten. Soweit Marcus wusste, war Julius das einzige Todesopfer, aber einige andere Personen waren verletzt worden. »Ich frag mich, wen man hingeschickt hat«, sagte Dorothy. Beim plötzlichen Klang ihrer Stimme fuhr McCain zusammen. »Hab ich dich erschreckt? Tut mir Leid.«
»Macht nichts, ich war nur leicht weggetreten. Ja, das hab ich mir auch schon überlegt. Vermutlich Wilde und Gomes.« »Vermutlich.« »Die sind gut.« »Yeah, die sind gut.« Sie schwieg längere Zeit. »Und einigermaßen kooperativ.« »Mit dem Gedanken solltest du noch nicht mal spielen, Dorothy. Du bist viel zu sehr in den Fall involviert, um ihn zu übernehmen.« »Es geht aber doch nicht um meinen Sohn, Micky. Außerdem habe ich was Persönliches anzubieten. Ich kenne Ellen Van Beest. Nicht gut, aber besser als die beiden.« »Das kann auch gegen dich arbeiten.« Darauf ging sie nicht ein. »Glaubst du, dass es etwas Persönliches gegen Julius war?« »Wer weiß?« »Scheint nur merkwürdig, dass er der Einzige ist, der getötet wurde.« 108 »Marcus kennt nicht sämtliche Fakten. Vielleicht sind ja noch weitere Personen umgekommen.« »Oh Gott, hoffentlich nicht.« McCain nahm eine Ecke zu schnell, und sofort geriet der Wagen auf dem Eis ins Schleudern. »Wow. Tut mir Leid.« Dorothy schaltete das Gebläse der Heizung herunter. »Ich weiß nicht, Michael. Ich warte ständig darauf, dass es für mich als Mutter einfacher wird. Aber ich glaube, da kann ich genauso gut auf diesen Godot warten.« »Auf wen?« »Egal.« Im Wagen wurde es still bis auf das stetige Rauschen der heißen Luft, die in den Honda strömte. »Pharaoh's Genie« lag auf der Lansdowne Avenue etwa anderthalb Blocks von der grün gestrichenen Eisenumzäunung des Fenway Park entfernt, nicht weit vom Gold's Gym. Eine breite Straße für Boston, an der alte Fabrikgebäude und Lagerhallen lagen, von denen einige renoviert und in Clubs und Bars umgewandelt worden waren. McCain konnte nicht bis in die Nähe des Clubs fahren. Der gesamte Block war von Polizeiautos, von Krankenwagen und Laborfahrzeugen verstopft. Grellweiße Spots ließen die Weihnachtsbeleuchtung verblassen. Vor der Absperrung liefen Passanten umher, rieben sich die Hände und stampften mit den Füßen. Sie nahmen das Frieren in Kauf, um einen Blick auf das Unglück anderer Menschen werfen zu können. McCain parkte. Die beiden stiegen aus und stapften zum Ort des Geschehens. Sobald sie in Rufweite des Tatorts waren, versuchten zwei uniformierte Beamte sie aufzuhalten. Der kleinere von beiden, ein junger rothaariger Ire namens Grady, blinzelte mehrmals, dann erkannte er Dorothy. Selbst unter den ganzen Wollschichten war ihre Statur schwer zu verkennen. 18z
»Tut mir Leid, Detective Breton. Mir war nicht klar, dass Sie das sind.« Er trat beiseite, um sie durchzulassen. »Wo haben Sie Ihr Auto gelassen?« Er sprach mit dem typischen Akzent des irischen Einwandererviertels Southie im Süden von Boston. Dann bemerkte er McCain, und sein Blick wurde wieder ganz offiziell. Wie sehe ich denn aus, wenn nicht wie ein Polizist?, fragte sich McCain. Er zeigte seine goldene Dienstmarke. »Wir mussten ein Stück von hier entfernt parken. Wann ist die Meldung gekommen?« »Vielleicht vor vierzig Minuten.« Grady trat von einem Fuß auf den anderen. »Die Feuerwehr sollte diese Läden schließen. Nichts als Ärger.« »Dann tauchen die woanders wieder auf.« Dorothy drängte sich nach vorn. »Ich geh jetzt Marcus suchen.« McCain folgte ihr. Der Club war ursprünglich ein Lagerhaus gewesen, und die Steinfassade war in einem matten Schwarz gestrichen. Durch eine schmale Stahltür gelangte man ins Innere, was das Gebäude zu einer Feuerfalle machte. Sobald McCain eintrat, schlug ihm heiße Luft entgegen, die nach frischem Blut und Schießpulver stank. Es herrschte Chaos. Polizeibeamte versuchten verzweifelt, die entsetzten Zeugen zu beruhigen, während Sanitäter sich um die Verletzten kümmerten. Ein junger Schwarzer lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden, die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Er wurde von vier uniformierten Beamten bewacht, da er ein sehr großer Junge war. Dorothy ließ ihren Blick rasch durch den Raum schweifen, um Marcus zu finden, doch die Menschen standen dicht gedrängt und die Beleuchtung war schlecht. Die Wände waren ebenfalls schwarz gestrichen, und zusammen mit dem fluo 109 reszierenden lila Licht unter der Decke erzeugte das eine gespenstische Beleuchtung wie in einer Geisterbahn. Von der langen, an der Rückwand verspiegelten Bar, die an der Ostseite des Raumes entlanglief, wurde zwar ein wenig Licht reflektiert, doch das sorgte mehr für Atmosphäre als für klare Sicht. Der Raum war voll gestopft mit Menschen, umgestoßenen Tischen und vielen Stühlen. Zwei fünf Meter hohe Weihnachtsbäume aus Aluminium standen zu beiden Seiten der Bühne. Blinkende Lichterketten ließen das Ganze noch surrealer erscheinen. Ein Teil des kunstvollen Christbaumschmucks war heruntergefallen und auf der Tanzfläche zerbrochen. Sanitäter hatten freie Flächen geschaffen, wo sie sich um die Verletzten und die unter Schock Stehenden kümmerten. Auf einer Empore befand sich der VIP-Bereich. Dieses erhöhte Stockwerk hatte eigene Bars und eigenes Bedienungspersonal. Statt der Hocker ohne Lehne und der Regiestühle gab es dort plüschige Samtcouchs und Zweiersofas. Die Spurensicherung lief bereits auf vollen Touren. Selbst von weitem konnte McCain einen schlaff herunterhängenden Arm erkennen.
Er tauschte einen Blick mit seiner Partnerin. Dorothy hatte Tränen in den Augen. »Ich glaub, ich kann das noch nicht. Geh du schon mal rauf. Ich versuche erst mal, Marcus zu finden. « »Gute Idee.« McCain drückte ihr fest die Schulter und ging dann zur Treppe. Den Aufzug hatte man mit gelbem Band abgesperrt. Als er sich dem Tatort näherte, begann sein Magen zu rebellieren. Der Hotdog, den er während des Spiels gegessen hatte, brannte wie Feuer in seinem Bauch. Wie kam das denn? Er schob sich durch die Menge, bis er freie Sicht hatte. Er musste schlucken, um sich nicht zu übergeben. 110 Vor drei Stunden hatte dieser junge Mann das Spiel seines Lebens gespielt. Nun war das attraktive Gesicht von Julius Van Beest wächsern und seelenlos. Die Augen ohne Glanz, der Mund geöffnet, Rinnsale von Blut liefen ihm über die linke Schläfe. Der Junge war am Kopf, am rechten Arm und an der rechten Schulter getroffen worden. McCain spürte, wie jemand ihn am Rücken berührte, zuckte zusammen und fuhr herum. Cory Wilde hielt eine Tüte für Beweismaterial in der Hand. Er wirkte reserviert. Wilde war Mitte dreißig, hatte schütteres Haar und ein fast nichts sagendes Gesicht, abgesehen davon, dass er ein grünes und ein braunes Auge hatte. Das gab ihm etwas Asymmetrisches. »Was machst du denn hier, Micky?« »Leiste meiner Partnerin Gesellschaft. Ihr Sohn ist hier. Er hat sie angerufen.« »Ach du Scheiße! Wer ist es?« »Marcus Breton, Boston Ferris Guard.« Kopf schütteln. »Ich hatte hier oben viel zu tun.« »Was genau ist passiert?«, fragte McCain. Wilde sah zu der Leiche. »Wir haben einen Schützen unten in Handschellen.« »Hab ich gesehen. Aber was war der Auslöser?« »Irgendein Streit über das Spiel.« Wilde rieb sich die Nase an der Schulter, weil seine Hände in Latexhandschuhen steckten. »Warst du beim Spiel?« »Ja, mit Dorothy.« »Julius hat also auf dem Spielfeld heftig eine gelangt gekriegt?« »Jemand hat ihn schwer gefoult. Ist das der Schütze?« »Ich weiß nicht, ob er's selber war, weil ich nicht beim Spiel war. Doch es sieht so aus, als hätten die Teams nach 110 dem Spiel weitergemacht. Haben sich wüst beschimpft. Und als dann Julius ein Mädchen ansprach, kam es zum Handgemenge. Die Rausschmeißer haben das Ganze beendet. Derjenige, der die Rauferei angefangen hatte, verließ das Lokal, und alles war nett und friedlich.
Dann kommt er mit ein paar Kumpels zurück, und plötzlich fliegen Kugeln durch die Gegend.« »Ist er wegen Julius zurückgekommen?« »Sieht ganz so aus. Wenn du dir anschaust, wie er gefallen ist ... Komm mit.« Wilde führte McCain zu der Leiche und steckte seinen kleinen Finger in ein längliches Einschussloch in Julius' Schulter. »Man kann spüren, dass der Schusskanal von unten nach oben verläuft. Nun hätte jeder, der auf den Kopf eines so großen Mannes zielt, nach oben geschossen. Doch dieser Winkel ist verdammt steil.« Er zog seinen Finger heraus. »Willst du selbst mal sehen?« »Das glaub ich dir auch so.« »Es muss also so gewesen sein, dass die Kugeln aus dem unteren Raum kamen und nach oben gefeuert wurden. Doch das entspricht nicht dem, was die Zeugen sagen.« McCain beugte sich hinab und roch an der Wunde. Die Kleidung des Mannes verströmte keinen starken Geruch nach Schießpulver. Das passte zu einem Schuss aus einiger Entfernung. »Julius ist das einzige Todesopfer?« »Bisher ja. Die Sanitäter haben zwei Leute mitgenommen, die in ziemlich ernstem Zustand zu sein schienen. Doch sie redeten auf der Trage - ein gutes Zeichen.« McCain nickte. »Wie ist der Name von dem Schätzchen, das Julius erschossen hat?« »Ein Basketballer namens Delveccio. Der Kerl gibt sich knallhart und sagt nichts außer ... na ja, du weißt schon.« »>Ich hab nichts getan.<« »Was sonst?«, sagte Wilde. »Als die Schießerei losging, 111 entstand eine Massenpanik. Das Arschloch behauptet, er hätte bloß dagestanden, ein anderer hätte geschossen, und man würde ihn nur deshalb beschuldigen, weil er von der Ducaine University kommt.« Wilde runzelte die Stirn. »Als wir ihn durchsucht haben, haben wir keine Waffe gefunden.« »Habt ihr sie denn woanders gefunden?« »Hey«, sagte Wilde. »Du musst ein Detective sein. Yeah, das genau ist das Problem. Wir haben Waffen gefunden. Waffen im Plural. Jede Menge Waffen.« Er schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als hätte jeder Idiot in diesem Laden eine Waffe dabeigehabt. Mann, dieser Fall wird uns viel Zeit kosten. Es würde die Sache sicher einfacher machen, wenn jemand ein Geständnis ablegt.« McCain nickte. Er wusste, wie so etwas ablief. Detectives würden die konfiszierten Schusswaffen durchgehen und versuchen, mit Hilfe der eingravierten Nummer jede Waffe ihrem Besitzer zuzuordnen, sofern die Nummer nicht abgefeilt oder weggeätzt worden war. Staatliche Registriernummern und latente Fingerabdrücke als Anhaltspunkte. Doch oft war es schwierig, von einer abgefeuerten Waffe Fingerabdrücke
sicherzustellen, weil beim Schuss die Hände zuckten und verrutschten und die Abdrücke verschmierten. Außerdem würden die Ballistiker jede gefundene Waffe in Gelatineblocks abfeuern müssen, um die Geschossmarkierungen zu ermitteln. Wenn sie Glück hatten, würden die Markierungen eines Satzes mit denen der tödlichen Kugel übereinstimmen. Es war ein absolut mühseliges Geschäft. * »Wenn du willst, kann ich dir helfen.« »Das wäre gut.« Wilde hielt die Papiertüte für Beweismaterial hoch. »Ich bringe diese Kugeln ins Labor, sobald der Gerichtsmediziner fertig ist. Gomes hat im Erdgeschoss einige Hülsen gefunden, und zwar dort, wo wir glauben, dass 112 der Täter die Schüsse abgegeben hat. Der Winkel sieht gut aus, aber erst die Schussexperten werden uns die endgültige Bestätigung liefern. Wo ist Dorothys Sohn?« »Bei den anderen Zeugen.« »Ich werd mit ihm reden.« »Warum überlässt du das nicht mir, Cory?« Wilde sah ihn an. »Du kennst die Betroffenen ein bisschen zu gut, Micky.« »Ich kann aber mehr aus ihm rauskriegen als du.« Wilde schnaubte, dachte dann jedoch ernsthaft über den Vorschlag nach. »Nicht wenn Dorothy dabei ist.« Da hatte er Recht, aber es würde schwierig werden, die Löwenmutter von ihrem Jungen zu trennen. »Ich hab eine Idee, Wilde. Du bringst die Kugeln in die ballistische Abteilung rüber und pennst 'ne Runde. Dorothy wartet auf den Gerichtsmediziner und bringt dich morgen früh auf den neuesten Stand.« »Das ist gegen die Regeln, Micky. Was hofft sie denn, für sich dabei rauszuholen?« »Sie kennt die Mutter - Ellen Van Beest.« Auch darüber dachte Wilde nach. »Du meinst also, sie will unbedingt mitmischen.« »Ich stelle nur eine wohlbegründete Vermutung über meine Partnerin an.« »Und du?« »Wir sind Partner. Ich schlage folgenden Deal vor: Ich helfe dir, die Waffen zu sortieren und zuzuordnen. Und je eher du die Kugeln in die ballistische Abteilung bringst, desto eher wissen wir, welcher Typ Waffe abgefeuert wurde. Das wird die Ermittlungen eingrenzen. Derweil kannst du 'ne Runde pennen. Du siehst beschissen aus.« Wilde starrte ihn wütend an. »Klar doch. Schick sie rauf.« »Dir hätte Schlimmeres passieren können«, sagte 112 McCain. »Dorothy hat ein feines Naschen für die Rekonstruktion von Tatorten.«
»Ja, wir brauchen unbedingt was Handfestes. Mann, ist das eine verworrene Geschichte.« Wilde schüttelte den Kopf. »Einer von euch beiden berichtet mir, was der Gerichtsmediziner zu sagen hat?« »Und ob.« McCain starrte auf den leblosen Körper von Julius Van Beest. Als ob er einen Arzt brauchte, um ihm zu sagen, dass man das arme Schwein erschossen hatte. 6 Dorothy Breton war eine große Frau, doch McCain brauchte mehr als zehn Minuten, um sie zu finden. In der Menge befanden sich nämlich noch viel größere Leute: die Giganten des College-Basketballs. Neben ihnen wirkte Dorothy lediglich durchschnittlich groß. Dennoch war sie eine prägnante Erscheinung, und McCain folgte dem Klang ihrer Stimme. Sie saß an der Bar, eine Hand auf Marcus' Arm gelegt. Eine Geste des Trostes, doch sie trug wenig dazu bei, den Jungen zu beruhigen. Der Schmerz war ihm ins Gesicht geschrieben, und er brüllte sie an. »Ich hab dir doch schon zigmal gesagt, dass ich mich nicht daran erinnere, Mama! Warum fängst du immer wieder von vorn an?« »Weil du dich jedes Mal, wenn wir darüber reden, an mehr erinnerst, als du glaubst.« McCain bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge und setzte sich neben seine Partnerin. »Du wirst oben 113 gebraucht«, erklärte er Dorothy. Sie sah ihn verwundert an. »Ich hab Wilde gesagt, du wärst da, wenn der Gerichtsmediziner kommt. Bisher hat sich noch niemand Julius' Hände vorgenommen.« »Hast du Schmauchspuren bemerkt?« »Bei dieser elenden Beleuchtung konnte ich nichts erkennen, aber ich hab jedenfalls nichts gerochen. Trotzdem müssen wir alles in Betracht ziehen und uns vergewissern. Wenn die Rechtsverdreher auf Notwehr plädieren und niemand hat Van Beests Hände auf Schmauchspuren untersucht, stehen wir wie Idioten da.« »Hat man in seiner Nähe eine abgefeuerte Waffe gefunden?« »Nein, aber es lagen ein paar Hülsen herum. Könnten natürlich alte sein, aber wir müssen alles überprüfen.« »Es besteht also die Möglichkeit, dass Van Beest zurückgeschossen hat... oder zuerst geschossen hat.« »Möglich ist es.« McCain zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls ist Wilde gerade mit den Kugeln auf dem Weg in die ballistische Abteilung. Die Dinger sehen nach Kaliber 3 z aus.« »Wie viele?« »Vier, glaube ich.« »Gab es in diesem Bereich weitere Opfer außer Julius?« »Nicht dass ich wüsste«, erwiderte McCain. »Also hat jemand gezielt auf ihn geschossen.«
»Es heißt, es hätte Streit zwischen Julius und einem der Spieler von Ducaine gegeben. Derjenige, der angefangen hat, ist gegangen und später mit ein paar Schlägertypen wieder angerückt. Wir wissen nicht, wer als Erster geschossen hat, oder ob Julius überhaupt geschossen hat. Deshalb müssen wir nach oben und ihm Tüten über die Hände stülpen, bevor der Gerichtsmediziner kommt.« 114 »Warum hast du das eigentlich nicht gemacht?«, fragte Dorothy. »Ich bin beschäftigt.« »Ich übernehme hier.« Dorothy starrte ihn wütend an. McCain zuckte bloß mit den Achseln. »Ich hab Wilde erklärt, du hättest ein Naschen für Tatorte, und er hat gesagt, ich soll dich raufschicken, damit du dich dort umsehen kannst.« »Ich hab ein Naschen für Schwachsinn. Irgendwer versucht mich loszuwerden.« McCain antwortete nicht. Dorothy legte die Stirn in Falten und stand auf. Im Weggehen drehte sie sich noch einmal um und sah ihren Sohn an. »Wir unterhalten uns später.« »Verdammt noch mal!«, fluchte Marcus laut, nachdem seine Mutter fort war. »Was will sie von mir? Ich hab nichts gesehen.« McCain legte einen Arm um die Schulter des jungen Mannes. »Mütter machen sich halt Sorgen.« »Scheiße, ich mach mir auch Sorgen.« Die Stimme des jungen Mannes war noch lauter geworden. »Ich würde ja gern helfen, wenn ich könnte, aber ich hab mich wie alle anderen auf den Boden geworfen, als die Schießerei losging.« Marcus kniff trotzig die Augen zusammen. »Kann ich jetzt gehen?« »Gib mir noch ein paar Minuten.« Der junge Mann verdrehte die Augen. »Na komm schon, Marcus, tu mir den Gefallen.« McCain stand auf. »Lass uns einen Spaziergang machen. Du siehst aus, als könntest du ein bisschen frische Luft vertragen.« Marcus antwortete nicht. Dann schoss er plötzlich vom Hocker hoch und griff nach seinem Mantel. »Um hier rauszukommen, würd ich alles tun.« Die stellvertretende Gerichtsmedizinerin war ein Kind. Allerdings war für Dorothy jeder unter fünfzig ein Kind. Doch 114 die hier war wirklich noch ein Baby mit ihrem frischen weißen Gesicht, den großen runden, staunend dreinblicken-den blauen Augen, dem schlanken Körper und den kleinen schmalen Händen, die in Latexhandschuhen steckten. Teurer Mantel, sah aus wie Kaschmir oder zumindest wie ein Mischgewebe mit einem großen Anteil Kaschmir. Offensichtlich völlig unerfahren, denn wenn man sich einmal ein schönes Kleidungsstück mit menschlichen Körperflüssigkeiten verdorben hatte, hätte man daraus gelernt. Dorothy ging auf sie zu und stellte sich als Detective Breton von der Bostoner Mordkommission vor, und das kleine Mädchen sagte, sie wäre
