BARBARA BICKMORE
Wem die Macht gegeben ist Roman
Aus dem Amerikanischen von Uschi Gnade
Carly Anderson ist in Housto...
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BARBARA BICKMORE
Wem die Macht gegeben ist Roman
Aus dem Amerikanischen von Uschi Gnade
Carly Anderson ist in Houston, Texas, zu einer mächtigen und geachteten Geschäftsfrau geworden, die im Spiel um Immobilien und Geld ein Wörtchen mitzureden hat. Doch bei jedem Schritt auf der Erfolgsleiter muß Carly erkennen, daß sie ihr Herz nicht zum Schweigen bringen kann - am Ende muß sie sich zwischen drei Männern entscheiden.
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GEWIDMET der Erinnerung an meine Eltern Nina und Vernon Bickmore, die sich
über die letzten zehn Jahre nicht gewundert hatten,
und Robert Mason, mit dem ich seit mehr als dreißig Jahren
befreundet bin und der mir dabei behilflich war, den richtigen Ansatz
zu diesem Buch zu finden.
MEIN DANK GILT den Texanerinnen Mary Ann Miller und Billy Ruth Scott, die mich inspiriert und mir während der Arbeit immer wieder geholfen haben. Einige Vorkommnisse gehen auf die Jugend der beiden zurück, aber die Charakterzüge, die ich meinen Romanfiguren gegeben habe, weisen keinerlei Ähnlichkeit mit den beiden auf. Die Geschichten dieser Texanerinnen haben meine Phantasie beflügelt. Mein Dank gilt außerdem Dorothy Milbank Butler, die dieses Manuskript gelesen und Kritik daran geübt hat, während ich noch an dem Buch gearbeitet habe.
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Deutsche Erstausgabe März 1998 Copyright © 1998 für die deutschsprachige Ausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titel der Originalausgabe »Deep in the Heart« Copyright © 1996 by Barbara Bickmore Originalverlag Kensington Publishing Corp. New York Umschlaggestaltung Agentur Zero, München Umschlagfotos Tony Stone, München/David Muench Satz MPM, Wasserburg Druck und Bindung Eisnerdruck, Berlin Printed in Germany ISBN 3-426-60.644-5
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TEIL I
1961-1968
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1 Wenn man Brownsville und McAllen nicht mitzählt, gibt es wohl kaum einen südlicheren Punkt in Texas als Verity. Es mag zwar noch so klein sein, aber es kann sich dennoch mit einigen Superlativen brüsten. Die beiden größten Rinderzuchten im ganzen Land sind im Umkreis von dreißig Meilen gelegen – die King Ranch direkt im Norden und ein klein wenig nach Osten versetzt sowie Sanborns im Nordwesten. Ein so miserables Klima wie dort trifft man in den gesamten Vereinigten Staaten nur selten an, und die Sommer sind derart schwül, daß einem das Atmen schwerfällt. Im April dagegen, wenn das saftige Gras dieser Region, der die Regenfälle im Frühling ein frisches Grün verliehen haben, von Kornblumen übersät ist und das Laub der ausladenden Kronen hoher Eichen ein filigranes grüngoldenes Gitterwerk bildet, gibt es kaum einen anderen Ort, der hübscher anzusehen wäre. Carly Anderson haßte Verity vom ersten Augenblick an, als sie Mitte April 1961, im Alter von fünfzehn Jahren, mit ihrer Mutter Francey an einem Tag in die Stadt kam, der so heiß war, daß selbst die Fliegen sich nicht von der Stelle rührten. »Das sieht doch gar nicht mal so übel aus«, sagte Francey, als sie nach Verity reinfuhren. »Ich will Los Angeles und das Großstadtleben so weit wie möglich hinter mir zurücklassen. Für Mädchen ist das nichts.« Mädchen? Carly lachte in sich hinein. Francey war knapp vierunddreißig. Francey fuhr auf einen Parkplatz vor dem Soda Shop. »Wenigstens bekommen wir hier ein Glas Limonade«, sagte sie. Es war zwei Uhr nachmittags, und nirgends war auch nur eine Menschenseele zu sehen. Die Schule war noch nicht aus, und den Leuten war es zu heiß, um auf die Straße zu gehen. Carlys Mutter zog den Schlüssel aus dem Zündschloß, öffnete die Wagentür und streckte sich. Wie Carly trug auch sie Shorts. Carly stieg mit dem gleichen Widerwillen aus dem Wagen, mit dem sie diese ganze Reise angetreten hatte. Sie hatte die Pasadena HighSchool nicht verlassen wollen, denn dort hatte sie sich für das nächste Jahr als Kandidatin für den Cheerleader-Posten aufstellen lassen, und ihre Chancen standen gut, dort hatte sie ein Dutzend gute Freundinnen, und dort begannen die Jungs gerade sich um sie zu 6
scharen. Ihre Mutter sagte, an den Wochentagen dürfe sie abends nicht weggehen, erlaubte ihr jedoch, an den Wochenenden erst um Mitternacht nach Hause zu kommen. Sie hatte sich in Kalifornien wohl gefühlt. Ein anderes Leben kannte sie nicht. Da war sie geboren worden, zwei Monate, nachdem ihr Vater im Krieg umgekommen war – drei Monate vor Kriegsende. Sie hatte geweint, als sie sich von ihren Freundinnen und von der Schule hatte trennen müssen, aber auch von dem kleinen Bungalow, in dem sie und ihre Mutter die letzten sieben Jahre gelebt hatten. Francey hatte Carly liebevoll an sich gedrückt, sie weinen lassen und ihr zugeflüstert: »Ich weiß, Schätzchen, aber eine von uns beiden muß sich eine Weile elend fühlen. Ich fühle mich jetzt schon seit Jahren elend hier, und für mich ist es höchste Zeit, weiterzuziehen. Du bist noch ein Kind. Du wirst dich schnell umstellen. Das verspreche ich dir.« Sie brachen nach Osten auf, ohne konkretes Ziel. »Sowie wir den richtigen Ort finden, werde ich wissen, daß wir angekommen sind«, versicherte Francey ihrer Tochter. Vielleicht Florida. Sie wollte in einer Gegend bleiben, in der es das ganze Jahr über sonnig und warm war, und daher kämen vielleicht die Florida Keys oder Fort Meyers Beach in Frage, irgendein ruhiger, abgeschiedener Ort, der möglichst wenig Ähnlichkeit mit L.A. aufwies. Sie traten in den dunklen Soda Shop, in dem ein Deckenventilator surrte und die schwüle Luft umwälzte. Francey wählte einen Fenstertisch mit Ausblick auf die Hauptstraße von Verity, über die hohe Bäume ihr Laub breiteten und morgens die östliche und nachmittags die westliche Straßenseite in Schatten tauchten. Die Kellnerin kam in ihrer rot-weiß karierten Arbeitskleidung an den Tisch geschlendert, musterte Mutter und Tochter und sagte dann: »Und was darf’s für euch sein?« »Zwei Gläser Limonade«, antwortete Francey. Dann stöhnte sie: »Ich bin müde.« Sie war fünf Tage lang durchgefahren und wollte im Moment nichts mehr vom Autofahren wissen. Sie beugte sich vor und spähte durch die schmierige Fensterscheibe. »Sieh dir dieses Schild an.« Auf der anderen Straßenseite blinkte über der Tür zum Blue Moon Diner eine leuchtend blaue Neonreklame. Francey deutete auf das Schild im Fenster, auf dem stand: »Bedienung gesucht.« »Was ist damit?« fragte Carly. »Vielleicht bleiben wir einfach ein paar Monate hier, damit wir 7
finanziell wieder auf die Füße kommen.« Carly verzog das Gesicht. »Ausgerechnet hier?« »Ja, klar.« Begeisterung schlich sich in Franceys Stimme ein. »Es ist eine Kleinstadt. Genau das, was ich will. Und schon springt mir ein verlockendes Stellenangebot ins Auge, als wäre es uns so vorbestimmt.« Carly fand nicht, daß die Stadt einen besonders interessanten Eindruck machte. Allerdings, mußte sie zugeben, würde sie keinen Ort reizvoll finden. Daher konnte sie ebensogut versuchen, das Beste aus dem zu machen, was ihre Mutter wollte. Für sie war ihre Mutter der großartigste Mensch auf Erden. Wahrscheinlich sogar im ganzen Universum. Francey rief die Kellnerin an den Tisch. »Gibt es hier in der Stadt ein Motel?« Die Kellnerin nickte. »Nur noch ein Stückchen weiter, gleich hier in der Straße, am Ende der Stadt. Das Twin-Oaks-Motel. Sie können es nicht verfehlen.« Francey sagte zu ihrer Tochter: »Wenn ich mich um diesen Job bewerben will, dann sollte ich besser im Rock erscheinen und einen anständigen Eindruck erwecken.« »Ich dachte, Mom, du wolltest von L.A. fortgehen, damit du nicht mehr kellnern mußt.« »Ich wollte von L.A. fortgehen, damit ich endlich die Hoffnung aufgeben kann. Jahrelang habe ich auf die richtige Rolle gehofft, schon lange vor deiner Geburt. Als man mir das einzige Mal eine Rolle angeboten hat, die echt Spitze war, war ich im vierten Monat schwanger mit dir und mußte das Angebot ablehnen. Seitdem lebe ich von der Hoffnung. Ich will nicht mehr hoffen, sondern in der Gegenwart leben, und dieses Städtchen hier wirkt auf mich, als wäre es ein netter Ort für ein junges Mädchen, um dort aufzuwachsen.« Nach der Hauptstraße zu urteilen, war es eher ein langweiliger Ort für Heranwachsende. Trotzdem tranken sie ihre Limonade und fuhren dann zum Twin-Oaks-Motel, wo Francey ein Zimmer für die Nacht mietete und ihre Sachen auspackte. »Es ist alles derart zerknittert, daß ich besser bis morgen früh warte und meine Kleider aufhänge, bis der Wasserdampf die Falten glättet. Laß uns einen Spaziergang machen und uns hier umschauen.« Carly gefiel nicht, was sie sah. Das Zentrum bestand mehr oder weniger aus einem Postamt, einer Tankstelle, der First National Bank, ein paar Geschäften, dem Soda Shop und dem Blue Moon Diner. Sie spazierten sechs Kreuzungen hinunter zum Kino, in dem samstags um dreizehn Uhr und an den Freitagen und Samstagen um 8
halb acht abends Filme gezeigt wurden. Ein paar Häuser weiter fanden sie das Lebensmittelgeschäft, das jeden Abend bis um sechs Uhr geöffnet hatte, außer am Sonntag, an dem noch nicht einmal die Tankstelle aufmachte. Sie kamen an einem kleinen weißen Haus vorbei, von dem die Tünche abblätterte. Francey lächelte, als sie das Schild mit der Aufschrift »Zu vermieten« sah. »Es sieht ganz so aus, als könnte es uns wirklich so bestimmt sein«, sagte sie. »O Mom, das Haus ist scheußlich. In einer so üblen Bruchbude haben wir noch nie gewohnt.« »Mit ein paar Eimern Farbe und etwas Schweiß können wir es richtig hübsch herrichten. Ich wette, daß sie nicht viel dafür haben wollen.« Als Francey die Telefonnummer wählte, die auf dem Schild angegeben war, erfuhr sie, daß die Miete fünfundvierzig Dollar im Monat betrug. »Das können wir uns problemlos leisten«, sagte sie lächelnd, »wenn ich einen Job finde.« Am nächsten Morgen begab sich Francey in einem roten T-Shirt mit V-Ausschnitt, einem weißen Rock, der seitlich geschlitzt war, und mit roten Sandalen an den Füßen zu dem Lokal, in dessen Fenster sie gelesen hatte, daß man dort eine Bedienung suchte. Blue Baker hatte das Schild vor zwei Tagen an die Scheibe gehängt. Als er Francey sah, wäre Blue beinah das Gebiß rausgefallen. Sie betrat das Lokal um sieben Uhr, eine Stunde, nachdem er es geöffnet hatte, und kurz bevor der große Andrang einsetzte. Sie sagte kein Wort, sondern ging mit wiegenden Hüften zum Fenster, holte das Schild heraus und legte es auf den Tresen. Blue und die fünf Männer, die an den Tischen saßen, starrten sie an, und allen fiel der Kiefer runter. Francey sagte zu Blue: »Probieren Sie es doch mal mit mir.« Jeder einzelne Mann im Raum hätte sich gern an ihr versucht, und doch kapierten sie alle, daß sie bei ihr keine Chance hatten. »Sie wollen wissen, wie es mit dem Gehalt und mit der Arbeitszeit aussieht?« »Ich bin ganz sicher, daß Sie mir ein faires Angebot machen werden«, entgegnete Francey. Blue hielt ihr eine Schürze hin. »Nein«, sagte sie, »vorher muß ich noch meine Tochter in der HighSchool anmelden.« An ihrem ersten regulären Schultag in der High-School sollte Carly feststellen, daß Neulinge nicht gerade besonders gnädig aufgenommen wurden. 9
Carly unterschied sich drastisch von allem, was den Jungs in der zehnten Klasse je zuvor unter die Augen gekommen war. In ihr schimmerndes blondes Haar war ein Band geflochten, das so blau war wie ein Rotkehlchenei und den Farbton ihrer Augen haargenau traf. Sie hatte Löcher in den Ohren, und wenn sie den Kopf drehte, funkelten ihre langen goldenen Ohrringe. Ihr blau-weiß gestreiftes Baumwollkleid, das auf dem Bügel sittsam wirkte, betonte ihre wohlgeformte Figur. Die Jungs fanden, die Knöpfe wirkten ganz so, als würden sie jeden Moment abreißen, und sie hofften, Carly würde in all ihrer Pracht herausspringen. Sie trug weiße Ledersandalen mit goldenen Nieten. Alle anderen Mädchen hatten Turnschuhe an. Als sie in der Tür stand, ließ sie eine Kaugummiblase zerspringen. Miss Hasseldorfs erste Worte waren: »Kaugummi ist hier nicht erlaubt.« Carly, die in ihrer Rolle als die »Neue« nervös war und dann auch noch als allererstes von einer Lehrerin gerügt wurde, streckte die Zungenspitze raus, nahm den Kaugummi aus dem Mund und ging auf Miss Hasseldorfs Tisch zu, um den Kaugummi in den Papierkorb zu werfen. Sie lächelte die Lehrerin strahlend an, die das junge Mädchen fasziniert anstarrte, ehe sie ihr einen leeren Platz in der mittleren Reihe zuwies. Carly setzte sich, schlug ein unbenutztes liniertes Schulheft auf, leckte die Spitze ihres Bleistifts an und blickte hoch, um bereitwillig zuzuhören. Seit sie den Raum betreten hatte, war kein Laut zu vernehmen gewesen. Miss Hasseldorf schüttelte den Kopf und blinzelte, ehe sie sich wieder der Gleichung zuwandte, die sie gerade an die Tafel schreiben wollte. »Wenn ihr eure Hausaufgaben gemacht habt«, sagte sie mit dem Rücken zur Klasse, »dann sollte euch die Lösung keine Schwierigkeiten bereiten. Wer weiß sie und kann erklären, wie er dazu gelangt ist?« Sie drehte sich um. Niemand hob die Hand. Die Lehrerin rief einen Jungen auf, der auf der hintersten Bank rumlümmelte. »Harold?« Harold schüttelte den Kopf. Sie sah sich im Klassenzimmer um. »Und wie steht es mit einer Lösung, obwohl ihr nicht wißt, wie ihr dazu gelangt seid?« Ein Bleistift rollte auf den Fußboden, und ein Junge bückte sich, um ihn aufzuheben; dabei starrte er quer durch den Raum unter den Pulten hindurch Carlys lange, braungebrannte Beine an. »Meldet sich denn niemand? Nicht ein einziger von euch?« Aus Miss Hasseldorfs Stimme war deutlich herauszuhören, daß sie am 10
Rande der Verzweiflung stand. »Zweiundsiebzig.« Die Schüler drehten sich um und starrten Carly an. Carly wünschte, der Fußboden würde sich unter ihr öffnen und sie schlucken. Sie wünschte, sie hätte den Mund gehalten, aber die Antwort war ihr gewissermaßen unwillkürlich rausgerutscht. »Weißt du, wie du zu dieser Lösung gelangt bist?« Carly zögerte, und Miss Hasseldorf sagte: »Bei uns steht man auf, wenn man sich zu Wort meldet.« Carly stand auf, und die Lehrerin hatte das Gefühl, einen taktischen Fehler begangen zu haben. Sämtliche männlichen Augenpaare waren auf die Neue geheftet. Carly gab eine kurze Antwort und stotterte in ihrer Befangenheit, ehe sie sich wieder hinsetzte. Niemand außer der Lehrerin hatte auch nur ein Wort von dem gehört, was sie gesagt hatte. Miss Hasseldorf unterrichtete schon seit siebzehn Jahren in Verity Mathematik und nach den offiziellen Schulstunden Basketball für Mädchen, und daher war ihr klar, daß sie es hier mit einer zu tun hatte, die sich in dieser Stadt jetzt schon Schwierigkeiten eingehandelt hatte, aber während Carly ihre Beweisführung darlegte, war ihr auch klargeworden, daß dieses Mädchen alle anderen Schüler, die sie bisher unterrichtet hatte, bei weitem übertraf. Bereits vor der Mittagspause hatten sich die Neuigkeiten über das gutaussehende und intelligente Mädchen im Lehrerzimmer herumgesprochen. Mr. Owens, dem Geschichtslehrer, genügte ein einziger Blick auf Carly, um zu beschließen, es würde niemals eine Rolle spielen, ob sie auch nur das geringste über Mesopotamien, den Stein von Rosette oder die Schlacht am Antietam wußte. Es kostete ihn Mühe, den Faden nicht zu verlieren und seinen Gedankengang weiterzuführen, während er darum rang, sich an das zu erinnern, worüber er eigentlich hatte reden wollen. Carly machte sich keine Vorstellung davon, welchen Wirbel sie ausgelöst hatte, und als sie nach ihrem ersten Schultag in der neuen Schule in das Motel zurückkehrte und ihre Mutter fragte: »Wie hat es dir gefallen?«, zuckte sie mit den Schultern und antwortete: »Die Leute scheinen hier nicht allzu freundlich zu sein. Niemand hat mich beim Mittagessen aufgefordert, mich zu ihm zu setzen«, und ihr war elender denn je zumute. In Pasadena war ihre Mutter Vizevorsitzende des Eltern-LehrerVerbandes gewesen und hatte im Chor der Methodistenkirche gesungen. Sie hatte ihre Umgebung als freundlich empfunden und 11
war sicher, daß man sie in Verity noch freundlicher aufnehmen würde. »Ich habe mir übrigens dieses Haus angesehen«, berichtete Francey. »Man muß eine ganze Menge Arbeit reinstecken, aber schließlich haben wir ohnehin nichts Besseres zu tun.« Sie nahm Carlys Hand und sagte: »Laß uns rübergehen und es uns anschauen. Ich habe den Schlüssel.« Carly war bestürzt über das, was sie dort vorfand. Francey aber erklärte freudestrahlend: »Das Wohnzimmer können wir weiß streichen, und wir besorgen uns Möbel auf Raten. Sieh dir nur diese Hartholzböden an. Wir werden das Holz abschleifen und es mit Klarlack versiegeln, dann wird es schon schön aussehen.« Das Resopal auf der Küchenanrichte hatte Kratzer, aber Francey hatte einmal in irgendeiner Zeitschrift gelesen, wie man solche Oberflächen wieder herrichten konnte. Der Herd und der Kühlschrank wirkten so alt, daß Carly fragte, ob sie funktionierten. Anstelle einer Antwort sagte Francey: »Von dem Erkerfenster im Eßzimmer aus sieht man eine Magnolie. Stell dir das vor.« Francey zog Carly hinter sich her durch den Korridor. »Das Haus hat zwei Schlafzimmer. Ich dachte, ich überlasse dir das größere von beiden, weil du zusätzlich noch einen Schreibtisch brauchst.« Carly erkannte einen Bestechungsversuch durchaus. Am kommenden Wochenende fuhren sie nach Corpus Christi rüber, kauften billige Gaze für Vorhänge und leisteten eine Anzahlung auf ein paar Möbelstücke, gerade nur das Notwendigste, bis Francey anfing, Geld zu verdienen. In ihren Jahren in Verity schloß Carly nur eine einzige Freundschaft. Die Familie von Zelda Marie Spencer lebte schon seit drei Generationen dort. Sie besaßen eine Ranch vier Meilen außerhalb der Stadt, und ihr Vater stand in drei Bezirken mit allen auf gutem Fuß und redete die Leute mit ihren Vornamen an, darunter auch die Sanborns und die Klebergs, denen die berühmte King Ranch gehörte. Carly war jedesmal wieder begeistert, wenn die Spencers sie übers Wochenende auf ihre Ranch einluden. Dort schwammen sie und Zelda Marie nackt im Bach, und Zelda Marie brachte Carly das Reiten bei. Sie verbrachten viele Stunden damit, über die Wiesen zu laufen, endlose Gespräche zu führen, miteinander zu kichern und von der Zukunft zu träumen. Nur an den Wochenenden und über längere Zeit im Sommer, wenn sie sich draußen auf der Ranch der Spencers aufhielt, war Carly wirklich glücklich. Francey war klar, daß Carly diese Stadt nicht mochte, aber sie war immer noch der Meinung, der Ort eigne sich 12
blendend für ein heranwachsendes Mädchen. Viel besser als L.A. Und sie war froh darüber, daß Carly Zelda Maries Bekanntschaft gemacht hatte. Während der beiden ersten Jahre in Verity ereigneten sich zwei Vorfälle, die Carly für den Rest ihres Lebens beeinflussen sollten. Zelda Marie wurde schwanger und mußte von der Schule abgehen, um zu heiraten. Joe Bob Lovetts Vater, der Tankstellenbesitzer, verabreichte seinem Sohn eine ordentliche Tracht Prügel, als Joe Bob gestand, daß er wohl der Vater sein mußte. Zelda Marie – aber keineswegs Joe Bob – wurde von der Schule verwiesen, und ihre Eltern veranstalteten eine große Hochzeitsfeier und luden die ganze Stadt zu einem Barbecue ein. Zum erstenmal in den zwei Jahren, die sie nunmehr in Verity lebten, wurde Francey zu einem Fest eingeladen. »Und dabei haben wir es nur ein einziges Mal getan«, sagte Zelda Marie, als sie sich an Carlys Schulter ausweinte. »Es hat mir noch nicht mal Spaß gemacht.« Carly schwor sich, so etwas würde ihr niemals passieren. Es konnte nicht ihr Los sein, gezwungenermaßen einen Joe Bob Lovett zu heiraten. Francey Anderson war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und hielt immer noch an ihrem Yankee-Akzent fest, wenngleich sie auch gewisse Redewendungen übernommen hatte, und die Männer drehten die Köpfe ebenso häufig um nach ihr wie nach ihrer Tochter. Francey nähte die meisten von Carlys Kleidern auf ihrer alten Singer. Für sich selbst hatte sie seit fast drei Jahren kein neues Kleid mehr gekauft, doch ihre Kleidung, die Sachen, die sie in Hollywood getragen hatte, war in Verity einmalig. Sie sah immer noch toll aus, und ihre kurvenreiche Figur war womöglich noch anziehender als Carlys reizvoller Körper. Sie kaufte jedoch genug Stoff, um sich süße kleine Rüschenschürzen zu nähen, die sie im Diner trug. Außerdem kaufte sie sechs Paar lange, baumelnde Ohrringe, eines mit Obstgehängen, ein anderes mit großen goldenen Kreolen und eines, das aussah wie silberne Wasserfälle. Bald darauf gewöhnte sie sich an, nur noch einen Ohrring zu tragen, und zwar immer am linken Ohr. Francey mochte zwar Hollywood den Rücken gekehrt haben, aber ihre Schauspielleidenschaft hatte sich deshalb noch lange nicht gelegt. Dreimal im Jahr bewarb sie sich im Kleinen Theater von Verity um eine Rolle, und trotz des Umstands, daß sie die Erfahrung mitbrachte, die allen anderen fehlte, bekam sie nie eine. Sie fragte 13
sich, ob es wohl daran lag, daß Mrs. Padgett den Chor der Baptistenkirche, gleichzeitig aber auch das Kleine Theater leitete. Sie kümmerte sich nicht um den Umstand, daß sie der Baptistenkirche nicht angehörte, sondern fing an, sonntags dort in die Kirche zu gehen, und an einem Mittwochnachmittag erschien sie sogar zu einer Chorprobe. Ein einziger Blick auf Francey mit ihrem baumelnden Ohrring, ihrem kurzen Rock und ihren zehenfreien Sandalen genügte, und Mrs. Padgett hätte ihr am liebsten mitgeteilt, daß sie wahrhaftig niemanden mehr im Chor gebrauchen konnte. Doch als sie diese Altstimme erst einmal gehört hatte, brachte sie es nicht mehr über sich. Francey mochte ihren Job. Sie nahm das Dreifache ihres Gehalts an Trinkgeldern ein, und Blue Bakers Laden war noch nie so gut gelaufen. Die Männer, die zum Frühstück kamen, scherzten mit ihr, und wenn sie auch mit ihnen lachte, dann flirtete sie doch nie, und niemand brachte je den Mut auf, sie um eine Verabredung zu bitten. Aber es erschienen mehr und mehr Männer zum Frühstück, und Blues Laden begann sich sogar um die Mittagszeit zu füllen. Der zweite unvorhergesehene Umstand, der sich auf Carlys Leben auswirkte, war Boomer Bannerman. Sie hatte eine Schwäche für Boomer entwickelt, seit er ihr das erstemal aufgefallen war. Boomer war kein fleißiger Schüler. Er tat nur das Nötigste, aber er war intelligent und besaß eine Ausstrahlung, die alle bezauberte. Er sah nicht direkt gut aus. Als Carly sich in der High-School anmeldete, war Boomer ein schlaksiger, ungelenker Junge, der im nächsten Jahr fast zwanzig Zentimeter wuchs und daraufhin einsachtundachtzig maß. Sein welliges braunes Haar paßte gut zu seinen lebhaften dunklen Augen. Im letzten Schuljahr wurde er kräftiger und wog splitternackt rund neunzig Kilo, ohne eine Spur von Fett. Seine Sommerjobs bei einer Baufirma hatten seiner Statur nicht geschadet. Seine braunen Augen schienen ständig zu strahlen, und er pfiff fröhlich vor sich hin, während er den Bagger bediente. Auf dem Footballplatz verstand er sich nie als etwas anderes als ein Mannschaftsmitglied, obwohl er die meisten Punkte erzielte. Es gab keinen einzigen Jungen in der ganzen Schule, der Boomer nicht gemocht hätte, und es gab auch nicht ein einziges Mädchen, das nicht in ihn verknallt gewesen wäre. Boomers Familie war bereits seit fast achtzig Jahren in diesem Bezirk ansässig, und sein Vater war schon lange vor Boomers Geburt Senator in der gesetzgebenden 14
Körperschaft gewesen. Als Boomer achtzehn wurde, war sein Vater neunundfünfzig. Die beiden hatten die letzten fünfzehn Jahre allein gelebt, da Boomers Mutter an Polio gestorben war, als er gerade erst drei Jahre alt gewesen war. Boomers Daddy verbrachte einen Teil des Jahres in Austin, um Gesetze zu erlassen, und den Rest in Verity, wo er Testamente und Eigentumsurkunden aufsetzte und einmal sogar eine Scheidungsurkunde, und es gelang ihm, mindestens einmal im Jahr jeden im ganzen Wahlbezirk persönlich zu sprechen. Nichts, aber auch nichts spielte sich in seinem Wahlkreis ab, wovon Earl Bannerman nichts erfahren hätte. Boomer wurde jedoch nicht aufgrund des Einflusses, den sein Vater als Senator hatte, Captain der Verity Panthers. Er bewegte sich schlichtweg wie ein geölter Blitz auf einem Footballplatz. Boomer begann Notiz von Carly zu nehmen, als sie einander bei den Proben für das Theaterstück der Abschlußklasse zwangsläufig an vier Abenden in der Woche trafen. Zwar hatten Boomer und seine Freunde Carly Andersons Anatomie bis in alle Einzelheiten diskutiert, doch Boomer hatte nie versucht, sich mit ihr zu verabreden. Im Unterricht starrte er sie an, wenn er glaubte, daß sie nicht hinsah, aber das taten schließlich alle Jungs. Er hörte zu, wenn sie Fragen beantwortete – Fragen, die niemand außer ihr beantworten konnte –, und dabei verspürte er einen inneren Stolz, der ihn immer wieder überraschte. Er mochte den Klang ihrer Stimme, selbstsicher und doch kleinmädchenhaft, mochte den Klang ihres Lachens, und ihm gefiel, wie sie mit den Händen durch die Luft fuchtelte, wenn sie sich aufregte, und wie sie sich auf die Unterlippe biß, wenn sie nachdachte. Ab und zu nahm sie wahr, daß er sie anstarrte, und dann drehte sie sich zu ihm um, blickte ihm in die Augen und lächelte ihn strahlend an. Nie sah er diesen Gesichtsausdruck an ihr, wenn sie jemand anderen anlächelte. Und Carly spürte nie ein ähnliches Flattern in der Brust wie in den Momenten, in denen sie zufällig wahrnahm, daß er sie betrachtete. »Boomer Bannerman«, flüsterte Carly, als sie sich in einer mondhellen Nacht aus dem Fenster beugte. »Leuchtender Abendstern, bring Boomer Bannerman zu mir!« Es war März, die Knospen der Bäume waren aufgesprungen, und ihr filigranes Laubwerk zeichnete sich vor den Straßenlaternen als Silhouette ab. Boomer hatte es sich angewöhnt, Carly um neun Uhr, wenn die 15
Proben zu Ende waren, nach Hause zu begleiten. Er tat dies unter dem Vorwand, es sei zu gefährlich für ein Mädchen, allein durch die Straßen zu laufen, obwohl in Wahrheit die einzigen Verbrechen, die jemals in Verity begangen wurden, Geschwindigkeitsüberschreitungen waren – und selbst diese begingen nur Teenager oder auswärtige Fahrer beim Durchgangsverkehr – und kleine Vandalismusakte wie zum Beispiel das Anzünden von Feuerwerkskörpern in ländlichen Briefkästen mitten in der Nacht. Als er sich endlich dazu durchrang, sie zu küssen, war es ein langer und süßer Kuß, der Carly schmelzen und sich nach mehr sehnen ließ. Sie legte sich ins Bett und beobachtete, wie der Mondschein weißlich in ihr Schlafzimmer fiel. Dann setzte sie sich in ihrem durchsichtigen Nachthemd auf, schlang die Arme um ihre Knie und sagte laut: »O Boomer.« Auch Francey nahm in ihrem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors den Mondschein wahr. Das Radio war so leise gestellt, daß sie es nur mit Mühe hören konnte, und dort wurde ein Lied aus den Zeiten gespielt, als sie in Carlys Alter gewesen war. Sie hatte ihr Nachthemd ausgezogen und tanzte durch das Zimmer, mit einem unsichtbaren Partner, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, doch sie spürte seine Hand beim Tanzen auf ihrem Rücken, und sie hätte schwören können, daß er sie ganz eng an sich zog, so eng, daß sie fühlte, wie ihre Brüste sich an ihn preßten und seine Beine sich an ihre schmiegten, während sie im Mondschein durch das Zimmer wirbelten.
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2 Boomer war von Natur aus sportlich veranlagt und schwamm weiter und schneller als jeder andere in der ganzen Gegend. Im Football war er furchtlos und legte sich ohne jeden Gedanken an eine Verletzung mit seinen Gegenspielern an, und doch landete er schon vor dem High-School-Abschluß mit einer ausgerenkten Schulter, einer gebrochenen Nase, einem gebrochenen Bein und einem gebrochenen Arm im Krankenhaus. Die ausgerenkte Schulter rührte von dem Versuch her, mit einem Pferd über ein Hindernis zu springen, das zehn Zentimeter höher als alles andere war, woran sich das Pferd bisher versucht hatte. Den gebrochenen Arm hatte er sich zugezogen, als er bei seinem Bemühen, Tiger, Homer Barrons orange und weiß gemusterte Katze, zu retten, von einem Pfirsichbaum gefallen war. Das gebrochene Bein kam daher, daß er mit Bob Donovans Motorrad gefahren war, und seine Nase hatte bei einem Faustkampf in der sechsten Klasse mal was abbekommen. Als er fünfzehn war, brachte sein Daddy ihm das Autofahren bei, und zu seinem sechzehnten Geburtstag schenkte er Boomer einen Chevy Bei Air. Er war der einzige Junge, der in einem neuen Wagen zur Schule kam. Sämtliche Mädchen verzehrten sich danach, von Boomer in seinem Chevy mitgenommen zu werden. Boomer und seine Freunde, die allgemein Boomers Bande genannt wurden, sorgten wie niemand sonst für Aufregung in Verity. Der Senator hatte ihm den Wagen unter der Voraussetzung geschenkt, daß er nichts trank, »noch nicht einmal einen kleinen Schluck Bier, hörst du«, solange er nicht die High-School abgeschlossen hatte, und das war mit achtzehn Jahren, einem Monat und drei Tagen. »Falls mir zu Ohren kommen sollte, daß du etwas getrunken hast, werde ich dir den Chevy wegnehmen, und du kriegst nie wieder einen anderen Wagen von mir.« Senator Bannerman drohte Boomer mit dem Finger, obwohl er wußte, daß das nicht nötig war. Boomer hatte es ihm versprochen, und Boomer brach nie, aber auch wirklich nie, was er versprach. Und außerdem vergötterte er seinen Daddy. Senator Bannerman hatte seinem einzigen Sohn seine eigenen strengen ethischen Grundsätze eingeimpft. Er erklärte Boomer, wie schön es sei, das Mädchen, mit dem man ins Bett gehe, echt und ehrlich zu mögen. Earl Bannerman respektierte die Frauen, und er wollte, daß auch sein Sohn sie respektierte. 17
Insbesondere galt sein Respekt seiner Sekretärin in Austin, die mehrmals im Jahr nach Verity kam, »um Liegengebliebenes aufzuarbeiten«. Boomer beachtete sie kaum. Sie war nicht hübsch, sie trug eine Brille, und sie war alt. Als er ihr vor zehn Jahren zum erstenmal begegnet war, mußte sie bereits fünfunddreißig gewesen sein. Boomer lernte von seinem Vater, daß ein Mann durch sein Wort gebunden war und daß sich ein Versprechen mit einem Handschlag besiegeln ließ. Boomer war so stolz auf seinen Daddy, wie kein anderer Junge in ganz Verity auf den eigenen Vater hätte stolz sein können. Earl Bannerman hatte vor Boomers Geburt die Elektrizität nach Verity gebracht, in seiner ersten Legislaturperiode, als Franklin D. Roosevelt mit seinem New Deal im ländlichen Amerika und auch für die Arbeitslosen Wunder gewirkt hatte. Boomer berief sich nur sehr selten auf die Verwandtschaft mit seinem Vater. Statt dessen bemühte er sich, den Erwartungen zu entsprechen, die an den Sohn eines Senators gestellt wurden, und er war stolz darauf, ein Bannerman zu sein. Aber Boomer war schon für sich allein genommen eine Wucht, insbesondere in einer Stadt wie Verity. Zwar beneideten die anderen Jungs Boomer, doch sie mißgönnten ihm nichts. Sie waren gern mit ihm zusammen, und es machte ihnen Spaß, an den Samstagabenden mit ihm durch die Stadt zu fahren und spöttisch über Titten und Ärsche herzuziehen, während sie versuchten, Mädchen aufzugabeln. Carly Anderson trieb sich Samstag abends nicht auf dem Stadtplatz herum, und daher konnten sie auch nicht über sie lästern, wenn sie in Boomers schnittigem Wagen dort vorbeifuhren, doch wenn sie über Mädchen redeten, fiel in jedem dieser Gespräche unweigerlich Carlys Name, und auch Anspielungen auf ihre Figur waren an der Tagesordnung. Die Mütter hegten Boomer gegenüber ambivalente Gefühle. Sie wünschten sich, er würde ihre Töchter zu einem Rendezvous bitten, weil er Senator Bannermans Sohn und der Captain des Footballteams war, aber auch, weil er der beliebteste Junge in der ganzen Stadt war. Gleichzeitig erschauerten sie bei diesem Gedanken, denn wenn er ihnen sonntags in der Kirche begegnete oder sich auf dem Parkplatz vor der Gemischtwarenhandlung erbot, ihnen die Lebensmittel zum Auto zu tragen, dann sagten sein strahlendes Lächeln, seine kräftigen Muskeln, seine Anmut und die freundliche, offene Art, einem mitten ins Gesicht zu sehen, eben diesen Müttern, daß ihre Töchter es nicht 18
fertigbringen würden, ihm zu widerstehen. Boomers große braune Augen standen weit auseinander, und dazwischen saß die Nase, die er sich mit Zwölf gebrochen hatte. Er hatte einen schönen Mund, und seine Lippen waren voll und gewöhnlich zu einem unbefangenen Lächeln verzogen. Seine Stimme war melodisch und zugleich rauh, und er trat bezaubernd galant auf. Erstaunlicherweise war er zu dem Zeitpunkt, zu dem er Carly zum Abschlußball einlud, noch nicht mit vielen Mädchen ausgegangen. Seine erste sexuelle Erfahrung hatte er mit Vierzehn gemacht, mit einem Mädchen aus Mount Barker, das die Beine für jeden Jungen breitmachte, der sie ins Kino einlud und ihr einen Milkshake ausgab. Obwohl er das Ganze als angenehm empfunden hatte, hegte er doch seine Zweifel an einem Mädchen, das es praktisch mit jedem trieb. Den Sommer zwischen seinem ersten und zweiten Jahr an der HighSchool verbrachte er in Heuschobern mit einem Yankee-Mädchen, das aus dem Norden von Michigan kam und bei Mrs. Ferguson, seiner Tante, zu Besuch war, die gegenüber von Bannermans wohnte. Verity war vor Aufregung ganz aus dem Häuschen, als Boomer und Carly sich die ersten Male gemeinsam in der Öffentlichkeit blicken ließen, im Hot Shop ihre Cherry-Cokes tranken, Samstag abends im Drive-In auftauchten und Sonntag morgens gemeinsam in der Kirche erschienen. Carly war den Moralaposteln von Verity ebenso suspekt wie ihre Mutter, die ihrer Meinung nach den Job im Diner nur ihren kurzen Röcken und ihren prall gefüllten Blusen zu verdanken hatte. »Man kann sich ja denken, was Boomer von diesem Mädchen will«, sagten sie. Bestand darin auch nicht sein einziges Ziel, so war es doch das, was Boomer tatsächlich von Carly wollte. Es war so schlimm geworden, daß er an nichts anderes mehr zu denken vermochte als an sie. Wenn er lernen wollte und spätabends an seinem Schreibtisch saß und immer wieder dieselbe Seite las, dann konnte er nichts anderes als Carly vor sich sehen, ihre lachenden Augen und ihr goldenes Haar und die Ader an ihrem Hals, die sich blau gegen die zarte blütenweiße Haut absetzte. Er konnte ihren Geruch einatmen, diesen frischen und sauberen Duft, wie Wälder und Wiesen unter der Sommersonne. Er dachte immer wieder daran, was er empfunden hatte, als er im Drive-in seinen Arm um sie gelegt und sie vertrauensvoll den Kopf an seine Schulter geschmiegt und eine Hand 19
auf sein Bein gelegt hatte. In dem Moment hatte er nur gehofft, sie könnte nicht fühlen, was in ihm vorging. Im Unterricht sah er sie vom anderen Ende des Klassenzimmers aus an und beobachtete, wie sie mit den wohlgeformten Beinen wippte; ihre Zehennägel waren leuchtend rot lackiert, in einem Farbton, der zu ihrem Lippenstift paßte. Senator Bannerman hatte zu Ostern in der Kirche ein einziger Blick auf Carly genügt, um zu erkennen, daß dies eine Phase war, die Boomer durchmachen mußte. Wenn es erst einmal soweit war, daß Boomer das College abschloß, würde er all das längst ausgelebt haben und sich ein passenderes Mädchen suchen, ein Mädchen, das nicht den Eindruck erweckte, jeden Moment die Knöpfe seiner Bluse zu sprengen, ein Mädchen, das nicht ganz so laut lachte. Bis dahin mußte er tolerant sein und die Situation akzeptieren. Als er erfuhr, daß Boomer mit diesem Mädchen zum Abschlußball gehen wollte, schlug er ihm vor, ein Ansteckbukett aus Orchideen zu besorgen. Boomer stellte sich jedoch noch geschickter an und fragte Francey nach der Farbe des Kleides, das Carly zum Abschlußball tragen würde. »Rot«, sagte Francey und wies ihn darauf hin, daß sich eine einzige weiße Kamelie an einem roten Band perfekt eigne. Boomer mochte Francey trotz ihres Akzents, der deutlich darauf hinwies, daß sie aus der Gegend nördlich der Mason-Dixon-Linie stammte. Sie machte Fotos von den beiden, als Boomer kam, um Carly abzuholen. Als er ihr mit ihren hoch aufgesteckten Locken und ein paar duftigen Strähnen, die über ihr rechtes Ohr fielen, gegenüberstand, dachte Boomer, daß er so etwas wie Carly noch nie gesehen hatte, Franceys goldene Kreolen baumelten an ihren Ohrläppchen, aber bis auf die gigantische weiße Blüte am Halsausschnitt trug Carly keinen weiteren Schmuck. »Du brauchst nicht aufzubleiben und auf mich zu warten«, sagte Carly und gab ihrer Mutter einen Gutenachtkuß. Sie tanzten den ganzen Abend miteinander und ließen keinen einzigen Tanz aus, weder die langsamen, verträumten Melodien, während deren sie für niemand anderen Augen hatten, wenn er sie eng an sich schmiegte und ihr ins Ohr flüsterte: »Du gehörst in meine Arme«, noch die schnellen, ungestümen neuen Tänze, wie den Shimmy, bei dem sie sich schüttelten und sprangen und vor Freude laut lachten. Carly hatte in ihrem ganzen Leben nie einen so wunderbaren Abend verbracht. 20
Als alles vorbei war und die ersten Girlanden aus Kreppapier von der Decke der Sporthalle zu fallen begannen, sagte Boomer: »Komm doch noch mit zu mir.« Obwohl keine Sitzung stattfand, hielt sich der Senator in Austin auf und respektierte dort seine Sekretärin, doch Boomer hegte nicht den geringsten Verdacht. Er wußte lediglich, daß niemand zu Hause war. Carly hatte noch nie ein so großes Haus mit so vielen dunklen Möbelstücken und so vielen Gemälden von Vorfahren an den Wänden gesehen, und noch nie eine Küche mit zwei Herden und mit Töpfen, die an Flaschenzügen von der Decke hingen, und noch nie ein Badezimmer, das größer als ihr eigenes Zimmer war. Sie hatte auch noch nie Boomers Zimmer gesehen, und dorthin führte er sie, nachdem er sie in jedem einzelnen Raum des unteren Stockwerks und auf jeder einzelnen Stufe der langen Treppe geküßt hatte, bis Carly so trunken vor Verlangen war, daß ihr schwindelte. Sie entschied, sie sei verliebt. Als Boomers Hand endlich ihre Brüste streichelte, war sie bereit, sich die Kleider vom Leib zu reißen und die Vorsicht in den Wind zu schlagen, obwohl sie nervös war und sich fragte, was eigentlich genau von ihr erwartet wurde und ob sie ihre Sache denn auch richtig machen würde. Dagegen wußte sie jedoch nur zu genau, daß sie seine Küsse überall auf ihrem ganzen Körper spüren wollte, daß sie von seinen Händen berührt werden, neben ihm liegen und sehen wollte, wie der Körper eines Mannes tatsächlich aussah. Sie ließ ihr Kleid auf den Fußboden fallen. Darunter trug sie nichts weiter als einen kleinen Slip aus weißer Spitze. »Himmel!« stieß Boomer hervor und zog sie eng an sich. Er vermutete, daß sie sogar noch schöner war als Marilyn Monroe zu ihren Glanzzeiten. Er knöpfte sein Hemd auf, warf es über einen Stuhl, zog den Reißverschluß seiner Hose runter und ließ sie auf den Boden fallen. Dann hob er Carly hoch und trug sie zu seinem Bett. Sie bewegte sich unter ihm, reagierte auf seine Bewegungen und stöhnte, als er zärtlich in ihre Brüste biß und seine Zunge über deren Spitzen schnellen ließ. »Hör nicht auf«, flüsterte sie und vergaß ihre Furcht, bis sie seine Härte zwischen ihren Beinen fühlte. »Du hast den schönsten Körper auf dieser ganzen gottverdammten Welt«, flüsterte er. Carly lachte, während ihr eine Gänsehaut über den Nacken und langsam auch über die Arme lief. Trotz all seines Mangels an Erfahrung spielte Boomer sie wie ein Virtuose, der seine Stradivari 21
stimmt, und die Berührungen seiner Finger entlockten ihr ein tosendes Crescendo. Er tat ihr nur einen Moment lang weh, aber sie war gebannt und hatte sich so sehr in eine Ekstase hineingesteigert, daß der vorübergehende Schmerz ihre Bewegungen noch nicht einmal verlangsamte. »O Boomer!« rief Carly, als unerwartet warme Wogen über sie hin wegspülten. »O mein Gott!« flüsterte er mit den Lippen an ihrem Hals.
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3 Als
Ende Mai die Abschlußzeugnisse ausgegeben wurden, wurde Carly die Auszeichnung zuteil, die Abschlußrede zu halten. Zwar waren die Frauen, die in Verity das Sagen hatten, überrascht, doch gab man in Verity nicht allzuviel auf den Verstand, und schon gar nicht, wenn es sich um denjenigen eines Mädchens handelte. Intellektuellen wurde Argwohn entgegengebracht; nichtsdestoweniger herrschte allgemeines Erstaunen darüber, daß auf diesem Körper mit diesen Rundungen ein funktionierender Kopf saß. Da Intellekt jedoch keineswegs ein Kriterium dafür war, daß man sich in die Gesellschaft von Verity einfügte – vielleicht las dort noch nicht einmal ein halbes Dutzend Leute ein halbes Dutzend Bücher im Jahr –, wurden Carlys schulische Erfolge geflissentlich übergangen, abgesehen davon, daß sie den Preis von einhundert Dollar gewann, den die First National Bank für herausragende schulische Leistungen ausgesetzt hatte. Boomer hatte ein Stipendium für die University of Texas oben in Austin bekommen, doch er würde den ganzen Sommer zu Hause verbringen und seinem Baggerfahrerjob nachgehen, der ihm in diesen paar Monaten mehr einbrachte als das, was Francey in einem Jahr verdiente, einschließlich der Trinkgelder. Carly hatte in der High-School Maschinenschreiben gelernt. Sämtliche anderen Kurse, in denen sie sich hervorgetan hatte, hätten ihr Zugang zu einem College verschafft, wenn sie es sich hätte leisten können, doch keines dieser Fächer würde ihr dabei behilflich sein, in Verity einen Job zu finden. Dennoch bekam sie einen Job, ehe sie auch nur begonnen hatte, sich danach umzusehen. Einen Tag nachdem es Zeugnisse gegeben hatte, rief der Bankdirektor an und erklärte, sie solle, wenn sie möge, bei ihm vorsprechen. Sie hatte die Bank, die einzige in der ganzen Stadt, noch nie auch nur betreten. Da Blue ihre Mutter immer bar bezahlte, brauchten sie keine Bank. Es gab zwei Schalter für die Kassierer, einen langen Schalter mit Schreibstiften, Scheckformularen und Einzahlungsbelegen und die Tür zum Büro, auf der stand: WALTER B. DAVIS, BANKDIREKTOR. Francey hatte gesagt: »Wahrscheinlich plant er eine freundliche Geste, weil sie dir diesen Preis verliehen haben. Vielleicht wird er dir zeigen, wie man ein Bankkonto eröffnet.« 23
Als Carly sein Büro betrat, stand der stämmige Mann auf und streckte ihr über seinen Schreibtisch aus dunklem Walnußholz die Hand entgegen. Sie schüttelte seine Hand, die ihr wie eine freundliche Pranke erschien, und er machte ihr ein Zeichen, auf einem Ledersessel Platz zu nehmen. Als er sie aufmunternd anlächelte, spiegelte sich in seinen Brillengläsern mit dem dünnen goldenen Gestell die Sonne wider. »Ihre Rede gestern hat mich beeindruckt«, sagte er, während er das Ende einer Zigarre abschnitt und unter einem Stapel von Papieren nach einem Streichholz suchte. »Haben Sie sie selbst geschrieben?« »Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.« Er war untersetzt, sein blondes Haar lichtete sich schon, und ein kleiner Bauch drohte, sich zu einem Rettungsring auszuweiten, wenn er nicht bald anfing, Gymnastik zu betreiben. Für einen Mann, der darüber entschied, wer Darlehen bekam und ob aus einer Hypothek die Zwangsvollstreckung betrieben wurde, gab sich Walt Davis unauffällig und zurückhaltend, zumal er früher auch noch Vorsitzender des Rotary Club gewesen war. »Sie werden jetzt aufs College gehen?« Als Carly den Kopf schüttelte, zog er an seiner Zigarre und füllte den Raum mit einem Gestank, von dem ihr ein wenig übel wurde. »Das ist eine wahre Schande. Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?« »Ich werde mich nach einem Job umsehen.« Sie konnte beim besten Willen nicht ahnen, daß ihr Lächeln und ihre Direktheit ihn betörten. »Ehe Sie den Preis der First National Bank erhalten haben, habe ich mich nach Ihrem Notendurchschnitt erkundigt. Es ist eine verfluchte Schande, eine so herausragende Intelligenz zu vergeuden. Wollen Sie hier arbeiten? Eine meiner Schalterangestellten scheidet aus, weil sie heiratet.« Carly blinzelte. »Die Arbeitszeit ist von acht bis fünf, mit einer Stunde Mittagspause, zwei Wochen Urlaub im Jahr und fünfundsechzig Dollar die Woche«, fuhr er fort. Dann lächelte er sie auf eine Art und Weise an, die sie als äußerst väterlich empfand. »Sie sind doch die Tochter von Francey Anderson, der Kellnerin im Diner, nicht wahr?« Carly nickte. Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, wußte jedoch, daß sich das nicht gehörte. Also ließ sie die Hände auf dem Schoß liegen und blieb mit züchtig geschlossenen Knien in dem tiefen Ledersessel sitzen. »Was ist?« fragte er. »Wollen Sie den Job?« »O ja, Sir. Ja, sicher.« 24
Er lachte, ein angenehm klingendes Lachen, und seine Augen funkelten belustigt. »Nach zwölf Jahren Schule haben Sie vermutlich dringend Urlaub nötig, und deshalb werde ich Sie nicht gleich für morgen herbestellen. Was halten Sie davon, in zwei Wochen hier anzufangen?« Er stand auf und reichte Carly die Hand. Carly umfaßte über den Schreibtisch hinweg seine ausgestreckte Hand mit beiden Händen. »O ja, Sir. Vielen Dank.« »Ich heiße Mister Davis«, sagte er lächelnd, »und nicht Sir.« »O ja, Sir. Ich werde es mir merken.« Boomer lachte, während seine Finger den Verschluß ihres BHs öffneten. »Du in der Bank?« Von dem Moment an, da er sie von der Arbeit abholte, bekam er im Grunde genommen kein einziges Wort davon mit, was sie sagte. Solange sie sich nicht geliebt hatten, war seine gesamte Konzentration darauf ausgerichtet, ihren reizvollen Körper zu erforschen, eine neue Stellung auszuprobieren oder zu sehen, wie Carly auf oralen Sex reagierte. Oder, genauer gesagt, um zu sehen, ob er es mochte. Millicent Pilgrim war schon seit sechsunddreißig Jahren bei der Bank. Ihr graues Haar war dünn und nie ganz gleichmäßig geschnitten. Sie schaute hinter dicken Gläsern, die ihre grün gesprenkelten Augen stark vergrößerten, auf die Welt hinaus. Carly fand, daß sie wie eine Eule aussah. Sie brachte jedem einzelnen Kunden der First National Bank unerschöpfliche Höflichkeit entgegen und erkundigte sich nach dem Befinden eines kranken Säuglings; nach dem Stadium der Schwangerschaft einer Cousine oder nach dem Kropf einer Schwägerin. Sie kannte jeden, der ein Bankkonto hatte. Alles, was sie zu hören bekam, waren jedoch Informationen und niemals Klatsch, da sie ihr Wissen ausschließlich über ihren marmornen Bankschalter bezog und es nie aus belanglosen Gesprächen im Alltag schöpfte. Nach der Arbeit begab sich Miss Pilgrim auf direktem Weg nach Hause. Einmal wöchentlich, am Donnerstag, erledigte sie ihre Einkäufe im Selbstbedienungsladen, doch sonst bekam man Miss Pilgrim außerhalb der Arbeitszeiten nie zu sehen. An den Sonntagen überquerte sie noch nicht einmal die Straße, um den Gottesdienst in der Baptistenkirche zu besuchen. Miss Pilgrim hatte noch nie von Francey Anderson oder ihrer Tochter gehört, abgesehen davon, daß Carly den angesehenen Preis der First National Bank erhalten hatte. Mit Nachrichten wurde Miss Pilgrim von Fernsehreportern wie Walter Cronkite oder David 25
Brinkley eingedeckt, und daher wußte sie genauer darüber Bescheid, was sich im Mittleren Osten, in Bangladesch oder auch in New York City abspielte, als über das, was in Verity vorfiel. In ihren sechsunddreißig Jahren bei der Bank war ihr nie ein Fehler unterlaufen, und sie hatte sich nicht ein einziges Mal um einen einzigen Cent verrechnet. Erst in den letzten zwölf Jahren war eine zweite Schalterangestellte notwendig geworden, und seitdem waren sieben andere Angestellte gekommen und gegangen. Miss Pilgrim brachte jeder einzelnen von ihnen alles, was sie wußte, bei, sie blieb grenzenlos freundlich, wenn sie etwas zum zweiten- oder gar drittenmal wiederholen mußte, und runzelte niemals kritisch die Stirn, wenn ihre Kolleginnen Fehler machten. Nachdem Carly sechs Wochen in der Bank gearbeitet hatte, erschien Mr. Davis in der Tür und forderte sie auf, in sein Büro zu kommen. Sie dachte, er würde sie vielleicht dafür tadeln, weil sie vorhin Boomer zugewunken und ihm aus der Bank etwas zugerufen hatte. Aber Mr. Davis schloß die Tür hinter ihr und sagte: »Wie ich sehe, hatten Sie in der HighSchool zwei Jahre lang Spanisch belegt.« Carly lächelte überrascht und sagte: »Si.« Er lachte auf seine nette, väterliche Art. »Aber ich kann es nicht wirklich sprechen«, fuhr sie fort. »Ich bin ziemlich gut im Konjugieren von Verben, doch das ist auch schon alles. Und wenn ein Mexikaner schnell spricht, verstehe ich kein Wort.« Mr. Davis nickte. »Ich stelle mir folgendes vor: Ich werde von der Berlitz-Schule ein paar Kassetten anfordern. Um drei Uhr, wenn die Bank schließt, kann Miss Pilgrim die Konten bearbeiten und auch für Ihre Kunden die Buchungen übernehmen, und Sie lernen jeden Tag eine Stunde lang Spanisch. Es gibt so viele Mexikaner hier in der Gegend, und Miss Pilgrim sind sie irgendwie unheimlich. Jemand, der ihre Sprache beherrscht, wird unser Image aufbessern und unseren Geschäften Auftrieb geben, aber gleichzeitig auch den Mexikanern eine große Hilfe sein.« Carly strahlte ihn an. Sie vermochte kaum zu glauben, daß er ihr jetzt schon Verantwortung übertrug. »Ihr Vater ist tot, nicht wahr?« sagte Mr. Davis plötzlich. Carly nickte. Sie war bestürzt über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte. »Das muß ein hartes Leben für Ihre Mutter sein.« Konnte man das so sagen? Carly fand, ihre Mutter sei tapfer und einfallsreich, und sie gab sich nie so, als wäre ihr Leben schwer. »Zu Hause summt sie oft vor sich hin«, entgegnete Carly, und dann begriff sie, wie albern ihre Bemerkung klingen mußte. 26
»Ach ja?« Mr. Davis schnitt die Spitze einer Zigarre ab, und Carly hatte plötzlich nichts anderes mehr im Kopf, als aus seinem Büro zu verschwinden, ehe er sie anzündete. Sie stand auf und sagte: »Ich lerne gern etwas dazu, Mister Davis. Ich hätte nicht das geringste dagegen, mein Spanisch aufzubessern.« Als sie auf die Tür seines Büros zuging, fiel sein Blick auf ihre Hüften, und er dachte, daß sie ihrer Mutter wirklich sehr ähnlich sah, der er bei den Abschlußfeierlichkeiten in der High-School zum erstenmal begegnet war. Am nächsten Abend, als sie den Salat anmachte, erzählte Francey Carly: »Dein Boss hat heute morgen im Diner gefrühstückt. Er ist wirklich sehr nett. Er hat gesagt, du würdest deine Arbeit gut machen, und daß er dich eingestellt hat, sei vielleicht die klügste Entscheidung gewesen, die er im ganzen letzten Jahr getroffen hat.« Carly spürte, daß sie errötete. Walt Davis stand in der Tür seines Büros und mußte sich enorm zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Die Bank erschien ihm ganz so, als feierten Vierzehnjährige dort ein Klassenfest. Die Frauen standen Schlange und warteten auf Miss Pilgrim, wohingegen sich jeder einzelne Mann bei Carly angestellt hatte. Wenn eine Frau hereinkam – abgesehen von den Lehrerinnen, die in der High-School unterrichteten –, wartete sie selbst dann darauf, von Miss Pilgrim bedient zu werden, wenn bei Carly niemand anstand und sie dort augenblicklich drangekommen wäre. Als der September seinem Ende nahte, fiel ihm auf, daß sich auch die Mexikaner, die in die Bank kamen, bei Carly anstellten, um von ihr bedient zu werden. Carly brach jedoch das Herz. Boomer war in der letzten Augustwoche zum Footballtraining nach Austin gefahren, obwohl nicht die geringste Chance bestand, daß er schon im ersten Studienjahr im Collegeteam mitspielen würde. Er hatte gelobt, noch vor Thanksgiving nach Hause zu kommen, und er hatte im Scherz gesagt, er würde ihr raten, sich mit keinem anderen einzulassen, solange er fort sei. Als ob sie auch nur im Traum daran gedacht hätte. Niemand konnte sich an Boomer messen, und so würde es auch bleiben. Er hatte sie zwar gewarnt, er sei kein großer Briefschreiber, doch sie schrieb ihm täglich. Sie vermißte es, von ihrer Arbeit aufzublicken und ihn mit einem breiten Grinsen neben der Eingangstür zur Bank stehen zu sehen, wenn es Zeit für ihre Mittagspause war. Sie vermißte seine Küsse und seine Blicke, die sie dahinschmelzen ließen. Sie vermißte es, mit ihm zu schlafen, und sie vermißte auch die Dinge, die seine Hände 27
und seine Zunge mit ihrem Körper taten. Sie hatte sich bisher nicht vorzustellen vermocht, daß sich jemand derart einsam fühlen könnte. »Mom«, sagte Carly eines Abends, nachdem sie sich Bonanza angesehen hatten, »es ist allmählich an der Zeit, daß du mir das Autofahren beibringst.« Francey nickte und trank einen Schluck von dem einen Bier, das sie sich allabendlich genehmigte. »Okay«, willigte sie ein. Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Nach dem Abendessen ist es noch hell. Du besorgst dir morgen in der Mittagspause eine vorläufige Fahrerlaubnis, und dann fangen wir gleich damit an.« Der Wagen, den sie hatten, war ein Ford, neun Jahre alt, und Francey wusch ihn jeden Samstagnachmittag und säuberte das Wageninnere mit dem Staubsauger, weil sie wußte, daß sie niemals in der Lage sein würde, sich einen anderen Wagen zu leisten. Sechs Wochen später hatte Carly ihren Führerschein – sechs Wochen, in denen sie Boomer unermüdlich schrieb und sich mit den Mexikanern, die in die Bank kamen, um ihre Lohnschecks einzulösen, mit einem äußerst begrenzten Vokabular und doch enthusiastisch unterhielt. Einer von ihnen eröffnete sogar ein Konto. Die meisten wurden natürlich bar bezahlt, unter der Hand, und sie bekamen Löhne, für die kein Amerikaner gearbeitet hätte. Die Mexikanerinnen putzten, spülten, kochten Mahlzeiten, erledigten Einkäufe, wechselten Windeln und waren im großen und ganzen für alle da, die sich in Verity Haushaltshilfen leisten konnten. Und in Anbetracht dieser Stundenlöhne konnte sich fast jeder in Verity einen solchen Luxus leisten. Die mexikanischen Männer mähten den Rasen, jäteten Unkraut und reparierten Reifen. Einige von ihnen arbeiteten als Viehtreiber und Cowboys oder schleppten in der Futter- und Getreidehandlung schwere Säcke. Die allerwenigsten von ihnen hatten Bankgeschäfte zu tätigen, doch es sprach sich herum, daß dort ein neues Mädchen arbeitete, das ein wenig Spanisch sprach und so lächeln konnte, daß einem Mann danach zumute war, »Ole!« zu rufen. In diesen sechs Wochen erhielt Carly nur eine einzige Postkarte von Boomer, auf der das Regierungsgebäude in Austin abgebildet war und er ihr mitteilte, daß sie ihm fehlte, es ihm aber großartig gehe, und »wir sehen uns dann zu Thanksgiving«. Mit keinem einzigen Wort war davon die Rede, daß er schon vorher für ein Wochenende nach Hause kommen würde. Carly weinte sich in den Schlaf. Sie wußte ganz genau, daß er 28
Studentenpartys mit wunderschönen Mädchen besuchte, die Cheerleader waren und kurze, enge Röcke und elegante Perlenketten trugen und Boomer herablassend lächelnd nicht mehr erlaubten, als ihre geschlossenen Lippen zu küssen. Wahrscheinlich ritten sie im Damensitz, besuchten in langen weißen Kleidern Tanzveranstaltungen und schlossen sich Studentinnenverbindungen an. Aber an Thanksgiving würde sie es ihm zeigen. Nachdem er ihr in all den Wochen nur eine einzige Postkarte geschrieben hatte, dachte sie gar nicht daran, mit ihm ins Bett zu gehen. Nach Boomers Rückkehr am Abend vor Thanksgiving hielt sie genau eine Stunde und dreiundvierzig Minuten an ihrem Entschluß fest. In der ersten Dezemberwoche, als Boomer wieder in Austin war, sah Francey Anderson zu ihrem Erstaunen, daß Walt Davis eines Morgens um sieben Uhr dreißig wieder den Diner betrat, mit dem Hut in der Hand stehenblieb und seinen Blick über die Tische schweifen ließ, die weitgehend schon besetzt waren. Abgesehen davon, daß er dem Rotary Club angehörte, hatte Mr. Davis auch in der lokalen Schulbehörde seinen Dienst geleistet – zwei seiner Dienstjahre hatte er als Vorstand verbracht –, und er hatte im Kuratorium der Baptistenkirche gesessen, ehe er aufgehört hatte, zur Kirche zu gehen. Außerdem war er Bezirksvorsitzender der Demokraten. Er war zweiundvierzig Jahre alt, und sein Haus war neben dem der Bannermans das imposanteste der Stadt. Der größte Raum in ihm war die Bibliothek, die umfangreichste im ganzen Bezirk. Er las eine Menge. Zwar führte er ein recht zurückgezogenes Leben, doch bis er im letzten Juni auf dem Abschlußfest der HighSchool Francey Anderson gesehen hatte, war ihm nicht bewußt gewesen, daß er einsam war. Walt hatte zum Frühstück bestenfalls Orangensaft, Toast und Kaffee zu sich genommen, seit seine verstorbene Ehefrau Peg vor zwölf Jahren aufhören mußte, ihm die Mahlzeiten zuzubereiten, weil ihre multiple Sklerose zu schlimm geworden war. So war niemand überraschter als er selbst, als er eines Morgens in der ersten Dezemberwoche nicht etwa seinen Kaffee durchlaufen ließ, während er sich rasierte, sondern in den Diner ging, nachdem er geduscht und sich angezogen hatte. Er hatte ungewöhnlich viel Zeit darauf verwendet, eine Krawatte auszusuchen, und er war zu dem Entschluß gelangt, daß er ein paar neue, buntere Krawatten brauchte. Walt Davis war seit fast zwölf Jahren mit keiner Frau mehr im Bett gewesen, und er hatte nie eine andere Frau als Peg gehabt. Aber 29
Francey Anderson hatte Sehnsüchte in ihm wachgerufen, die ihm unbekannt waren. Er wußte nur, daß er sich ruhelos fühlte. Sowie Francey ihn in der Tür stehen sah, ging sie auf ihn zu und lächelte ihn an. »Na so was, Mister Davis. Schön, Sie wiederzusehen. Wie wäre es mit dem Tisch dort drüben am Fenster?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern ging voraus, und er folgte ihr und fragte sich, warum er sich so benommen fühlte. Und so beschwingt. Er setzte sich und legte seinen Stetson auf den Stuhl neben sich. Francey nahm ein Flattern in ihrer Brust wahr. »Meine Tochter redet ständig von Ihnen. Man kann wohl sagen, daß Sie ihr Leben gewaltig verändert haben.« »Auf dieses Mädchen können Sie enorm stolz sein.« »Das bin ich auch.« Francey war erstaunt über die Herzlichkeit des Mannes. »Was darf ich Ihnen bringen? Fürs erste einen Kaffee?« Er nickte. »Und einen Orangensaft. Den brauche ich morgens, um in Gang zu kommen.« »Unsere Blaubeerpfannkuchen sind unschlagbar«, sagte sie von sich aus, als sie mit seinem Kaffee zurückkam. »Sie nehmen Sahne und keinen Zucker?« Er nickte. »Das weiß ich noch vom letzten Mal, als Sie hier waren. So trinke ich meinen Kaffee auch immer.« Er mußte sich zusammenreißen, um nicht einen Arm auszustrecken und ihre Hand zu berühren, als sie dastand und den Bleistift einsatzbereit über ihren Block hielt. Er beobachtete sie, als sie andere Gäste begrüßte, offenbar Stammgäste, wenn man danach urteilte, wie sie mit ihnen scherzte, und doch fand er, daß sie etwas Damenhaftes an sich hatte. Sie lachte mit ihnen und sprach sie mit ihren Vornamen an, und ihm fiel auf, daß alle sie respektvoll behandelten, obwohl die Blicke, mit denen sie Francey hinter ihrem Rücken bedachten, bei weitem mehr als nur respektvoll waren. Ihm schienen zweieinhalb Jahre zu vergehen, bis sie mit den dampfenden Pfannkuchen zurückkam, obgleich es keine zehn Minuten gedauert hatte. Er verzehrte sich danach, sie am Arm zu packen und sie zu bitten, sich zu setzen und mit ihm zu reden, ganz gleich, worüber, solange er nur ihre rauhe, melodische Stimme hören konnte. Er wollte dieses Lachen hören, das ihn an einen plätschernden Bach erinnerte. Das Frühstück kostete zwar nur drei Dollar zwanzig, doch er ließ ein Trinkgeld von fünf Dollar auf dem Tisch liegen, und dann fragte er sich auf dem Weg zur Bank immer 30
wieder, ob sie das als eine Beleidigung auffassen würde. Er wollte nicht, daß sie ihn für gönnerhaft hielt. Als seine Mittagspause nahte, verspürte er keinen größeren Wunsch als den, wieder zu Blue zu gehen und dort zu essen, obgleich ihm in all den Jahren, seit er verwitwet war, und auch schon in den neun vorangegangenen Jahren Doria, die Frau, die sein Haus sauberhielt, auch das Mittagessen zubereitet hatte. Und wenn er abends heimkam, fand er oftmals einen Schinken oder ein Huhn im Kühlschrank. Er konnte Doria jetzt nicht kränken. An jenem Abend berichtete Francey Carly: »Mister Davis ist heute wieder zum Frühstücken gekommen.« »Wahrscheinlich fühlt er sich einsam«, erwiderte Carly. »Er lebt ganz allein.« »Und er hat ein üppiges Trinkgeld gegeben. Er mag dich sehr.« »Morgen nachmittag werde ich rausfahren und Zelda Marie und das Baby besuchen«, sagte Carly. »Das heißt, wenn du den Wagen nicht brauchst. Zelda Marie fühlt sich zur Zeit schrecklich einsam.« »Es scheint ganz so, als fühlten sich sehr viele Menschen einsam«, bemerkte Francey dazu. Carly blickte zu ihrer Mutter auf, die vor dem Herd stand und darauf wartete, daß ihr Souffle aufging. »Fühlst du dich einsam, Mom?« »Einsam? Ich? Ich trage die Einsamkeit schon so lange mit mir herum, daß sie zu einem Teil von mir geworden ist. Ich mache mir nicht einmal mehr Gedanken darüber.« Am nächsten Nachmittag war der Himmel bleigrau, und all die entlaubten Äste ließen die Eichen wie tanzende Skelette wirken. Ein Nieselregen weichte die unbefestigte Straße auf, die zu Zelda Marie führte, als Carly die vier Meilen aus der Stadt hinausfuhr, um ihre Freundin zu besuchen. Sie tat ihr Bestes, um sich für Sally Mae, das fleckige rote Baby, zu begeistern, doch das war die reinste Strapaze. Zelda Marie, die das Baby in all den Monaten ihrer Schwangerschaft gehaßt hatte, war jetzt von ihm besessen. Sie konnte kaum noch über etwas anderes reden, und sie dachte auch an so gut wie nichts anderes mehr. Der gehetzte Ausdruck, der in ihren Augen stand, sagte Carly jedoch deutlich, daß selbst ein Baby, das man ganz für sich allein hat, kein Heilmittel gegen die Einsamkeit ist.
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4 Für Zelda Marie stellte Carlys Besuch den Höhepunkt der Woche dar. Sie war regelrecht deprimiert, als Boomer über Weihnachten nach Hause kam und Carly ihre gesamte Zeit mit ihm verbrachte. Bis auf den Nachmittag des Vierundzwanzigsten, als Carly und Boomer zu ihr rausfuhren, um Geschenke zu bringen, war Zelda Marie allein gewesen, wenn man nicht mitzählte, daß sie jeden Morgen zum Haupthaus hinüberschlenderte und bei einer Tasse Kaffee mit ihrer Mutter plauderte. Ihr Daddy war derart enttäuscht von ihr, daß sie ihre Besuche bewußt auf Zeiten legte, zu denen er nicht daheim war. Sie hatten beide gehofft, ein Enkelkind würde ihn versöhnlicher stimmen, doch da Sally Mae nur ein Mädchen war, blieb er weiterhin ungerührt. »Momma, ich bin nicht die erste Tochter, der so etwas passiert ist.« Zelda Marie knöpfte das Hemd auf, das sie trug, eines von Joe Bobs Hemden, und begann ihr Baby zu stillen. »Irgendwie scheint er zu glauben, du hättest das nur getan, um ihm eins auszuwischen.« Sie sahen einander an und seufzten. »Glaubst du etwa, ich fände es toll, daß Joe Bob kaum noch ein Wort mit mir redet? Er kommt erst nach Hause, wenn ich mich schon längst schlafen gelegt habe. Ich liebe mein Baby, aber ich kann dir versichern, daß es mir ein Greuel ist, verheiratet zu sein. Ich bin entsetzlich einsam. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, und täglich muß ich schmutzige Wäsche waschen. Einmal in der Woche, am Samstagvormittag, kann ich den Wagen haben, um Lebensmittel einzukaufen. Ansonsten komme ich mir vor wie eine Strafgefangene.« »Dein Daddy verbietet es mir, mich um dich zu kümmern, Liebes. Ich würde es gern tun.« »Ich weiß, Momma, ich weiß. Wie kommt es bloß, daß Männer das Recht haben, uns vorzuschreiben, was wir zu tun haben? Ich wünschte, ich hätte nicht auf Daddy gehört und mich geweigert zu heiraten.« Nicht zum erstenmal erzählte Zelda Marie ihrer Mutter, wie es für sie war, wenn sie sonntags zum Mittagessen Joe Bobs Eltern in deren Haus besuchten. »Es ist immer dasselbe. Brathähnchen. Immer. Und sie veranstalten einen großen Wirbel um das Baby, und Joe Bob und sein Daddy reden über Autos, trinken Bier, sehen sich im Fernsehen Ballspiele an und tun so, als wäre ich gar nicht da. Ich helfe beim 32
Abspülen und allem Drum und Dran, und Mistress Lovett ist einigermaßen nett zu mir, aber, Momma, mein ganzes Leben ist mir derart verhaßt.« Mrs. Spencer stand auf, ging zu ihrer Tochter und schlang mit Tränen in den Augen die Arme um sie. An jenem Abend kam Joe Bob um halb elf sternhagelvoll nach Hause. Zelda Marie lag schon im Bett, schlief aber noch nicht. Der Mondschein breitete seinen Glanz über das Land und ließ alles gespenstisch weiß wirken, und in Zelda Marie weckte er Sehnsüchte, die sie sich nicht erklären konnte. Sie hörte, wie Joe Bob nach Hause kam und eine Stehlampe umwarf. Sie lag da und lauschte seinen betrunkenen Verwünschungen. Das Baby fing an zu wimmern. Zelda Marie sprang auf und rannte durch den Flur zu Sally Maes Zimmer. Dort saß sie, hielt das Baby in den Armen und summte, um es zu beruhigen, während Joe Bob mit Obszönitäten um sich warf und brüllte, Zelda Marie habe ihn in eine Falle gelockt und das gottverdammte Baby hätte für ihn alles nur noch schlimmer gemacht. Er verlasse jetzt dieses gottverdammte Haus und komme nie mehr zurück. »Wie sehr ich doch wünschte, er täte es«, flüsterte Zelda Marie ihrer Tochter ins Ohr. Dann kehrte Stille ein. Sie packte das Baby wieder in sein Kinderbettchen und schlich sich durch den Gang. Joe Bob kam aus dem Bad gewankt und folgte ihr. Sie kroch ins Bett und ignorierte ihn. Nachdem er sich neben sie gelegt hatte, streckte er eine Hand aus und berührte ihre Brust. Sie blieb stocksteif liegen. Das hatte er nicht mehr getan, seit sie miteinander verheiratet waren. Sie konnte den Alkohol in seinem Atem riechen, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Dennoch wärmten sie seine Finger, die ihre Brustwarze rieben, bis ins Mark. Seit weit mehr als einem Jahr hatte ihr niemand mehr Beachtung geschenkt, und es war tödlich, derart ignoriert zu werden. Daher öffnete sie bereitwillig den Mund, als seine Zunge durch ihre Lippen stieß, und schon bald darauf fühlte sie sich von Kopf bis Fuß aufgewühlt, und das bloß, weil sie überhaupt berührt wurde. »Für irgendwas mußt du schließlich gut sein«, flüsterte er, als er sich auf sie legte. »Zu irgendwas mußt du doch taugen.« Sie wollte ihm zeigen, daß sie zu etwas taugte, und daher begann sich unter ihm zu bewegen, den Rücken zu wölben und sich an ihn zu pressen, bis sein Whiskeyatem sie einhüllte, als er flüsterte: »Der 33
Teufel soll mich holen.« Es war das zweite Mal, daß ihr Mann mit ihr geschlafen hatte, das zweite Mal, daß überhaupt irgendein Mann in sie eingedrungen war, und sie war seit genau einem Jahr verheiratet und hatte ein Baby, das schon knapp fünf Monate alt war. Ihr gefiel, was er mit ihr getan hatte, obwohl bereits alles vorbei war, ehe ihr Körper sich auch nur darauf einstellen konnte. Vielleicht war sie tatsächlich dabei, ihm zu beweisen, daß sie zu etwas taugte. Während er noch auf ihr lag, hörte sie sein Schnarchen. Er gewöhnte sich nicht an, abends manchmal eher nach Hause zu kommen, und da er nicht da war, brauchte sie ihm kein Abendessen zuzubereiten, doch er begann sie jede Nacht zu berühren, und morgens grinste er sie sogar an, ehe er sich auf den Weg zur Arbeit machte, nachdem er sein Frühstück, bestehend aus Würsten, Polenta, Eiern mit fünf Scheiben Toast und einer Tasse Kaffee, zu sich genommen hatte. Bei einem von Carlys samstäglichen Besuchen hatte Zelda Marie ein blaues Auge. Die gesamte Gesichtshälfte war angeschwollen und blauschwarz verfärbt, mit Spuren von einem Grünton, der äußerst ungesund wirkte. Zelda Marie gab von sich aus keine Erklärung dafür ab, und daher stellte Carly ihr auch keine Fragen, doch sie berichtete es ihrer Mutter. »O Gott«, sagte Francey. »Er nimmt es Zelda Marie entsetzlich übel, daß sie das Baby bekommen und ihm die Freiheit geraubt hat. Männer lassen ihre Frustrationen an Frauen aus, indem sie zu Gewalttätigkeiten greifen.« Carly schüttelte den Kopf. »O Mom, nicht alle Männer tun das. Ich meine, nicht alle Männer schlagen ihre Frauen.« »Vielleicht hast du recht«, stimmte Francey ihr zu, und ihr Blick schweifte in die Ferne. Francey machte eine gänzlich neue Erfahrung. Ihre Stimme war von Staunen erfüllt, als sie verkündete: »Mister Davis hat mich für den kommenden Samstag zum Abendessen eingeladen.« Er führte sie am Silvesterabend in eines der nettesten Restaurants von Corpus Christi aus, ins La Brasserie. Sie tranken Champagnercocktails und einen teuren Chardonnay zum Essen. Er bestellte gefülltes Perlhuhn, das auf Salat angerichtet war und mit wildem Reis und zuckersüßen Erbsen serviert wurde, und dazu einen Cäsarsalat, den der Kellner am Tisch anmachte. Zum Nachtisch aßen sie eine sündhaft köstliche Schwarzwälder Kirschtorte. Walt sagte: »Ich möchte nicht, daß dieser Abend endet«, und mit diesen Worten bestellte er Irish Coffee. Später tranken sie dann Cointreau. Francey war überrascht, denn er redete nicht viel über sich selbst, 34
wie Männer es im allgemeinen tun. Natürlich waren seine umfassende Bildung und die Leistungen, die er vollbracht hatte, in Verity allgemein bekannt. Sein Leben war ein offenes Buch. Er war in der Stadt geboren worden, in der sein Großvater die Bank gegründet hatte. Man hatte ihn im Norden in die Schule geschickt, erst Phillips Exeter und dann Dartmouth, und das erklärte mehr oder weniger, warum er keinen Akzent hatte, weder einen Südstaatlerakzent noch den der Neuengland-Staaten. Seine Mutter hatte gefürchtet, anschließend könnte ihn nichts mehr in Verity halten, doch mit Einundzwanzig war er nach Hause gekommen, und seitdem hatte er nicht den Wunsch verspürt, wieder von dort fortzugehen. Er hatte jedoch ein Mädchen aus dem Norden geheiratet, das er an einem Winterwochenende kennengelernt hatte, als sie zu einem Rendezvous mit seinem Zimmergenossen von Mt. Holyoke rübergekommen war. Walt Davis verliebte sich noch am selben Wochenende in Peggy und hatte nie eine andere Frau geliebt, und das trotz des Umstands, daß sie im Alter von sechsundzwanzig Jahren an multipler Sklerose erkrankt war und die letzten acht Jahre ihres Lebens im Rollstuhl zugebracht hatte. Bei diesem Abendessen mit Francey Anderson stellte Walt fest, daß er schon lange nicht mehr so viel gelacht hatte. Francey war lebhafter als jede andere Frau, die ihm bisher begegnet war. Vielleicht war das auf all den Champagner und den Wein zurückzuführen, doch wahrscheinlicher war es, daß es an dieser schönen Frau lag, die ihm gegenübersaß; ihre dunklen Augen glänzten, ihr roter Mund war zu einem Lächeln verzogen, ihr ebenholzschwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht, und an ihren Ohren schimmerten Ohrringe mit Bergkristallen. Es mußten Bergkristalle sein, doch eines Tages würden dort Diamanten funkeln, dafür würde er sorgen. Er war verwundert über seine eigenen Gedanken. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letztemal so wohl gefühlt habe. Und dabei hatte ich gefürchtet, mir würde nichts einfallen und ich wüßte nicht, was ich sagen soll.« Walt nippte an seinem Cointreau. Franceys Hand lag auf dem Tisch. Er streckte einen Arm aus und blickte ihr in die Augen, während er seine Hand auf ihre legte. Die Art, wie sie ihn ansah, wärmte ihn von Kopf bis Fuß. Jetzt tat es ihm leid, daß er nicht mit ihr in ein Lokal gegangen war, in dem eine Tanzkapelle spielte. Er wollte sie in seine Arme nehmen und sich zu den langsamen Rhythmen eines 35
Streichorchesters mit ihr bewegen. Er wollte das Parfüm tief einatmen, das sie aufgetragen hatte. Aber in Wirklichkeit wollte er, wie ihm plötzlich klar wurde, am liebsten ihre leuchtend roten Lippen küssen. Als er ihr dann zum Abschied eine gute Nacht wünschte, hielt er jedoch dreißig Zentimeter Abstand und erwiderte schlicht und einfach: »Ich auch«, als Francey sagte, sie habe den Abend wirklich sehr genossen. Und das entsprach der Wahrheit. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie zum erstenmal in ihrem ganzen Leben so behandelt worden, als wäre sie ihrem Gegenüber wichtig. Walt gab ihr das Gefühl, geistreich und klug zu sein. Er lachte über ihre Scherze und fragte sie nach ihrer Kindheit und Jugend in New Jersey. Sie hatte ihn belogen und ein hübsches Bild für ihn entworfen, und außerdem hatte sie gesagt, die Schwüle, die den größten Teil des Jahres in Texas herrschte, sei ihr verhaßt. Er fragte sie, warum sie bliebe. »Ich wollte Carly nicht in ihrem letzten Schuljahr entwurzeln.« Und kichernd fügte sie hinzu: »Dann hätte sie niemals den Preis der First National Bank erhalten.« »Und warum bleiben Sie jetzt noch hier?« Francey hatte mit den Schultern gezuckt. »Vermutlich müßte man mich als >inert< bezeichnen. Ich bin wohl antriebslahm.« Walt kannte nicht viele Leute in Verity, die gewußt hätten, was das Wort »inert« bedeutete, obgleich es auf die Lebensweise vieler zutraf wie kaum ein anderes Wort. »Und außerdem mag ich meinen Job. Die Leute, die bei Blue frühstücken, sind die nettesten in der ganzen Stadt. Ich habe meine Stammkundschaft. Der Diner ist der einzige Ort, an dem ich jemals ein Gefühl von Zugehörigkeit empfunden habe.« Ihr gefiel, wie er seine Hand auf ihre gelegt und ihr direkt in die Augen gesehen hatte. Nachdem sie ins Bett gegangen war, lag sie da und starrte mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht in die Dunkelheit. Als was für ein netter Mann hatte sich Mr. Davis – Walt – doch erwiesen.
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5 Nach
einer zweimonatigen Bekanntschaft kam Walt an einem Samstagmorgen um sieben Uhr und holte Francey ab. Sie reichte ihm einen geflochtenen Picknickkorb, in den sie Brathähnchen und Kartoffelsalat gepackt hatte und außerdem noch einen Lane-Kuchen, den ersten seit Jahren, den sie selbst gebacken hatte. Auch eine Thermosflasche mit Limonade war in dem Korb verstaut, doch Walt brachte zwei Flaschen Wein in einer isolierten Tragetasche mit, in der sie kühl blieben. Sie fuhren nach Padre Island, und dort verbrachten sie in einer entspannten Atmosphäre den Tag und schlenderten, sie in Shorts und er mit hochgekrempelten Hosenbeinen, mit den Füßen im Wasser über den Strand. Sie gingen vertraut und zwanglos miteinander um und hielten den ganzen Tag über Händchen. Francey sprang über die Wellen und bespritzte Walt mit Wasser, bis er nichts mehr durch seine Brille sehen konnte. Sie lachten und planschten noch eine Weile herum, und dann breiteten sie auf dem feinen weißen Sand eine Decke aus und öffneten den Picknickkorb. Nach dem Mittagessen beugte Francey, die im Schneidersitz dasaß und in einem Mundwinkel noch Mayonnaise hatte, sich vor und küßte ihn. »Ich wollte es gar nicht erst so weit kommen lassen, daß ich fürchte, du würdest es vielleicht nie versuchen«, erklärte sie. Er streckte die Arme aus, zog sie an sich und sah ihr in die Augen, ehe er sie auf den Mund küßte, und sie kostete eine Süße und ein Drängen zugleich. »Ich versuche schon länger, den Mut aufzubringen«, gestand er. »Ich konnte mir einfach nicht vorstellen«, sagte er dann glückselig, »jemand wie du könnte tatsächlich Interesse an…« Francey lächelte. »Jemand wie ich – eine Kellnerin in einem schäbigen Lokal – könnte an dem interessantesten Menschen in der ganzen Stadt Interesse haben? Also hör mal, ich wette, jede zweite alleinstehende Frau ist schon seit Jahren hinter dir her – wenn nicht gar alle miteinander.« Walt schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es so wäre, hätte ich nichts davon bemerkt. Und es gibt nicht eine einzige Frau in ganz Verity, die dir das Wasser reichen kann.« »Du bist ja ein Ire«, sagte sie lachend und warf den Kopf in den Nacken. Walt ließ einen Finger zart über ihren Hals gleiten. »Nicht ein 37
einziger Tropfen irischen Bluts fließt in meinen Adern.« »Aber irgendwo mußt du dich an diesen Schmeicheleien angesteckt haben, für die die Iren so berüchtigt sind.« Auf der gesamten Heimfahrt von der Insel schmiegte sich Francey an Walt, der einen Arm um sie gelegt hatte, und sie saß still und unglaublich zufrieden da. In ihrem ganzen Leben war ihr noch kein so zärtlicher Mann begegnet. »Und nicht nur das«, sagte sie laut vor sich hin, »sondern du lachst auch oft und gern.« »Nicht nur was?« fragte er, und sein Arm schlang sich noch enger um sie. Als er sie an jenem Abend vor ihrer Haustür absetzte, sagte sie: »Meinst du nicht, es ist an der Zeit, daß du mal rüberkommst und ich dir etwas koche?« Als Carly am Mittwoch nach der Arbeit die Bank verließ, begleitete Walt Davis sie zu Fuß nach Hause. Francey hatte einen saftigen Schinken auf hawaiianische Art mit Ananas, Curryreis und glasierten Karotten zubereitet und eine gedeckte Pfirsichtorte gebacken. Die Pfirsiche hatte sie im letzten Sommer selbst eingemacht. Carly hatte immer noch Schwierigkeiten, sich vorzustellen, daß ihre Mutter und Mr. Davis sich zusammengetan hatten. Sie war sich ganz sicher, daß es sich dabei lediglich um Kameradschaft handelte. In dem Alter, in dem die beiden waren, konnte doch bestimmt keine körperliche Anziehungskraft mehr im Spiel sein. Nachdem sich Carly in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, um zu lesen und an Boomer zu denken, setzten sich Walt und Francey auf die Couch, und zum erstenmal seit vielen Jahren, so vielen, daß er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wann es zuletzt dazu gekommen war, streckte der Direktor der First National Bank seine Hand aus und streichelte die Brüste einer Frau. Zu seiner Freude stellte er fest, daß sie keinen BH trug. Er hörte ein leises Stöhnen und erkannte es als sein eigenes. Francey hauchte: »Oh, tut das gut.« In jener Nacht träumte er, wieder zu Hause, von Francey, und es war ein erotischer Traum. Es sollte sein letzter sein. Als sie sich das nächstemal sahen, wurde er wahr. Die Realität übertraf alles, was er sich jemals hätte erträumen können. Er brauchte nicht lange, um einen Entschluß zu fassen. Am Samstagmorgen fuhr Walt nach Corpus Christi und verbrachte mehr als eine Stunde damit, einen Diamantring auszusuchen, von dem er hoffte, er wurde Francey gefallen. Am selben Abend aß er mit ihr im La Maison und teilte ihr mit, er würde warten, bis sie mit ihrer 38
Arbeit fertig sei. Dann ging er mit ihr die lange Straße hinunter, führte sie zu einer Bank, und nachdem Francey sich gesetzt hatte, nahm er neben ihr Platz. Er zog sie in seine Arme und bat sie, ihn zu heiraten. Sie sah ihn lange an, und dann sagte sie mit einer leisen und tonlosen Stimme: »Es gibt ein paar Dinge, die ich dir besser erzählen sollte.« »Okay.« Walt saß mit den Händen zwischen den Knien da und sah sie an. Er lächelte, doch in seinen Augen war eine Spur von Furcht zu erkennen. »Aber erzähl mir nichts, was du nicht möchtest. Ich brauche mir nicht erst eine Lebensbeichte von dir anzuhören, ich will dich ohnehin heiraten.« Sie lehnte sich zurück und holte tief Atem. Eine Minute später konnte er ihr deutlich ansehen, daß sie ihn nicht mehr wahrnahm. »Ich bin in einer Kleinstadt im westlichen Jersey aufgewachsen, mit einer feigen und restlos eingeschüchterten Mutter und einem Vater, dem der geringste Vorwand ausgereicht hat, um mich zu schlagen. Einmal habe ich ein Zeugnis mit einer Drei nach Hause gebracht, in Naturkunde in der siebten Klasse, und er hat seinen Lederriemen rausgeholt und auf mich eingeschlagen, bis ich Striemen hatte. Er hat mich oft gezwungen, mich auf einen Stuhl zu legen, und dann hat er mich geschlagen, bis ich laut geschrien habe. Immer wieder habe ich mir geschworen, ihm diese Genugtuung nicht zu gönnen, und einmal habe mir bei dem Versuch, die Schreie zurückzuhalten, sogar in die Zunge gebissen, aber er hat nicht von mir abgelassen, solange ich nicht geschrien habe. Eines Morgens habe ich mein Bett nicht gemacht, weil ich sonst zu spät zur Schule gekommen wäre, und er hat mich blutig geschlagen. Ich habe mich geweigert, Rosenkohl zu essen, und ich mußte die ganze Nacht über dort sitzen, und als ich den kalten Rosenkohl am nächsten Morgen immer noch nicht essen wollte, hat er seinen Lederriemen rausgeholt. Bei der Gelegenheit hat er mich gezwungen, mich über seine Werkbank zu beugen, und dann hat er angefangen mich auszupeitschen. Er hat erst damit aufgehört, als Blut durch meinen Schlüpfer gesickert ist. Als ich ein Teenager war«, erzählte Francey Walt weiter, »und meine Mutter gesagt hat, ich dürfe mich jetzt mit Jungs verabreden, hat er den Riemen rausgeholt, wenn ich auch nur eine einzige Minute nach zehn zurückgekommen bin, sogar an den Samstagabenden. Er hat erklärt, Gott fordere ihn dazu auf, mich zu bestrafen, wenn ich ungehorsam sei.« Sie schwieg eine Minute lang und starrte ins Leere. »Ich habe ihn 39
gehaßt. Und mit der Zeit habe ich begonnen, meine Mutter fast ebensosehr zu hassen, weil sie ihn nicht ein einziges Mal gebeten hat, er solle mich nicht schlagen. Nie hat sie zu ihm gesagt: >Hör sofort auf damit!<, und sie hat auch nie versucht, mich zu trösten. An dem Tag, an dem ich die High-School abgeschlossen hatte, habe ich eine Tasche gepackt, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte, und mit den siebenundzwanzig Dollar, die ich innerhalb von vier langen Jahren mühsam hatte sparen können, habe ich mich mitten in der Nacht die Treppe hinuntergeschlichen und bin mit Fred Anderson, meinem Freund, nach Kalifornien durchgebrannt. In all diesen Jahren habe ich meinen Eltern nie geschrieben, nicht ein einziges Mal.« In Walts Gesicht spiegelte sich die Intensität der Qualen wider, die er durchlitt. »Fred und ich sind in Las Vegas aus dem Bus gesprungen und haben geheiratet und dann den nächsten Bus nach Los Angeles genommen. Als wir dort ankamen, war ich bereits schwanger. Wir haben eine Zweizimmerwohnung gemietet, und Fred hat einen Job gefunden. Er ließ nicht zu, daß ich allein einkaufen ging, noch nicht einmal, um Lebensmittel zu besorgen. Er mußte jede Minute an meiner Seite verbringen, da er meinte, jeder Mann, der mich sehe, wolle mich, und es sei ihm nicht recht, daß ich mich in Gefahr begebe. Und wenn ich einen Mann angelächelt habe, einen Fremden, einen Verkäufer im Lebensmittelladen, hat er mich geohrfeigt, sobald wir wieder zu Hause waren. Es war genau dasselbe wie mit Daddy, eine Art Neuauflage. Wir haben nichts unternommen. Ich bin nie ausgegangen. Und ich hatte keinen Menschen, mit dem ich hätte reden können. Er hat es sich mit der Zeit angewöhnt, später und immer später nach Hause zu kommen. Ich wußte nie, wann er endlich auftauchen würde, aber manchmal wurde es so spät, daß ich das Abendessen schon weggeworfen hatte, weil es längst kalt war. Dann hat er mich aus dem Bett gezerrt und mich angeschrien, und ich mußte noch einmal von vorn anfangen und ihm etwas kochen. Ich habe aufgehört, Mahlzeiten zuzubereiten, bevor er endlich zu Hause war, aber wenn er dann länger als zwanzig Minuten warten mußte, hat er mir den Arm umgedreht, bis ich geschrien habe. In der Woche vor Carlys Geburt hat er ihn mir gebrochen. Mein linker Arm hat in einem Gips gesteckt, als ich in den Wehen gelegen habe. Das Schreien des Babys war ihm verhaßt, und er war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die ich Carly habe zukommen lassen. Er hat mich 40
wie ein Nichts behandelt. Wegen seiner Plattfüße war er als Reservist eingestuft worden, aber Anfang neunzehnhundertfünfundvierzig, kurz nach Carlys Geburt und wenige Monate vor Kriegsende, ist er eingezogen worden. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Und ich habe mich nicht bemüht, ihn zu finden, denn zum erstenmal in meinem ganzen Leben konnte ich atmen, ohne mir von jemandem vorschreiben zu lassen, wie ich das anzustellen habe. Plötzlich konnte ich tun, was ich wollte. Ich brauchte bloß einen Job und etwas Geld. Das einzig angenehme Leben, mit dem ich je in Berührung gekommen war, kannte ich nur aus dem Kino, und alle haben mir geraten, zum Film zu gehen. Immer wieder hat man mir gesagt, mit meinem Aussehen könne ich es mir leichtmachen, aber das gehe nur auf dem Umweg über die Besetzungscouch. Nun ja, auf diese Art, eine halbe Stunde in der Horizontalen in irgendeinem Büro, habe ich viele kleine Rollen bekommen, und in manchen durfte ich sogar ein oder zwei Sätze sagen. Ich hatte gerade genug Geld, um Carly mit Windeln und Apfelmus zu versorgen.« Walts Gesicht war weiß geworden. »Es muß dir ein Greuel gewesen sein.« Francey zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir gewissermaßen vorgemacht, all das fände gar nicht statt. Ich habe mich auf etwas anderes konzentriert, zum Beispiel auf die Palme vor dem Fenster, oder ich habe mir vorgestellt, es sei Gary Cooper, der mich küßt, und alles war vorbei, wenn es gerade erst angefangen hatte, und hinterher hatte ich eine kleine Rolle und genug zu essen für ein paar Monate. Eine einzige echte Chance hat sich mir tatsächlich geboten. Der Regisseur eines Films, in dem Hedy Lamarr, Clark Gable und Spencer Tracy die Hauptrollen spielen sollten, mochte mich wirklich gern und hat mir die lukrativste Rolle in meiner ganzen Karriere angeboten, falls man überhaupt von einer Karriere sprechen kann. Das einzig Ärgerliche daran war, daß ich gerade erst herausgefunden hatte, daß ich wieder schwanger war, und daher mußte ich die Rolle ablehnen. Ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, wer der Vater war.« Walt schloß die Augen. Francey wußte, daß er es nicht verkraften konnte. Sie war nicht das, wofür, und auch nicht diejenige, für die er sie gehalten hatte. »Ich habe einen Job bekommen, als Bedienung in einem Schnellimbiß, und ich hatte geplant, bis kurz vor der Geburt durchzuarbeiten und das Baby dann zur Adoption freizugeben. Aber ich hatte während der Arbeitszeit eine Fehlgeburt. Ich hatte die 41
Spätschicht übernommen, weil das Mädchen aus der Wohnung gegenüber eingewilligt hatte, in meinem Apartment zu schlafen und auf Carly aufzupassen. Ich kam etwa um vier Uhr nachts nach Hause und habe geschlafen, bis Carly aufgewacht ist, und dann habe ich den ganzen Tag mit ihr verbracht. Außerdem habe ich ab und zu einen Anruf bekommen, und man hat mir kleine Rollen angeboten, aber ich bin nie mehr auf die Besetzungscouch zurückgekehrt. Tatsache ist, daß ich seitdem mit keinem Mann mehr im Bett gewesen bin. Erst wieder mit dir. In all diesen Jahren habe ich in dem einen oder anderen Restaurant gearbeitet und täglich auf einen Anruf von einem der Studios gewartet, und ich habe gerade genug Anrufe bekommen, um mich über Wasser zu halten und mir die Hoffnung zu bewahren. Im Laufe der Jahre habe ich in vielleicht fünfzig Filmen Rollen erhalten, aber es hat nie ausgereicht, um davon zu leben. Und schließlich hatte ich diesen harten Konkurrenzkampf satt. Ich war es auch müde zu hoffen, und daher habe ich beschlossen, von Hollywood fortzugehen und eine nette Kleinstadt zu finden, in der Carly sich mühelos einleben kann. Doch in Verity ist Carly nie akzeptiert worden, aber auch wirklich nie. Und mich hat man ebenfalls nicht akzeptiert. Ich kann es verkraften, aber für Carly hat es mir das Herz gebrochen. Ich hätte gleich in diesem ersten Sommer wieder von hier fortgehen sollen, nachdem ihr die Schule derart verhaßt war. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben und gedacht, wenn wir hierblieben, würden sich die Leute an uns gewöhnen und selbst sehen, was für nette Menschen wir sind. Aber wenn ich ins Kleine Theater gehe und für eine Rolle in einem Stück vorspreche, dann weiß ich, daß ich besser bin als jeder andere, und sogar mein Südstaatenakzent ist auf der Bühne glaubwürdiger, doch selbst wenn es um ihr Leben ginge, würden sie mir hier keine Rolle geben. Und wenn Boomer und Zelda Marie nicht gewesen wären, dann hätte sich mein armes kleines Mädchen hier in sich selbst zusammengerollt und wäre verschrumpelt wie eine Karottenschale. Du mußt wissen, Walt, daß ich niemals einen anderen Menschen mehr lieben kann, als ich Carly liebe. Sie ist der Mittelpunkt, um den sich mein Leben dreht. Für sie hat sich alles übrige gelohnt.« Walt stand auf, zog Francey mit sich hoch und nahm sie in die Arme. »Ich möchte dich jetzt mehr denn je heiraten. Ich möchte für dich sorgen und die unglückliche Vergangenheit ausradieren. Ich möchte dir zeigen, wie Liebe sein kann, und ich möchte dich mit allem überhäufen, was du dir wünschst. Ich will 42
dich in meinem Leben, dich täglich im Alltag um mich haben. Für immer. Ich werde stolz darauf sein, dich zur Frau zu haben. Ich liebe dich. Jetzt schon drehen sich all meine Gedanken und mein gesamter Tagesablauf um dich, und nun will ich dich zudem noch zum Mittelpunkt meines Lebens machen, dich ständig um mich haben.« »Ich hätte dich auch gern in meinem Leben, aber ich werde dich nicht heiraten.« Franceys Tonfall war unerbittlich. »Ich würde dich gern weiterhin sehen und Ausflüge mit dir unternehmen und«, sagte sie und sah ihn schelmisch an, »mit dir ins Bett gehen. Und das, obwohl ich mir geschworen hatte, es nie wieder zu tun. Ich wußte nicht, daß es so schön sein kann.« »Sag nicht zu entschieden nein«, entgegnete Walt. »Ich bin ein geduldiger Mann.« Walt und Francey gewöhnten sich daran, an den Wochenenden nach Houston oder nach Fredricksburg zu fahren. An einem Wochenende ging’s sogar nach Mexiko runter und bis nach Monterrey. Wenn Walt in Verity Paare zum Abendessen einlud, dann waren die Leute überrascht. Walt war lockerer, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatten, er lachte mehr als früher, und diese Francey war wirklich äußerst amüsant. Sie gab seinen Gästen das Gefühl, wichtig zu sein. In eben diesem Frühjahr hatte sich Senator Bannerman gesundheitlich miserabel gefühlt. Als sein Arzt in Austin Krebs diagnostizierte, fragte der Senator: »Wie lange habe ich noch?« Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Sechs bis zwölf Monate. Und bereiten Sie sich darauf vor. Es wird sehr qualvoll sein.« Der Senator regelte seine finanziellen Angelegenheiten und kehrte nach Hause, nach Verity, zurück. Dort steckte er sich in seinem Büro im ersten Stock seines Privathauses eine Pistole in den Mund, drückte ab und verspritzte seinen Kopf über all die ungelesenen Bücher an der Wand. Boomer kam noch am selben Abend nach Verity zurück. Er war im letzten Semester seines letzten Collegejahres, ein bestürzter junger Mann, der gerade zweiundzwanzig geworden war. Carly rannte zum Haus rüber. Ein Blick auf Boomer genügte, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Er saß mit rotgeränderten Augen auf dem Ledersofa des Zimmers, in dem das Blut seines Vaters auf dem Teppich noch nicht getrocknet war, und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Carly schlang die Arme um ihn, und er weinte sich schluchzend zwischen ihren Brüsten aus, als würde er nie mehr damit aufhören. Während der Beerdigung hielt Carly seine Hand, und als der Sarg 43
des Senators in die Erde gesenkt wurde, hing sie sich bei ihm ein. Sie warf eine weiße Rose in die graue Grube. Nach dem Begräbnis wollte sie gemeinsam mit Boomer den Heimweg antreten, doch mit einem unsäglich traurigen Blick erklärte er: »Ich muß jetzt allein sein. Ich melde mich später bei dir.« Fünf Tage nach der Beerdigung wartete Boomer abends am Eingang der First National Bank auf Carly. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und ihr Puls raste, genau wie früher, wenn sie ihn dort sah. »Hast du heute abend Zeit für mich?« fragte er. Vier Jahre lang hatte Carly immer Zeit für Boomer gehabt. Er nahm ihren Arm und führte sie zu seinem Wagen. »Ich möchte nicht unter Menschen sein. Laß uns Pizza und Bier besorgen und zu mir gehen.« Auf der Heimfahrt und auch beim Essen sagte er so gut wie nichts. Nachdem er das letzte Stück Pizza in den Mund gesteckt hatte, wischte er sich die Finger mit einer Serviette ab, trank das letzte Bud aus der Dose und sah sie endlich an. »Ich komme nach der Abschlußprüfung im nächsten Monat nicht hierher zurück.« Einfach so, klipp und klar. »O Boomer.« Carly drehte sich das Herz um. Sie streckte einen Arm aus und legte ihre Hand in seine. Der Schmerz in seinen Augen war ihr unerträglich. »Kann ich irgend etwas für dich tun?« Er schüttelte den Kopf. »Dieses Haus kommt morgen auf den freien Markt. Dad hat eine Menge Schulden hinterlassen.« Carly konnte einfach nicht glauben, daß sie sich nicht verhört hatte. »Du meinst, es wird zum Verkauf angeboten?« Boomer nickte. »Aber das ist dein Zuhause. Wo wirst du dann leben?« Eine Träne rollte über ihre Wange. Er blickte auf. »Warte nicht auf mich, Carly. Ich komme nicht zurück.«
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In dem Jahr, nachdem sich Boomer von Carly getrennt hatte und der Schmerz nicht weichen wollte, glaubte Carly, sie würde verrückt werden. Sie sprach mit Zelda Marie darüber, die inzwischen ein weiteres Baby hatte. Carly fragte sie nicht, wie es kam, daß sie ein zweites Mal schwanger geworden war, wenn Joe Bob sie doch nie anrührte. Für Zelda Marie standen die Aussichten besser. Ihre Tage waren ausgefüllt, und sie redete nicht viel über Joe Bob. Ihr Haus war ordentlicher, sie pflückte Blumen, um sie auf den Eßtisch zu stellen, und sie saß nicht mehr den ganzen Nachmittag da und sah fern. Als eine der Hereford-Kühe ihres Vaters bei der Geburt starb, nahm Zelda Marie das Kalb auf, um es großzuziehen. »Es scheint, als täte ich nichts anderes mehr als alle Welt zu stillen«, sagte sie und nahm Michael J. an die Brust, während sie in der freien Hand eine Flasche für ein verwaistes Lamm hielt. Zelda Marie, die ihren Daddy seit ihrer Heirat bewußt nie mehr um etwas gebeten hatte, überredete ihn dazu, ihr einen kleinen Stall zu bauen. Joe Bob zeigte an alldem nicht das geringste Interesse. Er fand, das Landleben sei etwas für die Vögel; dort spielte sich nichts ab. Er verbrachte die meisten Abende in der Billardhalle in der Stadt oder trank und tanzte draußen bei Barney’s. Gelegentlich ließ er seinen Sohn tatsächlich auf seinen Knien reiten, doch Sally Mae schenkte er so gut wie keine Beachtung. An den Sonntagabenden putzte er sich heraus, und dann ging er mit Zelda Marie und den Kindern zum Abendessen rüber zu den Spencers. In jenem Jahr bekam Zelda Marie von ihrem Vater zu Weihnachten einen leuchtend roten Ford Pick-up geschenkt. Man hätte meinen können, er hätte ihr eine Million Dollar vermacht, wenn man sah, wie sehr sie sich darüber freute, ihr eigenes Fahrzeug zu besitzen, und noch dazu einen Pick-up. Zelda Marie hing das Huhn bei den Lovetts derart zum Hals heraus, daß sie glaubte, sie könnte laut schreien. Daher lud sie, als gegen Ende April die heiße Jahreszeit begann, ihre Eltern und ihre Schwiegereltern einschließlich Joe Bobs Schwester und deren Familie am Sonntag nach der Kirche zu einem Barbecue unter den ausladenden Kronen der Eichen ein. Die Kinder rannten umher, die 45
Cousins jagten einander und beschäftigten sich mit den Tieren und sie brachte Joe Bob dazu, das Krocketspiel aufzubauen, das die Spencers nie benutzt hatten, fuhr zu Western Auto und kaufte ein komplettes Federballspiel, dessen Netz Joe Bob aufspannte. Die Spencers und die Lovetts gaben sich große Mühe, nett zueinander zu sein, da sie gemeinsame Enkel hatten, und Mr. Lovett bewunderte den roten Pick-up und schlug Mr. Spencer beim Federball. Bis im November die Schlechtwetterperiode wieder einsetzte, bürgerte sich das sonntägliche Picknick als ein fester Brauch ein, und Zelda Marie war begeistert darüber, daß beide Familien miteinander auskamen und sie in ihrem Haus besuchten, aber es freute sie auch, daß Joe Bob anscheinend ebenfalls stolz auf die Sonntage war und seinen Spaß daran hatte. Er war sogar so stolz auf das, was sie tat, daß sie im September dieses Jahres mit dem Kind Nummer drei schwanger war. Natürlich verdiente Joe Bob als Mechaniker in der Autowerkstatt seines Vaters inzwischen nicht mehr als zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit, doch Zelda Marie hatte eigene Pläne. »Daddy«, sagte sie am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags, als sie mit ihm durch das Gras zum Stall lief, »ich danke dir ja so sehr für den Pick-up. Für mich wird sich dadurch vieles ändern.« »Ich dachte, du könntest Heu damit transportieren«, murrte er. »Weißt du, was ich mir wünschen würde? Ich möchte, daß du mir all deine verwaisten Kälber überläßt.« Er grinste. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte sich seine Haltung seiner Tochter gegenüber beträchtlich verändert. »Mir scheint, du hast jetzt alle Hände voll zu tun. Schließlich hast du schon zwei Babys, und das nächste ist bereits unterwegs.« So lange er zurückdenken konnte, hatte ihn Zelda Marie nie um etwas gebeten. Er hielt nicht viel von seinem Schwiegersohn, doch sein Respekt vor seiner Tochter wuchs ständig. »Ich möchte diese Kälber unbedingt haben. Und wenn du jemals ein männliches Fohlen haben solltest, das verwaist ist, dann bitte ich dich, mir das auch zu geben. Ich werde Pferde züchten.« Ihr Vater fuhr sich mit einer Hand über den Mund, um sein Lächeln zu verbergen. »Woher willst du denn die Zeit nehmen, dich darum zu kümmern?« »Laß es mich versuchen, Daddy. Das ist alles, worum ich dich bitte. Ich mache mir schon länger Gedanken darüber. Ich habe nicht die Absicht, bis in alle Ewigkeit vom Gehalt eines Automechanikers zu 46
leben.« Ganz gleich, wieviel sie sonst auch zu tun hatte, Zelda Marie nahm sich doch immer Zeit für Carlys wöchentliche Besuche. Bis in die letzten Monate ihrer Schwangerschaft ritten sie gemeinsam aus und verplauderten den ganzen Nachmittag. Ab und zu blieb Carly zum Abendessen da, aber Joe Bob war derart mürrisch, daß sie sich immer unbehaglich fühlte. Eines Abends gelang es ihm, als er sie zu ihrem Wagen begleitete, ihre Brüste zu streifen, und Carly, die bemerkte, wie er sie ansah, bedauerte Zelda Marie noch mehr als bisher. Zelda Marie hatte aber auch ihrerseits großes Mitleid mit Carly, die ihr an jenem Nachmittag von ihrem brennenden Wunsch berichtet hatte, Verity zu verlassen. »Ich habe das Gefühl, hier festzusitzen«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Ich bin fast zweiundzwanzig, und nichts passiert in meinem Leben.« »Wenn das so ist, warum gehst du dann nicht fort?« »Es ist mir eine unerträgliche Vorstellung, Walt zu verletzen. Er hat mir in der Bank so viele Chancen gegeben, die ich wirklich zu würdigen weiß, aber die Bank allein genügt nicht, um mein Leben lebenswert zu machen. Ich bin keine Miss Pilgrim.« »Mir scheint es ganz so«, entgegnete Zelda Marie, »als wäre es an der Zeit, daß du dich auf deine eigenen Füße stellst.« »Das glaube ich auch.« Aber wie konnte sie sich befreien, ohne den Mann zu verletzen, den sie als ihren besten Freund ansah? Er hätte sie in all den Jahren nicht besser behandeln können, selbst wenn sie seine eigene Tochter gewesen wäre. Es mußte eine Stadt sein, soviel wußte sie. Houston oder Dallas. Corpus Christi war zu klein, und sie war so gut wie sicher, daß sie in eine Großstadt wollte. Sie vermutete, ihr Leben würde sich ändern müssen. Zwar wußte sie nicht genau, wie sie ihr Ziel erreichen sollte, doch die Richtung, die sie einschlagen wollte, führte eindeutig hinauf. Carly beschloß, Stenographie zu lernen. Wenn sie als Sekretärin tätig sein konnte, dann war das ein Einstieg in die Geschäftswelt. Sie rechnete nicht damit, lange Sekretärin zu bleiben, aber sie besaß keine anderen Qualifikationen, die ihr dabei helfen würden, einen Job zu finden. Ihr Spanisch würde sich unter Umständen als nützlich erweisen, und daher würde sie weiter daran arbeiten. Quien sábe? Ihr erster Schritt bestand darin, jeden Samstagmorgen nach Corpus Christi zu fahren, um dort einen Stenokurs zu besuchen. Nach Ablauf von sechs Monaten teilte sie ihrer Mutter mit, was Francey 47
schon seit ein paar Jahren wußte. Sie hatte nur darauf gewartet, daß
Carly selbst dahinterkam: Sie würde Verity verlassen.
»Wie wirst du es Walt beibringen?« fragte Francey, die ihre eigenen
Pläne hatte, von denen er bisher ebenfalls nichts wußte.
»Ich hatte mir gedacht, du könntest vielleicht…«
»O nein!« Francey streckte einen Arm aus und nahm Carlys Hand.
»Das mußt du selbst tun. Er wird es überleben. Er wird lediglich
enttäuscht sein.«
»Verstehst du, ich mag ihn schrecklich gern«, sagte Carly.
»Ich möchte ihm nicht weh tun.«
»Manchmal muß man eigennützig handeln. Mir ist schon länger klar,
daß du nicht hierbleiben wirst. Dir ist Großes vorherbestimmt.«
Carly gab ihrer Mutter einen Kuß auf die Wange. »Bei dir muß man
wohl eine Spur von Befangenheit voraussetzen, meinst du nicht
auch?«
»Etwas mehr als nur eine Spur.« Francey mußte schlucken, um zu
verhindern, daß sie zu weinen begann. Sie wußte, daß es das beste
für Carly war, von Verity fortzugehen, doch allein schon der
Gedanke daran hinterließ einen Hohlraum in ihrer Brust.
»Ich muß etwas aus meinem Leben machen, muß dafür sorgen, daß
etwas Aufregendes passiert.«
»Ich weiß«, sagte Francey. Und das entsprach der Wahrheit.
»Vielleicht hätten wir uns niemals hier niederlassen sollen, aber
dann wäre ich auch Walt nicht begegnet.«
»Warum heiratest du ihn eigentlich nicht?« Diese Frage wollte Carly
schon seit Ewigkeiten stellen.
Francey zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ich habe mir
Gedanken darüber gemacht. Dräng mich nicht.«
Inzwischen waren es vier Jahre. Jedes Jahr an Weihnachten machte
Walt ihr einen Heiratsantrag, und dann führten sie ihr Leben weiter
wie bisher.
Walt zwang sich, die Tränen zurückzuhalten, als Carly ihm mitteilte,
sie wolle nach Houston gehen. Er machte ihr für ihre Jahre in der
Bank tausend Dollar zum Geschenk. Gleich nach Francey war Carly
der Mensch, den Walt mehr liebte als jeden anderen auf Erden.
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7 Walt und Francey fuhren Carly nach Houston. Sie verbrachten das Wochenende damit, ein Apartment zu suchen, und Walt bestand darauf, die erste Monatsmiete zu bezahlen. Beide erweckten beim Abschied den Eindruck, als würden sie in Tränen ausbrechen. »Also, du wirst uns jeden Sonntag anrufen, hast du gehört?« sagte Walt. »Und jederzeit auch zwischendurch, wenn du uns brauchst oder etwas von uns willst. Oder wenn du einfach nur Lust dazu hast…« »Oder wenn du dich einsam fühlst«, fügte Francey hinzu. Es war der richtige Schritt. Zwischen Carly und Houston entspann sich von Anfang an eine Liebesbeziehung. Wohin sie auch ging, überall stellten sich ihr Männer vor und luden sie zum Abendessen oder in Nachtclubs ein, zu einem Samstagnachmittag im Zoo oder zum Frisbeespielen im Park. Sie hatte jedes Wochenende Verabredungen mit aufstrebenden jungen Männern, nicht solchen Nieten wie denen, die in Verity herumliefen. Sie begann wieder zu lachen. Endlich packte sie Boomer in einen Winkel ihres Herzens und drehte den Schlüssel im Schloß um. Sie warf ihn zwar nicht direkt fort, doch sie hörte auf, ständig an Boomer zu denken, und sie bemühte sich, nicht jedes männliche Wesen, mit dem sie ausging, mit ihrer Jugendliebe zu vergleichen. Sie mußte ihr eigenes Leben leben. »Weißt du, was ich gern täte?« fragte Francey. Sie und Walt saßen auf der Terrasse seines Hauses im Schatten einer Markise, die sie gegen die heiße Sonne schützte, tranken nach dem Kirchgang Kaffee und knabberten an den Zimtbrötchen, die Francey jedes Wochenende buk. Sie war klatschnaß, da sie gerade aus dem Pool gekommen war, den Walt vor zwei Jahren hatte anlegen lassen, nachdem Francey eines schwülen Junimorgens geäußert hatte: »Was gäbe ich nicht alles für einen Pool.« »Heiraten?« fragte Walt hoffnungsvoll. Francey lächelte ihn an und nahm seine Hand in ihre. »Ich habe etwas Geld gespart«, fuhr sie fort. »Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß du noch immer in diesem kleinen Haus wohnst.« »Außerhalb meiner Arbeitszeit verbringe ich die meisten meiner wachen Stunden hier drüben bei dir – und auch einige Stunden Schlaf«, sagte sie. Ihre Gedanken drehten sich nicht nicht ums Heiraten. »Abgesehen vom Blue Moon Diner« – wo sie weiterhin 49
jeden Tag am frühen Morgen und um die Mittagszeit arbeitete – »und diesem Dairy Maid gibt es kein einziges anständiges Restaurant in dieser Stadt. Es gibt kein Lokal, in das die Leute gehen können, wenn sie sich schön anziehen und ein wunderbares Essen genießen wollen.« Walt zog eine Augenbraue hoch. Er ahnte voller Unbehagen, was kommen würde. »Wie viele Leute gibt es denn schon in Verity, die sich fein anziehen, um auswärts zu essen?« »Wie viele Leute gibt es überall sonst, die sich schön anziehen, um woanders hinzugehen als in die Kirche? Ich meine einfach nur ein nettes Restaurant, das ein gewisses Flair besitzt, ein Lokal, in dem Drinks serviert werden und das sogar eine Bar hat, aber keine von der Sorte, von der sich die Typen angelockt fühlen, die bei Blue rumhängen. Ich will ein hübsches Lokal haben, etwas, wovon die Leute in Verity glauben, es habe Stil. Und Gerichte, die ihnen die Schuhe ausziehen.« Walt neigte den Kopf zur Seite. »Hast du etwa vor, all deine Abende in einer Küche zu verbringen?« »Nein, wohl kaum. Ich werde Köche ausbilden. Ich werde da sein, um alles bis in die kleinsten Einzelheiten zu überwachen, aber ich werde nicht dastehen und mich über einen heißen Herd beugen. Auf die Art möchte ich mein Geld nicht verdienen.« »Blue wird es dir nie verzeihen, wenn du bei ihm aufhörst.« »Er wird enttäuscht sein, aber er wird mir verzeihen. Vielleicht werde ich dort frühstücken, und er kann dann bei uns zu Abend essen.« »Bei uns? Ach, so sieht das also aus.« Walt gefiel die Idee gar nicht. Ein solches Vorhaben würde die Zeit gewaltig beschneiden, die er und Francey gemeinsam verbrachten. Er suchte nach etwas, was ihrem Restaurantprojekt einen Dämpfer verpassen würde. Nach wenigen Momenten hatte er es. »Und was wirst du tun, wenn du wieder die Hauptrolle in einem Stück bekommst?« Seit er die leerstehende alte Baptistenkirche gekauft und sie, in aufpoliertem Zustand, der Kleines-Theater-Gruppe zur Verfügung gestellt hatte, hatte Francey die Hauptrolle in jedem Stück erhalten, für das sie sich bewarb. Und wenn Francey in einem Stück mitspielte, dann kamen sogar alle aus dem ganzen Landstrich, um sich das anzuschauen. Sie mochte vielleicht nicht gut genug für Hauptrollen in Hollywood gewesen sein, aber sie war besser als alles, was die Leute in Verity und Umgebung je gesehen hatten. Sie 50
stellte alle anderen in den Schatten, und ihr Spiel schien der Bühne Leben zu verleihen. »Du brauchst ja nicht mitzumachen«, sagte Francey, »aber in dem Fall werde ich Geld von der Bank leihen müssen. Ich dachte, vielleicht hättest du Spaß daran, gemeinsam mit mir ein Geschäft aufzuziehen.« »Ich würde gern alles gemeinsam mit dir machen, und das weißt du ganz genau. Aber ich bin sechsundvierzig, Liebes. Weshalb sollte ich in ein neues Geschäft einsteigen wollen? Ich bin allmählich soweit, langsamer zu treten.« »Jetzt hör bloß auf, Walt. Deine Energie reicht für zwei.« »Ich brauche nicht noch mehr Geld. Mir gefällt es, daß wir an den Wochenenden frei haben und gemeinsam Ausflüge unternehmen können.« »All das tun wir jetzt schon seit Jahren. Ich bin reif für etwas Neues. Liebe habe ich.« Sie lächelte ihn an. »Und jetzt will ich Erfolg.« »Oh.« In seinen Augen spiegelte sich Belustigung wider. »Du willst deine eigenen Erfolge feiern.« »Ja, so ähnlich verhält es sich wohl«, gab sie zu. »Und trotzdem habe ich geglaubt, es könnte dir Spaß machen, als mein Partner einzusteigen.« »Ein stiller Teilhaber?« »Ich höre mir deine Ideen und Ratschläge doch immer an.« Er beugte sich vor und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. »Das tust du allerdings, mein Liebling. Du bist sehr wohltuend für mein Ego.« Sie lachte und streckte sich, um ihn zu küssen. »Ist es noch zu früh am Tag für eine Margarita?« »Du und Carly! Ihr brauchtet wahrhaftig nur in Grenznähe zu kommen, und schon habt ihr euch die Sitte der Margaritas angeeignet. Die Sonne steht nicht mehr im Zenit, und daher sollte eigentlich nichts dagegen einzuwenden sein.« Er konnte den Gedanken nicht abschütteln. »Was hast du denn für eine Vorstellung davon, wo du dieses Restaurant gern hättest?« »Ich bin nicht sicher«, sagte Francey. »Du kennst diesen Teich dort unten, hinter dem Elektrizitätswerk?« Walt nickte. »Ich glaube, das Land gehört Cece Braithewaite.« »Dieses Land wird für nichts genutzt, und der Teich lockt immer Enten und Gänse an. Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich dort sogar ein paar Schwäne gesehen. Wir könnten einen Teil des Landes 51
roden, aber dieses hübsche Weiden-Wäldchen stehen lassen, und dann bauen wir… ich habe da so ein paar Zeichnungen. Flüchtige Skizzen, die ich hingekritzelt habe.« Das ruhige und beschauliche Leben, das Walt bisher gemeinsam mit Francey geführt und das er so sehr genossen hatte, drohte ein jähes Ende zu finden. Die Weiden, wie das Restaurant hieß, waren von Anfang an ein Erfolg. Bis auf den Montag verbrachte Francey dort alle Nachmittage und Abende und Walt aß da jeden Abend. Aber ganz im Gegensatz zu seinen Erwartungen stellte Walt fest, daß er dieses neue Vorhaben genoß. Es bereitete ihm enorme Freude, zuzusehen, wie Francey ihrem Geschäft zu einem glänzenden Erfolg verhalf. Man wußte zwar in Verity, daß das Restaurant zur Hälfte ihm gehörte, doch alle sprachen nur von Francey’s. Niemand nannte es je Die Weiden. Sie hatte Walt durch das halbe Land geschleppt, zumindest erschien es ihm so, um Gläser, Tischdecken und Geschirr auszusuchen. Die Teppiche waren in einem zarten Blattgrün gehalten und die Wände in einem blassen Mauve, ebenso wie die Tischdecken. Die weißen Bambusstühle hatten Sitzkissen in der Farbe der Teppiche, und frische Blumen schmückten die Tische, die ausnahmslos einen Blick auf den Teich boten. Den Gästen wurde Brot vom Vortag zur Verfügung gestellt, damit sie die Enten und die anderen Wasservögel füttern konnten, die sich hier niedergelassen hatten. Sonntags wurden Familien bewirtet, doch an den Samstagabenden schuf Francey eine romantischere Atmosphäre und engagierte sogar ein Trio vom Orchester der High-School, das Melodien aus den Vierzigern und Fünfzigern spielte. Etwas dergleichen hatte man in Verity noch nie gesehen. Es vergingen nicht allzu viele Monate, bis sogar einige Leute von Corpus Christi runterkamen oder von Brownsville rauffuhren, um in den Weiden zu Abend zu essen. Als Carly endlich mal nach Hause kam, sagte sie zu ihrer Mutter, das Restaurant könne sich mit jedem messen, in dem sie in Houston zu Abend gegessen habe. Carly war erst eine Woche in Houston gewesen, als sie auf eine Anzeige geantwortet hatte, die Rolf Realtors in der Post aufgegeben hatten. Rolf’s war außerhalb von Dallas der größte Immobilienmakler in ganz Texas. Die Firma hatte Zweigstellen in Baytown und Galveston und zahllose kleinere Filialen in den rasch emporschießenden Vorstädten von Houston. Carly und etwa achtzig andere Mädchen meldeten sich auf die 52
Anzeige hin. Sie wurden Tests in Tippen, Rechtschreibung, Steno und sogar in den Grundrechenarten unterzogen. Diejenigen, die sie bestanden, behielt man da. Fünf von ihnen wurden für ein persönliches Einstellungsgespräch mit Mr. Rolf ausgewählt. Ein einziger Blick auf Carly genügte Mr. Rolf, um sich zu sagen, es sei verdammt gut, daß er so alt war, wie er war; er konnte es genießen, einfach nur hinzuschauen und dann gleich wieder auf das Geschäftliche zurückzukommen. Abgesehen davon, hatte sie in sämtlichen Tests als Beste von allen abgeschnitten und nicht ein einziges Wort falsch geschrieben. Sie hatte noch kein Jahr für ihn gearbeitet, als sie schon wußte, was er wollte, ehe er es auch nur ausgesprochen hatte. »Hast du Radarantennen?« fragte er mit seiner dünnen Stimme, und blaue Adern traten unter seiner nahezu pergamentenen Haut hervor. Sie mochte ihn. Und sie fand nichts dabei, ihm morgens Kaffee und am Nachmittag Tee zu bringen, Arzttermine für ihn zu vereinbaren und für seine Töchter und Enkelinnen Geschenke zu besorgen. Ihr machte sowohl die Arbeit an sich Spaß als auch die Verantwortung, die er ihr übertrug. Auf Rolfs Anregung hin belegte sie einen Kurs im Beurteilen von Immobilien, obwohl für ihre Arbeit als Sekretärin keine Kenntnisse auf diesem Gebiet erforderlich waren. Sie begann, die Voraussetzungen, die Fachsprache und das Immobilienrecht besser zu verstehen als viele von Rolfs Maklern, die auf Provisionsbasis arbeiteten. Einige wenige dieser Männer verdienten knapp eine Million im Jahr. Natürlich waren sie für Gewerbeobjekte zuständig und führten die ganz großen Verhandlungen, aber etliche andere, darunter auch ein paar Frauen, verdienten Hunderttausende. »Wie kommt es, daß Frauen keine Gewerbeobjekte und auch keine Industrieobjekte verkaufen?« fragte Carly ihn am Ende einer Diktatsitzung. Mr. Rolf schüttelte den Kopf. »Welcher Geschäftsmann würde schon einer Frau vertrauen? Mit Ausnahme von mir glauben nicht viele Männer in Houston, vielleicht sogar auf der ganzen Welt, daß Frauen Verstand besitzen. Du brauchst dir doch nur den Kongreß anzusehen. Oder schau dich mal unter Generaldirektoren und auf der Ebene der Geschäftsleitungen um. Also, bei mir ist es so, daß meine Frau klüger ist als ich. Das gefällt mir. Es hält mich auf Draht. Aber nicht viele Männer mögen das.« Als sie als junges Mädchen angefangen hatte, mit Jungs auszugehen, 53
hatte Carly sich gemerkt, was Francey ihr gesagt hatte: »Laß dir, wenn du mit einem Jungen zusammen bist, nicht ansehen, wie intelligent du bist. Lächle einfach nur, und gib dich interessiert an allem, was ihn interessiert.« Ja klar, zum Beispiel Football, Golfrekorde und alte Autos. Carly hatte Mr. Rolf gern, und sie mochte ihre Arbeit, doch sie erkannte deutlich deren Grenzen. Sie ging auf dreiundzwanzig zu und wollte es zu etwas bringen. Der Moment erschien ihr günstig. Sie hob das Kinn und fragte Mr. Rolf: »Was halten Sie davon, daß Sie mich mal versuchen lassen, etwas zu verkaufen?« »Und an wen?« fragte er zurück und sah sie an. Er hatte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch gestützt, die Fingerspitzen aneinandergepreßt und das Kinn daraufgelegt. »Glaub bloß nicht, ich hätte mir nicht selbst schon Gedanken darüber gemacht, aber du hast nicht die richtigen Kontakte. Wie viele Leute kennst du denn schon, die sich den Kauf von Objekten einer Größenordnung leisten könnten, die erforderlich ist, um das große Geld zu machen?« Die Leute, die Carly außerhalb der Arbeit kannte, waren ausschließlich Singles, die in Apartments wohnten. »O nein, man muß Kontakte haben«, sagte er und zupfte an seinem Schnurrbart. Mr. Rolf vergaß diese Unterhaltung jedoch nicht. In ihrem zweiten Jahr als seine Sekretärin rief er sie in sein Büro. Jay Thornberry, der absolute Spitzenverkäufer der Firma, war krank und konnte seinen Termin mit der Bank nicht einhalten. »Ich sollte selbst hingehen«, sagte Mr. Rolf. »Es handelt sich um ein großes Geschäft, aber ich habe da so eine Ahnung, und meine Ahnungen täuschen mich selten. Du bist im Besitz sämtlicher Informationen über dieses Objekt, bei dem es um das Land geht, auf dem A&S Petroleum ein Bürogebäude errichten will. Du kennst dich bis in alle Einzelheiten mit dem Vorgang aus. Geh rüber zur Union Trust und rede mit dem Direktor. Er ist der Sohn des Besitzers, Cole Coleridge. Es ist eine abgemachte Sache, und es kann nichts schiefgehen, aber wir brauchen seine Unterschrift. Mach diese Erfahrung, denn genau danach sehnst du dich doch schon seit längerem. Und außerdem wirst du auf die Art einen der ganz großen und vielversprechenden jungen Aufsteiger von Houston kennenlernen. Das kann nur gut für dich sein.« Er musterte sie. »Okay, Mädchen, mach dich ran. Und wenn du den Eindruck hast, daß es funkt, dann lade ihn zum Mittagessen ein. Ich bezahle die Rechnung.« 54
Carly straffte ihre Schultern. »Ich lade Männer nicht zum
Mittagessen ein.«
Mr. Rolf lachte. »Tja, Cole Coleridge ist ein harter Brocken.
Er lädt dich ganz bestimmt nicht ein.«
Carly lächelte. »Er ist doch ein Mann, oder etwa nicht?«
»Finde es raus und erzähl es mir hinterher.« Er grinste.
»Und vielleicht ist das für dich genau der richtige Einstieg, um die
nötigen Kontakte zu knüpfen. Er ist stinkreich. Oder zumindest hat
sein Daddy einen ganzen Haufen Kohle.«
Als Carly sich abwandte, um zu gehen, sagte er noch: »Und
verheiratet ist er auch nicht.«
Sie lachte. »Wie hieß er gleich noch mal?«
»Cole Coleridge.«
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TEIL II
1969-1
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»Ich habe da jemanden, von dem ich finde, du solltest ihn kennenlernen.« Cole Coleridges Stimme klang am Telefon eindringlich. Alexandra Headland saß auf dem Ledersessel, der ihrem Rücken exakt angepaßt war, hielt einen schwarz-goldenen Bleistift in der rechten Hand und kritzelte auf dem Block herum, der auf ihrem Schreibtisch mit der facettierten Glasplatte lag. Sie zeichnete Blätter, identische Blätter, die die Seite zu füllen begannen. »Willst du mir Näheres erzählen?« »Wir sind hier drüben zu konservativ, aber du… du gehst Risiken ein. Er ist wegen eines Darlehens zu uns gekommen, mehr sage ich nicht. Er sitzt gerade in meinem Vorzimmer.« Sie warf einen Blick in ihren Terminkalender. »Ich bin den ganzen Tag über ausgebucht. Aber wie wäre es mit fünf?« »Er heißt Brad Bannerman. Laß mich wissen, was du mit ihm anfängst. Es würde mich wundern, wenn er dich nicht interessiert.« Alex legte ihren Bleistift hin und fragte sich, warum sie beim Telefonieren immer Blätter zeichnete. »Vermutlich eine große Summe.« Sie konnte das Lächeln in Coles Augen förmlich sehen. Er schien nur dann zu lächeln, wenn es um Geld ging. »Ich werde ihn gegen fünf zu dir schicken.« Pause. »Vergiß aber nicht unsere Verabredung um sieben.« Es würde reichlich eng werden. Sie hätte gern Zeit gehabt, um sich vor dem Abendessen noch unter die Dusche zu stellen und sorgfältig das richtige Outfit zu wählen – was nicht etwa heißen sollte, daß sie jemals etwas anderes als genau das getan hatte. Die Presse bezeichnete sie im allgemeinen als »die verwegene Glamour-Ölerbin«. Jede Party, zu der Alex erschien, wurde auch von einem Fotografen besucht. Das Time Magazine hatte einen Artikel über die neue Elite von Houston mit ihrem Foto versehen. Diejenigen, die sie nicht kannten, lechzten nach dem Glamour, für den sie stand. Diejenigen, die sie kannten, lächelten dagegen vielsagend. Ihre Alex. Außerdem besaß sie einen scharfen Verstand, so scharf wie eine Rasierklinge. Nicht ein einziges Mal war es vorgekommen, daß Alex je an sich selbst gezweifelt hätte. Ihre Eltern waren die besten Freunde von Coleridges Eltern, und das war schon so, seit Kevin Coleridge damals das Risiko eingegangen war, 57
Geld in Amos Headlands Suche nach seiner ersten Ölquelle zu investieren. Das war vor Alexandras Geburt gewesen und ehe einer der beiden Männer geheiratet hatte. Kevin hatte ängstliche Momente durchlitten, in denen er sich gefragt hatte, ob dieser ungestüme junge Mann auch wußte, was er tat, doch wie sich herausstellen sollte, förderte Amos Headland eine Ölquelle nach der anderen und dann immer noch mehr zutage und brachte sie in das Geschäft ein. Als Alexandra, sein einziges Kind, geboren wurde, war er bereits vielfacher Millionär. Cole war fünf Monate älter als Alex, und sie waren zusammen groß geworden, gemeinsam mit Coles jüngerem Bruder Bennett. In den frühen Jahren war Ben niedlich gewesen, und sie hatte ihn eigentlich lieber gemocht als Cole. Vielleicht mochte sie ihn sogar immer noch lieber. Als sie und Cole im St. John’s die siebte Klasse besuchten, nahmen sie an den Freitagabenden bei Miss Shibley Tanzstunden. Ben setzte ihr so lange zu, bis sie ihm die Schritte beibrachte und sie mit ihm gemeinsam einübte, obwohl er damals erst zehn war. Als sie in einem Sommer alle gemeinsam auf der QUEEN ELIZABETH II nach Europa reisten, war Ben derjenige gewesen, mit dem sie mehr Zeit verbracht hatte. Er war leicht zum Lachen zu bringen, sie konnte ihn beim Monopoly immer schlagen, und er war von Natur aus einfach süß und doch nie langweilig. Außerdem hatte sie den Verdacht, daß Ben gescheiter war als Cole. Cole mußte für seine Noten, die ganz ausgezeichnet waren, büffeln, doch Ben fielen gute Noten ohne jeden Aufwand in den Schoß. Cole und Alex hatten nie ein echtes Rendezvous miteinander, doch Cole holte sie zu Partys, Tanzveranstaltungen und Barbecues ab und brachte sie hinterher wieder nach Hause. Sie konnten gut miteinander tanzen. Beide entstammten dem von jeher begüterten konservativen Bevölkerungsteil Houstons, wo ohne dessen Zustimmung niemand jemand werden konnte, und das einzige Kriterium für Annehmbarkeit war Reichtum. Und zwar nicht nur ein paar läppische Millionen. Als sie die High-School abschlossen, wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß es eine reine Frage der Zeit war, bis sie sich verloben würden. Cole war einer von nur zwei jungen Männern aus seiner Schule, die nach Harvard gingen, und Alex war das einzige Mädchen aus ganz Texas, das Bryn Mawr besuchte. Es war die Alma Mater ihrer Mutter, deren Familie ursprünglich aus Philadelphia stammte und die 58
Amos kennenlernte, als sie in einem Sommer ihre Tante in Ardis, Oklahoma, besuchte, wo er Versuchsbohrungen machte. Angesichts ihres Intellekts, ihrer SAT-Ergebnisse und ihres spektakulären Notendurchschnitts in der High-School gab es keine einzige Universität im ganzen Land, die Alex nicht liebend gern aufgenommen hätte. An dem Abend, ehe er nach Cambridge aufbrach, küßte Cole sie zum erstenmal. Er zog Alex an sich, und seine Lippen berührten ihre, als er sagte: »Du wirst mir fehlen.« Alex empfand nicht das geringste. Sie war nicht schön, noch nicht einmal hübsch, und doch drehten die Leute die Köpfe nach ihr um und starrten sie an, wenn sie einen Raum betrat. Sie besaß grenzenloses Selbstvertrauen. Sie wußte, daß sie klüger als die meisten Leute war, und sie wußte, daß sie Stil hatte, einen Stil, der daher rührte, daß sie schon immer in der Lage gewesen war, von allem nur das Beste zu kaufen. Sie wußte aber auch, daß sie einen schönen Körper hatte. Vielleicht zu dünn, doch anmutig wie die Mannequins, die die Titelblätter von Vogue zierten. Im Lauf der Jahre wuchsen sie und Cole in den Weihnachtsferien und in den Sommermonaten über diesen einen einzigen Kuß mit dünnen Lippen und geschlossenen Mündern hinaus und machten Fortschritte, doch es kam nichts dabei heraus, was sie erregt hätte. Cole schien sich nie gehenzulassen; seine Lippen legten nie eine gewisse Starre ab, und seine Leidenschaft war unterdrückt. Nach dem Abschluß in Harvard studierte er in Stanford weiter, um dort seinen MBA zu machen; Alex erhielt den ihren von der University of Pennsylvania. Sie und Cole schrieben einander nie. Eine Heirat wurde nie erwähnt, und doch setzten sowohl sie als auch ihre Familien als selbstverständlich voraus, daß sie heiraten würden. Da sich keiner von beiden im Lauf der Studienjahre mit einem anderen Partner eingelassen hatte, glaubten ihre Mütter, als sie im Sommer 1967 mit mehr Titeln geschmückt, als die meisten Texaner jemals anhäufen, nach Houston zurückkehrten, jetzt stünde eine Hochzeit bevor. Statt dessen bewerkstelligten sie nichts weiter, als miteinander zu schlafen. Cole legte im Bett keinerlei Begeisterung an den Tag, sondern tat alles rein mechanisch, fast so, als hätte er ein Handbuch gelesen. Hinterher zündeten sie sich Zigaretten an, obwohl Alex sich nichts mehr gewünscht hätte, als nach Hause zu gehen, sich in ihr eigenes Bett zu legen und in einen traumlosen Schlaf zu versinken. 59
Er wollte über Zukunftspläne reden, nicht etwa seine eigenen Zukunftspläne mit ihr, sondern die der Bank. Der Bank seines Vaters. Mit seinem neuerworbenen MBA gedachte er den Bankbetrieb zu rationalisieren und Veränderungen vorzunehmen. Sein Vater bestand darauf, es langsam anzugehen. Kreditinstitute sollten seiner Meinung nach nicht zuviel in Bewegung bringen. Geduld zählte nicht gerade zu Coles Stärken. Seine kolossale Schwäche bestand in seinem mangelnden Sinn für Humor, doch Frauen fühlten sich von seiner Reserviertheit und dem Ruf sowie auch dem gewaltigen Reichtum seiner Familie angezogen. Diese Verbindung stand für Macht. Cole probierte sich nie an etwas, wenn er sich seines Sieges nicht sicher war. Er übte unermüdlich, bis er zum Experten wurde. Beim Tennis, beim Squash und bei geistigen Wettbewerben gewann er immer. Er wirkte ebenso selbstsicher wie Alex. Und er war der einzige Mensch in ihrem gemeinsamen Freundeskreis, mit dem Alex über geschäftliche Dinge reden konnte. Sie hatte deutlich klargestellt, daß sie nicht reif für eine Ehe war, wogegen Cole nichts einzuwenden hatte. Und so schliefen sie an den Samstagabenden miteinander. Zur großen Enttäuschung ihrer Eltern hatte Alex beschlossen, nicht mit ihnen in ihrer Einundzwanzigzimmervilla in River Oaks zu leben, sondern sich für eine Luxuswohnung in einem Gebäude in der Innenstadt entschieden, das ihrem Vater gehörte – fünf Zimmer und ein Balkon mit spektakulärem Ausblick vom sechsten Stock. Ihr Wohnzimmer war geräumig, und die Wand zwischen den beiden Schlafzimmern ließ sie rausreißen, wodurch ihr Schlafzimmer, das ganz in Weiß gehalten war, sogar noch größer wurde als das ihrer Eltern. Die Küche war ganz in Schwarz und Weiß gehalten – schwarzer Kühlschrank, schwarze Herdplatte, schwarzer Einbauofen in der Wand, schwarz schimmernde Anrichte, weißer Marmorfußboden und eine Spüle aus rostfreiem Stahl. Das Wohnzimmer hatte mattweiße Wände und war mit Möbeln aus schwarzem Leder und Stahlrohr eingerichtet. Ein leuchtend buntes Mobile von Alexander Calder hing von der Decke, und ein riesiger Jackson Pollock nahm eine ganze Wand ein. Alex liebte ihre Wohnung und genoß es, ungestört und für sich zu sein. Sie ließ es dort nie zum Sex mit Cole kommen, denn sie wollte nicht, daß er oder irgend jemand sonst über Nacht blieb. Sie war gern allein, um in Ruhe ihren Gedanken nachhängen zu können, sich den Spätfilm anzusehen, mit einem Glas Baileys Irish Cream auf ihrem 60
Balkon zu stehen, auf Houston hinauszublicken und dabei zu wissen, daß sie auf dem Wege war, einer der Drahtzieher dieser Stadt zu werden, genauso wie ihr Vater. Für diese Rolle war sie ihr ganzes Leben lang geschult worden, und es hätte ihr keinerlei Schwierigkeiten bereitet, diese Rolle zu erlangen, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Sie wußte jedoch, daß sie sich trotz ihrer Herkunft und ihres Geldes mühsam einen Weg nach oben bahnen mußte. Sie war bereit, sich jeden Zentimeter zu erkämpfen. Sie hatte keine Ahnung, daß sich um fünf Uhr etwas ereignen würde, worauf sie absolut unvorbereitet war. Ihre Sekretärin betätigte den Summer. »Mister Bannerman ist hier.« Die Tür ging auf, und der Mann füllte die komplette Türöffnung aus. Alex, die an ihrem Schreibtisch saß und die Hände vor sich gefaltet hatte, stellte fest, daß er sich nicht herausgeputzt hatte, um einen guten Eindruck auf sie zu machen, doch das Blinken seiner schon recht betagten Stiefel wies darauf hin, daß sie erst kürzlich frisch geputzt worden waren. Er hatte Jeans an, und auch die waren nicht neu. Sein Hemd war blau-weiß gestreift, und er trug eine schmale, locker gebundene Krawatte. Ein Gürtel mit silbernen und türkisfarbenen Nieten war durch die Schlaufen seiner Jeans gesteckt. Er hätte John Wayne sein können, obwohl sein Gesicht nicht zerfurcht, sondern kantig war, sein Haar dunkler, seine Augen brauner. Sie schätzte ihn etwa auf ihr eigenes Alter. Und er war braungebrannt. Mit großen Schritten kam er durch den Raum auf sie zu und hielt ihr die Hand hin. Pranke ist wohl treffender, dachte sie, als er ihr die Hand schüttelte. »Ich mag Frauen mit einem kräftigen Händedruck«, waren seine ersten Worte. Sie nahm an, dies bedeutete, daß sie seine Billigung gefunden hatte. Sie bemühte sich, die Gereiztheit zu unterdrücken, die sie in sich aufsteigen spürte. Schließlich ging es darum, daß er ihre Billigung fand. »Setzen Sie sich, Mister Bannerman.« Er füllte den ganzen Sessel aus und beugte sich sofort vor; ein eindringlicher Ausdruck trat in seine dunkelbraunen Augen. »Ich sollte Sie besser warnen«, sagte er. »Sämtliche Bankiers dieser Stadt haben mich abgewiesen. Ich bin noch nicht einmal über die niederen Sphären hinausgelangt.« Niedere Sphären? Alex revidierte ihren ersten Eindruck, daß es sich bei ihm um einen Provinzler handelte. Schließlich mußte ihr eigener Vater in diesem Alter noch Schmutz unter den Fingernägeln gehabt haben. Ohne sich etwas dabei zu 61
denken, sah sie die großen Hände des Mannes an und nahm die langen Finger und die sehr sauberen, kurzgeschnittenen Nägel wahr. »… und zu den Leuten vorgedrungen, die tatsächlich über solche Summen verfügen können…« »Um welche Summe dreht es sich überhaupt?« fiel ihm Alex ins Wort. »Eine halbe Million.« Alex lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn auf ihre Finger. Sie wartete. »Derart graue Augen habe ich noch nie gesehen«, sagte er und lächelte sie an. »Wie das Meer an einem bewölkten Tag.« Ihr war unbehaglich zumute. »Mit Schmeicheleien kommen Sie hier nicht weiter, Mister Bannerman.« Ihre Stimme gefror zu Eis, doch sie nahm ein Flattern in ihrer Brust wahr. Ihre Kritik schien ihm nicht das geringste auszumachen. »Das war kein Kompliment, nur die Feststellung eines unumstößlichen Tatbestandes.« Sein Lächeln war von einer kindlichen Unbefangenheit. »Eine halbe Million ist eine Menge Geld.« Nicht wirklich, dachte sie, aber für einen jungen Mann Mitte Zwanzig war dieser Betrag, wenn er ihn zu borgen beabsichtigte, hoch. »Das ist nur der Anfang«, sagte er lachend. »Ich will Apartmenthäuser bauen. Houston wächst so schnell, daß jetzt schon Bedarf an Wohnraum besteht.« Das war Alex bekannt. »Luxusapartments. Für Leute, die vor der Instandhaltung eines großen Hauses zurückscheuen. Für Singles, die es geschafft haben. Für Leute, die eine gute Adresse mitten in der Stadt haben möchten. Für diejenigen, die die Vorstädte nicht mögen. Für jene in River Oaks, deren Kinder erwachsen geworden sind und die ihre riesigen Häuser jetzt als zu groß empfinden.« Ihre Eltern würden niemals auch nur im Traum daran denken, ihr Haus gegen eine kleinere Wohnung einzutauschen. »Haben Sie schon einen Standort ins Auge gefaßt?« Ihre Blicke hingen gebannt an ihm, während er ihr ausgiebig von seinen Ideen berichtete. Als er am Ende angelangt war, sagte sie: »Eine halbe Million genügt nicht.« Er grinste. »Ich erwähnte doch bereits, daß das nur der Anfang ist.« »Und wie stellen Sie sich vor, an dieses Land zu kommen?« fragte sie. »In dieser Lage muß allein schon der Baugrund Millionen wert sein.« »Das Land gehört mir bereits«, antwortete Boomer. »Mein Vater hat es schon lange vor meiner Geburt gekauft, als dieser Teil der Stadt 62
noch eine ländliche Gegend war.« Alex straffte ihre Schultern.
