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Seewölfe 179 1
Fred McMason 1.
Der alte Donegal Daniel O'Flynn stand neben seinem Sohn Dan auf dem Achterdeck und blickte mit gerunzelter Stirn auf das Durcheinander von Karten, die der Seewolf und Dan ausgebreitet hatten. Beschwert waren die Seekarten mit einem Jakobsstab und einem kleinen Handkompaß. Hasard und Dan rechneten, verglichen und trugen die Distanzen ein, die sie zurückgelegt hatten. Für Donegal war die äußerst schwierige Navigation immer noch ein Buch mit sieben Siegeln und würde es auch bleiben. „Wieso, zum Teufel, könnt ihr behaupten, wir befinden uns genau da und dort, wo es doch, verdammt noch mal, keine Linien im Wasser gibt, an denen man sich orientieren könnte. Das grenzt immer wieder an Hexenwerk und Zauberei", sagte er grollend. „So schwer ist das gar nicht, Dad", erwiderte sein Sohn, der die Geheimnisse der Navigation vom Seewolf gelernt hatte. „Wir haben von überall Karten: angefertigt, nach denen wir uns richten können. Wir messen die zurückgelegte Strecke, peilen die Sonne über dem Horizont an und schon haben wir..." „Schon haben wir gar nichts", sagte O'Flynn rechthaberisch und stampfte mit dem Holzbein nachdrücklich auf die Planken. „Ihr faselt von Längenkreisen, Breitenkreisen, nördlicher und südlicher Breite, und genau genommen seht ihr nur Wasser wie die anderen auch, und nicht mehr. Wie, zum Beispiel, wollt ihr wissen, ob wir jetzt über dem lausigen Äquator oder schon darunter sind, he?" „Da stehen doch die Schilder mit dem großen Buchstaben Ä drauf" sagte Dan todernst. „Sieht man sie von Norden, steht außerdem noch Süden drauf, und sieht man sie vom Süden steht Norden drauf. Schon gut, Dad", meinte Dan beschwichtigend, als er sah wie der Alte krebsrot anlief. „Mit den Längenkreisen haben wir tatsächlich immer noch Schwierigkeiten, aber unsere Position können wir trotzdem ziemlich
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genau bestimmen. Sogar der Profos kann dir auf Anhieb sagen, wo wir jetzt sind." Carberrys Narbengesicht verdunkelte sich leicht, als er den grinsenden Dan von der Seite ansah. Wollte der ihn etwa auf den Arm nehmen? „So", sagte der alte- O'Flynn. „Und wo sind wir jetzt, Ed?" „Äh - mitten auf dem Meer", sagte Carberry. „Und wenn du es ganz genau wissen willst, mitten im Atlantischen Ozean, Donegal." Die Männer auf dem Achterkastell lachten, bis auf O'Flynn, der den Profos ärgerlich ansah. Hasard nahm den Alten beiseite und lächelte. „Sieh mal nach vorn, Donegal", sagte er. „Wir laufen, seit` wir die Azoren hinter uns gelassen haben, auf Südwestkurs mit Wind aus Nord, also mit Steuerbordhalsen auf Backbordbug." „Das hätte ich nie erraten", sagte O'Flynn grimmig. „Und an den Masten hängen Segel, die uns vorwärtstreiben, was? Wenn` ihr einen alten Mann zum Idioten erklären wellt, dann könnt ihr was erleben, ihr - ihr triefäugigen Seegurken." „Nun gut", lenkte Hasard ein. „Dann sage ich dir unsere Position, wenn es dir so lieber ist. Wenn wir richtig gerechnet haben, befinden wir uns jetzt auf dreiundreißig Grad und zwanzig Minuten nördlicher Breite und etwa achtundfünfzig Grad und fünfundvierzig Minuten westlicher Länge. In ein paar Tagen überschreiten wir den nördlichen Wendekreis, und liegen damit also schon heute mit Kurs auf die Schlangen-Insel. Korrigieren müssen wir natürlich, denn da gibt es Abdriften, Meeresströmungen und die merkwürdige Tatsache, daß der Kompaß unterhalb des Wendekreises oft verrückt spielt." „Trotzdem könnt ihr euch verrechnet haben." „Natürlich, das streitet ja auch keiner ab." „Also stimmt die Position nicht genau", beharrte O'Flynn. „Das wollte ich nur wissen. Ihr gebt damit also zu, daß die Navigation nicht ganz genau ist, und daß
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wir auch woanders als auf der SchlangenInsel herauskommen können." „Das passiert leider viel zu oft." O'Flynn grinste zufrieden. Zum Teufel, er ließ sich doch nicht einreden, man wäre mitten im Atlantik haargenau an diesem oder jenem Punkt. „Also ist das keine Hexerei, sonst wäre es genauer", stellte er noch einmal fest. „Es sind mühsame Berechnungen und Irrtümer auf keinen Fall dabei ausgeschlossen. Du hast doch schon oft dabei zugesehen." „Ich will mit dem Kram nichts zu tun haben." „Ich zeige und erkläre es dir aber gern noch genau, Donegal." „Später mal", wehrte der Alte ab, „jetzt muß ich mich um die Lausebengels kümmern, die haben bestimmt wieder was angestellt. Der Kutscher brüllt schon seit einer ganzen Weile herum." Hasard war der Kutscher auch schon aufgefallen, der ab und zu händeringend und fluchend aus seiner Kombüse rannte, mit den Händen fuchtelte und brüllte. Aber seine beiden Söhne, Hasard und Philip, hatten damit anscheinend nichts zu tun, denn des Kutschers Gebrüll galt merkwürdigerweise dem karmesinroten Papagei Sir John, der auffällig oft in der Kuhl und in der Nähe des Vordecks herumflatterte. Hasard war das erst aufgefallen, seit sie die Azoren passiert hatten und sich auf dem Weg nach Süden befanden. Sollten die beiden Bengels wirklich etwas ausgeheckt haben? Na egal, Donegal würde sich schon darum kümmern. Er kannte auch die Schliche und Tricks der beiden oder glaubte jedenfalls sie zu kennen, so ganz sicher konnte man da nicht sein. O'Flynn humpelte nach vorn, blieb in der Kuhl einmal stehen und sah sich um. Über ihm wölbte sich strahlend blauer Himmel. Es war angenehm warm. Der Wind blies aus Nord und jagte die „Isabella VIII." über das Meer. Es war eine Lust auf diesem Schiff zu fahren, dachte der Alte immer wieder, überhaupt wenn er
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sich um die lausige Navigation nicht zu kümmern brauchte. Dafür gab es Jüngere, wie seinen Sohn Dan, den die ganze Rechnerei geradezu berauschte und der sich mit wahrer Hingabe dem Schreibkram widmete. Der ranke Dreimaster segelte unter vollem Zeug, die Segel waren prall gefüllt, und der Wind sang in der Takelage. O'Flynn hatte also allen Grund, zufrieden zu sein, und doch war er es nicht ganz, denn tief in seinem Innern gab es wieder eine mahnende Stimme, die ihm etwas einflüsterte. Es war nur ein Wort. Das hieß „Sargassomeer", und davor graute es ihn schon heute. Dort war es nicht geheuer, und er hätte wer weiß was darum gegeben, diesen Alptraum von Meer schon hinter sich zu haben. Das Sargassomeer war die bittere Pille auf dem Weg zur SchlangenInsel, und an dieser Pille pflegte ' O'Flynn einige Tage lang zu schlucken. Er dachte an die teuflischen Braunalgen, an Meermänner, Seespuk und Geisterschiffe, aber er nahm sich vor, diesmal mit keinem darüber zu reden. Alter Spökenkieker, sagten dann die meisten, obwohl sie sich hinterher meist lahm entschuldigten, denn ab und zu hatte Old O'Flynn tatsächlich das sogenannte Zweite Gesicht, auch wenn die Kerle das vorher nicht wahrhaben wollten. Hasard und Philip grinsten ihn an, als er sich näherte und dicht vor dem angelehnten Kombüsenschott stehenblieb. Sie grinsten so harmlos wie immer, wenn sie etwas ausgefressen hatten - oder wenn sie dabei waren, etwas auszuhecken. „Jubelt ihr dem Kutscher wieder Ratten unter?" fragte O'Flynn. Das üble Spielchen kannten mittlerweile die meisten, aber der treuherzige Kutscher fiel immer noch darauf herein. Er hatte ihnen unlängst versprochen, jede tote, von den Zwillingen erlegte Ratte an Bord der „Isabella" mit Kandiszucker oder einem anderen Leckerbissen zu honorieren, und von da an hatte es auf ‚dem Rahsegler plötzlich von Ratten nur so gewimmelt. Ganze Heerscharen schienen sich in der Vorpiek und den Laderäumen aufzuhalten.
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Die Zwillinge brachten dem Kutscher die erlegten Ratten, erhielten ihre versprochene Leckerei, bedankten sich artig und nahmen die toten Ratten dann gleich mit an Deck, um sie vor den Augen des Kutschers über Bord zu werfen. Der Kutscher sah auch jedesmal etwas ins Wasser fliegen und zeigte sich hocherfreut. Nur waren das keine Ratten, sondern Holzstücke, und so erschienen die beiden etwas später wieder in der Kombüse und jubelten dem Kutscher die alten Ratten als neuerlegte unter. Die beiden gaben sich entrüstet. „Das tun wir nicht mehr, ganz bestimmt nicht", versicherte Hasard ernstlich. „Wir spielen nur mit dem Papagei. Wir lernen ihm zu fliegen." Das Englisch, das die beiden sprachen, war noch etwas miserabel, und daher verbesserte O'Flynn: „Wir lehren ihn zu fliegen, heißt das." „Ja, wir lehren ihm, daß er fliegen kann." O'Flynn gab es auf, das mußte die Zeit mit sich bringen. Die beiden Kerlchen waren ohnehin Sprachtalente, und sie würden die Feinheiten schon noch lernen. Er drehte sich um, stellte sich ans Schanzkleid, und es dauerte auch nicht lange, bis sein Mißtrauen erwachte. Verblüfft kratzte er sich mit dem Finger das Kinn. Verdammt, dachte er. Wollten die gewitzten Rübenschweinchen, wie Carberry sie immer nannte, ihn foppen? Der Papagei konnte längst fliegen, dem brauchte man das nicht mehr beizubringen. Der flog sogar lange Runden um das gesamte Schiff, kurvte auch ab und zu ein Stück auf See hinaus und kehrte wieder zurück. Und da wollten die beiden ihm das Fliegen beibringen? Da stimmte doch etwas nicht! Er musterte sie scharf, aber in den jungen Gesichtern lag alle Ehrlichkeit dieser Welt. Sie standen da, ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, hatten die Hände hinter den Rücken verschränkt und starrten aus eisblauen unschuldsvollen Augen in die Welt.
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„Wenn ihr dem Affen das Fliegen beibringen wollt", knurrte Old O'Flynn, „dann hätte ich das ja noch geglaubt. Aber dem Papagei - da müßt ihr euch schon etwas anderes einfallen lassen." Er sah sich nach dem Papagei um und zuckte zusammen, als der Aracanga plötzlich mit gesträubtem Gefieder kreischend, schimpfend und laut krächzend aus der Kombüse herausflatterte, verfolgt von dem grimmig dreinblickenden Kutscher, der ihn mit lauthals gebrüllten Flüchen und Händegewedel zum Fockmast hochscheuchte. Da blieb das „Mistvieh", wie Donegal es nannte, aufgeplustert hocken und hackte mit seinem starken Schnabel voller Bosheit Löcher in die Luft. Wie ein bis aufs Blut gereizter Hahn sah er jetzt aus. „Was ist los, Kutscher?" fragte O'Flynn. Der Kutscher, seinen wirklichen Namen hatte er den Männern an Bord nie verraten, blickte verstört drein und warf dem krächzenden Papagei wilde Blicke zu. „Ich weiß nicht, was, zum Teufel, in diesen lausigen Federbalg gefahren ist, Donegal", sagte er. „Dauernd kreuzt das Vieh in der Kombüse auf, fliegt mir über den Schädel, jagt über die Kessel und den Herd und krächzt in der Kombüse herum. Das geht jetzt schon einige Tage so. Wenn ich das Vieh erwische, dann gibt's eine schmackhafte Brühe, das verspreche ich dir." Donegal drehte sich um und warf den Zwillingen einen fragenden Blick zu, aber die hoben nur die Schultern. Ihre Gesichter waren ratlos, und sie grinsten auch nicht. „Ihr bringt ihm doch angeblich das Fliegen bei", sagte Donegal mißtrauisch. „Weshalb dann ausgerechnet in der Kombüse?" Die beiden spielten wieder Unschuldslämmer. „Vielleicht Sir John lieben Kutscher", vermutete Hasard ernsthaft. „Oder hat vielleicht Hunger." „Ich kriege das schon noch heraus", versprach der Alte grimmig. „Da steckt etwas dahinter, eine Lausbuberei, das weiß ich. Außerdem ist Sir John auffallend oft in
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eurer Nähe, und ich habe gesehen, daß ihr ihn füttert." „Sir John hat auch Hunger", sagte Philip. Der Alte, blieb mißtrauisch. Was die Zwillinge mit dem Papagei taten, sah fast nach einer Dressur aus, aber Donegal blickte da noch nicht durch. Der Aracanga hatte sein Krächzen aufgegeben und segelte aus luftiger Höhe wieder auf Klein-Hasards Schulter. Der Kutscher donnerte das Schott zu und ließ sich nicht mehr blicken. „Keine Lumperei", warnte O'Flynn noch einmal nachdrücklich. Dann ging er zurück aufs Achterdeck, wo Hasard, Dan und Ben Brighton immer noch damit beschäftigt waren, den Kurs abzustecken und die Position zu bestimmen. „Alles in Ordnung?" fragte der Seewolf. „Ich weiß nicht, was die Burschen wieder aushecken, aber der Papagei fliegt ständig durch die Kombüse, und der Kutscher hat ziemlich üble Laune." „Vielleicht necken sie ihn nur. Ich sehe da jedenfalls nichts Schlimmes." „Ich auch nicht", sagte Donegal, „wenigstens noch nicht." Damit war das Thema vorerst erledigt, und man schrieb es dem Spieltrieb der Zwillinge zu, die sich ja mit irgend etwas beschäftigen mußten. Etliche der Seewölfe waren damit beschäftigt, die Kammern und Aufenthaltsräume des Schiffes auszuwaschen und zu durchlüften. Das wurde jede Woche einmal praktiziert, damit an Bord immer Sauberkeit herrschte. Old O'Flynn zuckte plötzlich zusammen, als das berüchtigte Stichwort fiel. Ausgerechnet sein Sohn sagte es. „In ein paar Tagen segeln wir wieder durch das Sargassomeer. Das erinnert mich immer daran, als wir durch Zufall die Schlangen-Insel fanden und dort auf die Rote Korsarin stießen. Hoffentlich bleiben wir diesmal nicht wieder in den verdammten Algen hängen." Hasard schüttelte den Kopf. ,,Diese Algenfelder gibt es nicht das ganze Jahr, soviel ich gehört habe. Sie treten
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periodisch auf, ballen sich dann zusammen und lösen sich auch wieder auf." O'Flynn wurde ganz kribbelig zumute. Er lehnte mit verkniffenem Gesicht an der Schmuckbalustrade des Achterdecks und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf dem Handlauf. herum. Mißmutig blickte er in das quirlige Wasser, das blasenreich an der Bordwand der „Isabella" vorbeizog und sich achteraus zu einer schaumigen langen Bahn vereinigte. Ein Fisch sprang aus dem Wasser, schnalzte hoch, breitete seine Flossen aus und flog neben dem Schiff über dem Wasser her. „Ein fliegender Hering!" schrie O'Flynn. „Mann, der ist ja bald schneller als wir." Zwei weitere fliegende Fische sausten aus dem Wasser, und das brachte die Crew auf die Beine. „Los, bewaffnet euch mit Haken!" rief Hasard. „Das gibt eine köstliche Abwechslung." Die Seewölfe kannten das Phänomen der fliegenden Fische durch ihre zahlreichen Fahrten. Es war beileibe kein Spiel, wenn die Fische, aufgescheucht durch den Bug der „Isabella", seitwärts aus dem Wasser sprangen und durch die Luft segelten. Nicht selten legten sie dabei mehr als hundert Yards fliegend zurück. Wo immer die Fische flogen, gab es die großen Bonitos oder Makrelen, die sich auf ihre Beute stürzten und sie gierig verschlangen, sobald sie ins Meer zurückglitten. Hasard blickte nach achtern ins Wasser und sah seine Vermutung augenblicklich bestätigt. Ein riesiger, wie ein Komet dahinziehender Schwarm Bonitos begleitete das Schiff. Tausende von glitzernden Fischleibern zogen in einem riesigen Schwarm dahin und stürzten sich auf die fliegenden Fische. Hatte sich einer in einen der Flugfische verbissen, so geschah es nicht selten, daß ein Bonito sofort den anderen angriff und aus seinem Leib handtellergroße Stücke Fleisch herausfetzte. Bonitos waren grausame Kannibalen, und sie wiederum zogen Haie an, die sich an dem Mahl beteiligten.