Tiffany Artles. Auf ihrem Namensschild stand »Dr. med.«, doch sie benutzte den Titel nicht. Als ob es ihr peinlich wäre. Oder vielleicht wollte sie ja auch nur zeigen, dass sie so etwas nicht nötig hatte. Das machte Dorothy nur noch saurer. Wenn man ein verdammter Arzt mit einem verdammten Hochschulabschluss war, dann sollte man den verdammten Titel auch benutzen. Deswegen stellte man doch noch lange keine Bedrohung dar. Dämliche Leute. Wahrscheinlich hatte Tiffany Artles ihren Doktortitel sogar von Harvard. Das zeigte mal wieder, dass die Stadt, so liberal sie auch war, sich im Grunde einen Dreck um den Tod eines schwarzen Jungen scherte. Denn wenn es sie kümmern würde, hätte man keine Frau im Kaschmirmantel geschickt, die noch ganz grün hinter den Ohren war. Man brauchte sich doch bloß anzusehen, wie ihre Hände zitterten, als sie den Arztkoffer öffnete. Natürlich machte es die Sache nicht leichter, dass Dorothy sie giftig anstarrte. Aber das war ihr scheißegal. »Sind die Waffenexperten schon hier gewesen?«, fragte Artles. Leise, piepsige Stimme. Weiches, glänzendes, kastanien 115z braunes Haar. Dorothy musste sich sehr zusammenreißen, um sie nicht nachzuäffen. »Nein, ich glaube nicht. Nicht dass mir irgendwer was erzählen würde.« »Okay.« Artles' Stimme wurde noch höher. »Ich wollte nur wissen, ob ich die Leiche bewegen darf oder -« »Die Sanitäter haben eine Herz-Lungen-Reanimation durchgeführt«, blaffte Dorothy. »Sein Hemd ist offen, und auf seiner Brust sind Blutergüsse. Offensichtlich haben sie versucht, ihn wiederzubeleben. Dazu müssen sie ihn bewegt haben, denn die Form der Blutlache stimmt nicht mit der Position der Leiche überein. Sehen Sie hier ... dieses ganze Blut auf der Tischplatte. Sieht für mich so aus, als wäre er nach vorne gefallen, und die Sanitäter haben ihn umgedreht. Ich weiß, dass der Fotograf bereits hier war. Also tun Sie einfach, was Sie tun müssen.« Dr. Tiffany betrachtete Julius' reglosen Körper und schürzte die Lippen. »Tut mir Leid. Ich muss Ihnen wie ein Trottel vorkommen. Ich hatte bloß nicht erwartet, dass ich das Opfer kennen würde.« »Die haben Ihnen nicht gesagt, wer es ist?« »Nein, nur dass es bei einer Schießerei im Pharaoh's Genie einen Toten gegeben hat.« Sie sah Dorothy an. »Ich hab ihn vor einer Woche spielen sehen. Ich war mit meiner jüngeren Schwester im Stadion. Was für ein Verlust!« Sie beugte sich hinab. »Okay.« Redete nun mit sich selbst. »Mal sehen, was wir da haben.« Dorothy kniete sich neben die junge Frau, die Julius' Kopf in beiden Händen hielt und ihn dann zur Seite drehte, um die Schussverletzungen an der Schläfe zu untersuchen. »Zwei oberflächliche Wunden. Sie gehen zwar ineinander über, doch man kann deutlich zwei Ellipsen erkennen. Die rechte ist ein bisschen tiefer als die linke, aber für mich sieht es nicht
116 so aus, als sei eine davon die Todesursache gewesen. Es hat geblutet, aber nicht sehr stark, nicht wie man es erwarten würde, wenn eine Arterie verletzt ist.« Sie hob Julius' schlaffen Arm hoch. »Die Leichenstarre ist offensichtlich noch nicht eingetreten. Kann ja auch nicht sein nach so kurzer Zeit ... Wann wurde die Meldung durchgegeben, Detective?« »Vor etwa einer Stunde. Kann auch etwas länger her sein.« »Die Todeszeit steht also außer Frage.« Artles untersuchte den Arm. »Zwei Schussverletzungen am Arm. Beide Kugeln sind wieder ausgetreten und wurden nicht aus der Nähe abgegeben. Der Eintrittswunde nach zu urteilen, würde ich die Entfernung auf zwanzig bis fünfundzwanzig Meter schätzen. Um ihn am Kopf zu treffen, muss der Schütze gut gewesen sein oder Glück gehabt haben oder beides, und er muss freie Sicht gehabt haben. Außer ihm wurde niemand getötet?« »Nein.« »Was die Größe der Kugeln betrifft ... Ich würde sagen Kaliber 3 z, so in etwa.« Ihre blauen Augen wirkten äußerst konzentriert. »Da haben Sie vermutlich Recht. Detective Wilde bringt die Kugeln gerade in die ballistische Abteilung. Wir haben da unten ein paar Hülsen gefunden.« Dorothy stand auf und zeigte in die Richtung. »Genau da, an der linken Ecke der Tanzfläche. Die Flugbahn muss also ungefähr in einem Winkel von fünfundvierzig Grad verlaufen sein.« »Ich werde den Schusskanal zwischen Eintritts- und Austrittswunde berechnen, dann wissen wir, ob Sie Recht haben. Dieser Schuss hier« sie zeigte Dorothy die Wunde -»hat den Muskel zerrissen, deshalb habe ich hier keinen sauberen Schusskanal, mit dem ich arbeiten kann. Aber der untere ist ein glatter Durchschuss.« Sie ließ Julius' Arm sinken. 116 »Was die Verletzung an der Schulter betrifft, so scheint die Kugel direkt unter der Achselhöhle eingedrungen zu sein, ist dann am Schulterblatt entlanggewandert und ...« Mit großer Mühe hob sie Van Beests Körper so weit an, dass sie darunter spähen konnte. »Oh ... hier ist sie rausgekommen, im Nacken. Sie hat vermutlich die Halsschlagader durchschlagen. Auch wenn es noch nicht viele Livores gibt, Flecken, die durch das Absacken des Blutes entstehen ...« Tiffany Artles hielt inne. »Sie wissen natürlich, was Livores sind.« Endlich schenkte Dorothy ihr ein Lächeln. »Fahren Sie fort, Schätzchen, Sie machen das gut.« Tiffany strahlte. »Heute ist mein zweiter Arbeitstag, Detective Breton. Ich garantiere Ihnen, wenn die da oben gewusst hätten, dass es sich um jemand halbwegs Berühmten handelt, hätten sie einen erfahrenen Gerichtsmediziner hergeschickt.« »Aber wen kümmert es schon, wenn wieder mal ein schwarzer Junge zusammengeschossen wurde?«
»Hier ging es nicht um schwarz oder weiß, Detective. Das hier wurde als ein Fall durchgegeben, bei dem die Todesursache leicht festzustellen ist. Deshalb hielt es niemand für nötig, den Chef zu wecken. Das wäre ganz anders gelaufen, wenn man gewusst hätte, dass es um jemand Berühmten geht ... um jemanden, über den vermutlich in der Zeitung berichtet wird.« Sie stand auf und zog sich die Handschuhe aus. »Ich kann erst nach Öffnung der Leiche mit Sicherheit sagen, welcher Schuss tödlich war.« »Was glauben Sie, wann das sein wird?« »Vermutlich recht bald, angesichts dessen, wer er ist ... war. Ich würde sagen, in zwei bis drei Stunden. Die werden die Autopsie rasch hinter sich bringen wollen, weil die Zeitungen auf Antworten warten.« Sie gab Dorothy ihre Karte. »Ich weiß nicht, ob ich die Autopsie selbst durchführen wer 117 de. Ich vermute eher nicht. Aber Sie können mich trotzdem anrufen.« »Danke, Doctor.« Tiffany lächelte schüchtern. »Dann werde ich den Männern im Wagen sagen, dass sie ihn ins Leichenschauhaus bringen können - es sein denn, Sie benötigen ihn hier noch für Ihre Ermittlungen.« »Die Techniker und ich haben alles gecheckt, was wir brauchen. Der Fotograf hat die notwendigen Aufnahmen von dem Toten gemacht.« Dorothy stand mit knackenden Knien auf. »Was halten Sie davon, wenn wir den armen Jungen in Frieden ruhen lassen?« 7 McCain führte Marcus durch den Club nach draußen. Die Luft war bitterkalt und brannte McCain bei jedem Atemzug in Lunge und Hals. Lichtblitze tanzten durch die Dunkelheit. Sie kamen von den blinkenden Leuchtleisten auf den Unfallwagen, den durch den Dunst schimmernden Straßenlaternen, den rotierenden Lampen auf den Polizeiautos und den aufdringlichen Blitzlichtern der Kameras. McCain war erst wenige Schritte gegangen, da wurde ihm bereits ein Mikrofon vors Gesicht gehalten. Es war dieser Hudson - die Nervensäge aus der Nachtschicht eines der lokalen Sender. »Derek Hudson, Detective. Können Sie uns sagen, was da drinnen vor sich geht?« McCain bedauerte, dass seine Dienstmarke immer noch am Mantel befestigt war. »Eigentlich nicht.« Er zog sich seine Mütze über die Ohren und hielt Marcus am Arm fest, während er nach einem freien Streifenwagen Ausschau hielt. 117 Kaum war McCain an Hudson vorbei, da drängte sich eine junge Frau nach vorn, deren Gesicht McCain nicht erkennen konnte. Sie war von Kopf bis Fuß dick eingepackt und musste den Schal vom Mund wegschieben, um reden zu können. »Liz Mantell von CNN. Wir haben
gesehen, wie zahlreiche Schusswaffenopfer auf Tragbahren hinausgebracht wurden. Was hat zu der Schießerei geführt, Detective?« Ihr klapperten beim Sprechen die Zähne. Gerade mal eine Minute draußen, und schon fühlten sich McCains Füße wie Eisklumpen an. Dabei wehte noch nicht mal ein Wind von der Back Bay herüber. Selbst in dem spärlichen Licht konnte man sehen, dass die Nase der Reporterin knallrot war. Sie tat McCain Leid, wie sie bei diesen Minustemperaturen bibbernd dastand. Aber auch nicht allzu Leid. »Kein Kommentar.« Sie ging neben ihm her. »Es hat also definitiv eine größere Schießerei gegeben?« »Bisher ist nichts bestätigt worden.« »Stimmt es, dass Spieler der Basketballmannschaft des Boston Ferris College involviert sind?« »Das behaupten Sie.« Plötzlich bemerkte sie Marcus und lächelte freundlich. »Sie sind vom Boston Ferris?« »Stimmt nur halb«, sagte McCain. »Er ist aus Boston. Entschuldigen Sie mich.« McCain hatte endlich einen freien Streifenwagen entdeckt und zog Marcus in die entsprechende Richtung. Er zückte seine goldene Dienstmarke und fragte den uniformierten Beamten, ob er für eine Weile den Rücksitz benutzen könnte. Liz Mantell war ihm dicht auf den Fersen geblieben. Ein Videokameramann hielt ihre tapferen Bemühungen fest, an die große Story heranzukommen. 118 »Gehören Sie zum Basketballteam?« McCain ließ Marcus nicht antworten, sondern öffnete die hintere Tür des Streifenwagens, drückte den Kopf des Jungen nach unten und schob ihn hinein. »Ist er ein Verdächtiger, Detective?« McCain antwortete nicht und setzte sich neben Marcus. »Soeben ist ein Leichenwagen angekommen«, fuhr Man-tell beharrlich fort. »Wie viele Tote hat es gegeben?« McCain zog lächelnd die Tür zu und hätte dabei der Reporterin fast die Finger eingeklemmt. Im Innern des Wagens war es so dunkel und kalt wie in einer Krypta. Er beugte sich so weit über den Vordersitz, dass er den Motor anlassen konnte. Kalte Luft strömte aus dem Gebläse. Nach einer Minute wurde die Luft lauwarm. McCain wandte sich Marcus zu, der sein Gesicht in den Händen, die in Wildlederhandschuhen steckten, vergraben hatte. Schließlich blickte der Junge auf. »Ich werde dir genau das erzählen, was ich Mama erzählt hab. Nämlich gar nichts. Weil ich nichts gesehen habe.« »Du warst also nicht mit Julius zusammen?« »Nein, war ich nicht. Er war oben und kriegte von irgendeinem Schuhkonzern Zucker in den Hintern geblasen.«
»Ist das nicht gegen die Regeln des Universitätssportverbands?« »Nicht, wenn er nichts angenommen hat.« »Glaubst du denn, er hat seinen Drink selbst bezahlt?« Marcus runzelte die Stirn. »Das ist nicht die Art von Bestechung, über die der NCAA sich Gedanken macht.« »Aber wenn ihn jemand verpfeift, Marcus, dann hätte er doch Ärger kriegen können, oder?« »Yeah, vermutlich. Aber wer sollte ihn denn verpfeifen?« »Jemand von der gegnerischen Mannschaft. « »Niemand von der gegnerischen Mannschaft würde Juli 119 us verpfeifen, weil er sich 'n paar Drinks hat spendieren lassen. Auf die Tour wird man einen Typen nicht los. Das würde nichts bringen.« »Ihn umbringen ist also besser?« Marcus rieb sich die Schläfen. »Natürlich nicht. Das ist furchtbar, es ist ... Mir ist hundeelend. Ich spiel Basketball, damit ich mich nicht mit den Typen aus den Gangs rumschlagen muss. Ich mache meinen Job, und sie lassen mich in Ruhe. Sie respektieren, wie ich spiele, Mann. Und ich hab hart gearbeitet, damit sie mich als Spieler respektieren können. Ich kann es nicht fassen ... Mick, ich will nur noch nach Hause. Bitte, lass mich nach Hause gehen. Ich muss schlafen. « »Tu mir bitte einen Gefallen. Erzähl mir, wie du erlebt hast, was da passiert ist.« Marcus stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. »Ich saß in der Nähe der Tanzfläche. Hing einfach nur so rum, du weißt schon, und quatschte ein Mädchen an.« »Ein Mädchen von der Ducaine University.« »Nein, sie war von hier. Ging glaub ich auf die Boston University. Julius hing ebenfalls rum und trieb seine Spielchen mit den Ladys. Ich kenne nicht alle Mädchen, die ihn umschwärmten. Es waren jedenfalls viele, das kann ich dir sagen. Und das hat Pappy angekotzt. Es ging allerdings letztlich gar nicht um die Mädchen, sondern darum, dass Julius die DucaineLeute gedemütigt hat, als er zurückkam, nachdem man ihn umgenietet hatte. Er und Pappy fingen an, sich zu streiten.« »Wer ist Pappy?« »Patrick Delveccio, der Power Forward von der Ducaine.« »War das derjenige, der Julius umgehauen hat?« »Nein, das war Mustafa Duran. Er ist einer der Auswechselspieler. Er ist bekannt als harter Hund, der ganz schön 119 hinlangen kann. Hey, das ist nichts Besonderes, das gehört zum Job. Aber was beim letzten Spiel passiert ist, ging weit darüber hinaus.« »Was tat er, als Julius und Pappy sich zu streiten anfingen?« »Mustafa war nicht im Club. Er wusste, was passieren würde, wenn er sich dort zeigte.«
McCain widerstand dem Impuls, sein Notizbuch herauszunehmen. »Was war denn passiert?« »Hey, man kann so was nicht auf dem Spielfeld machen, ohne dass es Konsequenzen hat.« »Was für Konsequenzen?« Marcus runzelte die Stirn. »Mein Gott, Micky, du weißt doch, wie das ist. Wenn du dich da draußen nicht verteidigst, wirst du fertig gemacht. Die Typen machen allen möglichen Scheiß mit dir, weil sie meinen, dass ihnen niemand was anhaben kann.« »Also, von was für Konsequenzen reden wir?« »Nicht von einer Waffe, falls du das meinst. Ich red davon, wie man's jemandem auf dem Spielfeld heimzahlt. Man stößt mal schnell mit dem Ellbogen zu, wenn die Schiedsrichter gerade nicht hinsehen. Und selbst wenn sie hinsehen, wer wird nach so einem dreckigen Foul schon was sagen?« »Aber wir reden nicht vom Spielfeld, Marcus. Wir reden von der Situation hier. Was glaubst du, was Julius gemacht hätte, wenn Mustafa aufgetaucht wäre?« »Er ist aber nicht aufgetaucht, also ist das alles reine Spekulation.« »Wer hat mit den Handgreiflichkeiten angefangen, Marcus?« »Es gab keine Handgreiflichkeiten.« Der junge Mann blickte auf. »Die haben sich bloß beschimpft.« »Womit beschimpft?« 120 »Julius hat Scheiße geredet, okay? Und Pappy hat auch Scheiße geredet. Aber es waren viel mehr von uns da als von denen. Es schaukelte sich alles ein bisschen hoch. Ich glaub, es kam dann zu einer Rempelei, mehr aber nicht. Die Typen von der Ducaine sind abgehauen. Dann ist Julius mit zwei Mädchen nach oben gegangen, und danach hab ich ihn nicht mehr gesehen.« »Was hat er gemacht, nachdem er die Mädchen oben hatte?« Marcus sah ihn verdutzt an. »Du meinst, ob er's im Club mit ihnen getrieben hat? Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Soweit ich weiß, waren die nur zur Dekoration, damit er auf die Leute vom Konzern einen guten Eindruck macht.« McCain zog sein Notizbuch hervor. »Kennst du die Namen der Mädchen?« Marcus dachte einen Augenblick nach. »Nein, nicht genau.« McCain wartete. »Ich glaub, ich hab gehört, wie jemand eins der Mädchen mit Spring anredete. Sie waren groß - die Mädchen. Eine ungefähr meine Größe. Es könnten Basketballerinnen gewesen sein, aber nicht vom Boston Ferris. Ich kenne alle Mädchen vom Boston Ferris.« »Wer ist noch mit Julius nach oben gegangen?« »Niemand, den ich kenne.« »Vielleicht ein Bodyguard?« »Nee, kein Bodyguard. Wer sollte schon Julius was tun?«
»Machte er sich denn keine Sorgen, dass seine Fans zu wild werden könnten?« »So 'ne große Nummer war Julius nun auch noch nicht. Er wollte natürlich in die National Basketball Association, aber ein Titel im Final Four wäre für ihn eine feine Sache gewesen. Er wollte diesen Titel unbedingt haben, bevor er sich 121 bewarb.« Marcus schüttelte den Kopf. »So eine Scheiße! Was für ein Verlust!« »Und was passierte, nachdem er nach oben gegangen war?« »Ich weiß nicht, was Julius gemacht hat. Ich weiß nur, dass Pappy mit zwei von seinen Kumpels aus der Gang zurückkam.« »Wie lange war Pappy weg?« Marcus atmete heftig aus. »Vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht auch ein bisschen länger. Ich hab nicht auf die Uhr geguckt. Als Pappy zurückkam, wussten alle, dass es übel würde. Ich kam gerade vom Klo, und als ich ihn sah, wollte ich gleich abhauen. Doch da ging die Schießerei bereits los, und ich warf mich auf den Boden. Ich hab keine einzige Waffe gesehen. Ich konnte noch nicht mal sehen, ob Pappy eine hatte. Ich hab nur einen Knall gehört und bin sofort in Deckung gegangen.« »Bei dem Streit zwischen Pappy und Julius ging es also nicht um ein Mädchen?« »Nee, es ging ums Spiel, Mann. Es geht immer ums Spiel. Du hast betrogen, du hast mich festgehalten, du hast mich gestoßen, du hast mir eins mit dem Ellbogen verpasst, bla, bla, bla. Es ging absolut nicht um ein Mädchen.« »Vielleicht hat Julius sich an die falsche Frau rangemacht.« »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Er hatte die freie Auswahl - jede zu jeder Zeit.« »Manchen Typen gibt es einen Kick, wenn sie mit der Freundin von jemand anderem schlafen.« »Aber Julius doch nicht. Seine einzige Leidenschaft war Basketball. Mädchen waren etwas, womit er sich die Zeit vertrieb, wenn er gerade nicht spielte. Und wenn er sich mit jemandem ernsthaft streiten würde, dann bestimmt nicht wegen eines Mädchens.« 121 »Wo kam dann dieses Gerücht her?« »Woher soll ich das denn wissen? Ich würd mal vermuten, von den Ducaine-Leuten. Um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Alle haben gesagt, dass Pappy und seine Kumpels ihn einfach niedergeschossen haben, Micky. Einfach niedergemäht.« »Aber du hast es nicht gesehen.« »Das heißt aber nicht, dass es nicht so war.« Marcus sah McCain an. »Wer soll ihn denn sonst erschossen haben?«
»Du willst mir also sagen, dass es niemanden gibt, der eine Stinkwut auf Van Beest hatte, außer den Leuten von der Ducaine?« »Nein. Julius ist einer Menge Leute auf den Wecker gegangen. Ich mochte ihn zum Beispiel nicht. Aber ich kann mir niemanden vorstellen, der ihn so gehasst hätte, dass er ihn erschießen würde.« »Vielleicht denkst du nicht angestrengt genug nach.« »Vielleicht brauche ich auch nur etwas Schlaf!«, blaffte Marcus. »Wenn ich ein bisschen schlafen würde, könnte ich vielleicht besser nachdenken.« Er hielt inne, dann warf er den Kopf in den Nacken. »Mir ist so kalt. Ich bin so müde.« Er starrte McCain an. »Wie haltet ihr das nur aus, wenn ihr bei diesem Wetter die ganze Nacht irgendwen überwachen müsst?« »Dann frieren wir auch und werden müde.« »Also, dann hab doch ein bisschen Mitleid mit mir, Micky. Lass mich nach Hause gehen.« McCain nickte. »Ich lass dich von einem Streifenwagen nach Hause bringen.« »Ist nicht nötig. Einer meiner Freunde nimmt mich schon mit.« »Nein, mein Junge«, erklärte McCain. »Du wirst von einem Polizeibeamten nach Hause gebracht. Deine Mutter würde es nicht anders haben wollen.« 122 8 Die Back Bay ist ein Gebiet, das durch das Auffüllen eines ausgebaggerten, stinkenden Sumpfes entstanden ist. Das spiegelt sich auch im Namen seines berühmtesten Wahrzeichens wider, dem Baseballstadion Fenway Park, was so viel bedeutet wie Moorland-Park. In viktorianischer Zeit konnte sich die Bucht einiger der vornehmsten Häuser Bostons rühmen. Malerisch und angenehm mit ihren kopfsteingepflasterten Gehwegen und der vom Meer heranwehenden Brise ist die Gegend während der wärmeren Monate ein viel besuchter Touristenort. Wenn man außerdem das Baseballstadion und die zahlreichen Clubs mit berücksichtigte, so war hier eigentlich ständig etwas los, was auch auf das D-4 zutraf, das Polizeirevier, das für diesen Stadtteil zuständig war. Hier arbeiteten McCain und Dorothy. Um fünf Uhr morgens war Schichtwechsel. Detective Cory Wilde hätte dringend eine Ablösung nötig gehabt, doch so lief das nicht. Breton und McCain übernahmen bereits einen großen Teil der Routinearbeiten, deshalb hatte er eigentlich wenig Grund zu meckern, doch er war seit über zwanzig Stunden auf den Beinen und allmählich ziemlich fertig. Außerdem hatte er den Verdacht, dass Pappy Delveccio das wusste, denn der Dreckskerl rückte mit absolut nichts raus. Als er dem Jungen eine Zigarette anbot, schüttelte der vehement den Kopf. »Dieser Scheiß kommt mir nicht in die Lunge. Was soll das, Mann? Wollen Sie mich vergiften?« Wenn nur ...