»Ich beabsichtige, mehr daran zu verdienen als das, was ein direkter
Verkauf mir einbrächte.«
»Es geht um Millionen.«
»Ja, Ma’am.«
»Dann ist das Land also Ihre Sicherheit?« Das wäre wirklich kein
großes Risiko. Es war weit mehr wert als die Summe, die er
verlangte.
»Niemals im Leben«, antwortete er. »Und welche Sicherheiten
bieten Sie?« Dieses breite, schiefe Grinsen trat wieder auf sein
Gesicht. »Mich. Meine eigene Person.«
Alex rief Cole an und sagte, sie würde sich im Restaurant mit ihm
treffen. Sie mußte sich beeilen, wenn sie es rechtzeitig schaffen
wollte.
Das erste, was Cole sie fragte, nachdem sie sich gesetzt hatten, war:
»Also, was ist mit diesem Bannerman?« Alex bestellte einen
Whiskey Sour und ging dann zu Cola über. »Ja, du hast recht gehabt.
Er interessiert mich.« Und das war eine krasse Untertreibung.
63
9 Alex
überprüfte Bannermans Hintergrund und Werdegang und befaßte sich ausführlich mit den Zeichnungen des Architekten, die er ihr überlassen hatte. Seit er an der University of Texas sein Studium abgeschlossen hatte, hatte er durchgehend in der Bauindustrie gearbeitet. In den letzten drei Jahren war er bei drei großen Bauvorhaben Bauleiter gewesen, und seine Empfehlungsschreiben lobten ihn ausnahmslos und priesen ihn in den höchsten Tönen. Aber die Tätigkeit als Bauleiter bereitete einen noch lange nicht darauf vor, der Boss schlechthin zu sein, die Finanzen zu verwalten und den Personalaufwand zu kalkulieren. Das war ein Traum, den sie verstehen konnte, aber dazu gehörte nicht nur Weitblick, sondern auch Sachverständnis, Erfahrung und Routine. Er schien die Fähigkeit zu besitzen, ein großes Bauvorhaben abzuwickeln, und das nicht nur schon vor dem festgesetzten Zeitpunkt, sondern auch noch zu einem Preis, der unter den geschätzten Kosten lag. In einer seiner Referenzen wurde angemerkt, sein Vater sei lange Zeit Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft von Texas gewesen. Soso! Das war tatsächlich eine Überraschung. Als Cole und sie nach dem Abendessen das Don-Shirley-Konzert über sich hatten ergehen lassen, hatte sie über Brad Bannerman nachgedacht. Als Cole ihre Hand nahm, fragte sie sich, wie Brads große Hände sich wohl anfassen würden, wenn sie sich mit ihren verflochten. Sie ließ sich mit Begeisterung auf Wetten ein, und sie wäre jede Wette darauf eingegangen, daß er schon bald ein ernstzunehmender Faktor in Houston sein würde. Er würde zu Geld kommen. Sie konnte es in ihren Knochen fühlen. Und jeder, der genug Geld hatte, war in Houston gut aufgehoben. Sie ließ sich drei Tage Zeit mit ihrem Anruf bei ihm, damit er richtig schön ins Schwitzen geriet. Und sie lächelte in sich hinein. Er würde sein Geld von einer Frau bekommen. Sie fragte sich, ob er sich wohl vor Scham krümmen und winden würde. »Mister Bannerman, was halten Sie von heute nachmittag? Wieder um fünf?« Möglicherweise würde sie ihm sogar einen gemeinsamen Drink vorschlagen. Nach drei stand nichts mehr auf ihrem Terminkalender. Jeden Abend hatte sie auf ihrem Balkon mit Blick auf die Stadt gesessen und an Brad Bannerman gedacht, an seine 64
braunen Augen, seine breiten Schultern und seine enorme Körpergröße. Er hatte Kraft ausgeströmt, als er durch ihr Büro auf sie zugekommen war, und doch hatte er auch eine naive, knabenhafte Art an sich. Sie dachte an seine Selbstsicherheit, unbeeinträchtigt durch den Umstand, daß sämtliche Bankiers von Houston ihn abgewiesen hatten. Und sie dachte auch an sein Lächeln. Sie war wütend, wußte aber nicht, ob auf ihn oder auf sich selbst. In all den Jahren hatte sie sich vorgesehen, um ganz sicherzugehen, daß kein Mann sie dazu brachte, die Selbstkontrolle zu verlieren. Bis am vergangenen Montag nachmittag dieser Bannerman in ihr Büro gekommen war, war sie gegen jede Versuchung gefeit gewesen. Selbst Cole wußte, daß er nur einen kleinen Teil von ihr für sich beanspruchen konnte – ihren Körper am Samstagabend. Als Bannerman um Punkt fünf erschien, erwartete ihn Alex mit einem Scheck. Sie sagte ihm nicht, daß hunderttausend Dollar, ein Fünftel dieser Summe, von ihrem Privatkonto stammten. Er warf einen schnellen Blick auf den Scheck, faltete ihn zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche. »Soll ich irgendwas unterschreiben?« Sie schob ein Blatt Papier über ihren Schreibtisch. Er las es durch, unterschrieb und schnippte es ihr wieder zu. »Woher bekommen Sie Gelder in dieser Größenordnung?« fragte er. »Ich investiere das Geld anderer Leute. Sie werden in Ihrem Vorhaben von fünf verschiedenen Personen unterstützt.« »Wissen diese Leute etwas davon?« Sie schüttelte den Kopf und dachte: Wenn sein Haar länger wäre, würde es sich über den Ohren kräuseln. »Nein. Sie stellen keine Fragen. Ich erwirtschafte immer Gewinne für sie. Verstehen Sie, Sie verpflichten sich schließlich nicht nur, eine halbe Million zurückzuzahlen. Ich habe mich mit dem Geld dieser Leute in Ihr Geschäft eingekauft.« »Als stille Teilhaber?« Sie nickte. Falls du nicht alles vermasselst, dachte sie, aber das sagte sie nicht. »Haben Sie sich das Bauland inzwischen angesehen?« »Nicht nur das. Ich habe auch die Zeichnungen ausgiebig studiert. Es mag zwar sein, daß ich Risiken eingehe, vor denen konventionelle Bankiers zurückschrecken, aber ich bin gründlich.« Er setzte sich. »Wenn man bedenkt, daß Sie so viel Geld zur Verfügung haben, sind Sie reichlich jung. Wer vertraut Ihnen so 65
große Summen an?« Alex mußte wider Willen lächeln. »Mister Bannerman, mir hat bereits von meiner Geburt an Geld zur Verfügung gestanden. Und jeder, der mich kennt und der meinen Daddy kennt, setzt Vertrauen in mich.« Sie legte den Vertrag, den er unterschrieben hatte, in eine Mappe und schob sie auf ihrem Schreibtisch zur Seite. »Kommen Sie schon«, sagte er, »helfen Sie mir beim Feiern. Ich kenne ein tolles Restaurant, von dem ich wetten würde, daß Sie noch nie dort gewesen sind. Und nennen Sie mich Boomer.« »Boomer?« Sie konnte sich gut vorstellen, daß sie keines der Lokale, die er frequentierte, je besucht hatte. Er warf einen Blick auf ihren Hosenanzug aus grauer Shantungseide und das grüne Hemd, das wie ein Herrenhemd wirkte, jedoch ebenfalls aus Seide war und sich an ihre Brüste schmiegte. »Sie brauchen sich noch nicht einmal umzuziehen. Sie können so bleiben, wie Sie sind.« Sie bemühte sich, nicht laut loszulachen. »Ist es nicht noch zu früh dafür?« »Bis wir dort sind, ist es dunkel.« Er nahm sie an der Hand und zog sie mit zielstrebigen Schritten hinter sich her. Alex entging nicht, daß ihre Sekretärin sie ungläubig anstarrte. Und ebenso ungläubig starrte Alex, als sie die schwere schwarze Harley-Davidson sah, die neben ihrer Corvette geparkt war. Zwei Helme hingen an dem Lenker. Den einen reichte ihr Boomer, den anderen setzte er selbst auf. »Das soll wohl ein Witz sein!« Boomer grinste. »Sind Sie jemals auf so was gefahren?« Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte er die Hände aus, um ihr zu zeigen, wie sie den Helm aufsetzen mußte. Ein Blick genügte ihm, denn ihr war deutlich anzusehen, daß sie noch nie auf einem Motorrad gesessen hatte. Er half ihr beim Aufsteigen, und ehe er den Motor auf Touren brachte, drehte er den Kopf zu ihr um und sagte: »Halten Sie sich gut fest.« Sie hielt ihn so fest umklammert, daß ihre Armmuskeln schmerzten, als sie fünfundvierzig Minuten später vor einem Restaurant am Kai von Galveston anhielten. »Hier gibt’s die besten Garnelen auf Erden«, sagte er und half ihr vom Motorrad. Als sie den Helm absetzte, lachte er, und ein Blick in den Spiegel im Vorraum der Damentoilette ließ sie erkennen, warum. Das Haar war an ihren Kopf geklatscht, und sie hatte ihren Lippenstift seit dem 66
Mittagessen nicht mehr aufgefrischt. Aber schließlich würde sie hier ganz bestimmt niemanden treffen, der sie kannte. Sie erkannte sich selbst ja nicht wieder. »Ich habe schon bestellt«, teilte er ihr mit, als sie an den Tisch zurückkam. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn Männer es sich anmaßten, für sie zu bestellen. Woher wollten sie wissen, was sie mochte? »Sie haben mich ohne meine Handtasche gekidnappt«, sagte sie. »Ich habe nicht einmal einen Kamm bei mir und…« »Nicht nötig, Sie sehen prima aus«, fiel er ihr ins Wort. »… und auch keine Zigaretten.« Boomer winkte einen Kellner an den Tisch. »Welche Sorte wollen Sie?« Sie hatte den Eindruck, daß ihm das mißfiel. »Pall Mall.« Der Kellner nickte und kam eine Minute später wieder. Sie riß das Zellophan von dem Päckchen und wartete darauf, daß Boomer ihr Feuer gab. Schließlich griff sie selbst nach den Streichhölzern, zündete ihre Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lunge. Als sie ausatmete, wedelte er mit der Hand vor seinem Gesicht, um den Rauch zu vertreiben. Die aufblitzenden Lichter von Booten funkelten und spiegelten sich im Wasser wider. Himmel und Meer waren eins. Das Terrassenrestaurant, das von Palmen umstanden war, überraschte sie. Es wirkte luxuriös, wenn nicht gar elegant. Haufenweise üppige Grünpflanzen, Papageien in Käfigen, Duke Ellington als leise Hintergrundmusik, frische Hibiskusblüten in einer Schale auf dem gestärkten Leinen der Tischdecke. Das war keineswegs die Imbißkultur, die sie erwartet hatte. »Die besten Meeresfrüchte an der ganzen Golfküste«, sagte Boomer. »Vielleicht sogar weltweit.« Sie mochte sein Lächeln. Als sie an dem pfirsichfarbenen Drink nippte, den der Kellner ihr in einem hohen Glas serviert hatte, seufzte sie. »Ambrosia. Was ist das?« Boomer schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber sie sind berühmt dafür.« »Warum haben Sie es nicht auch für sich bestellt?« Er trank Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone. »He, ich bin der Fahrer, oder haben Sie das etwa vergessen?« »Wie könnte ich das vergessen?« Er beugte sich über den Tisch und legte eine große Hand auf ihre. »Es hat Ihnen gefallen, stimmt’s?« Sie mußte es zugeben. »Ich weiß 67
nicht, wann ich mich jemals so erfrischt und belebt gefühlt hätte.« Er zog seine Hand wieder fort und lehnte sich auf dem weißen Korbstuhl zurück. »So, und jetzt erzählen Sie mir etwas über sich. Wissen Sie was? Ich habe kaum noch an etwas anderes gedacht, seit ich am Montag Ihr Büro betreten habe.« »An kaum etwas anderes als an das Darlehen oder daran, das Projekt in Angriff zu nehmen?« Er kniff die Augen zusammen. »An Sie. An kaum etwas anderes als an Sie. Wie haben Sie es dahin gebracht, wo Sie heute sind, und warum?« Es war das erstemal in ihren sechsundzwanzig Jahren, daß ein Mann ihr Fragen zu ihrer eigenen Person stellte, ehe er Stunden damit zugebracht hatte, über sich selbst zu reden. Mit Ausnahme von Cole. Er brauchte ihr nichts über sich zu erzählen und ihr auch keine Fragen zu ihrer Person zu stellen, da sie einander schon immer gekannt hatten. »Mein Leben ist ein offenes Buch. Sie können jeden nach mir fragen.« Er musterte sie eine volle Minute lang. »Ich möchte Ihre Geschichte aus Ihrem eigenen Mund hören.« Sie lächelte. Ja, sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Oder lag es an dem Pfirsichgetränk? »Über die nächsten zehn Jahre wird es mehr zu berichten geben als über die ersten sechsundzwanzig.« Er lachte. Sie drückte ihre Zigarette aus, als der Kellner den ersten Gang brachte. Die Garnelen waren die saftigsten, die Alex je gegessen hatte. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Ich habe Sie unterschätzt.« »Das tun die meisten Leute.« Er sagte das ohne jeden Groll. »Jetzt machen Sie schon«, drängte er sie. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.« Sie warf einen Blick auf ihn, und ihre Gabel verharrte mitten in der Luft. Als sie nach siebeneinhalb Minuten fertig war, stellte sie schockiert fest, daß sie tatsächlich nicht viel zu erzählen hatte. »Klingt wie ein Nachruf«, sagte Boomer, und seine Augen waren ernst. Der Kellner brachte den Hauptgang. Boomer beobachtete sie, als sie die Flunder kostete. Alex verdrehte die Augen und murmelte: »Einfach großartig.« Und nachdem etwa eine Minute vergangen war, sagte sie: »Mir war bisher nicht klar, wie uninteressant ich bin.« Es war ihr tatsächlich nicht klar gewesen. Uninteressant gehörte nicht 68
gerade zu den Worten, von denen sie sich jemals vorgestellt hatte, sie könnten auf ihre Person angewandt werden. Es war das erstemal in ihrem ganzen Leben, daß sie jemandem ihre Biographie präsentiert hatte, und es bestürzte sie, daß sich das in so wenigen Worten machen ließ. Boomer, der auf seinem Fisch herumkaute, meinte: »Mir scheint, Sie haben einen engen Gesichtskreis.« »Und was soll das heißen?« Sein Ton ließ keine Kritik erkennen. »Sie wollen Houston und vielleicht sogar der ganzen Welt beweisen, daß Sie sich an jedem xbeliebigen Mann messen können, ja, sogar besser sind als die meisten Männer. Sie wollen so viel Geld verdienen, daß niemand je Ihre Macht anzweifeln wird.« Alex legte ihre Gabel hin und starrte ihn an. Sie kannte ihn kaum, und er war geradewegs durch ihre Augen zu ihrem innersten Kern vorgedrungen und hatte sie nackt ausgezogen. Das hatte ihr bisher noch niemand angetan. Sechsundzwanzig Jahre lang war sie als Idol hingestellt worden, dem alle nachgeeifert hatten, die intelligenteste unter ihren Mitschülerinnen und Kommilitoninnen, die beste Tennisspielerin, die wünschenswerteste aller Töchter, eine der reichsten… Boomer beugte sich vor und sagte in einem vertraulichen Flüsterton: »Das macht nichts. Ich habe dieselben Macken.« Erwartete er von ihr, daß sie jetzt sagte: Oh, bitte, erzählen Sie mir doch mehr darüber? Und war sie dann an der Reihe, sich seine Lebensgeschichte anzuhören? Waren seine Fragen nach ihrem Leben nur das Vorspiel zu seiner Nabelschau gewesen? »Macken?« war alles, was sie herausbrachte. Sie glaubte, weit weniger Macken als die meisten anderen Menschen zu haben. »Was tun Sie zu Ihrem Privatvergnügen?« Dann redete er also doch nicht über sich. »Zum Vergnügen?« Sie sagte das, als sei es ein Fremdwort für sie. »Alles mögliche. Ich spiele Tennis, ich besuche zahlreiche Partys, dann ist da der Club. Ich…« Plötzlich lächelte sie und entspannte sich bewußt. »Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht, Mister Bannerman. Ich arbeite. Nichts anderes auf Erden macht mir mehr Spaß als meine Arbeit.« »Ich heiße Boomer.« Alex wußte nicht, ob sie es jemals über sich bringen könnte, einen solchen Namen auch nur auszusprechen. Boomer als Anrede für einen erwachsenen Mann! »Dann macht Ihre Arbeit Ihnen also Spaß. Ich kann das gut verstehen. Mir tun all diese Leute leid, die nichts 69
weiter als einen Job haben und ihre stumpfsinnige Lohnarbeit verrichten. Ja, ich arbeite auch gern, sehr gern. Es macht mir Spaß. Aber man muß nebenher noch andere Dinge tun. Man muß sich auch in andere Vergnügungen stürzen.« »Ich langweile mich nie«, brachte Alex zu ihrer Verteidigung vor. Seit wann verteidigte sie sich anderen gegenüber? »Gibt es einen Mann in Ihrem Leben?« Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und faltete die Hände. »Raten Sie.« Boomer schnappte sich das letzte Brötchen, ehe er ihre Frage beantwortete, und als er über den Tisch sah und ihren Blick festhielt, konnte sie nichts in seinen Augen lesen, keine Belustigung, keinen Flirt, nichts weiter als unergründliche, undefinierbare braune Tiefen. »Nicht viele Männer, dafür fehlt Ihnen die Zeit. Für texanische Begriffe sind Sie unverhältnismäßig alt dafür, daß Sie immer noch nicht verheiratet sind. Dann haben also nicht allzu viele Männer auf Sie gewartet. Sollte es jemanden geben, so sehe ich Ihnen jedenfalls nichts davon an«, sagte er und ließ seinen Blick auf ihre Lippen gleiten und dort ruhen, »daß Sie verliebt sind.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und seine Augen schweiften umher, bis er schließlich auf dem Golf die funkelnden Lichter der Boote beobachtete. »Bisher hat Ihr Ehrgeiz über andere Genüsse triumphiert.« Der Kellner unterbrach das Gespräch, als er das Dessert servierte. Die Crème brûlée war köstlich. Sie redeten nicht, als sie den Nachtisch aßen, doch ihre Blicke hielten einander fest. Dann war da wieder dieses Lächeln, das ihn so knabenhaft erscheinen ließ. »Ma’am, Sie können sich wirklich glücklich schätzen.« Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich werde all das beheben und Sie mit einigen der Genüsse des Lebens vertraut machen.« Sie glaubte, damit sei gemeint, daß er versuchen würde, mit ihr zu schlafen. Aber nachdem sie an der Kaimauer entlanggelaufen waren, gegen die das Wasser leise schwappte, und im Mondschein mit fünfundachtzig Meilen in der Stunde nach Houston zurückgefahren waren, war es schon nach Mitternacht. Er versuchte noch nicht einmal, sie zum Abschied zu küssen. Er half ihr vom Motorrad, sah zu, wie sie ihren Wagen aufschloß und hinter das Steuer glitt, wartete, bis sie in Sicherheit war, und sobald sie den Motor ihres Wagens angelassen hatte, fuhr er los, und die Auspuffgeräusche seines Motorrads knatterten in ihren Ohren. Als sie zu Hause ankam, nahm sie den Aufzug in den sechsten Stock, 70
zog sich aus und trat im Nachthemd auf ihren Balkon. Sie war von einem Verlangen erfüllt, das sie bisher nicht gekannt hatte. Selbst jetzt konnte sie noch fühlen, wie der Wind durch ihr Haar blies und ihre Arme sich um die stämmige Gestalt vor ihr schlangen. Und sie sagte laut: »Ich habe das Gefühl, eine weisere Investition für meine hunderttausend Dollar hätte ich gar nicht finden können, ganz gleich, ob sein Projekt sich als erfolgreich herausstellt oder nicht.«
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Carly fragte sich, ob sie nach Hause fahren und sich etwas Unauffälligeres anziehen sollte. An jenem Morgen trug sie ihr teures rotes Kostüm. Sie kaufte sich nicht viele Kleider, doch auf die wenigen, die sie erstand, war sie stolz. Sie mochten zwar immer noch nicht unbedingt unter die Kategorie Designer-Mode fallen, und vielleicht würde es dazu auch nie kommen, denn schließlich bezog sie nur das Gehalt einer Sekretärin, doch sie wußte, daß ihr Kostüm sehr schick war. Jedesmal, wenn sie es trug, äußerten sich andere Leute dazu, wie gut sie darin aussah. Auf dem Weg zur Union Trust, der Coleridge-Bank, sollte sie noch Mr. Schneider, den Leiter der Finanzabteilung von Toyland, abholen. Sie war Mr. Schneider bisher noch nie begegnet, aber im Grunde hatte sie ihm auch nicht viel zu sagen. Das Geschäft war bereits eine abgemachte Sache. Jetzt ging es nur noch darum, Papiere zu unterschreiben und Hände zu schütteln. Schneider hätte ebensogut allein hingehen können, doch da Rolfs ihm das Darlehen besorgt hatte, zählte es zu den Gefälligkeiten, die einem Kunden erwiesen wurden, daß man ihn zur Bank begleitete, ungeachtet der Größenordnung des verkauften Objekts. Vielleicht versuchte Mr. Rolf einfach nur, sie mit Leuten zusammenzubringen, die sich als potentielle Kunden erweisen könnten. Er hatte ihr gesagt, sie sei die beste Sekretärin, die er je gehabt habe, er wisse tatsächlich nicht, wie er das Büro je ohne sie geleitet habe. Und um ihr zu zeigen, daß es sein Ernst war, bedankte er sich bei ihr mit einer Gehaltserhöhung. Aber er nahm auch ihre innere Unruhe wahr. Es sei ihr bestimmt, erklärte er ihr eines Tages, höher aufzusteigen und nicht ewig als Sekretärin zu arbeiten. Inzwischen kannte sie sich besser in der Branche aus als die meisten seiner Makler. Mr. Rolf hatte nicht nur sein Studium an der University of Texas abgeschlossen, sondern darüber hinaus noch einen Mastertitel an der University of Wisconsin erworben, und obgleich seine Eltern nicht aus Houston stammten, gehörten sie zum alteingesessenen Geldadel von Texas. Er hatte zu Beginn seiner Karriere das nötige Startkapital gehabt. Sie dagegen wollte Houston zeigen, was eine Frau erreichen konnte, die ganz klein anfing. Mr. Schneider schien keineswegs begeistert über ihr Erscheinen zu 72
sein, obwohl Mr. Rolf ihn vorgewarnt hatte, er würde eine weibliche Mitarbeiterin schicken. Während sie zur Union Trust fuhren, schnalzte er unentwegt mit der Zunge. Dort angekommen, deutete er sogar verstohlen an, sie solle im Wagen auf ihn warten, doch Carly glitt vor ihm durch die gläsernen Drehtüren. Das Büro liege im dritten Stock, hatte Mr. Rolf gesagt, und sie ging Mr. Schneider voraus, ohne erst darauf zu warten, daß er ihr die Tür des Aufzugs aufhielt, doch sie lächelte ihn betörend an. Coleridge hatte ein ganz gewöhnliches Büro, das mit dezentem Geschmack und Understatement eingerichtet war. Er stand auf, als Carly und Mr. Schneider eintraten. Er sah Carly mit hochgezogenen Augenbrauen an, hielt jedoch Mr. Schneider die Hand hin. Gleich darauf kehrte sein Blick allerdings wieder zu Carly zurück. »Ich bin Carly Anderson«, sagte sie. »Ich vertrete Rolfs. Und das ist Mister Schneider von Toy land.« Coleridge wies auf die beiden Ledersessel, die seinem Stuhl gegenüber an seinem Schreibtisch standen. Nachdem sie sich gesetzt hatten, nahm auch er wieder Platz. Carly musterte ihn. Sie hielt ihn für gut einsachtzig, und er erweckte den Eindruck, als triebe er Sport. Sein Haar war schwarz und links gescheitelt, und er setzte sich entweder unter eine Bräunungslampe, oder er spielte oft Tennis. Seine Augen waren ausdruckslos, weder freundlich noch sonst etwas, und er hatte zur Begrüßung auch nicht gelächelt. Er gab sich nüchtern und geschäftsmäßig, fast so, als täte er ihnen einen Gefallen. Und so verhielt es sich natürlich auch, denn schließlich lieh er Toyland dreihunderttausend Dollar, damit sie davon das Land für ein Warenlager erwerben konnten. Toyland eröffnete Filialen in ganz Texas, und jetzt plante man den Bau einer zentralen Geschäftsstelle und eines Warenlagers. Es hatte etliche Monate erfordert, ein geeignetes Stück Land in einer Lage zu finden, in der es einen nicht das letzte Hemd kostete und doch halbwegs an die großen Schnellstraßen angebunden war, und Jay Thornberry hatte all die Monate darauf verwendet, diesen Geschäftsabschluß zustande zu bringen. Als Mr. Coleridge Papiere über seinen Schreibtisch schob und Mr. Schneider einen Stift reichte, damit dieser unterschrieb, glitt sein Blick zu Carly, und ihre Augen trafen sich. Sie lächelte ihn an. Er nickte kaum wahrnehmbar, erwiderte ihr Lächeln jedoch nicht. So sind die Reichen eben, dachte sie. Er erinnerte sie an die Ladys von Verity. Sie fragte sich, ob das Blut in seinen Adern tatsächlich blau sein könnte. Als die Papiere unterzeichnet waren und Coleridge Schneider die Kopien 73
ausgehändigt hatte, hielt er Carly die Hand hin. Es überraschte sie, daß sein Händedruck so kräftig war. Sie hatte den Eindruck, er hielte ihre Hand, an dem gemessen, was sich gehörte, einen Sekundenbruchteil zu lange fest, doch sie war sich nicht sicher. Seine schwarzen Wimpern waren die längsten, die sie je gesehen hatte, und seine Augen waren saphirblau. Und hart wie Edelsteine. Cole Coleridge betrieb jede Form von Freizeitbeschäftigung ebenso ernst und mit derselben Härte wie die harte Arbeit, die er in einer Stadt leistete, in der Männer hart arbeiteten. Um in den sechziger Jahren in Houston an die Spitze zu gelangen, genügte es nicht, einfach nur reich zu sein. Manche der Männer, die erst in der allerjüngsten Zeit zu Reichtum gelangt waren, engagierten Agenturen, um auch wirklich sicherzugehen, daß die neuen Diamanten ihrer Ehefrauen und deren Pariser Modellkleider in den Zeitungen erwähnt wurden und ihnen Plätze auf den Gästelisten sicherten. Die PR-Agentinnen brachten den neureichen Ladys bei, wie man sich anzog und wie man Tennis spielte, und sie empfahlen ihnen Innenarchitektinnen und erteilten Ratschläge, wo man sich ein Haus kaufen sollte. Die Ehemänner vieler dieser Ladys waren gewöhnliche Männer gewesen, die in Fabriken arbeiteten oder als Farmer ihr Land bestellten und auf deren Grundstücken Ölquellen hervorgesprudelt waren, die einfach nicht versiegen wollten. Die erfolgreichen PR-Frauen sorgten dafür, daß die Namen ihrer Klientinnen in den Aufnahmelisten der Clubs, in denen sich eine Mitgliedschaft lohnte, vorgezogen wurden, und auch dafür, daß man sie dort akzeptierte, und wenn sie auch noch so sparsam mit ihren Beziehungen umgingen, dann führten sie sie doch bei der alten Garde ein und schrieben den Neuankömmlingen vor, was sie zu sagen und wie sie sich zu kleiden hatten. Wie sie die entsprechenden Wendungen vorzubringen hatten, konnte ihnen niemand sagen, denn durch das Fernsehen und die größere Mobilität der Bevölkerung war es keine unerläßliche Voraussetzung mehr, einen Südstaatenakzent zu haben, doch trotzdem gab es dort nur sehr wenige Yankees. Houston war zu schwül, zu pompös und in einem zu hohen Maße am Öl orientiert, um reiche New Yorker anzulocken, und den wenigsten Aristokraten aus dem Nordosten wäre es naheliegend erschienen, eine Stadt mit all diesen südlichen Akzenten und dieser Haltung gegenüber Schwarzen zu überschwemmen, die von den meisten Leuten in Houston nach wie vor als Farbige bezeichnet wurden. 1968 stammte die große Mehrheit der Hausmädchen und Gärtner in 74
Houston bereits aus Mexiko und Guatemala, und man nahm sie für ein Jahr in seine Dienste, obgleich einige von ihnen schon Immigranten der zweiten Generation waren. Die Einwohner von Houston, ja, die Texaner generell, sahen das Establishment des Ostens ohnehin als verweichlicht und dekadent an, obwohl viele von ihnen das Wort noch nie gehört hatten. Texaner liebten Pferde, John Wayne und Gary Cooper, galantes Benehmen und schnelle Wagen, Steaks, Football und das Scheffeln von Geld, Tanzen, Musicals aus New York und weite, offene, unbebaute Flächen. Und insbesondere liebten sie es, zuzusehen, wie Herefordund Santa-Gertrudis-Rinder über diese weiten, offenen, unbebauten Flächen wanderten und Ölpumpen hin und her schaukelten und schwarzes Gold hochpumpten. Doch noch mehr als all das liebten sie vielleicht Texas. Obwohl sie sich als Demokraten ausgaben, zählten Texaner im allgemeinen und die Einwohner von Houston im besonderen zu dem konservativsten politischen Menschenschlag auf Erden, während sie gleichzeitig eine unglaubliche finanzielle Risikobereitschaft an den Tag legten. Texaner benutzten obszöne Ausdrücke, aber niemals in gemischter Gesellschaft und nur äußerst selten in Gegenwart ihrer Ehefrauen. Frauen, oder zumindest Texanerinnen, hatten wie Ladys behandelt zu werden, und man erwartete auch von ihnen, daß sie sich wie Ladys verhielten. Cole konnte nie verstehen, warum Alex sich so sehr von all den anderen Frauen unterscheiden mußte, die sie beide kannten. Und doch war sie schon immer anders gewesen -rastlos, auf der Suche, voller Ungeduld, und sie ließ sich weder von ihm noch von anderen Männern eine Wagentür aufhalten, sondern sagte in diesem belustigten und spröden Ton, der so typisch für sie war: »Ich bin nicht hilflos.« Cole war zwar nicht in sie verliebt, doch seit er fünfzehn Jahre alt gewesen war, wenn nicht schon eher, hatte er gewußt, daß Alex seine Frau werden würde. Und jetzt mußte er feststellen, daß er allmählich ungeduldig wurde. So gut wie alle Leute, die er kannte, waren bereits verheiratet, und einige von ihnen hatten sich sogar schon wieder scheiden lassen. Vielleicht sollte er einfach einen Ring kaufen, um einen ersten Schritt in Richtung einer Bindung zu tun. Bis dahin… Cole wußte eine hübsche Frau ebensosehr zu würdigen wie jeder andere Mann, aber im allgemeinen brachte ihn das Aussehen einer Frau nicht hoffnungslos aus der Fassung – bis zu dem Moment, in dem Carly Anderson in einem roten Kostüm, das ihren 75
kurvenreichen Körper nicht verbergen konnte, in sein Büro gestürmt war. Ihre langen goldenen Ohrringe hatten in der Sonne gefunkelt, und Cole hatte das Gefühl gehabt, eine Trommel hämmerte in seiner Brust. Ihre langen, nackten Beine waren braungebrannt, und sie trug nicht die spitzen, hochhackigen Schuhe wie all die anderen Frauen, die er kannte. Sie hatte rote Sandalen an, und ihre Zehennägel waren leuchtend rot lackiert, ganz im Gegensatz zu ihren Fingernägeln, die frei von jedem Nagellack waren und noch dazu hübsch rund. Wie auch der Rest von ihr. Schließlich ließ er seinen Blick höher gleiten, zu den üppigen roten Lippen und auf ein Gesicht, das golden schimmerte. Die Konturen ihrer großen runden Augen waren mit schwarzem Eyeliner nachgezeichnet, und die Augen selbst hatten die Farbe von Rotkehlcheneiern. Ihr Lächeln blendete ihn und ließ makellose weiße Zähne zwischen den geschminkten Lippen sehen. Cole schüttelte den Kopf, und zum erstenmal in seinem Leben mußte er sich anstrengen, um nüchtern und geschäftsmäßig zu wirken. Schon als Teenager hatte er immer einen nüchternen und geschäftsmäßigen Eindruck erweckt. Sogar bei Sport und Spiel. Ja, sogar dann, wenn er mit einer Frau im Bett war. Er setzte sich und faltete die Hände auf seinem Schreibtisch. »So«, sagte Mr. Rolf, dessen weißer Schnurrbart zitterte, wie es immer der Fall war, wenn er lächelte. »Dann hat er dich also nicht zum Mittagessen eingeladen. Das wäre auch ganz untypisch für ihn gewesen. Ich habe mich einfach nur gefragt, wie er dir wohl widerstehen könnte. Ich brächte es nicht fertig, wenn ich noch jung und ungebunden wäre.« Und dann fragte er: »Was ist mit Schneider? Hat der Annäherungsversuche gemacht?« Carly schüttelte den Kopf. »Zum Teufel, ich muß mir etwas einfallen lassen, um dich in einen Kreis einzuführen, in dem du potentielle Kunden finden kannst. Zweihundert die Woche mag dir zwar im Moment noch als ein gutes Gehalt erscheinen…« »Nein, ganz und gar nicht«, fiel ihm Carly ins Wort. Er nickte. »Ich weiß. Und ich will dich nicht verlieren. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.« Sie rechnete nicht damit, daß ihm viel zu diesem Thema einfallen würde. Alle seine Makler waren fünfunddreißig und älter. Sie waren schon seit langer Zeit in Houston und kannten die richtigen Leute. Carly kannte nur Typen, die sie auf Partys traf oder durch ihre Freundinnen kennenlernte. Keiner von diesen jungen Männern vermochte sie in Kreise einführen, in denen sie Kunden 76
von der Sorte begegnete, die zu Rolfs potentieller Klientel zählte. Doch noch ehe Mr. Rolf sich ernsthafte Gedanken über diese Frage machen konnte, erhielt er am nächsten Morgen einen Anruf von Cole Coleridge. »Ein Freund von mir aus Harvard wird von Minneapolis nach Houston ziehen, und ich habe mich gefragt, ob diese Miss Anderson mir vielleicht ein paar Wohnungen zeigen könnte, die eventuell das Richtige für ihn wären.« Der alte Rolf lachte. »Durchsichtiger geht es nicht«, sagte er zu Carly. »Er hat gar keinen Freund.« Er tätschelte ihr den Kopf. »Also los, Carly. Da hast du deine Chance, dir die Füße naß zu machen, aber rechne bloß nicht mit einem Verkauf. Hier ist seine Nummer. Er erwartet deinen Anruf, um einen Termin mit dir zu vereinbaren.« Sie wählte Coles Nummer in der Bank. »Ich zeige Ihnen gern ein paar Wohnungen, wenn Sie mir genauer mitteilen können, welche Anforderungen eine Wohnung erfüllen sollte, damit sich Ihr Freund dafür interessiert«, sagte sie. »Er wird bei Marriner and Lowe arbeiten«, erwiderte Cole und nannte damit eine angesehene Anwaltskanzlei, von der sogar Carly schon gehört hatte. »Ich könnte mir gut vorstellen, daß er ein Objekt der gehobeneren Preisklasse im Auge hat. Ich dachte mir, ich könnte mir vielleicht acht bis zehn Wohnungen ansehen und eine Vorauswahl für ihn treffen. Er wird bei mir wohnen, bis er etwas gefunden hat.« »Ja, klar«, gackerte Mr. Rolf, als Carly ihm das Telefongespräch wörtlich wiedergab. »Nun, da hätten wir als erstes mal den Washington Tower« – eine Anlage, bei der es sich keineswegs um einen Turm handelte. »Eigentlich haben wir mehr Wohnungen zur Vermietung anzubieten als zum Verkauf, aber sehen wir doch mal, was sonst noch da ist.« Carly vereinbarte einen Termin mit Cole für vier Uhr am Freitag nachmittag. »Den legen wir so, damit er dich hinterher zum Abendessen einladen kann«, sagte Mr. Rolf. Carly hoffte, es würde dazu kommen, doch während sie noch miteinander redeten, läutete das Telefon, und nach einem ausgedehnten Gespräch wandte sich Mr. Rolf mit einem schelmischen Funkeln in den Augen wieder Carly zu und sagte: »Das war die Schwiegermutter meiner Tochter. Ich weiß nicht, wie Deirdre dazu steht, aber ihre Schwiegereltern ziehen von Dallas nach Houston, und ihre Schwiegermutter will sich von mir Häuser zeigen lassen. Hier hast du deine Chance, meine Liebe. Es mag zwar nur ein auswärtiger Kontakt sein, aber probier’s doch mal.« Am Freitag 77
nachmittag war Carly vom Erfolg ihres ersten Verkaufs geradezu berauscht. Es war das reinste Kinderspiel gewesen. Mr. Rolf traf eine Auswahl der Häuser, von denen er glaubte, sie könnten Mrs. Yarnall gefallen, und Carly fuhr zum Flughafen raus und holte sie dort ab, um ihr am Vormittag vier Häuser zu zeigen. Dann aßen sie bei Petrucchio’s zu Mittag, da Mr. Rolf wußte, daß die Mutter seines Schwiegersohns eine Vorliebe für italienisches Essen hatte, und am Nachmittag zeigte sie ihr zwei weitere Häuser. Es standen noch drei andere auf ihrer Liste, doch sowie Mrs. Yarnall das sechste Haus des Tages sah, sagte sie: »Das will ich haben.« Es brauchte noch nicht einmal eine Hypothek ausgehandelt zu werden. Sie würde bar zahlen. Carly rechnete sich aus, daß ihr dieser eine Abschluß – die Hälfte von sechs Prozent – mehr einbringen würde als das, was sie in einem ganzen Jahr verdiente. Nachdem Mrs. Yarnall in das Flugzeug nach Dallas gesetzt worden war, meinte Mr. Rolf: »Um dieses Geschäft zu legalisieren, sollte ich dich besser zu einem Kurs für Immobilienhändler schicken, damit du dir eine Lizenz erwerben kannst.« Cole versuchte sich an die zwanzig Minuten zu erinnern, die Carly Anderson und Richard Schneider in seinem Büro verbracht hatten. Er nahm an, daß das Geschäft zustande gekommen und abgeschlossen worden war. Er entsann sich, daß er das Dokument unterschrieben und es Schneider über seinen Schreibtisch zugeschoben hatte, aber er konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie der Mann ausgesehen hatte. Als Carly Anderson sich erhob, um zu gehen, hielt sie ihm ihre Hand hin, und sie bedachte ihn mit einem Lächeln, das ihn innerlich wärmte, bis in den Bauch hinein. Es war das reinste Vergnügen gewesen, sie auf ihrem Weg zur Tür zu beobachten. Die Erinnerung daran, wie Alex aus einem Raum schwebte, hatte nie bewirkt, daß er sich stundenlang nicht konzentrieren konnte. Doch für den Rest dieses Tages hatte es ihn in den unpassendsten Momenten verfolgt, wie provozierend sich die Hüften dieses Mädchens bewegt hatten, als sie sein Büro verlassen hatte; und immer wieder war ihm eingefallen, wie zartrosa ihre Zunge gewesen war, als diese über ihre Unterlippe fuhr. Bevor er an jenem Abend einschlief, ließ ihn die Erinnerung an die vereinzelten zarten goldenen Locken lächeln, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten; sie hatte sich das Haar mit einer goldenen Spange zurückgesteckt. Ob es wohl Männer in ihrem Leben gab? Einen 78
Ehemann? Feste Freunde? Einen Geliebten? Es mußte jemanden geben. Keine Frau, die so aussah, konnte durch die Straßen von Houston laufen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als sie am Freitag um vier Uhr erschien, hatte er drei volle Tage damit zugebracht, an sie zu denken. Nachdem sie ihm drei Wohnungen gezeigt hatte, sagte Cole: »Warum sollen wir uns eigentlich noch länger verstellen und einander etwas vormachen?« Carly sah ihn an. Mr. Rolf hatte recht gehabt. Er hatte die Wohnungen, die sie ihm gezeigt hatte, nur flüchtig angeschaut, woran sich leicht erkennen ließ, daß er in Wirklichkeit gar kein Interesse in ihnen hatte. »Sie haben gar keinen Freund.« »O doch, ich habe tatsächlich einen Freund.« Er hatte darauf bestanden, sich ans Steuer zu setzen, und der Verkehr hatte sich mit der Zeit beruhigt und inzwischen reichlich nachgelassen, da das Wochenende angebrochen war. Die Dämmerung senkte sich herab. »Aber er will in Wirklichkeit gar keine Wohnung kaufen, sondern eine mieten.« »Da können wir Ihnen ebenfalls etwas anbieten.« Sie mußte unwillkürlich lächeln. Sie fühlte sich beschwingt. Für diesen Nachmittag hatte sie ihre Kleidung sorgsam ausgewählt. Diesmal kein Kostüm, sondern ein kornblumenblaues Kleid, das zu ihrer Augenfarbe paßte und einen Rock hatte, der beim Laufen raschelnd um ihre Beine schwang. Sie mochte seine Hände. Es gefiel ihr, wie sie das Lenkrad umfaßten, und sie mochte auch seine langen, schmalen Finger. »Ich dachte mir, wenn ich das gleich sage, dann schickt man mir vielleicht irgendeinen unbedeutenden Vertreter und nicht jemanden von Ihrem Kaliber. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich mit Vermietungen abgeben, stimmt’s?« Sie lachte. »Nein, dafür bin ich nicht zuständig.« Er hatte keine Ahnung. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Also wirklich, Mister Coleridge, ich glaube tatsächlich, Sie wollen mich zum Essen einladen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Sind Sie frei?« »Wenn ich es nicht wäre, dann würde ich jetzt ganz eindeutig jede andere Verabredung absagen.« »Ist Ihnen das Excelsior recht?« Sie war noch nie dort gewesen. »Oh, gegen das Excelsior habe ich wirklich nichts einzuwenden, Mister Coleridge.« »Cole, ich heiße Cole.« Während sie weiterfuhren, sagte sie: »Ihnen hat mein letzter 79
Gedanke gegolten, ehe ich gestern abend eingeschlafen bin.« Seine Hand streckte sich aus und umschloß ihre Finger.
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Es dauerte eine Woche, bis Alex erneut etwas von Boomer hörte. Am Donnerstag waren ihre Nerven derart angespannt, daß sie dreimal nach dem Telefon griff, um ihn anzurufen, den Hörer jedoch jedesmal wieder ohne zu wählen auflegte. So war ihr noch nie, aber auch wirklich noch nie zumute gewesen. Wie üblich hatte sie den Samstagabend mit Cole verbracht. Sie hatten im Club zu Abend gegessen und waren dann noch dort geblieben und hatten getanzt; die Kapelle spielte die Art von Musik, mit der ihrer beider Eltern aufgewachsen waren. In Houston ging es immer noch sehr förmlich zu, und sie fand, Cole wirkte in seinem Smoking ganz so, als gehörte er hierher. Ihr war vollkommen gleichgültig gewesen, wie sie aussah, und daher war sie einfach nur schnell in das graue Chiffonkleid mit den schmalen silbernen Trägern geschlüpft. Es schmiegte sich an ihre Brüste und hatte einen Rock, der an den Knien eng zulief und von dort aus abwärts weit ausgestellt war. Das Kleid ließ sie jedoch keineswegs farblos und unauffällig wirken, nein, ganz im Gegenteil – das Grau, das nur eine Spur dunkler als ihre Augen war, tauchte sie in einen silbernen Glanz. Die tropfenförmigen Diamantohrringe, der einzige Schmuck, den sie an diesem Abend trug, waren ein Geschenk von ihren Eltern. Sie strahlte selbst dann einen funkelnden Glanz aus, wenn sie aufgebracht, gereizt und ungeduldig war und eine Art innerer Unruhe verspürte. »Du siehst heute abend ganz besonders gut aus«, sagte Cole, als er sie auf der Tanzfläche eng an sich zog. Seine Beine folgten ihren, und wenn sie die Augen schloß, sah sie keineswegs Coles blaue Augen vor sich, sondern die braunen Augen von Boomer. Und sie hörte Boomers rauhe Stimme und nicht etwa Coles wohlklingende. Die Gespräche langweilten sie, und sie vernahm kaum ein Wort, das irgend jemand sagte; sie machte sich noch nicht einmal die Mühe, mit dem Kopf zu nicken oder so zu tun, als beteilige sie sich an der Unterhaltung. »Bedrückt dich etwas?« fragte Cole. Letzte Nacht hatte sie im Bett gelegen und einfach nicht schlafen können. Ihre Gedanken waren immer wieder zu Boomer zurückgekehrt. Um Himmels willen, was für ein Name, Boomer. Sie wollte seine Lippen auf ihren spüren, ihn schmecken und seine 81
Hände und seine Zunge auf ihrem Körper fühlen. »Ich habe Kopfschmerzen«, antwortete sie. »Ich glaube, ich sollte jetzt besser nach Hause gehen.« »Ich hole deinen Mantel und fahre dich heim.« »Nein«, entgegnete sie. »Ich möchte allein sein.« Boomer warf an dem Tag, an dem ihm Alex den Scheck über eine halbe Million gab, einen überdurchschnittlich gut bezahlten Job hin. Innerhalb von sechs Jahren hatte er das Geld aufgebraucht, das er für das Haus in Verity bekommen hatte, und viel mehr war nicht dagewesen. Auf dem Bankkonto seines Vaters waren exakt einundzwanzigtausendunddrei Dollar und neunundzwanzig Cent gewesen. Er hätte das Bauland in Houston verkaufen können, doch er sah dieses Land als einen Weg zur Erfüllung seines Traums an. Er hatte nicht gerade mit dem Geld geknausert. Er hatte einen Sportwagen davon gekauft, einen Triumph TR4, und die HarleyDavidson. Es machte ihm Spaß, über Schnellstraßen zu rasen, vorzugsweise fernab von den Städten, durch weite, offene und unbebaute Landstriche – rote Hügel und Salbeisträucher, so weit das Auge reichte. Das vermittelte ihm ein Gefühl von Freiheit. Die Fesseln der Erde schienen von ihm abzufallen und sich in den Asphalt zu pressen, und was auch immer auf seinen Schultern lasten mochte, es glitt hinab und verlor sich im Fahrtwind hinter ihm. Er hatte sich mit Dan Bertelson, einem jungen Architekten, zusammengetan, der ihm vor fünf Monaten beim Training in seiner Mittagspause als Sqashpartner zugeteilt worden war. Dan wurde von einer inneren Unruhe geplagt und wollte nicht so weitermachen wie bisher. Er war drei Jahre älter als Boomer und arbeitete jetzt schon im fünften Jahr für Yarrow, Golden and McLure. Dort fühlte er sich eingeengt und zu vielen Zwängen ausgesetzt. »Das fände bei keinem unserer Klienten Anklang«, hatte er sich immer wieder anhören müssen, wenn er etwas Neues ausprobieren wollte. »Ich sollte sehen, daß ich von hier fortkomme«, sagte Dan, als er den Ball gegen die Wand schmetterte. »Ich sollte nach San Francisco oder nach Seattle gehen, irgendwohin, wo die Leute für innovative Ideen aufgeschlossen sind. Verdammter Mist«, murrte er, als Boomer einen Punkt einheimste. »Taugst du etwas?« fragte Boomer, als sie hinterher unter der Dusche standen. »Ich bin besser als die Vierzigtausend, die sie mir dort zahlen. Ja, ich 82
bin gut. Ich habe das, woran es denen fehlt.« »Und was wäre das?« Boomer drehte das kalte Wasser auf, bis es ihn wie Nadeln stach. »Phantasie und Weitblick.« Das habe ich selbst, dachte Boomer und sah zu Dan hinüber. »Was hältst du davon, heute mit mir zu Abend zu essen?« »Prima.« Dan grinste. »Obwohl du mich im Sqash geschlagen hast.« »Im Charcoal Grill. Um sechs Uhr. Wir treffen uns in der Bar.« Ihre Zusammenarbeit begann mit Bleistiftskizzen auf Papierservietten im Charcoal Grill und setzte sich bis nach elf Uhr fort. Allabendlich machten sie so weiter, und samstags verlagerten sie ihre Besprechungen an den Pool des Apartmentkomplexes, in dem Dan wohnte. An dem Tag, an dem Boomer ihm den Scheck von Alex zeigte, warf auch Dan seinen Job hin. »Du gibst eine gesicherte Stellung auf«, sagte Boomer besorgt. »Das hast du doch auch getan. Und wenn nichts daraus wird, na und? Dann gehe ich eben nach Kalifornien oder vielleicht nach Seattle.« Dan ließ es nicht bei den Zeichnungen bewenden, sondern begann die Grundlagen des Bauwesens zu erlernen, und schließlich verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit mit Installateuren, Maurern, Fertigbearbeitern und Elektrikern. Er stellte fest, daß er sich für jeden einzelnen dieser Arbeitsgänge begeisterte und jede Minute genoß. Er arbeitete in Hemdsärmeln, und bei heißem Wetter trug er überhaupt kein Hemd. Dergestalt dürftig bekleidet, verschwitzt und mit verkrustetem Sägemehl in den blonden Haaren auf seiner Brust, lernte er Tessa Oldfield kennen. Es war Samstag, und der Bautrupp hatte um die Mittagszeit Schluß gemacht. Dan und Boomer schienen nie Feierabend zu machen, zumindest nicht vor Einbruch der Dunkelheit, doch Boomer hatte sich das Wochenende frei genommen, da er vorhatte, mit seinem Motorrad in den Sam Houston-Natio-nalpark raufzufahren. Dan saß auf einem Sägebock, trank Seven-up und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er aufblickte und eine Frau sah, die sich den ersten Rohbauabschnitt eingehend betrachtete. Sie war nicht größer als eine Zwölf- oder Dreizehnjährige, und er starrte sie an, als sie bei ihrer genauen Begutachtung die Augen zusammenkniff, ganz so, als versuchte sie sich vorzustellen, wie das fertige Haus wohl aussehen würde. Dann bemerkte sie Dan und kam auf ihn zu. Niedlich, dachte er, wie ein kleiner Kobold. Dichte rote Locken wogten auf ihre Schultern 83
herab, und als sie näher kam, sah er, daß ihre blasse Haut mit den für Rothaarige so typischen Sommersprossen gesprenkelt war. Sie trug Jeans und ein ausgebleichtes blaues Herrenhemd, das etwa vier Nummern zu groß für sie war. Er hätte gewettet, daß sie es nur mit Mühe und Not auf einsfünfzig brachte. Als sie noch ein Stück nähergekommen war, fesselten ihre Augen seine Aufmerksamkeit, denn sie waren weder grün noch blau, sondern von einem klaren Aquamarinton, den er als Augenfarbe noch nie gesehen hatte. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blieb mit gespreizten Füßen stehen. Dann schob sie das Kinn vor, um auf die Baustelle zu zeigen, und fragte dabei: »Was soll das werden?« »Apartments«, antwortete er. Daraufhin sah sie nicht etwa ihn an, sondern betrachtete das Loch im Boden, das noch nicht mit Zement ausgegossen worden war. »Wie viele?« rief sie ihm zu. »Hundertzehn.« »Irre.« Sie ließ ihren Blick über die riesige freie Fläche, das Unkraut und die Wildnis wandern, bisher waren noch nicht einmal die Krüppeleichen gerodet worden. »Ein gewaltiges Vorhaben.« Er nickte und fragte sich, ob sie unter diesem viel zu weiten Hemd mehr Ähnlichkeit mit einer Frau aufwies. Sie kam zu dem Sägebock und schwang sich darauf; ihre Füße baumelten in der Luft, als sie neben ihm saß. »Sie arbeiten hier?« Er grinste. »Gewissermaßen.« Jetzt sah sie ihm mitten ins Gesicht. »Gewissermaßen?« »Ich bin der Architekt.« Sie musterte ihn, schaute ihm in die Augen und hielt ihm dann die Hand hin. »Ich bin Tessa Oldfield.« »Dan Bertelson.« »Haben Sie die Pläne dabei?« »Warum? Wollen Sie unterschreiben und eine Anzahlung für die erste Wohnung leisten?« Sie lachte. »Das weiß man nie. Es könnte durchaus sein. Ich bin Innenarchitektin. Baustellen interessieren mich immer.« »Ganz gleich, was Sie sind, der Süden hat kein bißchen auf Ihre Sprache abgefärbt. Woher kommen Sie?« Sie lachte. »Ich bin ein Yankee, Schätzchen, aus dem hohen Norden. Von viel höher oben kann man kaum kommen, wenn man noch Staatsbürger sein will. Ich stamme aus Rochester, New York, der Hauptstadt des Schneegürtels.« Sie mochte zwar aussehen wie ein Wildfang, doch sie roch nach teurem Parfüm. Er wollte das Gespräch nicht gleich wieder enden lassen. »Sind Sie schon lange in Houston?« Er fragte 84
sich, wie sie diese dichten Ringellöckchen wohl bürstete. »Diesen Monat wird es ein Jahr. Ich bin in den Süden gekommen, um für David Jones zu arbeiten.« »David Jones?« Das war die größte Innenausstattungsfirma in der ganzen Stadt, und mit Häusern, die nicht mehrere Millionen wert waren, gab man sich dort gar nicht erst ab. Sie nickte, und ihre Ringellöckchen hüpften wie Spiralfedern. Dan mußte lachen. Sie strahlte Selbstsicherheit und noch etwas anderes aus, was er nicht klar definieren konnte, aber reizvoll fand. Trotz ihrer forschen Ausdrucksweise, die so typisch für den Norden war, strahlte sie eine Wärme aus, die man bei Geschäftsfrauen nur selten fand, und Offenheit. Er war an Frauen gewöhnt, die grundsätzlich flirteten, ohne sich etwas dabei zu denken, denn sie kannten gar nichts anderes; Frauen, die sich verstellten… Genau, das war es. Die sich verstellten. »Haben Sie Lust, heute abend mit mir essen zu gehen?« fragte er plötzlich. Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Sie wissen es zwar nicht, aber es wäre Ihnen gar nichts anderes übriggeblieben, als mich dazu aufzufordern.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich warte schon darauf, seit ich mich zu Ihnen gesetzt habe. Wie soll ich mich anziehen?« fragte sie und glitt von dem Sägebock. »Fein oder lässig?« Er wollte sie gern in etwas sehen, was ihren Körper deutlicher zeigte. »Fein«, antwortete er. »Wo hole ich Sie ab?« Sie gab ihm ihre Adresse und Telefonnummer. »Bringen Sie aber auch Ihre Blaupausen und Skizzen mit«, sagte sie. Boomer sauste durch die ländliche Gegend im Osten von Texas, und heiße Luft blies durch den Wagen, da er die Fenster runtergekurbelt hatte. Er haßte Klimaanlagen. Der Wind wehte Alex das Haar ins Gesicht. Er konnte ihr nicht ansehen, was sie dachte, da sie eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern trug. Er war gestern nachmittag in seiner Arbeitskleidung unangekündigt in ihrem Büro aufgetaucht und hatte zu ihrer Sekretärin gesagt: »Es dauert nur eine Minute.« Dann war er ohne weitere Vorreden in ihr Büro gestürmt. »Haben Sie an diesem Wochenende etwas vor, was Sie nicht absagen können?« fragte er. »Ja«, antwortete sie, und ihre Stimme war unterkühlt. Seit acht Tagen hatte sie nichts von ihm gehört oder gesehen. »Und was ist das?« 85
»Das geht Sie nichts an. Ich habe morgen abend eine Verabredung.« »Sagen Sie sie ab. Ziehen Sie sich etwas Saloppes an, und packen Sie einen Badeanzug ein. Ich hole Sie um sieben ab.« Er wartete kaum einen Sekundenbriichteil, um zu sehen, ob sie sich weigern würde, und dann fügte er mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht hinzu: »Ich meine, um sieben Uhr morgens«, und mit diesen Worten ging er, ohne die Tür ihres Büros hinter sich zu schließen. So ließ sich Alexandra Headland von Männern nicht behandeln. Sie wrar wütend auf sich selbst, weil sie diesem Kerl die Herrschaft über ihre Gefühle zugestanden hatte, und gleichzeitig begeisterte es sie. Und außerdem machte sie der Gedanke schwach, daß sie alles tun würde, was er von ihr verlangte, ganz egal, was es auch war. Doch er verlangte gar nichts von ihr. Sie waren zu einem See hinausgefahren, von dessen Existenz sie bisher nichts gewußt hatte. Am Ufer standen ein paar vereinzelte Häuser, und es gab auch ein kleines Motel, dessen Bungalows um eine Bucht herum gebaut waren. Ein Gemischtwarenladen pries seine Fischköder an. Die Reifen knirschten auf dem Kies, als Boomer anhielt. »Sind wir da?« fragte sie. Ein billiges Motel. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie in einem Motel übernachtet, und dieser Mann, der ihr Herz im Sturm erobert hatte, brachte sie für das Wochenende in ein solches! Eiswasser sickerte durch ihre Adern. Boomer fiel es nicht auf. Er sprang aus dem Triumph, mit dem er sie, wie sie gestehen mußte, überrascht und beeindruckt hatte, ebenso wie mit seiner Fahrweise. Er schien so ganz und gar… Herr der Lage zu sein. Aber deshalb würde er noch lange nicht in einem schäbigen Motel Herr über sie werden. Für wen zum Teufel hielt er sie überhaupt? Niemand, aber auch wirklich niemand, hatte ihr je etwas Derartiges angetan. »Komm schon«, sagte, er, als er aus dem Laden zurückkehrte und den Kofferraum öffnete. Er holte einen Karton heraus und schlenderte, ohne auch nur darauf zu warten, daß sie aus dem Wagen ausstieg, an der Rezeption des Motels vorbei in Richtung See. »Bring deinen Badeanzug mit«, rief er ihr über die Schulter zu. Er hatte noch nicht einmal auf sie gewartet, hatte sich nicht erboten, ihr die Tür aufzuhalten, hatte nicht… Eine Minute lang spielte sie mit dem Gedanken, einfach im Auto sitzen zu bleiben, damit er umkehren mußte und sie ihm zeigen konnte, daß sie sich so nicht behandeln ließ. Als er jedoch gar nicht daran dachte, zurückzukommen, stieg sie aus, und Kieselsteine glitten in ihre 86
Sandalen, als sie die Richtung einschlug, in die er vorausgelaufen war. Er befand sich am Ufer des Sees, hatte die Bungalows mit Ausblick auf das Wasser in seinem Rücken und machte sich an dem Außenbordmotor eines alten Boots zu schaffen. Er zwinkerte ihr zu. »Ich möchte dir ein ganz besonders reizvolles Fleckchen Erde zeigen«, sagte er, »aber laß mich erst noch einmal zurücklaufen und Eiswürfel bei Orin holen.« Sie stand da und sah angewidert das kleinen Motorboot an, von dem die Farbe abblätterte, bis Boomer zurückgerannt kam, einen Arm um ihre Taille legte, sie in das Boot hob und auf das Brett setzte, das als Sitzbank diente. Der Motor erwachte tuckernd zum Leben, und das Boot fuhr los. »Sei unbesorgt«, sagte Boomer grinsend. »Dir kann nicht das geringste passieren.« Sie umrundeten eine Landzunge, und vor ihnen breitete sich der See aus; er war weitaus größer, als er vom Motel aus erschienen war. Die Sonne funkelte auf dem Wasser und wärmte Alex, während Wassertropfen auf sie sprühten. Plötzlich drosselte Boomer den Motor, und das Boot trieb jetzt, wobei es fast nicht mehr wankte. »Ist das nicht einer der schönsten Anblicke, die sich dir je geboten haben?« Sie mußte es zugeben, und er zeigte seine Begeisterung so unverhohlen wie ein kleiner Junge. Es war schon lange her, seit sie das letztemal einem Mann begegnet war, der sich von etwas anderem als einem Footballspiel zu solchen Schwärmereien hinreißen ließ. Vielleicht mit Ausnahme von Coles jüngerem Bruder Ben. Ben konnte sich früher für alles begeistern. Er war auch heute noch begeisterungsfähig, doch schwärmte er jetzt für die verschrobensten Dinge -Greenpeace, Demonstrationen gegen den Krieg, die Rettung der Wale. Cole wies keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Bruder auf. Boomer dagegen war ihm ähnlich. Er saß vielleicht zwanzig Minuten lang da, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Anfangs machte es sie nervös, mitten auf einem See zu sein und überhaupt nichts zu tun, doch mit der Zeit taten das sanfte Schaukeln des Boots, die Stille, die nur durch den Ruf einer Spottdrossel durchbrochen wurde, und das schimmernde Grün des Frühlingslaubs ihre Wirkung. Sie stieß einen zufriedenen Seufzer aus, Boomer schaltete den Motor wieder an und steuerte langsam auf eine Bucht zu. »Ein Picknickplatz und ein Strand, von dessen Existenz meines Erachtens niemand sonst etwas weiß. Oder zumindest finde ich hier 87
nie Überreste von Bierflaschen und Plastiktüten vor.« Das klang wirklich sehr nach Ben. Boomer hielt das Boot an und sprang mit seinen Tennisschuhen und hochgekrempelten Hosenbeinen über Bord. Er zog das kleine Boot an den Strand, und ehe Alex wußte, wie ihr geschah, hob er sie hoch und trug sie auf den trockenen Sandstrand. Dann watete er zum Boot zurück, um die Eiswürfel und den Karton zu holen, der, wie sie jetzt feststellte, Getränke und Sandwiches enthielt. »Bist du eine gute Schwimmerin?« fragte er. »Ob ich eine gute Schwimmerin bin?« Sie lachte, und in ihrer Stimme drückte sich eine Herausforderung aus. »Geh hinter einen Baum und zieh deinen Badeanzug an.« Er wies mit dem Kopf auf den Wald, der den See umgab. Mit einer flinken Bewegung machte er den Reißverschluß seiner Hose auf, ließ sie auf den Sand fallen, trat sie zur Seite und stand in einer weinroten Badehose da, als er sich vorbeugte, um einen Flaschenöffner und eine Cola zu suchen. Nachdem sie geschwommen waren und Boomer ihr die Hühnersandwiches, hartgekochten Eier und Bananen angeboten hatte (Bananen, dachte sie, ausgerechnet Bananen?), die er gekauft hatte, streckte er sich auf dem schmalen Sandstrand aus, stützte den Kopf auf die Hände und starrte auf das Wasser hinaus. »Was wünschst du dir eigentlich?« fragte er. »Was wünschst du dir mehr als alles andere?« Alex sah ihn an, setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. »Was für eine seltsame Frage.« Er schwieg eine Zeitlang, dann sagte er: »Also, was?« »Keine Ahnung. Mehr als alles andere? Ich wüßte nicht, daß ich mir darüber jemals auch nur die geringsten Gedanken gemacht hätte. Mehr als alles andere…« »Du willst nicht das, was andere Frauen sich wünschen. Ehe und Familie.« »Doch, schon, aber ich will mehr als nur das, einfach alles«, flüsterte sie zu ihrem eigenen Erstaunen. »Ich will es, doch ich möchte mich nicht darauf beschränken. Ich wünsche mir eine Familie. Ich will auf diesem Weg die Unsterblichkeit erlangen, aber das soll nicht mein einziger Weg sein.« Sie unterbrach sich und wunderte sich über ihre Worte. Er sah sie an, und seine braunen Augen hypnotisierten sie mit der Intensität seines Blicks. »Ich will der Welt zeigen…« »Der Welt?« Sie lachte verlegen. »Nun ja, Houston. Meiner Welt. Vielleicht sogar Texas. Ich will beweisen, daß ich mich an die Spitze hocharbeiten 88
kann.« »Reichtum und Macht.« »An Reichtum liegt mir nichts.« Er nickte. »Das kommt nur daher, daß du immer reich gewesen bist. Und deshalb weißt du noch nicht einmal, daß du ohne Reichtum keine Macht erlangen kannst.« Sie nickte. »Also gut, dann eben Reichtum und Macht. Aber nicht nur auf dem Umweg über einen Ehemann. Nicht so wie meine Mutter, die nur einflußreich ist, weil sie mit Daddy verheiratet ist. Und auch nicht so wie jetzt, denn bisher gehen meine unbedeutenden Erfolge in erster Linie darauf zurück, daß ich die Tochter meines Vaters bin. Nein, ich will selbst jemand sein. Die Wohlhabendste, die Einflußreichste, die… Mein Gott!« Sie schüttelte den Kopf, als müßte sie das tun, um wieder klar denken zu können. »Diese Antwort kommt bestimmt unerwartet.« »Ich weiß nicht, was ich erwartet habe«, sagte er, während er sich aufsetzte und ihre Hand nahm. »Auch ich will diese Dinge. Ganz Houston wird meinen Namen kennen und ihn respektieren. Ich werde nicht irgendwelche Papiere unterschreiben müssen, wenn ich eine Bank betrete und ein Darlehen über eine Million Dollar bekomme. Der Bankdirektor wird wissen, daß mein Händedruck genügt. Wenn ich das nächste Darlehen bei dir aufnehme, dann wirst auch du es dabei bewenden lassen.« »Das nächste Darlehen?« Er nickte, ihre Hand noch immer haltend. »Vielleicht wird es nicht mein nächstes Projekt sein, doch es wird ganz gewiß eines meiner Projekte sein. Dieses Seegrundstück. Deshalb habe ich dich hierher mitgenommen, daß du es dir selbst ansehen kannst. Knapp neunhundert Acres. Mehr als zweihundertfünfzig Bauparzellen. Ein Restaurant. Ein Golfplatz und ein Country Club. Ein Jachthafen. Und all das keine zwei Stunden von der Stadt entfernt. Kostspielige und luxuriöse Wochenendhäuser von einer solchen Exklusivität, daß sich die Leute darum reißen werden. Aber ich bin noch nicht so weit. Vorher habe ich noch einiges in der Stadt selbst zu tun.« »Das erste Projekt ist gerade erst angelaufen«, sagte sie und empfand es als angenehm, daß er ihre Hand hielt. »Wir werden auf unserem Weg nach oben Partner sein.« Du, dachte sie, hast einen viel weiteren Weg vor dir als ich. »Wenn ich das Geld hätte, und sei es auch nur genug für eine Anzahlung, dann würde ich dieses Land kaufen. Für dreihundert pro Acre ist es zu haben. In zehn Jahren wird der Acre, sogar unerschlossen, bei mindestens zweitausend liegen. 89
Denk an meine Worte. Du brauchst es dir ja nur selbst anzusehen.« Er stand auf und zog sie mit sich hoch. »Niemand sonst weiß etwas davon. Ich wollte, daß du es als erste erfährst. Und wenn du geschäftstüchtig bist und das Geld auftreiben kannst, dann erwirbst du das Land jetzt gleich, damit die Kosten zu dem Zeitpunkt, zu dem wir uns gemeinsam an die Arbeit machen, nicht so hoch sind, daß sie all unsere Gewinne verschlingen.« Zu ihrer Freude stellte sie fest, daß sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Das Motel gehörte nicht zu seinen Plänen, denn sie fuhren durch den sonnigen Nachmittag zurück nach Houston, die ganze Zeit redend und lachend. Plötzlich bremste Boomer, riß das Steuer herum und kam vor einer Gaststätte auf dem Kies des Parkplatzes zum Stehen. »An dieses Restaurant habe ich gar nicht mehr gedacht. Allerdings ist es noch reichlich früh.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Gerade erst halb sechs. Aber hier gibt es die besten Spareribs weit und breit.« »Ich habe noch nie Spareribs gegessen«, sagte Alex. Er öffnete die Tür. »Das ist doch wohl ein Witz! Ich kann dir sagen, du wirst noch froh sein, daß du mir über den Weg gelaufen bist.« Als sie in dem schwach beleuchteten Restaurant Platz nahmen, meinte sie: »Jemand wie du ist mir noch nie begegnet.« »Das ist mir klar.« Nachdem sie bestellt hatten, wandte er sich wieder ihr zu. »Und ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, mit der ich über geschäftliche Angelegenheiten reden kann, jemanden, der meine Träume und Phantasien versteht.« Dann grinste er. »Einfach prima, daß wir aneinandergeraten sind. Ich muß daran denken, mich gelegentlich bei diesem Typen zu bedanken, der mich zu dir geschickt hat. Ich kann mich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.« »Ich werde es ihm ausrichten«, erwiderte sie. »Ich erinnere mich noch gut an seinen Namen.«
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Tessa hätte vom Hals abwärts ein Junge sein können. Nun, vielleicht nicht ganz, aber doch fast. Ihre Beine waren toll, und ihre Gestik war feminin, ebenso wie diese riesigen türkisfarbenen Augen, aber sie hatte so gut wie keinen Busen. Das fiel Dan sofort auf. Sie trug ein Kleid mit einem weiten Rock aus einem seidigen smaragdgrünen Gewebe. Es hatte ein rundes Dekollete, war jedoch nicht tief ausgeschnitten, wahrscheinlich deshalb, weil sie nichts vorzuzeigen hatte. Die Ärmel waren nichts weiter als ein paar kleine Rüschen. Die Schuhe paßten farblich zu dem Kleid und hatten sehr hohe, schmale Absätze. Dan fragte sich, wie sie auch nur einen Schritt darin laufen konnte, doch sie bewegte sich äußerst anmutig in ihren Stöckelschuhen. An ihren Ohren baumelten Perlenohrringe, die so groß wie Austern waren. Er hielt ihr die Tür auf, ging um den Wagen herum und glitt hinters Steuer. »Ein hübsches Auto«, sagte Tessa. »Ich habe noch nie in einem Cabrio gesessen. In Rochester herrscht kein Cabrio-Wetter.« »Sind Sie deswegen hierhergezogen? Wegen des Wetters?« »Auch«, antwortete sie. »Je heißer, desto besser. Ich liebe die Hitze.« »Das Wetter hier in Houston ist das allerletzte. Viel zu schwül. Und im Winter regnet es.« »Woher kommen Sie?« Er grinste sie an. »Aus Saint Paul.« »Minnesota? Dann müssen Sie sich aus den gleichen Gründen wie ich für diese Gegend entschieden haben.« Das war nicht die einzige Gemeinsamkeit. Es schien ganz so, als gäbe es nichts von Bedeutung, was sie nicht miteinander gemein hatten, doch erst beim Nachtisch sagte Tessa: »Ich bin dreißig.« Dan zog eine Augenbraue hoch. »Du siehst wie höchstens achtzehn aus.« Sie lächelte und nickte. »Ich weiß. Und außerdem bin ich schon mal verheiratet gewesen.« Seine Brust schnürte sich zusammen. »Und nach meiner Scheidung vor fünf Jahren bin ich nach New York gegangen und habe mich bei Pratt eingeschrieben, um Design zu studieren, und von dort aus bin ich hierhergekommen.« Als Dan kein Wort dazu sagte, fuhr Tessa fort: »Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft werde ich bei David Jones kündigen und mich selbständig 91
machen, aber im Moment verdiene ich fünfundsiebzigtausend im Jahr.« Dan schluckte schwer. »Du mußt wirklich gut sein.« »Ich bin einsame Spitze.« Er griff über den Tisch und nahm ihre Hand. »Und ich will keine Kinder«, sagte sie mit heiserer Stimme. Er ließ ihre Hand los. »Niemals?« »Niemals. Ich habe ein Kind verloren. Es war eine Totgeburt. Ich denke gar nicht daran, diese Form von emotionalem Schmerz noch einmal durchzumachen. Ich fand, das solltest du wissen.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Tessa an. Dann winkte er den Kellner an den Tisch. »Einen doppelten Scotch«, sagte er. Im Hintergrund war Klangberieselung zu vernehmen; Frank Sinatra sang: »You’d be so nice to come home to…« Keiner von ihnen sagte etwas. Dan sah Tessa an, und Tessa schaute sich im Lokal um, bis der Kellner den Drink brachte. Beide musterten den Whiskey. Dan trank einen Schluck. »Du willst mir damit etwas sagen, aber es gibt zwei Möglichkeiten, und ich weiß nicht, welche von beiden zutrifft.« Sie blinzelte ein paarmal schnell hintereinander; sie hatte die längsten Wimpern, die er je gesehen hatte. »Entweder du willst mich mit dieser Warnung abschrecken, damit ich einen Rückzieher mache, solange es mir noch möglich ist, oder es handelt sich um eine eindeutige Aufforderung, aber du sagst mir, daß ich mich vorsehen soll.« Sie lächelte, nahm ihr leeres Weinglas in die Hand und drehte es zwischen den Fingern. »Das war mir nicht klar, aber vermutlich stimmt es.« Er trank einen Schluck von seinem Whiskey. »Und was von beidem war es?« Als Tessa ihm in die Augen sah, wußte er, wie sie es gemeint hatte. »Als ich heute morgen aufgestanden bin, hatte ich noch nie auch nur etwas von dir gehört«, sagte er und leerte sein Glas. »Das Ganze hat nur einen einzigen Haken. Du setzt als selbstverständlich voraus, daß ich jetzt noch einen Rückzieher machen kann, wenn ich will.« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf, und die Andeutung eines Lächelns huschte über ihre Lippen. »Nicht wirklich. Bei mir war schon alles zu spät, als ich mich auf diesen Sägebock gesetzt habe. An einem wunderschönen Samstag laufe ich um die Mittagszeit durch die Gegend, kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten und lege mir in Gedanken meinen Einkaufszettel zurecht, und als ich 92
aufblicke, sehe ich diesen blonden Adonis vor einem Gebäude, das rundum den Eindruck erweckt, als würde es hinterher nicht ganz so wie die meisten anderen aussehen, und als ich näher gekommen bin, war es bereits zu spät. Wann war bei dir alles zu spät?« Er grinste. »Als du mir erzählt hast, daß du fünfundsiebzigtausend im Jahr verdienst.« Sie trat ihn unter dem Tisch. »Tja«, sagte er nach einer Pause, in der sie einander nur angesehen hatten, »wir könnten ebensogut gleich nach Hause gehen.« »Zu dir oder zu mir?« fragte sie und reichte ihm noch nicht einmal bis an die Schultern, als sie aufstand. »Mein Bett ist nicht gemacht.« »Aber meines. Also können wir es zerwühlen. Und außerdem möchte ich dir meinen Einrichtungsstil zeigen.« Sie ging vor ihm her, als sie das Restaurant verließen. Er fragte in einem scherzhaften Ton: »Fürchtest du etwa, ich mache einen Rückzieher, wenn es mir bei dir nicht gefällt?« »Nein«, sagte sie kopfschüttelnd. »Es wird dir gefallen. Du wirst sehen, wie wir gemeinsam Millionen scheffeln.« Er setzte sich ans Steuer. »Das ist nicht direkt das, was ich heute nacht vorhabe.« »Auch das wird dir gefallen«, versprach sie ihm. Alex beobachtete, wie Boomer vom Straßenrand losfuhr. Heute morgen war sie noch außer sich gewesen, weil sie geglaubt hatte, er hätte eine Übernachtung in einem billigen Motel mit ihr im Sinn, und jetzt hatte er sich nach einem Tag, den sie in vollen Zügen genossen hatte, mit nicht mehr als einem flüchtigen Gutenachtkuß von ihr verabschiedet. Er hatte neben ihr gestanden, als sie die Tür zum Foyer des Apartmentgebäudes aufgeschlossen hatte, ohne ihm zu sagen, daß sie die Penthousesuite bewohnte, und dann hatte er sie in seine Arme genomen und sich vorgebeugt, um seinen Mund auf ihren zu legen und sie zart auf die Lippen zu küssen. Es hatte ihr auf der Zungenspitze gelegen, auf der er dieses Brennen hinterlassen hatte, ihn in ihre Wohnung zu bitten, aber sie hatte noch nie einen Mann in ihre Wohnung gelassen, nicht allein. Zu Partys, ja. Zu einem Abendessen mit mehreren Personen. Aber es war nie ein Mann allein bei ihr gewesen. Und auch Cole bildete da keine Ausnahme. Boomer schlug noch nicht einmal vor, sie nach oben zu begleiten. Verlieb dich bloß nicht in ihn, sagte sie sich. Wenn sie mit Boomer zusammen war, benahm sie sich nicht so wie im Umgang mit anderen Männern. Er holte etwas Sanftes und Feminines aus ihr heraus, eine Seite, von der sie gar nicht gewußt hatte, daß sie sie 93
besaß. Er schien ihre Intelligenz und ihren großen Einfluß zu mögen und sich nicht davon bedroht zu fühlen. Es war, als spielten sie einander ständig neue Bälle zu. »Gütiger Himmel«, sagte sie laut vor sich hin. Cole war allein in den Club gegangen, aber er war unruhig. Er blieb nicht zum Abendessen. Nach zwei Drinks an der Bar lief er eine halbe Stunde lang von einem Tisch zum anderen und brach dann wieder auf. Es war ihm nur ein geringfügiges Ärgernis, daß Alex die Verabredung für den heutigen Abend abgesagt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letztemal einen Samstagabend allein verbracht hatte, doch er mußte feststellen, daß er sich nicht einsam fühlte, sondern schlichtweg rastlos. Vielleicht würde er sich einen Film ansehen und hinterher eine Kleinigkeit essen. Eine sachte, laue Brise ließ das Laub rascheln, und der Duft von Verbenen hing in der Luft, jedoch nicht zu vergleichen mit dem Chanel No. 5, das Alex immer auftrug, ganz egal, zu welchem Anlaß – Chanel No. 5. Eine bezaubernde Duftnote, soviel stand fest. Aber an jenem ersten Tag, an dem sie sein Büro betreten hatte, hatte Carly nach Maiglöckchen gerochen. Gestern hatte der Duft von Flieder sie begleitet. Letzte Nacht hatte er geträumt, er laufe über eine Blumenwiese. Carly schlang sich ein Handtuch um das nasse Haar und betrachtete im Badezimmer ihr Spiegelbild. Sie hatte ihre Verabredung für heute abend abgesagt, da sie es vorgezogen hatte, sich das Haar zu waschen und ihre Nägel zu lackieren, durch ihre Wohnung zu schlendern und an Cole Coleridge zu denken. Sie hatte gestern einen schönen Abend mit ihm verbracht. Ihr gefiel die Vorstellung, daß er zu Ausflüchten gegriffen hatte, weil es ihm wichtig genug gewesen war, sie zu sehen, und vielleicht hatte er sogar geglaubt, sie würde nicht mit ihm ausgehen wollen. Wie viele Mädchen hätten Cole Coleridge einen Korb gegeben? Er sah zwar nicht unbedingt gut aus, aber auf eine aristokratische Art war er von einem angenehmen Äußeren. Als sie ihm das erstemal begegnet war, wirkte er auf sie, als flösse Eiswasser in seinen Adern, doch gestern abend war er merklich aufgetaut, und wenn er auch nicht direkt charmant war, dann übte er doch in gewisser Weise eine magnetische Anziehungskraft auf sie aus. Sie war sicher, daß Geld und Einfluß einen Teil dieser Anziehungskraft ausmachten. Sie hätte nicht sagen können, was sich hinter diesen blauen Augen verbarg, die von dichten schwarzen Wimpern eingerahmt wurden. Er hatte nicht versucht, sie zum Abschied zu küssen, und er hatte noch nicht 94
einmal erwähnt, sie könnten einander wiedersehen, doch sie hatte das sichere Gefühl, daß sie ihn wiedersehen würde. Es überraschte sie, wie viel sie von sich selbst preisgegeben hatte; sie hatte ihm erzählt, daß sie sich niemals irgendwo zugehörig gefühlt habe, und auch, daß ihr Verity verhaßt gewesen sei. Sie hatte nicht mit ihm darüber geredet, wie gern sie in Kalifornien aufgewachsen war, doch sie hatte ihm verraten, daß sie glaube, in Houston sei es ihr bestimmt, Großes zu erreichen. Und er hatte ihr erzählt, er habe seine Wohnung selbst eingerichtet, was sie überrascht hatte, und er sei an den Impressionisten interessiert und würde gern eines Tages Gemälde sammeln, vielleicht sogar eine so eindrucksvolle Sammlung aufbauen, daß er sie einem Museum vererben würde. Sie waren beide Filmfans, doch Carly sah sich mehr Filme an als er. Es faszinierte ihn, daß sie sich derart von ihrer Arbeit mitreißen ließ, und er fragte sie, ob sie schon viele große Geschäftsabschlüsse getätigt habe. Carly sagte ihm nicht die Wahrheit. Sie lächelte lediglich, hoffend, daß es wie ein Mona-Lisa-Lächeln wirkte, und sagte: »Ach, ein oder zwei.« Noch vor drei Tagen hätte sie nicht einmal von einem einzigen Geschäftsabschluß reden können. Für Carly war es eine ganz beachtliche Woche gewesen, und sie wünschte, es würde in dem Stil weitergehen, zu noch mehr Geschäftsabschlüssen kommen. Und sie würde auch Cole Coleridge gern wiedersehen. Sie machte sich keine Sorgen, als er nach einer Woche noch nicht angerufen hatte. Selbst wenn er nie mehr anrief, würde ihr nichts fehlen, doch ihr hätte die Vorstellung gefallen, daß ein solcher Mann sich für sie interessierte. Sie verwandte ihre gesamte Konzentration auf den Maklerlehrgang, den sie dienstags und donnerstags an den Abenden besuchte. »Wenn du einen weiteren Verkauf tätigst«, sagte Mr. Rolf, »dann werde ich mich nach einer anderen Sekretärin umsehen, damit du flügge wirst und dich entfalten kannst, auch wenn es mich umbringt.« Carly wollte nicht einfach nur flügge werden. Sie wollte sich zu einem Höhenflug aufschwingen. Sie hatte das Gefühl, gerade dabei zu sein, sich vom Boden zu erheben. Der Umzug nach Houston war der klügste Schritt gewesen, den sie je unternommen hatte.
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13 »Mir gefällt, daß du nur einen Ohrring trägst, und den immer am linken Ohr«, sagte Walt zu Francey. »Mir gefallen die leuchtenden Farben, die du trägst. Mir gefällt die Vorstellung, daß jeder Mann, der dich ansieht, mich beneidet.« »O Walt! Ich hab noch gar nicht mitgekriegt, daß sich andere Männer zu einem Rendezvous mit mir verabreden. Himmel, in Verity bin ich noch kein einziges Mal auch nur in den Hintern gekniffen worden.« Er lachte und streckte einen Arm aus, um genau das zu tun, und dann ließ er die Hand dort liegen und strich liebevoll über ihre Rundungen. »Du hast meinem Leben eine ganz neue Dimension verliehen.« Er beugte sich vor, um zart an ihrem Nacken zu knabbern. »Du weißt doch, daß ich davon immer eine Gänsehaut bekomme«, sagte sie und schnitt weiterhin Staudensellerie klein, wenngleich ihre Bewegungen langsamer wurden. Es war Montag, der einzige Wochentag, an dem Die Weiden geschlossen waren, und Francey genoß es, zur Abwechslung selbst zu kochen. Er kam näher und schmiegte sich an ihren Rücken. »Warum heiratest du mich nicht?« Diese Frage stellte er ihr weiß Gott nicht zum erstenmal. »Heirate mich, nachdem du jetzt bewiesen hast, daß du in dieser Stadt Erfolge feiern kannst.« Francey legte das Messer auf das Schneidebrett, nahm seine Hand und flüsterte: »Ich hoffe, du führst zu Ende, was du begonnen hast.« Sie drehte sich zu ihm um und begann, sein Hemd auf zuknöpfen. Er ließ sich auf den Küchenboden sinken und zog sie auf sich. Als sie schließlich auf stand und wieder in ihre Bluse schlüpfte, fragte sie: »Müßte ich dazu Die Weiden aufgeben und mein Dasein als Hausfrau fristen?« Walt blinzelte ungläubig. »Führen wir hier tatsächlich Eheverhandlungen?« Francey lächelte verschmitzt, während sie äußerst energisch Karotten in Scheiben schnitt. »Ich habe es allmählich satt, mitten in der Nacht aus dem Bett zu springen und mich von dir zu verabschieden, um nach Hause zu gehen. Aber ich will meine Unabhängigkeit nicht verlieren.« Er packte sie um die Taille und stieß einen triumphierenden Schrei aus. »Ich will dir keinerlei Einschränkungen auferlegen. Ich will dir nur meinen Namen geben. Mein Gott, Liebes, 96
ist das wirklich dein Ernst?« »Es ist wahrhaftig an der Zeit, daß du eine ehrbare Frau aus mir machst. Ich will nur nicht, daß sich dadurch etwas an unserer Beziehung ändert.« »Laß uns Carly anrufen«, sagte er. »Sie soll erfahren, daß sie endlich einen Daddy bekommt.« Carly weinte während des Zeremoniells in der Baptistenkirche von der ersten bis zur letzten Minute. Francey trug ein fliederfarbenes Kleid aus weicher Seide und Chiffon und hielt zwei Dutzend weiße Orchideen mit purpurnen Sprenkeln in der Hand. Sie sagte zu Walt, ihr mache es nichts aus, wenn ganz Verity diese Geste als übertrieben und geschmacklos empfände, doch sie wolle eine Hochzeit feiern, von der man noch lange reden würde. Walt nickte lediglich, strahlte über das ganze Gesicht und zahlte bereitwillig. Die Feier fand in den Weiden statt, obwohl das Restaurant kaum die Hälfte der Gäste zu fassen vermochte. Das Wetter spielte mit, und der Rasen war mit Tischen unter Sonnenschirmen bedeckt, an denen man alle unterbringen konnte, die erschienen, nämlich so gut wie ganz Verity und die nähere Umgebung. Zelda Marie und Joe Bob kamen ebenfalls mit ihren Eltern. Am Abend vor der Hochzeit machte Walt Francey ein Hochzeitsgeschenk. »Ich habe das Land im Norden der Stadt gekauft, das dir schon immer so gut gefallen hat, dieses Grundstück mit dem kleinen Hügel, auf dem diese große Eiche steht, die man etliche Meilen weit sehen kann. Ich denke, daß keine Frau gern in dem Haus einer anderen Frau leben möchte. Wir können den Sommer damit verbringen, Skizzen zu entwerfen.« Francey schlang die Arme um ihn und drückte einen Kuß auf sein Ohr. »Walt, du bist so ziemlich der netteste Mann auf der ganzen Welt.« »Ich bin ein liebender Mann«, sagte er und hielt ihre Handgelenke fest, »und ich möchte für alles verantwortlich sein, was dich glücklich macht.« Carly verbrachte die Hochzeitsnacht ihrer Mutter damit, an Cole Coleridge zu denken. Er hatte am Freitag nachmittag angerufen, um sie für den Samstag zum Abendessen einzuladen, doch sie hatte ihm mitgeteilt, daß sie nach Verity fliege und am Sonntag nachmittag zurückkomme. Er sagte, in dem Fall rufe er sie möglicherweise am Sonntag abend an. Möglicherweise. Vor ein paar Jahren war sie recht besorgt gewesen, was ihre Person 97
betraf. Warum konnte sie nicht tief in ihrem Innern so empfinden, wie sie es für Boomer getan hatte? Sie hatte es so sehr genossen, mit ihm zu schlafen, daß sie sich eine Zeitlang beunruhigt gefragt hatte, ob sie vielleicht eine Nymphomanin sei, doch jetzt fragte sie sich, warum sie nicht einfach mit einem der Typen, die sie fortwährend darum anflehten, ins Bett ging. War ihr Verlangen erloschen, als Boomer sie verlassen hatte? Und dann mußte sie feststellen, daß es an einem ganz anderen Ort und mit einer ganz anderen Person wiedererwacht war, als der schlanke, elegante Cole Coleridge in ihr Leben getreten war. Nun, eigentlich konnte gar keine Rede davon sein, daß er eine Rolle in ihrem Leben spielte. Noch nicht. Als Carly am folgenden Tag zu Zelda Marie rausfuhr, fragte sie sich, wie ihre Freundin ein solches Leben führen konnte. Gemeinsam mit Joe Bob und ihren vier Kindern in diesem winzigen Häuschen eingepfercht! »Joe Bob verdient nicht genug, als daß wir es uns leisten könnten, ein Haus in der Stadt zu mieten«, erklärte Zelda Marie. »Ich weiß nicht, was wir täten, wenn Daddy uns nicht hier wohnen ließe.« »Hat Joe Bob jemals mit dem Gedanken gespielt, in der Werkstatt seines Vaters aufzuhören? In der Ölbranche gibt es haufenweise Stellen.« Zelda Marie legte den Kopf zur Seite und sah Carly an. »Was? Jobs, in denen man richtig hart arbeiten muß? Das soll wohl ein Witz sein.« Beim Hagebuttentee, den Carly mitgebracht hatte, weil sie sich dachte, daß Zelda Marie sich wahrscheinlich keinerlei derartigen Luxus leisten konnte, erzählte ihr Carly: »Ich habe einen wunderbaren Mann kennengelernt.« »Wunderbar? Ein Mann und wunderbar?« Dennoch sah Zelda Marie Carly gespannt an. »Nun, ich glaube nicht, daß sich daraus etwas entwickelt, aber ein Mann wie er ist mir noch nie begegnet.« »Und wie ist er?« »Reich. Und sieht nicht schlecht aus, wenn er auch nicht wirklich ein gutaussehender Mann ist, und irgendwie wirkt er mysteriös und in mancher Hinsicht sehr reserviert. Eine elegante Erscheinung. Er bewegt sich gewissermaßen so, wie ich mir die Bewegungen eines Panthers vorstelle, mit echter Grazie. Außerdem ist er ein wirklich traumhafter Tänzer. Und er kann recht gut küssen. Du weißt ja wohl selbst, daß viele Männer nicht das geringste vom Küssen verstehen.« 98
Nein, davon wußte Zelda Marie nichts. Joe Bob war der einzige Mann, mit dem sie überhaupt jemals irgend etwas getan hatte, und sie wußte nicht, wie irgendwelche anderen Männer irgend etwas taten. Fest stand, daß Joe Bob seine Zeit nicht mit Küssen vergeudete. »Ja, er küßt wirklich recht gut. Aber ich wage es nicht, mir allzuviel aus ihm zu machen. Ich zähle nicht zu seinen Kreisen. Jemanden wie mich wird er nicht heiraten.« »Was soll das heißen – jemanden wie dich? Du bist etwas ganz Besonderes, Carly. Ich wette, du hast bestimmt schon ein halbes Dutzend Heiratsanträge bekommen.« »Das stimmt, aber alle von Typen, aus denen ich mir nicht das geringste gemacht habe. Ich hatte noch nicht einmal Lust, mit ihnen zu schlafen, ganz zu schweigen davon, den Rest meines Lebens mit ihnen zu verbringen.« »Bist du seit Boomer mit jemandem im Bett gewesen?« Carly schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe Jahre gebraucht, um nicht mehr jeden Mann, mit dem ich ausgegangen bin, mit Boomer zu vergleichen. Und du weißt ja selbst, daß er nichts weiter als ein Teenager war, der es auf Sex abgesehen hatte, und in der Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, war ich das Mädchen, von dem er bekommen hat, was er wollte. Ich glaube nicht, daß Boomer mich wirklich geliebt hat, auch wenn er es sich anfangs vielleicht eingebildet hat.« »Und was ändert es, ob man sich für verliebt hält oder es tatsächlich ist?« Carly zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber ganz gleich, was es war, für ihn ist die Flamme wesentlich früher erloschen als für mich. Er wollte mich nur fürs Bett, und ich habe mich mit meinem ganzem Herzen auf ihn eingelassen. Es ist höchste Zeit, daß ich diese Schublade schließe und sie nicht wieder aufmache, aber ich werde mir nicht noch einmal dasselbe antun. Mit Cole habe ich meinen Spaß, und vielleicht werde ich sogar mit ihm schlafen, aber ich denke gar nicht daran, mich trügerischen Hoffnungen hinzugeben.« »Die Ehe ist nicht ein und alles«, sagte Zelda Marie. »Ich hoffe, für Mom und Walt wird es das sein.« »Deine Mom ist eine ganz beachtliche Frau«, entgegnete Zelda Marie und zündete den Gasherd an, um ein Fläschchen für ihren jüngsten anzuwärmen. 99
»Ich bin wirklich stolz auf sie. Und eines Tages wird sie auch stolz auf mich sein.« Zelda Marie lächelte Carly an. »Deine Mutter ist schon seit dem Tag deiner Geburt stolz auf dich.« Carly seufzte. »Vermutlich hast du recht. Ich frage mich, wie unser beider Leben ausgesehen hätte, wenn mein Vater nicht im Krieg umgekommen wäre.« »Mein Daddy erweist sich inzwischen als eine echte Stütze. Hast du diese Menagerie hinter dem Haus gesehen?« »Wer könnte die schon übersehen?« »All diese verwaisten kleinen Lämmer und Kälber bringe ich durch und ziehe ich auf. Und sie gehören mir, und ich kann sie später verkaufen. Ich warte nur noch auf Fohlen. Ein männliches Fohlen. Genau das wünsche ich mir. Ich will Pferde züchten. Pferde, die Züchterpreise gewinnen und mir eine Menge Geld einbringen werden, und noch dazu werden sie mich berühmt machen.« Ja klar, dachte Carly. Wir alle brauchen unsere Träume, damit wir durchhalten. »Ich frage mich«, sagte Francey, während sie sich streckte, »ob ich dich wegen deines Geldes geheiratet habe.« Es war der Morgen des ersten ganzen Tages, den sie als Francey Davis verbringen wurde. Die gläserne Schiebetür stand offen, und die Vorhänge blähten sich in der lauen Luft der Karibik. Sogar vom Bett aus konnte sie im Liegen die leuchtenden Schattierungen des Meeres sehen – aquamarinblau, türkisgrün, blaßblau und purpur. Sie lagen ohne eine Decke da. »Ich glaube, in dem Fall habe ich mir eine Fahrkarte in den Himmel gekauft«, murmelte Walt und machte ein Auge auf. Vor drei Uhr waren sie nicht zum Schlafen gekommen. Francey stieß einen zufriedenen Seufzer aus. »Wenn ich gewußt hätte, daß die Ehe so wunderbar sein kann, hätte ich schon vor Jahren ja gesagt. Ich möchte Champagner zum Frühstück«, erwiderte sie und biß ihn zärtlich. »Mein Liebling, du kannst zum Frühstück alles haben, was dein Herz begehrt, und auch zu jeder anderen Tages- oder Nachtzeit.« Sie ließ ihre Zunge auf seinem Bauch nach oben und über seine Brust gleiten, bis ihre Lippen auf seinen Mund trafen. »Du bist so sexy wie kein zweiter Mann auf Erden.« »He, du bist doch hier diejenige, die die ganze Arbeit auf sich nimmt«, sagte er mit einem schelmischen Lächeln. »Arbeit? Das 100
nennst du Arbeit?« Er zog sie auf sich. »Als was würdest du es denn bezeichnen?« »Als pure Lust«, flüsterte sie, während er sich streckte, um eine ihrer Brustwarzen in den Mund zu nehmen. »O Gott«, sagte sie und begann sich rhythmisch auf und ab zu bewegen. »Du reitest mich zum Mond«, keuchte er. »Und zur Sonne und den Sternen und was sonst noch am Himmel steht«, brachte sie mühsam heraus, ehe sie keine Worte mehr fand. Und auch nicht mehr denken konnte. Alles um sie herum versank, bis auf die Liebe.
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14 Am Sonntag morgen um halb zehn wurde Boomer vom Läuten des Telefons geweckt. Er warf einen Blick auf die Digitaluhr, deren Ziffern ihn anstarrten. So lange schlief er sonst nie. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.« Es war Dan. »Nein, zum Teufel«, murmelte Boomer, dessen Augen noch vom Schlaf getrübt waren. »Komm rüber zum Brunch. In einer Stunde.« Boomer bemühte sich, klarer zu sehen. »Zum Brunch?« »Hier ist die Adresse.« Es klang ganz so, als läse Dan etwas von einem Zettel ab. »Das ist nicht weit von dir.« Er begann ihm eine vage Wegbeschreibung zu geben, und dann mischte sich eine weibliche Stimme ein. »Haben Sie einen Stift zur Hand?« Die Angaben waren äußerst präzise. »Apartment drei D.« Boomer zog sich auf einen Ellbogen hoch. »Und wer sind Sie?« Sie lachte, ein silbriger Klang, der Boomer an einen Wasserfall erinnerte. »Tessa Oldfield.« Boomer nickte. »Dann also bis in einer Stunde.« »Es paßt mir auch schon eher«, sagte sie. Brunch? Er schleppte sich ins Bad, duschte und schlüpfte in eine hellbraune Freizeithose und ein kurzärmeliges gelbes Hemd. Wieder einmal ein Tag, der für die Harley-Davidson wie geschaffen war, dachte er, als er in die strahlend helle Sonne sah. Er schnappte sich den Zettel, auf dem er Tessas Wegbeschreibung notiert hatte, und zog los. Während er durch die sonntäglich menschenleeren Straßen fuhr, fragte er sich, weshalb auch nur irgend jemand woanders als in Texas leben wollte. Allerdings herrschte heute zur Abwechslung mal keine Schwüle, und der Himmel sah aus wie in einem Technicolor-Film. Er parkte vor einem gediegenen Apartmentkomplex, vielleicht nicht so stinkvornehm wie der, in dem Alex wohnte, aber ganz entschieden der Kategorie mit den Spitzenmieten zugehörig. Er folgte den Steinfliesen eines Fußpfads, der von Springkraut und Petunien umgeben zu Komplex D führte. Dan machte ihm die Tür auf, als er läutete; er war nicht so lässig wie sonst gekleidet, doch sein Jackett hing über einer Stuhllehne, und er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Boomer stieß einen Pfiff aus, als er eintrat und seine Umgebung auf sich wirken ließ. »Ganz beachtlich, was?« sagte Dan, und Boomer hätte schwören können, daß er Stolz aus Dans Stimme heraushörte. 102
Er riß den Blick von den Räumlichkeiten los und sah Dan fragend an. Eine Frau, die ihm kaum bis an die Brust reichte, tauchte in einer Türöffnung auf und wischte sich die Hände an einer weißen Musselinschürze ab. Sie dürfte so um die Achtzehn sein, und ihre Augen funkeln wie das Meer an seichten Stellen. »Ich bin Tessa. Seit wir wach geworden sind, redet er von nichts anderem mehr als von Ihnen.« Seit wir wach geworden sind? Boomer warf Dan über Tessas Kopf hinweg einen Blick zu, auf dessen Gesicht sich freudiges Erstaunen widerspiegelte. »Gibt es irgendwas, womit ich das Omelette nicht füllen sollte?« »Pilze.« Sie wies mit einer Kopfbewegung hinter sich. »Kommt mit in die Küche, und schenkt euch euren Kaffee selbst ein. Ich habe beim Kochen gern Gesellschaft.« Dan goß aus einer formschönen modernen Kaffeemaschine Kaffee in die Tassen, während Boomer sich in dem langen, schmalen Raum umsah. »Tessa ist Innenarchitektin. Vielleicht beantwortet das deine Fragen.« Sie schlug die Eier mit dem Schneebesen schaumig, goß die Masse in die Pfanne, schnippelte Käse, Zwiebeln und rote und grüne Paprikaschoten hinein und versah den Teig dann in der Mitte mit kleingeschnittenem Speck. Sie wendete das Omelett gekonnt, hielt die Pfanne über die Flamme und sagte: »Voilà!« Boomer hatte keine Ahnung, was er hier zu suchen hatte, doch das störte ihn nicht weiter. »Ich habe kein Eßzimmer im herkömmlichen Sinn«, sagte Tessa, während sie jedem einen Teller reichte, »aber für einen so schönen Tag scheint sich die Terrasse blendend zu eignen.« Boomer fiel auf, daß der Tisch mit kostbarem Silber und Kristallglas gedeckt war, mit bunten, handbestickten Platzdeckchen und Servietten, und darüber spannte sich ein blau-weiß gestreifter Sonnenschirm. Kleine Brötchen mit einer Zuckerkruste wurden in einer Serviette warm gehalten. Frische rote und weiße Nelken standen in einer Vase auf dem Tisch. Dan hatte dieses Mädchen bisher noch nie erwähnt, allerdings wußte Dan auch nicht, daß Boomer gestern mit Alex zum See rausgefahren war. Ja, er hatte noch nicht einmal von der Existenz dieses Sees eine Ahnung. Das einzige, was er über Alex wußte, war, daß sie die beiden in irgendeiner Form finanziell unterstützte. 103
Das Omelette war einfach himmlisch. »Wenn Sie sich als Innenarchitektin nicht durchsetzen können«, sagte Boomer, »dann können Sie sich immer noch als Köchin verdingen.« Tessas Lächeln war hinreißend. Boomer fand jetzt schon, daß Dan sich glücklich schätzen konnte, und er stellte sich laut die Frage: »Wie lange geht das bereits so?« Dan und Tessa sahen einander lachend an, dann warf Dan einen Blick auf seine Armbanduhr. »Fast auf die Sekunde dreiundzwanzig Stunden und zwanzig Minuten.« Ehe Boomer etwas dazu bemerken konnte, fuhr Dan fort: »Tessa hat ein paar Ideen, von denen ich möchte, daß du sie dir anhörst, sobald wir fertig gegessen haben.« Allerdings schien es keiner von ihnen eilig zu haben, das späte Frühstück zu beenden. Auf das Omelette folgten aufgeschnittene Melonen und Papayas, kunstvoll arrangiert und mit Trauben angerichtet. Und noch mehr Kaffee. Nach der dritten Tasse bemerkte Boomer: »Das könnte der beste Kaffee sein, den ich je getrunken habe.« »Ich kann Sie auch gut leiden«, sagte Tessa. Boomer war eine solche Direktheit von Frauen nicht gewohnt, doch er nahm an, sie sei auf etwas eingegangen, was er mit seinen Worten offenbar auch zum Ausdruck gebracht hatte. »Ich möchte, daß du dir Tessas Ideen anhörst.« Boomer lehnte sich auf dem gepolsterten Stuhl zurück und stellte überrascht fest, wie bequem er war. »Ich höre.« Tessa begann mit leuchtenden Augen. »Dan und ich haben den ganzen Vormittag über seinen Plänen für Ihre Wohnungen gesessen…« Sie unterbrach sich, um Dan lächelnd anzusehen. »Oder wenigstens einen Teil des Vormittags. Ist Ihnen eigentlich klar, daß niemand sonst in dieser Gegend sich an dem versucht, was Sie hier tun?« Boomer nickte. »Ja, selbstverständlich ist uns das klar. Genau darum geht es ja.« »Ich kann Ihnen pro Apartment mindestens fünfzigtausend Dollar mehr zusichern als das, was Sie dafür verlangen werden, wenn Sie die Wohnungen verkaufen. Falls Sie sie vermieten wollen, bringt es Ihnen fünfhundert mehr im Monat. Minimal.« Sie lehnte sich in einer betont strammen und aufrechten Haltung zurück, faltete die Hände auf dem Tisch und wirkte einen Moment lang wie ein Schulmädchen, das gerade die richtige Antwort gegeben hat und jetzt das Lob des Lehrers erwartet. »Also gut. Ich beiße an. Wie soll das gehen?« »Indem Sie die Wohnungen komplett möbliert verkaufen oder vermieten. Wissen Sie, wer Dorothy Draper ist?« Als er nicht darauf antwortete, fuhr sie fort. »Sie ist mein Vorbild. Sie hat das 104
Greenbriar gestaltet.« Das sagte keinem der beiden Männer auch nur das geringste. »Das ist so ziemlich die edelste Ferienanlage im ganzen Land, in White Sulphur Springs, West Virginia. Sie hat sämtliche Zimmer möbliert, und zwar alle unterschiedlich. Ich selbst habe einen etwas moderneren Geschmack als sie. Doch wer weiß, natürlich kann es gut sein, daß sich mein Geschmack innerhalb der nächsten fünf Jahre ändert. Und es fällt mir enorm leicht, mich umzustellen. Aber wenn Sie mich drei oder gar – o mein Gott, ich würde alles dafür geben – fünf Musterwohnungen einrichten lassen, bekommen Sie mehr Geld für jede einzelne Ihrer Wohnungen. Vielleicht kaufen manche Kunden sogar die Einrichtung gleich mit dazu. Eine komplette Lösung, alles bereits fix und fertig. Aber selbst dann, wenn sie vorhaben, ihre eigenen Antiquitäten oder was auch immer mitzubringen, werden sich die Wohnungen durch den Gesamteindruck, den sie bieten, wesentlich leichter und zu einem weit höheren Preis verkaufen oder vermieten lassen. Sie werden einen Eindruck von Eleganz vermitteln, das kann ich Ihnen versichern. Und von Individualität. Einfach unverwechselbar«, sagte sie und schloß die Augen. »Sie werden den unverwechselbaren Stempel meines Geschmacks tragen.« »So, wie Sie dieser Wohnung Ihren unverwechselbaren Stempel aufgeprägt haben«, sagte Boomer. »Oh, selbstverständlich werden sie sich alle gewaltig voneinander unterscheiden, aber Sie können sich wenigstens eine Vorstellung davon machen, wozu ich fähig bin.« Dann fragte sie: »Was ist mit der landschaftlichen Gestaltung?« Darauf hatte Boomer eine Antwort parat. »Ich dachte mir, wenn wir kurz vor der Fertigstellung stehen, ziehe ich eine Firma für Landschaftsarchitektur hinzu und übergebe ihr das Projekt.« »Nein.« Tessa schüttelte den Kopf. »Überlassen Sie es Dan und mir. Ich weiß, daß sich das nicht allzu überzeugend anhört, aber er hat mir erzählt, daß er vor Jahren einen Kurs in Landschaftsarchitektur belegt hat, und ich verfüge über einen feinen, sicheren Geschmack. Und außerdem bin ich originell. Lassen Sie uns die Außenanlagen ebenso exotisch gestalten wie die Inneneinrichtung. Damit schaffen wir es bestimmt, in sämtliche Zeitungen zu kommen. Sollen die Leute doch danach lechzen, hier zu leben.« »Lechzen?« Boomer lachte. Ihm fiel auf, daß Tessas nackter Fuß unter dem Tisch über Dans Knöchel glitt. »Und was erwartet ihr jetzt 105
von mir?«
Dan beugte sich vor. »Laß uns eine Firma gründen. Tessa ist noch
nicht soweit, ihren Job bei David Jones aufzugeben, aber…«
»… aber wenn David etwas davon erfährt, daß ich nebenher schwarz
arbeite, dann geht es mir an den Kragen.«
»He«, sagte Boomer, »das kommt alles reichlich plötzlich. Vor
vierundzwanzig Stunden hast du Tessa noch nicht einmal gekannt,
Dan.«
»Und eines Tages haben du und ich Squash miteinander gespielt,
und am nächsten Tag waren wir Partner.«
»Laß mich darüber nachdenken«, sagte Boomer. »Es hat seinen Reiz,
aber es wird mehr Geld kosten.« Er hegte den Verdacht, daß es sich
bereits um ein fait accompli handelte. Er mochte Tessa, und wenn
Dan nicht jetzt schon in sie verliebt war, dann war er zumindest auf
dem besten Weg. Liebe? Binnen eines einzigen Tages?
Als er am späteren Nachmittag in seine Wohnung zurückkehrte,
holte er ein Bier aus dem Kühlschrank, nahm das Telefon und trug es
zum Sofa, streckte sich dort aus und wählte die Nummer von Alex.
»Hi.« Seine Stimme klang sanft und vertraulich. »Na, so was.« Er
konnte hören, daß sie lächelte. »Was für eine nette Überraschung.«
»Störe ich?«
»Du störst mich bei nichts, was nicht warten könnte. Ich mache mich
gerade fertig, um für das rituelle sonntägliche Abendessen zu meinen
Eltern rüberzufahren.« Nach längerem Zögern hatte sie sich
entschieden, Cole doch nicht anzurufen.
»Wie stelle ich es an, Informationen über jemanden einzuholen?«
»Du meinst, die Kreditwürdigkeit einer Person zu überprüfen?« Ihr
erster Gedanke drehte sich immer um Geld. »Das und auch sonst
noch einiges andere. Ich möchte Näheres über eine Frau
herausfinden. Sie heißt Tessa Oldfield.«
Eine Frau? Alex fühlte etwas in ihre Magengrube plumpsen; war das
ihr Herz, das sank?
Nachdem Boomer ihr Einzelheiten über Tessas Background erzählt
hatte, zögerte sie einen Moment lang. »Handelt es sich dabei um eine
geschäftliche oder um eine persönliche Angelegenheit?«
Hatte er gerade eine Spur von Eifersucht wahrgenommen? Er hoffte
es. »Es ist rein geschäftlich. Ich will wissen, wie gut sie in ihrem Job
ist und was für eine Art Mensch sie ist.«
»Ich kenne jemanden, der das herausfinden kann. Wie war doch
gleich noch mal der Name?«
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Er wiederholte ihn und sagte dann: »Ich will dich jetzt nicht länger aufhalten. Ich hatte eigentlich irgendwie gehofft…« »In dem Fall mußt du mir eher Bescheid geben«, sagte Alex. »Ich habe meinen Eltern gerade erst vor zwei Stunden versprochen, daß ich zu ihnen rüberkomme.« Am Dienstag nachmittag erschien Alex auf der Baustelle. Sie fuhr in ihrem silbernen Jaguar vor und trug eine schwarze Seidenhose und eine schwarze Bluse mit weißen Tupfen und einem Kragen, der so breit war, daß er eine Krause bildete – eine Mischung aus eleganter Geschäftsmäßigkeit und vollendeter Weiblichkeit. Kleine Perlohrringe waren ihr einziger Schmuck. Sie lief zwischen den Bauarbeitern umher, bis sie Boomer fand, der in der heißen Nachmittagssonne kein Hemd trug. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Von dir sollte man erwarten können, daß du hinter einem Schreibtisch sitzt und andere die Schwerarbeit verrichten läßt«, sagte sie. »Ich bin eben nicht so wie alle anderen.« »Ich weiß.« »Und du bist die reinste Augenweide.« Sie lächelte ihn an und wunderte sich einmal mehr darüber, daß ihr an den Schmeicheleien eines Boomer Bannerman etwas lag. »Ich habe dir die Informationen besorgt, die du haben wolltest.« Er nahm ihren Arm und führte sie zu einer kleinen Baumgruppe. »Das ist aber schnell gegangen.« »Alles, was ich in Erfahrung bringen konnte, klingt viel zu gut, um wahr zu sein. Eine Freundin von dir?« »Wenn sie wirklich so gut ist, wie du sagst, dann könnte sie das durchaus werden. Hast du über mich auch derartige Informationen eingeholt?« »Ja, selbstverständlich.« Sie hätte ihn gern geküßt, auf die lächelnden Mundwinkel, an Ort und Stelle, vor dem versammelten Bauarbeitertrupp. Sie reichte ihm zwei Blätter. Er kniff die Augen beim Lesen zusammen. »Du liest auffallend schnell. Geht bei dir alles so rasch?« Er lächelte nicht, als er sie ansah. »Es gibt ein paar Dinge, für die ich mir sehr viel Zeit nehme.« Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. In dem Moment rief jemand nach ihm, und er sagte: »Ich bin gleich wieder da. Lauf nicht weg.« 107
Als er zurückkam, fragte er: »Was hältst du davon, morgen abend mit mir essen zu gehen?« »Ja, gern.« Sie hatte unbedingt zur Baustelle rausfahren müssen. Drei Tage waren vergangen, seit sie ihn das letztemal gesehen hatte, und seitdem hatte sie die Hälfte ihrer Zeit damit zugebracht, an ihn zu denken. Sie wußte, daß das albern war. Sie stammten aus unterschiedlichen Welten. »Ist es dir recht, wenn ich dich um sieben abhole?« Sie nickte und bahnte sich behutsam einen Weg durch den Bauschutt, als sie zu ihrem Wagen zurücklief. Er sah ihr nach. Von hinten wirkte sie nicht besonders sexy, und doch dachte er unablässig daran, sie zu berühren, sie richtig zu küssen, sie zu… Am nächsten Tag rief er sie im Büro an. »Zieh dich bloß nicht zu fein an. Je salopper, desto besser.« Vielleicht verstand er sich noch nicht einmal auf angemessene Abendkleidung. Der bloße Umstand, daß sein Vater der gesetzgebenden Körperschaft angehört hatte, war noch lange kein Gütesiegel. Dagegen der Kongreß der Vereinigten Staaten, das war gleich etwas ganz anderes. Oder wenn sein Vater Gouverneur gewesen wäre. Sie kannte jeden einzelnen Gouverneur des Landes. Allerdings gab es auch LBJ. Selbst als er ins Weiße Haus eingezogen war, hatte ihm nach wie vor jegliches Gespür für Stil gefehlt. Bei Ladybird sah das ganz anders aus. Wie hatte sie bloß ein Leben an der Seite dieses Mannes ausgehalten, wenn man obendrein bedachte, wie er sie behandelt hatte, und noch dazu in der Öffentlichkeit? Als Boomer erschien, trug er dieselbe Kluft wie am Samstag. Frisch gereinigt und gebügelt, aber dennoch genau dieselben Sachen. »Vermutlich hast du vor, mir ein Restaurant zu zeigen, in dem ich noch nie gewesen bin. Das tust du doch immer.« »Immer?« Er lachte. Schließlich gingen sie heute erst zum drittenmal miteinander aus. »Ich möchte dich mit ein paar Leuten bekannt machen. Wir wollen dich ausfragen und an deiner Erfahrung partizipieren.« Alex spürte, wie die Enttäuschung ihr einen Stich versetzte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie darum gerungen, um ihres Verstandes willen akzeptiert zu werden, und hier hatte sie es mit einem Mann zu tun, der sie, von einem flüchtigen Gutenachtkuß abgesehen, auf dieser Basis akzeptierte. Und jetzt mußte sie feststellen, daß sie mehr von ihm wollte. »Worüber lachst du?« fragte er, nachdem sie losgefahren waren. »Über die Ironie des Schicksals«, antwortete Alex. »Wer sind diese 108
Leute, die du mir vorstellen willst?« »Im einen Fall handelt es sich um die junge Frau, von der du gesagt hast, es klinge alles viel zu gut, um wahr zu sein.« »Tessa Oldfield?« In gewisser Weise verspürte sie ein Gefühl von Erleichterung. Er hatte diese Informationen also wirklich nicht aus persönlichen Gründen eingeholt. »Im anderen geht es um Dan…« »Ah«, sagte sie. »Dein Architekt.« Er warf ihr einen Blick zu. »Du hast wirklich ein gutes Gedächtnis.« »Ich habe Geld in diese Geschichte investiert, oder hast du das vergessen?« »Dann stammt also ein Teil des Geldes von dir persönlich?« Alex sah starr vor sich hin. Sie hatte nicht gewollt, daß er etwas davon erfuhr. »Dan hat seinen Job hingeworfen, einfach so. Jetzt schuftet er auf der Baustelle und übernimmt die Arbeiten eines Schreiners…« »Du ziehst jede Form von Leichtsinn an.« »He, du weißt bisher so gut wie nichts über mich.« Aber sie wußte, was sie empfand. »Richtig, ich habe keine Ahnung, ob du selbst leichtsinnig bist«, sagte Alex, »doch du forderst andere zum Leichtsinn heraus.« Er streckte eine Hand aus und ergriff ihre. Seine Augen funkelten. Sie sah weiterhin starr geradeaus. »Es geht nicht nur mir so. Ich bin sicher, daß du auf andere dieselbe Wirkung ausübst.« »Ich rufe also in anderen Leichtsinn wach, soso.« Ihm war deutlich anzumerken, daß ihm diese Vorstellung gefiel. »Und du bist bisher noch nie in deinem ganzen Leben leichtsinnig gewesen, stimmt’s?« »Nein, das stimmt nicht. Ich gehe laufend finanzielle Risiken ein. Ich genieße Risiken. Sie geben mir Auftrieb.« Seine rechte Hand schloß sich fester um ihre, und er steuerte den Wagen meisterlich nur mit der linken. »Fürchtest du dich?« fragte er. »Ich meine nicht den Straßenverkehr. Ich spreche vom Leichtsinn.« Alex lächelte. »Es ist ein ganz ähnliches Gefühl wie das, das ich beim Motorradfahren gehabt habe.« »Daran werde ich mich nie gewöhnen«, sagte Boomer, der abwechselnd auf die Straße schaute und Alex ansah. »Es wird mir nicht langweilig. Genau deshalb tue ich es. Ich lebe riskant. Ich hoffe zwar, daß mir nichts zustößt, aber…« Er zuckte mit den Schultern. Zum erstenmal war sie an einen Mann geraten, der sich ihrer Kontrolle entzog. Sie fragte sich, ob sie die Kontrolle wohl an sich 109
reißen könnte, wenn sie es versuchen würde.
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»Ich finde, Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht eine Kapitalgesellschaft gründen wollen. Oder eine Personengesellschaft«, sagte Alex. »Worin besteht der Unterschied?« fragte Tessa. »Die steuerlichen Vorteile unterscheiden sich voneinander.« Alex zuckte mit den Schultern. »Hat einer von euch dreien einen Anwalt?« Tessa, Dan und Boomer tauschten Blicke miteinander aus. »Du hast doch ganz bestimmt einen«, sagte Boomer. »Meiner ist nichts für euch.« Sie lächelte. »Für das, was ihr braucht, ist er zu kostspielig und ein paar Nummern zu groß. Als Geschäftspartner eine Gesellschaft zu gründen, ist eine relativ einfache Angelegenheit, aber jemand muß euch die feinen Unterschiede genau erklären. Ich werde euch einen Anwalt besorgen.« Alex lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie beneidete die drei. Von Tessa war sie schon beeindruckt gewesen, ehe sie ihr persönlich begegnet war, aber jetzt mußte sie feststellen, daß sie sie außerdem auch noch mochte. Sie war intelligent und begeisterungsfähig, und ihre Lebensfreude war ansteckend. Alex hatte so ein Gefühl, daß sie in ihr vielleicht eine Freundin finden könnte. »Ihr kennt einander noch nicht allzulange«, warnte sie. »Mit Geschäftspartnerschaften verhält es sich wie mit Ehen. Ich habe es mehrfach erlebt, daß eine solche Partnerschaft die Partner ins Unglück gestürzt hat.« »Ist es schwer, derartige Gesellschaften wieder aufzulösen?« fragte Boomer. »Nicht in Anbetracht der Vermögenswerte, die ihr im Moment habt, aber falls ihr zu Geld kommen solltet…« »Falls wir zu Geld kommen sollten?« jauchzte Tessa. Doch dann fügte sie hinzu: »Ich will nicht, daß etwas davon bekannt wird. Ich muß meinen Job behalten, bis… nun ja, einer von uns muß schließlich Geld ranschaffen.« »Wenigstens brauche ich in Zukunft keine Miete mehr zu bezahlen«, sagte Dan. Eine Sekunde lang herrschte Schweigen. Wenn sie beide allein miteinander gewesen wären, hätte Boomer gefragt: Du willst bei ihr einziehen, obwohl du sie noch keine Woche kennst? Aber Dan fuhr fort: »Wir werden eine andere Form von 111
Partnerschaft eingehen. Wir heiraten am Samstag um zwölf Uhr mittags.« Gütiger Himmel, dachte Boomer. Tessa kicherte. »Genau eine Woche, nachdem wir uns kennengelernt haben.« Sie wandte sich an Alex. »Ich weiß, daß wir einander eigentlich gar nicht kennen, aber ich habe hier noch keine echten Freundschaften geschlossen. Würden Sie… ich meine, Sie brauchen es natürlich nicht zu tun, aber es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn Sie meine Trauzeugin wären.« Sie streckte eine Hand aus, legte sie auf Alex’ Finger und sah ihr lächelnd in die Augen. Alex hatte sich als Teilnehmerin für das Tennisturnier des Clubs eingetragen. Plötzlich schien ihr das nicht mehr wichtig zu sein, obwohl sie monatelang dafür trainiert hatte. »Ich fühle mich geschmeichelt«, antwortete sie und fragte sich, warum sie sich geschmeichelt fühlte. In der letzten Zeit konnte sie sich selbst nicht mehr verstehen. Es war nicht nur Boomer, es griff auch auf andere Bereiche ihres Lebens über. Zumindest auf Bereiche, die etwas mit Boomer zu tun hatten. Cole brauchte nicht lange, um zu begreifen, daß er Carly wollte. Er wollte sie jede Nacht und jeden Tag. Und doch, sagte er sich, war sie keine Frau für ihn. Sie würde sich nicht in die gute Gesellschaft von Houston einfügen. Seine Eltern wären schockiert darüber, und seine Freunde ebenfalls. Nun, schließlich mußte er sie ja nicht heiraten. Er konnte sich ganz einfach auf eine Affäre mit ihr einlassen. Genau das wollte er – eine leidenschaftliche und glühende Affäre. Dann mußte er über sich selbst lachen. Leidenschaftlich und glühend. Er wußte noch nicht einmal, wie man sich leidenschaftlich und glühend gab. Er hatte schon immer gefürchtet, die Frauen, mit denen er ins Bett ging, könnten ihn für lau halten und nicht etwa für wild und wunderbar. Aber Carly würde wild und wunderbar sein. Er träumte von ihr – im Schlafen und im Wachen. Wenn er sie abholte, bemühte er sich, ihr nicht direkt ins Gesicht zu sehen, damit sie die Begierde nicht erkennen konnte, von der er wußte, daß sie in seinen Augen stand. Wenn sie auseinandergingen, dann beobachtete er diese langen, formvollendeten Beine und den Schwung ihrer Hüften, und er sah auch ihrem blonden Haar nach, das sie sich manchmal aufsteckte, aber meistens fiel es ihr gelockt auf die Schultern. Er fragte sich, wie ihre Wohnung aussehen mochte. Und was sie von 112
ihm hielt. Ob sie wohl jemals an ihn dachte, wenn sie nicht zusammen waren? Erzählte sie ihren Freundinnen von ihm? Carly war die erste Frau, die ihn sich selbst in Frage stellen ließ. Und das erreichte sie einfach nur dadurch, daß sie die schönste Frau war, die Cole Coleridge je unter die Augen gekommen war. War sich Carly eigentlich darüber bewußt, was sie bei Männern anrichtete? In der ersten Februarwoche saß Cole in seinem Büro, als sein Vater hereingestürmt kam. »Uns bietet sich eine ganz phantastische Möglichkeit in Mexiko geradezu an«, sagte er. »Dieser HotelMensch, dieser Jose Rosas y Riberas, hat bei uns angefragt, ob wir einen neuen Hotelkomplex finanzieren würden, den er in Acapulco baut. Sowie er den hochgezogen hat, will er nördlich von dort mit der Errichtung eines weiteren Hotelkomplexes beginnen, und das in einer Stadt, von der er ganz sicher ist, das sie das nächste Ferienziel in Mexiko sein wird. Ich hätte liebend gern ein Standbein in Mexiko. Flieg gleich am kommenden Wochenende runter und rede mit ihm. Das Ärgerliche ist nur, daß sein Englisch wahrscheinlich genauso mäßig ist wie dein Spanisch.« »Und mein Spanisch ist praktisch nicht vorhanden«, sagte Cole. Aber die Vorstellung als solche faszinierte ihn. In Mexiko in den Geldmarkt einzusteigen, und dann auch noch mit jemandem wie Rosas… »Wenn du dort unten ankommst, engagierst du dir gleich einen Dolmetscher. Das ist ganz unproblematisch.« Aber an jenem Abend aßen Cole und Carly spät noch eine Kleinigkeit, nachdem sie gemeinsam eine Aufführung des AlleyTheaters besucht hatten. Cole erzählte ihr von seinem bevorstehenden Mexikobesuch. »Du wirst mir fehlen«, sagte er zu ihr. Ihr entging nicht, daß das die persönlichste Äußerung war, die er ihr gegenüber in ihrer sechswöchigen Bekanntschaft von sich gegeben hatte. Und er fuhr fort: »Ich hoffe, daß ich dort zurechtkomme, denn das einzige, was ich auf spanisch sagen kann, ist si und no habla espagñol.« Carly entgegnete lächelnd: »Ich spreche sehr gut Spanisch.« Cole sah sie an, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute ihr tief in die Augen. »Sollte ich diesen Vorschlag etwa richtig verstanden haben?« »Mir war gar nicht klar, daß ich etwas vorgeschlagen habe.« Cole legte eine Hand auf ihren Arm. »Komm mit mir, Carly. Getrennte Zimmer. Begleite mich als meine Dolmetscherin.« 113
Die Vorstellung, sie im Badeanzug zu sehen, brachte ihn nahezu um den Verstand. Carly saß am Fenster, hatte die Beine übereinandergeschlagen und trug etwas mit schmalen Riemchen, was wohl als Sandalen durchging, jedoch kaum ihre anmutigen Füße mit den leuchtend rot lackierten Nägeln bedeckte. Cole malte sich aus, diese Zehen zu küssen, einen nach dem anderen. Dieser Gedanke hatte ihn überrascht, denn bisher hatte er Füße immer als ziemlich häßlich empfunden, und die Idee, einen Zeh zu küssen, war ihm absolut fremd gewesen. Während Carly das Bordmagazin durchblätterte, stellte Cole sich vor, jeden einzelnen dieser Zehen in den Mund zu nehmen und daran zu saugen. Und die Fußsohle mit seiner Zunge zu kitzeln. Er lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Er sagte sich, er müsse wohl übergeschnappt sein. Wer zum Teufel würde an den Zehen eines anderen Menschen saugen? »1st alles in Ordnung mit dir?« Er hörte ihre Stimme und fühlte ihre Hand auf seinem Arm. »Ja, klar. Warum fragst du?« Er riß die Augen auf. »Du hast gestöhnt.« O Gott. »Ich weiß nicht, wo ich in Gedanken gerade war.« Sie lächelte ihn an. »Ich finde das einfach toll. Acapulco!« 1969 war Acapulco noch ein Ziel für Traumreisen. In der Nacht vor dem Abflug hatte Carly kaum schlafen können. Cole hatte ihr den Fensterplatz angeboten und lachte über die begeisterten Ausrufe, die sie ausstieß, als sie die zerklüfteten Gebirgsketten sah, welche sich nach Mexiko vorschoben. Ab und zu berührten sich ihre Ellbogen. Sie mochte Coles Geruch und nahm an, daß es der von einem kostspieligen Aftershave war. Ob er wohl das Parfüm roch, für das sie soviel Geld ausgegeben hatte? Außerdem hatte sie einen skandalösen Betrag für ein Nachthemd und ein Neglige hingelegt, ganz zu schweigen von der Summe, die sie für einen neuen Badeanzug hingeblättert hatte. Der Rest ihrer Ersparnisse war für zwei Abendkleider drauf gegangen. Sie fragte sich, warum sie das Nachthemd eigentlich gekauft hatte. Es war höchst unwahrscheinlich, daß Cole es zu sehen bekam. Cole griff mit geschlossenen Augen nach ihrer Hand und hielt sie fest, und dabei malte er sich aus, ihre Brüste seien unbedeckt, und er stellte sich vor, wie er seine Hand auf ihren weißen Bauch preßte, die blaue Ader an ihrem Hals küßte, sie zart in die Schulter biß und seine Zunge in ihr Ohr schnellen ließ. 114
Er war bisher noch nie von einer Frau besessen gewesen. Während seiner Zeit in Harvard hatte er Frauen gehabt, und auf seine Studienjahre in Stanford traf das erst recht zu, doch unter all diesen Frauen war Alex die einzige, über die er sich jemals ernstliche Gedanken gemacht hatte. Und wenn er an sie gedacht hatte, dann hatte es sich meistens darum gedreht, daß er sich fragte, ob sie wohl jemals ihre kühle Reserviertheit ablegen würde, ob ihr die Dinge, die sie miteinander taten, wirklich Spaß machten und ob sie sich selbst und ihn jemals als ein Paar ansah, wenn sie miteinander schliefen. Ihm kam es vor, als erlebte sie die Lust in einem Vakuum, das nichts mit ihm zu tun hatte. Alex gab sich dem Sex nie hin, sondern schien etwas von ihm, Cole, zu fordern. Er war nie sicher, ob er ihre Forderungen erfüllte oder nicht. Carly mit ihren feuchten Lippen und diesen runden blauen Augen wirkte auf ihn ganz so, als würde ihr Sex tatsächlich Spaß machen. Er fragte sich, ob sie für ihn dasselbe empfand, und manchmal glaubte er es. Es lag in der Art, auf die sie ihn ansah. Und nun flog er mit Carly in die Tropen. Bald würde er sie in seinen Armen halten, denn er wußte jetzt schon ganz genau, daß er mit ihr tanzen würde. Niemand konnte ihm vorwerfen, das ginge zu weit, doch ihr Körper würde sich gemeinsam mit seinem bewegen, und sie würde ihm so nahe sein, daß er ihren Atem fühlen konnte. Es stellte sich heraus, daß Señor Rosas tadellos Englisch sprach. Und er hatte einen sicheren Blick für schöne Frauen. Er begehrte Carly seit dem ersten Moment ihres Zusammentreffens. Sie war so blond, so kurvenreich und so verführerisch. Und gleichzeitig waren da diese großen, runden Augen, die so unschuldig wirkten, und dieses hemmungslose Lachen. Er hatte den Verdacht, daß Mr. Coleridge sie mitgebracht hatte, damit sie ihn verführte und das Geschäft auch ganz bestimmt zustande kam. Und doch flirtete sie nicht mit ihm und stellte auch ihre beträchtlichen Reize nicht übermäßig zur Schau. Er wußte, daß sie und Cole getrennte Zimmer hatten, da er die Reservierungen persönlich vorgenommen hatte. Er hatte seine Frau mitgebracht, eine wunderschöne Frau, und er hoffte, Mr. Coleridge würde sie bezaubernd finden. Sollte der reiche Amerikaner doch mit eigenen Augen sehen, daß auch mexikanische Frauen kultiviert und reizvoll sein konnten. Er war stolz auf seine Frau und sah sie nicht nur als die ausgezeichnete Mutter ihrer drei Kinder an, sondern auch als eine gute Kapitalanlage. Señora Rosas war bezaubernd. Und sie sah eher nach einem 115
Fotomodell aus, das man auf dem Titelblatt von Vogue erwartet hätte, als nach einer Mutter von drei Kindern, von denen zwei bereits Teenager waren. Die Männer einigten sich darauf, sich um sechs Uhr wieder zu treffen, um die geschäftlichen Angelegenheiten zu besprechen, aber jetzt war Siesta-Zeit. Carly war dankbar dafür, denn sie fragte sich, wie lange sie sich nach zwei Margaritas zum Mittagessen wohl noch hätte wach halten können. »Ich gehe an den Strand«, sagte sie auf dem Weg nach oben im Aufzug zu Cole. »Dort werde ich mich unter einen dieser Sonnenschirme legen und mich von der Brandung einlullen lassen, als ob ich etwas Derartiges noch nötig hätte, um augenblicklich einzuschlafen. Kein Wunder, daß die Mexikaner auf ihrer Siesta bestehen.« Cole wußte, daß er in zwei Stunden keineswegs in der Gemütsverfassung für eine geschäftliche Besprechung sein würde, wenn er sich ihr jetzt anschloß. Er würde sich in seinem Zimmer hinlegen und einen kurzen Mittagsschlaf halten, kalt duschen und sich dann umziehen, ehe er sich mit Señor Rosas traf. Er würde Carly aus seinen Gedanken und aus seiner Sichtweite verbannen und sich darauf konzentrieren, in welchem Umfang die Bank seines Erachtens in dieses mexikanische Geschäft einsteigen sollte. Im Moment schienen die Aussichten recht verlockend. Morgen, am Dienstag, würde er seinen Vater anrufen, um die Einzelheiten mit ihm zu besprechen. Am Mittwoch wollte Señor Rosas mit ihnen in seinem Privatflugzeug zu einem kleinen Fischerdorf fliegen, denn sein Traum war es, die kilometerlangen Sandstrände der Umgebung in Mexikos nächstes exklusives Urlaubsparadies zu verwandeln. Sollte die Mittelklasse ruhig nach Puerto Vallarta und nach Mazatlán reisen, doch was ihm vorschwebte, war eine überwältigende, luxuriöse Ferienanlage, die alles bisher Dagewesene übertraf und die kühnsten Phantasien der Reichen und Berühmten in den Schatten stellte, damit sie sich darum rissen, dort, und nur dort, ihr Geld auszugeben. Er hatte nicht vor, das Projekt innerhalb der nächsten zwei Jahre in Angriff zu nehmen, sondern es war erst nach der Fertigstellung des derzeitigen Hotelvorhabens eingeplant. Señor Rosas stammte aus Monterrey, wo seine Familie ihr Vermögen mit Stahl gemacht hatte, und jetzt wandte er seinen Blick anderen Horizonten zu. Wahrscheinlich hätte er das Hotel von seinem eigenen Geld bauen 116
können, doch er wollte amerikanisches Kapital heranziehen und amerikanische Kontakte knüpfen, um Amerikaner anzulocken, damit sie ihre Ferien in seiner Hotelanlage verbrachten. »Für den Bau werden wir mexikanische Arbeitskräfte heranziehen, wie es die Gesetze vorschreiben, aber ich will amerikanisches Know-how, einen amerikanischen Architekten. Die Amerikaner, die zu Besuch kommen, sollen nicht darüber klagen können, daß es an irgendwelchen Luxuseinrichtungen fehlt, die sie gewohnt sind, aber ich möchte auch, daß es den Charme Mexikos ausstrahlt.« »Wenn für den Bau mexikanische Arbeitskräfte herangezogen werden«, sagte Cole, »dann wird deren Langsamkeit und deren mangelnde Effizienz die amerikanischen Bauunternehmer in den Wahnsinn treiben.« Señor Rosas seufzte. »Ja, ich weiß. Darüber werde ich mir noch Gedanken machen müssen.« »Ein amerikanischer Bauleiter auf der Baustelle wäre hilfreich«, schlug Cole vor. »Ich werde mir etwas einfallen lassen«, sagte Rosas mehr zu sich selbst als zu Cole. Cole hatte Interesse an dem Projekt. Er wußte, daß auch sein Vater sich dafür interessieren würde. Eine Expansion auf Weltmärkte. Señor Rosas meinte, sie würden doch sicher etwas vom Nachtleben sehen wollen, um sich ein Bild davon zu machen, was in Acapulco alles los sei. Wie wäre es mit acht Uhr im Hotelfoyer? Sein Wagen erwarte sie. Carly sah einfach umwerfend aus. Sie hatte sich das Haar hochgesteckt, und neben ihrer linken Gesichtshälfte fiel es in dichten Locken herunter. Das schwarze Chiffonkleid wurde von hauchdünnen Trägern gehalten, die mit Bergkristallen besetzt waren, und von der Taille aufwärts schmiegte es sich eng an sie, wohingegen der Rock in weichen Falten von ihrer Taille herabfiel. Sie hatte sich für rote Satinschuhe mit hohen Absätzen entschieden, und über den baumelnden Ohrringen, die zu den Trägern des Kleides paßten, trug sie im Haar eine einzige riesige rote Hibiskusblüte, die sie im Garten gepflückt hatte. Die roten Akzente hätten die ältere Coleridge-Generation erschüttert, soviel stand für Cole fest, doch er fand Carly unglaublich reizend und verführerisch. Er hatte gewußt, daß ihre Schultern so aussehen würden. Normalerweise hätte es Cole Freude bereitet, mit jemandem wie Señora Rosas zu tanzen, dieser exotischen Schönheit, mit der man sich intelligent unterhalten konnte und die mehr redete, wenn 117
sie nicht von ihrem Mann in den Schatten gestellt wurde, doch er vermochte seine Blicke einfach nicht von Carly loszureißen, die am anderen Ende der Tanzfläche mit Señor Rosas tanzte. Der Mexikaner hatte Carly bereits dazu aufgefordert, ehe Cole auch nur die Gelegenheit gefunden hatte, sich zu setzen. »Senorita Anderson scheint sich blendend zu amüsieren«, sagte Señora Rosas, der Coles Blicke nicht entgingen. »Heute nachmittag am Strand haben wir vorwiegend spanisch miteinander geredet. Ihre Aussprache ist ganz ausgezeichnet.« Cole fragte sich, warum ihn das mit Stolz erfüllte. Die Musik ging in einen schnellen lateinamerikanischen Rhythmus über, und er mußte sich bei der Señora entschuldigen. »Ich fürchte, das ist nicht die Art von Musik, zu der ich tanzen kann.« Sie bahnten sich einen Weg an ihren Tisch und setzten sich. Carly und Señor Rosas hielten Schritt mit der Musik, und Cole fiel auf, daß Carly schon jetzt die Blicke sämtlicher Männer und die der meisten Frauen auf sich gezogen hatte. Kurz darauf stand das Paar im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und kostete es sichtlich aus. Cole sah, daß Señor Rosas Carly etwas ins Ohr flüsterte, und als sie mit einem Nicken reagierte, strahlten und funkelten ihre Augen. Die beiden tanzten zu dem Podium rüber, auf dem die Musiker spielten, und Rosas sagte etwas zu ihnen. Wenige Minuten später setzte die Kapelle zu einem Tango an. Die Tanzfläche leerte sich, und Carly und Rosas übernahmen die Bühne und boten ihrem Publikum ein echtes Spektakel. Wo um alles in der Welt hatte sie gelernt, so meisterlich Tango zu tanzen? Señora Rosas lächelte, trank einen Schluck von ihrer Margarita und kostete die Darbietung ihres Mannes genüßlich aus. »Sind die beiden nicht phantastisch?« sagte sie. Er vermochte keine Spur von Eifersucht in ihrer Bemerkung zu entdecken. Warum konnte er es nicht genießen, als Beobachter mitzuerleben, wie Carly im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und warum konnte er nicht einfach stolz darauf sein, daß sie seine Begleiterin war? Er wußte ganz genau, warum. Er begehrte sie. Er wollte sie ganz für sich allein haben. Er sehnte sich danach, sie in seinen Armen zu halten und zu spüren, wie sie sich an ihn schmiegte und sich gemeinsam mit ihm bewegte, zu sehen, wie ihre Augen lachend zu ihm aufblickten. Er hatte sie, und das war ihm bewußt, schon von dem Moment an begehrt, in dem er sie zum erstenmal in der Tür zu seinem Büro hatte stehen sehen. Die anderen Tänzer klatschten 118
jubelnd Beifall, als das Stück zu Ende war, und er sah, wie Carly und Rosas sich zwischen den Tischen hindurchschlängelten. Als sie wieder bei ihnen am Tisch waren, stand er auf, um Carly den Stuhl zurechtzurücken. »Ist es nicht herrlich?« sagte Carly atemlos. »Meine Güte, Señor Rosas, Sie verstehen sich wahrhaftig auf das Tanzen. Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so gut amüsiert habe.« Aber als sie sich setzte, nahm sie unter dem Tisch Coles Hand und drückte sie. Er sah sie an, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Hand blieb in seiner liegen, und ihr Bein streifte flüchtig seines. Das Orchester präsentierte jetzt übergangslos ein Potpourri amerikanischer Schlager. »Jetzt bist du dran«, forderte sie Cole auf. Er erhob sich, reichte ihr die Hand und führte sie auf die Tanzfläche. »Wir haben noch nie miteinander getanzt«, sagte sie, und ihre Stimme war ein Flüstern. »Ich habe nächtelang an die Decke gestarrt und mich gefragt, was für ein Gefühl es wohl ist, in deinen Armen zu liegen.« Er zog sie an sich, so eng, daß er ihren Herzschlag und ihre Atemzüge spüren konnte. »Und es könnte passieren, daß du die nächsten fünf Tage eben dort verbringst.« Er fragte sich, warum seine Stimme so unnatürlich klang. »In meinen Armen.« »Ich finde, das hört sich vielversprechend an«, hauchte sie ihm ins Ohr.