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Ferris Tucker hatte sich von Will Thorne weiße Leinenfetzen geben lassen. Das weiße Tuch war ein guter und billiger Köder, den die Bonitos gierig angingen. In aller Eile wurden die weißen Lappen um dreizöllige Eisenhaken gewunden und mit langen dünnen Leinen versehen. Die ersten flogen bereits über Bord, als der Kutscher schon aufgeregt erschien und sich die Hände rieb. „Denkt an die Haie!" schrie er. „Mit dem ersten Bonito als Köder fangen wir einen Hai, und dann gibt's die nächsten Tage immer frischen Fisch. Wir haben jede Menge Tomaten an Bord von den Azoren. Ich werde euch ein Essen zaubern - ah - da werdet ihr ewig dran denken." „Los, drauf auf die Burschen!" rief der Profos. „Wir werden den Kutscher beim Wort nehmen." 2. Der erste Bonito biß an dem Fetzen an, den Smoky in der Hand an langer Leine hielt. In wilder Gier stürzte sich der Bonito auf den umwickelten Haken und hing fest. Der Decksälteste holte Hand über Hand die Leine ein und mußte sich mächtig anstrengen, seinen Fang an Bord zu hieven, denn jetzt begann der Bonito zu toben und zu zappeln. Smoky schleuderte ihn in die Kuhl, wo der Kutscher schon gierig auf ihn lauerte. „Himmel", sagte er, „der Bursche dürfte gut und gern seine zwanzig Pfund haben." Ein neuer Haken wurde gebracht, fast so stark wie ein Männerarm, auf den der Kutscher den Bonito als Köder spießte. Er wartete aber noch damit, ihn über Bord zu werfen. Inzwischen bissen auch an die anderen Leinenfetzen die großen Hochseefische in unbeschreiblicher Gier an. Kaum war der umwickelte Haken im Wasser, stürzten sich von allen Seiten die Bonitos darauf, bissen sich fest, schluckten den Haken und wurden von ihren eigenen Artgenossen noch am Köder hängend angegriffen. Hinter der „Isabella" kochte und brodelte das Meer. Breite silberne Streifen wälzten
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sich durchs Wasser, dann erschienen die ersten dreieckigen Flossen in dem Rudel. Stenmark hievte seine Beute an Bord, Tucker zog den nächsten heraus, Shane holte seine Beute ein, und innerhalb kürzester Zeit lagen auf den Planken mehr als zwei Dutzend große Bonitos. Dann stob der Riesenschwarm blitzartig auseinander, als die Haie dazwischenfuhren. Das Gewühl wurde größer, in der See tummelten sich Riesenleiber, doch dann war es schlagartig vorbei. Die Haie hatten das Nachsehen, als der Schwarm aus blinkenden Leibern nach allen Seiten davonstob. Sechs oder sieben Haie bewegten sich flink im Kielwasser des Rahseglers, aber sie fanden keine Beute mehr. Der Kutscher warf seinen Köder über Bord und hielt die starke Leine in der Hand. „Du willst wohl über Bord gehen, was?" sagte Carberry. „Glaubst du etwa, du kannst den Burschen lässig mit einer Hand halten, wenn er anbeißt! Mann, belege das sofort am Poller, oder gib mir die Leine! Du gehst garantiert nach achtern ab, wenn der Köder sitzt." Carberry, Tucker und Shane befanden sich jetzt in der Kuhl. Die Leine war belegt worden. Der Bonito tobte an seinem Haken und sprang immer wieder aus dem Wasser. Ein Schatten schoß auf ihn zu und beschrieb eine halbe Drehung im Wasser. Sekundenlang klaffte ein entsetzlich großes, mit scharfen Doppelreihen Zähnen bewehrtes Maul auf. Der zwanzig Pfund schwere Fisch verschwand in dem Rachen und wurde verschluckt, einschließlich des schweren Hakens. „Aufpassen!" schrie Carberry. „Jetzt geht's rund!" Als der Hai merkte, daß er mit dem Fisch zusammen auch noch etwas geschluckt hatte, das er eigentlich nicht wollte, begann er wie rasend auf Tiefe zu gehen. Carberry fierte Leine nach, bis der Holzpoller zu qualmen anfing und kleine Rauchwölkchen emporstiegen.
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Tief unter ihnen begann das TiefseeUngeheuer zu toben, kehrte wieder an die Oberfläche zurück und schoß halb aus dem Wasser. Carberry und Shane holten die Leine wieder ein, fierten nach, und begannen zu schwitzen. Immer öfter sprang der große Hai aus dem Wasser, riß den Rachen auf, um den Haken loszuwerden, schlug mit dem Schwanz wild um sich und krachte einmal gegen die Bordwand, daß die Erschütterung die Planken ächzen ließ. „So kriegen wir ihn nicht", meinte der ehemalige Schmied von Arwenack, Big Old Shane. „Wir müssen ihn weiter achteraus toben lassen, bis er die Kräfte verliert und ermattet. Wir stecken noch eine Leine an die andere und lassen ihn hinterherschwimmen." Das Tau wurde verlängert und Lose gegeben. Der Hai drehte ab und zog die Leine hinter sich her. Mehr als sechzig Faden liefen nach und immer mußte noch weitergefiert werden, denn der gefräßige Bursche fand sich noch lange nicht mit sei-, nem Schicksal ab. Länger als eine Stunde tobte er im Kielwasser der „Isabella" herum, sprang aus dem Wasser, wälzte sich herum, bis man seine helle Unterfläche sah, und versank dann wieder. Ab und zu tauchte er ganz überraschend neben der Bordwand -auf, knallte gegen die Planken und schlug wild mit dem Schwanz. Die „Isabella" segelte weiter, aber der Bursche brachte es fertig, die Fahrt des Schiffes merklich zu verzögern. Das ging nochmals eine Stunde so, dann war der Gigant der Tiefsee erschöpft und ließ sich ziehen. Der Kutscher sprang aufgeregt an Deck hin und her. Er konnte es nicht erwarten, bis der Riesenfisch an Bord war. Aber das dauerte noch eine ganze Weile undd war nur mit der Hilfe von etlichen Männern zu bewältigen. Hasard ließ die Segel bergen, bis die „Isabella" nur noch langsam in der See dümpelte.
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„Vorsicht, wenn ihr ihn an Bord holt", warnte er. „Auch wenn er entkräftet ist, ist er immer noch gefährlich genug! Paßt also auf und geht nicht so dicht ran!" Die Jagd auf den Riesenfisch hatte die Gemüter erhitzt. Endlich gab es wieder Abwechslung und dazu die Aussicht auf frischen Fisch. Hai war ein Leckerbissen, das wußten die Seewölfe zu schätzen, obwohl sein Fleisch von vielen anderen verschmäht wurde. Aber die waren auch noch nicht so weit herumgekommen wie die Crew des Seewolfs. Eine Talje wurde am Mast befestigt, dann eine weitere. Carberry ließ eine Tauschlinge ins Wasser, und nach vielen Versuchen gelang es ihm, sie dem Hai über die Schwanzflosse zu streifen und mit einem Block zu verbinden. „Hiev auf!" rief der Profos. „Und denkt daran, was der Kapitän gesagt hat!" Mit vereinten Kräften wurde gehievt, bis der Hai mit dem gewaltigen Schwanz voran aus dem Wasser tauchte. Als er frei in der Luft hing, begann er noch einmal zu zappeln, und die Männer hatten alle Mühe, ihn in die Kuhl zu hieven. Er lag kaum auf den Planken, als Hasard wieder Segel setzen ließ und die „Isabella" Fahrt aufnahm. Ferris Tuckert der rothaarige Schiffszimmermann, griff zu seiner angsteinflößenden Riesenaxt und tötete den Hai mit drei blitzartig geführten Hieben. Dann wurde er zum Ausschlachten wieder hochgehievt. Da geschah das, wovor der Seewolf gewarnt hatte. Obwohl alle sicher waren, daß die drei Axtschläge den Hai getötet hatten, steckte noch Leben in ihm, und das äußerte sich in einem wilden Sprung, bei dem sich der Riesenkörper wild durchbog. Die Belastung für das Tau wurde zu stark, und es brach mit einem hellen Knall. Der große Hai fiel polternd und unter lautem Getöse auf die Planken der Kuhl und ließ das ganze Deck heftig erzittern. Der Gambia-Neger Batuti, der schwarze Herkules aus Afrika, sprang mit einem
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wilden Fluch zur Seite, als der Körper dicht neben ihm aufschlug, aber Batuti war nicht mehr schnell genug. Der Schwanz peitschte ein letztes Mal über Deck und erwischte den Herkules. Der schwere riesengroße Mann wurde weggefegt, als wäre er eine Feder. Der Schlag warf ihn quer durch die Kuhl, über die Gräting weg bis zur anderen Seite des Schanzkleides, wo er hart dagegenkrachte. „Himmel!" rief der Kutscher. „Der hat sich jeden Knochen einzeln gebrochen, der arme Kerl." Er rannte zu Batuti hinüber, doch der dunkle Riese erhob sich und schüttelte seine mächtige Faust. „Mistfisch!" schrie er, „Trittarsch, `Krummhund! Verdammich, hat viel Kraft, das elende Hai. Batuti fressen auf, ganz allein." Der Neger wurde ungläubig angeblickt, als wäre ein Wunder geschehen. Er aber trug nicht die geringste Verletzung davon. Dafür fluchte er lauthals auf den hinterhältigen Fisch. „Und dir fehlt wirklich nichts?" fragte der Kutscher staunend. „Batuti nix fehlen", wehrte der Neger unwirsch ab. „Aber verdammichtes Hai gleich alles fehlen, was hat." Die Spannung löste sich in einem befreienden Gelächter, als Batuti haarklein schilderte, was er dem nun endgültig toten Fisch noch alles antun würde. „Das waren die letzten Reflexe", sagte der Kutscher. „Ich bin sicher, daß Ferris ihn getötet hat, aber in Zukunft wißt ihr etwas besser Bescheid." „Damit konnte niemand rechnen, du Kombüsenquietscher", sagte der Profos. „Er hing schon oben zum Ausschlachten, und nur weil das verdammte Tau brach ... " Er winkte ab, und dann gingen sie wieder daran, den Riesenfisch zum Ausschlachten hochzuhieven. Diesmal rührte er sich nicht mehr. Der Hai wurde zerlegt, zerteilt, und die eßbaren Teile in große Stücke geschnitten. Einige davon wollte der Kutscher als Freßreserve, wie er sagte, zum Trocknen an Deck hängen, für schlechte Zeiten, der
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Rest sollte für ein paar Tage schmackhaftes Essen abgeben. Am Mittag, als die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hatte, war es dann soweit.- Der Kutscher hatte Wort gehalten. Aus dem Tomatenvorrat hatte er eine dicke Brühe gekocht, und dazu gab es dickgeschnittene, in der Pfanne gegarte Fischstücke. Darüber goß der Kutscher eine dicke Schicht Tomatensoße. „Und da behauptet man immer, die Haie seien Mistviecher", sagte Carberry verzückt. „Mir hat selten ein Hai so gut gefallen wie dieser." „Ja, das merkt man", sagte Luke Morgan sarkastisch. „Du frißt ihn ja auch fast allein." „Was?" rief Ed. „Ich habe erst drei oder vier Stücke gegessen." „Und jedes Stück wiegt zwei Pfund. Außerdem war es dein fünftes Stück Fisch", warf der Kutscher ein. Aber dafür hatte Carberry nur ein verächtliches Lachen übrig. „Normalerweise steht einem Profos der ganze Hai zu", sagte er laut. „Aber so bin ich nun mal zu euch Rübenschweinen, jeder kriegt trotzdem seinen Teil." Da konnten die Seewölfe nicht umhin, gerührten Herzens Carberrys Großmut und seine Freigebigkeit zu loben, bis dem Profos tatsächlich der Appetit auf weiteren Fisch verging. Aber das lag wohl hauptsächlich daran, daß er jetzt schon das sechste Stück verdrückt hatte. * Vier Tage noch blies der Wind genau aus Norden, dann, am Morgen des fünften Tages, als sie sich dem nördlichen Wendekreis näherten, begann der unberechenbare Geselle zu drehen und wehte aus Nordost. Das bedeutete, daß die „Isabella" jetzt platt vor dem Wind laufen konnte und so gut wie keine Segelmanöver mehr ausgeführt werden mußten. Das war das, was man als ideales Segelwetter bezeichnen konnte. Nur dem
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Seewolf gefiel es nicht, und ein paar anderen erging es ähnlich. „Zu dieser Jahreszeit und in dieser Ecke der Welt", sagte der Seewolf, „folgt dem Drehen des Windes meist eine Flaute. Ich halte meinen Kopf dafür hin, daß wir spätestens morgen in einer prächtigen Kalme liegen." Ben Brighton und Dan pflichteten ihrem Kapitän bei. Der Atlantik in dieser Ecke war schon immer unberechenbar gewesen. Sie hatten diese Erfahrung mehr als einmal am eigenen Leib kennengelernt. Etwas später briste es jedoch auf, und Old O'Flynn rieb sich die Hände. „Der Wind steht", behauptete er. „und er bleibt stehen, sonst hätte ich längst mein Holzbein gespürt. Aber es klopft nicht, und es zieht auch nicht. Wir kriegen vielleicht sogar einen kleinen Sturm, der uns über das Wasser jagt." „Ich hätte nichts dagegen", sagte Dan. „Lieber einen kräftigen Sturm, als in den Kalmen- zu hängen. Denn wenn wir drinhängen, befinden wir uns genau in deinem Lieblingsgewässer, Dad, im Sargassomeer nämlich." „Willst du wohl deinen vorlauten Schnabel halten", fuhr der Alte auf. „Du beschwörst das Unglück ja geradezu mit deinen lästerlichen Worten herauf! Ich habe absichtlich vermieden, darüber zu sprechen, und jetzt fängst du damit an!" „Ich spreche nur von Tatsachen", erwiderte Dan. Der Wind, der jetzt achterlich stark einfiel, briste auch in der nächsten Stunde noch härter auf, so daß der Papagei Mühe hatte, sich auf der Rah zu halten. Aber er blieb oben und flog nicht herab. Im Gegensatz zu ihm hockte der Schimpanse Arwenack an Deck und tollte mit den Zwillingen herum. Noch etwas später wurde der Nordost böig, und da wußten alle, was es an Bord der „Isabella" geschlagen hatte. Außerdem gab es zwei weitere untrügliche Anzeichen für eine Wetteränderung. Sir John hatte sich aufgeplustert und war durch keinen Leckerbissen dazu zu bewegen, seine luftige Höhe zu verlassen.
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Er hörte auch nicht auf den Profos, seinen Liebling, obwohl der ihn öfter rief. Auch Arwenack hockte lustlos herum und bleckte die Zähne, wenn ihn jemand streicheln wollte. „Die Tiere spüren das viel eher als wir", sagte Ben Brighton, dem die Haare wirr vom Kopf abstanden. „Immer wenn das Wetter umschlägt, haben sie schlechte Laune und sind reizbar." Bis zum Nachmittag blieben die Böen, dann wurden sie schwächer, der Wind schralte und über die See fuhren Schleier, die wie ein großes Waschbrett aussahen. In den Augen der Seewölfe lag Besorgnis. Nicht, daß sie es besonders eilig hatten, aber das Gefühl, sich bald in einer Kalme zu befinden, war für jeden Seemann unbehaglich. Unter Umständen konnte das den sicheren Tod bedeuten. So manche Mannschaft war schon verhungert oder verdurstet, weil der Wind das Schiff nicht mehr weiterbewegte und die Vorräte zur Neige gingen. O'Flynn murmelte leise Beschwörungen vor sich hin und verfluchte sein Holzbein, das diesmal keinen Wetterumschwung angezeigt hatte. Auch die See wurde zusehends ruhiger. Aus der prachtvoll rollenden Dünung wurden lange flache Wellen, die merklich an Kraft verloren. Weiter flaute der Wind ab, und zum erstenmal sah man jetzt, wie am Horizont bleigraues Wasser direkt in der Luft zu schweben schien. Es war eine lange graue Bank, die sich nicht bewegte, eine Bank aus ruhigem Wasser, das die Wärme scheinbar in den Himmel hob und dort festhielt. Der Profos stieß einen ellenlangen Fluch aus, als das Großsegel zu schlagen begann, sich aber noch einmal mit Wind füllte. Er stand an Deck, blickte zu den Flögeln hinauf und sah so grimmig aus, als würde er gleich ins Wasser springen, um das Schiff zu schieben. „Ja, da hilft alles nichts, Ed", sagte sein Freund Ferris Tucker mißmutig. „Der Windgott läßt uns im Stich, und das ging
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noch schneller, als ich erwartet habe. Mist verdammter!" „Eine halbe Stunde noch, dann ist er weg und legt sich endgültig schlafen. Sieh dir nur die See an, wie sie ständig die Farbe wechselt. Das ist nicht gut." „Ja, von flaschengrün bis fast schwarz, und weiter hinten ist sie sogar rötlich." Der Profos rülpste laut. „Das ist von der Tomatensoße", behauptete er trocken. „Gart' hat nämlich vorhin gekotzt, er verträgt keinen Haifisch, und schon gar keinen mit Tomatensoße. Aber gut war es trotzdem, oder findest du das nicht?" Tucker grinste. Der Profos vollführte mitunter Gedankensprünge, über die man nur lachen konnte. „Ja, natürlich." Bis zum Abend flaute der Wind noch mehr ab und schob den Segler nur noch langsam durch das Wasser. Dann, als die Nacht hereinbrach, herrschte geisterhafte Stille. Die Segel hingen schlaff von den Rahen, sie bewegten sich nicht mehr, und damit lag die „Isabella" bewegungslos in der spiegelglatten See: „Auf dein Holzbein ist auch kein Verlaß mehr", sagte der Seewolf zu O'Flynn. „Jetzt sitzen wir vorerst fest." „Sind wir jetzt schon in diesem, hm, verdammten Meer?" fragte der Alte beklommen. Hasard schüttelte den Kopf. „Das Sargassomeer ist auf keiner. Karte genau abgegrenzt, niemand weiß so richtig, wo es beginnt und wo es endet. Ich weiß nur, daß es schon hier Abdriften und Strömungen gibt und wir langsam aus dem Kurs laufen, trotz, des Segeltuchankers. Wir driften nach Steuerbord ab, wenn mich nicht alles täuscht." „Das bedeutet, daß wir unser Ziel verfehlen", murmelte O'Flynn. „Das bedeutet noch gar nichts. .Wenn die Kalme vorbei ist, werden wir unseren Kurs neu berechnen, und dann geht es weiter." Am fernen, unsichtbaren Horizont ging der Mond auf. Dunkelgelb und blaßrötlich strahlte er auf das geheimnisvolle Meer, das in allen Farben zu leuchten begann.