Wilde sagte: »Ich wollte nur, dass du dich entspannst. Brauchst du noch ein Glas Wasser?« Pappy beugte sich vor und starrte ihn wütend an. »Ich 123 muss hier raus. Buchten Sie mich ein, oder lassen Sie mich nach Hause, Mann.« Der Junge war über zwei Meter groß und hundertdreißig Kilo schwer. Von der Taille abwärts sah Patrick Luther Del-veccio aus wie eine Bohnenstange. So musste das bei Basketballspielern sein - dünne, lange Beine, mit denen man gut laufen und springen konnte. Von der Taille aufwärts sah das ganz anders aus. Der Star-Forward von der Ducaine war an Armen und Schultern dick mit Muskeln bepackt. Sein Gesicht war länglich und dunkel, und er hatte feine Züge - beinahe äthiopisch. Delveccio. Musste irgendwelche italienischen Vorfahren haben. Oder auch nicht. Da brauchte man sich doch nur die Basketballspieler Shaquille O'Neal und Tracy McGrady anzusehen. Wilde selbst war zu sechzig Prozent irisch und hatte einst geglaubt, auf der Welt sei alles so, wie es zu sein scheint. Er betrachtete Pappy erneut. Eitler Junge. Die Haare hatte er in einem komplizierten Zickzackmuster bis auf die Kopfhaut geflochten, Cornrows nannte man das wohl, und die Zöpfchen fielen ihm in den langen, muskulösen Nacken. Delveccio hatte dichte Brauen, seine Augen waren dunkle Schlitze, und die Lippen hatte er verächtlich verzogen. Wilde versuchte, nicht verächtlich zurückzustarren. »Du kannst das Ganze beschleunigen, indem du mir die Wahrheit sagst, Pappy.« Die Augenschlitze sprühten wütende Blitze. »Haben Sie mir überhaupt zugehört, Mann? Ich sage Ihnen die Wahrheit. « Seine Hände waren voller Tätowierungen, die man allerdings auf der dunklen Haut kaum erkennen konnte. Warum tat er sich das überhaupt an? Die Arme waren vermutlich ebenfalls tätowiert, aber das konnte Wilde nicht sehen. Pappy trug nämlich ein langärmli 123 ges weißes Hemd. Sein olivgrünes seidenes Jackett hatte er ausgezogen. Es hing weich und glänzend über der Lehne seines Stuhls und war so lang, dass es bis auf den Boden reichte. »Ich hab zugehört.« Wilde zuckte mit den Achseln. »Aber ich glaube dir nicht. Und weißt du, warum ich dir nicht glaube? Weil man dir nicht glauben kann.« »Ich hab niemanden erschossen.« Delveccio verschränkte die Arme vor der Brust. »Na bitte, da hast du schon wieder ein Problem mit der Wahrheit. Wir haben deine Hände auf Schmauchspuren untersucht, Pappy. Du hast eine Waffe abgefeuert.« »Ich hab im Club nicht geschossen«, ergänzte er. »Ich hab gestern mit 'ner Waffe rumgespielt«
Wilde konnte sich ein verächtliches Schnauben kaum verkneifen. »Wann gestern?« »Am Morgen.« »Und nachdem du diese Waffe abgefeuert hast, hast du dir nicht mehr die Hände gewaschen?« »Genau, hab ich nicht.« »Hast du dir auch nicht die Hände nach dem Essen an einer Serviette abgeputzt?« »Nein.« Wilde starrte ihn an. »Ich mach mir beim Essen die Finger nicht schmutzig«, entgegnete der Junge. »Du weißt doch, Pappy, dass das Spiel gestern Abend vom Fernsehen übertragen wurde. Der ganze Schweiß, der dir vom Gesicht und von den Händen triefte und triefte und triefte. Nicht nur ich hab gesehen, dass du dir ungefähr zwanzigmal mit einem Handtuch über Gesicht und Hände gewischt hast. Das haben alle gesehen, die sich das Spiel angeguckt haben. Möchtest du deine Geschichte nicht doch noch mal überdenken?« 124 »Ich will einen Anwalt.« »Na schön, nimm dir einen, Pap, aber dann kann ich nicht mehr mit dir zusammenarbeiten. Dann können wir uns auf keinen Deal einigen. Und dir ist doch wohl klar, wenn du aus dieser Sache heil rauskommen willst, musst du dich auf einen Deal einlassen.« Dorothy beobachtete das Ganze durch einen Spionspiegel aus dem Nebenraum. Sie sah den Captain der Nachtschicht vom D-4 an. Phil O'Toole war ein kräftiger Mann mit rötlichem Gesicht und weißen Haaren, ein typischer irischer Polizist der dritten Generation. Er hatte zahlreiche Veränderungen in der Back Bay erlebt: mehr Einwanderer, mehr Drogen, mehr Durchreisende und sehr viel mehr Studenten. Das bedeutete, mehr Partys und mehr durch Alkohol bedingte Zwischenfälle. Der Vorteil war, dass wieder gut verdienende Leute hierher zogen und viktorianische Häuser restaurierten. Das waren keine Täter, aber gelegentlich wurden sie zu Opfern. »Jeden Augenblick wird ein Anwalt von der Ducaine hier sein«, sagte sie. »Was meinen Sie, wie lange wir ihn hinhalten können, bis er seinen Klienten zu sehen verlangt?« »Das können wir maximal zehn Minuten hinauszögern«, antwortete O'Toole. »Was haben wir Konkretes gegen Delveccio vorliegen?« »Zeugen haben gesehen, wie er eine Waffe zog.« »Wie viele Zeugen?« »Drei oder vier, und wir suchen noch weitere.« »Was sonst noch?« »Schmauchspuren an seinen Händen. Er hat eindeutig eine Waffe abgefeuert, und das muss nach dem Spiel gewesen sein.« »Aber Sie haben niemanden, der tatsächlich gesehen hat, wie er geschossen hat?« 124
»Wir suchen noch«, wiederholte Dorothy. »Es ist schwierig, die Leute zum Reden zu bringen.« »Also werdet ihr sie weiter bearbeiten.« »Selbstverständlich.« »Er hat also eine Waffe abgefeuert«, sagte O'Toole. »Damit haben wir genug in der Hand, um ihn so lange einzusperren, bis Anklage erhoben und eine Kaution festgelegt wird. Wie lange wird das dauern? Drei Stunden?« »So in etwa.« Beide betrachteten Wilde durch den Spiegel. Der Detective rieb sich die Augen und sagte: »Erzähl mir von der Schießerei, Pappy. Erzähl mir, was passiert ist. Wenn es Notwehr war, will ich die Einzelheiten wissen. Die wird auch der Staatsanwalt wissen wollen. Notwehr ist nämlich eine ganz andere Sache.« Der Forward starrte Wilde an. Anscheinend wägte er seine Möglichkeiten ab. Dann sagte er jedoch: »Ihre Augen haben verschiedene Farben. Wie ist denn das passiert? Hat Ihre Mutter zwei Männer gleichzeitig gebumst?« Wilde lächelte. »Ich frag sie, wenn ich sie das nächste Mal sehe.« »Mir reicht's.« O'Toole griff zum Telefon und forderte Wilde auf, den Vernehmungsraum zu verlassen. Sobald Wilde hereinkam, fing er an, sich zu verteidigen. Doch O'Toole fiel ihm ins Wort. »Er hat nach seinem Anwalt verlangt, Cory. Wir müssen ihn aufgrund dessen einbuchten, was wir haben: Zeugen, die den Streit mitgekriegt haben, Zeugen, die gesehen haben, wie er eine Waffe zog, und die Schmauchspuren an seinen Händen.« »Überlassen Sie ihn mir nur noch ein paar Minuten«, bat Wilde. O'Tooles rosiges Gesicht nahm die Farbe eines englisch gebratenen Steaks an. »Sind Sie taub, Detective? Er hat bereits 125 nach seinem Anwalt verlangt. Und irgendein Typ mit Schlips und Kragen von der Ducaine ist bereits auf dem Weg hierher.« »Dann werd ich das Delveccio sagen. Ich sag ihm, er braucht nicht mehr mit mir zu reden. Aber lassen Sie mich ihm ein bisschen Gesellschaft leisten, okay?« O'Toole schwieg. »Nur ein bisschen Gesellschaft leisten«, wiederholte Wilde. »Nichts, was mit den Miranda-Rechten kollidieren könnte.« Er bekreuzigte sich. »Na schön«, sagte O'Toole. »Leisten Sie ihm Gesellschaft, bis der Typ mit Schlips und Kragen hier ist.« In diesem Moment kam McCain in den Raum. Der Captain starrte ihn an. »Wo waren Sie?« »Ich hab mit Zeugen geredet.« »Und?« »Nach viel gutem Zureden und ein paar Drohungen hab ich zwei junge Frauen dazu gekriegt zuzugeben, dass sie gesehen haben, wie Pappy eine Waffe gezogen und geschossen hat - eine Handfeuerwaffe.«
»Halleluja«, sagte Wilde. O'Toole fragte: »Wie verlässlich sind die?« »So verlässlich wie alle im Club. Was heißt, dass sie im Augenblick ein bisschen zittrig sind. Wir müssen sie eine Weile bemuttern.« »Hat eine der beiden gesehen, wie Pappy die Waffe auf Julius gerichtet hat?« »Wir versuchen noch, die Einzelheiten rauszukriegen.« »Hat jemand gesehen, mit was für einer Waffe Pappy geschossen hat?« »Nein, Sir. Niemand hat so genau hingesehen, weil alle in Panik ausbrachen, als die Ballerei losging. Alle haben sich auf den Boden geworfen.« McCain zog seine Notizen zu 126 Rate. »Ich hab außerdem einen Hinweis auf eine Frau, die möglicherweise mit Julius auf der oberen Etage war, als er erschossen wurde. Ihr Name ist Spring Mathers, und sie wohnt bei ihren Eltern in Roxbury.« McCain sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt kurz nach fünf. Ich denke, ich fahr in ein paar Stunden da vorbei.« »Nein, Sie fahren jetzt da vorbei und wecken sie auf«, verlangte O'Toole. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können, weil unser böser Bube nicht viel sagt.« Die Tür zu den Vernehmungsräumen ging auf. Officer Rias Adajinian war jung und hübsch bis auf die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie war neu auf dem Revier, deshalb hatte man ihr die Nachtschicht zugeteilt. Die entsprach allerdings nicht ihrem Biorhythmus. »Da ist jemand von der Ducaine University, der mit Mr Delveccio sprechen möchte. Und ...« Sie seufzte. »Ellen Van Beest ist auch hier.« O'Toole blickte zu Dorothy. Die sagte sofort: »Ich kenne sie. Ich mach das.« Sie sah die junge Beamtin an. »Wo haben Sie sie hingesetzt?« »Zimmer fünf.« »Ich brauche einen vollen Krug Wasser, zwei Gläser und eine große Schachtel Kleenex-Tücher.« Dorothy hielt inne. »Am besten zwei Schachteln Kleenex. Sagen Sie ihr, ich bin sofort da. Ich brauch nur noch einen Moment für mich.« »Wie ist das passiert?« Ellen packte Dorothy am Arm und drückte so fest zu, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie zitterte und sprach mit schluchzender, von tiefer Trauer erfüllter Stimme. »Wie ist das nur passiert? Wie konnte ...?« Sie fing so heftig an zu weinen, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Mit Tränen in den Augen nahm Dorothy die Frau, die vor Verzweiflung völlig außer sich war, in den Arm. Wie Dorothy war Ellen eine kräftige Frau - groß und schwer doch in ihrer Trauer wirkte sie merkwürdig substanzlos. »Wie konnte das passieren? Wie konnte das nur passieren? Wie konnte es, Dorothy, wie konnte es?«
Dorothy liefen Tränen über die Wangen. »Wir werden alles herausfinden, Ellen. Das verspreche ich dir. Ich werde nicht eher ruhen, bis wir den Täter hinter Gittern haben.« »Sag mir nur eines: War es das Schwein, das meinen Julius gefoult hat? Hat der ihn getötet?« »Nach allem, was ich gehört habe, war dieser Junge noch nicht mal im Club.« »Junge.« Ellen sah aus, als wollte sie vor Wut spucken. »Es war also niemand von der Ducaine?« Dorothys Schweigen brachte Ellen nur noch mehr in Rage. »Wenn er es nicht war, dann war's ein Freund von ihm, stimmt's? Stimmt's? Ein Schwein von der Ducaine. Sag mir die Wahrheit, Dorothy. Sag's mir! Sag's mir!« »Da waren einige Spieler von der Ducaine -« »Ich hab's gewusst!« Ellen machte sich los. »Ich hab's gewusst! Ich hab's gewusst! Das Spiell Das ist kein Spiel mehr, wenn man Monstern und Schlägertypen gestattet mitzumachen. Das ist alles Wahnsinn!« Sie schrie mittlerweile. »Wahnsinn!« »Ich stimme dir zu, aber wir wissen noch nicht alles -« »Ich weiß genug, um zu wissen, dass es Wahnsinn ist!« Es klopfte an der Tür. Rias Adajinian trat ein. »Leo Van Beest ist hier.« Ellen zog ein Kleenex aus der Schachtel und wischte sich die Augen. »Gott, das hat mir gerade noch gefehlt.« »Soll ich ihn in ein anderes Zimmer setzen, Ellen?« »Ja ... nein. Nein, er kann reinkommen.« Sie sah Rias an. »Bringen Sie ihn her.« Sobald Adajinian weg war, fing Ellen an, auf und ab zu gehen. »Wir haben uns scheiden lassen, als Julius fünf war. Es war hart für den Jungen, weil Leo immer noch in Übersee spielte. Nicht dass Julius viel von seinem Vater gesehen hätte, selbst wenn wir in Italien gelebt hätten. So wie der sich rumtrieb.« Ihr Gesicht wirkte jetzt wie versteinert. »Hart war es auch für Julius, nachdem wir beide wieder geheiratet hatten. Ich glaube, er hat das keinem von uns je verziehen. Er weigerte sich, den Nachnamen meines zweiten Mannes anzunehmen, selbst nachdem Paul ihn adoptiert hatte. Deshalb habe ich auch den Namen Van Beest behalten. Ich wollte, dass Julius diese Verbindung spürte ... dass wir immer noch zueinander gehörten. Weil Leo nie da war.« Sie schluckte heftig und versuchte weiter, ihre Nervosität abzubauen, indem sie wie ein Hütehund durch den Raum kreiste. »War nie da, hat nie einen verdammten Dollar gezahlt. Hat sein Geld für Gott weiß was ausgegeben, aber gewiss nicht für seinen Sohn. Nicht für Julius und auch nicht für seine anderen Kinder. Nicht dass Leo ein schlechter Mensch wäre. Er war halt kein guter Ehemann. Er war ein durchschnittlicher Ehemann.« Ellen kaute an einem Daumennagel.
»Die letzte Scheidung hat Leo hart getroffen. Er war fett und alt, und alles tat ihm weh. Seine Füße waren kaputt, seine Knie waren kaputt, sein Rücken war kaputt. Konnte nicht mehr Basketball spielen und hatte kaum noch Geld. Nicht dass er völlig mittellos wäre. Er hat immer noch sein Haus, aber es war nicht mehr wie in seinen großen Zeiten. Mit der Trinkerei wurde es jetzt richtig schlimm. Er tat mir fast Leid. Julius ... dem tat er wirklich Leid. Er machte sich die Mühe, ihn einmal in der Woche anzurufen, oder alle zwei Wochen. Sie kamen sich näher, als sie sich je gekommen waren.« »Das war doch schön«, sagte Dorothy. »Ja, das war schön. Julius versuchte, wieder eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Ich glaube, das war der einzige Lichtblick in Leos trübsinnigem Leben. Und jetzt ist das auch vorbei ... Oh Gott, ich muss mich setzen.« Dorothy half ihr auf einen Stuhl. »Wann hast du Leo das letzte Mal gesehen?« »Heute Abend beim Spiel.« Ellen lachte verbittert. »Wir haben uns zugenickt. Das tun wir immer, wenn wir uns sehen. Wir nicken uns ganz höflich zu.« Die Tür ging schwungvoll auf, und Leo Van Beest schoss über die Schwelle. »Ellen!« Er breitete die Arme aus, doch sie war zu schwach, um aufzustehen. Stattdessen schluchzte sie bloß in ihre Hände. Er legte seine großen Pranken auf ihre bebenden Schultern. Tränen liefen ihm über die Wangen. »Mein Gott, oh mein Gott!« Leo war nie so groß wie sein Sohn gewesen und hatte auch nie dessen athletische Fähigkeiten gehabt. Er hatte zwei Saisons lang in der National Basketball Association gespielt, bevor man ihn abservierte. Die nächsten fünfzehn Jahre verbrachte er in Übersee, wo er immer auf eine fantastische Saison hoffte, die die Talentsucher daheim beeindrucken würde und wieder auf ihn aufmerksam werden ließe. In jungen Jahren war er bei einer Größe von eins achtundneunzig sowohl ein brauchbarer Shooting Guard als auch ein brauchbarer Small Forward gewesen. Doch die Jahre hatten es nicht gut mit ihm gemeint. Nun war er rund, ledern und grau. Sah aus wie ein überdimensionaler Medizinball. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er nahm ein Taschentuch heraus und rieb sich das Gesicht trocken. »Wie ist das passiert?«, fragte er Dorothy. »Wir sind noch mit den Ermittlungen -« »Ich will keinen Blödsinn hören! Ich will Antworten!« »Die werde ich Ihnen gerne geben, sobald ich etwas weiß.« »Das ist Blödsinn!« Dorothy wollte etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders. »Welches Arschloch hat meinen Sohn erschossen?« »Wir werten immer noch die einzelnen Hinweise aus.« »Ich will dieses Arschloch hängen sehen, verstehen Sie, was ich meine?« »Ja, Sir, das tue ich.«
»Und wenn ihr es nicht macht, dann kenne ich Leute, die es tun.« »Sir, die Polizei kümmert sich um die Angelegenheit. Wir werden den Täter finden, das verspreche ich Ihnen.« »Yeah, ich weiß, was ein Versprechen von der Polizei wert ist.« Dorothy zog es erneut vor, nicht zu antworten. Leos Unterlippe zitterte. »Wo ist er? Mein Sohn!« »Oh Gott.« Ellen fing erneut an zu weinen. »Ich kann ihn mir so nicht ansehen, Leo. Ich kann es einfach nicht!« »Ich weiß, Ellen. Ich werd alles tun, was getan werden muss. Du brauchst das nicht zu tun. Ich mache es.« Er wandte sich an Dorothy. »Ich will ihn sehen!« »Ich werde sehen, was sich arrangieren lässt.« »Ja, tun Sie das!«, befahl Leo. »Sie arrangieren das sofort, Detective. Auf der Stelle! Julius gehört nicht auf ein Polizeirevier. Verstehen Sie? Mein Sohn gehört hier nicht her!« Dorothy fühlte sich hilflos angesichts von so viel Elend und Schmerz. Ihre eigenen Probleme kamen ihr plötzlich sehr klein vor. »Kann ich jemanden für Sie anrufen? Einen Pfarrer vielleicht?« »Pastor Ewing«, sagte Ellen. »Church of the Faith«, fügte Leo hinzu. »Er kann uns helfen ...« 129 »Er kann alles in die Wege leiten.« Ellen wischte sich ihr Gesicht trocken. Mit klarer Stimme erklärte sie dann ihrem Mann, dass sie ihn ins Leichenschauhaus begleiten würde. »Du musst das nicht tun, Ellen«, sagte Leo. »Wirklich nicht.« »Ich weiß, aber ich tu's trotzdem.« Sie stand auf, schwankte kurz, doch sie fand ihr Gleichgewicht sofort wieder. »Wir haben ihn gemeinsam auf die Welt gebracht. Wir sollten ihm auch gemeinsam Lebewohl sagen.« 9 »Das war vielleicht ein Reinfall!« Trotz des Rauschens in ihrem Handy konnte Dorothy den Frust in der Stimme ihres Partners hören. »Spring Mathers war nicht zu Hause?« »Sie ist gar nicht erst nach Hause gekommen«, sagte McCain. »Und ausgerechnet ich durfte ihren Eltern von der Schießerei im Club erzählen. Sie hatten keine Ahnung. Dachten, ihre Tochter schlummert süß und selig in ihrem Bett. Sie sind in ihr Schlafzimmer gestürmt, und als sie feststellten, dass das Bett unbenutzt war, sind sie ausgerastet. Haben jeden angerufen, der ihnen einfiel, wo sie vielleicht sein könnte.« »Oje.« »Ja, oje!«, maulte McCain. »Statt also die eine Zeugin anzutreffen, die möglicherweise bei Julius war, als er erschossen wurde, haben wir nun hysterische Eltern am Hals, die Vermisstenanzeige erstatten und Antworten erwarten. Ich sag dir eins, Dorothy, dieser Fall wird der Stadt noch schwer zu schaffen machen. Die Colleges sind unser Fremdenverkehrsgewerbe. Wenn die Eltern Angst bekommen, ihre Kin 129
der hierher zu schicken, haben wir ein Problem. Ich red nicht von Harvard oder vom MIT. Cambridge ist ein Reich für sich. Auch die Boston University ist etabliert genug. Doch was ist mit all den kleineren Bostoner Colleges, die von diesen Kids leben?« Er redete sich in Rage. Dorothy versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich weiß. Manchmal war es halt schön, wenn alles so laufen würde, wie es sollte.« Es entstand eine Pause, dann sagte McCain: »Ich sollte nicht meckern. Du hattest ja auch nicht gerade einen gemütlichen Morgen mit Kaffee und Zeitung im Bett. Wie ist es mit Ellen Van Beest gelaufen?« »Wie erwartet. Der Vater war auch da. Leo. Er hat zwei Saisons lang als Profi in der NBA gespielt. Ich kann mich allerdings nicht an ihn erinnern.« »Ich auch nicht. Gott, das tut mir Leid. Muss hart für dich gewesen sein.« Bilder der Verzweiflung drängten plötzlich wieder in Dorothys Bewusstsein, die Gesichter von Eltern, wenn der Arzt auf dem Bildschirm das Tuch wegzog. Zum Glück hatte sie die beiden überzeugen können, es per Monitor zu tun. Die Leiche direkt anzuschauen wäre sicherlich zu viel für sie gewesen. Dorothy schauderte. »Ich geh jetzt ins Bett, Micky. Ich hab Doc C. gesagt, er soll mich wecken, wenn er mit der Autopsie fertig ist. Ich nehme an, wir gehen zusammen zur Besprechung.« »C. führt also selbst das Messer?« Dorothy zuckte bei seinen Worten zusammen. Es machte einen Unterschied, wenn man den toten Jungen und seine Mutter kannte. Die ganze Sache war grauenhaft. Es kostete sie große Mühe, cool und professionell zu bleiben. »Du weißt doch, wie so was läuft«, sagte sie. »Großer Medienrummel. Und was hast du vor?« 130 »Schlafen klingt gut. Was glaubst du, wer Druck gemacht hat, der Bürgermeister oder der Gouverneur persönlich?« »Vielleicht sogar beide. Es ist zwar in Boston selbst passiert, aber der Gouverneur hat guten Grund, die Sache so schnell wie möglich vom Tisch zu bekommen, weil sich beide Colleges in Massachusetts befinden.« Dorothy wechselte ihr Handy von einem Ohr aufs andere. »Wie dem auch sei, die Politiker werden den Fall sowieso an sich reißen. Und wir kriegen den Hintern versohlt, wenn wir keine eindeutige Lösung liefern.« »Wurde die Tatwaffe inzwischen gefunden?« »Die Techniker gehen immer noch die konfiszierten Waffen durch. Wenn wir sie finden, können wir nur hoffen, dass Pappy einen brauchbaren Fingerabdruck hinterlassen hat. Er hat jedenfalls keine Handschuhe getragen, als er die Waffe abfeuerte. Das wissen wir aufgrund der Schmauchspuren.« »Bloß dass die meisten Fingerabdrücke durch den Schlag beim Rückstoß verschmiert werden.«
»Dann vielleicht ein Handabdruck.« »Wo wir gerade von dem Mistkerl sprechen, was passiert denn nun mit Pappy?« »Er kommt zwar aus keiner reichen Familie, aber irgendwer hat Kaution für ihn hinterlegt.« »Kaution bei einem Mord?« »Bisher lautet die Anklage nur auf Abfeuern einer Waffe.« McCain fluchte. »Politik. Ist es nicht gegen die Regeln des Universitätssportverbands, Geschenke anzunehmen? Zählt eine Kaution nicht als Geschenk?« »Ich bezweifle, dass es darüber eine Bestimmung gibt, Micky. Und Pappy muss sich mit wichtigeren Dingen auseinander setzen als mit den Regeln des NCAA.« »Dreckskerl. Wir wissen beide verdammt genau, dass er geschossen hat, auch wenn er vielleicht nicht die Absicht hat 131 te, Julius zu töten. Wir können nur hoffen, dass wir handfeste Beweise gegen ihn zusammenbekommen. Du weißt doch, wie Zeugen sind. Die Erinnerung verschwimmt, sobald die Panik nachlässt. Selbst ohne politischen Druck sollten wir versuchen, die Sache in wenigen Tagen wasserdicht zu kriegen, weil sonst alles völlig undurchsichtig wird.« »Überleg doch nur, wie lange es gedauert hat, diesen Jungen von der Baylor University zu verhaften ... Wie hieß der noch gleich?« »Carlton Dotson«, sagte McCain. »Ja, das hatte ich ganz vergessen. Was ist nur mit diesen Basketballern los?« Die Frage war rein rhetorisch. Dorothy ignorierte sie. »Wie war das noch? Sechs Monate hat es gedauert, bis sie Haftbefehl erließen?« »Der Unterschied war nur, dass Dotson einem Freund gegenüber gestanden hat, dass er den anderen Jungen - Dennehy hieß er erschossen hat. Und es hat deshalb so lange gedauert, weil man keine Leiche fand. Wir haben eindeutig eine Leiche, aber vielleicht würd ich die gegen ein Geständnis eintauschen.« Dorothy spürte urplötzlich die furchtbare Erschöpfung der letzten zwölf Stunden. »Es ist müßig, darüber zu reden. Versuch, ein bisschen zu schlafen, Micky.« »Ich werd's versuchen«, erwiderte McCain. »Und wenn ich's nicht schaffe, gibt's immer noch Pillen.« Dorothy hatte erwartet, dass ihre beiden Söhne bereits zur Schule gegangen wären, und gehofft, das winzige Haus eine Weile für sich zu haben. Doch sie waren zu Hause. Beide hatten einen Ausdruck im Gesicht, als würden sie jede Sünde bereuen, die sie in ihrem bisherigen Leben begangen hatten. Mitzuerleben, wie ein »Held« niedergeschossen wurde, konnte eine solche Wirkung auf einen haben. 131 Offenbar war große Reue angesagt, denn sie hatten für Dorothy Frühstück gemacht: Toast mit Marmelade, Kaffee, frisch gepresster
Orangensaft. Als sie sie sahen, legte Marcus ein Lesezeichen in sein Anthropologielehrbuch, und Spencer blickte von seiner AlgebraHausaufgabe auf. Sie betrachteten stumm ihre Mutter, und sie erwiderte den Blick. Dorothy brach als Erste das Schweigen. »Habt ihr denn keine Schule?« »Für heute sind alle Kurse abgesagt worden«, sagte Marcus. »Und wie geht's jetzt mit dem Team weiter?« Der ältere Junge seufzte und zuckte mit den Achseln. »Alles ist noch offen. Wir treffen uns mit dem gesamten Team um drei zu einer Besprechung.« Dorothy sah ihren jüngeren Sohn an. »Und du? Was hast du für eine Entschuldigung?« Spencer biss sich auf der Unterlippe. »Ich bin weit zurück, Mama, und versuche, das aufzuholen. Deshalb dachte ich -« »Das kannst du in deiner Freizeit aufholen, junger Mann. Sieh zu, dass du in die Gänge kommst.« »Wenn du unbedingt willst, Mama, kannst du der Schule ja mitteilen, dass ich unentschuldigt fehle. Aber ich kann nicht zum Unterricht, solange ich nicht weiß, was in Algebra los ist. Da würd ich nur meine Zeit verplempern und nichts lernen. Ich würd zwar lieber hier lernen, aber wenn du mich rausschmeißt, geh ich halt in die Bibliothek oder so.« Dorothy atmete tief durch. »Wie lange würdest du denn brauchen, um das aufzuholen?« »Wenn ich den ganzen Tag arbeite, vielleicht zwei Tage.« »Und ob du den ganzen Tag arbeiten wirst. Besonders wenn ich dir eine Entschuldigung schreibe! Du unternimmst nichts mit deinen Freunden, bis du damit durch bist.« Spencer nickte, und Dorothy setzte sich hin. »Danke fürs Früh 132 stückmachen, Jungs. Ich weiß, dass ihr's getan habt, weil euch die Sache mit Julius ziemlich fertig macht. Und ihr findet's auch schlimm, dass ausgerechnet ich mich damit befassen muss ... mit seinen Eltern.« »Das muss furchtbar gewesen sein«, sagte Spencer. Dorothy traten Tränen in die Augen. »Dafür gibt es überhaupt keine Worte.« Sie nahm sich ein Stück Toast und biss geistesabwesend hinein. »Gießt mir einer von euch 'nen Kaffee ein?« Sie nippte an ihrem Saft. »Habt ihr koffeinfreien oder normalen gemacht?« »Koffeinfreien«, antwortete Marcus. »Ich hab gedacht, du möchtest vielleicht ein bisschen schlafen.« »Gut gedacht«, erwiderte sie. »Yeah, er ist ja auch der Schlaue von uns«, sagte Spencer. »Lass das«, entgegnete Marcus in scharfem Ton. »Nicht streiten«, sagte Dorothy. »Wir streiten doch nicht«, erwiderte Spencer. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen?« »Ich dachte, das tun wir gerade«, sagte Dorothy. Spencer schwieg.