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16 In Verity summte Francey fröhlich vor sich hin. Das neue Haus war zwar noch nicht ganz fertig, doch Walt und sie waren bereits eingezogen. Es war ein freundliches, weitläufiges einstöckiges Anwesen mit zehn Zimmern. Man hätte meinen können, es bestünde nur aus Fenstern, denn überall war Glas; man konnte auf die Landschaft hinausschauen und meilenweit sehen, sogar ans andere Ende der Stadt und über die Wipfel hinweg, hinter denen die Trauerweiden und der Teich von den Weiden sich abzeichneten. Francey nannte das Haus ihre Zufluchtsstätte. Die Küche war mit mehr Haushaltsgeräten bestückt als das Restaurant, und doch strahlte sie eine Atmosphäre von Behaglichkeit aus, und sie aßen öfter dort als im eigentlichen Eßzimmer. Es gab auch ein Büro, und da sie beschlossen hatten, daß sie selbst dann nicht voneinander getrennt sein wollten, wenn sie Arbeit mit nach Hause brachten, war es mit zwei großen Schreibtischen aus dunklem Eichenholz eingerichtet, die an gegenüberliegenden Wänden des Raums standen, damit sie einander nicht störten, falls sie beide gleichzeitig dort arbeiten sollten. Hier beschäftigte sich Francey mit ihrer Buchführung und schrieb jeden Morgen ihre Bestellungen. Wenn Walt seinen Schreibtisch überhaupt benutzte, dann tat er es abends, wenn Francey sich im Restaurant aufhielt. Er nahm seine abendlichen Mahlzeiten dort ein. Francey hatte es so eingerichtet, daß sie stets Zeit hatte, in Ruhe mit ihm zu essen. Sie änderte die Speisekarte jede Woche, damit er der Gerichte niemals überdrüssig werden würde. In das Schlafzimmer, dachte Francey, hätten mühelos die beiden Schlafzimmer des kleinen Hauses gepaßt, in dem sie vorher gelebt hatte, und das Wohnzimmer noch dazu. Es war in Wedgwoodblau und Eierschalfarben gehalten, und Francey hatte es überrascht, daß Walt so viel Interesse an der Inneneinrichtung des Hauses gezeigt und sich bei der Auswahl der Möbelstücke so aktiv engagiert hatte. Sie wußte seinen Geschmack zu schätzen. Sie sagte ihm, sein Geschmack sei entschieden eine Bereicherung für sie gewesen. Sie fand, daß das ganze Haus so aussah, daß es auf dem Titelblatt von Better Homes & Gardens hätte abgebildet werden können. Nie hatte sie ein Haus gesehen, für das sie sich noch mehr begeistert hätte. Eine Prinzessin in einem Märchen, genau das war aus ihr geworden. Eines wunderschönen Morgens, als sie beim Frühstück saßen und 120
Francey auf den Garten hinter dem Haus hinausschaute, in dem in säuberlichen Reihen Ringelblumen, Petunien und Rosen angepflanzt waren, eingefaßt von üppiger, bunter Kapuzinerkresse, die Abwechslung in das Gesamtbild brachte, sagte sie: »Wäre es nicht prima, wenn wir ein Gewächshaus hätten? Wir könnten Samen aussäen, und dann hätten wir das ganze Jahr über Setzlinge, die wir verpflanzen könnten. Und wir hätten die Möglichkeit, unsere eigenen Kräuter anzubauen.« Weder Walts Mutter noch seine Frau hatten jemals mit frischen Kräutern gekocht. Keine von beiden war Zeit ihres Lebens über die Zwiebel hinausgelangt, wenn es darum ging, das Fleisch, das üblicherweise auf den Tisch kam, raffiniert zu würzen. Es war nichts weiter als eine beiläufige Bemerkung, die sie von sich gegeben und zwei Minuten später schon wieder vergessen hatte. Walt äußerte sich nicht dazu. Aber dreieinhalb Wochen später fuhr an einem Montagnachmittag um halb drei ein Lieferwagen vor dem Haus der Davis’ vor. »Wo sollen wir es abladen?« fragte der Fahrer Francey. Es war ein Fertigbausatz, in Hunderte von Teilen zerlegt, und erst nach Einbruch der Dunkelheit hatten es der Fahrer und ein Helfer geschafft, die Einzelteile des Gewächshauses abzuladen, das dreieinhalb auf viereinhalb Meter groß war und auch eine automatische Berieselungsanlage einschloß. Francey konnte es kaum glauben. Sie kicherte die ganze Zeit über, während die Männer sich damit abrackerten, diese Unmengen von Glas und Metall abzuladen. Als Walt die lange Auffahrt heraufkam und den Lastwagen sah, erwartete Francey ihn bereits, und er konnte einen Kuchen im Ofen riechen. Er hätte gewettet, daß es sich um einen Schokoladenkuchen handelte. Francey begrüßte ihn mit einem Kuß, was keineswegs ungewöhnlich war, doch sie schlang auch die Arme um ihn und sagte mit erstickter Stimme: »Es gibt auf der ganzen Welt keinen zweiten Menschen, der so bezaubernd ist wie du.« »Komisch«, entgegnete er mit einem breiten Grinsen, »und ich dachte, es sei genau umgekehrt.« »Du alberner Kerl, ich habe keine Ahnung vom Aussäen und Verpflanzen.« »Tja, wenn das so ist, dann laß uns in die Bücherei rübergehen«, schlug er vor. Diese war im zweiten Stock des Gebäudes untergebracht, dessen Erdgeschoß das Elektrizitätswerk belegt hatte. »Da finden wir sicher ein paar Kataloge, die wir uns dann schicken 121
lassen. Wir könnten aber auch zu dieser Buchhandlung in Corpus Christi fahren und uns ansehen, was es dort gibt. Du kannst alles in Ruhe nachlesen, während wir das Gewächshaus zusammenbauen.« »Wir? Von so was verstehe ich nicht das geringste.« »Dann ist es höchste Zeit, daß du deinen Horizont erweiterst.« An den Wochenenden, ehe Francey sich um vier Uhr nachmittags auf den Weg zu den Weiden machte, hatten sie beide viel Spaß daran, all die Einzelteile zusammenzubauen. Im November und Dezember brüteten sie über Katalogen von Park Seed, Burpees und der White Flower Farm, ja sogar von Thompsons und Morgans aus dem fernen England. Walt zeichnete Pläne, und immer wieder saßen sie gemeinsam da und diskutierten darüber, was sie wo anbauen wollten, und schließlich gelangten sie zu dem Entschluß, sie sollten vielleicht das Grundstück dazukaufen, das sich hinter dem Haus an ihres anschloß, damit sie mit all diesen Samen all das verwirklichen konnten, was ihnen vorschwebte. Im Frühling, nachdem sie die Erde genauso zusammengemischt hatten, wie es in den Büchern stand, und in mühseliger Kleinarbeit jeden einzelnen Setzling in der jeweils vorgeschriebenen Tiefe eingepflanzt und sie alle mit kleinen Schildchen beschriftet hatten, saßen sie auf der Terrasse hinter dem Haus, tranken Eistee und starrten über den Pool hinweg das Gewächshaus an, als könnten sie sehen und hören, wie die Samen durch die dunkle Erde sprießten. Walt ging nie ins Bett, ehe Francey gegen zehn vom Restaurant nach Hause kam. Er wartete immer auf sie, und wenn die Abende warm waren, schleuderten sie die Schuhe von den Füßen und tanzten zu den Klängen von Tony Bennett oder Frank Sinatra, die aus dem Wohnzimmer durch die offenen Fenster nach draußen drangen. Da sich Carly in ihren allwöchentlichen Briefen immer nach Zelda Marie erkundigte, beschloß Francey, einmal selbst zu ihr rauszufahren und sich ein Bild davon zu machen, wie es ihr ging. Sie war seit dem Empfang, der vor fast acht Jahren zu Zelda Maries Hochzeit veranstaltet worden war, nicht mehr bei den Spencers draußen gewesen. Als Francey die lange, von Bäumen gesäumte und unbefestigte Straße hinaufgefahren war, vorbei an dem großen Haus der Spencers, und auf den Feldweg zu dem Häuschen einbog, in dem Zelda Marie wohnte, war sie entsetzt über den Anblick, der sich ihr bot. Zelda Maries Rasen sah aus, als wäre er seit Jahr und Tag nicht mehr gemäht worden. Lämmer tollten auf einer Wiese neben dem Haus 122
herum, und überall waren kleine Katzen und Welpen. Auf der Veranda vor dem Haus lagen Spielsachen verstreut, die so aussahen, als hätte die Heilsarmee sie ausrangiert. Von zwei AdirondackStühlen und einer hölzernen Schaukel, die von der Decke hing, blätterte die Farbe ab. Zelda Marie mußte Francey gehört haben, als sie die Auffahrt hinaufgefahren war, denn sie öffnete das Moskitogitter in der Tür, das drei große Löcher hatte, und sah sie lächelnd an. »Was für eine wundervolle Überraschung. Ich fiele Ihnen ja gern um den Hals, aber ich habe leider keine Hand frei.« Auf einer Hüfte hatte sie ihr kleinstes Baby sitzen, und an der anderen Hand hielt sie ein Kind, das gerade erst dabei war, das Laufen zu lernen. Im Haus sah es aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefegt. Francey verspürte den Drang, die Ärmel hochzukrempeln, sich eine Schürze umzubinden und das ganze Haus zu schrubben. In der Küche türmte sich das schmutzige Geschirr. Drei weitere Kinder im Alter von zwei bis sieben rannten barfuß herum, stolperten über Spielsachen, schrien aus Leibeskräften und gaben vor, Indianer zu sein. Sie alle trugen Stirnbänder mit Papierfedern, die mit Buntstiften bemalt waren, als Kopfputz. Auf dem Eßtisch waren zahllose Papierschnipsel, zwei Dutzend Buntstifte und Scheren verstreut. »Sie sehen selbst, womit wir gerade beschäftigt waren«, sagte Zelda Marie zu Francey. Aus ihrer Stimme war keine Spur von einer Entschuldigung herauszuhören. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« Francey zögerte, doch dann beschloß sie, gegen ihren Ekel vor den Zuständen in der Küche anzukämpfen, damit Zelda Marie sich hinsetzte und mit ihr redete. »Ja, gern«, sagte sie. Zelda Marie schenkte den älteren Kindern Kool-Aid ein und scheuchte sie aus dem Haus, legte das Baby in das Kinderbettchen und hatte jetzt nur noch den knapp Zweijährigen um sich, der sich an ihren Rockzipfel klammerte. Seit die Kinder draußen spielten, schien es vergleichsweise still im Haus zu sein, und Francey begann wieder etwas freier durchzuatmen. Sie und Zelda Marie, die dem Zweijährigen ein paar Plätzchen gab, setzten sich an den zerschrammten Küchentisch, auf dem das Chaos noch von den künstlerischen Bestrebungen der Kinder zeugte. »Carry sagt, sie hört gar nichts mehr von dir, und da dachte ich mir, ich erstatte ihr einen Augenzeugenbericht.« Zelda Maries Gesichts war abgespannt und müde. »Sie können ihr selbst einen Eindruck davon vermitteln, warum ich keine Zeit zum Schreiben finde. All 123
diese Kinder. Manchmal glaube ich, ich sollte mir den Eileiter abbinden lassen. Ich schwöre es Ihnen, Joe Bob braucht mich nur anzusehen, und schon bin ich schwanger.« »Und warum«, sagte Francey, die überrascht darüber war, wie gut der Kaffee schmeckte, »tust du es dann nicht?« »Warum ich was nicht tue?« fragte Zelda Marie. »Sie meinen, mir den Eileiter abbinden lassen? Das geht nicht. Joe Bob wäre außer sich. Er ist katholisch.« »Bist du katholisch?« »Nein, aber…« »Mir scheint, hier geht es um deinen Körper.« Zelda Marie dachte darüber nach. »Kann sein, doch Joe Bob würde wütend werden.« Francey legte den Kopf schief und sah die junge Frau an. »Und was ist mit dir? Macht es dir Spaß, Jahr für Jahr all diese Babys zu bekommen?« »Nun ja, ich liebe sie wirklich alle, doch jetzt reicht es mir, glaube ich. Aber ich kann nichts dagegen tun. Gut klingt das schon. Natürlich würde ich es vorziehen, nicht ständig schwanger zu sein, und ich schaffe es weiß Gott kaum noch, mit all diesen Kindern fertig zu werden. Joe Bob rührt nie auch nur einen Finger. Wenn ich nicht einen großen Gemüsegarten bestellen würde und wenn wir nicht unser eigenes Fleisch hätten, dann wüßte ich nicht, wovon wir leben sollten. Und abends ist er sowieso meistens nicht zu Hause, weil er angeblich den Lärm nicht aushält, den die Kinder machen.« Francey starrte sie an und sagte kein Wort. Zelda Marie sah ihr ins Gesicht. »Sie fragen sich sicher, ob mir klar ist, was ich da sage, stimmt’s? Verstehen Sie, er würde gehen, wenn ich mir den Eileiter abbinden ließe…« Francey starrte sie weiterhin wortlos an. Zelda Marie begann zu lachen. »Ich finde es einfach wunderbar, Mistress Davis, daß Sie zu mir rausgefahren sind und mich dazu gebracht haben, daß ich endlich wieder anfange, mir Gedanken zu machen.« Sie beugte sich vor und drückte Francey einen Kuß auf die Wange. »Ich glaube nicht einmal, daß das heute noch ein größerer Eingriff ist. Ich habe gehört, daß dafür schon die Lasertechnik eingesetzt wird. Sie brauchen dich nicht mal mehr aufzuschneiden«, sagte Francey. »Ich werde darüber nachdenken, ehrlich. Das werde ich ganz bestimmt.« Zelda Marie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Kommen Sie mit mir rüber in den Stall. Ich habe ein paar Lämmer, die ich um diese Uhrzeit füttern muß. Sie können mir dabei helfen.« 124
Francey stellte fest, daß Zelda Marie außerdem auch ein verwaistes männliches Fohlen aufzog, das ihr Vater ihr überlassen hatte. Als Francey ging, sagte Zelda Marie: »Richten Sie Carly aus, daß ich oft an sie denke und daß sie mir fehlt, und wenn sie nach Hause kommt, soll sie mich sofort besuchen.« Sie gaben einander zum Abschied einen Kuß. »Ich begreife nicht, wie Sie es anstellen, so gut auszuschauen«, sagte Zelda Marie. »Meine Mutter sieht wie eine Mutter aus. Sie sehen aus, als sollten Sie zum Film gehen. Mister Davis kann sich wirklich glücklich schätzen.« »Wenn sich hier jemand glücklich schätzen darf, dann bin das ich«, erwiderte Francey. »Schön zu wissen, daß es auch Leute gibt, die glücklich verheiratet sind«, sagte Zelda Marie. Francey schüttelte während der Rückfahrt in die Stadt ununterbrochen den Kopf. Sie fragte sich, woher Zelda Marie dieses Durchhaltevermögen nahm. All diese Kinder und obendrein auch noch Lämmer und das Fohlen. Kein Wunder, daß es in ihrem Haus so aussah.
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17 Carly blickte Cole lächelnd an, als sie mit ihm tanzte. »Ich wüßte nicht, wann ich mich jemals besser amüsiert hätte«, sagte sie. Er zog sie noch enger an sich. Seine Stimme war gesenkt, und seine Lippen waren dicht an ihrem Ohr. »Du siehst wunderschön aus.« Aber wann wäre das nicht der Fall gewesen? Sie schob ein Bein etwas weiter vor und schmiegte es bewußt an seines. Zwar fühlte sich seine Hand auf ihrem Rücken unpersönlich an, doch das traf keineswegs auf seinen Blick zu. Sie fragte sich, ob er auch nur den geringsten Sinn für Verspieltheit hatte. Nun, vielleicht konnte sie eine Spur von Ausgelassenheit in ihm wecken. Ihr blieben schließlich noch ein paar Tage. Sie war seit Boomer Bannerman mit keinem Mann mehr im Bett gewesen, und dieser hier, der sich immer wie ein Gentleman benahm, stellte eine Herausforderung für sie dar. Sie schmiegte sich von Kopf bis Fuß an ihn, spürte, wie seine Hand sich fester um ihre schloß, und lächelte in sich hinein. Die Rosas’ führten sie in einen zweiten Nachtclub und dann in einen dritten. Cole trank zwar nicht allzuviel, bestellte in jedem der Clubs nur ein einziges Getränk, doch als sie den dritten Club erreichten, war es bereits nach Mitternacht, und Cole war so weit aufgetaut, daß Carly ihn dazu überreden konnte, sich am Cha-Cha-Cha zu probieren. »Du bist ein wunderbarer Tänzer«, sagte sie zu ihm und war ganz und gar von dem durchdringenden Rhythmus des Tanzes erfüllt. »Das liegt an Miss Shibleys Tanzschule«, erwiderte er lachend und verspürte ein ganz neuartiges Gefühl von Freiheit. Es war vollkommen klar, daß er in das Geschäft mit Señor Rosas einsteigen würde, und vielleicht würde er seinen Vater gar nicht erst deswegen anrufen. Einfach selbst entscheiden. Sein Rhythmus beim Tanzen war etwas, was Carly sich bei einem so steifen Mann niemals hätte vorstellen können. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, als sie den Cha-Cha-Cha tanzten. Und während der langsamen Stücke fühlte sich seine Hand auf ihrem Rücken gar nicht mehr unpersönlich an. Er hielt sie ganz so, als gehörte sie ihm, als wäre sie ein Teil von ihm, und er preßte sie so an sich, daß sie wußte, wie deutlich er ihre Brüste spüren konnte, die sich an ihn drängten. Sie schmiegte ihre Wange an seine und pustete 126
ihm zart ins Ohr. Fast wäre er aus dem Takt geraten. Er zog den Kopf zurück, um ihr in die Augen zu sehen. »Na, so was, Carly Anderson, ich glaube fast, du willst dir einen Spaß mit mir erlauben.« Sie lächelte. Sie hätte schwören können, daß sie seinen Herzschlag durch sein Hemd fühlte, aber sie spürte auch, wie ihr eigenes Blut in ihren Adern rauschte. Als sie an den Tisch zurückkehrten, sagte Señor Rosas: »Meine Frau meint, es sei höchste Zeit, daß sie ins Bett kommt.« Aber Carly hatte gesehen, wie sie die Köpfe zusammengesteckt hatten und hegte den Verdacht, daß Señora Rosas ihrem Mann gesagt hatte, es sei besser, Cole und Carly jetzt allein zu lassen. Als er sie vor dem Hotel absetzte, erklärte Señor Rosas, er habe für morgen nichts geplant, damit Cole mit seinem Vater reden und sich eingehend mit den Zahlen befassen könne, die er ihm vorgelegt habe. Am Mittwoch morgen hole er sie um neun Uhr ab, um mit ihnen in den Norden zu fliegen, damit sie sich das Anwesen ansehen konnten, das er in absehbarer Zukunft erschließen wolle. Als sie unter der Markise standen, fragte Cole: »Möchtest du einen Schlummertrunk?« »Eigentlich nicht«, antwortete Carly. »Aber ich würde gern einen kleinen Spaziergang machen. Die Luft ist so weich. Und ich liebe es, den Geräuschen der Brandung zu lauschen.« »Komm«, sagte er und nahm sie an der Hand, um sie die Stufen zum Strand hinunterzuführen. Sie schlüpfte aus den hochhackigen Schuhen, ließ sie neben einem roten Jasminbaum liegen und lief barfuß hinter Cole her. Aus der Ferne drang Musik durch die Nachtluft, die nach tropischen Blüten duftete. »Ich komme mir vor, als wäre ich in einen romantischen Liebesfilm geraten«, sagte Carly. »Der ganze Tag ist einfach großartig gewesen. Ich kann mir keinen schöneren Tag ausmalen.« Cole blieb stehen und drehte sich um. Er war einen Schritt vor ihr und hielt sie immer noch an der Hand. Jetzt zog er sie an sich. Mit seiner anderen Hand strich er ihr über die Wange, als er sagte: »Das wünsche ich mir schon den ganzen Abend.« Seine Lippen senkten sich auf ihren Mund herab. Carly seufzte. »Ich habe mir auch schon den ganzen Abend gewünscht, du würdest es tun.« Er küßte sie noch einmal, ehe sie ihren Spaziergang am Strand fortsetzten. Das Meer rollte sacht auf den Sand. Die funkelnden Sterne schienen zum Greifen nah. 127
Als Carly ihren langen Rock anhob und in das warme Wasser watete, glaubte Cole, ihm hätte sich nie ein hinreißenderer Anblick geboten. »Weißt du überhaupt, wie bezaubernd du bist?« fragte er laut und überlegte, ob er die Schuhe und die Socken ausziehen und mit ihr ins Wasser waten sollte. Mit dem gerafften Rock in den Armen drehte sie sich um und lächelte ihn an. »Im Moment fühle ich mich schön. Ich mag es, wie du mich ansiehst.« Er sagte nichts, sondern blieb auf dem trockenen Sand stehen und wünschte, er könnte so ausgelassen sein, so frei, wie sie es zu sein schien. Er begehrte sie so sehr, wie er noch nie eine andere Frau begehrt hatte, so sehr, wie er sich vielleicht noch nie zuvor etwas gewünscht hatte. Ob er es wohl wagen würde? Würde sie es ihm übelnehmen? War es noch zu früh dafür? Es war ihm vollkommen gleich. Für ihn zählte nur der Augenblick, und zum erstenmal in seinem Leben ließ er sich auf etwas ein, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Carly watete aus dem Meer heraus und in seine Arme. Nachdem sie Hand in Hand die vielen Stufen hinaufgestiegen waren und sie ihre Schuhe neben dem Jasminbaum aufgehoben hatte, nahmen sie den Aufzug nach oben. Cole folgte ihr in ihr Zimmer und beugte sich herunter, um sie zart zu küssen. Carly schaltete augenblicklich die Klimaanlage aus, ging zu den gläsernen Schiebetüren, ließ sie zur Seite gleiten, schlenderte auf den Balkon und drehte sich dort wieder zu Cole um. Er zog sein Jackett aus und hing es sorgfältig über einen Stuhl. Dann trat er auf den Balkon hinaus und nahm Carly in seine Arme. Er grub eine Hand in ihr Haar, bog ihren Kopf zurück und küßte ihren Hals. Er fand ihren Mund, öffnete ihn mit seiner Zunge, schlang die Arme um sie und zog sie an sich. Konnte sie tatsächlich fühlen, daß sein Herz im selben Takt wie ihres schlug? Die gleichmäßigen Schläge waren wie Urwaldtrommeln mit ihrem hypnotischen Rhythmus. Sie spürte, wie seine Zunge ihre berührte. Seine Finger streichelten ihr Gesicht. Verlangen wogte mit einer schmerzhaften Heftigkeit in ihr auf. Er öffnete den Reißverschluß ihres Kleides, führte sie zum Bett, setzte sich darauf, streifte mit den Händen die Träger des Kleides von ihren Schultern und ließ es auf den Boden fallen. Sie zog ihren Slip aus und schleuderte ihn von ihren Füßen. Als Cole sie ansah, stöhnte er. Ihre Hände glitten über seine Handgelenke und immer höher seine Arme hinauf, während seine Küsse fordernder wurden. 128
Dann hob er sie hoch und legte sie auf das Bett, ließ sich auf sie nieder und sah mit Augen auf sie herunter, die vor Leidenschaft glasig waren. Er nahm ihre Hand in seine und küßte langsam jeden ihrer Finger und dann den Puls, der an ihrem Hals pochte. Sie wölbte ihren Körper unter ihm, schrie auf und zog ihn in sich hinein. Sie liebten sich in einem rasenden Rhythmus und mit zügelloser Leidenschaft. Schauer durchzuckten Carly und ließen sie beben. Die Intensität kam unerwartet. Sie wollte, daß es nie mehr aufhörte. Sie wollte, daß die Bewegung, der Rhythmus, das wellenförmige Zusammenkommen sich ewig fortsetzten, als die sachten, unablässigen Wogen von Wärme über sie hinwegfluteten, sich überschlugen und brachen, bis sie nichts anderes mehr wahrnahm als eine unglaubliche Explosion der Lust. Sie hörte, wie Cole aufschrie und sein Gesicht an ihren Hals preßte. An dem Tag, an dem Carly mit Cole schlief, und zwei Tage, nachdem Alex und Boomer zum erstenmal miteinander geschlafen hatten, beschloß Zelda Marie, daß sie sich viel zuviel hatte gefallen lassen. Joe Bob erfuhr, daß seine Frau sich den Eileiter hatte abbinden lassen. Er brauchte keine zwei Sekunden, um seinen Arm durch die Luft schwirren zu lassen. Er schlug Zelda Marie so fest ins Gesicht, daß sie auf den Boden fiel. Eine Minute lang gab sie keinen Laut von sich, sondern blieb blinzelnd liegen und atmete schwer. »Du gottverdammtes Miststück. Dafür, daß du mir das angetan hast, wirst du in der Hölle schmoren.« Seine Stimme hatte sich zu einem fiesen Flüstern gesenkt. Zelda Marie zog sich hoch, stellte sich mit gespreizten Beinen hin und stemmte die Arme in die Hüften. Joe Bob hob erneut die Hand, doch ehe er ausholen konnte, zog Zelda Marie ihren rechten Arm zurück, und Adrenalin wogte in ihr auf, als sie die Faust direkt in sein Gesicht stieß und es schaffte, sie genau zwischen seinem linken Auge und der Nase landen zu lassen. Sie hörten beide das Geräusch von knirschenden Knochen. Joe Bob stieß einen wimmernden Klagelaut aus. Zelda Marie sah ihn einfach nur an. »Wenn du mich noch ein einziges Mal schlägst, dann mache ich deinem Leben ein Ende«, sagte sie, und ihre Stimme klang kalt, ruhig und sachlich. »Wenn dir nicht paßt, was ich tue, kannst du ausziehen. Dieses Haus gehört meinen Eltern, und wenn es dir nicht paßt, wie ich mein Leben lebe, dann zwingt dich niemand dazu, es 129
mit mir zu verbringen. Und von jetzt an werde ich genau das tun. Mein Leben leben. Ich werde mich nicht um die Kinder kümmern und sämtliche Aufgaben übernehmen, die auf der Ranch anfallen, und zusätzlich das Essen für dich kochen und warten, ob du überhaupt nach Hause kommst, und dann darauf warten, ob ich geschlagen werde oder nicht, je nachdem, in welcher Stimmung du bist. Du kannst gehen. Mir ist das nur recht, und ich bin froh, wenn ich dich los bin. Du bist mir ohnehin keine Stütze, und du ernährst mich auch nicht. Hol deine Sachen aus dem Kleiderschrank und geh woandershin. Ich kann dich hier nicht gebrauchen. Du rührst sowieso keinen Finger.« Sie wußte nicht, ob er auch nur ein Wort von dem gehört hatte, was sie gesagt hatte. »Verdammt, Zelda Marie«, stieß er hervor, »du hast mir die Nase gebrochen.« Sie kam näher, blieb wenige Zentimeter vor ihm stehen und blickte ihn ins Gesicht. »Wenn du mich auch nur noch einmal schlägst, wenn du jemals wieder auch nur einen Finger gegen mich oder die Kinder erhebst, dann ist das nicht das einzige, was dir gebrochen wird.« Er zog eine Grimasse des Schmerzes. »Hast du mich gehört?« Er nickte. Sie wandte sich von ihm ab, und er konnte das Lächeln auf ihrem Gesicht nicht sehen. »Und jetzt solltest du dich besser in den Wagen setzen und zu Doc Clarke fahren.« Am späten Nachmittag des kommenden Tages schaute sie zum Fenster hinaus und sah ihren Vater zu Fuß auf dem Feldweg näher kommen. Er führte seine Lieblingsstute, die hochträchtig war, am Halfter. »Ich glaube, Cleo wird innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ihr Fohlen werfen«, sagte er. »Ich muß in der Stadt eine Versammlung besuchen, und deshalb dachte ich, ich bringe sie in deinem Stall unter, damit du ab und zu nach ihr sehen kannst, bis ich nach Hause komme.« Er zwinkerte verschmitzt, denn er wußte, daß Zelda Marie sich darüber mindestens sosehr freute wie über ein Geschenk. Um halb acht sah Zelda Marie im Stall nach dem Rechten und vergaß daraufhin völlig ihre Kinder und alles andere. Sie rief ihre Mutter an, und keine zehn Minuten später eilte Mrs. Spencer über die Wiese zu ihr. Zelda Marie kam nicht einmal mehr dazu, ihre Kinder ins Bett zu bringen. Sie verbrachte den ganzen Abend mit der gepeinigten Cleo im Stall und hatte den sechsjährigen Michael J. an ihrer Seite. Zelda Marie fand, er sei alt genug, um eine Geburt mitzuerleben. Sally Mae 130
bot sie es ebenfalls an, doch ihre Tochter sagte dazu nur: »Igitt.« Cleo keuchte und schnaufte laut und wand sich vor Schmerzen. »Da stimmt etwas nicht«, sagte Zelda Marie zu ihrem Sohn. »Ich muß wohl reingreifen und das Fohlen rausholen.« »Reingreifen?« stieß er hervor. »Genau«, antwortete Zelda Marie, die durch den Stall zum Wasserhahn lief und dort begann, sich die Hände gründlich zu waschen und den rechten Arm bis hoch zum Ellbogen zu schrubben. »Sie braucht Hilfe.« Cleo lag still da und in ihren Augen war jetzt außer dem Schmerz auch Furcht. Sie rührte sich kaum noch. Zelda Marie ließ ihren Arm in die Stute gleiten, die wiehernd den Kopf zu heben versuchte. Dann stieß das Pferd ein Schnaufen aus, und Zelda Marie glaubte, es würde sterben. Die Stute lag regungslos da, und ihr Atem ging abgehackt. Zelda Marie warf einen Blick auf Mike und fragte sich, ob ihm wohl schlecht werden würde. »Das verdammte Fohlen sitzt fest.« Sie drehte ihren Arm und stöhnte dabei selbst mehrfach. Sie hoffte nur, daß sie richtig deutete, was sie im Innern der Stute fühlte. Eines der Beine des Fohlens war nach vorn gestreckt, das andere darunter angewinkelt. Langsam versuchte sie die Beine nach vorn zu biegen, und dann zog sie mit einem Ausdruck von Erleichterung auf dem Gesicht zwei kleine Hufe aus Cleo heraus, während Mike mit weit aufgerissenen Augen zusah. Zelda Marie hatte schon zahlreiche Geburten von Kälbern und Fohlen miterlebt, aber bisher hatte sie nie in eines der Tiere hineingreifen oder gar ein Fohlen umdrehen müssen, abgesehen von einer einzigen Ziege, als sie ein Teenager war. »Hier«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Besorg ein Handtuch und wisch diese kleine Schönheit trocken. Ich muß noch die Nachgeburt rausholen.« Während Mike das Fohlen abrieb, versuchte es auf seinen wackligen Beinen zu stehen. Cleo hob den Kopf. »Nur noch ein paar Minuten, Mädchen«, sagte Zelda Marie beschwichtigend. »Ein wunderschönes Fohlen!« rief Mike aus. Er hatte recht. Ein wunderschönes schwarzes kleines Fohlen, dessen Augen Zelda Marie an ein Walt-Disney-Tier erinnerten. »Es ist das schönste Pferd auf Erden«, sagte Mike. »Dann werden wir es nach dem schönsten Menschen nennen, den ich kenne«, erwiderte Zelda Marie. »Carly. Das ist meine Carly.« »Deine?« fragte die Stimme ihres Vaters von der Stalltür her, doch er strahlte über das ganze Gesicht. »Soso.« Cleo stieß ein leises 131
Wiehern aus und zog sich hoch. Sie sah sich mit hektischen Blicken um, bis sie ihr Neugeborenes entdeckte. Dann gab sie einen Laut von sich, der das Fohlen auf seinen wackligen Beinen zu ihr rief. Es begann augenblicklich zu trinken. »Woher weiß es, wie das geht?« fragte Mike. Zelda Marie zuckte mit den Schultern. »Das muß ja eine leichte Geburt gewesen sein«, sagte Mr. Spencer. »Lange kann sie nicht in den Wehen gelegen haben.« »Du hättest Ma sehen sollen«, entgegnete Mike. »Sie hat ihren Arm hinten in das Pferd reingesteckt und das Fohlen rausgezogen.« Zelda Marie und ihr Daddy blieben bis gegen zwei draußen im Stall, um sich zu vergewissern, daß das Fohlen die Milch seiner Mutter trank. Mike lehnte mit dem Rücken an einem Heuballen und schlief tief und fest. Nachdem Mrs. Spencer ihre Enkel ins Bett gepackt hatte, brachte sie bis Mitternacht Stunden damit zu, das Haus zu putzen. Dann holte sie ihr Mann in den Stall, damit sie sich das neugeborene Fohlen ansah, und sie bewunderte es so, daß man hätte meinen können, es sei ihr sechstes Enkelkind. Sie sah sich um und wünschte nur, Zelda Marie würde ihr Haus so sauber und ordentlich halten wie ihren Stall. Aber sie wußte auch, daß ein Tag nur vierundzwanzig Stunden hatte. Vielleicht hätte sie sich ebenfalls weniger daraus gemacht, wie es bei ihr zu Hause aussah, wenn ihr Mann sich ihr gegenüber gleichgültig verhalten hätte. Sie wußte, daß Zelda Marie in einem emotionalen Vakuum lebte. Jedenfalls liebte Zelda Marie ihre Kinder, das konnte man deutlich erkennen. Sie kümmerte sich nur nicht darum, was sie anhatten und was so alles in den Zimmern herumlag. Sie schöpfte ihre Befriedigung aus anderen Dingen als dem Putzen und dem Zubereiten von Mahlzeiten. Auf dem Küchentisch waren noch die kläglichen Reste des Mittagessens, als Mrs. Spencer eintraf – eine Dose kalte Bohnen, abgepackte Mortadella, halbleere Gläser mit Milch und Orangensaft. Es brach Mrs. Spencer das Herz. So würde es im Haus eines glücklichen Menschen nicht aussehen, dachte sie. Doch nicht ein einziges Mal übte sie Kritik an Zelda Marie oder sah sie auch nur so an, als hielte sie ihre Tochter nicht für eine rundum wunderbare Person. Jemand mußte ihr schließlich eine Stütze sein. Und die Kinder machten einen durchaus fröhlichen und ausgeglichenen Eindruck. Sie lachten oft und spielten zusammen, und ihre Tischmanieren waren sogar recht anständig. Und wenngleich zärtlich und liebevoll, waren sie ungestüm. Ihre 132
Großeltern begrüßten sie immer mit Freudengeheul und Umarmungen. Die Spencers blieben über Nacht und schliefen in Zelda Maries Schlafzimmer. Zelda Marie legte sich auf die Couch. Mrs. Spencer ging durch den Kopf, daß Zelda Marie wohl würde anbauen müssen, damit jedes der Kinder ein eigenes Zimmer hatte, wenn sie größer wurden. Sie wußte nicht, wie sie das anstellen sollte. Dieser nichtsnutzige Schwiegersohn brachte kaum ein Taschengeld nach Hause. Zelda Marie wäre besser dran gewesen, wenn sie ihn nicht geheiratet, sondern einfach nur das Baby bekommen und abgewartet hätte, bis sie jemanden fand, der etwas taugte. Mrs. Spencer fragte sich, ob das ihrem Mann inzwischen auch klargeworden war. Sie war froh darüber, daß sich sein Zorn auf seine Tochter mit der Zeit gelegt hatte und er sich nicht mehr so benahm, als hätte sie es nur getan, um ihm eins auszuwischen. Heute war es in erster Linie Zelda Marie, die seinem Leben einen Inhalt gab. Die beiden brüteten stundenlang über Stammbäumen von Zuchttieren, und sie züchteten Rinder und Pferde, die nach Zelda Maries Überzeugung eines Tages Züchterpreise gewinnen würden. Was Zelda Marie betraf, so baute sie ihre eigenen Nahrungsmittel an, schlachtete ihre eigenen Rinder und Schweine und wohnte mietfrei in einem Haus, das ihren Eltern gehörte. Sie nähte sämtliche Kleidungsstücke, die die Kinder trugen, selbst. Die Rinder und Pferde kosteten sie so gut wie nichts, bis auf das Körnerfutter. Das Heu und das Stroh, das sie brauchte, erzeugte sie ebenfalls selbst, sogar im Überfluß, so daß ihr noch genug zum Verkauf übrigblieb. Ich darf nicht vergessen, dachte Zelda Marie, Mrs. Davis anzurufen und mich bei ihr zu bedanken. Wenn sie an jenem Nachmittag nicht rausgefahren wäre und ihr vorgeschlagen hätte, sich den Eileiter abbinden zu lassen, dann hätte sie vielleicht so weitergemacht wie bisher und jedes Jahr ein Baby bekommen. Und sie hätte wahrscheinlich niemals gewagt, Joe Bob eine zu knallen, und wohl niemals dieses neuentdeckte Gefühl von Freiheit empfunden. Von jetzt an würde sich ihr Leben nicht mehr um Joe Bob drehen, und sie würde sich nicht mehr danach richten, ob er nach Hause kam oder nicht und was er von ihr wollte. Falls er vorhatte zu bleiben, und wenn er dann nachts mit ihr schlafen wollte, dann würde sie ihm verdammt deutlich sagen, daß er erst einmal lernen mußte, ihr Genuß zu verschaffen, statt sich einfach nur von ihr runterzurollen und einzuschlafen, nachdem er seinen Spaß gehabt hatte. Und wenn die 133
Lovetts weiterhin jeden Sonntag auf die Ranch rauskamen, dann konnten ihr die anderen Frauen bei der Arbeit unter die Arme greifen, so daß sie nicht mehr alle Speisen allein zubereiten mußte, und die Männer konnten sich ein oder zwei Stunden um die Kinder kümmern und ihnen zeigen, wie man mit Wurfringen und solchen Dingen spielte. Sie wußte, daß ihr Leben sich von jetzt an ändern würde. Dafür würde sie schon sorgen. Da Zelda Marie bis weit nach zwei Uhr bei dem neugeborenen Fohlen wachte, hatte Mrs. Spencer am nächsten Morgen bereits die Pausenbrote für Mikey und Sally Mae geschmiert und eingepackt und die beiden zum Schulbus gebracht. Zelda Marie schleppte sich so müde durch die Gegend, daß sie nicht mehr in der Lage war, klar sehen zu können, doch sie fühlte sich prima.
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18 Alex rief Tessa an und schlug ein gemeinsames Mittagessen vor, etwas, das sich inzwischen einmal wöchentlich eingebürgert hatte. Diesmal hatte sie was ganz Bestimmtes im Sinn. »Was hältst du von meiner Wohnung?« fragte Alex. »Inwiefern?« »Boomer findet, sie wirkt extrem nüchtern.« Tessa lachte. »Das kann man wohl sagen. Aber das paßt zu dir. Worüber machst du dir Gedanken?« Alex zuckte die Achseln. »Früher habe ich meine Wohnung geliebt. Ich habe immer geglaubt, sie sei der wunderbarste Schlupfwinkel im ganzen Universum. So war es auch. Aber jetzt…« Tessa lächelte und griff nach Alex’ Hand. »Das bringt die Liebe nun mal mit sich, verstehst du.« »Liebe?« Alex sah sie verwundert an. »Ich wüßte nicht, daß hier Liebe im Spiel wäre.« »Und was ist es dann?« Tessa biß mit großem Appetit in ihr Clubsandwich. »Ich bin nicht sicher. Es hat mit nichts Ähnlichkeit, was ich bisher erlebt habe. Ich weiß nie, was ich zu erwarten habe, eine Motorradfahrt, um hundert Meilen von hier zu Abend zu essen, auf Padre Island Sandburgen zu bauen, am Big Bend zu zelten, Wasserskifahren zu lernen – mein Gott, alles Dinge, die ich nie getan habe, und ich muß feststellen, daß sie mir ausnahmslos Spaß machen. Ich amüsiere mich blendend, aber Liebe? Ich weiß nicht recht.« »Wie ist er im Bett?« fragte Tessa. Alex war schockiert. Sex gehörte zu den Dingen, über die sie noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Sie spürte, daß sie errötete. »Nun ja, also, bis zum letzten Donnerstag haben wir nicht…« Tessa brach in lautes Gelächter aus. »Ist das dein Ernst? Meine Güte, warte nur, bis ich das Dan erzähle. Wir haben es als selbstverständlich vorausgesetzt… Wir beide sind gleich am ersten Abend miteinander ins Bett gegangen.« »Und eine Woche später habt ihr geheiratet.« Tessa nickte. »Die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Ich wünschte nur, ihr würdet ebenso glücklich miteinander«, sagte sie zu Alex. »Und vielleicht schafft ihr es ja auch. Es ist einfach wunderbar, daß wir vier gemeinsam im Geschäft sind. Übrigens werde ich David mitteilen, daß ich gehe. Ein großer Schritt, was?« 135
»Tja, ich weiß nicht, was es heißt, Geldsorgen zu haben…« »Da kannst du von Glück reden«, murmelte Tessa und winkte die Kellnerin an den Tisch, um Kaffee zu bestellen. Heute nachmittag mußte sie unbedingt hellwach und topfit sein. »Willst du einen Job haben?« fragte Alex. »Tu etwas mit meiner Wohnung.« »Das mache ich, aber nicht für Geld«, erwiderte Tessa. »Ich kann kein Geld von Freunden nehmen. Und außerdem brauchen wir, wenn dir deine Wohnung so, wie sie ist, gefällt, nur zu entscheiden, was wir noch hinzufügen.« Alex trank einen Schluck von ihrem Mineralwasser. »Würdest du dir einen Rat von mir geben lassen?« Alex sah sie über den Tisch an und lächelte. »Vielleicht.« »Richte dich nicht komplett neu ein. Und tu es nicht nur, weil du dir davon erhoffst, daß es ihm gefallen wird. Tu es für dich selbst. Wenn du die Nüchternheit auflockern willst, schön und gut, doch behalte das, was dir wirklich gefällt, und halte an dem fest, was du magst und worin du dich behaglich fühlst.« Alex nickte und ließ Tessas Rat auf sich wirken. »Aber du hast mir immer noch keine Antwort gegeben. Ist er gut im Bett?« Alex spürte, daß sie erneut rot wurde. »Ja, sehr.« »Und was fehlt für die Liebe? Ihr beide gebt einfach ein tolles Paar ab. Was war das gleich noch mal, was jemand über Fred Astaire und Ginger Rogers gesagt hat? Er hat ihr Eleganz verliehen und sie ihm Sex-Appeal. Bei euch beiden verhält es sich umgekehrt. Hat er dir gesagt, daß er dich liebt?« Alex schüttelte den Kopf. »Nein, und das will ich auch gar nicht. Das wäre mir viel zu ernst und würde mich restlos überfordern. Ich amüsiere mich blendend, und ich will, daß es genauso weitergeht wie bisher.« »Haha! Nichts bleibt so, wie es ist ist«, entgegnete Tessa. »Ich bin reichlich verwirrt, wenn ich es mir erlaube, darüber nachzudenken. Aber die meiste Zeit lasse ich mich einfach mitreißen. Diese Beziehung gibt mir unglaubliche Energien. Geschäftlich tue ich Dinge, an die ich mich noch vor drei Monaten nicht herangewagt hätte. Nachts liege ich im Bett und denke an die Zukunftsprojekte, über die wir an den Sonntagabenden reden. Ich fühle mich so wohl.« Alex lachte. »Ich bin nicht sicher, ob ich jemals zuvor Dinge zu meinem Vergnügen getan habe, oder jedenfalls hatte ich nie in meinem Leben so viel Spaß wie mit Boomer, dir und Dan.« Tessa neigte den Kopf zur Seite. »Nun, meine liebe Freundin, ich habe den Verdacht, daran ist nur die Liebe schuld. Ich habe 136
vorausgesetzt, daß ihr beide das auch wißt. Dan und mir ist es jedenfalls klar.« Tessa warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stand auf. »Ich muß in die Firma zurück. Gleich brauche ich meinen gesamten Mut, damit ich es fertigbringe, David zu sagen, daß ich ab morgen nicht mehr für ihn arbeite. Er wird einen Anfall bekommen, wenn er herausfindet, daß ich ihm von nun an Konkurrenz machen werde.« Alex streckte eine Hand aus. »Bist du glücklich, Tessa?« »Glücklich?« Tessas Stimme überschlug sich. »Ich lebe in der ständigen Furcht, daß etwas absolut Entsetzliches passieren wird, weil niemand es verdient hat, so glücklich zu sein, wie Dan und ich es sind. Man sollte meinen, die Götter würden neidisch. Ich bin so glücklich, und das in jedem einzelnen Moment meines Lebens, daß ich mich immer wieder selbst kneifen muß.« »Aber ihr beide, du und Dan, habt in etwa dieselbe Herkunft, nicht wahr?« »Du meinst, wir stammen beide aus der Mittelschicht? Das stimmt vermutlich, aber Dans Familie war wesentlich besser gestellt als meine. Seine Eltern konnten es sich leisten, ihn aufs College zu schicken. Und natürlich war er nie mit jemandem verheiratet, der ihn ein dutzendmal im Jahr zu Brei geschlagen hat.« »O Gott«, rief Alex aus. »Davon wußte ich gar nichts.« »Er hat mich so übel zusammengeschlagen, daß ich das Kind verloren habe, mit dem ich schwanger war.« Tränen traten in Tessas Augen. »Es mag zwar sein, daß wir in mancher Hinsicht einen ähnlichen Hintergrund haben, Alex, aber wir haben nicht dieselben Erfahrungen im Leben gemacht. Eine Ehe erfordert Arbeit. Das ergibt sich nicht einfach so, verstehst du, wie durch Zauberhand. Eine Ehe stellt eine Herausforderung dar, und Dan und ich empfinden Herausforderungen als wohltuend und nehmen sie mit Begeisterung an.« Vielleicht ist es mir genauso ergangen, dachte Alex. An dem Nachmittag, an dem sie Boomer zum erstenmal begegnet war, hatte sie genau gewußt, daß sich etwas Wichtiges ereignet hatte, denn es war ihr nicht gelungen, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Aber sie hatte es sich nicht erlaubt, an Liebe zu denken. Er würde sich nicht in ihr Leben einfügen. Er paßte nicht zu ihr, und er war absolut unvereinbar mit ihren Eltern. Sie versuchte sich auszumalen, wie Boomer an Weihnachten gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Vater Geschenke auspackte, und sie wußte ganz einfach, daß daraus nichts werden konnte. 137
»Wir mögen noch nicht einmal dieselbe Musik«, sagte Alex. »Wenn Boomer und ich in meiner Wohnung sind, lege ich Symphonien und Opern auf. An den Sonntagen bei euch hören wir uns John Denver oder Peter, Paul and Mary oder vielleicht auch Mama Cass an.« Tessa musterte ihre Freundin und erklärte dann: »In Beziehungen sind Kompromisse erforderlich.« »Du triffst dich nicht mehr mit Cole?« fragte Mrs. Headland. Alex antwortete nicht, blickte ihre Mutter jedoch in die Augen. »Steckt ein Mann dahinter, daß wir dich an den Sonntagabenden nicht mehr sehen?« bohrte ihre Mutter weiter. »Eher eine kleine Gruppe von Leuten«, sagte Alex ausweichend, um die Wahrheit namens Boomer zu umgehen. »Cole gehört nicht zu diesen Leuten?« »Nein, Mutter, er gehört nicht dazu.« Ihre Stimme ließ deutlich erkennen, daß sie die Diskussion beenden wollte, doch ihre Mutter ignorierte ihren Unwillen. »Warum bringst du deine neuen Freunde nicht an einem der kommenden Samstage einmal mit?« Daran hatte Alex bisher noch gar nicht gedacht. Boomer, Dan und Tessa schienen so überhaupt nichts mit diesem Leben zu tun haben, das ihre Eltern führten. »Ja, vielleicht werde ich das tun.« Tessa fand sich in jeder Situation zurecht, aber Boomer und Dan? Boomer besaß wahrscheinlich nicht einmal einen Smoking. Später rief Alex Boomer an. »Ich würde gern am Samstag abend eine kleine Essenseinladung geben. Für dich, Tessa und Dan. Im Club meiner Eltern. Ich dachte, das wäre mal eine Abwechslung.« Als Boomer zur Arbeit erschien, sagte Dan: »Tessa glaubt, du wüßtest vielleicht nicht, daß du am Samstag abend einen Smoking tragen solltest.« »Ich habe keinen«, erwiderte Boomer und beugte sich über ein Zeichenbrett. »Dann leih dir einen aus.« Boomer nickte. Seine Gedanken weilten bei ganz anderen Dingen. »Weißt du, wenn Tessa ihren Job hinwirft, wird es hier einfach zu eng für uns drei, um in Ruhe zu arbeiten. Es ist höchste Zeit, daß wir uns ein Büro zulegen.« »Und woher kriegen wir das Geld dafür?« »Dieser erste Bauabschnitt ist so gut wie beendet. Nehmen wir doch das im Parterre nach vorn raus.« »Du willst diese ganze Zimmerflucht als Büroräume nutzen, obwohl wir Miete dafür einnehmen könnten?« »He, wir müssen schließlich den Eindruck erwecken, daß wir im Wohlstand leben. Beeindruckende Büros vermitteln den Käufern 138
schon allein durch ihre Ausstrahlung ein gutes Gefühl. Sag Tessa, sie soll sich an die Einrichtung machen. So, wie die Wohnungen geschnitten sind, kann jeder von uns sein eigenes Büro haben, und zusätzlich haben wir noch Platz für einen Konferenzraum und einen Empfangsbereich. Vermutlich werden wir eine Empfangsdame brauchen.« Dan zog die Augenbrauen hoch. »Woher willst du das Geld nehmen, um jemanden zu bezahlen?« Boomer rollte die Blaupausen zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und ging zur Tür. »Verstehst du, wenn wir schon ein Büro dort hätten, dann wäre alles viel einfacher. Bitte Tessa darum, daß sie sich an die Arbeit macht. Sie hat die Firmenkreditkarte. Sag ihr, sie soll bloß nicht knausern.« Dan fragte sich, wovon sie die Rechnung bezahlen sollten.
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19 Carly lachte, während sie im Meer herumplanschte. Sie begeisterte sich für den blauen Himmel, die Palmen und das warme Wasser. Sie wußte, daß Cole sie vom Strand aus beobachtete. Er war ihr Publikum, dem sie etwas bieten wollte. Sie hob die Hände in die Luft, streckte sich und tauchte in die nächste Welle ein. Genüßlich kostete sie ihre Macht aus. Cole konnte kaum noch die Finger von ihr lassen. Wenn sie mit Señora und Señor Rosas um einen Tisch herum saßen, zog Carly ihre Sandalen aus, schob ihre nackten Zehen unter Coles Hosenbein und bemühte sich, nicht zu lachen, während er darum rang, sich auf Señor Rosas’ Worte zu konzentrieren. »Du verhext mich«, sagte er zu ihr. Sie waren im Norden von Acapulco, in einem kleinen Dorf, dessen Namen Carly noch nicht einmal aussprechen konnte; hier wollte Señor Rosas das hinstellen, was er als »das absolute Nobelferienparadies« bezeichnete. Das verschlafene Städtchen war vom Fortschritt unberührt. Von Mangrovensümpfen umgeben, lag es an einem endlosen weißen Sandstrand, auf den der aquamarinblaue Ozean in sanften Wellen wogte, frei von den Strömungen und dem Sog, den man hier an großen Strecken der Pazifikküste antraf. Der breite Strand war von Palmen gesäumt, und heute nachmittag, während die Rosas’ ihre Siesta hielten, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Cole hatte ihr gestern abend erzählt, daß sich die Bank an der Finanzierung des Hotels in Acapulco beteiligen würde, und wenn die geschäftlichen Beziehungen zu Rosas erst einmal hergestellt waren, würde sie sich höchstwahrscheinlich auch für diesen Küstenstreifen interessieren. Carly fand, daß dieses Vorhaben einfach großartig klang. »Woher bekommt die Bank ihr Geld?« fragte Carly. »Vom Ol.« Millionen und Milliarden Liter Öl. Und noch dazu Erdgas. In Houston gab es an fast jeder Straßenecke Banken. Carly entging nicht, daß Cole auf sexuellem Gebiet nicht besonders erfahren war. Und sollte er doch mehr Erfahrungen gesammelt haben, als sie glaubte, dann stellte er sich eben nicht übermäßig geschickt an. Es mochte zwar sein, daß ihre Erfahrungen mit verschiedenen Männern nicht gerade groß waren, doch diese vier Jahre mit Boomer hatten Carly experimentierfreudig gemacht, wenn es um Sex ging. Coles mangelnde Kenntnisse hatten sie überrascht, aber inzwischen schien 140
er richtig loszulegen und sich gehenzulassen. Sie hatte Cole nicht viel beibringen müssen, sondern ihm nur gewissermaßen den Weg gewiesen, und wie er reagierte, löste bei ihr Begeisterungsschauer aus. Sie hatte ganz vergessen, wie wunderbar wohltuend Sex auf sie wirken konnte. Zu berühren und berührt zu werden, geküßt, in den Armen gehalten und gestreichelt zu werden, so angesehen zu werden, als wäre sie die begehrenswerteste Frau auf Erden. Während sie jetzt im Wasser herumtollte, fragte sie sich, wieviel sein Geld und sein Einfluß wirklich damit zu tun hatten, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und ob das, was sie ihm zu bieten hatte, genügte, um den Wunsch nach mehr in ihm wachzurufen. Sie drehte sich um, schaute zum Ufer und sah, daß er ihr zuwinkte. Sie fand ihn echt und ehrlich attraktiv – er war der erste Mann seit Boomer, der sie faszinierte. Es war jedoch die reinste Geldverschwendung gewesen, dieses teure Nachthemd zu kaufen; sie hatte es bisher noch nicht einmal aus der Schublade herausgeholt. Cole hatte vorgeschlagen, ihre Pläne zu ändern und, statt am Freitag schon nach Houston zu fliegen, erst am Sonntag abend zurückzukehren. Es würde bestimmt Spaß machen, hatte er gesagt, zwei oder drei Tage ganz für sich allein zu haben, ohne die Rosas’. »Ich finde, das klingt gut«, hatte sie erwidert und sich vorgebeugt, um sein Ohr zu küssen. Wenn sie über das Wochenende bleiben würden, könnte es sich eventuell machen lassen, daß sie die Penthousesuite bekämen. Sie hatte nicht das geringste dagegen, noch ein paar Tage länger am Strand zu liegen, oder auf der Dachterrasse, wo sie sich, vor den Blicken aller geschützt, eine nahtlose Bräune holen konnte. War es nicht Marilyn Monroe gewesen, die gesagt hatte, sie fühle sich von Kopf bis Fuß blond? Es würde aufregend sein, nackt dort oben zu liegen und mit Cole zu schlafen, während die Sonne auf sie herunterknallte. Und bestimmt würde es Spaß machen, sich in einem heißen Bad zu lieben, in dem dampfenden, strudelnden Wasser eines Jacuzzi. Ihr gefiel es, daß er sich nicht einfach auf die Seite drehte und einschlief oder eine Zigarette rauchte, nachdem sie sich geliebt hatten. Er redete mit ihr. Er wollte wissen, wie es für sie gewesen war, in Verity aufzuwachsen, und er stellte ihr Fragen zu ihrer Mutter und Walt. Auch gab er sich interessiert an allem, was sie ihm über ihre Freundin Zelda Marie erzählte. Nichts von dem, was Carly sagte, schien ihn nicht zu interessieren. 141
Sie tauchte unter einer Welle durch und fragte sich, wie es wohl weitergehen würde, wenn sie dieses Paradies verlassen hatten. Als sie aus dem Meer kam, den Kopf zurückwarf und sich mit einer Hand durch das Haar fuhr, sah sie Cole an. Wollte sie ihn tatsächlich heiraten? Nur weil er der zweite Mann war, mit dem sie je geschlafen hatte? Nun, warum nicht? Sie war fünfundzwanzig. Walt fing allmählich an, sich Sorgen zu machen, sie könnte als alte Jungfer enden. Carly lachte. Sie wußte, daß das Schicksal etwas anderes für sie bereithielt. Und doch hatte sie bisher nie auch nur mit dem Gedanken gespielt, einen anderen Mann als Boomer zu heiraten. Hab Geduld, sagte sie sich. Bloß nichts überstürzen. Am nächsten Abend, nachdem sie in die Penthousesuite umgezogen waren, aßen sie im Hotelrestaurant. Señor Rosas und seine Frau waren schon am späten Vormittag aufgebrochen, und daher hatten Cole und Carly den Nachmittag ganz für sich allein gehabt. Sie hatten ihre Zeit am Strand verbracht. Carly zog zum Abendessen ein hauchdünnes türkisfarbenes Kleid an, das sie in einem Geschäft in der Stadt gekauft hatte, und steckte sich eine gelbe Hibiskusblüte hinter das linke Ohr. Zwischen dem Hauptgang und dem Dessert tanzten sie. Seine Hand auf ihrem Rücken preßte sie eng an ihn. Mit einer schnellen Bewegung, die von anderen unbemerkt blieb, stieß sie ihr Knie zwischen seine Beine und spürte, wie ein Zittern ihn durchzuckte. Als die Musiker eine Pause einlegten, kehrten sie an den Tisch zurück. Carly lehnte ein Dessert ab, doch Cole bestellte für sich Karamelpudding und für beide Kaffee. »Ich habe eine wunderbare Idee«, sagte Carly. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ein Jacuzzi?« »Ganz genau.« Sie nahm seine Hand in die ihre. »Kannst du etwa Gedanken lesen?« Er war ganz offensichtlich belustigt, und seine blauen Augen funkelten. »Ich glaube«, sagte er, »es hat mehr mit Körpersprache zu tun.«
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20
An dem Tag, nachdem Mr. Rolf zu ihr gesagt hatte: »Du führst die Einstellungsgespräche und triffst eine Vorauswahl für meine neue Sekretärin, weil du demnächst viel zuviel mit dem Verkauf zu tun haben wirst. Die Kandidatinnen, die bei dir in die Endrunde kommen, sehe ich mir dann selbst an«, läutete das Telefon, und als Carly den Hörer abnahm, fragte jemand nach ihr. »Hier spricht Tad Jones.« Das sagte ihr absolut nichts. »Meine Frau hat an einem Haus, für das sie schon seit Jahren eine Schwäche hat, ein Verkaufsschild gesehen. Ich hoffe, es ist noch zu haben. Wir würden es uns gern so bald wie möglich anschauen.« Carly suchte die entsprechende Karteikarte raus; eineinhalb Millionen Dollar. »Lassen Sie mich dort anrufen und nachfragen, ob es sich heute noch einrichten läßt. Ich rufe Sie dann gleich zurück.« Wie war er bloß an ihren Namen gekommen? Sie ging in Mr. Rolfs Büro und berichtete ihm von dem Anruf. »Tad Jones?« Er grinste breit. »Der könnte zehn solche Häuser kaufen, und seine Brieftasche bekäme immer noch nichts davon zu spüren. Ihm gehört Jones Aviation. Das sind die größten Flugzeughersteller in Houston. Sie bauen keine kommerziellen Flugzeuge, sondern fertigen ausschließlich Privatflugzeuge auf Bestellung an. Er hat die Firma von seinem Vater geerbt, der noch nicht einmal in meinem Alter ist, aber er hat das Geschäft an Tad übergeben und ist mit seiner Frau auf die Jungferninseln gezogen. Dort haben sie eine Insel ganz für sich allein erworben.« »Ah«, sagte Carly nachdenklich. »Das heißt also, daß sie das Haus verkaufen werden, in dem sie derzeit wohnen.« »Pack die Gelegenheit beim Schopf, Mädchen.« Mr. Rolf strahlte sie an. »Ich frage mich, warum er ausgerechnet mich sprechen wollte. Wie ist er an meinen Namen gekommen?« »Du beginnst eben, dich in den richtigen Kreisen zu bewegen, würde ich mal sagen. Und übrigens…« Er langte in seine oberste Schreibtischschublade. »Das hatte ich ganz vergessen. Während du fort warst, ist deine Maklerzulassung gekommen.« Dann griff er nach der Karte, die Carly in der Hand hielt. »Sehen wir doch gleich mal nach. Ah, das ist Myrtle Goodrichs Haus. Sie ist 143
letzten Monat gestorben. Ich vermute, ihre Kinder wollen es loswerden. Keiner der Erben lebt mehr hier. Es überrascht mich, daß das Haus nicht schon verkauft worden ist, ehe es auf den freien Markt kam. Das heißt, wahrscheinlich ist es keine eineinhalb Millionen wert. Ich wette, du kannst es für einein viertel bekommen.« Carly rechnete schnell aus, was das hieß. Ihr Anteil würde siebenunddreißigtausendfünfhundert Dollar betragen. Sie vereinbarte einen Termin für zwölf Uhr mittags und rief dann Tad Jones an. Als sie in Rolfs Büro zurückkehrte, beendete er gerade ein Telefongespräch. »Ja, sie wird in einer halben Stunde da sein.« Er legte auf und schrieb etwas auf einen kleinen gelben Zettel, den er Carly mit einem verschmitzten Lächeln reichte. »Das ist das Geschäft, in dem meine Frau immer ihre Einkäufe erledigt. Und meine Töchter auch. Ich habe gerade dort angerufen und Bescheid gegeben, daß du gleich rüberkommst. Ich möchte, daß du dir ein Kostüm kaufst, in dem du so wirkst, als würdest du eine Million verdienen.« »Warum denn das?« Carly sah auf ihr rotes Kostüm hinunter. Sie hatte mehr als hundert Dollar dafür ausgegeben und fand, es stank geradezu nach Erfolg. »Tu es einfach. Du kannst mir das Geld von deiner Provision zurückzahlen. Nein, ich habe eine noch bessere Idee! Wenn dieser Verkauf zustande kommt, dann geht es auf meine Rechnung. Das Kostüm, meine ich.« Als Carly fünf Minuten zu früh erschien, um das Ehepaar Jones zu treffen, trug sie ein schwarzweißes Kammgarnkostüm mit schmalen Streifen und eine gutsitzende, tadellos gearbeitete weiße Seidenbluse im Wert von etlichen Wochengehältern. Sie hatte eine Auseinandersetzung mit der Verkäuferin gehabt, die auf kleinen Perlohrringen bestanden hatte, und sie hatte gewonnen. Die schwarzen Onyxohrringe waren weitaus größer als alles, was die Verkäuferin vorgeschlagen hatte, und sie waren fast so teuer wie die Bluse gewesen. Schwarze Lacklederschuhe und eine dazu passende Handtasche rundeten das Gesamtbild ab. Carly fand, daß sie jetzt so aussah, als wäre sie diejenige, die das Haus kaufen wollte und es sich leisten konnte. Tad Jones erschien allein in einem dunkelgrünen Porsche. »Liza wird jeden Moment da sein.« Er sah Carly anerkennend an. Er war mittelgroß und trug eine graue Flanellhose, einen blauen Blazer und eine weinrote Krawatte. »Wie sind Sie an meinen Namen gekommen?« fragte sie, als sie gemeinsam vor dem 144
schmiedeeisernen Tor warteten. »Über Cole Coleridge. Er hat gesagt, Sie seien die beste Maklerin in der ganzen Stadt. Und noch dazu reell.« Carly lächelte. Das waren also Leute von der Sorte, mit der er verkehrte, wenn er nicht mit ihr zusammen war. Liza Jones kam mit Vollgas angerast, und die Bremsen quietschten, als sie ihren silbernen Cadillac abrupt hinter dem Wagen ihres Mannes zum Stehen brachte. »Natürlich habe ich dieses Haus schon zigmal gesehen«, sagte sie, nachdem Carly und sie sich miteinander bekannt gemacht hatten. »Ich weiß selbst nicht, warum ich es mir überhaupt noch einmal anschaue. Als ich als kleines Mädchen hierher zu Besuch gekommen bin, habe ich mir gesagt, daß es eines Tages mir gehören wird.« Ein Butler führte sie durch das Haus, das siebzehn Zimmer und sechs Bäder hatte. Die Einrichtung war alt, die Perserteppiche in tadellosem Zustand, das Mobiliar dunkel und viktorianisch. Die Jones verbrachten zwei Stunden in dem Haus. Liza machte sich eine Menge Notizen. »Unsere Sofas würden hier blendend reinpassen«, sagte sie zu ihrem Mann. Es gab eine Garage für sechs Wagen, Tennisplätze mit Flutlicht und einen riesigen Pool mit Umkleidekabinen. Der Garten loderte in seiner gepflegten Blumenpracht. Hinter den Tennisplätzen stand ein Gewächshaus für Setzlinge. Es diente dazu, daß man das ganze Jahr über frische Schnittblumen hatte. »Für eineinhalb ist das geradezu geschenkt, meinst du nicht auch?« fragte sie Tad. »Liebes, wenn du es haben willst, spielt der Preis doch sowieso keine Rolle.« »Ich glaube, wir könnten handeln und den Preis ein wenig drücken, oder wir könnten mit einem niedrigeren Angebot beginnen«, erklärte Carly. »Laß uns kein Risiko eingehen«, sagte Liza zu Tad. »Ich will, daß das Haus noch heute mir gehört.« Tad zog ein Scheckheft raus und schrieb, an den Gartentisch neben dem Pool gelehnt, einen Scheck über eine Million fünfhunderttausend Dollar aus. Ihre beiden ersten Verkäufe waren so reibungslos über die Bühne gegangen wie nichts anderes in ihrem Leben, und dieses Kinderspiel hatte Carly mehr als sechzigtausend Dollar eingebracht. Sie begriff, daß sie auf diese Art reich werden konnte. Schon jetzt hatte sie mehr Geld verdient, als sie sich je hätte träumen lassen. »Möchten Sie vielleicht, daß ich mir Ihr Haus ansehe und eine 145
Schätzung abgebe?« »Täten Sie das?« fragte Liza und blickte lächelnd zu Carly auf. »Das fände ich ganz großartig. Was halten Sie von halb sechs? Kommen Sie auf einen Drink zu uns, und lassen Sie sich Zeit.« Carly zwickte sich.
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21 »Ist das ein Test?« fragte Boomer, als sie die lange, gewundene Auffahrt zum Club hinauffuhren. Es war der exklusivste Club in Houston, und eine Mitgliedschaft unterlag strengen Einschränkungen. In den letzten vier Jahren war überhaupt niemand mehr aufgenommen worden. »Wieso ein Test?« »Um zu sehen, was die Leute, mit denen du Umgang pflegst, von mir halten?« Sie lachte, aber genau das war ihre Absicht. »Ich habe noch nie etwas auf die Meinung anderer gegeben.« »Mein Vater hätte dich gemocht«, sagte er. Sie hatte schon immer als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Familie eines jeden jungen Mannes, mit dem sie ausging, nicht nur ihre Zustimmung zu ihr gab, sondern auch, daß sich Eltern geschmeichelt fühlten, wenn ihr Sohn mit einer Headland Umgang hatte. Daher überraschte es sie, daß Boomers Bemerkung ihr Freude machte. Auf dem Rücksitz sagte Tessa: »Dan und ich haben uns überlegt, daß wir ein ganz großes Gelage veranstalten sollten, einen echten Knüller von einer Party, um die grandiose Eröffnung des Apartmentkomplexes zu feiern. Eine Art Open House, ehe wir dann wirklich alle Türen öffnen und ernstlich Open House spielen.« »Mir soll’s recht sein«, meinte Boomer. Tessa tippte Alex auf die Schulter. »Du kennst doch alles, was Rang und Namen hat, stimmt’s?« Alex nickte. Schließlich hatte sie hunderttausend Dollar von ihrem eigenen Vermögen in dieses Projekt investiert. »Ich werde mich darum kümmern«, sagte sie zu Tessa und dachte dabei bereits an Sally Burgess, die sie dazu bringen würde, eine gewaltige Fete zu organisieren. Niemand konnte das besser als Sally. Wenn sie alles arrangierte, dann würden sich die Leute um eine Einladung regelrecht reißen. »Aber wird das nicht ein Vermögen kosten?« fragte Dan. »Allein die Getränke für Dutzende von Leuten.« »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Das übernehme ich schon«, sagte Alex. Keiner von ihnen wußte, wieviel sie bereits aus ihrer eigenen Tasche hingelegt hatte. Ihr machte das absolut nichts aus. Ganz gleich, wieviel Geld sie auch ausgab, das Leben hatte ihr noch nie so viel geboten wie in den vorangegangenen Monaten, und nicht zuletzt hatte sie in dieser Zeit auch eine gute Freundin gefunden, etwas, was sie noch nie zuvor gehabt hatte. Sie war Teil einer 147
kleinen Gruppe von jungen Leuten, die gemeinsam Geschäfte machten und außerdem ihren Spaß miteinander hatten. Und dazu kam noch der Sex. Ein Liebhaber von Weltklasse. Boomer hatte im Bett alle möglichen wundervollen Eigenschaften. Er war zärtlich und doch stark, kreativ und voller Erfindungsreichtum. Er hatte keine Hemmungen, und jedesmal, wenn sie miteinander schliefen, half er ihr, mehr und mehr von ihren Hemmungen abzulegen. Sie fühlte sich ausgefüllt, sie war verliebt in das Leben, und sie wartete jetzt nicht länger auf die Zukunft und arbeitete darauf hin, sondern genoß die Gegenwart in vollen Zügen. Sie hatte sich nicht nur auf spannende Projekte eingelassen, sondern auch auf spannende Menschen, und zum erstenmal in ihrem Leben waren die Leute ihr wichtiger als ihre Arbeit, ihre Ziele. Und keiner von den dreien wies Ähnlichkeit mit den Leuten auf, die sie ihr Leben lang gekannt hatte. »Wo soll ich parken?« fragte Boomer Alex. »Laß die Schlüssel einfach stecken. Miguel wird sich schon darum kümmern.« Alex versuchten sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt derart nervös gewesen war. Wenn sie große Geldsummen verlieh, passierte ihr das nicht. Prüfungen in der Schule und während des Studiums hatten sie immer kalt gelassen. Selbst damals, als sie zum erstenmal mit einem Jungen geschlafen hatte, war es ihr nicht so ergangen. Warum also war sie jetzt nervös? Warum sah sie heimlich nach, ob Boomer auch keinen Fussel auf dem Jackett hatte und ob seine Schuhe blank poliert waren? Was machte es schon aus, wenn die Schar der üblichen Samstagsgäste das Grüppchen anstarrte und sich fragte, wen Alex da wohl mitgebracht hatte? Was konnte schon passieren, wenn man kollektiv beschloß, ihre Gäste abzulehnen, weil sie den Ansprüchen nicht genügten? Man würde sie dennoch zuvorkommend behandeln. Das war eine unumstößliche Tatsache: Wenn Mitglieder Gäste mitbrachten, dann wurden diese grundsätzlich willkommen geheißen, ungeachtet ihrer Person, und Amos Headland war eines der ersten Mitglieder des Clubs gewesen, aufgenommen auf die persönliche Empfehlung von Mr. Coleridge hin, der zu den Gründungsmitgliedern zählte. Alex hing sich bei Boomer ein und führte ihre Freunde durchs Foyer, nickte der Geschäftsleitung zu und schritt majestätisch die Stufen zum Restaurant hinunter. Die meisten Tische waren bereits besetzt. Alex hatte eine Reservierung vorgenommen und ihrer Mutter mitgeteilt, daß sie kämen, doch sie hatte ihre Eltern mit keinem Wort aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Das Orchester, das freitags 148
und samstags immer an den Abenden hier auftrat, spielte gerade: »I had a dream, dear, it was of you…« Alex entdeckte ihre Eltern auf der Tanzfläche, sah, daß ihre Mutter ihrem Vater etwas zuflüsterte, und beobachtete, wie sie beide den Mann anschauten, dessen Hand Alex hielt. Sie warf den Kopf zurück, und ihr hellbraunes Haar breitete sie aus wie ein Fächer, als sie Boomer anlächelte. Der Oberkellner führte sie an ihren Tisch. Augenblicklich tauchte ein weiterer Kellner auf. Alex bestellte ihren bevorzugten Daiquiri, Boomer einen Scotch mit Wasser, Tessa bat um einen Whiskey Sour, und Dan entschied sich für Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone. »Es ist wirklich schön hier, Alex«, sagte Tessa, die sich im Raum umsah. »Besser bekäme ich das auch nicht hin«, fügte sie lächelnd hinzu. Todd Cooper tauchte aus dem Nichts auf und stand plötzlich hinter Alex. Er hatte mit ihr zusammen das St. John’s besucht, und sie kannte ihn schon seit Ewigkeiten. Tatsächlich war er, wenn sie sich recht erinnerte, der erste Junge gewesen, der sie geküßt hatte. Sie mußte damals dreizehn oder vierzehn gewesen sein. Aber sie waren nie miteinander gegangen. Er war einer der ganz wenigen ihrer Mitschüler, die noch unverheiratet waren. »Ich habe dich schon seit Wochen nicht mehr gesehen, Alex.« Und dann rief er, wobei offenkundiges Erstaunen in seinen Augen stand: »Na so was, Boomer Bannerman! Was tust du denn in Houston?« Boomer grinste. Hatte dieser Typ nicht der Studentenverbindung Sigma Chi angehört? »Dich habe ich seit dem letzten Studienjahr nicht mehr gesehen.« Er wandte sich wieder Alex zu. »Du weißt natürlich, daß er unser Star im Football war.« Davon hatte Alex nichts gewußt. »Todd, ich möchte dir Dan und Tessa Bertelson vorstellen.« Todd lächelte die beiden an und hielt ihnen die Hand hin. »Willst du nach Houston ziehen, oder bist du nur zu Besuch hier?« fragte er Boomer. »Ich lebe hier«, antwortete Boomer, und ihm fiel wieder ein, daß er Cooper, obwohl er ihn kaum gekannt hatte, nie besonders gut hatte leiden können. In dem Moment kamen Alex’ Eltern an den Tisch geschlendert. Mr. Headland war ein untersetzter Mann mit gelocktem grauem Haar, buschigen Augenbrauen und strahlend blauen Augen. Man wäre nie darauf gekommen, daß er als junger Mann auf den Ölfeldern 149
gearbeitet hatte, doch fiel einem nicht schwer zu glauben, daß er der
Generaldirektor und Mehrheitsaktionär der Headland Gas &Oil
Company und in ganz Texas dafür bekannt war, daß er die Kidder 7
eingebracht hatte, eine der größten Ölquellen, die jemals gebohrt
worden waren.
Boomer und Dan erhoben sich. Boomer erriet augenblicklich, wer
diese Leute waren; Mrs. Headland und Alex sahen einander sehr
ähnlich, und Mutter und Tochter hatten die gleichen Augen. Mr.
Headland beugte sich vor und drückte seiner Tochter einen Kuß aufs
Haar. »Hallo, Mutter, hallo, Daddy«, sagte Alex, »das ist Brad
Bannerman.« Ihr Vater begrüßte Boomer mit einem kräftigen
Händedruck. Mrs. Headlands Mund verzog sich zu einem Lächeln,
doch ihre Augen, und auch darin glich sie Alex, änderten nur selten
den Ausdruck. »Mister Bannerman«, murmelte sie. Ihrem Blick
schien nicht viel zu entgehen. Dann stellte Alex Tessa und Dan vor.
Anschließend nahm sie die Hand ihres Vaters und hielt sie fest. »In
welcher Branche sind Sie tätig, Mister Bannerman?« wollte Amos
Headland wissen. Das war die erste Frage, die er jedem Mann stellte.
»Im Bauwesen, Sir«, antwortete Boomer. »Ach, hier in Houston?«
»Ja.« Boomer gab von sich aus keine näheren Erklärungen dazu ab.
Alex konnte ihm Genaueres berichten, wenn sie wollte.
»Kommen Sie doch rüber an unseren Tisch, um zu plaudern,
nachdem Sie gegessen haben.« Alex ließ die Hand ihres Vaters los.
»Heb einen Tanz für mich auf«, sagte ihr Vater, als ihre Eltern sich
wieder an ihren eigenen Tisch begaben. Todd Cooper stand ein
wenig abseits und beobachtete all das. »Heb mir auch einen auf,
Alex«, sagte er, ehe er ging.
Todd Cooper hatte Alex seit der High-School nicht mehr zum
Tanzen aufgefordert.
Der Kellner nahm ihre Bestellungen entgegen, als die Musik wieder
einsetzte. Alex nahm Boomers Hand und stand auf.
»Tanzt du mit mir?«
Sie wußte, daß sämtliche Augen im Saal sich auf sie richten würden.
Sie konnte es ebensogut auch gleich hinter sich bringen. Auch Tessa
und Dan erhoben sich und folgten ihnen auf die Tanzfläche.
Boomer zog Alex in seine Arme. »Mit alldem bist du also
aufgewachsen, was?«
Sie blickte lächelnd zu ihm auf. »Willst du mir etwa mit Vorwürfen
auf den Leib rücken?«
»Ich werde dir noch mit ganz anderen Dingen auf den Leib rücken.«
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»Ist das ein Versprechen?« Er lachte. »Du bist eine echte texanische Prinzessin, stimmt’s?« »Und eines Tages werde ich die Königin sein«, sagte sie. Er zog sie enger an sich. »Du hast einen weiten Weg vor dir, und der Aufstieg wird steil sein«, entgegnete er. Fast hätte sie geflüstert: Hast du Lust, mitzukommen? Doch sie tat es nicht. Dazu konnte sie sich noch nicht durchringen. Er hielt sie so eng an sich gepreßt, daß ihre Beine sich wie eine Einheit bewegten. Ob er ihren Atem wohl fühlen und die Glut ihres Körpers spüren konnte? »Du siehst auch aus wie eine Prinzessin«, sagte Boomer. »Dieses Kleid paßt phantastisch zu deiner Augenfarbe. Aber das weißt du natürlich.« »Ja, selbstverständlich«, erwiderte sie und fragte sich, was die Leute sich wohl denken mochten, wenn sie sahen, wie eng umschlungen sie und Boomer miteinander tanzten. Der erste Gang wurde serviert, und so gingen sie zu ihrem Tisch zurück. Alex winkte ihren Eltern quer über den Saal zu. Tessa und Dan kamen ebenfalls. »Eines Tages«, meinte Tessa mit glänzenden Augen, »werden wir dazugehören.« Alex nahm ihre Gabel und begann ihre Krabben zu essen. Sie wollte Tessa nicht sagen, daß es dazu niemals kommen würde, daß nicht die geringste Chance bestand. Und plötzlich wurde ihr klar, daß das überhaupt keine Rolle spielte. In gewisser Weise hatten diese drei Freunde sie befreit. Boomers Knie schmiegte sich unter dem Tisch an ihres. »Sind dir diese Dinge wichtig?« Sie zögerte nur einen Moment lang. »Sie waren es früher einmal.« Gegen Ende des Abends fühlte Alex Hände auf ihren Schultern, und als sie sich umdrehte, sah sie Ben Coleridge, der dastand und auf sie herablächelte. »Ben.« Sie stand auf und schlang die Arme um ihn. »Ich habe gräßliche Dinge über dich gehört. Ist das etwa alles wahr?« Er grinste sie an, und sie konnte den Alkohol in seinem Atem riechen. Alex war schon immer froh darüber gewesen, daß Ben jünger war als sie, denn wenn sie in der Schule mit ihm in eine Klasse gegangen wäre, dann hätte sie ihr Herz an ihn verloren. Boomer hatte sich inzwischen erhoben und stand neben Ben, und Alex machte die beiden miteinander bekannt. »Boomer, das ist Bennett Coleridge, der Mann, an den ich mein Herz verloren habe, als er etwa sieben und ich zwölf war. Was tust du hier? Ich wußte gar nicht, daß du wieder zu Hause bist.« »Ich bin gerade von einer Bildungsreise zurückgekehrt. England, 151
Frankreich, Italien, Griechenland. Ah, die griechischen Inseln, Santorin… ich habe an dich gedacht, als ich dort war.« »Darauf möchte ich wetten!« sagte Alex lachend. »Während du an den Oben-ohne-Stränden all diese dunkelhaarigen Schönheiten verführt hast.« »Dad will, daß ich ins Geschäftsleben einsteige, ganz gleich, was für ein Geschäft es auch ist, und dabei besitze ich doch überhaupt keinen Geschäftssinn.« »Besuch mich morgen im Büro«, schlug Alex vor. »Laß uns zusammen zu Mittag essen, und dabei reden wir über Geschäfte.« »Und hoffentlich auch über vieles andere.« Ein knabenhaftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ben, dessen blondes Haar einen leicht rötlichen Schimmer aufwies, war fast so groß wie sein Bruder und hatte breite Schultern und schmale Hüften. Seine meergrünen Augen funkelten verschmitzt und wirkten gleichzeitig gehetzt. Alex fand, daß keiner von allen Männern, die ihr je begegnet waren, so gut wie Ben aussah. Er besaß einen Charme, an dem es Cole mangelte. Ben konnte jeden bezaubern. Mit dieser Fähigkeit war er geboren worden. Sein Vater, der nicht viel von ihm hielt, und seine Mutter, die seinetwegen frustriert die Hände rang, konnten ihm beide nicht widerstehen, vor allem dann nicht, wenn er lächelte. Später, als Alex versuchte, sich bis in alle Einzelheiten daran zu erinnern, was ihre Eltern zu Boomer gesagt hatten und er zu ihnen, als sie sich verzweifelt bemühte, sich den Ausdruck in den Augen ihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen, als er Boomer nach seinem Bauunternehmen fragte, und wie er sie angesehen hatte, als sie und Boomer ihren Tisch nach einem zwanzigminütigen Gespräch wieder verlassen hatten, war das einzige, woran sie sich wirklich erinnern konnte, die Traurigkeit, welche hinter dem strahlenden Lächeln in Bens Augen gestanden hatte. Jahrelang hatte sie sich gefragt, ob es an seiner linken Hand lag, die schlaff an seiner Seite herunterhing, die Hand, deren Knochen zersplittert waren, als er sich mit Zwölf in die Hand geschossen hatte, um nie mehr eine Waffe auf einen Vogel richten und ihn vom Himmel schießen zu müssen. Er hatte es getan, um seinen Vater dafür zu bestrafen, daß er darauf bestanden hatte, daß er Tauben tötete, doch er selbst war derjenige, der seitdem die Folgen seines Vorgehens zu tragen hatte und darunter litt.
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Cole Coleridge verstand sich selbst nicht mehr. Was eine Frau dachte, hatte ihn noch nie interessiert. Nun, das war nicht ganz wahr. Er hatte inzwischen mindestens elf Jahre lang versucht, aus Alex schlau zu werden, doch er nahm an, daß er das aufgegeben hatte, da er das deutliche Gefühl bekam, sie niemals besser kennenzulernen, als er sie bereits kannte. Jetzt war ihm auch klar, daß Alex nie in seinen Armen liegen und vor Zufriedenheit seufzen würde, wie Carly es tat. Alex würde ihm nie verspielte kleine Küsse auf den Bauch drücken, und sie würde nie weich und vollbusig und anschmiegsam sein, sich ihm liebevoll öffnen und sich nach ihm verzehren. Sie würde nie lachend zu ihm aufblicken, mit benetzten Lippen und leuchtenden Augen, als sei er der faszinierendste Mensch auf der ganzen Welt. Alex würde niemals barfuß ins Meer laufen, würde niemals nackt mit ihm in der Sonne liegen. Sie würde niemals, aber auch wirklich nie in ihrem ganzen Leben, fröhlich und ausgelassen zu ihm sagen: »Laß uns ficken.« Wenn Carly das sagte, ein Wort, das er eine Frau nie hatte laut aussprechen hören, dann brachte sie es auf eine so unschuldige Art, daß er einfach keinen Anstoß daran nehmen konnte. Ganz im Gegenteil, es erregte ihn sogar. Alles an Carly erregte ihn. Und doch ahnte er dunkel, daß mehr als nur das dahintersteckte – mit ihr zu schlafen und in ihrer Gegenwart hemmungslos nackt zu sein. Tief in seinem Innern war etwas am Erwachen. Und das war nicht nur eine körperliche Regung, nein, auch psychisch war ihm etwas zugestoßen. Es war ihm unerträglich, von Carly getrennt zu sein, obwohl er sich zwei Nächte lang dazu gezwungen und sich vergeblich in Selbstdisziplin geübt hatte. Er fragte sich, was sie wohl gerade tat. Ehe er den Anruf tatsächlich machte, griff er mindestens ein dutzendmal nach dem Hörer. Vielleicht hatte sie sich mit einem anderen Mann verabredet und war mit ihm ausgegangen. Vielleicht wusch sie aber auch einfach nur ihre Unterwäsche. Vermißte sie ihn? Er ertappte sich dabei, daß er unruhig umherlief. Er sah sich die Wohnung mit ganz neuen Augen an. Was würde Carly davon halten? Würde es ihr hier gefallen? Er hatte seine Wohnung selbst eingerichtet – ein Aubusson-Teppich in tiefem Burgunderrot und Marineblau, schlichte moderne dänische Möbel, ein Clio-Mobile und chinesische Porzellan vasen. 153
Er ging in sein Schlafzimmer. Auch hier herrschten Marineblau und Burgunderrot vor. Weinrote Bettwäsche, war das zu maskulin? Alex hatte sich nie zu seiner Wohnung geäußert. Es hatte ihm Freude bereitet, alles sorgsam auszuwählen und ganz allmählich die Kleinigkeiten zusammenzutragen, die eine persönliche Umgebung schufen und Räume wohnlich machten. Er wußte, daß er kaum noch ein Wort mitzureden haben würde, wenn es um die Einrichtung seines Hauses ging, sowie er erst einmal verheiratet war. Das war ein weiblicher Wirkungskreis. Doch jetzt machte er sich Gedanken, ob Carly die Wohnung gefallen würde, und er lachte über sich selbst. Er hatte Carly nicht gefragt, ob es einen anderen Mann oder andere Männer in ihrem Leben gab. Selbst wenn es so war, ging sie zumindest mit keinem anderen ins Bett. Er erinnerte sich noch deutlich daran, wie ihm letzte Woche zumute gewesen war, als sie sich über den Tisch gebeugt und ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt hatte, damit die anderen Leute im Restaurant sie nicht hören konnten. »Weißt du überhaupt, daß ich fast fünf Jahre lang mit keinem Mann mehr geschlafen hatte, als du aufgetaucht bist?« Er hatte ungläubig seine Speisekarte sinken lassen. »Das ist wohl ein Witz.« Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Nein, ganz und gar nicht. Ich fand einfach nur, du solltest wissen, daß du eine durchschlagende Wirkung hast, wenn man bedenkt, daß du nach all den Jahren der erste Mann bist, der meine Schutzwälle niedergerissen hat.« Und jetzt war sie da und stand auf seiner Türschwelle. Er beobachtete sie, als sie sich in seinem Wohnzimmer umsah, und fragte sich, warum er derart auf ihre Anerkennung versessen war. Er brauchte nicht lange zu warten. »O Cole«, flüsterte sie, »du hast es wunderschön hier. Du mußt einen guten Innenarchitekten beauftragt haben.« Sie wußte, daß reiche Leute immer Innenarchitekten heranzogen. »Ich habe alles selbst eingerichtet.« Er spürte gewaltigen Stolz in sich aufsteigen. Einfach lachhaft. Ihn hatte noch nie die Reaktion anderer interessiert, wenn es darum ging, was ihm gefiel und was er wollte. Carly drehte sich zu ihm um. Er streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, und preßte seinen Mund voller Sehnsucht und Verlangen auf ihre Lippen. »O Carly«, hauchte er ihr ins Ohr. Später, als sie nackt in seinem Bett lagen und die burgunderroten Laken um ihre Beine geschlungen hatten, sagte Cole: »Ich möchte 154
nicht, daß du nach Hause gehst. Ich möchte, daß du hier neben mir liegst, wenn ich aufwache, und ich möchte mit dir schlafen, ehe wir uns auf den Weg zur Arbeit machen.« »In diesem Kleid kann ich beim besten Willen nicht zur Arbeit erscheinen«, sagte Carly kichernd. Und Cole wußte genau, daß er sich nicht dabei ertappen lassen durfte, wenn er sie im Morgengrauen nach Hause brachte. »Ich weiß. Ich habe nur laut ausgesprochen, was ich mir wünsche.« Sie lag in seiner Armbeuge, als gehörte sie dort und nirgendwo sonst hin. Sie redeten lange Zeit kein Wort miteinander, doch dann fragte er: »Entweder du hast eine Menge über Sex gelesen, oder du hast eine ganz unglaubliche Beziehung zu diesem Typen gehabt, den du in der High-School gekannt hast.« »Vielleicht ist es nichts weiter als reiner Instinkt«, sagte sie und versuchte sich daran zu erinnern, was sie und Boomer miteinander getan hatten. Es war so lange her. »Aber, Cole, was ich als Teenager getan habe, hat mit uns beiden nichts zu tun. Ich fühle mich so wohl mit dir. Ich wußte gar nicht, daß man sich derart wohl fühlen kann.« Sie küßte seine Wange und ließ ihre Finger federleicht über seine Brust und die Haare auf seinem Bauch gleiten. »Ich liebe deinen Körper.« Er beugte sich vor und küßte ihre rechte Brustwarze. »Allmächtiger Gott«, sagte sie, »wenn du das tust, glaube ich, ich könnte einfach wieder von vorn anfangen.« »Dann tun wir es doch.« Seine Stimme war gedämpft. Ich bin dabei, mich zu verlieben, dachte Cole. Verdammt noch mal.
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23 Francey rief an, um Carly zu fragen, ob auch nur die geringste Chance bestünde, daß sie am Wochenende nach Hause komme. Alle zwei Monate hatte sie an einem Freitag einen Flug am frühen Abend genommen und das Wochenende bei ihrer Mutter und Walt verbracht. Walt bezahlte ihr jedesmal den Flug. Er sagte, wenn sie es wolle, bezahle er ihr jedes Wochenende einen Flug nach Hause. Carly dachte an das Sinfoniekonzert, für das Cole Eintrittskarten hatte. Für sie würde es das erstemal sein. Und gestern hatte sie sich ein neues Kleid gekauft. »Also, ich sage dir am besten einfach, was los ist«, fuhr Francey fort. »Ich glaube, Zelda Marie hätte nichts gegen einen Besuch von dir einzuwenden. Ich bin zu ihr rausgefahren. Sie hat mit ihren fünf Kindern alle Hände voll zu tun, und dieser nichtsnutzige Mann, den sie geheiratet hat, hilft ihr kein bißchen, sondern treibt sich fast jeden Abend bei Barney’s rum, spielt Poolbillard und trinkt, und ich habe den Verdacht, er schmiert auch anderen Mädchen Honig um den Mund.« Francey würde ihren Yankee-Akzent vermutlich nie ganz verlieren, doch sie hatte ein paar Redewendungen aus dem Süden übernommen. »Sie könnte dringend eine Freundin gebrauchen«, fügte Francey hinzu. »Mir hat sie nichts Genaueres erzählt, aber ich glaube, dir gegenüber würde sie aus sich herausgehen.« »Ich habe am Freitag abend eine Verabredung, aber ich könnte den Flug um sechs Uhr vierzig am Samstag morgen nehmen; dann wäre ich kurz nach acht da.« Francey war die Erleichterung deutlich anzumerken. »Das wäre wunderbar. Walt wird dich am Flughafen abholen, und ich werde inzwischen das Frühstück machen. Warte nur, bis du all unsere Blumen siehst.« Carly lachte. »Ich kann mir euch beide beim besten Willen nicht als Gärtner vorstellen.« »Warte, bis du all unsere Gemüsesorten kostest.« »Keine Okraschoten, Mom.« Francey konnte das schleimige Zeug nicht ausstehen, aber Carly wußte, daß Walt es leidenschaftlich gern aß. Cole fragte sich, was mit ihm nicht stimmte. In Acapulco hatte ihn sein Auftreten mit Carly in aller Öffentlichkeit mit Stolz erfüllt, aber es war ihm peinlich, in einem Konzert des Symphonieorchesters von Houston mit ihr in der Loge der Coleridges gesehen zu werden. Sie 156
trug ein knallrotes Kleid mit Pailletten und dazu glitzernde Ohrringe, und das blonde Haar hatte sie kunstvoll aufgesteckt. Sie mußte viel Geld dafür ausgegeben haben, doch ihre Aufmachung wäre Hollywood angemessener gewesen als Houston. Seine Eltern waren noch nicht eingetroffen, als das Konzert begann. Einen Moment lang hoffte er, sie hätten es sich anders überlegt und kämen doch nicht. Die Musik war für seine Begriffe himmlisch – Rachmaninow, Strawinsky –, aber Carly beugte sich zu ihm vor, um zu fragen: »Spielen die denn gar nichts, was eine Melodie hat?« Eine Melodie? Die erhabenste Musik auf Erden, und sie beklagte das Fehlen einer Melodie. Sie sah ihn jedoch an, als sie ein Stück erkannte. »Ah, Stairway to the Stars«, sagte sie. Dann beugte sie sich wieder vor und flüsterte: »Ich wußte zwar, daß du wichtig bist, aber nicht, daß du so wichtig bist. Wir werden von den Leuten angestarrt.« »Sie sehen alle dich an«, flüsterte er zurück. »Mich?« »Weil du mit nichts Ähnlichkeit aufweist, was man je zuvor in der Loge der Coleridges gesehen hat. Weil du so schön bist.« In der Pause schlug er ihr nicht vor, mit ihm zur Bar runterzugehen, doch er stand auf und streckte sich in dem Moment, als seine Eltern eintraten. »Es tut uns leid, aber das Abendessen hat sich länger hingezogen als…« Coles Mutter unterbrach sich mitten im Satz. Carly erkannte innerhalb von Sekunden, daß Mrs. Coleridge sie genauso ansah, wie es die Frauen in Verity immer getan hatten. In dem Moment wußte sie, daß sie ein unpassendes Kleid und geschmacklose Ohrringe trug und daß sie das Haar hätte zurückstecken müssen, damit sich nicht ständig einzelne Locken aus ihrer Frisur lösten. Im ersten Augenblick wollte sie im Erdboden versinken, doch dann streckte sie ihre Hand aus und hielt sie Mrs. Coleridge hin. »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie. Mrs. Coleridge schüttelte Carly matt die Hand. Mr. Coleridge hüstelte, als müßte er sich räuspern, und als Cole die beiden miteinander bekannt machte, sagte er nichts weiter als: »Miss Anderson.« Es kam nicht von ungefähr, daß Mrs. Coleridge tonangebend in der Gesellschaft von Houston war. Mit einem huldvollen Lächeln warf sie ihre weiße Nerzstola auf den Sitz hinter sich. »Sind sie heute in der gewohnten Form?« fragte sie und bezog sich dabei auf das Orchester. In dem Moment trat ein Türhüter mit vier Gläsern, 157
Zitronenscheiben und Perrier ein. »Gefällt Ihnen die Musik bisher?« erkundigte sich Coles Mutter. Carly schob die Lippen vor und sagte: »Also, wenn Sie mich fragen, ich halte es immer für gut, meinen Horizont zu erweitern. Ich vermute, Musik ohne Takt ist gewöhnungsbedürftig, wie Oliven, aber mit der Zeit kann man sicher auf den Geschmack kommen.« Mrs. Coleridge lächelte mit zusammengekniffenen Lippen. »Und wo haben Sie das College besucht, Miss Anderson?« Auf diese Frage hin lachte Carly nur. Coles Mutter wollte sie demütigen. Der Teufel sollte sie holen, wenn sie versuchte, diese Leute zu beeindrucken. Wenn Cole nicht damit zurechtkam, dann war das sein Problem. Trotzdem war es an der Zeit, daß sie endlich lernte, wie man sich passend anzog. Als das Konzert zu Ende war, winkte Mrs. Coleridge jemandem in einer anderen Loge zu und wandte sich dann an Cole. »Wir treffen uns noch mit den Morrisons.« Carly entging nicht, wie störrisch Cole das Kinn vorschob, mit einem verkniffenen Zug um den Mund. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde. Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter ihr, und sie hatte sich mit dem Essen beeilen müssen, um rechtzeitig zu dem Sinfoniekonzert zu erschienen. Sie wollte ins Bett gehen. Allein. Ein Buch lesen und morgen mit dem Gefühl aufwachen, daß absolut nichts Dringliches erledigt werden mußte, daß sie noch nicht einmal nachzudenken brauchte. Und am allerwenigsten war ihr danach zumute, früh aufzustehen und eilig zum Flughafen zu fahren, um in das langweilige alte Verity zu fliegen. Cole hatte jedoch andere Pläne. »Ich habe ein spätes Abendessen für uns bestellt. Es wird ins Haus gebracht«, sagte er und lächelte dabei, als wäre das eine zauberhafte Überraschung. Carly wünschte, sie hätte eine Aspirintablette in der Handtasche. »Ein romantisches Mitternachtsmahl.« »Mit Musik, zu der man tanzen kann?« »Mit Musik, zu der man tanzen kann. Und was du dir sonst noch wünschst.« Als sie in die Nachtluft hinaustraten, blieben Männer stehen, um Cole die Hand zu schütteln, und Frauen küßten ihn flüchtig auf die Wange und murmelten Begrüßungen. Er machte Carly mit so vielen Menschen bekannt, daß sie sich hinterher an keinen einzigen Namen erinnern konnte. Im Wagen auf dem Weg zu seiner Wohnung schaltete Cole einen Radiosender mit Musik zum Träumen ein. Er hielt ihre Hand während der ganzen Fahrt. Um elf erschien jemand von einem Partyservice mit gebratenem Fasan, Wildreis und Erbsen, 158
winzigen warmen Brötchen und Käsekuchen mit Schokolade. Carly konnte nicht anders, sie mußte laut lachen. Der Tisch wurde mit edlem Leinen und Silber gedeckt, und in die Mitte wurde eine Schale mit weißen Rosen gestellt. Cole schaltete das Licht aus und zündete die Kerzen an. »Es ist tatsächlich romantisch«, sagte Carly. »Ich wußte gar nicht, daß du dafür eine Ader hast.« Cole zog sie in seine Arme. »So war ich früher nie. Das liegt nur an dir.« Carly begann eine Cole-Porter-Melodie zu summen, und Cole knabberte zart an ihrem Ohr. Ihr ging es schon wieder viel besser. »Ich finde die Vorstellung gräßlich, dich später nach Hause gehen zu lassen«, sagte Cole. »Bleib heute nacht hier, und ich fahre dich morgen bei Tagesanbruch zum Flughafen hinaus.« »Ich habe keine Zahnbürste bei mir«, entgegnete sie. »Außerdem brauche ich meine kleine Reisetasche, in die ich ein paar Sachen für das Wochenende gepackt habe.« »Und ich male mir schon seit letztem Dienstag in glühenden Farben aus, was ich alles mit dir machen möchte.« Das war der Tag, an dem sie sich das letztemal gesehen hatten. »Ich kann anscheinend einfach nicht genug von dir kriegen. Ich denke öfter an dich als an meine Geschäfte. Ich liege nachts im Bett und denke an deinen Körper und…« Er drückte ihre Hand. »Ich weiß, was du heute abend durchgemacht hast.« »Wie meinst du das?« »Meine Eltern. Es muß für dich gewesen sein, als wärst du wieder in Verity, nicht wahr?« Sie starrte ihn an und war erstaunt darüber, daß er ihre Empfindungen so deutlich wahrgenommen hatte. Dann stand sie auf, ging zu ihm und schlang die Arme um ihn. »Cole, du bist so ziemlich der netteste Mensch auf Erden.« »Netter als Walt?« Sie lächelte. »Kein Mensch ist netter als Walt. Aber du stehst auf einer Stufe mit ihm.« Er nahm ihr Gesicht in die Hände und beugte sich vor, um sie zu küssen und die Nadeln aus ihrer Hochfrisur zu ziehen. »Komm, Carly, oder ich falle gleich hier im Eßzimmer über dich her.« Sie lachte, zog den Reißverschluß auf dem Rücken ihres Kleides runter, ließ es auf den Boden fallen und stand nur noch in einem leuchtend roten Slip vor ihm. »Gütiger Himmel«, murmelte Cole. 159
Es war schon kurz nach halb zwei, als sie sich von dem Teppich erhoben, den Käsekuchen aus dem Kühlschrank holten, Kaffee aufbrühten, sich im Schneidersitz nackt auf den Fußboden setzten und bis spät in die Nacht hinein redeten. Es war noch dunkel, als Cole sie zu ihrer Wohnung fuhr, damit sie ihren Koffer holen konnte, und sie dann zum Flughafen brachte. Er blieb dort, bis das Flugzeug startbereit war, bis es nur noch ein kleiner Punkt am Himmel war, bis er es nicht mehr sehen konnte. Während er zuschaute, wie Carly verschwand, wogte eine Leere in ihm auf, die mit nichts vergleichbar war, was er je zuvor empfunden hatte.
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»Gibt es denn gar keinen Mann in deinem Leben?« fragte Walt. »Ich bin nicht ganz sicher.« Carly lächelte verschmitzt. »Ich meine, ja, es gibt einen, und ich amüsiere mich, aber ich möchte im Moment wirklich noch nicht darüber reden.« Walt und Francey tauschten Blicke miteinander aus. Vielleicht würde Carly sich endlich auf eine Beziehung einlassen. Vielleicht würde sie eines Tages sogar heiraten. Am Samstag nachmittag fuhr Carly zu Zelda Marie raus. Sie hatte angerufen, und sie hatten sich für vier Uhr verabredet. Zelda Marie meinte, Joe Bob sei nicht da und komme erst sehr spät wieder, da ja heute Samstag sei, obgleich man das bei ihm nie genau wisse. Also konnte auch Carly nicht genau sagen, wann sie zurückkehren würde. Das hänge ganz allein von Joe Bob ab. Sie wolle nicht bleiben, wenn er da sei. Francey nickte. »Bis acht warte ich mit dem Abendessen.« »Bis dahin bin ich bestimmt wieder hier«, erwiderte Carly und fuhr dann mit Walts Cadillac im Rückwärtsgang die Auffahrt hinunter. Der Motor klang wie das Schnurren einer riesigen Katze. Dazu fiel ihr Cole ein. Sie fand, Frauen machten sich zu große Sorgen um ihre Zukunft und darum, wie sich eine Beziehung entwickeln würde, und erlaubten es sich nicht, die Gegenwart zu genießen. Sie kostete die Gegenwart mehr als in all den Jahren aus, die vergangen waren, seit Boomer im Mittelpunkt ihres Lebens gestanden hatte. Seit mehr als fünf Jahren hatte sie sich nicht mehr derart lebendig gefühlt. Sie bog von der asphaltierten Straße ab, und als sie über den Feldweg fuhr, erinnerte sie sich wieder daran, wie viele glückliche Wochenenden sie hier draußen mit Zelda Marie, die ihr das Reiten beigebracht hatte und mit der sie am Rande des Wäldchens hinter dem Haus im Bach geschwommen war, verlebt hatte. Es mochte zwar sein, daß ihr Verity verhaßt war, doch wenn man den Ort hinter sich ließ und nicht mehr als nur vier Meilen weit hinausfuhr, dann war man wirklich in einer sehr hübschen Gegend, in der viele große bemooste Eichen wuchsen und all diese Herefordund Santa-Gertrudis-Rinder die Landschaft sprenkelten. Sie fragte sich trotzdem, wie es Zelda Marie schaffte, nicht längst übergeschnappt zu sein, konnte man doch hier draußen auf dem Land absolut nichts anfangen. 161
Wie sehr sich die Pfade voneinander unterschieden, die ihrer beider Leben eingeschlagen hatten. Carly schüttelte den Kopf, als sie auf das Haus zufuhr, vor dem Zweiräder und Dreiräder standen. Überall lagen Spielsachen verstreut, und unter der hohen Eiche, die ihren Schatten auf die Veranda vor dem Haus warf, tollten ein paar Welpen herum. Von den Kindern war nirgends etwas zu sehen. Als Carly die Wagentür öffnete, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Eine gespenstische Stille hing in der Luft. Das Haus hätte einen frischen Anstrich gebrauchen können. Die Veranda vor dem Haus wies etliche zersplitterte Bodendielen auf, und aus dem Geländer war ein Stück herausgebrochen. Das Ganze machte einen deprimierenden Eindruck und wirkte regelrecht heruntergekommen. Die arme Zelda Marie. Und all das nur, weil sie dieses eine Mal… Carly hörte etwas, was sie für Weinen hielt. Sie wußte, daß es zwecklos war, an der Haustür anzuklopfen. Die wurde nie benutzt. Sie fragte sich, ob ihre Angeln überhaupt noch funktionierten. Im Sommer stand die Tür offen, um jeden Lufthauch einzulassen, aber selbst dann benutzte kein Mensch diesen Eingang. Sie lief zur Hintertür und hörte einen wimmernden Laut. Jetzt rannte sie auf die offene Küchentür zu, deren Moskitogitter mehrere große Löcher aufwies. In dem Moment, in dem sie die Türschwelle erreichte, hörte sie die Stimme ihrer Freundin. »Wag es bloß nicht, ihn anzurühren!« schrie Zelda Marie. Sie kauerte in einer Ecke der Küche neben dem großen Holzofen und hielt einen Arm schützend vor sich; ihre Lippen waren blutbeschmiert, ein Zahn fehlte, und ihr linkes Auge war fast ganz zugeschwollen. Joe Bob stand über ihr und hämmerte mit den Fäusten auf sie ein, als wäre sie ein Sandsack. In der Eßzimmertür stand eines der Kinder und schrie mit erstickter Stimme: »Hör auf, Daddy! Hör auf!« Joe Bob hatte sich den Jungen offenbar bereits vorgenommen, denn sein linker Arm hing in einem Übelkeit erregenden und äußerst unnatürlichen Winkel herunter. Joe Bob wandte sich von Zelda Marie ab und streckte einen Arm nach seinem Sohn aus, um ihn zu packen, doch der kleine Junge wich im letzten Moment zurück, und Joe Bobs Arm traf seinen Kopf fest genug, um ihn zu Boden zu schlagen. »Du Mistkerl!« rief Zelda Marie mit schriller Stimme. Als Joe Bob begann, ihr in den Bauch zu treten, sah Carly die gußeiserne Bratpfanne auf dem Herd. Ohne erst nachzudenken, griff sie nach 162
ihr, hob sie hoch über ihren Kopf und ließ sie auf Joe Bobs Schädel
niedersausen. Er sackte auf dem abgetretenen Linoleum zusammen.
Es schien noch nicht einmal so, als fiele er. Er lag ganz einfach
plötzlich auf dem Boden. Er stöhnte nicht. Er gab keinen Laut von
sich.
Der kleine Junge hörte auf zu weinen und starrte auf seinen Vater.
Zelda Marie setzte sich ein wenig aufrechter hin und sah Carly
überrascht an. Carly hielt die Bratpfanne immer noch in der Hand.
Kein Laut war zu hören.
Dann kroch Zelda Marie zu Joe Bob und hielt ihr Ohr erst an seine
Brust und dann unter seine Nase. »Ich kann nichts hören«, flüsterte
sie durch geschwollene Lippen.
»Ich hoffe, er ist tot!« kam es von dem kleinen Jungen. »Das ist er«,
sagte seine Mutter, und ihre Stimme klang jetzt kräftiger.
»O mein Gott«, hauchte Carly. Sie ließ sich auf den Holzlattenstuhl
sinken und hielt die gußeiserne Pfanne weiterhin in ihrer Hand.
Einen Moment lang glaubte Carly, Zelda Marie würde in Tränen
ausbrechen. Statt dessen begann sie zu lachen. Ihr Lachen wurde
immer hysterischer, und sie konnte einfach nicht mehr damit
aufhören.
Carly starrte sie ungläubig an, und dann begann sie gegen ihren
Willen ebenfalls zu lachen, und das so sehr, daß sie sich die Seiten
halten mußte.
Der kleine Junge fing auch zu lachen an.
Keiner von ihnen konnte aufhören. Sie lachten unbändig.
Fast fünf Minuten lang ging es so.
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Zelda Marie kam als erste wieder zu sich. Sie begab sich seelenruhig zum Telefon und rief bei der Polizei an. Durch ihre geschwollenen und aufgesprungenen Lippen brachte sie kaum ein Wort heraus, und sie hielt sich den Bauch, da sie offensichtlich große Schmerzen hatte. »Du hast uns gerettet, Carly«, sagte sie abgehackt und undeutlich. »Little Joe hat er bisher noch nie geschlagen.« Sie drehte sich zu dem kleinen Jungen um. »Ist alles in Ordnung mit dir, Schätzchen?« Er stand mit weit aufgerissenen Augen da, und sein Arm hing mit dem Ellbogen nach vorn an seiner Seite herunter. Zelda Marie versuchte, ihn zu sich zu ziehen, doch er wand sich und wich zurück; der Schmerz war deutlich in seinen Augen zu sehen. Er begann zu schluchzen. »Wir müssen ihn dringend zu einem Arzt bringen«, sagte Carly. »Erst müssen wir mit der Polizei reden«, erwiderte Zelda Marie. Carly hatte plötzlich schreckliche Angst davor, daß sie ins Gefängnis kommen könnte. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte Franceys Nummer. Walt würde ihr bestimmt helfen. »Mom, gib mir bitte Walt«, sagte sie, als Francey sich gemeldet hatte. Im nächsten Moment hatte sie Walt am anderen Ende. Als Carly ihn bat, sofort zu den Spencers rauszukommen, fragte er noch nicht einmal, warum. »Du hast uns das Leben gerettet«, wiederholte Zelda Marie »Das kann dir niemand vorwerfen.« Aber sie klang nicht sehr überzeugend. Carly wußte, daß die Zeitungen darüber berichten würden, was die Einwohner von Verity in ihrer Haltung Carly gegenüber nur noch bestätigen würde. Würden die Leute in der Bank etwas davon erfahren? Würde Cole davon hören? Gewiß würde der Umstand, daß sie einen Menschen getötet hatte, ihrer Beziehung ein Ende bereiten. Zelda Marie kam auf Carly zugehumpelt, schlang die Arme um ihre Freundin und begann jetzt auch zu weinen. Sie und Little Joe gaben wimmernde Laute von sich. Mike, der älteste Junge, kam in die Küche, blieb jedoch abrupt stehen. Er starrte seine blutbeschmierte Mutter an. Zelda Marie drehte sich um und sagte zu ihm: »Geh wieder und sorg dafür, daß deine Geschwister nicht hier reinkommen. Uns fehlt nichts, aber Daddy ist tot.« Mikes Augen 164
wurden groß und rund, und sein Kiefer fiel herunter. »Es war ein Unfall«, erklärte Zelda Marie. »Daddy hat sich verletzt.« Little Joe sah seine Mutter an und steckte den Daumen in den Mund. »Ich habe ihn getötet.« Mike blickte seinen Bruder skeptisch an. »Ich war es, ehrlich. Mit dieser Bratpfanne da, mit der habe ich es getan.« Der Junge kann nicht älter als fünf sein, dachte Carly. »Mikey«, sagte Zelda Marie kopfschüttelnd, »du wirst jetzt dafür sorgen, daß die anderen Kinder nicht reinkommen. Wir reden dann später darüber, in Ordnung?« In der Ferne heulte eine Sirene. Als Michael J. regungslos stehenblieb, erhob Zelda Marie die Stimme. »Hast du mich gehört, mein Sohn?« Mike sah seinen kleinen Bruder an und erklärte: »Ich wünschte, ich hätte es getan«, ehe er sich abwandte, um zu gehen. Beide Frauen schwiegen, während sie warteten und hörten, wie die Sirenen zunehmend lauter wurden. Der Wagen mit den Blinklichtern fuhr vor und hielt neben dem Haus an. Zelda Marie wandte sich Little Joe zu und flüsterte: »Ich will nicht, daß du auch nur ein Wort sagst, hast du gehört?« Der kleine Junge schüttelte den Kopf und lutschte an seinem Daumen. Der Sheriff pochte an die offene Tür und trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Er schaute sich in der Küche um und sah Little Joe und Zelda Marie an. Ohne auch nur ein Wort von sich zu geben, ging er auf Joe Bob zu, kniete sich neben ihn und legte die Finger auf seine Kehle. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Er ist tot.« Das war nicht zu übersehen. Sheriff Redford stand auf und wandte sich an Zelda Marie, die er schon seit ihrer Geburt kannte. »Es schaut ganz so aus, als sollten wir euch beide besser ins Krankenhaus bringen. Ich werde einen Krankenwagen rufen.« Man brauchte sich Little Joes gräßlich gekrümmten Arm bloß anzusehen, damit einem schlecht wird, dachte Carly. Und auf Zelda Maries Rock hatten sich Blutflecken zu bilden begonnen. »Sheriff«, sagte Carly, die es möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Zum erstenmal drehte sich der Sheriff zu ihr um und sah sie wirklich an. »Ach, Sie sind doch Walts Stieftochter, nicht wahr? Sie waren 165
als Zeugin anwesend?« Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, wandte er sich wieder Zelda Marie zu. »Es wird keinen Ärger geben«, erklärte er. »Er fordert das doch schon seit Jahren heraus. Er hat es selbst heraufbeschworen. Ich wette, noch nicht einmal sein eigener Poppa wird sich wundern. Solange ich hier bin, wirst du keine Schwierigkeiten bekommen.« Dann sah er erneut Carly an. »Sie können doch bestimmt beschwören, nicht wahr, daß sie es getan hat, um sich und ihren Kleinen zu beschützen? Wahrscheinlich werden wir gar keine Aussage brauchen, aber nur für den Fall – Sie waren doch Augenzeugin, nicht wahr?« »Sheriff«, probierte Carly es noch einmal, doch diesmal fiel ihr Zelda Marie ins Wort. »Ja, sie hat es mit angesehen. In dem Moment, in dem sie zur Tür reingekommen ist, habe ich ihn niedergeschlagen. Er hat dem kleinen Joe den Arm verbogen, und als er mir den Rücken zugekehrt hat, habe ich die Bratpfanne mit aller Kraft auf ihn runtersausen lassen. Ich bin froh, daß ich es getan habe.« »Du bist nicht die einzige, Zelda Marie«, sagte der Sheriff, »die sich darüber freuen wird, daß das passiert ist. Auch wir von der Polizei können jetzt etwas ruhiger schlafen. Von jetzt an wird man uns nicht mehr jedes Wochenende zu Barney’s rausrufen, damit wir in die Schlägereien eingreifen, die er immer herausgefordert hat. Mit dieser Niete hast du dir ganz schön was eingebrockt, Mädchen. Wir werden jetzt einen Krankenwagen herkommen lassen, damit sich jemand um euch beide kümmert. He, hört mal, ich habe da eine Idee. Ihr haltet den Mund, und wir sagen ganz einfach, daß er die Treppe runtergefallen ist. Die zerbrochenen Bodendielen draußen auf der Veranda bestätigen den Tatbestand. Warum soll man unnötiges Aufsehen erregen. Das muß doch nicht sein.« Er wandte sich an Little Joe und kniete sich vor ihn hin. »Du weißt wahrscheinlich gar nicht, wovon ich rede, stimmt’s?« »Ich habe meinen Dad getötet«, sagte Little Joe. »Wunschdenken«, erwiderte der Sheriff. »Es wird eine Menge Leute geben, die sich gern mit diesen Federn schmücken würden. Aber dazu lassen wir es gar nicht erst kommen. Er ist diese Stufen hinter dem Haus runtergefallen, so sinnlos betrunken, wie er es meistens war, und dabei hat er sich den Kopf auf den Bodenbrettern aufgeschlagen. Keine gerichtliche Untersuchung der Todesursache, keine Autopsie, nichts dergleichen. Nur eine kurze Spalte im Clarion. 166
Einverstanden?« Und dann fragte er Carly: »Ist das okay? Werden Sie den Mund halten, was diesen Vorfall angeht?« Carly fand, sie sollte die Situation richtigstellen, doch irgendwie war ihr klar, daß er nicht auf sie gehört hätte. Ihm war vollkommen gleichgültig, wer loe Bob getötet hatte. In dem Moment hörten sie Schritte auf der Veranda, und als sie aufblickten, sahen sie Walt in der Tür stehen. »Mein Gott«, sagte er mit einer hohlen Stimme und vergewisserte sich gleich, daß Carly nichts fehlte. »Tag, Walt.« Der Sheriff nickte ihm zu. »Sie kommen gerade im rechten Moment. Das erspart es mir, einen Krankenwagen zu rufen. Würden Sie die beiden zum Arzt bringen? Es sieht so aus, als könnte Doc Clarke sie in seiner Praxis behandeln. Wenn nicht, dann wird er euch nach Corpus Christi rüberschicken. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Walt und hob Little Joe vorsichtig hoch, darauf achtend, daß er den Arm nicht berührte, der so aussah, als wäre er falschherum angeklebt worden. Dann sagte er zu Carly. »Sie bleiben hier bei den anderen Kindern.« O Gott, dachte Carly. Sie sollte bei den Kindern bleiben, deren Vater sie gerade getötet hatte? Sie fing an zu zittern. Zelda Marie nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer ihrer Eltern. »Momma, wir hatten hier gerade einen Unfall, und Mister Davis ist da und wird Little Joe und mich zum Arzt fahren. Nein, nein. Uns fehlt nichts weiter. Nein, ich will nicht, daß du rüberfährst, du wirst hier viel mehr gebraucht. Komm bitte her, und kümmere dich um die Kinder. Es kann sogar sein, daß wir über Nacht im Krankenhaus bleiben müssen.« Sie wartete einen Moment. »Nein, das ist es nicht. Joe Bob ist tot. Nein, Momma, weine nicht. Es ist schon in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Carly bleibt hier, bis du da bist. Ich werde dir später in Ruhe erzählen, was passiert ist. Einverstanden? Momma, jetzt hör schon auf damit. Es ist alles in Ordnung. Ja, und zwar augenblicklich.« Der Sheriff nickte zustimmend. »Ich bestelle zwei von den Jungs hierher, damit sie die Leiche fortschaffen. Sollen wir sie zu Mueller’s bringen?« »Ja, das ist vermutlich das beste«, antwortete Zelda Marie. Der Sheriff ging auf sie zu und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich werde hier warten, Mädchen, bis deine Mutter kommt, und dann erkläre ich ihr, was vorgefallen ist. Das brauchst du dir nicht 167
auch noch anzutun. Ich werde ihr sagen, daß sie sich keine Sorgen machen soll. Außerhalb dieses Raums wird kein Mensch jemals erfahren, daß es kein Unfall gewesen ist, noch nicht einmal die Männer, die ihn abholen, und auch nicht deine Momma, es sei denn, du selbst erzählst es ihr. Wage es bloß nicht, dir Vorwürfe zu machen. Du hast schon viel zu lange viel zuviel mitgemacht.« Zelda Marie fing an zu weinen. Walt zog die Augenbrauen hoch und sah Carly an. Er hielt Little Joe immer noch auf seinem Arm. Carly hatte das Gefühl, daß sie sich übergeben mußte. »Ich weine nicht um Joe Bob«, erklärte Zelda Marie. »Ich weine, weil ich höllische Schmerzen habe.« Der Blutfleck auf ihrem Rock war inzwischen noch größer geworden. »Also, los jetzt«, sagte Walt und lief zur Tür hinaus. Kurz darauf kam er wieder, hob Zelda Marie hoch und trug auch sie zum Wagen. »Ein feiner Mann, Ihr Stiefvater«, sagte der Sheriff, und dann wandte er sich ab, um in seinem Büro anzurufen und zu veranlassen, daß die beiden Polizisten von Verity rausgeschickt wurden. »Sie sollen einen Leichensack mitbringen«, sagte er zu dem Mädchen am anderen Ende der Leitung. Carly fragte sich, ob sie für den Rest ihres Lebens unter Schuldgefühlen leiden würde. Sie hatte einen Menschen getötet. Doch man konnte es auch so sehen, daß sie Zelda Marie und ihren Sohn gerettet hatte. Sie ging ins Bad und übergab sich. Als Carly nach Hause kam, war es schon dunkel. Sie wußte, daß sie Walt und ihrer Mutter die Wahrheit würde sagen müssen. Ob sie ihr wohl jemals verzeihen würden? In dem Moment, in dem sie die Stufen hinauf stieg, öffnete Francey die Tür. Hinter ihr brannte Licht, und sie hatte die Arme ausgebreitet. »Mein Kleines«, sagte sie und drückte sie an sich. Ihr war deutlich anzusehen, daß sie geweint hatte. Walt stand hinter ihr. »Zelda Marie hat mir die Wahrheit gestanden«, erklärte er. »Sie dachte, du könntest Trost gebrauchen. Aber niemand sonst wird etwas davon erfahren, Carly. Kein Mensch.« »O mein kleiner Liebling!« rief Francey aus. »Wie furchtbar für dich. Und für Zelda Marie. Man darf sich gar nicht vorstellen, was sie in all diesen Jahren durchgemacht hat.« »Erinnere mich daran, daß ich Dick Redford niemals abweise, wenn er ein Darlehen haben will«, sagte Walt. »Ihr findet nicht abscheulich, was ich getan habe?« fragte Carly, die sich plötzlich vor Erleichterung ganz matt fühlte. 168
»Liebes, du hast der Welt einen Gefallen getan und erst recht deiner besten Freundin und ihrer Familie.« »Aber ich habe einen Menschen getötet«, sagte Carly zu Walt, als Francey sie ins Haus zog. »Es gibt Schlimmeres«, erwiderte er. »Männer, die im Krieg töten, sind Helden«, erklärte Francey. »Du bist eine Heldin, zumindest in unseren Augen.« »O Mom, niemand auf Erden hat bessere Eltern als ich.« Sie gingen in die Küche, wo Walt Margaritas bereitstehen hatte. »Ich bin gerade noch rechtzeitig nach Hause gekommen, um Drinks für euch beide zu zaubern.« Es roch nach Braten. Carly wußte, daß sie keinen Bissen hinunterbringen würde. »Da gerade davon die Rede ist, was für wundervolle Eltern wir beide sind«, sagte Walt, und ein Lächeln ließ seine Augen funkeln. »Wir hatten ohnehin vor, es dir im Lauf des Wochenendes mitzuteilen. Vielleicht glaubst du, du seist schon etwas zu alt dafür, aber ich würde dich gern offiziell adoptieren.« Tränen traten in Carlys Augen. »Ich möchte dein Vater sein«, sagte Walt, und auch seine Augen waren feucht. »Ich will, daß die beiden wunderbarsten Frauen auf Erden mir gehören.« Carly brach in Tränen aus.
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26 Als ihr Flugzeug in Houston landete, stellte Carly zu ihrem Erstaunen fest, daß Cole sie am Flughafen erwartete. Im ersten Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach an ihm vorbeizulaufen. Sie wollte jetzt wirklich niemanden sehen, und am allerwenigsten Cole. »Wie sieht es aus?« fragte er, als sie sich auf den Weg zum Parkplatz machten. »Konntest du die Probleme deiner Freundin lösen?« O Gott, und wie ich sie gelöst habe, dachte Carly. Doch sie nickte nur und sagte: »Ja, ich glaube schon, daß ich ihr helfen konnte.« »Du schaust aus, als hättest du die ganze Nacht kein Auge zugetan.« »Das trifft es so ziemlich«, erwiderte sie. Sie nahm an, daß er sich, wenn sie ihm erzählen würde, was sich tatsächlich zugetragen hatte, in Windeseile davongemacht hätte. Und das stimmte sie nicht gerade freundlicher ihm gegenüber. »Das einzige, was ich mir im Moment wünsche, ist ein heißes Bad und Schlaf.« Seine Miene verfinsterte sich eine Spur, und er ergriff ihre Hand. »Du bist zu müde für mich…?« »Ja«, sagte sie. »Viel zu müde. Ich weiß, daß du mich deshalb heute abend vom Flughafen abgeholt hast, aber ich bin total erschöpft.« Sie wollte keine Gesellschaft haben. Sie brauchte Platz und Zeit für sich allein, um all das zu verarbeiten, was sich an diesem alptraumhaften Wochenende ereignet hatte. Kurz vor ihrem Abflug hatte sie Zelda Marie im Krankenhaus besucht. Carly hatte versucht, ihr zu sagen, wie leid es ihr tue, doch Zelda Marie hatte die Hand gehoben und sie zurückgehalten. »Carly, du hast mir und den Kindern einen Gefallen getan.« »War er versichert?« Zelda Marie schüttelte den Kopf. »Nein, was denkst du denn? Aber wir werden gut zurechtkommen. Er ist uns nie eine große Hilfe gewesen. Schon seit unserer Hochzeit hat Daddy uns immer wieder unter die Arme gegriffen. Und weißt du, was er heute morgen zu mir gesagt hat? Er hat gesagt, er habe sich geirrt. Er hätte niemals darauf bestehen dürfen, daß ich Joe Bob heirate. Ich hätte nie geglaubt, jemals diese Worte von meinem Daddy zu hören.« »Versteh mich richtig. Ich bin bereit, dem Sheriff die Wahrheit zu sagen.« 170
»Red keinen Unsinn! Dem hat ein einziger Blick auf Little Joe und mich genügt, um sich vorstellen zu können, daß ich es getan habe, und noch dazu mit gutem Grund. Sieh mich doch an. Meine Augen sind fast so übel zugeschwollen, wie meine Lippen aufgeplatzt sind. Und außerdem wird niemand glauben, daß ich ihn getötet habe, nur der Sheriff. Und was sagst du zu Little Joe? Er ist gerade mal fünf Jahre alt und wollte die Schuld auf sich nehmen, damit mir niemand etwas tun kann. Ist das nicht der Gipfel?« Das mußte Carly zugeben. »Was mir Sorgen macht«, sagte Zelda Marie, »das bist nur du. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß es ein schreckliches Gefühl für dich ist, jemanden getötet zu haben, auch wenn dir klar ist, daß du mir damit einen Gefallen getan hast, und obwohl du genau weißt, daß du Little Joe und mir das Leben gerettet hast. Das ist das einzige, worum ich mir Sorgen mache. Dein Gewissen.« »Mein Gewissen hat keinen Schaden davongetragen«, log Carly. »Und unsere Freundschaft auch nicht. Ganz im Gegenteil.« Zelda Marie ergriff Carlys Hand. Dann versuchte sie zu lachen, doch ihr Mund wollte sich nicht so weit dehnen. »Sieh mal, im Moment habe ich Schmerzen, aber sobald ich die körperlichen Schmerzen hinter mir habe, wird die andere Form von Schmerz, die es in meinem Leben immer gegeben hat, nicht mehr existieren. Ich hänge sehr an dir, Carly, jetzt mehr denn je. Das Beste, was du jemals für mich getan hast, war, daß du an diesem Wochenende nach Verity gekommen bist.« Carly umarmte ihre Freundin, ehe sie das Krankenzimmer verließ, durch den Korridor lief und in den strahlenden Sonnenschein trat. Sie atmete tief ein und sah zum blauen Himmel hinauf. Sie hatte so ein Gefühl, daß Zelda Marie jetzt tatsächlich beginnen würde, ihr Leben zu leben, obwohl Joe Bob nie mehr den Himmel sehen würde. Von nun an mußte sie sich sagen, daß sie, auch wenn sie einen Menschen getötet hatte, doch in allererster Linie gehandelt hatte, um einer Freundin das Leben zu retten. Dennoch hatten die heftigen Gemütsbewegungen des Wochenendes ihren Tribut gefordert, und sie wollte nicht mit Cole reden. Aber auf der Fahrt hielt er ihre Hand fest in seiner und sah sie immer wieder liebevoll von der Seite an. Da sie jetzt allein waren, war sein Gesicht weniger verschlossen. »Ich wußte nicht, daß ich jemanden, den ich nur zwei Tage lang nicht gesehen habe, derart vermissen kann.« Als sie nichts darauf erwiderte, fragte er: »War es ein schönes Wochenende?« Carly suchte nach einer Antwort. »Wahrscheinlich habe ich ein Kilo 171
zugenommen. Meine Mutter hat all meine Lieblingsgerichte gekocht, und weißt du was?« »Nein, was denn?« »Walt will mich adoptieren.« In ihrer Stimme schwang Verwunderung mit. »Ich frage mich, ob er sich wünschen wird, daß ich meinen Namen ablege und mich Carly Davis nenne.« Carly hatte den Blick starr nach vorn gerichtet, nahm jedoch weder die Straße noch die Bäume wahr. »Ich hätte nicht das geringste dagegen.« »Du hängst wirklich sehr an ihm, stimmt’s?« Carly, die noch immer ins Nichts starrte, antwortete: »Ich könnte Walt Davis gar nicht noch mehr lieben, als ich es ohnehin schon tue.« »Der Mann kann sich glücklich schätzen.« Coles Stimme klang so zärtlich, daß sie sich umdrehte und ihn ansah. »Hast du ein Foto von den beiden?« Cole konnte sich vorstellen, wie sie aussahen – wie die Leute auf den Gemälden von Grant Wood. Carly wühlte in ihrer Handtasche und zog ein Foto heraus, das kurz nach der Hochzeit aufgenommen worden war. Als er an einer roten Ampel anhielt, streckte Cole die Hand danach aus. »Umwerfend«, sagte er. »Sie ist unglaublich schön.« »Sie ist die hübscheste Frau, die ich kenne.« Er stieß einen Pfiff aus. »Hübsch ist nicht das richtige Wort. Sie ist… sie schaut aus wie du, wenn man davon absieht, daß sie dunkles Haar hat.« Als sie vor ihrer Wohnung anhielten, fühlte sich Carly besser als bei ihrer Begegnung mit Cole auf dem Flughafen. »Du kannst mit raufkommen und die Tasche tragen. Wenn du willst, bestelle ich telefonisch eine Pizza«, sagte sie. Cole hatte in seinem ganzen Leben noch keine Pizza ins Haus bestellt, aber er wollte unbedingt Carlys Wohnung sehen. Er folgte ihr zum Aufzug. Ihre Wohnung lag im dritten Stock. Sie schloß die Tür auf, und er ging hinter ihr in den Flur und stellte ihre Tasche ab. Ihre Wohnung war zwar keineswegs elegant eingerichtet, doch sie gefiel ihm. Wenn man bedachte, wie klein sie war, dann war es ganz erstaunlich, daß sie keine Gefühle von Klaustrophobie in ihm wachrief. Er fand sie sogar ausgesprochen gemütlich. Die Wände waren weiß gestrichen, was wahrscheinlich bei sämtlichen Wänden in diesem Gebäude der Fall war und auch auf etwa siebzig Prozent aller Wohnungen im ganzen Land zutraf. Ein weicher dunkelgrüner Teppich brachte die Pastelltöne der geblümten Sitzgarnitur zur Geltung, einem Sofa mit passendem Sessel. Carly ging auf die gläsernen Schiebetüren zu und öffnete sie. »Erst 172
mal gründlich durchlüften«, sagte sie. An einer Wand stand ein altmodisches Rollpult, auf dem Papiere verstreut waren. Am anderen Ende des Zimmers befanden sich ein Fernseher und eine Stereoanlage. Eine der Wände wurde völlig von einem Einbauregal eingenommen, das sich unter der Last von Büchern bog, darunter zahlreiche Bestseller in Taschenbuchausgaben. Er drehte sich zu Carly um, die gerade ihre Jacke an einen Haken hängte und sagte: »Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich ein Bad nehme. Hier ist die Nummer für die Pizza. Ich möchte meine mit Ananas, Speck, Käse, Zwiebeln und grünen Paprikaschoten. Okay? In der Küche«, fuhr sie fort und deutete auf die Tür, die der Schlafzimmertür gegenüberlag, »findest du die Zutaten für einen Drink. Ich glaube, ich habe Gin im Haus, und vielleicht gibt es auch noch Tequila und Cointreau, weil ich normalerweise eine Schwäche für Margaritas habe. Im Kühlschrank ist Bier, aber viel mehr wahrscheinlich nicht, abgesehen von Orangensaft und Cola. Ich mache uns Kaffee, nachdem ich ein Bad genommen habe.« Cole sah die Karte in seiner Hand an. Was hatte man zu tun, wenn man eine Pizza bestellen wollte? Wie groß mußte sie sein? Oder sollte er zwei bestellen? Fuhr man hin und holte sie ab, oder wurde sie ins Haus geliefert? Plötzlich ging ihm auf, daß er möglicherweise der einzige Mensch in ganz Amerika war, der noch nie telefonisch eine Pizza bestellt hatte. Er nahm den Hörer ab und wählte. Der Junge sicherte ihm zu, in vierzig Minuten sei die Pizza da. Cole begab sich in die Küche, ein Einheitsmodell, das für Mietwohnungen üblich war, doch Carly hatte dem Raum ganz entschieden ihren persönlichen Stempel aufgeprägt – blau-weiße Gardinen, ein blauer Teekessel und Schränke, die sie wedgwoodblau angestrichen hatte. Etliche Kochbücher standen auf dem Kühlschrank. Er fand den Gin, eine einsame Zitrone und Tonic und mixte sich einen Drink. Mit dem Glas in der Hand ging er wieder ins Wohnzimmer und sah sich die Schallplatten neben der Stereoanlage an. Es war die Art von Musik, die er als Schmusemusik bezeichnete – ein paar alte Platten von Nat King Cole, ansonsten Jefferson Airplane, John Denver, Peter, Paul and Mary. Er zog eine Platte aus dem Gestell und legte sie auf den Plattenteller. Dann trat er auf den winzigen Balkon hinaus und starrte in die Dunkelheit. Da das Apartment im dritten Stock lag, bot der Balkon aufgrund der geringen Höhe keine Aussicht auf die Lichter der Stadt, doch man blickte auf Bäume und einen Pool. Er ließ die Musik auf 173
sich einwirken und fühlte sich von einem seltsamen Wohlbehagen erfüllt, ruhig und ausgeglichen. Er gestattete es sich, in Gegenwart einer Frau locker und entspannt zu sein, die so sexy war wie keine zweite in der ganzen weiten Welt – zumindest in seiner Welt – und noch dazu schöner und reizender als jede andere. Plötzlich wollte er Walt und Francey kennenlernen und sich ein Bild von Carlys Familie machen. Wenn Walt Bankdirektor war, und sei es auch nur im winzigen Verity, dann mußte er einen gewissen gesellschaftlichen Rang einnehmen. Hatte Carly ihm nicht erzählt, der Großvater habe die Bank gegründet? Somit hatte die Familie Davis zweifellos Jahrzehnte lang eine führende Stellung unter den Bürgern von Verity eingenommen. Über mindestens drei Generationen hinweg. Und Walt Davis hatte Carlys prachtvolle Mutter geheiratet, und jetzt wollte er Carly adoptieren, vor aller Welt bekunden, daß er sie als seine Tochter ansah. Als Cole Carly aus dem Schlafzimmer kommen hörte, drehte er sich zu ihr um; in seinen Augen sah sie verändert aus. Es lag nicht an dem pfirsichfarbenen Kimono oder an ihrem Haar, das klatschnaß war, denn so hatte er sie auch schon in Acapulco erlebt. Ja, sie sah jetzt anders aus, aber er konnte nicht sagen, woran es lag. Es war, als sähe er jetzt durch diese wunderbare seidenweiche Haut hindurch und tief in diese blauen Augen hinein, und dort entdeckte er etwas, was ihm bisher verborgen geblieben war. Eine volle Minute lang blickten sie einander an, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und dann ging Carly in die Küche und holte sich ein Bier. Sie kam zurück, stellte sich auf dem Balkon neben ihn und lehnte sich an das schmiedeeiserne Geländer. Sie holte tief Atem und trank einen großen Schluck Bier direkt aus der Dose. »Hast du deiner Mutter von uns erzählt?« fragte Cole. Carly schüttelte den Kopf. Und dann lächelte sie. »Es kann schon sein, daß ich angedeutet habe, es gebe einen Mann, aber ich habe keinen Namen genannt. Glaubst du etwa, ich erzähle ihr von sämtlichen Männern, mit denen ich ins Bett gehe?« Cole grinste. »Sämtliche Männer? Ich und dieser Schuljunge?« Er drehte sich um und zog sie an sich. Ihre Münder fanden einander, und seine Zunge teilte ihre Lippen. Ihre Arme legten sich um seinen Hals, und der Kimono glitt auf den Boden. »Zeig mir dein Schlafzimmer«, murmelte er. »Später«, sagte sie und löste seine Krawatte. »Im Moment kann ich nicht so lange warten.« 174
Doch als sie gerade auf den Fußboden sanken, läutete es an der Tür. Carly schnappte sich ihren Kimono und zog ihn auf dem Weg zur Tür an. Sie fand ihre Handtasche auf dem Stuhl, auf den sie sie geworfen hatte, öffnete und nahm die Pizza entgegen. Während Cole lachend in seine Hose stieg, mixte Carly sich einen Drink, und dann machte sie den Pizzakarton auf und schnitt die Pizza in acht Stücke. Sie legte kleine Bastmatten, die blau und orange gemustert waren, auf den Tisch, holte Teller und Besteck und setzte Wasser für den Kaffee auf. Anschließend ging sie wieder auf den Balkon, lehnte sich an das Geländer und schaute über die Bäume hinaus, ehe sie sich zu Cole umdrehte und ihn ansah. »Ich habe gestern einen Mann getötet«, sagte sie und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Er starrte sie nur an. Sie ging wieder in die Küche, setzte sich, nahm sich ein Stück Pizza und legte es auf ihren Teller. Cole stand immer noch auf dem Balkon. »Setzt du dich zu mir, oder ergreifst du jetzt lieber die Flucht?« Cole kam langsam in die Küche, zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, ließ sich darauf sinken und starrte sie dabei unablässig an. »Erzähl mir mehr darüber.« Carly nahm die Pizza mit den Fingern und biß hinein. Cole sagte kein Wort; er bediente sich auch nicht von der Pizza. Er sah Carly nur an. Nachdem sie drei Stücke von der Pizza gegessen hatte, fragte er: »Reden wir von einem Autounfall?« »Wir reden von Mord. Von einem brutalen Mord«, antwortete sie und wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab. Mindestens zwei Minuten lang herrschte Schweigen, doch es schien eine Stunde anzudauern. »Warum?« fragte er schließlich. »Und wie?« »Mit einer Bratpfanne.« Und dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte, und zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, daß sie weinte und unkontrollierbar zitterte, als sie ihren Bericht beendet hatte. Cole saß stocksteif da. Er wollte sie in seine Arme nehmen, sie bis in alle Ewigkeit festhalten und ihr sagen, daß alles gut sei. Er wollte ihr zeigen, daß die gräßliche Geschichte, die sie ihm gerade erzählt hatte, ihm nichts ausmachte, doch nichts kam aus seiner Kehle heraus, kein Wort, nicht der geringste Laut. Er wollte die Arme ausstrecken und sie anfassen, aber er konnte sich schlichtweg nicht von der Stelle rühren. »Gott sei Dank, daß nichts davon in die 175
Zeitung kommen wird«, war alles, was er schließlich herausbrachte.
Seine Eltern würden nie etwas davon erfahren. »Du darfst
niemandem etwas davon erzählen, Carly. Und bei mir ist dein
Geheimnis gut aufgehoben.«
»Wenn ich das nicht geglaubt hätte, hätte ich nichts gesagt. Ich fand,
du solltest es wissen.« letzt war ihr wohler zumute. So gut hatte sie
sich nicht mehr gefühlt, seit »es« passiert war.
»Wo ist dein Bad?« fragte er. »Hinter dem Schlafzimmer.«
Ihr Schlafzimmer entsprach ziemlich genau seinen Erwartungen,
voller Rüschen und Krimskrams und ganz in Rosa und Weiß
gehalten. Er hatte ursprünglich vorgehabt, über Nacht zu bleiben,
aber jetzt wollte er nur noch so schnell wie möglich verschwinden.
Fort von hier und raus, an die frische Luft. Laufen. Nach Hause
gehen und in Ruhe darüber nachdenken.
Als er in die Küche zurückkam, sagte er: »Ich glaube, du brauchst
Zeit für dich allein.« Hätte sie mit ihm schlafen können, wenn sie
gerade erst vierundzwanzig Stunden vorher einen Mann mit einer
Bratpfanne erschlagen hatte? »Ich komme schon zurecht«, erwiderte
sie, und seine Reserviertheit entging ihr nicht. »Ich muß nur dafür
sorgen, daß ich beschäftigt bin.«
Er unternahm zwar keinerlei Anstalten, sie zu berühren, doch als er
in der Tür stand, sagte er: »Ich danke dir dafür, daß du es mir erzählt
hast, Carly.«
»Ich wollte, daß du es weißt.«
Er nickte, öffnete ohne ein weiteres Wort die Tür zum Treppenhaus
und verschwand.
Und Carly entging auch nicht, daß er ihr keine gute Nacht gewünscht
hatte.
Sie legte sich ins Bett und schlief dreizehn Stunden an einem Stück.