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Still wie gegossenes Blei lag das Meer da. Jeder der Seewölfe hatte das Gefühl, sich auf festem Land zu befinden und nicht über einer Tiefe von etlichen tausend Faden zu liegen. An Schlaf dachte niemand, die Szenerie dieser eigenartigen Nacht schlug sie alle in ihren Bann, und so wurde vorerst kaum ein Wort gesprochen. Lediglich der alte O'Flynn räusperte sich hin und wieder und krächzte sich die Kehle frei. Ihn traf es wieder einmal am meisten, denn in Gedanken sah er sich von spukenden Seegeistern umgeben, die unsichtbar um das Schiff herumschwammen. Die „Isabella" schien allein auf der Welt zu sein, es gab nirgendwo Anzeichen weiteren Lebens, kein Schiff, kein Land, nichts, außer dieser bunten erstarrten Wüste aus Wasser. Auch die graue Bank am Horizont war jetzt verschwunden, als hätte sie nie existiert. „Die richtige Zeit für einen Schluck Rum", sagte der Profos und unterbrach damit die gespenstische Ruhe. „Keine Einwände", erwiderte der Seewolf. „Wer etwas trinken möchte, kann es sich holen." Merkwürdig, dachte er, niemand rührte sich. Wenn von Rum die Rede war, leckten sich die Kerle bereits im voraus genüßlich die Lippen, aber diesmal waren sie anscheinend taub. Der Profos schickte den Jüngsten los, Bill, den Moses, der auch gleich mit einer Flasche zurückkehrte. Ed entkorkte sie, setzte sie an und trank einen Schluck, dann reichte er die Buddel weiter an Ferris Tucker: Der Schiffszimmermann trank nur einen winzigen Schluck. Er hielt die Flasche abschätzend in der Hand und grinste. „Wenn ich sie jetzt in die See werfen würde", sagte er leise, „dann habe ich das Gefühl, als würde sie auf der Oberfläche aufprallen und in tausend Stücke zerspringen." „Beschwöre das bloß nicht herauf", sagte Donegal. „Das Meer sieht tatsächlich so
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aus, als wäre es fest. Ich traue mich nicht mal, über Bord zu spucken." „Das darfst du hier auch nicht", sagte Luke Morgan, der neben dem Alten stand und ihn ansah. „Wenn du jetzt über Bord spuckst und triffst einen Meermann auf den algenumwachsenen Schädel, dann ist es aus mit uns." „Wenn du mit dem Gefasel nicht aufhörst, Luke", sagte der Profos ruhig, „dann wringe ich dich aus und hänge dich zum Trocknen in die Wanten. Verstanden, Mister?" „War nur ein Spaß", schwächte Luke Morgan ab. An Schlaf dachte niemand, sie konnten einfach nicht schlafen, obwohl die meisten sich betont gleichgültig gaben, als wäre die scheinbar erstarrte See um sie herum etwas ganz Alltägliches. Aber bei einigen kreisten doch die Gedanken um unheimliche und unerklärliche Dinge, denn es war vor allem die absolute Stille, die ihnen auf die Nerven ging. Nicht der geringste Lufthauch war zu spüren, das vertraute Knarren der Blöcke fehlte ebenso wie das Ächzen und Knacken des Holzes. Alles schien tot, abgestorben und wirklichkeitsfremd. Es war eine Welt für sich, in der nur der Mond unmerklich über den Himmel wanderte. Die ersten gingen gegen Mitternacht in ihre Kojen, bis auf Batuti und ein paar andere, die es vorzogen, in diesen Breiten an Deck zu schlafen. Zwei Wachen genügten für die Nacht, in der ohnehin nichts passierte. Daher wurden Matt Davies und Dan O'Flynn eingeteilt, die eine unruhige Runde nach der anderen über das Deck marschierten, sich wieder trafen und ab und zu flüsternd unterhielten. „Ich weiß nicht, Matt", sagte Dan nach einem Rundgang, „ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch. Diese verdammte Stille regt mich auf, sie ist unnatürlich." „Ja, alles ist wie tot", sagte der grauhaarige Matt Davies, der an Stelle der rechten Hand eine stählerne Hakenprothese trug. „Du bist doch sonst immer so ruhig. Hat
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dich dein Alter mit seinen Worten angesteckt?" „Nein, das ist es nicht, du weißt, daß ich nicht an Geister und diesen ganzen Unsinn glaube. Es hängt einfach irgendetwas in der Luft, das spüre ich überdeutlich." Davies sah sich um, er wurde das Gefühl nicht los, als würden sie von tausend unsichtbaren Augen belauert. Aber natürlich war das Unsinn, weit und breit gab es kein anderes Lebewesen auf dem Wasser. Von den berüchtigten Tanginseln war ebenfalls nichts zu entdecken. Was, zum Teufel, sollte also passieren? fragte er sich immer wieder. „Ich spüre, wie wir driften", sagte Dan nach einer Weile. „Eine Strömung zieht uns fort. Als ich eben auf den Kompaß sah, entdeckte ich, daß wir uns ganz langsam im Kreis drehen. Man kann es gut an der Stellung des Mondes erkennen." „Verdammt", sagte Matt unruhig. „Fällt dir am Himmel eigentlich nichts auf, Dan?" „Es ist mir schon lange aufgefallen. Es gibt keine Wolken, und trotzdem sieht man keinen einzigen Stern, nirgendwo auch nur das kleinste Blinken." In der Kuhl entstand ein schabendes Geräusch. Die beiden Männer zuckten unwillkürlich zusammen, als sich eine Gestalt erhob und langsam nach achtern zum Niedergang des Decks humpelte. „Dein Vater", raunte Matt dem jungen O'Flynn zu. „Sicher kann er nicht schlafen." Der alte O'Flynn, eine leicht gebeugte Gestalt, ein drohender, irgendwie verunstalteter Schatten, rückte näher. Obwohl er sich bemühte, kein Geräusch zu verursachen, war doch das dumpfe Klack seines Holzbeins überdeutlich und fast schmerzhaft in dieser geisterhaften Stille zu hören. Das Geräusch schien immer lauter zu werden. Nervtötend hallte das eigentümliche Klopfen durch das ganze Schiff. Dan glaubte, das Deck erzittern zu sehen, und aus dem Klacken wurde ein wildes dröhnendes Hämmern, so als schlüge jetzt jemand mit einem gewaltigen Hammer auf die Planken.
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Dann erstarb das Geräusch. Der Alte blieb dicht neben dem hölzernen Niedergang stehen und sah die beiden Männer an. Im rötlichgelben Mondlicht sah sein Gesicht noch zerknitterter und faltenreicher aus als sonst. Er stand da wie ein Dämon aus der Finsternis und lehnte sich an das Geländer. „Lausige Gegend", sagte er, als spräche er zu sich selbst. „Wenn sich doch nur einmal eine kleine Welle erheben würde! Aber es rührt sich nichts. Das Wetter schlägt einem aufs Gemüt." „Uns auch, Dad, aber wir können es nicht ändern. Bei Tageslicht sieht alles anders aus, selbst wenn wir ein paar Tage in den Kalmen hängen, kratzt uns das nicht. Wir haben genug Proviant und Wasser, um es eine Weile auszuhalten." „Darum geht es gar nicht", murmelte der Alte. Er sagte aber auch nicht, um was es ging, sondern behielt es für sich. Sie lachten ihn ja doch immer aus oder machten sich über ihn lustig, bezichtigten ihn der Spökenkiekerei, und doch fühlte er, daß in ganz kurzer Zeit schon etwas passieren würde. Er konnte es nur noch nicht erklären, es war. zu undeutlich und verschwommen. Die an Deck schlafenden Männer bewegten sich unruhig hin und her, erwachten ab und zu und versuchten, weiterzuschlafen. Jeder spürte die Unruhe des anderen und wurde davon angesteckt. Die Stille blieb bis zum Morgen. Und d sie sollte auch noch weiterhin anhalten. 3. Batuti, der die Morgenwache hatte, sah die Nebel zuerst. Anfangs wirkten sie wie lange dünne Spinnenarme, die über das Wasser krochen und es mit hellen Mustern überzogen. Wie Dämonen aus der Tiefe stiegen sie empor und legten sich besitzergreifend um das Schiff. Die Nacht war einem fahlen Dämmer gewichen, die Sonne war nicht zu sehen. Der Horizont verschwand in einer undefinierbaren grauweißen Brühe und
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verlor seine Kontur. Himmel und Wasser schienen eins geworden zu sein. Einer der ersten, die morgens immer an Deck erschienen, war der Kutscher. Er sah sich um und schüttelte den Kopf. „So ein Mist", sagte er laut. Er blickte über das Schanzkleid und versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen, der immer zäher und dichter wurde. Dabei war es allerdings nicht kalt. Er fühlte sich, als sei er in eine dampfende lauwarme Waschküche geraten. Nach und nach erschienen die Männer an Deck, blickten auf die weißgrauen Schwaden und fluchten unterdrückt. Immer noch war nicht der geringste Lufthauch zu spüren. Die Segel hingen faltig wie große Leichentücher an den Rahen. Dort, wo das Wasser teilweise noch zu sehen war, schimmerte es jetzt in einem schwarzblauen Ton. Immer dichter schob sich die gigantische Nebelbank an die „Isabella" heran, bis sie einen undurchdringlichen Berg aus weißer Watte bildete. Bald war das Schiff von den Schwaden so eingehüllt, daß man von der Brack aus kaum noch das Achterdeck sah. Nach einer Weile erschien der Seewolf, gefolgt von Ben Brighton und den Zwillingen, die sofort an Deck herumrannten. „Prächtig", sagte Hasard sarkastisch. „Da hängen wir für eine Weile fest, vielleicht für eine lange Zeit." Er durchquerte die Kuhl bis zum Vordeck, wo die Männer herumstanden und Brühe tranken, die der Kutscher gekocht hatte. „Guten Morgen, Sir", tönte es dem Seewolf vielstimmig entgegen, doch die Worte klangen so leise und gedämpft, daß es kaum zu verstehen war. Der Nebel schluckte sie. Hasard erwiderte den Gruß. Gary Andres reichte ihm eine Tasse heiße Fleischbrühe. Carberry riß ein paar müde Witze über den Nebel, doch die Männer lachten nicht. „Ich kann es nicht erklären", sagte der blonde Schwede Stenmark, "aber auch ich fühle ganz deutlich, daß wir uns bewegen,
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und ich möchte sogar behaupten, daß wir das keinesfalls langsam tun." „Wir haben zwar keinen Bezugspunkt zur Orientierung" erwiderte Hasard, „aber ich spüre es ebenfalls. Nun, passieren kann nichts, es gibt vorerst weit und breit kein Land. Wir können noch tagelang, mehr als eine Woche sogar, so driften, ohne Land zu erreichen. Pete, du kannst nach dem Frühstück mal feststellen, wie oft wir abweichen, oder ob die Richtung konstant bleibt, in der wir treiben." „Das Schiff dreht sich um sich selbst, Sir", sagte Pete Ballie. „Ich weiß, es ist merkwürdig genug. Trotzdem werden wir das herausfinden." „Aye, aye, Sir." Nach dem morgendlichen Essen stand einwandfrei fest, daß die '„Isabella" genau nach Südwesten driftete, also auf ihrem eingeschlagenen und bestimmten Kurs blieb. Im Abstand von etwas mehr als zwei Stunden drehte sie sich dabei einmal um ihre Achse. „Es scheint so, als bewegten wir uns inmitten eines ausgedehnten, riesigen Strudels", sagte der Seewolf. „Ich habe jedenfalls keine bessere Erklärung dafür." Die anderen hatten erst recht keine. Sie mußten sich treiben lassen und abwarten, es gab keine andere Möglichkeit. Die Alternative, die der alte Segelmacher Will Thorne anschnitt, wurde auch sogleich wieder verworfen. Er war noch einer von den alten Seeleuten, genau wie O'Flynn, und brachte den Vorschlag, das große Boot auszusetzen, es zu bemannen, und die „Isabella" damit aus der Kalme in den Wind zu rudern. Aber Hasard war von dieser Idee nicht begeistert. „Das hat keinen Zweck, Will", sagte er. „Wir befinden uns hier am Rand des Sargassomeeres, und ich weiß wirklich nicht, in `welche Richtung wir rudern sollen, um die Kalme zu verlassen. "Außerdem kämen wir gegen die Abdrift nicht an. Nein, nein, Will, es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu treiben. Wenn wir das Boot vorspannen, treiben wir nur ein wenig schneller."
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Das sah der alte Segelmacher schließlich auch ein. Andere brauchbare Vorschläge kamen nicht zustande. Der Nebel wurde noch zäher. Hatte man vorhin noch einigermaßen von vorn nach achtern blicken können, so sah man die Gestalten der Seewölfe vom Vordeck aus in der Kuhl nur noch als verwaschene Umrisse mit zerfließenden Konturen. Schon auf ein paar Yards Distanz ließen sich die Männer kaum noch voneinander unterscheiden. Sie wirkten wie unwirkliche Schemen. Die Welt um sie herum war wie in Watte gepackt, der dichte Nebel schluckte die Geräusche, verfremdete sie, und wenn mal jemand etwas sagte, dann hörte man seine Stimme aus allen möglichen Richtungen erklingen, nur nicht aus der richtigen. Ja, sie alle fühlten überdeutlich, wie ihr Schiff dahinglitt, gepackt von einer unbekannten Strömung, die es weiter nach Südwesten trieb. Es gab kein Gluckern an den Bordwänden, das Wasser teilte sich nicht, und auch hinter dem Rahsegler gab es kein Kielwasser oder Schaum. Geisterhaft still zog das Schiff seine Bahn. Bis zum Mittag hatte sich immer noch nichts verändert. Es sah so aus, als würden sie wie Verdammte der Meere bis in alle Ewigkeit dahintreiben. Erst am späten Nachmittag begann sich der Nebel an einigen Stellen etwas zu lichten. Dan O'Flynn nahm das Spektiv und suchte die See ab, soweit der Nebel das zuließ. Sehr nachdenklich ließ er nach einer Weile das Spektiv wieder sinken. „Ich glaube", sagte er zu Hasard, „da vorn treibt dieser verdammte braune Seetang. Durch den Nebel kann das aber auch täuschen. Ich bin mir meiner Sache nicht sicher." Hasard warf ebenfalls einen langen Blick hindurch. „Du könntest recht haben. Da schwimmt ein großer dunkler Fleck im Wasser, ziemlich flach und gleichmäßig ist er. Behalte das vorerst für dich, Dan, die anderen sollen nicht gleich wieder nervös werden. Denen reicht es noch vom letzten Mal, als wir in dem Zeug festsaßen."