»Na sag schon«, forderte seine Mutter ihn auf. »Vielleicht ist es nicht der richtige Augenblick -« »Na los!«, sagte Dorothy gereizt. Spencer räusperte sich und sah seinen älteren Bruder an. Marcus stellte seiner Mutter eine Tasse Kaffee hin. »Ich geh nach nebenan, wenn du möchtest.« »Nein, bleib hier«, sagte Spencer. »Ich könnte vielleicht Hilfe gebrauchen.« Dorothy kniff die Augen zusammen. »Was hast du diesmal angestellt?« »Ich hab nichts angestellt. Hör mir einfach zu, okay?« Da wurde ihr plötzlich klar, weshalb sie ihn anblaffte. Weil ihr das das Gefühl gab, eine ganz normale Mutter zu sein. 133 Wenn sie sich in diesem Augenblick nämlich nicht wie eine normale Mutter verhielt, würde sie schluchzend zusammenbrechen und dem lieben Gott dafür danken, dass sie zwei so wunderbare Söhne hatte und dass sie gesund waren. Doch das wollte sie nicht tun. Sie wollte sich nicht schwach, verletzlich und hilflos zeigen - jedenfalls nicht vor ihren Söhnen. Sie sagte: »Ich hör dir zu, aber es kommt ja nichts.« Spencer runzelte die Stirn. »Okay. Ich werde wirklich hart in der Schule arbeiten, Mama. Ich werde ... ich werde versuchen, mich nicht von dem ganzen Kram ablenken zu lassen, der da abläuft - die ganzen Waffen, Drogen und Gangstas. Da läuft nämlich 'ne Menge Scheiß ab.« »Red nicht so!« »T'schuldigung.« »Also keine Waffen mehr?« »Yeah, genau«, sagte Spencer. »Darf ich ausreden?« »Wer hindert dich daran?« Spencer ersparte sich die offenkundige Antwort. »Ich werde mich wirklich bemühen. Aber eins musst du wissen. Ich weiß, dass Marcus es weiß. Und ich, ich weiß es auch.« »Was weißt du?« »Da komm ich gleich drauf, okay?« Niemand sagte etwas. Spencer seufzte. »Mama, ich bin kein guter Schüler. Und ich geh nicht gern zur Schule. Ich mag keine Bücher, und ich mag auch nicht fünf Stunden lang auf dem Hintern sitzen, wenn nichts passiert, außer dass die Leute gähnen, sich mit Sachen bewerfen oder noch Schlimmeres machen.« »Es gibt aber doch einige gute Lehrer.« »Die geben sich Mühe, Mama, aber das ist wie im Zoo. Die Klassen sind viel zu voll, die Bücher alt und langweilig, und was die da unterrichten, interessiert mich nicht.« Er blickte verzweifelt zu seinem Bruder. 133 Marcus zuckte mit den Achseln. »Schule ist wohl nicht jedermanns Sache.«
»Du hältst den Mund«, sagte Dorothy. »Jetzt hör mir mal zu, junger Mann -« »Mama, bitte!« Dorothy wollte etwas sagen, hielt aber inne. »Darf ich zu Ende reden?«, jammerte Spencer. Als kein Kommentar von der großen Lady kam, sagte er: »Ich will nicht ständig Messern und Kugeln und Drogen aus dem Weg gehen müssen oder den Leuten, die wollen, dass man sich beweist, oder die mit ihrem Scheiß angeben. Ich weiß, ich weiß. Das soll ich nicht sagen. Aber damit muss ich mich jeden Tag rumschlagen.« »Und was meinst du, womit ich mich rumschlagen muss?« »Auch mit so was. Deshalb bin ich ja überhaupt auf diese Idee gekommen. Wenn ich mich schon mit diesem Kram -hast du gehört, ich hab Kram gesagt - rumschlagen muss, dann kann ich mich auch dafür bezahlen lassen. Ich will nicht aufs College. Ich hab nicht das Hirn dafür so wie Marcus. Warte, Mama, unterbrich mich nicht.« »Ich hab doch gar nichts gesagt.« »Man sieht es dir aber am Gesicht an.« »Und wie«, murmelte Marcus. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst den Mund halten?«, blaffte Dorothy. »Ja, Queen Dorothy, verzeiht diese ungehörige Unterbrechung.« Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Spencer biss sich auf einen Fingernagel und sagte: »Ma, ich möchte auf die Akademie gehen. Jedenfalls möchte ich das, wenn ich's bei den Profis nicht schaffe.« Dorothy starrte ihren jüngeren Sohn an. »Auf die Polizeiakademie« 134 »Nein, die Exeter Academy, diese Superuni.« »Werd nicht frech.« »Ja, auf die Polizeiakademie. Wenn ich's im Basketball nicht schaff, will ich Cop werden.« Schweigen. Schließlich sagte Marcus: »Dein Kaffee wird kalt, Ma.« »Das ist mir egal.« »Schrei doch nicht«, sagte Spencer. »Ich schreie nicht, ich ereifere mich nur. Spencer Martin Breton, ich will nicht, dass du Polizist wirst. Dafür bist du zu schade.« Spencer senkte den Blick auf den Tisch. Seine Lippen zitterten. »Was ist?«, fragte sie. »Nichts.« »Was?« Er sah sie nicht an. »Ich bin stolz auf das, was du tust. Vielleicht bist du eines Tages auch stolz auf dich selbst, Mama.« Darauf wusste sie keine Antwort. »Es ist ja nicht meine erste Wahl«, fuhr Spencer fort. »Am liebsten würde ich Basketball-Profi werden. Wenn ich's nicht in die NBA schaffe, dann geh ich nach Europa. Ich weiß, dass selbst das ein Traum ist. Deshalb muss ich einen Plan für alle Fälle haben. Trotzdem glaub ich an
mich. Das tue ich wirklich. Unsere High School hat es ins Halbfinale geschafft. Ich glaube, ich kann sie ins Endspiel bringen. Mein Coach meint das auch. Er glaubt auch an mich.« »Da hat er Recht«, sagte Marcus. »Ich glaube auch an dich, Spencer«, erklärte Dorothy. »Weil du so gut bist. Deshalb könntest du auch ein Sportstipendium kriegen.« »Das wäre reine Zeit- und Geldverschwendung, Mama. 135 Das sollen sie lieber einem Jungen geben, der einen Kopf zum Lernen hat. Den hab ich nämlich nicht. Ich hasse es!« »Heutzutage braucht jeder eine Collegeausbildung.« »Nein, Mama, es braucht nicht jeder eine Collegeausbildung. Aber jeder braucht einen Plan, und ich habe einen guten Plan. Und ich möchte, dass du mich dabei unterstützt.« Dorothy schwieg. »Oder ...« Spencer räusperte sich erneut. »Oder wenn du mich nicht ganz spontan unterstützen kannst, dann denk wenigstens drüber nach.« »Das ist doch ein faires Angebot«, sagte Marcus. Dorothy starrte ihn wütend an. Zu Spencer gewandt, sagte sie: »Du weißt gar nicht, auf was du dich da einlässt. Polizist zu sein ist eine verdammt ernste Angelegenheit. Es ist ein harter Job mit viel Stress, langen Arbeitszeiten, und man wird nicht gerade mit Ruhm überschüttet.« »Ich glaub, das weiß ich, Mama. Das ist auch nicht nur so eine Idee, die mir gerade in den Sinn gekommen ist. Ich hab lange darüber nachgedacht. Und das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss lernen.« Der Junge nahm seinen Bleistift und fing an zu rechnen. Marcus und Dorothy sahen sich an. Der junge Mann zuckte mit den Achseln, setzte sich wieder hin und nahm sein Buch. Nun wollte Spence also Polizist werden, die neueste verrückte Idee ihres Sohnes. Teenager änderten ihre Meinung so oft, wie sie ihre Socken wechselten. Doch die Schüsse auf Julius schienen tatsächlich eine neue Ernsthaftigkeit bei Spencer hervorgebracht zu haben. Er hatte einen Plan. Er wirkte motiviert. Er redete engagiert und selbstsicher. Vielleicht würde das länger als drei Tage anhalten, doch Dorothy hatte ihre Zweifel. 135 10 Dorothy hatte die von Kugeln durchbohrte Leiche bereits am Tatort gesehen und war außerdem dabei gewesen, als im Leichenschauhaus die große Schublade aufgezogen wurde, in der der Tote lag. Deshalb war es ihr zutiefst zuwider, die Leiche noch einmal sehen zu müssen. In Stücke geschnitten und wieder zusammengesetzt - ein menschliches Puzzle. Dieser Junge war im gleichen Alter wie ihr Sohn gewesen und sein Mannschaftskamerad. Das ging ihr alles viel, viel zu nahe. Daher bat sie
den Pathologen, sich mit ihr und Micky in seinem Büro zu unterhalten und nicht neben dem kalten Stahltisch. John Change war ein fünfzigjähriger, in Harvard ausgebildeter Pathologe, der in Taiwan geboren und aufgewachsen war. Als er sich vor zweiunddreißig Jahren um einen Studienplatz bewarb, glaubte er, mit einem englischen Namen größere Chancen zu haben, angenommen zu werden. Deshalb hatte er seinem Nachnamen ein e hinzugefügt. Diese Modifizierung des Namens war die Quelle des einzigen Scherzes, den Change mit Vorliebe anbrachte: »Veränderung ist gut. Seht nur mich an.« Er war in Boston so etwas wie eine Institution, schnitt immer gut beim Marathon ab und hielt seit fünfundzwanzig Jahren sein Gewicht. Das einzig erkennbare Zeichen, dass er allmählich älter wurde, waren die silbrigen Strähnen in seinen glatten schwarzen Haaren. Das pathologische Labor und Changes Büro befanden sich im Erdgeschoss des Leichenschauhauses auf der Albany Street, saubere, unpersönliche fensterlose Räume, die von einem harten, gleißenden Licht erfüllt waren, das die Sonne wohl kaum für nachahmenswert halten würde. Das Büro war 136 geräumig, doch Change hatte es voll gestopft mit Büchern, Notizblocks, Zeitschriften und Gläsern, in denen Gewebe in Formaldehyd konserviert wurden. Die meisten dieser Proben waren Teratome, bizarre Tumore, die aus undifferenzierten Zellen stammten, wie Dorothy gelernt hatte. Changes Lieblingsexemplare enthielten Haare, Knochenfragmente und Zähne. Wenn man einige davon in einem bestimmten Licht betrachtete, schienen sie zu grinsen wie Wasserspeier. Zwischen diesen Anomalien standen Fotos von Changes hübscher Frau und seinen beiden aufgeweckt aussehenden Kindern. Dorothy war als Letzte gekommen, doch Micky meinte, er sei auch erst seit wenigen Minuten da. Er sah verknittert aus, und sein Gesicht hatte diesen abgespannten Ausdruck, der von zu viel Stress, sehr wenig Schlaf und keiner Aussicht auf Änderung kam. Er saß auf einem der beiden Stühle gegenüber von Changes Schreibtisch und trank Kaffee aus einem Pappbecher. Sie nahm ihm den Becher aus der Hand, nippte daran und verzog das Gesicht. »Der schmeckt ja scheußlich.« »Du hast mir keine Chance gegeben, dich zu warnen. Setz dich.« Dorothy überlegte, ob sie ihren Mantel ausziehen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Die Temperatur hier war niedriger als zwischen den Tiefkühltheken im Supermarkt. »Delveccio wurde vor wenigen Stunden entlassen«, sagte McCain. »Wie hoch war die Kaution?« » Fünfzigtausend.« »Wer hat gezahlt?« »Ducaine, wie wir vermutet hatten.«
»Wo ist der Doc?«, fragte Dorothy. »Change wechselt gerade die Kleidung«, sagte McCain mit einem Lächeln. 137 »Hier bin ich.« Change trat in den Raum und machte die Tür hinter sich zu. Er trug einen Anzug mit Krawatte, doch seine Hosenbeine waren hochgerollt, und seine Füße steckten noch in Gummigaloschen. »Meine guten Schuhe sind oben. Eidechsenleder. Da kriegt man den Gestank kaum raus. Leder absorbiert die Gerüche, und Reptilienhaut scheint noch poröser zu sein als anderes Leder. Sollte man eigentlich gar nicht meinen, oder? Nicht dass ich noch irgendwas rieche, aber meine Frau. Und heute haben wir Hochzeitstag.« »Herzlichen Glückwunsch«, sagte McCain. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragte Dorothy. »Achtundzwanzig Jahre.« »Eine lange Zeit.« »Und dabei muss Denise ja eine Menge in Kauf nehmen«, sagte Change. »Lange Arbeitszeiten und dass ich Leichen zerfleddere. Aber jedenfalls weiß sie immer, wo ich bin, und mein Beruf gibt mir nicht viel Gelegenheit, sie zu betrügen.« Er setzte sich und faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. »Ich habe ganz routinemäßige Ergebnisse erwartet und stattdessen etwas Interessantes gefunden. Julius Van Beest ist verblutet, aber nicht wegen der Schussverletzungen. Meines Erachtens war keine davon tödlich.« Change legte vier Polaroidaufnahmen auf seinen Schreibtisch. »Das sind die Schussverletzungen: die beiden, die ineinander übergehen und die rechte Schläfe gestreift haben, die beiden Löcher im Arm und der Schuss, der durch die Schulter gegangen ist. Letzterer hätte am ehesten tödlich sein können, doch dann habe ich festgestellt, dass die Kugel nur Muskelfleisch verletzt hat.« Er legte noch zwei Polaroidfotos auf den Schreibtisch, beide ziemlich schaurig. Dorothy legte den Kopf in den Nacken. McCain verzog angewidert den Mund. »Was haben wir da, Doc?« 137 »Das Innere von Mr Van Beests Brustkorb. Das hab ich gesehen, als ich ihn geöffnet habe. Anatomisch ist da nichts festzustellen, weil alles in Blut schwimmt.« Change blickte von den Fotos auf. »Nachdem ich diesen Bereich gesäubert hatte, konnte ich zweifelsfrei feststellen, dass der Junge an einem Riss in der Unterschlüsselbeinschlagader gestorben ist, und zwar an der Stelle, wo sie vom Aortabogen abzweigt. Und ich vermute, dass der Grund für diesen Riss ein Aneurysma war. Das ist ein hochgestochenes Wort für eine Schwäche in der Gefäßwand. Da die Wand schwach ist, bildet sie irgendwann eine Ausbeulung - einen Sack, wenn Sie so wollen. Der ist wie ein Ballon. Und Sie wissen ja, was passiert, wenn ein Ballon aufgeblasen wird. Die Außenhaut wird immer dünner, und wenn man zu viel Luft reinbläst, platzt er.«
Die Detectives waren sprachlos. Schließlich fragte McCain: »Wodurch wird das verursacht? Dieses Aneurysma?« »Normalerweise ist so etwas veranlagungsbedingt. Doch ich könnte auch die Meinung vertreten, dass die Sanitäter versehentlich eine Blutgefäß Verletzung herbeigeführt haben, als sie versucht haben, ihn wiederzubeleben. Eine wahrhaft griechische Tragödie, wenn Sie genau darüber nachdenken.« Dorothy brachte kein Wort heraus. »Aus Ihrer Sicht«, fuhr Change fort, »müssen Sie bedenken, dass Sie vielleicht nicht in der Lage sind, Ihren Verdächtigen des vorsätzlichen Mordes zu beschuldigen. Nur des versuchten Mordes, da die Schussverletzungen nicht die unmittelbare Todesursache waren.« »Aber« - Dorothy räusperte sich - »weshalb hätten die Sanitäter eine Herz-Lungen-Animation durchführen sollen, wenn kein Herzstillstand eingetreten war?« McCain nahm ihre Frage auf. »Genau das ist es. Der durch den Schuss verursachte Schock löste zunächst einmal einen 138 Herzstillstand aus. Damit könnten Sie uns doch eine direkte Handhabe gegen Delveccio liefern, oder etwa nicht, Doc?« »Sein Herz muss aufgehört haben zu schlagen«, beharrte Dorothy. »Das ist eine Möglichkeit«, räumte Change ein. »Trotzdem könnte die Verteidigung argumentieren, dass die Schussverletzungen zusammen mit der bereits bestehenden arteriellen Schwäche zu einem jähen Absinken des Blutdrucks geführt haben könnten. Er könnte noch einen Puls gehabt haben, aber der war so schwach, dass die Sanitäter ihn nicht festgestellt haben.« »Aber damit bestünde doch trotzdem ein direkter Zusammenhang mit den Schussverletzungen.« »Leider, Inspector Breton, ist das alles reine Theorie. Gerichtsmedizinisch gesehen war der Schuss nicht die Todesursache. Mr Van Beests Tod wurde durch einen Arterienriss verursacht. Und wir haben keine Möglichkeit festzustellen, wann genau dieser eingetreten ist. Die Verteidigung könnte sogar argumentieren, dass die Sanitäter die Sache nur noch schlimmer gemacht haben, dass das Opfer ohne die heftigen Reanimationsmaßnahmen überlebt hätte. Jeder Druck, der auf das Brustbein ausgeübt wurde, könnte dazu geführt haben, dass die Gefäßwand sich immer stärker dehnte, bis sie schließlich platzte. Dieser Bereich befindet sich direkt unterhalb des Schlüsselbeins nahe der Stelle, wo sich die Aorta aufteilt in die Halsschlagader, die den Kopf versorgt, und in die Unterschlüsselbeinschlagader, die den Oberkörper versorgt. Das sind wichtige Gefäße, die eine Menge Blut transportieren.« »Das ist doch lächerlich«, sagte McCain. »Mag sein, aber es geht über einen berechtigten Zweifel hinaus.« Im Zimmer breitete sich Schweigen aus. 138
McCain räusperte sich. »Der durch den Schuss ausgelöste Stress ließ sein Herz schneller schlagen, und das würde auch Druck auf diesen Sack ausüben, richtig?« Change antwortete nicht. »Stimmt das etwa nicht, Doc?« Change nahm einen Bleistift in die Hand und schwang ihn wie einen Zauberstab. »Ja, Stress stimuliert den Sympathikus. An irgendeinem Punkt hat sein Herz ganz gewiss sehr schnell geschlagen.« »Und würde das die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass dieses Aneurysma aufreißt?« »Das ist mehr als spekulativ. Ich kann vermuten, aber nie mit Bestimmtheit wissen, wie schnell sein Herz geschlagen hat. Darauf würde sich die Verteidigung sofort stürzen. Wenn ich Delveccios Anwalt wäre, würde ich immer wieder auf die Reanimationsmaßnahmen zu sprechen kommen.« »Es ist also völlig ausgeschlossen, dass der Arterienriss durch eine der Schussverletzungen ausgelöst wurde?«, fragte Dorothy. Change schüttelte den Kopf. »In diesem Bereich wurde kein Einschuss festgestellt.« »Und wenn nun eine Kugel abgefälscht wurde?« »Das ist aber nicht passiert, Detective.« »Julius ist auf den Brustkorb gefallen, als er erschossen wurde«, sagte Dorothy. »Vielleicht hat der Aufprall das Aneurysma aufgerissen.« Change dachte darüber nach. »Das wäre eine Möglichkeit. Aber andererseits hab ich gehört, dass er bei dem Spiel gestern Abend einen üblen Schlag gegen den Brustkorb erhalten hat. Die Verteidigung würde argumentieren, dass das der Auslöser war.« »Wir waren dort«, sagte Dorothy. »Für mich sah es so aus, als wäre er am Hals getroffen worden.« 139 Change erklärte: »Wenn ihn jemand mit einem langen Arm in dieser Weise gefoult hat, wurden vermutlich Hals, Gesicht und Brustkorb in Mitleidenschaft gezogen. Muss schon ein heftiger Schlag gewesen sein, um so einen großen Mann umzuhauen. Ich habe gehört, dass er eine Weile bewusstlos dagelegen hat.« »Er ist aber zurückgekommen und hat das Spiel seines Lebens gespielt«, sagte Dorothy. »Das bedeutet aber nicht, dass der Schaden nicht bereits angerichtet war. Vielleicht ist der Arterienriss durch das Foul vergrößert worden. Dazu der Druck, der bei dem Reanimationsversuch auf den Brustkorb ausgeübt wurde ...« »Verteidigung hin oder her«, sagte McCain. »Wie wär's, wenn Sie uns was in die Hand gäben, womit wir arbeiten können?« »Ich will Ihnen ja nur sagen, womit Sie möglicherweise zu rechnen haben - was der Staatsanwalt in Betracht zieht, wenn Sie Ihren Fall vorlegen. Mit Mordversuch, Detectives, kommen Sie leicht durch. Aber ich könnte
nicht ohne jeden Zweifel behaupten, dass das Aneurysma durch Verschulden des Schützen gerissen ist.« »Das ist ja völlig verrückt«, erwiderte McCain. »Versuchter Mord bedeutet immer noch eine Gefängnisstrafe«, sagte Change. »Es ist aber nicht das Gleiche wie vorsätzlicher Mord«, entgegnete McCain. »Das würde nämlich lebenslänglich ohne Bewährung bedeuten, und das hat dieses Arschloch verdient. Einfach so in einem Club rumzuballern.« »Darf ich noch mal auf etwas zurückkommen, was Sie vorhin gesagt haben?«, fragte Dorothy. »Sie sagten, dass so etwas veranlagungsbedingt sei.« »Das ist sehr wahrscheinlich. Wenn es denn ein Aneurysma war.« 140 »Was heißt wenn?« »Rein theoretisch«, erklärte Change, »könnte es auch ein durch Stress verursachter Riss gewesen sein. Doch das halte ich für höchst unwahrscheinlich, und das müsste ich auch im Zeugenstand aussagen.« »Aber es ist trotzdem nicht undenkbar, oder?«, sagte Dorothy. »Könnte nicht der heftige Aufprall auf den Tisch einen solchen Riss verursacht haben? Dann könnten wir doch argumentieren, dass der Schuss die Hauptursache war.« »Ich glaube nicht, dass der Aufprall auf einen Tisch so etwas auslösen könnte.« »Aber wenn er nun überhaupt kein Aneurysma hatte?« »Wie sollte man das ohne ältere Röntgenaufnahmen von diesem Bereich wissen?«, erwiderte Change. Dorothy lächelte. »Am Boston Ferris sind alle Sportler verpflichtet, sich einmal im Jahr durchchecken zu lassen, einschließlich Röntgenaufnahmen des Brustkorbs. Das weiß ich von meinem Sohn. Da Julius im vierten Jahr in der Mannschaft spielte, sollten vier Röntgenaufnahmen vorliegen. Dieses Aneurysma, würde man das auf einem Röntgenbild des Brustkorbs sehen?« Change nickte. »Wenn es groß genug war, schon.« »Und wenn ein Arzt das gesehen hat, hätte er ihn doch sicher nicht spielen lassen, oder?« Change nickte erneut. »Wenn es groß genug war und wenn es jemand gesehen hat. Die Arterie verläuft hinter dem Schlüsselbein. Das Aneurysma könnte von Knochen verdeckt gewesen sein.« »Aber vielleicht war es das nicht. Und sie haben ihn spielen lassen. Und er hat vier Jahre lang ohne Probleme gespielt. « Change zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Dorothy hat da eine gute Idee«, mischte sich 23z McCain ein. »Es würde sich lohnen, einen Blick auf diese Röntgenaufnahmen zu werfen. Und wenn man es nicht sieht, könnte es
natürlich von Knochen verdeckt gewesen sein. Aber vielleicht war es überhaupt nicht da. Das würde bedeuten, dass der Aufprall auf den Tisch doch den Arterienriss ausgelöst haben könnte, Doc.« »Detective, Arterien platzen nicht einfach.« »Aber Sie können mir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, was tatsächlich passiert ist?« »Ich kann Ihnen sagen, dass keine Kugel den Arterienriss verursacht hat«, erwiderte Change. »Es gab keine durch äußere Einwirkung verursachten Beschädigungen. Auch waren keine Knochensplitter zu sehen, die sich durch die Gefäßwand gedrückt haben könnten. Also muss die Ursache idiopathisch sein - das heißt, eine ganz spezielle innere Befindlichkeit von Mr Van Beest.« »Hören Sie, Doc«, sagte McCain, »wenn niemand auf all den Röntgenaufnahmen, die in den vier Jahren von Julius' Brustkorb gemacht wurden, etwas gesehen hat, dann muss dieses Aneurysma sehr klein gewesen sein. Dann können wir vielleicht doch stichhaltig argumentieren, dass sein Herz während der Schießerei verrückt gespielt hat.« »Ich halte immer noch den Aufprall auf den Tisch für am vielversprechendsten«, sagte Dorothy. »Sein Blutdruck ist, wie Sie sagten, jäh abgesunken, und es kam zum Herzstillstand. « »Ganz genau«, sagte McCain. Dorothy ging näher an Changes Schreibtisch heran. »Er hatte schon keine Chance mehr, noch bevor die Sanitäter ihn behandelten.« Change hörte sich die üblichen Argumente an und lächelte schwach. »Ich könnte nichts davon definitiv im Zeugenstand behaupten, Detectives.« 141 »Aber Sie könnten auch nicht behaupten, dass es nicht so passiert ist«, sagte Dorothy. »Wenn auf den Röntgenaufnahmen nichts zu erkennen war ...« »Da müssen Sie erst einmal den Staatsanwalt dazu kriegen, Ihnen das abzukaufen.« »Sie kümmern sich um die medizinischen Aspekte«, sagte McCain. »Wir setzen uns mit dem Staatsanwalt auseinander.« »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich genau das aussagen kann, was Sie wollen.« »Doc, Sie machen Ihren Job, und wir machen unseren. Ich hab die Schnauze davon voll, dass diese Typen mit einem Klaps aufs Handgelenk davonkommen!« »Eine Verurteilung wegen versuchten Mordes ist kein Klaps aufs Handgelenk«, sagte Change. »Wenn wir ihn des vorsätzlichen Mordes anklagen, und es wird auf versuchten Mord runtergehandelt, kann ich damit leben«, sagte McCain. »Wissen Sie nämlich, was andernfalls passiert? Dann haben wir einen versuchten Mord, der auf das Vergehen runtergehandelt wird, an einem öffentlichen Ort eine Schusswaffe abgefeuert und Panik ausgelöst zu ha-