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27 »Zwischen dir und Cole«, fragte Ben, »läuft nichts mehr? Ihr seid nicht mehr zusammen?« Alex zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Cointreau. »Ich wüßte nicht, daß wir jemals zusammengewesen wären.« »Jetzt hör bloß auf«, protestierte Ben. »Zwischen euch war doch schon in frühesten Jugendjahren alles abgemacht.« Sie lächelte ihn an und wechselte das Thema. »Hast du auch nur die geringste Ahnung, was du tun willst?« »Klar. Ich würde gern den Himalaja besteigen, durch die Südsee kreuzen, Gedichte schreiben… aber statt dessen…« »Warte. Warum besteigst du nicht den Himalaja oder durchkreuzt die Südsee? Du bist noch jung. Warum tust du es nicht, ehe du dich häuslich niederläßt und dich festlegst?« Ben seufzte. »Ich wünschte, darauf hätte ich eine Antwort parat. Kein Durchsetzungsvermögen. Ich konnte mich noch nie durchsetzen. Ich wollte Englisch als Hauptfach belegen, aber nein, es mußte unbedingt Volkswirtschaft sein. Von Volkswirtschaft verstehe ich nicht das geringste, und ich mache mir nichts aus Mathematik und aus Logik und aus Geld. Wenn ich nicht schon früher Probleme damit gehabt hätte, mich durchzusetzen, dann könnte ich diese Hand heute noch gebrauchen.« Seine linke Hand lag flach und leblos auf dem Tisch. »Sei nicht albern«, sagte Alex. Sie wußte, daß er selbst nach all den Jahren noch Hemmungen wegen seiner Hand hatte. »Schon gut, Alex. Ich will nicht darüber reden.« Er wechselte das Thema. »Gibt es einen Mann in deinem Leben? Mutter sagt, du hättest dich schon seit Monaten nicht mehr mit Cole getroffen.« Sie zögerte, ehe sie etwas darauf antwortete. »Gewissermaßen.« »Wer ist es? Vermutlich niemand, den ich kenne?« Sie schüttelte den Kopf. »Der Mann, dem du im Club begegnet bist. Brad Bannerman.« Wie hätte sie Ben Coleridge sagen können, daß es in ihrem Leben einen Mann namens Boomer gab? »Aber jetzt hör mal, wir haben uns getroffen, um über dich zu reden.« »Ich weiß nicht, was zum Teufel ich tun soll. Ich will nicht weiterstudieren, wenn ich meinen Abschluß in irgend etwas machen muß, was mit dem Geschäftsleben zu tun hat. Das langweilt mich abgrundtief.« »Gibt es denn gar nichts, was dich reizt?« 177
»Doch, klar. Aber nichts, was einem die Kohle einbringt, die ein Coleridge zu verdienen hat, weil es von ihm erwartet wird. Ich würde gern für eine kleine Lokalzeitung arbeiten, die wöchentlich erscheint.« »Eine Zeitung?« Ben war so wenig praktisch veranlagt. Doch das, nahm Alex an, machte auch einen Teil seines Charmes aus. »Ja. Ich würde gern in einer Kleinstadt leben und alle Leute kennenlernen und eine Zeitung herausbringen. Ich habe auch schon mit dem Gedanken gespielt, daß ich vielleicht versuchen könnte, eine bestehende Zeitung zu finden, die einen Reporter braucht, doch die meisten dieser Blätter werfen kaum genug für den Besitzer ab. Ich dachte dabei an einen Ort wie Nacogdoches oder Aransas Pass oder Big Spring.« »Es scheint ganz so, als wolltest du wirklich in die finsterste Provinz gehen. Ist das dein Ernst?« »Ich will an einem Ort leben, an dem die Leute nicht ständig bemüht sind, einander zu beeindrucken, einem Ort, an dem die Menschen einander wirklich kennenlernen und das Leben sich auf das Elementare beschränkt anstelle von all diesem hohlen Rummel, den wir hier veranstalten.« »Hohl?« Er nickte. »Die Coleridges und die Headlands leben nicht in der wirklichen Welt, Alex. Das mußt du begreifen. Aber mir ist etwas aufgefallen. Du lachst mehr als früher. Du sprudelst gewissermaßen von innen heraus über. Das liegt an diesem Typen, stimmt’s? Er bringt dich zum Lachen.« Sie wechselte das Thema. »Was ist das Schlimmste, das passieren könnte, wenn du in einer Kleinstadt eine Zeitung fändest, für die du arbeiten kannst?« »Dad würde komplett durchdrehen. Er glaubt, wenn man sich nicht mindestens sechzehn Stunden am Tag fürchterlich abrackert, dann arbeitet man seine Überfahrt in dieser Welt nicht ab.« Alex schloß sich dieser Auffassung weitgehend an. »Was ist mit deiner Mutter?« »Du kennst sie doch. Wenn ich ein Mädchen heirate, das kein College besucht hat – und noch dazu müßte es ohnehin ein gutes College sein –, oder wenn ich eine Frau heiraten sollte, die nichts davon versteht, wie man sich elegant kleidet, dann wird Mutter sich krümmen und winden. Sie würde sich nicht im geringsten daran stören, wenn das Mädchen nicht aus Texas ist, solange es bloß einen guten Stammbaum hat. Es wäre gar nicht mal schlecht, die Familie 178
durch den Akzent von Boston zu bereichern. Ihr ist vollkommen gleich, was für einer Form von Arbeit ich nachgehe, solange es etwas ist, was ein gutes Licht auf die Familie wirft, denn dann kann sie den Arm um mich legen und mich mit Stolz in der Stimme als ihr >Darling Baby< vorstellen. Ihr geht es nur darum, den Schein zu wahren.« »Ich mag deine Mutter.« »Und du verkörperst all das, was sie sich von einer Schwiegertochter wünscht. Wenn aus dir und Cole nichts wird, dann sollten wir beide vielleicht etwas miteinander anfangen. Das würde ihr gefallen.« »Du bist zu jung für mich.« »Glaubst du tatsächlich, daß das noch eine große Rolle spielt, wenn ich erst einmal fünfzig bin?« »Denkst du überhaupt daran, jemals zu heiraten?« »Verdammt«, sagte Ben, »ich halte nichts von Monogamie. Und ich halte auch nichts von Unaufrichtigkeit. Weshalb also sollte ich mich auf etwas einlassen, wovon ich von Anfang an weiß, daß es nicht so kommen wird, wie man es sich vorstellt, und daß ich nicht bereit bin, das zu geben, was ich versprechen soll? Nein. Ich kann mir nicht vorstellen zu heiraten. Um Himmels willen, ich bin gerade erst zweiundzwanzig. Was ist mit dir?« »Ich denke ab und zu daran, aber ich bin noch nicht soweit. Ich will mich nicht von Kindern beeinträchtigen lassen. Und ich will mich auch nicht angebunden fühlen.« »Und die Monogamie sagt dir auch nicht zu?« Sie dachte darüber nach. »Falls ich eines Tages heiraten sollte, dann gehe ich davon aus, daß ich treu sein werde, und dasselbe erwarte ich auch von meinem Mann. Wenn einer von beiden nicht gewillt ist, diese Verpflichtung einzugehen, weshalb sollte man dann überhaupt heiraten?« »Es mag zwar sein, daß du älter bist als ich, aber du bist deshalb nicht zwangsläufig weiser. Ich halte dich für naiv, meine gute Alex.« Alex hatte sich nie für naiv gehalten, schon von Geburt an nicht. Ben war hier derjenige, der unschuldig war; er war der Träumer. »Wirst du eine Zeitlang in der Stadt bleiben?« Ben zuckte die Achseln. »Vermutlich ja. So lange, bis ich weiß, worin der nächste Schritt besteht.« »Ruf mich im Büro an, und dann treffen wir uns nächste Woche wieder zum Mittagessen, ja? Ich muß jetzt los.« Sie stand auf und beugte sich hinunter, um Ben einen Kuß auf die Stirn zu drücken. »Die Rechnung ist bezahlt.« 179
Sie wandte sich ab und rauschte aus dem Restaurant. Als Boomer sie an diesem Abend um zehn anrief, fragte sie: »Wie stehen die Chancen, am kommenden Wochenende gemeinsam nach Nacogdoches raufzufahren?« »Gibt es einen bestimmten Grund dafür?« »Ja. Jedenfalls würde ich mich dort gern mal näher umsehen, und wenn du mitkämst, hätte ich mehr Spaß daran.« »Klar«, sagte er. »Nehmen wir das Motorrad?« Motorradfahren faszinierte sie, und sie kostete immer wieder von neuem aus, den Wind in ihrem Gesicht zu spüren und Boomer stundenlang eng umschlungen zu halten. Vor ein paar Wochen hatte sich Alex sogar dazu durchgerungen, Tessa mitzuschleifen und sich trotz all ihrer Hemmungen eine Lederkombi zu kaufen. Sie hatte allerdings nicht dieselben Farben wie Boomer gewählt, denn das wäre ihr nun doch zu albern vorgekommen. Sie fragte sich, wie er wohl reagierte, wenn sie sich bei ihm erkundigte, wie er dazu stand, sich allmählich Brad und nicht mehr Boomer zu nennen. Es war inzwischen höchste Zeit, daß sie ihn zu einem Abendessen bei ihren Eltern mitnahm, soviel war ihr klar. Vielleicht ließ sie ihren Gefühlen bloß deshalb nicht längst freien Lauf, weil ihre Gedanken immer wieder darum kreisten, was ihre Eltern wohl von Boomer hielten. Sie konnte sich recht gut vorstellen, wie sie reagiert hätten, wenn sie ihnen mitgeteilt hätte, daß es ihr ernst war mit diesem Mann, der so aussah und sich auch so anzog wie ein Bauarbeiter, der in derben Stiefeln und mit Hemden, die manchmal sogar ungebügelt, immer jedoch am Hals offen waren, zur Arbeit erschien, dessen Hosen und Jacketts selten zusammenpaßten und der, wenn es nur irgend möglich war, keine Krawatte trug. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, fiel ihr auf, daß sie Boomer noch nie in einem Anzug gesehen hatte, ließ man diesen ausgeliehenen Smoking mal weg. Nun, dann würde sie eben Abhilfe schaffen müssen, ihn zu einem ausgiebigen Einkaufsbummel überreden. Und bei der Gelegenheit würde sie ihm auch anständige Schuhe verpassen. Es war nicht etwa so, daß er keinen Geschmack gehabt hätte. Diese Wohnungen, die kurz vor der Fertigstellung standen, waren einfach großartig. Wenn es um Gestaltung und Design ging, waren die drei – Tessa, Dan und er – einsame Spitze. Alex mochte die besondere Note, die Tessa ihrer Wohnung durch Kleinigkeiten verliehen hatte; dadurch war die Nüchternheit gemildert, und doch war ihre 180
persönliche Vorliebe für Schwarz und Weiß und Metall beibehalten worden. Boomer fand jetzt nicht mehr, daß ihre Wohnung zu nüchtern wirkte. Alex war sich ziemlich sicher, daß sich die vornehme Gesellschaft von Houston von Tessas Geschmack angesprochen fühlen würde. Und Dans Entwürfe wiesen unglaublich klare Linien auf; sie waren schlicht und strahlten doch etwas Luxuriöses aus. Die drei würden viel Geld an aufstrebenden jungen Leuten verdienen, die sich, wenn sie es erst einmal geschafft hatten, nach oben zu kommen, an Tessa, Dan und Boomer erinnern und sie hinzuziehen würden, wenn es um ihre Häuser und vielleicht sogar ihre Bürogebäude ging. Warum also glaubte Alex, die gute Gesellschaft von Houston würde auf die drei herabblicken? Nachdem sie einen ersten Schritt unternommen und sie alle in den Club geschleift hatte, sollte ihr zweiter Schritt darin bestehen, ihre Mutter und Tessa zu einem gemeinsamen Mittagessen einzuladen. Dann konnte sie sich ein Bild davon machen, wie ihre Mutter auf ihre neue beste Freundin reagierte, die einzige beste Freundin, die sie je gehabt hatte. Alex nahm den Telefonhörer ab und wählte Tessas Nummer. »Wäre es zuviel verlangt, wenn ich dich darum bitten würde, nächste Woche gemeinsam mit meiner Mutter und mir zum Mittagessen zu gehen?« Tessa wirkte ein klein wenig gehetzt, als sie erwiderte: »O nein, das tue ich liebend gern, Alex. Ab und zu könnte ich eine Ersatzmutter hier unten im Süden nur zu gut gebrauchen.« Alex zog eine Augenbraue hoch. Manchmal fühlte sogar sie sich von ihrer eigenen Mutter eingeschüchtert. Sie würde Tessa überfordern. Obgleich Alex wußte, daß ihre Mutter sie liebte, war diese nicht gerade das, was auch nur irgendein Mensch auf Erden als mütterlich bezeichnet hätte. Ihr Vater sah sie vermutlich als eine perfekte Ehefrau an. Wahrscheinlich führten die beiden eine hinreichend gute Ehe miteinander, eine der wenigen passablen Ehen im Umkreis. Nun, vielleicht konnte man auch gegen die Ehe der Coleridges nicht allzuviel sagen, obwohl sich Alex oft fragte, wie Tante Maude diesen halsstarrigen, unbeugsamen und verkniffenen Ehemann zu ertragen vermochte. Komisch. Sie hatte früher nie in diesen Begriffen gedacht, und selbst Mr. Coleridge hatte sie nicht so beurteilt. Das war Boomers Einfluß. Sie sah natürlich die ganze Welt mit anderen Augen.
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28 »Habt ihr jetzt, da ihr das Licht am Ende des Tunnels sehen könnt, irgendwelche Ideen oder Zukunftspläne?« fragte Alex und bezog sich dabei auf die dicht bevorstehende Fertigstellung des ersten Bauabschnitts. »Zahllose«, antwortete Boomer, der ein Burrito in der Hand hielt. Es war ein Sonntagabend, und sie waren bei Dan und Tessa. »Aber über die meisten haben wir uns bisher noch nicht näher auseinandergesetzt.« »Nun«, erklärte Alex lächelnd, »ich habe da vielleicht ein Angebot, das euch reizen könnte.« Alle drei schauten sie erwartungsvoll an. »Ich brauche euch wohl kaum zu sagen, daß Houston einen unglaublichen Boom erleben wird. Ich persönlich glaube, daß es sich innerhalb der kommenden zwanzig Jahre zu einer der größten Städte in den Vereinigten Staaten entwickeln wird und gewiß zur spannendsten von allen. Jedenfalls habe ich einen Klienten, dem ein gewaltiger Brocken des teuersten Baulands in der Innenstadt gehört, und darauf will er ein Bürogebäude errichten, das dem ganzen Land in aller Deutlichkeit vor Augen führt, daß man Houston nicht unterschätzen darf. Er ist bereit, Millionen zu investieren.« »Millionen?« »Ja, und zwar viele, und das betrifft ausschließlich das Gebäude. Ich habe ihm von euch dreien erzählt.« Sie saßen da und sahen Alex an. Diese lächelte selbstgefällig und nahm ihr Burrito in die Hand. Tessa konnte unwahrscheinlich gut mexikanisches Essen zubereiten. Sie hatte ihnen erzählt, das habe sie hoch oben im Norden, in Rochester, gelernt. Alex war die einzige, die aß. Die drei anderen starrten sie an. »Ein Bürogebäude?« fragte Tessa. »Mir ist klar, daß das egozentrisch und egoistisch klingt, aber welche Rolle spiele ich dabei?« Alex lächelte weiterhin. »Ich glaube, ich kann meinen Klienten dazu überreden, darauf zu bestehen, daß jeder, der Büroflächen pachten will, sich von dir beraten läßt, selbst dann, wenn die Firmen ihre eigenen Innenarchitekten haben. Ich glaube aber auch, daß nur wenig Überredungskunst genügen wird, damit die meisten Leute dir die Innenausstattung mit Begeisterung überlassen. Geschäftsleute haben in dieser Hinsicht beklagenswert wenig Geschmack. Was dich angeht, Dan, so wirst du, abgesehen davon, daß du das Äußere entwirfst – und mein Klient hätte gern etwas Hochmodernes mit 182
Unmengen von Glas –, jedes einzelne Büro in der Reihenfolge der Verpachtung gestalten, damit wir die Bedürfnisse des jeweiligen Klienten kennen.« Außer dem Schnurren von Tessas Katze war kein Laut zu vernehmen. Dann griff Boomer nach dem Burrito, das er auf seinen Teller gelegt hatte, und begann daran zu knabbern. »Für diese ganze Geschichte brauchen wir kein Geld zu borgen, richtig? Wir tragen nicht die finanzielle Verantwortung dafür? Wir werden für unsere Arbeit bezahlt?« Tessa legte ihm eine Hand auf den Arm. »Warte, Boomer, laß uns das Ganze erst einmal zu Ende anhören, ehe du anfängst, dich so aufzuführen, als wäre es dir unerträglich, einen Arbeitgeber zu haben.« »Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, dann werdet ihr drei einen Reingewinn von knapp einer Million erzielen. Und es werden sich Nachfolgeaufträge daraus ergeben. Ich habe in den letzten Wochen einen Plan ausgearbeitet, und mein Klient scheint bereitwillig auf alles einzugehen, was ich ihm vorschlage.« »Wer ist dein mysteriöser Klient?« fragte Boomer. »J. Wellington Rockford.« Boomer pfiff durch die Zähne, und Dan zog eine Augenbraue hoch. »Ach du meine Güte!« stieß Tessa hervor. »Ein Traum, der wahr geworden ist! Nun, Leute, was sagt ihr dazu?« Boomer wandte sich an Alex. »Hast du Lust, uns Genaueres darüber zu erzählen?« Drei Stunden später, abends um elf, hatten sie sich darauf geeinigt, daß Alex ein Treffen zwischen den dreien und Rockford arrangierte. J. Wellington Rockford war eine texanische Legende, ein Selfmademan, der es zum Milliardär gebracht hatte. Nichts ließ er unversucht – Ol, Longhorn-Rinder, Gas, das Baugewerbe und das Fernsehen, überall hatte er seine Finger im Spiel. Ihm hatte der erste regionale Rundfunksender in Dallas gehört, und jetzt besaß er zwei der größten Fernsehsender im ganzen Staat. Er förderte Künstler, hatte sich selbst das Gitarrespielen beigebracht, besaß die größte Lastwagenfabrik in Texas und heimste Regierungsaufträge über Millionen ein. Er hatte mit Neunzehn geheiratet, doch seine Frau war zwei Jahre später im Kindbett gestorben. Danach hatte er nie wieder geheiratet. Seine Leidenschaft galt seinen Geschäften, und er heckte ständig neue Projekte aus. Und jetzt wollte er das höchste und grandioseste Bürogebäude in ganz Houston hinstellen, ein Hochhaus, das auf den Seiten von Life abgebildet werden würde. 183
Er war ein stiller und zurückhaltender Mann, und wenn man seinen Namen nicht kannte, hätte man niemals geglaubt, daß er einen derartigen Einfluß ausübte. Alex nannte ihn Onkel Jay. Sie kannte ihn bereits von ihrer frühesten Kindheit an, und schon damals hatte er zu ihr gesagt: »Richte den Blick auf die Sterne, und laß deinen Gesichtskreis nicht von dem Umstand einschränken, daß du eine Frau bist.« Er verfolgte ihren Werdegang mit regem Interesse und Begeisterung. Und wenn sie für den Bau seines neuesten Traums eine Komplettlösung servieren konnte, dann war er nur zu gern bereit, ihr diesen Brocken in den Schoß fallen zu lassen. Ein einziger Blick auf Boomer Bannerman genügte ihm, um ihn zu überzeugen, daß dies der richtige Mann für seinen kleinen Liebling war. Und ein einziger Blick auf Alex genügte ihm, um zu sehen, daß sie das bereits wußte. »Geben Sie mir eine Vorstellung von dem zeitlichen Rahmen«, war alles, was er verlangte. Dan sagte, er mache sich auf der Stelle an die Zeichnungen, und sie würden Ideen miteinander wälzen. Boomer wendete ein, daß er vorher noch die Apartments fertigstellen müsse, doch wenn Dan gleich mit den Zeichnungen beginne und sie zu dritt die verschiedensten Ideen durchspielten, dann könnte das gesamte Projekt möglicherweise in zwei Jahren abgeschlossen sein. Rockford nickte. Ihm erschien das keineswegs unmöglich. Und Boomer erschien es auch nicht mehr unmöglich, nachdem Rockford ihnen mitgeteilt hatte, wieviel er in das Projekt zu investieren bereit war. Für diese Summe konnten sie eine ganze Menge Arbeitskräfte engagieren. »Nun«, sagte Boomer, als er Alex nach dem gemeinsamen Abendessen zu ihrer Wohnung fuhr, »es scheint ganz so, als wäre der Tag, an dem ich dir begegnet bin, mein Glückstag gewesen.« »Kommst du noch mit rauf?« fragte sie. Es war einfach wunderbar, mit einem Liebhaber gemeinsame geschäftliche Ziele zu verfolgen. Beides miteinander zu verbinden. Boomer beugte sich vor und lächelte sie an, während sich sein Mund zart auf ihre Lippen legte. »War das eine Aufforderung?« »Jetzt beeil dich schon«, sagte sie, während sie die Haustür aufschloß. »Sonst verführe ich dich gleich hier unten im Foyer.« »Das könnte lustig werden. Jedenfalls wäre das etwas ganz Neuartiges.« Er folgte ihr grinsend zum Aufzug. In dem Moment, in dem sie ihre Wohnung betraten, begann Alex ihre graubraune 184
Seidenbluse aufzuknöpfen. Dann zog sie den Reißverschluß ihres Rocks runter und ließ ihn auf den Boden fallen. Boomer lachte schallend. »Dein Mangel an Scheu gehört ganz entschieden zu den Dingen, die ich an dir liebe.« Er sah ihre entblößten Brüste an. Sie konnte ihn erregen wie sonst niemand. Wie keine Frau seit Carly Anderson vor so vielen Jahren. Er zog sie an sich und hob sie hoch. Sie streckte die Arme in die Luft, und ein leises Stöhnen entrang sich ihr. Boomer knabberte zart an ihrem Bauch. Ein Beben durchzuckte sie. »Laß mich runter«, sagte sie, und ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Als sie wieder auf dem Boden stand, nahm sie seine Hand und führte ihn zum Sofa. Dort öffnete sie seine Gürtelschnalle, legte sich hin und zog ihn auf sich. Er küßte sie, bis sie sagte: »Ich kann nicht mehr warten«, und dann drang er mit einer solchen Wucht in sie ein, daß Schauer über ihren Körper liefen. Sie bog den Rücken durch, griff um ihn herum und preßte die Hände auf seinen Hintern. Der Schweiß ihrer Körper vermengte sich, während Alex immer wieder aufschrie, bis sie schließlich heiser hervorstieß: »Jetzt!« Später, als Alex zwei Gläser Baileys auf den Couchtisch stellte, sagte Boomer: »Heirate mich, Alex.« Einen Moment lang herrschte Stille, und dann lachte sie, ein glockenheller Klang, der durch den Raum drang. »Sei nicht albern«, erwiderte sie und reichte ihm ein Glas. »Wieso? Gibt es zwei andere Menschen, die besser miteinander auskommen als wir? Wir haben den tollsten Sex auf Erden. Wir machen gemeinsam Geschäfte. An diesem neuesten Handel, den du dir ausgedacht hast, werde ich einen Haufen Geld verdienen, und es mag zwar sein, daß ich dir im Moment noch nicht das bieten kann, was du gewohnt bist, aber solange wir beide arbeiten… Ich bin kein Mann, der sich von einer Frau einschüchtern läßt, die mehr verdient als er. Allerdings bin ich sicher, daß ich es innerhalb von zwei Jahren, falls du dann aufhören willst zu arbeiten, geschafft haben werde, in einer Position zu sein, in der ich dir so einiges bieten kann. Und außerdem bin ich verrückt nach dir, Alex. Das muß dir doch vom ersten Moment an klargewesen sein, als ich dein Büro betreten habe. Wenn du das nicht weißt, mußt du blind sein.« Er kniete sich vor ihr hin, ergriff ihre linke Hand und sagte in melodramatischem Ton: »Alex, ich bin rasend und hoffnungslos in dich verliebt. Sag, daß du meine Frau wirst.« Alex zog ihre Hand zurück und fuhr ihn an: »Um Himmels willen, Boomer, hör auf, dich 185
wie ein Idiot zu benehmen. Mach etwas so Schönes nicht kaputt.« Er riß den Kopf zurück und erhob sich. »Es nicht kaputtmachen? Ja, willst du denn keine Kinder haben, ehe du zu alt bist, um mit ihnen zu spielen?« Es war nicht etwa so, daß sie keine Kinder haben wollte, aber jetzt doch noch nicht. »Komm schon.« Boomer nahm sie in seine Arme. »Laß uns heiraten. Ich finde es gräßlich, jede Nacht von hier fortzugehen und mich zu Hause allein in mein Bett zu legen. Ich möchte neben dir aufwachen und dich wach küssen, und ich möchte jede Nacht nackt neben deinem nackten Körper schlafen. Ich möchte um drei Uhr morgens wach werden und dich vögeln, bis dir schwindlig wird. Komm schon. Wir können die größte Wohnung in unserem Apartmentkomplex beziehen, die mit den drei Schlafzimmern. Wir werden den lebenden Beweis dafür erbringen, wie stilvoll man dort wohnen kann. Das ist die beste Eigenwerbung. Wir könnten Tessa und Dan bitten, unsere Trauzeugen zu sein…« »Boomer!« sagte Alex mit scharfer Stimme. »Okay«, fuhr er fort, »dann feiern wir also eine riesige Hochzeit, und wir machen ein so umwerfendes Fest, daß es allen die Socken auszieht, und dein Vater kann dich zum Altar führen, und du kannst ganz in Weiß mit einer sechs Meter langen Schleppe…« »Boomer!« wiederholte sie. »Ich liebe dich. Wenn zwei Menschen sich lieben, dann heiraten sie und gründen eine Familie und verbringen ihr Leben miteinander.« »Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich dich liebe.« Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens. Boomer setzte sich. Er sah sie verständnislos an. Es herrschte beklommenes Schweigen. Sie trat auf den Balkon hinaus. Der Nachthimmel war von der Farbe dunkler Tinte; die Sterne wirkten, als wären sie daran aufgehängt. Sie glaubte, sie könnte es schaffen, einen dieser Sterne zu sich herunterzuziehen. Er folgte ihr, legte die Hände auf ihre Schultern und drehte sie zu sich um. »Was zum Teufel soll das heißen? Du weißt es nicht!« Sie seufzte. »O Boomer, wir sind uns in den Dingen einig, die wir miteinander gemeinsam haben. Über all die anderen Dinge haben wir nie auch nur miteinander geredet.« »Was für andere Dinge? Was, verdammt noch mal, zählt denn sonst noch?« Wie du dich anziehst. Daß du nicht weißt, welche die Salatgabel ist 186
und welche man für das Dessert aufhebt. Wie die Leute im Club dich anschauen. Wie meine Mutter die Augenbrauen hochgezogen hat, als sie mich mit dir gesehen hat. Daß du Mozart nicht magst. Aber sie sagte nichts von alldem. Dagegen erwiderte sie: »Können wir nicht einfach so weitermachen wie bisher? Wir amüsieren uns doch blendend. Wahrscheinlich verbringen wir mehr Zeit miteinander als die meisten Ehepaare. Können wir es denn nicht dabei belassen?« »Nein«, antwortete er, »das können wir eben nicht. Ich will, daß wir wirklich zusammenleben. Ich will das, was Dan und Tessa haben.« Sie entwand sich seinem Griff und ging wieder ins Wohnzimmer. »Treib mich nicht in die Enge«, sagte sie. »Ich genieße das, was wir miteinander haben, ebensosehr wie du. Brauchst du denn unbedingt einen offiziellen Wisch, um dich abzusichern, damit ich nicht einfach gehe?« Er dachte darüber nach. »Vermutlich würde ich mich dann sicherer fühlen.« Ihr Gesicht verzog sich, und einen Moment lang glaubte er, sie würde weinen. »Boomer«, sagte sie dann, und ihre Stimme überschlug sich, »ich habe nie so viel für irgendeinen anderen Mann empfunden. Für keinen Menschen auf der Welt. Aber selbst wenn ich sicher wäre, daß ich dich liebe… eine Ehe?« »Du hast noch nicht einmal mit dem Gedanken gespielt?« Sie standen einander gegenüber, Alex mit verschränkten Armen und Boomer mit gespreizten Beinen, in einer kämpferischen Haltung. Dann trat er zu dem Sofa, auf das er seine Jacke geworfen hatte, nahm sie, öffnete, ohne sie anzuziehen, die Tür, warf einen letzten Blick zurück und ging, die Tür hinter sich zuknallend.
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29 Carly hatte die ganze Woche über Schlafschwierigkeiten. Sie schlief mühelos ein, da sie ständig erschöpft umherlief, doch um eins war sie hellwach und konnte vor vier, fünf Uhr nicht wieder einschlafen, und wenn der Wecker morgens läutete, befand sie sich im Tiefschlaf. Sie hatte Alpträume. Und immer hielt sie eine Bratpfanne in der Hand, die mit jeder Nacht, die verging, größer und schwerer wurde. Joe Bob starrte sie mit weit aufgerissenen, furchtsamen, blutunterlaufenen Augen an und schrie stumm. Sie konnte seine Stimme nicht hören, doch sein Mund formte immer wieder den Schrei: »Nein!« Er streckte die Arme aus dem Grab, um sie zu packen, und stets verfehlte er ihren Knöchel nur um wenige Zentimeter. Wenn sie wach wurde, war ihr Kissen feucht, und ihr Körper war mit Schweiß bedeckt. Cole hatte sie die ganze Woche über nicht angerufen. Es war aus, und sie wußte es. Wahrscheinlich hatte sie schon immer gewußt, daß es nicht von Dauer sein würde. Und sie mußte zugeben, daß auch sie Zeit und Ruhe gebraucht hätte, um darüber nachzudenken, ob sie etwas mit einem Mörder zu tun haben wollte, wenn er ihr erzählt hätte, er habe einen Mann getötet. Eine Mörderin. Genau das war sie doch, nicht wahr? Wenn man jemanden umbrachte, dann machte das einen zum Mörder, oder etwa nicht? Er hatte gesagt, er wolle Francey und Walt kennenlernen, aber dazu würde es jetzt ja wohl nicht mehr kommen. Vermißte er sie, oder war es ihm gelungen, sie ganz zu verdrängen? Begehrte er sie nicht mehr, oder kämpfte er gegen dieses Verlangen an? An diesem Wochenende würde er sich ganz offensichtlich nicht mit ihr treffen. Es war schon fast fünf und Freitagnachmittag. Sie sollte besser aufhören, ihre ganze Hoffnung darauf zu setzen, daß er sie anrufen würde, daß er sie in seine Arme nehmen und ihr sagen würde, es mache ihm nichts aus, daß sie einen Menschen getötet habe. »Verflucht«, sagte sie. Schließlich hatte er sich laut und deutlich stumm von ihr verabschiedet, oder etwa nicht? Und das konnte sie ihm nicht zum Vorwurf machen. Sie hatte von Anfang an gewußt, daß er trotz seiner Stellung und seines Geldes nicht stark war. Er hätte ohnehin nie den Mut besessen, ihr einen festen Platz in seinem Leben einzuräumen. Sie verließ das Büro und lief die Straße hinunter, und 188
dabei betrachtete sie im Vorübergehen ihr Spiegelbild in den Schaufenstern. Die Blicke der Männer verrieten ihr, daß sie gut aussah. Cole hatte zu ihr gesagt, sie sei die schönste Frau auf der ganzen Welt. Sie kam an Eddie’s vorbei, einer der Bars im Zentrum, die sich an fünf Tagen in der Woche um diese Zeit zu füllen begannen. Sie würde reingehen und einen Drink bestellen, sich an die Bar setzen, ja, genau, und sich den Jazz anhören. Sie war noch nie bei Eddie’s gewesen. Vielleicht war heute der richtige Abend, um sich dort einmal umzusehen. Sie würde eine Margarita trinken, auf einem Barhocker sitzen und sich im Raum umschauen, ob da ein neuer Märchenprinz auf sie wartete. Sie war bei ihrer zweiten Margarita angelangt, lauschte genüßlich der Musik und hatte bereits zahlreiche Einladungen zu einem Drink mit einem Kopfschütteln abgelehnt, als sie fast vom Hocker gefallen wäre. Eine Gestalt, die sie überall wiedererkannt hätte, betrat gerade die Bar und zeichnete sich gegen das Tageslicht, das noch von draußen einfiel, als Silhouette ab. Den zornigen Gesichtsausdruck hatte sie bisher noch nie an ihm gesehen, aber in mehr als vier Jahren konnte sich jeder verändern. Er stand in der verräucherten Bar, ließ seinen Blick durch den Raum wandern, und plötzlich sah er sie. Er blieb stocksteif stehen, als traute er seinen Augen nicht, und dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er schlängelte sich durch die Menschenmenge und bahnte sich einen Weg zu ihr. »Carly Anderson. Da soll mich doch gleich der Teufel holen.« Der Mann neben Carly glitt von seinem Barhocker, und Boomer setzte sich und umarmte Carly stürmisch. »Die kleine Carly Anderson. Du hast dich blendend gemacht, das muß ich dir lassen«, sagte er bewundernd. »Du scheinst selbst recht erfolgreich zu sein«, erwiderte sie und wünschte, er würde sie nie mehr loslassen. Sie hoffte nur, nicht in Tränen auszubrechen. »Scotch mit Leitungswasser«, sagte er zu dem Barkeeper und ließ Carly los. »Es ist schon lange her.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Zu lange.« »Boomer Bannerman«, sagte sie, als könnte sie es nicht fassen. Um Mitternacht fragte sich Carly, was sie eigentlich an Cole gefunden hatte. Dieses Gefühl von übersprudelnder Heiterkeit hatte sie nicht mehr verspürt, seit sie Boomer das letztemal gesehen hatte. 189
Er brachte sie zum Lachen, und er fragte sie haarklein nach den Leuten aus, die sie beide in Verity gekannt hatten. Die einzige Person, mit der er den Kontakt aufrechterhalten hatte, war seine Tante Addie. Er erzählte ihr von seinen besten Freunden, Dan und Tessa, und von ihrem gemeinsamen großen Projekt, dessen erster Bauabschnitt in zwei Wochen abgeschlossen sein würde. Dann würden sie zur Fertigstellung des ersten Apartmentkomplexes ein riesiges Fest feiern, Zeitungsleute und Fernsehreporter einladen, Champagner servieren und Führungen veranstalten. Er sei überhaupt nicht nervös. Sie würden Aufsehen erregen, für Tumult sorgen und erfolgreich sein. Er glaube, drei der Wohnungen seien theoretisch bereits vermietet, und er ziehe selbst in eine dieser Wohnungen ein. Vielleicht sogar in eine der ganz großen, mit drei Schlafzimmern. Als Boss müsse man schließlich gewisse Vergünstigungen haben. Carly sprach nicht allzu viel, sie hörte hauptsächlich zu, doch Boomer sagte, er wolle ganz genau wissen, wie sie die letzten vier Jahre verbracht habe. Es schien, als hätte sie schon stundenlang geredet, als er um acht auf seine Uhr sah und verkündete: »Ich bin am Verhungern. Laß uns von hier verschwinden und ein hübsches mexikanisches Restaurant suchen. Du magst Tex-Mex-Kneipen doch noch?« Sie nickte und freute sich darüber, daß er sich daran erinnerte. Sie liefen durch die Abenddämmerung eine Straße weiter zu seinem Wagen. »Mann!« Carly stieß einen Pfiff aus. »Du bist schon immer das einzige Mädchen in meinem Bekanntenkreis gewesen, das pfeifen konnte.« Sie fuhren drei Meilen, ehe er auf den Parkplatz eines Lehmziegelhauses einbog, über dessen Tür ein großer Neonkaktus hing. »Es macht nicht gerade den besten Eindruck«, gestand er und schwang seine langen Beine aus dem Wagen, »aber das Essen ist prima.« Ihm fiel auf, daß das kein Restaurant war, in das er Alex jemals mitgenommen hätte. Das Essen hatte sein Lob verdient. Anschließend saßen sie da und tranken eine Tasse Kaffee nach der anderen, damit sie einen Grund hatten, noch länger zu bleiben. Um elf sagte die Kellnerin jedoch: »Tut mir leid, Leute, aber wir schließen jetzt.« Boomer sah Carly an. »Ich will jetzt nicht fort von dir, nachdem ich dich gerade erst wiedergefunden habe.« Carly lachte. »O Boomer, in deiner Gegenwart fühle ich mich wie 190
ein Schulmädchen.« Sie standen auf. »Wir können zu mir gehen,
wenn du magst. Mir ist auch noch nicht danach zumute, den Abend
zu beschließen.«
»Den Abend?« fragte er, als er die Tür des Restaurants öffnete. »Es
wird nicht nur dieser eine Abend sein, Carly.«
Er nahm ihre Hand. »Dann gehen wir also zu dir.«
In dem Moment, in dem er die Tür hinter sich geschlossen hatte,
nahm er sie in die Arme. »Ich komme mir ganz so vor wie in alten
Zeiten«, sagte er und küßte sie.
Carly schloß die Augen und spürte, wie sie den Gefühlen nachgab,
die sie schon vor Jahren zu begraben versucht hatte. Boomer.
Boomer war zurückgekommen.
Sie konnte die Glut seines Körpers spüren. Er preßte sie so an sich,
daß nichts mehr zwischen ihnen war, abgesehen von ihren
Kleidungsstücken. Und sie konnte deutlich erkennen, daß sich auch
diese Barriere nicht mehr lange zwischen ihnen befinden würde.
Später, viel später, nachdem sie sich geliebt hatten, einmal schnell
und heftig und ein zweites Mal langsam, sinnlich und ausdauernd,
sagte Boomer: »Wie konnte ich dich jemals in Verity zurücklassen?«
»Das habe ich mich auch jahrelang gefragt.«
Er lachte. »Das kannst du jemand anderem weismachen.«
»Es ist wahr, Boomer. Ich habe nie einen anderen Mann so wie dich
geliebt.«
Er drehte sich auf die Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und
schaute auf sie hinunter. »Es hat keine anderen Männer in deinem
Leben gegeben?«
»Das habe ich nicht behauptet. Ich habe gesagt, daß ich niemals
jemanden so wie dich geliebt habe.«
Er atmete hörbar aus, und dann setzte er sich auf die Bettkante und
fragte, ob sie Milch im Kühlschrank habe. Sie nickte.
Er ging nackt durch das Wohnzimmer und kam mit einem großen
Glas kalter Milch zurück.
»Glaubst du an die Macht des Schicksals?« fragte er, als er wieder
im Bett war und sich an das Kopfende lehnte. »Darüber habe ich mir
noch nicht allzu viele Gedanken gemacht.«
Er lächelte. »Carly, du faßt dich so zart an wie sonst nichts auf der
Welt. Und was du einen Mann empfinden lassen kannst, mein Gott,
ich weiß wirklich nicht, wie ich dir das erklären soll. Ich habe das
Gefühl, daß es für dich nichts Wichtigeres gibt, als mit mir zu
schlafen. Und dieses Gefühl hatte ich auch schon früher.«
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»Wenn du mich küßt und mich berührst, dann glaube ich, es würde mir nichts ausmachen, im selben Moment zu sterben, denn es wäre ein glücklicher Tod. Ich hätte nie gedacht, daß ich dich jemals wiedersehen würde, Boomer. Irgendwie kommt es mir so vor, als könnte ich jeden Moment wach werden, und es war alles nur ein Traum.« Sie mußte feststellen, daß ihr gegen ihren Willen die Augen zufielen, so müde war sie. Sie konnte die Augen wirklich kaum noch offenhalten, doch sie wollte sich keine Minute dieser Begegnung mit Boomer entgehen lassen. Er redete unentwegt weiter, und sie strengte sich gewaltig an, ihm zuzuhören, doch seine Stimme wurde schwächer und immer schwächer. Das nächste, was sie wußte, war, daß die Sonne durch die Vorhänge strömte. Sie lag in Boomers Armen und fühlte sich geborgen. Ohne die Haltung zu verändern, in der sie eingeschlafen war, sah sie Boomer an und blieb regungslos liegen, um ihn nicht zu wecken. Sie sah ihn lange an. Er hatte Bartstoppeln im Gesicht. Seine Wimpern zuckten ab und zu im Schlaf. Sie hörte seine gleichmäßigen, tiefen Atemzüge. Unwillkürlich hob sie eine Hand und fuhr auf seiner Brust Linien nach, die nur in ihrer Vorstellung vorhanden waren. Als er sich rührte, hielt sie sofort inne, ließ ihre Hand aber auf seiner Brust. Eine halbe Stunde lag sie so da, zufrieden und ausgeglichen und von einem so tiefen Gefühl erfüllt, daß sie es sich selbst nicht erklären konnte. »Ich kann hören, daß du mich ansiehst.« Boomers Stimme klang heiser. »Ich sehe dich tatsächlich an«, murmelte Carly. »Du bist wunderschön.« Er öffnete ein Auge und zog die Augenbraue hoch. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er streckte sich, um sie zu küssen. Dann schlug er beide Augen auf und nahm sie in seine Arme. Beim Frühstück ließen sie sich viel Zeit. Carlys Zehen spielten unter dem Tisch mit seinen. Ihre Augen strahlten vor Glück. Boomer schenkte sich die nächste Tasse Kaffee ein, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus. Er sah Carly an. »Es kommt mir vor, als hätte mein Leben in den letzten Jahren auf Eis gelegen«, sagte sie zu ihm. »Ich glaube, ich habe mir einfach nur die Zeit vertrieben, bis ich dich wiedersehe.«
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30 Dann hatte Carly also einen Mann getötet. Nun denn, beschloß Cole, das zeigte schließlich nur, wie tapfer sie war. Als sie es ihm erzählt hatte, hätte er sie in die Arme nehmen müssen, ihre Wangen und ihr Haar küssen und zu ihr sagen sollen: Es wird alles gut werden. Ich werde mich deiner annehmen und mich um dich kümmern, und du brauchst dir nie mehr auch nur die geringsten Sorgen zu machen. Statt dessen hatte er sich ausgemalt, wie seine Eltern reagieren würden, sollte die Wahrheit durchsickern und in die Zeitungen kommen. Und wie sie, ganz gleich, was sie getan hat oder auch nicht, darauf reagieren würden, wenn er Carly heiratete. Carly und er werden ein Haus in River Oaks kaufen, sagte er sich, und dort einziehen, sobald sie aus den Flitterwochen zurückkehrten. Wohin sollte es gehen, womit würde er ihr eine ganz besondere Freude machen? Vielleicht White Sulphur Springs? New Orleans? Europa? Nein, so lange konnte er ihm Moment nicht fort. Europa würde warten müssen. Er lachte. Er wußte, wo sie wahrscheinlich den allergrößten Spaß haben würde – in Disneyland. Ihm wäre es im Traum nicht eingefallen, Disneyland zu besuchen, aber er glaubte, daß Carly sich dafür begeisterte. Sie würde sich dort köstlich amüsieren. Er schüttelte den Kopf und fragte sich, wie er auch nur mit dem Gedanken spielen konnte, ein Mädchen zu heiraten, das sich für Disneyland begeisterte. Aber genau das würde er tun. Sie würde täglich von neuem Sonnenschein und Licht in sein Leben bringen, ihn zum Lachen veranlassen, und möglicherweise würde es ihm schon bald zur zweiten Natur werden, Pizza zu bestellen, und vielleicht würden sie eines Tages, wenn sie Kinder hatten, sogar alle miteinander Disneyland besuchen. Mit Carly könnte er sogar seinen Spaß daran haben. Er würde dafür sorgen, daß seine Mutter ihr beibrachte, wie man eine charmante Gastgeberin war und wie man sich kleidete. Er wußte, wie dankbar sie ihm sein würde. Sie würde nie wieder arbeiten müssen, und er würde dafür sorgen, daß sie alles hatte, was sie sich wünschte. Sie würde sich für das glücklichste Mädchen unter der Sonne halten. Und dabei würde sie in Wirklichkeit ihn zum glücklichsten Mann unter der Sonne machen. »Hör mal«, sagte Boomer und sah mit einer Zärtlichkeit, an die sie 193
sich noch gut erinnern konnte, lächelnd auf Carly hinab, »ich habe einiges mit Tessa und Dan zu erledigen, aber wenn wir damit fertig sind, rufe ich dich an, okay?« Carly nickte. In ihren Ohren klang das wunderbar. Nachdem er gegangen war, begab sie sich wieder in ihr Schlafzimmer, setzte sich auf das ungemachte Bett und zog das Kissen an sich, auf dem noch der Abdruck von Boomers Kopf zu sehen war. Liebevoll schlang sie die Arme darum. Das Telefon läutete. »Carly.« Es war Coles Stimme. »Ich würde gern gleich heute nach Verity runterfahren. Ich möchte deine Mutter und Walt kennenlernen.« Carly richtete sich abrupt auf. Das Kopfkissen fiel auf den Boden. »Was hast du gerade gesagt?« »Wir brauchen doch nur vier oder fünf Stunden für die Fahrt, nicht wahr? Wie schnell kannst du dich fertigmachen?« Carly fragte sich, wie lange er wohl darüber nachgedacht hatte. Es kam nur äußerst selten vor, daß er einen spontanen Entschluß faßte. »Ich weiß nicht so recht, Cole. Ich meine…« »Komm schon«, drängte er sie. »Es ist ein wunderschöner Tag. Vielleicht können wir sogar über Nacht bleiben, wenn dort Platz für uns ist.« »Dort ist jede Menge Platz, aber, Cole…« »Ruf sie vorher an, wenn du glaubst, daß sie eine Vorwarnung brauchen. Sag ihnen, daß wir rechtzeitig zu einem gemeinsamen Abendessen kommen. Ich möchte mir die Weiden ansehen.« »Cole, ich war doch gerade erst letztes Wochenende dort…« Joe Bob und Zelda Maries geschwollenes Gesicht erschienen vor ihren geistigen Augen. »Ich glaube nicht, daß es mich so schnell wieder dorthin zieht.« Wenn überhaupt jemals wieder. »Carly, wir können nicht einfach auf der Stelle treten. Wir müssen sehen, wie wir weiterkommen.« »Wir?« »Hör zu, ich schäme mich dafür, wie ich mich benommen habe, für das, was ich die ganze Woche über getan beziehungsweise was ich nicht getan habe. Bitte…« Er hatte sie bisher noch nie um etwas gebeten. Er hatte noch nie »bitte« gesagt. Aber was war mit Boomer? Er würde sie anrufen. Nun, sie würde ihm Bescheid geben und ihm morgen alles erklären. Sie konnte Cole diese Bitte nicht abschlagen, auch dann nicht, wenn er sie im Stich gelassen hatte, als sie ihn wirklich dringend gebraucht hätte. 194
»In Ordnung, Cole. Gib mir eine halbe Stunde Zeit. Ich werde Mom anrufen und ihr sagen, daß wir kommen.« Es war tatsächlich ein wunderschöner Tag. »Wir halten auf dem Weg an und essen irgendwo zu Mittag. Es ist Frühling, Carly, der Frühling ist gekommen.« Was um Himmels willen war bloß in ihn gefahren? Carly mußte lachen. Sie legte auf und sah im Telefonbuch nach, konnte jedoch keinen Bradley Bannerman finden. Was hatte er doch noch gleich gesagt, wie seine Firma hieß? Es waren irgendwelche Initialen. Seine Freunde hießen Tessa und Dan, aber wie waren ihre Nachnamen? Sie seufzte. Nun ja, wenn sie heute nicht ans Telefon ging, dann würde er eben morgen noch mal anrufen. Sie wußte, daß er sich wieder melden würde, und erst recht nach der letzten Nacht. Diese letzte Nacht! Nichts und niemand konnte sich an Boomer messen… Sie stand kopfschüttelnd auf, trat vor ihren Kleiderschrank und entschied sich für ihren hellblau und weiß gemusterten Hosenanzug. Der war praktisch für die lange Fahrt. Und da es so warm war, daß sie die Jacke wahrscheinlich nicht brauchen würde, beschloß sie, ihre neue weiße Rüschenbluse anzuziehen. Und weiße Sandalen. Sie ging wieder zum Telefon und rief in Verity an. Als Carly die Tür öffnete, nahm Cole sie in die Arme und küßte sie mit einer Leidenschaft, die sie nie zuvor an ihm erlebt hatte. »Komm schon«, sagte er und nahm ihre Hand. »Diesen Tag haben die Götter erschaffen.« Es würde nur noch einen Monat dauern, bis eine erbarmungslose Schwüle über Texas hereinbrach, die bis zum November nicht mehr nachließ, und dann würde Regenwetter vorherrschen, doch heute war wirklich ein phantastischer Tag. Cole raste aus der Stadt hinaus und bog auf die Route 59 nach Süden ein, ehe er zu reden begann. Die Wagenfenster waren offen, und Carlys Haar wehte in dem warmen Wind. Es war eine Wohltat. »Ich habe eine schlimme Woche hinter mir«, begann er. »Was ist mit dir?« »Bei mir gab es auch schon bessere Zeiten.« »Ich habe mich nicht gerade mannhaft gehalten, soviel steht fest«, gestand er. »Aber vielleicht hat das als Katalysator gedient. Ich bin in mich gegangen und habe Seelenforschung betrieben.« »Es scheint dir blendend bekommen zu sein.« Carly lächelte. Sie stellte sich vor, Cole würde von ihr erwarten, daß sie heute nacht mit ihm schlief. Sie glaubte nicht, daß sie in zwei direkt aufeinanderfolgenden Nächten mit zwei verschiedenen Männern 195
schlafen könnte. Irgendwie kam ihr das unmoralisch vor. »Bitte nimm meine Entschuldigung an«, sagte er und griff nach ihrer Hand. »Ich bin nicht stolz darauf, wie ich mich verhalten habe. Wenn du einen Menschen getötet hast, ganz gleich, unter welchen äußeren Umständen…« »Ich glaube kaum…« Er hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Laß mich ausreden. Du hast bewundernswert gehandelt, ohne auch nur einen Gedanken an dich selbst zu verschwenden. Was du getan hast, war ein Akt der Nächstenliebe.« Er schien sehr zufrieden mit sich zu sein, als wäre er zu einer geradezu heroischen Schlußfolgerung gelangt. »Ich weiß immer noch nicht, wie ich selbst dazu stehe«, entgegnete Carly. »Das kann ich gut nach vollziehen. Und ausgerechnet in einer Woche, in der du mehr denn je zuvor in deinem Leben eine starke Schulter gebraucht hättest, um dich daran zu lehnen, und jemanden, der dich in seine Arme nimmt, habe ich Mist gebaut und dich im Stich gelassen.« Er fuhr vor einem Restaurant vor, das wie eine Blockhütte aussah, und schaltete den Motor aus. »Aber jetzt bin ich hier, geknickt und beschämt. Und ich wünsche mir mehr als alles andere, dir eine Stütze zu sein, Carly. Ich will dich in meinen Armen halten. Was ich mir wünsche, mein Liebling, ist, dich zu heiraten und immer für dich da zu sein, für dich zu sorgen.« Carlys Unterkiefer klappte herunter. Cole grinste. »Wir sind nicht nur auf dem Weg nach Verity, damit ich deine Mutter und Walt kennenlerne, sondern ich will auch bei ihnen um deine Hand anhalten.« Carly starrte ihn an. »Ich bin reichlich altmodisch, was?« Cole lächelte weiterhin unbeirrt. Er öffnete die Wagentür auf seiner Seite, stieg aus und streckte sich. Dann ging er um den Wagen herum und hielt ihr die Tür auf. Carly saß regungslos da. »Komm schon, ich bin halb verhungert. Sogar ein Hamburger mit Pommes frites würde mir im Moment schmecken.« Er beugte sich vor und hauchte einen Kuß auf ihre Lippen. Ein älteres Ehepaar an einem Fenstertisch lächelte die beiden vom Restaurant aus an. »Himmel, eine Woche ohne dich ist wie ein Leben im Exil.« Cole ging voran, und Carly folgte ihm. Als sie den ersten Schritt machte, stolperte sie. Die Kellnerin wies ihnen einen Tisch zu und reichte ihnen Speisekarten. Carly fühlte, daß sie innerlich zitterte. »Bestell du etwas für mich«, bat sie ihn. »Ich möchte mich frisch machen.« 196
»Der Beginn einer gemeinsamen Zukunft«, sagte er grinsend. »Von jetzt an werde ich für dich bestellen.« Als Carly den schwach beleuchteten Vorraum der Damentoilette betrat, sah sie sich im Spiegel an. Sie rechnete damit, daß ihre Verwirrung sich dort widerspiegeln würde. Gütiger Himmel, Cole wollte sie heiraten? Und er setzte als selbstverständlich voraus, daß sie dasselbe wollte? Vor einigen Wochen, ja, selbst noch vor sechs Tagen, hätte sie keine Sekunde gezögert. Sie hätte sich für die glücklichste Frau auf Erden gehalten. Mrs. Cole Coleridge. Carly Coleridge. Sie mußte zugeben, daß es hübsch klang. Carly schlief während der gesamten Fahrt nach Corpus Christi. Cole weckte sie, als sie den Stadtrand erreicht hatten, und bat sie, ihm zu sagen, wie es von hier aus weiterging. Sie hatten noch eine gute Stunde in Richtung Südwesten zu fahren. Carly spürte, wie ihre Brust sich zuschnürte, als ihr wieder einfiel, was ihr am letzten Wochenende zugestoßen war. Als sie durch Verity fuhren, sah Carly das Haus, in dem sie und Francey gewohnt hatten, als sie dort zur Schule gegangen war. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, Cole davon zu erzählen und es ihm zu zeigen, doch dann beschloß sie, sich die Mühe zu sparen. Als sie durch die Hauptstraße kamen, fuhr er langsamer und bemerkte lachend: »Hier schaut es genauso aus, wie amerikanische Kleinstädte in Filmen immer dargestellt werden. Mein Gott, sieh dir nur all diese Chicanos an. Bist du ganz sicher, daß wir nicht versehentlich über die Grenze gefahren sind?« »Die Vorfahren einiger dieser Leute sind schon hier gewesen, ehe Texas zu den Vereinigten Staaten gehört hat«, sagte Carly. »Als es noch ein Teil von Mexiko war. Seitdem sind kaum mehr als hundert Jahre vergangen, falls dir das entfallen sein sollte.« »He, ich hab’s ja nicht abwertend gemeint«, verteidigte sich Cole und sah sie überrascht an. »Bieg hier nach rechts ab.« Nach etwa eineinhalb Meilen Richtung Norden sagte Carly: »Und jetzt nach links«, und schon fuhren sie durch ein geöffnetes schmiedeeisernes Tor und die unbefestigte Auffahrt hinauf, die von Fächerpalmen gesäumt wurde. Am Ende der Auffahrt stand das weitläufige Landhaus, das Walt für Francey hatte bauen lassen. Kletterrosen rankten über das Geländer der Veranda vor dem Haus, die sich endlos hinzuziehen schien. Carly glaubte, das müsse Cole zwangsläufig beeindrucken, doch er äußerte sich nicht dazu. Als die Geräusche des näher kommenden Wagens zu vernehmen waren, trat 197
Walt die drei Stufen hinunter, die zur Veranda führten, und blieb erwartungsvoll stehen, um die beiden zu begrüßen. Walts Anblick wärmte Carly wie immer das Herz. Seine Taille, die vor acht Jahren, als sie einander zum erstenmal begegneten, einen Ansatz von Fett hatte erkennen lassen, war jetzt schmal und fest, und obgleich sein blondes Haar und sein Schnurrbart inzwischen grau gesprenkelt waren, wirkte er in mancher Hinsicht jünger als damals. Die Sonne spiegelte sich im goldenen Gestell seiner Brille, und er beugte sich vor, um Carly die Tür zu öffnen und sie in seine Arme zu nehmen. »Ich hätte nicht damit gerechnet, daß ich mein Mädchen an zwei Wochenenden hintereinander sehe«, sagte er, und sie hatte den Eindruck, daß er sie aufmerksam betrachtete, um einen Hinweis darauf zu entdecken, wie sie sich fühlte. Dann wandte er seinen Blick Cole zu und hielt ihm die Hand hin, als Cole um den Wagen herum auf ihn zu kam. »Carly hat mir schon viel von Ihnen erzählt, Sir.« Cole drückte Walt die Hand. »Dann sind Sie mir gegenüber im Vorteil«, entgegnete Walt. »Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen.« »Cole Coleridge.« Walt zog eine Augenbraue hoch, warf Carly einen Blick zu und sah dann wieder Cole an. »Von der Union Trust? Sind Sie der Coleridge?« Cole nickte. »Ja, ich bin der Coleridge.« »Dann haben wir wenigstens eines gemeinsam«, sagte Walt. Carly fragte sich, was Walt von Cole hielt. Die Frage umgekehrt zu stellen, was Cole von Walt hielt, kam ihr gar nicht in den Sinn. Francey tauchte im breiten Rahmen der Haustür auf und öffnete das Fliegengitter. Cole folgte Walt und Carly nicht die Stufen hinauf, sondern blieb stehen und starrte Francey an. Carly und ihre Mutter umarmten einander, und dann drehte sich Carly zu Cole um, der noch immer am Fuß der Treppe stand, um ihn vorzustellen. Er sah ihren Blick und schloß sich eilig den übrigen an. »Mom, das ist Cole Coleridge. Cole, das ist meine Mutter.« Franceys strahlendes Lächeln verwirrte Cole. Sie nahm seine ausgestreckte Hand mit beiden Händen, hielt sie fest und schaute in seine Augen auf. »Wir haben noch keine Freunde von Carly kennengelernt, seit sie nach Houston gezogen ist«, sagte Francey. »Es freut mich, daß Sie uns besuchen, Cole.« Er unternahm keine Anstalten, seine Hand zurückzuziehen, bis sie 198
sie losließ und wieder ins Haus trat, um sich in das große Wohnzimmer zu begeben. »Möchten Sie sich nach der Fahrt erst frisch machen, oder sind Sie schon bereit für einen Drink?« Der Rock von Franceys gelb geblümtem Kleid schwang beim Laufen um ihre Beine. »Ich weiß, daß Carly gesagt hat, wir können in die Weiden gehen, aber ich koche liebend gern, und ich habe mir gedacht, wenn wir hier essen, sind wir unter uns. Hier können wir uns unbefangener miteinander unterhalten.« Sie trat vor den Wandschrank, öffnete ihn und betätigte einen Hebel. Unaufdringliche Musik aus den frühen fünfziger Jahren erklang. »Was möchten Sie trinken?« fragte Walt. »Carly und Francey haben eine Schwäche für Margaritas. Was ist mit Ihnen, Cole?« »Gin Tonic«, antwortete Cole und blickte sich im Wohnzimmer um. »Das ist ein wunderschönes Haus, Mister Davis.« Francey sah Carly an. »Die Herren entschuldigen uns doch gewiß für einen Moment«, sagte sie, ehe sie Carly am Arm nahm und mit ihr durch die Eingangshalle in Richtung Küche ging. »Meine Güte«, flüsterte sie Carly zu, »was für ein eleganter Typ. Ist er hergekommen, um uns in Augenschein zu nehmen?« Carly schüttelte den Kopf. »Auf der Herfahrt hat er mich gebeten, ihn zu heiraten.« Franceys Augen strahlten vor Freude, doch dann sah sie Carly an. »Du scheinst nicht gerade begeistert zu sein.« »O Mom, wenn er mich letzte Woche gefragt hätte, hätte ich augenblicklich ja gesagt. Aber jetzt… ach, ich weiß es nicht.« Francey legte einen Arm um sie. »Tu bloß nichts, solange du dir deiner nicht sicher bist.« »Er ist reich, Mom, so reich wie niemand sonst, den wir je kennengelernt haben.« »Das sollte nur am Rande eine Rolle spielen. Und jetzt laß uns rübergehen. Sehen wir uns doch einfach mal an, wie wir alle miteinander auskommen.« Als die Frauen ins Wohnzimmer zurückkehrten, hatten sich Cole und Walt bereits in eine Diskussion über Bankangelegenheiten vertieft. Die Gespräche ließen sich unbeschwerter an, als Carly es sich vorgestellt hätte, und Cole war von einer so einnehmenden und gewinnenden Art, wie sie es noch nie an ihm erlebt hatte. Sie musterte ihn verstohlen und fragte sich, ob es jemals in seinem ganzen Leben vorgekommen war, daß er sich seiner selbst nicht sicher gewesen war. Sie erlebte die Cocktailrunde wie durch einen 199
Nebelschleier. Sie sah Cole an, und zugleich dachte sie an Boomer. Ging es hier überhaupt darum, eine Wahl zu treffen? Boomer war lediglich für eine einzige Nacht in ihr Leben zurückgekehrt. Das hieß noch lange nicht, daß sich etwas Dauerhaftes daraus entwickeln würde. Boomer hatte schon einmal mit ihr Schluß gemacht. Sie war knapp fünfundzwanzig. Würde sie jemals wieder ein Angebot bekommen, das sich an Coles Heiratsantrag messen konnte? Cole heiraten? Mrs. Cole Coleridge sein? Sie würde noch nicht einmal darum kämpfen müssen, anerkannt zu werden. Nicht so wie Francey, die selbst nachdem sie Walt begegnet war, noch um Anerkennung ringen mußte. Sie müßte in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Tag mehr arbeiten, wenn sie es nicht selbst wollte. Sie konnte morgens lange im Bett bleiben, in geschmeidiger Satinbettwäsche liegen und sich das Frühstück von einem Hausmädchen servieren lassen, wie sie es im Kino so oft gesehen hatte. Sie würde im Club Tennis spielen. Und sie würden mit Freunden zu Abend essen. Er mußte eine Unmenge von Freunden haben, da er in Houston aufgewachsen war, auch wenn er ihr bisher nicht einen einzigen vorgestellt hatte. Sie würde unbegrenzten Kredit haben und sich alles kaufen können, was sie wollte, ihr Haus genauso einrichten können, wie es ihr gefiel. Francey verkündete, daß das Abendessen fertig sei. Sie hatte ihren berühmten Schinkenbraten mit Apfelsauce, Süßkartoffeln und glasierten Karotten zubereitet, und dazu gab es Krautsalat. Sie drehte die Deckenbeleuchtung runter und ließ die Schatten der flackernden Kerzen an den Wänden tanzen. Mitten auf dem Tisch stand ein riesiger Blumenstrauß. Im Gewächshaus selbst gezüchtet, vermutete Carly. Cole räusperte sich und hob sein Weinglas. Er lächelte Carly an. »Wir sind gekommen«, sagte er, »weil ich um Carlys Hand anhalten möchte.« Die Stille war überwältigend. Daher sah Carly sich gezwungen, Cole in die Augen zu sehen. Dann erst sagte Walt: »Ich finde, diese Entscheidung liegt nicht bei uns. Mir ist alles recht, was Carly sich wünscht.« Cole strahlte. »Was ist?« fragte er. »Möchtest du den Termin festlegen?« »Im Juni ist es heiß«, war das einzige, was Carly im Moment dazu einfiel. »Aber der April ist meistens schön«, meinte Francey. »Das ist ja schon nächsten Monat«, sagte Carly. »Ich weiß nicht, ob ich noch so lange warten kann.« Cole leerte sein Weinglas. »Dann also im April. Such dir ein Datum aus, Carly.« 200
Carly dachte einen Moment lang darüber nach. »Mir ist jedes Datum
recht.«
»Der Dreißigste ist ein Samstag«, erklärte Cole, nachdem er einen
Blick auf den Taschenkalender in seiner Brieftasche geworfen hatte.
»Das heißt, uns bleiben noch sechs Wochen«, rechnete Francey
schnell aus. »Somit haben wir reichlich Zeit für die
Vorbereitungen.«
»Dann also am Dreißigsten«, sagte Carly.
Sie verdrängte Boomer gewaltsam aus ihren Gedanken.
201
31 Alex lief wie ein Tier in einem Käfig auf und ab. Sie war bereits mindestens drei dutzendmal auf ihrem Teppich hin und her gelaufen. Am Donnerstag abend, nachdem Boomer gegangen war, war sie wütend auf ihn gewesen. Warum hatte er das Schönste, was sie jemals erlebt hatte, zerstören müssen? Von Freitag auf Samstag hatte sie schlecht geschlafen und war immer wieder aufgewacht. Am Morgen war ihr Bettzeug derart zerwühlt, daß es aussah, als wäre eine Armee durch ihr Bett marschiert. In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte sie überhaupt nicht geschlafen. Am Sonntag abend sah sie aus wie ein Wrack. Ihre Augen waren blutunterlaufen, und obwohl sie am frühen Nachmittag einen kurzen Mittagsschlaf auf dem Sofa gehalten hatte, waren ihre Nervenenden so aufgerieben, daß sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Zweieinhalb Tage lang hatte sie sich vorwiegend von Kaffee ernährt. Am Samstag eine Scheibe Toast. Am Sonntag morgen war sie aus dem Haus gegangen, um einen Spaziergang zu machen, und sie hatte sich mehr als drei Stunden lang in den Straßen von Houston rumgetrieben. Am Nachmittag durchsuchte sie ihren Kühlschrank nach etwas Eßbarem und konnte nichts finden, was sie reizte. Kein Wunder, daß ihr Magen überempfindlich reagierte. Inmitten einer der ungestümen Runden durch ihr Wohnzimmer faßte sie einen Entschluß. »Und ich werde es doch tun!« rief sie laut aus. »Der Rest interessiert mich nicht im geringsten!« Ihre Eltern würden sich mit der Zeit damit abfinden. Sie würden sie schon nicht enterben. Es mochte zwar sein, daß sie sich anfangs unterkühlt verhielten, doch sowie Boomer erst einmal Geld zu verdienen begann und sie dann auch noch schwanger wurde und einen Headland-Enkel gebar, würden sie sich schon erweichen lassen. Wenn Boomer erst einmal seine erste Million machte. Wenn sie erst einmal sahen, daß er wirklich liebenswert und rücksichtsvoll war. Wenn sie seine rauhen Kanten erst einmal abgeschliffen hatte… Zweieinhalb Tage, nahezu drei Tage, ohne daß Boomer ein Teil ihres Lebens war, waren mehr gewesen, als sie verkraften konnte. Er hatte sie dazu gezwungen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sie genötigt, sich die Fragen zu stellen, die sie so sehr gefürchtet hatte. Liebte sie Boomer Bannerman tatsächlich? Wie konnte sie einen Mann mit einem solchen Namen lieben? Einen 202
Mann, der… Ach, was spielte es schon für eine Rolle, wie oder wieso? Die Liebe war ohne Sinn und Verstand. Und sie mußte sich eingestehen, daß sie in Boomer verliebt war. Rasend verliebt. Kein Mann hatte ihr jemals soviel bedeutet wie er. Niemand hatte sie je derart erregt wie er. Niemand bereitete ihr mehr Freude als er. Er sorgte dafür, daß sie das Leben in vollen Zügen genoß und sich in jedem einzelnen Moment einfach blendend fühlte. Sie lachte. Ja, sie wollte Boomer das Frühstück ans Bett bringen, wollte mit ihm unter der Dusche stehen, damit sie sich gegenseitig einseifen und einander lieben konnten, während der harte Wasserstrahl auf sie eintrommelte. Diese Vorstellung ließ sie vor Ekstase erschauern. Sie wollte für den Rest ihres Lebens jeden Sonntagabend mit Boomer, Tessa und Dan rumsitzen und lachen oder ins Kino gehen und hinterher mitten in der Nacht noch einen Happen essen. Boomer hatte ihr beigebracht, wieviel Spaß es machte, spontan zu handeln. Sie lachte wieder. Sie konnte alles deutlich vor Augen sehen, es sich haarklein ausmalen – wie sie mit ihrer meterlangen weißen Schleppe zum Altar schritt und ein duftiges Bouquet aus weißen Orchideen trug, die einen blaß lavendelfarbenen Kern hatten, wie sie ein Flüstern hörte, das sich erhob, als sie mit ihrem Vater durch den Gang schritt. »Nun ja, Alex tut eben nie das, was man von ihr erwarten würde. Jemanden zu heiraten, der Boomer Bannerman heißt!« Ihre Mutter mochte zwar vor Abscheu zittern, und ihrem Vater mochte es das Herz brechen, doch sie würde mit hocherhobenem Kopf dastehen. Schließlich war sie Alexandra Headland, und sie konnte tun, was sie wollte, ohne daß sich daraus Nachteile für sie ergaben. Sie griff nach dem Telefon und wollte seine Nummer wählen. Nein, sie würde ihn lieber überraschen. Sie warf einen Blick in den Spiegel und sagte sich, sie sollte besser ihr Make-up auffrischen, sich das Haar bürsten, es vielleicht zu einem Knoten aufstecken und dafür sorgen, daß sie blendend aussah. Sie könnte dieses rauchgraue Kleid anziehen, das sie, ihre Mutter und Tessa letzte Woche gemeinsam ausgesucht hatten. Ja, sie mußte sich in Schale werfen, denn einem Mann mitzuteilen, daß man seinen Heiratsantrag annahm, gehörte nicht gerade zu den Dingen, die man beiläufig erledigte. Sie war vor Freude außer sich. Ja, sie würde ihr ganzes Leben mit Boomer verbringen. Sie störte sich noch nicht einmal daran, daß ihre Eltern diesen Entschluß wahrscheinlich nicht gutheißen werden. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nichts getan, was ihre Eltern 203
mißbilligt hätten. Es war höchste Zeit, daß sie endlich einmal ihren eigenen Willen durchsetzte, auch wenn sie damit einen kleinen Skandal hervorrief. Als sie in den Spiegel im Badezimmer sah und Lidschatten auftrug, malte sie sich lächelnd Boomers Reaktion aus. Er würde begeistert sein. Und würden ihre gemeinsamen Geschäfte dadurch nicht noch aufregender? Vielleicht würde sie sogar offiziell als Partnerin in die Gesellschaft einsteigen. Schließlich war sie diejenige gewesen, die sich das Geschäft mit Onkel Jay ausgedacht hatte. Sie alle vier vereint. Wenn das nicht wunderbar klang! Die Gärten boten einen unheimlich üppigen tropischen Anblick. Der riesige Pool wand sich unter einer Brücke hindurch, die ihn in Hälften teilte. Eine der Hälften war von einem Steingarten umgeben, in dem ein Bach ständig für eine neue Wasserzufuhr sorgte und das wohltuende Geräusch von fließendem Wasser zu hören war. Zu den Einschränkungen, auf denen Boomer beharrt hatte, gehörte die, daß keine Kinder unter sechzehn Jahren Zutritt zu den Wohnungen oder zum Pool hatten. Davon würde sich sowohl die aufstrebende junge Generation angesprochen fühlen als auch ältere Menschen im Ruhestand. Kein Lärm, kein Geschrei. Bougainvillea, Hibiskus, Oleander und Strandnelken blühten unter den riesigen Palmen, die Tessas und Dans Einfall waren. Alex fand, daß die Anlage mehr von einem botanischen Garten als von den Grünflächen eines Apartmentkomplexes hatte. Es war ein Ort der Ruhe und der Schönheit. Zwischen den hohen Sträuchern waren Umkleidekabinen und Liegeplätze verborgen, und am Ende des Pools, wo er flacher war, gab es eine Bar. Man konnte hinschwimmen und Getränke bestellen, aber man konnte auch von den Liegestühlen aus rüberschlendern. Keine Musikberieselung über Lautsprecher, sagte Tessa, denn jeder hatte einen anderen Geschmack, und ganz gleich, was auch gespielt wurde, es würde immer jemanden geben, der die jeweilige Musik nicht mochte. Hinter den Umkleidekabinen befanden sich eine Sauna und ein Trainingsraum. Sie hatten einen Trainer engagiert, der individuellen Unterricht erteilen, im Bedarfsfall jedoch auch mit Gruppen arbeiten würde. Dan machte sich wie üblich Sorgen, sie hätten den Aufwand übertrieben. Alex versicherte ihm, er könne beruhigt sein, denn die Geldgeber rechneten überhaupt nicht damit, in den kommenden zwei Jahren in die schwarzen Zahlen vorzustoßen. 204
Tessa hatte sieben der fertiggestellten Wohnungen in derart unterschiedlichen Stilrichtungen ausgestattet, daß jede von ihnen einen ganz persönlichen Charakter hatte. Sally Burgess und ihrem enormen Einfluß war es zu verdanken, daß anscheinend halb Houston – die Hälfte, die zählte – zu der Einweihungsparty erschienen war. Morgen würde das Sherwood für die breite Allgemeinheit geöffnet. Zweihunderttausend Dollar von Amos Headlands Privatvermögen waren in das Projekt des Mannes investiert worden, den Alex liebte, obwohl sie bisher noch nicht gewagt hatte, es ihrem Vater einzugestehen. Sie selbst hatte hunderttausend Dollar reingesteckt. Es gab noch drei weitere stille Teilhaber, die heute abend ausnahmslos zu dem Fest erschienen waren und sich hier umsahen, jedoch nur beiläufig, da sie genug Vertrauen in Alex setzten, um sich keine Sorgen zu machen. Aber natürlich hatten sie auch genug Geld, um es problemlos zu verkraften, wenn sie an dieser Geschichte hier kleinere Einbußen erlitten. Tessa, Dan, Boomer und Alex waren schon um fünf Uhr erschienen. Sally hatte ihnen gesagt, sie sollten ruhig alles ihr überlassen, sie müßten nichts weiter tun als die Leute zu bezaubern. Dan wagte es nicht, Alex zu fragen, wieviel dieses Fest gekostet hatte. Plötzlich entdeckte Boomer in der Menschenmenge Carly am Arm eines aristokratisch wirkenden Typen, der aussah, als könnte er sich mit einer Nadel stechen, und es träte immer noch kein rotes Blut zutage. Alex streckte eine Hand aus, legte sie auf den Arm des Mannes und küßte ihn auf die Wange. »Cole, wie nett von dir, daß du gekommen bist.« Boomer beobachtete, wie dieser Cole Alex und Carly miteinander bekannt machte. Er fand, im Vergleich zu Carly wirkte Alex wie ein elegantes Topmodell. Nicht ein einziges Haar löste sich aus ihrer Frisur, und in allem, was sie trug, drückte sich zurückhaltende Eleganz aus. Ihre Stimme war so wohlklingend, ihr Gesprächston so förmlich. Er hatte sich bemüht, nicht mehr an Carly zu denken. Es war eine lächerliche Vorstellung, eine einzige Nacht mit Carly könnte seine Gefühle gegenüber Alex derart verändern. Immer wieder sagte er sich, Alex würde die perfekte Partnerin für ihn sein. Sie war an seinen Geschäften beteiligt, brachte Interesse daran auf. Und sie war ihm eine Stütze, sowohl emotional als auch finanziell. Niemand konnte Alex sehen, ohne sofort zu erkennen, daß 205
Boomer jemand sein mußte, wenn er sie zur Frau hatte. Sogar ihre Eltern hatten ihn freundlicher aufgenommen, als er erwartet hatte. Doch jedesmal, wenn er mit Alex schlief, fehlte ihm seit jener Nacht mit Carly etwas. Boomer war ziemlich sicher, daß das, was ihm fehlte, Carly höchstpersönlich war. Aber er war auch zu der Schlußfolgerung gelangt, daß sie ein Miststück war. Sie hatte ihm nicht erzählt, daß sie in einen anderen Mann verliebt war. Als sie einander in dieser überfüllten Bar wiedergesehen hatten, hatte er geglaubt, sie hätte dieselbe Elektrizität wahrgenommen, die ihn durchzuckt hatte. Im Bett war sie leidenschaftlich gewesen, das ließ sich nicht bestreiten. Und dann dieser Mist: »Ich habe nie einen anderen Mann so wie dich geliebt.« Und diese ungezügelte Wildheit, ihr leises Stöhnen, dieser üppige, reife Körper, überall diese weichen Rundungen, nicht so kantig wie Alex. Laß den Quatsch, sagte er sich, denn es verletzte ihn immer noch, wie Carly ihn behandelt hatte. An jenem Samstag hatte er den ganzen Nachmittag über und auch am Abend versucht, sie zu erreichen. Er war sogar noch einmal zu ihrer Wohnung gefahren und hatte seine Telefonnummer mit Tesafilm an ihre Tür geklebt. Den ganzen Sonntag vormittag hatte er sie angerufen. Um fünf Uhr nachmittags war sie dann endlich ans Telefon gegangen, und als er ein gemeinsames Abendessen vorgeschlagen hatte, hatte sie gesagt: »Es tut mir schrecklich leid. Ich werde heiraten, Boomer. In sechs Wochen.« Kein Wort über die Nacht von Freitag auf Samstag. Und jetzt… er sah sich unter den Hunderten von Menschen um, die zu der Eröffnung erschienen waren. Ja, er hatte genau das erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Er war mit Alex verlobt. Die Hochzeit war für Juni geplant. »Es wird die Hochzeit dieses Sommers werden«, hatte Mrs. Headland angekündigt, »wenn nicht gar die Hochzeit des Jahres.« Boomer hatte völlig vergessen, daß sie einander schon einmal flüchtig begegnet waren und daß Cole derjenige war, der ihn zu Alex geschickt hatte. Er schüttelte ihm die Hand und war dabei bemüht, Carly nicht in die Augen zu sehen. Sie lächelte und plauderte mit Alex. Er hörte sie lachen, und ein prickelnder Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Alex drehte sich zu Boomer um, und Carly lächelte ihn strahlend an. »Erinnerst du dich noch an Cole, Liebling?« sagte Alex. »Cole, das 206
ist der Mann, den du zu mir geschickt hast, Brad Bannerman.« Sie schalt sich im stillen, brachte sie es doch immer noch nicht fertig, ihn als Boomer vorzustellen. Boomer sagte jedoch zu Carly: »Ich habe nicht erwartet, dich heute abend hier zu sehen.« Dann würde also auch Carly in die gute Gesellschaft von Houston einheiraten. So ein Zufall. Nachdem Cole und Carly weitergegangen waren, meinte Boomer, dessen Augen unergründlich waren: »Erstaunlich, wer so alles hier erschienen ist, nicht wahr? Ich habe wirklich nicht erwartet, daß es so voll wird.« »Ich habe es dir doch gleich gesagt.« Boomers Blicke folgten Carly, und als Cole sich einen Moment lang von ihrer Seite entfernte, schlenderte er zu ihr rüber. »Du siehst blendend aus«, sagte er so leise, daß es sonst niemand hören konnte. »Wünsch mir Glück«, erwiderte sie. »Und ich wollte dir noch sagen, daß ich… viel Spaß mit dir gehabt habe. Ich habe es sehr genossen, dich wiederzusehen.« Er brachte kein Wort heraus; seine Kehle war wie zugeschnürt. Sie gingen gemeinsam auf Alex zu, die Cole gerade erzählte, wie sicher sie sei, daß BB&O ganz groß rauskommen würden. Sie berichtete Cole, das nächste Projekt der Gruppe sei J. Wellington Rockfords Geschäftshochhaus im Stadtzentrum. Sie würden den höchsten Wolkenkratzer errichten, den Houston je gesehen hatte. »Vielleicht habe ich auch ein Projekt für Sie«, sagte Cole zu Boomer und fragte sich, was zum Teufel er hier überhaupt tat. »Wir werden ein Hotel in Acapulco bauen, und wir möchten, daß eine amerikanische Firma dafür zuständig ist. Suchen Sie mich in den nächsten Tagen in meinem Büro auf, Bannerman. Alex hat meine Telefonnummer. Du hast sie doch noch, nicht wahr?« »Ja, selbstverständlich.« Sie drückte freundschaftlich seine Hand. Alex drehte sich zu Boomer um und musterte ihn, als er beobachtete, wie Carly in der Menschenmenge verschwand. »Du kennst sie?« »Wir waren zusammen auf der High-School.« »Das muß man sich mal vorstellen, jemanden aus Verity hier zu treffen«, sagte Alex versonnen. Komisch, daß Cole sich mit jemandem abgab, der aus einem Provinznest stammte, und dann auch noch ausgerechnet aus demselben Kaff, aus dem Boomer kam. Die Frau sah zwar wirklich phantastisch aus, war aber allzu sehr aufgedonnert. Cole meinte es gewiß nicht ernst mit ihr. »Ist sie nett?« 207
»Ja«, antwortete Boomer und nahm sich einen Drink, als ein Kellner
an ihnen vorbeikam. »Ich habe sie früher ziemlich gut gekannt. Wir
haben gemeinsam den Abschlußball besucht.«
»Wenn das nicht erstaunlich ist. Ich war auf meinem Abschlußball
mit dem Mann, mit dem sie hier ist.«
»Was ist das für ein Mensch?« fragte Boomer. »Ich kenne ihn schon
seit meiner Kindheit und bin, um ehrlich zu sein, regelmäßig mit ihm
ausgegangen, ehe ich dich kennengelernt habe.«
Boomers Augen funkelten. »Dann hast du ihn also meinetwegen
sitzenlassen?«
Alex hing sich bei ihm ein. »So könnte man es auch sagen.«
Allerdings hatte er sich schon seit Monaten nicht mehr bei ihr
gemeldet. »Wie ist dieses Mädchen?«
»Carly ist intelligent und aufgeweckt. Sie durfte damals die
Abschlußrede halten.«
»Wie lange ist es her, seit du sie das letztemal gesehen hast?«
Zwei Wochen, einen Tag und knapp acht Stunden. »Jahre«,
antwortete Boomer.
208
32 Es hatte Carly wohlgetan, wie sie von den Coleridges aufgenommen worden war. Zwar konnte man Coles Eltern nicht als liebevoll und herzlich bezeichnen, doch Mrs. Coleridge hielt ihr eine Wange hin und küßte dann die Luft neben Carlys linker Wange. Sie stellten ihr erstaunlich wenig persönliche Fragen, und daher nahm Carly an, daß Cole seinen Eltern bereits einiges über sie erzählt hatte. Zuallererst, sagte Mrs. Coleridge, müßten Cole und sie einen Verlobungsring aussuchen. Daher trug Carly, als sie zu der Einweihungsfeier erschienen, die BB&O veranstalteten, bereits stolz einen Diamanten zur Schau, der, wie sie sagte, »so groß wie das Ritz« war. Er wog schwer an ihrer linken Hand, doch sie hielt sie immer wieder in die Höhe, um den Ring zu bewundern. Cole hatte gelacht, als sie in dem Juwelierladen gewesen waren und sie auf den Ring gedeutet hatte. »Willst du wirklich einen so großen haben?« Doch er hatte ihr den Ring mit Freuden gekauft und den passenden Ehering dazu ausgewählt, der ebenfalls mit Diamanten besetzt war. Als Mrs. Coleridge die Augen verdrehte, schloß Carly daraus, daß sie den Ring wohl zu protzig fand. Doch das störte sie nicht. Ihr würde es Spaß machen, nach Verity zu fahren und mit diesem Ring am Finger durch die Straßen zu laufen. Die meisten Mädchen in Verity, die gleich nach dem Schulabschluß geheiratet hatten, besaßen überhaupt keinen Verlobungsring, noch nicht einmal einen schmalen und unauffälligen. Dann hatte Mrs. Coleridge gefragt, wie Carly und ihre Eltern dazu stünden, die Hochzeit in Houston zu feiern. Carly wollte noch nicht einmal, daß jemand aus Verity zu ihrer Hochzeit erschien, mit Ausnahme von Zelda Marie. Daher hielten die Mütter telefonisch miteinander Rücksprache, und Mrs. Coleridge lud Walt und Francey ein, am folgenden Wochenende nach Houston zu kommen. »Sie werden natürlich bei uns wohnen, und dann können wir gemeinsam Pläne schmieden.« Zu den Plänen zählte es auch, mehr als vierhundert Freunde und Bekannte der Coleridges einzuladen. »Wir sind gern bereit, die Kosten für den Empfang zu übernehmen«, sagte Mr. Coleridge zu Walt. Doch Walt erwiderte ganz ruhig und gelassen: »Danke, aber ich kann mir das problemlos leisten. Schließlich habe ich noch nie 209
eine Tochter zum Altar geführt.« »Nun, wir würden den Empfang gern im Club veranstalten, und dort wird man Sie nicht bezahlen lassen. Außerdem haben wir keine Töchter zu verheiraten. Wir würden es als eine Ehre ansehen«, bekundete Mrs. Coleridge. Und Carly sagte sich, daß sie, wenn alles nach ihren Vorstellungen ablief, nicht zu befürchte brauchte, daß irgendwelche Provinzler aus Verity sie in Verlegenheit brachten. Francey sah zu Carly, die auf dem weißen Sofa saß und nichts sagte. Carly nickte unmerklich. Sie würde die größte und kostspieligste Hochzeit feiern, die alles überbot, was jemand aus Verity je erlebt hatte. Cole war nur zu gern bereit, den Frauen sämtliche Entscheidungen zu überlassen, und er redete noch nicht einmal bei der Planung mit. »Alles, was du dir wünschst, ist mir recht.« Aber in Wirklichkeit meinte er damit, wie Carly glaubte, daß er mit allem einverstanden war, was seine Mutter guthieß. »Wir werden auch unsere Kleider aufeinander abstimmen müssen«, sagte Mrs. Coleridge zu Francey. »Bleiben Sie doch noch bis Montag. Dann können wir zusammen einkaufen gehen und gemeinsam unsere Kleider und die Sachen für die Brautjungfern aussuchen. Sechs Wochen sind ja so knapp bemessen.« Carly beharrte darauf, nur von Zelda Marie begleitet zu werden. Mrs. Coleridge fand, es sollten sechs Brautjungfern gewählt werden, doch Carly sagte, sie habe noch nicht einmal sechs Frauen in ihrem Bekanntenkreis. Cole erklärte, daß ihm das recht sei, wenn Carly nur Zelda Marie haben wolle, und er würde seinen Bruder Ben bitten, als sein Trauzeuge zu fungieren. Carly hob ihre Hand, um den Diamanten an ihrem Ringfinger zu betrachten und zu beobachten, wie sich die Sonne funkelnd darin brach. Sogar die Königin von England wäre beeindruckt gewesen, dachte sie. Als sie allein waren, sagte Francey: »Wenn dir etwas nicht paßt, was Coles Mutter vorschlägt, dann brauchst du es nur zu sagen, verstehst du.« »Ich denke, Mom, sie weiß besser als wir, was zu tun ist. Es stört mich nicht, wenn sie die ganze Planung an sich reißt.« »Solange es dir nichts ausmacht, ist es ja gut.« Sie sah sich in dem Gästezimmer um, das man ihr und Walt zugewiesen hatte. »Liebst du ihn?« Francey zog ihre Strümpfe aus und stand barfuß da, da sie gleich duschen wollte. »Ja, natürlich, Mom. Was für eine Frage.« 210
»Du kannst gleich die nächste haben. Hast du mit ihm geschlafen?« Carly lachte. »Willst du mir jetzt etwas über die Bienchen und die Blümchen erzählen?« »Nein.« Francey schüttelte den Kopf, zog ihr Kleid aus und warf es auf das Bett. »Ich wollte nur sichergehen, daß ihr in der Hinsicht gut miteinander auskommt. Wenn es jetzt schon nichts taugt, dann wird auch später nichts daraus.« Das heißt wohl, daß sie mit Walt ins Bett gegangen ist, ehe die beiden geheiratet haben. Carly fragte sich, ob alle Leute Schwierigkeiten damit hatten, sich ihre Eltern im Bett vorzustellen. »Ich bin schon mit ihm ins Bett gegangen, als ich noch nicht geglaubt habe, daß ich in ihn verliebt bin. Vielleicht hat das geholfen.« Francey nickte. »Okay, Liebes. Ich wollte nur ganz sichergehen. Wenn du es nicht getan hättest, dann hätte ich dir nämlich gesagt, daß du es unbedingt tun sollst.« Mrs. Coleridge zog mit Carly los, um das Silber und das Porzellan auszusuchen und in den Geschäften, in denen man solche Dinge erwarb, einen Tisch für sie aufbauen zu lassen. Mrs. Coleridge war sicher, daß etliche ihrer Freundinnen Carly mit Geschenken überschütten wollten. Carly dachte gar nicht daran, all ihre Zeit darauf zu verwenden, Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen und Farben und Muster auszusuchen. Sie verhandelte lieber mit Kunden. »Du wirst natürlich aufhören zu arbeiten«, hatte Cole zu ihr gesagt. »Und warum noch bis zur Hochzeit warten? Erledige besser in Ruhe alles, was du bis dahin zu tun hast.« Carly bereitete es jedoch mehr Vergnügen, Immobilien zu verkaufen als Farben für Badezimmergarnituren auszuwählen. Mrs. Coleridge suchte ja doch alles für sie aus oder schrieb ihr vor, was sie nehmen sollte. Im Immobiliengeschäft war sie für alles selbst verantwortlich. Und außerdem war bisher noch nicht einmal die Rede davon gewesen, wo sie überhaupt leben würden, also wußte sie auch noch nicht, welche Farbe irgendein Badezimmer hatte. Sie vermutete, daß sie in Coles Wohnung zogen, da diese größer und weitaus attraktiver als ihre war. Und dann, eines Abends, ereigneten sich zwei Dinge. Während sie in der Bibliothek der Coleridges saßen und vor dem Abendessen einen Drink zu sich nahmen, erklärte Mrs. Coleridge: »Ich kann dir gar nicht sagen, wieviel Freude mir das alles bereitet, Carly. Ich dachte, all das würde mir versagt bleiben, weil ich keine Tochter habe. Ich danke dir dafür, daß du mir das ermöglicht hast, 211
meine Liebe.« In dem Moment betrat Adonis persönlich den Raum. Carly glaubte, die Sonne sei plötzlich herausgekommen, und sie blickte zur Decke auf, weil sie sehen wollte, ob sich dort ein Oberlicht verbarg, das ihr bisher entgangen war. Das blonde Haar des jungen Mannes fiel ihm in einer dichten Locke in die Stirn, und seine braungebrannte Haut verriet, daß er viel Zeit im Freien verbrachte. Er war genauso groß wie Cole, knappe einsachtzig, seine Augen waren ebenso wie Coles Augen blau, doch sie waren dunkler, und seine Lippen waren nicht so schmal, sinnlicher. Mein Gott, dachte Carly. Sie war verlobt und würde demnächst heiraten, und jetzt und hier ging ihr durch den Kopf, daß die Lippen dieses Mannes zum Küssen geschaffen waren. Sie ertappte sich dabei, daß sie errötete. Er trug ein Hemd, das am Hals offen und einen Ton heller als seine Augen war. Seine weiße Hose war ein wenig zerknittert, und er sah aus, als käme er gerade von einem Tennisplatz. Die Hemdsärmel waren fast bis zu den Ellbogen hochgerollt, und seine Arme waren von zarten blonden Härchen bedeckt. Seine Bewegungen waren geschmeidig und anmutig, wenn man davon absah, daß sich sein linker Arm beim Laufen überhaupt nicht rührte. In der Tür hielt er inne und schaute sich um. Dann blieb sein Blick auf Carly gerichtet. Er sah sie mit einer solchen Intensität an, daß Carly sich so fühlte, als zöge er sie aus. Er stand da, während alle anderen weiterredeten, bis Mrs. Coleridge ihn bemerkte. Als sie »Ah, Bennett« sagte, kam er ins Zimmer und beugte sich hinab, um seine Mutter auf die Wange zu küssen. Cole stand auf und ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln, und der Vater der beiden nickte ihm von dem Sessel aus zu, in dem er immer saß. »Ich bin gekommen, weil ich meine neue Schwester kennenlernen wollte«, sagte er und drehte sich zu Carly um. Er bedachte sie mit einem Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reichte und wesentlich unpersönlicher war als der Blick, mit dem er sie von der Tür aus gemustert hatte. Cole legte seinem Bruder einen Arm um die Schultern und stellte ihn Carly vor. »Mein Bruder Ben.« Das einzige, was sie bisher über ihn gehört hatte, war, daß es sich bei ihm um das schwarze Schaf der Familie handelte. Er war fünf lahre jünger als Cole und von mindestens drei Universitäten abgegangen. Oder war er 212
rausgeworfen worden? Cole hatte ihr erzählt, Ben sei schon immer derjenige gewesen, der sich mit seinem Charme überall einschmeicheln konnte. Ben, der mühelos gute Noten einkassierte, ohne dafür zu lernen. Ben, der sich die Streiche einfallen ließ, die dann auch ausgeführt wurden. Ben, um den sich die Mädchen scharten. Und doch schien er trotz seines beträchtlichen Charmes Komplexe zu haben und reichlich angeschlagen zu sein. Nichts machte ihm wirklich Spaß, und er wollte nie wirklich etwas. Er hatte nicht die geringste Lust zu arbeiten, und Geld interessierte ihn auch nicht. Manchmal, so vermutete Cole, machte er sich sogar aus Frauen nichts. Er neigte, wie sie wußte, zum Sarkasmus, und doch nahm Carly eine Empfindsamkeit an Ben wahr, auf die Cole sie nicht vorbereitet hatte. Sein linker Arm hing an der Seite herunter. Davon hatte Cole ihr gegenüber auch nichts erwähnt. Ihr fiel erneut auf, daß der Arm sich nicht bewegte, als er jetzt durch die Bibliothek auf sie zukam und ihr die rechte Hand entgegenstreckte. Sie reichte ihm die ihre, und während er sie noch hielt, setzte er sich neben sie und sagte mit einer leisen Stimme, die alle anderen auszuschließen schien: »Niemand hat mir gesagt, wie schön du bist.« Carly lachte verlegen. »Ich kann mich nicht einmal an deinen Namen erinnern«, sagte Ben. »Carly. Carly Anderson.« »Wie kommt es, daß mein Bruder ein solches Glück gehabt hat?« »Du kennst mich doch noch gar nicht«, entgegnete Carly. »Du hast recht. Unter diesem umwerfenden Äußeren könntest du ein absolutes Miststück sein.« »Bennett!« rief seine Mutter entsetzt. »An Ben wirst du dich erst noch gewöhnen müssen«, sagte Cole mit der Andeutung eines Lächelns. »Schenk ihm keine Beachtung.« Ben zog den linken Arm auf seinen Schoß. Seine Finger sahen normal aus, aber sie bewegten sich nicht. Carly hörte Mr. Coleridge seufzen. Ben hatte ihn offensichtlich schon öfter in Verlegenheit gebracht. »Um das Thema zu wechseln«, sagte Mrs. Coleridge zu ihrem Mann. »Warum erzählst du es ihnen nicht jetzt gleich. Dann können wir nach dem Abendessen rüberfahren.« Coles Vater räusperte sich – ein Prolog für eine Ankündigung von ganz beträchtlichen Dimensionen. »Wir möchten euch beiden unter die Arme greifen, damit ihr einen glänzenden Start habt, einen Start, 213
in dem sich Coles Position in der Union Trust widerspiegelt. Diese Woche ist das Hawthorne-Haus zum Verkauf auf den Markt gekommen. Deine Mutter und ich haben es erworben, um euch damit ein Hochzeitsgeschenk zu machen.« Carly schwirrte der Kopf bei ihrem Bemühen, sich daran zu erinnern, was sie über das Hawthorne-Haus wußte. Mein Gott, das konnte doch nicht etwa dieser riesige Kasten sein, der diese Woche als verfügbar für sämtliche Immobilienhändler reingekommen war… Sie versuchte sich das Foto ins Gedächtnis zu rufen. »Also so was, Dad, Mutter.« Carly konnte an Coles Stimme hören, daß er überwältigt war. Er sah Carly an. »Ich fürchte, ich tappe im dunkeln«, sagte sie. Sie spürte, wie ihr die Enttäuschung einen Stich versetzte. Wie konnte jemand anderes ein Haus für sie aussuchen? Im Nu drehte Ben, der immer noch ihre Hand hielt, sich zu seinen Eltern um und meinte: »Findet ihr nicht, ihr hättet der Braut die Wahl lassen sollen?« Waren ihre Gefühle durch ihre Finger in seine geflossen, oder woher kam es sonst, daß er so schnell kapierte, was in ihr vorging? Mrs. Coleridge nahm eine noch aufrechtere Haltung als sonst ein. Für einen Sekundenbruchteil spiegelte sich Verwirrung in ihren Augen wider. Cole warf Ben einen bösen Blick zu und trat zu seiner Mutter. »Natürlich wird Carly von diesem Haus begeistert sein. Ich fand es schon immer wundervoll.« »Es ist groß genug für euch beide, bis Kinder kommen«, meinte Mrs. Coleridge. »Ich bin wirklich sehr dankbar«, sagte Carly und zwang sich, Begeisterung in ihre Stimme zu legen. »Das ist ein phantastisches und sehr großzügiges Geschenk.« Mrs. Coleridge lächelte sie an und warf Ben dann einen fast so bösen Blick wie den zu, mit dem ihn Cole kurz zuvor bedacht hatte. »Nach dem Abendessen können wir alle rüberfahren und uns gemeinsam das Haus ansehen. Natürlich kann es gut sein, daß es dich mit dieser altmodischen Einrichtung, die noch drin ist, nicht gleich anspricht…« Nicht gleich anspricht? Carly mußte sich zwingen, nicht laut zu lachen. »Aber wir werden gewiß viel Freude daran haben, es einzurichten.« Wir? Wir richten es ein? Ben legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie drehte sich nicht um und sah ihn auch nicht an, aber sie spürte, daß er ihr Rückendeckung 214
geben wollte. Ihm war bewußt, wie ihr zumute war. »Tessa ist die neue Innenarchitektin, von der man derzeit überall spricht.« Tessa? Sie ist Boomers Partnerin, dachte Carly. Sie ist diejenige, die diese Wohnungen eingerichtet hat, die wir uns letzte Woche angesehen haben. Nun, wenigstens hatten ihr die sehr gut gefallen. Nach dem Abendessen fuhren sie alle fünf zu dem Hawthorne-Haus rüber. Carly war hingerissen, als sie es sah. Eine halbkreisförmige Auffahrt führte zu dem Backsteinhaus im Tudorstil, von dem sie vermutete, daß es in den zwanziger Jahren gebaut worden war. Zwei hoch aufragende Eichen wachten darüber. Auf der Rückseite war ein Swimmingpool. »Und dahinter«, sagte Cole, »ist noch genug Raum für einen Tennisplatz.« Das Haus war in einem tadellosen Zustand. Alle Häuser in River Oaks sind wohl so gut erhalten, dachte Carly. Es war mit dunklem Holz getäfelt. Sie würde die Innenarchitektin dazu überreden, es in einer helleren Farbe zu streichen. Morgen würde sie sich eine Ausgabe von Better Hornes & Gardens kaufen und sich einen ersten Eindruck verschaffen. Nachdem sie den Rundgang abgeschlossen hatten, flüsterte Ben ihr ins Ohr: »Was ist? Kannst du damit leben?« »Problemlos.« Carly lächelte ihn an. »Du mußt dir einfach nur klarmachen, daß ich aus einer Kleinstadt komme und daß all das neu für mich ist. Ich bin leicht zu beeindrucken.« »Laß dich bloß nicht übertölpeln«, sagte er, als sie hinter den anderen herliefen. »Dir läßt man alles durchgehen. Es reicht nämlich schon, eine Coleridge zu sein.« »Du redest wohl von dir?« fragte sie. »Du kannst es dir leisten, in der Schule durchzurasseln, dich in jede erdenkliche Klemme zu bringen und dir deinen Lebensunterhalt nicht verdienen zu müssen, und all das geht in Ordnung, weil du ein Coleridge bist?« »Autsch«, sagte er. »Und ich hatte den Eindruck, wir würden uns anfreunden.« »Würde ich etwa so mit dir reden, wenn ich es nicht genauso sähe?« Ben war der erste Coleridge, der ihr das Gefühl gab, sich unbefangen äußern zu können. »Carly, meine Liebe«, sagte er, als Cole sich umdrehte, um auf die beiden zu warten, »ich habe so den Verdacht, wir werden aufrichtig miteinander umgehen.«
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33 Ihre Hände waren in das Spülwasser eingetaucht, als Zelda Marie aus dem Fenster schaute und sah, wie der Wagen ihrer Mutter im Gras hinter dem Haus anhielt. Der Feldweg endete abrupt neben dem Haus, doch die meisten Besucher fuhren einfach weiter auf das ungemähte Gras. Sie beobachtete, wie ihre Mutter aus dem Wagen stieg und sich dann umdrehte, um etwas zu dem Mann zu sagen, der auf dem Vordersitz saß. Mrs. Spencer, die ein formloses Baumwollkleid von der Sorte trug, die sie schon immer getragen hatte, so lange Zelda Marie zurückdenken konnte, öffnete die hintere Tür des Wagens, und eine Mexikanerin stieg aus. Sie hatte ein sauberes, frisch gebügeltes, aber doch ausgewaschenes blaues Kleid und Huaraches an. Ihr schimmerndes schwarzes Haar war mit einem Gummiband zurückgebunden. Die Frau blickte schüchtern zu dem kleinen Haus, als sie Mrs. Spencer über den Rasen und die zwei Stufen hinauf folgte, die zur Veranda führten. Sie blieb in der Tür stehen, als Mrs. Spencer in die Küche eilte. Zelda Marie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling.« Zelda Maries Mutter küßte ihre Tochter auf die Wangen und umarmte sie. »Danke, Momma.« Sie blickte zu der Mexikanerin. »Das ist Aofrasia.« Mrs. Spencer machte der Frau ein Zeichen, die Küche zu betreten, doch sie blieb in der Tür stehen. »Sie ist mein Geburtstagsgeschenk, meine Süße«, sagte Mrs. Spencer. »Jemand, der sich um das Haus kümmert.« In Verity hatten sogar die Ärmsten Hausmädchen, die täglich kamen. Aber Joe Bob hatte nie genug Geld verdient, und außerdem konnte Zelda Marie nicht jeden Tag in die Stadt fahren, um das Mädchen abzuholen. »Du hast zu viel zu tun!« fuhr Mrs. Spencer fort. »Du kannst nicht den Haushalt führen und dich um alle Kinder und um deine Pferde und Kälber kümmern, ganz zu schweigen von den Hühnern und den Lämmern und davon, daß du abends auch noch drüben in den Weiden arbeitest.« »Momma, ist das wieder einmal eine deiner illegalen Einwanderinnen?« So lange Zelda Marie zurückdenken konnte, hatte ihre Mutter Unmengen von illegalen mexikanischen Arbeitskräften durchgefüttert, die Hunderte von Meilen durch die mexikanische 216
Wüste gezogen waren, um das Land zu erreichen, in dem sie sich eine Chance erhofften. »Ihnen steht ebensosehr wie allen anderen das Recht darauf zu, daß man ihnen eine Chance gibt. Keine einzige weiße Frau, die ich kenne, ist bereit, das zu tun, was die Mexikanerinnen tun. Sei einfach nur dankbar dafür. Ich dachte mir, Aofrasia und ihr Mann Carlos könnten hier einziehen. Ich habe mehr als dreißig Jahre meines Lebens hier draußen, abseits von der Zivilisation, verbracht, und ich bin schon lange soweit, daß ich in die Stadt ziehen möchte. Gestern abend haben dein Daddy und ich dieses kleine weiße Haus Ecke Post Oak Road/Magnolia Street gekauft, einen Katzensprung von der High-School. Ihm macht es nichts aus, jeden Tag die vier Meilen hierher rauszufahren. Und daher wirst du jetzt in das große Haus einziehen.« »Momma, das ist doch nicht dein Ernst!« Sie hörte schon seit so vielen Jahren, daß ihre Mutter sich danach sehnte, in die Stadt zu ziehen, wahrscheinlich schon seit ihrem zwölften Lebensjahr. Mrs. Spencer nickte. »Aofrasia kann auch kochen, und Carlos wird den Rasen mähen und die Gartenarbeit übernehmen und alles tun, was hier sonst noch anfällt. Daddy und ich werden für das erste Jahr die Bezahlung der beiden übernehmen. Das ist unser Geburtstagsgeschenk.« Zelda Marie lachte. »Gib doch zu, Momma, daß du dich dieses Häuschens schämst.« Mrs. Spencer nickte. »Ich will nicht, daß meine Enkel wie die ärmsten Weißen im Süden aufwachsen, das ist schon wahr. Und ich will auch nicht, daß unser Grundstück wie ein Schlachtfeld aussieht. Aber dazu kommt noch, daß sogar dein Daddy stolz auf das ist, was du hier geleistet hast, Zelda Marie. Und seit du jetzt mit all den Kindern ganz allein bist, arbeitest du so hart wie niemand sonst, den ich kenne. Ao und Carlos werden dir eine große Hilfe sein. Sie werden sich um alles kümmern. Tagsüber, ehe du um fünf Uhr arbeiten gehst, brauchst du nur für die Pferde zu sorgen, und ansonsten kannst du tun, was du willst. Du brauchst dich nicht mehr abzurackern, bis du fix und fertig bist. Du bist zu einem Gespenst abgemagert.« Mrs. Spencer wandte sich an die Mexikanerin und teilte ihr in gebrochenem Spanisch mit, daß Zelda Marie sämtliche Möbel, das Geschirr, das Besteck und die Kücheneinrichtung dalasse. Sie und Carlos könnten Zelda Marie und ihren Kindern gleich nachher bei 217
dem Umzug in das große Haus behilflich sein und heute nacht bereits hier schlafen. »Momma, ihr zieht doch nicht etwa heute abend schon in euer neues Haus um?« »Das kannst du aber glauben«, antwortete ihre Mutter darauf. »Und wenn nichts weiter als ein Bett darin steht, werde ich einziehen. Und morgen fahre ich nach Corpus Christi rüber und kaufe alles neu. Neue Möbel, neues Geschirr und neue Handtücher. Ich will alles neu haben. Ich habe deinem Pa gesagt, wir hätten nie die Zeit für Flitterwochen oder für irgendeine andere Reise gehabt, und mit einer komplett neuen Einrichtung für unser Haus in der Stadt könnte er mich dafür entschädigen. Und er hat eingewilligt.« »Da soll mich doch gleich der Teufel holen«, sagte Zelda Marie und warf das Geschirrtuch auf die Anrichte. »Wenn das so ist, dann los, Momma. Laß uns die Schränke ausräumen. Vielleicht können wir all das schon hinter uns gebracht haben, ehe die Kinder nach Hause kommen.« »Jedes der Kinder kann sein eigenes Zimmer haben.« »Momma, das schlägt wirklich alles. Ich glaube, ein schöneres Geschenk hättest du mir gar nicht machen können.« Aofrasia sah sich um und schnalzte mit der Zunge. »Komm schon.« Mrs. Spencer ergriff Zelda Maries Arm. »Laß uns gleich mit dem Packen beginnen. Aofrasia kann die Küche saubermachen. Sie hat den ganzen Tag dafür Zeit, und Carlos kann uns beim Umzug helfen. Nachdem sie mit der Küche fertig ist, fahre ich die beiden zum Markt, wo wir alles an Lebensmitteln kaufen werden, was sie haben will. Ich werde in Zukunft jeden Mittwoch rauskommen und sie zum Einkaufen abholen. Du solltest also besser anfangen, Einkaufszettel zu schreiben.« Sie strahlte. »Ich hatte Angst, ich würde mich mit dir darüber streiten müssen.« »Streiten, Momma? Du weißt doch ganz genau, daß ich Hausarbeit hasse.« »Du wirst ihr zeigen müssen, wie man die Waschmaschine und den Trockner bedient, und Carlos mußt du beibringen, wie man diesen fahrbaren Rasenmäher einsetzt.« »Und wie soll ich das anstellen, wenn ich kein Spanisch kann?« »Spanisch läßt sich lernen, genauso, wie die beiden Englisch lernen werden. Du hast dein ganzes Leben in Verity verbracht. Du mußt doch ein paar Brocken Spanisch aufgeschnappt haben.« Sie ging wieder hinaus zum Wagen, öffnete die Vordertür und gestikulierte. Ein gutaussehender Mexikaner, den Zelda Marie auf 218
Ende Zwanzig schätzte, ein klein wenig älter als seine Frau, stieg aus dem Auto. Zelda Marie senkte die Stimme und flüsterte: »Glaubst du, ich kann die Kinder gefahrlos mit diesen… mit diesen Fremden allein lassen? Du weißt schon, ihnen die gesamte Verantwortung anvertrauen?« »Jetzt hör bloß auf«, sagte Mrs. Spencer unwillig. »Es wird nicht lange dauern, und du wirst ihnen nicht nur deine Kinder, sondern auch dein eigenes Leben anvertrauen.«
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TEIL III
1974-1
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34 Mrs. Coleridge machte mindestens ein dutzendmal im Jahr Anspielungen auf Kinder. Das hieß aber nicht etwa, daß es ihr sehnlichster Wunsch war, von kleinen Kindern umgeben zu sein, doch sie begeisterte sich für die Vorstellung des Weiterbestands der Familie. Der Schritt in Richtung Unsterblichkeit. Carly interessierte sich nicht für die Unsterblichkeit. Sie wollte Kinder. Nachts lag sie im Bett und dachte daran, mit einem Baby zu schmusen, die Wange an den weichen Flaum auf seinem Kopf zu schmiegen, die süß duftende Haut zu küssen und es zu baden. Sie hatte schließlich Dr. Beckwith konsultiert, der nach ausgiebigen Untersuchungen erklärt hatte, es gäbe keinen Grund auf dieser Welt, aus dem sie nicht schwanger werden sollte. Er hatte vorgeschlagen, Cole solle zu ihm kommen und sich einer Spermazählung unterziehen. Doch das hatte Cole bisher nicht getan. Deshalb ging Carly darin auf, Häuser zu verkaufen, was Cole höllisch ärgerte. Er konnte nicht verstehen, warum sie sich nicht damit zufriedengab, das zu tun, was die Frauen seiner Freunde taten – im Club Tennis spielen, hinterher dort zu Mittag essen oder sich mit einer Freundin in einem schicken Restaurant treffen und am Nachmittag dann Bridge spielen. Genau das hatte sie in ihrem ersten Jahr als Carly Coleridge getan und festgestellt, daß sie sich tödlich langweilte. Die Gespräche erschienen ihr so nichtssagend. Wer mit wem schlief, die neuesten Diättrends und wer zu wessen Party nicht eingeladen worden war, welche der Frauen in ihren mittleren Jahren sich hatten liften lassen, wer in diesem Jahr nach Europa oder auf die Fidschi-Inseln reiste – sie versuchte sich dafür zu interessieren, sie strengte sich wirklich sehr an, denn diese Frauen aus Houston, diese Freundinnen der Coleridges, diese Ladys, deren Ehemänner ihnen die Clubmitgliedschaft ermöglichten, hatten sie akzeptiert. In Houston begründete sich der gesellschaftliche Rang nicht auf die Herkunft, sondern auf Geld, und das hatten die Coleridges. Die meisten dieser Frauen waren ebenfalls Neulinge, wenn es um viel Geld ging, um Millionenbeträge. Ihnen lag nichts daran, auf einen weiteren Neuzugang herabzublicken, und schon gar nicht, wenn es sich um die Schwiegertochter des Direktors von Union Trust handelte. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sich Carly akzeptiert. Natürlich 221
nicht aufgrund dessen, wer sie war, sondern aufgrund des Mannes, den sie geheiratet hatte, und auf dem Umweg über ihre Schwiegereltern. Sie vermutete, daß dies für Frauen ohnehin der einzige Weg war, akzeptiert zu werden. Gewiß nicht um ihrer selbst willen. Doch sie mußte zu ihrem eigenen Erstaunen feststellen, daß ihr das, wovon sie ihr Leben lang geglaubt hatte, es zu wollen, nicht genügte. Deshalb nahm sie zu Coles großem Verdruß ihre Arbeit für Mr. Rolf wieder auf und verdiente zwei Jahre später selbst eine halbe Million im Jahr. Und zwar nicht nur durch den Verkauf von Häusern, sondern auch durch den Abschluß von Geschäften. Sie zählte zu den drei einzigen Frauen in Houston, die für den Verkauf von Gewerbeobjekten zuständig waren. Dann hatte Mr. Rolf vor sieben Monaten zu ihr gesagt: »Ich beabsichtige, in den Ruhestand zu gehen, nach Hawaii zu ziehen. Willst du die Firma kaufen? Ich mache dir ein Angebot. Mir fällt sonst niemand ein, der die Firma so weiterführen wird, wie ich es mir wünsche.« Carly besprach die Angelegenheit mit Cole, der sich dieser Idee glühend widersetzte. »Himmel noch mal, Carly, wir brauchen das Geld nicht.« »Das ist nicht der einzige Grund, weswegen ich arbeite. Mich begeistert der Gedanke, eine eigene Firma zu besitzen. Und außerdem bist du es, der nur an Geld denkt.« Cole starrte sie an. »Das ist etwas ganz anderes. Ich bin Bankier. Und ich bin ein Mann.« »Das Nichtstun langweilt mich«, erklärte sie ihm, und zwar nicht zum erstenmal. »Und wenn mir die Firma gehört, verdiene ich doppelt soviel.« »Ich habe aber keine Lust, Geld in diese Geschichte zu stecken. Werde schwanger und bleib zu Hause und erfülle deine Mutterpflichten.« »Möglicherweise bliebe ich ja zu Hause, wenn ich mich um Kinder zu kümmern hätte«, erwiderte Carly. »Wir strengen uns ja weiß Gott mächtig an.« Cole ging zu ihr und legte die Arme um sie. »Das ist es doch gerade, was den meisten Spaß daran macht, findest du nicht auch?« Sie nickte, war jedoch in Gedanken bei Mr. Rolfs Angebot. »Im Moment brauche ich nichts weiter als eine Anzahlung von hunderttausend, und dann muß ich ihm fünf Jahre lang jährlich feste Beträge zahlen.« 222
»Es macht wirklich keinen guten Eindruck, Carly, wenn meine Frau eine Firma übernimmt.« »Auf wen macht das keinen guten Eindruck? Wen müßtest du denn beeindrucken? Halb Houston bemüht sich, die Coleridges und Union Trust zu beeindrucken. Und außerdem gibt es nur eine einzige Frau, die du eventuell bewunderst, und das ist Alex. Sie leitet ihre eigene Firma, obwohl sie ein Kind hat. Wahrscheinlich verdient sie mehr als wir beide gemeinsam.« Cole zuckte zusammen. »Ich will, daß du für mich da bist, wenn ich nach Hause komme. Ich…« »Wann bin ich denn nicht da, wenn du mich um dich haben willst? Und außerdem bin ich diejenige, die vorschlägt, daß wir gemeinsam Reisen unternehmen, aber du hast immer zuviel zu tun.« Allerdings nicht zuviel, um an den Samstagen Golf zu spielen. »Cole, es macht mir keinen Spaß, einfach nur rumzusitzen und zu warten, bis du dir Zeit für mich nehmen kannst. Die Zeit totzuschlagen, bis du für mich da bist, entspricht nicht meiner Vorstellung vom Leben.« Er hob beide Hände, als gäbe er sich in dieser Auseinandersetzung geschlagen. Sie griff zum Telefon, rief Walt an und fragte ihn, ob er ihr hunderttausend Dollar borgen könne. Sie sagte, sie setze einen Vertrag auf und zahle ihm die Summe im Lauf von vier Jahren mit einer zehnprozentigen Verzinsung zurück. Walt lachte. »Warum sollte ich von dir mehr verlangen als von jedem anderen? Und außerdem finde ich, die Idee klingt prima.« Sie hatte Rolfs Firma unter der Bedingung gekauft, für mindestens fünf weitere Jahre den Namen beizubehalten. Es machte ihr nicht das geringste aus, dies zu akzeptieren. Seit Cole vor fast fünf Jahren BB&O als Vertragspartner herangezogen hatte, um für Señor Rosas das Hotel in Acapulco zu bauen und anschließend ein weiteres Hotel in dem bezaubernden kleinen Dorf zu errichten, hatten sie und Cole einmal wöchentlich mit Boomer, Alex, Dan und Tessa zu Abend gegessen. Alex machte immer einen ganz tadellosen Eindruck, und kein Haar löste sich aus ihrer Frisur, um dieses Gesamtbild zu schmälern. Carly wünschte, sie könnte sich diese kühle Eleganz zulegen. Sie und Alex waren nie wirklich warm miteinander geworden. Mit Tessa dagegen hatte sie sich sofort angefreundet. Auch Tessa und Alex waren enge Freundinnen. Ab und zu, in sehr großen zeitlichen Abständen, aßen die drei gemeinsam zu Mittag. Cole und Carly waren in so vielen 223
Punkten verschiedener Meinung, daß es manchmal schwierig war, Gesprächsstoff zu finden, der nicht zu einer Auseinandersetzung führte. Sie hatten sich darauf geeinigt, nicht über Politik zu diskutieren. Cole wurde wütend, wenn Carly nicht seiner Meinung war. Und Carly vermochte nicht zu verstehen, wie jemand, und schon gar nicht ihr Mann, derartige Ansichten vertreten konnte, wie Cole es tat. Er hielt die Vereinten Nationen für subversiv. Er glaubte fest daran, daß Neger und auch Mexikaner in ihren intellektuellen Fähigkeiten den Weißen unterlegen waren. Er fand, jede Form von staatlicher Unterstützung, selbst wenn sie mittellosen Bürgern oder unverheirateten Müttern zukam, sei unmoralisch. Er war ein überzeugter Gegner von Abtreibungen und befürwortete dennoch die Todesstrafe. Carly trat für fast keine von Coles Überzeugungen ein, sie hing gänzlich anderen Vorstellungen an. Sie und diejenigen Frauen, die ihr finanziell gleichgestellt waren, konnten sich jederzeit eine Abtreibung erlauben, selbst wenn es hieß, daß man nach Schweden flog. Carly hatte darum gebetet, diese Entscheidungsfreiheit möge legalisiert werden. Sie fragte sich, ob sie Tessa anrufen und sich erkundigen sollte, ob sie um die Mittagszeit frei sei. Sie sah Tessa nicht mehr annähernd so oft wie früher, als diese noch nicht ganz soviel zu tun hatte. Nachdem sie Carlys und Coles neues Haus in River Oaks eingerichtet hatte, war es mit ihrer Karriere steil bergauf gegangen. Jeder, der in das Haus der jungen Coleridges kam, erkundigte sich danach, wer es eingerichtet habe, bis Tessa mehr Aufträge bekam, als sie annehmen konnte. Sie beschloß, bei BB&O auszusteigen und ihr eigenes Geschäft zu gründen, doch Dan und Boomer erklärten, es stehe ihr frei, individuelle Jobs zu übernehmen, nicht jedes Projekt, an dem sie sich beteiligten, erfordere alle drei Partner, BB&O sei der Traum, den sie gemeinsam verwirklicht hätten, und sie könne jetzt nicht einfach aussteigen. Es lief darauf hinaus, daß Boomer und Dan sich nur mit großangelegten Projekten abgaben und Tessa nicht nur Büros und die Foyers der Gebäude einrichtete, die BB&O erbauten, sondern außerdem auch noch ein Haus nach dem anderen. Sie hatte das Gefühl, sie müßte sich bei jedem einzelnen Haus die Zeit nehmen, die Besitzer kennenzulernen, um nicht nur ihre Psyche und ihren gesellschaftlichen Umgang besser zu verstehen, sondern auch das Image, das sie vermitteln wollten. Das war wohl der Grund, warum Tessa kaum noch dazu kam, mit Carly zu Mittag zu essen. Dan forderte inzwischen zehn Prozent der Kosten jedes Gebäudes, 224
das er entwarf, und das belief sich manchmal auf mehr als zwei Millionen Dollar. Viele der modernen schillernden Glasbauten, die sich in den Himmel emporreckten und die Skyline von Houston erschufen, waren von Dan entworfen worden – und ausgeführt von Boomer, für noch mehr Geld. Carly hatte Interesse daran, Land im Westen von Houston zu kaufen, wo es noch Farmen gab. Es war ihr hundertmal lieber, Geld in Land zu stecken als in einen Pelzmantel. Ehe Carly dazu kam, Tessas Nummer zu wählen, rief Alex sie an und fragte, ob sie sich treffen könnten. Es war das erstemal, daß Carly und Alex sich allein zum Mittagessen verabredeten. Sowie sie bestellt hatten – beide hatten sich für einen Cäsarsalat entschieden –, kam Alex zur Sache. »Ich habe gehört, wie du vorgestern abend sagtest, du wolltest gern Land westlich von River Oaks kaufen. Hast du dabei etwas Bestimmtes im Sinn, oder ist es nur ein Prickeln in den Fingern, das dir sagt, daß Houston sich in diese Richtung ausweiten wird?« Sollte Carly sie in ihre Träume einweihen? Warum nicht. Wenn sich die Dinge so anließen, wie sie es sich vorstellte, würde sie BB&O ohnehin hinzuziehen, und Alex war zwar genaugenommen gesehen keine Firmenpartnerin, aber sie war immerhin mit dem Boss verheiratet. Und Alex hatte Zugang zu den Millionen von investitionsfreudigen Kunden. »Hast du schon von den neuen Einkaufspassagen gehört?« Alex schüttelte den Kopf. »Oben in Rochester, New York, haben sie die Innenstadt mit einem Dach versehen, damit die Laute den Elementen nicht trotzen müssen, wenn sie von einem Laden zum anderen gehen. Meine Intuition sagt mir, daß das der neue Trend ist.« »New York und Texas haben nicht dasselbe Klima. Hier schneit es nicht, und…« »Nein, uns plagt statt dessen die Schwüle. Und im Sommer läßt die Hitze die Leute ohnmächtig werden.« »Ein Dach über der Innenstadt?« Alex konnte es sich nicht so recht vorstellen. »Warum machen wir dann hier nicht dasselbe, wenn du der Meinung bist, daß das der neueste Schrei ist?« »Weil ich glaube, daß die Innenstadt völlig von Büros eingenommen werden wird. Die Vororte entwickeln sich explosionsartig, und die Frauen wollen nicht den weiten Weg in die Innenstadt zurücklegen und sich diesen Menschenmassen und dem Verkehr aussetzen, um 225
einkaufen zu gehen. Wenn an dem, was ich gelesen habe, auch nur das Geringste dran ist, dann glaube ich, daß sich die Geschäfte in Einkaufszentren mit Passagen und Galerien zusammendrängen werden, überdacht, als Schutz gegen das Wetter. Dieses Gebiet im Westen der Stadt wäre blendend zugänglich.« Die beiden Frauen redeten bis weit in den Nachmittag hinein, und als sie auseinandergingen, sagte Alex: »Das interessiert mich ganz außerordentlich. Vielleicht fliege ich nach Rochester rauf und sehe mir das mal an. Ich habe wirklich großes Interesse daran, Carly.« »Nun ja, im Moment spiele ich eigentlich nur mit dem Gedanken, eine große Menge Land an mich zu bringen. Es wäre mir lieb, wenn das unter uns bliebe.« Alex lächelte. Zum erstenmal in ihrer vierjährigen Bekanntschaft empfand Carly ein starkes Gefühl von Nähe zu ihr. »Wenn du Geld brauchst oder einen Partner willst, dann gib mir Bescheid. Ich glaube, für ein solches kommerzielles Projekt könnte ich Gelder auftreiben, falls es mir durchführbar erscheint. Und wenn du für den Erwerb des Landes einen Partner möchtest, dann wende dich bitte an mich und nicht an andere Investoren.« Auf der Rückfahrt ins Büro begriff Carly, daß sich hier vielleicht eine Freundschaft anbahnte. Es gab so wenige Frauen, mit denen sie Gemeinsamkeiten hatte.
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35 Kurz vor fünf ertönte die Stimme von Carlys Sekretärin durch die Haussprechanlage. »Mister Coleridge ist auf Apparat zwei.« Cole? Er rief sie selten in ihrem Büro an. Es war jedoch Bens Stimme, die sie fragte: »Hast du morgen Zeit für ein Mittagessen, Carly?« »Wenn es darum geht, dich zu treffen, dann werde ich mir die Zeit nehmen.« Er klang erfreut. »Ich werde gegen zwölf in Houston sein. Was hältst du davon, um eins mit mir zu essen? Ist dir das recht?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Ich brauche Rat in geschäftlichen Dingen.« Carly lächelte unwillkürlich, und ihre Augen strahlten. »Du willst meinen Rat in geschäftlichen Angelegenheiten?« Ein kurzes Zögern. »Sagen wir, wir treffen uns im Shamrock. Ich werde mir dort ein Zimmer nehmen.« »Wenn du über Nacht bleibst, schläfst du bei uns. Wir haben dich seit Weihnachten nicht mehr gesehen.« »Nein, ein Hotel ist mir lieber. Ich weiß noch nicht einmal mit Sicherheit, ob ich über Nacht bleibe, aber ich nehme mir ohnehin ein Zimmer dort.« Er mußte auch noch andere Leute treffen und sich um Geschäftliches kümmern, vielleicht sogar ein Interview führen. Kurz nachdem Carly und Cole vor knapp fünf Jahren geheiratet hatten, war er in die kleine Stadt Nacogdoches gezogen, und die Leitartikel, die er für die dortige Wochenzeitung schrieb, wurden manchmal in der Post abgedruckt. Selbstgesponnene Philosophie auf einer globalen Ebene. Keiner von ihnen hatte auch nur geahnt, was in Ben steckte. Carly wußte, daß die Post an ihn herangetreten war, weil man einige seiner Artikel abdrucken wollte. Das hieß, das seine Artikel in mehreren Zeitungen gleichzeitig erschienen, selbst wenn es nur zwei waren. Sie war stolz auf ihren Schwager. Er ging in seiner Arbeit für diese Wochenzeitung auf und hatte seine Nische gefunden, soviel stand fest. Sein Vater war weiterhin der Auffassung, Ben vergeude seine Zeit, denn er war mit Sicherheit nicht auf dem besten Weg, reich zu werden. Dennoch war die ganze Familie froh, daß er seit vier Jahren einen festen Job hatte. Carly fragte sich, ob es wohl eine Frau in Bens Leben gab. Sicher war er mit Frauen zusammen, aber existierte eine ganz bestimmte? Die Familie kam nur an Weihnachten zusammen. Ben fuhr am Heiligen Abend nach Houston runter, blieb 227
zwei Nächte Nächte bei seinen Eltern, verkleidete sich als Weihnachtsmann und verteilte Geschenke und machte viel Aufhebens um die Plätzchen, die Mrs. Coleridge immer für den Weihnachtsmann bereitstellte. Sie betonte jedes Jahr wieder, die Enkelkinder dürften die Süßigkeiten nicht anrühren, sondern müßten sie für den Weihnachtsmann aufheben… aber bisher gab es keine Enkelkinder. Seit die Coleridges und die Headlands miteinander befreundet waren, aßen sie jedes Jahr am ersten Weihnachtsfeiertag gemeinsam zu Abend, und das hieß, daß sie Weihnachten mit Boomer, Alex und David verbrachten, dem achtzehnmonatigen Sohn der beiden. Und auch Francey und Walt kamen zum Fest nach Houston. Carly brachte den Nachmittag damit zu, sich zu fragen, wie es sich wohl anlassen würde, mit Alex als Partnerin Land zu kaufen. Mit Sicherheit hieß es, daß sie dort draußen eine Menge Land erwerben konnten. Am folgenden Tag rief Ben sie um zwölf im Büro an. »Bleibt es bei unserem Mittagessen?« »Natürlich. Ich habe mir sogar den ganzen Nachmittag freigehalten, damit ich mich dir voll und ganz widmen und auf deine Wünsche eingehen kann.« Ein langes Schweigen trat ein. Dann sagte Ben: »Auf alle meine Wünsche?« Carly lachte. »Ich habe den Eindruck, du stellst es viel aufregender hin, als es ist.« Wieder Schweigen. »Wie aufregend es wird, hängt ganz von dir ab.« Carly spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken hinunterlief. »Du hast schon immer den Dreh rausgehabt, mir das Gefühl zu geben, ich sei absolut unwiderstehlich. Du bist gut für mein Ego, Ben.« »Wenn das so ist, dann wollen wir doch nichts überstürzen. Laß uns richtig in Ruhe miteinander essen, damit ich meine Augen nach Herzenslust an dir weiden kann.« »Und umgekehrt.« Sie warf einen Blick in den Spiegel, ehe sie aufbrach. Ihr weißes Seidenkostüm setzte sich gegen eine perlgraue Chiffonbluse ab, deren Rüschen unter der Jacke herausschauten. Ihre grauen Wildlederschuhe mit den extrem hohen Absätzen trafen fast den Farbton der Bluse. Den einzigen leuchtenden Farbtupfer bildeten kleine Saphirohrringe, die zu ihrer großen hellblauen Handtasche 228
paßten. Bens erste Worte lauteten: »Alle anderen Frauen verblassen neben dir.« Sie hielt ihm die Wange zum Kuß hin. Seine Lippen berührten sie flüchtig. Ben trug das Haar länger als alle anderen Männer, die sie kannte. Das gefiel ihr recht gut. Er hatte ein saloppes Freizeitjackett und ein Hemd mit offenem Kragen und ohne Krawatte an. Er war so attraktiv wie ein Filmstar. Das dunkelblonde Haar war links gescheitelt, und eine Locke fiel ihm in die Stirn. Sein Gesicht war braungebrannt, und seine Augen waren so blau wie keine anderen, vielleicht mit Ausnahme von Paul Newman. Aber ganz gleich, wie sehr diese Augen auch leuchteten, es ging immer etwas Rebellisches von Ben aus. Als sie in dem dunkel getäfelten Restaurant, das sich auf Steaks spezialisierte und wie ein englischer Pub aussah, einen Tisch gefunden hatten, dasaßen und Brandy Alexander nippten, ergriff Ben Carlys Hand. »Ich will dir die Würmer aus der Nase ziehen und von deiner Erfahrung profitieren.« Carly legte die Stirn in Falten. Sie hatten es noch nie nötig gehabt, Floskeln miteinander auszutauschen. »Mit Schmeicheleien kommst du immer ans Ziel.« »Ich spiele mit dem Gedanken, in Aransas Pass eine Wochenzeitung zu kaufen. Das ist nicht weit von der Ecke, aus der du kommst, stimmt’s? Der Besitzer der Zeitung von Nacogdoches arbeitet verdammt hart, und er verdient genug, um ganz anständig davon zu leben, wenn auch nicht luxuriös. Ich kann die Zeitung von dem Erbe meines Großvaters kaufen, aber ich weiß nicht, ob ich auch nur den geringsten Geschäftssinn habe. Bloß weil ich gute Leitartikel schreibe und nicht vor Langeweile sterbe, wenn ich einer Sitzung der Schulbehörde beiwohne, heißt das noch lange nicht, daß ich den Sinn für die geschäftliche Seite mitbringe, den man als Besitzer einer Zeitung braucht. Dad würde sich darüber freuen, da bin ich mir ganz sicher, obwohl es für ihn kleine Brötchen sind. Wenn ich in dieses Geschäft einsteige, dann hätte ich die Freiheit, genau das zu schreiben, was ich schreiben will.« Carly bemühte sich, einen äußerst geschäftsmäßigen Eindruck zu erwecken. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, als würde sie darüber nachdenken. »Wieviel?« Er nannte ihr die Summe. »Warum fragst du ausgerechnet mich? Ich verkaufe Immobilien.« »Das ist ganz einfach. Zu dir habe ich Vertrauen, und du scheinst 229
dich in diesen Dingen auszukennen. Du kannst mir sogar sagen, ob
der Preis zu hoch ist.« Sie leerte langsam ihr Glas. »Ich halte den
Preis für angemessen, aber wir müßten die Bücher einsehen, um
sicherzugehen. Ich werde hinfahren, obwohl eigentlich Alex
diejenige ist, mit der du reden solltest. Sie ist einsame Spitze, wenn
es um geschäftliche Dinge geht.«
»Alex ist wie Dad und Cole. Sie glauben alle, jede Überlegung sei
überflüssig, wenn man an einem Projekt nicht einen Haufen Kohle
verdienen kann. An der Übernahme von Lokalzeitungen ist noch
niemand reich geworden.«
»Wenn man es damit zu Reichtum bringen könnte, würdest du es
wahrscheinlich nicht tun wollen.«
Ben grinste. Carly fand, daß er wie ein unbefangener kleiner Junge
aussah. Sie fragte sich, ob sich die Frauen in Scharen um ihn rissen.
»Ich mache mir nichts daraus, Reichtümer anzuhäufen. Ich bin,
solange ich denken kann, reich gewesen. Es muß im Leben mehr
geben als nur Geld.«
»Das ist leicht gesagt, wenn man es hat.«
Der Kellner brachte Carlys Lammkoteletts und ein blutiges T-bone-
Steak für Ben.
Ein paar Minuten lang aßen sie schweigend, und dann fragte er:
»Und, klingt es interessant?«
Carly streckte einen Arm über den Tisch, um mit den Fingern seinen
Handrücken zu streicheln. »Nach all der Zeit solltest du wissen, daß
alles, was du willst, mich interessiert.«
Er sah sie ganz seltsam an.
»Was ist mit dir?«
»Mit mir?« Carly blickte starr auf ihr Essen. »Ich weiß es nicht. Ich
verdiene Unmengen von Geld.«
»Herzlichen Glückwunsch. Da es genau das ist, was Cole bewundert,
kann ich mir vorstellen, daß er stolz auf dich ist.«
Die Richtung, in die das Gespräch lief, verwirrte Carly.
»Brauchst du Geld?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Das einzige, was ich nie habe, sind
Geldsorgen.«
Sie bestellten Kaffee und schwiegen, während sie darauf warteten,
daß er serviert wurde. Carly schaute sich im Restaurant um, und Ben
sah sie an.
»Also, was ist mit dir? Warum wirkst du nicht glücklicher?«
»Merkt man es mir so sehr an?«
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Er saß da und sagte kein Wort, und ihre Blicke hielten einander fest, bis sie den Kopf abwandte. »Ich schäme mich. Ich habe alles, was sich eine Frau nur irgend wünschen kann. Mehr, als ich mir je zu erhoffen gewagt habe, und doch…« »Liegt es an dir und Cole?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich kann es nicht benennen. Vielleicht kommt es daher, daß… Also gut, ich hätte gern Kinder. Deine Mutter benimmt sich, als glaubte sie, daß wir, wenn ich eine echte Frau wäre, inzwischen schon drei hätten, und sie nörgelt ständig daran herum, daß mir das Arbeiten Spaß macht. Wenn ich eine echte Frau wäre, würde ich mich damit begnügen, nichts zu tun, und vielleicht würde mich Gott dann mit einem Coleridge-Baby belohnen.« Der Kellner brachte Pfefferminzeis, und sie aßen es schweigend. Nachdem der Kaffee serviert worden war, sagte Ben mit gesenkter Stimme: »Ich werde Mutter einen Coleridge-Enkel bescheren.« Carly sah ihn mit großen Augen an. »Willst du damit das andeuten, was ich vermute?« »Ich biete an, dir und meinem Bruder ein Kind und meinen Eltern einen Coleridge-Enkel zu schenken.« Carly, die ihn immer noch anstarrte, konnte nicht schlucken, geschweige denn etwas erwidern. Nach einer vollen Minute griff sie nach ihrem Wasserglas und trank gierig. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Schließlich fand sie die Stimme wieder. »Was für eine groteske Idee.« »Und noch dazu nicht gerade eine furchtbar ethische.« Warum war plötzlich dieser gequälte Ausdruck in seinen Augen? Sie blinzelte und schluckte das Wasser. Die Eiswürfel trafen klappernd auf ihre Zähne. Sie holte tief Luft. »Du bist weitaus unmoralischer, als ich gedacht habe. Du schlägst vor, einen Ehebruch mit der Frau deines Bruders zu begehen.« Er nickte. »Ich schlage vor, meinen Eltern einen Enkel zu schenken.« »Du könntest heiraten und es auf eine moralischere Art tun.« »Mir ist noch keine Frau begegnet, die ich heiraten möchte.« Sie starrte ihn weiterhin an. »Die Frage ist nur, was in mir vorgehen würde, wenn ich zusehen müßte, wie mein Kind von Cole aufgezogen wird. Wie käme ich damit zurecht, nicht zugeben zu können, daß es mein Kind ist? Wie 231
wäre mir zumute, wenn ich deinen Sohn oder deine Tochter ansähe und wüßte, daß ich auf das, was mir gehört, niemals Ansprüche geltend machen kann?« Ihr Atem ging jetzt schnell. »Du hast dir über all das Gedanken gemacht. Es ist wirklich dein Ernst?« »In meinem ganzen Leben ist mir noch nichts ernster gewesen.« »Und wie stehst du zu all den Fragen, die du gerade selbst gestellt hast?« »Ich weiß es nicht.« »Und was glaubst du, wie mir zumute wäre, Ehebruch zu begehen?« »Das kommt alle Tage vor.« »Aber nicht mit dir und mir als den Beteiligten.« Er zuckte mit den Schultern. »Soviel ich weiß, willst du unbedingt ein Kind. Mutter hat mir erzählt, daß du einen Arzt aufgesucht hast und daß von deiner Seite aus keine Gründe bestehen… und außerdem haben wir beide, du und ich, uns seit dem Tag, an dem wir uns das erstemal begegnet sind, gefragt, wie es wohl wäre, miteinander zu schlafen. Wenn ich nicht geglaubt hätte, daß die Familie daran zerbrochen wäre, hätte ich dich Cole weggenommen, nachdem ich dich erst einmal kennengelernt hatte. Carly, wenn du und ich schon vor Jahren miteinander geschlafen hätten, dann hättest du Cole niemals geheiratet.« Sie starrte ihn einfach nur an. Die Lammkoteletts lagen ihr schwer im Magen.