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„Merkwürdig, daß wir Tang sichten", sagte Dan. „Wenn sich alles mit der gleichen Geschwindigkeit fortbewegt wie wir auch, dürften wir keinen sehen." „Das ist richtig. Vorhin haben wir jedenfalls keinen gesehen. Aber es kann sein, daß es hier mehrere Strömungen gibt, die eine schneller, die andere langsamer. Dieses lausige Stück Meer ist noch lange nicht erforscht." Der Tang, oder was immer der dunkle Fleck im Wasser auch sein mochte, verschwand wie hinterm einem schützenden Vorhang, als sich der Nebel erneut zusammenballte. Gleich darauf war der Fleck verschwunden. Dafür riß jetzt an vereinzelten anderen Stellen der Nebel auf. Die Sonne, die hoch darüber stand, ließ sich nur vermuten, zu sehen war von ihrem hellen Schein nicht das geringste. Dunkel und geheimnisvoll lag das Meer teilweise ruhig da, an wieder anderen Stellen schien es zu kochen und zu brodeln. Aber auch dieser Eindruck, hervorgerufen durch den Nebel, täuschte. Auch am Abend hatte sich immer noch nichts geändert. Der Nebel lichtete sich, gab einen Blick auf das Wasser frei und schloß sich wieder. Das wiederholte sich mehrmals. Dann brach die Nacht an, und um die „Isabella" türmten sich Berge aus dunkler Watte. An und für sich war die Deckwache unnötig, aber Hasard verzichtete aus Prinzip nicht darauf. Zu sehen gab es nichts, absolut nichts als wabernde Schwärze. Es war der gleiche Effekt, als wenn man die Augen fest geschlossen hielt. Auf dem Achterdeck erzählte der alte O'Flynn Schauermärchen. Er konnte wieder einmal nicht schlafen, war mißmutig, schlich überall herum und fühlte sich gar nicht mehr wohl in seiner Haut. Es war das Gefühl unbestimmter Vorahnungen, wie er sagte, und die würden sich, verdammt noch mal, auch bald bewahrheiten. Die Nacht verging, die Wachen lösten sich ab, ohne daß einer auch nur den anderen
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richtig gesehen hatte, und der nächste Morgen brach an. Zweieinhalb Tage lang passierte absolut nichts, und die Stimmung der Seewölfe erreichte langsam, aber sicher einen gewissen Tiefpunkt der Resignation. Es war die Hilflosigkeit, die den Männern auf die Nerven ging. Sie trieben einsam in einem immer noch fast unbekannten Meer und sahen nichts. Außer dem Kompaß gab es kein Orientierungszeichen, und der sagte nur aus, daß sie immer noch weiter in Richtung Südwesten drifteten. Nebel wechselte mit zeitweilig eng begrenzter Sicht, aber den ersehnten Wind konnten sie nicht herbeizaubern, obwohl der alte O'Flynn immer dann, wenn er sich unbeachtet glaubte, am Mast kratzte, um so den Wind herbeizurufen. Auch liefen nach altem Brauch ein paar Mann umher und begannen laut und falsch zu pfeifen, ebenfalls eine Methode, Sturm oder Wind anzulocken. Doch es half nicht. Ebensowenig half die Münze, die über den Rücken geworfen wurde. Gewohnheitsmäßig enterte immer wieder ein Mann in den Ausguck, und als heute der junge O'Flynn an der Reihe war, aufenterte und sich hinter die Segeltuchverkleidung stellte, fuhr er zusammen, als hätte ihn der Blitz getroffen. Er kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und schüttelte dann den Kopf. Doch das Bild blieb, es verschwand nicht. Wieder einmal hatte sich der Nebel gelichtet, und aus der luftigen Höhe konnte Dan fast bis zum Horizont sehen. Es war nur ein schmaler Streifen Wasser, den er sah, aber zwischen grauen Nebelfetzen sah er auf diesem kleinen Wasserstreifen ein Schiff. Es mochte etwa drei Meilen querab auf Steuerbord liegen, und lag genau so bewegungslos in der See wie die „Isabella". Dan vergewisserte sich nochmals, daß er auch keinem Trugbild zum Opfer gefallen war. Das Schiff, ein Dreimaster, war etwas kleiner als die „Isabella", und es hatte die Segel anscheinend im Gei hängen, so
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genau ließ sich das auf die Entfernung nicht erkennen. Außerdem deckten immer wieder Nebelschwaden das Schiff zu. Nein, es war kein Hirngespinst, das Schiff existierte, so wahr sich Dan O'Flynn im Ausguck befand. Diese sensationelle Meldung konnte er getrost an den Mann bringen. „Deck!" schrie er. „Schiff Steuerbord querab. Etwa drei Meilen entfernt!" Auf der „Isabella" wurde es nach seinen Worten noch ruhiger. Sekundenlang stand alles wie erstarrt da, dann kam plötzlich Leben in die Seewölfe. „Bist du sicher, Dan?" rief der Seewolf hinauf. „Ganz sicher, Sir, keine Täuschung!" So schnell die anderen auch waren, der Seewolf war noch schneller und schon fast im Ausguck, als die anderen noch nicht einmal die Hälfte geschafft hatten. „Tatsächlich", sagte er. „Genau querab. Das könnte eine englische Karacke sein." „Dachte ich auch, Sir", sagte Dan. „Der Bauweise nach jedenfalls ganz bestimmt sogar." Stenmark reichte dem Seewolf ein Spektiv. Aber als der es auszog, um hindurchzublicken, spielte ihnen der Nebel wieder einen Streich. Noch bevor die anderen es richtig gesehen hatten, war das geheimnisvolle Schiff verschwunden. „Teufel auch", sagte der Profos. „Das sind Leidensgenossen von uns, die hängen genauso in der Kalme wie wir. Ich habe den Kahn noch ganz kurz gesehen. Ob die uns wohl auch gesehen haben?" „Schon möglich", erwiderte der Seewolf. „Aber das werden wir gleich feststellen. Ladet eine der Culverinen und gebt einen Schuß ab. Sie werden bestimmt antworten." Das fremde Schiff, das so geisterhaft aus dem Nebel aufgetaucht war, beschäftigte und erhitzte die Gemüter. Endlich gab es mal eine Abwechslung in der Eintönigkeit. Der Waffen- und Stückmeister Al Conroy lud eine Culverine und feuerte sie ab. Der Donner der Explosion hallte über das Schiff, rollte über die See und wurde vom Nebel gebremst. Auf dem anderen .Schiff..
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mußte er trotzdem noch sehr gut zu hören en gewesen sein. Sie lauschten in den Nebel hinein auf Antwort. In der Kuhl auf der Steuerbordseite hatten sich alle versammelt und warteten. „Das müssen die doch gehört haben, verdammt", sagte Ed. „Oder sitzen die etwa auf ihren Ohren?" „Wie weit hast du die Entfernung geschätzt, Dan?" wollte der Seewolf wissen. „Annähernd drei Meilen, vielleicht etwas weniger." „Ja, weniger als drei Meilen. Noch einmal zwei Culverinen abfeuern, Al, aber nicht gleichzeitig." „Aye, aye, Sir!" Der Seewolf gab mit der Hand ein Zeichen. Conroy zündete, und aus dem Lauf der Kanone zuckte ein rotglühender Blitz, der eine dunkle Pulverwolke hinter sich herzog. Hasard ließ ein paar Minuten verstreichen, ehe der dritte Schuß abgefeuert wurde. Die Stille danach wirkte fast beängstigend. Von dem anderen Schiff erfolgte keine Antwort, so sehr sie auch darauf warteten. „Ob die Brüder ein schlechtes Gewissen haben?" fragte Blacky, der wieder gut laufen konnte, seit ihm das Faß den rechten Knöchel gebrochen hatte. Den Stützverband aus Lehm hatte der Kutscher längst entfernt. „Vielleicht benötigen sie auch Hilfe, oder sie sind schon halb verhungert oder verdurstet", vermutete Hasard. „Wer weiß, wie lange sie schon in der Kalme hängen." „Oder es ist ein Geisterschiff", sagte der alte O'Flynn und ignorierte Hasards vorwurfsvollen Blick. „Hatten wir doch schon mal erlebt", fuhr er fort. „Geisterschiffe gibt's genug, sie treiben sich auf allen Meeren herum." Einige Seewölfe grinsten und sahen den Alten an, der es nicht lassen konnte, immer und ewig auf eventuell drohende Gefahren von Geisterschiffen oder anderen Spuk hinzuweisen. „Das, was Dan und ich gesehen haben", sagte Hasard, ohne auf O'Flynns Gefasel
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einzugehen, „sah ganz nach einer englischen Karacke aus, es ist nicht auszuschließen, daß es auch ein anderes Schiff ist, der Nebel verwischte alles. Aber wer immer es auch sein mag, er benötigt Hilfe, denn er befindet sich in der gleichen verdammten Situation wie wir, nur wahrscheinlich schon länger." „Heißt das, wir pullen hinüber?" fragte Ben Brighton. „Ja, wir werden nachsehen, ob jemand Hilfe braucht." Diesmal war es der Profos, der mahnend den Finger erhob. „Das kann auch eine Falle sein, Sir!" Hasard schüttelte den Kopf. „Das ist mit Sicherheit keine Falle", erklärte er. „Außerdem gehen wir ja nicht unvorbereitet an Bord." "Da ist noch etwas, Sir", gab der Profos zu bedenken. „Wenn wir mit dem Boot hinüberpullen und verirren uns in der dicken Suppe, dann werden wir die „Isabella" niemals wiederfinden, so wahr ich Carberry heiße." „Ich höre mir immer gern gute Argumente an", sagte Hasard gelassen und strich sich die Haare aus der Stirn. „Aber da die Leute, die hinüberpullen, j a nicht schlafen, werden sie auch wieder zurückfinden.- Wir werden chinesisches Feuer abbrennen, oder die Richtung mit Musketenschüssen bestimmen." „Und die Strömung, Sir?" fragte der Decksälteste Smoky. Hasard stemmte die Arme in die Seiten und sah seine Männer etwas spöttisch an. „Ich höre immer nur faule Ausreden", sagte er sanft. „Liegt das etwa daran, daß Donegal den Kahn für ein Geisterschiff hält? Hat deswegen jemand Angst?" Smoky leckte sich über die Lippen, schob die Hände in die Hosentaschen und grinste schwach. „So war das nicht gemeint, Sir." „Ich weiß, Smoky, ihr kämpft, daß die Fetzen fliegen, und ihr habt vor nichts Angst, nicht mal vor der zehnfachen Übermacht Spanier. Aber wenn ihr etwas von Geisterschiffen hört, dann werden die
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meisten schwach. Dabei gibt es für alles eine ganz natürliche Erklärung." „Ich meinte ja nur, weil der Kahn nicht geantwortet hat", verteidigte sich der Decksälteste. Ja, das war es, was die meisten irritierte. Wenn es dort drüben Leben an Bord gab, dann hätten sie antworten müssen, zumal sie sich ja in der gleichen aussichtslosen Lage befanden wie die Seewölfe selbst. Gab es aber kein Leben an Bord, dann - ja, dann war es eben doch ein Geisterschiff, und das ließen sie am liebsten ganz links liegen oder ganz rechts, auf Steuerbord, wie es diesmal der Fall war. „Geisterschiff oder nicht", sagte Carberry, „das juckt mich überhaupt nicht. Ich bin dabei, Sir, wenn wir hinüberwollen." Plötzlich waren alle dabei, bis auf Donegal O'Flynn, der sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als zu dem Schiff zu pullen. „Tut was ihr wollt", erklärte der Alte störrisch. „Mich kriegen da keine zehn Pferde an Bord, das sage ich euch." „Du bleibst sowieso hier", entschied der Profos. „Selbst wenn es da Geister gibt, würdest du sie ja doch nur vertreiben." So richtig wohl fühlte sich trotzdem keiner in seiner Haut. Sie brauchten nur an die damalige Zeit im Sargassomeer zurückzudenken, als sie morgens erwachten, und einen ganzen Schiffsfriedhof vor sich sahen, Dutzende Wracks, uralt und zerfallen, hoffnungslos im Schlick und Tang festsitzend. Konnte es nicht sein, daß auch dieses Schiff eines jener Wracks war, die auf unerklärliche Art und Weise die Meere durchfuhren und an den unmöglichsten Orten auftauchten? Schiffe, von der Besatzung längst verlassen oder aufgegeben, Schiffe mit Toten an Bord. Hasard selbst dachte überhaupt nicht daran. Ihn bewegte immer noch Smokys Argument, das die Strömung betraf. So ganz unrecht hatte der Decksälteste gar nicht einmal. Wenn es hier wirklich mehrere Strömungen gab, dann konnte es sehr schnell passieren, daß ein Boot so
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hoffnungslos abdriftete, daß es nicht mehr zu seinem Schiff zurückfand. Aber sie waren kräftige Kerle, kannten sich aus, fürchteten Tod und Teufel nicht und waren Seemänner von echtem Schrot und Korn. Da mußte es wirklich mit dem Satan zugehen. „Fiert das kleine Boot ab", sagte Hasard. „Steckt euch Pistolen in den Gürtel, nehmt zwei Brandsätze und drei Musketen mit. Wer geht freiwillig mit?" Alle meldeten sich, am eifrigsten waren die Zwillinge, aber die konnte Hasard nicht brauchen, obwohl es für sie ein aufregendes Erlebnis zu werden versprach. „Drei Mann genügen völlig", sagte er. „Wir wollen ja nur einmal nachsehen, ob sie Hilfe brauchen, oder was da an Bord der Karacke los ist. Ed, such noch zwei Männer aus!" Carberrys Finger deutete auf Dan und Ferris Tucker, seinen Freund. Niemand maulte, im Grunde genommen war es ihnen recht, es drängte sich auch keiner vor, als Ed die beiden Männer bestimmte. Oben im Ausguck suchten Bob Grey und Jeff Bowie immer noch verzweifelt nach dem fremden Segler, doch sie sahen ihn nicht mehr. Der Nebel hatte ihn wieder verschluckt, und er war so geheimnisvoll verschwunden, wie er aufgetaucht war. Carberry nahm den Kompaß mit ins Boot, damit sie die Richtung einhalten konnten, in der das Schiff gesichtet worden war. Die Möglichkeit, dicht daran vorbeizufahren und es zu verfehlen, bestand immerhin. Inzwischen war auch das Boot abgefiert worden und lag jetzt völlig bewegungslos an der Bordwand der „Isabella". Hasard vergewisserte sich nochmals, daß die Männer nichts vergessen hatten. „Wir bleiben nicht lange", sagte er, als er über die Jakobsleiter ins Boot stieg. „Wenn die da drüben Hilfe brauchen, sind wir ohnehin gleich wieder zurück." „Paßt auf, daß es keine Falle ist", schärfte ihnen Big Old Shane noch einmal ein. „Ihr wißt, wie schnell das geht. In dem Nebel
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können wir nicht viel für euch tun, weil wir den lausigen Kahn überhaupt nicht sehen." „Schon gut", wehrte Hasard ab. „Wir passen auf, Shane. Ben übernimmt für die Zeit meiner Abwesenheit das Kommando." Carberry, Dan und Ferris Tucker bestiegen ebenfalls das Boot. Der rothaarige Schiffszimmermann hatte auch diesmal nicht auf seine große Axt verzichtet. Für ihn war das Werkzeug und fürchterliche Waffe zugleich. Hasard setzte sich auf die hintere Ducht. Dan saß neben ihm, während Ed und Ferris das leichte Boot pullten. Sie stießen es von der Bordwand ab, dann tauchten die Riemen gleichzeitig ins Wasser. Es dauerte nur ein paar Schläge, dann verschluckte der Nebel das Boot, und auch die Geräusche erstarben schlagartig. Besorgt blickten die anderen Seewölfe dem Boot nach. „Wenn das nur gutgeht", unkte der alte O'Flynn. „Ich hab wieder mal so ein lausiges, komisches Gefühl." „Dann laß doch die Hosen runter und geh nach vorn", riet Stenmark grinsend, aber er erntete nur einen giftigen Blick. 4. Es war ein seltsames und eigenartiges Gefühl, durch eine Welt aus Watte dahinzugleiten, in der alles unwirklich war. Kaum hatten sie abgelegt, da verzerrten sich auch schon die Konturen der „Isabella", und der Rahsegler sah jetzt selber wie ein Geisterschiff aus, an dem die Segel herabhingen und die Masten nur schemenhaft zu erkennen waren. Die Riemen tauchten gleichmäßig ins Wasser, das Geräusch, das dabei entstand, verlor sich augenblicklich wieder. Gleich darauf war auch die „Isabella" verschwunden, als hätte sie aufgehört zu existieren. Die Welt war still und wie tot, sie bewegten sich in einer Sphäre, die einem Traum ähnelte, weil alles so unwirklich und geheimnisvoll war.