ben. Darauf steht zwar immer noch Gefängnis, aber nicht so lange, wie der Dreckskerl verdient.« »Das scheint mir etwas sehr pessimistisch«, sagte Change. »Schließlich wurde das Opfer angeschossen.« »Und der Dreckskerl wird sagen, dass er ihn nicht erschießen wollte, dass er nur herumgealbert hat und ein bisschen zu viel getrunken hatte. Ich weiß, wie das bei diesen Typen abläuft, Doc. Besonders bei denen aus dem Sport. Die Anwälte besetzen die Jury mit Fans. Wir müssen ihn schon des schlimmsten Vergehens beschuldigen und können dann notfalls runtergehen.« Change lehnte sich zurück. »Das ist Ihre Sache.« 142 »Ja, verdammt noch mal!« McCain wurde immer wütender. Dorothy mischte sich ein. »Wenn ich Ihnen eine Röntgenaufnahme neueren Datums besorge, Doc, würden Sie sie sich ansehen?« »Selbstverständlich«, erwiderte Change. »Ich muss gestehen, dass Sie mich neugierig gemacht haben.« Er hielt inne. »Eine Röntgenaufnahme besorgen - das ist eine kluge Idee.« »Sie ist eine kluge Frau«, sagte McCain. »Deshalb nennt man sie Detective und Sie Doctor.« 11 Das Boston Ferris College war in den fünfziger Jahren aus einem Zusammenschluss des Boston Electronic and Technical und der Ferris Fine Arts Academy entstanden, was für die beiden finanziell angeschlagenen Institutionen damals eine zufrieden stellende Lösung war. Die Direktoren des neuen Boston Ferris College legten die Mittel der beiden Vorgänger zusammen, kauften eine Pleite gegangene, aufs College vorbereitende Privatschule und schufen ein Mischgebilde nach dem Vorbild der Cooper Union in New York, wo man bildende und angewandte Kunst sowie Naturwissenschaften unterrichtete. Allerdings mit einer Besonderheit. Das Boston Ferris sollte seiner Satzung gemäß mehr den Interessen der innerstädtischen Bevölkerung von Boston dienen als der Förderung der Wissenschaft. Der Zulassungsausschuss des College gab sich große Mühe, passende Kandidaten zu finden. Nach dem Motto: Die Akademie mit Herz. Sport hatte ursprünglich überhaupt nicht auf dem Lehrplan gestanden, bis die Collegeleitung feststellte, dass viele 142 Jugendliche, die praktisch auf der Straße aufwuchsen, sehr viel Zeit mit Basketballspielen verbrachten. Kurz darauf begann das Boston Ferris, aktiv um Sportler zu werben, und die Zahl der Anmeldungen schoss explosionsartig in die Höhe. Die Schule ließ eine hochmoderne Trainingshalle bauen, einen Fitnessraum sowie Pool und Sauna und fing an, Hauptfächer wie angewandte Elektronik und praktische Wasserversorgung anzubieten - eine kunstvolle Bezeichnung für
Klempnerei. Diese subtile Schwerpunktverlagerung war für Micky McCain und Dorothy Breton allerdings nicht von Interesse. Was ihnen zu schaffen machte, war die Tatsache, dass der Gesundheitsdienst des College seit dem Zusammenschluss nicht modernisiert worden war. Das heißt, kein bisschen modernisiert worden war. Die Abteilung war ein bürokratischer Sumpf, mit dem nur noch das Boston Police Department konkurrieren konnte, und wie beim BPD musste jede Anfrage schriftlich eingereicht werden. Eine solche Prinzipienreiterei trieb McCain in den Wahnsinn. Dorothy ging es nicht viel besser. »Das ist eine Untersuchung in einem Mordfall«, sagte sie. »Wir können von dem Patienten keine Erlaubnis einholen, weil er tot ist!« Sie sprachen mit Violet Smaltz, einer dreiundsechzigjährigen alten Schachtel mit einem missmutigen Gesicht, deren Haut wie Papier wirkte. Sie kniff die Augen zusammen und schnaubte verächtlich. »Ich weiß, dass der Junge tot ist, Detective. Aber es wäre auch nicht anders, wenn er noch am Leben wäre. Wenn der Gerichtsmediziner die medizinischen Unterlagen haben will, dann soll sein Büro einen Antrag auf Einsicht in die Unterlagen stellen und die korrekt ausgefüllten Formulare hierher schicken. Medizinische Unterlagen werden nur von Arzt zu Arzt weitergegeben.« 143 »Das ist absoluter Schwachsinn!«, entfuhr es McCain. Violet starrte ihn wütend an. »Kein Grund, ausfallend zu werden, Detective McCain.« »Ich könnte mir eine Vorladung besorgen -« »Dann tun Sie's doch!« Violet faltete die Hände vor der Brust. Sie trug einen langen grauen Rock und eine graue Strickjacke, die lose an ihrem knochigen Körper hing. Sie sah aus wie eine verblichene Vögelscheuche. Dorothy gab auf. »Na schön, könnten Sie uns zumindest schon mal die nötigen Formulare geben?« Violet rührte sich nicht. Sie starrte McCain immer noch wütend an. »Bitte?«, bettelte Dorothy. Ein weiteres verächtliches Schnauben. »Eine Minute.« Sobald sie fort war, sagte Dorothy: »Aufbrausend zu werden bringt uns hier nicht weiter, Micky.« »Doch, tut es. Bei mir klappt das immer.« Wenige Minuten später kehrte Smaltz zurück. »Ich brauche das in dreifacher Ausfertigung. Achten Sie darauf, dass alle drei Exemplare leserlich ausgefüllt sind.« McCain riss ihr die Blätter aus der Hand. »Ich möchte wetten, bei President McCallum hätten Sie nicht so ein Theater veranstaltet.« »Sie sind aber nicht President McCallum.« Draußen schlang Dorothy sich ihren Schal um den Hals. »Das war sehr geschickt, Micky. Sobald sie den Antrag kriegt, wird sie ihn in die Umlaufakte legen.«
»So jemand wie sie wird das nicht tun. Das wäre gegen die übliche Vorgehensweise. Ich wünschte, man könnte dieser Zicke irgendwie eins auswischen.« »Vermutlich ist sie die Einzige im Gesundheitsdienst, die weiß, wo alles ist.« 144 »Jeder muss irgendwann mal sterben.« »Was mach ich nur mit dir?« »Du wirst mir gleich gratulieren«, sagte McCain. »Ich hab da nämlich eine Idee. Stichwort President McCallum. Sollen wir nicht zu ihm gehen? Vielleicht kann er die Sache beschleunigen.« »Wieso meinst du, dass der überhaupt mit uns reden wird?« »Nun ja, das wissen wir erst, wenn wir's versucht haben.« Dieser Versuch nahm volle fünfundvierzig Minuten in Anspruch, in denen sie ständig ihre Dienstmarken zücken mussten und von einer Sicherheitskontrolle zur nächsten geschickt wurden. Schließlich brachte man sie zu einer Reihe von Pent-house-Büros. President McCallum hatte nicht nur eine Sekretärin, er hatte einen ganzen Stab von Mitarbeitern. Dorothy zählte mindestens fünfzehn Arbeitsplätze, die größtenteils von jungen Leuten im Collegealter besetzt waren. Vermutlich studentische Hilfskräfte. McCain war überrascht, als er das Büro des Präsidenten sah. Es war viel kleiner, als er erwartet hatte. Trotzdem hatte es alles, was dazugehört: glänzende, holzvertäfelte Wände, eine gut bestückte Bar, nach Maß gefertigte Bücherregale und einen blank polierten Schreibtisch aus Rosenholz. McCallum hatte sogar einen eigenen Weihnachtsbaum, der in sattem Grün vor einem Eckfenster aufragte. Der Blick dahinter war wie eine Ansichtskarte vom Neuengland-Winter. McCallum war ein kräftiger Mann mit weißen Haaren, und sein Gesicht war stärker gerötet als das eines Schiffskapitäns. Er hatte eine von geplatzten Adern durchzogene Knollennase und wässrige blaue Augen. Sein schlaffes Gesicht und der verknitterte Anzug deuteten darauf hin, dass er in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht viel Schlaf bekommen hatte. 144 Willkommen im Club, dachte McCain. Er und Dorothy saßen dem Mann gegenüber, dazwischen der schicke Schreibtisch. Im Zimmer war es glühend heiß. Dorothy schwitzte, weil sie ihren Mantel noch anhatte. Sie zog ihn aus, und McCallum deutete auf einen Garderobenständer aus Hartholz, an dem ein schwarzer Kaschmirmantel hing. »Wie geht es Ihnen, Detectives?« »Mir geht es gut, Sir«, antwortete McCain. »Tja, mir nicht«, sagte McCallum. »Es war ein furchtbarer Tag, und ich fürchte, ich bin ein bisschen daneben. Machen Sie es sich bequem. Ich darf wohl von mir behaupten, dass ich eher auf einer Wellenlänge mit der arbeitenden Bevölkerung bin als mit den akademischen Eliten. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen. Mein Vater war Dockarbeiter, und meine
Mutter hat in der Fabrik geschuftet. Ich bin selbst aufs Boston Ferris gegangen.« »Ein Junge aus einfachen Verhältnissen, der es zu was gebracht hat«, sagte McCain. McCallum bekam den sarkastischen Unterton in seiner Stimme entweder nicht mit oder zog es vor, ihn zu ignorieren. »Ich nenne es, der Gemeinschaft, die an mich geglaubt hat, etwas zurückzugeben.« »Wie schön für Sie, Sir«, sagte McCain. Dorothy trat ihm gegen das Schienbein. »Was können Sie mir über den Stand der Ermittlungen sagen?«, fragte McCallum. »Haben Sie dieses Schwein verhaftet?« »Was für ein Schwein?«, fragte McCain. »Sie wissen das genauso gut wie ich. Der Junge ist ein Verbrecher. Er verdient es, für das, was er getan hat, hinter Gitter zu kommen.« »Von wem reden Sie?«, erwiderte McCain. »Wir versuchen nicht ... abzublocken«, sagte Dorothy. 145 »Wir wollen nur wissen, ob wir alle den gleichen Informationsstand haben.« »Vielleicht wissen Sie ja etwas, was wir nicht wissen«, fügte Micky hinzu. McCallums Blick wurde hart. Er faltete die Hände, legte sie auf die glänzende Schreibtischplatte und beugte sich vor. »Das College trauert um einen schrecklichen Verlust. Man kann sogar sagen, dass sich die ganze Stadt in einer Krise befindet. Haben Sie die Morgenausgaben der Zeitungen gelesen?« »Da hab ich Ihnen sogar was voraus«, sagte McCain. »Ich hab letzte Nacht mit den Lokalreportern gesprochen.« »Dann ist Ihnen ja wohl klar, was für ein Chaos ich am Hals habe. Ich habe am Vormittag ständig mit Ellen Van Beest telefoniert, und zwischendurch musste ich mich auch noch am Telefon mit dem Polizeichef, dem Bürgermeister und dem Gouverneur auseinander setzen. Soweit ich das verstanden habe, plant man, eine Sondersitzung des Parlaments zum Thema Sport und Gewalt einzuberufen. Das ist besonders ärgerlich, weil das alles Unsinn ist!« »Gewalt ist kein Problem, sondern Unsinn?«, fragte Dorothy. »Natürlich nicht. Aber dieses ganze Gerede, Sport hätte mit Aggression zu tun, der Unsinn, dass die Nachtclubs ein Schlachtfeld wären, das ist alles völlig übertrieben! Es geschieht eine Tragödie, und die Medien bauschen sofort alles über die Maßen auf. Dann fangen die Offiziellen an zu zittern, weil sie befürchten, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr nach Boston schicken. Und das alles wegen eines extrem seltenen Zwischenfalls.« »Wirklich so selten?«, fragte McCain. »Wann haben Sie das letzte Mal gehört, dass ein Sportler in einem Club erschossen wurde?« 145
»Die Messerattacke auf Paul Pierce zählt also nicht?« »Das ist fünf Jahre her«, sagte McCallum. »Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, ist er vollkommen genesen. Der Mann ist ein Star, verdammt noch mal. Wir wollen uns doch nicht mit Nachrichten von gestern verrückt machen.« Seine Kiefermuskeln spannten sich an. »Ich habe einen sehr engen Terminplan. Kann ich etwas Spezielles für Sie tun?« »Das können Sie ...« Dorothy reichte McCallum die Formulare in dreifacher Ausfertigung, die sie von Violet Smaltz erhalten hatten. »Wir brauchen die medizinischen Unterlagen von Julius Van Beest und möchten Sie bitten, die Sache zu beschleunigen.« »Was ist das?«, fragte McCallum. »Bürokratismus«, erwiderte McCain. »Von Ihrem Gesundheitsdienst.« McCallum überflog die Formulare und verzog das Gesicht. »Wozu brauchen Sie Julius' medizinische Unterlagen?« »Nur um gründlich zu sein«, antwortete Dorothy. »Wer will die Unterlagen sehen?«, fragte McCallum. »Der Gerichtsmediziner.« »Zu welchem Zweck?« »Um gründlich zu sein«, wiederholte Dorothy. McCallum schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich nicht zuständig, Detective. Der Gerichtsmediziner soll die Unterlagen offiziell beantragen. Das ist die übliche Vorgehensweise.« »Ja, das wissen wir«, sagte McCain. »Aber da es sich hier um die Ermittlung in einem Mordfall handelt, den alle so schnell wie möglich geklärt wissen wollen, haben wir gedacht, Sie könnten uns vielleicht helfen.« Dorothy sagte: »Sie wissen doch, wie das ist, Sir. Die Zeitungen sind gierig nach Informationen, und wir würden denen doch gerne sagen, dass das Boston Ferris unsere Ermittlungen in jeder Hinsicht voll und ganz unterstützt.« 146 »Das tun wir doch auch«, entgegnete McCallum. »Reichen Sie die üblichen Formulare ein, und dann bekommen Sie die Unterlagen.« Die beiden Detectives rührten sich nicht. McCallum seufzte unwillig. »Also gut. Ich werde einen Anruf machen.« Er klopfte auf die Formulare. »Auch wenn das nicht der korrekten Vorgehensweise entspricht.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Dorothy. »Wir wissen das wirklich zu schätzen.« »Es ist in jedermanns Interesse«, fügte McCain hinzu. »Ja, ja.« McCallum griff zum Telefon. »Sie ahnen gar nicht, was ich Ihnen da für einen Gefallen tue. Abgesehen von all den anderen Sorgen, die ich zurzeit habe, muss ich mich nun auch noch mit Violet Smaltz auseinander setzen!«
12 »Auf einer Wellenlänge mit der arbeitenden Bevölkerung!«, knurrte McCain, als er den Wagen anließ. »Was für ein Arschloch!« Dorothy hielt einen braunen Umschlag hoch. Er enthielt die letzte Röntgenaufnahme, die von Julius Van Beest für das Boston Ferris gemacht worden war. »Er hat uns immerhin besorgt, was wir haben wollten.« »Weißt du, wenn man schon ein Snob ist, sollte man auch ehrlich sein und dazu stehen.« Er drehte das Gebläse der Heizung voll auf. »Dann wüssten wir alle, woran wir sind.« »Das ist Boston. Du solltest dich mittlerweile daran gewöhnt haben«, sagte Dorothy. »Erst waren es die alteingesessenen Familien. Jetzt sind es die Universitäten. Wir sind Diener und Beschützer im Land der blasierten Eierköpfe.« McCains Handy klingelte. Er fischte es aus der Tasche und 147 ließ den Deckel aufspringen. »McCain ... Das ist ja wunderbar, Mrs Mathers, ganz toll. Ich würde gerne ... Ja ... ja ... ja ... Ich verstehe, Mrs Mathers, aber sie ist eine wichtige Zeugin ... Ja ... Ja, ich verstehe. Können wir nicht vielleicht vorbeikommen und ein paar Minuten mit Ihnen reden? Ich verspreche Ihnen, wir sind ganz diskret... Hallo?« Er atmete heftig aus. »Sie hat aufgelegt.« »Wer?« »Rayella Mathers. Ihre Tochter Spring hält sich lebendig und unversehrt an einem geheimen Ort auf, Zitat Ende, um ihre Nerven zu beruhigen.« »Sie hat offenbar Angst.« »Wer hätte auch keine Angst vor diesem Rowdy?« »Von welchem Rowdy reden wir denn jetzt?«, alberte Dorothy. McCain lächelte und dachte einen Augenblick nach. »Ich brauche deine Hilfe bei den Mathers. Du musst die Frau überreden, uns zu sagen, wo Spring ist.« »Ich soll also mit ihr von schwarzer Frau zu schwarzer Frau sprechen.« »Von starker, tapferer schwarzer Mutter zur anderen. Was hältst du davon, wenn wir die Röntgenaufnahme von Julius im Leichenschauhaus abgeben und später mit dem Doc reden? Wir müssen Spring finden, bevor Pappy es tut.« »So blöd wird er doch nicht sein«, sagte Dorothy. »Ach egal. So machen wir's.« Es kostete Dorothy nicht allzu viel Überzeugungskraft, bis Rayella Mathers bereit war, ihnen den »geheimen« Aufenthaltsort ihrer Tochter zu nennen. Es handelte sich um die Wohnung einer entfernten Cousine in Roxbury, in einem ebenfalls von mehreren Mietern bewohnten Haus. Doch es kostete Dorothy sehr viel Überzeugungskraft, bis 147 Rayella versprach, ihre Tochter nicht vorzuwarnen, dass die Polizei auf dem Weg zu ihr war. Sie wollten verhindern, dass das Mädchen abhaute.
Während der Fahrt überlegten sich die Detectives, wie sie vorgehen sollten. Sie waren sich verdammt sicher, dass Spring die Tür nicht freiwillig öffnen würde, und sie hatten keine Befugnis, sie dazu zu zwingen. Nach einigem Hin und her beschlossen sie, dass Dorothy sich außer Sichtweite des Spions hinstellen und versuchen sollte, Rayella so gut wie möglich nachzumachen. Spring Mathers öffnete die Tür, sah fremde Gesichter und wich zurück. Beinahe wäre es ihr gelungen, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch McCain war schneller. »Nur ein paar Minuten, Spring.« Er drängte sich in die Wohnung und zeigte ihr seine Dienstmarke. »Ich schwöre, wir sind hier, um Ihnen das Leben leichter zu machen.« »Dann verpisst euch, ihr Arschlöcher! Raus hier! Raus!« Sie war laut, aber Dorothy war lauter. »Wenn wir dich gefunden haben, Mädchen, meinst du, dann wäre es für Pappy sehr schwer, das ebenfalls zu tun? Jetzt beruhige dich und danke Jesus, dass wir vor ihm hierher gekommen sind!« Die Worte kamen in Springs verängstigtem Gehirn an. Sie trat zwei Schritte zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Kein Wunder, dass Julius ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie sah umwerfend aus. Zarte, mokkafarbene Haut, große runde Augen, üppige rote Lippen, wunderbar geformte Wangenknochen. Schlank, aber viel Busen, lange, makellose Beine und ein perfekter Hintern. Selbst als sie noch schlank war, hatte Dorothy nie so eine Figur gehabt. »Was wollen Sie?« Springs Stimme war jetzt nur noch ein heiseres Flüstern. »Wir wollen Pappy Delveccio hinter Gitter bringen. Willst du das nicht auch?« 148 »Ich hab nicht gesehen, wie geschossen wurde.« Tränen strömten die glatten Wangen des Mädchens hinunter. »Das ist die Wahrheit, Lady. Ich hab nicht gesehen, wer die Schüsse abgefeuert hat, ich hab überhaupt niemanden schießen sehen.« Jetzt weinte sie. »Warum können Sie mich nicht in Ruhe lassen?« »Weil wir nicht wollen, dass das Schwein, das Julius erschossen hat, ungeschoren davonkommt«, sagte McCain. »Was glaubst du denn, hinter wem er her ist, wenn er frei rumläuft?«, fragte Dorothy. »Nicht, wenn ich nichts sage!«, entgegnete Spring. »Und es gibt nichts zu sagen, weil ich nichts gesehen hab. Ich hab's bloß gehört. Peng, peng, peng, Sie wissen schon. Das ist alles. Ich hatte viel zu viel Angst, um mich umzuschauen und zu sehen, wer schießt.« McCain nahm sein Notizbuch heraus. »Wo haben Sie gesessen?« »Neben Julius. Er wollte sich an mich ranmachen, baggerte mich die ganze Zeit an. Ich wusste, was kommen würde.« Sie zuckte mit den Schultern. »War ganz okay.« »Du machst das gut, Spring«, sagte Dorothy. »Und wo saß Julius?«
Spring betrachtete sie verächtlich. »Am Tisch.« »Wo am Tisch?« »Wie meinen Sie das?« »Die Tische standen am Geländer, richtig?«, sagte McCain. Spring nickte. Dorothy fragte: »Konnte er über das Geländer gucken, oder saß er mit dem Rücken zum Geländer?« Spring kniff die Augen zusammen und versuchte, sich die Szene zu vergegenwärtigen. »Er saß ... er guckte über das Geländer ... er guckte zur Tür, weil er sehen wollte, wer rein2-45 kam. Dann sagte er ... er sagte: >Oh, Pappy ist wieder da.< Und stand auf. In dem Moment ging die Knallerei los.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Ich hab mich auf den Boden geworfen, mich ganz klein zusammengerollt und angefangen, zu Jesus zu beten.« Sie ließ die Hände sinken und schüttelte den Kopf. »Als es vorbei war, lag Julius quer über dem Tisch und blutete fürchterlich.« Sie blickte Dorothy starr an. »Ich hab Pappy gar nicht gesehen, und deshalb hab ich auch nicht gesehen, ob er 'ne Waffe rausholte.« Dorothy bemühte sich, das Gespräch in ruhigere Bahnen zu lenken. »Spring, als du aufgestanden bist, hast du gesehen, dass Julius quer über dem Tisch lag. Lag er auf dem Bauch oder auf dem Rücken?« »Ich glaube, er lag auf dem Bauch. Er ist mit einem lauten Aufprall gelandet. Ich weiß noch, dass ich gedacht hab, er würde durch den Tisch knallen und mich totquetschen.« »Er ist also ziemlich heftig aufgeschlagen«, sagte Dorothy. »Ja«, erwiderte Spring. »Aber ich hab nicht gesehen, wie ihn jemand erschossen hat.« McCain sagte: »Wenn Sie nicht gesehen haben, wie Pappy geschossen hat, dann haben Sie es halt nicht gesehen. Sie müssen nichts weiter tun, Spring, als uns erzählen, was Sie Julius sagen gehört haben und was Sie gesehen haben.« »Ich werd gar nichts sagen. Ich hab wahnsinnige Angst vor diesem Schwein!« »Wir können Sie beschützen -« »Das ist Blödsinn! Die Polizei beschützt niemanden, und schon gar nicht eine schwarze Frau.« Spring sah Dorothy an. »Und dass Sie hier sind, ändert auch nichts daran.« »Dann werden wir Ihnen eine Vorladung schicken müssen, Spring«, sagte McCain. »Dazu müssen Sie mich erst mal finden. Nächstes Mal mach ich's Ihnen nicht so leicht.« 149 »Wir sollten sie verhaften«, sagte McCain. »Aufgrund von was?« Dorothy nahm ihr Handy heraus.