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»Mein Cousin, der redet mit Pferden.« Zelda Marie warf einen Blick über ihre Schulter und sah, daß Carlos mit der Mistgabel, die in einem Ballen Heu vor seinen Füßen steckte, in der offenen Tür der Pferdebox stand. »Warum erzählen Sie mir das?«, fragte sie und massierte den Knöchel der Stute, die ihr linkes Bein überanstrengt hatte. »Ich sehe Sie«, fuhr der Mexikaner fort. »Sie sind ziemlich gut darin, mit Pferden zu arbeiten, aber ich sehe auch den Ausdruck auf Ihrem Gesicht, wenn Sie nicht weiterkommen. Sie brauchen jemanden, der Ihre Pferde berühmt machen kann.« »Du meinst einen Jockey?« Sie glaubte nicht, daß Carlos die Situation verstand. Sie wollte bei Prämierungen Preise einkassieren und nicht etwa Rennen gewinnen. Als Carlos sie verwirrt anschaute, stellte Zelda Marie ihre Frage anders. »Einen Jungen, der das Pferd reitet?« Carlos schüttelte den Kopf. »Nein, Señora. Jemanden, der einem Pferd sagt, wie es sich bewegen soll. Und mein Cousin Rafael, der redet mit Pferden.« »Zu Pferden.« »Nein, Señora.« In Carlos’ glänzenden schwarzen Augen erschien ein Lächeln. »Con. Mit. Was Rafael bei einem Pferd nicht schafft, das ist bei diesem Pferd nicht zu schaffen«, entgegnete Carlos. Zelda Marie erhob sich, wischte sich die Hände an ihren Jeans ab, tätschelte die Flanke des Pferdes und verließ die Box. Carlos zog die Tür hinter ihr zu. »Und wie finde ich diesen Rafael?« Mit seiner honigsüßen Stimme murmelte Carlos: »Sie können ihn nicht finden. Sie müssen sich von ihm finden lassen.« Zelda Marie drehte sich um und sah ihn an. Er hatte inzwischen alles übernommen, was draußen getan werden mußte, und manchmal führte er auch Schreinerarbeiten im Haus aus. Er konnte einen tropfenden Wasserhahn und eine Pumpe reparieren und jede Maschine, die nicht funktionierte, wieder in Gang bringen. Für den fahrbaren Rasenmäher begeisterte er sich, und die Pferde fütterte er liebend gern. Er molk sogar die Milchkuh Dulcinea, aus deren Milch Aofrasia Butter herstellte. »Und was kann ich dazu tun?« fragte Zelda Marie. Carlos’ Stimme nahm einen kläglichen Klang an. »Das kostet Geld, Señora.« Ja, klar. »Wieviel?« 233
»Hm.« Carlos schien sich beträchtlich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. »Es kostet vierhundert Dollar für einen Kojoten.« »Einen Kojoten?« fragte Zelda Marie lachend. »Si, Señora. Das ist der Preis, den ein Kojote dafür verlangt, einen gefahrlos über die Grenze zu bringen.« Zelda Marie nickte. Ein weiterer illegaler Einwanderer. »Wie stellt ein Kojote das an?« Carlos zuckte mit den Schultern, als wären die Mysterien der Welt ihm verschlossen. »Und dann muß mein Cousin natürlich entweder Hunderte von Meilen durch die mexikanische Wüste wandern oder einen Bus nehmen, der ihn zu dem Treffpunkt mit dem Kojoten bringt… irgendwo auf der anderen Seite des Rio Bravo.« Noch mehr Geld. »Was kostet ein Bus?« »Achtundzwanzig Dollar, Señora. Der Kojote wird ihn vom Bus abholen und ihn über den Fluß bringen. Und dann wird Rafael uns finden.« »Und wie«, fragte sie lächelnd, »wird er uns jemals finden?« »Wir haben Sie auch gefunden.« Dann hatte sich der Ruf ihrer Mutter also bis ins tiefste Mexiko herumgesprochen. Die Frau, die uns Essen geben wird. Die Frau, die uns auf unserem Weg nach Norden in ihrer Scheune schlafen läßt. Die Frau, die einen Arzt dafür bezahlt, daß er sich kranke Babys ansieht. Die Frau, die eine Heilige ist. Zelda Marie begriff, wie wenig sie bisher über ihre Mutter gewußt hatte. »Und wenn ich achtundzwanzig Dollar für den Bus und vierhundert für einen Kojoten zahle, was ist, wenn dein Cousin dann gar nicht kommen will?« »Er wird kommen, Señora. Ich verspreche es Ihnen.« »Wann?« Sie fragte sich, ob sie übergeschnappt war. Wie kam sie dazu, einem illegalen mexikanischen Einwanderer, den sie noch nie gesehen hatte, ein Dach über dem Kopf und Arbeit anzubieten? Sie unterstützte jetzt schon Carlos und Aofrasia und deren Baby, doch sie verdiente gutes Geld, da sie inzwischen als Geschäftsführerin in den Weiden, dem Restaurant von Carlys Mutter, arbeitete. Würde Rafael eine Frau und ein Baby mitbringen, und wenn ja, wo ließen sie sich alle unterbringen? Nun, so, wie die Dinge jetzt standen, hatte sie nicht die leiseste Chance, eines ihrer wunderschönen Pferde bei wirklich entscheidenden Ausstellungen zur Prämierung vorzuführen. Eine einzige gute Saison konnte ihren Pferden Rang und Namen geben. 234
Ihre Fohlen verkauften sich gut. Es genügte zwar nicht für den Erwerb von Luxusgütern, doch die Einnahmen reichten, um die laufenden Ausgaben zu decken, und es blieb sogar noch etwas übrig. Natürlich war es ein Segen, daß Daddy ihr die Ranch überschrieben hatte. Er behielt lediglich die achtzig Acres im Süden, auf denen Humble Oil gebohrt hatte und jetzt die firmeneigenen Tanker mit schwarzem Gold füllte. Dieser Umstand hatte es Mr. Spencer ermöglicht, den ganzen Tag auf der Veranda vor seinem Haus auf dem Schaukelstuhl zu sitzen. Den Rest der Ranch hatte er seiner Tochter überlassen, was hieß, daß sie keine Mietzahlungen zu leisten hatte. Dafür war ihm Zelda Marie ewig dankbar. Doch Rafael herkommen zu lassen, bedeutete, daß ein weiterer Mund gefüttert werden mußte. Oder gar Münder. Die arme Ao. Jeden abend kochte sie das Essen und räumte die Küche auf, und hinterher lief sie mit der kleinen Josefa den Pfad hinunter. Anschließend kochte sie in dem Haus, in dem sie und Carlos lebten, das Abendessen für ihre eigene kleine Familie, spülte ihr eigenes Geschirr, brachte das Baby ins Bett und putzte dann vielleicht noch ihr eigenes Haus. Zelda Marie überlegte sich, ob sie nicht vielleicht vorschlagen sollte, daß Carlos abends zu ihnen kam, damit er und Ao zusammen mit ihr und den Kindern aßen, um Aofrasia zu entlasten. An diesem großen Küchentisch konnte man eine ganze Kompanie verpflegen. Warum war sie darauf nicht schon eher gekommen? Frauen sollten zusammenhalten, und wenn sie eine Möglichkeit fand, den Aufwand von Aofrasias Plackerei zu verringern, dann war das um so besser. Das Telefon im Stall läutete, und Zelda Marie ging hin, um den Hörer abzunehmen. »Mistress Lovett, hier ist Joel Miller.« Das war der nette junge Mann von Humble. Als er kürzlich mit ihr geredet hatte, hatte sie zum erstenmal seit Joe Bobs Tod ein Flattern in der Brust verspürt, zum erstenmal seit fünf Jahren. »Ich habe mich gefragt, ob Sie sich vielleicht an diesem Wochenende von mir zum Essen ausführen lassen.« Sie schaute auf ihre Jeans hinunter, auf ihre schmutzigen Fingernägel, die kurz und gerade geschnitten waren, und sie war froh, daß kein Spiegel in der Nähe war. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letztenmal von einem Mann zum Essen eingeladen worden war. Vielleicht schon seit ihrer Hochzeit nicht mehr. Vermutlich war seit der letzten Einladung ein Jahrzehnt vergangen. Sie hatte den Verdacht, daß er nur deswegen so 235
freundlich zu ihr war, weil er sie dazu bringen wollte, etwas zu unterschreiben und ihre Mineralölrechte an Humble abzutreten, damit die Firma Versuchsbohrungen auf ihrem Land anstellen konnte. Dennoch fand sie es irgendwie nett, daß er mit ihr ausgehen wollte. »Ich glaube, das paßt mir gut, aber es müßte am Sonntag sein.« Das war ihr freier Tag. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie so gegen sechs abhole? Zwischen Verity und Corpus hat direkt am Golf ein Restaurant eröffnet, das sehr nett sein soll.« Das hieß, daß sie sich herausputzen mußte. O Gott, dachte sie, ich habe nichts zum Anziehen. Sie fragte sich, ob Wilma Jean sie wohl für eine Haarwäsche und eine Formwelle einschieben könnte. Auch das hatte sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr getan. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie keinerlei gesellschaftlichen Umgang gepflegt, seit sie es vor mehr als einem Dutzend Jahren mit Joe Bob auf dem Rücksitz des Wagens von seinem Vater getrieben hatte. Sie war so lange von jedem Umgang abgeschnitten gewesen, daß sie sich möglicherweise gar nicht mehr daran erinnerte, wie man sich in Gesellschaft benahm. Dabei waren die Weiden natürlich ausgeklammert, aber das fiel unter Arbeit. Sie würde sich ein Kleid kaufen müssen. Sie hatte seit Ewigkeiten kein Kleid mehr getragen. Gewiß würde ihr keines von denen, die sie besaß, noch passen. Sie wog knapp sechzig Kilo und war viel zu schwer für ihre einssechzig. Nun, sie konnte keine fünfzehn Pfund in vier Tagen abnehmen, und daher mußte sie eine andere Lösung finden. Und sie würde Aofrasia bitten müssen, all diese gebratenen Gerichte vom Speiseplan abzusetzen, und auch diese Unmengen von pan duke zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen. Sie legte den Hörer auf und rief dann ihre Mutter an. »Momma, könntest du bitte einen Termin bei Wilma Jean für mich ausmachen? Und würdest du am Sonntag abend den Babysitter spielen?« Ao kümmerte sich um die Kinder, wenn sie arbeitete, aber Zelda Marie fand, das Mädchen sollte einen Abend in der Woche freihaben, vor allem sonntags, wenn sie und Carlos sich mit anderen Mexikanern trafen. Sie konnte das Lächeln ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge sehen. »Warum, Liebes, gehst du aus?« »Mister Miller, dieser junge Mann, der ein paarmal auf die Ranch rausgefahren ist« – viermal, wenn man es genau nahm –, »hat mich zum Abendessen eingeladen, und ich habe absolut nichts zum Anziehen, Momma.« 236
»Du wirst morgen früh in die Stadt kommen, und dann sehen wir, was Miss Margaret May in deiner Größe vorrätig hat, und wenn wir nichts finden, was uns gefällt, dann nähe ich dir etwas. Das Mercantile hat zur Zeit hübsche Stoffe.« Momma kam zu ihrer Rettung, wie immer. Am Sonntag abend fand sich Zelda Marie so hübsch wie seit ihrer High-School-Zeit nicht mehr. Sie musterte ihr Spiegelbild und war äußerst zufrieden mit dem schwarzen Kleid, das sie schlank machte und von dem Miss Margaret May gesagt hatte, es sehe aus, als wäre es für sie gemacht. Mrs. Spencer stimmte ihr zu. Zelda Marie hatte sich geschworen, nie mehr im Leben etwas mit einem Mann zu tun haben zu wollen. Und jetzt brauchte man sie bloß anzuschauen. Der erste, der auch nur das geringste Interesse an ihr zeigte, der erste, dessen Augen sie anlächelten, und schon flatterte sie vor Nervosität. Sie wußte ganz genau, daß Joel Miller kein Interesse an ihr als Frau hatte. Was für ein Mann hätte sich schon für eine neunundzwanzigj ährige Frau mit fünf Kindern interessiert? O ja, doch, jemand, der etwas von ihr wollte. Auf ihren Körper hatte er es, wie damals Joe Bob, sicherlich nicht abgesehen. Nach so vielen Babys und zu vielen Jahren, in denen sie sich nicht um ihr Äußeres gekümmert hatte, fühlte sie sich plump und füllig, ohne Taille und aufgeschwemmt. Ja, er wollte ihr nur schmeicheln, um an Verträge für das Öl zu kommen. Doch Zelda Marie sagte sich, daß das Geld, welches Humble einfach bloß für die Erkundung des Landes zu zahlen bereit war, ihr eine große Hilfe sein werde. Damit konnte sie eine ganze Menge anfangen. Zuallererst würde sie einen Lieferwagen kaufen, um alle Kinder, die ständig irgendwo anders etwas zu tun hatten, in der Stadt herumzukutschieren. Vielleicht sollte sie Carlos das Fahren beibringen. Sie war sicher, daß es ihm nichts ausmachte, sie durch die Gegend zu karren, wenn er den Wagen fahren konnte. Diese Vorstellung gefiel ihr gut. Sie mochte Carlos genauso gern wie Aofrasia. Er tat alles, worum sie ihn bat, und noch einiges mehr. Im ersten Frühling, den er und Ao hier verbracht hatten, hatte er Zelda Marie gebeten, ihn in die Gärtnerei zu bringen, und dort hatte er ihr gesagt, sie solle Setzlinge kaufen. Bereits im Mai war der Garten die reinste Farbenpracht. Er pflanzte die Blumen auch um das kleine Haus herum, in dem er und Ao lebten, und sogar vor den Stalltüren. Im Haus arrangierte Aofrasia kunstvoll die Blumen, die ihr Mann gezüchtet hatte. 237
An den Sonntagvormittagen kam der eine oder andere ausgebeulte Pick-up über den Weg gerumpelt, um Ao, Carlos und das Baby abzuholen und sie zur Kirche zu bringen, und sie kehrten erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Im Abstand von mehreren Monaten fuhr ein Konvoi von staubigen Lastwagen holpernd über den Weg, und die große Mexikanerschar baute Kartentische auf, und sie luden Körbe voller Lebensmittel ab und lachten und benutzten ein Grammophon, das mit der Hand angekurbelt wurde, um Musik zu machen. Dann saß Zelda Marie auf ihrer Veranda und lauschte dem Gelächter und dem Gesang, den Lauten, die aus der Ferne zu ihr drangen. Sie stellte sich vor, wie sie die Schuhe auszogen und zu der mexikanischen Musik, die sie spielten, in dem hohen Gras tanzten. An den Sonntagnachmittagen, an denen die anderen Mexikaner auf die Ranch hinauskamen, war sie von Wehmut erfüllt. Sie sehnte sich danach, zu diesem fröhlichen Grüppchen zu gehören, bei ihnen zu sein, und sie wollte gern ihren Gitarrenklängen und ihren Liedern lauschen und ihre Gerichte essen, deren wunderbarer Duft bis zum Haus wehte. Am Sonntag abend hörte sie einen Wagen über den Feldweg herauffahren, und als sie aus dem Fenster schaute, sah sie die Staubwolken, die er aufwirbelte. Es war nicht der Pickup, in dem Mr. Miller gewöhnlich zur Ranch herauskam, sondern ein schnittiger schwarzer Oldtimer. Sie stand in ihrem Schlafzimmer hinter der Gardine und beobachtete, wie er ausstieg und sein Jackett zurechtrückte. Sogar von dort aus konnte sie erkennen, daß es sich um einen teuren Anzug handelte und keineswegs um einen von der Sorte, wie man sie in Verity trug. Natürlich trugen in Verity nicht allzu viele Männer Anzüge, abgesehen von Mr. Davis in der Bank und ein paar anderen zum Kirchgang. Joel Miller stand mit dem Hut in der Hand vor der Haustür, von Kopf bis Fuß geschniegelt. Bisher hatte sie ihn nur in einem karierten Hemd mit Halstuch und Schlangeniederstiefeln gesehen. Er musterte sie von oben bis unten und stieß dann einen Pfiff aus. »Mann o Mann, Sie sind ja ‘ne Wucht.« Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, und wenn Joel Miller hinter ihr gestanden hätte, hätte er sie gesehen, da das Kleid bis zur Taille ausgeschnitten war.
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37 Zelda Marie wußte, daß ein halbes Dutzend Küsse ihre Gesinnung beeinflußt hatten. Sie war bereit, Humble überall bohren zu lassen, wo sie Lust hatten. Daher lud sie Joel Miller zum Abendessen ein. Mrs. Spencer hatte Aofrasia beigebracht, wie man Rostbraten mit Sauce und Kartoffelpüree zubereitete. Ao rümpfte die Nase angesichts derart fader Nahrung, doch sie kochte das Gericht, als wäre sie in Kansas geboren. Und Joel liebte Rostbraten. Nach dem Hauptgang fragte Zelda Marie: »Okay, lassen Sie mich die beste und die schlimmste Möglichkeit hören.« Joel sah sie an. »Zuerst die schlimmste. Ihr ganzes Land steht voller Pumpen, Gas und/oder Ol sprudelt in Strömen aus der Erde, und Sie schauen auf eine häßliche Skyline von Pumpen, die sich bis in alle Ewigkeit auf und ab bewegen, auf und ab und immer wieder dieses endlose Auf und Ab.« »Was wird aus den Rindern?« »Sie werden keine Rinder brauchen, es sei denn, Sie finden den Anblick erfreulich.« Zelda Marie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihre Fingernägel. »Sie stellen das, was Sie sich bestenfalls erhoffen, als das Schlimmste hin, was uns passieren kann. Wie also ist das Beste?« »Hunderttausende von Dollar. Vielleicht sogar Millionen.« Zelda Maries Augen leuchteten. »Millionen?« »Sie haben mich gefragt, was bestenfalls passieren kann. Um ganz ehrlich zu sein, ich vermute, daß es sich irgendwo zwischen diesen beiden Möglichkeiten bewegen wird. Ich glaube nicht, daß wir allzu viele Löcher bohren müssen. Es ist nur eine bestimmte Anzahl pro Acre zugelassen. Wir dürfen das Land nicht verunstalten oder ruinieren.« »Und als was bezeichnen Sie Ölpumpen, die sich endlos auf und ab bewegen, wenn nicht als eine Entstellung der Landschaft?« »Nun ja, Umweltschützer und Idealisten versuchen uns mit philosophischem Gerede eine Schlappe beizubringen, aber von Idealen kann man sich nichts kaufen. Man kann auch keine Motoren damit betreiben, keine Häuser damit beheizen und kein Plastik und Polyester daraus herstellen.« »Warum ausgerechnet mein Land?« »Geologische Untersuchungen geben Hinweise darauf, daß sich 239
direkt darunter Öl verbirgt. Die Quelle Ihres Vaters drüben auf dem kleinen Stück Land, das er behalten hat, befindet sich in genau derselben Schichtenverwerfung, über der wir in diesem Moment sitzen.« Zelda Marie dachte laut: »Ich finde, daß klingt ziemlich gut.« Dann fragte sie: »Und was passiert, wenn Sie all diese Löcher gegraben haben und auf nichts gestoßen sind?« »Dann ziehen wir unsere Leute ab, und Ihnen bleiben hunderttausend oder mehr für die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen bereitet haben.« »Das fände ich natürlich prima«, sagte Zelda Marie. »Ich würde das Haus gern ein wenig herrichten, und ich möchte mich mit meinen Pferden an Ausstellungen beteiligen und meine Pferdezucht ausweiten. Mein Traum ist es, in der Pferdewelt berühmt zu werden, damit ich es mir leisten kann, an Prämierungen in Colorado und Kalifornien teilzunehmen.« »Liegt ihnen viel daran, bedeutend zu sein?« Zelda Marie dachte darüber nach. »Seit meinem zwölften Lebensjahr wünsche ich mir, Pferde zu züchten, um die sich die Leute reißen. Vermutlich ist es schon immer mein Traum gewesen, einen berühmten Stall zu haben, den jeder Pferdeliebhaber kennt. Also, Sie können sich gleich an die Arbeit machen und die Verträge aufsetzen, und wir werden sie meinem Cousin Andy zur Durchsicht vorlegen.« Andy, der in Brownsville lebte, war der einzige Anwalt in der Familie. Er kümmerte sich um sämtliche geschäftlichen Angelegenheiten und berechnete dafür kein Honorar, sondern lediglich seine Ausgaben. Zelda Marie war durchaus klar, daß Joel Miller zu einem anderen Weideland weiterziehen und sich nicht mehr mit ihr verabreden würde, wenn er erst einmal bekommen hatte, was er wollte, nämlich ihre Unterschrift unter die Verträge. Doch im Moment zwinkerten seine braunen Augen, und sie wußte, daß er ihr einen Gutenachtkuß geben würde, und sie wußte auch, daß ihr davon ganz anders werden würde, als zerflösse sie innerlich. Drei Wochen später saß Zelda Marie auf der hölzernen Schaukel, die auf der Veranda vor dem Haus hing. Michael J. und Sally Mae waren bei ihren Großeltern in der Stadt geblieben, damit sie an einer schulischen Veranstaltung teilnehmen konnten. Die anderen Kinder spielten hinter dem Haus Ball und jagten den Katzen nach. Ihr fröhliches Gelächter hallte in der Ferne wider. Sie hatte den ganzen Tag noch keine Minute still gesessen. Die viele Arbeit und daß 240
Aofrasia auf ihre Anweisung hin weniger in Fett gebratene Speisen zubereitete, hatten dazu geführt, daß sie in den letzten drei Monaten gut zwölf Pfund abgenommen hatte, und ihr gefiel, wie sie aussah. Anscheinend gefiel es auch Joel Miller, der sie zu ihrem Erstaunen weiterhin einmal in der Woche einlud, mit ihm auszugehen. Sie konnte spüren, daß er es mochte, ihren Körper an seinem zu fühlen, wenn sie miteinander tanzten, und er preßte sie an sich, wenn er sie zum Abschied küßte, doch er wurde nie aufdringlich und er versuchte auch nicht, Dinge zu tun, zu denen sie hätte nein sagen müssen. Er war ein Gentleman, und manchmal wünschte sie, er wäre es nicht. Das hieß nicht etwa, daß er auch nur die geringste Leidenschaft in ihr entflammt hätte, aber es stimmte, daß sie im Lauf des Tages mehrfach an ihn dachte und sich fragte, ob er sie wohl anrufen würde oder ob es andere Frauen in seinem Leben gab und was er wirklich für sie empfand. Sie fragte sich aber auch, ob sie nur deshalb an ihn dachte, weil er der einzige Mann war, der ihr Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Die großen Maschinen bezogen bereits Stellung auf dem Land, doch ganz am Rande und außerhalb ihrer Sicht, nicht weit von der Quelle ihres Vaters entfernt. Männer mit Schutzhelmen und schweren Stiefeln kamen täglich in Jeeps und Fahrzeugen mit Vierradantrieb rausgefahren. Wagenladungen von Rohren wurden verlegt. Es erschien ihr eigentümlich, daß so viel Trubel auf dem Feldweg herrschte, all der Lärm und die Maschinen, die dort vorüberfuhren, nachdem es hier jahrelang so ruhig gewesen war, daß man den Gesang der Vögel hören konnte. Joel hatte ihr gesagt, wenn erst einmal die gesamten Gerätschaften auf das Feld hinausgeschafft seien, nehme sie gar nicht mehr wahr, daß jemand in der Nähe sei. Von den Bohrungen höre sie nichts, und alles sei wieder so, wie zu der Zeit, ehe die Maschinen ihren Einzug gehalten hatten, um die Erde aufzugraben. Zelda Marie störte der Trubel aber gar nicht. Ihre Gedanken wurden vollauf von der Möglichkeit in Anspruch genommen, den Hengst zu bekommen, den sie schon so lange im Auge hatte, und ansonsten beschäftigten sie die hunderttausend Dollar, die erforderlich waren, um ihn zu kaufen. Der Anblick eines Mannes, der gemächlich über den Pfad geschlendert kam und in der einen Hand einen Koffer aus Pappkarton und in der anderen eine Gitarre trug, riß sie aus ihren Tagträumen heraus. Die Sonne, die einen gesprenkelten Halbschatten durch das Laub der Bäume warf, tauchte ihn ins Dunkel und zeichnete ihn im nächsten Augenblick als eine scharfe 241
Silhouette ab. Er trug eine weiße Baumwollhose, die mit einer Schnur zusammengebunden war, und sein Hemd war blaßblau. An den Füßen hatte er Huaraches, und er trug keine Socken. Ein eingedellter Strohhut saß verwegen schief auf seinem Kopf. Der Mexikaner bewegte sich mit einer solchen Entschiedenheit voran, als hätte er ein konkretes Ziel, und sogar auf diese Entfernung konnte sie seinen dichten Schnurrbart sehen, der sich dunkel gegen die bräunliche Haut absetzte. Das mußte Carlos’ Cousin sein. Wie hieß er doch gleich noch mal? Sie saß auf der Schaukel und beobachtete die Anmut, mit der er sich bewegte, die Grazie eines Löwen. Sie konnte erkennen, wann sein Blick auf sie fiel, denn in dem Moment verließ er den Pfad und kam durch das Gras direkt auf sie zu, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Sie rührte sich nicht von der Stelle, bis er nur noch etwa zehn Schritte von der Veranda entfernt war. Dann stand sie auf und schaute in die schwärzesten Augen, die sie je gesehen hatte. Sie hätte geschworen, daß er eine Verbeugung andeutete, obwohl er sich nicht rührte. »Es la casa donde es Carlos?« fragte er. »Si.« Sie nickte. »Estä su primo?« Die Augen des Mannes hellten sich auf, und er lächelte und zeigte dabei Zähne, die so weiß waren, daß man sich geblendet fühlte, obwohl er im Schatten stand. »Ah, habla español?« »Ich fürchte, nicht allzuviel«, antwortete Zelda Marie. »Como se llama?« »Me llamo Rafael.« Ja, genau, jetzt fiel es ihr wieder ein, und sie fragte sich, wie viele Meilen er heute schon gelaufen war. Um diese frühe Abendstunde hatte er wahrscheinlich noch nichts gegessen. Sie überquerte die Veranda und stieg die Stufen hinunter. »Kommen Sie«, sagte sie und ging voraus. »Ich bringe Sie zu dem Haus, in dem Carlos und Aofrasia wohnen.« »Gracias, Señora.« Er lief nicht etwa hinter ihr her, wie sie es erwartet hatte, sondern hielt sich an ihrer Seite. »Ich kann un poco Englisch«, sagte er. »Und ich kann un poco español.« Sie lächelten einander an, da die Verständigung zu mühsam war, um das Gespräch fortzusetzen. Die Luft war mild, und Vögel zwitscherten in den Bäumen. In der Ferne muhte ein Rind. Die Wiese war gerade frisch gemäht worden, und Zelda Marie fand, daß es kaum einen angenehmeren Duft gab. Zwei ihrer Hunde sprangen ihnen entgegen. Sie kamen aus Carlos’ 242
Haus. Zelda Marie wußte genau, daß Aofrasia sie mit Essensresten gefüttert hatte. Sie fingen an zu bellen, und Carlos erschien in der Tür, doch dann sah er Zelda Marie und Rafael, die auf dem staubigen Feldweg näher kamen. Carlos rief über die Schulter etwas in Richtung Ao und sprang zur Tür hinaus. Das Fliegengitter knallte hinter ihm zu, als er mit liebevoll ausgebreiteten Armen auf Rafael zurannte. Aofrasia kam mit umgebundener Schürze und Josefa auf dem Arm heraus. Als sie Rafael sah, erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und Zelda Marie glaubte eine Träne zu entdecken, die über ihre Wange lief. Rafael nahm ihr Josefa ab und wiegte sie in seinen Armen. Als er sich umsah, glitzerten seine schwarzen Augen. »Que bonita«, sagte er, und Zelda Marie war nicht ganz sicher, ob er das Baby hübsch fand oder die Umgebung. Da er ohne Frau und Kind war, konnte er zusammen mit Aofrasia und Carlos in dem kleinen Haus wohnen. Aber vielleicht würde er seine Familie nachkommen lassen. Josefa zog an seinem Schnurrbart, und alle lachten. Zelda Marie dachte bei sich, daß sie ihn gern tanzen sehen würde, wenn die Mexikaner das nächstemal zu Carlos und Ao kamen. Sie stellte sich vor, daß die mexikanischen Mädchen mit ihm flirteten, sich große goldene Ohrringe ansteckten und beteten, er möge mit ihnen tanzen. Dann drehte sich Rafael zu ihr um und hielt ihr die Hand hin. Sie streckte ebenfalls die Hand aus, doch er schüttelte sie nicht, sondern zog sie an seine Lippen und küßte sie, und mit einer Stimme, die so klang, wie Honig aussieht, sagte er: »Un milgracias, Señora.« Er hielt ihre Hand noch in seiner, und im ersten Augenblick schoß ihr durch den Kopf, daß Dienstboten eigentlich nicht die Hände ihrer Herrin küssen dürften. Aber dann lachte sie. Schließlich war er kein Dienstbote. Er war ein Mann, der mit Pferden sprach. Die Mexikaner lächelten, als sie ihr Lachen hörten. Während sie auf dem Feldweg zu ihrem Haus lief, betrachtete sie immer wieder ihre Hand und staunte über deren goldenen Schimmer in den Strahlen der untergehenden Sonne, die darauf fielen. Und sie konnte die weichen Haare seines Schnurrbarts noch spüren, die ihre Hand gestreift hatten. Ganz zart, und gar nicht stachelig. Als um neun Uhr das Telefon läutete, wußte sie, daß es Joel war, doch sie nahm den Hörer nicht ab. Sie saß auf ihrer hölzernen Schaukel auf der Veranda vor dem Haus, trank Eistee und fächelte sich kühle Luft zu. Sie konnte einfach die Energie nicht aufbringen, die es gekostet hätte, von der Schaukel aufzustehen. Statt dessen beobachtete sie den Tanz der 243
Glühwürmchen und stützte dabei das Kinn in die Hand, die Rafael mit seinem Schnurrbart gestreichelt und mit seinen Lippen berührt hatte.
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Das Frühstück war die einzige Mahlzeit, die Cole und Carly regelmäßig zusammen einnahmen. Am Montag morgen teilte er ihr mit: »Ich fliege nach Mexiko, um mir einen Überblick zu verschaffen.« »Wann?« »Morgen.« Sie tat Butter auf ihren Toast und bestrich ihn dünn mit Marmelade. »Für wie lange?« »Nur bis Freitag. Am Wochenende bin ich wieder da.« »Dann wirst du zu der Essenseinladung der Johnsons am Mittwoch nicht hier sein?« Er schüttelte den Kopf. »Das hättest du mir am Freitag sagen können. Dann hätte ich ihnen Bescheid gegeben.« »Was macht das für einen Unterschied?« »Boomer ist in Mexiko, nicht wahr?« »Ja. Ich will sehen, wie er vorankommt. Das Projekt sollte kurz vor der Fertigstellung stehen.« BB&O hatten es geschafft, dem Zeitplan voraus zu sein, sogar in Mexiko, und noch dazu hatten sie absolut beeindruckende Qualität geliefert. Dan entwarf die Hotels so, daß sie den Anschein erweckten, direkt aus einem Märchen zu stammen, denn genau das wollte Rosas. Es war etwas vollkommen anderes als das, was Dan mit der Skyline von Houston angestellt hatte. Das Mädchen servierte die würzigen Rühreier. Carly versuchte sich Zeit für ein kräftiges Frühstück zu nehmen, doch es klappte nicht immer. Vom Frühstückszimmer aus sah man auf den Garten mit seinem tadellos gepflegten Rasen und der Blumenpracht, dieses Jahr ausschließlich weiße Blüten. Der Tennisplatz und der Pool befanden sich weiter rechts, und nur die Einfassung des Pools war zu sehen. Manuel war bereits draußen am Säubern. »Willst du, daß Rosario den Koffer für dich packt?« »Nein, das mache ich heute abend selbst. Ich brauche nicht viel mitzunehmen.« »Ist die Bank ein vollwertiger Partner in diesem mexikanischen Hotelprojekt?« Normalerweise interessierte sie sich für Coles Geschäftsabschlüsse, doch im Moment dachte sie an etwas ganz anderes und hörte Coles Antwort nicht. Ich werde dir und meinem Bruder ein Kind schenken. Seit sie vor drei Wochen mit Ben zu 245
Mittag gegessen hatte, hing dieser Satz ständig unsichtbar direkt hinter ihrer Stirn. Sie fragte sich, warum sie sich überhaupt noch Gedanken darüber machte. Sie beendeten das Frühstück, und Cole erhob sich und beugte sich vor, um Carly zart auf die Wange zu küssen. »Wie stehen die Chancen, daß wir beide heute allein zu Abend essen und schauen, daß wir früh ins Bett kommen? Mein Flug geht schon im Morgengrauen.« »Ja, das würde mir gefallen«, sagte sie geistesabwesend. Sie aßen früh zu Abend, und er ging ins Bett. Um zu schlafen. Carly wanderte unruhig im unteren Stockwerk umher. Am Morgen bot sie Cole an, ihn zum Flughafen zu fahren, doch er sagte: »Da ich nur drei Nächte fort sein werde, parke ich den Wagen am Flughafen.« Carly erschien früh zur Arbeit, eineinhalb Stunden, ehe sie mit dem Erscheinen ihrer Sekretärin rechnen konnte. Sie saß da und trommelte mit ihren langen Fingernägeln auf die Schreibtischplatte. Dann kochte sie Kaffee und trank drei Tassen. Schließlich fuhr sie mit dem Aufzug ins Foyer und lief zehn Kreuzungen weit durch das Geschäftsviertel von Houston. Die Luft war frisch und klar. Die frühe Morgensonne spiegelte sich in den hohen Gebäuden wider, deren gläserne Wände dunkelgrün und hellblau waren. Viele von ihnen hatte Dan entworfen, und Boomer hatte sie errichtet. Die Skyline von Houston ließ sich nicht mit der irgendeiner anderen Stadt vergleichen. Um Viertel nach neun saß sie wieder in ihrem Büro und rief Ben zu Hause an. Sie wußte noch nicht einmal, ob er in einem Haus oder in einem Apartment wohnte. Es läutete, aber niemand nahm ab. Sie versuchte es bei der Zeitung, und er ging ran. »Was für ein angenehmer Beginn für einen Tag«, sagte er, als er ihre Stimme erkannte. »Ich habe mir überlegt«, erklärte Carly, die feststellen mußte, daß ihr das Atmen schwerfiel, »daß ich runterfahren und den morgigen Tag damit zubringen könnte, mir die Geschäftsbücher anzusehen, falls du das noch möchtest.« »Ich hatte gehofft, daß du anrufst. Ich bin einen Monat lang auf Probe hier, um mal zu sehen, was für einen Eindruck ich gewinne. Und um möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Morgen wäre prima. Versuch, schon um zwölf hier zu sein, damit wir erst etwas essen 246
können. Ich richte mich darauf ein und hol mir nicht wie sonst schnell um die Ecke einen Happen.« Ben besorgte sich anstelle eines Mittagessens schnell einen Happen und aß ihn im Büro? »Ich werde dir und meinem Bruder ein Kind schenken«, hatte er gesagt. Sie hielt sich für einen moralischen Menschen. Sie konnte unmöglich einen Ehebruch begehen. Der Bleistift in ihrer Hand zersplitterte in zwei Stücke. Da die Fahrt nach Aransas Pass nahezu fünf Stunden dauern würde, denn der Ort lag nicht mehr als eine halbe Stunde von Corpus Christi entfernt unten an der Küste, stellte Carly ihren Wecker auf halb sechs und war um halb sieben bereits unterwegs. Am Abend davor hatte sie übertrieben viel Zeit auf die Entscheidung verwandt, was sie anziehen sollte. Sie hatte zahlreiche Kleidungsstücke anprobiert, als unpassend verworfen und alles, was sie aus dem Schrank herausgeholt hatte, einfach liegengelassen. Jetzt türmten sich die Dinge auf ihrem Stuhl, und das Mädchen würde sie wegräumen. Sie erinnerte sich noch daran, daß Ben es nicht mochte, wenn Frauen Schwarz trugen. Schließlich wählte sie ein rotes Kostüm, das ihr irgendwie angemessen erschien. Sie betrachtete sich eingehend im Spiegel, während sie Lippenstift auftrug und sich Parfüm hinter die Ohrläppchen tupfte. Die Parfumflasche packte sie in ihre Tasche. Sie beschloß, keinen Koffer mitzunehmen. Sie würde nicht über Nacht in Aransas Pass bleiben. Sie würde sich die Geschäftsbücher anschauen, sich in dem Städtchen umsehen und dann rüberfahren und die Nacht in Verity verbringen, wo sie ständig eine Zahnbürste und ein Nachthemd hatte. Sie würde auch morgen noch bleiben, um nicht nur Francey und Walt zu überraschen, sondern außerdem auch noch Zelda Marie sehen zu können. Sie hatte es sich angewöhnt, ihr Haar zu einem französischen Knoten zu schlingen, denn diese Frisur war pflegeleicht, obgleich sie morgens den zusätzlichen Zeitaufwand des Aufsteckens erforderte. Ein bißchen Haarspray, und das Ganze hielt bis zum Abend. Und trotzdem gab es immer ein paar Strähnen, die entkamen und sich über ihren Ohren kringelten, ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte, das zu vermeiden. Alex schaffte es, daß selten auch nur ein Haar nicht war, wo es sein sollte, und Carly beneidete sie darum. Sie fand, daß sie es sich leisten konnte, lange, baumelnde Ohrringe von der Sorte zu tragen, die sie gern mochte. Wenn sie zur Arbeit ging, benutzte sie die kleinen Ohrstecker. Ihre hauchdünne weiße Bluse betonte das leuchtende Rot des Kostüms, 247
und ihre Schuhe und die Handtasche waren aus schwarzem Lackleder. Sie drehte vor dem Spiegel eine Pirouette und war sich eines vagen Gefühls von tief sitzender Unzufriedenheit bewußt, das sie verspürte, jedoch nicht ganz verstand. Sie besaß ihre eigene erfolgreiche Firma und war mit einem reichen, gutaussehenden Bankier verheiratet, der aus den besten Kreisen stammte und einen messerscharfen Verstand besaß. Viele der verheirateten jungen Frauen, mit denen sie Umgang pflegten, flirteten unverhohlen mit Cole. Und jeder, der jemals bei ihnen gewesen war, beneidete sie mit Sicherheit um dieses wunderschöne Haus. Coles Mutter hatte nicht nur das Haus ausgesucht, sondern sie und Tessa hatten es gemeinsam eingerichtet. Das war zu einer Zeit gewesen, ehe Carly und Tessa einander nähergekommen waren. In der Morgendämmerung hielt sie vor einem Kiosk am Straßenrand an, kaufte sich einen Plastikbecher mit dampfendem schwarzem Kaffee und hoffte, nicht ihr Kostüm damit zu bekleckern. Sie drehte das Radio auf und sang John Denvers Balladen mit, während sie durch die flache Golflandschaft nach Süden raste. Da sie das Gefühl von Macht auskostete, das die Geschwindigkeit ihr verlieh, fuhr sie in einem solchen Tempo, daß sie schon um zwanzig vor zwölf Bens Büro erreichte. Die wenigen Schreibtische darin waren verschrammt, und nur zwei Schreibmaschinen waren zu sehen. Ein Schreibtisch am hinteren Ende des Raums war offensichtlich der Arbeitsplatz einer Sekretärin. Oder der des Buchhalters. Jemand stand hinter einem Schalter, aber dabei handelte es sich keineswegs um eine Empfangsdame. Es war einfach nur jemand, der dort arbeitete. Der Angestellte warf einen Blick auf Carly und nahm deutlich wahr, daß er es hier mit einer kosmopolitischeren Erscheinung als dem zu tun hatte, was er zu sehen gewohnt war. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte er mit starkem südlichen Akzent. »Mister Coleridge erwartet mich«, sagte Carly. Der Mann wies mit einer Kopfbewegung auf eine offene Tür in der Rückwand. »Sie können im Büro warten.« Ehe sie die Tür erreicht hatte, hörte sie Ben, der ihren Namen rief. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn atemlos dastehen. Seine Krawatte hing schief, der oberste Hemdknopf war offen, und er strahlte über das ganze Gesicht. Dann eilte er zu ihr, ergriff sie am Arm und ging mit ihr raus, wobei er über die Schulter zurückrief: »Das hier ist meine Schwägerin, Leute.« Bis auf den einen Angestellten war 248
jedoch niemand da. Ben lief in Richtung eines blauen Dodge Dart. »Sind wir nicht noch ein wenig zu früh dran fürs Mittagessen?« fragte Carly, als er ihr die Tür aufhielt. »Nicht hier in dieser Gegend. Nicht in einem Ort, in dem die Leute um halb sechs zu Abend essen. Und ins Bett geht man hier auch reichlich früh.« Ben ließ den Wagen an und fuhr los. »Ich dachte mir, wir könnten in ein gutes italienisches Restaurant gehen. Italienisches Essen magst du doch ganz besonders, wenn ich mich recht erinnere.« Sie nickte, glaubte jedoch nicht, daß es hier in diesem Küstenstädtchen einen wirklich guten Italiener gab. Doch sie irrte sich. Carly lehnte ein Glas Wein ab. »Wenn ich vor fünf Alkohol trinke, macht er mich schläfrig, und ich möchte den Nachmittag nicht mit einem Mittagsschlaf vergeuden. Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone, bitte.« »Ich empfehle die Spaghetti. Die hier sind so ziemlich die besten, die ich je gegessen habe.« Sie befolgte seinen Rat und mußte ihm recht geben. »Ich habe endlich das gefunden, womit ich mein weiteres Leben zubringen möchte, Carly.« »Du meinst die Zeitung? Ich kann mir gut vorstellen, daß du schon sehr bald reif für eine Großstadtzeitung bist.« »Im Leben nicht«, sagte Ben. »Ich liebe Kleinstädte. Ich glaube, in diese hier habe ich mich jetzt schon verliebt. Mir gefällt, daß hier niemand weiß, daß ich Kevin Coleridges Sohn oder Cole Coleridges Bruder bin, und wenn es jemand wüßte, dann würde es ihn nicht interessieren. Die Leute hier haben nie etwas von meiner Familie gehört. Politisch sind sie wesentlich konservativer als ich, aber von wem in ganz Texas ließe sich das nicht behaupten? Da Lyndon B. Johnson heute nicht mehr Präsident ist, sehe ich es als meine Berufung an, das Gewissen der Menschen aufzurütteln. Ich bin stolz darauf«, fuhr er fort, »daß ein paar andere Zeitungen meine Leitartikel übernommen und abgedruckt haben. Ich werde der Welt zeigen, daß eine kleine Wochenzeitschrift in einer Kleinstadt im Süden von Texas etwas ausrichten kann. Die Leute werden stolz auf mich sein, Carly. Ich wette, daß ich schon nach wenigen Wochen mehr als die Hälfte der Einwohner persönlich kennen und mit ihnen per du sein werde.« Carly sah ihn über den Tisch hinweg an. Sie konnte nicht verstehen, warum ihre Brust so seltsam zugeschnürt war. »Du wirst heiraten, eine Familie gründen und ein Pfeiler der Gesellschaft sein.« 249
»Das würde mir gut gefallen«, sagte er. »Aber mir ist bisher noch keine Frau begegnet, die sich auch nur halbwegs mit dir vergleichen ließe.« »Du bist ein solcher Schmeichler. Kein Wunder, daß dir alle Frauen auf den Leim gehen.« Das stritt er nicht ab. »Spielst du mit dem Gedanken, dieses Büro zu modernisieren?« Carly verspürte plötzlich den Drang, das Thema zu wechseln. »Nein, selbstverständlich nicht. Ich werde einen Reporter einstellen, vielleicht sogar zwei, oder ich werde mich für einen Angestellten und einen Teilzeitbeschäftigten entscheiden. Zwei Leute haben wir bereits, wenn ich mich mitzähle, drei arbeiten im Druckereibereich. Ich beabsichtige, diesen Sektor auszuweiten, Sachen für andere Leute zu drucken, Einladungen, Rundschreiben und Mitteilungen, eben alles, was die Leute gedruckt oder vervielfältigt haben wollen – Briefköpfe und dergleichen.« Carly legte ihre Gabel hin. »Das war wirklich köstlich.« Und dann sagte sie: »Du machst dir tatsächlich nichts daraus, Geld zu verdienen, stimmt’s?« Ein ernster Ausdruck huschte über Bens Gesicht. »Nein, das stimmt nicht. Wenn du meine Wohnung siehst, wirst du erkennen, daß mir an schönen Gegenständen durchaus etwas liegt. Aber ich habe nicht dasselbe Interesse an Geld wie du und Cole oder meine Eltern oder sämtliche Jugendlichen, mit denen ich aufgewachsen bin. Es ist kein reiner Selbstzweck für mich. Ich würde gern genug verdienen, um eine Familie zu ernähren, in einem schönen Haus zu leben und Ferien in Yellowstone zu machen. Ich würde mir gern jedes Jahr im Urlaub einen anderen Nationalpark vornehmen…« Carly mußte wider Willen lachen. »Ben Coleridge, der typische Amerikaner.« »Ich mag sogar Wheaties.« Um halb vier hatte sie ihre Durchsicht der Geschäftsbücher abgeschlossen und hielt den Preis, den der Besitzer verlangte, für außerordentlich fair. »Laß uns irgendwo hingehen und diese ganze Geschichte in Ruhe besprechen«, schlug Carly Ben vor, nachdem sie fertig war. »Dazu fällt mir genau der richtige Ort ein«, sagte Ben. »Wir gehen zu mir. Fahr in deinem Wagen hinter mir her.« Er hatte eine von etwa zwanzig Wohnungen in einem Apartmentkomplex, der im Schatten riesiger Bäume erbaut war und dessen Gehwege von Hecken gesäumt wurden. Es war eine gutbürgerliche und keineswegs unattraktive Wohnanlage, doch Carly hätte sich nicht mehr vorstellen können, so zu leben. 250
Bens Wohnung war jedoch beeindruckend. An den Wänden hingen impressionistische Gemälde. Zweifellos Kopien, doch sie gefielen ihr trotzdem. Das prall gefüllte hochmoderne Sofa und die beiden Sessel hatten einen grau-weiß karierten Bezugsstoff, und rote Kissen waren darauf verteilt. »Wirklich, Ben, deine Wohnung ist bezaubernd«, sagte sie und meinte das ehrlich. »Möchtest du etwas trinken?« Wagte sie es? Er mußte ihre Gedanken gelesen haben, denn er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr ins Gesicht. »Dir geschieht nichts, Carly, was du nicht selbst willst. Wahrscheinlich werde ich versuchen, dich zu etwas zu überreden, aber ich werde nichts tun, es sei denn, du möchtest es auch.« Seine Hände auf ihren Schultern schienen sich durch ihr Kostüm zu brennen. »Wenn das so ist, dann trinke ich gern etwas. Wie wäre es mit…« »Laß dich überraschen«, fuhr er ihr strahlend ins Wort. Diese Überraschung gelang ihm allerdings.
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39 Carly raste in Richtung Verity. Sie warf einen Blick auf die Uhr in ihrem Wagen und trat das Gaspedal noch mehr durch. Sie hätte nicht erst mittags aufbrechen, sondern sich gleich nach dem Frühstück von Ben verabschieden sollen. Sie hätte überhaupt nicht herfahren sollen, so verhielt es sich nämlich in Wirklichkeit. Er hatte sie gestreichelt, sie berührt, sie zart gebissen. Aber ihr Schwager hatte nicht bloß ihren Körper berührt, sondern sie noch viel tiefer angerührt – bis sie angefangen hatte zu weinen. Ben hatte noch nicht einmal gefragt, warum sie schluchzte. Er hatte sie einfach nur in den Armen gehalten, sie gewiegt, ihr Haar und ihre Lider geküßt und liebevoll unverständliche Laute vor sich hin gemurmelt. Ihre Arme und Beine ineinander verschlungen, waren sie erst kurz vor Anbruch des Morgengrauens eingeschlafen. Als sie aufwachten, hatte Carly zu ihrem Entsetzen festgestellt, daß es schon kurz vor zehn war. Sie sah, daß Ben das Telefon ausgehängt hatte. Er wollte sie nicht gehen lassen, ehe sie sich nicht noch einmal geliebt hatten. »Wirst du diese Nacht bereuen, wenn du nicht schwanger sein wirst?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Er lag noch nackt im Bett. Er lehnte an den aufgeschüttelten Kopfkissen und streckte die rechte Hand nach ihr aus. »Wirst du wiederkommen?« »Das nächstemal könntest du zu mir kommen«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, daß es nur dann beim ersten Mal klappt, wenn man nicht schwanger werden will.« Sie streckte die Arme nach ihm aus und küßte ihn. »Ich bekäme gern ein Kind von dir. Allein schon die Vorstellung, einen Teil von dir in meinem Innern mit mir herumzutragen!« »O Gott!« flüsterte er. Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. »Sieh dich doch an, Bennett Coleridge. Du könntest unter allen Männern im Universum so ziemlich die phantastischste Erscheinung sein.« »Sogar mit dieser toten Hand?« »Hör mit diesem Unsinn auf! Ich kann es nicht ausstehen, wenn du solche Dinge sagst.« Sie begann ihre Bluse zuzuknöpfen, und dann drehte sie sich um und sah zum Fenster hinaus. »Ich frage mich…« 252
Als sie zögerte, hakte Ben nach: »Ja, was?« »Ich frage mich, was wir hiermit in Gang gesetzt haben. Etwas ganz Furchtbares oder etwas ganz Wunderbares.« »Wirst du dich von Cole scheiden lassen und mich heiraten?« Seine Augen nahmen eine ungeheure Intensität an und strahlten so hell und so hart wie Saphire. »Selbstverständlich nicht«, sagte sie, denn sie wußte, daß sie Ben auch dann, wenn es nicht skandalös gewesen wäre, nicht heiraten würde. »Aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals eine erstaunlichere Nacht als die vergangene verbracht habe. Du verstehst dich wahrhaftig darauf, einer Frau zu zeigen, was alles möglich ist.« Ben lachte. Genau das hallte ihr auf der Fahrt nach Verity immer noch in den Ohren nach. Bens Lachen. Hatte sie tatsächlich etwas Gräßliches in Bewegung gesetzt? Selbst wenn es niemals zu einer Wiederholung der vergangenen Nacht kommen sollte, hatte sie dann nicht doch etwas getan, was sie sich niemals würde verzeihen können? Sie hatte mit dem Bruder ihres Mannes geschlafen, in der Hoffnung, ein Kind von ihm zu bekommen. Aber nicht nur deshalb, sagte sie sich, sondern auch, weil sie in ihrem Leben etwas vermißte – Leidenschaft. Und die hatte Ben in der Tat in ihr geweckt. Ihr war klar, daß er viele Frauen geliebt hatte. Niemand konnte ohne Übung zu einem solchen Experten werden. Und wie er küßte! Er war gehemmt gewesen, was seinen linken Arm betraf, aber den machte er durch alles andere mehr als wett. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemals so etwas wie die letzte Nacht zu erleben. Doch dann sagte sie sich, daß das gelogen war. Die letzte Nacht war genau das gewesen, was sie sich in ihren Phantasien ausgemalt hatte, genau das, wovon sie geglaubt hatte, es könnte passieren. Nur war noch mehr passiert. Nichts war ihr jemals so nahegegangen wie Ben – nicht seit Boomer, vor einem Jahrzehnt. Damals, als sie noch so jung gewesen war. Sie trat auf die Bremse und fuhr langsamer, als sie eine kleine Ortschaft erreichte, durch die die Schnellstraße mitten hindurch führte. Sie wartete darauf, daß die Ampel auf Grün umschaltete. Was war, wenn sie tatsächlich schwanger war? Würde sie für den Rest ihres Lebens von Schuldbewußtsein geplagt werden, wenn sie ihr Kind ansah? Und was war mit Ben? Er hatte sich Gedanken über die Konsequenzen gemacht. Würde er mit den Folgen zurechtkommen? Was war, wenn Cole je dahinterkam? Aber interessierte Coles Meinung sie überhaupt? 253
Der Straßenverkehr werde jetzt dichter, und sie fuhr langsamer und hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ja, vermutlich war es ihr nicht gleichgültig, was er dachte. Sie hatte Cole gern, obwohl ihre Ehe nach den ersten Jahren alles Spannende verloren zu haben schien. Kein Funke sprang mehr über. Das einzige, worüber er sich Gedanken machte, war das Geschäft. Dennoch hatten sie und Cole Spaß miteinander, wenn sie über seine Pläne diskutierten. Es bereitete ihnen Freude zu entscheiden, in welche Aktien man investieren sollte, obgleich Cole darin besser war als sie. Seine Liebesbezeigungen drückten sich in den Geschenken aus, die er ihr machte, und gewöhnlich waren seine Geschenke protzig. Sie lächelte, als ihr wieder einfiel, was sie von ihm zu Weihnachten bekommen hatte. Einen Nerzmantel. Einfach lachhaft in Texas, und doch war das in ihren Kreisen eine ebenso große Notwendigkeit wie ein Swimmingpool und ein Tennisplatz. Sie warf einen Blick auf den Tachometer. Sie hatte die Ortsdurchfahrt von Kingsville hinter sich und würde schon bald in Verity sein. Ganz gleich, ob sie es bereuen würde oder nicht, jetzt war es zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Sie hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Etwas Sündhaftes. Sie war so schuldig wie die Sünde. Und wie würde sie es jetzt anstellen, mit dieser Tatsache zu leben? Wenn Cole doch nur bereit gewesen wäre, sagte sie sich auf der Suche nach rationalen Erklärungen, sich dieser Spermazählung zu unterziehen. O verdammt, dachte sie, als sie in die Auffahrt einbog, die zu Franceys und Walts Haus führte. Und selbst wenn ich etwas getan habe, was ich bereuen werde, ich will es wieder tun. Und wahrscheinlich bleibt es auch nicht beim nächsten Mal. Ich will es wieder und immer wieder tun. Sie war froh darüber, daß Cole in Mexiko war und sie in Verity. Sie hätte ihm an diesem Abend nicht gegenübertreten wollen. Cole sah aus dem Fenster des Flugzeugs auf die hohen, zerklüfteten Gebirgsketten hinaus, die sich durch Mexiko schnitten, und seufzte. Er wußte es zu schätzen, wieviel Verantwortung sein Vater ihm zugestand, doch er verzehrte sich danach, die wirklich großen Entscheidungen zu treffen. Aber bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Sein Vater war gerade erst in den Fünfzigern. Jedesmal, wenn er eine neue Idee ausgebrütet hatte, spielte er sie mit 254
seinem Vater bis in alle Einzelheiten durch, ehe sie sie dem Vorstand vorlegten. Nur ein einziges Mal hatte Mr. Coleridge eine seiner Ideen schlichtweg verworfen, und im nachhinein war Cole klar, daß er richtig entschieden hatte, doch damals hatte er es ihm übelgenommen. Fest stand, daß seine Partnerschaft mit Rosas alle Anzeichen des Erfolgs aufwies. Es würde noch einige Jahre dauern, ehe diese Investition sich tatsächlich in barer Münze auszahlte, doch wenn das Hotel in Acapulco, das jetzt seit drei Jahren stand, ein Maßstab für die Erfolge war, die sie gemeinsam erzielt hatten, dann konnte sich Cole auf seinen Lorbeeren ausruhen. Diese neue Anlage nördlich von Acapulco war nichts weiter als ein Traum von Rosas gewesen, als Cole und Carly vor fünf Jahren gemeinsam runtergeflogen waren. Himmel, konnte das wirklich schon so lange her sein? Das Hotel wirkte, als stammte es direkt aus einer Disney-Produktion, einem Märchenfilm. Er hatte auf Rosas und auf niemand anderen gehört, und daraus hatte er ein phantastisches Vorhaben entwickelt, von dem der Mexikaner begeistert gewesen war. Bisher gab es dort keine anderen Hotels, mit Ausnahme des einen, das kurz vor der Fertigstellung war, ein paar Meilen südlich von einem verschlafenen Fischerdorf. Man fand nichts weiter vor als endlose Meilen unbebauten weißen Sandstrand, und kein anderes Geräusch als das der Brandung war zu hören. Würde sich der Mangel an Möglichkeiten zu spannenden Unternehmungen durch Luxus wettmachen lassen? Rosas versicherte ihnen, die Anlage selbst würde genug spannende Unterhaltung bieten. Kein Besucher würde auch nur den geringsten Drang verspüren, sich während seines Aufenthalts woandershin zu begeben. Die Leute würden Jahr für Jahr wiederkommen, alle Jahre, vielleicht sogar mehrfach im Jahr. Hoffen wir’s, dachte Cole. Im Lauf der Zeit war ihm Rosas sympathisch geworden, obgleich ihn die Geschäftsmethoden des Mexikaners auf die Palme brachten. Die Hauptlast der Unterschiede in der Arbeitsmoral traf jedoch Boomer und seinen Bauleiter. Boomer war ständig am Meckern, wenn auch gutgelaunt und wohlwollend. Auch er mochte Rosas. Bannerman hatte den mexikanischen Vorarbeiter erst mal für drei Monate nach Houston geholt, ehe mit dem Bauvorhaben begonnen worden war; er hatte ihn mit den Methoden von BB&O vertraut gemacht und ihm eingetrichtert, daß Zeit von allergrößter Bedeutung war und es für die Fertigstellung unumstößliche Termine geben 255
würde. Da sie das Hotel in Acapulco termingerecht hingestellt hatten, weigerte sich Cole, sich wegen des nächsten Projekts in übermäßigen Streß zu begeben, BB&O waren auf dem besten Weg, sich den Ruf zu erwerben, ebenso zuverlässig wie innovativ zu sein. Die Innovationen waren auf Dan zurückzuführen, die Zuverlässigkeit auf Bannerman. Cole schüttelte den Kopf. Bannerman. Manchmal mochte er ihn ganz gern. Solange es ums rein Geschäftliche ging, hätte er niemanden finden können, der entgegenkommender, anpassungsfähiger und gewissenhafter war. Mit ihm konnte man ein Geschäft mit einem Händedruck besiegeln und brauchte deshalb noch lange nicht nervös zu werden. Er war lässiger als Cole – hochgekrempelte Ärmel, offener Hemdkragen –, soviel stand fest, doch das traf auf BB&O im allgemeinen zu, trotz deren eleganter Büros. Eine Ausnahme bildete in gewisser Weise Tessa. Diese Frau hatte wirklich Stil. Cole mochte sie. Dan war derjenige, an dem er sich die Zähne ausbiß. Dieser Kerl mit seiner verfluchten YankeePhilosophie, und was die politische Einstellung betraf, war er genauso wie seine Professoren in Harvard und Stanford, diese Eierköpfe. Er glaubte, alle Menschen sollten gleich behandelt werden, sogar die Schwarzen und die Latinos. Aber mit den Geschäften hat das nichts zu tun, sagte sich Cole. Diese Einstellung trat nur dann deutlich zutage, wenn sie privaten Umgang miteinander pflegten, und sie trafen sich häufig, er und Carly, Dan und Tessa, Bannerman und Alex. Daß Tessa und Carly so prächtig miteinander auskamen, konnte er gut verstehen. Zwei modisch-elegante Frauen, nach denen sich nicht nur Köpfe umdrehten, wenn sie ein Restaurant betraten, sondern beide waren noch dazu klug und geistreich und ernstzunehmende Geschäftsfrauen. Er wußte, daß er und Carly ein schönes Paar waren. Ihr gesellschaftlicher Terminkalender war so voll, daß sie sich schließlich darauf geeinigt hatten, nicht mehr als drei Einladungen in der Woche anzunehmen. Carly behauptete, sie schaffe es nicht, fast jeden Abend auszugehen und nebenbei auch noch zu arbeiten. Aber irgendwie vermittelte Carly ihm nicht mehr das Gefühl, der Größte zu sein. Trotzdem wußte er, wenn er jetzt an seine Heimkehr und an seine Frau dachte, was er sich am meisten wünschte: Er wollte sie bewußtlos vögeln. Selbst nach fünf Jahren konnte ihn der Gedanke daran, mit Carly zu schlafen, noch in den Wahnsinn treiben. Vom Flugzeug aus sah er die Wolkenkratzer von Houston auftauchen. Die Anzeige, die die Fluggäste zum Anschnallen 256
aufforderte, hatte schon vor mehr als fünf Minuten aufgeleuchtet. Houston – seine Stadt. Als sie zur Landung ansetzten, fragte er sich gerade, was er eigentlich wollte. Er wollte einer der Drahtzieher von Houston sein. Sogar Ben machte sich inzwischen unabhängig von der Familie einen Namen, und niemand hätte geglaubt, daß er ihnen jemals etwas anderes als Ärger bereiten würde. Als er in die finsterste Provinz gegangen war, hatten sie alle Erleichterung verspürt, aber jetzt, Himmel noch mal, stellte er tatsächlich was auf die Beine, was nichts mit Kevin Coleridge oder der Union Trust zu tun hatte. Dazu kam noch, daß Ben fast vier Jahre jünger war als er. Und dennoch lebte er in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Das hieß nicht etwa, daß Cole ihn in Nacogdoches oder Aransas Pass besucht hatte, aber seine Mutter hatte es ihm erzählt. Sie fuhr etwa einmal im Monat zu ihm. Die Fahrt mache ihr Spaß, sagte sie. Sie konnte zwar nicht verstehen, warum Ben sich entschlossen hatte, derart weit ab vom Schuß zu leben, doch der Familie hatte es einen Stoßseufzer der Erleichterung entlockt, als es so aussah, als wäre Ben jetzt seßhaft geworden. Cole wollte sich ebenfalls einen Namen machen. Er wollte nicht, daß man ihn als den Direktor kannte. Als Kevins Sohn. Als den Coleridge-Sohn, der es geschafft hatte. Diesen Überlegungen hing er immer noch nach, als er um halb fünf sein Büro betrat. Die Sonnenstrahlen funkelten wie Staub durch die Fensterscheiben und warfen goldene Streifen auf seinen Schreibtisch. »Stellen Sie mir eine Telefonverbindung zu Mistress Coleridge her«, sagte er zu seiner Sekretärin. So, wie ihm im Moment zumute war, würden sie noch vor dem Abendessen miteinander schlafen. Er konnte es kaum erwarten. »Mistress Coleridge kehrt erst morgen wieder in die Stadt zurück«, teilte ihm seine Sekretärin mit. »Sie hält sich nicht in Houston auf?« »Nein, Sir. Sie besucht ihre Eltern.« Er kam sich vor wie ein Luftballon, aus dem man die Luft rausgelassen hat. Verdammter Mist.
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40 Carly war mit runtergekurbelten Fenstern schnell gefahren, und so war sie vom Fahrtwind zerzaust und sah ein wenig wüst aus, als sie in ihr Büro zurückkehrte. Der überstürzte Besuch in Verity hatte ihr Freude bereitet, und gestern abend hatte sie in den Weiden gegessen, um Zelda Marie zu sehen, die darauf bestanden hatte, daß Carly zum Frühstück auf die Ranch rauskam. Sie hätte ihr einiges zu erzählen. Francey war begeistert darüber, wie prima Zelda Marie ihre Sache in den Weiden machte. »Ich glaube, sie hat einen Freund, aber ich bin nicht sicher. Mir graut bei der Vorstellung, sie könnte heiraten und den Job aufgeben, obwohl es mich selbstverständlich für sie freuen würde. Nur durch sie ist es mir möglich, kürzerzutreten.« »Wir fahren für drei Wochen nach Saint Thomas«, berichtete Walt Carly. »Seit deine Mutter die Weiden eröffnet hat, ist es mir zum erstenmal gelungen, sie zu einem Urlaub zu überreden.« Das Restaurant war allgemein unter dem Namen Francey’s bekannt. Das gefiel Francey. Der eine Ohrring, den sie immer trug, war zu ihrem Markenzeichen geworden. Als Carly heute morgen um halb acht aufgebrochen war, um bei Zelda Marie zu frühstücken, hatte Walt sie zu ihrem Wagen begleitet. »Ein hübscher Schlitten«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf ihren schnittigen Wagen. Carly küßte ihn auf die Wange und glitt hinter das Steuer. Walt beugte sich durch das offene Fenster und fragte: »Geht es dir gut?« Carly ließ den Motor an. »Ja, selbstverständlich. Schließlich habe ich vor zehn Tagen einen Verkauf getätigt, der mir netto mehr als eine Drittelmillion eingebracht hat.« »Das ist es nicht, wovon ich rede, und das weißt du genau. Was hat denn Geld mit Glück zu tun?« »Du hast schon immer Geld gehabt«, sagte Carly, »aber wenn ich solche Summen einnehme, dann bin ich jedesmal stolz wie ein Pfau.« »Und das mit gutem Grund.« Walt nickte. »Aber ich habe dich nach deinem Privatleben gefragt.« »Klar geht es mir gut«, sagte Carly. »Weshalb sollte es nicht so sein?« »Pfadfinderehrenwort?« fragte er und zog den Kopf aus dem Fenster zurück. Carly warf ihm eine Kußhand zu. 258
Während der gesamten Rückfahrt nach Houston erlaubte sie es sich nicht, an die Nacht von Dienstag auf Mittwoch in Aransas Pass zu denken. Vielmehr überlegte sie, ob sie versuchen sollte, BB&O auf die Idee anzusetzen, auf dem Land, das sie und Alex eventuell gemeinsam kauften, ein Einkaufszentrum zu errichten. Wenn die beiden Frauen dort, wo sich Carly eines dieser neuen Gebilde aus Galerien und Passagen vorstellte, sämtliches Land in der näheren Umgebung aufkauften, dann würden sie anderen Betrieben, die sich da draußen niederließen, sich um das Einkaufszentrum herum gruppierten, ebenfalls Land verkaufen können. Es bestand zwar die vage Möglichkeit, daß schwarzes Gold auf Zelda Maries Bankkonto sprudeln würde, doch auf sich sah sie turmhohe Packen von Dollarscheinen zukommen, da sie die zukünftigen Entwicklungen richtig einschätzte. Seltsam, jetzt hatte sie Alex in all den Jahren mehrfach im Monat gesehen, und doch hatten sich keine freundschaftlichen Gefühle entwickelt. Genaugenommen hatte sie sich von Alex eingeschüchtert gefühlt, die schließlich diesen gesellschaftlichen Hintergrund hatte, ihre beiden Universitätsdiplome, ihr natürliches Stilempfinden und diese abweisende, herablassende Haltung. Sie wußte, daß sie besser aussah als Alex, doch das hatte ihr das Gefühl von Unsicherheit nicht genommen. Doch nach diesem Mittagessen in der vergangenen Woche fühlte sie sich Alex plötzlich verbunden, und sie konnte die Möglichkeit einer Freundschaft intuitiv wahrnehmen. Sie überlegte, was sie am Samstag abend zu Wilmers’ Jubiläumsparty anziehen sollte. Sie dachte an alles mögliche, um sich bloß nicht an das zu erinnern, was sie und Ben am Dienstag miteinander getan hatten. Um sich nicht an seine Lippen auf ihren zu erinnern, an ihre verschlungenen Körper. Um sein Lachen nicht zu hören und seinen Atem nicht in ihrem Ohr zu fühlen. Sie rief zu Hause an, sobald sie ihr Büro betreten hatte, um der Köchin zu sagen, sie hätte zum Abendessen gern Schweinekoteletts. Danach wählte sie die Nummer ihres Friseurs, und es gelang ihr, für fünf Uhr einen Termin zu bekommen. Donnerstags war dort nicht allzuviel los. Dann würde sie duschen und die Martinis schon bereitstehen haben, wenn Cole nach Hause kam. Nach dem Rückflug von Acapulco würde er gewiß müde sein. Sie rief in seinem Büro an, um sich danach zu erkundigen, wann sein Flugzeug landete, und zu ihrem Erstaunen vernahm sie, daß er 259
bereits da war. »Ich bin gestern schon zurückgekommen«, sagte er. »Schade, daß du nicht zu Hause warst. Du hast mir gefehlt.« »Ich hoffe, wir können heute allein zu Abend essen«, sagte sie. »Ich bin müde.« »Ja, ich habe nichts geplant«, erwiderte er. »Ich freue mich schon darauf, zur Abwechslung mal wieder einen Abend mit dir allein zu verbringen.« Aber um halb zehn schlief Carly tief und fest, und Cole verbrachte den Abend damit, sich im Fernsehen einen alten Film anzusehen, ehe er ins Bett ging. Sie und Cole frühstückten gerade miteinander, als Alex Carly anrief. »Ich bin eben aus Rochester zurückgekommen«, sagte sie, »und ich hoffe, wir können uns heute noch zusammensetzen. Hast du Zeit?« »Was hältst du von einem gemeinsamen Mittagessen?« fragte Carly, die sich riesig freute. »Nein, lieber noch eher, wenn es dir recht ist. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Wie wäre es mit elf Uhr? Dann hätten wir vor dem Mittagessen noch zwei Stunden Zeit, um uns in Ruhe zu unterhalten.« Carly glaubte plötzlich zu erraten, daß Alex mit ihr durch die Gegend fahren wollte, um sich das Bauland anzusehen. Mit anderen Worten, es konnte durchaus sein, daß sie demnächst miteinander ins Geschäft kamen. »Natürlich«, sagte sie zu Alex, als sie in einer abgelegenen Gegend über die gewundenen Asphaltstraßen fuhren, »ist das ein gewagtes Unternehmen. Was ist, wenn wir keinen Interessenten finden, der bereit ist, das Risiko einzugehen und dort ein Geschäftszentrum hinzustellen?« »Ich würde es so aufziehen, daß ich mich an ein paar der großen Kaufhäuser wende, denn dann hätten wir bereits Stützpfeiler. Zum Beispiel Dillards und Foleys und Sears und Neiman’s…« »Oh, Neiman Marcus zieht doch bestimmt nicht von Dallas hierher. Und dann auch noch in ein Einkaufszentrum?« Alex zuckte die Achseln. »Wir werden es ja sehen.« »Und wenn wir die an Land gezogen haben, dann werden sich andere anschließen. Achtzig Prozent der Ladenflächen sollten schon vor der Eröffnung belegt sein.« »Wir brauchen ein paar Hotels der gehobenen Preisklasse. Wenn reiche Mexikaner zum Einkaufen herfliegen, dann werden sie in diesen Hotels unterkommen und sich im Einkaufszentrum umsehen. Wir bieten ihnen den Komfort, alles unter einem Dach zu haben.« 260
Carly fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. »Sieh dir dieses hübsche Haus dort an.« Es war mit weißen Schindeln verkleidet und frisch gestrichen, und es stand im Schatten hoher Mesquitebäume. Dahinter befanden sich ein Silo und eine Scheune, die fast so hübsch ausschauten wie das Haus selbst. »Dieser Mann hat dreihundert Jersey-Rinder. Ihn abzufinden, wird teuer, teurer als alle anderen.« »An wie viele Millionen dachtest du bei dem Landkauf?« Eines mußte man Alex lassen, ebenso wie Carly gab sie sich niemals mit Kleinigkeiten ab. Beide neigten zu kühnen Gedankengängen. »Ich bin mir nicht sicher. Bisher habe ich knapp zweihundert Acres Land an mich gebrachte. Ich denke dabei nicht nur an das Einkaufszentrum. Ich sehe es als eine langfristige Investition an. Ich will später in der Lage sein, in einem Streifen beidseits der Schnellstraße Land zu verkaufen, wenn Bürogebäude entstehen und kleine Geschäfte, die sich die Mietpreise eines Einkaufszentrums nicht leisten können, sich da ansiedeln wollen, wo sich alles abspielt. Und außerdem stelle ich mir vor, daß die Gegend hier innerhalb von zehn, fünfzehn Jahren dicht besiedelt sein wird, denn die Stadt wird sich so weit ausbreiten, daß nördlich, südlich und westlich von hier neue Außenbezirke entstehen werden.« »Das glaubst du wirklich?« fragte Alex, doch aus ihrer Stimme war deutlich herauszuhören, daß eine Antwort sich erübrigte. Sie musterte Carly und taxierte sie mit einem kühlen Blick. »Weißt du was? Ich glaube, ich habe dich unterschätzt.« Carly lächelte sie strahlend an. »Den Eindruck hatte ich auch immer.« Sie brachen beide in Gelächter aus »Dessen werde ich mich in Zukunft nicht mehr schuldig machen«, versicherte ihr Alex. »Dann ist hier also die Rede davon, daß wir das Land aufkaufen und es behalten, um es zu verpachten, richtig?« Carly nickte. »Cole glaubt, ich hätte den Verstand verloren, aber das bleibt erst noch abzuwarten. Eines Tages wird die Union Trust eine Filiale hier im Westen außerhalb der Stadt eröffnen. Und dann wird es ihm leid tun, daß er nicht zu den heutigen Preisen Land gekauft hat. Aber ich will nicht noch eine Menge anderer Leute an diesem Projekt beteiligen. Ich will mein eigener Herr sein, dieses Land so erschließen, wie ich es mir vorstelle. Und über einen Zeitraum von zwanzig Jahren Millionengewinne herausholen. Millionen, das ist mein Ernst.« »Ich bin bereit, als deine Partnerin einzusteigen, wenn du willst.« 261
»Wie steht Boomer dazu?« »Ich habe ihm kein Wort davon erzählt. Ich habe ihm gesagt, ich müßte geschäftlich nach New York, und solange es sich bei Geschäften nicht um einen Entwurf und ein Gebäude dreht, fragt er noch nicht einmal, worum es geht. Ich vermute, du willst Dan dazu überreden, dieses Einkaufszentrum zu planen, und BB&O sollen es dann bauen?« »Genauso ist es.« Carly ließ lächelnd den Motor wieder an. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf das hübsche weiße Haus. »Willst du Eldridge ein Angebot für sein Land unterbreiten?« Mit einer ausholenden Geste beschrieb sie die Landschaft, die mit braun-weiß gefleckten Kühen gesprenkelt war. »Wie hoch bist du bereit zu gehen?« »Das überlasse ich dir. Du bist die Immobilienexpertin.« Beim Mittagessen beschlossen sie, daß es besser ist, schriftlich etwas auf zusetzen, aber sie wollten den Vertrag so unverbindlich wie möglich halten. Sie sprachen darüber, wie sie zu einer gemeinsamen Arbeit standen und wie sie die Verantwortung und die Verpflichtungen untereinander aufteilen würden. Sie entschieden, nicht einmal an BB&O heranzutreten, solange sie nicht mindestens sechshundert Acres aufgekauft hatten. Morgen würde Carly mit ihrem Ansinnen an die Eldridges herantreten. »Sie haben in den vierziger Jahren siebzehntausend für ihre einhundertdrei Acres gezahlt«, sagte Carly. »Ich würde ihnen gern ein erstes Angebot über zweihunderttausend machen. Sie werden nicht verkaufen wollen, aber der Gedanke an so viel Geld wird sie nachdenklich stimmen. Ich bin bereit, bis zu einer halben Million rauf zugehen.« »Du meine Güte! Das ist eine ganze Menge Geld.« »Macht der Gedanke dich nervös?« Belustigung blitzte in Alex’ Augen auf. »Mich erschreckt nichts, Carly, was mit Geld zu tun hat. Je riskanter das Vorhaben ist, desto mehr Spaß macht es mir. Und ich bin ganz und gar begeistert von dieser Idee. Außerdem ist es schließlich für uns beide nur ein Nebenerwerbszweig.« »Wir werden blendend miteinander auskommen, Alex. Überrascht dich das ebensosehr wie mich?« »Ich muß gestehen«, sagte Alex, nachdem sie Kaffee bestellt hatte, »ich war nicht darauf gefaßt, daß jemand, der so aussieht wie du, Verstand hat.« »Ich habe nie begriffen, was das Aussehen mit den grauen Zellen zu 262
tun haben soll. Aber manchmal hilft es mir. Die Leute können einfach nicht glauben, daß ich weiß, was ich tue.« »Hat Cole es gewußt?« »Ich glaube, nein. Als ich ihn kennengelernt habe, hatte ich gerade meine ersten Erfolge zu verbuchen, aber er hat nicht damit gerechnet, daß ich es so weit bringen könnte. Ihm wäre es wesentlich lieber, ich bliebe zu Hause und spielte die Rolle der Ehefrau. Aber das langweilt mich entsetzlich. Vielleicht sähe es anders aus, wenn wir Kinder hätten.« »Nun, ich habe ein Kind, und ich liebe den Kleinen abgöttisch«, sagte Alex, »aber das genügt nicht. Ich bemühe mich, am frühen Nachmittag nach Hause zu kommen und viel Zeit mit David zu verbringen, doch ich bin einfach nicht dafür geschaffen, Windeln zu wechseln…« Carly lachte. »Ich kann mir dich noch nicht einmal beim Windelnwechseln vorstellen.« »Paß bloß auf, daß du diesmal nicht mich unterschätzt. Ich habe mich gewaltig verändert. Dasselbe gilt für Boomer.« Carly fragte sich, ob die beiden wohl ein befriedigendes Sexualleben hatten. Und ob Alex Boomers Sexualität ebensosehr zu würdigen wußte wie sie in früheren Zeiten. Alex erweckte den Eindruck, als achtete sie ständig auf ihre Frisur, als wäre Leidenschaft ein Fremdwort für sie. Gelang es Boomer, die Barrieren seiner Frau zu durchbrechen und in ihr das zu wecken, was er früher einmal in Carly wachgerufen hatte? »Eine äußerst seltsame Angelegenheit, dieses ganze Leben«, sagte sie laut. Alex wußte, daß Carly keine Entgegnung von ihr erwartete, doch sie machte trotzdem eine. »Fest steht, daß es Überraschungen birgt.« »Was glaubst du wohl, warum keine von uns beiden bereit ist, die herkömmliche Frauenrolle zu spielen?« Auch sie erwartete keine Antwort. Carly fragte sich, ob sie und Alex Glück oder Pech gehabt hatten.
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41 Boomer pfiff vor sich hin, während er versuchte, seine Frackschleife zu binden. Er schaute in den Spiegel und beobachtete das Spiegelbild seiner Frau in dem an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers. Sie zeichnete sich gekonnt die Augen nach und beugte sich dabei vor, um besser sehen zu können, damit sie einen sauberen Strich mit dem Eyeliner zog. Er glaubte mehr Glück im Leben gehabt zu haben als jeder andere Mensch, der ihm je begegnet war. Und er war glücklicher, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Und daran trug Carly keinen geringen Anteil. Ab und zu haßte er sich und kam sich undankbar vor. Nicht immer, aber manchmal sehnte er sich nach Carly, wenn sie zusammensaßen, die Köpfe über ein Reißbrett beugten oder gemeinsam zu Mittag aßen, im allgemeinen mit Dan und manchmal auch mit Alex. Dann konnte er sich nicht auf das Thema konzentrieren, über das sie gerade diskutierten, weil ihre Nähe ihn ablenkte – ihr Geruch, oder weil ihr Ellbogen seinen Arm streifte oder ihre Finger seine berührten. An den Samstagabenden im Club, wenn er mit ihr tanzte, bemühte er sich, Carly nicht als eine Frau anzusehen. Sie waren inzwischen gute Freunde und manchmal auch Geschäftspartner in einem der Projekte, die sie sich ausdachte. Und dieses letzte Projekt, das sie ihm gerade vorgelegt hatte, schoß wahrhaftig den Vogel ab. Tessa hatte im Sitzungssaal von BB&O der Präsentation beigewohnt. Sie würde zwar wenig mit dem Projekt zu tun haben, aber sie war trotzdem Vorstandsmitglied der Firma, und sie hatte lauthals gejauchzt, als sie von den Plänen erfahren hatte, die Alex und Carly schmiedeten. »Man muß sich mal vorstellen, daß ausgerechnet zwei Frauen auf diese Idee gekommen sind und diese Unmengen von Land aufgekauft haben!« hatte sie verwundert ausgerufen. »Und sie haben es in ihren hübschen Köpfchen für sich behalten«, sagte Dan voller Erstaunen, »ohne uns auch nur ein Sterbenswörtchen von dem zu verraten, was sie schon seit Monaten anzetteln. Ich wußte nicht, daß Frauen Geheimnisse so lange für sich behalten können.« Tessa trat ihn unter dem Tisch. »Du Chauvi.« Dan grinste sie an. Boomer hatte kein Wort dazu geäußert. Er hatte dagesessen und sich gefragt, wie seine Frau, die er so gut zu kennen glaubte, es 264
fertigbrachte, über einen derart langen Zeitraum Land aufzukaufen und zusammen mit Carly die Idee mit dem Einkaufszentrum auszubrüten, ohne ihn auch nur im entferntesten in ihr Vorhaben einzuweihen. Was gab es sonst noch alles, was er nicht über sie wußte? Gemeinsam hatten Carly und Alex mehr als siebenhundert Acres in den Außenbezirken von Houston erworben, Grundstücke in einer Gegend, die man heute noch als ländlich bezeichnen konnte. Offenbar hatten sie Spitzenpreise dafür bezahlt und den Farmern mehr angeboten, als sie mit ihren Milchkühen und ihren Gemüsegärten je aus dem Land hätten herausschlagen können, Summen, die sie sich nie auch nur erträumt hatten. Alex mit ihrer Investmentfirma und Carly mit ihrem Immobilienunternehmen hatten BB&O eine Idee präsentiert, die den Rahmen aller Projekte, an denen sie sich bisher beteiligt hatten, bei weitem sprengte. Die beiden Frauen wollten, daß BB&O begannen, Pläne zu entwerfen, die sie ihren zukünftigen Pächtern vorlegen konnten. Sie wollten das Land keineswegs wieder verkaufen. Sie wollten, daß Pächter Langzeitverträge unterschrieben, in denen sie einwilligten, daß ausschließlich BB&O ihre Gebäude entwarfen und hinstellten, ihre Hotelhochhäuser, ihre. Kaufhäuser, ihre kleinen Geschäfte, ihre Rolltreppen und die freien Flächen, die Tiefgaragen und sogar die öffentlichen Toiletten. Alex sagte, sie gründe eine Managementfirma, die das enorme Vorhaben verwalten würde, wenn es erst einmal soweit war, was wahrscheinlich frühestens in zwei Jahren der Fall sein würde. Foleys und Dillards, die beiden größten Kaufhäuser von Texas, zeigten jetzt schon Interesse an dem Vorhaben. Macy’s würde jemanden schicken, der sich das Projekt näher ansah, wenn Alex einen Plan hatte, den sie ihnen vorlegen konnte. Vielleicht kam es für I. Magnin’s in Frage. Gucci war interessiert, ebenso Sophie’s of Rodeo Drive. Und bei Neiman Marcus oben in Dallas hatte man tatsächlich ebenfalls einen Funken Interesse wecken können. Nach zwei Tagen intensiver Diskussion beschlossen Dan, Tessa und Boomer, sich an dem Vorhaben zu beteiligen. Boomer war stolz darauf, daß sie nach nur vier Jahren in einer Position waren, die es ihnen ermöglichte, das Risiko einzugehen. Wie glücklich er sich doch schätzen konnte, Cole Coleridge kennengelernt zu haben. Was für ein Glücksfall es doch war, daß seine Frau und seine frühere Freundin mit Cole in Verbindung standen und daß Coleridge ihnen das mexikanische Projekt in den Schoß geworfen hatte. 265
Heute vermochte er, wie er es Alex gelobt hatte, als er ihr zum erstenmal begegnet war, eine Million zu borgen und das Geschäft mit einem Handschlag zu besiegeln, und der Geldgeber wußte, daß sein Wort so gut wie Gold war. Vielleicht, sagte er sich – während er seine Unfähigkeit, eine Frackschleife zu binden, verfluchte –, lag es nicht nur an seinem enormen Erfolg, sondern auch daran, daß er die Prinzessin von Houston geheiratet hatte. Und auch das war ihm nur allzu recht. Er war stolz auf Alex. Sie gaben ein verdammt attraktives Paar ab, und dieses Gefühl mochte er. Er fluchte tonlos, stellte sich hinter Alex und sagte zu ihrem Spiegelbild: »Bindest du mir die Schleife?« Sie lachte. In all der Zeit, die sie jetzt schon miteinander verheiratet waren, war es ihm nicht ein einziges Mal gelungen, eine Frackschleife so zu binden, daß sie vorzeigbar war. »Ja, sofort.« Er beugte sich hinunter, um ihre nackte Schulter zu küssen. Sie hatte die schönsten Schultern auf der ganzen Welt, soviel stand für ihn fest. »Hättest du Lust, mal wieder Mutter zu werden?« »Ist das eine Aufforderung? Wenn ja, dann bist du ein ganz kleines bißchen zu spät dran. Mein Make-up ist perfekt, und ich denke gar nicht daran, noch mal eine Stunde darauf zu verwenden, es wieder aufzufrischen.« »Dafür bleibt uns noch genug Zeit, wenn wir nach Hause kommen«, murmelte Boomer und berührte zart ihre perfekte Frisur. Sie schob seine Hand behutsam weg. Sie hatte heute nachmittag zwei Stunden bei Mr. Kenneth verbracht und war nicht bereit, ihr Erscheinungsbild am heutigen Abend durch irgend etwas beeinträchtigen zu lassen; noch nicht einmal die Aussicht darauf, von Boomer geliebt zu werden, konnte sie umstimmen. »Ich habe die Frage wortwörtlich gemeint. Glaubst du nicht, David würde sich freuen, wenn er ein Brüderchen oder ein Schwesterchen hätte?« »Ich stecke mitten in Unmengen von faszinierender Arbeit. Ich möchte mir eigentlich nicht wirklich die Zeit dafür nehmen…« »Für David hast du von deiner Arbeit so gut wie keine Zeit abgezwackt. Wir haben eine Haushälterin, eine Köchin, ein Kindermädchen, das bei uns lebt. Mir scheint es ganz so, als müßtest du lediglich zur Entbindung ins Krankenhaus gehen. Das kann ich dir nicht abnehmen.« Alex war immer noch rasend verliebt in Boomer, obwohl er in ihren 266
Augen gewisse Unzulänglichkeiten aufwies. Mit seinem Temperament, seiner Unverfrorenheit und seinem Mangel an Gewandtheit brachte er sie oft in Verlegenheit. Alex war die Vorstellung verhaßt, ihre Figur wieder zu verlieren, aufgeschwemmt zu wirken, in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft zu watscheln und sich im zweiten und dritten Monat ständig zu übergeben. Es drehte sich nicht nur darum, Zeit für die Geburt selbst aufzubringen, sondern sie fürchtete auch, sich im zweiten und dritten Monat wieder so elend zu fühlen. Sie würde nicht gut genug in Form sein, um ihr Bestes zu geben und es in das große Projekt einfließen zu lassen. »Könnten wir nicht warten, bis wir die Mieter für dieses Einkaufszentrum komplett zusammen haben?« fragte sie. »In einem Jahr werden wir noch nicht einmal den ersten Bauabschnitt beendet haben«, entgegnete Boomer und sah wieder ihr Spiegelbild an. »Du könntest das Baby in der Zwischenzeit bekommen und bis dahin wieder voll einsatzfähig sein.« Alex wußte, daß sie alles für Boomer tun würde, selbst wenn es bedeutete, einer zweiten Schwangerschaft zuzustimmen. »David wird mindestens drei Jahre alt sein, wenn wir heute nacht erfolgreich sind«, sagte er. »Die Zeit vergeht wie im Flug.« Ich bin dreißig, dachte Alex. Vielleicht verging die Zeit tatsächlich wie im Flug. Und vielleicht war es wirklich eine gute Idee, ein zweites Kind zu haben. Sie selbst war als Einzelkind aufgewachsen und hatte sich deshalb so einsam gefühlt. Boomer war ebenfalls ein Einzelkind. Und ein kleines Mädchen wäre schon sehr schön. In den letzten Jahren hatte sie festgestellt, wieviel Vergnügen Frauenfreundschaften ihr bereiten konnten, erst ihre Freundschaft mit Tessa und jetzt auch die mit Carly. Sie hatte Boomer ein paarmal gefragt, wie Carly in der Schule gewesen war, und darauf hatte er immer geantwortet: »Sie war das einzige wirklich gescheite Mädchen in unserer Klasse. Vielleicht sogar die Intelligenteste in der ganzen Schule. Ich habe sie erst kurz vor dem Schulabschluß kennengelernt.« Er erzählte Alex noch, daß Carlys Stiefvater der Bankier von Verity sei. Das war aber auch schon alles, was er zu ihrer Person zu sagen hatte, und daher nahm Alex an, das sie sich nicht besonders gut gekannt hatten, auch wenn sie die Abschlußfeier gemeinsam besucht hatten. Boomer war damals gewiß mit vielen Mädchen ausgegangen. Er und Carly schwelgten nie in Erinnerungen an ihre High-School 267
Zeit, was wohl heißen mußte, daß sie keine gemeinsamen Freunde und Erlebnisse gehabt hatten. Alex vermutete, daß es zwischen ihr und Carly mehr Gemeinsamkeiten gab als zwischen Carly und Boomer. Alex hatte aber auch mehr Gemeinsamkeiten mit Cole als irgend jemand sonst in ihrer kleinen Gruppe. Merkwürdig, daß Cole und sie heute demselben engen Freundeskreis angehörten. Von all ihren Freunden und Bekannten aus Houston war Cole der einzige in ihrer Clique, und das lag an Carly und nicht an ihm. Aber es lag auch an ihr, da sie Cole mit BB&O zusammengebracht hatte. Sie war in einer Männerwelt aufgewachsen und staunte immer noch darüber, daß sie gemeinsame Erfolge mit zwei Frauen in dieser Welt zu verbuchen hatte. Ausgerechnet Carly hatte BB&O dieses Großprojekt zugeschanzt. Cole aber schien immer der Außenseiter zu sein, wenn die drei Paare sich trafen. Wenn das nicht komisch war. Cole Coleridge als Außenseiter. Überall sonst in Houston gehörte er zum harten Kern. Im Club saß er inzwischen im Vorstand, und da er ein Coleridge war, nahm man ihn überall mit offenen Armen auf. Und das traf, wenn sie es recht bedachte, auch auf Boomer zu. Zum einen lag es daran, daß er sie geheiratet hatte, zum anderen am kometenhaften Erfolg von BB &0. Nichts wurde in Houston so sehr bejubelt wie Erfolge. Große Erfolge. Boomers Erfolg veränderte die Skyline von Houston und würde der Stadt jetzt ein vollkommen neues Konzept bieten. Sie spürte in den Knochen, daß Carly mit ihren Prognosen richtiglag. Genauso würde man in Zukunft einkaufen gehen. Gleichzeitig versetzte diese Vorstellung Alex einen stechenden Schmerz. Sie fand es einfach zu traurig. Wenn Carly recht hatte, dann würden die Stadtzentren in ihrer heutigen Form verschwinden. Die Innenstädte würden Unternehmen anlocken, aber keine Kauflustigen mehr. Die großen alten Kaufhäuser würden umziehen. Man würde vor leeren Schaufensterfronten stehen, und die Lebhaftigkeit der Stadtzentren würde verlorengehen. Nun ja, die Welt veränderte sich eben, und wenn es sie auch noch sosehr betrübte, daß eine Lebensform, die sie geliebt hatte, am Aussterben war, dann würde sie doch wenigstens an der Zukunft teilhaben und dazu beitragen, sie zu gestalten. Sie und Boomer und Carly und Tessa und Dan. Was hieß das für Cole? Einen Moment lang stellte sie Vermutungen darüber an, ob Carly der Sex mit Cole wohl Spaß machte. Es war nur gut, daß Carly nie mit Boomer geschlafen hatte, denn diese beiden Männer ließen sich einfach nicht miteinander 268
vergleichen.
Es verging nicht mal ein Monat, als Alex mit ihrem zweiten Kind
schwanger war und sich jeden Morgen übergab. Sie sagte sich, wie
gering dieser Preis doch dafür war, Boomer eine Freude zu bereiten.
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42 Carly und Alex hatten drei Monate gebraucht, um siebenhundert Acres Land aufzukaufen, doch sie hatten knapp eine Million weniger dafür hingelegt als die Summe, die Carly als Höchstpreis veranschlagt hatte. Farmer, die ihr Land geerbt oder für maximal zwanzigtausend erstanden hatten, kassierten Hunderttausende ein. Die siebenhundert Acres waren nicht alle zusammenhängend, doch mehr als vierhundert grenzten aneinander. Und das bot genug Raum für ein Einkaufszentrum. »Warum haben wir uns darauf bloß eingelassen?« stöhnte Dan. »Wir stecken ohnehin schon bis zu den Augäpfeln in Arbeit.« BB&O waren nicht nur dabei, Señor Rosas’ zweites mexikanisches Hotel fertigzustellen, sondern außerdem war auch noch ein Ausschuß an sie herangetreten, der den Bau einer luxuriösen Altenwohnanlage in Scottsdale, Arizona, plante. Man hatte Dan und Boomer den Flug nach Phoenix bezahlt, damit sie zwei Tage dort verbrachten, um alles in Ruhe zu besprechen. Wieder einmal hatten sie Dan mühsam überreden müssen. »Ist Houston denn nicht groß genug für uns?« hatte er gefragt. Boomers Traum war es, wenn schon nicht Bechtel’s, dem größten Bauunternehmen auf Erden, Konkurrenz zu machen, dann doch zumindest zu den Betrieben aufzusteigen, die auf dem nordamerikanischen Kontinent führend waren. »Verdammt noch mal«, sagte Dan, »wir haben jetzt schon mehr, als wir in unserem ganzen Leben ausgeben können.« »Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, neckte Tessa ihren Mann. »Die Welt ist voll von Dingen, die ich noch nicht gekauft habe.« »Noch.« »Vergiß in deinen Entwürfen bloß nicht die kleinen Annehmlichkeiten, die die Lebensqualität der Anlieger erhöhen. Und vergiß nicht, daß ich, und nur ich, die komplette Anlage einrichten werde. Und außerdem brauchen wir natürlich einen Pool und einen Golfplatz mit neun Löchern und kleine Spielereien wie Brunnen…« »Weißt du denn nicht, wie knapp das Wasser in diesen Breiten ist?« fragte Alex. Wenn BB&O solche Brainstormings betrieben, war sie im allgemeinen anwesend, und wenn Boomer und seine Partner sich allzusehr von ihren Phantasien mitreißen ließen, spielte sie den 270
Advocatus Diaboli. »Ich schlage doch nur vor, daß wir ihnen Steine in den Weg legen, und wenn ihnen das alles nicht paßt, dann habt ihr ein Hintertürchen offen, und die ganze Geschichte platzt. Sollten ihnen die Vorschläge jedoch gefallen, dann habt ihr die Chance, euch weit und breit einen Namen zu machen. Ihr werdet als diejenigen dastehen, die sich das Neueste an Komfort für den Alterswohnsitz haben einfallen lassen.« BB&O ließen sich auf nichts ein, was nicht nach Geld stank. Wenn der Kunde ein Geizhals war, faßten sie einen Job noch nicht einmal ins Auge. Damit schreckten sie die Leute aber nicht etwa ab, sondern lockten sie wie die Fliegen an. Wie Dan bereits gesagt hatte, hatten sie mehr als genug zu tun. Unter anderem bauten BB&O eine Ferienanlage für Skiurlauber in Vermont und Wolkenkratzer in Minnesota und Caracas, und jetzt hatten Carly und Alex sie zu dem Bau eines Einkaufszentrums in Houston überredet. Boomer wollte keine Aufträge an Subunternehmer vergeben. Er wollte, daß alles von BB&O-Leuten gebaut wurde, von Männern, die er persönlich überwachte. Die Qualitätskontrolle sollte in seiner Hand bleiben. »Ich weiß selbst nicht, warum ich versuche, ihn dazu zu überreden, noch mehr Aufträge anzunehmen«, sagte Alex zu Carly. »Er verbringt mehr Zeit im Flugzeug als zu Hause.« Sie war im dritten Monat schwanger, und sie wußten bereits, daß es ein Mädchen werden würde. Sie hatten ihm sogar schon den Namen Diane gegeben. »Wenigstens kommt an den Wochenenden nichts dazwischen.« Alex und Boomer hatten häufig Auseinandersetzungen, was Boomers Kleidung betraf. Schließlich sprach er dann ein Machtwort und erklärte, er trage genau das, was er wolle, und es wäre ihm lieb, nicht jedesmal mit ihr darüber streiten zu müssen, wenn sie ausgingen. Im Moment war Cowboykleidung angesagt. Man traf ihn nicht mehr ohne einen Stetson an, selbst dann nicht, wenn er einen Smoking anhatte. Wenn er gerade einmal keine Fünfhundertdollarstiefel trug, dann lief er im Haus und am Pool in Sandalen herum. Er besaß kein einziges Paar normale Schuhe. Boomer hatte die Neuigkeit fast umgehauen, daß Alex eine geschäftliche Partnerschaft mit Carly eingegangen war. Die beiden großen Lieben seines Lebens waren Freundinnen. Es verwunderte ihn, daß sie Gemeinsamkeiten hatten. Natürlich wußte Alex nichts von seinem Verhältnis mit Carly vor so vielen Jahren. Er hatte Alex nicht gefragt, mit wem sie geschlafen hatte, und er dachte im Traum nicht daran, diese Informationen über sich freiwillig 271
preiszugeben. Es erstaunte ihn, daß sich Carly mit dem Verkauf von Immobilien einen so großen Namen in der Geschäftswelt gemacht hatte, obgleich er jemanden hatte sagen hören, daß man, wenn man hart arbeitete und ungebildet war, es in Texas durch den Verkauf von Land am leichtesten zu Reichtum bringen konnte. Vor allem in den siebziger Jahren, als die Preise in schwindelerregende Höhen kletterten. Er mußte zugeben, daß es Spaß machte, mit Alex und Carly über Geschäfte zu reden. Er glaubte nicht, daß es allzu viele Männer gab, die den Verstand von Frauen respektierten, aber er war fast so stolz auf Carly wie auf Alex. Er fragte sich, warum Carly und Cole keine Kinder hatten. Vielleicht fürchtete Carly, das könnte sie ihre sensationelle Figur kosten. Sämtliche Köpfe drehten sich um, wenn sie einen Raum betrat. Und wenn sie und Cole Partys besuchten oder Samstag abends in den Club kamen, stand Carly im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Cole schien es zu genießen, wie sehr Carly bewundert wurde. Es war jedoch allgemein bekannt, daß Carly für keinen anderen Mann zu haben war. Sie flirtete zwar, doch sie tat es kindlich-unbefangen, auf eine naive und harmlose Art. Boomer gefiel es, wie sie das machte. Wenn er mit ihr tanzte, konnte er spüren, wie ihre Brüste sich an ihn preßten, und er bildete sich ein, noch mehr zu spüren, wenn ihre Beine sich im Einklang zu einem langsamen Foxtrott bewegten. Er lächelte in sich hinein, war er doch ganz sicher, daß er neben Cole der einzige andere Mann in Houston, wenn nicht gar auf der ganzen Welt war, der wußte, wie Carly im Bett war. Ihm wurde klar, daß er ihr nicht völlig verziehen hatte, wie sie ihm an jenem Wochenende davongelaufen war. Nicht zum erstenmal fragte er sich, wie anders sein Leben jetzt wohl aussähe, wenn er nicht Alex, sondern Carly geheiratet hätte. »Was passiert, wenn ich schwanger werde?« fragte Carly Ben, als sie nebeneinanderlagen und Sonnenstrahlen, die durch die Hotelvorhänge gefiltert wurden, Muster auf ihre nackten Körper warfen. »Wie meinst du das?« Ben hielt ihre Hand und küßte jeden einzelnen Finger. »Das war doch ursprünglich der Grund für all das, oder etwa nicht?« »Ursprünglich ja.« Statt ihre Frage zu beantworten, wollte Ben jetzt wissen: »Verspürst du eigentlich Schuldgefühle, wenn du von mir zu Cole 272
gehst?« Er sah den Schmerz nicht, der in Carlys Augen aufflackerte. »Ich habe ständig Schuldgefühle. Ich empfinde mich als unmoralisch und als untreu, und ich schäme mich.« Ben drehte sich zu ihr um und sah sie an. Auf seinem Gesicht drückte sich Erstaunen aus. »Warum zum Teufel haben wir dann in den letzten fünf Monaten so weitergemacht? Du hast mir nie gesagt, daß dir so zumute ist.« Sie zog ihn an sich und küßte ihn leidenschaftlich. »Weil ich das, was wir miteinander haben, nicht aufgeben wollte.« »Falls es dich tröstet, ich finde es auch nicht gerade toll. Ich komme mir wie ein Schwein vor, weil ich meinen Bruder mit seiner Frau betrüge.« Sie hörte ihn seufzen, und dann sagte sie: »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Eine Minute lang herrschte Schweigen, dann erwiderte er: »Du meinst, ob unsere wöchentlichen Treffen ein Ende haben, wenn du schwanger wirst?« »Ja.« »Nun, der ursprüngliche Zweck unseres Zusammenseins war der, daß du schwanger wirst, stimmt’s?« Genauso hatte es sich verhalten. »Wäre das dann das Ende?« Ben setzte sich abrupt auf und sah Carly fest in die Augen. »Du willst mir damit sagen, daß du schwanger bist, nicht wahr?« »Ich bin noch nicht sicher. Am Montag habe ich einen Termin bei Doktor Beckwith. Aber meine Periode ist schon lange überfällig, und morgens ist mir ein bißchen schummrig.« »O mein Gott!« Ben zog sie an sich und hielt sie eng umschlungen. Er glaubte ein Schluchzen zu hören, doch als er den Kopf hob, um sie anzusehen, konnte er ihre Gefühle nicht in ihren Augen lesen. »Dann ist es uns wohl gelungen, was?« Er setzte sich noch mehr auf und ließ die Beine über die Bettkante baumeln. Ohne sie anzuschauen, wollte er wissen: »Wie ist dir dabei zumute?« »Ich frage mich«, sagte sie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, »wie du darauf reagieren wirst, wenn du siehst, wie Cole dein Kind großzieht.« Ben erhob sich, trat ans Fenster und schaute auf die Stadt hinunter. »Ich habe nie geglaubt, daß es einfach werden würde, schon damals nicht, vor fünf Monaten, als ich es dir vorgeschlagen habe.« Carly stand auf. »Ich liebe das, was geschieht, wenn wir zusammen 273
sind. Unser Verhältnis zueinander ist nicht angespannt. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich wußte nicht, daß du mir das Gefühl geben würdest, so unglaublich lebendig zu sein. Nicht nur, während wir uns lieben, sondern auch dann, wenn wir beim Mittagessen reden und nichts überstürzen, um ins Bett zu fallen, sondern uns Zeit lassen und das Gespräch endlos fortführen, damit wir noch länger zusammen sind.« Ben drehte sich um und sah sie an. »O Carly, meine wunderschöne Schwägerin.« Er ging zu ihr und legte seinen rechten Arm um ihre Taille. »Haben wir uns eben gerade zum letztenmal geliebt?« »Zum letztenmal?« Carly fürchtete, sie würde weinen. »Küß mich«, sagte sie. Ben spürte, wie er wieder zum Leben erwachte, als seine Lippen sich auf ihren Mund legten. »Wenn es ein letztes Mal geben muß«, erklärte er, »dann sollten wir beide wissen, daß es das letzte Mal ist, damit wir unser Bestes geben können.« Er zog sie wieder aufs Bett. Als sie sich eine Stunde später ankleideten, sagte Ben: »Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll, mich nicht mehr auf die Dienstage freuen zu können, wie ich es schaffen soll, an den Dienstagabenden nicht mehr deinen Duft mit mir nach Hause zu tragen, wie ich zurechtkommen soll ohne deine Küsse, deine…« Einen Moment lang glaubte Carly Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. »O Gott«, sagte er, und seine Stimme klang erstickt, als er sie an sich drückte. Ben stellte seine wöchentlichen Besuche in Houston tatsächlich ein, als Carly ihm mitteilte, sie sei schwanger, doch gelegentlich rief er an, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Er hielt seine Anrufe kurz und sachlich. Cole war überglücklich, und dasselbe galt für seine Eltern, aber natürlich auch für Francey und Walt. Carly wußte nicht, wie ihr zumute war. Sie vermißte Ben. Im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft, als sie zu watscheln begann, wie Alex es ausdrückte, rief ihre Schwiegermutter an, um ihr mitzuteilen, daß Ben am Donnerstag abend zum Essen da sei und über Nacht bleibe. Das kam so gut wie nie vor. »Er hat gesagt, er bringe einen Gast mit, und er hat vorgeschlagen, daß wir alle zusammen zu Abend essen.« Carly hatte Ben seit fünf Monaten nicht mehr gesehen. Sie fragte sich, wie er ihren Anblick wohl empfinden würde, war es doch sein Kind, das sie in sich trug. Und sie fragte sich auch, ob man ihnen ihr Schuldbewußtsein ansehen würde, es in ihren Gesichtern ablesen 274
und aus den Blicken entnehmen könnte, die sie miteinander austauschten. Ben umarmte sie jedoch freundschaftlich und sagte ihr, die Schwangerschaft bekomme ihr gut. Er benahm sich ganz so, wie man es von einem Schwager erwarten sollte, und er stellte ihr Liz Andrews vor, seine neue Werbeleiterin, die jetzt gleichzeitig als Buchhalterin fungierte und für die finanzielle Seite der Zeitung zuständig war. Carly fühlte sich, als hätte sich ein Messer durch ihr Herz geschnitten. Ihr war nicht klargewesen, wieviel ihr an Ben lag, obwohl sie täglich an ihn gedacht hatte. Und jedesmal, wenn sich das Baby rührte, hatte sie sich gewünscht, Ben könnte seine Hand auf ihren Bauch legen und spüren, wie ihr Kind die ersten Lebenszeichen zeigte. Sie mochte Liz Andrews nicht. Ben gehörte ihr, dieses Baby war von ihm, und irgendwie war ihr nie in den Sinn gekommen, er könnte mit einer anderen Frau Zusammensein. Cole hatte schon nicht mehr mit ihr geschlafen, seit sie begonnen hatte, rund zu werden. Als sie Annäherungsversuche unternommen hatte, hatte er sich auf die Seite gedreht und gesagt: »Wenn das Baby da ist, Liebes.« Vielleicht war das eine der Bußen, die ihr für das auferlegt worden waren, was sie ihm angetan hatte. Was sie und Ben sich angetan hatten. Aber, sagte sie sich immer wieder, ich bringe ein Coleridge-Kind zur Welt. Sie hoffte, es würde ein Junge werden, damit der Name Coleridge erhalten blieb und ihr Ehebruch nicht vergeblich war. Dann dienten ihre Schuldgefühle wenigstens einem Zweck.
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Rafael redete tatsächlich mit Pferden. Zelda Marie stand gern im Stall, ganz hinten am dunkleren Ende, wo die Schatten sie verbargen, und hörte ihm zu. Das Spanisch, das sie auf diese Weise lernte, war der Stoff, aus dem Lieder gemacht wurden, denn Mexikaner sprachen nicht so miteinander, wie Rafael mit den Pferden redete. Es war die Sprache der Liebe. Wenn er die Pferde zuritt, bockten sie nicht, und nicht ein einziges von ihnen versuchte, ihn abzuwerfen. Zelda Marie brachte viele Stunden damit zu, von ihm zu lernen. Sie beobachtete, wie er mit den Pferden umging, und sie lauschte. Er mußte Anfang Dreißig sein. Hatte er eine Frau und Kinder in Mexiko, und schickte er ihnen einen Teil seines Lohns? Er begann sie zu unterrichten, und zwar nicht nur, was das Arbeiten mit Pferden betraf, sondern auch in der spanischen Sprache. Er behandelte ihre Kinder ausnahmslos höflich, und sie begannen ihm nachzulaufen wie dem Rattenfänger von Hameln. Er schien nie zu beschäftigt zu sein, um ihnen Spiele oder Lieder beizubringen, die er auf seiner Gitarre begleitete. Carlos kümmerte sich um alle handwerklichen Arbeiten auf der Ranch und Rafael um die Tiere. Aofrasia sang in der Küche, und die Mexikaner saßen abends um den großen Küchentisch herum und aßen, während Zelda Marie und ihren Kindern im Eßzimmer das Essen serviert wurde. Zelda Marie wußte, daß ihre Kinder genau wie sie sich sehnlichst wünschten, zu dieser Gruppe in der Küche zu gehören. Gleich nach dem Abendessen rannten die Kinder zum Stall hinaus, und dort wartete Rafael schon auf sie und war jederzeit bereit, ihnen ein neues Lied beizubringen. Er schaffte es sogar, daß sie bettelten, die Pferde füttern zu dürfen, und er gab ihnen Reitunterricht. Er sagte Zelda Marie, daß sie eine Manege brauche, wenn sie Pferde für Ausstellungen trainieren wolle. Sie fuhr in die Stadt und beauftragte Bob Deckett, ihr eine überdachte Manege zu bauen. Deckett teilte ihr mit, er habe erst in drei Monaten Zeit. Drei Monate später stand jedoch fest, daß die Manege ein Prunkstück werden würde, denn man war bei den Bohrungen auf Erdöl gestoßen, und Humble Oil begann Zelda Marie monatlich fünfundzwanzigtausend Dollar zu zahlen. Im Lauf von zwei Jahren 276
erhöhte sich diese Summe ständig, und Zelda Marie beschloß ein Herrenhaus zu bauen. »So prunkvoll, so riesig und so luxuriös, daß es schon unanständig wirkt.« Und sie beschloß außerdem, nach Houston zu fahren und Carly zu besuchen, um sich bei ihr Ideen für den Entwurf eines supertollen Hauses zu holen. Ganz Brooks County sollte sich vor Neid verzehren. Etwas so Erlesenes, daß die Leute die Einfahrt rauffuhren, um sich in Ahs und Ohs zu ergehen. Der neue Stall und die Manege waren jetzt schon mit nichts zu vergleichen, was die Einwohner von Verity jemals gesehen hatten. Wenn Leute aus New York, Lexington und Dallas, vielleicht sogar aus Hollywood anreisten, um ihre Pferde zu kaufen, wüßten sie gleich, daß sie es hier nicht mit einer unbedeutenden kleinen Unternehmerin zu tun hatten. Sie glaubte, dieses neue Fohlen würde ihre kühnsten Träume in Erfüllung gehen lassen, und wenn nicht, dann würde es zumindest die Leute, die an Arabern interessiert waren, auf sie aufmerksam machen. Rafael deutete an, daß seine wahre Leidenschaft das Cutting sei. Sein Englisch reichte aus, um ihr das zu sagen. Sie war darin auch nicht gerade schlecht. Daher machten sie sich morgens, nachdem die Kinder zur Schule gegangen waren, gemeinsam an die Arbeit. Ehe sich Zelda Marie auch nur versah, war die Zeit bis zum Mittagessen verflogen. Dann kam Aofrasia mit einem Picknickkorb, und sie alle aßen auf der langen Gartenbank unter den Mesquitebäumen. Zelda Marie war so glücklich wie noch nie zuvor. Auch Carly in Houston hatte ein neues Haus, und sie hatte es ganz allein ausgesucht. Dort hieß sie Zelda Marie willkommen. Diese war beeindruckt von dem Haus, das etwa die Größe eines kleinen Hotels hatte. Es war von anderen Häusern vergleichbarer Größe umgeben, die sich jedoch architektonisch alle voneinander unterschieden. Das von Cole und Carly war langgestreckt, niedrig und geschmackvoll, und es wirkte komfortabel und bewohnt und doch auch elegant. »Erzähl mir alles, was sich in diesem Provinznest tut«, sagte Carly. Als Zelda Marie Carly von ihren Plänen berichtete, sich ein Herrenhaus zu bauen, sagte Carly: »Kauf aber auch mehr Land.« »Wozu denn das?« »Man kann gar nicht zuviel Land besitzen«, antwortete Carly. »Wieviel hast du im Moment?« »Mehr, als ich gebrauchen kann. Ungefähr zwölfhundert Acres.« Sie wußte selbst, daß das, an den Maßstäben von Brooks County 277
gemessen, gar nichts war. Es reichte nicht mal, um davon zu leben, wenn sie Rinder gezüchtet oder Sojabohnen oder Wassermelonen angebaut hätte, die typischen Feldfrüchte in diesen Breiten. Aber jetzt brauchte sie keine Tiere mehr zu züchten, und sie brauchte auch nichts mehr anzubauen. Sie konnte sich voll und ganz auf ihre Pferde konzentrieren. Carly wiederholte eindringlich: »Kauf Land.« Zelda Marie erwiderte, sie würde darüber nachdenken. Im Moment aber habe sie mehr Interesse an einem Haus. »Laß uns mit Dan reden, solange du hier bist. Normalerweise nimmt er sich nicht die Zeit für ein einzelnes Privathaus, aber vielleicht tut er mir diesen speziellen Gefallen.« Carly sah wunderschön aus, sogar mit ihrem dicken Bauch. »Bist du glücklich?« wollte Carly von ihrer Freundin wissen. Das war eine Frage, über die sich Zelda Marie selten Gedanken machte. »Ich bin schon seit Joe Bobs Tod glücklich.« »Du siehst besser aus denn je.« »Ich werde bald noch besser aussehen. Ich werde mir Unmengen von Kleidern kaufen, obwohl ich nicht weiß, wo ich sie tragen sollte.« »Unternimmst du denn gar nichts? Gehst du nicht aus?« Zelda Marie schüttelte den Kopf. »Eine Zeitlang habe ich es getan, aber dann hat Joel mir einen Heiratsantrag gemacht, und das war das Ende.« Carly trank ihren Mangotee und sah sie fragend an. Sie saßen auf der Terrasse, die einen Ausblick auf die riesige Rasenfläche bot, auf den Pool und auf Bäume, die so dicht wie ein Wald waren und an das Anwesen grenzten. »Wir sind ein paar Monate lang ab und zu miteinander ausgegangen«, erklärte Zelda Marie, »aber ich bin nie dahintergekommen, ob er mich um meiner selbst willen wollte oder ob er geglaubt hat, mir stünde ein Haufen Geld ins Haus. Und außerdem hat er nie auch nur einen Funken Glut in mir entfacht.« »Hast du mit ihm geschlafen?« fragte Carly. »So dumm bin ich nicht. Ich mußte mir zwar den Eileiter abbinden lassen, aber trotzdem bin ich nicht so blöd, daß ich nicht wüßte, was passiert. Wenn eine Frau mit einem Mann ins Bett geht, dann geraten ihre Gefühle in Aufruhr, und bei den Männern ist das nicht zwangsläufig der Fall. Das weiß ich nur zu gut.« »Hast du dir Gedanken darüber gemacht, was geschieht, wenn du dich verliebst und heiraten möchtest, und der Mann wünscht sich ein Kind von dir?« Zelda Marie lachte. »Das ist höchst unwahrscheinlich. Ich bin weiß Gott oft genug schwanger gewesen, nein, danke. Und außerdem hat es jeder Mann, der bereit ist, sich mit 278
mir und meinen Kindern einzulassen, nicht nur auf mich abgesehen, sondern vor allem auf mein Geld. Dieses Geld ist eine Last, verstehst du«, sagte sie, doch sie sagte es lächelnd. »Ich habe mehr mit Pferden im Sinn als mit Männern. Ich glaube, dieser neue Pferdekenner, der seit ein paar Monaten bei mir ist, sichert mir den Erfolg. Ich möchte, daß mein Stall im ganzen Land bekannt wird. Ich glaube, seit ich Rafael habe, stehen meine Chancen gut.« »Rafael?« Zelda Marie nickte. »Alles, was er nicht über Pferde weiß, ist nicht wissenswert. Im Umgang mit Pferden ist er der phantastischste Mensch, der mir je begegnet ist.« Und ohne sich darüber klar zu sein, was sie sagte, fügte sie hinzu: »Und auch im Umgang mit Kindern.« Carly musterte ihre Freundin. Der veränderte Ton in ihrer Stimme war ihr nicht entgangen, doch sie erwiderte nur: »Sieh dir uns an. Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, daß wir heute da sind, wo wir sind?« »Sogar noch vor fünf Jahren.« Beatriz, Carlys neues Hausmädchen, erschien in der Tür und rief sie ans Telefon. Carly erhob sich etwas mühsam. »Ich bin sofort wieder da.« Zelda Marie schaute sich um. Carlys Haus war schöner als jedes andere, das sie je gesehen hatte. Sie tätigte auf dem Immobilienmarkt Geschäftsabschlüsse, bei denen es um Millionen ging. Und sie war gerade erst dreißig geworden. Zelda Marie fragte sich, was sie für denselben Zeitraum auf dem Planeten vorzuweisen hatte. Wenn sie sich jetzt ein neues Haus bauen ließ, dann hatte sie das nicht irgendwelchen Dingen zu verdanken, die sie getan hatte. Es lag nur daran, daß all dieses Öl unter ihrem Land verborgen war. Und wenn ihr Vater es ihr nicht geschenkt hätte, dann wäre es noch nicht einmal ihr Land gewesen. Sie hatte wohl tatsächlich nicht viel mehr getan, als Kinder zur Welt zu bringen. »Der Anruf war von Tessa«, teilte Carly ihr mit. »Wir werden mit ihr und Alex zu Mittag essen. Alex ist auch schwanger. Es wird wirklich Zeit, daß meine drei besten Freundinnen sich kennenlernen.« Der Gesprächsfluß wurde jedoch durch Zelda Maries Anwesenheit gehemmt. Zum erstenmal erkannte Carly, daß ihre Kindheitsfreundin nicht zu den Menschen paßte, mit denen sie in Houston Umgang pflegte. Zelda Maries Grammatik war nicht immer korrekt, und die 279
Gespräche, die von Tessa, Alex und Carly als anregend empfunden wurden, überstiegen bei weitem Zelda Maries Horizont. Sie sagte am Anfang hin und wieder etwas, doch Tessa und Alex sahen sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, und so hörte sie nach einiger Zeit nur noch zu. Die Freundinnen lachten über Dinge, die ihr absolut fremd waren. Sie sprachen über die neuesten Entwicklungen in dem Einkaufszentrum, von dem ihr Carly schon ein wenig erzählt hatte. Carly schien von diesem Projekt besessen zu sein. Zelda Marie war nicht eine Sekunde lang klar, daß sie mit den drei dynamischsten Geschäftsfrauen von Houston zu Mittag aß. Sie wußte lediglich, daß sie sich in dieser Gesellschaft nicht wohl fühlte. Vielleicht empfand sie genau das, was Carly in Verity empfunden hatte. Sie hatte Carly schon früher nicht verstehen können, denn Zelda Marie lebte schon immer in Verity, und es hatte ihr dort auch immer gefallen. Sie war in Verity geboren worden, genauso wie ihre Eltern und der Vater ihres Vaters und vor ihm schon dessen Vater. Und sie kannte so ziemlich jeden gebürtigen Texaner dort, ebenso wie sie alle kannten. Sie hatte nie jemandem etwas vormachen müssen. Jeder wußte, wer sie war, oder zumindest, wer ihr Daddy war. Aber hier in Houston hatte sie das Gefühl, nicht dazuzugehören. Sie stammte aus einer der ältesten Familien in Verity, die dort schon ihre Ranch hatte, als von einem Städtchen noch nicht wirklich die Rede sein konnte, und die einzige zwischenmenschliche Beziehung in ihrem Leben, die sie jemals in Frage gestellt hatte, war die zu ihrem Mann gewesen. Und jetzt, bei diesem Mittagessen, hatte sie plötzlich das Gefühl, daß es nicht die geringste Rolle spielte, wer sie war. Und dieses Gefühl behagte ihr nicht. Sie ließ sich nicht einmal die Zeit, all diese schicken Kleider zu kaufen, die sie sich erträumt hatte, und sie ließ sich auch nicht die Zeit, mit Dan über den Entwurf eines Hauses zu reden. Sie fuhr gleich am nächsten Tag ab, und während der ganzen Heimreise sah sie ein braungebranntes Gesicht mit einem schwarzen Schnurrbart und glänzenden dunklen Augen vor sich, die sie magnetisch anzogen. Sie fragte sich, ob er sich wohl in einem fremden Land entwurzelt fühlte. Für sie war Houston so fremd wie das Ausland, ja sogar noch fremder. Empfand Rafael etwa das gleiche? Würde er, sähe er andere Möglichkeiten, Verity so fluchtartig verlassen wie sie Houston? Würde er nach Mexiko zurückkehren, obwohl sie ihn so sehr brauchte? Oder würde die schwarzäugige Tochter irgendeines 280
Mexikaners, dessen Familie schon länger in Texas lebte als irgendein Amerikaner, ihn für sich gewinnen und ihn in ihre Familie hineinziehen? Das würde ihn in Verity halten. Nicht zum erstenmal fragte sie sich, ob er im Bett wohl dieselbe Sprache benutzte, in der er mit Pferden redete.
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44 Boomers Sekretärin streckte den Kopf zur Tür herein. »Mistress Coleridge ist auf Apparat zwei.« Boomer nahm den Hörer ab. Zweifellos hatte sie schon wieder eine neue Idee, obwohl es jetzt täglich soweit sein konnte, daß sie ihr Kind zur Welt brachte. »Carly?« Carly klang fix und fertig. »O Boomer, ich kann Cole nicht erreichen.« »He, du bist doch selbst schon oft genug in Mexiko gewesen, um zu wissen, daß die Telefonleitungen dort tagelang tot sein können. Wochenlang. Angeblich werden gerade jetzt im Hotel die Telefone installiert, aber bei Telemex weiß man das nie so genau. Ich habe es gestern abend auch probiert und hatte keinen Erfolg. Kann ich dir irgendwie helfen?« »Ich fand nur, er sollte es wissen. Die Fruchtblase ist geplatzt, und ich werde jetzt ein Taxi rufen und mich ins Krankenhaus bringen lassen. Bei Alex und Tessa habe ich es auch schon ewig oft versucht. Es ist niemand zu erreichen. Es ist zwar zwei Wochen zu früh, aber…« Boomer fiel ihr ins Wort. »Ruf kein Taxi. Ich komme sofort rüber. Es wird keine zwanzig Minuten dauern, Carly. Hältst du noch so lange durch?« Carly öffnete ihm die Tür und schlang die Arme um seinen Hals. Dann deutete sie auf ihren kleinen Koffer. Boomer hielt ihr die Wagentür auf, und Carly zwängte sich schwerfällig auf den Sitz. »Ich kann mich nicht anschnallen. Der Gurt ist nicht lang genug.« Boomer fuhr wie ein Irrer und bahnte sich in einem geschickten Zickzackkurs einen Weg durch den Verkehr. »Ich habe den Arzt schon angerufen«, sagte Carly. »Er sollte dasein. Boomer, du bist ein richtiger Schatz.« Carly biß sich auf die Zähne, um vor Schmerzen nicht laut zu schreien, und sie hoffte nur, sie würden es noch rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen. Sie hatte wahrhaftig nicht vor, Boomers Mercedes zu versauen. Er hielt vor dem Noteingang, und sein Adrenalin floß in Strömen. Ein Rollstuhl wurde neben die Wagentür gestellt. Ein Pfleger öffnete die Tür, streckte die Arme aus, um Carly zu helfen, und schob sie schleunigst eine kleine Rampe hinauf und durch die automatischen Schiebetüren. Boomer parkte den Wagen, und dann blieb er einen Moment stehen und holte tief Luft. Er lief durch die Eingangshalle zu den Aufzügen. Als er im fünften Stock angekommen war, teilte er 282
der diensthabenden Krankenschwester mit, er wolle zu Mrs. Coleridge. »Es werden gerade alle Vorbereitungen getroffen, und sie wird jeden Moment in den Kreißsaal gebracht werden, Mister Coleridge«, teilte sie ihm mit. »Aber das Wartezimmer für die Väter finden Sie hinter dieser Tür da drüben. Es gibt dort eine Kaffeemaschine und einen Sandwichautomaten, und wir werden Ihnen Bescheid sagen, sobald das Baby kommt.« Mr. Coleridge. Er beließ es dabei. Vielleicht hätten sie ihn andernfalls nicht dort warten lassen. Er betrat das Wartezimmer. Niemand sonst war darin. Er setzte sich und nahm eine Zeitschrift in die Hand, auf deren Titelblatt ein Footballspieler abgebildet war. Er nahm kein einziges Wort zur Kenntnis, während er darin herumblätterte. Es kam ihm wie ein Monat vor, doch es war kaum eine Stunde vergangen, als eine Schwester eintrat. »Mister Coleridge, Sie haben einen Sohn. Er wiegt acht Pfund und zehn Gramm, und der Arzt sagt, er sei ein wunderschönes Baby. In etwa zehn Minuten können Sie ihn sehen.« »Und was ist mit Mistress Coleridge?« fragte Boomer. »Ist alles in Ordnung mit ihr?« »Sie ist kerngesund. Es hat nicht die geringsten Komplikationen gegeben. Das reinste Kinderspiel, hat der Arzt gesagt. Auch sie können Sie in ein paar Minuten sehen, aber sie ist ziemlich erschöpft.« Er würde Cole benachrichtigen müssen, Señor Rosas in Monterrey anrufen und ihn bitten, Cole ausfindig zu machen. Er hoffte nur, Cole würde eine Möglichkeit finden, Carly anzurufen, und dann das nächste Flugzeug nehmen und zurückkommen. Der Arzt trat ins Wartezimmer, und auf seinem Gesicht war ein Lächeln, bis er sich umgesehen hatte. »Sie sind doch gar nicht der Ehemann, stimmt’s?« »Ich bin ein alter Freund. Mister Coleridge ist im Ausland. Ich habe sie hergefahren.« »Aha. Also gut, folgen Sie mir.« Carlys Haar war zerzaust und durchnäßt, ihr Teint bleich. Sie streckte einen Arm aus, um Boomers Hand zu drücken, wenn auch matt. »Hast du ihn schon gesehen?« Boomer schüttelte den Kopf und blickte lächelnd auf sie hinab. »Noch nicht«, antwortete er, »aber ich werde ihn mir gleich anschauen.« 283
»Würdest du die Coleridges anrufen?« bat sie. »Mistress Coleridge wird einen Anfall kriegen, weil sie nicht hier war.« Boomer konnte sich das lebhaft vorstellen, da er Maude Coleridge einmal kennengelernt hatte. »Und ruf meine Mutter an.« Carly rasselte Franceys Telefonnummer runter. »Sag ihr, daß ich mich heute abend bei ihr melden werde, wenn ich wieder klarer denken kann. Du versuchst doch auch, Cole zu erreichen?« Dann schlief sie ein. Eine Schwester eilte herbei. »Möchten Sie jetzt vielleicht Ihren Sohn sehen?« fragte sie Boomer. »Sie können ihn durch die Glasscheibe weiter hinten im Gang rechts anschauen. Er ist der mittlere in der vorderen Reihe. Sieht aus wie ein kleines Streifenhörnchen.« Boomer beugte sich vor und drückte Carly einen Kuß auf die Stirn. Dann richtete er sich wieder auf und blickte sich um. Es war niemand in der Nähe. Er beugte sich noch einmal vor und küßte ihre Lippen. Dann lief er den Korridor hinunter und blieb vor der Säuglingsstation stehen, und dort lag Carlys Sohn, in eine blaßblaue Decke eingehüllt, mit ausdruckslosem Blick und fleckiger rot-weiß gesprenkelter Haut. Boomer lachte laut und konnte selbst nicht verstehen, warum er sich so außerordentlich beschwingt fühlte. Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus pfiff er vor sich hin. Boomer kam jeden Nachmittag ins Krankenhaus, um sie und das nach wie vor namenlose Baby zu sehen. Das mexikanische Telefonsystem zählte zu den unzuverlässigsten weltweit. In dieser kleinen Stadt in der Nähe der neuen Ferienanlage gibt es vermutlich insgesamt keine fünfzehn Telefone, sagte sich Carly. Als sie und Cole vor mehr als fünf Jahren dort gewesen waren, hatte man sie telefonisch überhaupt nicht erreichen können. Damals hatten sie diesen Umstand als äußerst romantisch empfunden. Jetzt sah sie das allerdings anders. Sie mußte feststellen, daß sie allmählich wütend auf Cole wurde, obwohl sie wußte, daß es ja nicht seine Schuld war. Schließlich war das Baby erst in zwei Wochen erwartet worden. Vielleicht hatte sie sich verrechnet. Komisch, daß aus Boomer ein so guter Freund geworden war. Aber die meiste Zeit über dachte Carly an Ben. Mrs. Coleridge hatte Carly berichtet, sie habe Ben angerufen. Die Schwester riß sie aus ihren Träumereien heraus, als sie das Baby zum Stillen brachte. Es war der dritte Tag, der Tag, an dem die Milch gekommen war, und sie hatte das Gefühl, daß sich ein Gewicht von einer Tonne auf ihre Brust herabsenkte. 284
Sie streckte die Arme nach ihrem Baby aus. Seine Haut war jetzt nicht mehr fleckig, die Stirn hatte sich gerundet, und die großen Augen blinzelten unter den längsten Wimpern, die sie je an einem so kleinen Kind gesehen hatte. Haarbüschel standen von seinem Kopf ab. Sie fand, daß ihr kleiner Junge das schönste Baby auf der ganzen Welt war. Sie nahm ihn an die Brust und fragte sich, wie eine Frau, die genügend Milch hatte, nur beschließen konnte, ihr Kind nicht zu stillen. Sie seufzte vor Zufriedenheit, als der Kleine zu saugen begann. Während sie ihr Baby ansah, beschloß Carly, von jetzt an einen großen Teil ihrer Arbeit zu Hause zu erledigen. Sie wollte die Arbeit nicht aufgeben, nicht jetzt, denn das Einkaufszentrum trat gerade in die spannendste Phase ein, aber sie konnte die Bibliothek, die sie nur selten benutzten, in ein Büro umwandeln. Sie betrachtete ihr Baby, dieses Geschöpf, das in ihrem Körper gewachsen war, und wußte, daß sie ihre Zeit mit ihm verbringen wollte. Sie hatte zuverlässiges Verkaufspersonal und einen vertrauenswürdigen Assistenten, der das Büro leiten konnte und zu dem sie täglich Kontakt haben würde. Sie lächelte, als der Kleine aufhörte zu saugen und tief Atem holte. In ihren Ohren klang es wie ein Seufzer tiefster Zufriedenheit, und die kleinen Finger umklammerten einen ihrer Finger. Sie beugte sich vor und küßte den Flaum auf seinem Kopf. Dann drückte sie das Baby an sich, als es regelmäßig zu atmen begann. Sie konnte deutlich erkennen, daß es eingeschlafen war. Anschließend ließ sie ihren Blick durch das Zimmer wandern, das voll von Blumen war. Die Schwestern hatten bereits gesagt, ihnen gingen die Vasen aus. Carly war gar nicht klargewesen, wie viele Menschen sie so gut kannte, daß diese innerhalb kürzester Zeit von ihrem Krankenhausaufenthalt erfuhren. Cole würde es sich nicht verzeihen, daß er nicht dagewesen war, soviel stand für Carly fest, aber Bens Ausbleiben bewirkte in einem viel höheren Maß, daß sie sich zurückgewiesen fühlte. Nicht ein einziger Anruf, geschweige denn ein Besuch. Sie mußte sorgsam darauf achten, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. Sie durfte sie noch nicht einmal empfinden. Tag für Tag schauten Boomer, Tessa und Alex bei ihr herein, jeder, wann er gerade Zeit hatte. Eigentlich bekam sie mehr Besuch, als ihr lieb war. Manchmal wollte sie an den Nachmittagen einfach nur schlafen, doch sie hatte kaum die Augen geschlossen, und schon tauchte jemand auf, gewöhnlich mit Blumen oder einem Geschenk für das Baby. Carly hatte es abgelehnt, sich vom 285
Krankenhauspersonal nach Hause fahren zu lassen, sondern sich dafür entschieden, Mrs. Coleridges Angebot, sie abzuholen, anzunehmen, da sie wußte, wieviel Freude sie ihrer Schwiegermutter damit bereiten würde. Als Mrs. Coleridge am Tag der Entlassung, es war der vierte nach ihrer Einlieferung, um elf Uhr erschien, wurde sie von Ben begleitet. Er hatte einen kleinen Veilchenstrauß in der Hand, und auf seinem Gesicht war ein Lächeln, doch Carly bemerkte, daß seine Augen ausdruckslos waren. Er hielt ihr das Sträußchen hin und sagte: »Eine Kleinigkeit für die Mutter.« Carly wußte, was er meinte, aber nicht sagte: die Mutter meines Babys. In dem Moment brachte die Schwester ihren Sohn. Ihr folgte ein Pfleger mit einem Rollstuhl. »Ich weiß nicht, wie Sie auf den Gedanken kommen, ich könnte nicht laufen«, meinte Carly. »Ich habe mich im ganzen Krankenhaus herumgetrieben.« »Nein, das ist gar nicht wahr«, entgegnete die Schwester. »Sie haben die ganze Zeit vor diesem Fenster gestanden und Ihr Baby angesehen.« Carly lachte. »Er ist wunderschön, nicht wahr?« Dann bat sie die Schwester: »Lassen Sie meinen Schwager den Kleinen halten.« Diese zog die Augenbrauen hoch, als erschiene ihr das äußerst fragwürdig, doch dann hielt sie Ben seinen Sohn hin. Er streckte den gesunden Arm nach ihm aus und streichelte das faltige kleine Gesicht, ehe er seinem Sohn tief in die Augen sah. Die Schwester hielt das Baby hoch, und Ben gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Ich wußte gar nicht, daß Babys so zart sind«, flüsterte er. Und dann fragte er: »Wie heißt er?« Carly schüttelte den Kopf. »Als Cole abgereist ist, hatten wir noch keine endgültige Entscheidung getroffen. Ich dachte, ich warte lieber, bis er zurück ist.« »Ach ja«, sagte Mrs. Coleridge, als hätte sie es ganz vergessen, »gerade als ich aus dem Haus gehen wollte, hat er aus Guadalajara angerufen und mitgeteilt, daß er in drei Stunden zu Hause sein werde. Mister Rosas hat ihn erst heute morgen erwischt. Er schien außer sich zu sein, weil er nicht hier war.« »Ja, das glaub ich«, erwiderte Carly und sah dabei Ben an. Die Schwester drückte Carly das Baby zusammen mit dem kleinen Veilchenstrauß von Ben in die Arme. Als der Pfleger sie durch den Gang zum Aufzug schob, spürte sie Bens Hand auf ihrer Schulter, 286
und sie blieb dort auf dem ganzen Weg durch den Krankenhauskorridor, vereinte Mutter, Vater und Sohn. Carly spürte, daß Tränen in ihre Augen traten, und sie blickte zu Ben auf, der starr vor sich hin sah. »Dieses Baby«, sagte Mrs. Coleridge zu Ben, »schaut haarscharf so aus, wie du bei deiner Geburt ausgesehen hast. Ihr seid beide Großvater Wheaton wie aus dem Gesicht geschnitten.«
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TEIL IV
1979-1981
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Das Licht bewegte sich zu gleichmäßig und konnte daher kein Glühwürmchen sein, doch es tanzte durch die dunkle Nacht. Zelda Marie, die auf der Veranda auf der Schaukel saß, starrte es gebannt an. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und sie konnte die Umrisse der Bäume kaum erkennen. Das stecknadelkopfgroße Licht kam vom Weg her, und es nahte aus der Richtung des Hauses, in dem Aofrasia und Carlos lebten. Und Rafael. Und dann wußte sie es. Sie konnte es in den Knochen fühlen. Und sie spürte es auch daran, wie ihre Haut prickelte, und an der Trockenheit in ihrer Kehle. Wie ein Geist tauchte er in seiner weißen Kleidung aus der Dunkelheit auf. Sie vermochte sein Gesicht nicht zu sehen. »Guten Abend, Señora«, sagte er mit seiner melodischen Stimme. Ohne sie zu fragen, setzte er sich auf die Stufen, eine Zigarette in der linken Hand. Lange Zeit sagte er kein Wort. Sie saßen schweigend da, und nur das Zirpen der Grillen und die quietschenden Scharniere der Schaukel waren zu vernehmen. Schließlich drückte er die Zigarette unter seinem Absatz aus und warf den Stummel in die Nacht. »Ich sehe Sie jeden Abend hier draußen sitzen.« Tatsächlich? »Und ich glaube, daß Sie einsam sind.« »Ich bin den ganzen Tag über von Menschen umgeben«, erwiderte Zelda Marie. Jetzt konnte sie seinen Umriß deutlich erkennen, und sie sah, daß er den Kopf schüttelte. »Aber in der Nacht tragen Sie die Einsamkeit in sich.« Sie entgegnete nichts darauf. Nach einer, wie es schien, sehr langen Zeit fragte er: »Vermissen Sie Ihren Mann?« Zelda Marie lachte schneidend. »Nein.« Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. »Ich habe ihn gehaßt.« Und dann begann er über sich zu sprechen. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, er könne einsam sein, da er mit Aofrasia und Carlos und deren Kindern zusammenlebte. »Denkst du oft an deine Frau?« Sie hörte ihn seufzen. »Ich habe schon fast vergessen, wie sie ausgesehen hat. Seit ihrem Tod sind drei Jahre vergangen.« »Hast du sie sehr geliebt?« 289
»Was ist Liebe?« fragte er. »Ich habe sie geheiratet, als ich zwanzig war. Meine Mutter hat sie für mich ausgesucht. Sie war sehr hübsch.« Zelda Marie wußte nicht, was sie darauf sagen sollte. Die Schaukel quietschte. Rafael zündete sich die nächste Zigarette an. Dann meinte er: »Ich glaube, einer von uns beiden, Carlos oder ich, sollte ein Gitter für Ihr Fenster anfertigen. Es ist nicht immer ungefährlich, bei offenem Fenster zu schlafen.« »Ich habe mein Leben lang bei offenen Fenstern geschlafen«, erwiderte Zelda Marie. »Doch jeder kann durch das Fenster einsteigen.« »Ich habe keine Angst.« »Die sollten Sie aber vielleicht haben, Señora.« Sie wäre gern aufgestanden und zu ihm rübergegangen, hätte seine Hand genommen und sich neben ihn gesetzt, ihm das Gesicht zugewandt und in seine Augen gesehen. Sie fürchtete jedoch, er könnte vor ihr zurückweichen und in die Nacht verschwinden, und vielleicht wäre er sogar morgen früh nicht mehr da. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. »Mein Gott, ist das eine heiße Nacht.« »Um diese Jahreszeit ist jede Nacht so heiß«, sagte Rafael. »Es ist sogar noch heißer als dort in Mexiko, wo ich herkomme. Diese Hitze bringt das Blut zum Kochen.« Zelda Marie hätte schwören können, daß kein Laut zu hören war. Sogar ihre Schaukel war verstummt. Dann fragte sie: »Denkst du oft an Mexiko?« »Manchmal«, antwortete er, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber ich habe nicht den Wunsch, dorthin zurückzukehren. Ich bin glücklich hier.« »Ich bin auch sehr glücklich darüber, daß du hier bist«, entgegnete Zelda Marie. Sie hätte ihm gern gesagt, daß er für sie von unschätzbarem Wert war. Statt dessen erklärte sie: »Ohne dich bestünde keine Chance, daß meine Träume wahr werden.« Fünf Minuten mußten schweigend vergangen sein, ehe Rafael auf stand. »Gute Nacht, Señora. Vielleicht sollten Sie besser Ihr Fenster geschlossen halten und die Klimaanlage einschalten. Schließlich wird dieser Teil des Landes nachts von illegal eingewanderten Fremden durchquert.« »Ich fürchte mich nicht vor illegal eingewanderten Fremden«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Ich fürchte mich nicht vor offenen Fenstern und auch nicht davor, was durch diese Fenster 290
hereinkommen könnte.« Sie hob die Hand zum Abschiedsgruß und streifte dabei ihre Brüste, die sich unter der hauchdünnen gelben Bluse heiß anfühlten. Sie beobachtete, wie er auf dem Pfad zurückging, bis der Umriß seiner weißen Kleidung verschwunden war. Sie stellte fest, daß sie schwer atmete. Sie war nicht sicher, ob sie dieses Gespräch tatsächlich verstanden hatte, und doch ließ es sich beim besten Willen nicht anders auslegen. Sollte er recht haben – war sie einsam? Oder begehrte sie ihn schon seit dem Tag, an dem sie ihn zum erstenmal gesehen hatte? Sie hatten selten ein persönliches Wort miteinander gewechselt. Ihre Gespräche drehten sich um Pferde und um ihre Kinder. Und doch verbrachte sie einen großen Teil ihrer Nächte damit, an ihn zu denken, und schlief erst lange nach Mitternacht ein. Zum Beispiel erinnerte sie sich an bestimmte Bemerkungen von ihm und wie seine Hände den Kopf einer Stute berührten. Und sie erinnerte sich an die Worte, die er den Pferden zuflüsterte, und an den Puls, der an seiner Schläfe pochte, und wie er mit ihren Kindern lachte, draußen hinter dem Stall mit ihnen Wurfringe warf, ihnen zeigte, wie man aus feinem Leder Halfter schnürt, und jetzt fing er an, Mike das Cutting beizubringen, damit er mit seinem Pferd die Rinder zusammentreiben konnte. Sie dachte, daß sie jetzt vielleicht soweit waren, sich an einer der Zuchtpferdeausstellungen zu beteiligen. Es war an der Zeit, daß Rafael seine Künste sehen ließ, daß er stolz darauf sein konnte und seinen Spaß hatte. Morgen würde sie ihn fragen, ob er Interesse daran habe. Sie kannte die Antwort bereits, aber es würde ihr unglaubliches Vergnügen bereiten, zu sehen, wie sich die Freude auf seinem Gesicht widerspiegelte und seine Augen glänzten, und zu wissen, daß sie ihren Teil zu seiner Freude beigetragen hatte. Sie lag eine Stunde lang wach, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und blickte zum Fenster hinaus auf das schwach rauschende Laub der Bäume und auf die Vorhänge, die sich in der weichen, warmen Brise sachte bauschten. Zuerst sah sie nur einen Schatten und dann ein Bein, das über die Fensterbank geschwungen wurde, und schließlich einen Körper, der in ihr Zimmer vordrang, und sie sagte sich: Was, wenn es nicht Rafael ist? Doch er stand da und zeichnete sich als Silhouette gegen das offene Fenster ab. So verharrte er, bis seine Augen sich an die Dunkelheit 291
gewöhnt hatten. Dann sah sie, wie er sein Hemd aufknöpfte, die Hose auszog und auf ihr Bett zukam. Er streckte die Arme nach ihr aus, und als er ihre Nacktheit spürte, entrang sich ihm ein Stöhnen. Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich, und als seine Lippen ihre fanden, spürte sie wieder, wie weich sein dichter Schnurrbart war. Sie mochte seinen Geruch nach Pferden und nach Stall. Und es gefiel ihr, seine Haut an ihrer zu spüren, seine Lippen auf ihrem Mund, zart und doch drängend, ganz anders als jeder Kuß, den Joe Bob oder Joel Miller ihr je gegeben hatten. Die Süße seiner Zunge umfing sie, und sie hörte ein Stöhnen, das sich seinem tiefen Innern entrang. Seine Hände berührten ihre Brüste und glitten federleicht über ihren Bauch, während er zart an ihrem Hals knabberte. Er hatte keine Eile. Behutsam entlockte er ihr Empfindungen, von denen sie bisher nur geträumt hatte, und er berührte sie an Stellen, deren Existenz ihr Joe Bob nie auch nur angedeutet hatte. Er war zärtlich und doch wild und von einer Leidenschaft, wie Zelda Marie sie nie zuvor erlebt hatte. Sie grub ihre Nägel in ihn, biß ihn, preßte ihren Körper an seinen, und ihre Schreie drangen in die Nacht hinaus. Er ging erst kurz vor dem Morgengrauen. Sie hatten kein einziges Wort miteinander gewechselt. Zelda Marie versank in einen traumlosen Schlaf, und als sie drei Stunden später erwachte, war sie sicher, das alles nur geträumt zu haben. So etwas konnte doch in Wirklichkeit gar nicht passiert sein. Rafael wäre niemals in ihr Bett gekommen. Aber auf dem Kissen neben sich sah sie den Abdruck eines Kopfes, seines Kopfes, und auf der Fensterbank lag eine kleine purpurne wildwachsende Blume von der Sorte, wie man sie nur in den Wäldern findet.