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Hasard hielt den kleinen Kompaß fest und legte ihn auf die Ducht. Dabei beobachtete er genau die Nadel. „Etwas mehr Backbord", sagte er. „Gut so, auf Kurs bleiben. Dan, du sagst mir sofort, wenn du auch nur den Schatten des fremden Schiffes siehst. Es wird noch eine Weile dauern, aber ich möchte es nach Möglichkeit nicht verfehlen." „Wird verdammt schwer sein, ihn zu finden", entgegnete Dan. „Aber vielleicht reißt der Nebel stellenweise wieder auf, und wir haben etwas Glück." „Ja, Glück gehört dazu, trotz Kompaß." Tucker und Carberry pullten schweigend. Ihre mächtigen Gestalten schienen Löcher in dem Nebel zu hinterlassen und ihn aufzureißen. Dichte Schwaden trieben um die Köpfe der beiden Männer, die selbst von Hasard nicht deutlich gesehen werden konnten. Etwas später wurde der Nebel zäh und hing wie eine feste Wand vor dem kleinen Boot. „So dicht habe ich ihn noch nie gesehen", sagte Ed in die Stille hinein. Selbst seine Worte waren zäh und dick wie Sirup. Obwohl sich die vier Männer gegenübersaßen und sich zwangsläufig ansahen, bemerkten sie sich kaum noch. Man konnte den Nebel mit der Hand greifen, so dicht wurde er jetzt. Wenn die Riemen durchs Wasser gezogen wurden, hörte es sich an, als dringe das Geräusch von weit her, von einem anderen Boot. Hasard, der immer noch auf den Kompaß blickte, korrigierte erneut den Kurs. „Mal feststellen, ob sie uns auf der „Isabella" noch hören", sagte er. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief mit lauter Stimme den Namen seines Schiffes. Aber niemand antwortete. Die weiße Substanz schluckte das Geräusch gierig und erstickte es. „Na ja", meinte er, „wir sind ja auch schon ein ganzes Stück von ihr entfernt. Sie können uns nicht mehr hören." Es war ganz offensichtlich, daß Carberry, Tucker und O'Flynn sich nicht besonders
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wohlfühlten. Hasard dagegen nahm das alles wesentlich gelassener hin. Eine Weile lang wurde schweigend weitergepullt. Dan wollte einen der beiden Männer ablösen, aber Carberry schüttelte den Kopf. „Das bißchen Pullen ist ein Klacks", meinte er. „Deine Seeadleraugen sind viel mehr gefragt. Du siehst den Kahn ja schon, wenn er noch hinter dem Horizont ist." „So wild ist das auch wieder nicht", schwächte Dan ab. Weiter ging die fast lautlose Fahrt durch die weißen Schleier. Mitunter schien es den Männern, als bestünde das Boot nur noch aus einer Hälfte, während die andere irgendwohin verschwunden war. Einmal war es Dan, als schwebe hoch über ihren Köpfen etwas flatternd dahin. Auch Hasard hatte das Geräusch gehört. Tucker blinzelte unter halbgeschlossenen Lidern nach oben, aber er sah nichts außer der zähen Wand, die sie von allen Seiten umgab und einhüllte. Eine halbe Stunde verging, dann räusperte sich Dan. „Verdammt, bei dem Schlag, den wir pullen, müßten wir längst bei der Karacke sein", sagte er. „Das finde ich auch", sagte Ed. „Wir sind ganz dicht in der Nähe und werden es schon merken, wenn wir gegen die Planken knallen." So optimistisch sich der Seewolf auch gab, er war es jetzt ebenfalls nicht mehr. Sie brauchten nur ein oder zwei Yards an dem Schiff vorbeizulaufen, dann fanden sie es nicht, weil sie nicht einmal seinen Schattenzehen würden. Dan saß auf der Ducht und starrte sich die Augen aus, bis sie schmerzten und er nur noch flirrende Linien wahrnahm. „Hört mal auf zu pullen!" sagte Hasard. „Wir rufen noch einmal, wir müssen in der Nähe sein." Die Riemen blieben waagerecht in der Luft hängen, die Fahrt sank rapide, bis das Boot unbeweglich liegenblieb. Hasard legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief laut in die Richtung, in
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der er das Schiff vermutete: „Hallo! Wir bringen Hilfe. Meldet euch!" Er wiederholte die Worte noch einmal in Spanisch, weil sie immer noch nicht genau wußten, welcher Nationalität der Segler angehörte. Er sprach wie durch einen gewaltigen Trichter, doch die Worte schienen buchstäblich in der Luft zu hängen und wurden kaum weitergetragen. Jedenfalls antwortete niemand. Alle vier Männer wollten es nicht wahrhaben, daß sie an der Karacke vorbeigerudert waren, und doch mußte es so sein. Für die knapp drei Meilen Entfernung war die Zeit längst vorbei. Vermutlich befanden sie sich schon weit hinter dem fremden Schiff. Hasard verglich wieder den Kompaß und fluchte unterdrückt. „Soll ich einen Schuß abfeuern?" fragte Dan den Seewolf. „Nein, lieber nicht. Falls man ihn auf der Isabella` hört, gerät da alles durcheinander. Wir fahren jetzt einen kleinen Bogen nach Backbord und ziehen einen Kreis. Finden wir das Schiff dann immer noch nicht, geht's wieder zurück." Die Riemen tauchten wieder ein, und der Seewolf dirigierte den Kurs mit Handbewegungen. Nicht mehr lange und Dan O'Flynn griff nach dem Arm des Seewolfs. „Halt!" rief er leise, „da könnte es sein, man sieht einen Schatten." Hasard sah den angeblichen Schatten immer noch nicht, und auch als die beiden Ruderer sich umdrehten, konnten sie nichts erkennen. „Mann", sagte Carberry andächtig. „Wenn das stimmt, ist ein Seeadler ein blindes Huhn gegen dich!" Jetzt sah Dan den Schatten auch nicht mehr, denn seine Augen brannten höllisch, aber noch während das Boot weitertrieb, tauchte ganz überraschend dicht vor ihnen eine dunkle Wand auf. Das Heck des Schiffes erschien im Nebel, und sie wären ohne die letzte Korrektur tatsächlich achtern daran vorbeigelaufen, ohne es zu finden.
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Carberry sprang auf und drückte mit der Hand gegen die Planken, um den Anprall abzufangen. Sofort zog er seine Hand zurück. „Pfui Teufel", sagte er angewidert und betrachtete seine grünverschmierte Hand. „Der Kahn ist glitschig, als würde er schon jahrelang vor sich hinfaulen." „Das sind kleine Algen, nichts weiter", sagte Ferris. „Das stammt von der See, wenn der Kasten eintaucht." Ed griff zum Ruder und hämmerte einmal hart gegen die Planken. „He, ihr Rübenschweine!" rief er. „Wo bleibt die Begrüßung?" Dumpf und hohl setzte sich der Schlag durch das Schiff fort. Alles blieb unheimlich still. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen", rügte Hasard. „Los, weiter am Rumpf entlang!" Das eigentümliche Schiff flößte ihnen Beklemmung ein, nicht ausgesprochene Angst, aber es verursachte doch einen dumpfen Druck auf der Brust und ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Nur dem Seewolf schien das alles gleichgültig zu sein. Er stellte sich auf die Ducht und versuchte den Namen am Heck zu entziffern. Doch die mit Farbe aufgetragenen Buchstaben waren längst abgeblättert und die Stellen darunter so verwaschen, daß sich nichts erkennen ließ. „Ich tippe doch eher auf einen Spanier", sagte er leise. „Aus der Entfernung hat das Bild getäuscht. So bauen nur die Spanier, oder bist du anderer Ansicht, Ferris?" Tucker betastete das Holz, kniff die Augen zusammen und stieß ein paarmal mit dem Daumen gegen die Planken. „Dem Verlauf des Achterstevens nach ganz sicher ein Don", sagte er. Doch nahm er die Finger so plötzlich von den Planken, als hätte er sich an dem Holz verbrannt. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und er stieß einen verhaltenen Fluch aus. „Verdammt, da drin hat es gerumpelt", sagte er. Den drei anderen Männern war das Geräusch ebenfalls nicht entgangen, und bis auf Hasard schluckten sie alle.
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„Ein Zeichen, daß sich jemand an Bord befindet", sagte er lässig. „Seid auf der Hut, haltet die Waffen schußbereit." Immer wieder blickten sie nach oben zum Schanzkleid, ob sich da vielleicht ein Gesicht zeigte. Unendlich vorsichtig umfuhren sie das Schiff. Von außen konnten sie jetzt Einzelheiten erkennen, und Dan wies zu den Masten. „Seht nur", flüsterte er. „Das sind keine aufgegeiten Segel, das sind nur noch Fetzen, die da herabhängen! Total zerfetzt und vergammelt." Tucker legte den Kopf in den Nacken. Was Dan da sagte, stimmte. Es waren die Überreste ehemaliger Segel, die da herunterhingen. Zerschlissen, vermodert, zerlumpt, sie befanden sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Für Hasard war das ein Beweis, daß die Karacke schon lange nicht mehr segelte, sondern im Sargassomeer herumtrieb, natürlich ohne Besatzung. Aber was hatte dann das Geräusch zu bedeuten? Mit angehaltenem Atem lauschten sie. „Anscheinend ist doch niemand an Bord", sagte der Seewolf. Carberrys Gesicht hatte sich verschlossen, nur seine Augen blickten äußerst mißtrauisch drein. Er traute diesem Höllenkahn nicht und dachte an O'Flynns Unkereien. Sollte der Alte wieder einmal recht behalten? Jetzt hatten sie die fremde Karakke einmal umrundet und befanden sich wieder am Ausgangspunkt. Nirgendwo hing ein Tau oder eine Jakobsleiter herunter. „Wir gehen an Bord und sehen uns um", entschied Hasard. „Einer bleibt zur Sicherheit im Boot." Sie sahen sich an, und Dan nickte. „Gut, ich bleibe. Ferris als Zimmermann muß sowieso mit, und der Profos als Zuchtmeister gehört einfach dazu, er hat ja immer den Vortritt." „Nun, nun", sagte Ed gönnerhaft. „Ich kann ja auch ausnahmsweise einmal im Boot bleiben, da will ich gar nicht auf meine Rechte pochen. Ob ich den
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verlausten Kahn nun von innen sehe oder nicht, wird ja nicht viel ändern." Aber Dan blieb grinsend dabei und betrachtete das lange Gesicht, das der Profos zog. Ed schien sich ausgesprochen unbehaglich zu fühlen, denn für Segler dieser Art hatte der gute Profos nicht sehr viel übrig. Hasard hatte einen langes Tau mit einem Enterhaken mitgenommen und warf es über das Schanzkleid, wo es sich sofort verhakte. Er prüfte die Zugfestigkeit und kletterte nach oben. Ihm folgten Tucker und der Profos, den trotz der Wärme ein bißchen fror. Carberry war ganz gewiß keine ängstliche Natur, das konnte ihm jeder bestätigen, der ihn beim Kämpfen gesehen hatte. Aber er hatte eine Abneigung gegen mitternächtliche Friedhöfe und verlassene Schiffe, auf denen es nicht geheuer war. Dagegen vermochte er sich mit seinen gewaltigen Körperkräften nicht zu wehren. Das war etwas, das man nicht greifen oder packen konnte, das waren Mächte, gegen die man nicht ankam. Sie standen mit den Pistolen in den Fäusten an Deck und sahen sich um, während Dan unten das Boot vertäute. Der erste Eindruck war beklemmend. Die Karacke sah aus, als läge sie schon seit Ewigkeiten hier fest. Das Deck war schon lange nicht mehr gesäubert worden und hatte grünlichen und weißen Schimmel angesetzt, der es wie eine dünne Haut bedeckte. Ein paar Fetzen, brüchig und morsch, die von den Segeln stammten, lagen an Deck und vermoderten. Vom hinteren Mast fehlte ein großes Stück, und auch dort lagen vergammelte Leinwandfetzen auf den grünlich schimmernden Planken. Hasard sah sich argwöhnisch nach allen Seiten um. Noch immer hatte er das merkwürdige Geräusch im Ohr, das wie ein dumpfes Poltern geklungen hatte. Er blickte nach vorn. Die Schotten waren geschlossen, auch das der Kombüse, und auf dem Vordeck regte sich nichts.
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Auf der Kuhl war das Bild das gleiche. Angemodertes Tauwerk lag herum, ein paar Planken hatten sich aufgewölbt, waren aber nicht zersplittert. Es herrschte leichte Unordnung, als wäre jahrelang 'nichts mehr getan worden. Drei leere, aufgeschlagene Fässer lagen herum. Was sie enthalten hatten, ließ sich nicht mehr feststellen. Was, so fragte sich der Seewolf, würden sie in den Räumen wohl vorfinden? Skelettierte Leichen wie damals? Ein paar Tote, die in ihren Kojen lagen? Nein, so sah es nicht aus. An Deck selbst fand sich nicht der geringste Hinweis, daß es hier Tote gab. „Der Kahn ist allem Anschein nach verlassen worden", sagte der Seewolf, „und das schon seit einigen Jahren." Tucker hatte an den Planken herumgekratzt, ein wenig mit der scharfen, Seite der Axt gestochert und schüttelte den Kopf. „Das sieht nur auf den ersten Blick so aus", sagte er. „Das Schiff treibt noch nicht lange, ich schätze, höchstens ein halbes Jahr, mehr nicht. Es gibt keine Beiboote an Bord, demnach scheint man es in aller Eile verlassen zu haben. Hier hat uns jedenfalls niemand in eine Falle gelockt." Der Nebel ließ das verlassene Schiff noch weitaus gespenstischer erscheinen, als es in Wirklichkeit war. Bei strahlender Sonne mochte alles nur halb so schlimm aussehen, aber die traurig herabhängenden Segelfetzen, das modrige Deck, die vergammelten Aufbauten und der Geruch nach faulendem Holz verliehen dem Schiff doch etwas Unheimliches. So ganz trauten sie der Sache immer noch nicht, und als es einmal knackte, fuhr der Profos wieselflink herum und richtete seine Pistole auf das Deck. „Das waren die Planken", sagte Tucker trocken. „Die tun dir ganz bestimmt nichts." „Himmelarsch", fluchte Ed. „Das hätte ja auch etwas anderes sein können." „Klar, Wassermänner zum Beispiel, die sich durch die Planken fressen", sagte der Seewolf lächelnd.
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„Sir!" sagte Ed vorwurfsvoll. „Du selbst hast uns eingehämmert, vorsichtig zu sein und nicht blindlings irgendwo hineinzurennen. Das hat nichts mit Angst zu tun." „Das ist richtig, Ed, aber hier gibt es wirklich niemanden, ich glaube es jedenfalls nicht." Hasard hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als es an der Bordwand aufdröhnte. Wieder hallte es wie ein Riesengong durch die unheimliche Stille. Carberry stürzte zum Schanzkleid und sah ins Boot hinunter. „Was soll das, du Blödmann!" herrschte er den verdutzten Dan an. „Willst du hier Geist spielen?" „Blas dich nicht so auf, Mister Profos!" rief Dan nach oben. „Ich war das nicht, ich habe das Geräusch auch gehört. Oder glaubst du, ich hämmere hier aus Langeweile gegen die Schiffsplanken, was, wie?" „Dann - dann kam das aus dem Schiff?" fragte Ed schluckend. „Woher denn sonst wohl? Klar kam es aus dem Kahn. Genau wie vorhin auch!" „Das müssen Planken, Spanten oder die Masten im Kielschwein sein", sagte Ferris Tucker. „Das Holz arbeitet pausenlos, ein Schiff, das nicht in Bewegung ist, verrottet und verkommt. Dann gibt es Spannungen durch die Trockenheit, durch Hitzeeinwirkung und vieles mehr." „Aber das hörte sich verdammt anders an", sagte Ed. „Wahrscheinlich ist der Nebel dran schuld, Ed. Der verzerrt die Geräusche, und man glaubt Wunder was zu hören." „Wenn du meinst." So ganz befriedigte den Profos diese Antwort nicht, aber er sagte nichts mehr darauf. „Ihr bleibt hier stehen", sagte Hasard, „ich werde mich einmal dort vorn umsehen." Hasard ging bis an das Schott und riß es auf. Es klemmte etwas, aber schließlich gab es mit einem häßlichen Quietschen nach und öffnete sich. Er trat in eine halbdunkle Kombüse und sah sich um. Zwei fette Ratten flitzten über
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die Planken und verschwanden in einem Loch, das sie durch das Deck genagt hatten. In der Kombüse herrschte schmuddelige Unordnung. Pfannen, Töpfe und Kessel waren schwarz und fettig. In den beiden Herden lagen noch halbverbrannte Reste von Holzkohle. Als er das Schapp aufriß, quoll ihm geschrotetes Getreide entgegen, grobes Mehl, in dem ebenfalls die Ratten hausten. Sie hatten sich ein ganzes Nest gebaut und ließen: sich nur widerwillig stören. Auch sie verschwanden in einem Loch in der Wand dicht hinter dem Schapp. In der Kombüse gab es noch Vorräte. Vieles war verschimmelt und verfault, und einiges hatten die Ratten gefressen, die sich hier ausgesprochen wohl fühlten. Steinhartes Brot fand sich, dann knochentrockener Zwieback, in dem Mehlwürmer herumkrochen und dunkle Kakerlaken ihr Unwesen trieben. Hasard verließ die Kombüse und hob auf die fragenden Blicke der beiden Männer die Schultern. „Nur Ratten und Ungeziefer, sonst nichts", sagte er. „Scheint so, als hätten sie das ganze Schiff in Besitz genommen." „Keine Toten?" fragte Carberry zurück. „Bisher habe ich keinen gefunden." Der Seewolf ging weiter nach vorn, wo sich das andere Schott befand. Auch dieses ließ sich leicht öffnen, und er blickte in pechschwarze Finsternis. Es roch modrig und faul, als wäre hier jahrelang nicht mehr gelüftet worden. Er öffnete das Schott noch weiter, bis schwaches Dämmerlicht in den Raum fiel und stieg dann die Treppe hinunter. Die Kammer war nicht einmal halb so groß wie die auf der „Isabella". Die Decke war niedrig und von schweren Balken durchzogen. Das Logis erinnerte an eine dunkle Höhle, an eine Gruft, die der Seewolf seinen eigenen Leuten niemals zugemutet hätte. Die Kojen bestanden aus Verschlägen mit ein paar Brettern. Darüber hatte man Säcke gebreitet, sonst nichts.