»Wichtige Zeugin in einem Mordfall, außerdem besteht Fluchtgefahr. Und sie hat Polizisten angebrüllt.« »Sie hat nichts Wesentliches gesehen«, sagte Dorothy. »Sobald wir Pappy hinter Schloss und Riegel haben, wird sie sich beruhigen. Kannst du das Auto starten und die Heizung andrehen? Ich friere. Gott, das muss der kälteste Dezember seit Menschengedenken sein.« »Das sagst du jedes Jahr.« »Lass doch bitte den Wagen an.« McCain tat ihr den Gefallen und drehte die Heizung voll auf, während Dorothy ihre Anrufe checkte. »Irgendwas Wichtiges?« »Captain O'Toole möchte uns sprechen.« »Das ist nicht gut.« »Vermutlich nicht.« »Er hat nicht gesagt, warum?« »War seine Sekretärin, und die hat gesagt, wir beide sollen um zwei vorbeikommen.« »Das gefällt mir gar nicht.« »Pscht...« Dorothy lauschte konzentriert ihrer Voicemail. Dann drückte sie die Beenden-Taste und ließ den Deckel des Telefons zuschnappen. »Dr. Change hat angerufen. Auf dem Röntgenbild ist kein Aneurysma zu erkennen.« »Soll das ein Witz sein?« »Kein Witz.« »Nun, das ist eine gute Nachricht, oder?«, sagte McCain. »Er ist trotzdem sicher, dass Julius wegen eines Aneurysmas gestorben ist.« »Wie kann das sein?« »Könnte so sein, wie Change gesagt hat - dass es auf dem Röntgenbild von einem Knochen verdeckt wurde.« 150 »Oder Julius ist an einer Schussverletzung gestorben, die Change übersehen hat.« »Behalt das für dich, wenn wir mit ihm reden, Micky.« Dorothy sah auf ihre Uhr. 1:15. »Vor zwei Uhr schaffen wir es nicht zur Gerichtsmedizin und zurück. Ich werde Change sagen, dass wir zwischen halb vier und vier bei ihm sind.« »Klingt gut.« »Vielleicht sollten wir die Zeit nutzen und eine Kleinigkeit zu Mittag essen«, sagte Dorothy. »Mittagessen.« McCain lachte. »Das ist ja eine völlig neuartige Idee.« 13 »Vier klingt gut«, erklärte Change Dorothy am Telefon. »Falls ich mich etwas verspäte, warten Sie bitte auf mich.« »Kein Problem, Doc. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« »Wenn sie das Aneurysma betreffen, ich bin zurzeit nicht im Leichenschauhaus.« »Nur Ihre Eindrücke.«
»Ich weiß, was Sie fragen wollen. Auf den ersten Blick habe ich keinen radiographischen Hinweis auf ein Aneurysma entdecken können. Das heißt aber nicht, dass es nicht da war. Ich halte das immer noch für die wahrscheinlichste Todesursache.« »Okay, nehmen wir also an, dass das Aneurysma da war.« Dorothy wechselte ihr Handy von einem Ohr aufs andere. »Können wir dann davon ausgehen, dass es klein war?« »Vielleicht.« »Und wenn es klein war - eine kleine Ausbeulung, die noch nicht mal auf dem Röntgenbild zu erkennen war - und 151 wenn Julius heftig auf den Tisch geknallt ist, könnten wir dann annehmen, dass so ein Aufprall ein winziges Aneurysma zum Platzen gebracht haben könnte ... rein theoretisch?« »Warum verschieben wir dieses Gespräch nicht, bis wir uns im Leichenschauhaus treffen?« »Beantworten Sie mir noch die eine Frage. Wäre es möglich, dass sein Sturz das Aneurysma zum Reißen gebracht hat?« »Alles ist möglich«, sagte Change. »Aber vor Gericht brauchen Sie stärkere Beweise als das.« Kurzes Zögern. »Das ist jedenfalls meine Meinung.« »Danke.« Dorothy legte auf und sah McCain an. »Mir ist nach koscherem Pastrami - dieses rumänische Zeug. Wir sind zwei Blocks von Rubin's entfernt. Ist dir das recht?« »Klar«, erwiderte McCain. »Was hat Change gesagt?« »Kann durch den Sturz ausgelöst worden sein oder auch nicht. Nicht überzeugend genug, um damit vor Gericht zu gehen - seiner Meinung nach.« »Meinungen sind wie Arschlöcher«, sagte McCain. »Jeder hat eine.« Captain O'Toole schloss die Tür zum Vernehmungsraum, einem fensterlosen, stickigen Zimmer, in dem kaum genügend Platz für den üblichen Tisch und einige Stühle war. Der Fußboden war ein Mosaik aus nicht zusammenpassenden grünen Granitfliesen, und die einst sonnengelben Wände hatten nun die Farbe von blassem Senf. Der Captain zog mit dem Fuß einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich rittlings darauf, den Bauch gegen die Streben gedrückt. Er war rot im Gesicht, und seine Stirn war voller Schweißperlen. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich kräftig übers Gesicht. 151 Mit ihm im Raum war Harriet Gallway, die seit zehn Jahren bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Sie war äußerst zierlich und so klein, dass die Leute sie nur aufgrund ihrer flammend roten Haare wahrnahmen, die ihr über die Schultern und weit den Rücken hinunterfielen. Sie trug einen jägergrünen Hosenanzug und flache schwarze Schuhe. Ihre grünen Augen funkelten, wenn sie lächelte. Doch jetzt lächelte sie nicht. »Warm hier drin«, murmelte sie.
»Besonders gut riechen tut's auch nicht«, fügte O'Toole hinzu. »Setzen Sie sich doch alle hin.« Dorothy und McCain tauschten einen Blick und setzten sich. O'Toole nickte Harriet zu. »Ladys first.« Harriet räusperte sich. »Mein Chef hat mir erzählt, dass Delveccios Anwalt die Geschichte verbreitet, Julius wäre an einer natürlichen Ursache gestorben.« »Nicht so ganz«, erwiderte McCain. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte O'Toole. »Was meinen Sie mit >nicht so ganz« »Das versuchen wir herauszufinden, Sir.« »Wer ist wir?«, fragte Harriet. »Wir beide mit Dr. Change«, sagte Dorothy. »John Change. Er glaubt, dass Julius wegen eines Aneurysmas gestorben ist und nicht an einer Schussverletzung.« »Er glaubt}«, sagte O'Toole. McCain murmelte: »Er glaubt, deshalb versaut er uns alles.« »Zu diesem Schluss ist er zumindest bisher gekommen«, erklärte Dorothy. »Ach du liebe Zeit«, sagte Harriet. »Ganz so schlimm ist es nicht«, erwiderte Dorothy. »Das Aneurysma könnte durch die Schüsse von Delveccio zum 152 Platzen gebracht worden sein. Denn als Julius getroffen wurde, schlug er mit dem Oberkörper auf einem Tisch auf.« »Der Druck, den dieser Aufprall auf seinen Brustkorb ausgeübt hat, könnte durchaus das Aneurysma aufgerissen haben«, erklärte McCain. »Das heißt, die Schüsse lösten eine Kette von Ereignissen aus, die zum Tod von Julius Van Beest führten«, sagte Har-riet. »Da könnten wir immer noch auf vorsätzlichen Mord plädieren.« »Ist es denn tatsächlich so passiert?«, fragte O'Toole. »Er ist durch einen Sturz ums Leben gekommen? Das hat Change gesagt?« »Der Sturz hat das Aneurysma nicht verursacht - wenn überhaupt ein Aneurysma da war. Aber er könnte das Aneurysma zum Reißen gebracht haben«, erklärte Dorothy. »Was soll das heißen, wenn überhaupt ein Aneurysma da war?« »Bisher hat es sich auf dem Röntgenbild nicht nachweisen lassen«, antwortete Dorothy. »Das fängt aber allmählich an, gen Himmel zu stinken«, sagte O'Toole. Harriet spielte an ihren Haaren herum. »Es ist also möglich, dass er gar kein Aneurysma hatte?« »Change sagt, dass er auf dem ihm zur Verfügung stehenden Röntgenbild bisher keinen Nachweis dafür findet«, erwiderte McCain. »Wie ist er denn dann zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Julius wegen eines Aneurysmas gestorben ist?«
»Er hat bei der Autopsie einen Arterienriss entdeckt, und in der Brusthöhle war sehr viel Blut«, sagte Dorothy. »Ich schätze Change sehr, trotzdem frag ich mich, ob er nicht vielleicht eine Schussverletzung übersehen hat.« »Sie meinen, Change hat Mist gebaut?«, fragte O'Toole. 153 »Niemand ist perfekt«, murmelte McCain. Als sie sah, dass der Captain immer röter im Gesicht wurde, sagte Dorothy: »Wir treffen uns in einer Stunde mit ihm. Dann gehen wir alles ausführlich durch.« »Sagen Sie Ihr Treffen ab«, blaffte O'Toole. »Wir müssen uns um wichtigere Dinge kümmern. Wir haben nämlich in dem Haufen von konfiszierten Schusswaffen die Waffe gefunden, mit der Julius erschossen wurde. Und auf dem verdammten Ding war tatsächlich ein Teilabdruck von Delveccios rechtem Daumen.« Dorothy und McCain lächelten. »Lassen Sie ihn festnehmen?«, fragte sie. »Er sitzt bereits in einer Aufnahmezelle. Die schlechte Nachricht ist, dass unsere Zeugen, die gesagt haben, sie hätten Pappy eine Waffe ziehen sehen, ihre Aussage widerrufen haben. Aber aufgrund des Abdrucks wissen wir nun, dass das Arschloch die Waffe irgendwann angefasst haben muss. Und wir wissen, dass Julius mit genau dieser Waffe erschossen wurde.« »Ich glaube, eine Jury kann zwei und zwei zusammenzählen«, sagte Dorothy. »Aber wenn ich auf vorsätzlichen Mord plädieren will«, erwiderte Harriet, »muss ich sicher sein, dass Julius von dem Angeklagten mit dieser Waffe gezielt und in voller Absicht getötet wurde. Jetzt erzählen Sie mir, dass wir das gar nicht wissen.« O'Toole starrte die Detectives wütend an. »Das ist eine Frage für Change«, erklärte McCain. »Doch bis dahin -« »Die Sache ist doch die«, sagte Harriet, »wenn wir auf versuchten statt auf vorsätzlichen Mord plädieren, dann weiß der Anwalt, dass wir nicht beweisen können, dass Julius durch die Schüsse aus Pappys Waffe getötet wurde. Das 153 gibt ihm Zündstoff, selbst gegen diesen Anklagepunkt anzugehen.« »Und was sollen wir nun tun?«, fragte Dorothy. »Sie sollen versuchen, ihm klar zu machen, dass die Anklage doch auf vorsätzlichen Mord lauten könnte«, sagte die Staatsanwältin. »Dann können wir uns vermutlich auf versuchten Mord einigen. Andernfalls wird er am Ende nur wegen einer Geringfügigkeit schuldig gesprochen.« »Das ist doch lächerlich!«, sagte McCain. »Er hat auf Julius gezielt, er hat die verdammte Waffe angefasst, und die Kugeln haben ihr Ziel getroffen.« »Aber nicht unbedingt tödlich, Detective. Und wenn wir niemanden finden, der gesehen hat, wie Pappy die Waffe abgefeuert hat, haben wir
eine Lücke in der Beweiskette. Außerdem kann Pappy sehr charmant sein, wenn er will«, sagte Harriet. »Da brauchen bloß ein paar Basketballfans in der Jury zu sitzen, vielleicht ein oder zwei Mädels, die ihn anhimmeln, und wir hätten Probleme.« Schweigen breitete sich im Zimmer aus. McCain sprach als Erster. »Wie wär's mit Folgendem? Das Aneurysma lässt sich auf dem Röntgenbild nicht eindeutig nachweisen. Also weiß ich im Augenblick nicht, wodurch Julius getötet wurde. Das heißt, ich kann Delveccio erzählen, es war seine Kugel.« Er zuckte mit den Achseln. »Verdammt noch mal, selbst der Oberste Gerichtshof erlaubt mir doch, jemanden zu täuschen, oder etwa nicht? Ich geh jetzt da rein und knöpf ihn mir vor.« »Er hat bereits nach seinem Anwalt verlangt«, sagte Harriet. »Schon als er das erste Mal festgenommen wurde.« »Ich hab ihn heute nicht nach seinem Anwalt verlangen hören.« »Das ist irrelevant«, erwiderte Harriet. »Wenn er einmal verlangt hat -« 154 »Es sei denn, er beschließt freiwillig, mit mir zu reden«, sagte McCain. »So von Mann zu Mann.« »Warum zum Teufel sollte er das tun?«, fragte O'Toole. McCain lächelte. »Wissen Sie, Captain, wenn ich will, kann ich auch charmant sein.« Durch den Spionspiegel betrachtete McCain Patrick Luther Delveccio, eine riesige, breitschultrige Gestalt, knapp dem Teenageralter entwachsen. Ein verwöhntes Kind in einem überdimensionalen Körper, und das machte ihn so bedrohlich. Er war leger gekleidet in Jeans und Sweatshirt. Seine Füße steckten in extravaganten blauen Turnschuhen, die ungefähr Größe fünfundfünfzig haben mussten. Der Mund des Jungen war verdrießlich verzogen, doch sein Körper war ständig in Bewegung. Die Hände trommelten auf die Tischplatte, die Füße klopften auf den Boden, und der Kopf nickte nach einem inneren Beat. Trotz allem wirkte er entspannt, so als ob der Aufenthalt im Knast, der ihm drohte, kaum etwas anderes sei als ein Urlaub im Ferienlager. McCain leckte sich die Lippen und betrat den Vernehmungsraum. »Hey, Pappy.« Delveccio starrte ihn wütend an. »Ich red nicht mit Ihnen. « »Warum nicht? Bin ich so hässlich?« »Yeah, Sie sind so hässlich. Aber ich red nicht mit Ihnen, weil ich nicht mit Bullen red.« »Früher oder später wirst du mit uns reden müssen. Ich dachte nur, bloß du und ich - du weißt schon, so ein kleines Spielchen Mann gegen Mann , das würde die Sache einfacher machen.« Delveccio lachte. »Fick dich doch selbst.« McCain hob tadelnd einen Finger. »Yeah, daran wirst du denken, wenn die Spritze in deine Ader eindringt.« 154
Delveccio grinste höhnisch. »Gibt keine Todesstrafe in Massachusetts. Und die werden mir nur groben Unfug oder so 'n Scheiß anhängen.« »Wer hat dir das gesagt?« »Alle.« »Nun ja«, erwiderte McCain, während er sich augenzwinkernd auf einen Stuhl setzte, »mit der Spritze hast du schon Recht, aber vielleicht würdest du dich nach fünfzig Jahren Gefängnis nach der Spritze sehnen. Verstehst du, was ich meine?« Delveccio lachte. »Sie reden nur Scheiße.« »Und du steckst bis zum Hals darin, mein Junge. Denn heute ist ein neuer Tag, und rate mal, was passiert ist, Pappy? Wir haben die Waffe. Eine hübsche ballistische Übereinstimmung mit den Kugeln, die in Julius stecken, und ein wunderschöner Fingerabdruck von dir. Jetzt ist es vorsätzlicher Mord, Pappy. Wir übergeben dich dem Staatsanwalt, mit allen Dokumenten und Formalitäten.« Delveccio schürzte die Lippen, sagte aber nichts. McCain beschloss, ihn schmoren zu lassen. Schließlich: »Julius ist an keiner Schussverletzung gestorben. Sie haben nichts gegen mich in der Hand.« »Das hat man dir gesagt?« McCain schüttelte den Kopf. »Jeder erzählt einem irgendwelches Zeug, und dann ist wieder alles anders.« Nun war es an ihm zu lachen. Delveccio versuchte, cool zu bleiben, doch seine jugendliche Impulsivität gewann die Oberhand. »Was ist denn so verdammt komisch?« »Nichts«, sagte McCain. »Ich kann dein Verhalten verstehen, Pappy. Die meisten Sportler kommen sehr gut vor Gericht weg. Die ganzen Mädchen, die einen anhimmeln.« Er hielt inne. »Andererseits haben aber die meisten Sportler auch nicht ihre Fingerabdrücke auf einer abgefeuerten Waf 2.155 fe hinterlassen. Und die meisten Sportler bringen keine anderen Sportler um. Leute wie Julius. Die vielleicht besser sind als du.« »Das ist egal, weil er nicht durch eine Kugel gestorben ist.« »Das redest du dir jetzt immer wieder ein, Pappy. Vielleicht kannst du ja irgendwann jemanden davon überzeugen.« McCain stand auf. »War nett, mit dir zu plaudern. Viel Glück mit deinem Anwalt.« Er steuerte auf die Tür zu. »Hey!«, rief Pappy. McCain drehte sich um, sagte aber nichts. »Sie lügen«, sagte Pappy. McCain drehte sich wieder in Richtung Tür. »Was erzählen Sie da?«, rief Pappy. »Was wissen Sie über all diesen Scheiß?« »Tut mir Leid«, erwiderte McCain. »Ohne deinen Anwalt kann ich dir nichts sagen.«
»Scheiß auf meinen Anwalt. Was wissen Sie?« McCain steckte eine Hand in die Tasche. »Warum sollte ich dir was erzählen, wenn du mir nichts erzählst?« »Weil ...« Delveccio verzog den Mund. »Weil Sie mich reinlegen wollen. Ich spiele keine abgekarteten Spiele. Yeah, ich werd auf meinen Anwalt warten.« »Gute Entscheidung«, sagte McCain. »Ich hoffe nur für dich, dass er keiner von den Typen ist, die versuchen, mit deinem Fall Karriere zu machen.« Er ging auf den Ausgang zu. Hatte bereits eine Hand auf der Klinke, als Delveccio sagte: »Vielleicht hab ich was für Sie. Ich hab nämlich nichts getan. Und das ist die Wahrheit.« McCain wandte dem Jungen weiterhin den Rücken zu. »Haben Sie mich gehört?«, fragte Pappy. McCain drehte sich wieder um und sah Pappy an. Sah, wie seine Augenlider flatterten. Der Junge leckte sich die Lippen, dann fuhr er mit der Zunge über sein Kinnbärtchen. 156 »Was ist?« »Setzen Sie sich«, sagte der junge Mann. Er kommandierte McCain herum, als wäre er das gewohnt. »Ich mag nicht, wenn ich zu Ihnen raufgucken muss.« McCain setzte sich. »Machen wir 'nen Deal«, sagte Delveccio. »Ich sag nichts über das, was im Club passiert ist. Ich bin ja nicht blöd.« Er beugte sich über den Tisch. Weit über den Tisch. McCain wollte instinktiv zurückweichen, rührte sich jedoch nicht. Wartete ab. »Was ich jetzt sag, hat nichts mit Julius zu tun«, erklärte der Junge. »Es geht um was anderes.« »Ich höre.« McCain versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. Das war nicht einfach, da diese riesige, finster blickende Visage nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. »Was ist denn für mich drin?«, fragte Delveccio. »Das kann ich dir nicht sagen, solange ich nicht weiß, worum es geht, Pappy.« »Mann, Sie wollen mich reinlegen.« »Wir wär's, wenn du mir 'nen Tipp gibst, Pappy?« Delveccio lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich könnte eine Idee haben, wo sich eine gewisse Person versteckt, die ihr sucht.« »Ach ja?« McCains Stimme klang gelassen, doch seine Gedanken rasten. »Nicht dass ich es ganz sicher weiß«, sagte Delveccio, »aber ich hör so dies und das.« »Erzähl's mir.« »Ich komm nicht in den Knast, okay?« »Das ist unmöglich, Pappy.«
»Nun ja ... dann sitz ich die minimale Strafe ab. Sechs Monate für gefährlichen Umgang mit 'ner Waffe oder was 157 auch immer. Haft im Stadtgefängnis, das halt ich aus. Da war ich mit vierzehn schon mal.« »Ach ja?« »Yeah.« Pappy grinste. »Hab mich mit 'n paar Typen 'n bisschen geprügelt. Lange her. Die Eintragungen im Jugendstrafregister sind alle gelöscht.« »So sollte es auch sein«, erwiderte McCain. »Drei Monate«, sagte Pappy. »Dann bin ich rechtzeitig für die nächste Saison wieder draußen.« »Der Junge ist tot, Pappy. Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Aber ich sage nicht, dass wir nicht irgendwas arrangieren können, wenn ich eine gute Information von dir kriege.« »Glauben Sie mir, die ist gut.« »Hör zu, Pappy. Ich werd mein Möglichstes tun. Also, worum geht's?« Delveccio grinste. »Ihr sucht doch wen, stimmt's?« Er machte KussGeräusche. »Mr Loverboy. Und mehr sag ich nicht, bis Sie mir 'nen Deal anbieten.« McCain starrte ihn an. Ihr sucht doch wen. Loverboy. Der Dreckskerl redete von ihrem flüchtigen mehrfachen Mörder, den sie dringend für Perciville, Tennessee, suchten. Der Dreckskerl redete von Romeo Fritt. 14 Um halb neun waren sowohl Pappy als auch Loverboy sicher hinter Gittern. Morgen würde Romeo Fritt nach Tennessee zurückgeschickt werden, wo ihn möglicherweise die Nadel erwartete. Und Delveccio würde einen Bus zum Gefängnis besteigen. 157 Als sie von dem Gespräch mit McCain erfuhren, hatten Pappys Anwälte getobt und gedroht, dann jedoch erkannt, dass ihr Junge einen guten Deal ausgehandelt hatte. Nach dreistündigem Feilschen mit Harriet lautete die Anklage auf unbeabsichtigten Totschlag. Da Pappys Jugendstrafe gelöscht war, galt er als Ersttäter. Nach zwei Saisons könnte er vielleicht schon wieder spielen. Dorothy und McCain waren nicht gerade begeistert von der Lösung. Doch Change hielt immer noch das Aneurysma für die Todesursache, daher wäre eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Mordes unmöglich gewesen. Selbst versuchter Mord wäre kaum haltbar gewesen. »Das ist eben Boston«, sagte McCain. »Ich finde, wir haben das gut gemacht.« Dorothy zog ihren Mantel fester um sich. Ein eisiger Wind wehte von der Bucht herüber. Der Himmel war dunkel und klar. Heute Abend schneite
es zwar nicht, doch es war sogar noch kälter. Ihr klapperten beim Sprechen die Zähne. »Ellen Van Beest wird das nicht richtig finden.« McCain wickelte sich seinen Schal um Hals, Mund und Nase. »Pappy wird trotzdem eine Gefängnisstrafe verbüßen, und wir haben einen sehr viel schlimmeren Mörder von der Straße.« »Ich kann dich nicht verstehen.« Er schob den Schal vom Mund und wiederholte seine Bemerkung. »Alles in allem ist das doch gar nicht so schlecht, oder?« »Yeah ... Wie wär's, wenn du mit Ellen telefonierst?« McCain schwieg einen Augenblick, während er den Auto-schlüssel aus der Tasche kramte. »Lass uns was essen gehen. Ich hab wahnsinnigen Hunger.« »Ich möchte nach Hause zu den Jungs.« »Gehen wir doch alle zusammen«, sagte McCain. »Ich lad 2-158 euch ein. Ich hätte Lust auf Hummer. Wie wär's mit dem Legal Sea Foods?« Da konnte Dorothy nicht widerstehen. »Ja, ich hab auch Hunger. Ich ruf die Jungs an, und wir treffen uns dort.« »Klingt gut.« McCain öffnete die Autotür. Bibbernd startete er den Motor und schaltete die Heizung an. Es dauerte mehrere Minuten, bis die Luft im Wageninneren halbwegs erträglich war. »Zuerst hab ich mich überhaupt nicht auf Weihnachten in Florida gefreut. Du weißt ja, wie ich über Florida denke. Doch bei dieser Kälte hier und nachdem ich die letzten zwei Tage nicht geschlafen hab, klingt Florida gar nicht mehr so schlecht.« »Nimm mich mit.« »Du bist herzlich eingeladen.« Dorothy fischte ihr Handy aus ihrer überdimensionalen Handtasche, blickte auf das Display und las die SMS-Nachricht. »Den Hummer kannst du vergessen. Change will uns sofort sehen.« McCain stöhnte. »Es ist doch vorbei.« »Offenbar nicht. Soll ich den obersten Leichenfledderer ignorieren?« »Ja«, sagte McCain. »Nein.« Er riss ihr das Telefon aus der Hand. »Ruf ihn zurück, aber erst nach dem Essen.« Im Labor im Untergeschoss herrschte tiefe Dunkelheit, bis Change die Neonbeleuchtung anschaltete. Die Lampen unter der Decke flackerten nacheinander auf, bis der Raum in gleißendes Licht getaucht war. Nachdem sich Dorothys Augen auf die Helligkeit eingestellt hatten, zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn auf den Kleiderständer. Dann überlegte sie es sich anders und zog ihn wieder an. Hier drinnen war es wie in einem Iglu. »Guten Abend, Detectives«, sagte Change. 158
»Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, Julius ist doch an einer Schussverletzung gestorben. Wir haben nämlich gerade die Mordanklage gegen Pappy fallen gelassen.« »Nein, er ist nicht an einer Schussverletzung gestorben.« Change schaltete das Licht eines Röntgenbetrachters an der Wand an und begann, einen Stapel großer brauner Umschläge durchzusehen. »Tut mir Leid, dass es so kalt ist. Es dauert aber auch bestimmt nicht lange.« »Warum hatte es dann nicht Zeit bis morgen früh?«, grummelte McCain. »Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren«, sagte Change. »Es könnte Ihre Pläne für morgen ändern.« »Dann zeigen Sie's uns doch morgen«, murmelte McCain. Dorothy stieß ihn in die Rippen. »Was gibt's, Doc?« »Ah, da ist es.« Change zog eine große Röntgenaufnahme aus einem Umschlag und befestigte sie auf der Glasfläche. »Ein Röntgenbild vom Brustkorb«, sagte McCain. »Genau.« »Haben Sie das Aneurysma gefunden?« »Nein, kein Aneurysma. Aber ich bin jetzt mehr denn je davon überzeugt, dass Julius an einem gestorben ist.« Change nahm sich einen Zeigestock. »Es hätte genau hier sein müssen. Sehen Sie diesen gräulichen Bereich, diesen Bogen? An dieser Stelle spaltet sich die Aorta in die Unterschlüsselbeinschlagader und die Halsschlagader.« »Ich seh bloß einen Haufen Rippen«, murrte McCain. »Dazu kommen wir gleich«, sagte Change. »Auf dieser Röntgenaufnahme ist anatomisch nichts Verdächtiges zu erkennen. Alles sieht normal aus ... Nein, lassen Sie mich das modifizieren. Im Bereich der Gefäße sieht alles normal aus.« Er wandte sich an McCain. »Sie haben gerade von den Rippen gesprochen. Schauen wir uns die doch mal etwas genauer an. Insgesamt zwölf Stück.« 159 »Sieht für mich nach viel mehr als zwölf aus«, sagte McCain. »Das liegt daran, dass Sie quasi ein Doppelbild sehen. Zehn Rippen sind fest miteinander verbunden. Sie kommen vom Rückgrat und beschreiben einen Bogen von hundertachtzig Grad zurück zum Brustbein, mit dem sie verwachsen sind.« Er griff erneut zum Zeigestock und verfolgte den Verlauf. »Da das Bild zweidimensional ist, sehen wir von derselben Rippe den vorderen und gleichzeitig auch den hinteren Teil.« »Verstanden«, sagte McCain. »Fahren Sie fort.« »Hier haben wir die so genannten freien oder falschen Rippen, diese dünnen hellen Streifen auf beiden Seiten des Rückgrats, die ins Leere zu gehen scheinen.« »Und das ist nicht normal?«, fragte Dorothy. »Doch, das ist ganz normal. Hören Sie zu.« Change fuhr wieder mit dem Zeigestock an den Rippen entlang. »Diese zwölfte Rippe ist leicht zu erkennen - da ist nichts im Weg. Die elfte Rippe auf diesem Röntgenbild ist etwas kürzer als in natura, was bedeutet, dass die Spitze teilweise vom
Brustkorb verdeckt wird, genauer gesagt vom Bogen der zehnten Rippe. Doch wenn Sie ganz genau auf die Stelle sehen, auf die ich zeige, was fällt Ihnen da auf?« Die Detectives starrten auf das Röntgenbild. »Sieht aus, als war sie gespalten«, sagte McCain. »Ja, ja«, sagte Dorothy. »Das seh ich auch.« »Sie sieht nicht nur so aus, sie ist gespalten«, erklärte Change. »Das nennt man eine überzählige Rippe, in diesem Fall handelt es sich um eine Gabelrippe, ein Phänomen, das bei einem Zwanzigjährigen etwas ungewöhnlich ist, aber durchaus vorkommen kann.« Er sah sie beide an. »Ich habe den Jungen obduziert. Ich habe ihn gründlichst studiert. Diese zusätzliche Rippe hat nicht nur nichts mit Julius' Tod 160 zu tun, sie hat überhaupt nichts mit Julius zu tun. Dieses Röntgenbild ist nicht von dem Körper, den ich obduziert habe. Der Leichnam, den ich obduziert habe, hatte keine -ich wiederhole - keine überzählige Rippe. Das hätte ich deutlich erkennen müssen, und es wäre mir aufgefallen.« Changes Augen glühten. Es war das erste Mal, dass die Detectives das erlebten. »Das ist also kein Röntgenbild von Julius«, sagte Dorothy. »Sie sind die Detectives«, erwiderte Change. »Vielleicht möchten Sie ja herausfinden, was hier gespielt wird.« Schweigen. Der Gerichtsmediziner klopfte mit dem Zeigestock auf das Röntgenbild. »Ich an Ihrer Stelle würde noch einmal zum Boston Ferris fahren und mir sämtliche medizinischen Unterlagen von Julius ansehen, nicht nur die vom letzten Jahr. Die Röntgenaufnahme, die uns das College gegeben hat, schien mir zunächst ausreichend, aber jetzt müssen wir uns alle ansehen. In welchem Studienjahr war Julius, im vierten?« Dorothy nickte. »Dann sollte der Gesundheitsdienst vom Boston Ferris noch weitere Röntgenbilder von seinem Brustkorb haben. Fahren Sie noch mal hin, und versuchen Sie, andere Röntgenaufnahmen zu bekommen, zumindest eine, die wirklich von Julius stammt.« Er entfernte die Aufnahme von der erleuchteten Glasfläche und schob sie zurück in den braunen Umschlag. »Die lege ich zu meinen Akten.« »Oh Gott, weißt du, was das bedeutet, Dorothy?«, rief McCain. »Das bedeutet, dass wir uns noch einmal mit Vio-let Smaltz auseinander setzen müssen.« »Diese Frau ist unmöglich«, sagte Dorothy. »Sie wird uns Steine in den Weg legen, wo sie nur kann. Nicht dass ich glaube, dass sie was zu verbergen hat - es macht ihr einfach nur Spaß, Leute in Formularen ertrinken zu lassen.« 160 »Den Typ kenne ich«, sagte Change. »Wissen Sie was, ich komme mit. Vielleicht wird das die Sache beschleunigen.«
»Es würde die Sache auch beschleunigen, wenn wir noch mal mit President McCallum sprechen könnten«, erklärte Dorothy. »Er sollte uns lieber helfen«, sagte McCain. »Irgendwas stimmt an diesem verdammten College nicht.« 15 Um acht Uhr morgens lag der Campus grau unter einem bleiernen, feuchten Himmel da. Irgendwo versuchte die Sonne, sich durch den dichten Nebel zu kämpfen, was zwar etwas Licht, aber keine Wärme brachte. Die Pfade, die sich durch das Gelände wanden, waren immer noch glatt von Eis, das unter McCains Stiefeln knirschte. Er, Dorothy und Change hatten Mühe, mit President McCallum Schritt zu halten. »Das ist bestimmt ein Versehen.« McCallum zog seinen Mantel enger um sich. »Eine simple Verwechslung.« Seiner Stimme fehlte die Überzeugungskraft. »So etwas kommt vor. Krankenhäuser machen halt mal Fehler.« »Das wäre aber ein tödlicher Fehler gewesen.« McCain klapperten die Zähne. »Kein Arzt, der bei klarem Verstand ist, hätte Julius Van Beest erlaubt, mit einem ausgewachsenen Aneurysma Basketball zu spielen.« McCallum runzelte die Stirn und stieß die doppelte Glastür zum Gesundheitszentrum auf, so dass die drei eintreten konnten. Im Wartezimmer saßen bereits zahlreiche bleiche Studenten mit roten Nasen hustend, niesend und zitternd herum. Die Krankenschwestern grüßten McCallum überrascht und respektvoll, als er an ihnen vorbeischoss und ge 161 radewegs in den Aktenraum marschierte, wo Violet Smaltz andächtig über ihre Dokumente wachte. Sie blickte vom Schreibtisch auf und ließ ihre Augen zwischen den Gesichtern ihrer Besucher hin und her wandern. Dann stand sie auf, bemüht, ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken. »President McCallum.« »Bringen Sie mir sämtliche medizinischen Unterlagen von Julius Van Beest.« Der Frau fiel die Kinnlade herunter. »Sir, das entspricht nicht der üblichen Vorgehensweise. Ich brauche die Erlaubnis -« »Der Junge ist tot!«, brüllte McCallum. »Holen Sie mir die Unterlagen, und zwar sofort « Violet biss sich auf die Lippe. »Das dauert aber ein paar Minuten.« »Dann verschwenden Sie keine Zeit mehr!« McCallum biss sich auf den Daumennagel. Atmete tief ein und aus. Mäßigte seinen Tonfall. »Es ist von äußerster Wichtigkeit, Violet. Der Ruf des College hängt davon ab.« Smaltz nickte ernst und verschwand hinter den Regalen mit medizinischen Akten.
McCallum rieb sich die Hände. »Und Sie sind ganz sicher, Dr. Change, dass das Röntgenbild, das Sie gesehen haben, nicht von Julius Van Beest stammen kann?« »Hundertprozentig sicher.« »Nun ja, dann wollen wir mal warten bis ...« McCallum verstummte. Niemand sagte etwas, bis Violet mit den Akten zurückkam. »Das sind alle.« Sie reichte sie McCallum, der sie an Change weitergab. Der Gerichtsmediziner zog die Röntgenbilder heraus. »Haben Sie einen Leuchtkasten?« »Natürlich«, sagte Violet. »Wir arbeiten hier nicht in Zel 162 ten, müssen Sie wissen.« Sie führte sie in einen freien Behandlungsraum und schaltete den Leuchtkasten an. Change befestigte die Röntgenaufnahmen an den Klammern und blickte konzentriert auf die Bilder. McCain sprach als Erster. »Die Rippe ist auch hier gespalten. « »In der Tat«, sagte Change. »Keine dieser Aufnahmen stammt von Julius.« »Wie können Sie da so sicher sein?«, fragte McCallum in herausforderndem Ton. »Ist es nicht möglich, dass er die zusätzliche Rippe operativ hat entfernen lassen?« Change dachte über die Frage nach. »Wann ist die Beerdigung?« »Er wurde bereits gestern begraben«, sagte Dorothy. »Dann stelle ich einen Antrag auf Exhumierung.« »Doc«, sagte Dorothy, »bevor wir anfangen, Tote auszugraben, sollten wir vielleicht alles noch einmal gründlich durchdenken. Erstens: Sind Sie sicher, dass er wegen eines Aneurysmas gestorben ist?« »Ich würde meinen Ruf als Arzt darauf verwetten, dass dieser Junge an einer Gefäßerkrankung litt. Und ich sehe keinen Grund, weshalb er sich einer Operation unterziehen sollte, um eine überzählige Rippe zu entfernen. Ich bin sogar sicher, dass er das nicht getan hat. Da waren nämlich keine alten Narben, die darauf hindeuteten. Diese Röntgenbilder stammen nicht von Julius Van Beest.« Violet erklärte: »Ich weiß nicht, ob die Röntgenbilder von Julius stammen oder nicht. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Keine dieser Aufnahmen wurde hier im College gemacht.« Vier Augenpaare starrten sie an. Sie deutete auf eine Markierung am unteren Rand der Aufnahmen. »Hier steht Professional Urban Imaging. Von diesem Labor hab ich noch nie gehört. Vermutlich irgendein windiger Betrieb.« 162 McCain wandte sich an den Präsidenten. »Lassen sich die meisten Sportler im College röntgen?« »Warum fragen Sie ihn das?«, murrte Violet. »Ich weiß über diese Dinge Bescheid.« McCain wartete.
»Die Antwort ist ja. Normalerweise werden die medizinischen Untersuchungen zwei Wochen vor Semesterbeginn durchgeführt. Ich komme selber her, um persönlich zu überprüfen, dass alles ordnungsgemäß einsortiert wird. Einmal hab ich das einem Untergebenen überlassen. Du meine Güte, war das ein Chaos.« »Sie haben sicher Stunden zum Aufräumen gebraucht«, foppte McCain. Violet durchbohrte ihn fast mit zornigen Blicken, zügelte jedoch ihre Zunge. »Dieses Röntgenbild wurde nicht nur außerhalb des Campus aufgenommen, sondern auch noch viel zu spät. Sehen Sie sich das Datum an - einen Monat, nachdem das Semester begonnen hat. Das entspricht nicht den Regeln.« Dorothy wandte sich an Change. »Sie sagen also, kein Arzt, der bei klarem Verstand ist, hätte Julius Van Beest erlaubt, mit einem Aneurysma Basketball zu spielen.« »Richtig.« »Wenn der Mannschaftsarzt es Julius nun verschwiegen hat?« »Dann müsste er ein Psychopath sein«, sagte Change. »Das ist doch absurd!«, protestierte McCallum. »Wir haben erstklassige Mitarbeiter, und ich werde derartige Beschuldigungen nicht tole-« »Was heißt hier Beschuldigungen«, unterbrach ihn Dorothy. »Es wäre äußerst nachlässig von uns, wenn wir nicht mit dem Mannschaftsarzt reden würden.« »Ich bin davon überzeugt«, sagte McCain, »dass er die Sa 163 che genauso beunruhigend finden wird wie wir. Wo er doch ein erstklassiger Arzt ist und so.« McCallum verzog das Gesicht, starrte an die Decke, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt im College ist.« »Der Trainer ist jedenfalls da«, sagte Dorothy. »Die Mannschaft hat sich um acht Uhr getroffen, um über Julius zu reden. Alle haben da zu sein, ohne Ausnahme. Ich möchte wetten, das gilt auch für den Mannschaftsarzt.« »Worauf warten wir also noch?«, sagte Violet. »Was heißt denn hier wir}«, fragte McCain. »Der Junge hat seine Röntgenaufnahmen außerhalb des Campus anfertigen lassen und ist vermutlich deswegen gestorben. Man hätte ihm das nicht erlauben dürfen. Diese ganze Geschichte zieht meine Buchführung und mein Aktensystem in Zweifel. Das kann ich nicht dulden!« Violet riss ihren Mantel vom Garderobenständer. »Kommen Sie, wir müssen uns beeilen.« Die Jungen trainierten pro forma ein bisschen, vermutlich um den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Aber Dorothy erkannte an der laxen Haltung ihres Sohnes, dass er nicht bei der Sache war, und die anderen waren es vermutlich auch nicht. Die Anweisungen erteilte Coach Albert Ryan, der früher mal bei den Boston Celtics auf der Aus-
wechselbank gesessen hatte und nun schon seit zwanzig Jahren Collegemannschaften trainierte. Ryan war eins fünfundneunzig groß, dünn wie eine Bohnenstange und glatzköpfig. Er war schon normalerweise schweigsam, schien nun jedoch durch die Tragödie wie gelähmt. Sein Gesichtsausdruck war wie der eines Kapitäns, der mit seinem Schiff untergeht. Als die Gruppe auf ihn zukam, schüttelte er nur den Kopf und zeigte auf einen großen, dicken Mann Ende fünfzig, der ei 164 nen blauen Blazer, graue Hosen und ein blaues Polohemd trug und am Rande des Spielfelds stand. Martin Green war ein orthopädischer Chirurg, der sich auf Sportmedizin spezialisiert hatte. Er hatte eine große private Praxis und war außerdem seit fünfzehn Jahren für das Boston Ferris tätig. Er sprach sehr selbstsicher, doch Dorothy konnte ihn bei all dem Getrampel und den laut aufprallenden Bällen kaum verstehen. »Könnten wir uns nicht irgendwo unterhalten, wo es etwas ruhiger ist?« »Coach, beenden Sie für heute das Training«, sagte McCallum. Ryan nickte, ließ seine Trillerpfeife ertönen und sagte den Jungen, sie sollten Schluss machen. Diese verließen langsam hintereinander die Turnhalle. Marcus begrüßte Dorothy mit einem kaum merklichen Nicken, blieb aber bei seinen Mannschaftskameraden. McCallum klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Nun, wo der Raum leer war, hallte es hier wider wie in einer Kathedrale. »Julius hat darauf bestanden, seine Röntgenaufnahmen außerhalb des Campus anfertigen zu lassen«, sagte Dr. Green. »Er hatte Angst davor und wollte es bei seinem Arzt machen lassen.« »Angst vor Röntgenstrahlen?«, fragte McCain. »Anscheinend. Sein Großvater ist aufgrund zu hoher Strahlenbelastung an Krebs gestorben. Julius traute den Geräten nicht, die wir im College haben. Es würde zu viel Radioaktivität entweichen oder irgend so ein Unsinn.« »Absoluter Unsinn!«, stimmte Violet ihm zu. »Wodurch hat denn sein Großvater die Strahlenbelastung abbekommen?«, fragte McCallum. »Er hat anscheinend als Assistent in einem Universitätsla 164 bor gearbeitet.« Green zuckte mit den Schultern. »Ich hab nie die komplette Geschichte gehört, und das bisschen, was Julius mir erzählt hat, kam mir merkwürdig vor. Doch es lief darauf hinaus, dass Julius Angst hatte und bereits einen Termin bei seinem Arzt hatte, um sich dort röntgen zu lassen. Ich sah keinen Grund, mich deswegen mit ihm zu streiten.« »Das ist gegen die Regeln!«, schaltete Violet sich ein. »Ja, das stimmt schon«, sagte Green. »Aber ich hab nicht gesehen, was daran falsch sein sollte. Er hatte das im Übrigen schon seit der High School so gemacht. Ich hab mit dem Coach dort telefoniert, und
zumindest dieser Teil der Geschichte stimmte. Wie die meisten Supersportier war Julius superpenibel. Er hatte seine abergläubischen Vorstellungen, seine Routinen und Rituale. Ich dachte, das mit den Röntgenstrahlen gehörte auch dazu. Und solange sein Brustkorb auf den Aufnahmen in Ordnung war, was spielte es da für eine Rolle, wo die Aufnahmen gemacht worden waren?« »Sie haben die Aufnahmen also geprüft«, sagte Change. »Natürlich. Er hat sie mir persönlich vorbeigebracht, und wir sind sie zusammen durchgegangen.« Greens Augen verdüsterten sich. »Warum fragen Sie das? Was geht hier vor?« »Wissen Sie, wie Julius gestorben ist?«, fragte Change. »Er wurde erschossen.« »Er wurde angeschossen, aber er ist an einem geplatzten Blutgefäß gestorben, vermutlich in der Unterschlüsselbeinschlagader. Ich bin sicher, dass der Junge ein Aneurysma hatte.« »Mein Gott«, entfuhr es Green. »Ich habe kein Aneurysma gesehen.« »Das haben Sie deshalb nicht, weil Sie nie eine Röntgenaufnahme von Julius gesehen haben«, sagte Dorothy. Green war völlig perplex. »Was reden Sie da?« Dorothy sah Change an, der die Situation erklärte. 165 Coach Ryan mischte sich ein. »Was zum Teufel soll das heißen? Dass Julius durch den Schlag, den dieser verdammte Duran ihm gegen die Brust versetzt hat, gestorben ist?« Er war ganz weiß geworden, und sein Gesicht war schweißüberströmt. »Albert, setzen Sie sich hin«, forderte ihn Dr. Green auf. »Nein, mir geht's gut! Ich will wissen, was passiert ist. Wollen Sie sagen, dass er gestorben ist, weil er Basketball gespielt hat?« »Nicht so ganz«, erwiderte Change. »Was zum Teufel wollen Sie denn dann sagen?« »Albert«, sagte McCallum. Ryan sackte in sich zusammen. »Tut mir Leid, Sir. Meine Nerven ...« McCallum klopfte ihm auf die Schulter. »Wir sind alle ziemlich mitgenommen.« Dann wandte er sich an Change. »Könnten Sie uns vielleicht eine umfassende Erklärung geben?« Change sagte: »Was genau den Arterienriss verursacht hat, darüber kann man nur spekulieren. Eines ist allerdings klar: Julius hätte nie irgendeine Art von Kontaktsport machen dürfen.« »Ich hätte ihn auch nicht spielen lassen«, sagte Green, »wenn ich ein Aneurysma auf einem verdammten Röntgenbild gesehen hätte.« »Da sehen Sie, was passiert, wenn man sich nicht an die Regeln hält!«, warf Violet ein. Alle starrten sie wütend an. Doch diesmal hatte sie ausnahmsweise Recht. Selbst McCain musste das eingestehen. Er sagte: »Wenn der Junge seit der High School seine Röntgenaufnahmen gegen andere vertauscht hat, muss er von seiner
Krankheit gewusst haben. Also muss es irgendwo ein Röntgenbild geben, auf dem das Aneurysma zu sehen ist.« 166 »Wir können uns nur an das halten, was man uns gibt«, erklärte McCallum. Die Erleichterung in seiner Stimme war deutlich zu hören. »Und diese Röntgenaufnahmen sind in Ordnung. Für uns hieß das, dass der Junge gesund war.« »Sie sind in Ordnung, aber sie stammen nicht von Julius.« »Mein Gott, das ist ja furchtbar!«, rief Green. »Detective McCain hat Recht«, sagte Dorothy. »Irgendwo muss es ein Röntgenbild geben, auf dem das Aneurysma zu erkennen ist. Die Frage ist nur, wie weit wir zurückgehen müssen, um das zu finden.« »Sein Kinderarzt hat bestimmt eine Röntgenaufnahme von ihm, als er noch ganz klein war«, sagte McCain. »Was bedeutet, dass er Julius' Mutter informiert hätte«, erklärte Change. Dorothy sagte: »Keine Mutter, die ganz richtig im Kopf ist, würde ihren Sohn etwas tun lassen, womit er sein Leben aufs Spiel setzt. Ich bin ganz sicher, dass Ellen nichts davon gewusst hat.« »Wird denn routinemäßig bei Kindern der Oberkörper geröntgt?«, fragte McCain. »Das gehört nicht zu den Routineuntersuchungen bei Kindern«, erwiderte Green. »Man will ja Kinder nicht grundlos Röntgenstrahlen aussetzen. Aber bei einem schweren Fall von Krupp, der nicht weggeht, einer schlimmen Bronchitis oder Verdacht auf Lungenentzündung - da hätte man ihn wahrscheinlich schon geröntgt.« »Dann wird es Zeit, dass wir uns mit dem Kinderarzt von Julius unterhalten.« »Dazu brauchen wir die Einwilligung von Ellen«, sagte Dorothy. »Ich möchte ihr aber jetzt nicht mit diesem Verdacht kommen.« Sie sah den Arzt an. »Dr. Green, sagten Sie nicht, Sie hätten mit dem Trainer von Julius' High School gesprochen, und die hätten Röntgenaufnahmen da?« 166 Green nickte. »Fangen wir doch dort an, vergleichen wir deren Röntgenaufnahmen mit diesen hier. Dabei werden wir zumindest feststellen, ob die ausgetauschten Bilder von derselben Person stammen.« »Wo ist er zur High School gegangen?«, fragte McCain. »St. Paul's«, antwortete Coach Ryan. »St. Paul's in Newton?«, fragte Dorothy. »Ja«, erwiderte McCallum. »Wie die meisten unserer Studenten stammte er aus der Gegend.« »Auf nach Newton«, sagte McCain. »Ich hab die Vororte im Winter schon immer geliebt.« 16