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Rafael, der gerade die Pferde fütterte, sah sie nicht an, als sie am Morgen den Stall betrat. Sie schaute zu, wie er die Pferde bewegte, und beobachtete, wie er Dancer ritt und mit ihm eine Hürde nahm, die eine Kerbe höher war als letzte Woche. Sie hörte das leise Murmeln seiner Stimme, als er mit den Pferden sprach. Das einzige, was er zu ihr sagte, war: »Guten Morgen, Señora.« Am Abend wartete sie darauf, daß Rafael erschien, doch das tat er nicht. Er kam weder über den Weg auf das Haus zu, noch stieg er durch ihr Fenster ein. Sie hätte ihn gern gefragt, warum er nicht gekommen war, doch er sprach kaum ein Wort mit ihr. Sogar über die Pferde redete er nicht. Sie fragte sich, ob er eine andere Frau hatte, eine Mexikanerin. Wenn sie ihn auf dem Rücken eines Pferdes sah, hätte sie sich am liebsten die Bluse heruntergerissen. Sie wollte sich mit ihm im Heu wälzen und sich leidenschaftlich von ihm lieben lassen. Sie wollte, daß er ihre Brüste mit Küssen bedeckte, und seine Zunge über sie gleiten ließ. Sie wollte ihn nackt in der Sonne sehen, wollte ihren bleichen Körper an seine goldene Haut schmiegen. Sie wünschte, sein Schnurrbart würde ihre Schenkel kitzeln und seine Zunge würde sich um ihre winden. Sie wollte eins mit ihm sein. Drei Nächte später kam er wieder durch das Fenster. Diesmal tat er ihr weh, nicht absichtlich, aber er nahm sie mit einer solchen Leidenschaft und Glut, daß sie am nächsten Tag wund war. Beim Frühstück fand sie neben ihrem Gedeck im Eßzimmer eine einzelne rote Rose vor. Sie begann sich ihres Körpers auf eine Art bewußt zu werden wie nie zuvor. Sie trug jetzt Röcke, die ihre phantastischen Beine zeigten, und tief ausgeschnittene, enganliegende Rüschenblusen aus Baumwolle. Sie kaufte große goldene Kreolen, die an ihren Ohren baumelten. In Corpus Christi konnte sie kein Chanel No. 5 auftreiben, und so entschied sie sich für My Sin. Wenn sie nicht draußen im Stall war, trug sie Riemchensandalen, und sie lackierte sich die Zehennägel. »Es muß einen neuen Mann in deinem Leben geben«, sagte ihre Mutter. »Was ist eigentlich aus diesem Joel Miller geworden?« »Den habe ich doch schon seit Jahren nicht mehr gesehen.« Es war nur gut, daß Aofrasia putzte, kochte und wusch, denn Zelda 293
Marie war besessen, und nichts und niemand sonst zählte noch. Vier Monate, nachdem Rafael zum erstenmal durch ihr Fenster eingestiegen war, fuhren an einem Sonntag die verbeulten Pick-ups und die zehn Jahre alten Wagen wie immer den Weg hinunter, und Zelda Marie riß sich zusammen, solange es nur irgend ging. Sie wartete bis weit in den Nachmittag hinein, denn sie wußte, daß sie jetzt ihre pikanten Speisen aßen. Auf einem alten Plattenspieler wurden verkratzte Platten gespielt, und es war ihr nahezu unerträglich, da sie sich fragte, ob Rafael wohl neben einem dunkelhaarigen jungen Mädchen saß, das ein Bein an seinem rieb, oder ob er mit einem Mädchen, das glaubte, zu ihm zu gehören, im Gras tanzte. Da sie sich magnetisch von dem kleinen Haus am Ende des Feldwegs angezogen fühlte, fragte sie sich, ob es die Mexikaner wohl in Verlegenheit bringen würde, wenn sie dort auftauchte, ob Carlos, Aofrasia und Rafael sich unbehaglich fühlen würden und ob es ihnen peinlich vor ihren Freunden wäre. Sie malte sich das Schweigen aus, das die Ankunft der Doña hervorrufen wurde, der Señora, die keine von ihnen war. Sie war die Gringa, von der sie bezahlt wurden. Aber als sie an der großen Eiche die Wegbiegung erreichte und das kleine Haus in Sicht kam, in dem sie so viele Jahre mit Joe Bob gelebt hatte, tanzte niemand. Etwa zwei Dutzend Mexikaner standen herum, und die Frauen bereiteten das Essen zu. Auf dem langen Tisch türmten sich bereits Berge von Tortillas, Schüsseln mit dampfendem Reis, Salsa, Zwiebeln, Rettiche, geriebener Käse und Guacamole. Der Geruch nach würzigen Grillhähnchen hing in der Luft. Zelda Marie wurde von einem Heißhunger gepackt. Die erste, die sie bemerkte, war Aofrasia. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und kam auf sie zu. Als Rafael aufblickte, sah er Zelda Marie neben dem Baum stehen. Er verstummte mitten im Satz und erstarrte, während er sie über all diese Menschen hinweg anschaute. Aofrasia lächelte freundlich. »Señora, willkommen.« »Es klang, als hättet ihr alle soviel Spaß miteinander…« Ao legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zu der Gruppe. »Kommen Sie, essen Sie mit uns. Wir haben reichlich.« Zelda Marie bemühte sich, ihre Blicke von Rafael loszureißen und etwas Freundliches zu sagen. Sie verspürte eine große Erleichterung. Er hatte dagestanden und sich mit drei anderen Männern unterhalten, war nicht von jungen Frauen umgeben. »Señora.« Er kam an ihre Seite. Zum erstenmal seit Tagen sah er ihr 294
in die Augen. In dem glänzenden Schwarz konnte sie eine Zärtlichkeit erkennen, die ihr noch nie zuvor ein Mann entgegengebracht hatte. Es war also in Ordnung, daß sie gekommen war. »Ich hoffe, es macht euch nichts aus«, sagte sie. »Wir fühlen uns geehrt, Señora«, erwiderte Ao. Rafael saß nicht neben ihr, aber er setzte sich am Tisch ihr gegenüber, und sie bemühte sich, ihn nicht anzusehen, doch alle Anwesenden am Tisch nahmen die Glut wahr, die von den beiden erzeugt wurde. Zwei Frauen mit grauem Haar und faltiger Haut nickten und versuchten noch nicht einmal, ihr Lächeln zu verbergen. Niemandem konnte entgehen, wie penetrant Rafael und Zelda Marie einander nicht ansahen. Sie bemühte sich, sich auf die Unterhaltung der Frauen zu konzentrieren. Sie sprachen eine Mischung aus Englisch und Spanisch und bezogen sie ganz selbstverständlich mit ein. und obwohl sie nicht mehr als die Hälfte dessen verstand, was gesagt wurde, brachte es sie nicht in Verlegenheit. Sie legten Begeisterung an den Tag, wenn sie versuchte, ihr begrenztes spanisches Vokabular einzusetzen. Sie redeten über Kinder, über Kochrezepte und über Filme. Sie sprachen über eine Frau, die nach einer langen Krankheit gerade gestorben war, und über den armen Mann, der sich jetzt um zwei Kinder kümmern mußte, eines von eineinhalb Jahren, das andere noch nicht ganz drei. Dann unterhielten sie sich über eine alte Frau, die schon so alt war, daß sich niemand mehr daran erinnern konnte, wann sie geboren worden war, aber sie war hier in Texas zur Welt gekommen, hatte jedoch nie Englisch gelernt. Sie hatte all ihre Angehörigen überlebt, und jetzt hatte sie niemanden, der für sie sorgte. Sie gelobten einander, abwechselnd nach ihr zu sehen und ihr während der Woche die Mahlzeiten zu bringen. Dann kam die Rede auf eine Frau, die im Kindbett gestorben war, weil das Baby falsch gelegen und der Arzt, da er wußte, daß man ihn nicht bezahlen würde, sich geweigert hatte zu kommen. Er war auch nicht bereit gewesen, die Frau in seiner kleinen Krankenstation aufzunehmen. Die einzige erfreuliche Nachricht, die Zelda Marie zu hören kriegte, war, daß eine der Frauen eine Nichte hatte, die Tochter ihres Bruders, die in der High-School zum beliebtesten Mädchen gewählt worden war – unter den Mexikanerinnen, versteht sich. Im Jahrbuch, daran konnte sich Zelda Marie noch erinnern, gab es von allem zwei, einmal weiß, einmal mexikanisch, der beliebteste Junge, das beliebteste Mädchen, das beliebteste Pärchen, wer am 295
gescheitesten war, wem die größten Erfolgschancen vorausgesagt wurden – jeweils zwei, ein Mexikaner, ein Amerikaner. Das hatte ihr schon immer Rätsel aufgegeben, denn wie ihre Mutter sagte, waren Mexikaner doch schließlich auch Amerikaner, sogar Nordamerikaner. Wenn sie sich umschaute, hatte Zelda Marie den Eindruck, daß die Mexikaner alle gut aussahen, mit Ausnahme dieses armen kleinen Jungen, der nach innen schielte. Vielleicht konnte sie etwas unternehmen, um ihm dabei zu helfen, ihn vielleicht in Corpus Christi zu einem Augenarzt bringen. Sie saßen in der Abenddämmerung und lachten und sangen, und sie summte die Melodien mit. Sie kannte die Lieder zwar nicht, aber sie war glücklich und zufrieden und vergaß völlig, daß ihre Kinder sich fragen würden, wo sie wohl steckte, daß sie sich zum Abendessen Brote mit Erdnußbutter und Marmelade schmieren und hinterher fernsehen oder draußen rumlaufen und Glühwürmchen fangen würden, die sie in Gläsern sammelten. Obwohl Mike inzwischen schon zu alt für diese Dinge war. Vielleicht waren sie alle schon zu alt. Sally Mae war jetzt dreizehn. Und hier saß sie, schon einunddreißig, und von einer Leidenschaft erfaßt, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte.
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47 »Dad hat mir einen neuen Job angeboten«, sagte Cole. »Setzt er sich zur Ruhe?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Er ist ja noch keine sechzig.« Carly wußte, daß der Job seines Vaters Coles Traum war. Schon seit seiner Rückkehr mit einem abgeschlossenen Universitätsstudium war er der Direktor von Union Trust gewesen, und diese Tätigkeit hatte er in den letzten dreizehn Jahren ausgeübt, ohne jede Hoffnung auf etwas Besseres, solange Mr. Coleridge sich nicht entweder zur Ruhe setzte oder starb. »Oben in Destin gibt es eine Spar- und Darlehenskasse, die er gern kaufen würde. Und wenn er das tut, dann würde er mich zum Generaldirektor machen.« »Destin?« Carlys Stimme überschlug sich. Destin mochte zwar größer sein als Verity, aber nicht allzuviel. Die Stadt war gewachsen, damit die Farmer und die Rancher in der näheren Umgebung einen Ort hatten, wo sie einkaufen und zur Bank gehen konnten. Sie war nie dagewesen, aber es war eine Kleinstadt, ein besseres Kaff, soviel wußte sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Cole beantwortete ihre ungestellte Frage. »Wir würden den Hauptsitz nach Houston verlegen. Ich würde weiß Gott nicht dort leben, obwohl es der Ort ist, aus dem meine Großeltern stammen. Es sieht ganz so aus, als würde der Kongreß den Spar- und Darlehenskassen in Zukunft erlauben, überall Hypothekenkredite zu vergeben. Bisher konnten sie nur Kredite für Grundbesitz vergeben, der in ihrem Einzugsbereich liegt. Doch sollte dieses neue Gesetz in Kraft treten, dann erlaubt das einen Cash Flow von liquiditätsarmen in liquiditätsreiche Gebiete und erhöht somit die Möglichkeit der Kreditvergabe.« »Ach?« »Ja. Dad interessiert sich nicht nur dafür, weil es so aussieht, als stünde diese Reform der Kreditvergabe bevor, sondern auch, weil er dort oben geboren worden ist. Also sozusagen aus sentimentalen Gründen, aus einer Form von Anhänglichkeit heraus. Ein Freund von ihm, der dort im Sparkassenvorstand sitzt, hat ihn angerufen. Sie brauchen dringend eine Finanzspritze. Es geht bergab mit ihnen.« »Und weshalb will er etwas kaufen, was vor die Hunde geht?« 297
»Weil die bevorstehende Reform die Geschäftstätigkeit der Sparkassen enorm verändern wird.« »Was ist der Unterschied zwischen einer Spar- und Darlehenskasse und einer Bank?« Cole liebte das Dozieren. »Sparkassen sind entstanden, weil Banken wie unsere kein Geld für Hypotheken verleihen. Spar- und Darlehenskassen ermöglichen der Mittelklasse den Hausbesitz. Regionale Sparkassen verleihen Geld an Leute in den jeweiligen Kleinstädten. Im Moment werden drei Prozent für Spareinlagen bezahlt, und an Hauskäufer wird Geld für sechs Prozent verliehen. Wir könnten unser Geld verdoppeln.« »Ich habe gelesen«, entgegnete Carly, »daß die derzeitige Inflationsrate bei dreizehn Prozent liegt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Investoren ihr Geld bei einer Sparkasse anlegen wollen, die nur drei Prozent zahlt.« »Ich habe dir doch schon gesagt, daß es zu einer Reform kommen wird.« Cole erweckte den Eindruck, als redete er mit einem leicht zurückgebliebenen Kind. »Es ist etwas ins Leben gerufen worden, was sich Geldmarktfonds nennt. Sie sind nicht abgesichert, bringen aber hohe Zinssätze. Das heißt, Investoren können in solche Fonds jederzeit jede beliebige Summe einzahlen und kassieren Zinssätze, die höher als die Inflationsrate oder mindestens genauso hoch sind, und sie können ihr Geld zu jedem beliebigen Zeitpunkt abheben.« »Ist ja irre«, sagte Carly. »Dad und ich glauben, daß das Geld von den Spar- und Darlehenskassen im ganzen Land wie verrückt in Geldmarktfonds fließen wird. Aber das ist eine äußerst riskante Angelegenheit. Die Spar- und Darlehenskassen sind nur zu retten, wenn der Kongreß ihre Versicherungsprämien aufstockt und diese Einlagen absichert. Sichert die Regierung bis zu hunderttausend Dollar ab, wäre es äußerst attraktiv, Geld in eine Spar- und Darlehenskasse zu investieren. Wir könnten uns jetzt ein paar dieser Kassen für ein Butterbrot unter den Nagel reißen, und wenn die Deregulierung durchkommt, was zwangsläufig der Fall ist, wenn Reagan Präsident wird…« »Was bringt dich auf den Gedanken, daß er die Präsidentschaftswahl gewinnen wird?« Carly graute es bei dieser Vorstellung. Für Leute wie sie und Cole mochte das zwar mehr Geld und niedrigere Steuern bedeuten, doch auf die Mehrheit der Bevölkerung sah sie nur sinkende Löhne zukommen. Wenn sie diese Auffassung jedoch 298
einem Coleridge oder irgendeinem ihrer Freunde gegenüber äußerte, wurde sie angesehen, als wäre sie nicht ganz normal. Nur Ben stimmte ihr zu, und sie hegten beide die Hoffnung, Carter würde wiedergewählt werden. Cole fuhr fort: »Den Spar- und Darlehenskassen wird es gestattet werden, Geldmarktfonds und eine große Bandbreite von anderen Kontoarten anzubieten, Einlageformen ohne finanzielle Nachteile bei einer vorzeitigen Abhebung und ohne Zinsbindung.« Cole grinste breit. »Die Sparkassen – oder vielleicht sollte ich besser sagen, wir – könnten eventuell bis zur Hälfte unserer Vermögenswerte in auswärtigen Hypothekenkrediten an Gebietsfremde investieren.« »Handelskredite sind wesentlich riskanter«, sagte Carly. »Ja, aber die möglichen Gewinne sind auch wesentlich höher.« »Dann wären eure Spar- und Darlehenskassen eventuell anfällig für hohe Verluste.« Cole schüttelte den Kopf, als wollte er damit alles abtun, was Carly gesagt hatte. »Sie werden von der Regierung abgesichert sein, verstehst du das denn nicht? Das ist eine so sichere Sache, daß nicht das geringste Risiko damit verbunden ist.« »Was passiert, wenn die Regierung für irgendwelche Verluste aufkommen muß?« »Das heißt, daß wir – die Sparkassen – nicht zu bezahlen brauchen. Sicherer geht es gar nicht.« Und was ist mit den Steuerzahlern? Das war die Frage, die Carly nicht stellte, obwohl sie ihr durch den Kopf ging. Was ist mit den Steuergeldern der Leute mit durchschnittlichem Einkommen? »In der Praxis sieht es so aus, daß der Kongreß die Branche der Sparund Darlehenskassen nicht einfach untergehen lassen kann. Wenn dieser Markt zusammenbricht, dann wird die finanzielle Stabilität des ganzen Landes gefährdet sein. Und außerdem wird es, wenn die Aufhebung erfolgt – und Reagans Ratgeber werden dafür sorgen, daß es dazu kommt –, so aussehen, daß das Gesetz geändert werden muß, in dem vorgeschrieben wird, eine Spar- und Darlehenskasse müsse vierhundert Aktionäre haben, von denen keiner mehr als fünfundzwanzig Prozent besitzt. Eine ideale Gesetzesänderung wird es möglich machen, daß eine Einzelperson eine Sparkasse besitzt.« »Ein alleiniger Besitzer? Eine Einzelperson, die darüber entscheidet, wer Kredite bekommt und zu welchem Zinssatz? Jetzt hör bloß auf, Cole. Das wird zu Korruption führen.« »O Carly, es ist doch immer wieder deutlich zu erkennen, daß du 299
nicht das geringste vom Bankwesen verstehst.« Carly schüttelte den Kopf. In den neun Jahren ihrer Ehe hatte sie diese Worte mehr als einmal gehört. Manchmal glaubte sie ihm. Aber dann unterhielt sie sich in Verity mit Walt, und er sagte, ihre Auffassungsgabe und ihr Verständnis der Finanzwelt und des Bankwesens seien überdurchschnittlich. Sie wußte mit Sicherheit, daß sie sich auf dem Immobiliensektor blendend auskannte, und dort hatte man weiß Gott mit hohen Geldsummen zu tun. »Jemand, der sein Kapital auf seiner eigenen Bank erhöhen will, kann Grundbesitz oder andere Vermögenswerte einsetzen. Aber woher werden die eigentlichen Bargeldeinlagen stammen?« Cole seufzte und legte seine Gabel hin. »Ich weiß selbst nicht, warum ich mir die Mühe mache, dir diese Dinge zu erzählen. Du verstehst das einfach nicht.« Carly versuchte sich zu beherrschen. »Wieso? Weil ich so viele Fragen stelle?« So war das jedesmal. Cole fing an, mit ihr über Geschäfte zu reden, und wenn sie Fragen stellte, brachte er sie schließlich zum Schweigen, indem er sagte: »Du verstehst das einfach nicht.« Er blieb nie so lange bei der Sache, daß sie tatsächlich begreifen konnte, worum es ging. Es endete fast immer damit, daß sie Walt die Fragen stellte, und wenn er es ihr erklärte, kapierte sie sofort, wovon die Rede war. Das waren die Momente, in denen sie das Gefühl hatte, Cole hielte sie nicht gerade für eine besonders gute Ehefrau. Und sie hielt ihn die meiste Zeit nicht gerade für einen besonders guten Vater. Cole hatte Matt nie aus seinem Bettchen geholt und in die Arme genommen, wenn er als Baby geweint hatte, und er hatte sich auch geweigert, seine Windeln zu wechseln. Er reagierte gereizt, wenn der Kleine ein Bäuerchen machte und ihn dabei vollsabberte. Aber jetzt war Matt schon fast fünf, und Cole schmiedete Pläne. Nach zwölf Jahren in St. John’s würde er nach Harvard gehen. Er brauchte nicht unbedingt seinen MBA in Stanford zu machen, obwohl es Cole gefallen würde, wenn er es täte. Er würde in die Fußstapfen seines Vaters treten und Bankier werden, aber wenn er es vorzog, konnte er auch den Beruf des Anwalts ergreifen. Und er würde in Houston bleiben. »Was ist, wenn er nicht in Harvard studieren will?« fragte Carly immer wieder. »Mit Ausnahme von dir haben alle, die wir kennen, an der University of Austin studiert. Da geht man hin, wenn man in Texas beabsichtigt, jemand zu werden.« 300
Cole sah ihr mit einem kühlen Blick fest in die Augen. »Man kann gehen, wohin man will, wenn man ein Coleridge ist. Das solltest du inzwischen wissen.« »Findest du nicht, daß Matt ein Recht hat, auch ein Wort mitzureden, wenn es um sein Leben geht?« »Doch, selbstverständlich. Genauso wie auch ich es hatte. Schließlich wäre ich heute mit Alex verheiratet, wenn es nach meinen Eltern gegangen wäre.« »Vielleicht wärst du mit ihr glücklicher geworden«, murmelte Carly. Cole sagte nichts dazu. An Abenden wie diesem, wenn sie keine Gäste hatten und nicht ausgingen, setzte sich Cole nach dem Abendessen vor den Fernseher und reagierte einsilbig auf Carlys Äußerungen. Daher gab sie jedes Gespräch auf, ging ins Bett und las. Wenn er kurz nach den Spätnachrichten nach oben kam und die Arme nach ihr ausstreckte, die Hände auf ihre Brüste legte und sich an ihrem Rücken rieb, befand sie sich in diesem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen. Er konnte nicht verstehen, warum sie kein Interesse hatte. »Himmel noch mal, rede mit mir«, sagte sie zu ihm. »Du kommst nach Hause und ignorierst mich total, und dann erwartest du, daß ich mit dir schlafen möchte.« Er kehrte ihr den Rücken zu, und sie konnte ihn seufzen hören. In der letzten Zeit schien er ziemlich häufig zu seufzen. Ab und zu zwang sie sich, wach zu werden und still dazuliegen, während Cole in sie eindrang, nachdem er sie kaum auch nur geküßt hatte. Hinterher drückte sich in seinen Seufzern eher Zufriedenheit als Frustration aus, und am Morgen danach war er beim Frühstück stets nett zu ihr. Obwohl sie Matt und ihre Arbeit hatte, wuchs die Leere in ihrem Innern immer mehr an. »Dieses Wochenende könnte ich mir freinehmen«, sagte Francey, als sie und Walt in den Weiden zu Abend aßen, was vier- bis sechsmal in der Woche der Fall war. Das Restaurant war montags geschlossen, und Francey nahm sich jede Woche einen weiteren Abend frei, aber niemals denselben. Sie wollte ihr Personal auf Trab halten, damit es spurte. »Hast du Lust, wegzufahren?« fragte Walt. Sie kamen in der letzten Zeit kaum noch raus. Die Vorstellung reizte ihn. Sie würden einen netten, geruhsamen Ort finden, wo sie am Pool faulenzen, sich in der Sonne aalen und am Nachmittag einander lieben konnten. »Ja, nach Austin«, antwortete Francey unverzüglich. »Nach Austin? Du meinst mit dem Wagen?« 301
»Zelda Marie beteiligt sich dort mit ihren Pferden an einer Ausstellung. Ich dachte mir, sie könnte Verstärkung aus ihrer Heimatstadt gebrauchen.« »Eine Pferdeausstellung?« Das war nicht gerade das, was Walt vorgeschwebt hatte. »Ich bin mit ihr befreundet. Ich möchte gern hinfahren. Sie vertraut sich mir an. Ich würde wetten, daß Zelda Marie mir mehr darüber erzählt, was in ihrem Innern vorgeht, als Carly. Carly will nicht, daß ich weiß, wenn sie unglücklich ist oder wenn sie etwas tut, wovon sie glaubt, daß ich es nicht billigen würde. Aber ich habe selbst genügend Fehlentscheidungen getroffen. Wie käme ich dazu, jemand anderem vorzuschreiben, wie er sein Leben führen soll?« Walt lächelte. »Wenn du diese Fehlentscheidungen nicht getroffen hättest, dann könnte es durchaus sein, daß wir beide heute abend nicht hier säßen.« Francey legte ihre Hand auf seine. »Ganz gleich, was ich auch getan haben könnte, um mich ins Unglück zu stürzen, ehe ich dir begegnet bin, es ist die Mühe wert gewesen, solange es bloß dazu geführt hat, daß ich heute mit dir an diesen Punkt gelangt bin.« Francey aß ihren Salat fertig, legte die Gabel hin und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Und?« »Und?« »Was ist mit Austin? Möchtest du am Wochenende zur Pferdeausstellung gehen?« »Wenn du es willst, dann werden wir es selbstverständlich tun.« »Danke, Walt. Ich weiß, daß es nicht ganz nach deinem Geschmack ist. Also laß uns das luxuriöseste Hotel dort oben nehmen…« »In Austin?« »Und vielleicht finden wir sogar eins, das einen Jacuzzi im Zimmer hat…« »In Austin?« wiederholte er. »Wir könnten am Donnerstag nachmittag rauffahren und am Sonntag zurückkommen.« Es schien, als hätte Walt gegen nichts etwas einzuwenden, was Francey unternehmen wollte. Wenn er sein Leben heute mit den Zeiten verglich, ehe er Francey begegnet war, Zeiten, in denen er nichts weiter getan hatte, als sich Opern anzuhören, Baseballspiele zu verfolgen und ab und zu angeln zu gehen, dachte er, daß er in jenen Tagen vielleicht tot gewesen sei. »Ich gebe Zelda Marie Bescheid, daß wir am Samstag abend mit ihr essen gehen. Sie wird entweder eine Schulter brauchen, an der sie 302
sich ausweinen kann, oder sie wird feiern wollen.« An den Sonntagvormittagen frühstückten Walt und Francey manchmal draußen auf der Ranch. Dann brachte Francey süße Brötchen oder einen selbstgebackenen Kuchen mit und bereitete schaumig geschlagene Omelettes oder deutsche Apfelküchlein zu. Aofrasia hatte sonntags frei, und Zelda Marie konnte man wohl kaum als Köchin bezeichnen. Manchmal waren sie ausgeritten und hatten in den Wäldern das gefrühstückt, was Rafael zubereitet hatte. Rafael fragte Walt, wieviel Geld man haben müsse, um ein Bankkonto zu eröffnen, und an einem Donnerstagmorgen erschien er mit hundertfünfundzwanzig Dollar und wirkte so stolz wie ein Pfau, als er die Bank mit einem Scheckheft in den Händen verließ. Er fuhr in Zelda Maries Pick-up durch die Stadt, kaufte Viehfutter, besorgte manchmal Lebensmittel in dem neuen Supermarkt und tankte den Wagen auf. Inzwischen lief er mit einem Cowboyhut durch die Gegend und trug spitze Stiefel. Seine Hose band er nicht mehr mit einer Schnur zu, sondern jetzt hatte er einen Gürtel mit einer silbernen Schnalle. Und man sah ihn nie ohne ein Halstuch. Francey war beeindruckt von diesem Mexikaner. Sie sagte zu Walt, sie fände, Rafael sehe aus wie ein romantischer Held. »Er ist der großartigste Mann, der mir je begegnet ist.« Sie lächelte Walt an. »Mit Ausnahme von dir, mein Liebling. Ich würde niemals mit einem anderen Mann als dir ins Bett gehen wollen.« Walt stand auf, ließ seine Hose fallen, zog das Hemd aus und hechtete mit einem Kopfsprung in den Pool. Als er an die Oberfläche kam, winkte er sie mit einem Finger zu sich. »Komm her. Beweise es. Zeig mir, daß du nur mich willst.« Francey brauchte keine dreißig Sekunden, um bei ihm im warmen Wasser zu sein. »Mein Gott«, sagte er und unterbrach seinen Kuß gerade lange genug für diesen Satz, »und dabei dachte ich, wir hätten uns schon überall geliebt.« »Im Gewächshaus noch nicht«, murmelte sie und schlang die Beine um seine Taille, ehe sie sich zurücklehnte und ihr Haar sich auf dem Wasser fächerförmig ausbreitete. »Und im Supermarkt auch noch nicht.« Seine Hände glitten über ihre Beine, als er sie ansah. Sie ist der großartigste Mensch, der je geboren worden ist, dachte er. »Und auch nicht in der Kirche und…« »Es sieht ganz so aus, als hätten wir noch Welten zu erobern«, sagte er. 303
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Rafaels Ruf zog immer weitere Kreise. Samstag vormittags unterrichtete er Kinder. Den Eltern war es erlaubt, während des Unterrichts anwesend zu sein, doch sie hatten sich im Hintergrund zu halten. Sein Englisch war zwar inzwischen recht gut, doch ihm war immer noch nicht wohl dabei, vor einer größeren Gruppe Englisch zu sprechen, und daher fungierte Zelda Marie als sein Dolmetscher. »Das Zureiten eines Pferdes«, sagte sie zu seinen Schülern, »basiert auf drei Prinzipien. Das erste ist, daß ein Pferd bestraft werden sollte, wenn es nicht so reagiert, wie man es sich wünscht. Und umgekehrt sollte man es belohnen, wenn es korrekt reagiert. Und drittens sollte es gezwungen werden, das zu tun, was man von ihm will, wenn nötig mit Gewalt. Wir halten nichts davon, daß man sich auf ein Pferd setzt und seinen Mut auf die Probe stellt, um zu sehen, wie oft man es überlebt, abgeworfen zu werden, wenn das Pferd sich aufbäumt. Dieser Unfug wird gewöhnlich betrieben, bis man das Pferd mit der Zeit durch diverse Strafen und Belohnungen dazu gebracht hat, das zu tun, was man ihm sagt. Dann kann es geritten werden, oder es kann einen Wagen ziehen. Es wird wie ein Sklave behandelt, ein minderwertiges Wesen, das zu tun hat, was man von ihm will. Der schnellere und weit schönere Weg ans Ziel besteht darin, daß ihr die Kommunikation erlernt, das Herstellen eines Kontakts. Das Pferd versteht das am besten. Ihr könnt mit Pferden sprechen, wenn ihr es wirklich wollt.« Die Kinder starrten ihn bei diesen Worten verblüfft an, und einige Mütter und Väter schüttelten den Kopf. War der Unterricht bei diesem Kerl die reinste Geldverschwendung? Rafael zeigte seinen Schülern, was er unter Liebe und Güte verstand, was es hieß, mit Pferden zu sprechen. Gelegentlich erschienen Skeptiker mit einem schwierigen Pferd, damit Rafael es »brach«. Dieser warf einen Blick darauf und lächelte. Ein Pferd, mit dem er nicht zurechtkam, gab es für ihn nicht. Diese Tiere sind, davon war er überzeugt, entweder in irgendeiner Form brutal behandelt worden, oder sie waren stark und sind durch eine schwache Hand verzogen worden. Fast alle diese Pferde bäumten sich auf und weigerten sich, einen Reiter zu akzeptieren. Er hatte gern eines von ihnen in der Nähe, wenn er einen Kurs 304
begann. Am ersten Tag zog sich dieser Kurs über einen ganzen Vormittag. Anschließend dauerte der Unterricht nur noch jeweils zwei Stunden. »Das Steigen muß ihnen abgewöhnt werden«, erklärte Zelda Marie den Kindern und ihren Eltern. »Rafael muß dahinterkommen, warum das Pferd Schwierigkeiten macht und wie ihm jemand eine Verletzung zugefügt oder ihm Angst eingejagt hat.« Eine Geschichte, auf der sich Rafaels anfänglicher Ruhm begründete, spielte sich ab, als ein Pferd, das hinter den Ohren verletzt worden war, sich dort nicht berühren lassen wollte. Der Besitzer behauptete, er könne ihm kein Zaumzeug über den Kopf ziehen. Rafael ließ seine Hände über die Schultern und den Hals des Pferdes gleiten. Als sich seine Hand nach oben in Richtung Kopf bewegte, bäumte das Pferd sich auf, und seine Augen wurden weiß vor Furcht. Wieder und immer wieder ließ Rafael die Hand über den Hals des Tieres gleiten, kam aber den Ohren nicht zu nahe. Nachdem er das fünfundvierzig Minuten lang getan hatte, fuhr er mit seiner Hand über die Ohren und in die Mähne. Das Pferd wieherte und bäumte sich auf. Aber Rafael ließ sich nicht beirren und wiederholte den Vorgang, und weitere zwanzig Minuten später begann er den Kopf und die Ohren des Pferdes zu reiben. Nach einer Weile beruhigte es sich und lehnte sich nicht mehr auf, als Rafael seine Ohren berührte. Anschließend legte er dem Pferd ein Halfter an, und es bäumte sich wieder auf. Da sprach Rafael leise mit ihm, während er das Halfter abnahm. Er murmelte ununterbrochen vor sich hin und redete in einem rhythmischen Singsang auf das Tier ein. Das Pferd hatte keineswegs die Absicht, es Rafael leichtzumachen, doch nach noch mal zwanzig Minuten konnte Rafael ihm das Halfter mühelos anlegen und wieder abnehmen. »Das hat es bisher noch bei keinem Menschen zugelassen«, erklärte Rafael, »und daher hat das Pferd es ganz und gar nicht eilig damit, mir zu zeigen, daß ich es tun darf.« Daraufhin legte Rafael dem Pferd das Halfter immer wieder an und nahm es ab, eine halbe Stunde lang. Dann griff er nach einem Zaumzeug und steckte dem Pferd das Gebiß ins Maul, was sein Publikum mit gebannter Aufmerksamkeit verfolgte. Auch das wiederholte er mehrmals, bis das Pferd es freiwillig mit sich geschehen ließ. Als er jedoch die Zügel über die Ohren des Pferdes zog, bäumte es sich erneut auf. Rafael fing noch einmal ganz von vorn an, mit dem Zaumzeug und 305
dem Gebiß. Etwa zehn Minuten später ließ das Pferd alles mit sich geschehen, was Rafael wollte. Nach vier Stunden gab Rafael dem Pferd Wasser und Futter, und Zelda Marie teilte den Leuten mit, auf den langen Picknicktischen unter den Mesquitebäumen stünden Speisen bereit. Das war die erste Lektion. Niemand beklagte sich je oder verlangte sein Geld zurück. Rafael konzentrierte sich ganz auf die Disziplinen Springen und Cutting, doch Zelda Marie hatte einen ausgeprägten Hang zur Dressur. Ihr höchstes Ziel aber war es, den Beweis dafür zu erbringen, daß sich Araber vorzüglich für den Viehtrieb eigneten. Damit wollte sie sich einen Namen machen. Es war ihr gelungen, ein Hengstfohlen für einen Preis aufgrund seines Stammbaums zu kaufen, den Rafael niemals für möglich gehalten hätte. Er konnte nicht glauben, daß jemand so viel für ein Pferd bezahlte. Sie erstand das Pferd auf einer Auktion in Colorado Springs, als es neun Monate alt war, und dann begann sie mit ihm zu arbeiten. Sie nannte es Omar, und für sie war es das schönste Pferd, das sie je gesehen hatte. Sie brachte Stunden und Tage und Monate damit zu, Omar in die Hohe Schule der Dressur einzuführen. Rafael saß stundenlang auf dem Zaun aus Baumstämmen, der die Manege umgab, beobachtete Zelda Marie und staunte darüber, wie geschmeidig Omar sich bewegte. Er war ebensosehr von der Reiterin beeindruckt wie von ihrem Pferd. Omar war nicht gesattelt worden, ehe er zweieinhalb Jahre war, und obgleich Zelda Marie die Ausbildung ihrer Pferde inzwischen so gut wie ganz Rafael übergeben hatte, machte sie bei Omar alles allein. Da er eine schnelle Auffassungsgabe besaß und willig war, kam sie gut voran, und schon innerhalb des ersten Trainingsmonats zeigte Omar Pirouetten. Im zweiten Monat lernte er das Schenkelweichen und die Seitengänge. Zelda Marie hatte ein ganzes Jahr behutsam mit ihm gearbeitet. Dann gingen sie und Omar gemeinsam zur höheren Dressur über. Es dauerte nicht lange, bis er die Passage beherrschte, und anschließend brachte ihm Zelda Marie die Piaffe bei. Dann erlernte er mühelos und bereitwillig den Galopp Wechsel. Rafael saß mit einem langen Grashalm zwischen den Zähnen da, hatte den Hut zurückgeschoben und beobachtete Pferd und Reiterin. Nie hatte er eine derartige Präzision und Anmut erlebt. Abgesehen von der Ausstellung in Austin gewann Omar auch noch eine große Anzahl von ersten Preisen bei Prämierungen in ganz 306
Texas und Oklahoma. Zelda Marie wollte mit ihm nach Ontario gehen. Rafael dachte an die lange Fahrt und malte sich aus, neben Zelda Marie zu sitzen und Radio zu hören, sich mit dem Schlafen und dem Fahren abzuwechseln und neue Gegenden zu sehen. Er strahlte vor Vergnügen. Was ihn wirklich gefangennahm, war die Arbeit mit den Arabern, mit denen Zelda Marie sich einen Namen zu machen erhoffte. Inzwischen besaß sie fünf Prachtexemplare. Araber waren bisher als zu königlich, zu elegant und zu schön angesehen worden, um sie als Arbeitstiere einzusetzen, doch Zelda Marie vertrat den Standpunkt, daß Araberhengste andere Pferde ausstechen konnten. Sie glaubte, daß sich Araber auf dem Viehtrieb spektakulär hervortun würden, und die berühmte Loyalität, die sie ihren Besitzern oder Reitern entgegenbrachten, würde ihnen unter dem Hosenboden eines Cowboys gut zustatten kommen. Ehe Rafael in ihr Leben getreten war, hatte Zelda Marie ihre Araber als Einjährige an das Halfter gewöhnt, und mit zwei Jahren hatte sie sie an der Longe ausgebildet. Seit er die Bühne betreten hatte, gingen sie etwas anders vor. Rafael, der in Mexiko nie reinrassige Pferde gehabt hatte, war beeindruckt von der Intelligenz der Araber. Sie waren schneller als andere Pferde, die sich durch ihre guten Reiteigenschaften auszeichneten, fast schon so schnell wie ein Panther. Und Shah, das Pferd, das er für seinen persönlichen Gebrauch in Beschlag genommen hatte, war bei Drehungen so schnell, daß es auf seinen Hinterfüßen wirbelte, ein Manöver, das nur ein Pferd unter Tausenden zustande bringt, und eine Eigenschaft von unschätzbarem Wert beim Cutting und beim Treiben. Nur ein einziges Mal hatte Zelda Marie ihn verspottet. Sie hatten in Tulsa eine Auktion besucht. Rafael hatte allein dagestanden, während Zelda Marie mit einem Bekannten geredet hatte, der ihr zufällig über den Weg gelaufen war. Er schaute sich um, und sein Blick fiel auf eines der häßlichsten, lahmsten und dürrsten Pferde, die er je gesehen hatte. Natürlich handelte es sich dabei um einen Araber, denn sonst wäre das Tier ja nicht hiergewesen und hätte darauf gewartet, in den Ring geführt zu werden. Weshalb der Besitzer eines solchen Pferdes es freiwillig öffentlich vorzeigte, war Rafael unerklärlich. Er ließ diesen Araber nicht aus den Augen, als er auf der Tribüne saß und ihn gemeinsam mit den anderen Pferden bei der Parade im Ring sah. Als der Auktionator anzeigte, daß er jeden Moment mit der 307
Versteigerung beginnen würde, suchte Rafael Zelda Marie, die noch im Gang stand und sich unterhielt. Er eilte zu ihr, packte ihren Arm und zerrte sie hinter sich her zum Schauring. Dort deutete er auf das unglaublich häßliche Pferd und erklärte: »Den will ich haben.« Zelda Marie lachte. »Das ist ja wohl ein Witz.« »Ich zahle dir das Geld von meinem Lohn zurück, und wenn ich ein Jahr dafür brauche«, sagte Rafael. Der Auktionator bemühte sich um ein Erstgebot, doch niemand, der dieses Pferd sah, wollte auch nur einen Cent riskieren. »Zweihundert Dollar«, schrie Rafael. Zelda Marie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Ich zahle dir das Geld zurück«, wiederholte er. »Es ist nicht dein Pferd. Es ist meines.« Sowie sie das Pferd nach Hause gebracht hatten, begann Rafael augenblicklich, es aufzupäppeln. Eine Woche später nahm er es mit zum Jagen und das schien dem Pferd zu gefallen. Rafael nannte es Montezuma. Zelda Marie lächelte in sich hinein. Wenn irgend etwas nicht wie ein Krieger aussah, dann war es dieses häßliche Pferd. Wenn Zelda Marie morgens wach wurde, war Rafael bereits mit Zuma unterwegs, selbst dann, wenn sie im Morgengrauen aufstand. Eines Tages verkündete Rafael: »Ich will mit ihm an einem Rennen teilnehmen.« Zelda Marie bemühte sich, nicht laut loszulachen. »Man sollte meinen, du würdest dich schämen, ihn öffentlich vorzuzeigen, und jetzt willst du dich mit ihm an einem Rennen beteiligen?« Rafael preßte die Lippen zusammen. »Jaja, ich weiß«, war alles, was er sagte. »Ich werde ihn nicht in den großen Rennen antreten lassen, aber ich gäbe ihm gern diese Befriedigung. Nur ein paar unbedeutende Rennen in der näheren Umgebung.« Zuma war sein Pferd. Rafael wollte nicht zulassen, daß Zelda Marie das Startgeld zahlte, doch er sagte, er würde sich gern hundert Dollar von ihr borgen, um auf sein eigenes Pferd zu wetten. Natürlich würde sie die Wette für ihn abschließen müssen. Zelda Marie zog ihn auf. »Ich glaube nicht, daß ein Jockey, der auch nur im entferntesten etwas taugt, bereit ist, diesen ausgemergelten Gaul zu reiten.« »Ich werde Zuma selbst reiten, obwohl ich zu groß bin.« Es schmerzte sie für Rafael. Die Leute würden sich über ihn lustig machen. Aber er war wild entschlossen, und daher setzte sie nicht 308
nur seine hundert Dollar, sondern zusätzlich noch fünfhundert Dollar von ihrem eigenen Geld. Sie fuhren zu dem Rennen nach Nacogdoches. Rafael fiel schon gleich zu Beginn um etliche Längen hinter die übrigen Pferde zurück. Die erste halbe Meile führte einen Hügel hinauf, dann ging es bergab und anschließend wieder bergauf. Als Zuma den zweiten Hügel erreicht hatte, lag er um drei Längen hinter den anderen, doch er sprang mit wahrer Begeisterung über die Hindernisse. Sie rasten bergab und an der Ziellinie vorbei zum Fuß des Hügels und dann wieder bergauf, als, wie er es Zelda Marie später schilderte, die Pferde vor ihm langsamer zu werden schienen. Sie begannen ein Pferd nach dem anderen hinter sich zurückzulassen. Als sie auf der Kuppe des letzten Hügels angelangt waren, befanden sich nur noch zwei Pferde vor ihnen. Da Zuma noch nicht einmal schwitzte, gab Rafael ihm die Sporen und beugte sich tief im Sattel hinunter. Drei Hindernisse vor der Zielgeraden fiel das Pferd, das an zweiter Stelle lag, hinter sie zurück. Rafael gab Zuma zu verstehen, daß es jetzt an der Zeit für einen echten Endspurt war. Das Rennen endete mit einem Unentschieden. Das Zielfoto zeigte, daß beide Pferde im selben Moment über die Ziellinie gekommen waren. Rafael und Zelda Marie feierten den Sieg in einem ländlichen Gasthaus mit Tanzkapelle, und sie tanzten und tranken die ganze Nacht. Kurz vor Tagesanbruch landeten sie dann in einem Motel, und Zelda Marie sagte sich, sie wäre jederzeit bereit gewesen, weitere tausend Dollar zu riskieren, selbst wenn sie sie verlieren sollte, um noch einmal so viel Spaß mit Rafael zu haben wie in Nacogdoches. Und Rafael sagte immer wieder: »Wenn ich dir die hundert zurückgezahlt habe, die du mir geborgt hast, dann habe ich immer noch einen Gewinn von eintausendsechshundert Dollar.« Er hätte sich nie träumen lassen, derart viel Geld jemals auch nur zu sehen. Zelda Marie lachte und warf ihre achttausendfünfhundert Dollar auf den Tisch. Rafael sah Zelda Marie an, zählte das Geld, und zog dann die Augenbrauen hoch. »Du hast so viel Vertrauen in mein Pferd gesetzt?« »Nein«, sagte sie, »in dich.«
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TEIL V
1982-1
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49 Die Spar- und Darlehenskasse von Destin besaß zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Coleridges abgetreten wurde, Vermögenswerte von fünfundachtzig Millionen und nur hunderttausend in Risikokrediten. Sie war eine der stabilsten Sparkassen im Bundesstaat, wenn nicht gar im ganzen Land. Tracy van Adder hatte die Sparkasse in einer Form geleitet, als würde selbst der Kauf einer Büroklammer die letzten Ressourcen ausschöpfen. Sein bescheidenes kleines Büro war im ersten Stock der Sparkasse untergebracht, die an der Kreuzung Main Street/State Street in der staubigen kleinen Stadt Destin gelegen war. Er hatte den Verkauf an die Coleridges in die Wege geleitet, da er sich zur Ruhe setzen und fischen wollte. Er wußte, wie solide Union Trust war. Außerdem gefiel es ihm, daß Kevin Coleridge ein waschechter Destiner war. Und Coleridges Angebot radierte die hunderttausend in Risikokrediten aus. Die Aktionäre jubelten. Kevin Coleridge übergab die Leitung an Cole, dessen erster Akt als Generaldirektor darin bestand, den Direktoren mitzuteilen, daß die Sparkasse ihren Firmensitz von van Adders bescheidenen drei Zimmern in eine komplette Etage eines elfstöckigen modernen Glasgebäudes in Houston verlegen würde, nur eine Kreuzung von dem neuen Einkaufszentrum entfernt, an dem seine Frau so großes Interesse hatte. Die Mitglieder des Verwaltungsrats klagten, ihre althergebrachte Rolle sei die eines Kreditgebers für die Einwohner des Ortes und für die Bauern auf den Farmen der näheren Umgebung, wenn jemand sich ein Haus oder eine* Farm kaufen wollte. Cole ließ sie auch weiterhin eine kleine Zweigstelle betreiben, die diese Geschäftspraxis fortführte, doch von jetzt an hoffte er, Einlagen von Brokern anzulocken und sie als Sicherheiten für gewerbliche Immobilienprojekte einzusetzen, von denen sich Sparkassen bisher gezwungenermaßen hatten fernhalten müssen. Die Mitglieder des Verwaltungsrats starrten ihn mit offenen Mündern an. Innerhalb von zwei lahren wandelte Cole die Spar- und Darlehenskasse der provinziellen Kleinstadt Destin in eine vielschichtige Körperschaft um. Die US-Regierung veröffentlichte Listen von leistungsstarken Spar- und Darlehenskassen, und Destin 311
lag nicht weit von der Spitze entfernt. Das, sagten die Reformer, sei ein leuchtendes Beispiel dafür, was passieren konnte, wenn die Regierung Gesetze lockerte und Privatunternehmen durch ihre rasche Reaktion als erste davon profitierten. Wenn Cole einen neuen Mann einstellte – und er stellte viele ein –, dann erhielt dieser nicht nur ein elegantes Büro, sondern außerdem auch noch einen Mercedes oder einen BMW. Er wußte, wie man sich Loyalität und harte Arbeit erkauft. Carly bettelte jetzt schon seit Jahren, daß er endlich einmal Urlaub nahm. Sie schienen kaum noch etwas gemeinsam zu tun. Cole nahm nur selten an Matts schulischen Feiern und Veranstaltungen teil. Im allgemeinen kam er zum Abendessen nach Hause, ging jedoch danach wieder ins Büro, und er brachte Matt nie ins Bett oder las ihm eine Geschichte vor. Er bestand allerdings darauf, daß Matt mit dem Schwimmunterricht und den Tennisstunden im Club begann, als er gerade erst das Alter für die Kurse mit den jüngsten Teilnehmern erreicht hatte. Er war stolz darauf, daß sein Sohn an diesen Sportarten Gefallen fand, doch er schien nicht zu wissen, wie er mit dem Jungen reden sollte. Wenn sie beim Abendessen zu dritt gemeinsam am Tisch saßen, wurden keine Gespräche geführt, zu denen Matt etwas hätte beisteuern können. Carly versuchte immer wieder, der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, damit sie sich um Matt drehte, doch Cole wehrte brüsk alles ab, was nichts mit geschäftlichen Dingen zu tun hatte. Eines Abends berichtete er Carly, die Sparkasse investiere in einen Skiort in Colorado. »Ich fliege nächste Woche hin. Bisher ist geplant, in einem erstklassigen Skigebiet achtzig Häuser zu bauen, die sich für jeweils mehr als eineinhalb Millionen verkaufen lassen…« »Zweithäuser in dieser Preisklasse?« Er nickte. »Ich glaube, die Bank wird eines dieser Häuser kaufen, damit es jedem von uns jederzeit zur Verfügung steht. Fünfundzwanzig Häuser sind bereits im Stil von Schweizer Chalets gebaut, und wenn mir gefällt, was ich dort vorfinde, werde ich dafür sorgen, daß wir die Firma aufkaufen. Wir werden am Verkauf genug verdienen, damit wenigstens eines dieser Häuser für uns selbst dabei herausspringt.« Carly musterte Cole. »Ist das legal?« fragte sie dann. Dieser sah vom Essen auf. »Du meinst das Gesetz, das es Sparkassen verbietet, Tochtergesellschaften große Darlehen zu geben? Ach, das läßt sich 312
mühelos umgehen. Man gründet Firmen, die keine Aktien in Destin haben, und schon kann man ihnen ein Darlehen geben.« »Und wem gehören dann diese Tochtergesellschaften?« Jetzt sah er sie an und grinste. »Uns selbst natürlich, einer Handvoll von uns.« Carly erwiderte nichts darauf. »Zerbrich dir dein hübsches Köpfchen nicht darüber. Das verstehst du ohnehin nicht, es ist zu komplex für dich.« Am liebsten hätte sie laut geschrien. So behandelte er sie immer, wenn er ihre Mißbilligung ahnte. »Mit dem Schätzen von Immobilien kenne ich mich aus. Möchtest du, daß ich dich nach Colorado begleite?« »Nein. Colorado und Texas, das ist nicht dasselbe. Ich glaube ohnehin schon, daß ich dieses Geschäft machen werde. Wir werden eine Firma gründen und sie Elk Creek nennen. Diesen Typen und mir«, sagte er und machte sich gar nicht erst die Mühe zu erklären, von welchen Typen er sprach, »schwebt etwas ganz Phantastisches vor. Wenn man am Flughafen ankommt, wahrscheinlich Denver, stehen schon Limousinen mit Chauffeur bereit, und wir setzen den Leuten Kaffee und Donuts oder Wein und Käse vor, je nachdem, um welche Zeit sie eintreffen. Von Denver aus beträgt die Fahrzeit etwa zwei Stunden. Dieselben Limousinen werden die Leute wieder zum Flughafen zurückbringen, und man wird ihnen auf der Fahrt Champagner servieren, bis sie so richtig schön angeheitert sind. Im Sommer werden dort Tennisplätze zur Verfügung stehen, eine Sporthalle, ein Schwimmbecken…« »Ich würde meinen, für eineinhalb Millionen sollte man erwarten können, daß jedes Haus seinen eigenen Pool hat.« »Das sowieso«, versicherte ihr Cole, »aber für diejenigen, die gern Gesellschaft haben, wird auch ein Clubhaus da sein.« »Was sind das für Leute, die an die zwei Millionen Dollar für ein Schweizer Chalet in den Rockies ausgeben?« Cole grinste. »Hoffentlich Leute von der Sorte wie… nun, zum Beispiel wie die Cabots.« »Die Cabots?« »Oder die Lowells. Du kennst doch diesen alten Spruch, daß in Boston die Cabots nur mit den Lowells reden und die Lowells nur mit Gott? Und wir werden uns die Cabots an Land ziehen.« Er hatte offenbar den Eindruck, daß Carly nicht mitkam. »Leute, die unter sich bleiben und nur mit ihresgleichen verkehren wollen«, erklärte er. Carly schüttelte den Kopf, als versuchte sie sich von Spinnweben zu 313
befreien. Sie konnte Coles Ungeduld deutlich spüren. »Vielleicht kann ich dich dann wenigstens zu einem Urlaub überreden.« »Das ist nicht ausgeschlossen«, erwiderte er, fuhr aber sogleich fort: »Wir werden Leuten, die unsere Zustimmung finden, das Geld für den Erwerb dieser Häuser leihen. Einige von ihnen, die ich kenne, haben bereits ihr Interesse zum Ausdruck gebracht, Jim Thornton von Regal Savings oben in Dallas fliegt mit mir. Er sagt, wenn die landschaftliche Kulisse tatsächlich so spektakulär ist, wie wir es behaupten, könnten sie eventuell zwei oder drei Millionen in ein Haus stecken. Ihm schwebt ein Jacuzzi im Freien mit Blick auf die Berggipfel vor.« »Oh!« Cole spürte, wie ihn ein genüßlicher Schauer überlief; es war ihm gelungen, Carly zu beeindrucken. Er würde ein Haus für sie bauen und es völlig einrichten, wobei er einen Innenarchitekten aus New York heranziehen würde, ehe er es ihr auch nur zeigte. Es würde wieder sein wie in alten Zeiten, als sie nach Acapulco geflogen waren und alles sie so beeindruckt hatte, wie damals, als er geglaubt hatte, er würde den Rest seines Lebens damit zubringen, ihr etwas Neues zu zeigen, sie mit den Luxusgütern des Lebens vertraut machen. Er hatte geglaubt, sie würde ihm so dankbar dafür sein… Als das Chalet oder, besser gesagt, das Schloß gebaut war, flog er mit Carly und Matt nach Colorado. Carly empfand die Möbel als klobig und erdrückend. Das Haus selbst war zu groß, und es war nicht ihr eigenes; es gehörte der Sparkasse, obwohl es angeblich im Besitz der Baufirma Miramar war. Jedes Vorstandsmitglied der Bank konnte das Haus jederzeit für zwei Wochen für sich reservieren lassen. Carly war begeistert von der Landschaft, aber das überzogene Tempo und die Jet-set-Atmosphäre waren ihr verhaßt. In einem der folgenden Frühlinge, als kaum eines der Häuser belegt war, flogen sie und Matt dann doch nach Colorado, jedoch ohne Cole. Carly frühstückte mit Matt auf der Terrasse, obwohl es eiskalt war. Der Ausblick war von einer atemberaubenden Schönheit. Es lag immer noch etwas Schnee, und Matt nahm Skiunterricht, und mit derselben Mühelosigkeit und Anmut, die er schon beim Tennisspielen gezeigt hatte, fuhr er innerhalb kürzester Zeit Ski. Cole flog jeden Winter etwa sechsmal nach Elk Creek, und zwar immer dann, wenn Matt unmöglich von der Schule fernbleiben konnte. Im Sommer wollten sie alle drei zwei Wochen dort verbringen, aber nach vier oder fünf 314
Tagen wurde Cole unruhig und kehrte nach Houston zurück. Er war nicht in der Lage, sich zu entspannen. Carly konnte sich nie wirklich mit dem Chalet anfreunden. Cole glaubte, Carly würde sich über sein Geburtstagsgeschenk freuen – eine Reise nach Großbritannien, bestehend aus einer Woche London und einer einwöchigen Rundreise durch England und Wales. Sie zog jedoch die Stirn in Falten. »Ohne Matt?« sagte sie. »Himmel noch mal, Carly, ein Siebenjähriger wäre uns doch nur im Weg. Er wüßte das alles gar nicht zu schätzen. Er kann solange bei deinen Eltern bleiben. Die freuen sich doch immer riesig, wenn er zu ihnen kommt.« Da sich Cole für nichts anderes als die Sparkasse zu interessieren schien, hatte es sie überrascht, daß er die Reise vorgeschlagen hatte. Sie hatte keine Ahnung, was er tat und was es war, was ihn so oft bis spät in die Nacht in der Sparkasse festhielt. Das einzige, was er ihr erzählte, war, daß es eine spannende Herausforderung sei, und er tonnenweise Geld scheffeln würde. Ihr fiel auf, daß er nicht sagte, die Sparkasse würde Unmengen Geld verdienen. Er sagte »ich«. Wenn er nicht ein Coleridge gewesen wäre, hätte es sie nervös gemacht. Sie sprach mit Walt darüber, und er meinte, an Spar- und Darlehenskassen bestehe ein großer Bedarf. Ihm gefiel diese Deregulierung allerdings gar nicht. Er hatte angenommen, die Gesetzesänderung könnte die Sparkassen in Schwierigkeiten bringen, aber sie schienen zu blühen und zu gedeihen. »Reagan spricht von einer durchlässigen Nationalökonomie, die für jeden etwas abwirft«, sagte Carly. »Reagan denkt nicht«, entgegnete Walt. »Es sind die Männer, von denen er umgeben ist, die Macht und Geld wollen, und sie wollen auch, daß andere von ihrer Sorte Geld und Macht haben. Es interessiert sie nicht im geringsten…« Carlys Lachen unterbrach ihn. »Du klingst nicht gerade wie ein konservativer Bankier.« »Darf ich mich etwa nicht für die Habenichtse auf Erden interessieren? Schon sehr bald wird die Mittelklasse zu den Armen zählen.« Carly hatte noch nie derart pessimistische Prognosen von Walt gehört. Und das ausgerechnet jetzt, da sie eigene Reichtümer anhäufte. Ben tauchte unerwartet über das Wochenende auf, und als er hörte, daß Cole und Carly im Begriff waren, nach Europa aufzubrechen, sagte er: »Wenn das so ist, nehme ich jetzt meinen Urlaub. Überlaßt 315
mir Matt, und wir werden fischen gehen und…« »Was verstehst du schon von Kindern?« fragte Cole. »Etwa genausoviel wie du«, antwortete Ben, »was nicht gerade viel ist. Komm schon. Laß es mich lernen. Wir werden unseren Spaß miteinander haben. Ich fahre auch mit ihm rüber nach Verity, und wir besuchen Francey und Walt, und vielleicht bleiben wir sogar über Nacht.« Cole und Carly flogen also nach England, um die Romanze ihrer frühen Jahre wieder einzufangen, und sie hielten Händchen, während sie durch die Straßen gingen und im Theater saßen, und sie liebten sich jede Nacht und lachten so viel miteinander wie schon seit Jahren nicht mehr. Carly war nicht viel gereist in ihrem Leben, und dieser Luxus vermittelte ihr das Gefühl, verwöhnt zu werden und wichtig zu sein. Cole bestellte bei einem Schneider in der Savile Row Anzüge und drängte Carly immer wieder, sich alles zu kaufen, was sie haben wolle, doch nachdem sie sich die Mode näher angesehen hatte, kam sie zu dem Schluß, daß Paris die Modehochburg war. Sie fand nicht ein einziges Kleid, von dem sie sich angesprochen fühlte. Diese Reise brachte Carly dazu, sich zu fragen, was ihrer Ehe zugestoßen war. Wann war der Glanz verblaßt, und warum? Sie konnte es nicht auf den Punkt bringen. »Laß uns noch ein Baby haben«, schlug Cole vor. Carly lächelte. Sie hätte liebend gern mehr Kinder gehabt, aber sie konnte es nicht noch einmal mit Ben tun. Das ging beim besten Willen nicht. Jedesmal, wenn sie ihn sah, machte ihr Herz einen Satz, denselben Satz, den es immer noch machte, wenn sie Samstag abends im Club mit Boomer tanzte. Auch wenn diese Reise ihr viel Spaß bereitete, so hatte sich Carly inzwischen doch verändert. Sie war nicht mehr die junge Frau mit den weit aufgerissenen Augen, die sich von Prestige und davon, was man mit Geld alles kaufen konnte, beeindrucken ließ. Sie schien ihre Sanftmütigkeit eingebüßt zu haben, ihre Unschuld. Sie genoß es zu arbeiten und Geld zu verdienen. Sie suchte sich Interessen außerhalb ihrer vier Wände, und sie wartete nicht mehr darauf, daß Cole ihre Bedürfnisse befriedigte. Sie war nicht mehr dieselbe Frau, die er geheiratet hatte. In London und in einem Gasthof in Wales fingen sie wieder das ein, was sie vor langen Jahren in Acapulco gefunden hatten, doch es hielt nur für zwei Wochen an.
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»Nimmst du dir morgen frei?« fragte Boomer Alex am Frühstückstisch. Sie lächelte ihn an. »Warum?« »Du weißt schon. Es ist unser zwölfter Hochzeitstag. Ich möchte, daß wir ihn gemeinsam verbringen. Nur wir beide, ganz allein.« »Wir müssen zum Abendessen wieder zu Hause sein. Mutter würde mir niemals verzeihen, wenn wir an einem unserer Hochzeitstage das Abendessen bei meinen Eltern ausfallen ließen.« »Kommt sie denn gar nicht auf die Idee, daß ein Hochzeitstag den beiden Beteiligten und niemandem sonst gehört? Ich habe eine Überraschung, und ich möchte, daß du dir den Tag frei nimmst.« Im Gegensatz zu Cole ließ Boomer nur selten zu, daß die Geschäfte sein Familienleben beeinträchtigten. »Solange wir zum Abendessen wieder da sind. Wie kommt es, daß du unseren Hochzeitstag nie vergißt?« »Wenn ich wie andere Männer wäre, wären wir gar nicht miteinander verheiratet.« Er strahlte sie an und löffelte ein weiches Ei auf einen Toast. Das stimmte. Boomer war immer noch romantisch, ein rücksichtsvoller Ehemann und ein wunderbarer Vater. Kein Geschäftstermin war ihm wichtiger als die Ansprüche, die eines ihrer Kinder an ihn stellte. Sie wünschte, er wäre strenger zu den Kindern. Er ließ sie alles tun, was sie wollten, und normalerweise machte er jeden Unfug mit. Er hatte allerdings auch seine Mängel. So trug er sein Haar immer noch etwas zu lang, und seine Smokingjacketts unterschieden sich von denen anderer Männer. Er besaß ein kariertes und ein mitternachtsblaues. Sie wünschte, er wäre konventioneller. Er tat nicht die Dinge, die die Leute taten, mit denen sie Umgang pflegten. In einem Sommer waren sie mit einem Kombi zum Grand Canyon und in einem anderen zum Glacier-Nationalpark gefahren. Um sie zu beschwichtigen und trotzdem seinen Kopf durchzusetzen, hatte Boomer nicht darauf bestanden, in einem Zelt zu übernachten. Sie hatten alles getan, was die Touristen taten, aber Alex hatte es nur eingeschränkt genießen können. Sie mochte die rustikalen Unterkünfte nicht, hatte sich jedoch bemüht, nicht allzuoft zu klagen. Im nächsten Jahr, sagte Boomer, wären die Kinder alt genug, um Disneyland etwas abzugewinnen. Diese Vorstellung jagte Alex einen Schauer über den Rücken. Aber sie wußte auch, daß es viele Dinge 317
gab, die er nur um ihretwillen tat, und auch er behielt in solchen Situationen sein mangelndes Interesse für sich. Er mochte weder Opern noch Sinfoniekonzerte, und doch begleitete er sie ohne jedes Murren, auch wenn er oft schon vor dem Ende der Ouvertüre eingeschlafen war. Sie kleidete sich nach der neuesten Mode, aber nie so farbenfroh wie Carly. Carly hatte ihr mit der Zeit einen solchen Respekt abgerungen, daß sie sogar ihr drastisches Stilempfinden bewunderte. Sie war sicher, daß die Kleidungsstücke, auf die Carlys Wahl fiel, Maude Coleridge erschauern ließen. Wenn andere Frau sich schwarz kleideten, trug Carly Feuerwehrrot oder strahlendes Weiß, mit auffallenden farblichen Akzenten – smaragdgrün, königsblau, fuchsrot, purpur. Komisch. Die beiden unkonventionellsten Menschen, die Alex kannte, stammten beide aus diesem altmodischen und spießigen Verity. Sie und Boomer waren für ein Wochenende runtergefahren und hatten bei Carlys Eltern übernachtet. Sie waren an dem großen viktorianischen Lebkuchenhaus vorbeigekommen, in dem Boomer aufgewachsen war. Er hatte ein paar Minuten lang auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt und das Haus angestarrt. Die Farbe blätterte ab, und ein Fensterladen hing schief herunter. »Eine tollere Kindheit, als ich sie hatte, hätte man hier gar nicht verbringen können«, sagte er zu ihr. Carly hatte Verity zwar gehaßt, aber sie kehrte öfter dorthin zurück als Boomer, weil Walt und Francey da lebten, und ihre Freundin Zelda Marie. Alex hätte im Traum nicht geglaubt, daß sie und Carly einander jemals so nahestehen könnten. Tessa, ja, aber Carly? Wohl kaum. Und doch war es dazu gekommen. Und manchmal, wenn die drei Frauen zusammensaßen, ob allein oder in Begleitung ihrer Ehemänner, lachte Alex, bis sie Seitenstechen hatte. Auf derart enge Freundschaften war sie nicht gefaßt gewesen. Sie war auch nicht darauf gefaßt gewesen, daß sie die Mutterschaft genießen würde, und doch war es so. Wenn Tessa dabei war, mieden Alex und Carly bewußt jedes Gespräch über Kinder. Tessa hatte ihre Freude an den Kindern der beiden, und das traf auch auf Dan zu, aber offenbar wollten sie keine eigenen, oder sie konnten keine bekommen. Doch sie schienen beide diesen Umstand nicht zu bedauern, obwohl sie sehr liebevoll mit den Kindern von Alex und Carly umgingen. Alex gestand es sogar sich selbst nur ungern ein, doch es war ihr ein Greuel, daß ihre Kinder ihr Haus derart auf den 318
Kopf stellten. Jeden Abend, wenn sie heimkam, rückte sie den Zeitschriftenstapel auf dem Couchtisch gerade oder hob Spielsachen auf. Alles mußte genau stimmen. Sie wußte, daß sie Boomer damit manchmal fürchterlich auf die Nerven ging. Sie liebte Boomer, und sie liebte ihr Haus, das Tessa eingerichtet hatte. Ihre Gedanken wanderten schon weiter, als sie sich aus ihren Tagträumen herausriß. »In Ordnung. Was hast du vor?« Boomer schüttelte den Kopf. »Das ist eine Überraschung.« »Ich liebe Überraschungen«, sagte Alex mit einem matten Lächeln. Sie wußten beide, daß es sich nicht so verhielt. Überraschungen störten den Alltagsablauf. Am nächsten Morgen ließ Boomer die Köchin ein Picknick einpacken. »Nimm deinen Badeanzug mit, und zieh dir alte Sachen an, Alex.« Selbst dann, als sie bereits in hohem Tempo nach Norden fuhren, hatte Alex noch keine Ahnung, wohin es ging – bis sie von der Schnellstraße abbogen und über einen Feldweg fuhren. »Dieser See?« fragte sie. »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich mich dort in dich verliebt«, sagte Boomer mit einem schelmischen Lächeln. Er nahm die Hand vom Steuer und strich ihr über die Wange. Nichts schien sich verändert zu haben. Immer noch der Kleinkrämerladen, in dem es Köder zu kaufen gab, dasselbe Motel, mit abblätternder Farbe. Noch nicht einmal Blockhütten standen herum, stellte Alex verwundert fest. »Man hätte meinen sollen, die Gegend sei inzwischen verbaut. Weißt du überhaupt, daß ich damals, als wir hierhergefahren sind, geglaubt habe, du hättest mich hergebracht, um mich zu vögeln…« »Na hör mal, Alex!« Boomer lachte schallend. »… und dabei wolltest du mir nur zeigen, wie schön diese Gegend ist.« Boomer beugte sich vor und küßte sie. »Ich wußte es schon vorher, ich wußte schon an dem Tag, an dem ich dir zum erstenmal begegnet bin, daß ich dich heiraten werde, wenn du mich nimmst. Ich kann mich noch bis in alle Einzelheiten an diesen Tag erinnern.« Er schnappte sich den Picknickkorb vom Rücksitz. »Komm, laß uns sehen, ob sie uns ein Boot vermieten.« Es hatte einen neuen Außenbordmotor, aber abgesehen davon fanden sie beide, sei das Boot so alt, daß es durchaus noch dasselbe Boot von damals sein könnte. Boomer steuerte es vom Ufer auf den See, und er hielt Kurs auf die kleine Bucht, in der sie vor zwölf Jahren 319
geschwommen waren. »Weißt du, was ich gern täte?« sagte Alex. »Ich würde gern ein Zimmer in diesem kleinen Motel mieten und genau das tun, wovon ich damals überzeugt war, daß du es vorhattest.« Boomer lachte. »In einem so schäbigen Motel?« »Fast so schlimm wie in Arizona, draußen in Flagstaff. Erinnerst du dich noch?« »Nein. Aber ich werde den alten Mann überreden, daß er uns ein Zimmer für den Nachmittag vermietet. Doch jetzt möchte ich mit dir auf dem See herumfahren, einmal rundum. Wir haben uns nie alles genauer angesehen.« Sie brauchten über eine Stunde für die Rundfahrt. Der Duft von Kiefern hing in der Luft, und die dunklen Umrisse der Bäume spiegelten sich auf der gekräuselten Wasseroberfläche. »Wir haben zwar schon einige der schönsten Teile dieses Landes gesehen«, sagte Boomer, »aber diese Gegend hier ist immer noch ungeheuer reizvoll. Vielleicht nicht ganz so majestätisch wie der Westen, aber doch ehrfurchtgebietend.« »Ich bin ganz deiner Meinung.« »Es freut mich, daß du das so siehst«, sagte Boomer, »weil es sich hierbei nämlich um mein Geschenk zu unserem Hochzeitstag handelt.« Alex drehte sich verblüfft zu ihm um und sah ihn an. »Was soll das heißen?« »Ich wußte schon damals, daß es eine gute Geldanlage sein wird, und daher habe ich von meiner ersten Million das Land gekauft. Es war einigermaßen mühsam, weil ich herausfinden mußte, wer einen Acre hier und ein oder zwei Acres dort besitzt.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Damals habe ich mir gesagt: Okay, eine prima Investition. Aber ich möchte das Land nicht erschließen. Ich möchte hier oben ein Haus bauen, nur für uns ganz allein. Unser See. Unser privater Schlupfwinkel.« Er griff in die Tasche seines gelben Hemdes und zog ein Blatt Papier heraus. »Hier ist sie. Die Urkunde. Dir gehört sogar dieses Motel.« »Und in all diesen Jahren hast du stillschweigend auf dieser Urkunde gesessen?« Er nickte, streckte die Arme aus, stand auf und zog sie mit sich auf die Füße, doch in dem Moment neigte sich das alte Boot zur Seite. Sie schwammen lachend ans Ufer. Der Picknickkorb und die Kopie der Urkunde versanken im Wasser, aber sie konnten nicht aufhören 320
zu lachen. Und es sollte nicht dazu kommen, daß sie das Motelzimmer mieteten, denn als sie das Ufer erreicht hatten, sagte Boomer: »Wir ziehen besser diese nassen Sachen aus«, und sie liebten sich auf dem sandigen Seeufer unter einer dunkelgrünen Fichte, die bis in den Himmel zu reichen schien. »All das wird uns allein gehören.« »Sei nicht albern«, sagte Alex, »alle, die wir kennen, werden ein Wochenendhaus hier draußen besitzen wollen. Aber laß es uns nicht in B B & O einbringen. Nur wir beide werden das Land erschließen. Was hältst du von einem Restaurant, einem Golfplatz und einem Country Club für diejenigen, die hier Häuser kaufen, und für deren Gäste? Außerdem habe ich schon seit längerem eine wunderbare Idee zur Unterhaltung am Wochenende – ein schwimmendes Restaurant, in dem nur Oldies gespielt werden. Freitags und samstags könnten wir abends Tanzveranstaltungen organisieren und einen erstklassigen Chefkoch engagieren. Und sonntags gibt’s einen Brunch. Und all das weniger als zweieinhalb Stunden vom Zentrum von Houston entfernt.« Boomer hörte ihr zu und wollte gerade etwas sagen, doch sie ergriff seinen Arm und rückte ganz dicht zu ihm. »O Boomer, was für eine wunderbare Überraschung. Ein Projekt, an dem wir gemeinsam arbeiten können. Ich hatte diesen See schon fast vergessen. Oh, daran werden wir ein Vermögen verdienen!« »Wir besitzen bereits ein Vermögen. Zwei Vermögen sogar.« »Nein, das, was wir besitzen, ist kein Vermögen. Nicht an den Maßstäben von Texas gemessen.« Alex fürchtete, ihr Geschenk für ihn könnte dagegen eine Enttäuschung werden. Es stand in der Auffahrt, als sie, ein wenig zerzaust, aber trocken nach Hause zurückkehrten – ein burgunderroter Alfa Romeo, der mit einem sechzig Zentimeter breiten silbernen Band umwickelt war, mit einer großen Schleife auf dem Dach. »An dem, was du mir geschenkt hast, kann sich das natürlich nicht messen«, murmelte sie. »Sprichst du von dem See oder vom Vögeln?« fragte Boomer grinsend. »Von beidem.« »Was zählt, ist die Geste«, erklärte er. »Und ein Alfa Romeo ist eine ziemlich nette Geste.« Er fragte sich, warum er nicht glücklicher war. Irgendwie hatte sich nichts von alldem so entwickelt, wie er es geplant hatte. »Wir werden darauf bestehen, daß jeder Entwurf für ein Haus von 321
uns abgesegnet werden muß«, fuhr Alex aufgeregt fort. »Und eine weitere Auflage wird sein, daß sich die Leute an unseren Architekten wenden.« Das war natürlich Dan. »Vielleicht wollen Dan und Tessa auch etwas Land dort draußen erwerben. O Boomer«, sagte sie und grub die Finger in seinen Arm. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Wir werden viel Spaß daran haben!« Warum konnte er sich dieser Meinung nicht anschließen?
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51 Carly saß in ihrem silbernen Porsche und betrachtete das Maisfeld, das ihrer Schätzung nach um die zweihundertfünfzig Acres maß. Vor ihr lag eine auseinandergefaltete Landkarte auf dem Lenkrad. Sie streckte geistesabwesend die Hand aus, nahm den Styroporbecher und trank einen Schluck von dem dampfenden Kaffee. Ein Mann namens Dale McCullough hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, daß er daran interessiert sei, sein Maisfeld zu verkaufen. Was er wohl dafür bekommen könnte? Sie hatte mit ihm vereinbart, ihn um halb zehn zu treffen. Jetzt war es neun Uhr fünfzehn. Sie hatte gerade noch genug Zeit für ein schnelles Frühstück mit Matt und Cole gehabt. Sie machte niemals Termine, ehe Matts Schule begann. McCullough wußte, daß es sich hierbei um den einzigen Streifen Land in dieser Gegend nördlich von Houston handelte, den sie noch nicht besaß. Da, wo ihr Wagen jetzt stand, auf einem Feldweg vor einem Maisfeld, war einst der verschlafene Ort Bedford. Vor drei Monaten hatte die Stadt Houston ihn sich einverleibt, und jetzt war er an das Wassernetz und die Kanalisation der Stadt angeschlossen. Die Einwohner hatten großen Wert darauf gelegt, daß ihre Schulen erhalten blieben, damit sie ihre Kinder nicht in die Großstadt schicken mußten. Die Grundstückspreise in dem ehemaligen Bedford, das jetzt zu den Nordgebieten von Houston gehörte, stiegen sprunghaft an. Zu beiden Seiten des Maisfelds hatten Planierraupen das Land eingeebnet, überall lagen Rohre herum, und die Skelette von Gebäuden ragten auf. Es war der einzige unbebaute Bereich in diesem gesamten Streifen. In der Ferne konnte Carly die Autos über den Freeway rasen hören. Das hieß, daß das Zentrum von Houston für jeden in maximal fünfundvierzig Minuten erreichbar war. Es hieß jedoch auch, daß die Menschen, die hier wohnten, immer noch glaubten, sie lebten auf dem Land, aber drei Meilen weit entfernt, zwischen Bedford und den Woodlands, war ein immenses Einkaufszentrum im Bau begriffen, und niemand, der im früheren Bedford lebte, würde zukünftig für die lebensnotwendigen Dinge in die Stadt fahren müssen. Der große Haken an dem Plan war, daß sämtliche Bäume auf der hinteren Hälfte des Feldes waren. Wer würde ein Vermögen für ein 323
Haus bezahlen, das nicht im Schatten von Bäumen stand? Im Norden von Houston niemand, soviel war mal sicher. Es sei denn, man könnte hier einen Apartmentkomplex hinstellen. Das wäre eine Überlegung wert und würde den Preis des Grundstücks enorm steigern. Apartments der gehobenen Preisklasse. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Da ließ sich Geld rausholen. Natürlich nicht so viel, wie sie im Lauf der Jahre an dem Einkaufszentrum verdient hatte. Aus diesem Projekt flossen ihr immer noch Gelder zu, und es würde auch so weitergehen. Es war ein weiser Entschluß gewesen, das Land in der Umgebung aufzukaufen und eine Art Komplettlösung anzubieten. Das hatten sie und Alex bewerkstelligt. Eine grandiose Idee. Aber das hier… sie brauchte es mit niemandem zu teilen. Laß das Träumen sein, sagte sie sich. Dieser McCullough wollte nichts weiter, als ihr ein Maisfeld verkaufen. Ein alter Pick-up holperte über die Schlaglöcher der staubigen Straße. Er hielt neben ihr an, und ein Mann Ende Fünfzig stieg aus. Er trug einen Overall, einen riesigen Cowboyhut und alte Stiefel, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Carly öffnete die Tür, stieg aus und schaute über das Dach ihres Wagens hinweg McCullough an. »Sie müssen Mistress Coleridge sein«, sagte er. Carly ging um ihren Wagen herum und streckte ihm die Hand entgegen. »Es freut mich, daß Sie mich angerufen haben.« »Ich traue Immobilienhändlern nicht«, erklärte er. »Jemand hat mir von Ihnen erzählt. Wie ich feststelle, haben Sie sich hier schon umgesehen.« »Wie viele Acres sind es?« fragte Carly. »Zweihundertdreiunddreißig«, antwortete er und setzte seinen Hut ab, den er daraufhin in einer Hand an seiner Seite hielt. »Die Felder rechts und links daneben haben mir auch gehört, aber ich habe den Eindruck, daß man mich, als ich die verkauft habe, reingelegt hat. Das ist alles, was ich noch habe, und entweder verdiene ich daran genug, um mich zur Ruhe setzen zu können, oder ich werde weiterhin Mais anbauen.« Die Wasserversorgung und die Abwasserkanäle führten schon zu den Grundstücken, die zu beiden Seiten der Straße verkauft wurden. Carly hatte bereits mit ihrem Taschenrechner rumgespielt. »Was wollen Sie dafür haben?« fragte sie. »O nein, genau so machen wir das eben nicht«, sagte er. »So bin ich denen damals schon in die Falle gegangen, weil ich mir über den Wert des Landes nicht im 324
klaren war. Sie nennen mir einen Preis. Was kann ich dafür bekommen?« Carly hatte sich schon alles überlegt. Sie richtete den Blick in die Ferne. »Auf Ihrem Land gibt es keinen Baumbestand«, sagte sie. »Wir bekämen wesentlich mehr dafür, wenn Sie große alte Bäume hätten.« »Ich frage nicht danach, was ich nicht dafür bekommen kann. Nennen Sie mir eine Zahl.« Sie dachte an Shep Lenchek und an die Apartments, die er baute. Wie viele würden auf dieses Grundstück passen? Dann wanderten ihre Gedanken zu BB&O. Seit ihrem allerersten Projekt hatten sie keinen Apartmentkomplex mehr gebaut. »Vielleicht drei Millionen«, sagte sie zu McCullough. Er lachte in sich hinein. »Ich schätze, mit der Summe könnte ich mich zur Ruhe setzen.« »Das sind zwölftausendachthundertfünfundsiebzig pro Acre.« Sie konnte sich noch an die Zeiten erinnern, als Grundstücke wie dieses für sechshundert pro Acre verkauft worden waren, und selbst dann durfte der Besitzer sich glücklich schätzen, wenn er einen Käufer fand. »Ich will die Exklusivrechte für den Verkauf ihres Grundstücks haben«, sagte sie. »Ich gebe Ihnen sechs Monate«, konterte er. In sechs Monaten, dachte sie, wird dieses Land noch mehr wert sein. »Ich werde einen Vertrag aufsetzen lassen, und heute nachmittag liegt er für Sie zur Unterschrift bereit.« Von Zeitverschwendung konnte hier keine Rede sein. »Ich wußte gar nicht, daß so hübsche Mädchen wie Sie auch Grips haben.« Carly, die an derartige Bemerkungen gewöhnt war, bemühte sich, huldvoll zu lächeln. Man brauchte nicht allzuviel Grips, um sich auszurechnen, was dieses Land wert war. Der Verstand kam erst dann ins Spiel, wenn man versuchte, Geschäftsabschlüsse zu tätigen, bei denen noch mehr Geld heraussprang. Sie konnte es kaum erwarten, wieder in ihrem Büro zu sitzen und sich Gedanken darüber zu machen, wen sie kontaktieren und welche Vorschläge sie den betreffenden Personen unterbreiten sollte. Sie würde ein paar Anrufe machen müssen, um herauszufinden, welchen Einschränkungen dieses Grundstück unterlag. Aber in ihrem Büro wurde sie bereits von Ben erwartet. Ehe sie ihn auch nur fragte, warum er da war, berichtete Carly ihm von ihrem aufregenden Vormittag. »Du gedenkst also, noch weitere Teile des Landes zu vergewaltigen und zu plündern?« fragte er. »Um Himmels willen, Ben, hör auf damit. Die wachsende Bevölkerung braucht ein 325
Dach über dem Kopf. Und wenn ich das Land nicht verkaufe, dann wird es jemand anders tun.« »Ich warte auf den Tag«, sagte Ben, »an dem sämtliche Salatfelder und die Orangenhaine Kaliforniens mit Häusern bebaut sind. Woher bekommen wir dann unsere Nahrung?« »Du bist ja ein solcher Purist«, entgegnete Carly. »Wie kannst du ein Demokrat sein, wenn das, was du in Wirklichkeit willst, reaktionär ist? Du willst, daß alles so bleibt wie in früheren Zeiten. Und ich weiß, daß du es als unmoralisch empfindest, Geld in der Größenordnung zu verdienen, in der ich es einnehme, stimmt’s?« Es war nicht wirklich eine Frage. Sie kannte die Antwort bereits. »Nun, ich halte es für eine ziemlich oberflächliche Anschauung, daß Geld das einzige sein soll, was im Leben zählt, der alleinige Zweck und das alleinige Ziel. Was wirst du mit dem Geld anfangen, das dieses Geschäft dir einbringt, meine Liebe?« Sie hatte oftmals das Gefühl, daß Ben glaubte, sie beschützen zu müssen, da sie die Mutter seines Sohnes war. Er würde sie für das bewundern, was sie mit einem großen Teil ihres Geldes tat, dessen war sie sich ganz sicher, aber vielleicht war gerade das der Grund, weshalb sie Ben nichts von ihren Freitagvormittagen erzählte – und auch sonst niemandem. Sie fürchtete, wenn sie das täte, sähe es danach aus, als wollte sie Lob einheimsen, und ihre Motive verlören an Reinheit. Es hatte vor zwei Jahren begonnen, als sie so viel Geld verdient hatte, daß eine Mischung aus Stolz und Schuldgefühlen über sie hereingebrochen war. Sie war in einen Stadtteil gefahren, in dem sie sorgsam darauf geachtet hatte, daß die Türen ihres Wagens verriegelt waren. Einer ihrer Kunden wollte, daß sie sich Land in einem Industriegebiet ansah, das sich möglicherweise als Standort für eine Fabrik eignete, die Stempel und Farben herstellte. Der Mann hielt es für eine gewitzte Idee, ein leerstehendes Grundstück in einer Gegend zu erwerben, in der es einen unbegrenzten Nachschub an billigen Arbeitskräften gab. Dunkelhäutige Menschen liefen durch die Straßen und starrten sie und ihren teuren Wagen mit Blicken an, die sie nur als feindselig empfinden konnte. Der Wagen vor ihr hatte einen Satz nach vorne gemacht, als die Ampel auf Gelb schaltete. Im nächsten Moment trat der Fahrer auf die Bremse und sprang aus dem Auto. Doch keine dreißig Sekunden später saß er wieder hinter dem Steuer, stieß zurück, wobei er gegen Carlys Stoßstange prallte, und raste davon. 326
Carlys erster Gedanke war, nachzusehen, ob etwas kaputt war, doch dann zögerte sie, in dieser Gegend überhaupt aus dem Wagen zu steigen. Plötzlich sah sie etwas mitten auf der Straße liegen. Zwei Männer rannten vom Bürgersteig aus darauf zu und knieten neben dem reglosen Bündel. Ohne weiter nachzudenken, öffnete sie die Tür ihres Wagens und ging zu der Menge, die sich bereits versammelte. Ein Mexikaner hob ein Mädchen von etwa fünf Jahren hoch. Das Pflaster war voller Blut. Mit einem fragenden Blick sah er Carly an. Sie wies mit einer Kopfbewegung auf ihren Wagen. »Ich bringe sie ins Krankenhaus.« Sie hatte keine Ahnung, wo das nächste Krankenhaus war. Der Mann wußte es auch nicht, aber er wußte, daß sechs Kreuzungen weiter ein Arzt wohnte. Carly parkte vor der Praxis, lief um den Wagen herum und hielt dem Mann die Tür auf. Dann folgte sie ihm die Treppe eines häßlichen braunen Hauses hinauf. Drinnen standen Stühle mit hohen Lehnen, auf denen Patienten saßen, und Spielzeug lag überall verstreut, obwohl nur ein einziges Kind auf dem Boden hockte und sich damit beschäftigte. Hinter einem langen Schalter befanden sich zwei verhärmt wirkende Frauen. Eine von ihnen warf einen Blick auf das kleine Mädchen und sagte: »Kommen Sie mit.« Sie lief eilig durch einen Korridor zu einem Raum, vor dem sie warteten. Innerhalb von drei Minuten erschien ein Mexikaner, der einen langen weißen Arztkittel trug und um dessen Hals ein Stethoskop baumelte. Carly verstand Bruchteile des Gesprächs. Dr. Gonzalez rief nach seiner Krankenschwester und wies sie an, im Krankenhaus anzurufen und dort zu vereinbaren, daß man einen Operationssaal freihielt. Außerdem wollte er mit Dr. Martinez verbunden werden. »Können Sie das Kind ins Krankenhaus bringen?« fragte er den Mann. Dieser sah Carly an, und Carly nickte. »Es sind nur fünfzehn Minuten von hier, doch ich will, daß Sie es in zehn schaffen. Sie braucht eine sofortige Bluttransfusion, und sie muß geröntgt werden. Ich bin kein Chirurg, aber Martinez ist einer. Wissen Sie, wie Sie zu Saint Mary’s kommen?« Er beschrieb Carly den Weg, und der junge Mann nahm das bewußtlose Kind wieder auf seine Arme und trug es hinaus zu Carlys Wagen. Sie schafften es in zwölf Minuten. Dr. Martinez erwartete sie bereits. Weder Carly noch der junge Mann hatten auch nur die leiseste Ahnung, wer das Kind war, doch sie blieben beide im Wartezimmer 327
sitzen. Der junge Mann verschwand und kehrte nach zehn Minuten mit zwei Pappbechern Kaffee zurück. Einen davon drückte er Carly in die Hand. Wenige Minuten später fragte er sie, wie spät es sei. Carly sagte es ihm. »Ich muß jetzt gehen«, erklärte er. »Ich bin Busfahrer, und in einer Stunde muß ich zur Arbeit antreten.« »Ich warte hier«, sagte Carly. Gegen zwölf Uhr mittags, zwei Stunden nach ihrem Eintreffen, erschien Dr. Gonzalez. »Das kleine Mädchen wird durchkommen«, teilte er ihr mit, »und wir haben die Mutter benachrichtigt.« »Wie haben Sie herausgefunden, wer sie ist?« Er lächelte, und sein dichter schwarzer Schnurrbart ließ seine Zähne blendend weiß erscheinen. »Wir leben in einem Stadtteil, in dem man aufeinander achten muß. Ich danke Ihnen. Die meisten Leute hätten niemals angehalten. Wenn das Kind nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen wäre, wäre es gestorben. Ich danke Ihnen im Namen der Familie.« »Wer ist seine Familie?« »Die Mutter arbeitet am anderen Ende der Stadt als Hausmädchen. Es wird sie mehr als eineinhalb Stunden kosten, herzukommen. Der Vater ist Gärtner. Wir wissen nicht, wann er heute arbeitet. Es wird ihnen die allergrößten Schwierigkeiten bereiten, die Krankenhausrechnung zu bezahlen, aber wenn es sein muß, werden sie Jahre dafür arbeiten.« »Teilen Sie ihnen mit, daß ich für die Krankenhauskosten aufkommen werde«, sagte Carly. »Dann gibt es also doch noch gute Feen.« Carly lächelte. Sie griff in ihre Handtasche und zog eine Visitenkarte heraus. »Hier haben Sie meine Adresse und Telefonnummer. Lassen Sie die Rechnung an mich schicken.« Dann drehte sie sich um und lief den Gang hinunter. »Warten Sie«, rief der Arzt ihr nach. »Ich möchte Sie zum Mittagessen einladen.« Carly hatte eine Million anderer Dinge zu tun. Sie hinkte jetzt schon hinter ihrem Terminplan her. Trotzdem drehte sie sich um und lächelte Gonzalez an. »Ja, gern.« Sie gingen in ein kleines mexikanisches Restaurant, in dem es die besten Tacos gab, die sie je gegessen hatte. Um die Mittagszeit war es gerammelt voll, und es war laut, weil überall um sie herum gelacht und geschrien wurde. »Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen von Ihrer Sorte«, sagte der Arzt. »Sie haben heute morgen nicht nur einem Kind das Leben 328
gerettet, sondern dadurch, daß Sie die Krankenhausrechnung übernommen haben, den Ruin einer ganzen Familie verhindert.« »Es freut mich, daß ich helfen konnte«, entgegnete Carly und stellte zu ihrem eigenen Erstaunen fest, daß sie enormen Spaß daran hatte. »Wenn Sie mehr sehen wollen«, sagte er, »dann kommen Sie am Freitag vormittag in meine Klinik. Dort befassen wir uns mit Kindern, die ohne Hilfe blind oder verkrüppelt wären, aber auch mit Kindern, die unter so extremen Formen von Unterernährung leiden, daß sie möglicherweise niemals aufrecht stehen können. Manche von ihnen haben nichts weiter als eine schlimme Erkältung oder eine Mandelentzündung. Ich kann zwar Kinder, die am Blinddarm operiert werden müssen, in ein Krankenhaus einliefern, aber denjenigen, die einen Spezialisten oder eine Langzeitbehandlung brauchen, vermag ich nicht zu helfen. Kommen Sie«, drängte er sie, »und sehen Sie selbst, was Sie tun könnten.« Das war an einem Dienstag gewesen. Seitdem hatte sie sich immer wieder gesagt, daß sie ganz gewiß nicht noch einmal Dr. Leon Gonzalez aufsuchen würde. Er setzte ihr zu sehr zu, und er bemühte sich allzu zielstrebig, Geld aus ihr herauszuholen. Als sie jedoch am Donnerstagabend im Bett lag und nicht schlafen konnte, ging ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß er ungeheuer engagiert sein mußte, wenn er nicht davor zurückschrak, sich zu demütigen, um Hilfe zu bekommen. Und außerdem hatte er ihr wirklich gefallen, die Energie und die liebevollen müden Augen dieses Mannes, der zwar mexikanisch aussah, aber doch ein Amerikaner der dritten Generation war. Er hatte ihr erzählt, er habe selbst drei Kinder und lebe in diesem Teil der Stadt, im ersten und zweiten Stock des Hauses, dessen Erdgeschoß von seiner Praxis eingenommen wurde. Er schickte seine Kinder in eine Schule, von der er wußte, daß sie keineswegs gut war. Aber er konnte nicht aus dieser Gegend wegziehen, da er das Gefühl hatte, dasein zu müssen, wenn mitten in der Nacht oder an den Wochenenden einer seiner Landsleute einen Unfall hatte. Und am Freitag- und Samstagabend kam es immer wieder zu Messerstechereien, manchmal sogar zu Schußverletzungen. Er opferte seine Kinder dafür, und das war ihm klar. Sie würden niemals eines der erstklassigen Colleges besuchen können, weil ihre Schulbildung nicht gleichwertig mit dem war, was Matt in St. John’s erhielt, ja, sich noch nicht einmal an dem messen konnte, was dem durchschnittlichen Kind der Mittelschicht in Houston zuteil wurde. 329
Am Freitag morgen machte sie sich auf den Weg zu ihrem Büro, doch an der ersten öffentlichen Telefonzelle hielt sie an und teilte ihrer Sekretärin mit, daß sie erst um eins ins Büro komme. Sie verbrachte den gesamten Vormittag an Dr. Gonzalez’ Seite und sah ihm zu, während er drei Dutzend Kinder untersuchte. »Kommen Sie«, sagte er, als die Mittagszeit schon vorbei war. »Heute geht die Rechnung für das Mittagessen auf Sie.« Diesmal gingen sie in ein wesentlich ruhigeres Restaurant. Es war grell und nicht sehr geschmackvoll eingerichtet, doch dort gab es eine hervorragende Azteca-Suppe und frische warme Bolillos, von denen noch die Butter tropfte. Carly willigte ein, für drei Operationen zu bezahlen, unter der Voraussetzung, daß Leon den Eltern nicht sagte, woher das Geld stammte. Es war ihr ein leichtes, für diese Operationen aufzukommen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als einen Scheck auszuschreiben. Was ihr jedoch zusetzte, war die Frage, was man gegen all diese Fälle von Unterernährung tun konnte. »Man muß die Familien mit Lebensmitteln versorgen«, sagte Gonzalez, »und mit Schuhen, damit die Kinder in die Schule gehen können.« Er gab nur allzu bereitwillig Carlys Geld aus. »Und man muß sich darum kümmern, daß sie Eiweiß bekommen, obwohl Reis und Bohnen im allgemeinen genug Eiweiß enthalten. Das, was ihnen fehlt, ist Obst und Gemüse.« In den nächsten zwei Jahren wußte niemand in ihrem Büro, daß sie an den Freitagvormittagen neben Leon Gonzalez stand. Um die Mittagszeit schrieb sie Schecks aus und ging dann mit dem mexikanischen Arzt essen. »Ich liebe meine Frau und meine Kinder«, sagte er eines Tages zu Carly, »aber ich glaube, der glücklichste Tag in meinem Leben war der, an dem Sie in meine Praxis spaziert sind.« Es war ihr Geheimnis, und sie bewahrte es dicht an ihrem Herzen auf. Sie besuchte die Kinder nach den Operationen, und immer wieder mal war sie von einem der Kinder so beeindruckt, daß sie Gonzalez bat, seinen Ausbildungsfortgang zu verfolgen. Sie hatte durchaus die Absicht, dafür zu sorgen, daß einige von ihnen das College besuchten. Und wenn es sich in irgendeiner Form mit Geld regeln ließ, würde sie sich dafür einsetzen, daß seine eigenen Kinder die beste Universität des Landes besuchen konnten. Nur sie selbst, Leon und seine Frau Rosamaria wußten etwas von Carlys Spenden. Im ersten Jahr steckte sie mehr als dreihunderttausend Dollar in die Klinik, setzte die Summe aber 330
nicht von der Steuer ab, da sie nicht wollte, daß Cole etwas davon erfuhr. Ben wußte nicht, wovon er redete, als er sie beschuldigte, denjenigen nicht zu helfen, die weniger gut dran waren als sie selbst. »Eigentlich bin ich hergekommen, um dich zu fragen, ob Matt seine Osterferien mit mir verbringen kann«, sagte Ben und nahm sich eine Tasse Kaffee von der Anrichte. »Ich werde in Oregon mit einem Schlauchboot durch die Flüsse schippern und fischen, und ich dachte mir, das könnte ihm vielleicht Spaß machen.« Bens Verhalten ließ nie erkennen, daß er nicht Matts Onkel war, mit Ausnahme der wenigen Situationen, in denen er zu Besuch kam und Matt sich auf seinem Schoß zusammenrollte oder ihn bat, ihm eine Geschichte vorzulesen, und womöglich auch noch seine Hand hielt. Dann richteten sich Bens Blicke quer durch den Raum auf Carly, und Carly wußte ganz genau, was er empfand. Er ging zweifelsohne wesentlich besser mit Matt um als Cole, den es enttäuschte, daß Matts Leidenschaft ausschließlich Pferden und den Naturwissenschaften galt, mit Ausnahme von Mathematik. Und das nun ärgerte ihn wieder. Wie sollte er in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters treten, wenn er die Grundlagen der Algebra nicht beherrschte? Matt hielt sich liebend gern im Freien auf und freute sich auf die Reitstunden, die er zweimal wöchentlich hatte, wie auf nichts anderes. Cole wollte ihm das Schießen beibringen, doch Matt sagte, er würde niemals ein Lebewesen töten. »O mein Gott, er ist Ben so ähnlich, daß ich manchmal schon fast glaube…« Aber er glaubte es nicht wirklich. Hin und wieder hatte Carly den Eindruck, daß Cole eifersüchtig auf Ben war. Sie wußte, daß er unmöglich ahnen konnte… daß er unmöglich wissen konnte. »Ben«, sagte sie unvermittelt, »warum heiratest du nicht und bekommst Kinder? Warum siehst du dich nicht nach einer Gefährtin um?« Ben lachte laut. »Ist es etwa das, was du für Cole bist? Eine Gefährtin? Und ist er dein Gefährte?« »Du weißt, was ich meine.« »Du meinst genau das, wovon die gesamte gute Gesellschaft spricht. Es ist den Leuten unerträglich, jemanden zu sehen, der allein lebt und das Leben genießt, obwohl in Wirklichkeit niemand eine glückliche Ehe führt.« »Was ist eine glückliche Ehe?« fragte Carly. »Ich glaube, daß Cole 331
und ich…« »Hör doch auf, Carly. Er erträgt die Vorstellung nicht, daß du mehr verdienst als er. Er hat sein Geld nur dem Umstand zu verdanken, daß er ein Coleridge ist…« »Das ist nicht wahr. Schließlich ist er inzwischen Generaldirektor der Spar- und Darlehenskasse von Destin. Und er hat auch vorher schon immer hart gearbeitet.« »Das bestreite ich nicht. Aber du brauchst dir doch nur anzusehen, was du angehäuft hast. Und ich glaube, wenn dein neuestes Geschäft sich so entwickelt, wie du es dir wünschst… Cole mißt Erfolge an Geld, und seine liebe Frau ist finanziell ebenso erfolgreich wie er, wenn sie ihn nicht sogar noch übertrifft. Einem Mann mit Coles Ego fällt es schwer, das zu verkraften.« Carly dachte darüber nach. Sie war nie auf die Idee gekommen, daß Cole sich durch das Geld, das sie verdiente, unterlegen fühlen konnte. »Glaubst du das wirklich? Sind alle Männer so? Könntest du es verkraften?« Ben schüttelte den Kopf. »Ich glaube, bei mir hätte es nichts mit dem Ego zu tun, aber ich hätte echte Schwierigkeiten mit einer Frau, die ein Vermögen damit macht, daß sie jungfräuliches Land verkauft, damit Hunderte von Häusern darauf gebaut werden können.« Nach einer Weile fragte Carly: »Glaubst du wirklich, daß ich Coles Ego schade?« »Ja. Er hat erwartet, daß du eine Zierde des Country Club sein wirst, daß du einen guten Eindruck erweckst, wenn er, mit dir an seinem Arm, öffentlich auftritt, daß du ihm bewundernd in die Augen siehst und ihm sagst, wie klug er ist… Er hat sich eingebildet, daß du, da er ja, wie er meinte, eine Ehe, die unter seiner Würde ist, eingegangen ist, ihm ewig dankbar dafür sein wirst. Aber ich? Ich käme problemlos damit zurecht, Carly«, sagte Ben lächelnd. »Ich hätte keinerlei Schwierigkeiten damit, dich zur Frau zu haben, auch wenn ich das mit dem Land gesagt habe.« Jetzt lachte Ben. »Und als Gefährtin.« Carly fragte sich einen Moment, warum ihre Brust sich schmerzhaft zusammenzog. »Ich glaube nicht«, wechselte sie das Thema, »daß Cole etwas dagegen hat, wenn du Matt nach Oregon mitnimmst, und Matt wird begeistert sein, wenn er davon erfährt.« Ben nickte, den Blick immer noch auf sie gerichtet. »Mir macht es sogar Spaß, Carly, mit dir zu streiten. Und, verdammt noch mal, 332
eines Tages wirst du so denken wie ich.« »Was heißt das?« »Du wirst erkennen, daß Geld und Status unwesentlich sind, solange du beides nicht für etwas Gutes einsetzt. Ein Vermögen anzuhäufen hat nichts mit Glücksgefühlen und mit echter Ausgeglichenheit zu tun. Solange du das nicht begreifst, wirst du niemals wissen, was Glück ist.« Carly lächelte geheimnisvoll. »Wie kommst du auf den Gedanken, ich könnte heute nicht glücklich sein?« »Bist du es etwa?«
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Carly stritt sich oft mit Ben – niemals erbittert, aber oft leidenschaftlich. Sie war sich absolut bewußt darüber, daß sie nach diesen Auseinandersetzungen lange über die Dinge nachdachte, die er gesagt hatte, und mit der Zeit veränderte sich ihre Weltsicht. Es war nie ein Streit von der Sorte, wie sie ihn mit Cole hatte; in ihren Auseinandersetzungen mit Cole drehte es sich oft darum, daß sie arbeitete, daß sie all dieses Geld verdiente und daß sie sich im Immobilienwesen von Houston einen großen Namen gemacht hatte. Ansonsten stritten sie und Cole sich über Matt. Carly wollte, daß Cole den Jungen nicht bedrängte. Matt war kein Intellektueller. Als Cole in Matts Alter gewesen war, hatte er nichts anderes als Einsen nach Hause gebracht. »Ausgerechnet Vögel will er beobachten!« rief Cole aufgebracht. »Will er etwa Vogelwart werden, oder was?« »Das ist ein schönes Hobby«, entgegnete Carly. »Kein Konkurrenzkampf und keine Gewalttätigkeit.« »Ich weiß schon, das hat er von dir. Seit dieser Sache damals mit Zelda Maries Ehemann dreht sich dir bei jeder Form von Gewalt der Magen um. Aber ich wünschte, Matt ginge es nicht so. Ich hätte gern einen echten Jungen zum Sohn.« »Läßt sich Männlichkeit an einem Gewehr messen?« fragte Carly und staunte selbst darüber, daß sie sich mit einer Familie von Männern mit einem derart zerbrechlichen Ego eingelassen hatte. Hätte es für Cole eine Bedrohung dargestellt, wenn er gewußt hätte, daß Matt nicht von ihm war? »Ja, klar«, sagte Cole zu Ben, »wenn Matt Lust hat, fände ich die Osterferien gar nicht schlecht. Vielleicht können Carly und ich dann einen Kurzurlaub in Florida machen.« »Florida?« fragte Carly blinzelnd. »Ich habe da etwas von einer Jacht gehört. Eine tolle Idee, um Bankkunden etwas zu bieten. Und außerdem läßt es sich auch noch von der Steuer absetzen.« Ben warf Carly einen Blick zu. Nach dem Mittagessen fuhr Ben nach Aransas Pass zurück. Als Cole Carly fragte, ob sie für den Abend schon etwas vorhätten, und Carly den Kopf schüttelte, verkündete er: »Dann werde ich heute mit Lloyd Martin zu Abend essen. Er möchte ein paar geschäftliche Dinge mit mir besprechen, und das scheint der einzige Zeitpunkt zu sein, zu dem ich ihn einschieben kann.« 334
»Okay«, sagte Carly und streckte sich, um ihm einen Kuß auf die Wange zu geben, »dann werden Matt und ich zu McDonald’s gehen. Das liebt er.« Carlys Gedanken überschlugen sich. Sie fragte sich, ob sie wegen dieses neuen Grundstücks nicht doch Shep Lenchek anstatt BB&O anrufen sollte. BB&O betrachteten ein Grundstück immer unter allen erdenklichen Blickwinkeln. Sie gingen sehr gründlich vor und waren daher langsam. Dort würde man wochenlang Gedankenspiele mit dieser Idee betreiben. Man debattierte darüber und kam dann vielleicht sogar zu dem Schluß, daß sie ohnehin schon mehr als genug zu tun hatten. Die Firma hatte unglaublich expandiert und den Auftrag für ein neues Bankgebäude in Phoenix angenommen, und für Señor Rosas bauten sie gerade das dritte mexikanische Hotel. Im weit entfernten Santiago hatten sie den gesamten Innenstadtkomplex übernommen, Bürogebäude und einen Park, und in St. Louis die LaSalle-Klinik hingestellt. Ihr exzellenter Ruf hatte sich ausgebreitet, und sie waren sehr gefragt. Die Leute rannten ihnen das Haus ein. Einige Aufträge hatten sie sogar abgelehnt, weil Dan die Vorschläge, die man ihnen vorlegte, nicht gefielen. Sie konnte sich aber auch vorstellen, daß Dan die Nase rümpfte, wenn er etwas von einem Projekt in einem ländlichen Gebiet nördlich von Houston hörte. Ab und zu hatte er einen Auftrag für ein Privathaus angenommen, wenn es sich in einer Preisklasse von mehr als einer Million Dollar bewegte, aber selbst dann nur, wenn es sich bei den Auftraggebern um Freunde von ihm handelte. Ansonsten konzentrierte er sich ausschließlich auf die großen Gebäude. Sie hatte gehört, daß Shep Lenchek auf der Suche nach Land war, das erschlossen werden konnte. Und zweihundertdreiunddreißig Acres in einer Lage, in der ein Wohnhaus mindestens zweihunderttausend kosten würde, konnten ihn eventuell zeizen. Sie rief ihn an, und er war damit einverstanden, am nächsten Vormittag mit ihr rauszufahren. Bis dahin hatte Carly einen Lageplan, sie hatte Schätzungen über die Kanalisation und den Wasseranschluß eingeholt, und sie war bestens darüber informiert, wie die Bauvorhaben zu beiden Seiten des Grundstücks aussahen. Es stand ohne jeden Zweifel fest, daß sich gerade dort in der allernächsten Zukunft etwas tun würde. Es war eine Wohngegend für Männer, deren Ehefrauen zweimal wöchentlich zum Friseur und zur Maniküre gingen, und es sollte einen geregelten Busverkehr für die Hausangestellten geben, die 335
allmorgendlich in Scharen eintreffen würden, damit besagte Ehefrauen tagsüber Zeit hatten, um Tennis zu spielen, einkaufen zu gehen, sich zum Mittagessen zu verabreden oder Bridge zu spielen. Ein flüchtiger Blick genügte Shep Lenchek. »Was will der Kerl dafür haben?« fragte er. »Sechs Millionen.« Er lief zwischen den gleichmäßigen Reihen von Maisstengeln über das Feld. Vielleicht stellt er sich gerade vor, dachte Carly, wie Straßen quer durch das Feld verlaufen werden. Wie sie schon bemerkt hatte, sagte auch er jetzt: »Da fehlen die Bäume.« Carly erwiderte nichts darauf. Shep hatte bereits genügend Häuser gebaut, und daher erübrigte es sich, ihm etwas über das Grundstück zu erzählen. »Himmel«, sagte er mit seiner rauhen Stimme, »das sind fünfundzwanzigfünfzig pro Acre. Vor zwei Jahren hätte man noch keine fünfhundert dafür bekommen.« »Und nächstes Jahr kriegen Sie es nicht mehr für fünfunddreißigtausend pro Acre«, sagte Carly. Shep kaute auf seiner Unterlippe. »Glauben Sie, er gibt sich mit fünf zufrieden?« »Ich bezweifle es, aber Sie können es gern versuchen.« Sie sah Shep deutlich an, daß er seinen Entschluß bereits gefaßt hatte. »Okay, wir bieten ihm fünf an und sehen, mit welchem Gegenangebot er rausrückt.« Am Nachmittag des darauffolgenden Tages erschien Carly in Shep Lencheks Büro. »McCullough ist noch nicht einmal zu einem Gegenangebot bereit. Volle sechs Millionen, oder das Geschäft kommt nicht zustande. Er sagt, er könne es sich leisten, ein oder zwei Jahre darauf sitzenzubleiben, wenn es sein muß.« »Dazu wird es aber nicht kommen, stimmt’s? Jemand anders wird sich das Grundstück unter den Nagel reißen.« »Und wahrscheinlich sogar zu einem noch höheren Preis, wenn McCullogh sechs Monate warten muß.« »Lassen Sie uns gleich überprüfen, ob Mehrfamilienhäuser zugelassen sind. Wenn ja, dann rede ich mit meinen Bankiers und sehe, ob ich das Geld auftreiben kann.« Carly war ziemlich sicher, daß Shep erst gar nicht mit einem Bankier zu reden brauchte. »Ich kann hier zweihundertsiebenundneunzig Häuser mit jeweils gut einem halben Acre Land hinstellen, mit breiten Alleen, und die Bäume können wir anpflanzen. Jedes Haus wird einen Pool haben. 336
Sagen wir doch ganz einfach, die Hälfte der Häuser wird einen halben Acre Land haben, die übrigen zwischen dreiviertel und einem ganzen, damit genug Raum für Tennisplätze und dergleichen ist. Jedes Haus sollte minimal… aber wir müssen auch an die größeren denken… da sollten brutto mindestens vierundsiebzig Millionen rausspringen.« Das war fast genau die Zahl, die Carly ausgerechnet hatte. »Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen«, sagte Shep. Carly hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß sie mit diesem Projekt an niemanden sonst herangetreten war. Um drei Uhr hatte sie bereits in Erfahrung gebracht, daß die vordere Hälfte des Landes für Wohnhäuser mit mehreren Wohnungen freigegeben war, die hintere Hälfte jedoch nur für Einfamilienhäuser. Genauso hatte sie es sich vorgestellt. Im hinteren Bereich, auf dem die Bäume standen, Einfamilienhäuser, in der baumlosen vorderen Hälfte Wohnungen. Am nächsten Tag kaufte Shep Lenchek McCullough das Land ab, und Carly verdiente dreihundertsechzigtausend Dollar, für die sie weniger als eine Woche gearbeitet hatte. Sie war so aufgeregt, daß sie es unbedingt Walt erzählen mußte. Sie rief ihn am späten Nachmittag an, als er noch in der Bank war. »Kommt am Wochenende runter«, schlug er vor. »Das feiern wir. Wir haben euch alle zusammen schon seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen.« Als sie Cole diesen Vorschlag am selben Abend unterbreitete, sagte er: »Fahr du mit Matt hin. Ich bin vollauf mit diesem neuen Projekt beschäftigt, und es kann sein, daß ich nach Washington fliege, um mit Bill Wallace zu reden. Das ist ein Anwalt, der sich mit den Vertracktheiten der Spar- und Darlehenskassen auskennt wie kein zweiter. Außer vielleicht Fred McKay, und der sitzt in Dallas. Ich will nicht, daß jemand aus Dallas die Finger im Spiel hat.« »Könntest du das nicht während der Woche tun?« fragte Carly. »Es hat dir doch immer Spaß gemacht, nach Verity zu fahren. Du unterhältst dich stundenlang mit Walt über geschäftliche Angelegenheiten.« Cole schüttelte den Kopf. »Es geht leider nicht, und so hast du auch mehr Zeit, mit Matt zu Zelda Marie und ihren Pferden rauszufahren. Matt wird sich dort im siebten Himmel fühlen.« Vielleicht wollte Cole nur deshalb nicht mitfahren, weil Walt unglaublich stolz auf sie sein würde, daß sie einen solchen Geschäftsabschluß getätigt hatte, und er neidisch gewesen wäre. Vielleicht hatte Ben recht. Carly 337
fragte sich, wie viele geschäftliche Dinge Cole an einem Wochenende mit einem Anwalt aus Washington regeln konnte, der wahrscheinlich ohnehin lieber auf dem Potomac segelte oder Tennis spielte. Wäre er auch plötzlich nach Washington geflogen, wenn sie dieses Geschäft nicht gemacht hätte, wenn sie ihm nicht vorgeschlagen hätte, nach Verity zu fahren? In dieser Nacht schliefen sie zum erstenmal seit zehn Tagen miteinander, doch Cole schien in Gedanken anderswo zu sein. Sobald es vorbei war, stand er auf, zog seinen Schlafanzug an und sagte: »Ich werde noch ein Weilchen in der Bibliothek arbeiten.« »Cole, stimmt etwas nicht zwischen uns?« Er zuckte mit den Schultern. »Nicht mehr als sonst auch.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und sah ihn an, und ihr blondes Haar fiel auf das Kopfkissen. »Was soll das heißen?« »Ich glaube, unser Leben wäre leichter, wenn du dich damit begnügen könntest, eine ganz normale Ehefrau zu sein.« »Was ist denn schwierig an unserem Leben?« Er zuckte erneut mit den Schultern. »Vielleicht wäre es gut, wenn wir noch ein zweites Kind hätten.« »Das hat doch nichts mit meiner Arbeit zu tun.« Cole sah sie einfach nur an und ging dann zur Tür hinaus. Sie hörte, wie er die Treppe hinunterlief. So gut wie jeder Immobilienhändler in Houston sah wie das Klischee eines Bilderbuchamerikaners aus, unterstützte die University of Texas in all ihren Sportarten, trug einen Anzug mit Weste (sogar mitten im Sommer) und eine Rolex und blitzblanke Stiefel. Carly stellte sieben dieser Männer ein, doch sie hatte auch sechs Frauen in ihrem Mitarbeiterstab. Sie kleideten sich so gut wie alle anderen Frauen in Houston auch. Carly sagte ihnen, wo sie ihre Sachen kaufen und wo sie sich das Haar machen lassen sollten. Das hieß nicht etwa, daß sie es ihnen vorschrieb, doch sie nannte ihnen die Namen einiger Friseure, die sich auf teure Haarschnitte spezialisiert hatten, Frisuren, die ihre Kundinnen elegant und doch lässig aussehen ließen. Und eben diese Ausstrahlung besaßen alle ihre Angestellten. Mit Ausnahme von einer waren sie verheiratet, und diese eine war von einem der führenden Anwälte Houstons geschieden worden und hatte mindestens dreihundert Freundinnen, die im Traum nicht daran gedacht hätten, umzuziehen, ohne sich Rat von Binkie einzuholen. Binkie sagte ihnen, von wem sie sich ihre 338
neuen Häuser einrichten lassen sollten, wo sie die zuverlässigsten Kindermädchen fanden und sogar, in welche Kirche sie zu gehen hatten. Obwohl es in Houston massenhaft Baptisten gab, wie auch im Rest von Texas und im ganzen Süden, handelte es sich bei den Leuten, die sich bei Binkie Rat holten, vorwiegend um Methodisten. In Houston existierte keine so große Methodistengemeinde wie in Dallas, doch die Methodisten, die Binkie kannte, waren alle steinreich. Carly mochte Binkie von all ihren Leuten am liebsten, und sie bemühte sich, einmal wöchentlich mit ihr mittags essen zu gehen. Sie hatten einander schon gekannt, als Binkie noch verheiratet gewesen war. Sie und Alex waren die beiden einzigen Frauen in Carlys Bekanntenkreis, die Würde ausstrahlten. Binkie hatte sich bei ihrer Scheidung unsäglich reinlegen lassen. Als es sich in Houston rumgesprochen hatte, wie miserabel Binkie bei ihrer Scheidung weggekommen war, war Carly an sie herangetreten und hatte sie aufgefordert, Grundstücke für sie zu verkaufen. Im ersten Moment war Binkie entgeistert gewesen. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag gearbeitet. Aber als Carly ihr erzählt hatte, wieviel Geld sie damit unter Umständen verdienen könne, hatte Binkie sich gesagt, es sei einen Versuch wert. Das war vor mehr als zwei Jahren gewesen, und inzwischen gehörte Binkie zum Millionenclub. Sie konnte ohne die geringste Anstrengung ein Haus verkaufen. Die Leute wandten sich von selbst an sie. Binkie war Carlys wertvollste Mitarbeiterin. Wenn Binkie eine Million im Jahr verdiente, dann hieß das, daß sie die entsprechende Summe auch in die Firma einbrachte. Die alteingesessenen Immobilienhändler hätten sich gern über Carly und Binkie lustig gemacht, doch sie begriffen schon bald, daß man damit lediglich den Eindruck erweckt hätte, die Trauben hingen einem zu hoch. Im allgemeinen waren dieser Clique erfolgreiche Frauen verhaßt, und doch mußte man selbst dort zugeben, daß diese beiden Frauen grandios waren. Abgesehen von Carlys sechs Mitarbeiterinnen gab es nicht einmal zwei Dutzend Immobilienhändlerinnen in ganz Houston. Texas war schließlich ein Land für Männer. Als Carly am nächsten Nachmittag nach Hause kam, zog sie ihr Kostüm aus rosa Shantungseide aus, stieg in Shorts und lief zu der Umkleidekabine am Pool. Dort schenkte sie sich ein Glas Mineralwasser mit einem Spritzer Zitrone ein. Sie wartete auf Matt. Meistens fuhr sie morgens mit Matt und noch drei weiteren Jungs 339
zum St. John’s, und nachmittags wurden sie von einer der anderen
Mütter abgeholt. Carly vermutete, daß es Matt an einem so heißen
Tag sofort nach seiner Rückkehr an den Pool lockte. Und sie lag
richtig mit ihrer Annahme. Nachdem er ins Wasser gesprungen war,
rief sie ihm zu: »Hast du Lust, am Wochenende Grandma und
Grandpa zu besuchen?«
»Fliegen wir? Können wir zur Ranch fahren? Darf ich eher aus der
Schule raus?« Und: »Kann Onkel Ben auch rüberkommen?«
»Was du für eine Menge Fragen stellst. Und dabei habe ich von dir
nur wissen wollen, ob du Lust hast, hinzufahren.«
»Ja, klar. Ich wäre nirgendwo sonst lieber.«
Welch eine Ironie des Schicksals, dachte Carly.
Und eine ebensolche Ironie des Schicksals war es, daß sie jedesmal,
wenn sie einen Erfolg zu feiern hatte, nach Verity zurückkehren
mußte.
340
53 Carly erlaubte es Matt, am Freitag die letzte Unterrichtsstunde ausfallen zu lassen. Walt holte sie in Corpus Christi ab, und um Viertel vor fünf waren sie in Verity. Diesmal gab’s Abendessen in den Weiden, Francey hatte ihre berühmte Lasagne gemacht. Sie lachte, als sie sah, wie Matt darüber herfiel. Walt sagte, er fände es schön, wenn sie am nächsten Tag alle zu Zelda Marie rausführen. Aber schon am frühen Morgen. Walt sah zu, wie Matt eine Waffel nach der anderen verschlang. »Niemand«, sagte Matt zu seiner Großmutter, »macht ein besseres Frühstück als du.« Sie gab ihm einen Kuß und zerzauste sein Haar. Francey und Walt waren bisher noch nie mit ihr zur Ranch rausgefahren, und Carly dachte sich schon, daß etwas dahintersteckte. Zelda Marie fanden sie natürlich nicht im Haus vor. Carly fragte sich, ob sie sich jemals dort aufhielt. Sie gingen über die Wiese zum Stall, liefen im Zickzack durch die Schatten der hohen Mesquitebäume. Drei Pferde standen auf der Koppel hinter dem Pferdestall, und bei einem von ihnen war ein Fohlen auf noch ganz wackligen Beinen. Matt rannte zum Zaun und starrte die Pferde an. Komisch, daß sie Verity so sehr gehaßt hatte und ihr Sohn sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als hier aufzuwachsen. Er wäre gern Cowboy oder Rancher geworden. Walt stand da und hatte die Hände auf die Schultern des Jungen gelegt. Jetzt führte er ihn in den Stall. Zelda Marie und Rafael waren in ein Gespräch vertieft, blickten jedoch auf, als sie eintraten. Zelda Marie kam eilig auf sie zu, umarmte Carly, gab Walt und Francey einen Kuß und schaute zu Matt hinauf. »Meine Güte, es ist einfach unglaublich, wie schnell du wächst. Muß ich dir die Hand drücken, oder darf ich dir noch einen Kuß geben?« Matt grinste sie an und hielt ihr die Wange hin. »Ihr habt es ihm noch nicht erzählt?« fragte Zelda Marie Walt. »Nein.« Walt machte den Eindruck, als würde er jeden Moment platzen. »Wenn das so ist, dann kommt mit.« Zelda Marie ging ihnen voraus, an den Boxen der Pferde vorbei. Vor einer, in der ein junges Pferd stand, hielt sie inne. »Sag du es ihm. Schließlich ist es ein Geschenk von dir.« Walt sah Matt an. »Dieses Pferd hier entspricht nicht den 341
erforderlichen Kriterien und wird daher keine Züchterpreise gewinnen«, erklärte er. »Aber es ist trotzdem ein tolles Pferd und genau im richtigen Alter, um es zuzureiten. Ich habe mir gedacht, das heißt, deine Großmutter und ich haben uns gedacht, Rafael könnte es für dich zureiten, und wenn du herkommst, hast du ein eigenes Pferd und…« »Se llama Chazz.« Rafaels Stimme ertönte unvermittelt hinter ihnen. »Chazz.« Matts Stimme klang, als stünde er vor einem Altar. Dann drehte er sich zu seinem Großvater um und schlang ihm die Arme um die Taille. Carly war froh, daß Cole nicht da war und die Tränen in den Augen ihres Sohnes sehen konnte. Sie mußte mehrfach schnell hintereinander blinzeln, und sie bemerkte, daß es Walt nicht besserging. Francey lief eine Träne ungehindert über die Wange. Nach einer Stunde brachen Walt und Francey auf und sagten, sie kämen um halb sechs wieder, damit Carly und Zelda Marie den Tag ungestört verbringen und Matt und Chazz in aller Ruhe Bekanntschaft miteinander schließen konnten. Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, als Carly sagte: »Willst du es für dich behalten, oder redest du mit mir darüber?« Zelda Marie legte die Stirn in Falten. »Wovon sprichst du?« »Wenn Rafael dich anschaut, ist der Ausdruck in seinen Augen verräterisch.« »O Gott, Carly. Ich und ein Mexikaner? Weißt du überhaupt, was alle Welt dazu sagen würde?« »Einen Moment mal. Rede nicht von anderen. Was ist mit dir? Läuft etwas zwischen dir und Rafael?« »Mein Gott, nein. Ich meine, wir arbeiten zusammen wie… also, wir sind ein richtig gutes Team. Manchmal errät er, was ich denke, ehe ich es auch nur ausgesprochen habe.« Ihr Blick erschien Carly flehentlich. »Hat er eine Ehefrau in Mexiko?« »Sie ist bereits vor Jahren gestorben.« »Und in all der Zeit, die er schon hier ist, hat es keine Frau in seinem Leben gegeben?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Zelda Marie in einem Ton, der Carly aufhorchen ließ. »Meine Güte, Zelda Marie, du bist ja in ihn verliebt!« Zelda Marie brach in Tränen aus. »O Carly, sag das nicht. Ich habe noch nicht einmal mir selbst erlaubt, es laut auszusprechen. Ich will nicht, daß er fortgeht. Er gewinnt Prämien für mich, und ich bin auf dem besten Weg, genau den Stall zu haben, den ich mir schon immer erträumt 342
habe, und das habe ich vor allem ihm zu verdanken. Ich respektiere ihn, Carly. Er ist der beste Pferdetrainer und der phantastischste Mensch, der mir je begegnet ist.« Und Tränen rannen über ihre Wangen. Carly schlang die Arme um Zelda Marie. Wie gräßlich es doch war, in jemanden verliebt zu sein und es nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen zu dürfen. »Es tut mir leid, daß ich davon angefangen habe«, murmelte sie in das Haar ihrer Freundin. Zelda Marie rang mühsam darum, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Komm«, sagte sie zu Carly. »Jetzt bist du schon so lange hier, und wir waren noch nicht mal drüben, damit du dir das neue Haus ansehen kannst. Das ist doch nicht zu glauben. Nur die Götter wissen, wann es fertig sein wird. Rafael sagt, es sei ein Haus für eine Königin.« Und genau dafür hält er dich, dachte Carly. Ich habe es ganz deutlich in seinen Augen gesehen. Es stand eine Meile entfernt dicht neben einem kleinen Teich. Das Haus hatte zweiunddreißig Zimmer. Carly mußte laut lachen. Zweiunddreißig Zimmer und elf Bäder. Es war die Nachbildung eines Südstaatenhauses aus den Vorkriegszeiten, das Zelda Marie in Mississippi gesehen hatte, nur noch größer. »Es wird noch Monate dauern, bis es fertig ist«, sagte Zelda Marie. »Wenn ich’s mir ansehe, glaube ich nicht einmal, daß ich es dieses Jahr noch erlebe. Aber ich habe keine Eile.« »Unternimmst du ab und zu etwas?« fragte Carly. Als sie noch Kinder waren, hatte Zelda Marie Unmengen von Freundinnen gehabt. Sie kannte immer noch so ziemlich jeden, aber sie erzählte Carly, daß sie nicht mehr mit ihren Freundinnen in das einzige Kino der Stadt ging oder Karten mit ihnen spielte. Mit den Männern redete sie über Pferde und Rinder. Sie besuchte die Hochzeiten ihrer zahllosen Cousins und Cousinen, nahm an Elternabenden teil und ging zu regionalen Footballspielen und Konzerten und ins Ballett. Aber sie lud niemanden zum Abendessen ein, obwohl ihr neues Eßzimmer die halbe Stadt hätte fassen können. »Nach dem Umzug werde ich öfter Leute einladen«, sagte Zelda Marie. Doch das war es nicht, was sie wirklich wollte. Sie träumte davon, die Mexikaner einzuladen, die zu Carlos, Aofrasia und Rafael kamen. Sie hätte gern gesagt: »Am nächsten Sonntag kommt ihr alle zu mir.« Und dann würden die Fahrzeuge, die über den Feldweg fuhren, vor ihrem Haus anhalten, und sie würde bunte Lampions aufhängen, die sie in der Abenddämmerung anzündete, und Rafael 343
würde mit ihr tanzen, und alle würden ihnen zusehen, als wäre es die
natürlichste Sache auf der Welt.
Ja, das schwebte ihr vor, wenn sie von Einladungen sprach. Und
wenn sie dieses große Haus ansah, das sie sich gerade bauen ließ,
dann wußte sie ganz genau, daß die Mexikaner niemals herkommen
würden, um hier zu tanzen, und sie verlor jegliches Interesse daran.
Sie hatte es absolut nicht eilig mit der Fertigstellung. Manchmal
redete sie sich sogar ein, es existiere gar nicht.
»Ich frage mich, von welchen Wahnvorstellungen ich besessen war,
die mich ein solches Haus bauen ließen«, sagte sie laut.
Als sie zurückkamen, teilte Ao Zelda Marie mit, Mrs. Davis habe
angerufen und wollte Carly sprechen. »Ben hat angerufen«, sagte
Francey. »Er ist nach Houston geflogen, um dich zu sehen, und du
warst nicht da. Er möchte, daß du ihn anrufst. Er ist bei dir zu
Hause.«
»So ein Mist«, sagte Ben am anderen Ende der Leitung. »Niemand
ist hier.«
»Du hättest mir vorher Bescheid geben sollen«, erwiderte Carly.
»Und du hättest mir mitteilen sollen, daß es dich in meine Richtung
verschlägt. Also, ich buche jetzt einen Rückflug nach Corpus Christi
und fahre von dort aus nach Verity runter. Was hältst du davon,
wenn ich bei deinen Eltern übernachte?«
»Ist etwas Besonderes vorgefallen?« fragte Carly. »Gewissermaßen«, antwortete Ben. »Und außerdem möchte ich Matt
sehen. Ich bemühe mich zwar, gegen diese Gefühle anzukämpfen…«
Er hatte sich bemerkenswert gut gehalten, was das betraf. »Klar«,
sagte Carly. »Mom und Walt freuen sich immer, wenn du kommst.«
Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Matt und ich freuen uns natürlich
auch.«
»Okay, dann bis später.«
»Fahr vorsichtig. Bis dahin wird es schon dunkel sein.«
»Ja, klar.«
»Was ist los, Ben?«
Als sie auflegte und sich umdrehte, sah sie Zelda Marie in der Tür
stehen. »Dann hat es uns also beide erwischt, stimmt’s?«
»Wie meinst du das?«
»Wir befinden uns beide in einem Dilemma – ich und Rafael, du und
Ben.«
Carly hielt den Atem an. »Was soll der Blödsinn? Zwischen Ben und
mir ist nichts. Wir sind gute Freunde. Er ist der Bruder, den ich nie
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gehabt habe… Gemeinsam mit dir und Walt zählt er zu meinen besten Freunden.« »Hast du dich je gefragt, ob er in dich verliebt ist?« »Nein, nie«, antwortete Carly, aber das war gelogen. Damals hatte sie sich diese Frage oft gestellt, zu der Zeit, als sie sich an den Dienstagnachmittagen im Shamrock geliebt hatten. Als sie Matt gezeugt hatten, hatte sie sich gefragt, ob sie ineinander verliebt waren. Aber nachdem der ursprüngliche Zweck erfüllt war, hatte sich allmählich eine Freundschaft entwickelt, die sie sehr zu schätzen wußte. Doch sie waren Matthews Eltern, und wenn der Junge etwas Unwiderstehliches sagte oder tat, trafen sich ihre Blicke quer durch den Raum. Es war ein Geheimnis, das nur sie miteinander teilten. Natürlich hatte sie sich oft gefragt, ob er andere Frauen mit der gleichen Leidenschaft liebte wie damals sie. Sie zweifelte nicht daran, daß es eine Menge Frauen in seinem Leben gegeben hatte. Und doch hatte er nie geheiratet. Als sich aus seiner Beziehung mit dieser Liz Andrews, die Ben damals zum Abendessen mitgebracht hatte, nichts entwickelt hatte, war Carly insgeheim erleichtert gewesen. Er hatte einmal zu ihr gesagt, er habe zuviel zu tun, und eine Frau lasse sich niemals auf seinen Tagesablauf ein und auch nicht auf die Zeiten, die er brauche, um über die Dinge nachzudenken, die er schreibe. Walt, Francey und Carly waren auf der Terrasse hinter dem Haus und sprachen über Carlys jüngstes Wagnis. Sie hatte in weniger als einer Woche mehr als dreihunderttausend Dollar verdient. »Du hast schon immer Geschäftssinn besessen«, sagte Walt. »Das trifft übrigens auf euch beide zu.« Er und Francey saßen auf einer Hollywoodschaukel und hielten einander an den Händen. Carly schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Cole und sie das nie taten. Als Ben kurz nach neun kam, machte ihm Francey Brote mit Hackbraten und dick Senf und Gewürzgurken drauf. Er verschlang sie, als hätte er seit Tagen nichts mehr gegessen. »Jedenfalls seit dem Frühstück nicht mehr«, gestand er ein. Dazu trank er zwei große Gläser Eistee. Carly mußte sich wieder einmal sagen, daß es keinen einzigen Mann in ihrem ganzen Bekanntenkreis gab, der besser aussah. »Ich war ziemlich sauer, als ich raufgeflogen bin, um dich zu überraschen, und dann niemand da war.« Carly sagte kein Wort. »Ich brauche Rat.« »Wenn Sie sich allein mit Carly unterhalten möchten, können wir…« 345
»Nein, Sir«, unterbrach Ben Walt. »Ihre Meinung würde ich auch gern dazu hören. Ich lege sogar ganz besonders großen Wert auf Ihre Meinung.« »Mit Schmeicheleien kommen Sie…« »Das sind keine Schmeicheleien, Sir. Ich sage nur das, was ich wirklich meine.« Walt nickte und nahm Bens Kompliment damit an. Ben trommelte mit den Fingern auf die hölzernen Armstützen des Stuhls, auf dem er sich jetzt zurücklehnte. »Eine ganz verrückte Angelegenheit«, sagte er. »Gestern abend ist der Ausschuß der Demokratischen Partei meines Bezirks an mich herangetreten. Sie wollen, daß ich als Kongreßabgeordneter kandidiere.« Carly lachte. »Findest du das wirklich komisch?« Ben sah sie mit der gleichen Schärfe an, mit der er die Frage gestellt hatte. »O nein.« Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich denke nur gerade, daß deine Familie dich als das schwarze Schaf ansieht. O Ben, ich finde es einfach wunderbar. Vielleicht ginge es mit unserem Land nicht ganz sosehr bergab, wenn es mehr Menschen wie dich an der Führungsspitze gäbe.« »Aber Sie sind sich nicht sicher«, sagte Walt. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Nein, keineswegs. Genau das ist der Haken. Und ich muß mit jemandem reden, mit jemandem, der mein Vertrauen besitzt.« Francey stand auf. »Ich glaube, ich sollte eine Kanne Kaffee kochen. Es klingt nicht so, als kämen wir heute früh ins Bett.« Geißblattgeruch hing in der Luft. In der Ferne bellte ein Hund. Eine Wolke zog vor den Mond und warf einen Schatten. Niemand sagte etwas, ehe Francey mit dem Kaffee zurückkam. »Okay, worin bestehen Ihre Vorbehalte?« fragte Walt. »Ich möchte die Zeitung nicht aufgeben«, antwortete Ben. »Dort steht es mir frei, alles zu sagen, was ich will. Siebenundfünfzig Zeitungen drucken meine Leitartikel nach. Hätte ich in Washington jemals soviel Einfluß? Ich hasse Großstädte. Es ist mir verhaßt, Krawatten zu tragen. Ich hasse Menschenmassen. Es ist mir verhaßt, mich anpassen zu müssen. Es ist mir verhaßt, nicht mein eigener Herr zu sein. Müßte ich denn als Neuling im Kongreß nicht genau das tun, sagen und denken, was die hohen Tiere unter den Politikern von mir wollen?« Carly stand auf und bückte sich, um Ben einen Kuß auf die Stirn zu drücken. »Ich bin ja so stolz auf dich.« Er umfaßte mit seiner 346
gesunden Hand ihre Finger und ließ sie selbst dann nicht los, als sie sich wieder setzte. »Es geht hier nicht um Ideale«, sagte er. »Wir beide denken noch nicht einmal gleich. Ich weiß, daß du bei einer Wahl nicht für die Dinge stimmen würdest, an die ich glaube.« Carly dachte an die Klinik. »Ich bin dir ähnlicher geworden, als dir klar ist, Ben. Du siehst mich immer noch so, wie ich vor sieben oder acht Jahren war.« »Aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen hast du alles, was du willst.« Sie blickte zu den Sternen auf. Ja, sie hatte Geld, mehr, als sie sich jemals erträumt hätte. Sie wurde von der führenden Gesellschaft von Houston akzeptiert. Sie hatte einen Sohn, den sie über alles liebte, und sie hatte Eltern, die ihr eine echte Stütze waren. Und doch schwoll in ihr schon seit einer ganzen Weile diese Leere an. Sie hatte sie klein gehalten, gegen sie angekämpft. »Ich glaube, das steht hier nicht zur Diskussion«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. »Wenn ich die geistlose, hohle und oberflächliche Person wäre, für die du mich hältst, warum bist du dann überhaupt herkommen, um mit mir zu reden?« »Du bist weder geistlos noch oberflächlich. Das wollte ich damit nicht sagen. Aber du bist weitaus typischer für die Amerikaner als ich.« Ben lachte. »Ich bin hergekommen, Carly, weil du Verstand besitzt und ich sonst niemanden habe, mit dem ich über dieses Dilemma reden kann.« Sie wußten alle, daß er niemals seine Eltern um Rat gefragt hätte. Der einzige Punkt, in dem sie sich jemals einig gewesen waren, war der, daß Weihnachten ein nettes Fest war. »Dad und Cole kriegen einen Anfall, wenn ich für die Demokraten kandidiere«, sagte Ben, als gefiele ihm diese Vorstellung. »Betrachten wir uns doch einmal die andere Seite der Medaille. Schließlich muß es eine andere Seite geben, denn sonst wären Sie nicht hier.« Walt beugte sich vor. »Zuallererst einmal, und Sie werden gleich sehen, daß ich nicht mit Ihnen streiten will: Ist Ihnen klar, daß Macht korrumpiert? So mancher junge Politiker ist gewählt worden, weil er ein Idealist ist. Er bildet sich ein, er gehe nach Washington, um die Welt zu verändern, seine Ideale hochzuhalten und vielleicht sogar alte Hasen davon zu überzeugen, daß er recht hat. Aber Macht korrumpiert. Mir ist in meinem ganzen Leben noch nicht ein einziger Fall begegnet, in dem es nicht so gewesen wäre.« Carly hatte Walt noch nie so zynisch reden hören. Bens Augen bohrten sich in Walt. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß ich mich, wenn ich nach Washington gehe, werde korrumpieren 347
lassen? Wollen Sie sagen, daß ich mich verändern würde?« Walt zuckte mit den Schultern. »Es würde mich freuen, wenn Sie der eine wären, der meine Theorien widerlegt.« Sie saßen eine Zeitlang schweigend da, und dann sagte Carly: »Aber wenn niemand, der Ideale hat, in den Kongreß einzieht, wo bleibt dann das Land?« »Es wird so weitergehen wie bisher, nämlich bergab«, antwortete Walt. »Ich bin nicht optimistisch, was die Zukunft dieses Landes betrifft. Es herrscht zu viel Geldgier und zu viel Gewalt. Und noch etwas, Ben: Was wird aus der Zeitung? Wie wollen Sie sie am Leben erhalten, damit Sie später zurückkehren können?« »Ich weiß es nicht«, sagte Ben. »Ich liebe diese Zeitung wirklich, und ich liebe auch diese kleine Stadt. Da gehöre ich hin. Und ich will ganz gewiß nicht für eine Dauer von zweiundzwanzig Jahren in Washington leben.« »Lassen Sie uns diese Themen getrennt abhandeln«, meinte Walt. Und während sie genau das taten und bis weit in die Nacht hinein diskutierten, hielt Ben mit seiner gesunden Hand Carlys Hand.
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54
Am Sonntag morgen, nachdem sie Franceys berühmte Apfelküchlein gefrühstückt hatten, fuhren sie alle zur Ranch hinaus, Carly mit Walt und Francey und Matt mit Ben in seinem roten Pickup. »Ich wette, er wird kandidieren«, sagte Francey. Weder Walt noch Carly äußerten sich dazu. »Ben will die Welt retten«, fuhr Francey fort. »Wenn es sonst schon niemand versucht, dann wird er es probieren.« Als sie bei Zelda Marie angekommen waren, sprang Matt aus dem Auto und hüpfte vor Freude von einem Fuß auf den anderen. »Ich will mein Pferd reiten!« rief er und schlang seine Arme um Walt. »Onkel Ben und ich werden in Oregon dicke Fische fangen.« Carly wünschte, der Tag würde niemals enden. Sie verbrachten den Morgen im Stall mit Rafael, der sich, obwohl es Sonntag war, nicht verabschiedete, um sich zu seinen mexikanischen Freunden zu begeben. Zelda Marie machte Kartoffelsalat. Hamburger und Hot dogs warteten schon darauf, über Mesquiteholz gegrillt zu werden. Limonade und Eistee, pikant gewürzte Eier und ein gemischter Salat rundeten das Picknick auf dem langen Tisch unter den Bäumen ab. Sie saßen im Schatten und unterhielten sich, doch Bens Blicke folgten ständig seinem Sohn, und wenn er das Lachen des Jungen hörte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er sah zu Carly hinüber. Am späten Nachmittag fuhr Ben Carly und Matt zum Flughafen in Corpus Christi. Matt saß zwischen den beiden und redete während der ganzen Fahrt ununterbrochen. Zuhause, wenn Cole da war, sagte der Junge kaum ein Wort, da er ständig fürchten mußte, von Cole angefahren zu werden. »Laß mich wissen, wie deine Entscheidung ausfällt«, sagte Carly und griff nach Bens linker Hand, als sie am Flughafen angekommen waren. Matt zerrte an seinem Hemd, und Ben zog ihn mit seinem gesunden Arm an sich und gab ihm einen dicken Kuß. Dann beugte sich Ben, der Matt immer noch an sich drückte, vor und streifte mit seinen Lippen Carlys Wange. »Ich danke dir für dieses Wochenende«, sagte er. »Ihr seid mir eine große Hilfe gewesen.« »Ich auch?« fragte Matt. »Ja, du auch.« Ben lächelte ihn an. »Du bist mir immer eine große Hilfe. Schon allein deine Nähe hilft mir jedesmal.« 349
»Ich wette, du bist der tollste Onkel auf der ganzen Welt.« Matt umarmte Ben. »Nun, zumindest bin ich der einzige, den du hast«, sagte Ben und wandte sich wieder Carly zu. »Ich danke dir. An diesem Wochenende habe ich dich wirklich gebraucht.« Sie drückte seine Hand und streckte sich dann, um ihn auf die Wange zu küssen, doch er drehte den Kopf ein wenig, und ihre Lippen berührten sich, was sie äußerst bewußt wahrnahm. Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, sah sie sich nicht noch einmal nach Ben um, als sie ihrem Sohn folgte, der vor ihr hersprang. Cole war noch nicht wieder aus Washington da, doch sie fand eine Nachricht, daß er morgen mit dem ersten Flug komme und direkt ins Büro fahre. Am Abend sei er rechtzeitig zum Essen bei seinen Eltern. Einer der größten Vorteile, die es mit sich brachte, eine eigene Firma zu haben, bestand darin, daß man sich nicht an feste Arbeitszeiten zu halten brauchte. Daher war es schon nach halb zehn, als Carly die Glastüren zu ihrem Büro aufstieß. Ihre Sekretärin, eine gutaussehende Frau Mitte Zwanzig, trug ein rosa Kostüm. Sie achtete stets auf ihr Äußeres. Carly mochte Jeannie, die nicht nur den Dreh raushatte, den Leuten, die das Büro betraten, den Eindruck zu vermitteln, hier könnten sie sich zu Hause fühlen, sondern die ihre Tätigkeit zudem noch mit einer enormen Effizienz ausübte. »Shep Lenchek erwartet Ihren Rückruf so bald wie möglich.« »Ich hoffe, er macht keinen Rückzieher, was dieses McCulloughLand betrifft.« »Das Geld ist bereits auf der Bank«, sagte Jeannie. »Das Geschäft ist längst abgewickelt.« »Verbinden Sie mich mit ihm.« Carly betrat ihr Büro, das mit einem modernen Schreibtisch mit Glasplatte und Tischen mit Beinen aus schwarzem Metall eingerichtet war. An einem Ende des Raums stand ein schwarzes Ledersofa mit Quasten, und davor ein niedriger länglicher Couchtisch mit einer Glasplatte. Die Einrichtung unterschied sich gewaltig von der ihres Hauses, wo pastellfarbene Druckstoffe mit Blumenmustern und anmutige, weich fließende Linien dominierten. »Hallo, Carly. Ich will dieses Land verkaufen, dieses Maisfeld«, sagte Shep. »Sie besitzen es doch noch keine drei Wochen.« »Ich kann rechnen. Ich will acht Millionen dafür. Und keinen Cent weniger. Ein Teil davon ist für mehrstöckige Bebauung ausgewiesen. 350
Daran kann sich jemand eine goldene Nase verdienen.« »Acht Millionen?« Sie überschlug es schnell im Kopf. »Das ist ein Gewinn von fünfundzwanzig Prozent in einem Monat.« Er lachte. »Niemand hat mir je vorgeworfen, ich sei kein guter Geschäftsmann. Sie überlegen sich etwas, Carly. Ich überlasse Ihnen für sechs Wochen die alleinige Vertretung, und dann kommt es ohne Exklusivrechte auf den Markt.« Sie legte den Hörer auf, setzte sich und zog einen linierten gelben Block näher an sich heran. Ganz gleich, wer dieses Land bebaute, es ließ sich ein Heidengeld herausholen. Sie spielte mit Zahlen, bis sie drei Seiten gefüllt hatte. Dann nahm sie den Telefonhörer ab und rief Boomer an. »Ich würde dich und Dan gern heute noch treffen und eine Spazierfahrt mit euch unternehmen.« »Ich kann an deinem Ton erkennen«, erwiderte Boomer, »daß du etwas ausheckst.« »Stimmt genau.« »Jedesmal, wenn du das sagst, springt für mich eine ganze Menge Geld dabei heraus. In Ordnung, was hältst du von halb eins? Ich werde dafür sorgen, daß Dan sich ebenfalls frei nimmt.« Als Carly vor Lencheks Maisfeld hielt, sagte sie zu Dan und Boomer: »Seit dieser ersten Wohnanlage, die ihr vor ungefähr zwölf Jahren hingestellt habt, habt ihr keine Apartments mehr gebaut. Ich finde, ihr solltet dieses Grundstück kaufen.« Wenn sie das Land für acht Millionen verkaufen konnte, würde ihr das weitere vierhundertachtzigtausend bringen, ein Gewinn von rund achthunderttausend. Das mußte man sich mal vorstellen. Sie hatte damit gerechnet, daß Dan augenblicklich Einwände erheben würde, da BB&O in Aufträgen nur so schwamm. Inzwischen waren sie ein internationaler Betrieb. »Gibt es für Teile dieses Landes eine Genehmigung, Mehrfamilienhäuser hinzustellen?« wollte Dan statt dessen wissen. Carly fühlte sich von seiner Frage ermutigt. »Fünfundsiebzig Acres. Der Rest ist für Einfamilienhäuser vorgesehen.« Dan lief über das Maisfeld, und sein Blick wanderte zu dem bewaldeten Hügel dahinter. »Wenn man mir den anböte, würde ich keinen Moment lang zögern.« »Das, was ich euch im Moment anzubieten habe, ist das letzte noch vorhandene Baugrundstück in diesem ganzen Streifen.« Sogar jetzt am Mittag zur Essenszeit schwirrten die Geräusche von Planierraupen durch die Luft. »Was will er dafür haben?« fragte 351
Boomer. »Acht Millionen.« Dan und Boomer drehten sich beide zu ihr um und starrten sie an. »Acht Millionen für wie viele Acres?« Dans Stimme klang ungläubig. »Zweihundertdreiunddreißig Acres, das sind also vierunddreißigtausenddreihundertvierunddreißig pro Acre«, sagte Carly in einem Ton, als handelte es sich dabei um eine günstige Gelegenheit. »Und sechsundsiebzig Cent«, fügte Boomer hinzu. Carly drehte sich zu ihm um und sah ihn beeindruckt an. Auf der High-School war er in Mathe nie besonders gut gewesen. »Ihr wißt ganz genau, daß das ein anständiger Preis ist, wenn man bedenkt, wie gierig sich die Leute auf Grundstücke hier in dieser Gegend stürzen.« »Ja, schon, aber was ist mit den Einfamilienhäusern?« fragte Dan. »Himmel, fast fünfunddreißigtausend pro Acre!« Boomer wandte sich Dan zu. »Du hast doch ohnehin kein Interesse daran, Einfamilienhäuser zu bauen. Also kaufen wir das Land und behalten die fünfundsiebzig Acres für uns, die für Apartments vorgesehen sind, und die restlichen hundertachtundfünfzig verkaufen wir an einen Bauunternehmer, der sich danach verzehrt, hier eine Reihe Einfamilienhäuser hinzustellen.« »Wer würde Häuser auf einem Grundstück bauen wollen, auf dem nicht ein einziger Baum steht?« fragte Dan. »Bauunternehmer, die sich für den ästhetischen Standpunkt nicht interessieren«, antwortete Carly. »Und außerdem befinden sich auf der hinteren Grundstückshälfte Bäume.« »Ich weiß nicht so recht.« Dan rieb sich am Kopf und sah Boomer an. Mit einem Lächeln wies er auf die bewaldeten Hügel. »Also, wenn wir dieses Land jemals an uns bringen könnten, dann würde ich vielleicht sogar ins Auge fassen, Einfamilienhäuser zu entwerfen.« »Vergeßt das für den Moment«, sagte Carly. Was ihr gerade durch den Kopf ging, war, daß sie, sollten BB&O diese Acres erwerben, die sie Lenchek gerade erst verkauft hatte, ihren Prozentsatz kassieren und dann die Chance bekommen würde, einhundertachtundfünfzig dieser Acres ein drittes Mal zu verkaufen. Zwei Tage später, ehe Dan und Boomer die Lenchek-Verträge noch unterschrieben hatten, bekam sie einen Anruf von Webb Stuart, der gerade erst begann, sich einen Namen als Bauunternehmer zu machen. »Ich habe gehört, daß Sie oben in Bedford ein Grundstück 352
anzubieten haben«, sagte er. »Ich suche etwas in der Größenordnung von etwa hundertzwanzig bis hundertsechzig Acres, nicht weit von einem Einkaufszentrum und von guten Schulen entfernt, aber mit der Möglichkeit, sich billig an das Wassernetz und die Kanalisation anschließen zu lassen.« Carly lächelte unwillkürlich. »Ich habe hundertachtundfünfzig Acres vom Feinsten, Mister Stuart. Ich hole Sie morgen früh um neun Uhr ab.« »Eigentlich«, entgegnete Stuart, »würde ich gern jetzt gleich rausfahren.« Er sah sich um und fragte dann: »Wieviel wollen Sie pro Acre?« »Vierzigtausend.« Stuart zog einen Taschenrechner raus. »Das sind sechs Millionen dreihundertzwanzigtausend. Bieten Sie dem Vorbesitzer sechs Millionen an, und der Handel steht.« Als alles abgewickelt war, hatten BB&O das Land für acht Millionen erworben und einen Teil davon für sechs Millionen weiterverkauft, was hieß, daß ihre fünfundsiebzig Acres sie nur etwa siebenundzwanzigtausend pro Acre kosteten, und innerhalb eines Zeitraums von fünf Wochen verdiente Carly an einem Stück Land von zweihundertdreiunddreißig Acres mehr als eine Million. »Laß uns das feiern«, sagte sie zu Cole. »Wenn Matt und Ben nach Oregon fahren, könnten wir beide auf die Jungferninseln fliegen…« »Das ist ganz ausgeschlossen«, erwiderte Cole. »Ich habe in der letzten Zeit keinen Geschäftsabschluß mit Millionengewinnen getätigt.« »Hör schon auf, Cole. Es ist schließlich unser Geld. Das weißt du genau. Und außerdem verdienst du so viel, daß wir uns selbst dann, wenn ich nicht arbeiten würde, die wunderbarsten Reisen leisten könnten, wenn du dir bloß Zeit dazu nehmen würdest.« »Sagen wir es ganz einfach so: Ich habe gerade etliche Geschäfte angeleiert und stecke mitten in den Verhandlungen, und ich will mir nicht frei nehmen.« Carly seufzte. »Wir machen gar nichts mehr gemeinsam.« Wir schlafen nicht einmal mehr miteinander, dachte sie. »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Wir verbringen die Samstagabende im Club. Die Hälfte unserer Sonntage geht für deine Freunde Alex, Boomer, Dan und Tessa drauf. Und du bist doch diejenige, die nicht mit mir nach Elk Creek fahren will.« »Mir kommt es vor, als wären dort an den Wochenenden alle Leute, mit denen du geschäftlich zu tun hast. Und ich dachte bisher, daß 353
diese Sonntagabende dir Spaß machen. Mit Alex scheinst du immer viel zu besprechen zu haben, und auch mit Tessa.« Alex war wieder schwanger. David war inzwischen zwölf und Diane zehn. Und jetzt kam gänzlich unerwartet noch ein drittes Kind. »Ich hätte mir nie vorgestellt, eines Tages drei Kinder zu haben«, sagte sie zu Carly. »An mehr als eines habe ich eigentlich nie gedacht. Aber Boomer ist ein phantastischer Vater, und irgendwie ist seine Begeisterung ansteckend.« Carly sagte sich, daß sie, wenn sie Boomer geheiratet hätte, auch drei Kinder haben könnte. Ja, sie hätte am liebsten ein Dutzend Kinder gehabt. Oft sah sie Boomer an und fragte sich, wie es wohl wäre, mit ihm verheiratet zu sein und jemanden um sich zu haben, der sich für seine Kinder interessierte und offenbar immer noch gern mit seiner Frau schlief. Carly merkte, daß Boomers direkte Art Alex noch manchmal peinlich war. Er zählte nicht zu der Sorte Männer, ausnahmslos Gentlemen, mit denen Alex aufgewachsen war. Aber natürlich war es genau das, wovon sie sich angezogen fühlte. Und hatten sie früher Boomers Manieren, seine Überschwenglichkeit und seine Kleidung gestört, so hatte sie sich im Lauf der Zeit durchaus daran gewöhnt. Fest stand, daß Boomer in Houston ein Faktor war, den man nicht außer acht lassen durfte. Und BB&O hatten sich weit über die Grenzen von Texas hinaus einen Namen gemacht. Man hatte sie sogar aufgefordert, für ein Hotel in Kuwait Pläne einzureichen. Boomer und Dan machten den Arabern klar, daß sie, wenn sie sich an einer Ausschreibung beteiligen müßten, keinerlei Interesse hätten. Es sei nicht ihr Stil, die Angebote anderer zu unterbieten. Wenn die Hotelbesitzer Interesse an einem qualitativ hochwertigen Bauvorhaben mit allem Drum und Dran hätten, könnten sie ins Geschäft kommen, aber man denke nicht im Traum daran, sich an einer Ausschreibung zu beteiligen. Sie bekamen den Vertrag und absolut freie Hand. Carly seufzte und versuchte sich daran zu erinnern, wann ihre Ehe mit Cole aufgehört hatte, das zu sein, was sie zu Beginn einmal gewesen war. Ben behauptete, es habe damit zu tun, daß sie mehr Geld verdiene als Cole. War es denn möglich, daß das der Untergang ihres Sexuallebens gewesen war? Vielleicht wären ihr weniger Geld und eine bessere Beziehung lieber gewesen. Heute abend jedenfalls würden sie wie jeden Montag bei Coles 354
Eltern zu Abend essen.