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Seine Augen hatten sich mittlerweile an das zwielichtige Halbdämmer gewöhnt, und er erwartete jeden Augenblick, eine mumifizierte Leiche in einer der Kojen anzutreffen. Alle zwölf Kojen waren jedoch leer. Auch hier unten quietschte es leise, und Hasard hörte, wie die Ratten davonhuschten. Kopfschüttelnd ging er wieder an Deck. Für das Vorschiff blieb jetzt nur noch die Piek. Andere Räume gab es hier nicht mehr. Carberry und Tucker sahen es ihm an den Augen an, daß er auch hier nichts gefunden hatte. Sie standen immer noch an Deck, nur hatten sie die Pistolen eingesteckt. Tucker hielt seine schwere Axt jedoch in der Hand. In der Vorpiek stand die Brühe halbyardhoch, als Hasard den schweren Riegel zurückschob. Hier gab es keine Ratten, die waren längst ausgekniffen und hatten sich die besseren Plätze an Bord gesucht, wo es gemütlicher war. Aber Wasserfässer standen dort. Vierzehn zählte der Seewolf im ganzen, fast die Hälfte von ihnen war noch gefüllt. Er drehte probeweise den hölzernen Hahn auf. Grünschilldernde Brühe floß auf die Gräting. Das Wasser roch verfault und ekelhaft, und es befanden sich grüne Fäden darin. Das Schott ließ er offen und ging wieder an Deck. „So, jetzt die Kuhl, die Segellast und was der Räume mehr sind", sagte er. „Dieses Schiff gibt mir immer mehr Rätsel auf. Aus irgendeinem Grund hat es seine Mannschaft verlassen. Aber überall finden sich Lebensmittel und in der Piek sind sogar die Fässer noch voll Wasser, auch wenn es verfault ist." Hasard wollte weitergehen, doch dann blieb er wie angewurzelt stehen und sah Ed und Ferris nachdenklich an. „Einen Augenblick", sagte er gedehnt. „Das fällt mir erst jetzt auf. Eigenartig", murmelte er. „Was ist eigenartig, Sir?" fragte der Profos. „Kommt mit", sagte Hasard.
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Gemeinsam gingen sie noch einmal zur Vorpiek, und Hasard zeigte auf die Schöpfkelle neben den Wasserfässern. Sie baumelte an einem kupfernen Nagel, der ins Holz gebogen war. „Die Kelle ist noch viertelvoll", sagte er. Die drei Männer sahen sich nach diesen Worten betroffen an. „Wenn wir voraussetzen, daß das Schiff seit einem Vierteljahr mindestens oder sogar einem halben Jahr von der Mannschaft verlassen ist, dann würde doch in dieser Zeit ganz sicher das Wasser in der Schöpfkelle verdunsten, nicht wahr?" „Allerdings", murmelte Carberry entgeistert. „Vorhin fiel mir das gar nicht auf, ich dachte mir nichts dabei, die Erleuchtung kriegte ich erst auf dem Rückweg." Mehr brauchte der Seewolf nicht zu sagen, die Männer hatten kapiert, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Folglich mußte es doch noch ein menschliches Lebewesen an Bord geben. Die Geräusche von vorhin fielen ihnen wieder ein. 5. So unwahrscheinlich es klang, aber auf diesem treibenden, langsam verrottenden Wrack befand sich noch jemand. Mittlerweile stand für die Seewölfe auch fest, daß der Dreimaster aus Spanien stammte. Das ließ sich an vielen Einzelheiten einwandfrei erkennen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf diesem Segler noch jemanden zu wissen, der sich nicht blicken ließ, der sich aber durch ein paar Geräusche verraten hatte. „Sehen wir in der Kuhl nach", sagte Hasard. „Ihr laßt das Deck keine Sekunde lang aus den Augen!" Die beiden nickten stumm, und diesmal war es Ferris Tucker, der mit einem Ächzlaut herumfuhr, als hinter seinem Rücken eine Stimme aufklang. „Was gefunden?" fragte Dan, der sich an dem Tau halb hochgezogen hatte und nun über das Schanzkleid blickte.
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Tucker hatte seine Riesenaxt bereits zum Schlag erhoben und war herumgewirbelt. Dann aber hielt er inne. „Mann", stöhnte er, „du willst wohl mit aller Gewalt noch deine eigene Beerdigung feiern, was? Meine Nerven sind stramm wie Ankertaue, aber auch die können schnell durchscheuern. Wir vermuten, daß sich jemand an Bord befindet, der Kapitän sieht gerade nach." „Das kann doch nicht wahr sein", meinte Dan. Er sah dem Seewolf nach, der gerade wieder hinter einem Schott verschwand, das in die Segellast führte. Hasard fand alte übelriechende Segel, über und über mit Schimmel und dunklen Stockflecken bedeckt. Am Liek waren die Segel teilweise ausgefranst, an einigen Stellen befanden sich Löcher, die vielleicht auch von den Ratten stammten. Taue lagen herum, dazwischen Holzplanken, eine Rah und vermoderte Flaggen, deren Farbe kaum noch zu erkennen war. Auch hier hielt sich niemand auf. Hasard nahm eine Lampe, entzündete sie mit Flintstein und Stahl nach einiger Mühe und leuchtete mit dem blakenden Ding die Segellast ab. Der Wust von Tauen und Segeln war so groß und so unordentlich, daß er nicht bis ans hintere Schott gehen konnte. Oben, an Deck, gesellte sich Ferris Tucker zu ihm, während der Profos mit der Waffe in der Hand weiterhin das Deck sicherte. „Jetzt bleiben nur noch die achteren Kammern", sagte Hasard. „Und die Laderäume", setzte Tucker hinzu, „aber dort wird sich wohl kaum jemand aufhalten." In die Kapitänskammer sprang Hasard mit einem riesigen Satz, glitt zu Boden und richtete sich sofort wieder auf, in der Hand den Radschloßdrehling haltend. Nach menschlichem Ermessen konnte sich der Unbekannte nur noch hier oder in den anderen Nebenräumen aufhalten. Nichts rührte sich, als auch Ferris Tucker eintrat und sich umsah.
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Anscheinend hatten hier die Vandalen gehaust, denn der Kartentisch war nur noch ein Trümmerhaufen, und die Bettwäsche aus der Koje lag verstreut am Boden. Alles war in Unordnung, zerschlagen, zerstört, sogar die Lampen. Fetzen von zerrissenen Seekarten lagen herum, die Schapps waren aufgebrochen und ihr Inhalt über den ganzen Raum verstreut. Das, was sie vorfanden, wurde immer mysteriöser und eigenartiger. „Hier muß ein Verrückter gehaust haben", meinte der Seewolf. „Oder der Kapitän hat das alles zertrümmert, ehe er von Bord ging, damit nichts in falsche Hände gelangte. Trotzdem ist es widersinnig." „Was, zum Teufel, mag die Kerle bewogen haben, das Schiff zu verlassen?" fragte Ferris Tucker. „Entweder hatten die hier die Pest an Bord oder..." „Oder?" fragte Hasard sanft. „Oh, nichts", murmelte der Schiffszimmermann. Von Geistern, die hier umgingen, wollte er nicht erst anfangen. „Jedenfalls ist das Schiff, wenn man so will, in einem leidlich einwandfreien Zustand", sagte er anschließend. „Es ist nicht beschädigt, es zieht kein Wasser und kann segeln, wenn man sich darum kümmert. Und Kämpfe hat es auch nicht gegeben, sonst müßten deutliche Spuren zu finden sein." „Da hast du recht, Ferris. Aber jetzt hat es mich gepackt, das Rätsel müssen wir lösen, unbedingt." „Du sagst es. Etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu." Wieder war ein Knacken irgendwo im Schiff zu hören, aber es ließ sich nicht feststellen, woher das Geräusch kam. Es hörte sich so an, als wäre jemand gesprungen. Beide sahen sich an, aber sie sagten nichts. Stattdessen gingen sie unter der nötigen Vorsicht zur nächsten Kammer, die offenbar dem ersten Offizier gehört hatte. Hier war es feucht, modrig und die Luft abgestanden. Die spartanische Einrichtung war nicht zertrümmert. Der Raum wirkte,
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als hätte hier seit Menschengedenken niemand mehr gehaust. Auch die folgende Kammer war leer und die übernächste. Dann gab es noch eine Vorratskammer, einen großen hohen Raum. Von hier bezogen die ehemals zur Schiffsführung gehörenden Besatzungsmitglieder anscheinend ihre Extra-Portionen, oder sie wurden von hier aus verteilt, weil die Mannschaft klaute. Alles war von Schimmel überzogen, aber die Spuren in den Mehlsäcken, Bohnen und Schrot bewiesen, daß entweder auch die Ratten am Werk gewesen waren oder sich irgend jemand hier Nahrung beschafft hatte. Jetzt blieben nur noch die Laderäume und die Pulverkammer übrig. Mehr Räume hatte der Segler nicht aufzuweisen. Ihre Stiefel hallten über die Planken, als sie zu Carberry zurückkehrten und ihm berichteten. Der Profos verzog das Gesicht. „Donegal hatte gar nicht mal so unrecht mit seinem Geisterschiff. Er hat schon..." „Uuuu-aahhhh!" erklang ein Schrei aus dem Schiffsinnern und unterbrach Carberrys Worte. Die drei Männer standen wie erstarrt an Deck. Tuckers Lippen hatten sich zu einem freudlosen Grinsen verzogen, und das wirkte jetzt wie festgefroren. Er war nicht in der Lage, seine Gesichtsmuskeln zu bewegen. Carberry stand in der lauernden Haltung eines Verfolgten an Deck und schien in dieser Pose wie erstarrt. Die Pistole hing kraftlos in seiner mächtigen rechten Pranke. Hasard selbst war bei diesem tierischen Schrei ebenfalls unwillkürlich zusammengezuckt, doch er fing sich gleich wieder. Beim Satan, es gab keine Geister, höchstens zweibeinige, die sich dafür ausgaben, um die Leute zu erschrecken. Diesem Geist würde er das Fell windelweich klopfen, und dann wollte er doch mal sehen, was aus dem Geist dann wurde.
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„Das kam aus der Nähe der Segellast", sagte er. „Oder aus dem Laderaum unter der Kuhl." Auch der Profos war jetzt überzeugt, daß da kein Geist geschrien hatte, sondern ein Mensch, der sich vielleicht in seiner Angst vor den Unbekannten versteckt hielt. Carberry und Tucker Nebelten mit der Axt die Luken des Frachtraumes auf und legten sie beiseite. Licht fiel nach unten und auf einen verwahrlosten bärtigen Mann, der wie ein verängstigtes Tier in einem Winkel kauerte und angstvoll mit weitaufgerissenen Augen nach oben starrte. Sein Lager bestand aus alten Lumpen, zerfetzten Segeln und aufgefaserten Tauen. Er rührte sich nicht, sondern starrte nur weiter zu den Seewölfen herauf. „Ob sie den zurückgelassen haben?" fragte Tucker leise. Niemand wußte eine Antwort darauf. Jedenfalls mußte sich der verwildert aussehende Mann schon seit einer kleinen Ewigkeit hier völlig allein an Bord befinden. Hasard fragte ihn auf Spanisch mit leiser Stimme, ob er nicht heraufkommen wolle. Er kriegte keine Antwort. Stattdessen erhob sich der mit einer schmutzigen Hose bekleidete Mann mit einem Schrei und rannte durch den Laderaum. Gleich darauf war er verschwunden. Alle drei blickten verblüfft in alle Ecken, aber der Fremde schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Das Rätsel war jedoch schnell gelöst, als Hasard in den Raum hinunterstieg und sich die Lampe nachreichen ließ. Der Mann hatte ein paar Schottbretter entfernt, die vom Laderaum in die Segellast führten und versteckte sich dort. Er lag mit verzerrtem Gesicht auf den Planken, als Hasard in die muffige Kammer leuchtete. „Keine Angst", sagte er auf Spanisch in beruhigendem Tonfall. „Wir wollen dir nur helfen, niemand tut dir etwas." Er redete weiter beruhigend auf ihn ein und wies dabei nach oben. Der verwilderte Mann schüttelte angstvoll den Kopf, dann kroch er noch weiter in die
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Segellast und steckte seinen Kopf unter die angefaulten Segel. Von oben warf Tucker eine Jakobsleiter hinunter. Er und Carberry zogen, sich etwas zurück, um den Mann nicht zu erschrecken, falls er wieder aufkreuzte. Hasard versuchte es weiter, doch der Bärtige wagte sich nicht aus seiner Ecke heraus, bis dem Seewolf nichts anderes übrigblieb, wieder nach oben zu steigen. „Er wird sich schon noch beruhigen, wenn er merkt, daß wir nichts von ihm wollen", sagte er. „Er scheint vor Angst halb verrückt zu sein, deshalb hat er sich auch da unten versteckt, da fühlt er sich offenbar sicher." „Und wenn er nicht an Deck klettert?" fragte Tucker. „Wir können doch nicht Ewigkeiten auf ihn warten." „Er wird bald Hunger und Durst haben, und dazu muß er die anderen Räume aufsuchen." Dan O'Flynn kletterte an Bord, der den Schrei zwar gehört, ihn aber nicht hatte deuten können. Jetzt erzählten sie ihm von dem Fremden. „Das muß grauenhaft sein", sagte Dan. „Wochen- oder monatelang allein auf einem Schiff, nur Ratten zur Gesellschaft. Und das Schiff treibt irgendwo herum, ohne daß er etwas dagegen unternehmen kann. Ich begreife nur nicht, daß man ihn zurückgelassen hat, denn freiwillig ist er doch sicher nicht geblieben." Der Fremde gab ihnen Rätsel auf, wie ihnen auch das ganze Schiff einschließlich der verschwundenen Mannschaft Rätsel aufgab. Aus dem Raum erklang wieder dieser Schrei einer verängstigten Kreatur, der durch Mark und Bein ging. Hasard versuchte es wieder und wieder, redete ihm zu, versprach ihm sauberes Trinkwasser und Proviant, und dann trat endlich ein Erfolg ein. Das verwilderte und abgezehrte Individuum näherte sich mit unendlich vorsichtigen Bewegungen dem offenen Luk, blieb stehen und blinzelte nach oben.