St. Paul's erstreckte sich elegant über drei Hektar teures Hügelland in den Newton Hills. Es handelte sich um eine typisch neuenglische episkopale Vbrbereitungsschule, doch auf einem Schild an der Kapelle aus der Kolonialzeit stand: »Die Teilnahme am Gottesdienst ist freiwillig. Jeder ist ein Kind Gottes.« Der Coach war Jim Winfield, ein weiterer ehemaliger NBA-Spieler, der meistens auf der Bank gesessen hatte. Er war fast zwei Meter zehn groß, hatte einen rasierten Schädel, einen Spitzbart und die wie in Stein gemeißelten Gesichtszüge eines Maori-Kriegers. Black is beautiful, dachte Dorothy. Wie würde es sein, mit einem Mann zu leben, der eine solche Ausstrahlung hatte? Wie Ryan schien auch Winfield fassungslos über den Tod von Julius zu sein. Er erzählte den Detectives, dass er sich an einen Anruf vom Boston Ferris erinnerte, in dem sich jemand nach Röntgenaufnahmen von Julius Van Beest erkundigte. 167 »Ich weiß nicht mehr, ob es Dr. Green oder Al Ryan war. Ich kenne beide recht gut, weil wir in den letzten Jahren häufig Kontakt miteinander gehabt haben.« Sie saßen in seinem Büro, einem großzügigen, mit Holz vertäfelten Raum, an dessen Wänden Vitrinen mit zahlreichen Pokalen standen. Die Schule hatte erste Plätze im Foot-ball, Basketball, Baseball, Fußball, Hockey, Tennis, Schwimmen, Polo, Fechten und Lacrosse gewonnen. An der St. Paul's wurde Sport sehr ernst genommen. »Und worüber haben Sie mit demjenigen gesprochen, wer auch immer es war?«, fragte Dorothy. »Ich kann mich an das Gespräch nicht mehr im Einzelnen erinnern, Ma'am«, sagte Winfield. »Ist ja auch schon über drei Jahre her. Jedenfalls wollten sie wissen, ob Julius seine Röntgenaufnahmen immer selbst besorgt hat, und ich hab erklärt, dass alle unsere Schüler, die Sport treiben, ihre eigenen Röntgenaufnahmen mitbringen. Wir haben nämlich keine Röntgengeräte.« Es klopfte an der Tür. Ein massiger Junge im Teenageralter, der eine graue Flanellhose, weißes Hemd, dunkelblauen Blazer und eine Ripskrawatte trug, kam mit mehreren großen braunen Umschlägen ins Büro. Feiner Zwirn, dachte McCain. So gute Sachen hatte er nie getragen, selbst nicht auf der Beerdigung seines Vaters. »Ah ... da haben wir's ja«, sagte Winfield. »Danke, Tom. Wie geht's deinem Knöchel?« »Von Tag zu Tag besser, Coach.« »Freut mich zu hören.« Tom lächelte und ging. Winfield schüttelte den Kopf. »Dieser Junge hat sich vor einem wichtigen Spiel den Knöchel verdreht und trotzdem gespielt. Und aus dieser Verstauchung ist dann ein Bänderriss geworden.«
2-168 »Das ist ja furchtbar«, sagte Dorothy. »Wo waren denn die Eltern?« »Ich glaube nicht, dass die das wussten. Die Kinder hier machen sich ganz verrückt. Sie sind alle hinter den gleichen Stipendien her, und der Konkurrenzkampf ist hart. Das ist furchtbar, aber es ist nun mal die Realität.« Er reichte Change die Umschläge. »Bitte sehr, Doctor.« »Ich bin überrascht, dass die Schule die medizinischen Unterlagen von Julius so lange aufbewahrt hat«, sagte der Gerichtsmediziner. »Wir heben alles zehn Jahre auf, dann kommt es auf Mikrofilm.« Winfield lächelte. »St. Paul's hat einen starken Sinn für Geschichte. Viele unserer Ehemaligen sind berühmt geworden oder zumindest recht bekannt.« Change zog die Röntgenaufnahme von Julius' letztem Schuljahr heraus und hielt sie ans Fenster. Das Licht war nicht optimal, reichte aber aus, um auch hier die Gabelrippe zu erkennen. Die Detectives stöhnten frustriert. »Sind das alles die Gleichen?«, fragte Dorothy. »Mal sehen«, sagte Change und zog eine weitere Aufnahme hervor. »Wonach suchen Sie?«, fragte Winfield. Change zeigte auf die überzählige Rippe. »Danach suchen wir.« Winfield kniff die Augen zusammen. »Ah ja. Der Knochen ist gespalten. Hat das was zu bedeuten?« »Es bedeutet, dass die Röntgenaufnahme nicht von Julius Van Beest stammt«, erwiderte Change. »Wie bitte?«, fragte Winfield. »Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Was geht hier vor?« »Das wüssten wir selber gern.« McCain wandte sich an Dorothy. »Erklär du es ihm.« 168 Winfield hörte zu. Seine Augen wurden vor Entsetzen immer größer, während Dorothy ihm von den Ereignissen der letzten Tage berichtete. Als sie fertig war, schlug Winfield sich mit der Hand gegen die Wange. »Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung.« »Das hatte offenbar niemand«, sagte Dorothy. »Wie sollte auch jemand auf die Idee kommen, dass der Junge etwas zu verbergen versuchte?« Das dritte Bild war mit den anderen beiden identisch. McCain seufzte tief. »Sieht so aus, als müssten wir seine medizinische Geschichte noch weiter zurückverfolgen.« Er sah Winfield an. »Haben Sie eine Idee, von wem diese Röntgenaufnahmen sein könnten?« »Keinen blassen Schimmer.« »Mit wem war Julius denn in der High School viel zusammen?«, fragte Dorothy. »Er war ein Superstar«, erklärte Winfield. »Er hatte einen Fanclub.« Der Trainer zögerte. »Ehrlich gesagt hat es mich sehr gefreut, aber auch ein bisschen verwundert, als er das College der NBA vorzog. Er wurde von
den Talentsuchern wie verrückt umworben. Alle wussten, dass er das Zeug hatte, es bei den Profis zu schaffen. Ich hab mich immer gefragt, weshalb er den Sprung nicht gewagt hat. Aber er muss wohl gewusst haben, dass Profisport ein zu großes Risiko für seine Gesundheit gewesen wäre. Außerdem muss ihm klar gewesen sein, dass sein Versteckspiel bei den großen Vereinen nicht funktioniert hätte. Doch selbst im Collegesport... Was hat sich der arme Junge nur dabei gedacht?« »Der Junge war wohl ziemlich fehlgeleitet«, sagte McCain. Er hielt einen Moment inne und starrte dann wie gebannt auf die drei Röntgenaufnahmen. »Coach, ist das eine High School mit drei oder mit vier Schuljahren?« »Mit vier.« 169 Dorothy verstand sofort, worauf er hinauswollte. »Wo ist das vierte Röntgenbild?« »Julius ist mitten im ersten Jahr zur St. Paul's übergewechselt.« »Von wo?«, fragte McCain. »Ich glaube, er wurde zwei Monate lang zu Hause unterrichtet«, sagte Winfield. »Davor hat er die Lancaster Prep drüben in Brookline besucht.« »Warum hat er die Schule gewechselt?« »Wir haben ihm ein volles Stipendium gegeben, und ich hab zunächst angenommen, das wäre der Grund. Dann hab ich erfahren, dass er bei der Lancaster auch ein volles Stipendium hatte, also weiß ich nicht, warum er's gemacht hat. Ich hab mich immer gefragt, was dahinter steckt, aber ... er hat sich gut gemacht, und alle waren begeistert, ihn hier zu haben. Bis dahin hatten wir in allen Sportarten gut abgeschnitten außer in Basketball. Mit Julius änderte sich das rasch.« Winfield lehnte sich seufzend zurück. »Vielleicht hat Lancaster ja Bescheid gewusst, aber ich jedenfalls nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Das tut wirklich weh.« Die Lancaster Prep war eine der Schulen, aus denen die Eliteuniversitäten ihre Studenten rekrutierten. Ihr Ansatz war altmodisch, und die Spender stammten aus alteingesessenen Familien. Sie war ebenfalls episkopal, doch hier gab es keine Möglichkeit, sich zu drücken. Die meisten Schüler besuchten die Schule schon mindestens in der siebten Generation, mit Ausnahme der Athleten, um die Lancaster sich eifrigst bemühte. Das jährliche Homecoming-Footballspiel gegen die St. Francis Xavier School zu gewinnen war von höchster Priorität. Ein weiterer Trainer, ein weiterer ehemaliger drittklassiger Basketballprofi. Richard Farnsworth, ein Guard von einem 2-169 Meter neunzig, der mittlerweile fett geworden war, hatte sechs Saisons bei acht verschiedenen Teams gespielt. Nach eigener Aussage war er ein
Workaholic, und es kam selten vor, dass er weder in seinem Büro noch auf dem Spielfeld anzutreffen war. Farnsworths Büro war kompakt und funktional und ebenfalls mit Pokalen voll gestellt. Er saß an seinem Schreibtisch, fuhr sich mit der Hand durch sein lockiges graues Haar und sagte: »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit medizinischen Unterlagen. Die Schule hat sie nicht mehr. Als Julius die Schule wechselte, wurden seine Papiere dorthin geschickt.« »Es gab damals aber offenbar ein Problem«, sagte Change. Farnsworth machte ein finsteres Gesicht. »Man hat mir mit einer riesigen Zivilklage und Entlassung gedroht, wenn ich mit irgendwem darüber rede. Von wegen ärztliche Schweigepflicht und so.« »Der Junge ist tot, und wir ermitteln in einem Mordfall«, sagte Dorothy. »Was soll das Ganze?«, sagte Farnsworth. »Julius wurde doch erschossen.« Change nannte ihm die Fakten. Farnsworth sah aus, als müsste er sich übergeben. »Oh Mann ... nein, nein, sagen Sie mir doch nicht so was!« Er hämmerte auf den Tisch. »Gott, das ist ja grauenhaft!« »Was wissen Sie darüber, Sir?«, fragte McCain. Farnsworth zerrte ein Knäuel Tücher aus einer Kleenex-Schachtel und tupfte sich heftig das Gesicht ab. »Verdammt noch mal! Sobald ich das Attest erhielt, hab ich die Eltern angerufen und ihnen gesagt, dass die Schule ihm auf keinen Fall erlauben würde, Basketball zu spielen.« »Sie haben mit Ellen Van Beest gesprochen?«, fragte Dorothy. 170 »Nein, nein«, sagte Farnsworth. »Ich hab mit dem Vater gesprochen ... mit Leon.« »Leo«, korrigierte Dorothy. »Ja. Richtig. Leo wusste, dass sein Sohn nicht spielen sollte. Leo hatte selbst einige Jahre vor mir gespielt.« Farnsworths Blick verschwamm, als würde er sich auf irgendetwas in der Vergangenheit richten. »Sie haben also mit Leo gesprochen«, sagte Dorothy. »Ich hab ihm gesagt, wir müssten miteinander reden. Er sagte, die Mutter war in der Arbeit, also würde er kommen. Ich hab ihm erklärt, Julius müsste von einem Spezialisten untersucht werden. Er sagte, er würde sich sofort darum kümmern. Ich hatte keinen Grund, ihm zu misstrauen. Schließlich ging es um seinen Sohn.« Er hielt einen Moment inne. »Kurz darauf nahm er den Jungen von der Schule. Sagte, er müsse operiert werden, und er würde ihn zu Hause unterrichten lassen, bis er sich davon erholt hätte. Das schien mir sehr sinnvoll. Julius war nicht blöd, aber wir haben ihn nicht aufgrund seiner Testergebnisse aufgenommen. Also wäre es vielleicht tatsächlich die beste Lösung, wenn man ihn zu Hause unterrichtete, solange er im Bett liegen musste.« »Und Leo hat die Röntgenaufnahmen mitgenommen«, sagte Dorothy. Farnsworth nickte. »Um eine zweite Meinung einzuholen. Das klang doch vernünftig, oder?« Der Trainer fluchte leise. »Ungefähr drei, vier Monate später sah ich Julius bei den schulinternen Wettkämpfen für St.
Paul's spielen. Mein erster Gedanke war, dass er einen verdammt guten Chirurgen gehabt haben musste. Doch dann fing ich an, darüber nachzudenken, weshalb er nicht auf die Lancaster zurückgekommen war. Und schließlich erschien es mir doch sehr merkwürdig, dass Julius so kurz nach einer schweren Operation überhaupt eine Kontaktsportart betreiben durfte. Nicht 2-171 dass es mich etwas angegangen wäre, aber ich hab ihn trotzdem angerufen.« »Wen?« »Julius«, sagte Farnsworth. »Ich glaube, ich hab heimlich gehofft, ich könnte ihm ein bisschen Honig um den Mund schmieren und ihn dazu überreden, zur Lancaster zurückzukommen. Der Junge war jedoch kalt wie ein Eisklotz. Sagte, seine gesundheitlichen Probleme wären behoben. Vielen Dank, auf Wiedersehen.« Er leckte sich die Lippen. »Irgendwas stimmte da nicht. Ich rief den Vater an, und der hat mich angeschnauzt und gesagt, wenn ich mich in die Angelegenheiten seines Sohnes einmischen würde, würd er mir Ärger machen. Wenn ich irgendjemandem irgendetwas sagte, wäre das eine Verletzung der Schweigepflicht, und anschließend würde ihm alles gehören, was ich hab!« Er gestikulierte wild mit den Händen. »Es war also nicht so, dass der Junge nichts gewusst hätte.« »Sie sind nicht auf die Idee gekommen, seine Mutter anzurufen?«, fragte Dorothy. »Ich hab geglaubt, der Junge lebte bei seinem Vater. Ich dachte, wenn ich der Mutter was sage und der Vater hat das Sorgerecht, dann würde er seine Drohung wahr machen und mir einen Prozess an den Hals hängen.« Tränen stiegen Farnsworth in die Augen. »Ich hab mir allerdings auch nicht zu viele Gedanken darüber gemacht, weil Leo schließlich Julius' Vater war.« Er hämmerte erneut auf den Tisch. »Ich weiß nicht, was ich genau gedacht habe.« »Sie haben geglaubt, dass Leo das Beste für seinen Sohn am Herzen liegt«, sagte Dorothy. Farnsworth nickte dankbar für diese Ausflucht. »Sie haben geglaubt, dass kein Vater wissentlich seinen Sohn in Gefahr bringt.« »Exakt, das trifft's genau.« 171 »Sie haben geglaubt, wenn man Julius spielen ließ, dann musste er auch stark genug dazu sein.« »Ja, ja, ganz genau!« »Sie haben das Richtige gedacht«, sagte Dorothy. »Nur leider war Ihre Schlussfolgerung trotzdem falsch.« 17 Nachmittags um halb drei war Leo Van Beest bereits betrunken und schwelgte in seinen vom Alkohol geschönten Erinnerungen.
An die Zeiten, als er ein Star in Italien war. Eine Weile war sein Leben rasant, wild und gefährlich aufregend gewesen. Nun standen zwei Detectives vor ihm, der Traum war aus, und Leo tat sich selbst furchtbar Leid. Sein Haus war eine aus zwei Zimmern bestehende Bruchbude mit einer Schindelfassade, ungepflegt und heruntergekommen, vor der Haustür nichts als ein paar Klumpen schmutziges Eis. Ein rostiger grüner Mercedes Diesel stand in der abgesunkenen Einfahrt. Drinnen bedeckte ein fadenscheiniger Teppich den Fußboden, und Bettlaken verhüllten die Fenster. Im Spülbecken stand verkrustetes Geschirr, und überall lagen verknitterte Kleidungsstücke und zerknülltes Papier herum. Ein Geruch von Fäulnis erfüllte das stickige Wohnzimmer. An den vergilbten Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos aus Leos ruhmreichen Tagen in Europa. Der alte Mann trug einen zerrissenen Trainingsanzug und trank aus einem Kaffeebecher, in den er beharrlich hineinstarrte. Alkoholgeschwängerter Dampf schlug ihm feucht ins Gesicht. »Ich hätt es niemals getan, wenn Julius es nicht gewollt hätte.« 172 »Eltern sollten versuchen, ihren Kindern falsche Entscheidungen auszureden, Mr Van Beest«, sagte Dorothy. Leo blickte von seinem Drink auf und versuchte krampfhaft, Dorothy mit seinen roten Augen anzusehen. Er saß nämlich, während Dorothy stand. Auf keinen Fall würde sie sich auf diese Couch setzen. Wer weiß, was er darauf angestellt hatte? »Sie meinen also, es war 'ne schlechte Entscheidung?« Der alte Mann nippte an seinem Drink. »Ich hätte meinem Sohn ausreden sollen, groß rauszukommen ... berühmt zu werden? Damit er sich für den Rest seines Lebens in irgendeinem miesen Job abrackert?« »Es gab andere Möglichkeiten«, sagte McCain. Leo lächelte, dann fing er an zu lachen. »Oh ja, andere Möglichkeiten. Zum Beispiel das College. Als ob Julius so ein Schlaukopf gewesen wäre.« Er lachte erneut, aber ohne Freude. »Dieser Junge war für den Sport geboren - um zu laufen und zu springen, ein Star zu werden. Er war ein Rennpferd, kein alter Ackergaul. Julius war ein Gigant Er war groß und stark, hatte 'ne super Koordination und ein Talent, wie Gott es nur alle Jubeljahre einem seiner Geschöpfe gibt. Dieser Junge war ein Gigant selbst unter Giganten. Und ich hätte ihm sagen sollen, er darf das nicht tun?« Er schüttelte den Kopf, dann blickte er wieder auf. »Wollen Sie wissen, was der Junge zu mir gesagt hat? Er hat gesagt: >Pops, ich möchte lieber nur für kurze Zeit ein Star sein als überhaupt kein Star. Das muss ein Geheimnis bleiben. Du darfst Mama nichts sagen, egal was passiert! Du musst dich in dieser Sache wie ein Mann verhalten, Pops. Und mich wie ein Mann handeln lassen.<«
»Ist das Ihre Vorstellung von männlichem Verhalten?«, fragte McCain. »Zu wissen, dass Ihr Sohn jedes Mal, wenn er ein Basketballfeld betrat, tot umfallen könnte?« z8z »Und ein Polizist sieht nicht jedes Mal dem Tod ins Auge, wenn er einem Notruf folgt?« »Das ist ein primitives Argument«, entgegnete Dorothy. »Nein, Sie verstehen das nicht!«, sagte Leo eindringlich und stieß einen Finger in die Luft. »Sie sind Polizisten, das ist Ihr Job. Julius war Basketballspieler. Das war sein Job. Und ich hätte den Teufel getan und ihn diesen Traum nicht ausleben lassen.« »Seinen Traum oder Ihren Traum?«, fragte Dorothy. »Das ist jetzt egal«, knurrte er Dorothy an. »Denn jetzt gibt's diesen Traum nicht mehr.« Niemand sagte etwas. »Ich weiß, was ihr alle denkt. Ich hätte meinen Sohn umgebracht, weil ich ihn spielen ließ. Blödsinn! Besser, er ist einen schnellen Tod gestorben als einen langsamen und qualvollen. Wissen Sie, was ich meine?« »Nein, ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir«, sagte Dorothy. »Aber das spielt auch keine Rolle. Wenn Julius auf der High School gestorben wäre, hätte ich Sie verhaftet, weil Sie das Leben Ihres Sohnes in Gefahr gebracht haben. Vielleicht sogar wegen Mordes. Aber Julius ist drei Jahre, nachdem er volljährig wurde, gestorben. Er kannte seine Situation und wusste, dass sie gefährlich war. Von irgendeinem Punkt an war er selbst verantwortlich.« Leo nickte zustimmend. »Da haben Sie Recht, Lady. Der Junge wollte spielen, koste es, was es wolle. « »Deshalb hat er Röntgenaufnahmen von Ihrem Oberkörper abgegeben statt von seinem«, sagte McCain. Leo schwieg. »Es waren Röntgenbilder von Ihnen, nicht wahr?«, sagte Dorothy. »Mein Sohn hat mich gebeten, ihm zu helfen, und das hab ich getan«, erwiderte Leo. 173 Dorothy ballte die Hände zu Fäusten. Er kapierte es einfach nicht. McCain erklärte: »Sie haben Ihrem Sohn geholfen, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, Mr Van Beest. Doch wie Detective Breton bereits sagte, letztlich war es Julius' Entscheidung.« »Und was passiert jetzt?«, fragte Leo. »Juristisch sind Sie aus dem Schneider«, sagte Dorothy. »Aber moralisch ...« Sie führte den Satz nicht zu Ende. »Wir gehen jetzt. Wenn Sie sich wegen irgendwas mit uns in Verbindung setzen wollen, können Sie mich unter dieser Nummer erreichen.« Sie gab ihm ihre Karte. Leo verzog den Mund und warf die Karte auf den Boden. »Warum sollte ich mit Ihnen reden wollen?« »Das kann man nie wissen«, sagte McCain.
»Weiß Ellen, wie der Junge gestorben ist?« McCain nickte. »Sie weiß, dass er wegen eines Aneurysmas gestorben ist.« »Aber sie kennt nicht die ganze Geschichte?« »Wir sehen keinen Grund, ihr noch mehr Kummer zu bereiten«, erwiderte Dorothy. »Ich werde Sie nicht verpfeifen, falls Sie sich darüber Gedanken machen.« Leo nickte und stand von der Couch auf. »Ich bring Sie nach draußen.« »Nicht nötig«, sagte McCain. »So groß ist die Wohnung ja nicht.« Sie schlossen die Haustür und machten sich schweigend auf den Rückweg, zu deprimiert, um zu reden. Auf der Hälfte der Einfahrt, gleich hinter dem Mercedes, hörten sie den Schuss. Die Nachricht erschien auf den ersten Seiten von Globe und Herald. Leo hatte ein verpfuschtes Leben geführt, war aber 174 wie ein todunglücklicher Held gestorben. Ellen Van Beest ging in einer Woche zu zwei Beerdigungen, dann nahm sie einen längeren Urlaub, um ihre Familie zu besuchen. »Das könnte ich auch gebrauchen«, sagte Dorothy zu McCain. »Einen längeren Urlaub. Oder auch nur ein bisschen Urlaub.« »Es ist erst zwei Uhr.« Er klappte seinen Koffer zu. »Du hast immer noch Zeit, die Jungen abzuholen und mit mir nach Florida zu fliegen. Dann können wir zusammen Weihnachten feiern.« »Micky, Weihnachten, das sind für mich verschneite Baumkronen, ein großes prasselndes Feuer und heißer Rumpunsch. Nicht Palmen und Sonnenbrand.« »Du kriegst Sonnenbrand?« »Nur wenn mir dämliche Leute auf die Nerven gehen.« McCain grinste. »In Miami gibt's auch Rum, Partner.« Sie verdrehte die Augen und sah auf ihre Uhr. Mickys Flugzeug sollte in einer Stunde starten. Im Gegensatz zu den meisten Flughäfen lag der Logan International in der Nähe des Stadtzentrums - wenigstens eine gute Sache an dieser Stadt. Allerdings waren die Straßen vereist, und es herrschte immer viel Verkehr, besonders an Heiligabend. »Wir sollten besser losfahren, Micky.« Er nahm seinen Koffer. »Auf geht's, Detective.« Obwohl auf den Straßen Chaos herrschte und die Autofahrer genervt waren, lagen sie gut in der Zeit. Dorothy beobachtete, wie Micky im Terminal verschwand, dann fuhr sie auf den Highway zurück und machte sich auf den Heimweg. Sie wollte nur noch nach Hause und ihre Söhne in die Arme nehmen. Drei Blocks von ihrem Haus entfernt fing es in lockeren Flocken an zu schneien. Sanfter Schnee, der einen im Gesicht 174
kitzelt und bei dem man Lust kriegt, die Zunge rauszustre-cken und ihn darauf zergehen zu lassen. Die Sorte Schnee, die das schmutzige alte Boston in eine malerische und idyllische Neuenglandstadt verwandelt. Dorothy blinzelte und spürte, wie ihre Wangen feucht wurden. Es würde ein schönes Weihnachtsfest werden. Daran musste sie einfach glauben. Faye Kellerman bei btb Die Romane mit Peter Decker und Rina Lazarus: Nr. i: Denn rein soll deine Seele sein (72242) Nr. 2: Das Hohelied des Todes (72047) Nr. 3: Abschied von Eden (72100) Nr. 4: Tag der Buße (72166) Nr. 5: Du sollst nicht lügen (72407) Nr. 6: Die reinen Herzens sind (72461) Nr. 7: Weder Tag noch Stunde (72459) Nr. 8: Doch jeder tötet, was er liebt (72462) Nr. 9: Totengebet (72560) Nr. 10: Der Schlange List (72604) Nr. 11: Der wird Euch mit Feuer taufen (72673) Nr. 12: Die Rache ist dein (72672) Nr. 13: Der Väter Fluch (73125) Nr. 14: Die Schwingen des Todes (73272) Weitere Romane: Becca(72321) Denn verschwiegen ist die Nacht (72559)