Das Telefon läutete. Sie hoffte, daß es nicht Cole war, der ihr
mitteilte, daß er sich verspäten würde. Darüber ärgerte sich seine
Mutter jedesmal aufs neue. Die heisere Stimme einer Frau fragte:
»Mistress Coleridge?«
»Ja«, antwortete Carly.
»Wissen Sie, wo Ihr Mann am vergangenen Wochenende war?«
»Wie bitte?«
»Sie wissen es also nicht, stimmt’s?«
»Mit wem spreche ich überhaupt?«
»Mein Name ist Tricia Donovan. Ich habe das letzte Wochenende im
Mansion in Turtle Creek mit Ihrem Mann im Bett verbracht. Ich
habe auch vorher schon eine Menge Zeit mit Ihrem Mann im Bett
verbracht, Mistress Coleridge. Ich finde, Sie sollten das wissen.« Am
anderen Ende wurde aufgelegt.
Carly saß da und starrte das Telefon an. Das Mansion in Turtle
Creek? Das war eines der nobelsten Hotels von Dallas. Mit Cole im
Bett? Eine andere Frau mit Cole im Bett?
Ich habe auch vorher schon eine Menge Zeit mit Ihrem Mann im Bett verbracht. Als sie den Hörer auflegte, klingelte das Telefon sofort wieder. Sie nahm erst beim fünften Läuten ab. »Hallo, Liebes. Hör zu, ich bin wie üblich etwas spät dran. Wir treffen uns bei meinen Eltern. Es dauert höchstens eine halbe Stunde, bis ich dort bin.« Carly sagte kein Wort. »Bist du noch dran?« fragte er. »Ja, ich bin da«, antwortete Carly, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Was ist passiert? Du klingst so seltsam.« »Wer ist Tricia Donovan?« fragte sie. »O mein Gott, nein!« stieß Cole hervor.
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55 »Sie ist absolut belanglos, niemand von Bedeutung«, sagte Cole und schaute auf die Straße vor sich. »Niemand? Dann besitzt du also überhaupt keinen Geschmack?« »Ich meine, sie ist vollkommen unwichtig.« »Dasselbe trifft auf mich vermutlich auch zu.« Carly war den ganzen Abend über wütend gewesen, da sie sich während des Essens mit ihren Schwiegereltern ständig hatte zwingen müssen zu lächeln. Um zehn hatte sie gesagt, sie müsse gehen, da sie schon am frühen Morgen einen Termin habe. Carly wußte, daß sie ganz oben an der Spitze angelangt war. Es hätte beruflich nicht besser laufen können, und vermutlich würde auch nichts ihren Höhenflug aufhalten. Sie hätte vor Stolz platzen sollen, doch statt dessen war sie von einer unbändigen kalten Wut erfüllt. Es nützte nichts, wenn sie sich sagte, daß sie vor vielen Jahren mit Ben Ehebruch begangen hatte. Sie hatte sich eingeredet, sie hätte damals zielstrebig gehandelt – um Cole und seinen Eltern einen Gefallen zu tun. Es stand ihr nicht zu, so wütend zu sein, wie sie es jetzt war. »Warum?« fragte sie. Er antwortete nicht sofort, und dann sagte er mit leiser Stimme: »Ich weiß es nicht. Ich weiß selbst nicht, warum.« »Willst du dich scheiden lassen?« »O mein Gott, nein!« Jetzt löste er den Blick von der Straße und sah sie im Dunkeln an. »Warum also?« Er antwortete nicht. Den Rest der Heimfahrt legten sie schweigend zurück. Carly betrat das Haus durch die Garagentür, die in die Küche führte. Sie blieb im Flur stehen, zog ihren Mantel aus und stieg die Treppe mit den Teppichfliesen hinauf. Oben öffnete sie die Tür zu Matts Zimmer, warf einen Blick auf ihren schlafenden Sohn und lauschte seinem ruhigen Atem. Als sie bereits im Nachthemd an der Frisierkommode saß und ihr Haar bürstete, war Cole noch nicht nach oben gekommen. Eine weitere halbe Stunde verging. Carly zog sich ihren Bademantel über und lief über die geschwungene Treppe hinunter. Aus dem Arbeitszimmer drang ein Lichtschein. Cole saß auf seinem Schreibtischstuhl und starrte ins Leere. Er blickte nicht auf, als sie die Tür öffnete und im Türrahmen stehenblieb. »Ich will, daß du in einem der Gästezimmer schläfst«, 356
erklärte Carly. Er blickte immer noch nicht auf, sagte jedoch mit sehr leiser Stimme: »Sie findet mich wunderbar. Deshalb ist es dazu gekommen.« Carly blieb weiterhin mit verschränkten Armen in der Tür stehen, als wehrte sie eine unsichtbare Gefahr ab. »Ich fand dich früher auch wunderbar.« »Aber sie verdient hundertfünfzig Dollar in der Woche. Und sie ist auch nicht so klug wie ich. Sie redet nicht ständig nur über Geschäfte. Sie wirft mir nicht vor, ich sei starr und unbeugsam, wenn es um meinen Sohn geht.« »Du bist im Umgang mit Matt starr und unbeugsam.« Nicht im Umgang mit »deinem Sohn«. Cole erwiderte nichts darauf. »Ich kann nichts dafür, daß ich intelligent bin.« »Du bist versessen auf deine Arbeit. Du könntest sein wie andere Ehefrauen. Du könntest mir das Geldverdienen überlassen.« »Und dann hättest du keine andere Frau nötig? Willst du damit etwa sagen, wenn ich so wäre, wie du mich gern hättest, würdest du nicht nach anderen Frauen Ausschau halten? Meine Güte, Cole, du hättest im letzten Jahrhundert geboren werden sollen.« Er sah sie immer noch nicht an. »Ich gehe jetzt ins Bett«, sagte Carly. Am Morgen war Cole entweder schon aus dem Haus gegangen, als Carly wach wurde, oder er hatte gar nicht daheim geschlafen. Es war keine Spur von ihm zu sehen. Nachdem Matt zur Schule abgeholt worden war, setzte sich Carly an den Eßtisch und trank eine Tasse Kaffee nach der anderen. Dann nahm sie ein langes Bad und wünschte, sie hätte jemanden, mit dem sie reden könnte. Nicht Tessa. Und auch nicht Alex. Und schon gar nicht ihre Schwiegermutter. Sie griff nach dem Telefon. Als Francey am anderen Ende den Hörer abnahm, brach Carly in Tränen aus. »Mom… ich glaube, ich komme für ein paar Tage runter. Vielleicht sogar für eine ganze Woche. Ich lasse Matt vom Unterricht befreien. Er fährt ohnehin am Donnerstag mit Ben nach Oregon. Ich muß dringend mit dir reden.« »Was ist passiert, Liebes?« »O Mom, Cole schläft mit einer anderen Frau.« Francey zögerte. »Unternimm erst mal gar nichts. Ich setze mich in das nächste Flugzeug und fahre mit dir wieder runter. Du bist nicht in der Verfassung für eine lange Fahrt, jedenfalls nicht allein.« »Doch, doch. Ich hole Matt um zwölf von der Schule ab, und um die 357
Abendessenszeit sind wir da. Sei doch bitte so lieb und ruf Ben an… Oder nein, es ist besser, wenn ich das selbst mache. Morgen abend bringe ich Matt nach Aransas Pass. Dann braucht Ben nicht herzukommen, um ihn abzuholen. Ich muß dringend hier raus.« Sie brach wieder in Tränen aus. Carly zögerte, ehe sie Bens Nummer wählte. Sie hatte nicht die Absicht, ihm etwas von Coles Seitensprung zu erzählen. Sie mußte dafür sorgen, daß sie sich im Griff hatte, damit sie während des Gesprächs mit Ben nicht zu weinen begann. Ben war ganz begeistert, daß sie Matt zu ihm bringen wollte, ehe die beiden nach Oregon fuhren. Carly schrieb eine Nachricht für Cole, in der sie ihm ihre Pläne mitteilte. Dann packte sie zwei Koffer für Matt und einen für sich selbst, wobei in ihren nur bequeme Hosen und Baumwollblusen reinkamen. Sie wollte ihren Winterschlaf halten und außer Francey, Walt und Zelda Marie niemanden sehen. Möglicherweise würde sie sogar ein oder zwei Nächte draußen auf der Ranch verbringen. »Vielleicht sollte ich aufhören zu arbeiten«, sagte Carly zu ihrer Mutter. Francey musterte sie. Sie tranken Kaffee in Franceys Küche. »Vielleicht solltest du dir lieber Gedanken darüber machen, ihn zu verlassen.« »O Mom.« Carly war schockiert. »Ich denke, ich sollte besser in mich gehen. Ich meine, zu einer guten Ehe gehören schließlich zwei, oder etwa nicht?« Francey trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schaute zum Hinterfenster hinaus auf den türkisfarbenen Pool, der direkt am Hang lag. »Weißt du, was Walt mich gefragt hat?« Carly schüttelte den Kopf. »Ob du ihn liebst. Versuch mal, dir diese Frage zu beantworten. Ihr beide, du und Cole, scheint schon vor Jahren verschiedene Pfade eingeschlagen zu haben.« »Und das ist möglicherweise meine Schuld. Ich war nicht bereit, auf seinem zu bleiben und die pflichtbewußte Ehefrau zu spielen. Ich bin immer unruhiger geworden und wollte mich meinen eigenen Ambitionen widmen.« Francey beugte sich vor und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern »Es ist schon traurig, findest du nicht auch, daß die meisten Ehen nur dann klappen, wenn die Frau nachgibt.« »Bei dir war es nicht so.« 358
»Walt ist kein Durchschnittsmann, und ich bin so in ihn verliebt, daß wir letztendlich dasselbe wollen. Als es erst einmal soweit war, daß ich mit den Weiden Erfolg gehabt habe, war es mir recht, weniger zu tun.« »Mir scheint, als hättest du die Finger immer noch im Spiel. Du hast die Geschäftsführung nicht abgegeben.« »Ja, aber ich bringe mich nicht mehr in dem Maß ein, in dem ich es früher getan habe. Zelda Marie fehlt mir. Ihr könnte ich das alles überlassen, ohne mir auch nur die geringsten Sorgen zu machen. Aber jetzt braucht sie keinen Job mehr, und deshalb muß ich mich ab und zu dort zeigen. Und normalerweise essen wir da zu Abend, damit ich mir ein Bild von der Qualität und vom Service machen kann. Aber unser Zusammenleben wird davon nicht beeinträchtigt. Wir kümmern uns immer noch um die Gartenarbeit und um das Gewächshaus, und wir kochen gern zusammen. Wir genügen einander. Ich glaube, das trifft auf die meisten Ehen nicht zu.« »Was war mit Daddy, bevor er im Krieg gefallen ist? Wie hat die Ehe ausgesehen, die du mit ihm geführt hast?« Das war eine Frage, die Carly Francey noch nie gestellt hatte. »Ich war damals siebzehn. Keiner von uns wußte, worum es in einer Beziehung geht. Menschen heiraten, weil sie sich einbilden, sie seien ineinander verliebt, aber jede Beziehung, die etwas taugt, erfordert Arbeit. Etwas Lohnendes fällt einem nicht in den Schoß.« Carly fragte nicht weiter nach. »Ich habe den Eindruck, daß ihr beide, du und Walt, es spielend miteinander schafft.« »Ich glaube, wir haben noch keinen einzigen Tag miteinander verbracht, an dem einer von uns beiden diese Beziehung als selbstverständlich vorausgesetzt hat. Wir denken ständig darüber nach, wie wir einander glücklich machen können. An jedem einzelnen Tag. So ist das, Liebes!« Carly hielt die Kaffeetasse zwischen ihren Händen, und ihre Ellbogen waren auf die Anrichte gestützt. Genau das tat sie nicht. Sie wachte niemals morgens auf und fragte sich, was sie tun könnte, um Cole glücklich zu machen. Sie war immer der Meinung gewesen, Ehen würden sich von selbst erledigen. Aber auch Cole machte sich mit Sicherheit keine Gedanken darüber, was ihr Glücklichsein betraf. Ihn quälte wahrscheinlich nur die Tatsache, daß sie überaus erfolgreich war und Unmengen Geld verdiente. Ben hatte recht, das hatte Cole in die Arme einer anderen Frau 359
getrieben. »Er hat mir gesagt, daß sie nicht die geringste Rolle spiele, das sie für ihn nicht zähle.« »Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein«, erwiderte Francey. »Man läßt sich nicht gern als belanglos bezeichnen. Verstehst du, selbst, wenn du ihn verläßt, wird er nicht zu ihr gehen. Sie ist für ihn nichts weiter als eine Wohltat für sein Ego. Vielleicht solltest du besser mit ihm reden. In aller Ruhe.« »Er sagt, er will keine Scheidung.« »Und du?« »Das war das erste, woran ich gedacht habe. Man fragt sich natürlich, wie man mit einem Mann jemals wieder ins Bett gehen kann, der mit einer anderen Frau geschlafen hat. Aber dann habe ich mir überlegt, daß es womöglich meine Schuld ist. Vielleicht sollte ich mich mehr anstrengen mich bemühen, das zu werden, was er will. Ursprünglich muß ich es wohl gewesen sein.« »Werde nur nicht sosehr das, was er will, daß du dich selbst verlierst.« Carly lächelte ihre Mutter an. »Wie kommt es, daß du so klug bist?« »Ich bin eine Mutter.« Francey lachte. Das Telefon läutete. Es war Zelda Marie. »Könntest du damit leben, daß ich über Nacht auf der Ranch bleibe?« fragte Carly Francey. »Ja, selbstverständlich.« Ehe sie mit Franceys Kombi losfuhr, wollte sie noch wissen: »Du hast schon vor meiner Ankunft mit Walt geredet. Was sagt er dazu?« Francey nahm die Tassen von der Anrichte und stellte sie ins Spülbecken, um Wasser darüber laufen zu lassen, bevor sie sie in die Spülmaschine steckte. »Er war noch nie der Meinung, daß Cole gut genug für dich ist.« Carly lachte. »Cole soll nicht gut genug für mich sein? Das ist doch ein Witz. Er war der beste Fang, den man in ganz Houston machen konnte.« »Nur im Sinne von Geld und gesellschaftlichem Status.« »Was zählt denn sonst noch?« Francey drehte sich um und sah ihrer Tochter fest in die Augen. »Sogar ich war in deinem Alter klüger.« Und nach einer kleinen Pause fragte sie: »Matt hat all das. Ist er glücklich?« Carlys Herzschlag setzte aus. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. »Du glaubst, Matt könnte nicht glücklich sein?« »O Carly, du bist ja so blind, wenn es um dein eigenes Leben geht. So blind.« 360
Auf der Fahrt zu Zelda Marie sah Carly sich die Gegend an, die Bäume, die Rinder auf den Weiden, die Sojabohnen, die üppig heranreiften, und die Häuser mit der abblätternden Farbe. Sie bemühte sich, alles mit neuen Augen zu sehen, mit weit offenen Augen. War es möglich, daß Matt unglücklich war? Als sie am Dienstag hergefahren waren, hatte er die ganze Fahrt über geredet. Er war total außer sich, als sie ihn am Mittwoch abend zu Ben gebracht hatte, und die Fliegen und die Angelruten hatten ihn derart fasziniert, daß er sich kaum von ihr verabschiedet hatte. Ben war dabei, ihm etwas Neues zu zeigen, und die beiden waren derart damit beschäftigt, daß sie ihr zum Abschied nur flüchtig zugenickt hatten. Doch genau das hatte er zu Hause eben nicht. Vielleicht sollte sie sich auch um ihn mehr kümmern. Sie hatte stets darauf geachtet, daß sie ihren Zeitplan einhielt und da war, wenn er aus der Schule zurückkam. Wann immer in der Schule etwas stattfand, erschien sie dort. Sie ging mit ihm in Museen und ins Kino, und sie spielte auch Tennis mit ihm. Dennoch hatte Francey angedeutet, Matt könnte unglücklich sein. Carly bog von der Schnellstraße auf die Asphaltstraße ab, die zu Zelda Maries Feldweg führte. Zelda Maries Kinder hätten diejenigen sein sollen, die nicht angepaßt waren. Kein Vater und eine Mutter, die immer gearbeitet hatte, als sie noch klein waren. Sie waren Wilde, voll Übereifer, und dieses Lachen. Sie erinnerten sich jedesmal an sie, wenn sie kam, und empfingen sie mit Umarmungen und Geschrei. Und Matt behandelten sie so, als wäre er ein Cousin, ein Familienangehöriger. Matt liebte die Ranch. Matt liebte Verity, und er liebte auch Aransas Pass. Er liebte Francey und Walt und Zelda Marie und alle ihre Kinder, und er liebte Ben. Plötzlich fragte sie sich, ob Matt Cole liebte. Jungs liebten ihre Väter doch immer, oder etwa nicht? Das hatte sie als eine gegebene Tatsache vorausgesetzt. Jetzt hinterfragte sie diese Dinge. Vielleicht gab es noch mehr, was sie hinterfragen sollte.
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Carly und Zelda Marie waren in ein Gespräch vertieft. »Natürlich wollen Männer verwöhnt werden«, stimmte Zelda Marie Carly zu. Sie sah ihre Freundin an. »Ist Cole das Wichtigste für dich auf Erden?« »O mein Gott, nein.« Nachdem ihr diese Worte herausgerutscht waren, staunte Carly selbst darüber. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihn liebe.« »Du meinst, wegen dieser Frau?« Carly schüttelte vehement den Kopf. Sie saßen schweigend da, und Zelda Marie sog Eistee durch ihren Strohhalm, während sie Carly musterte. Carly schloß die Augen und lehnte sich in dem Liegestuhl zurück. »Weißt du«, sagte sie, »ich glaube, es hat schon in den ersten Ehejahren angefangen, als er und seine Mutter sich bemüht haben, mir klarzumachen, was ich tun soll und was nicht. Sie haben gemeinsam mein Haus eingerichtet und mir gesagt, was ich anziehen soll, mir vorgeschrieben, welchen Clubs ich angehören und mit wem ich befreundet sein sollte. Wenn ich bei einer Essenseinladung die falsche Gabel benutzt habe, sah mich Coles Mutter über den Tisch hinweg an, den Kopf zur Seite geneigt, und gab mir in aller Deutlichkeit zu verstehen, daß ich einen Fauxpas begangen hatte. Wenn ich all das noch einmal durchmachen müßte, würde ich bewußt die falsche Gabel benutzen. Sie mochte die farbenfrohen Kleider nicht, die ich getragen habe, und daher bin ich ein paar Jahre lang zu Blau, Grau und Beigetönen übergegangen. Bis nach Matts Geburt. Und dann habe ich mich wieder so angezogen, wie es mir gefällt. O ja, Matt. Meine und Coles Eltern waren absolut vernarrt in ihn. Doch schon seit Cole den ersten Blick auf Matt geworfen hat, besteht eine gewisse Spannung. Er war in Mexiko, und er hat Matt erst nach fünf Tagen zum erstenmal gesehen. Und als er dann endlich da war, hatte ich den Eindruck, daß er seinen Sohn noch nicht einmal in die Arme nehmen wollte.« Carly schwieg ein paar Minuten lang. »Cole und ich haben uns derart auseinandergelebt, daß ich nicht mal mehr weiß, ob ich ihn liebe. Aber das habe ich ja schon gesagt.« »Er muß es spüren«, meinte Zelda Marie. »Vielleicht gibt es deshalb eine andere Frau. Er fühlt sich weder geliebt noch respektiert.« Carly sah ihre Freundin an. »Vielleicht habe ich mir ganz einfach 362
keine Zeit für ihn genommen. Wenn wir tatsächlich mal einen Abend allein miteinander verbracht haben, hat er immer nur dagesessen und mir alles über seine Geschäfte erzählt, über dieses ganze Hin und Her und was sich in der Sparkassenbranche tut, während ich in Gedanken bei meinen eigenen Geschäftsabschlüssen war und auch dabei, wie ich noch eine Viertelmillion mache und in welches Grundstück ich investieren könnte…« »Hast du ihn geliebt, als du ihn geheiratet hast?« »Ich glaube, ja. Ich habe es als schmeichelhaft empfunden, daß jemand wie er mich heiraten wollte. Ich war schon vorher mit ihm im Bett, und das hat mir gefallen.« Sie unterbrach sich. »Was ist mit dir?« fragte sie. »Warst du mit jemandem im Bett, seit… ich meine, was ist mit diesem Joel Miller?« Zelda Marie schüttelte den Kopf. »Er hat nie Leidenschaft in mir entfacht.« Während sie diese Worte sagte, zog das dunkle Gesicht des Mannes, der mit ihren Pferden sprach, vor ihren Augen vorüber. Dieser Mann versetzte sie in Glut. »Das erste, was ihr tun müßt, du und Cole, ist reden«, sagte Walt zu ihr. »Vielleicht weiß er noch nicht einmal, warum er es getan hat. Er behauptet, nicht in sie verliebt zu sein…« »Das hat er nicht gesagt«, unterbrach ihn Carly. Walt nickte. »O doch, das hat er gesagt, als er beteuerte, daß sie nicht zähle.« Cole hatte jeden Tag angerufen und abends auch. Carly hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen. Sie saßen zu dritt auf der Veranda und tranken Margaritas, während das Abendessen vor sich hin köchelte. Walt griff nach Franceys Hand. Carly mochte es, wie sie einander ständig anfaßten. Darum beneidete sie die beiden. »Wahrscheinlich sollte ich mit ihm reden, ehe Matt zurückkommt«, dachte sie laut. »Da bin ich ganz deiner Meinung«, stimmte Francey ihr zu. Und so brach Carly nach einer Woche in Verity auf. Sie fuhr langsam, denn sie freute sich nicht auf zu Hause. Den größten Teil der fünf Stunden, die sie für die Fahrt nach Houston brauchte, brachte sie damit zu, sich zu fragen, was sie eigentlich von diesem Leben wollte. Ihr fiel nicht das geringste dazu ein. Sie kam auf absolut nichts, was sie hätte haben wollen und nicht hatte – bis auf eine glückliche Ehe. Als sie ankam, war sie zu einem Entschluß gelangt. »Ich werde ab jetzt zu Hause bleiben und eine richtige Ehefrau sein, die Dinge tun, die andere Ehefrauen hier tun«, sagte sie 363
laut zu sich. Sie machte ihm keine Vorwürfe, sie gab sich nicht verletzt, sondern benahm sich so, als wäre alles nur ihre Schuld, und vielleicht verhielt es sich ja auch so. »Ich habe endgültig mit ihr Schluß gemacht«, verkündete Cole eines Abends. In dieser Nacht liebte Cole sie mit einer Leidenschaft, wie er sie ihr schon seit Monaten, wenn nicht Jahren, nicht mehr entgegengebracht hatte, doch Carly empfand nichts. Sie spielte zwar mit, fühlte jedoch nicht das geringste. Als Ben Matt zurückbrachte, mit einem Haufen Fotos von den Fischen, die sie gefangen hatten, bat Carly ihn, über Nacht zu bleiben. Sie saßen da und tranken zusammen Kaffee, nachdem Matt zur Schule und Cole ins Büro gegangen war. »Ich gebe meine Arbeit auf«, sagte Carly zu Ben. »Ich werde meine Firma verkaufen und endlich eine richtige Ehefrau werden.« Ben zog eine Augenbraue hoch. »Du meinst, beides verträgt sich nicht miteinander?« Sie erzählte ihm nichts von Coles Affäre. »Du hast mir schon vor einiger Zeit gesagt, daß Cole sich von meinem Erfolg bedroht fühlt. Ich brauche nicht noch mehr Geld. Das, was ich habe, kann ich jetzt schon nicht mehr ausgeben. Vielleicht sollte ich mich lieber auf meine Rolle als Ehefrau konzentrieren.« »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß du den ganzen Tag einkaufen gehst und Bridge spielst.« »Vielleicht klappt ja alles blendend«, entgegnete Carly und lächelte in sich hinein. Es war bereits ein Fait accompli. Die Kliniken blühten und gediehen. »Ich werde für den Kongreß kandidieren, Carly. Du könntest mir bei meiner Wahlkampagne helfen.« Carlys Augen funkelten vor Begeisterung. »O Ben, das freut mich ja so sehr. Aber ich lebe noch nicht einmal in deinem Wahlbezirk.« »Das ist mir klar. Und wenn ich hier antreten würde, hätte ich nicht die geringste Chance.« »Nein, wahrscheinlich nicht. Aber ich würde dich wählen.« »Weil du mich kennst oder weil du meinen Anschauungen anhängst?« Darüber mußte Carly nachdenken. »Laß es uns so sagen: Ich glaube, du hilfst mir dabei, mich weiterzuentwickeln. Vielleicht will ich 364
meine Firma unter anderem auch aufgeben, weil ich sehe, daß es
Dinge gibt, die wichtiger sind als Geld.«
»Es gibt nur Dinge, die wichtiger als Geld sind, wenn man ohnehin
schon Geld hat«, entgegnete Ben. »Die meisten Leute, die ich kenne,
haben sehr viel Geld, aber sie denken nicht so wie du.«
»Stimmt«, sagte Ben. »Deshalb habe ich mich hier auch nie einfügen
können. Mein Eindruck war der, daß die Menschen, je mehr Geld sie
haben, desto weniger Mitgefühl aufbringen.«
»Wenn du so redest, hast du in Texas niemals eine Chance.« Ben
grinste. »Der einzige Grund, aus dem ich kandidieren werde, besteht
darin, daß ich wissen will, ob ich etwas zu ändern vermag. Wenn ich
die Dinge durchsetzen kann, an die ich glaube, ist es keine
vergeudete Energie.«
»Und was ist, wenn du es nicht schaffst?«
»Dann habe ich es zumindest versucht.«
»Du bist ein totaler Idealist«, sagte Carly. »Aber ich nehme an, das
zählt zu den Dingen, die ich am meisten an dir liebe.«
»Liebe?« fragte er.
»Ja, liebe.« Und in dem Moment wurde Carly zum erstenmal klar,
daß sie den falschen Coleridge geheiratet hatte.
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Cole mochte sie zwar für eine bessere Ehefrau halten, doch in dem Jahr, seit sie Rolfs Immobilien verkauft hatte, hatte Carly immer mehr das Gefühl, ihr Leben habe bis auf die Vormittage, die sie in der Klinik verbrachte, nur noch sehr wenig Sinn. Sie hatte es Dr. Gonzalez zu verdanken, daß sie dreimal in der Woche in eine Klinik ging. Sie kam zwar freitags noch zu ihm, doch an zwei anderen Vormittagen besuchte sie Kliniken, die von Ärzten für unterprivilegierte Kinder und Frauen aus den Barrios geleitet wurden. Als Dr. Gonzalez hörte, daß sie ihre Firma verkaufen würde, sagte er frei heraus, was seine größte Sorge war: »Das heißt, Sie werden nicht länger in der Lage sein, uns finanziell weiterzuhelfen?« »Nein, ganz und gar nicht«, versicherte ihm Carly. »Ich habe jetzt sogar im Gegenteil mehr Zeit zu meiner freien Verfügung und kann Ihnen daher noch mehr helfen.« Carly bezahlte nicht nur für sämtliche Operationen der Kinder in diesen drei Kliniken, sondern kam auch für die Medikamente auf, die ihnen verschrieben wurden. Am Ende des Jahres hatte sie durch ihre Arbeit mit drei Ärzten genug gelernt, um selbst Impfungen vorzunehmen, die Temperatur zu messen, Hustentropfen auszuteilen und eine Mandelentzündung zu diagnostizieren. Es mochte zwar sein, daß sie innerhalb eines einzigen Vormittags mit mehr Krankheiten konfrontiert war als in ihrem ganzen Leben, doch diese Tage erfüllten sie keineswegs mit Verzweiflung. Das Wissen, daß sie helfen konnte, führte dazu, daß sie die Kliniken überschwenglich verließ. Der einzige Mensch, bei dem sie jemals in Versuchung war, ihm etwas davon zu erzählen, war Ben, doch sie unterdrückte dieses zeitweilige Bedürfnis, indem sie sich an eine Szene aus Der Fänger im Roggen erinnerte. Holden Caulfield sagte dort, wenn er ein grandioser Klavierspieler wäre, würde er in einer Abstellkammer spielen, denn wenn ihm Lob und Applaus zuteil würden, wie sollte er dann wissen, ob er um der Reinheit des Aktes willen spielte oder nur deshalb, weil ihm so viel an dem Lob lag? Für die samstagabendlichen Gespräche im Club brachte sie nicht mehr das leiseste Interesse auf. Mit den Ehemännern anderer Frauen zu flirten, die Nacht durchzutanzen, sich in regelmäßigen Abständen an den Hintern greifen zu lassen und zu eng an den falschen Mann gepreßt zu werden, waren nicht die Dinge, die für Carly das Leben 366
lebenswert machten. Doch was, fragte sie sich, erschien ihr lohnend? Sie hatte ihre Firma mit allem Drum und Dran für exakt den Betrag verkauft, den sie in ihren Augen wert war, den über lange Zeit etablierten guten Ruf inbegriffen. Cole legte die Anzahlung zu einem recht beeindruckenden Zinssatz an. Ihr Foto erschien mindestens einmal monatlich in der Gesellschaftskolumne der Post. Sie und Cole gingen zu jedem Broadway-Musical, das in die Stadt kam, und hörten sich jede Jazz-Combo an. Gott sei Dank brauchte sie keine Footballspiele zu besuchen. Ab und zu ließen sie sich auf Partys sehen, die anläßlich eines Sieges von Vereinen gefeiert wurden, doch zu den Spielen selbst gingen sie so gut wie nie. Carly gewöhnte sich an, jeden Tag zu joggen. Sie verließ das Haus schon am frühen Morgen, noch ehe Cole wach war. Am Anfang war es eine Meile, doch es dauerte nicht lange, bis sie sich auf vier Meilen vor dem Frühstück gesteigert hatte. Cole hielt sie für übergeschnappt. Wenn seine Mutter so gut joggen konnte, dann konnte er das auch, beschloß Matt, und seitdem stand er ebenfalls früh auf und begleitete sie. Für Carly war das die schönste Tageszeit. Ben schrieb zweimal im Monat geistreiche Briefe an Matt, der sie gierig verschlang. Matts Noten in Englisch und Geschichte wurden besser. Wenn Ben ein Buch erwähnte, las Matt es augenblicklich, ganz gleich, ob er es verstand oder nicht. Er beantwortete jeden Brief, den sein Onkel ihm schrieb. Und mindestens einmal monatlich rief Ben an. In den ersten Monaten, nachdem Carly ihre Arbeit aufgegeben hatte, war Cole ein äußerst aufmerksamer Ehemann. Er brachte Blumen mit – kleine Veilchensträuße, riesige Gladiolensträuße, einen Topf Primeln und Gardenien, deren Duft in ihrem Schlafzimmer hing. Er schlief so oft mit ihr wie schon seit Jahren nicht mehr und konnte nicht begreifen, warum sie kein zweites Kind bekam. »Ich bin zu alt«, sagte sie. Sie war neununddreißig. Doch etwas stimmte nicht, wenn sie miteinander schliefen, obgleich Carly den wunden Punkt nicht genau benennen konnte. Als sie Francey sah, fragte sie: »Tut ihr beide es eigentlich noch, du und Walt… du weißt schon, Mom.« Sie redeten nie wirklich über Sex. »Ich meine, macht es dir immer noch Spaß? Du bist schon länger verheiratet als ich. Und du bist älter. Tut ihr es noch, ich meine…« Francey legte Carly eine Hand auf den Arm. »Ob Walt und mir Sex Spaß macht? Liebes, es begeistert uns ohne Ende. Ja, Walt und ich lieben den Sex, obwohl 367
wir inzwischen seit siebzehn Jahren verheiratet sind. Und es ist nie, aber auch wirklich nie, langweilig oder abgestumpft, und unser Sex ist nie frei von großer Liebe. Warum fragst du? Läuft bei dir und Cole etwas schief?« Carly zuckte mit den Schultern. Dann lag es also nicht nur einfach daran, daß sie schon so lange zusammen waren. »Ich weiß es nicht. Ich dachte immer, daß Sex riesigen Spaß macht. Aber inzwischen frage ich mich schon seit Jahren…« Ihre Mutter fiel ihr ins Wort. »Ich glaube, dein ganzes Leben ist jetzt darauf ausgerichtet, so eine Ehefrau zu sein, wie er es sich wünscht, damit er nicht wieder fremdgeht. Aber ich vermute, daß du ihn in Wirklichkeit ablehnst und es dir deshalb keinen Spaß mehr macht, mit ihm zu schlafen.« Carly redete mit Alex. Sie hatten nie wirklich Gespräche über ihr Privatleben miteinander geführt, solange es sich nicht um Einkäufe, Urlaubsziele oder die Arbeit drehte. Als Carly also fragte: »Du und Boomer, seid ihr noch… ach, ich weiß auch nicht, wie ich es sagen soll, verliebt ineinander?«, blickte Alex, die in ihrem unvermeidlichen Cäsarsalat herumstocherte, auf, und in ihren Augen zeigte sich Verblüffung. »Ja, sicher. Habe ich irgend etwas von mir gegeben, was dir einen gegenteiligen Eindruck vermittelt hat?« »Nein, nein.« Carly hob eine Hand und wedelte damit in der Luft herum. »Mach dir bloß keine Gedanken. Ich frage mich in der letzten Zeit nur, was der Unterschied zwischen Verliebtheit und Liebe ist. Ich gehe davon aus, daß wir alle verliebt sind, wenn wir heiraten. Wird danach alles zur reinen Gewohnheit, setzt man zuviel als selbstverständlich voraus?« Alex kniff die Augen zusammen und fragte: »Stimmt etwas nicht mit dir und Cole?« »Nein, es ist alles in Ordnung.« Carlys Stimme klang jedoch nicht überzeugend. »Es scheint nur so, als hätte ich in der letzten Zeit über die Natur der Liebe philosophiert.« Alex legte ihre Gabel hin und sah sie an. »Wenn ich dich recht verstehe, willst du deine Ehe mit anderen Ehen vergleichen.« Carly spürte, wie sie errötete. War sie tatsächlich derart leicht zu durchschauen? »Also, ich muß dir sagen, daß ich es mit Boomer immer noch spannend finde. Er hat mir eine völlig neue Welt eröffnet. Ich glaube, ich bin mein ganzes Leben lang einsam gewesen und habe es selbst nicht gewußt. Und dann ist Boomer auf der Bildfläche 368
erschienen, und alles hat sich verändert. Ohne ihn wäre mein Leben weit weniger spannend. Er ist beständig wie ein Felsen und doch nicht langweilig. O Carly, ich habe das noch keinem anderen Menschen gegenüber erwähnt, aber Boomer bringt mich selbst heute noch in Verlegenheit. Und doch, wenn ich mir die Männer ansehe, die ich früher gekannt habe, danke ich Gott dafür, daß ich mich mit keinem von ihnen begnügt habe.« »Beziehst du Cole da mit ein?« Alex griff nach Carlys Hand. »Das habe ich nicht gesagt.« »Aber gedacht hast du es.« Ohne darauf zu antworten, fragte Alex nach einer Weile: »Was ist los, Carly?« »Ich weiß es nicht.« Carly stieß einen Seufzer aus. »Vielleicht liegt es daran, daß du aufgehört hast zu arbeiten. Für mich ist das ein Teil der Befriedigung, die ich aus dem Leben schöpfe. Ein Mann, ganz gleich, wie phantastisch er auch sein mag, kann niemals alle Ansprüche erfüllen, die ich an das Leben stelle.« »Dies zu denken sind wir nicht erzogen worden.« Alex lachte. »Ich weiß. Sowie wir erst einmal den Richtigen gefunden haben, werden wir nichts anderes mehr wollen oder brauchen, genau. Weißt du, mit welchem Problem wir heutzutage und in dieser Zeit konfrontiert sind? Man hat uns beigebracht, daß unser Leben nur dann ausgefüllt ist, wenn wir einen Mann haben. Von Freunden ist nie die Rede gewesen. Meine Freundinnen – damit meine ich eigentlich Tessa und dich – geben mir Dinge, von denen Männer einfach nichts verstehen. Und sogar ihr beide erfüllt für mich ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Wir brauchen mehrere Menschen in unserem Leben, nicht nur eine einzige Person.« Carly sah sich in dem Restaurant um und ließ ihren Blick über die Tische schweifen, an denen elegant gekleidete Frauen saßen. Und nur sehr wenige Männer. Männer aßen im Stadtzentrum und nicht etwa hier draußen. »Selbstverständlich«, fuhr Alex fort, »frage ich mich oft, ob wir unsere Männer zur Verzweiflung bringen. Wir sind keine Ehefrauen von der Sorte, auf die ihre Erziehung sie vorbereitet hat. Sieh dir doch bloß an, was wir mit diesem Einkaufszentrum auf die Beine gestellt haben. Wir haben BB&O zu Millioneneinnahmen verholfen.« »Boomers Ego scheint das keinen Knacks versetzt zu haben«, bemerkte Carly. »Nein. In der Hinsicht habe ich Glück. Boomer braucht keine 369
Nahrung für sein Ego. Oder jedenfalls muß man es nicht allzuoft aufpäppeln. Nicht so wie bei Cole.« Alex preßte die Lippen zusammen. »Es tut mir leid, Carly. Das wollte ich nicht sagen. Aber ich habe nie geglaubt, daß du Rolfs Immobilien verkauft hast, weil du es satt hattest zu arbeiten. Dazu kenne ich dich zu gut. Der Grund war vielmehr die Absicht, eine perfekte Ehefrau zu werden und Cole eine Freude zu bereiten. Liege ich richtig?« Carly nickte. »Und bewährt es sich?« »Vermutlich ja.« Carly erweckte jedoch gar keinen glücklichen Eindruck. »Für die Ehe, aber nicht für mich.« »Bist du trotzdem glücklich?« Ein derart intimes Gespräch hatte sie nie mit Alex geführt. »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich oft einfach nur leer. Das einzige, was mir wahre und dauerhafte Freude bereitet, ist Matt.« »Verlaß dich bloß nicht zu sehr auf ein Kind«, riet ihr Alex. »Kinder werden erwachsen und gehen aus dem Haus.« Alex warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich habe um halb drei einen Termin«, sagte sie. »Wenn du noch länger darüber reden möchtest oder wenn ich etwas tun kann…« »Danke, Alex.« Alex wirkte immer so majestätisch und beherrscht. Sie machte den Eindruck, als würde sie niemand anderen brauchen. Aber Alex fand Boomer immer noch faszinierend. Carly dagegen wußte mit Sicherheit, daß Cole sie nicht mehr faszinierte. Sie fragte sich, ob das auch daran lag, daß sie sich, was ihn betraf, keinen Illusionen mehr hingab, denn seine Anschauungen und seine Ziele im Leben unterschieden sich mittlerweile grundlegend von den ihren. Früher einmal hatten sie gemeinsame Ziele verfolgt – etwas zu erreichen, jemand zu sein, eine Menge Geld zu verdienen. Sie hatte diese Ziele erreicht. Cole hatte es bisher noch nicht so weit gebracht, wie er es sich vorgestellt hatte. Er wollte mehr Geld verdienen als sein Vater. Das wäre ein Beweis für seinen Erfolg gewesen. Aber würde er langsamer treten, wenn er es erst einmal geschafft hatte? Oder würde er seine Ziele dann nur noch höher strecken? Sie bezahlte die Rechnung, und als sie in den Herbstnachmittag hinaustrat, ging ihr durch den Kopf, ob sie sich vielleicht Fragen stellte, auf die es keine Antworten gab.
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Um vier Minuten nach zwei betrat Cole die Spar- und Darlehenskasse Destin. Seine Verabredung zum Mittagessen war äußerst befriedigend verlaufen, und er hatte bis in alle Einzelheiten in Erfahrung gebracht, inwieweit das Geschäft, das er ins Auge gefaßt hatte, legal war und inwieweit nicht. Es gab Anwälte, die man in Gold aufwiegen konnte. Er blieb im Foyer stehen und sah sich in seinem Reich um, betrachtete den Marmorboden, die Schalter der Angestellten, und schüttelte den Kopf. Diese Käfige, in denen sie da saßen. Er wollte nicht, daß seine Kassierer das Gefühl hatten… In dem Moment bemerkte er eine rothaarige Kassiererin, die er noch nie gesehen hatte. Sie mußte neu sein, schien sich jedoch bestens auszukennen. Eine verdammt gutaussehende Frau, obwohl es durchaus sein konnte, daß sie eine Spur älter war als er. Er ging auf ihren Schalter zu und blieb vor ihr stehen. »Sie müssen neu hier sein.« Sie nickte. »Das ist erst meine zweite Woche«, sagte sie und lächelte ihn an. Sie wußte noch nicht einmal, wer er war. »Ihr Name?« Sie deutete auf ein kleines Messingschild. Er las: »Tiffany Delacourte.« »Tiffany?« Sie lächelte ihn noch immer an und zog die Augenbrauen hoch. Nie hatte er Augenbrauen mit einem derart exquisiten Schwung gesehen. »Ich bin Cole Coleridge«, stellte er sich vor. »Ich lerne meine Mitarbeiter gern näher kennen. Wann haben Sie heute nachmittag Ihre Pause?« »Um halb vier.« »Dann kommen Sie doch um diese Zeit in mein Büro«, sagte er, »und wir trinken zusammen eine Tasse Kaffee.« »Ja, gern, Sir.« Sir. Er schätzte sie auf etwa vierzig – grüne Augen, ein Grün, das er als Augenfarbe nie für möglich gehalten hatte. Als sie in sein Büro kam, bat er Leona, seine Sekretärin, ihnen zwei Tassen Kaffee zu bringen. Er ließ Tiffany auf dem langen burgunderroten Sofa Platz nehmen, vor dem ein Couchtisch aus Mahagoni stand. Dann setzte er sich in den dazu passenden Sessel ihr gegenüber. Leona brachte den Kaffee und ging dann wieder. Er schüttelte den Kopf, ohne Tiffany aus den Augen zu lassen. »Ist 371
Tiffany Ihr richtiger Name?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »In Wirklichkeit heiße ich Ethel.
Als ich vor drei Jahren geschieden worden bin, habe ich den Namen
rechtsgültig ändern lassen.«
»Erzählen Sie mir mehr über sich.«
Sie trank ihren Kaffee und schlug die Beine übereinander. Cole
konnte die Spitze ihres Slips sehen. Sie hatte unbeschreibliche Beine,
das reinste Dynamit. »Ich habe in Ohio studiert, und dort habe ich
auch meinen Mann kennengelernt. Ein Jahr lang habe ich gearbeitet,
an einer Schule unterrichtet, und dann habe ich zwei Kinder
bekommen. Sowie sie aufs College gingen, habe ich mich abgeseilt.«
»Als Kassiererin in einer Sparkasse verdient man nicht besonders
gut.«
Sie lächelte ihn an. »Mir fehlt für alles andere die Erfahrung. Das
einzige, was ich gelernt habe, ist, einen Haushalt zu führen und
Kinder großzuziehen. Ich schätze mich glücklich, diesen Job
gefunden zu haben, Mister Coleridge. Ich habe Abendkurse in
Kontoführung und Buchhaltung belegt, aber erst mal muß ich sehen,
wie ich mich über Wasser halte, bis ich diese Kurse abgeschlossen
habe. Ich bin gerade erst aus Cleveland hergezogen.«
In der darauffolgenden Woche lud Cole sie zum Mittagessen ein.
»Ich habe mich in der Abendschule nach Ihnen erkundigt«,
berichtete er ihr. »Sie gelten als eine herausragende Schülerin.«
Sie neigte den Kopf. »Ich habe vor, es noch weit zu bringen. Es mag
zwar sein, daß ich ein Spätentwickler bin, aber ich werde die
verlorene Zeit aufholen.«
»Was haben Sie sich als Ziel gesetzt?«
»So reich wie Krösus zu werden.«
»Dann sehen wir doch mal, was sich da machen läßt.« Eine Woche
später beförderte er sie und gab ihr den Posten seiner Assistentin,
zum dreifachen Gehalt einer Kassiererin.
Es dauerte keine sechs Monate, bis Tiffany Delacourte Direktorin
der Spar- und Darlehenskasse Destin war und ihr eigenes Büro hatte.
Es stellte sich heraus, daß sie einen messerscharfen Verstand besaß.
Cole übertrug ihr die Verantwortung für die Geldhandelsabteilung,
die für große Einlagen von Treuhand- und Rentenfonds zuständig
war. Somit nahm sie eine Schlüsselposition ein.
Wie allen seinen Direktoren stellte er auch ihr einen Mercedes zur
Verfügung und zahlte ihr ein Gehalt von fünfundsiebzigtausend
Dollar. Das war etwas ganz anderes als die zwölftausend, die sie
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noch vor einem halben Jahr verdient hatte. Sie und Cole aßen täglich gemeinsam zu Mittag – selten allein, sondern so gut wie immer mit anderen Sparkassenangestellten oder mit potentiellen Geschäftspartnern. Tiffany war stets die einzige Frau. Sie gab viel Geld für ihre Kleidung aus, und alles, was sie trug, war äußerst geschmackvoll. Er fragte sie nie, ob sie einen Freund habe oder was sie an den Wochenenden tat, und sie äußerte sich nur ein einziges Mal zu seinem Privatleben, nämlich an dem Morgen, an dem in der Zeitung ein Bild von ihm und Carly anläßlich eines Sinfoniekonzerts abgedruckt worden war. »Sie sind mit einer sehr gut aussehenden Frau verheiratet«, sagte Tiffany. Drei Monate später, als Tiffany neuneinhalb Monate in Houston war, betrat sie nachmittags um fünf Coles Büro, ehe sie sich auf den Heimweg machte. »Ich habe keine Ahnung, ob Sie Interesse daran haben«, sagte sie und schob einen Schlüssel über seinen Schreibtisch, »aber ich möchte, daß Sie ihn an sich nehmen. Ich setze voraus, daß Sie die Adresse im Telefonbuch finden können.« Cole begriff, daß es sich um den Schlüssel zu ihrer Wohnung handelte. Noch in derselben Woche konnte er sich davon überzeugen, daß sie zwar nicht auf den Namen Tiffany getauft worden war, ihr rotes Haar jedoch nicht gefärbt war. Einen Monat später lud er Carly ein, das Wochenende mit ihm in Elk Creek zu verbringen, und er erzählte ihr, eine Gruppe von Bankdirektoren und Anwälten veranstalte dort ein Treffen. Carly lehnte, wie zu erwarten gewesen war, ab. Und so besprachen Cole, zwei seiner Direktoren, Hardy Wilson, der Generaldirektor der Sparund Darlehenskasse in San Antonio, und George Stevenson, der Generaldirektor einer Kette von Eiscafes, dem die Spar- und Darlehenskasse Destin zweieinviertel Millionen Dollar geliehen hatte, in dem Jacuzzi mit Blick auf die Rockies geschäftliche Angelegenheiten. Hardy Wilson, der Generaldirektor der First Alamo Federal, war jemand, den Cole schon seit seiner Zeit im St. John’s kannte. Hardy hatte zwar nicht in Harvard studiert, sondern an der University of Texas, doch sie hatten den Kontakt in all den Jahren aufrechterhalten. Da Hardy jetzt ebenfalls einer Spar- und Darlehenskasse vorstand, telefonierten er und Cole mindestens einmal wöchentlich miteinander und trafen sich immer zum 373
Mittagessen, wenn Hardy nach Houston kam. Geschäftlich ging es in erster Linie darum, Dokumente zu unterschreiben, die Cole mitgebracht hatte. Er versicherte allen Beteiligten, daß das, was sie taten, rundum legal war. Cole hatte George gebeten, mehrere alte Gebäude zu erwerben, und er hatte außerdem vorgeschlagen, Hardy solle einen Freund finden, der drüben in San Antonio weitere Gebäude erwarb. Das erste Objekt, das zur Diskussion stand, war ein unbewohnter alter Bauernhof. George hatte das Geld bei der Sparkasse Destin ausgeliehen, um das Gebäude für den Betrag an noch ausstehenden Steuerschulden von sechsundzwanzigtausend zu erwerben. Eine Firma, die Coles Anwälte auf sein Betreiben hin gegründet hatten und in deren Vorstand Tiffany saß, kaufte den Bauernhof dann für neununddreißigtausend, die sie bei der First Alamo Federal als Kredit aufnahm. Anschließend kaufte George Stevenson den Bauernhof von den achtundfünfzigtausend, die ihm die Spar- und Darlehenskasse Destin vorschoß. Als nächstes verkaufte George den Bauernhof an die Firma, der wiederum ein Direktor von Cole dreiundachtzigtausend lieh. Dann wurde dasselbe Gebäude von der ursprünglichen Firma, für die Tiffany verantwortlich zeichnete, für dreiundneunzigtausend zurückgekauft, und sie veräußerte es für hundertzweitausend an eine von Georges anderen Firmen. Die beiden Spar- und Darlehenskassen, die an diesen Verkäufen beteiligt waren, verdienten auf dem Papier jedesmal Geld daran, wenn sie für den Erwerb dieses Bauernhofs Kredite vergaben. Ebenso handhabten sie es mit dreizehn anderen Häusern, die zwischen Houston und San Antonio gelegen waren. Als sie drei Stunden später sämtliche Dokumente unterschrieben hatten, waren auf dem Papier Gewinne von viereinhalb Millionen Dollar zu verzeichnen, und die Sparkassen konnten Einnahmen für fällige Kredite auf ihren Konten verbuchen. Alle außer Cole und Tiffany reisten am Sonntagnachmittag ab. Die beiden verbrachten noch drei weitere Tage in Elk Creek – in dem Jacuzzi, im beheizten Pool und in dem riesigen runden Bett in der Direktorensuite. Dieser ganze Wochenendtrip ließ sich natürlich von der Steuer absetzen, da sie tatsächlich eine Menge Arbeit erledigt hatten – Darlehen über viereinhalb Millionen waren vergeben worden. »Weißt du was?« sagte Tiffany, als sie nackt zwischen den Kissen saß und ein Glas Champagner in der Hand hielt. »Ich mag Colorado 374
wirklich. Ich hätte gar nichts dagegen, mal wieder herzufliegen.« »Das wirst du auch«, versprach Cole. Als sie nach Houston zurückkehrten, zog Tiffany in eine größere Wohnung, ein Apartment, das sie sich niemals hätte leisten können, noch nicht einmal von fünfundsiebzigtausend im Jahr, wenn Cole es nicht so eingerichtet hätte, daß die Sparkasse es kaufte. Es stehe ihr rechtlich zu, dort zu wohnen, sagte er zu ihr, da sie zu den Direktoren zähle. Zu Weihnachten erhielt sie von ihm eine Sonderzulage für die ausgezeichnete Arbeit, die sie leistete: einen Nerz. Sie war tatsächlich eine Bereicherung für die Sparkasse, und er brauchte ihr nie etwas zweimal zu erklären. Eines Nachmittags kam er gegen vier Uhr in ihr Büro. »Du weißt doch, daß wir das, was wir an Krediten verdienen, als Einnahmen verbuchen.« »Du meinst wohl«, sagte sie, obwohl ihr absolut klar war, worum es ging, »daß wir an jeder Million, die wir als Kredit vergeben, fünf Prozent oder fünfzigtausend Dollar verdienen und daß diese Summen sich als direkte Einnahmen darstellen?« Carly hätte das nie so rasch nach vollziehen können. »Genau. Es kommt als Einnahmen in die Bücher, sowie der Kredit vergeben worden ist.« »Das heißt«, sagte sie mit einem breiten Grinsen und schlug ihre wohlgeformten Beine übereinander, »je mehr Kredite wir vergeben, desto besser sieht es mit unseren Einnahmen aus.« »Du hast es erfaßt.« »Ich merke jetzt schon, daß es auf einen deiner erfinderischen Einfälle hinauslaufen wird.« Cole nickte; ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, daß ihre Lippen wie kirschroter Samt aussahen. »Du bist doch über diesen Kredit informiert, den wir der Baufirma Cantree für das Projekt geben, an das sie sich im kommenden März machen werden?« »Ja, sicher. Sie nehmen eineinhalb Millionen bei uns auf.« »Richtig. Aber wir geben ihnen nicht nur einen Kredit über die Summe, die sie von uns haben möchten, sondern ich habe mir überlegt, daß wir ihnen eigentlich zwei Millionen leihen könnten, wobei wir jedoch eine halbe Million für den Fall einbehalten, daß sie mit den Rückzahlungen in Verzug geraten, und diese Summe können wir dafür verwenden…« »Wen meinst du, wenn du von >wir< sprichst?« Cole grinste. »Also, wir werden diese halbe Million in Fonds stecken, aus denen wir sie jederzeit wieder rausholen können, falls sie im Lauf der kommenden 375
zehn Jahre gebraucht werden sollte.« »Und wir investieren sie in diese Jacht, die im Golf vor der Küste liegt und die dir nicht mehr aus dem Kopf geht?« »Kluges Mädchen. Manchmal glaube ich fast, du kannst meine Gedanken lesen.« Er hatte bereits einen Plan ausgearbeitet, wie er die Vorschrift umgehen konnte, die es Spar- und Darlehenskassen untersagte, mehr als hunderttausend in nicht abgesicherten Krediten an Angestellte oder auch an Direktoren zu vergeben. Tiffany hatte ihm dabei geholfen. Wenige Wochen später schlug Tiffany vor, Hardy und seine Spar- und Darlehenskasse auch noch auf andere Art einzusetzen. »Du weißt doch, daß wir regelmäßig Teile unserer Kreditportfolios an andere Sparkassen verkaufen?« Das war eine der Formen, in denen Spar- und Darlehenskassen Gelder auftrieben und ihre Kreditportfolios bereicherten. »Ich habe mit Al Makerness gesprochen.« Das war einer ihrer Anwälte. »Und er hat gesagt, es sei absolut zulässig. Wir müssen sehen, daß wir uns einen Teil unserer risikoreichen Kredite vom Hals schaffen. Verkaufen wir sie doch einfach an Hardy Wilson und hoffen, daß er nicht mitkriegt, daß die Kredite an unsichere Kreditnehmer vergeben und deren Grundstücke viel zu hoch eingeschätzt worden sind.« »Du mußt etwas ganz Bestimmtes im Sinn haben, denn sonst würden wir dieses Gespräch nicht führen«, sagte Cole. Tiffany lächelte. »Verkauf ihm die Kredite in einer Höhe von etwa fünfeinhalb Millionen, und zwar genau die Kredite, die uns schwer zu schaffen machen. Das bessert sein Portfolio auf, und die Versicherung wird glauben, er hätte lukrative Gewinne verbucht, und wir haben das Bargeld und sind diese Nieten los.« Cole fragte sich nur für einen Sekundenbruchteil, ob es sich mit ethischen Grundsätzen vereinbaren ließ, einem Freund so etwas anzutun. Doch dann sagte er sich, daß es Hardy, wenn er nicht so gerissen war, den Trick zu durchschauen, nicht besser verdient hatte. »Tiffany, meine Liebe, der Tag, an dem ich dich entdeckt habe, war einer der glücklichsten Tage in meinem ganzen Leben.« »Was hältst du von einer glücklichen Nacht?« fragte sie. Er nahm den Telefonhörer ab und rief Carly an, um ihr zu sagen, daß er nicht vor elf nach Hause kommen würde. »Vorher möchte ich von dir zum Abendessen eingeladen werden«, sagte Tiffany. Cole nickte. Er würde sich ein Restaurant einfallen lassen müssen, in 376
dem niemand Carly kannte.
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»Findest du nicht, wir sollten nach Aransas Pass runterfahren und den Wahltag mit Ben verbringen?« »Wozu denn das?« fragte Cole. »Er ist ein großer Junge. Wenn er eine Niederlage nicht verkraften kann, dann sollte ex nicht in die Politik gehen.« Carly kniff die Augen zusammen. »Du rechnest damit, daß er die Wahl verliert? Ist das dann nicht erst recht ein Grund…« »Jetzt hör bloß auf, Carly. Ich hoffe inständig, daß er verlieren wird. Kannst du dir etwa ernstlich vorstellen, oben in D.C. von jemandem vertreten zu werden, der in dem Maß exzentrisch ist? Er und andere von seiner Sorte sind doch genau das, was faul ist in unserem Land. Ich habe keineswegs die Absicht, ihn zu bemitleiden, wenn er verliert, das ist ja wohl klar.« Sie stand auf und ging zum Telefon. »Wen rufst du an?« »Deine Mutter. Vielleicht haben deine Eltern Lust, mit mir runterzufahren und ihn zu unterstützen.« Cole nahm eine Zeitschrift zur Hand und blätterte darin herum. »O Liebes«, sagte Mrs. Coleridge, »wir kommen natürlich nicht mit. Kevin wird einen Anfall kriegen, wenn Ben gewinnt. Er hat doch nicht etwa Chancen, oder?« »Das ist doch nur noch ein Grund mehr, hinzufahren, um ihn trösten zu können.« Schweigen trat ein, und dann sagte Mrs. Coleridge: »Nein, meine Liebe, der Meinung bin ich nicht.« »Also, ich fahre jedenfalls hin. Wenigstens einer von seinen Angehörigen sollte für ihn da sein.« »Das ist sehr nett von dir, meine Liebe.« Carly kündigte Ben ihr Kommen nicht an. Warum sie mit dem Auto fuhr und nicht flog, verstand sie selbst nicht, denn sie hätte sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg Stunden sparen können. Als sie in Aransas Pass eintraf, brach gerade die Dämmerung an. Der Himmel war grau, und die Palmen bewegten sich im Wind. Hoffentlich, dachte Carly, wird das kein Orkan. Sie fuhr gleich zu den Büroräumen der Zeitung, doch alles war verschlossen. Auch Bens Wohnung war dunkel. Vielleicht hätte sie ihm doch vorher Bescheid geben sollen, aber sie wollte ihn überraschen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und 378
beschloß, essen zu gehen und sich so die Wartezeit zu verkürzen. Natürlich war er unterwegs, um sich im allerletzten Moment noch politisch zu betätigen. Wer hätte, wenn er für ein politisches Amt kandidierte, am Abend vor der Wahl seelenruhig zu Hause gesessen? Sie fuhr langsam durch den kleinen Ort und fand ihn zu ihrem Erstaunen auch diesmal wieder äußerst reizvoll. Sie hatte sich eingebildet, daß ihr nach ihren Jahren in Verity jede Kleinstadt verhaßt sein würde. Carly lächelte, als sie an ihre Mutter dachte. An sie und an Walt. Die beiden führten tatsächlich eine dieser Ehen, die im Himmel geschlossen worden waren. Carly hatte 1963 ihren High-SchoolAbschluß gemacht, vor nunmehr fast zwanzig Jahren. Das hieß, ihre Mutter mußte jetzt etwa siebenundfünfzig sein und Walt vielleicht zweiundsechzig. Sie wirkten keineswegs so alt, sondern sprühten beide vor Leben, vor Energie und vor Liebe. Das war nicht der Weg, den ihre Ehe eingeschlagen hatte. Sie fragte sich, ob Francey und Walt zu den wenigen Auserwählten gehörten oder ob auch andere diesen Zauber in ihren Ehen wahrnahmen. Fest stand, daß Tessa und Dan noch so verliebt wirkten wie am Anfang. Hätten sie und Ben diesen Zauber erleben können? Wenn sie heute einander anblickten, senkte sich immer ein Schleier vor ihren Augen herab, selbst dann, wenn sie über neutrale Themen redeten. Nur selten ließen sie diese unsichtbare Mauer einstürzen. Als sie an einem Fischrestaurant vorbeifuhr, sah sie Bens Wagen, der davor geparkt war. Schon vor der nächsten Kreuzung fand sie eine Parklücke. Sie hoffte nur, daß er sich freute, sie zu sehen. Sie stieß die hölzerne Tür auf und mußte in dem schummrigen Raum die Augen zukneifen. Dann sah sie Ben an einem langen Tisch sitzen, mit dem Rücken zu ihr. An dem Tisch waren noch etwa fünfzehn, sechzehn Personen, vor denen Bierkrüge standen, und alle redeten und lachten. Ben hatte all die eingeladen, die am härtesten für ihn gearbeitet hatten, seine Freunde. Und sie alle waren nervös und blickten dem morgigen Tag gespannt entgegen. Sie machte kehrt, ehe Ben sie sehen konnte, und trat wieder in die Dunkelheit hinaus, wo es jetzt zu regnen begann. Sie rannte zu ihrem Wagen, schloß die Tür auf, ließ sich auf den Fahrersitz fallen und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte Hunger. Inzwischen war es schon nach acht. Also ließ sie den Motor an und fuhr los. Nach einer Weile bog sie nach rechts ab, weg vom Golf. Sie fuhr langsam weiter und sah sich auf beiden Straßenseiten um, bis sie am Kitchen Cupboard 379
vorbeikam und ihr wieder einfiel, daß sie und Matt dort einmal mit Ben zu Mittag gegessen hatten. Sie parkte ihren Wagen und rannte durch den Regen zu dem Restaurant. Drinnen war es warm und gemütlich, während der Regen an den Scheiben herunterrann. Auf jedem der Tische standen Kerzen und Blumen. Sie bestellte Zwiebelsuppe, selbstgebackenes Brot und einen Salat. Dann wählte sie einen Rotwein aus und nippte daran, während sie auf ihr Essen wartete. Sie hätte nicht herkommen dürfen. Sie hatte geglaubt, es würde ihr große Freude bereiten, Ben zu überraschen. Vielleicht hatte sie nie begriffen, daß er hier sein eigenes Leben führte. Er hatte Freunde und ein ausgefülltes Dasein. Wenn man es sich recht überlegte, war er die größte Berühmtheit dieses Städtchens. In New York und Omaha, in Chicago, Topeka und Los Angeles lasen die Leute seine Kolumnen. Man hatte ihn zu Donahue und auch zu der Fernsehsendung Today eingeladen. Wenn sie ihn im Fernsehen sah, fühlte sich Carly jedesmal wieder an Robert Redford erinnert. Er besaß diesen knabenhaften Charme, und man wußte ganz einfach, daß er integer war. Er vermittelte einen so natürlichen Eindruck. Es war ihm ganz klar anzusehen, daß er um die Welt besorgt war. Sie wünschte jetzt, sie hätte sich in dem Fischrestaurant genauer umgeschaut, darauf geachtet, ob eine Frau an seiner Seite saß. Ben erwähnte nie Frauen, und er sprach auch nicht über sein Leben in Aransas Pass. Carly warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war erst kurz vor neun. Es konnte durchaus sein, daß sie bis nach Mitternacht in ihrem Wagen vor Bens Haus auf seine Rückkehr würde warten müssen. Sie beschloß, sich ein Motelzimmer zu nehmen. Von dort aus würde sie ihn anrufen und ihm sagen, daß er morgen mit ihr rechnen könne. Er brauchte nicht zu erfahren, daß sie die ganze Nacht auf ihn gewartet hatte. Von ihrem Zimmer aus hätte man einen Blick auf den Golf und den Strand gehabt; doch wegen des strömenden Regens war nichts davon zu sehen. Sie machte sich Sorgen, daß die Leute bei diesem Wetter nicht aus dem Haus gehen würden, um zu wählen. Sie legte sich ins Bett und ließ den Fernseher laufen, fand jedoch nichts Interessantes. Wie schon so oft in all den Jahren seit Matts Geburt fragte sie sich, ob es Ben wohl sehr zusetzte, daß er keine Ansprüche auf seinen Sohn erheben konnte. Nicht nur sie, auch jeder andere konnte sehen, 380
wie sehr der Junge und Ben aneinander hingen. Es war eindeutig, daß Matt viel größere Ähnlichkeiten mit Ben aufwies als mit Cole. Mrs. Coleridge sagte immer wieder, die beiden seien ihrem Vater so unglaublich ähnlich. Als man ihr in Good Morning America etwas über Präsident Reagan erzählte, wurde sie wach und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus. Ronnie war sie so früh am Morgen noch nicht wirklich gewachsen. Sie schaute zum Fenster hinaus und sah, daß der Himmel kobaltblau war. Das Wasser hinter den Wogen, die sich am Strand brachen, war türkis. Sie öffnete die gläsernen Schiebetüren, die auf ihre kleine Terrasse führten, und um halb acht morgens stand für sie fest, daß Ben die Wahl gewinnen würde, weil es ein so wunderschöner Tag war. Alle würden im Wahllokal erscheinen, um ihre Stimme abzugeben. Sie duschte und zog eine hellblaue Hose und eine marineblaue Bluse an. Dann steckte sie die langen Ohrringe aus dunkelblau gebeiztem in ihre Ohrläppchen und lächelte ihr Spiegelbild an. Weder Cole noch seine Mutter billigten Modeschmuck, doch sie mochte ihn ab und zu sehr gern. Obgleich schon neununddreißig, sah sie sehr gut aus. Sie frühstückte im Motelrestaurant, und als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, sah sie Ben in den regionalen Nachrichten, wie er lächelnd aus einem Wahllokal kam. Jede Frau, die ihn erblickt, dachte sie, muß sich in ihn verlieben. Er sagte, er hoffe, die Wahlbeteiligung würde hoch sein. Er war optimistisch. In seinen Augen spielte ein Lächeln. Sie spürte, wie ihr Atem stockte, und für eine Sekunde hatte sie das Gefühl, ihr Herzschlag setzte aus. Sie seufzte und fragte sich, wie sie ihn heute finden sollte. Vielleicht würde sie ihn im Büro seiner Zeitung antreffen, aber vielleicht würde er sich auch irgendwo in der Stadt herumtreiben. Oder aber er ging ganz allein am Strand spazieren, weil er Zeit für sich brauchte. Hätte sie doch nicht herkommen sollen? Sie schaltete den Fernseher aus, als Bens Bild ausgeblendet wurde, zahlte an der Rezeption ihre Rechnung und machte sich auf die Suche nach ihrem Schwager. Sie fand ihn gleich beim ersten Anlauf in seinem Büro vor. Er strahlte über das ganze Gesicht, als sie zur Tür hereinkam. Vielleicht war es doch richtig, daß sie sich entschlossen hatte, herzufahren. »Carly.« Er kam mit großen Schritten auf sie zu und nahm ihre rechte Hand in seine. Dann beugte er sich vor, drückte ihr einen 381
flüchtigen Kuß auf die Wange und lächelte sie an. »Ich hatte so eine Ahnung, daß du dich hier blicken lassen würdest. Du wirst mir doch beim Feiern helfen, wenn ich die Wahl gewinne, oder etwa nicht?« Sie nickte. Und wenn nicht, werde ich dich über deine Niederlage hinwegtrösten, dachte sie, doch diese Möglichkeit schien er nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen. »Du mußt mitten in der Nacht aufgebrochen sein. Ich hätte dich doch in Corpus Christi vom Flughafen abgeholt.« »Ich bin mit dem Wagen gefahren«, sagte sie. »Ist das dein Ernst? Bist du mitten in der Nacht losgefahren?« Als Antwort lächelte sie nur. »Möchtest du einen Kaffee? Ich könnte dringend eine Tasse gebrauchen. Ich habe noch nicht mal gefrühstückt.« Er wies mit einer Kopfbewegung über seine Schulter auf das Büro. »Die brauchen mich hier eigentlich überhaupt nicht mehr. Jay Hemphill hat fast alles in Eigenregie übernommen, während ich mich in die Politik gestürzt habe.« Er lachte. Heute war er blendend gelaunt. »He, Hemp, ich mache mich davon.« Als er an einer roten Ampel anhielt, drehte sich Ben zu Carly um und lächelte sie wieder an. »Ich habe es in den Knochen gespürt, daß du kommen wirst. Carly, meine Liebe, du bist die einzige von der Familie, die sich mir gegenüber loyal verhält.« »Vielleicht liegt es daran, daß ich nicht wirklich zur Familie gehöre.« »Für mich bist du Familie«, sagte er mit leiser Stimme und blickte jetzt starr vor sich hin. »Meine Familie. Du und Matt.« Zum erstenmal in all diesen Jahren brachte er, wenn auch nur andeutungsweise, zum Ausdruck, daß er Matts Vater war. Carly legte eine Hand auf seinen Arm. Er konnte seine nicht vom Steuer nehmen, da er mit der anderen natürlich nicht zu lenken vermochte. Ben hielt vor demselben Restaurant an, in dem sie gestern zu Abend gegessen hatte. »Ich möchte nur einen Kaffee«, sagte sie. »Ich habe schon eine Kleinigkeit gefrühstückt.« Nachdem er bestellt hatte, fragte er. »Wirst du mich in Washington besuchen, wenn ich die Wahl gewinne?« »Du scheinst dir deiner recht sicher zu sein.« »Was ist, wirst du kommen? Dann zeige ich Matt das Lincoln Memorial und die…« »Natürlich werden wir das. Glaubst du etwa, du könntest irgendwo 382
leben, wo wir dich nicht besuchen würden?« »O Gott, Carly.« Ben beugte sich zu ihr hinüber und streckte seine rechte Hand aus, um sie auf Carlys linke zu legen. »Ist dir überhaupt klar, wieviel du mir bedeutest?« Ohne darauf einzugehen, sagte sie: »Ich frage mich immer wieder, wie du in einer Großstadt zurechtkommen wirst. Houston war dir schon zu groß.« »Ja, diese Frage stelle ich mir auch. Weißt du, vielleicht halte ich es ja nur zwei Jahre durch, und dann zieht es mich wieder hierher.« Die Kellnerin brachte Kaffee für beide und für Ben einen Saft und sein Frühstück. »Es wird ein langer Tag werden. All diese kleinen Details könnten dich zu Tode langweilen.« »Und dir könnte es früher oder später auf die Nerven gehen, wenn du mich ständig auf den Fersen hast. Weißt du was? Ich werde in deiner Wohnung auf dich warten.« »Nein«, sagte er und ergriff wieder ihre Hand. »Bleib bei mir. Ich habe dreizehn Jahre, wenn nicht noch mehr… wie lange kennen wir uns jetzt schon?… damit zugebracht zu träumen, daß du bei mir bist.« »O Ben.« Ohne noch etwas zu sagen, machte er sich mit großem Appetit über die gebackenen Bohnen und die Chiliquiles her. »Du siehst nicht aus wie ein Kongreßabgeordneter«, sagte Carly. Er nickte mit vollem Mund. »Das ist mir klar. Ich werde mir angewöhnen müssen, Anzüge zu tragen, und dabei besitze ich keinen einzigen. Genau das könnten wir heute tun, Carly. So sicher bin ich meiner Sache nämlich, was die Wahlergebnisse betrifft. Komm mit und such ein paar Anzüge für mich aus.« »Cole hat einen phantastischen Schneider. Du mußt unter allen Umständen den Eindruck erwecken, eine wichtige Persönlichkeit zu sein.« »Nein«, sagte er. »Das ist nicht nötig. Ich brauch lediglich ein paar Anzüge, die halbwegs sitzen. Auch wenn ich gewählt werde, habe ich nicht vor, mich in irgendeiner Weise zu ändern. Solltest du eines Tages zu der Auffassung gelangen, daß mein Job mich zu korrumpieren beginnt, dann laß es mich wissen, aber davor werde ich mich hüten, und ich werde ständig darauf achten. Müßte ich tatsächlich gegen meine Prinzipien verstoßen und Kompromisse eingehen, um mich dort zu halten, dann würde ich umgehend zur Zeitung zurückkehren.« »Du weißt ganz genau, daß du von deinen Prinzipien abrücken und 383
Kompromisse schließen mußt, um dich dort halten zu können.«
»Wenn ich davon überzeugt wäre, ginge ich gar nicht erst nach
Washington. Du bist diesbezüglich zu pessimistisch.«
»Ich habe den Glauben verloren.«
»Wie kannst du so etwas sagen? Für dich ist der amerikanische
Traum doch wahr geworden.«
»Wie kommt es dann, daß mir alles so hohl erscheint?«
Ben sah sie eine Weile an. »Liegt es vielleicht daran, daß dein
Privatleben unbefriedigend ist?«
»O Ben.« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich weiß selbst nicht, was
mit mir los ist. Ich sollte glücklich und zufrieden sein, nicht wahr?«
Die Kellnerin füllte ihre Kaffeetassen nach. Ein paar Minuten saßen
sie schweigend da, und dann fragte Ben: »Was ist mit Cole?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Ich meine, mit ihm und dir?«
Carly schüttelte den Kopf. »Heute ist dein großer Tag. Ich bin
hergekommen, um dir eine Stütze zu sein, und nicht, um über mich
zu sprechen.«
»Es gibt nichts, aber auch absolut nichts, worüber ich lieber reden
würde als über dich.« Sie schüttelte noch einmal den Kopf.
»Na gut.« Er stand auf. »Das Wetter ist wunderschön und ich könnte
mich heute ohnehin nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Laß uns
am Strand Spazierengehen.«
Er gewann die Wahl mit einem Verhältnis von mehr als zwei zu eins.
Um zehn Uhr abends standen die Ergebnisse fest. Als die Party zur
Feier seines Wahlsiegs endete, war es schon nach zwei. Carly war so
müde, daß sie kaum noch klar sehen konnte.
Sie folgte Ben in seine kleine Wohnung, in der sie sich vor dem Fest
umgezogen hatte, und er machte es sich auf dem Sofa bequem.
»Kongreßabgeordneter Coleridge.«
»Hast du gehört, wie einer der Zeitungsmenschen mich als
>Sprößling einer wohlhabenden Bankiersfamilie aus Houston
bezeichnet hat? Glauben die etwa, dieser Umstand hätte mir den
Wahlsieg eingetragen?«
»Sei nicht so empfindlich. Die Leute lieben dich.«
Er blickte zu ihr auf, denn sie stand, wenn auch ohne Schuhe, immer
noch da. »Die Leute? Schließt das dich mit ein?«
»Ich hätte für dich gestimmt. Das ist dir doch klar.«
»Ja, sicher. Aber liebst du mich?«
»Ja, selbstverständlich. Das weißt du doch längst, du hast es schon
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immer gewußt.« »Ich meine nicht, ob du mich wie einen Bruder liebst. Ich meine auch nicht, ob du mich wie einen Freund liebst. Ich weiß, daß ich beides für dich bin. Wenn ich frage: >Liebst du mich?< spreche ich von der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau.« Carly bekam einen solchen Schrecken, daß ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Ben stand auf und zog sie in seine Arme. »Ich spreche von Liebe, Carly. Von großer Leidenschaft. Ich liebe dich. Ich habe dich schon immer geliebt.« Seine Hand fuhr durch ihr Haar, und er sah ihr in die Augen. »Weißt du, warum ich nicht verheiratet bin? Weil keine andere Frau so ist wie du. Ich habe natürlich mit ein paar Frauen geschlafen, das ist ja klar. Aber sobald ich morgens wach werde, muß ich verschwinden. Oder ich bereue es, sie mitgebracht zu haben. Ich öffne am Morgen die Augen, und die einzige Frau, die ich an meiner Seite sehen möchte, bist du.« »O Ben, sag so etwas nicht…« »Ich soll es nicht sagen? Wie kannst du das von mir verlangen? Seit Jahren stauen sich in mir Worte auf, die nur darauf warten, endlich zu dir gesagt zu werden. Ist dir überhaupt klar, was ich für dich empfinde? Ich liebe dich so sehr, Carly, das es manchmal richtig weh tut. Diese Monate, in denen wir uns regelmäßig geliebt haben – die ganze Zeit über habe ich gehofft, du würdest nicht schwanger werden, damit wir immer und ewig so weitermachen können.« »Ben, bitte…« »Weißt du, was das Wunderbarste in meinem ganzen Leben ist? Matt. Carly, trenn dich von Cole. Kommt mit mir nach Washington, ihr beide, du und Matt.« Seine Lippen berührten jetzt ihre, und sie hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen, als sie sich an ihn schmiegte. Sie kapitulierte vor seinen Küssen. »Liebst du mich, Carly?« »O ja«, hauchte sie und begriff erst jetzt, daß sie ihn schon seit Jahren liebte. Seine Zunge öffnete ihre Lippen, und sie spürte deren Wärme, deren Drängen. »Ja, Ben. Wahrscheinlich habe ich dich schon immer geliebt.«
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»Ich bin gestern nach Verity runtergefahren«, sagte Boomer. Es war Samstag, und Carly tanzte im Club mit ihm. Sie freute sich immer wieder darüber, wenn Boomer sie zum Tanzen aufforderte. Ihm brauchte sie nichts vorzumachen. Vielleicht lag es daran, daß sie einander schon seit Ewigkeiten kannten. Aber es war nicht nur das. Sie fühlte sich entspannt in seiner Gegenwart, und zugleich war es irgendwie aufregend mit ihm. Er war nach wie vor einer der interessantesten Menschen, die sie kannte. »Hat es einen bestimmten Grund dafür gegeben? Ich wußte gar nicht, daß du noch manchmal hinfährst.« »Ich bin seit Jahren nicht mehr dort gewesen, seit dem Tod meiner Tante nicht mehr«, sagte er und sah lächelnd auf sie hinunter. Wieder einmal stellte sie fest, daß Boomer unglaublich schöne braune Augen hatte. Schon oft hatte sie sich gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie an jenem Samstag zu Hause geblieben wäre und auf seinen Anruf gewartet hätte, statt mit Cole nach Verity zu fahren. »Ich hatte ganz plötzlich Lust dazu. Ich bin in die Bank gegangen und habe Walt dort angetroffen. Wir haben zusammen zu Mittag gegessen, dort, wo Blue’s früher einmal war, aber jetzt heißt es Die Grotte.« Carly lächelte. »Und dann habe ich mir unser Haus wieder mal angeschaut.« Das Haus war immer noch von dem hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben. Es wirkte trotz seiner abblätternden Farbe nach wie vor imposant, ja, jetzt vor allem, denn heute gab es so viele kleine einstöckige Häuser rundherum, Häuser von der Größe einer mickrigen Vierzimmerwohnung, und das, obwohl sich die Einwohnerzahl im Lauf der letzten zwanzig Jahre kaum verändert hatte. Er senkte den Kopf und flüsterte ihr ins Ohr, damit niemand sonst es hören konnte. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir es früher in meinem Zimmer miteinander getrieben haben?« »Als du damals Verity verlassen hast, um aufs College zu gehen, hat es mich fast umgebracht.« Er zog sie enger an sich. »Vielleicht war ich ein Dummkopf, Carly. Ich frage mich bis heute, ob das nicht einer der größten Fehler meines Lebens gewesen ist.« Sie schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten. »Sag das nicht, Boomer. Du und Alex, ihr seid doch glücklich miteinander…« 386
»Das ist wahr. Und ich versuche auch nicht, mich an dich ranzumachen. Aber manchmal fällt mir wieder ein, wieviel wir beide zusammen gelacht haben.« »Kein Mensch kann einem anderen Menschen alles geben, was er braucht.« »Du bist sehr klug. Warum läßt du es dann zu, daß Cole dich wie ein Stück Scheiße behandelt?« Sie geriet aus dem Takt, wich einen Schritt zurück und blickte zu ihm auf. »Du brauchst mir nichts vorzumachen. Es ist allseits bekannt. Warum läßt du dir das gefallen, Carly? Das hast du nicht nötig. Der Kerl muß bescheuert sein.« Carly spürte ein Bleigewicht in ihrer Brust, und der Druck war so groß, daß ihr das Atmen Mühe bereitete. »Mein Gott, Carly!« rief Boomer, als er ihr ins Gesicht sah, aus dem jede Farbe gewichen war. »Jetzt erzähl mir bloß nicht, du hättest nichts davon gewußt?« Sie löste sich abrupt von ihm. »Ich brauche dringend frische Luft«, sagte sie und bahnte sich im Zickzack einen Weg zwischen den anderen Paaren auf der Tanzfläche, um durch die weit offenen Türen auf die Terrasse zu laufen. Dort umfaßte sie das Geländer und klammerte sich daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Boomers Stimme ertönte hinter ihr. »Carly. O Carly, ich… und wir haben uns alle gesagt, wie tapfer du dich nach außen hin hältst. Wir haben dich dafür bewundert. Alex hat es kaum ausgehalten, dich nicht darauf anzusprechen. Sie will dir schon so lange sagen, daß du dich unbedingt wehren mußt. Wirf ihn raus oder…« Carly drehte sich zu ihm um und straffte ihre Schultern. »Okay, Boomer, jetzt wirst du mir erst einmal ganz genau sagen, worüber zum Teufel wir hier eigentlich reden.« »Ich komme mir vor wie ein Schurke, Carly. Ich würde dir um nichts auf der Welt weh tun wollen. Ich habe wirklich geglaubt, du wüßtest es.« »Daraus kann ich nur eins schließen: Die ganze Stadt hat geglaubt, ich wüßte es, aber ich weiß von nichts. Also, was ist los?« »Er bemüht sich noch nicht einmal, es geheimzuhalten. Es geht jetzt schon seit Monaten so.« »Seit Monaten?« Sie erstickte fast an ihren eigenen Worten. »Geheimhalten? Eine Frau?« »Tiffany Delacourte.« »Wer? Oh! Die Frau in der Sparkasse? O mein Gott.« Sie legte eine 387
Hand auf seinen Arm und holte tief Luft. »Ich muß blind gewesen sein. Ich habe mir eingebildet, wenn ich die Rolle der braven Ehefrau spiele und es ihm überlasse, das Familienoberhaupt zu sein, dann hört er auf mit…« »Man sieht sie jeden Mittag zusammen essen, und ein-, zweimal in der Woche spielen sie Golf, aber nicht etwa irgendwo, sondern ausgerechnet hier, im Club.« Hatte er denn gar nicht gefürchtet, sie könnte die beiden miteinander sehen oder etwas davon erfahren? Oder war ihm das vollkommen gleichgültig? »Ich muß dringend nach Hause, Boomer. Ich will nicht wieder reingehen.« Alle Welt wußte es. Und zwar schon seit Monaten. Sie kam sich so dumm vor. »Warte einen Moment. Ich sage Alex nur schnell Bescheid, und dann fahre ich dich nach Hause.« »Nein«, entgegnete Carly und schüttelte den Kopf. »Ich möchte allein sein.« »He, das ist wirklich toll«, sagte Boomer. »Ich bin bei dir, wenn dein Baby geboren wird, und ich bin auch da, wenn du herausfindest, daß dein Mann dich betrügt. Komm schon, Carly, was kann ich tun, um dir zu helfen? Ich mach alles für dich.« Aber sie hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt und lief die Stufen der Veranda zum Parkplatz hinunter. Ganz gleich, ob sie gearbeitet hatte oder zu Hause geblieben war, um ihm eine perfekte Ehefrau zu sein – es hatte alles nichts geändert. Sie hatte so oder so versagt. Auf der Heimfahrt trat sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Sie würde Walt und Francey anrufen und die beiden besuchen. Vielleicht würde sie Cole verlassen, und zu Ben gehen. Er hatte sie darum gebeten, sie angefleht. Sie und Matt. Sie würden endlich dorthin gehen, wohin sie in Wirklichkeit gehörten. Das Telefon läutete, als sie das Haus betrat. Wer rief zu so später Stunde noch an? Es war Walt. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie seine Stimme hörte. »Es geht um deine Mutter«, sagte Walt in einem Ton, der Schlimmes ahnen ließ. »Ich habe schon den ganzen Abend versucht, dich zu erreichen. Sie hat Krebs, Carly. Lymphdrüsenkrebs.« »Ich mache mich sofort auf den Weg«, erklärte Carly, ohne auch nur 388
einen Moment zu zögern. »Bei Tagesanbruch bin ich da.« »Warte bis morgen früh, und nimm ein Flugzeug.« »Nein.« Carly kämpfte gegen die Tränen an. »Morgen ganz früh bin ich da.« Matt würde ohne sie zurechtkommen. Das Hausmädchen, die Köchin und sein Vater konnten für ihn sorgen. Sein Vater? Wenn das nicht zum Lachen war. Sie fing an zu weinen. Ihre Mutter hatte Krebs? Francey würde sterben? Sie warf Unterwäsche in eine kleine Tasche, aber sonst fast nichts. Sie wußte, daß sie nicht in der Lage war, klar zu denken. Wie hätte man das auch von ihr erwarten können, nachdem sie an ein und demselben Abend gehört hatte, daß ihr Mann eine Affäre hatte und ihre Mutter im Sterben lag? Vielleicht stand sie unter Schock. Plötzlich beschloß sie, Matt mitzunehmen. Sie wußte nicht, wie lange sie bleiben würde. Er konnte ein paar Wochen dort zur Schule gehen. Oder auch für ein paar Monate. Sie ließ noch nicht einmal eine Nachricht zurück. Diesmal nicht. Cole war es wahrscheinlich ohnehin egal, wo sie sich aufhielt. Sie rüttelte Matt wach und trug ihn mehr oder weniger zum Wagen. Er rollte sich auf dem Rücksitz zusammen, ohne überhaupt wahrzunehmen, was um ihn herum vorging – O Mom, dachte Carly. Ein Leben, in dem es Francey nicht gab, hatte sie nie auch nur ins Auge gefaßt.
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61 Am frühen Morgen rief Carly zu Hause an. Sie teilte Cole einfach nur mit, daß Francey sie brauche und sie so lange bei ihr bleiben würde, wie es nötig sei. Walts Gesichtsausdruck und der Schmerz in seinen Augen, wenn er seine Frau ansah, waren ihr unerträglich. Einmal bekam sie mit, wie er weinte, als er außerhalb von Franceys Hörweite war. Carly meldete Matt in der Schule von Verity an. Die Samstage verbrachte er mit Zelda Marie und seinem Pferd draußen auf der Ranch. Franceys Kräfte schienen von Tag zu Tag nachzulassen. Wenn sie allein waren, klammerte sie sich an Walt und gestand ihm, daß sie Angst hatte. Auch er fürchtete sich, doch er drückte sie ganz fest an sich und sagte ihr, sie müsse wieder gesund werden. Er könne nicht ohne sie leben. Carly verbrachte die Nachmittage am Bett ihrer Mutter, und Francey redete mit ihr. »Weißt du was, Liebes? Als wir nach Verity gezogen sind, hat mein Leben überhaupt erst begonnen. Dir hat es hier nie gefallen, aber mein Leben hat begonnen, als ich Walt begegnet bin. Nein, das ist nicht wahr. Es hat an dem Tag begonnen, an dem ich dich geboren habe. Du hast meinem Leben einen Sinn gegeben, mich glücklich gemacht. Oh, wie sehr ich doch wünschte, dir und Cole wäre ein solches Glück beschert gewesen, wie Walt und ich es gemeinsam gefunden haben.« Wenn all das vorüber war und sie hier nicht mehr gebraucht wurde, würde sie vielleicht gar nicht mehr nach Houston zurückgehen. Sie würde Ben anrufen und ihm sagen, daß sie, wenn er sie noch haben wolle, mit Matt zu ihm komme. Ehe sie aus Houston aufgebrochen waren, hatte Ben einen Brief an Matt geschrieben, in dem er ihm nichts von seinen Frustrationen berichtete, sondern nur schilderte, wie spannend es in Washington zugehe. Carly hatte jedoch auch einen Brief bekommen, und darin hatte er sich ausführlich über die Rückschläge und Enttäuschungen ausgelassen. »Die Regierung ist ein gottverdammt großer Apparat, und die Bürokraten scheinen ausnahmslos minderwertiges Pack zu sein. Ich schwöre es dir, das sind Leute, die in der Geschäftswelt keinen Job bekämen. Sie halten sich an starre Vorschriften und könnten selbst dann keine eigene Entscheidung treffen, wenn ihr Leben davon abhinge. Sie haben keinerlei Interesse an den Menschen, sondern nur daran, ihre 390
Karriere nicht zu gefährden. Wenn ich sehe, was für einen Unfug diese Regierung treibt, dann könnte ich fast zum Republikaner werden. Lange werde ich es hier nicht aushalten.« Dabei war er erst seit vier Monaten dort. Carly dachte an den Wahltag und die darauffolgende Nacht, in der sie sich bis zum frühen Morgen in den Armen gelegen hatten. Er hatte Carly angefleht, mit Matt zu ihm nach Washington zu kommen, auch wenn das einen Skandal hervorrufen würde. Sie fragte sich, ob sie ihn anrufen und ihm von Cole erzählen sollte… und von Francey. Diese Entscheidung wurde ihr jedoch abgenommen. Eines Abends um zehn Uhr, nachdem sie schon fast fünf Wochen in Verity verbracht hatte, rief Ben sie aus Washington an. »Mutter hat mir von Francey erzählt«, sagte er. »Es tut mir ja so leid, Carly. Sie ist eine wunderbare Frau. Und ich weiß, wie sehr du an ihr hängst.« Carly nickte. »Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie hält sich sehr tapfer.« »Ich habe Neuigkeiten, Carly.« Sie wartete. Würde er schon während der ersten Amtsperiode seinen Posten aufgeben und alles hinwerfen? Oder hatte er beschlossen, für den Senat zu kandidieren? »Ich werde heiraten.« Als sie nichts sagte, fragte er: »Carly?« Sie bekam keine Luft. Ihre Kehle schien zugeschnürt zu sein, und sie konnte nicht schlucken. Etliche Sekunden lang glaubte sie, sie würde ersticken, doch dann schnappte sie keuchend nach Luft. Sie preßte die Hand auf die Sprechmuschel, damit Ben es nicht hören konnte. »Sie arbeitet im Umweltschutz«, berichtete er. Als Carly immer noch nichts sagte, erklärte Ben: »Du weißt schon, diese Projekte zur…« »Das ist mir durchaus bekannt«, fuhr sie ihm ins Wort. »Sie ist in der praktischen Forschung tätig«, sagte Ben. »Wir haben uns kennengelernt, als…« Carly hörte nicht, wie sie einander begegnet waren. Sie ließ den Kopf zwischen ihre Knie sinken, um gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen, das in Wogen über sie hereinbrach. Am liebsten hätte sie ins Telefon geschrien: Und das muß ausgerechnet dann sein, wenn ich dich brauche. Ben redete immer weiter. »Ich habe gewußt, daß du dich für mich freuen wirst. Ich werde nie aufhören, dich zu lieben, Carly. Du bist meine große Liebe gewesen, das weißt du ja. Aber Meryl und ich, ich meine, es ist allmählich wirklich an der Zeit, daß ich eine Familie gründe. Daß ich endlich jemanden habe, mit 391
dem ich abends reden kann…« War es das, was sie und Cole hätten tun müssen? Abends miteinander reden? Die Probleme, die der Tag mit sich gebracht hatte, gemeinsam erörtern? Einander entscheidende Fragen stellen? »Ich brauche einen Menschen, den ich lieben kann, Carly. Und der mich liebt. Und Meryl ist die einzige andere Frau außer dir… Wünschst du mir Glück, Carly?« »Ja, selbstverständlich.« Sie bemühte sich, nicht an den Worten zu ersticken. »Ich habe dir nie etwas anderes gewünscht, Ben, nur, daß du dein Glück findest.« »Ich möchte, daß du zu meiner Hochzeit kommst. Ich hätte gern deine Unterstützung. Und ich möchte auch, daß ihr euch kennenlernt.« »Wann findet die Hochzeit statt?« fragte Carly. »Am Samstag in einer Woche«, antwortete er. »Hier in Washington.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Das ist unmöglich, Ben. Nicht, solange Mutter…« »Du könntest am Freitag mit Matt herfliegen und am Sonntag wieder zurück sein. Vielleicht kommt Cole auch«, fügte er hinzu, doch es klang nicht gerade so, als würde er sich große Hoffnungen machen. »Meinen Eltern habe ich bisher noch nichts davon erzählt. Ich wollte, daß du es als erste erfährst. Aber ich bin ganz sicher, daß sie sich das nicht entgehen lassen werden. Ich bitte dich, Carly, komm.« »Ich werde es versuchen«, sagte sie. Sie sollte zu Bens Hochzeit erscheinen? Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da sie mit dem Gedanken gespielt hatte, ihn selbst zu heiraten? Sie sprach mit Walt darüber. Nein, sie wollte nicht nach Washington fliegen, wollte nicht sehen, wie Ben eine andere Frau heiratete. Sie kämpfte gegen die Versuchung an, ihn anzurufen und zu sagen: »Ben, ich werde Cole verlassen.« Würde er auf Meryl um ihretwillen verzichten? Sie sei seine große Liebe, hatte er gesagt. Matt war sein Sohn. Würde er mit ihnen beiden nicht glücklicher werden als mit dieser zweiten Wahl? Als genau das hatte er Meryl schließlich hingestellt. Sie tat es aber nicht. Sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen. »Es ist doch nur für ein Wochenende«, sagte Walt. »Natürlich mußt du mit Matt zu Bens Hochzeit. Der Junge hat seinen Onkel schon immer abgöttisch geliebt.« Und so rief sie ihre Schwiegereltern an 392
und vereinbarte mit ihnen, gemeinsam zur Hochzeit zu fliegen. Sie würden sich auf dem Flughafen von Houston treffen. Im Flugzeug saß Matt am Fenster und hielt sie über die ständigen Veränderungen der Landschaft auf dem laufenden. »Geht Onkel Ben nun nicht mehr mit mir zum Fischen?« fragte er. Carly antwortete mit geschlossenen Augen: »Nur weil er jetzt heiratet, heißt das noch lange nicht, daß er dich in Zukunft nicht mehr liebhaben wird.« »Und was ist mit dir? Liebt er dich nicht mehr?« Carlys Lider öffneten sich flatternd, ihr Atem stockte wieder einmal, und ihre Kehle war so trocken, daß sie nicht schlukken konnte. Schließlich sagte sie mit einer Stimme, die sie selbst nicht erkannte: »Das hoffe ich doch nicht.« Meryl war jung, acht oder neun Jahre jünger als Ben. Sie war noch nicht einmal hübsch, fand Carly. Sie hatte glattes braunes Haar und trug eine Brille, aber sie lachte viel, und trotzdem konnte Carly deutlich spüren, daß sie eine sehr ernsthafte Frau war. Als Meryl und Ben sie in Dulles abholten, trug sie Jeans und ein T-Shirt, auf dem in großen Buchstaben quer über der Brust »Rettet die Wale« stand. Von einem Busen konnte nicht wirklich die Rede sein. Meryl drückte Matt die Hand, und es dauerte nicht lange, bis sie einen Arm um ihn gelegt hatte. Im Umgang mit den Coleridges war sie unbefangen. Carly merkte, daß es Mrs. Coleridge große Überwindung kostete, nett zu einer Frau zu sein, die sie in einem T-Shirt vom Flughafen abholte. Meryl unternahm keinen Versuch, ihre zukünftigen Schwiegereltern auf die Wange zu küssen, doch ihre Art war liebevoll und warmherzig. Für sie war es ein Heimspiel auf vertrautem Boden, und sie hieß sie als Gäste willkommen. Nachdem alle Anwesenden einander vorgestellt worden waren und der Trubel ein wenig nachließ, musterte sie Carly mit unverhohlenem Interesse. »Ich habe schon so viel über Sie gehört, mehr als über jeden anderen. Es freut mich schrecklich, daß Sie kommen konnten. Ich wollte Sie unbedingt kennenlernen. Es tut mir sehr leid, daß Ihre Mutter krank ist.« Carly mußte feststellen, daß sie einen positiven Eindruck von dieser Frau hatte, die so selbstsicher zu sein schien und Ben mit offenkundiger Liebe ansah. Die Coleridges tauten auf, als sie erfuhren, daß ihr Vater der Generaldirektor von Delta Pictures war, einer Filmgesellschaft, aus deren Produktion in diesem Jahr schon drei Filme stammten, die für 393
den Academy Award nominiert worden waren. Hollywood scheint absolut nicht auf sie abgefärbt zu haben, dachte Mrs. Coleridge noch, als Meryl schon erzählte, daß sie mit ihrer Mutter, die sich bereits vor einundzwanzig Jahren von ihrem Vater hatte scheiden lassen, in Nyack im Staat New York aufgewachsen war. Sie hatte in Cornell studiert und dort ihren Abschluß gemacht. Vielleicht war es das, sagte sich Carly, was ihr dieses Selbstvertrauen einflößte. Ein Studium an einer Universität mit viel Prestige. Und eine reiche Herkunft. Maude Coleridge wurde gegen Ende des gemeinsamen Abendessens etwas gesprächiger, und Meryl ging bereitwillig auf alle ihre Fragen ein. Nein, keine Proben für das Zeremoniell, um das Notwendigste hatten sie sich am Nachmittag schon gekümmert. Und auch kein Junggesellenabend. Meryls Mutter und ihre Brüder würden morgen vormittag aus New York eintreffen. Sie wußte nicht, ob ihr Vater erscheinen würde, aber sie hoffte es. Sie wünschte sich sehr, er würde sie ihrem Bräutigam übergeben. Die Trauung würde nicht in einer Kirche stattfinden, sondern im Haus von Senator Everton, der Ben anscheinend mehr oder weniger adoptiert hatte. Er lebte in Georgetown in einer prächtigen Villa, die schon seit Generationen im Besitz der Familie seiner Frau war, und er hatte ihnen für den Empfang seinen Garten zur Verfügung gestellt. Matt schlief um zehn ein, doch Carly lief in dem Hotelzimmer umher, schaute zum Fenster hinaus und versuchte ihre Gefühle zu analysieren. Sie hatte geglaubt, ihr gesamter Organismus würde zusammenbrechen, als sie gesehen hatte, wie Ben Meryl geküßt hatte. In seinen Augen hatte sie den Ausdruck entdeckt, mit dem er sie ab und zu angesehen hatte – ein Blick, der besagte, daß sie ein Geheimnis miteinander hatten. Ließ sie zu, daß er einen fürchterlichen Fehler beging, indem sie jetzt nicht den Mund aufmachte, indem sie schwieg, statt zu sagen: Ich werde deinen Bruder verlassen!, ehe es zu spät für sie und für ihn war? Es war schon nach elf, als sie zum Telefon griff und ihn in seiner Wohnung anrief. Meryl nahm den Hörer ab. Ja, selbstverständlich. Wahrscheinlich lebten sie schon seit geraumer Zeit zusammen. Hatte sie etwa geglaubt, sie würden diese letzte Nacht getrennt verbringen? Carly legte den Hörer auf. Sie schlüpfte in das Bett gegenüber von Matt, der gleichmäßig atmete, und schaltete das Licht aus. Dann lag sie mit auf der Brust gefalteten Händen da und dachte: O Ben. Bennett Willard Coleridge. 394
Wir hätten es tatsächlich fast geschafft.
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62 »Boomer.« Dans Stimme klang zaghaft. Als Boomer von seinem Schreibtisch aufblickte, sah er Dan und Tessa in der Tür zu seinem Büro stehen. Tessa bot wie immer einen umwerfenden Anblick. Sie trug ein weißes Seidenkostüm und eine rote Rüschenbluse mit weißen Tupfen. Der einzige Schmuck waren Perlenohrringe und ein riesiger Diamantring an ihrer linken Hand. Den hatte ihr Dan vor mehr als fünf Jahren zu ihrem zehnten Hochzeitstag geschenkt, da sie ihre Ehe ohne eine vorangegangene Verlobungszeit geschlossen hatten. Sie hatten eine Party gegeben und ihre Schwüre erneuert. Obwohl sie oft wirklich heftige Auseinandersetzungen hatten, sahen sie einander immer noch so an, als wären sie frisch verliebt. Es handelte sich dabei aber nie um persönliche Dinge, sondern um Meinungsverschiedenheiten darüber, wie man ein Projekt in Angriff nehmen sollte. Dan stellte immer den finanziellen Aspekt in den Vordergrund, und Tessa wollte nach den Sternen greifen. Es dauerte jedoch nie lang, bis sich die Wogen wieder glätteten. Sogar im Büro gingen sie im allgemeinen getrennte Wege, da jeder von ihnen an Projekten arbeitete, die nichts miteinander zu tun hatten. Boomer sagte sich oft, was für ein Glück er mit dieser geschäftlichen Partnerschaft gehabt hatte. Er und Dan hatten noch nie miteinander gestritten. Selbst dann, wenn sie ursprünglich unter gänzlich verschiedenen Gesichtspunkten an ein Projekt herangegangen waren, war es ihnen doch jedesmal gelungen, die Dinge in Ruhe zu besprechen, hier einen kleinen Kompromiß zu schließen und sich dort etwas Neues einfallen zu lassen. Boomer wünschte, seine Ehe wäre ebenso harmonisch. In der letzten Zeit schien es ihm, als stimmte etwas nicht, ohne aber sagen zu können, was. Boomer lächelte seine Freunde und Partner an. »Ihr wirkt auf mich wie Katzen, die den Kanarienvogel gefressen haben. Was ist los?« »Hast du ein paar Minuten Zeit?« fragte Tessa. Sie nahmen in den bequemen Ledersesseln Platz, die Boomers Schreibtisch gegenüberstanden. Das Büro war natürlich von Tessa eingerichtet worden, und sie berücksichtigte nicht nur die optische Wirkung, sondern auch die Behaglichkeit. Boomer beugte sich vor und faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. Er wartete, während die beiden einander ansahen. Schließlich sagte Dan: »Dir ist doch klar, daß unsere Partnerschaft 396
mit dir die tollste Erfahrung war, die wir je machen konnten.« Boomer war sich nicht, sicher, ob das, was ihm plötzlich zentnerschwer im Magen lag, eine Sonntagstorte oder eine Tonne Blei war. »Für mich hätte es auch nicht besser laufen können.« »Ja«, sagte Tessa und lächelte ihn an. »Das ist uns durchaus klar.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, bis Boomer fragte: »Was versucht ihr mir hier eigentlich schonend beizubringen?« Er hatte das dumpfe Gefühl, daß er die Antwort nicht hören mochte. »Wir wollen aussteigen«, platzte Dan heraus. »Aussteigen?« Boomers Stimme überschlug sich. Tessa beugte sich vor und legte eine Hand auf den Schreibtisch. »Boomer, wir hängen an dir, und du wirst uns fehlen, aber wir wollen von nun an ein beschaulicheres Leben führen und unser Dasein genießen.« »Fünfzehn Jahre lang«, übernahm Dan jetzt das Wort, »haben wir uns abgerackert wie die Blöden. Dasselbe trifft auch auf dich zu. Wir haben mehr Geld, als Tessa und ich in unserem ganzen Leben ausgeben können.« »Wir wollen reisen, uns die Welt ansehen, eine Zeitlang in Frankreich leben und dann vielleicht auf einer der griechischen Inseln, möglicherweise aber auch auf Mallorca, und wir wollen uns Indien, Australien und Spanien anschauen. Die Fjorde.« Boomer fuchtelte mit einer Hand durch die Luft. »Der Grundgedanke ist mir schon klar. Aber könnt ihr das nicht tun und trotzdem weiterhin hier arbeiten?« Tessa schüttelte den Kopf. »Nein, wir wollen uns völlig davon loslösen. Wir beabsichtigen, in Zukunft überhaupt nicht mehr zu arbeiten.« »Wir werden unser Haus verkaufen«, sagte Dan, »das Haus und alles, was wir besitzen, und nicht mehr als ein paar Koffer pro Person mitnehmen, einfach nur dahin ziehen, wohin es uns zufällig verschlägt.« Boomer starrte die beiden an. »Das kann doch nicht euer Ernst sein.« »Doch«, erwiderte Tessa mit gesenkter Stimme. »Es ist unser Ernst, Boomer. Uns ist klar, daß du das Gefühl haben wirst, wir hätten dich im Stich gelassen, aber wir sind uns ganz sicher, daß es im Leben noch viel mehr gibt als nur das ewige Arbeiten. Wir haben es zu etwas gebracht, uns einen Namen gemacht, und wir sind reich. Stinkreich sogar. Und jetzt wollen wir uns ansehen, wie der Rest der Welt lebt.« Sie unterbrach sich, als Boomer wieder mit einer Handbewegung abwinkte, was bisher gesagt worden war. 397
»Du zahlst uns eine Abfindung von einer Million, und die Firma gehört dir«, erklärte Dan. Boomer legte die Stirn in Falten. »Euer Firmenanteil ist wesentlich mehr wert, und ihr wißt das auch.« Tessa und Dan nickten beide. »Natürlich wissen wir das«, sagte Tessa, »aber mehr benötigen wir nicht. Sogar diese eine Million brauchen wir nicht wirklich, aber uns ist klar, daß du andernfalls niemals auf unser Angebot eingehen würdest.« »Ich würde euch übervorteilen, wenn ich die Firma für diese Summe aufkaufen würde.« »Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Tessa. »Boomer, mein Lieber, mehr brauchen wir nicht.« »Schon allein für euer Haus werdet ihr mehr als das bekommen.« Tessa nickte. »Himmel, Leute, ohne euch kann ich nicht so weitermachen wie bisher. BB&O ohne Tessa und Dan? In Zukunft ohne sie arbeiten, ohne seine größten Stützen? Ein Leben ohne die beiden? Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Worauf bezieht dich dieses Nein?« fragte Dan. »Soll das heißen, du wirst die Firma nicht aufkaufen?« »Es soll heißen, daß ich euch nicht einfach gehen lasse.« Tessa stand auf, lief um den Schreibtisch herum und beugte sich hinunter, um Boomer zu umarmen. Sie drückte ihm einen Kuß aufs Haar. »Boomer, für uns hat es auf der ganzen Welt nie einen besseren Freund gegeben. Aber wir müssen jetzt das tun, worüber wir schon seit drei Jahren ständig reden. Wir fühlen uns inzwischen hier immer mehr eingeengt.« »Angefangen hat es«, sagte Dan, »als wir vor sechs Jahren in London waren. Und dann ist es noch krasser geworden, als wir in der Türkei gewesen sind, und seitdem jedes Jahr…« »Ja, schon klar.« Die beiden hatten jedes Jahr eine sechswöchige Reise unternommen. »Und uns ist aufgegangen, wie viele Orte auf dieser Welt wir noch nicht kennen. Tessa ist fünfundvierzig, und ich bin zweiundvierzig, und wir wollen die nächsten zwanzig Jahre damit zubringen, diesen Planeten zu erkunden, überall bleiben, wo es uns gefällt, bis wir es satt haben und weiterziehen möchten. Wir wollen frei sein.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihr beide aus dem Koffer leben wollt, so wie Blumenkinder.« Dan lachte. »So weit würde ich nicht gehen. Dazu sind wir zu sehr an gewisse Annehmlichkeiten gewöhnt. Wir reden schon seit ein 398
paar Jahren darüber, Boomer, und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen.« »BB &0 wird ohne euch nicht mehr dasselbe sein.« Boomer zwang sich, nicht zu weinen, denn das gehörte sich nicht für einen erwachsenen Mann. »Es gibt Unmengen von guten Architekten«, entgegnete Dan. »Einige von ihnen zählen sogar bereits zu unserem Mitarbeiter stab.« »Aber es ist nicht ein einziger darunter, der deine Vorstellungskraft besitzt.« Tessa drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Wir wollen in drei Monaten aufbrechen.« Als Boomer nichts dazu sagte, fügte sie hinzu: »Was hältst du davon, wenn wir heute abend zusammen essen gehen?« »Ja, in Ordnung«, antwortete Boomer. Als er allein war, stand er auf, trat ans Fenster und blickte auf seine Stadt hinab. Er fragte sich, warum sein Körper von Kopf bis Fuß schmerzte. Sie hatten morgens um elf schon strahlenden Sonnenschein, doch Boomer empfand das Licht nur als unangenehm grell. Er spürte das Einsetzen gräßlicher Kopfschmerzen. Genau drei Monate später flogen Tessa und Dan mit insgesamt neun Koffern nach Paris und wollten sich von dort aus in die Provence begeben. Boomer konnte einfach nicht glauben, daß er die beiden jahrelang nicht wiedersehen sollte. Im Rückblick erkannte er, daß noch etwas anderes seit einer Weile nicht mehr stimmte. Es hatte etwas damit zu tun, wie Alex auf die Neuigkeit reagiert hatte. »O Boomer!« hatte sie ausgerufen und zu ihm aufgeschaut. Sie saß hinter dem Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer. »Was wirst du jetzt tun? Die beiden haben BB&O zu dem gemacht, was es heute ist.« Er reagierte gereizt. »Ganz so würde ich das nicht sehen.« »Ich meine damit nicht, daß du kein guter Bauunternehmer bist. Natürlich bist du Spitze. Du hast dir einen internationalen Ruf erworben. Doch das, was dir so viele Aufträge eingebracht hat, sind Dans Entwürfe gewesen.« Genau das hatte sich Boomer auch schon eingestanden, aber irgendwie beleidigte ihn diese Reaktion seiner Frau. Einen Monat, ehe Dan und Tessa aufbrachen, sagte Boomer zu Alex: »Weißt du, vielleicht haben die beiden ja recht. Es ist an der Zeit, langsamer zu treten.« »Was soll das heißen?« Er sah sie an, da ihn der scharfe Ton überraschte. »Wir haben mehr Geld, als wir brauchen, mehr, als wir jemals ausgeben können. Und 399
auch für unsere Kinder ist für den Rest ihres Lebens gesorgt. Weshalb sollten wir weiterhin so hart arbeiten?« Sie starrte ihn an. »Hast du den Verstand verloren? Was glaubst du wohl, wofür du so hart gearbeitet hast?« »Vielleicht, damit ich einen Teil der Früchte meiner Arbeit genießen kann, was nicht etwa heißen soll, daß mir der Weg dorthin keinen Spaß gemacht hat. Vielleicht könnten wir einen großen Teil der Firma einfach verkaufen, nur noch die hiesigen Aufträge übernehmen. Ich bin vierzig, und…« »Es ist absolut überflüssig, mich an mein Alter zu erinnern!« Alex warf einen Blick in den Spiegel ihrer Frisierkommode. Schließlich war sie ein Jahr älter als Boomer. Er beugte sich zu ihr hinunter, um ihre Schulter zu küssen, und dann betrachtete er ihr Spiegelbild. »Laß uns Dinge mit den Kindern unternehmen, solange wir sie noch bei uns haben. Laß uns Ausflüge mit ihnen machen, zelten gehen…« »O mein Gott!« stöhnte Alex. Sie hörte sich jetzt schon seit Ewigkeiten an, wie er vom Zelten schwärmte. »Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis die Kinder aus dem Haus gehen, Boomer.« Sie sah ihn mit flehentlichen Blicken an. »Ich wünsche mir einen Mann, auf den ich stolz sein kann.« Er richtete sich kerzengerade auf. »Soll das heißen, du kannst nur dann stolz auf mich sein, wenn ich Millionen verdiene? Soll das heißen, andernfalls wärst du mit einer Null verheiratet…?« »Das trifft es ziemlich genau. Und eine Alexandra Headland denkt ebenfalls nicht daran, zu einer Null zu werden.« Er rief ihr nicht ins Gedächtnis zurück, daß sie seit mehr als fünfzehn Jahren den Namen Bannerman trug. Alex begann sich das Haar zu bürsten. »Sei nicht albern. Du weißt doch, daß ich stolz auf dich bin. Als ich dich kennengelernt habe, hattest du nichts…« »Ich hatte mich selbst«, murmelte er. Sie ging nicht darauf ein. »Inzwischen sind sogar meine Eltern stolz auf dich.« »Du hast mir gesagt, du hättest mich selbst dann geheiratet, wenn sie deinen Entschluß mißbilligt hätten.« »Ja, sicher, weil ich das Potential in dir erkannt habe. Ich wußte von Anfang an, wie weit du es eines Tages bringen würdest.« Boomer machte auf dem Absatz kehrt, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie seufzte. Der Teufel sollte Tessa und Dan holen. Vielleicht, sagte sich Boomer, hatte er schon an jenem Tag unterschwellig etwas geahnt, an dem er Alex den See zum 400
Hochzeitsgeschenk gemacht hatte und sie darauf beharrt hatte, das Grundstück zu erschließen, statt es zu ihrer beider persönlichem Schlupfwinkel zu erklären. Jetzt war der See von Wochenendhäusern umgeben, die ihrerseits auf großen Grundstücken standen, auf denen die Besitzer Pferde hielten oder Motorräder unterstellten, mit denen sie durch die Wälder rasten und deren Lärm sich mit dem der Motorboote auf dem See verband. Der Krämerladen, in dem man Fischköder bekam, war jetzt ein Supermarkt, und Alex hatte Leonard, den Besitzer des Restaurants La Brasserie in Houston, dazu überredet, dort draußen ein schickes kleines Lokal zu eröffnen, indem sie ihm einen Acre des Landes überlassen hatte, auf dem BB&O ein Chalet im Schweizer Landhausstil für ihn errichtet hatten. Das Haus, das Dan für sie entworfen hatte, war ebenso luxuriös wie das in der Stadt. Es überraschte Boomer, daß Alex sich immer noch damit begnügte, in dem ersten Haus zu leben, in das sie nach ihrer Hochzeit eingezogen waren. Im Sommer, wenn das gesellschaftliche Leben in Houston stagnierte, fuhren sie jedes Wochenende an den See. Für Boomer, und das überraschte ihn selbst, waren diese Wochenenden ein Greuel. Er saß dort auf der großen Terrasse mit Ausblick auf den See, umgeben vom Lärm der Motorboote und Motorräder. Nicht einmal die Vögel konnte man mehr hören. Die Kinder waren natürlich ganz begeistert. Und es freute ihn selbstverständlich, wenn sie vergnügt herumtollten. Sie alle konnten das Boot steuern, und sie sprangen kopfüber vom Anlegesteg und schwammen wie Fische im Wasser herum. Boomer kaufte ein Zelt und baute es im Wald auf, und David und sein Bruder Rick schliefen oft nachts dort draußen, doch Diane zeigte nicht das geringste Interesse an einem anspruchslosen Leben. Sie war wie ihre Mutter. Alex stellte sich ein erfreuliches Wochenende so vor, daß sie mehrere andere Paare und, wenn nötig, auch deren Kinder einlud und am Samstagabend eine raffinierte leichte Mahlzeit von Leonard ins Haus liefern ließ. Dem folgte ein langer träger Sonntagvormittag mit sämtlichen Sonntagszeitungen und den Waffeln, die Boomer immer zubereitete, Stunden, in denen sie Orangenblütentee oder auch Champagner trank und eine Kanne aromatisierten Kaffee, manchmal mit Haselnußaroma, bei anderen Gelegenheiten die französische Mischung oder Kaffee mit Amarettogeschmack. Normalen Kaffee trank sie nie. Gegen zwei zogen sie sich lässige Kleidung an, fuhren zu Leonard’s und speisten dort bis mindestens vier Uhr. Darauf folgte die 401
zweistündige Heimfahrt, auf der die Kinder sich entweder zankten oder hinten im Kombi einschliefen. Das Fahrzeug wurde nur für Ausflüge mit der ganzen Familie benutzt und stand die Woche über in der Garage, es sei denn, es diente zwischendurch dazu, die Kinder zu Sportveranstaltungen oder zu Schulfeiern zu transportieren. Diane verliebte sich mit elf Jahren oben am See zum erstenmal. Der Junge war drei Jahre älter als sie und sein Vater Generaldirektor einer Flotte von Frachtflugzeugen, die um die ganze Welt flogen. Das gefiel Alex natürlich. Sie fand, daß ihre Tochter von Anfang an guten Geschmack bewies. Weder Dan und Tessa noch Cole und Carly ließen sich dazu überreden, dort oben ein Haus zu bauen. Cole hatte sein Ferienhaus in Colorado oder sein Boot, das vor Sarasota im Golf lag, und Carly schien Verity vorzuziehen. Oder zumindest war es ihr lieber, ihre Mutter, ihren Stiefvater und Zelda Marie zu sehen. Seit jenem Abend, an dem ihr Boomer von Cole erzählt hatte, hielt sie sich dort auf. Dafür hätte er sich selbst einen Tritt in den Hintern geben können. Sie hatte so verwundbar und so tief verletzt gewirkt, als er damit herausgeplatzt war. Trotz ihrer überwältigenden Erfolge hatte sie nie ihre Naivität abgelegt. Alex hatte zu ihm gesagt, sie glaube, Carly habe ihre Firma nur verkauft, um ihre Ehe zu retten, damit Cole keine Konkurrenz in ihr sehe. Das konnte Boomer nicht verstehen. Er fühlte sich durch die Erfolge, die Alex geschäftlich zu verbuchen hatte, nicht im entferntesten bedroht. Sie war schon vor ihm erfolgreich gewesen. Und wenn sie sich entschlossen hätte, auszusteigen oder wenigstens ein kleines bißchen zurückzustecken, dann hätte er nicht das Gefühl gehabt… nun, allerdings blickte er nicht ganz durch, was Alex wirklich empfand. Sein Wunsch, kürzerzutreten, schien für sie eine persönliche Bedrohung darzustellen. Vielleicht könnte er es so machen, daß sie nichts davon erfuhr. Er könnte in Zukunft ganz einfach keine Auslandsaufträge mehr annehmen und auch die Angebote ablehnen, die aus St. Louis oder Phoenix kamen. Er hatte Scottsdale und Tucson ja so satt. Außenstehende mochten zwar glauben, Texas sei nicht gerade der grünste unter den amerikanischen Bundesstaaten, aber hier, in der Umgebung von Houston, wirkte die Landschaft mit Sicherheit nicht so tot wie die Wüste in Arizona. Die Leute erzählten ihm immer wieder, die Wüste strotze nur so vor Leben, Leben, das er nicht sehen könne. Er konnte Wüsten nichts abgewinnen. In seinen Augen waren sie immer nur braun und leblos. Solange er in Texas weiterhin von sich reden machte, konnte Alex stolz auf ihn sein. Die 402
anderen Geschichten würde er mit der Zeit langsam einschlafen lassen… Und dann erreichte der Ölboom seinen Tiefstand.
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63 Wilt schreckte aus dem Schlaf auf. Francey lag nicht neben ihm im Bett. Er warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt der Uhr. Viertel nach eins. Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe und sah zuerst im Badezimmer nach. Kein Licht. Was war passiert? Wo steckte sie? Er ging den Flur hinunter und schaltete im Wohnzimmer die Lichter an – von Francey keine Spur. Von dort aus lief er weiter in die Küche und stellte fest, daß die gläserne Schiebetür offenstand. Dann sah er, wie sich ihre Silhouette abzeichnete. Sie saß auf einem bequemen Stuhl auf der Veranda und blickte zu dem silbrigen Mond, der hell auf ihren Kopf schien. »Liebes?« fragte er, und es war nicht mehr als ein Flüstern. »Ich bin hier draußen«, antwortete sie mit ruhiger Stimme. Er trat zu ihr und blieb an ihrer Seite stehen. »Ist alles in Ordnung mit dir?« Er konnte sehen, daß sie nickte. »Ich werde nicht sterben, Walt.« Er zog einen Stuhl über das Holz der Bodendielen, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Darüber sprachen sie jetzt schon miteinander, seit sie von Franceys Krankheit erfahren hatten. »Du wirst dich also doch der Chemotherapie unterziehen?« »Ja«, antwortete sie und sah dabei immer noch den Mond an. »Mir wird das Haar ausfallen, und mir wird ständig übel sein. Ich werde alles tun, was notwendig ist, denn ich habe nicht vor zu sterben.« Sie lachte. »Ich bin noch nicht soweit.« Das Houston Medical Center hatte die Diagnose des Arztes in Corpus Christi bestätigt. Man gab ihr noch sechs Monate, von denen bereits zwei vergangen waren. Letzte Woche waren sie in Stanford gewesen, der Krebsklinik Nummer eins im ganzen Land. Dort hatte man jedoch nur das wiederholt, was Francey schon vorher gehört hatte. Dennoch hatte sie plötzlich Hoffnung geschöpft. »Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht und bin zu der Überzeugung gelangt, daß mein Verstand doch über die Krankheit triumphieren kann«, sagte sie. »Ich habe hier draußen gesessen und mit mir selbst geredet. Ich habe meinen weißen Blutkörperchen befohlen, sich zu benehmen.« Er drückte ihre Hand. Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an. »Du weißt, daß ich dich liebe, aber geh jetzt wieder ins Haus. Laß mich allein hier draußen sitzen, damit ich mich konzentrieren kann.« Er küßte ihre Wange, stand auf und kehrte ins Haus zurück, drehte sich aber in der Tür 404
noch einmal um und warf einen Blick auf sie. Nur ihr Haar war zu sehen. Konzentriere dich, sagte er stumm zu ihr. Konzentriere dich so sehr, daß das in dir abstirbt, was sterben muß, damit du leben kannst. Am nächsten Morgen nahm Francey zum erstenmal seit mehr als zwei Monaten ein herzhaftes Frühstück zu sich. Sie aß fast soviel wie Matt. Carly sah ihre Mutter voller Erstaunen an. »Du glaubst gar nicht, wie sehr es mich freut zu sehen, daß du heute morgen so viel essen konntest.« Francey nickte. »Ich werde nicht sterben«, sagte sie. »Ich bin noch nicht bereit, Walt zu verlassen. Und nachdem ihr jetzt auch noch hier seid, Matt und du, denke ich erst recht nicht mehr daran, mich von euch allen zu verabschieden.« Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinigten Staaten den Gipfel ihrer Macht erreichten, wurde der US-Dollar zur obersten Leitwährung im internationalen Währungswechsel. Weltweit setzten Banken den Dollar als Rückstellungskapital ein, so, wie früher normalerweise Gold als Deckungswährung benutzt wurde. Das internationale Währungssystem begründete sich in der Tat auf die Festigkeit des Dollars und auf die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, Gold zu einem Kurs von fünfunddreißig Dollar pro Unze einzutauschen. Zur Zeit der Nixon-Regierung hatte sich die Situation gewandelt. Die Vereinigten Staaten waren nicht mehr die einzige starke Wirtschaftsmacht; der Dollar begann jetzt tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Der Umfang der US-Defizite, die Finanzpolitik anderer Länder und der Mangel an Vertrauen, das vom Ausland in die amerikanische Wirtschaft gesetzt wurde, beeinträchtigten den Wert des Dollars erheblich. 1971 löste Präsident Nixon die Vereinigten Staaten mit Zustimmung von Seiten des Kongresses aus der Goldwährung. Sie würden nicht länger Gold für Dollar ankaufen. Für die arabischen Länder, die weltweit das meiste Öl lieferten, stellte dieser Schritt einen harten Schlag dar. Eine Zeitlang zogen sie ihr Öl vom internationalen Markt zurück. Als sie sich daraufhin zu den OPEC-Ländern zusammenschlossen, überschwemmten sie den Weltmarkt mit einer Flut von Öl zu niedrigeren Preisen als denen, zu denen die Vereinigten Staaten es gewinnen konnten. Und obgleich die Vereinigten Staaten Unmengen in die Alaska-Pipeline investiert hatten, war man in der Nordsee und in Rußland auf Ölvorkommen 405
gestoßen. All diese Vorräte wurden weitaus billiger verkauft, als sich Öl jetzt in Texas, Wyoming oder irgendwo sonst in den Vereinigten Staaten gewinnen ließ. Die Ölbohrungen gelangten zu einem abrupten Stillstand. Ölquellen, die Öl förderten, wurden stillgelegt. Die weiterverarbeitenden Geschäftszweige in der petrochemischen Industrie wurden lahmgelegt. Aus der festen Überzeugung heraus, daß die Olvorräte unbegrenzt waren, und aus der nicht minder festen Überzeugung heraus, daß der Ölpreis nur weiter und immer weiter steigen würde, hatten die Banken von Texas den Großteil ihrer Portfolios in Öl angelegt – und machten eine Bauchlandung. Bis dahin war es für jeden, der auch nur eine Andeutung von einem Ölvorkommen hatte oder mit irgendeinem neuen Schnickschnack auf der Basis von Öl oder Erdgas ankam, ein Kinderspiel gewesen, von nahezu jeder Bank im ganzen Staat Kredite zu bekommen. Jetzt, da die Ölbranche auf dem Nullpunkt angelangt war, konnten die Kreditnehmer die Darlehen in Milliardenhöhe nicht zurückzahlen, die die Banken an sie vergeben hatten. Die Leute waren nicht mehr in der Lage, die Apartments, die Häuser und die Eigentumswohnanlagen zu kaufen, die Firmen wie BB&O für sie bauten. BB&O mußten, wie jedes andere Bauunternehmen auch, ihre Vorhaben abbrechen und ihre Gebäude unvollendet leerstehen lassen. Unternehmen, die blendend floriert hatten, meldeten plötzlich Konkurs an, und die Banken waren die Dummen, die alles auszubaden hatten – sie saßen auf Darlehen, die von den Kreditnehmern, welche kein Geld mehr hatten, nicht zurückgezahlt werden konnten. »Verdammter Mist«, sagte Boomers Bankier zu ihm. »Geben Sie nicht uns die Schuld daran. Niemand hat vorhergesehen, daß die Rohölpreise über Nacht auf ihren Tiefpunkt sinken.« Innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren wechselten fünfundneunzig Prozent aller Banken in ganz Texas den Besitzer. Die beiden Bürogebäude, die BB&O gerade errichteten, blieben hohle Gerüste, die nie über das Rohbaustadium hinauskamen. Die Firmen, die ihnen den Auftrag erteilt hatten, meldeten Konkurs an. BB&O waren mit dem Bau eines Komplexes von vierhundert Apartments befaßt, der sich entlang der neuen Schnellstraße nördlich von Houston über eine Dreiviertelmeile zog. Es kam zwangsläufig zu einem Baustopp. Die Firmen, die das Material geliefert hatten, 406
waren pleite. Die Leute, die in diese Apartments eingezogen wären, verloren ihre Jobs. Scharenweise verließen sie Texas in der Hoffnung, in anderen Teilen des Landes Arbeit zu finden. Boomer verlor mehr als zwanzigtausend Dollar am Tag. »Herrgott noch mal, bis zum Jahresende werden wir pleite sein«, sagte er zu Alex. »Nein«, entgegnete Alex. »Du wirst bis dahin pleite sein.« »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß ich das Risiko verteilt habe. In meiner Firma machen die Investitionen in Öl nur zweiundzwanzig Prozent der gesamten Geldanlagen aus. Und ich habe auch nicht alles nur in Texas investiert.« Boomer atmete nicht mehr ganz so schwer. »Gott sei Dank, daß du so klug bist«, sagte er. »Es ist wirklich ein Jammer, daß die texanischen Bankiers nicht deine Voraussicht besessen haben.« Sie blickte ihn ganz seltsam an. »Boomer, du mußt dir einen Ausweg einfallen lassen. Du kannst nicht einfach tatenlos zusehen, wie dir Millionen durch die Finger rinnen.« Boomer starrte sie an. Glaubte sie etwa, er hatte es so gewollt? Er hatte einen Viermillionenkredit auf Land aufgenommen, das jetzt plötzlich weniger als zwei Millionen wert war. BB&O hatten sich vertraglich verpflichtet, dreizehn der Häuser oben am See zu bauen, und jetzt war bis auf den letzten jeder einzelne der Käufer ausgestiegen. »Hast du vielleicht irgendeine brillante Idee?« fragte er. »Im Moment nicht«, antwortete sie. »Aber ich sollte dich warnen, daß ich im Traum nicht daran denke, mich öffentlich zum Gespött machen zu lassen.« Boomer zog eine Augenbraue hoch. »Wenn man dich hört, könnte man fast meinen, ich hätte all das absichtlich getan. Ganz Texas ist davon betroffen, falls dir das entgangen sein sollte.« »Es gibt immer noch haufenweise Leute, die Millionen, nein, Milliarden besitzen.« Boomer war sich nicht ganz sicher, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Er war sich noch nicht einmal sicher, worum sich dieses Gespräch überhaupt drehte. »Ich habe mir überlegt, daß jetzt ein günstiger Zeitpunkt sein könnte, um dieses Haus zu verkaufen und eins in River Oaks zu erwerben, in der Nähe meiner Eltern«, fuhr Alex fort. »Das Haus der Kincaids wird demnächst zum Verkauf angeboten. So, wie die Lage auf dem Immobilienmarkt derzeit aussieht, bekommen wir nicht einmal ein Drittel dessen für unser Haus, was es wert ist, aber das der Kincaids können wir für ein 407
Butterbrot kriegen.« »Ich dachte, du hättest dich hier in den letzten fünfzehn Jahren wohl gefühlt.« »Das ist richtig. Aber für den Preis, zu dem sie es jetzt verkaufen müssen, wird das Haus der Kincaids nie mehr zu haben sein.« »Ich sehe diese Zeit als eine vorübergehende Phase an, in der wir den Gürtel einfach enger schnallen müssen.« »Ich habe Geld.« Alex legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich weiß, daß es dich auf die Dauer nicht befriedigen wird, von den Einkünften deiner Frau zu leben, und daher wirst du dir gewiß einen Ausweg einfallen lassen.« Als Boomer nichts dazu sagte, schlossen sich ihre Finger fester um seinen Arm, und sie fragte: »Dir wird doch etwas einfallen, nicht wahr?« Boomer hatte an jenem Abend nicht das geringste Verlangen, mit Alex zu schlafen, doch er mußte unbedingt herausfinden, ob sich sein Verdacht, den er hegte, bestätigte. Und so streckte er im Dunkeln eine Hand nach Alex aus – und sie stieß sie zurück. Er hatte also recht. In dem Moment, in dem er nicht mehr die Millionen einnahm, die er verdient hatte, seit sie einander kennengelernt hatten, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Noch lange, nachdem er wußte, daß Alex eingeschlafen war, lag er da und fragte sich, ob das Leben, das er geführt hatte, auch nur den geringsten Wert besaß, wenn sich alles einzig darauf begründet hatte, wieviel Geld er verdiente. Es wurde über faulen Zauber in der Spar- und Darlehenskasse Destin gemunkelt. Boomer fragte sich, was Carly wohl dazu sagte. Er rief sie in Verity bei ihren Eltern an und teilte ihr mit, er komme runter. Ob sie zusammen zu Abend essen könnten? Er mußte dringend mit jemandem reden, und er hatte das Gefühl, Carly würde ihn verstehen. Außerdem würde sich ihm bei der Gelegenheit auch eine Chance bieten, mit Walt zu sprechen. Er schätzte Walts Ratschläge sehr hoch. Es war zuviel Zeit vergangen, seit er Carly das letztemal gesehen hatte. Sie war jetzt schon länger als zwei Monate in Verity. Carly sagte, sie treffe sich gern mit ihm und er solle einplanen, über Nacht zu bleiben. Sie hätten genügend freie Gästezimmer. Und außerdem bereite sein Besuch Francey, die vor ihren Augen aufblühe, gewiß Freude. »Ich komme zwischen fünf und sechs an«, sagte er. Die Vorstellung, eine lange Strecke durch die offene Weite 408
des Golfgebiets zu fahren, reizte ihn.
Er fragte sich, warum ihn die Wendung, die sein Leben plötzlich
genommen hatte, nicht in eine noch viel größere Panik versetzte.
Wenn er wollte, daß auch nur noch irgend etwas übrigblieb, würde er
sich so gut wie ganz aus dem Geschäft zurückziehen müssen. Und
noch einmal von vorn anfangen. Aber schließlich war er erst vierzig.