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„Sind die beiden Ungeheuer endlich weg?" fragte er mit hysterisch klingender Stimme. „Habt ihr sie vertrieben?" Die vier Seewölfe sahen sich ratlos an. Niemand wußte, von welchen Ungeheuern der Spanier sprach. Um ihn nicht noch mehr zu verängstigen, nickte Hasard. „Ja, jetzt sind sie fort, sie sind nicht mehr auf dem Schiff." Wieder erschien unruhiges Flackern in den Augen des Mannes. Sein Blick war äußerst mißtrauisch, er zog sich wieder ein paar Yards zurück. „Sie waren ja auch nicht auf dem Schiff", schrie er. „Sie befinden sich außenbords. Sie schwimmen immer an der Backbordseite. Tagelang, wochenlang, immer schwimmen sie nebenher." „Niemand schwimmt mehr neben dem Schiff", sagte Hasard, der an Haie dachte. Aber davor konnte der Mann schließlich keine Angst haben, wenn er sich an Bord befand. „Ihr habt sie vertrieben?" fragte der Spanier mißtrauisch. Tucker grinste ihn an und zeigte auf seine Axt. „Hiermit haben wir sie erschlagen", sagte er. Der Spanier lachte höhnisch und schüttelte den Kopf mit den langen verfilzten Haaren. „Man kann sie nicht erschlagen", behauptete er, „denn sie sind ja schon lange tot." „Ein Verrückter", sagte Dan leise. „Der weiß überhaupt nicht mehr, was er da redet." „Ich weiß selbst nicht, wen oder was er meint. Anscheinend hat er ab und zu lichte Momente. Wenn er hier schon ewig allein ist, muß er zwangsläufig verrückt werden." Hasard erklärte ihm geduldig, daß sie das Schiff hier zufällig gefunden hätten und jetzt selbst in der Kalme lägen und nicht weitersegeln konnten. Erst nachdem er ihm noch einmal frisches Wasser und gutes Essen versprochen hatte, enterte der Mann langsam die Jakobsleiter auf. An Deck jedoch benahm er sich recht merkwürdig. Er vermied es ängstlich, über
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Bord zu blicken und kauerte sich auf die Planken. Dabei gingen seine Blicke von einem zum anderen, mißtrauisch, überängstlich und zweifelnd. „Seht auf Backbord nach, ob sie noch da sind", sagte er im Flüsterton. Er starrte in den nebligen Himmel, blickte dann den Seewolf an und wieder die anderen. Jetzt, in dem diffusen nebligen Zwielicht konnten sie ihn deutlich erkennen. Ein mehrere Wochen alter Bart, struppig und verdreckt, bedeckte sein Gesicht. Die verklebten Haare wuchsen ihm bis weit über die Schultern, seine Hände waren schwarz vor Dreck wie sein übriger Körper. Aus Angst vor den merkwürdigen Ungeheuern, die seine Phantasie ständig beschäftigten, hatte er sich wochenlang nicht mehr gewaschen. Dennoch staunten die Seewölfe, daß er sich in relativ guter Verfassung befand. Sogar das von Fäden durchzogene und halbverfaulte Trinkwasser in den Fässern hatte er überstanden. Hasard blickte angestrengt auf die Wasserfläche an Backbord, aber da befand sich nichts, schon gar keine Ungeheuer, die nach den Worten des Bärtigen ohnehin längst tot waren. „Da schwimmt niemand mehr", sagte er fest. „Sie müssen sich geirrt haben. Überzeugen Sie sich selbst!" „Nein, nein", wehrte der Mann entsetzt ab. „Benito und Juarez schwimmen immer noch neben dem Schiff. Man sieht sie jetzt nur nicht, weil der Nebel so dicht ist." „Und wer waren die beiden?" fragte Hasard. „Benito war der Rudergänger und Juarez der Bootsmann. Sie starben beide an einem Tag." „Und seitdem schwimmen sie neben dem Schiff?" fragte Dan den Bärtigen ungläubig. Der nickte eifrig, drehte sich aber wieder so, daß er die Backbordseite nicht sehen konnte. „Beenden wir die Unterhaltung", meinte Hasard. „Wir nehmen Sie mit an Bord, dort stärken Sie sich erst einmal kräftig und
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säubern sich. Ich glaube, Sie haben uns eine lange Geschichte zu erzählen." „Ihr seid Engländer?" fragte der Mann. „Und trotzdem wollt ihr mir helfen?" „Ja, warum nicht? Sie sind so gut wie schiffbrüchig." Hasard nannte seinen Namen und den der anderen Männer. Aber der Spanier schien es gar nicht zu hören. Sein Blick kehrte sich nach innen, und er starrte vor sich hin, ohne sich zu rühren. „Er blickt fast wie der Jonas, den wir damals an Bord hatten", sagte Dan, „der hat auch immer so geistesabwesend hinter den Horizont gesehen." „Helft ihm ins Boot, dann pullen wir zurück. Der Bursche muß erst anständig versorgt werden. Den kann der Kutscher gleich bemuttern." Auch das schien der Spanier nicht wahrzunehmen, als sie ihm ins Boot halfen und auf die Ducht setzten. Er hatte die Augen geschlossen. Wie tot sah er aus. Hasard und auch Tucker blickten noch öfter ins Wasser, aber von den Halluzinationen, die der Spanier hatte, war nichts zu sehen. Die existierten offenbar nur in seiner Phantasie. 6. Diesmal hatten sie die „Isabella" verfehlt um mehr als hundert Yards. Erst durch Abfeuern von Musketenschüssen ließ sich die Richtung bestimmen. Inzwischen war der Nebel fast noch dichter geworden. Von der „Isabella" riefen die Seewölfe ihr lautes „Ar-we-nack", den alten Schlachtruf, um Hasard bei der Orientierung zu helfen. Als sie den Mann an Bord hoben, breitete sich Schweigen aus, und jeder sah ungläubig auf den verdreckten, verwilderten Fremden mit den langen Haaren und dem wildwuchernden Bart. „Der sieht aus, als hätte er tagelang nur auf Holzkohle geschlafen", sagte der Kutscher und Feldseher kopfschüttelnd. „Um den zu säubern, brauchen wir die ganze Sargassosee."
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„Er war ganz allein an Bord und hatte fürchterliche Angst", begann Hasard zu erzählen. „Er faselt ständig von Ungeheuern, die in der See neben dem Schiff schwammen." „Er hat den Verstand verloren", sagte der Kutscher. „Das würde uns mit Sicherheit ähnlich ergehen." Sie betteten ihn in der Kuhl auf Segeltuch, und der Kutscher untersuchte ihn, so gut es ging. „Verletzt ist er nicht, aber in einem verdammt lausigen Zustand, und seine Zähne sind auch locker. Was ist denn da drüben an Bord nur passiert, Sir?" fragte er den Seewolf. „Das wissen wir nicht. Kämpfe hat es nicht gegeben, die Boote sind fort, die gesamte Crew ist verschwunden. Er war der einzige an Bord, außer den Ratten. Die anderen müssen das Schiff Hals über Kopf verlassen haben. Es gibt auch keine Toten an Bord." Der Spanier, der da so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, sorgte für die Sensation des Tages und gab allen Rätsel auf. Old O'Flynn hob nur mahnend seinen Zeigefinger, aber er sagte kein Wort, denn die anderen kannten seinen stummen Vorwurf. Er hatte wieder einmal recht gehabt! Der Moses Bill kehrte mit dampfender Brühe aus der Kombüse zurück und gab die Muck dem Kutscher, der dem Spanier das heiße Zeug einzuflößen versuchte. Es war vergebliche Mühe, denn der Mann preßte die Zähne fest aufeinander und nahm nichts zu sich. Inzwischen begann der Kutscher mit der Säuberung unter Zuhilfenahme von warmen Wasser und Schmierseife. Dann kürzte er ihm die Haare, schnitt und stutzte den Bart, bis der Mann wieder einigermaßen einem Menschen ähnelte. Danach versuchte er es noch einmal mit der jetzt lauwarmen Brühe, und der Spanier schluckte bereitwillig. Dann öffnete er die Augen, sah die vielen Männer um sich herum und sprang mit einem irren Schrei auf die Beine. Er rannte
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los, voller Angst und hysterisch brüllend, und wenn der eisenharte Profos nicht im Wege gestanden hätte, wäre der Fremde in seiner ersten Angst über Bord gegangen. „Immer mit der Ruhe, Don Miguel", sagte der Profos gemütlich. Er hielt den Spanier solange fest, bis der sich einigermaßen beruhigt hatte. Dennoch blieb sein ängstlicher Blick. Was er sah, flößte ihm grenzenlose Angst ein, denn diese Kerle schienen genau der Hölle entsprungen zu sein. Zwei standen grinsend da und hatten statt einer Hand nur einen scharfgeschliffenen Haken, der in einer Ledermanschette steckte. Der Mann der ihn festhielt, war ein riesiges Monstrum mit einem zernarbten Gesicht und einem Kinn, auf dem man Nägel schmieden konnte. Dann gab es noch einen rothaarigen Riesen, der vorhin mit an Bord gewesen war, und einen weiteren Giganten mit grauem Haar und Bart. Zu ihnen hatte sich ein herkulisch gebauter Neger gesellt. Und sie alle grinsten ihn freundlich an, aber der Spanier empfand dieses Grinsen als tödliche Bedrohung. Er zitterte und sah an sich hinunter. Man hatte ihn gesäubert und seinen wildwuchernden schwarzen Bart gestutzt. Nein, dachte er wie betäubt, vermutlich wollten sie ihn doch nicht erschlagen, sonst hätten sie nicht diesen ganzen Aufwand getrieben. Wieder näherte sich ihm der schmalbrüstige Mann mit einer Muck voller dampfender Flüssigkeit. Der Narbenmann ließ ihn los und zeigte auf die Muck, „Trink das, Don Miguel, und paß auf, daß dich nicht der Affe beißt!" Jetzt entdeckte der Spanier den zottigen Burschen, der an Deck hockte, Grimassen schnitt und sich unauffällig dichter an ihn heranschlich. Gehorsam trank er Schluck für Schluck, und dann fiel ihm vor Schreck die Muck aus der Hand, denn dicht über seinen Schädel bewegte sich ein karmesinrotes Etwas, krächzte laut, schimpfte in englischer Sprache und kurvte in luftige
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Höhen, wo es sich auf einer Rah niederließ. Ein merkwürdiges Schiff, überlegte der Fremde und musterte wieder die in Nebel gehüllten Gestalten. „Ich heiße nicht Don Miguel", sagte er dann. „Mein Name ist Domingo de la Cruz." „Domingo also", brummte der Profos. „Englisch sprichst du nicht zufällig, was, wie?" „Nein, Senor, aber woher sprecht ihr so gut meine Sprache?" „Ach", sagte Ed trocken, „euer spitzbärtiger Philipp hat uns mal zum Abendessen eingeladen, und da haben wir es gelernt." „Seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien?" erkundigte sich Domingo zweifelnd. „Genau der. Er hatte gerade seine Armada zusammengestellt, und da überlegten wir gemeinsam, wie wir sie in Stücke schlagen könnten. Tja, so war das beim König von Spanien. Aber jetzt könntest du uns doch mal deine Geschichte erzählen!" Die Seewölfe rückten näher zusammen, und zum erstenmal erschien ein scheues Lächeln auf dem Gesicht des Mannes, als der Narbenmann so trocken über den König von Spanien sprach. Der hatte vielleicht einen sonderbaren Humor! Hasard selbst staunte, wie schnell der Spanier sich eingewöhnte. Noch vor ganz kurzer Zeit war er ein heulendes, vor Angst zitterndes, verdrecktes Bündel Mensch gewesen, das wie ein Tier eingesperrt gewesen war und sich nicht an Deck traute aus Angst vor irgendwelchen eingebildeten Erscheinungen. Und jetzt benahm er sich schon fast normal. Diese Wandlung war verblüffend, -aber vermutlich war die Angst von ihm gewichen, seit er sich nicht mehr auf dem treibenden, verlassenen Schiff befand. „Es ist eine reichlich merkwürdige Geschichte", sagte Domingo, „aber ich schwöre bei der Mutter Gottes Maria und allen Heiligen, daß sie bis zur letzten Silbe stimmt. Und glaubt ja nicht, daß ich verrückt bin."
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„Hat auch niemand behauptet", sagte Ferris Tucker, „obwohl du dich sehr merkwürdig benommen hast." Domingo setzte sich auf die Kuhlgräting und sah die Männer an. „Das war die Angst", sagte er nur. Dann erzählte er seine Geschichte. „Wir segelten mit der ,Preciosa` von Spanien über die Azoren nach La Habana. Dort war unser Zielhafen, den wir aber nie erreichen sollten." „Die ,Preciosa`, ist das die Karacke da drüben?" fragte Hasard. „Ja, das ist sie." „Wie lange liegt das zurück? Wann seid ihr losgesegelt?" „Vor einem guten halben Jahr, vor sieben Monaten etwa. Einmal verschlug uns der Sturm weit nach Süden, und erst nach einigen Wochen kamen wir wieder voran. Wir setzten unsere Reise fort und blieben ein paar Tage später in den Kalmen hängen. Diesmal dauerte es ein paar Wochen, und die Männer wurden unruhig. Wir hatten Angst, daß uns die Verpflegung und das Wasser ausgehen könnten, aber das war nicht der Fall. Die Reise verlief ruhig und ohne große Zwischenfälle bis zu jenem denkwürdigen Tag, als alles seinen unheilvollen Anfang nahm." Der Kutscher hielt dem Spanier eine Muck mit frischem Wasser hin, die Domingo dankend entgegennahm und leertrank. Old O'Flynn, der seit jeher zwei offene Ohren für mysteriöse Dinge hatte, schob sich noch näher heran, damit ihm auch ja kein Wort entging. Sein granitenes, wettergegerbtes Gesicht hatte sich in verstehende Falten gelegt, und er nickte dauernd vor sich hin. „Weiter"„ sagte er heiser, „nur weiter, wir hören!" „Wir liefen dann in die See, die man Mare Sargasso nennt", berichtete Domingo weiter. „Von da an verfolgte uns das Pech. Der Wind schlief ein, und am anderen Tag saßen wir mit dem Schiff wie auf einer Insel, obwohl wir vorher kein Land gesehen hatten." „Diese Insel bestand aus braunem Seetang, nicht wahr?" erkundigte sich Smoky.
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„Ja, brauner Tang war es, der uns von drei Seiten umgab. Woher wißt ihr das?" „Wir saßen auch schon mal in dem Mist fest", sagte Smoky, „aber das ist schon eine Weile her." „Wie gesagt, das Zeug umgab uns von drei Seiten, nur die Backbordseite war teilweise noch frei. Vorn, achtern und Steuerbord war alles dicht, soweit man sehen konnte. Der Kapitän ließ uns arbeiten, damit keine üble Stimmung aufkommen sollte. Der Rudergänger wurde in die Takelage geschickt, weil er ständig meckerte, und sollte dort etwas ausbessern. Er befand sich etwa eine halbe ,Stunde dort oben, als er ausrutschte und an Deck fiel. Er fiel genau auf den Bootsmann Juarez, der sich bei dem Aufprall das Genick brach. Benito, der Rudergänger, überlebte den Sturz nur, um eine kurze Zeitspanne, dann war er ebenfalls tot. Er muß innerlich verblutet sein. Damit hatten wir zwei Tote an Deck, die so friedlich aussahen, als schliefen sie, und die Männer konnten es einfach nicht glauben, was da passiert war." In den Augen des Spaniers begann es wieder zu flackern, als er an die Begebenheit dachte, und jeder der Seewölfe erkannte wieder die Angst in seinem Blick. „Nun, das war zwar ein trauriger Vorfall", sagte Hasard, „aber das geschah nicht zum ersten Mal auf einem Schiff. Schon viele sind aus dem Mast gestürzt und haben den Sturz nicht überlebt." „Das ist richtig, Senor. Aber es waren zwei gute Männer, die bei den Kameraden sehr beliebt waren. Und ausgerechnet alle beide hat es kurz hintereinander erwischt." Domingo unterbrach sich und griff nach der zweiten Muck Wasser, die ihm der Kutscher reichte. Die Seewölfe hatten selten einen Mann gesehen, der jeden Tropfen Wasser so genoß wie dieser Spanier. Kein Wunder, wenn er wochenlang das halbverfaulte grüne Zeug getrunken hatte. „Dann habt ihr die beiden Männer der See übergeben?" fragte O'Flynn, der es kaum noch erwarten konnte, auch den Rest der Geschichte zu hören.