409
64 »Möchtest du ein Glas Eistee, Walt?« fragte Carly. »Ja, gern!« rief er von der Terrasse aus. Dort saßen die beiden jeden Abend zusammen, nachdem Matt und Francey schlafen gegangen waren. Täglich aufs neue war es der erste und einzige Zeitpunkt, zu dem sie sich entspannen konnten. Carly liebte diese Abende. Sie und Walt redeten miteinander über nichts und alles. Sie kam mit zwei großen Gläsern aus der Küche, reichte ihm eines und setzte sich neben ihn. »Das war Boomer«, teilte sie ihm mit. »Er kommt morgen her.« Da Carly dazu keine weitere Erklärung abgab, hüllte die beiden ein entspanntes Schweigen ein, bis sie, ohne sich auch nur darüber bewußt zu sein, daß sie die Worte laut aussprach, sagte: »Was ist das bloß für eine Ehe, wenn Cole und ich beide in den Betten anderer Menschen die Erfüllung finden?« Walt hob ruckartig den Kopf und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Willst du damit etwa das sagen, was ich zu verstehen glaube? Ihr findet beide die Erfüllung in den Betten anderer?« Carly spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. »Cole hat eine Affäre. Ganz Houston weiß davon.« Eine Träne rann über ihre Wange. »O Walt, es ist aber so, daß…« Und sie erzählte ihm alles. Wie Ben ihren Sohn gezeugt hatte, was sie in jener Nacht des Wahlsiegs empfunden hatte und daß sie gerade soweit gewesen war, zu ihm zu gehen… und dann hatte er ihr verkündet, daß er heirate. »Bist du in ihn verliebt?« Carly zuckte mit den Schultern. Sie hielt Walts Hand fest umklammert. »Er ist für mich einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.« Da sie selbst merkte, daß das keine Antwort war, fuhr sie fort. »Seit dem Moment, in dem ich ihm zum erstenmal begegnet bin, habe ich mich zu ihm hingezogen gefühlt. Sogar am Tag meiner Hochzeit ist mir der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß ich den falschen Coleridge heirate.« Walt schnappte hörbar nach Luft und schüttelte den Kopf. »O Liebes…« »Ich habe mir eingeredet, ich sei in Cole verliebt, damals, an diesem Wochenende, als wir zu euch runtergefahren sind und er mir einen Heiratsantrag gemacht hat. Ich glaube, wenn er mir diesen Antrag am selben Tag in Houston gemacht hätte, hätte ich nein gesagt.« 410
Walt musterte sie. »Und warum das?« Weitere Tränen rannen über Carlys Wangen, und Walt reichte ihr sein Taschentuch. Sie schneuzte sich. »O Walt, wenn ich dir das erzähle, wirst du mich nicht mehr mögen. Du wirst mich für… für ein Flittchen halten.« Eine volle Minute lang sagte er nichts. Dann zündete er sich eine der Zigarren an, von denen er genau wußte, wie sehr Carly der Geruch verhaßt war. Aber er hatte den Eindruck, das jetzt zu brauchen. »Sprich weiter«, sagte er. »Ich war Boomer gerade zufällig über den Weg gelaufen, zum erstenmal seit fünf Jahren… und wir sind, ja, es ist wahr, wir sind miteinander ins Bett gegangen. In dem Moment wußte ich, daß Cole nicht der Richtige für mich ist. Boomer war meine große Liebe. Ich hatte Cole wenige Tage vorher von Joe Bob erzählt, und ich habe geglaubt, ich würde ihn nie wiedersehen. Und an diesem Freitagabend bin ich dann durch einen reinen Zufall Boomer begegnet und, wie soll ich das sagen… Am Samstag morgen war Boomer gerade erst gegangen, als Cole angerufen und gesagt hat, er wolle dich und Mom kennenlernen. Irgendwie hat sich das Ganze dann verselbständigt, und wir sind zu euch runtergefahren, und er hat mir einen Antrag gemacht. Ich hatte das Gefühl, daß ihr ihn mögt, und ich habe an all dieses Geld und an das Prestige gedacht. Ich wußte, daß ganz Houston sich gezwungen sehen würde, mich zu akzeptieren, was in Verity nie der Fall war, und…« Sie fing wieder an zu weinen. »Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, daß es keine Rolle spielt, wer mich akzeptiert und wer nicht.« Sie war in Versuchung, ihm von ihrer Arbeit in der Klinik zu erzählen. »Was ich akzeptiere, ist das einzige, was zählt.« Walt machte keinerlei Anstalten, sie zu trösten. Er kaute auf seiner Zigarre herum und blickte zu den Sternen. »Ich weiß bis zum heutigen Tage nicht, ob Boomer sich an jenem Wochenende bemüht hat, mich zu erreichen. Kurz nach der offiziellen Bekanntgabe meiner Verlobung mit Cole habe ich in der Zeitung gelesen, daß er Alex Headland heiraten wird. Und das Komische ist, daß wir alle uns angefreundet haben. Alex und ich haben gemeinsam ein paar phantastische Geschäftsabschlüsse getätigt, und wir verstehen uns gut. Ich mag sie sehr, und das, obwohl ich manchmal, wenn ich mit Boomer allein bin, immer noch etwas empfinde, sogar sehr viel, aber… Er ist ein echter Gentleman und macht keinerlei Annäherungsversuche. Heute sind wir gute Freunde. Wir haben nie über dieses Wochenende geredet.« 411
»Und was ist mit Ben? Mit deinen Gefühlen für ihn?« »Ich glaube, ich habe mich in ihn verliebt, als wir uns bemüht haben, Matt zu zeugen. Mir war klar, daß das, was ich tue, nicht richtig ist. Wir haben uns vernünftige Erklärungen dafür zurechtgelegt, uns vorgemacht, wir würden seinen Eltern und auch Cole einen Gefallen tun, aber ich glaube, in Wirklichkeit haben Ben und ich es nur um unserer selbst willen getan. Wenn ich mit Ben zusammen war, hatte ich immer das Gefühl, daß er sich etwas aus mir macht. Mit ihm konnte ich über alles reden. Er hat mich verändert. Manchmal hat er meiner Ehe genutzt, und manchmal hat er sich auch darüber lustig gemacht, daß ich unbedingt soviel Geld verdienen will und so großen Wert darauf lege, was andere Menschen von mir halten. Er hat mir vorgeworfen, ich sei selbstsüchtig, weil ich mein Geld nicht mit denen teile, die es wirklich brauchen.« Sie unterbrach sich und sah lange in die Dunkelheit hinaus. »Aber weißt du was, Walt?« Sie entschloß sich, endlich jemandem etwas von ihren Klinikbesuchen zu erzählen. Walt würde das verstehen. Sie berichtete ihm, wie es dazu gekommen war, und auch, daß sie Geld investiert hatte, von dem selbst Cole nichts wußte, und daß sie den Kliniken jedes Jahr die Zinsen zur Verfügung stellte, die diese Investitionen einbrachten. Und sie erzählte ihm, daß sie jetzt schon etliche Jahre dreimal in der Woche vormittags in die Kliniken ging und dort half. »Wenn Ben nicht gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich nichts von alldem jemals getan. Er weiß nichts davon. Ich habe nie mit jemandem darüber geredet. Mit keinem Menschen. Du bist der erste. Ben hat mein Interesse an den Problemen der Chicanos geweckt und meine Denkweise in eine ganz andere Richtung gelenkt.« Walt drückte seine Zigarre aus und legte einen Arm um ihre Schultern. »Haßt du mich jetzt, Walt? Ich meine, für mein unmoralisches Handeln?« Er seufzte. »So hast du es genannt, Liebes, nicht ich. Mir scheint, du hast in erster Linie dir selbst geschadet und nicht anderen.« Eine Weile herrschte Stille. Dann fragte Walt: »Warum hast du es Cole nicht gesagt?« »Ich habe mehr als nur einmal mit dem Gedanken gespielt…« »Ich bin froh, daß du es nicht getan hast.« Walt legte seine Hand auf ihre. »Mir kommt es immer wieder so vor, als erleichterten Geständnisse ausschließlich denjenigen, der sie ablegt, und verletzen den anderen. Gestehe diese Dinge lieber mir als Cole.« Walt drückte 412
ihr einen Kuß auf die Wange. »Meine Meinung mag zwar unmaßgeblich sein, aber ich halte dich nicht für unmoralisch. Gleich nach deiner Mutter liebe ich dich mehr als jeden anderen Menschen auf Erden. Ganz egal, was passiert, daran wird sich nichts ändern.« »Ich habe einen Menschen getötet. Mein Sohn ist das Kind eines anderen Mannes. Ich habe mit Boomer geschlafen…« »Ehebruch ist nicht die schlimmste aller Sünden.« »Und ausgerechnet ich will Cole verlassen, weil er schon wieder eine Affäre hat. Und das, nachdem er gesagt hat, damit sei jetzt Schluß.« »Eure Ehe ist schon seit langem keine gute Ehe mehr. Wenn du Cole verläßt, dann deshalb, weil es an der Zeit ist.« Carly seufzte. »Nächsten Monat werde ich vierzig, und ich habe das Gefühl, mein Leben ist vorbei.« Walt lächelte. »Als ich vierzig geworden bin, kannte ich deine Mutter und dich noch gar nicht. Das Wunder meines Lebens hatte damals nach nicht einmal begonnen.« Cole war wütend auf Carly, weil sie so lange in Verity blieb. Es war doch, verdammt noch mal, wirklich nicht nötig, daß sie zwei Monate lang dort blieb und nicht mal zwischendurch für ein Wochenende nach Hause kam. Was mochten die Leute denken? Seine Mutter stellte allmählich Fragen. Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Schließlich hatte er Kunden, die er privat einladen mußte, und da Carly fort war, konnte er keine Gastgeberin vorweisen. Was machte das für einen Eindruck, daß sie so lange dort unten blieb? Und dann hatte sie auch noch Matt aus der Schule genommen und ihn in dieser drittklassigen – nein, in dieser fünftklassigen – Schule angemeldet. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er runterfuhr und ihr nachlief. Ab und zu fragte er sich, wenn er nachts allein im Bett lag, ob sie vielleicht etwas über ihn und Tiffany erfahren hatte. Hätte sie ihn dann nicht zur Rede gestellt? Ihn angeschrien? Aber sie hatte diese Affäre mit keinem Wort erwähnt. Seine Mutter setzte ihm ständig wegen Matt zu. »Du kriegst es doch bestimmt irgendwie hin, daß er für einen Wochenendbesuch herfliegt. Und dann behältst du ihn einfach hier und steckst ihn wieder ins St. John’s.« Aber was sollte er allein mit dem Jungen anfangen? Er bemühte sich jedoch daran zu denken, Carly jeden Sonntagabend anzurufen und sich besorgt um Francey zu geben, und er beendete seinen Anruf jedesmal mit den Worten: »Du fehlst mir.« Doch das entlockte Carly kein einziges Mal eine Reaktion. Tatsächlich verhielt es sich sogar so, daß Carlys Stimme bei jedem 413
ihrer Telefongespräche vollkommen nichtssagend klang. Sie stellte keine Fragen, und seine Fragen beantwortete sie einsilbig. Cole war zwar wütend über Carlys lange Abwesenheit, aber er empfand auch Erleichterung. Wenigstens war er nicht Tag für Tag mit ihrer verfluchten Kritik konfrontiert. Sie hatte zwei Ausflüge nach Elk Creek mitgemacht und war dreimal an Bord der ENCHANTRESS gewesen, doch anschließend hatte sie sich geweigert, an Wochenendvergnügungen teilzunehmen, die sie als »hart an der Grenze zu Orgien im Vollrausch« bezeichnete. Es beeindruckte sie nicht im geringsten, daß sich unter den geladenen Gästen Kongreßabgeordnete befanden, und zwar nicht nur aus Texas, sondern auch aus anderen Staaten, und einige wenige Male waren sogar Senatoren mitgekommen. Als hätte das noch nicht genügt, redete er obendrein auch noch all diese führenden Persönlichkeiten mit dem Vornamen an. Sie wandten sich sogar an ihn, wenn sie persönlich Kredite brauchten oder Wählern in ihrem eigenen Staat einen Kredit beschaffen wollten. Und noch dazu ging es um Beträge in Millionenhöhe. Carly legte selbst dann keinen Stolz an den Tag, als sein Umgang dazu führte, daß man ihn zu Vorstandssitzungen von Gesellschaften einlud, die ihren Hauptsitz keineswegs in der näheren Umgebung hatten, sondern im fernen Kalifornien und in Connecticut. Als er ihr davon berichtet hatte, hatte sie ihn einfach nur mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen. Die Spekulanten und die einflußreichen Politiker, die Cole mit seinem Vornamen anredeten, rechtfertigten in seinen Augen den Erwerb der Jacht. Carly mochte sie zwar für protzig halten, aber Tiffany war von ihnen begeistert. Die strahlend weiße ENCHANTRESS war mit allem, was die zwanziger Jahre, die Zeit, in der die Jacht gebaut worden war, zu bieten hatten, ausgestattet. Die Kabinen waren auf zwei verschiedenen Decks angeordnet und mit lackiertem Teakholz getäfelt, und die Handläufe der Reling auf dem Promenadendeck waren aus blitzblankem Messing. Der größere der Salons war so beeindruckend wie das Wohnzimmer seiner Mutter in River Oaks. Die Kabinen schnitten im Vergleich zu der Suite eines Fünfsternehotels weitaus besser ab. Cole, oder besser gesagt die Spar- und Darlehenskasse Destin, hatte eins Komma vier Millionen dafür bezahlt. Nachdem er die Jacht gründlich aufpoliert und in ein schwimmendes Ferienparadies 414
verwandelt hatte, waren zweieinhalb Millionen dafür drauf gegangen. Ein echter Gelegenheitskauf, versicherten Cole und Tiffany einander. Ihm war klar, daß Prüfstellen der Regierung sich fragen könnten, weshalb ausgerechnet eine von allen Seiten von Festland umschlossene Sparkasse in Texas den Erwerb einer Jacht für notwendig befand. Daher gründete er gemeinsam mit seinen leitenden Angestellten und einigen seiner wohlhabendsten Kunden eine Personengesellschaft, die sich »The Enchantress Limited Partnership« nannte. Damit die »Partner« nicht ihr eigenes Geld zu investieren brauchten, war es der Sparkasse Destin durch die Überbewertung eines Einkaufszentrums in Lubbock in Höhe von zwölf Millionen Dollar möglich, an jeden der acht Partner eineinhalb Millionen weiterzuleiten, so daß sie Anteile an der Personengesellschaft mit begrenzter Haftung erwerben konnten. Die Spar- und Darlehenskasse Destin konnte sich eine ständige vierköpfige Schiffsbesatzung leisten und verstärkte diese Mannschaft zwischendurch um weitere Mitglieder. Von November bis Ende April war die Jacht in Sarasota eingedockt und kreuzte dann an den meisten Wochenenden im Golf von Mexiko, während an Bord eine scheinbar niemals endende Party gefeiert wurde. Im Mai segelte Cole mach Norden, bis nach Washington hinauf, und dort lag die Jacht dann bis in den späten Oktober hinein und stand Lobbyisten und Kongreßabgeordneten jederzeit zu ihrer freien Verfügung, Männern, die Partys an Bord feierten, während die ENCHANTRESS auf dem Potomac auf und ab fuhr, und die hinterher noch nicht einmal die Getränkerechnungen beglichen. Tiffany übernahm in ihrer Funktion als Vorstandsmitglied der Sparkasse Destin die offizielle Rolle der Gastgeberin, und Cole war an mindestens einem Wochenende monatlich auf der Jacht, ganz gleich, ob sie im Golf von Mexiko oder auf dem Potomac lag. Cole, der sich entspannt und locker zwischen diesen Heerscharen von Drahtziehern bewegte, schien Sinn für Humor zu entwickeln. Zumindest lächelte er jetzt öfter, als man es von ihm gewohnt war, und mit der Zeit begann er sogar als geistreich zu gelten. Carly hätte ihn nicht wiedererkannt.
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65 Carly schälte Äpfel. Sie beabsichtigte, einen Kuchen nach Franceys berühmtem Rezept zu backen. Boomer liebte Apfelkuchen, oder zumindest hatte er sich dafür begeistert, als er regelmäßig in ihrem kleinen Haus drüben in der Gardener Street zum Abendessen erschienen war, als sie so verliebt in ihn gewesen war. Es hatte ihr gutgetan, letzte Nacht mit Walt zu reden. Irgendwie fühlte sie sich heute so befreit wie schon seit langem nicht mehr. Sie sagte sich, daß es an der Zeit war, sich mit Cole und ihrer Situation auseinanderzusetzen. Sie war ihm zwar davongelaufen, hatte aber bisher noch nicht ernsthaft über ihre Ehe nachgedacht. Sie hatte einfach nur in Verity bleiben wollen, bei Walt und Francey. Vielleicht trug sie einen Teil der Schuld daran, daß er die Affäre mit dieser Frau aus der Sparkasse begonnen hatte. Sie hatte Cole nicht auf diesen gräßlichen Wochenendausflügen begleitet, da ihr solche Veranstaltungen unerträglich waren. Wenn sie ihm eine gute Ehefrau gewesen wäre, wäre sie vielleicht trotzdem mitgekommen und hätte gelächelt und den Mund gehalten. Das war doch schließlich die Rolle, die einer Ehefrau im Leben zugedacht war, oder etwa nicht? Carly war jedoch nicht gewillt, die Rolle einer Ehefrau in der Form auszufüllen, in der man es von Frauen erwartete. Sie hatte nie ein Vorbild dieser Art gehabt, eine Frau, die zu Hause blieb und kochte und in deren Leben es nichts anderes gab als ihren Mann und die Kinder. Seit dem Tag, an dem sie Rolfs verkauft hatte, war sie sich nicht mehr nützlich vorgekommen, wenn man einmal davon absah, daß sie die Kliniken unterstützte. In diesen beiden letzten Monaten in Verity hatte sie sich hier um vieles gekümmert und sich zum erstenmal wieder nützlich gefühlt. Schon bald würde Francey ihren Haushalt wieder übernehmen wollen, wenn sie weiterhin so große Fortschritte machte wie in der letzten Zeit. Sie trug jetzt eine Perücke, da ihr fast das ganze Haar ausgefallen war, und jeden Donnerstag nach der Chemotherapie war sie müde, doch sie machte insgesamt einen viel besseren Eindruck und schien wieder wesentlich kräftiger zu sein. Sie hatten dieselbe Putzfrau, die schon früher für Walt den Haushalt geführt hatte, als seine erste Frau noch am Leben war, und Carly besorgte das Einkaufen und das Kochen. Sie stellte fest, daß es ihr Spaß machte, nachdem sie so viele Jahre eine Köchin gehabt hatte. 416
Sie kaufte einen Entsafter und machte Saft aus Karotten, Sellerie, roter Bete und allem anderen, was in Büchern für die Krebsdiät empfohlen wurde, und sie flößte Francey ein Glas nach dem anderen ein. Nach einiger Zeit trank sie die Säfte auch selbst, obwohl sie nicht behaupten konnte, daß sie ihr gut schmeckten. Sie brütete über Kochbüchern, die sie in Corpus Christi aufgetrieben hatte, und begann die gesamten Eßgewohnheiten der Familie umzustellen. Nicht einmal Matt fiel es auf, wieviel weniger Fleisch jetzt auf den Tisch kam. Sie machte ihm Soja-Hamburger und verwendete Sojagranulat für Lasagne und Spaghettisaucen, und ihr Sohn und ihr Stiefvater merkten nicht, daß es sich nicht um Hackfleisch handelte. Sie gewöhnte sich an, häufig indisch zu kochen oder Gerichte aus den Mittelmeerländern zuzubereiten. Alle schwärmten davon. Plötzlich fragte sie sich, warum Boomer eigentlich nach Verity kam. Als sie an Boomer dachte, spürte Carly, daß sie auch Alex vermißte. In Verity gab es keine Frauen, mit denen sie nennenswerte Gemeinsamkeiten hatte, mit Ausnahme von Zelda Marie. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch mit ihr nicht viel gemeinsam, obgleich sie durch einen hauchdünnen Faden früherer Erlebnisse miteinander verbunden waren. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, kam Carly zu dem Schluß, daß die einzigen, die sie wirklich vermißte, Boomer und Alex waren. In Verity gab es mehr Menschen, die ihr am Herzen lagen, als in Houston. Sie lachte. Das war etwas ganz Neues. Da die Sommerferien inzwischen begonnen hatten, verbrachte Matt die meiste Zeit draußen auf der Ranch, und das, obwohl Walt einen Stall und eine Manege zum Reiten für ihn hatte bauen lassen. Fast jeden zweiten Tag rief Zelda Marie an, um zu fragen, ob er über Nacht bleiben könne. Carly sagte nie nein. Seit Matt mit Zelda Maries Kindern spielte, war er braungebrannt und randvoll von etwas erfüllt, was ihm völlig neu zu sein schien – Freude. Er ließ sich von fast allem zu überschäumender Begeisterung hinreißen. Als Carly den Kuchen gerade in den Ofen schob, rief Zelda Marie an. »Kannst du für Walt und Francey nicht einfach etwas aus der Gefriertruhe nehmen und zum Abendessen rauskommen? Du könntest doch über Nacht bleiben. Genug Platz haben wir ja weiß Gott.« »Das geht nicht«, sagte Carly. »Wir erwarten Besuch zum Abendessen.« »Ich glaube tatsächlich, innerhalb von zwei Monaten hast du mehr 417
Menschen kennengelernt als ich bis heute hier kenne«, entgegnete Zelda Marie lachend. Ja, das stimmte. Ein steter Strom von Besuchern war ins Haus gekommen, und sie hatten Kuchen und Salate angeschleppt, Aufläufe und Schmortöpfe, Blumen, die sie in ihren eigenen Gärten gepflückt hatten, und Zeitschriften, und einer hatte Francey sogar ein kleines grau-weiß getigertes Kätzchen mitgebracht. Falls Francey jemals das Gefühl gehabt haben sollte, Verity lehnte sie ab, dann lagen diese Zeiten lange zurück. »Boomer kommt heute abend«, teilte Carly Zelda Marie mit. Zelda Marie hatte die Schule verlassen müssen, ehe Boomer und Carly miteinander gegangen waren. Sie hatte Boomer nicht mehr gesehen, seit sie vor dreiundzwanzig Jahren die High-School abgebrochen hatte. »Weshalb kommt er her?« fragte sie. »Ich habe keine Ahnung. Was ich weiß, ist, daß seine Firma so ziemlich vor die Hunde gegangen ist. Ich glaube, dieser ganze Staat wird pleite gehen.« »Meine Ölquelle haben sie stillgelegt«, sagte Zelda Marie, doch es schien ihr nicht das geringste auszumachen. »Ich habe ihn eingeladen, über Nacht zu bleiben. Walt und Francey werden sich freuen, ihn zu sehen.« »Komm morgen mit ihm zu mir raus«, sagte Zelda Marie. »Ich frage mich, ob ich ihn überhaupt noch wiedererkennen würde. Aber in dem Fall kann ich wohl voraussetzen, daß es dir recht ist, wenn Matt über Nacht hierbleibt.« »Er ist jetzt schon seit einer Woche bei dir draußen.« »Na und? Was macht eine weitere Nacht schon aus? Ich merke kaum etwas davon, daß er hier ist. Im Moment sind sie alle draußen im Pool, und ich kann hören, wie sie herumtollen und riesigen Spaß miteinander haben.« Zelda Marie kümmerte sich nicht mehr im geringsten um die Hausarbeit. Drei ihrer Kinder waren inzwischen erwachsen, und die beiden, die noch im Haus lebten, waren älter als Matt, aber daran schien sich niemand auch nur im entferntesten zu stören. Die beiden Jüngsten von Ao waren in Matts Alter, und sie spielten mit den Kindern von Zelda Marie, als wären sie alle Geschwister. Sie erledigten gemeinsam ihre Hausaufgaben, fuhren alle mit dem Schulbus zur Schule und gingen zusammen ins Kino, und Zelda Marie sorgte dafür, daß sie fast so viele Weihnachtsgeschenke bekamen wie ihre eigenen Kinder. Boomer traf am späteren Nachmittag ein. Es war heiß und schwül. Carly dankte dem Himmel für die Erfindung der Klimaanlage. 418
Boomer sagte, sie sei die reinste Augenweide. Er umarmte sie stürmisch, und dann ging er ins Haus, um Francey zu begrüßen, und auch sie drückte er an sich. Sie sehe noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren, als er ihr zum erstenmal begegnet sei. Danach wollte sich Francey ein bißchen hinlegen. Walt komme, sagte sie, um Viertel nach fünf nach Hause. Boomer folgte Carly in die Küche und nahm gern ein Glas von der Limonade, die sie frisch zubereitet hatte. »Ehe wir es uns hier gemütlich machen, möchte ich dich bitten, mit mir an unserem alten Haus vorbeizufahren. In der letzten Zeit denke ich häufig daran.« »Sagtest du nicht, du seist erst vor wenigen Monaten hier gewesen und hättest dir das Haus angesehen?« Er nickte. »Stimmt. Und es schien mir reichlich runtergekommen zu sein. Ich will mir anschauen, wie schlimm es wirklich darum steht.« »Es muß dringend frisch verputzt werden«, sagte Carly. Aber wahrscheinlich war das noch lange nicht alles. »Komm.« Er nahm sie an der Hand. »Tu mir den Gefallen.« Sie fuhren in die Stadt und durch die Main Street. »In all den Jahren, seit wir von hier fortgegangen sind, hat sich nicht viel verändert.« »Die Einwohnerzahl ist immer noch fast dieselbe«, sagte Carly. »Aber inzwischen müssen ganz andere Leute hier leben, denn jetzt gefällt es mir recht gut hier.« Boomer legte den Kopf zur Seite. »Du willst damit doch nicht etwa sagen, daß du beabsichtigst, hierzubleiben?« Carly lächelte. »Wenn ich mit dir durch diese Straßen fahre, komme ich mir vor wie in alten Zeiten.« Er drückte ihre Hand. »Das Leben hat uns reichlich verwöhnt, meinst du nicht auch?« »Also, ich war immer der Meinung, daß wir selbst etwas dazu beigetragen haben.« Er bog in die Straße ein, in der das Haus der Bannermans stand, das hoch über allen anderen aufragte. Die alten Bäume warfen ihre Schatten auf die Straße, und die Rasenflächen waren grün. Boomer fuhr langsamer, als sie näher kamen. Dann hielt er den Wagen an, schaltete den Motor aus und blickte zu dem Haus auf. »Wem gehört es jetzt?« Man konnte wohl sagen, daß es reichlich runtergekommen war. »Ich weiß es nicht«, antwortete Carly. Ein Dreirad rostete in dem überwucherten Vorgarten vor sich hin. Aus dem Geländer der Veranda war eine Holzleiste herausgebrochen. »Ein deprimierender Anblick, findest du nicht auch?« sagte Boomer. »Komisch, vorletzte 419
Nacht habe ich davon geträumt, und das Haus war weiß gestrichen und so gepflegt wie früher, als ich hier aufgewachsen bin. Und bei Tante Addie.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf das kleinere Haus gegenüber, das immer noch recht ordentlich aussah und einen frischen gelben Anstrich hatte. Dann ließ er den Wagen wieder an und meinte: »Okay, ich habe genug gesehen.« Als sie zurückkehrten, war es kühl im Haus, und Carly ließ sich in einen Sessel im Wohnzimmer fallen, das ganz in Grün und Weiß gehalten war. »Ein hübsches Fleckchen Erde«, sagte Boomer. »Ich fühle mich auch sehr wohl hier«, erwiderte Carly. »Matt ist ganz begeistert. Ich werde nicht eher nach Houston zurückgehen…« »Wem willst du hier eigentlich etwas vormachen?« fiel ihr Boomer ins Wort. »Da es deiner Mutter wieder besser geht, könntest du ohne weiteres ein paar Tage in der Woche raufkommen. Ob du es hören magst oder nicht, ich sage dir etwas: Du willst gar nicht zurückgehen.« »Ich hoffe, du bist nicht hergekommen, um darüber mit mir zu reden.« Boomer schüttelte den Kopf und nahm auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz. »Ich bin mir selbst nicht sicher, warum ich hergefahren bin. Vermutlich hatte ich es dringend nötig, mal wieder aus der Stadt rauszukommen.« Sie sahen einander an. »Ich habe gehört… ich meine, ich habe in den Zeitungen gelesen…« »Es geht drunter und drüber, Carly. In diesem ganzen gottverdammten Staat herrscht ein einziges gewaltiges Chaos. Der Immobilienmarkt ist völlig zusammengebrochen, die Menschen wandern hordenweise in andere Bundesstaaten aus, ich habe etwa vierzehn Millionen Schulden…« »Wie groß ist dein Vermögen?« fragte Carly. »Mir bleiben noch ein paar hunderttausend.« »So übel klingt das doch gar nicht.« Sie lächelte, denn sie wußte selbst, daß dieser Betrag für die Texaner, die sie kannten, nicht der Rede wert war. »Ist aber himmelweit entfernt von den Millionen, die ich besessen habe… Ach, Carly, ich hatte einfach das Gefühl, daß wir beide Probleme haben, und vielleicht… Vermutlich weiß ich nichts, mit wem ich sonst darüber reden könnte. Ich begreife nicht einmal mehr, was zum Teufel sich in meinem Leben tut.« Boomer beugte sich vor. »Und ich habe mir gedacht, dir geht es ähnlich.« Das stimmte 420
durchaus. »Wenn du mit mir in die Küche kommst und wir uns dort weiter unterhalten, während ich den Salat zubereite, kriegst du einen Drink«, sagte sie zu Boomer. Er lachte. »In einem Marmeladenglas?« Francey hatte ihm früher immer Wein in einem Marmeladeglas angeboten, wenn er Carly abgeholt hatte. Er folgte ihr und setzte sich auf einen der hohen Holzschemel. Carly nahm Blattsalate und einen Krug aus dem Kühlschrank und schenkte Boomer eine Margarita ein. »Hast du überhaupt noch Kontakt zu Cole?« Boomer schüttelte den Kopf. Sollte er sie über die Gerüchte informieren? »Magst du mir Näheres über BB&O erzählen?« »Tessa und Dan sind genau zum richtigen Zeitpunkt ausgestiegen.« »Bist du verbittert?« »Nein, nicht die Spur. Ich beneide die beiden noch nicht einmal. Es wäre mir unerträglich, für den Rest meines Lebens nichts anderes zu tun, als durch die Gegend zu reisen. Aber wir haben den Laden dichtgemacht. Das Büro existiert noch, und die Empfangsdame sitzt da, aber das ist auch schon alles. Sämtliche Architekten, sämtliche Assistenten, die Landschaftsgärtner, die Schreiner, alle sind fort.« »Und was wirst du jetzt tun?« Er zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck aus dem kostbaren Kristallglas. Er hielt es hoch und bewunderte es. »Was sagt Alex dazu?« Boomer schwieg. »Aha.« Carly stellte das Salatsieb hin, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und zwang ihn, sie anzusehen. »Das ist es also? Deshalb bist du hier? Es geht gar nicht ums Geschäftliche. Damit kommst du allein zurecht. Aber mit deiner Ehe stimmt etwas nicht. So ist es doch?« »Selbst das weiß ich nicht genau.« Er rang sich mühsam ein Lächeln ab. In dem Moment öffnete Walt die Küchentür. Als er Boomer sah, hielt er ihm die Hand hin. »Na, so was.« »Guten Abend, Sir.« »Sir?« Walt klopfte Boomer auf die Schulter. »Wagen Sie es bloß nicht, mich als einen alten Mann hinzustellen, Boomer Bannerman. Schön, Sie zu sehen.« »Es freut mich, daß Sie das sagen. Ich bin hergekommen, um mir Rat zu holen.« »Von mir?« fragte Walt. »Ich weiß nicht, ob ich dieser Verantwortung gewachsen bin.« 421
»Ich wäre Ihnen dankbar, Walt, wenn Sie etwas Zeit für mich hätten.« »Soviel Sie wollen. Aber im Moment habe ich nur einen Wunsch, nämlich in diesen Pool zu springen. Wir können uns nach dem Abendessen in Ruhe unterhalten.« Walt nickte und verließ die Küche. »Ich wollte mir nicht nur bei ihm Rat holen, sondern auch bei dir«, sagte Boomer. »Du brauchst meinen Rat?« »Vielleicht auch nicht.« Boomer hielt Carly sein Glas hin, und sie füllte es nach. »Aber ich muß unbedingt mit jemandem reden. Ich will wissen, was du davon hältst.« »Es geht um Alex?« vermutete sie. »Ia. Ich begreife einfach nicht mehr, was los ist.« Sicher, dachte Carly, unterstützt Alex Boomer nach Kräften. Und dann wanderten ihre Gedanken weiter. Es wäre wohl das beste, wenn auch sie sich mit Walt über ihr Geld unterhielt, über das Geld, das sie und Cole besaßen. Sie hatte nur ein einziges eigenes Konto, und dessen Zinserträge überließ sie den Kliniken von Houston, aber sie wollte nicht in die Zwangslage kommen, dieses Geld angreifen zu müssen. Hätte sie sich etwa Sorgen um ihr Geld machen sollen? Im Lauf der Jahre hatte sie ein Vermögen verdient und es Cole überlassen, ihre Einnahmen anzulegen. Nach Boomers Abreise würde sie mit Walt darüber reden. Bis zu diesem Moment hatte sie sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, obwohl sie wußte, daß viele Banken den Geschäftsbetrieb einstellten. Aber irgendwie kam sie sich hier unten in Verity weitab vom Rest der Welt vor, und Walts Bank hatte keine Probleme. Ließ sich das auch von Coles Sparkasse sagen? Boomers Stimme riß sie aus ihren Überlegungen heraus. »Spielst du mit dem Gedanken, Cole zu verlassen?« »Ich habe es fest vor«, sagte sie und begriff zum erstenmal, daß sie genau das tun würde. »Gingst du zu ihm zurück, wenn er dich brauchen würde?« Sie schloß die Ofentür und dachte einen Moment lang darüber nach. »Du fragst mich gar nicht meinetwegen, stimmt’s? Es hat etwas mit dir zu tun. Du fragst dich, ob ich dir eine Stütze wäre, wenn ich Alex wäre, so ist es doch?« »O Carly«, sagte er. Sie schlang ihre Arme um ihn.
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66 »Es wird alles noch schlimmer werden«, sagte Walt zu Boomer. »So ziemlich jede Bank in ganz Texas hatte in Öl investiert. Und jetzt können wir es für den Preis, den es uns kostet, wenn wir es von den Arabern kaufen, nicht einmal mehr fördern. Alles vom Ol bis hin zum Polyester wird früher oder später davon betroffen sein. Wenn dann auch noch der starke Konjunkturrückgang in der Wirtschaft des gesamten Landes hinzukommt, der sich weiterhin fortsetzen wird, dann verheißt das keine guten Aussichten.« Boomer nickte. »Einige raffen alles zusammen, was sie haben, und machen, daß sie von hier fortkommen. Aber Sie sind nicht der Typ dazu. Haben Sie genug Geld, um Ihre Schulden zu bezahlen?« »Mit Müh und Not. Sämtliche Leute, die Schulden bei mir haben, sind ausgestiegen und haben mich im Regen stehenlassen.« »Ja«, sagte Walt, »das passiert im Moment überall. Und die Banken haben die Sache dann auszubaden. Ich habe Glück gehabt. Ich habe nie einen so hohen Anteil unserer Investitionen in ein und denselben Topf geworfen. Auch ich habe einiges verloren, aber meine Verluste waren nicht so hoch, daß ich daran zugrunde gehen werde.« »Dasselbe hat Alex auch gesagt. Sie hat das Risiko verteilt.« »Wenn das so ist, dann sollten Sie doch einigermaßen gut dastehen.« »Nun ja…« Walt und Carly sahen ihn beide fragend an. »Sie scheint zu glauben, daß alles, was ich je verdient habe, uns, und alles, was sie je verdient hat, ihr gehört.« Sie saßen da, wo Walt und Carly jeden Abend saßen, auf der Terrasse draußen am Swimmingpool. An diesem Abend war Francey zu ihnen rausgekommen, wie sie das jetzt schon ein paarmal getan hatte. »Ich fühle mich wie ein verarmter Verwandter«, fügte Boomer noch hinzu. »Es ergeht allen so«, sagte Walt. »Es ist ja schließlich nicht Ihre Schuld, daß Sie auf all diesen unfertigen und unbezahlten Gebäuden sitzen. Leute, die viel mehr Geld haben als Sie, werden auch hineinschlittern.« »Alex zöge es doch nicht etwa vor, daß du die Schulden nicht abzahlst?« fragte Carly. Sie konnte es einfach nicht glauben. Sie bildete sich ein, Alex gut zu kennen. 423
»Ich weiß es nicht«, antwortete Boomer. »Ich halte es für das beste, mit ihr darüber zu reden«, sagte Francey. Es war das erstemal, daß sie sich dazu äußerte. »Was wirst du jetzt unternehmen?« fragte Carly. Boomer drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. »Was unternimmst du, was Cole betrifft?« »Eins zu null für dich.« »Ihr habt beide keine Antworten darauf, stimmt’s?« fragte Francey. »Ich gelange allmählich zu einer Entscheidung«, antwortete Carly. »Boomer hat mir den Kopf zurechtgerückt.« Boomer zog die Augenbrauen hoch. »Du hast mich gefragt, ob ich mit dem Gedanken spiele, Cole zu verlassen. Ich habe ohne jedes Zögern ja gesagt, ohne auch nur über meine Antwort nachzudenken. Daher nehme ich an, ich habe diese Frage schon länger in meinem Kopf herumgewälzt, und mir war bisher nur noch nicht klar, daß ich längst zu einer Entscheidung gelangt bin.« »Und was dann?« fragte Boomer. Walt und Francey sahen erst Carly und dann einander an, und dabei nickten sie kaum wahrnehmbar. »Ich weiß es nicht. So weit bin ich in meinen Überlegungen noch nicht vorangekommen.« Carly schlug vor, nach dem Frühstück zu Zelda Marie rauszufahren. Wenn Boomer um die Mittagszeit aufbrach, konnte er immer noch vor Einbruch der Dunkelheit in Houston sein. Francey bestand darauf, ihm Schinkenbrote und eine Thermoskanne Limonade auf den Weg mitzugeben. Boomer konnte nicht verstehen, warum ihn das so glücklich machte. Die dreispurige Auffahrt, die zu dem großen Haus führte, beeindruckte Boomer. Er wußte schon seit längerem, daß man auf Öl gestoßen war, und Carly hatte ihm bereits vor Jahren erzählt, daß Zelda Marie sich einen herrschaftlichen Landsitz habe bauen lassen, aber was er jetzt zu sehen bekam, überraschte ihn doch. Zelda Marie hatte sich allerdings, wie es schien, nicht verändert. Sie sah besser aus, als er sie in Erinnerung hatte, und er nahm an, daß er sie auf der Straße nicht wiedererkannt hätte, doch sie umarmte ihn und sagte: »Na, so was, Boomer Bannerman, womöglich siehst du noch besser aus als früher. Dich hätte ich überall wiedererkannt.« Sie zeigte ihnen ihre Ställe, und Boomer bemerkte dazu, daß die meisten Menschen es als ein Privileg ansehen würden, darin wohnen zu 424
dürfen. Zelda Marie lachte. Plötzlich tauchte Matt auf. Er sah aus, als wäre er in einen Heuhaufen gefallen, als er jetzt seine Mutter und Onkel Boomer stürmisch umarmte. »Was tust du denn hier?« fragte er. »Ich bin hier aufgewachsen«, rief ihm Boomer ins Gedächtnis zurück. »Ich wollte meinem alten Verity mal wieder einen Besuch abstatten.« »Kannst du reiten?« fragte Matt. Boomer gestand, nur noch sehr selten auf einem Pferd gesessen zu haben, seit er Verity verlassen hatte. »Soll ich es dir beibringen?« fragte Matt. »Vielleicht ein andermal«, sagte Boomer und fuhr ihm übers Haar. Matt lief wieder los. »Verity scheint deinem Sohn gut zu bekommen.« »Ja. Seltsam, nicht wahr?« Sie tranken mit Zelda Marie Kaffee und fuhren mittags in die Stadt zurück. Boomer stieg gar nicht erst aus seinem Wagen aus, sondern sagte nur: »Danke, Carly. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel besser es mir jetzt geht. Ich weiß zwar noch nicht genau, was ich mit meinem Leben anfangen werde, aber ich fühle mich einer Entscheidung jetzt schon weitaus mehr gewachsen als noch vor zwei Tagen.« Er beugte sich aus dem Wagenfenster und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. »Es war schön, dich zu sehen. Richte Alex aus, daß auch sie mir fehlt.« Er nickte. »Melde dich. Du hast meine Telefonnummer. Gib mir Bescheid, wenn du nach Houston kommst. Wir haben jede Menge Gästezimmer.« Der Decken ventilator surrte leise. Zelda Marie hatte zwar ein Haus, das mehr als eineinhalb Millionen Dollar gekostet hatte, doch sie hatte sich geweigert, eine Klimaanlage installieren zu lassen. »Das heißt, das man die Türen und Fenster ständig geschlossen halten muß und so lebt, wie die Leute im Norden im Winter leben«, sagte sie. »Ich bin mit Ventilatoren aufgewachsen und werde sie auch weiterhin verwenden.« Wenn Besucher kamen, um sich ihre Pferde anzusehen, genossen sie in dem Flügel des Hauses, der Gästen vorbehalten war, den Luxus. Man betrat das Haus durch eine breite Eichentür, hinter der eine Eingangshalle lag, die man als Ballsaal verwenden konnte, wenn Zelda Marie sich jemals dazu entschließen sollte, einen Ball zu veranstalten. Insgeheim sagte sie sich, daß sich dieser Raum 425
blendend dazu eignete, hier eines Tages die Hochzeiten ihrer Kinder zu feiern. Rechts von dieser großen Eingangshalle zweigte der Teil des Hauses ab, den sie den Familienflügel nannte. Sechs Zimmer im Erdgeschoß und dieselbe Anzahl noch einmal im ersten Stock. Hinter dem Wohnzimmer lag das Büro, in dem Zelda Marie sämtliche Unterlagen über ihre Pferde aufbewahrte. Ihr Büro roch in einer vergleichbaren Form nach Leder wie ihr Stall nach Heu. An beiden Orten hielt sie sich gern auf. Ansonsten gab es das Familienzimmer. Dort sah man fern, und da lebten die Kinder mehr oder weniger. Es gab noch drei weitere Zimmer, denen Zelda Marie nie einen bestimmten Zweck hatte zuordnen können. In einem dieser Zimmer warfen streunende Hunde ihre Jungen. Man fand kaum Platz in diesen Räumen, obwohl ihre Verwendung ungeklärt war. In dem anderen Flügel rechts von der großen Eingangshalle befand sich die Küche. Sie war mit den modernsten technischen Geräten ausgestattet. Aofrasia war jetzt nicht nur für die Mädchen verantwortlich, die das Haus putzten, sondern ihr war außerdem auch noch eine Köchin unterstellt. Carlos überwachte die zahlreichen Gärtner und Handwerker, die Zelda Marie beschäftigte. Walt meinte, sie brauche allmählich einen Buchhalter, doch sie entgegnete, es mache ihr Spaß, alles selbst im Auge zu behalten. Auf dem College in Kingsville hatte sie einen Kurs in Buchhaltung und Steuerrecht besucht. Sie beschäftigte sich gern mit Zahlen und mit allem, was damit zu tun hatte. Viele ihrer Abende und etliche Nachmittage in der Woche verbrachte sie in ihrem Büro. Manchmal schlich sich Rafael leise hinein und sagte: »Es ist sehr heiß heute.« Dann blickte sie von ihren Büchern auf, lächelte ihn an – ihr Herz machte selbst dann einen Luftsprung, wenn sie am Vormittag bereits gemeinsam mit den Pferden gearbeitet hatten – und sie gingen gemeinsam zum Pool. An den Samstagnachmittagen arbeitete niemand, was sie und Rafael ausnutzten und nackt badeten, was unweigerlich damit endete, daß sie sich in dem ausgedörrten Gras unter den Mesquitebäumen oder im Stall liebten. Oder sie zogen sich in Zelda Maries private Zimmerflucht zurück und liebten sich unter der Dusche, ehe sie ins Bett gingen und den ganzen Nachmittag miteinander redeten. Zelda Marie hatte Angst. Sie wußte ganz einfach, daß etwas Gräßliches passieren würde. Sie war so glücklich, daß ihr Glück nicht von Dauer sein konnte. Sie war jetzt seit jener Nacht vor Jahren 426
glücklich, in der Rafael durch ihr Fenster eingestiegen war. Aber sie hatte ihr Glück niemals als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Ihr Leben war jetzt schon seit Joe Bobs Tod zu schön, um wahr zu sein. Sicher, in diesen ersten Jahren hatte sie hart arbeiten müssen, um den Kopf über Wasser zu halten, doch sie war sicher, daß ihr diese Zeit viel Kraft gegeben hatte. Tief in ihrem Innern war sie Tag für Tag immer wieder von neuem dankbar, daß es Rafael gab. Sie redeten nie über ihre Beziehung, doch als sie in das große Haus eingezogen war, war er ihr dorthin gefolgt. Er hatte seine Habseligkeiten in einem der Gästezimmer untergebracht, im anderen Flügel im oberen Stockwerk, doch er schlief niemals dort. Seine Begründung war die, Aofrasia und Carlos hätten inzwischen zu viele Kinder, dort sei kein Platz mehr für Rafael. Und außerdem sollte in einem solchen Haus nachts ein Mann sein. Sie sagte nichts von alldem, doch diese Ausreden lagen ihr für den Fall, daß jemand Fragen stellte, auf der Zunge. Aber niemand sprach sie je darauf an. An den Sonntagen schloß sich Zelda Marie den Mexikanern an, ganz gleich, ob sie zu Ao und Carlos kamen oder sich in einem der anderen Häuser trafen. Es schien ihnen überhaupt nicht peinlich zu sein, Zelda Marie in ihren bescheidenen Unterkünften zu empfangen. Und an Weihnachten, wenn sie alle zu sich einlud und ein verschwenderisches Fest feierte, stellte es für sie immer wieder eine erfreuliche Überraschung dar, daß sie sich nicht so verhielten, als hätten sie in einem so prunkvollen Haus nichts zu suchen. Sie kamen jetzt schon seit Jahren am Heiligen Abend zu ihr. Diese Zusammenkünfte waren inzwischen eine Mischung aus den Weihnachtsfesten, die sie als Kind gekannt hatte, und einer mexikanischen Feier. Ihre Mutter und ihr Vater erschienen alljährlich, und jede beliebige Zahl von Gästen und Verwandten konnte über Nacht bleiben, da Zelda Marie mehr als genug Platz hatte. Sie war sich absolut bewußt, daß das Haus geradezu anstößig war. Zu ihrer Mutter sagte sie, es habe ihren Verstand getrübt, plötzlich so viel Geld zu haben, daß sie überhaupt nicht mehr wußte, was sie damit anfangen sollte. Ihre Eltern lebten trotz ihrer ebenfalls kolossalen Einnahmen weiterhin in dem kleinen Haus in der Stadt, in das sie vor mehr als einem Jahrzehnt eingezogen waren. Ihr Vater fuhr jedoch einen Lincoln Continental und ihre Mutter einen Cadillac. Selbst dann, wenn alle fünf Kinder daheim waren, wurden die Zimmer dieses riesigen Hauses nicht alle genutzt. Aber 427
möglicherweise hatte das Schicksal ein Einsehen mit ihr. Ja, vielleicht war es sogar das Schicksal gewesen, das Zelda Marie veranlaßt hatte, ihr anstößig protziges Haus überhaupt zu bauen. Eines Nachts, als sie und Rafael eng umschlungen dalagen und die Bettdecken längst auf den Boden geflogen waren, wurden sie von einem Klopfen an der schweren Eichentür geweckt. Jemand schrie laut nach ihnen; immer wieder wurde Rafaels Name gerufen. Er sprang auf und rannte zum Fenster. Dort kniete er sich hin, damit derjenige, der draußen stand, nicht sehen konnte, daß er sich nackt im Schlafzimmer der Señora aufhielt. »Que pasa?« rief er. Sie verstand genug Spanisch, um zu begreifen, daß jemand verletzt war und der Arzt sich weigerte, ihn zu behandeln, weil er und seine Leute es sich nicht leisten konnten, ihn dafür zu bezahlen. Bei Mexikanern machte der Arzt ohnehin keine Hausbesuche. Und für einen Chicano kam er auch nicht mitten in der Nacht in seine Praxis. Aber Jose Moreno war am Verbluten. Im nächsten Moment hatte Rafael seine Jeans an und rannte barfuß und mit nacktem Oberkörper die lange geschwungene Treppe zur Haustür hinunter. Als Zelda Marie sich angezogen und das Hemd in ihre Hose gestopft hatte, hatte der bewußtlose Jose bereits eine Blutspur auf den Fliesen der Halle hinterlassen. Rafael, dessen Stimme so kalt war, wie sie es bisher noch nie an ihm erlebt hatte, sagte: »Du rufst den Arzt an. Für dich kommt er her.« Sie sagte Doc Clarke, den sie natürlich geweckt hatte, nur, wer sie war und daß er augenblicklich hier draußen gebraucht wurde, nicht weshalb. Und ehe er weitere Fragen stellen konnte, legte sie auf. Als er eintraf und sah, wer sein Patient war, geriet er sichtbar in Wut. Er sagte jedoch nichts, sondern reinigte und nähte die Wunde des Mannes, dessen Unterleib mit einem Messer aufgeschlitzt worden war. Dann gab er ihm ein Antibiotikum, verordnete ihm fünf Tage strikte Bettruhe und legte ihm nahe, erst dann wieder zu arbeiten, wenn die Verletzung völlig ausgeheilt sei. Anschließend stellte er Zelda Marie hundert Dollar in Rechnung, eine absolut ungehörige Summe. Sie ging in ihr Büro, holte einen brandneuen Schein aus ihrem Safe und gab ihn dem Arzt. Sie lächelte ihn honigsüß an. »Da ich Sie bar bezahle, brauchen Sie den Betrag noch nicht einmal zu versteuern.« Er zog sie hinter sich her und zur Haustür hinaus, und dort flüsterte er: »Was haben Sie mit diesem Gesindel zu schaffen?« »Ich glaube, das nennt sich christliche Nächstenliebe.« 428
»Jetzt hören Sie bloß auf, Zelda Marie. Wenn man denen hilft, spornt man sie damit nur zu noch größerem Übel an.« Doc Clarke schüttelte den Kopf, drehte sich um und stieg die Stufen hinunter. Dabei sagte er über die Schulter: »Bestellen Sie mich für einen von denen bloß nicht noch einmal mitten in der Nacht hierher. Ich werde nämlich nicht kommen.« Der Arzt ging zu seinem Wagen, warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Er ließ den Motor an und gab in einer Art Gas, in der sich seine ganze Wut widerspiegelte. Dann fuhr er los. Zelda Marie kehrte ins Haus zurück. »Wir wollen ihn jetzt nach oben bringen«, sagte sie. »In den nächsten Tagen wird hier für ihn gesorgt werden. Er darf nicht transportiert werden. Momma wird rauskommen und nach ihm sehen.« Zelda Marie war ziemlich sicher, daß ihre Mutter Doc Clarke eine Strafpredigt hielt, die sich gewaschen hatte. »Richtet seiner Mutter aus, daß sie ihn jederzeit hier besuchen kann. Dasselbe gilt natürlich auch für seine Freundin.« Einer der Männer, die Jose ins Haus gebracht hatten, lachte. »Welche von seinen Freundinnen meinen Sie?«
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67 Francey hatte das Abendessen vorbereitet, und während der Eintopf vor sich hin kochte, saßen die beiden Frauen auf der Terrasse und hörten sich bis in alle Einzelheiten an, was Walt von seinem Arbeitstag zu berichten hatte. Dann sahen er und Francey einander an, und Francey nickte, um ihm zu verstehen zu geben, daß er das Thema wechseln sollte. »Nächste Woche beginnt die Schule wieder«, sagte Walt. »Wo ist dieser Sommer bloß geblieben?« fragte Carly. Sie mußte schon seit mehr als vier Monaten hier sein. In all dieser Zeit hatte sie Cole nicht ein einziges Mal gesehen. »Was wirst du jetzt tun?« wollte Walt wissen. Carly sah Walt an, den Mann, der ihr der liebste auf der Welt war. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?« »Gehst du nach Houston zurück, oder wirst du Matt hier in die Schule schicken?« »Darüber habe ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht«, antwortete sie. »Ist es nicht langsam an der Zeit, daß du mit Cole redest?« fragte Francey. »Das einzige, was ich ihm zu sagen habe, ist, daß Matt und ich endgültig fortgehen werden. Und außerdem sind da natürlich auch noch die Finanzen zu regeln.« Walt schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Franceys Gesundheitszustand hat uns die Gelegenheit gegeben, uns in aller Ruhe zu überlegen, was wir mit dem Rest unseres Lebens anfangen wollen.« Sie waren in der vergangenen Woche mit unglaublichen Neuigkeiten aus Palo Alto zurückgekommen. In Stanford hatte Francey absolute Verblüffung ausgelöst, denn zwei Computertomographien hatten ergeben, daß keine Spur von Krebs mehr zu entdecken war. »Ich möchte kürzertreten und im Gewächshaus arbeiten«, fuhr Walt fort, »mich auf Orchideen und Miniaturrosen spezialisieren. Ich will nicht mehr arbeiten, sondern meine gesamte Zeit mit deiner Mutter verbringen, vielleicht sogar die eine oder andere Reise mit ihr unternehmen.« »Du willst, daß ich dann im Haus bin?« fragte sie. »Dir ist Verity doch immer verhaßt gewesen, oder nicht?« »Nun, früher habe ich geglaubt, daß ich es hasse, aber im 430
Augenblick erscheint es mir als ein wohltuend ruhiger Aufenthaltsort.« »Bleib hier, Carly. Zieht bei uns ein, du und Matt. Dieses Haus ist groß genug, um einem halben Dutzend Menschen Platz zu bieten. Hier kannst du ungestört sein oder auch Leute einladen, wenn du Lust hast.« Francey kicherte. »Uns macht es auch nicht das geringste aus, wenn du einen Liebhaber aufforderst, über Nacht zu bleiben.« Carly lachte schallend. »Mir gehören dreiundsechzig Prozent der Bank meines Großvaters«, sagte Walt. »Ich will sie nicht aufgeben, und ich will sie auch nicht verkaufen. Die Bank soll in der Familie bleiben. Du besitzt einen glänzenden Verstand, Carly. Ich möchte, daß du die Generaldirektorin dieser Bank wirst, daß du meinen Posten übernimmst. Ich habe gründlich darüber nachgedacht.« Als er Carlys erstaunten Gesichtsausdruck sah, legte er ihr eine Hand auf den Arm. »Laß dir für die Entscheidung ein Jahr Zeit. Du probierst es einfach aus und hältst dir die Möglichkeit offen. Ich stehe zur Verfügung, um dich einzuarbeiten, um alles mit dir zu besprechen. Und du brauchst die Dinge auch nicht so zu handhaben, wie ich sie gehandhabt habe. Ich werde mich zum Vorstandsvorsitzenden befördern, aber du bist die Generaldirektorin. Frisches Blut ist hier dringend vonnöten, junge Ideen. Und du bist… wie alt bist du jetzt überhaupt? Vierzig?« »Beinah.« »Ich kann mir das Leben leichter machen und du hast die Gelegenheit, deinem Leben eine neue Richtung geben. Ich serviere dir dieses Angebot nicht etwa auf einem silbernen Tablett. Die Leitung dieser Bank erfordert Arbeit, und zwar harte Arbeit. Und selbst wenn du mit diesem Job zu den angesehensten Leuten in der ganzen Stadt zählst, machst du dich damit keineswegs nur beliebt. Manchmal wirst du zu netten „Menschen, die Kredite haben wollen, nein sagen müssen. Manchmal wirst du gezwungen sein, aus einer Hypothek die Zwangsvollstreckung zu betreiben, obwohl du weißt, daß sich die Leute schrecklich abgerackert haben. Manchmal… aber du wirst ja selbst sehen, was ich meine.« In ihrer Miene drückte sich grenzenloses Erstaunen aus. »Um Himmels willen, Walt…« »Nein, Carly, um meinetwillen. Ich fände es einfach phantastisch, wenn du ja sagen würdest.« Sie sah Francey an, auf deren Gesicht sich Vorfreude ausdrückte. 431
»Matt liebt Verity«, fuhr Walt fort. »Ich?« sagte Carly mit schwacher Stimme. »Ich soll ausgerechnet in der Stadt, aus der ich damals gar nicht schnell genug wegkommen konnte, Bankdirektorin werden?« Sie lachte. »Welche Ironie!« Walt hob die Hand. »Und sag bloß nicht, daß du nicht klug genug oder dem Job nicht gewachsen bist…« »He, warte mal«, fiel Carly ihm ins Wort. »Ich fühle mich dieser Aufgabe durchaus gewachsen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich in den letzten Jahren gelangweilt habe. Natürlich bin ich in der Lage, eine Bank zu leiten. Wenn ich Geschäftsabschlüsse in Millionenhöhe tätigen kann…« Sie lachte. »Vielleicht ist mein ganzes Leben von früh an auf genau diesen Punkt zugesteuert. Vielleicht habe ich in Houston nur so hart gearbeitet, um mich darauf vorzubereiten, eines Tages…« Walt lächelte. »Dann sagst du also ja zu meinem Vorschlag?« Sie zögerte zwar, aber nur einen Moment. »Ich glaube, ja, Walt. Aber wie wird man in Verity darauf reagieren, daß eine Frau die Leitung der Bank übernimmt?« »Die Leute müssen dich akzeptieren. Sie haben doch gar keine andere Wahl, nicht wahr?« Carly stand auf und begann mit verschränkten Armen über die Holzdielen der Terrasse zu laufen. »O Walt. Du meine Güte, Walt. Vierzig Jahre und schon der Posten eines Generaldirektors? Bist du dir auch ganz sicher?« »Liebes, Francey und ich reden bereits seit Monaten darüber. Ich habe diesen Gedanken immer im Hinterkopf gehabt, aber solange du beruflich und privat in Houston gebunden warst, habe ich es für einen bloßen Traum gehalten.« Carly ging auf ihn zu und kniete sich neben den Mann, der sie adoptiert hatte und seit mehr als zwanzig Jahren ein Rettungsanker für sie und Francey war. »Bist du sicher? Bist du dir wirklich ganz sicher?« Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Ein schöneres Geschenk könnte mir das Leben gar nicht machen, abgesehen von der guten gesundheitlichen Verfassung deiner Mutter.« »Fragen wir Matt doch mal, was er dazu sagt. Wenn er hierbleiben möchte, dann sollte ich vermutlich am besten möglichst bald mit Cole reden.«
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»Und wo zum Teufel soll ich so viel Bargeld hernehmen?« »Es braucht kein Bargeld zu sein«, sagte Carly. Sie empfand nichts. Keine Wut. Keine Aggressivität. Nichts, außer vielleicht einem Frösteln tief in ihrer Brust. Sie hatte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Ledersessel in Coles privatem Büro im Haus zurückgelehnt. Aber sie war dort nicht mehr zu Hause. »Ich will nichts weiter als das Geld, das ich im Lauf der Jahre verdient habe, und den Betrag, den mir der Verkauf von Rolfs Immobilien gebracht hat. Ich will keinen einzigen Cent von deinem Geld.« »Das Geld ist angelegt. Ich kann im Moment nicht dran.« Carly äußerte sich nicht dazu. Sie sah ihn einfach nur an. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. »Mein Anwalt wird sich mit deinem in Verbindung setzen. Sie werden den Kontakt zwischen unseren Steuerberatern herstellen.« »Wer ist dein Anwalt?« »Das habe ich bisher noch nicht entschieden. Aber morgen um diese Zeit ist das geregelt. Du kannst das Haus haben. Du kannst alles behalten bis auf das Geld, das ich im Lauf unserer Ehe verdient habe.« »Ich werde das gemeinsame Sorgerecht verlangen.« Carly nahm ihre Handtasche und ihre Handschuhe. Dann stand sie auf und sagte: »Ich werde alles in die Wege leiten, daß mein Anwalt sich mit dir in Verbindung setzt. Morgen werde ich meine Kleider holen und einen Rundgang durch das Haus machen, um zu sehen, ob es sonst noch etwas gibt, was ich wirklich haben will.« Eigentlich glaubte sie nicht, daß es dort viel gab, woran ihr etwas lag. »Meine Mutter wird um ihr Recht kämpfen, Matt zu sehen.« »Das braucht sie nicht zu tun. Ich würde nicht im Traum daran denken, Matt das Recht streitig zu machen, seine Großeltern zu besuchen. Oder dich. Du kannst deiner Mutter versichern… nein, ich werde selbst zu ihr gehen.« »Wo wohnst du hier?« fragte Cole. »Bei Boomer und Alex. Ich hoffe, daß ich übermorgen wieder abreisen kann.« »Wo wirst du leben?« letzt lächelte sie. »Ich gehe nach Verity 433
zurück. Ich habe es inzwischen wirklich ins Herz geschlossen, und Matt ist ganz begeistert.« »Du hast doch nicht etwa vor, einen Coleridge in diesem Provinznest in die High-School zu schicken?« »Genau das werde ich tun. Boomer und ich haben beide dort unseren Abschluß gemacht, und du siehst ja selbst, wie weit wir es gebracht haben. Und außerdem fühlt sich Matt dort wohl.« »Carly…« Er hoffte nur, Tiffany würde nichts von der Trennung erfahren. Er wollte keineswegs in die Zwangslage geraten, sie heiraten zu müssen. Denn daß sie Druck auf ihn ausüben würde, dessen war er ziemlich sicher. Diese Frau heiraten? Um Himmels willen! Sie mochte zwar gewitzt und auch eine heiße Nummer im Bett sein, aber eine Ehe? Vielleicht konnte er diese ganze Geschichte eine Zeitlang geheimhalten. »Ich werde dir alle erdenklichen Schwierigkeiten machen…« »Das wird deine Mutter nicht zulassen. Es mag zwar sein, daß sie nicht immer der Meinung gewesen ist, ich sei deiner würdig, aber deine Eltern haben mich stets freundlich behandelt. Ich habe da so ein Gefühl, daß sie diese Delacourte nicht ganz so wohlwollend aufnehmen werden.« Diese Delacourte, dachte Cole, bringt mir weitaus mehr Respekt entgegen als du. Doch er erwiderte nichts auf ihre Bemerkung. »Was wirst du jetzt tun?« fragte er. Carly lächelte erneut. »Wenn du es genau wissen willst, ich werde Generaldirektorin der First National Bank von Verity.« Cole starrte sie an. Er schlug sich mit der Hand an die Stirn und fing an zu lachen. »Wenn das kein Knüller ist! Du ein Bankdirektor?« Carly ging zur Tür und drehte den Griff, und als sie sie öffnete, strömte heiße, schwüle Septemberluft herein. »Ich muß dir sagen, Cole, die ersten Jahre haben Spaß gemacht. Aber alles weitere…« »Du hast unserer Ehe nie eine Chance gegeben. Du warst nie bereit, mein Leben mit mir zu teilen.« »Das stimmt nicht«, entgegnete sie, fragte sich aber, ob nicht doch etwas Wahres daran war. »Ich war nur nicht bereit, mich an deinen protzigen Society-Wochenenden mit diesen Heuchlern und Speichelleckern zu beteiligen. Ich war nicht bereit, zuzusehen, wie Männer sich betrinken und dann mit anderen Frauen als ihren Ehefrauen im Bett landen.« »Du bist ein umgekehrter Snob. Diese Männer sind diejenigen, die 434
das Getriebe dieses Landes in Gang halten, die echten Macher.« »Was teilweise den Zustand erklärt, in dem sich die Vereinigten Staaten befinden. Und warum sie so tief gesunken sind.« Als sie zur Tür hinausging und in die Dämmerung trat, rief er ihr aus dem Haus nach: »Ich habe einen der besten Anwälte in ganz Texas.« Das wußte sie. Aber schließlich wollte sie ja nichts weiter als das Geld, das sie selbst verdient hatte. Einen Teil dessen, was ihr der Verkauf von Rolfs Immobilien eingebracht hatte, hatte sie auf einem Geheimkonto, von dem drei der Kliniken in der Stadt unterstützt wurden. Nichts würde dem ein Ende bereiten, hoffte sie. Sie überließ sämtliche Zinsen, die sie dort einnahm, Dr. Gonzalez und den beiden anderen Kliniken. Vielleicht sollte sie besser ein Testament aufsetzen und den Kliniken auch das Kapital vererben. Sie wollte es Cole nicht zu leicht machen, obwohl sie alles getan hätte, um aus ihrer Ehe herauszukommen. Als Generaldirektorin der First National Bank würde sie genug verdienen, um davon ihren Lebensunterhalt und sämtliche anfallenden Ausgaben für Matt zu bestreiten, insbesondere dann, wenn sie weiterhin bei Francey und Walt wohnen würde. Francey hatte Die Weiden verkauft, und Carly war sich ziemlich sicher, daß Walt den Käufern, einem Ehepaar aus Brownsville, einen Kredit zu günstigen Bedingungen angeboten hatte. Francey ging es inzwischen wieder gut, und sie war nicht einmal mehr müde, was Stanford und die Spezialisten in Houston in ein nicht nachlassendes Staunen versetzte. Sie wußte, daß sich ihre Mutter und Walt während ihrer Arbeitszeit liebend gern um Matt kümmern würden. Dieser Gedanke entlockte Carly ein Lächeln. Mit wem würde sie ausgehen? Im Moment hatte sie keinerlei Interesse an gesellschaftlichem Umgang. Das einzige, was sie wollte, war ein Job, der ihr das Gefühl gab, für etwas gut zu sein, ein Job, der eine Herausforderung für sie darstellte und ihr Entscheidungsmöglichkeiten ließ. Und genau das kam auf sie zu. Das Leben war doch wirklich eine ganz seltsame Angelegenheit. Was wäre inzwischen aus ihr und ihrer Mutter geworden, wenn sie damals diesen Preis für herausragende schulische Leistungen nicht gewonnen hätte, als sie die High-School abschloß? Alex empfahl ihr einen Scheidungsanwalt, der in dem Ruf stand, phantastische Abfindungen für seine weiblichen Mandanten herauszuholen. »Wir werden Ihren Mann gewaltig zur Ader lassen«, versicherte er 435
ihr. »Nein, darum geht es mir nicht«, wandte Carly energisch ein. »Das einzige, was ich will, ist das Geld, das ich verdient habe und das er als unseren gemeinschaftlichen Besitz angelegt hat.« Alex traf sich mit ihr zum Mittagessen, und diesmal war sie an der Reihe, sich an Carlys Schulter auszuweinen. »Ich weiß nicht, was mit Boomer und mir los ist, aber es stimmt einfach nicht mehr«, sagte sie, während sie in ihren verwelkten Salatblättern herumstocherte. »Seit es BB&O nicht mehr gibt, bringt er für neue Ideen überhaupt kein Interesse mehr auf. Er versteift sich darauf, all seine Kredite abzuzahlen, und wenn er das tut, ist er absolut pleite.« »Er hat mir erzählt, ein paar hunderttausend blieben ihm noch.« Alex’ Augen sprühten Feuer. »Jetzt hör bloß auf, Carly, du weißt doch selbst, daß das eine lächerliche Summe ist. Er versteht sich auf nichts anderes als aufs Bauen. Und in Texas wird derzeit nirgendwo gebaut.« Das war Carly durchaus bekannt. »Es ist mir ja so peinlich«, fuhr Alex fort. »Alle wissen, was mit BB&O passiert ist. Die Leute sagen mir, wie leid es ihnen tut. Ich bin es nicht gewohnt, bemitleidet zu werden.« »Wirkt sich das auch auf deine Geschäfte aus?« »Ja, selbstverständlich. Ganz Texas ist von der Wirtschaftslage betroffen. Die gesamten Vereinigten Staaten bekommen es zu spüren. Es war für alle ein schwerer Schlag.« Alex unterbrach sich und fuhr dann fort: »Natürlich ist es nicht Boomers Schuld, aber… Ach, ich weiß es selbst nicht. Irgendwie scheinen all die Kleinigkeiten, mit denen ich mich im Lauf der Jahre notgedrungen abgefunden habe, jetzt gewaltige Dimensionen zu gewinnen. Ich habe versucht, mich nicht daran zu stören, weil Boomer von allen für seine enormen Erfolge respektiert worden ist. Er war achtundzwanzig, als er seine erste Million gemacht hat, und ich war stolz auf ihn, aber jetzt…« »Meinst du nicht, daß er deine Unterstützung braucht?« »Wie kann ich ihn unterstützen, wenn ich den Respekt vor ihm verloren habe? Um Himmels willen, er spricht davon, genau das zu tun, was du tust. Er will wieder nach Verity gehen, dieses monströse Haus zurückkaufen, in dem er aufgewachsen ist. Also wirklich, Carly, ich meine, kannst du dir mich in diesem rückständigen Kaff vorstellen?« Carly mußte wider Willen lächeln. »Nein«, gestand sie. »Dich kann ich mir dort in der Tat nicht vorstellen, Alex. Aber nur, weil Boomer eine finanzielle Schlappe erlitten hat, ist doch eure Ehe 436
noch lange nicht am Ende.« »Es sollte wohl nicht so sein, nicht wahr? Es ist aber so. Wir scheinen noch nicht einmal in der Lage zu sein, darüber zu reden. Wenn ich zum See rausfahren will, sagt er, er habe kein Interesse. Schließlich war er doch derjenige, der mir diesen See geschenkt hat.« »Aber das, was ihn an dem See gereizt hat, existiert heute nicht mehr. Das gesamte Ufer ist erschlossen.« »Du hörst dich an wie einer dieser Umweltschützer. Boomer ist schon schlimm genug. Ihr beide hättet heiraten sollen.« Sie warf einen Seitenblick auf Carly. »Habt ihr beide je… ich meine, ich weiß, daß ihr den Abschlußball eurer High-School gemeinsam besucht habt, aber das war doch das einzige, was ihr gemeinsam unternommen habt?« »O Alex«, sagte Carly. »Ich war nie sicher, ob du es weißt. Ich habe Boomer geliebt wie verrückt, und als er fortgegangen ist, um am College zu studieren, habe ich geglaubt, es bringt mich um. Hinterher war ich nie mehr dieselbe.« Ein Ausdruck des Erstaunens zeichnete sich auf Alex’ Gesicht ab. »Sein Vater ist gestorben, als Boomer im letzten Studienjahr gewesen ist. Soll das etwa heißen, ihr beide seid die ganze Zeit miteinander gegangen, und ihr habt es nie auch nur erwähnt, keiner von euch beiden?« Carly hatte auch Cole nichts davon erzählt. »Es scheint schon so lange her zu sein, jetzt sind es zwanzig Jahre.« »Und keinem von euch beiden war jemals anzumerken, daß ihr früher einmal eine Liebesbeziehung hattet.« »Ich glaube nicht, daß diese Beziehung für ihn von allzu großer Bedeutung war«, sagte Carly nachdenklich. »Sobald er angefangen hat, am College zu studieren, hat er ein Leben geführt, von dem ich nie etwas gewußt habe. Ich denke nicht, daß Boomer mich jemals wirklich geliebt hat.« Sie starrte ins Leere, während Alex sie musterte. »Hast du mich von Anfang an abgelehnt?« Carly legte Alex eine Hand auf den Arm. »Keinen Moment lang. Zu dem Zeitpunkt, da wir einander begegnet sind, war ich bereits völlig darüber hinweggekommen. Heute ist Boomer für mich ein guter Freund. Das weißt du doch selbst. Es war nichts weiter als eine Teenagerromanze, Alex. Als wir erwachsen waren, hat sich daraus eine gute Freundschaft entwickelt, und heute hänge ich sehr an seiner Frau.« »All das ist einfach unglaublich. Ein Teil von Boomer – und von dir 437
–, von dem ich nicht das geringste geahnt habe.« »Seitdem ist viel Zeit vergangen. Damals hat er mich immer um fünf Uhr abgeholt. Er hat in der Tür der Bank gestanden und auf mich gewartet, und wenn ich aufgeblickt und ihn gesehen habe, dann hat mein Herz sofort schneller geschlagen, und ich wußte ganz genau, daß niemand auf Erden einen anderen Menschen so sehr liebt wie ich Boomer liebe.« Sie lachte. »Du weißt schon, dieser Kinderkram.« »Hast du Cole denn auch so sehr geliebt wie Boomer?« »O Alex, wer wüßte das schon zu sagen? Es war anders. Ich liebe Boomer schon seit zwanzig Jahren nicht mehr, aber ich mag ihn sehr. Und ich respektiere ihn.« »Komisch, doch ich habe nicht den Eindruck, daß letzteres auf mich zutrifft.« »Das kann ich nicht verstehen. Wenn man einen Menschen wirklich liebt, will man dann nicht in schwierigen Zeiten zu ihm stehen? Er hat dir doch keinen Grund gegeben, an seiner Liebe zu dir zu zweifeln?« Alex schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, keiner von uns beiden war jemals in Versuchung, dem anderen untreu zu werden.« »Cole ist mir untreu gewesen, und das auch noch in schamloser Weise.« »Diskret ist er wirklich nicht gerade. Wie seltsam es doch ist, daß ausgerechnet ich mit ihm gegangen bin, ehe mir Boomer begegnet ist. Aber was anderes. Hast du Lust, heute nachmittag mit mir rüberzufahren und dir das Kincaid-Haus anzusehen? Ich habe es gestern gekauft. Boomer weiß noch gar nichts davon. Er sagt, wir sollten den Gürtel enger schnallen, aber auf dieses Haus bin ich schon seit Jahren scharf. Und außerdem ist es höchste Zeit, wieder nach River Oaks zu ziehen. Wenn wir diesen Schritt unternehmen, werden die Leute klar erkennen, daß wir nicht mit der Armut liebäugeln. Das ermöglicht es mir, weiterhin mit erhobenem Kopf durch die Gegend zu laufen.« »Du meine Güte«, sagte Carly. »Irgend etwas muß ich doch für meine Selbstachtung tun«, entgegnete Alex und winkte den Kellner an den Tisch. »Ich muß dir sagen, Carly, es ist einfach wunderbar, eine Freundin zu haben, mit der man über diese äußerst privaten Dinge reden kann.« Carly nickte zustimmend, doch Boomer tat ihr unsäglich leid.
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69 »Du wirst mich für verrückt halten«, sagte Zelda Marie. »Das wäre nicht das erstemal«, entgegnete Carly mit einem breiten Grinsen. Zelda Marie beugte sich vor. »Weißt du überhaupt, wie wunderbar ich es finde, daß du wieder hier bist? Ich hätte nie geglaubt, daß ich diesen Tag noch erlebe.« »Das Komische ist, daß ich so glücklich bin wie noch nie. Und Matt geht es ganz genauso. Er ist hier regelrecht aufgeblüht. Seine Großeltern in Houston drehen fast durch, weil er in Verity die Schule besucht, statt ins St. John’s zu gehen. Sie behaupten, eine Uni mit Prestige werde ihn niemals aufnehmen, aber er will hier in Texas Landwirtschaft studieren und Rancher werden oder im ökologischen Bereich arbeiten.« »Sieht er Cole überhaupt noch?« Carly nickte. »Cole läßt ihn alle zwei, drei Monate zu sich kommen, aber wenn er dann in Houston ist, wissen die beiden nicht so recht, was sie miteinander anfangen sollen. Coles Eltern sieht er regelmäßig. Ich finde, man sollte ihnen das Recht auf ihren Enkel nicht streitig machen, obwohl Matt sich dort langweilt. Aber er ist wirklich sehr lieb. Er beklagt sich nur selten. Trotzdem spielt sich sein Leben hier ab, in Verity. Und Walt ist ihm ein besserer Vater, als Cole es je gewesen ist. Matt hält seinen Großvater und Ben für die beiden wunderbarsten Männer auf der ganzen Welt.« »Hörst du ab und zu noch etwas von Ben, seit er geheiratet hat?« »Er wird nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren. Er sagt, er habe das Gefühl, größeren Einfluß gehabt zu haben, als er noch in Aransas Pass seine Zeitung herausgegeben habe. Er hat sich in Washington nie wohl gefühlt. Dort habe er seinen Glauben an Amerika verloren.« Sie sah in die Ferne, und dann sagte sie: »Die beiden erwarten gerade ihr nächstes Kind.« Zelda Marie kniff die Augen zusammen und musterte Carly, schwieg aber. Es war am frühen Abend, an einem Samstag im April, und sie saßen auf Zelda Maries Veranda. Zelda Marie hatte Carly zum Abendessen eingeladen, um eine Idee, die sie nicht losließ, mit ihr zu besprechen. Bei ihrer Idee ging es um das Haus. »Cole spielt mit dem Gedanken, auf eine der Caymansinseln oder die Jungferninseln überzusiedeln. In Houston ist er natürlich erledigt«, berichtete Carly. 439
»Ich habe gelesen, daß es jeden einzelnen Amerikaner, ob Mann, Frau oder Kind, ungefähr fünfundsiebzigtausend Dollar an Steuergeldern kosten wird, im Lauf der kommenden Jahre die Verluste abzutragen, die die Öffentlichkeit durch die Skandale in den Spar- und Darlehenskassen erlitten hat. Ich verstehe nicht, wie er sich überhaupt noch irgendwo blicken lassen kann.« »Ich habe das Gefühl, er hat sich wie ein Bandit benommen. Von meinem Geld wollen wir gar nicht erst reden.« Carly versetzte die hölzerne Schaukel, die von der Decke hing, in Bewegung. »Also, was ist das für eine Idee, über die du mit mir reden willst?« »Meine Kinder sind inzwischen alle bis auf eines aus dem Haus«, begann Zelda Marie. »Sally Mae wird im Juni ihren Master machen und hat einen Job bei einer Zeitung in Portland, Oregon.« Mike war einundzwanzig und arbeitete in der Nähe von Austin in der Ölförderung. Er sah so gut aus, daß ihm die Mädchen in Scharen nachliefen. Sissy war mit ihren neunzehn Jahren die Mutter eines Babys von sechs Monaten und arbeitete nachts bei der Telefongesellschaft von Brownsville. Darryl, ihr Mann, war dort unten Aufseher einer Zitrusplantage, und ihr Ziel bestand darin, eines Tages eine eigene Farm zu besitzen. Little Joe war im ersten Studienjahr an der University of Texas in Austin, und das jüngste Mädchen besuchte noch die High-School. »Nachdem sie alle bewiesen haben, wie hart sie arbeiten können und daß sie Geld zu würdigen wissen«, sagte Zelda Marie zu Carly, »werde ich jedem von ihnen ein Stück Land kaufen, sofern sie es haben wollen. Ich habe genug, um all meinen Kindern immer beistehen zu können, falls sie es brauchen sollten oder wenn mir danach zumute ist, aber nicht, ehe sie mir einen Beweis für ihre Tüchtigkeit erbracht haben.« Es waren nette Kinder, sie hatten sich prächtig entwickelt. »Meine Idee ist die: Ich spiele mit dem Gedanken, das Haus in ein Krankenhaus umzuwandeln.« Carly starrte sie an. »Doc Clarke weigert sich, Hausbesuche bei Mexikanern zu machen, und er nimmt sie auch nicht in seiner Klinik auf, es sei denn, sie bezahlen im voraus. Ich war drüben bei den Martinez’, und dort war die Rede davon, daß einige Mexikanerinnen bei der Geburt sterben, weil sie sich nie auch nur in die Nähe eines Krankenhauses wagen würden.« Für Doc Clarkes Klinik mit ihren sechs Betten war 440
»Krankenhaus« ein hochtrabender Ausdruck. »Lieber sterben sie, als daß sie zu ihm gehen. Und sie sterben dann auch tatsächlich – an Lungenentzündung oder an Komplikationen, zu denen es durch das fortgeschrittene Alter der Mutter kommt, an Diabetes oder an mangelnder ärztlicher Betreuung vor und nach der Geburt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.« Carly schwirrte der Kopf. »Ich habe hier zweiunddreißig Zimmer und elf Bäder.« Aofrasia tauchte in der Tür auf und teilte ihnen mit, daß das Abendessen fertig sei. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt, und in der Mitte stand eine niedrige Vase mit gelben Rosen und Vergißmeinnicht. Zelda Marie nahm am Kopfende des Tisches Platz, der groß genug für ein fürstliches Bankett war, und Ao trug das Essen auf. »Was denkst du dir nur dabei?« »Rafael sagt, genau das würden sich alle fragen.« Carly schüttelte den Kopf und blieb weiterhin stehen. »Ich rede nicht von deiner Idee. Die meisten Leute, vielleicht sogar alle außer deiner Mutter und mir, werden glauben, du seist übergeschnappt. Aber ich rede von etwas ganz anderem, nämlich davon, wo Rafael zu Abend ißt.« Zelda Marie riß die Augen weit auf. »In der Küche natürlich.« Carly ließ sich auf den Stuhl mit den Quasten sinken. »Zelda Marie, sieh mich an.« Zelda Marie blickte ihr in die Augen – eine volle Minute. »Seit wie vielen Jahren schläfst du jetzt schon mit ihm?« Zelda Marie zuckte mit den Schultern. »Etwa zehn, würde ich sagen. Das dürfte es mehr oder weniger treffen. Aber niemand außer dir weiß etwas davon, Carly.« Carly lachte. »O Zelda Marie, alle wissen Bescheid. Aber auch wirklich alle. Es ist jahrelang ein Skandal gewesen, daß er in diesem Haus hier draußen mit dir zusammenlebt, daß du deine Samstagnachmittage mit den Chicanos verbringst. Das weiß doch jeder, meine Liebe.« Leuchtende Röte breitete sich auf Zelda Maries Wangen aus. »Ich wollte dich schon immer fragen, warum du ihn nicht längst geheiratet und zu einem ehrbaren Mann gemacht hast.« Aofrasia kam ins Eßzimmer und stellte Schüsseln mit aromatischen schwarzen Bohnen und Reis auf den Tisch. »Nun«, sagte Zelda Marie, »er will es nicht so haben.« »Was soll das heißen?« fragte Carly und goß einen Schöpflöffel von Aos selbstgemachter Salsa über ihr Essen. »Ich meine, wenn er mich heiraten wollte, dann hätte er doch längst etwas gesagt.« 441
Carly seufzte. »O mein Gott, wie kannst du bloß so dumm sein!« Verwirrung war in Zelda Maries Augen zu erkennen. »Du bist jetzt schon seit zehn Jahren in diesen Mann verliebt, du bist vierzig Jahre alt, und du glaubst, daß er dich nicht heiraten will? Er hat ein Zimmer in deinem Haus, in deiner Prachtvilla, er ißt mit dem Hausmädchen und dem Gärtner in der Küche…« »Sie sind seine Freunde. Natürlich sind sie auch meine Freunde.« »Und warum nehmt ihr die Mahlzeiten dann nicht alle gemeinsam ein?« Zelda Marie wirkte wie ein kleines Mädchen, das gerade ausgescholten wird. »Nun ja, also, wir haben nie darüber geredet…« »Worüber? Darüber, daß ihr gemeinsam essen könntet – oder über eure Beziehung?« Carly glaubte, ihre Freundin könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Weder noch. Ich hatte Angst, daß es, wenn ich auf diese Dinge zu sprechen komme, passieren könnte…« »Es geht einfach nicht, Zelda Marie, daß du ihn wie einen Dienstboten behandelst. Das kannst du nicht tun!« Zelda Marie senkte den Blick auf ihren Teller. »Liebst du ihn?« fragte Carly. »Ja, das weißt du doch.« »Weiß er es?« »Er sollte es eigentlich wissen.« »Hast du es ihm gesagt?« Zelda Marie schüttelte den Kopf. »Aber er weiß es auch so.« Carly machte sich über das Essen her. »Meine Güte, das schmeckt ja einfach himmlisch.« Sie aßen eine Zeitlang schweigend, und dann nahm Carly den Faden wieder auf. »Mach ihm einen Heiratsantrag. Es ist einfach lachhaft, wie lange sich das jetzt schon so hinzieht. Er wird dich niemals bitten, ihn zu heiraten. Du brauchst dich doch nur umzusehen. Er könnte sich noch nicht einmal dieses eine Zimmer leisten, ganz zu schweigen von allem anderen, was du sonst noch besitzt. Die meisten amerikanischen Männer könnten mit dieser Situation nicht umgehen, und ein Mexikaner, der von Geburt an zum Macho erzogen worden ist, ist dem noch viel weniger gewachsen.« »Ich? Du sagst, ich soll ihm einen Heiratsantrag machen?« In Zelda Maries Gesicht spiegelten sich Schock und Belustigung zugleich wider. 442
»Wärst du denn nicht gern mit ihm verheiratet? Hättest du ihn nicht
gern als gleichwertigen Partner? Wäre es dir etwa nicht lieb, wenn
du alles mit ihm besprechen könntest?«
»Oh, ich rede über alles mit ihm, was mit der Ranch zu tun hat. Ich
rede mit ihm nur nicht über…«
»Nur nicht über deine Gefühle? Du sagst ihm nicht, was du für ihn
empfindest? Du mußt es tun, Liebes. Und mach ihn zu deinem
Partner. Er arbeitet inzwischen schon seit zwölf oder dreizehn lahren
mit dir zusammen. Jemanden, der dir in dem Maß unter die Arme
greift, wie er es tut, wirst du nie wieder finden. Und selbst wenn er
von den Finanzen nicht die leiseste Ahnung hat und auch nichts
davon versteht, wie man dieses Anwesen verwaltet, dann gibt es
doch Gebiete, auf denen seine Erfahrung unschlagbar ist, Dinge, auf
die er sich meisterlich versteht…«
Zelda Marie hatte sich wieder gefangen, und jetzt kicherte sie. »Und
wie! Das kann ich dir versichern.« Carly sah ihre Freundin an und
dann lachte sie ebenfalls. »Und was ist, wenn er mich nicht haben
will?«
»Welche Frau außer dir hat er in all den Jahren, seit du ihn kennst,
auch nur eines Blickes gewürdigt?«
»Soweit ich weiß, keine.«
»Wie stehen die Kinder zu ihm?«
»Für sie ist er eine Selbstverständlichkeit. Ich glaube nicht, daß sie
etwas über uns wissen.«
Carly hatte ihre Bohnen und ihren Reis aufgegessen und wischte
gerade die letzten Tropfen Sauce mit einer Weizenmehltortilla von
ihrem Teller auf. »Zelda Marie, du bist einer der naivsten Menschen,
die mir je begegnet sind. Fürchtest du etwa, sie würden nicht
gutheißen, was sich schon seit ihrer frühesten Kindheit vor ihren
eigenen Augen abspielt?«
Zelda Maries Kiefer klappte herunter. »Du glaubst, sie wissen es?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, daß alle darüber Bescheid wissen.«
»Weiß deine Mutter etwas davon?« Carly nickte. »Ja,
selbstverständlich.«
»Und Mister Davis?« Sie nickte wieder.
»Und sie verurteilen mich nicht dafür?«
»Wem steht es zu, sich ein Urteil über dich anzumaßen? Ist es etwa
das, was in all diesen Jahren zwischen dir und Rafael gestanden hat?
Was die Leute dazu sagen könnten?«
»Und das predigst ausgerechnet du mir! Denk doch nur an die Zeit,
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in der du um die Anerkennung von Verity gerungen hast.« »Und ganz gleich, was ich auch getan habe, ich habe sie nicht bekommen. Erst als ich beschlossen habe, daß mich die Anerkennung anderer nicht im geringsten interessiert, hat man begonnen, mich zu akzeptieren. He, nichts auf Erden wird die Leute in Verity dazu bringen, dich auszustoßen. Deine Vorfahren waren unter den ersten Siedlern hier, und du hast haufenweise Geld. Ich sage es noch einmal: Nichts, was du tust, könnte Verity dazu bringen, dich zu verschmähen.« »Noch nicht einmal, wenn ich einen Chicano heirate? Sie werden ihn nicht in ihre Häuser einladen.« Carly schwieg und musterte ihre Freundin eine Weile. Dann fragte sie: »Spielt das denn überhaupt eine Rolle für dich?« Zelda Marie dachte eine Weile nach. »Was ist, wenn er nein sagt?« »Wäre es das Ende eurer Beziehung?« »Vermutlich fürchte ich genau das. Daß er mich entweder nicht genug liebt, um mich zu heiraten, oder daß mein Geld ihn einschüchtert.« »Tja«, entgegnete Carly achselzuckend, »es gibt Zeitpunkte, da wir handeln müssen, statt einfach nur abzuwarten, was uns das Leben als nächstes bringt und was sich wohl von selbst ergeben wird, und dann müssen wir bereit sein, alles aufs Spiel zu setzen.« »Ich werde heute abend mit ihm reden«, sagte Zelda Marie. Erst auf der Heimfahrt wurde Carly klar, daß sie gar nicht dazu gekommen waren, das Für und Wider von Zelda Maries Plan zu erörtern, ihr Haus in ein Krankenhaus für Mexikaner umzuwandeln. Als Zelda Marie auf diese Idee zu sprechen gekommen war, hatte sie gesagt: »Fürs erste könnten wir den anderen Flügel des Hauses zu diesem Zweck herrichten und einen Arzt und eine Krankenschwester engagieren. Und selbst wenn wir acht Zimmer für uns behalten, hätten wir ein Krankenhaus mit sechzehn bis zwanzig Betten, und es wäre immer noch Platz für einen Operationssaal, das Sprechzimmer und den Untersuchungsraum, eine Küche und ein Büro.« Offensichtlich hatte sie sich schon eine Menge Gedanken darüber gemacht. Sie habe ihre Idee bis in alle Einzelheiten mit Rafael besprochen, hatte Zelda Marie zu ihr gesagt. Wenn sie so darüber nachdachte, war sich Carly keineswegs sicher, wessen Idee dieses Vorhaben ursprünglich gewesen war. Nachdem Carly aufgebrochen war, ließ sich Zelda Marie auf der hölzernen Schaukel auf der Veranda nieder und starrte in die 444
Dunkelheit hinaus. Sie fragte sich, ob Carly recht hatte und inwieweit sie ihr Glück aufs Spiel zu setzen wagte. So, wie die Dinge liefen, war sie glücklich. Und doch, gestand sie sich ein, rechnete sie jedes Jahr erneut damit, daß Rafael seine Sachen packte und fortging, zurück nach Mexiko, oder ihr mitteilte, daß er ein dunkelhaariges Mädchen mit schwarzen Augen heiratete. Er hatte ihr nie gesagt, daß er sie liebe. Von dem Moment an, in dem sie sich von diesem Joel Sowieso verabschiedet hatte, war ihr klar gewesen, daß Rafael der einzige Mann war, der sie interessierte. Und das war schon lange her. Er kam aus dem Stall ins Haus. Sie hörte, wie er in der Küche die Kühlschranktür öffnete, um sich eine Dose kaltes Bier herauszuholen. Er würde in der Küche bleiben, bis er sein Bier ausgetrunken hatte, und dann die Lichter ausschalten und leise die Treppe in sein Zimmer hinaufsteigen. Nachdem er geduscht hatte, würde er durch die Eingangshalle zu ihrem Schlafzimmer gehen, wo sie auf ihn wartete. »Rafael!« rief sie. Besiegelte sie gerade ihr eigenes Los? Würde er ihr den Rücken zukehren und gehen? Würde er wütend auf sie werden? Er tauchte in der Tür auf und schaute in die Nacht hinaus. Dann kam er zu ihr, die Bierdose in der linken Hand. Sie konnte seine Augen nicht sehen, doch die wußte, daß er sie fragend anschaute. »Es ist ein wunderschöner Abend«, sagte sie. Er nickte stumm. Dann stellte er das Bier auf das Geländer der Veranda, zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz ins Gras. Sie wollte ihn gern fragen, warum er blieb. Wegen der Pferde? Oder weil er nirgendwo anders hinkonnte? Doch was sie statt dessen sagte, war: »Ich liebe dich, Rafael.« Er rührte sich nicht von der Stelle, doch er atmete tief ein, griff nach seiner Bierdose und trank einen Schluck. »Ich weiß.« Er drehte sich abrupt zu ihr um. »Claro. Natürlich.« »Was soll das heißen – natürlich?« Er lachte, ein lieblicher, melodischer Klang. »Wie sonst nennt man das, was schon seit so vielen Jahren zwischen uns ist?« »Ich möchte dich nicht verlieren, Rafael.« »Ich dich auch nicht.« »Was bedeute ich dir, Rafael? Ich rede nicht von der Farm oder den Pferden. Ich spreche nur von mir. Von mir ganz allein. Was bedeute ich dir?« »Ich dachte, das wüßtest du.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich 445
weiß es nicht.« Er lief ein paar Schritte und lehnte sich an eine der Säulen. Jetzt konnte sie trotz der Dunkelheit den Umriß seines Kopfes erkennen. Er schnippte die Zigarette in die Nachtluft, und ihre brennende Spitze glühte im Gras. »Die Welt.« Sie schloß die Augen, da sie glaubte, das könnte vielleicht dazu beitragen, ihr Herz wieder langsamer schlagen zu lassen. »Heirate mich, Rafael.« Das Schweigen lastete so schwer auf ihnen, daß sie glaubte, es wiegen zu können. »Ich werde dich nicht verlassen«, sagte er schließlich. »Du brauchst mich nicht zu heiraten.« »O Rafael.« Sie stand auf, ging auf ihn zu, legte die Arme um ihn und schmiegte den Kopf an seine Brust. »Wir hätten schon vor Jahren miteinander reden sollen. Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß du ein Zimmer auf der anderen Seite der Eingangshalle hast, und es paßt mir auch nicht, daß wir allen etwas vormachen müssen. Ich mag es nicht, daß du deine Mahlzeiten in der Küche zu dir nimmst und dich wie ein Dienstbote verhältst. Ich will dich zum Mann haben, zum Ehemann.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr tief in die Augen. »Das würde sich nicht gehören. Die Leute in der Stadt werden…« »Das ist mir egal, Rafael. Du bist meinen Kindern der beste Vater, den man sich denken kann, und mir die größtmögliche Hilfe und der beste Partner. Ohne dich hätten wir niemals Rennen und Züchterprämien gewonnen und diesen herausragenden Ruf unseres Stalls erworben. Wir…« »Ich will nicht, daß du mich nur deshalb willst, weil ich deine Pferde trainiere«, sagte er lachend. »Ich will dich«, entgegnete sie, »weil du den schönsten Körper auf der ganzen Welt hast. Ich will dich, weil du mir das Gefühl gibst, schön zu sein, und ich will dich auch, weil ich den Gedanken nicht ertrage, daß eine andere Frau dich bekommt, solange ich lebe.« »Ich werde dich für den Rest deines Lebens lieben«, sagte er und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. »Ganz gleich, ob wir miteinander verheiratet sind oder nicht.« »Hättest du gern eine katholische Hochzeit?« fragte sie. Er sah ihr in die Augen. »Dann ist es dir also Ernst damit? Nun, in dem Fall ja, aber nicht etwa, weil ich gläubig bin, sondern damit all unsere Freunde kommen und sich für mich freuen. Sie wären andernfalls schockiert.« Er wollte seine Freunde nicht schockieren? Darüber 446
mußte Zelda Marie laut lachen. »Laß uns noch warten, bis Sally Mae nächsten Monat von der Uni nach Hause kommt«, sagte sie. Sie hatte die Eingangshalle für perfekt gehalten, um dort die Hochzeiten ihrer Kinder zu feiern. Nun, wenn das so war, dann war sie ja wohl auch gut genug für ihre eigene Hochzeit. Sie würde Carly bitten, ihre Trauzeugin zu sein, und vielleicht auch noch Aofrasia. Und ihr Vater würde sie zum Altar führen. Sie wußte, daß ihre Mutter keine Einwände gegen diese Heirat erheben würde, und sie hoffte, daß dies auch auf ihren Vater zutraf. Er hatte wahrhaftig genug Zeit gehabt, Rafael kennenzulernen, ganze zwölf Jahre. Aber vielleicht würde der Geistliche auch verlangen, daß sie sich in der Kirche trauen ließen. Dann würde es eben anschließend die Feier hier geben. Sie konnte es kaum erwarten, Carly die Neuigkeiten zu erzählen. Oh, wäre dieses Gespräch mit Carly heute nicht gewesen! Und dabei hatte sie sie eigentlich eingeladen, um mit ihr über ihre Pläne für das Krankenhaus zu reden… »Ich werde dich lieben«, flüsterte Rafael. »Jetzt sofort.« Er hob sie auf seine Arme und trat das Fliegengitter auf. Während er sie die lange geschwungene Treppe hinauftrug, sagte er: »So etwas wäre in Mexiko absolut undenkbar. Eine Frau, die einem Mann einen Heiratsantrag macht. Was für ein wunderbares Land! Und ich nehme deinen Antrag an.« Er hatte den oberen Treppenabsatz erreicht und trug sie zu ihrem Schlafzimmer. »Ich werde dich heiraten. Ich werde dich lieben und ehren, wie ich es schon seit der ersten Woche nach meiner Ankunft hier getan habe.« »Zelda Marie Hernandez«, sagte sie. »Wenn das nicht wunderbar klingt.« Als er ihre Bluse aufzuknöpfen begann, kicherte sie. »Warte noch einen Moment. Du mußt mir versprechen, daß ich ab sofort mit euch allen zusammen in der Küche essen darf.« »Ah, mi corazón«, sagte er, und seine Augen lachten. »Von jetzt an werden wir alles, was wir machen, nur noch gemeinsam machen.« Und dann biß er unendlich zart in ihr Ohrläppchen.
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70 Cole tat nichts, was nicht Michael Milkin und ander Spar- und Darlehenskassen überall in den Vereinigten Staaten auch taten. Was erstmals die üblen Machenschaften der Spar- und Darlehenskasse Destin ahnen ließ, war, daß sie damit warb, ihre Schuldtitel würden zwei Prozent mehr Zinsen einbringen als Einlagenzertifikate. Zwölftausend Rentner, von denen die meisten jeden Monat nach Destin kamen, um Hypotheken zu tilgen, konnte man mit diesem höheren Zinssatz ködern. Die Schalter angestellten in Destin redeten den Kunden ein, diese Schuldtitel seien ebenso sicher wie Einlagenzertifikate, die von der Regierung abgesichert waren. Wie die American Continental Corporation zu ihren Vertretern in Kalifornien ganz richtig sagte: »Die Schwachen, die leicht zu Verunsichernden und die Dummen sind immer geeignete Opfer.« Cole formulierte es nicht so. Er sah es noch nicht einmal so. Für ihn war es lediglich eine Möglichkeit, die Reform für sich zu nutzen und Kohle und immer noch mehr Kohle zu machen, nur sprach er nicht von Kohle, sondern drückte sich in Dollar aus. Tiffany dagegen dachte nur an Kohle. Selbst dann noch, als auf den Olboom eine absolute Flaute folgte, waren die Spar- und Darlehenskassen weiterhin sicher, ihr Glück würde bis in alle Ewigkeit anhalten. Kongreßabgeordnete im ganzen Land veranlaßten die Prüfstellen der Regierung, ihre Ermittlungen bei den Spar- und Darlehenskassen einzustellen. Als der Dominoeffekt einsetzte, verloren Millionen von Menschen Milliarden von Dollar an ihren Investitionen in Schuldtiteln, und die Bundesregierung hatte die ganze Geschichte auszubaden, als die Spar- und Darlehenskassen ihren Geschäftsbetrieb einstellten und man für Einlagen aufkommen mußte, die jeweils bis zu hunderttausend Dollar von der Regierung abgesichert waren. Die Generaldirektoren und Vorstandsmitglieder dieser Sparkassen hatten ihre Tantiemen längst im Ausland oder in anderen Projekten angelegt, an die die Regierung nicht herankam oder von denen sie zumindest die Finger ließ. Neil Bush, der Sohn des Präsidenten, kam wie auch Tausende anderer, die daran beteiligt waren, ungeschoren davon, Charles Keating und Michael Milkin aber machten in den Zeitungen des ganzen Landes Schlagzeilen und landeten im Gefängnis. Der Durchschnittsamerikaner verstand noch nicht einmal, worum es bei 448
alldem überhaupt ging, doch man teilte der Bevölkerung mit, daß jeder einzelne über lange Jahre hinweg Schulden in Höhe von Tausenden von Dollar abtragen müsse. Ein Teil der Steuern, die von ihren wöchentlichen Lohnschecks abgezogen wurden, ging dafür drauf, Besitzern von Einlagenzertifikaten bei diesen Spar- und Darlehenskassen ihr Geld zurückzuerstatten. Tatsächlich verhielt es sich so, daß jeder einzelne Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten, der einen Lohn- oder Gehaltsscheck bezog, über soundso viele Jahre soundso viele Stunden täglich dafür arbeitete, daß sich die skrupellosen Kapitalisten schadlos hielten, die die amerikanische Öffentlichkeit geprellt hatten und ungestraft davongekommen waren. Carly hatte alles verloren, was Cole ihr noch schuldete, da er ihr Geld in seinen Schuldtiteln angelegt hatte. Sie wußte verdammt gut, daß er sein eigenes Geld anderswo in Sicherheit gebracht hatte, aber das konnte sie ihm nicht nachweisen. Sie war schon wütend genug wegen des Geldes, das Cole ihr gestohlen hatte, doch die Vorstellung, daß sie so lange Zeit mit einem Mann zusammengelebt hatte, der sich jetzt als unglaublich amoralisch erwies, trieb sie zur Raserei. Sie faßte jedoch ganz bewußt den Entschluß, sich nicht davon beeinträchtigen zu lassen, sondern ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Carly gab der First National Bank von Verity, Texas, eine neue Richtung. Sie und Walt waren mit ihrer neuesten Idee – genaugenommen war es Carlys – an den Direktor der High-School herangetreten. Carly und Zelda Marie hatten bis in alle Einzelheiten darüber gesprochen, was erforderlich war, um ein Krankenhaus mit Personal zu besetzen. Ihnen war klar, daß kein Arzt Lust haben würde, sein gesamtes Berufsleben ausgerechnet in einem winzigen Krankenhaus zu verbringen, das sich in einer Stadt mit einer Bevölkerung von nur sechstausend Einwohnern, von denen mindestens drei Fünftel Gringos waren – und auch noch in einem Krankenhaus nur für Chicanos. Und wenn ein junger Arzt noch so idealistisch war und seinen Leuten helfen wollte, so würde dieses Projekt doch keinen Arzt fürs Leben halten können. Und so kam Carly auf folgende Idee: Wenn die High-School in Verity jedes Jahr einen herausragenden Schüler mexikanischer Abstammung aufzubieten hätte, der intelligent genug war, um von einer angemessenen Ausbildungsstätte angenommen zu werden, und der außerdem noch Arzt werden wollte, dann würde ihm die Bank sowohl das vorbereitende College 449
als auch das Medizinstudium und das Klinikum bezahlen. Bedingung war allerdings, daß dieser Student anschließend zurückkam, um zwei Jahre lang in Zelda Maries Krankenhaus zu praktizieren. Das hieß natürlich, daß die Bank mindestens jedes zweite Jahr jemandem ein Medizinstudium finanzieren würde, vorausgesetzt, man fand in einem Jahrgang einen geeigneten Schüler. Der Preis der First National Bank würde nicht länger die Belohnung sein, die Carly damals erhalten hatte – hundert Dollar für ihre herausragenden schulischen Leistungen –, sondern jemandem würde eine zehnjährige Ausbildung finanziert werden. »Nichts, was die Mühe wirklich lohnt, läßt sich jemals mit großer Hast erreichen«, sagte Walt zu Carly, als es sie frustrierte, wieviel Zeit dafür drauf ging, das Projekt in die Tat umzusetzen. »Was hältst du davon, in der Zwischenzeit Annoncen aufzugeben und zwei oder drei Krankenschwestern zu suchen? Es gibt bestimmt etliche, denen eine Gelegenheit willkommen wäre, nicht länger nach der Pfeife von Ärzten zu tanzen, sondern eigene Entscheidungen treffen zu können. Ich wette, mehr Babys werden von Krankenschwestern zur Welt gebracht als von Ärzten. Krankenschwestern können Verletzungen von Messerstechereien nähen, und wenn es darum geht, eine Diagnose zu stellen, sind sie den meisten Ärzten, zumindest in alltäglichen Routineangelegenheiten, ebenbürtig.« Carly und Zelda Marie waren nach Houston gefahren und hatten dort zwei Krankenschwestern gefunden, eine Ende Dreißig, die andere Anfang Vierzig, beide geschieden. Es waren Frauen, denen diese Herausforderung willkommen war. Am 1. Juni sollten sie in Verity eintreffen. Die Ärzte der Klinik eröffneten ihre Praxis am 1. Juli, nachdem die Krankenschwestern da waren und für die Krankenhausbetten, die Laken, das Röntgengerät, die Medikamente und all die anderen Kleinigkeiten gesorgt war. Ein Arzt in Corpus Christi erklärte sich bereit, seinen Namen zur Verfügung zu stellen, und erbot sich auch, einen Sitz im Aufsichtsrat zu übernehmen, damit sie Zugang zu den nötigen Medikamenten hatten. Er hatte zugesagt, seine Donnerstage in der Klinik zu verbringen, um sich der Fälle anzunehmen, die den Krankenschwestern Rätsel aufgaben, aber auch, um als Verbindungsmann zu einem Krankenhaus in Corpus Christi zu dienen, falls einer der Patienten einer speziellen Behandlung oder Pflege bedurfte. Eduardo Luna gefiel es, was sie dort vorhatten. Sein Urgroßvater war Sam Houstons Hausarzt gewesen. Er war Texaner der fünften Generation und hatte seine 450
medizinische Ausbildung in Cornell erhalten. Außerdem war er einer der meistbeschäftigten Männer in Corpus Christi, doch es gelang ihm trotzdem, sich einen Tag in der Woche dafür freizuhalten, den Chicanos von Verity zu helfen. Er bot an, zweimal monatlich einen Zahnarzt und einen Augenarzt nach Verity zu schicken und Brillengläser für diejenigen, die sie brauchten, zum Selbstkostenpreis zur Verfügung zu stellen. Zudem schlug er vor, daß zwei seiner Freunde jeden Dienstagabend nach Verity kommen und dort ein Treffen der Anonymen Alkoholiker veranstalten sollten. »Wenn der Alkohol und die Zigaretten nicht wären«, sagte er, »wären die meisten von uns Ärzten arbeitslos.« Zelda Marie ging derart in ihrem neuen Projekt auf, daß Rafael das Trainieren der Pferde im Alleingang übernahm. Der Ruf ihres Stalls drang bis nach Virginia, Kentucky, Kalifornien und überall dort hin, wo Nachfrage an qualitativ hochwertigen Arabern bestand. Wagen mit Pferden, die Rafael trainieren sollte, trafen aus allen Teilen der Vereinigten Staaten ein. Rafael hatte seine Sachen nun in der einen Hälfte des großen Kleiderschranks in Zelda Maries Ankleidezimmer untergebracht. Und Zelda Marie aß jetzt in der Küche. Wenn sie Gäste hatten, Leute, die ihre Pferde nur zu dem Zweck, sie von Rafael trainieren zu lassen, Hunderte und ab und zu sogar Tausende von Meilen transportiert hatten, oder Männer und Frauen, die gekommen waren, um sich die Pferde anzusehen, welche die beiden zum Verkauf oder zur Zucht anboten, dann nahmen Rafael und Zelda Marie an den gegenüberliegenden Kopfenden des langen Tischs im Eßzimmer Platz und dinierten stilvoll, obwohl sie und ihr frisch angetrauter Ehemann Jeans und Stiefel trugen. Rafaels Stiefel kosteten jetzt jedoch dreihundertfünfzig Dollar pro Paar. Carly war verwundert darüber, wie wohl sie sich fühlte. »Und das ausgerechnet in Verity.« Zum fortwährenden Erstaunen des Stanford Medical Center in Palo Alto hatte Francey im Kampf gegen den Krebs gesiegt. Walt ging ab und zu mit Matt zum Fischen. Carly sagte sich immer wieder, daß es Zeit wurde, ein Haus für sich und Matt zu suchen, und es sei einfach lachhaft, wenn man mit Zweiundvierzig immer noch bei seinen Eltern wohnte, aber es war ein so angenehmes Leben. Mit Walt redete sie jeden Abend über das Geschäftliche, und alles, was ihre Mutter kochte, schmeckte ihr unglaublich gut. Matt hatte hier sein Pferd und seine Reitmanege, und dann war da auch noch der Pool, in 451
den sie täglich, wenn sie von der Arbeit heimkam, sprang. Mit jedem Tag, der verging, nahm der Reiz, den ihr Job auf sie ausübte, nur noch mehr zu. Walt drängte sie, Bankierstreffen im ganzen Land zu besuchen, und sie empfand das, was sie dort lernte, als spannend und geistig anregend, aber auch die Menschen, denen sie da begegnete, faszinierten sie. Sie und Matt fuhren jeden Monat nach Aransas Pass, um Ben zu besuchen, und je besser sie Meryl kennenlernte, desto mehr mochte Carly sie. Sie verspürte nicht mehr die geringste Eifersucht auf sie, und die Kinder der beiden waren einfach entzückend. Oft mußte Carly darüber lachen, welche Wendungen ihr Leben eingeschlagen hatte. Keine dieser Wendungen war jedoch so komisch wie die, daß sie eines Tages am frühen Abend, als sie vor dem Abendessen im Pool schwamm, aufblickte und Boomer auf der Terrasse stehen sah. »Sogar mit klatschnassem Haar siehst du noch gut aus«, sagte er und lächelte sie an. »Na, so was, Boomer Bannerman. Das freut mich aber riesig.« Er kniete sich hin. »Francey hat gesagt, es gebe genug zu essen, und ich könne ruhig zum Abendessen bleiben.« »Das ist eine krasse Untertreibung. Es gibt selbst dann genug zu essen, wenn du einen vollen Monat bleibst.« Carly schwamm auf Boomer zu, und er streckte ihr einen Arm entgegen, um ihr zu helfen, als sie die Stufen hinaufkletterte und aus dem Pool stieg. »Ich schwöre es dir, Carly, du siehst noch genauso gut aus, wie du mit Siebzehn ausgesehen hast.« »Ja, klar«, sagte sie und bespritzte ihn mit Wasser, als sie ihren Kopf energisch schüttelte. In dem Moment kam Walt zur Küchentür heraus und brachte ihnen Drinks. »Ich soll euch von Francey ausrichten, daß wir in zwanzig Minuten zu Abend essen.« »Ich bin hier, weil ich Rat brauche«, sagte Boomer, und Carly fiel auf, daß seine Blicke über ihren ganzen Körper glitten, obwohl er sich bemühte, es zu verbergen. »Aus demselben Grund bist du letztesmal auch hergekommen, vor etwa einem Jahr.« »Aber diesmal brauche ich einen ganz anderen Rat.« Er reichte ihr eine der Margaritas, die Walt zubereitet hatte, und ihre Hände berührten sich. Carly lächelte. »Ich freue mich jedesmal riesig, dich zu sehen, Boomer.« Sie hob ihr Glas und stieß klirrend mit ihm an. »Auf alte Freundschaften. Allein schon dein Anblick tut mir gut.« 452
»Ich habe mir sagen lassen, du seist so ziemlich die bedeutendste Persönlichkeit in Verity.« Sie fuhr sich mit einer Hand durch das nasse Haar. »Der Meinung sind nur diejenigen, die Kredite haben wollen. Aber ich bin glücklich, Boomer. Ich bin so glücklich, daß es mich schon fast nervös macht.« »Du bist ein Vorbild für alle, Carly, die Verletzungen davongetragen haben und jetzt sehen, wie du dich hältst. Du hast so viel verloren.« Das Gefühl, das sich in ihrer Magengrube breitmachte, sagte Carly deutlicher als alle Worte, daß Boomer und Alex sich getrennt hatten. Beim Abendessen, als er es ihnen dann offiziell mitteilte, schien er keineswegs außer sich zu sein. »Es ist schon drei Monate her«, sagte er. »Allmählich stelle ich mich darauf ein. Wir haben gemeinsames Sorgerecht für die Kinder vereinbart. Es könnte jedoch sein, daß von meiner Seite aus neue Komplikationen auftreten, weil ich nämlich mit dem Gedanken spiele, aus Houston fortzugehen.« Sie sahen ihn alle an und warteten darauf, daß er weitersprach. »Ich habe das alte Haus zurückgekauft«, berichtete er. »Du ziehst wieder hierher!« Carly konnte ihre Freude nicht verbergen. »Ist das wahr?« fragte Francey. »Ja. Ich werde mir die Zeit nehmen, es in aller Ruhe zu renovieren, damit es so aussieht wie früher, in meiner Kindheit. Das wird mir das Gefühl geben, irgendwo verwurzelt zu sein, ganz zu schweigen davon, daß ich es für ein Butterbrot bekommen habe.« Das konnte sich Carly gut vorstellen. Es wurde schon seit langer Zeit zum Verkauf angeboten, doch niemand wollte ein so großes Haus haben, und schon gar nicht, wenn derart viel daran zu machen war. »Das hört sich für mich aber alles gar nicht danach an, als ob du Rat brauchen würdest. Du hast das Haus doch schon gekauft«, sagte Carly. Sie fand es wunderbar, Boomer in Verity zu haben. »Das kommt erst noch«, entgegnete Boomer, sah dabei jedoch Walt und nicht Carly an. »Mel Tibbs will verkaufen.« Er sprach von der Eisenwarenhandlung, die Mel mehr als vierzig Jahre lang besessen hatte. »Ich habe davon gehört. Haben Sie etwa Interesse daran?« »Die Vorstellung reizt mich. Mit dem Bauen und mit Baumaterial kenne ich mich aus. Ich könnte den Leuten gute Ratschläge geben.« Carly schnappte hörbar nach Luft. Der Mann, der nicht nur in Houston, sondern weltweit für viele der innovativsten Gebäude verantwortlich war, der so viele Hotels hochgezogen, Grundstücke 453
erschlossen und Siedlungen darauf erbaut und Einkaufszentren aus dem Boden gestampft hatte, ausgerechnet dieser Mann wollte sich jetzt in Verity in eine kleine dunkle Eisenwarenhandlung setzen? Er wirkte so fröhlich wie ein Kind auf seiner eigenen Geburtstagsfeier. »Halten Sie das für eine gute Investition?« fragte Boomer Walt. »Ich meine, ich würde den Laden wahrscheinlich vollständig ausräumen und innen alle Wände rausbrechen, um etwas Helles und Luftiges hinzustellen. In diesem dunklen Loch hielte ich es beim besten Willen nicht aus. Zeb Morris hat Interesse daran, weiterhin da zu arbeiten. Er war schon dort, als ich noch ein kleiner Junge war.« Walt nickte. »Das wäre natürlich gut. Es stimmt schon, zur nächsten Eisenwarenhandlung muß man mehr als fünfundzwanzig Meilen nach Norden fahren. Ich weiß nicht, was Verity ohne eine Eisenwarenhandlung anfinge.« »Ich hatte noch genug Geld übrig, um unser altes Haus und die Eisenwarenhandlung zu erwerben«, sagte Boomer, »aber ich muß dann auch davon leben können. Ich wüßte gern, ob das Ihrer Meinung nach möglich ist.« »Mel hat davon gelebt, so weit ich zurückdenken kann.« Walt nickte bedächtig. »Das hängt natürlich auch davon ab, welche Erwartungen man an seinen Lebensstandard stellt.« »Ich nehme an, das spielt sogar eine entscheidende Rolle«, sagte Boomer. »Kannst du dir ein Pferd leisten?« fragte Matt. »Ich glaube schon, daß ich mir ein Pferd leisten kann.« Er lächelte, und dann sah er über den Kopf des Jungen hinweg zum erstenmal, seit sie am Eßtisch saßen, Carly direkt an. »Was meinst du dazu, Carly? Hältst du das für eine gute Idee?« »Das ist die beste Idee, Boomer, die ich gehört habe, seit Zelda Marie sich das Krankenhaus ausgedacht hat.« Sie trank einen Schluck von ihrem koffeinfreien Kaffee. »Und unter einem rein persönlichen Gesichtspunkt gefällt mir diese Idee sogar noch viel besser.« »Wirklich?« Jetzt strahlte er. »Ja, wirklich.«
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71 Carlys Sekretärin sagte: »Mister Coleridge ist auf Apparat eins.« Es gab nur einen Apparat. Carly nickte und nahm den Hörer ab. »Ben?« »Ja.« Sie konnte deutlich spüren, daß er lächelte. »Und welchem Umstand habe ich dieses Vergnügen zu verdanken?« »Ich muß geschäftlich nach Corpus Christi fahren, und ich hoffe, daß ich dich dazu überreden kann, rüberzukommen und dort mit mir zu Mittag zu essen.« »Warum kommst du nicht zu uns und bleibst über Nacht?« Sie wußte, daß Ben und Meryl inzwischen eine Vierzimmerwohnung mit Meerblick gekauft hatten. »Ich möchte mich gern mit dir unterhalten.« »Ach so, du meinst allein. Ja, gern, Carly. Es ist schon viel zu lange her.« Seit seiner Hochzeit hatte sie ihn nicht mehr allein gesehen, und inzwischen hatte er bereits zwei Kinder. »Ich werde früh hier losfahren, da ich für meinen geschäftlichen Termin gut zwei Stunden einplanen muß. Was hältst du von einem Mittagessen um halb zwei?« fragte sie. Sie einigten sich auf den kommenden Donnerstag und auf ein Restaurant. Sie ließ nicht zu, daß ihr Herz flatterte, als sie ihn sah. Obwohl sie am späten Nachmittag nach Verity zurückfahren würde, erlaubte sie sich eine Margarita, etwas, was sie sonst um die Mittagszeit nie tat. Nun, schließlich waren Grundsätze dazu da, daß man gegen sie verstieß. Seine Heirat hatte nicht dazu geführt, daß er Matt weniger oft sah, und Matt hatte Meryl mittlerweile sehr liebgewonnen. Wenn der Junge zu Besuch kam, ließ Ben sich immer Zeit für ihn allein und ging mit ihm fischen. Matt mußte die Köder an Bens Angelhaken befestigen und ihm helfen, den Fisch vom Angelhaken zu nehmen, wenn er etwas fing. Vielleicht war es nicht gerade das, was für die meisten Leute den größten Reiz am Fischen ausmachte. Ab und zu fuhr Carly mit Matt rüber und blieb über Nacht dort. Aber obwohl sie Meryl mochte und verstehen konnte, weshalb Ben bei ihr sein Glück gefunden hatte, verspürte sie in Gesellschaft der beiden doch immer eine Spur von Unbehagen. Nachdem sie das Mittagessen bestellt hatten, streckte Ben seine rechte Hand über den Tisch und legte sie auf Carlys linke. »Du siehst 455
so bezaubernd aus wie eh und je. Das Leben im guten alten Verity
scheint dir zu bekommen, stimmt’s?« Sie lächelte. »Stimmt genau.«
Und dann holte sie tief Atem und rückte ohne jede Vorwarnung mit
dem Grund ihres Anrufs heraus. »Weiß Meryl etwas von uns
beiden?«
»Von uns beiden?« Seine blauen Augen bohrten sich in ihre. »Ach
so, du meinst Matt. Natürlich weiß sie das. Sie hat es schon gewußt,
ehe wir geheiratet haben.«
»Soll das heißen, als wir alle zu deiner Hochzeit angereist sind, hat
sie es schon gewußt?«
Ben nickte. »In den meisten Dingen, Carly, bin ich von einer
geradezu taktlosen Aufrichtigkeit. Ja, ich hatte das Gefühl, sie sollte
es erfahren.«
Das Gewicht, das auf Carlys Brust gelastet hatte, fiel von ihr ab. »Ich
bin ja so froh. Dadurch wird alles gleich viel leichter.«
Ben neigte den Kopf zur Seite, und eine Locke fiel ihm in die Stirn.
»Was wird dadurch viel leichter?«
»Ich möchte es Matt sagen.« Ben starrte sie wortlos an. »Ich meine«,
fuhr sie eilig fort, »ich werde es natürlich nicht tun, wenn du nicht
willst, daß er es erfährt. Vielleicht möchtest du vorher mit Meryl
darüber reden.«
»Warum, Carly?« Der Ausdruck seiner Augen blieb unverändert,
doch seine Stimme war brüchig. »Ich will, daß er stolz auf seinen
Vater sein kann. Er und Cole sind nie miteinander ausgekommen,
damit sage ich dir ja nichts Neues. Da diese ganze Geschichte publik
geworden ist und alle Welt weiß, wie viele Leute Cole geschäftlich
reingelegt hat… und da Cole und ich jetzt…«
»Der Junge ist erst dreizehn. Glaubst du, er kann das verkraften, daß
wir beide miteinander Ehebruch begangen haben?«
»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.«
»Ich glaube, er wird mir verzeihen, weil er sich dich als Vater
wünscht. Er hat sich schon immer gewünscht, du wärst sein Vater.
Du und Walt, ihr seid die beiden Menschen, die er mehr als jeden
anderen bewundert und respektiert.«
»Ich habe das Gefühl, dich respektiert er auch.« Einen Moment lang
sagte sie nichts, doch dann fuhr sie fort, um ihre Verlegenheit zu
überspielen: »Ich habe mich in dich verliebt, Ben. Ich glaube nicht,
daß ich mir damals erlaubt habe, es mir einzugestehen, aber es ist
einfach wahr, daß ich mich damals in dich verliebt habe. Heute weiß
ich es.«
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»Und ich bin schon seit dem Abend in dich verliebt gewesen, an dem ich dir zum erstenmal begegnet bin. Ich hielt dich für die schönste Frau, die ich je gesehen habe.« Sie blickten einander lange an. Erst als der Kellner den Salat brachte, wurden sie aus ihrer Trance herausgerissen. Carly lachte verlegen. Fast hätte sie ihm erzählt, daß sie sich in dem Moment entschlossen hatte, mit Matt zu ihm zu kommen, als er ihr von seiner bevorstehenden Hochzeit berichtet hatte, doch sie hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. »Matt wird natürlich Fragen stellen, auf die wir keine Antworten haben. Aber ich glaube, er wird sich riesig freuen, wenn er erfährt, daß du sein Vater bist.« »Du willst jetzt also wissen, wie ich dazu stehe und wie Meryl meiner Meinung nach dazu steht?« Sie nickte. Ihren Salat hatte sie bisher noch nicht angerührt. Ben begann zu essen. »Ich bin glücklich verheiratet, Carly. Es mag zwar vielleicht nicht die große Leidenschaft sein, die du in mir wachgerufen hast, aber Meryl und ich mögen und lieben einander. Und wenn ich sie auch nicht so liebe, wie ich dich geliebt habe – und wie ich es wahrscheinlich immer noch tue, dann doch auf eine Weise, die bewirkt, daß ich nicht mehr diese Sehnsucht nach dir verspüre, die mich jahrelang gequält hat. Ich bin glücklich mit ihr und den Kindern. Ich weiß, daß sie mehr für mich empfindet als ich für sie, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich sie liebe. Und ich bin mehr als zufrieden mit meinem Los im Leben. Wir sind beide sehr froh darüber, daß wir aus Washington fortgegangen sind. Abgesehen davon, daß sie die Kinder großzieht, leistet sie harte Arbeit in Umweltprojekten, sowohl auf der lokalen Ebene unserer Kleinstadt als auch landesweit. Ihr gefällt es gut in Aransas Pass. Wir haben ein schönes Leben miteinander.« Sie hörte seine Worte. »Das schmälert jedoch in keiner Weise meine Liebe zu Matt… und zu dir, Carly. Es heißt nur, daß ich meine Frau nicht betrügen möchte, obwohl dein Anblick immer noch Verlangen in mir weckt.« »Und möglicherweise würde ich dich auch nicht mehr lieben, wenn du bereit wärst, sie zu betrügen.« Sie lächelten einander an und aßen schweigend, bis der Kellner ihnen das Hauptgericht servierte. Beide hatten Flunder mit neuen Kartoffeln und in Butter geschwenkten Karotten bestellt. »Ich habe daran gezweifelt, daß du irgend etwas tun könntest, was bewirkt, daß ich dich noch mehr liebe. Aber damit hast du es geschafft. Es würde mich mit großem Stolz erfüllen, Carly, wenn 457
Matt erführe, daß ich sein Vater bin. Selbst dann, wenn er erst mal
nicht sehr gut über uns beide denkt…«
»Das wird er nicht tun. Möglicherweise wird er es nicht verstehen,
noch nicht einmal später, wenn er erwachsen ist, aber das Wissen,
daß du sein Vater bist, wird ihn mit einem Stolz erfüllen, den er nie
verspürt hat, solange er Cole für seinen Vater gehalten hat.
Außerdem könnte er sich dann vielleicht besser erklären, warum er
sich Cole nie nahe gefühlt hat.«
»Wirst du es Cole sagen?«
»Das halte ich eigentlich nicht für nötig, was meinst du? Aber falls
jemals ein Zeitpunkt kommen sollte, zu dem es mir notwendig
erscheint… dann könnte ich es mir durchaus anders überlegen.«
»Es wäre nett, ihm diesen Hieb nicht zu versetzen. Er liegt ohnehin
schon am Boden und ist restlos erledigt.«
»Das hat er nur seinen eigenen schäbigen und unmoralischen
Machenschaften zu verdanken.« Carlys Worte kamen mit
ungewöhnlicher Schärfe heraus. Ben nickte. »Ich habe es Walt
erzählt. Schon vor zwei lahren.« Ben schien überrascht zu sein.
»Und jetzt würde ich es Mom gern sagen.«
»Und du glaubst nicht, daß Walt es ihr längst erzählt hat?« Sie
schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er weiß, daß ich es ihr selbst
erzählen würde, wenn ich wollte, daß sie etwas davon erfährt.«
Sie schwiegen beide eine Weile, dann fragte sie: »Fällt dir etwas
dazu ein, wie wir es unserem Sohn beibringen könnten?«
»Es wird ein Schock für ihn sein. Sollen wir es ihm vielleicht
gemeinsam sagen?«
»Würde das Meryl auch bestimmt nicht verletzen?« Ben dachte kurz
darüber nach. »Sie ist so selbstsicher, und sie setzt so viel Vertrauen
in unsere Ehe, daß ich glaube, sie wird sich Matt sogar noch mehr
verbunden fühlen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Laß mir ein
Weilchen Zeit, damit ich mit ihr reden kann. Was hältst du davon,
nächsten Freitag rüber zukommen und das Wochenende bei uns zu
verbringen? Dann werden wir beide uns mit Matt zusammensetzen,
und hinterher sind wir für ihn da, falls er uns braucht, weil er es nicht
gleich fassen kann.«
»Ben…«
Er zwinkerte ihr zu. »Ich weiß.«
»Was weißt du?«
»Daß du mich liebst.«
Sie lachte. »Ja, das ist wahr. Genau das wollte ich gerade sagen. Ich
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liebe dich wirklich.«
»Und ich liebe dich, Carly. Vergiß das bloß nie. Du bist ein Teil
meiner Seele. Und Matt ist ein Teil unseres Bluts.«
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72 »Comer See, Italien«, murmelte Carly, als sie den Umschlag öffnete. »Das muß von Tessa kommen.« Und so war es auch. Carly überflog die fliederfarbenen Seiten. Sie würde den Brief später noch einmal in Ruhe und mit größerer Konzentration lesen. »Die beiden kommen für einen Monat nach Hause und hoffen, daß es in Ordnung geht, uns zwei oder drei Tage zu besuchen. Ist das okay? Es wird einfach wunderbar werden.« Es war ein Samstagvormittag, und Carly und Francey hielten sich in der Küche auf. Francey hatte gerade zwei Stachelbeerkuchen aus dem Ofen geholt. Carly war damit beschäftigt, Kartoffelsalat zu machen, und Francey hatte zwei Sandwiches belegt, Schinken, dick mit Senf bestrichen, zwischen Scheiben von ihrem selbstgebackenen Pumpernickel. Seit sie Krebs gehabt hatte, ernährte sie sich bewußt nach einer sehr gesunden Diät, doch deshalb hatte sie noch lange nicht vergessen, wie man herzhaftere Kost zubereitet. Carly würde mit einem Picknickkorb zu Boomer gehen, der sein Haus gerade frisch verputzte. Er war nicht bereit, Arbeiter zu engagieren, obwohl Carly und Francey ihm händeringend erklärt hatten, es sei zu gefährlich, drei Stockwerke über dem Erdboden herumzuturnen. »Was soll’s?« hatte er grinsend gesagt. »Als wir diese Wolkenkratzer in Houston und Santiago gebaut haben, war ich viel höher oben und hatte viel weniger Halt.« Er wollte bei der Renovierung seines alten Hauses für jeden Quadratzentimeter selbst verantwortlich sein. Die beiden letzten Monate hatte er damit zugebracht, die Küche umzubauen, und jetzt war er dabei, Farbe von der Holztäfelung im Hausinnern abzukratzen, zu tapezieren und zu streichen. Diese Arbeiten erledigte er an den Abenden, nachdem er von der Eisenwarenhandlung zurückgekehrt war, die er in Bannerman’s umbenannt hatte, und an den Wochenenden. Er ging davon aus, daß dieses Vorhaben mindestens zwei Jahre erfordern würde. Verity hieß ihn willkommen wie einen siegreichen Helden. Die Hälfte aller Einwohner erinnerte sich noch an die Zeit, als Boomer dem Footballteam von Verity zu großem Ruhm verholfen hatte und der Star des Footballteams der University of Texas in Austin gewesen war. Außerdem hatten sie eine nicht gerade kleine Schwäche für seinen Vater gehabt. Boomer schien sich wohl zu fühlen. Nur eines machte ihm zu 460
schaffen, nämlich, daß er nicht täglich mit seinen Kindern Zusammensein konnte. Er ließ sie jeden Monat für ein Wochenende zu sich nach Verity kommen, und ein anderes Wochenende im Monat verbrachte er mit ihnen in Houston. Er und Alex gingen zivilisiert miteinander um, doch Alex schaffte es einfach nicht, aus der Überholspur auszuscheren und in einen langsameren Gang runterzuschalten. Es war ihr nie mehr gelungen, von neuem stolz auf Boomer zu sein. Er hatte seine gesamten Schulden abbezahlt, Geld, das er für Apartments aufgenommen hatte, die nie fertiggestellt worden waren, und für Gebäude, die im Rohbau dastanden, aber heute bekam er von niemandem mehr einen Kredit, der mit einem Handschlag besiegelt wurde, da er die Leute, die jetzt die Leitung der Banken übernommen hatten, nicht einmal mehr kannte. Sogar Union Trust war übernommen worden, und Kevin und Maude Coleridge hatten beschlossen, sich in Mexiko niederzulassen. Jedesmal, wenn die Kinder fürs Wochenende nach Verity kamen, schienen sie das provinzielle Leben ins Lächerliche zu ziehen, und doch liebten sie die Besuche auf der Ranch. Sie spielten mit einer Begeisterung, die sie nie zuvor an den Tag gelegt hatten, mit den anderen Kindern. Diane war eine ganz ausgezeichnete Reiterin, und sie sagte zu Zelda Marie, sie würde später auch gern mit Pferden arbeiten. Viel Glück, dachte Zelda Marie, aber da Alex deine Mutter ist, rechne ich mir keine guten Chancen für dich aus. Ab und zu fuhr Alex mit den Kindern runter, statt sie in ein Flugzeug zu setzen, obwohl es eine lange Fahrt war. Während sie bei Boomer waren, verbrachte Alex ihre Zeit mit Carly. Carly vermißte sie und Tessa. Alex verlor nie ein Wort darüber, wie Boomer und sie sich auseinandergelebt hatten. Die beiden gingen freundlich miteinander um, und am Samstag abend aßen sie alle zu Abend, im allgemeinen bei Francey und Walt, aber ab und zu auch in den Weiden. Als sie über den Bürgersteig auf sein Haus zuging und Boomer sah, der sich verrenkte, um eine der Säulen zu streichen, rief Carly ihm zur Begrüßung zu: »Tessa und Dan kommen zu Besuch.« Er sah kurz zu ihr hin und grinste. »Die haben es wohl satt, um die Welt zu tippeln?« »Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte Carly und betrat das Haus durch die offene Eichentür. Sie ging gleich in die Küche, um den Kartoffelsalat und die Sandwiches im Kühlschrank zu verstauen. Dann blickte sie sich um. Boomer hatte großartige Arbeit geleistet. 461
Alle Küchenschränke waren neu, und der Boden war frisch gefliest. Er hatte ganz einfach sämtliche Schränke aus den Wänden gerissen und sich hingesetzt und eine vollständig neue Küche entworfen, die nach Carlys Erachten Tessas würdig gewesen wäre. Den Einbauofen in der Wand und den Herd hatte er selbst installiert. Der Raum war leuchtend gelb gestrichen und strahlte eine heitere Atmosphäre aus. Durch die Fenster sah man auf den Garten hinaus. Er hatte gründlich Unkraut gejätet, die alten Blumen jedoch in all ihrer Farbenpracht stehenlassen. Am hinteren Ende des Gartens befanden sich zwei große Bäume, zwischen denen Boomer eine Hängematte gespannt hatte. »Ich habe ganz bewußt alte Sachen angezogen«, sagte Carly. »Also gib mir schon einen Pinsel. Dann kann ich wenigstens das Geländer streichen.« Boomer sah sie mit einem breiten Grinsen an. »Nur in der Kleinstadt kommen Freunde rüber und bieten ihre Hilfe an.« »Nein.« Carly schüttelte den Kopf. »Wir beide haben uns bloß in den falschen Kreisen bewegt. Selbst in den Großstädten gibt es nachbarschaftliche Hilfe.« Sie dachte an Teile von Houston, in denen Boomer gewiß nie gewesen war, die Gegend, in der die Kliniken waren, die sie finanziell unterstützte. Dort waren Nachbarn füreinander da. Boomer legte seinen Pinsel quer über die Dose und stand auf. »Warte. Ich hole dir nur schnell ein paar alte Zeitungen, Farbe und einen Pinsel. Möchtest du vielleicht Handschuhe, damit deinen hübschen Fingernägeln nichts passieren kann?« Sie schüttelte den Kopf. In dem Moment läutete das Telefon. Carly saß auf den Stufen vor dem Haus und wartete darauf, daß Boomer das Gespräch beendete. Sie sah sich die Häuser auf der anderen Straßenseite mit den gepflegten Rasenflächen und den hohen Bäumen an, die Schatten auf die Straße warfen. Ein paar Kinder rannten schreiend herum und traten eine Dose vor sich her, und einer der Jungs winkte ihr im Vorbeilaufen zu. Sie waren alle jünger als Matt, der jetzt die Junior-High-School besuchte. Wie schnell die Zeit verflog. Sie dachte wieder einmal, wie seltsam das Leben doch war. Sie und Boomer waren eine Zeitlang Millionäre gewesen, und jetzt waren sie beide erneut in Verity gelandet und fühlten sich hier wohl. Sie lebte gern mit ihrer Mutter und Walt zusammen, genauso wie Matt. Endlich gab es einen Mann in seinem Leben, der ihm jeden Abend zuhörte, sich jedes Footballspiel seines Teams ansah und dafür 462
sorgte, daß er die Box seines Pferdes sauberhielt. Walt kaufte einen Pferdehänger, damit sie Chazz, Matts Pferd, an den Wochenenden auf die Ranch transportieren konnten. Auf Matts Betreiben hin hatten sie sich jetzt sogar sechs Hühner zugelegt, und jeden Morgen, ehe der Schulbus kam, sammelte er die Eier ein. Francey aß keine Eier mehr, doch sie benutzte das Eiweiß zum Kuchenbacken und bereitete sogar Omelettes aus Eiweiß zu, mit Zwiebeln und grünen Paprikaschoten, und niemand nahm den Unterschied wahr. Nach etwa zwanzig Minuten begann Carly, die Stäbe des Geländers zu streichen. Und sie sagte sich, daß sie glücklich war. Einen großen Teil ihrer Zufriedenheit schöpfte sie natürlich aus dem Umstand, daß sie Generaldirektorin der First National Bank von Verity war. Es machte ihr Spaß, Entscheidungen treffen zu müssen. Walt hatte sie gewarnt, nicht alles an diesem Job würde Freude bereiten – beispielsweise einen Wagen wieder in Besitz nehmen zu müssen oder aus einer Hypothek die Zwangsvollstreckung zu betreiben –, und er hatte recht gehabt. Auf zwei nicht so glücklich eingeräumten Krediten saß sie im Moment noch, doch Walt sagte, das sei ein ausgezeichnetes Ergebnis, wenn man bedachte, daß sie Kredite an so viele Menschen mit niedrigem Einkommen vergab. Die Samstagnachmittage verbrachte sie im allgemeinen mit Boomer. Manchmal nahmen sie Matt mit und fuhren nach Corpus Christi, um dort ins Kino zu gehen. Und wenn Boomers Kinder da waren, dann aßen sie alle gemeinsam bei Walt und Francey drüben zu Abend und verbrachten das ganze Wochenende zusammen, oft draußen auf der Ranch. Die Kinder waren total begeistert von Zelda Maries Pool mit seinen Maßen, die ihn fast reif für eine Olympiade machten. Boomers Kinder waren von den Mexikanern fasziniert. Anfangs hatten sie sie angesehen, als kämen sie von einem anderen Planeten oder doch wenigstens vom anderen Ende Houstons. Doch wenn sie bei Zelda Marie und Rafael draußen waren und dort auch Ao und Carlos und deren Kinder trafen und in die Herzlichkeit, die menschliche Wärme und das Gelächter hineingezogen wurden, das dort ständig zu herrschen schien, dann konnte Carly wahrnehmen, daß ihre Haltung sich sichtlich veränderte. Boomer begründete sein Interesse an Matt mit gewissen Besitzansprüchen. »Schließlich war ich da, als er geboren worden ist«, sagte er immer wieder. Die Gespräche, die Boomer und Carly miteinander führten, drehten sich oft um ihrer beider Kinder, um ihrer beider Arbeit und um 463
Verity; nie war von ihren Gefühlen die Rede, was vielleicht daran lag, daß Boomer noch nicht geschieden war. Sie waren eng miteinander befreundet, und keiner von ihnen hatte einen besseren Freund. Ein Tag war nicht vollständig, wenn Carly Boomer nicht gesehen hatte. Die Bank schloß früher als seine Eisenwarenhandlung, und obwohl er zwei Angestellte beschäftigte, war er immer zur Stelle, wenn der Laden abends geschlossen wurde, und auch den größten Teil des Tages verbrachte er dort. »Das ist doch einfach nicht zu fassen.« Als Boomer von seinem Telefongespräch zurückkehrte, hatte er vergessen, eine Dose Farbe für Carly mitzubringen. Carly blickte zu ihm auf. »Das war Alex«, teilte er ihr mit und setzte sich auf die hölzerne Schaukel, die von der Decke hing. Carly wartete. Sie mußte so lange warten, daß sie sich schließlich wieder ans Streichen der Holzstäbe machte. Nach einer Weile sagte Boomer: »Sie hat gefragt, ob ich die Kinder den Sommer über zu mir nehmen will oder ob sie sie in ein Ferienlager schicken soll.« Er schien perplex zu sein. Dann sah er Carly an und fragte: »Du weißt doch sicher, was ich darauf geantwortet habe, oder?« Carly nickte. »Natürlich. Du hast ja gesagt.« »Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als die Kinder bei mir zu haben. Ich habe sie bei Alex gelassen, weil Kinder ihre Mutter brauchen und weil sie ihnen materiell mehr bieten kann als ich.« »Und warum kann sie sie diesem Sommer nicht behalten?« »Die Republikaner wollen, daß sie für den Senat kandidiert.« Carly legte den Pinsel hin und starrte Boomer an. »Eine Frau als Senator von Texas?« Sie konnte es kaum glauben. »Eine geschiedene Frau zieht für Texas in den Senat ein«, sagte Boomer. »Ich dachte, ihr wärt noch gar nicht geschieden.« »Das war der eigentliche Grund ihres Anrufs. Sie hat mir gerade mitgeteilt, daß die Scheidung endgültig über die Bühne gegangen ist.« Alex würde sich wunderbar im Senat machen, dachte Carly. Sie würde zwar nicht für dieselben Dinge eintreten wie Ben, aber das hieß auch, daß sie weniger Illusionen verlieren würde. »Zumindest hat sie keine Leichen im Keller, wie so viele andere Politiker. Das Schlimmste, was ihr jemand vorwerfen kann, ist, daß sie geschieden ist, und das ist aktenkundig.« »Das heißt, wenn sie als Kandidatin aufgestellt wird, wirst du den 464
ganzen Sommer über die Kinder bei dir haben. Das wird sicher viel Spaß machen.« Boomer nickte. »Ich habe ihr gesagt, wenn sie die Wahl gewinnt und nach Washington geht, bestehe ich darauf, daß ich die Kinder zugesprochen bekomme. Dort wird sie keine Zeit für sie haben. Jedenfalls nicht so viel Zeit, wie man für heranwachsende Kinder braucht. Und außerdem lasse ich nicht zu, daß sie in Washington zur Schule geben, in dieser künstlichen und aufgesetzten Atmosphäre.« »Und?« »Sie hat erklärt, sie werde sich Gedanken darüber machen. Ich habe ihr gesagt, das einzige, worüber sie nachdenken müsse, sei, ob sie sich als Kandidatin aufstellen lasse oder nicht, denn wenn sie das tue, würde ich die Kinder zu mir holen, solange sie in Washington ist.« »Und?« »Sie hat wiederholt, daß sie sich Gedanken darüber machen werde.« Carly wandte sich wieder dem Streichen zu. Boomer lief um das Haus herum zur Garage und kam mit einer Dose Farbe zurück. »Gibt es einen reizvolleren Anblick oder einen schöneren Ort als Texas im Frühjahr?« fragte er. »Haben wir beute nicht einen prachtvollen Tag?« Carly stimmte ihm zu. »Machst du dir eigentlich manchmal Gedanken über uns, Carly?« Carly sah Boomer an. »Inwiefern?« »Ganz gleich.« »Natürlich«, antwortete sie. »Ich habe einen beträchtlichen Teil meines Lebens damit zugebracht, mir Gedanken über dich zu machen, Boomer.« Jetzt sah er ihr in die Augen und lächelte schelmisch. »Ach, wirklich?« »Das mußt du doch wissen.« »Warum bist du vor all den Jahren an dem Wochenende, an dem wir miteinander geschlafen haben, mit Cole ausgerissen?« »Das habe ich mich oft gefragt. Ich weiß es nicht. Vermutlich habe ich mir gesagt, ich sei schon fast fünfundzwanzig, und es sei höchste Zeit, daß ich heirate und…« »Hast du dich das wirklich gefragt? Hast du dir jemals überlegt, was gewesen wäre…« Sie saß auf dem Boden, und er sah auf sie hinunter und reichte ihr eine Hand. »Steh doch mal kurz auf, ja?« sagte er. Sie legte ihren Pinsel hin und streckte ihm eine Hand entgegen, die mit Farbe bespritzt war. Er zog sie auf die Füße, blieb vor ihr stehen und 465
sah sie an. »Komm her«, murmelte er und nahm sie in die Arme. Er hatte seinen Pinsel immer noch in der Hand, als er sie enger an sich zog. »Boomer«, stieß Carly hervor, »die Nachbarn…« »Die sagen sich wahrscheinlich alle, daß es aber auch höchste Zeit sei«, murmelte er. Carly spürte, wie sie dahinschmolz. Sie nahm wahr, wie seine Zunge ihre berührte, und sie konnte ganz deutlich die Kraft und die Wärme des Mannes spüren, den sie schon so lange kannte. Sie seufzte. »Ist dir überhaupt klar, was du bei mir immer wieder anrichtest? Ich kann mich jetzt noch daran erinnern, wie mir zumute war, wenn ich um fünf Uhr aufgeschaut und gesehen habe, daß du in der Tür zur Bank stehst und auf mich wartest. Dann wußte ich, daß du mich schon in wenigen Minuten so küssen würdest, wie du es gerade getan hast, und daß mir dann genauso zumute sein würde, wie mir im Moment zumute ist.« »Wie ist dir denn zumute?« Er blickte wieder mit einem schelmischen Lächeln auf sie hinab. »Ich flattere innerlich.« »Da bist du nicht die einzige. Ich habe eine Idee. Ruf deine Mutter an und sag ihr, daß du zum Abendessen nicht nach Hause kommst.« »In den Klamotten, die ich anhabe, kann ich unmöglich zum Essen ausgehen«, entgegnete sie. »Doch nicht in Jeans und Turnschuhen.« »Wer hat denn etwas davon gesagt, daß wir essen gehen? Wir holen uns ganz einfach etwas ins Haus.« Er küßte sie wieder, und Carly nahm ganz deutlich wahr, daß ihr so schummrig wurde wie vor fünfundzwanzig Jahren, als er sie zum erstenmal geküßt hatte. »Was hast du gegen vier Kinder einzuwenden?« Carly sah ihn einen Moment lang stirnrunzelnd an. »Du meinst…« »Ich meine, was würden Francey und Walt dazu sagen, wenn du mit Matt hier einziehen würdest? Du könntest deine Familie weiterhin täglich sehen.« Carly schnitt eine Grimasse. »Das soll wohl heißen, daß du mich dazu aufforderst, jeden Tag zu kochen? Nach einem langen Arbeitstag soll ich euch alle bekochen? Vergiß es.« »Du kannst dir doch eine Köchin leisten, oder etwa nicht?« »Weißt du überhaupt, daß du einen Farbklecks auf der Nase hast?« Er drückte ihr einen Kuß darauf, und ein Teil der weißen Farbe blieb an seinen Lippen kleben. »In all den Jahren, seit ich dich kenne, Carly, habe ich mir immer wieder gewünscht, mit dir zu schlafen. Und seit meiner Rückkehr nach Verity denke ich jeden Tag und jeden Abend und mitten in der Nacht daran, aber ich habe mir 466
gesagt, ich warte besser, bis…« »Bis du mich zu einer ehrbaren Frau machen kannst?« »So ungefähr.« »Also, falls du vorhaben solltest, um mich zu werben, und das hast du meiner Meinung nach gerade angedeutet, dann sollten wir lieber gleich sehen, wie gut wir uns in der Hinsicht noch miteinander verstehen. Wir wissen beide, daß wir gute Freunde sind. Sehen wir doch mal, ob…« »Carly, die Chance, daß wir uns im Bett nicht mehr blendend verstehen, ist geringer als eins zu siebzehn Milliarden.« »Wir sollten uns trotzdem vergewissern.« Er hob sie auf seine Arme und trat das Fliegengitter in der Tür auf, das hinter ihm zuknallte, als er sie nach oben trug und jeweils zwei Stufen auf einmal nahm. Als Carly am Montag um fünf Uhr die Tür zu ihrem Büro schloß, sah sie Boomer im Haupteingang der Bank stehen. Und das vertraute alte Gefühl, daß ihr Herz schneller schlug, setzte wieder ein. Sie beschleunigte ihre Schritte und lächelte, als er ihr die Tür aufhielt.
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