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„Ja, sie wurden noch am selben Tag auf der Backbordseite des Schiffes der See übergeben. An Bord herrschte Trauer, doch einen Tag später verwandelte sich die Trauer in Furcht, Angst und Schrecken. Der Kapitän, der sich auf dem Achterdeck aufhielt, sah es zuerst, und weil er seinen Augen nicht trauen wollte, rief er den ersten Offizier als Zeugen herbei. Wir alle standen dann am Schanzkleid, denn weiter draußen in der See schwammen zwei Leute in einem Abstand von etwa einer Kabellänge neben der ‚Preciosa' her. Sie schwammen ganz ruhig, aber sie gelangten nicht von der Stelle. drehten sich auch ab und zu um und sahen zu uns herüber. Wir rissen uns um die beiden einzigen Spektive an Bord, als plötzlich vom Achterdeck ein lauter Schrei erfolgte. ,Die beiden Schwimmer sind Juarez und Benito!' rief der Kapitän voller Entsetzen. Niemand wollte das glauben, denn es war einfach unmöglich. Genau so unmöglich war aber auch, daß im Mare Sargasso zwei Leute seelenruhig umherschwammen." Einschließlich Hasard blickten. alle Mann den Spanier voller Zweifel an. Lediglich auf Old O'Flynns Zügen lag so etwas wie eine stille Genugtuung., „Ich schwöre es", sagte Domingo feierlich, als er die zweifelnden Gesichter der Seewölfe sah. „Jeder kannte die beiden schließlich gut genug, und jeder durfte durch das Spektiv blicken. Wir alle haben die beiden deutlich gesehen." „Das gibt es nicht", behauptete Carberry stur. „Wie hat sich das denn geklärt?" „Überhaupt nicht, es gab keine Erklärung. Die beiden hielten sich immer in einem gewissen Abstand zum Schiff. Erst als die Dämmerung einsetzte, verschwanden sie plötzlich." „Und nachts leuchteten an jener Stelle zwei Lichter auf", sagte O'Flynn mit Bestimmtheit und war enttäuscht, als der Spanier den Kopf schüttelte. „Nein, es leuchtete kein Licht, aber an Bord war die Hölle los. Niemand schlief in dieser Nacht. Dann, weit nach Mitternacht, begann ein leichter Wind zu wehen, und die Tangfläche teilte sich in große Stücke
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auf, kleinen Inseln gleich, die uns einen Durchlaß ermöglichten. Der Kapitän ließ Segel setzen, um von der unheilvollen und geheimnisvollen Stelle so schnell wie möglich davonzusegeln. Später wurde der Wind stärker, und bis zum Morgengrauen hatten wir ein gutes Stück zurückgelegt." Domingo schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben. Als er weitersprach, zitterte seine Stimme leicht. „Es war kaum hell, als alle Mann wieder am Schanzkleid standen und mit grauen Gesichtern ins Wasser blickten. Und richtig: Juarez und Benito waren wieder da und schwammen in einer Kabellänge Abstand parallel zu unserem Schiff im Wasser. Wir liefen knapp vier Knoten und die beiden unheimlichen Begleiter hielten diese Geschwindigkeit mühelos mit. Das war es, was die meisten von uns anfangs an den Rand des Wahnsinns trieb. Es waren zweifellos unsere beiden Kameraden. Neunundzwanzig Mann konnten sich nicht so entscheidend irren! Der Kapitän ließ den Kurs ändern, wir gingen auf den anderen Bug, aber was wir auch taten oder unternahmen, die beiden folgten immer. Liefen wir schneller, hielten sie mit, liefen wir langsamer, fielen auch sie zurück und hielten immer den gleichen Abstand. An Bord wurde kaum noch gearbeitet, es wurde nur debattiert und gestritten. Wir haben sie weggebetet, es nutzte nichts. Sie verschwanden erst dann, wenn die. Dämmerung einsetzte." Hasard glaubte kein Wort. Er nahm an, daß die Männer irgendeiner unbekannten Halluzination zum Opfer gefallen waren oder einer allgemeinen Hysterie, aber andererseits sprach der Spanier so überzeugend und mit solchem Ernst, daß man seine Worte kaum anzweifeln konnte. Die Geschichte wird immer schöner, dachte , er. Trotz aller Zweifel schien etwas dran zu sein, denn das Schiff war panikartig verlassen worden, und der Spanier der einzige Mann an Bord, der halb wahnsinnig geworden war. „Habt ihr sie auch verflucht?" wollte Old O'Flynn wissen. „Das hilft mitunter auch."
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„Wir haben alles getan, aber mit jedem neuen Morgen fing es wieder an und wurde immer schlimmer. In seiner Verzweiflung ließ der Kapitän zweimal mit den Bordgeschützen auf die Männer feuern. Wir sahen die Kugeln neben ihnen ins Wasser klatschen. Auch das hat nichts genutzt. Die beiden Erscheinungen blieben einige Tage bei dem Schiff. Dann wurde ein Mann wahnsinnig. Er hielt es nicht mehr aus und sprang über Bord. Wir konnten ihn nicht retten, er ging sofort unter und verschwand. Am nächsten Tag sprang der nächste über Bord und verschwand ebenfalls spurlos, ohne dass ihm jemand helfen konnte. Dann war einige Tage lang Ruhe, die beiden Gestalten ließen sich nicht mehr sehen und alle atmeten erleichtert auf. Doch sie kehrten wieder zurück und begleiteten uns mit der gleichen Beharrlichkeit wie zuvor." Der Seewolf war äußerst kritisch, denn an der Erzählung war ihm etwas aufgefallen, was nicht übereinstimmte. „Ihr seid demnach viele Tage durch das Mare Sargasso gesegelt", sagte er ernst. „Dann lagt ihr endlose Zeit in einer Kalme. Wir selbst sind fast die gleiche Strecke gesegelt und befinden uns erst seit ganz kurzer Zeit in dieser Ecke. Da stimmt doch etwas nicht ganz." „Sie zweifeln an meinen Worten, Senor? Das ist Ihr gutes Recht. Sie sind der Kapitän dieses Schiffes, nicht wahr?" „Das ist richtig. Ich sagte schon, daß ich Killigrew heiße, und Sie befinden sich auf der ,Isabella acht`!" Die Seewölfe warteten auf eine Reaktion, doch die erfolgte zu ihrem Erstaunen nicht. Dieser Spanier hatte anscheinend noch nie etwas von dem Seewolf und seiner Crew gehört. Carberry stank das zwar ein bißchen, aber er sagte sich auch, daß sie schließlich nicht jeder Spanier kennen konnte. „Wir sind aus Angst vor diesen Begleitern tagelang zurückgesegelt", sagte Domingo. „Und nach unseren Karten ist das Mare Sargasso größer als nach den englischen."
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Daran hatte Hasard nicht gedacht. Das Gebiet war nicht stark eingegrenzt, und die Spanier rechneten tatsächlich anders. „Erzählen Sie weiter"`, sagte er. „Sie folgten uns trotzdem, nachdem sie ein paar Tage lang verschwunden waren, und der Ärger ging weiter. An Bord brach Streiterei aus, die Mannschaft wollte meutern. Einige verlangten ernsthaft, der Kapitän solle die Boote abfieren. Die Männer wollten blind drauflospullen, nur um aus der Nähe der beiden schwimmenden Toten zu gelangen. Ein weiterer Mann wurde im Streit erschlagen und über Bord gegeben. Wir setzten jeden Fetzen Tuch, tim die Gestalten abzuhängen, doch alles half nichts. Sie änderten den Kurs, sobald wir ihn änderten, sie schwammen schneller, sobald wir mehr Tuch setzten, und sie wurden langsamer, wenn wir abfielen." Unter den Seewölfen wurde Gemurmel laut. In dieser vertrackten See ging es nicht mit rechten Dingen zu, aber allen Erfahrungen nach mußte es trotzdem eine Erklärung dafür geben. So dachten jedenfalls die meisten. Einige andere aber nahmen es als durchaus verständlich hin, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die man sich nicht erklären konnte, für die es einfach keine Erklärung gab. Da hatte der Teufel seine Hand im Spiel. „Wir gerieten dann in diese Kalme und hatten das Gefühl, mit dem Strom nach Südwesten zu driften", erzählte der Spanier. „Ab und zu sichteten wir kleinere Tanginseln. Um uns herum gab es zeitweise nur Nebel und ewige Windstille. Dann, ich hatte mich wie üblich tief im Schiffsinnern verkrochen und war eingeschlafen, hatte ich das Gefühl, als wäre das Schiff verlassen. Ich hörte keins der üblichen Geräusche mehr, wurde völlig wach und stieg an Deck. Was ich sah, konnte ich nicht glauben: Die Boote waren abgefiert worden, und auf der ,Preciosa` befand sich keine Menschenseele mehr. Entweder hatten sie mich in ihrer Panik vergessen oder absichtlich zurückgelassen. Ich habe bis heute keine Antwort darauf gefunden."
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„Und der Kapitän war auch mitgegangen?" fragte der Seewolf. „Oder hat man ihn umgebracht? Gab es vielleicht einen Streit? Ein Kapitän läßt doch sein Schiff nicht so einfach im Stich und geht das Risiko ein, auf einem Boot zu verhungern oder zu verdursten, zumal er sich mehr als tausend Meilen vom Land befindet." „Es war die Angst, die sie von Bord trieb. Nackte, bestialische Angst vor den beiden Toten. Ich wäre gern mitgegangen, gegangen, wenn ich es gewußt hätte." „Und dann waren sie allein und fingen an durchzudrehen", sagte Hasard. „Es muß eine schlimme Zeit gewesen sein." „Ich hatte mich verkrochen, weil ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte. Ich schlich mich nur an Deck, wenn es dunkel war, um Wasser zu trinken oder etwas zu essen. Tagsüber traute ich mich nicht mehr nach oben, und nachts hatte ich vor Angst Tobsuchtsanfälle und schlug alles kurz und klein. Übrigens glaube ich nicht, daß es Streit mit dem Kapitän gegeben hat, der war nämlich auch heilfroh, das Schiff verlassen zu können." „Eine verdammt merkwürdige Geschichte", sagte Hasard. „Aber jetzt ist ein Teil des Rätsels um das Schiff gelöst. Das andere Phänomen werden wir auch noch herausfinden. Sie können gern an Bord bleiben, wir werden später, wenn es wieder mal" aufbrist, irgendeine der Caicos-Inseln anlaufen und Sie dort absetzen, wenn Sie wollen." „Ich danke Ihnen, Senor Capitan", sagte der Spanier einfach. „Ich möchte auch um nichts auf der Welt mehr auf das Schiff zurück. Als Sie mit dem Boot anlegten und ich Schritte oben an Deck hörte, verlor ich fast den Verstand. Ich nahm an, die beiden Toten wären aus der See gestiegen, um mich zu holen." „Hat man ihre Körper im Wasser gesehen?" fragte der Seewolf. „Oder nur die Gesichter?" „Nur die Gesichter, die sich durch das Wasser schoben, sonst nichts. Weshalb fragen Sie?" „Hatte man die Leichen nicht eingenäht?"
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„Nein, nur mit Kanonenkugeln beschwert. Warum der Kapitän das tat, weiß ich nicht. Es ist nicht üblich." Old O'Flynn, für den die Geschichte ein gefundenes Fressen war, schaltete sich ein. „Das war die Rache der Verstorbenen", behauptete er ernsthaft. „Man hat ihnen kein ordentliches Seebegräbnis gegeben, und daher schwammen sie neben dem Schiff her, um vom Kapitän das zu fordern, was ihnen zustand." „Du alter Spökenkieker", sagte Carberry schroff. „Ja, hat die Welt denn schon so was gehört, was, wie? Glaubst du etwa, die Toten auf den Friedhöfen an Land, die keine Blumen kriegen, stehen wieder auf und beschweren sich darüber? Oder schleichen die vielleicht um die Gärten und holen sich selber welche?" O'Flynns Gesicht wurde ausgesprochen lang und grimmig. Er sah jetzt fast aus wie der Stör, der Wikinger vom Schwarzen Segler. Und dann polterte er los. „Auf See ist alles anders, du Klotzkopf! Merk dir das endlich gefälligst. Da gibt es Dinge, für die kein Profos mehr zuständig ist. Da lachen die über einen Profos höchstens, das kann ich dir sagen, aber du kapierst das ja doch nicht. Und wie war das damals, das Unerklärliche, was wir selbst schon erlebt haben? Ha! Da hast du Augen wie Ankerklüsen gekriegt, Mann!" „Wie war das damals, wie war das damals!" äffte der Profos den Alten nach. „Deine lausigen Kühe auf dem Meeresgrund hat es auch nie gegeben und auch nicht deine Wassergeister, die nachts an der Bordwand kratzten und nur verschwanden, wenn man ihnen leere Flaschen zum Spielen gab!" „Und wer hat die Flaschen geholt, hä?" schrie der Alte erbost. „Und woher kam das Schiff, das plötzlich in der Luft stand und genau auf uns zusegelte!" O'Flynn redete sich in Eifer und Rage, und die anderen hörten begeistert zu, daß die beiden Männer sich wieder einmal am Haken hatten. „Jedenfalls gibt es für alles eine Erklärung, Donegal Daniel O'Flynn", sagte der Profos.
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„Bloß will das nicht in deinen verdammten Holzkopf rein, weil du immer was suchst, über das du faseln kannst!" Der Spanier verfolgte das Duell der beiden grundverschiedenen Männer mit offenem Mund. Natürlich verstand er kein Wort davon, und begriff nicht, um was sie sich stritten. „Schluß jetzt", sagte Hasard. „Fangt nur nicht an zu spinnen wie die Burschen von dem Don. Wir werden noch einmal hinüberpullen und die See um das Schiff herum absuchen. Dabei nehmen wir gleich die Habseligkeiten des Mannes mit." Der Profos hustete völlig unmotiviert und verschluckte sich fast. „Da noch einmal hinüber?" fragte er. „Aber ohne mich diesmal, Sir, ich kenne den Kasten jetzt in- und auswendig." Hasard sah seine Männer an. Sie waren durch Erfahrungen gewitzt und geläutert, sie hatten die Welt umsegelt und fürchteten nicht Tod und Teufel. Und doch entdeckte er wieder das gleiche Phänomen bei den meisten. Sie wollten von dem Kahn nichts mehr wissen, seit sie die Geschichte gehört hatten. Ein Rest Respekt vor dem Unerklärlichen war doch noch geblieben, der Aberglaube, der sie heimlich plagte. Aber welchen Seemann plagt der nicht? dachte Hasard. Es war das ewige Spiel vor einer Sache, die niemand begriff, der er nichts entgegenzusetzen hatte, die kreatürliche Urangst, und die ließ sich auch bei den Seewölfen nicht völlig austreiben, da mochten sie hart sein, wie sie wollten. Aber da schien überraschend der Blitz auf der „Isabella" einzuschlagen, und dieser Blitz erschien in Gestalt des alten O'Flynn, der mit seinem Holzbein nachdrücklich auf die Planken pochte. „Ich gehe mit", sagte er entschieden. „Schon um diesem klotzköpfigen Prufos zu beweisen, daß es wahr ist. Und der Teufel soll mich lotweise mit Pech und Schwefel holen, wenn an der Sache nicht etwas dran ist."
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Alle starten entgeistert O'Flynn und sein entschlossenes Gesicht an, das keinen Widerspruch duldete. „Du gehst mit?" fragte der Profos langgedehnt und überrascht. „Ausgerechnet du, der vor jedem Geist soviel Schiß hat wie ein Moses vor dem ersten Sturm!" Das verstand niemand, auch Hasard nicht. Aber der Alte blieb dabei und ließ sich nicht umstimmen. Und als sein Sohn Dan etwas sagen wollte und gerade den Mund auftat, hob O'Flynn den Finger. „Halt dein Maul!" rief er. „Ich weiß, was du sagen willst. Aber sage es nicht." „Ich wollte ja nur husten, Dad", sagte Dan treuherzig. „Seit wann ist das denn hier verboten?" „Husten kannst du später. Und jetzt laßt mich endlich in das Boot, ihr plattnasigen Seegurken!" O'Flynn humpelte mit seinem Holzbein über die Kuhlgräting und stieß einen leisen Schrei aus. Sein künstliches Bein hatte sich in der Gräting festgeklemmt, und so stand er da, zog, zerrte, fluchte und schimpfte in allen Tonarten. Er kriegte sein Bein nicht mehr heraus, es steckte fest. „Ferris!" schrie er. „Nimm die Axt und hau das verdammte Gräting auseinander!" Tucker grinste ihn an. „Warum denn so umständlich, Donegal? Die schöne Gräting zerhacken? Wir sägen einfach dein Bein ein Stückchen ab." „Wage es ja nicht!" brüllte O'Flynn. „Du rothaariger Mustopf kannst nicht einfach mein Bein absägen!" „Na, wenn das kein schlechtes Zeichen ist", lästerte Dan. „Das heißt doch nichts anderes, als daß dich die guten Geister nicht von Bord lassen wollen, weil dir drüben etwas passieren wird!" Den Alten focht das nicht an. Er war so in Rage wie selten zuvor, und das gab ihm noch einmal Kraft. Mit einem gewaltigen Ruck befreite er sich aus der hinterhältigen, verlausten Gräting, wie er sie nannte. Dann marschierte er grummelnd zum Schanzkleid und kletterte die Jakobsleiter hinunter.
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Hasard und Dan O'Flynn folgten ihm achselzuckend. Die anderen wollten angeblich bei dem Spanier bleiben oder auf die „Isabella" aufpassen, wie sie versicherten. „Sehr gut", lobte Hasard. „Dann paßt nur auf, daß euch niemand das Schiff unter dem Hintern wegklaut." Er wollte dem Phänomen auf die Spur kommen, und etwas später pullten sie los, mit dem größten Spektiv bewaffnet, das sie an Bord hatten. 7. Immer wieder lichtete sich der Nebel ein wenig, und ein kaum merkbarer Windhauch strich durch die Schwaden. Hasard und Dan pullten schweigend, ihre Blicke unentwegt auf das grantige Gesicht Donegals gerichtet, der es gar nicht erwarten konnte, endlich den geheimnisvollen Segler im Nebel auftauchen zu sehen. Ab und zu vergewisserte sich Hasard auf dem Kompaß, ob die genaue Richtung noch stimmte. „Eine Kabellänge von Bord entfernt auf Backbord, hat der Spanier gesagt", murmelte Hasard. „Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir trotz des Nebels nichts entdecken." „Es wird schon ein wenig heller", sagte Dan zuversichtlich. „Es wird nicht mehr lange dauern, dann können wir wieder weitersegeln. Spürt ihr den Wind?" „Wind?" sagte Hasard. „Das ist nicht mal ein Lüftchen, und es wird noch eine Weile dauern, bis er aufbrist." „Du setzt dich jetzt auf die achtere Ducht", befahl O'Flynn seinem Sohn. „Ich pulle, weil du besser sehen kannst." Schweigend wurden die Plätze gewechselt, und diesmal blickte Dan angestrengt in die milchige Suppe vor ihnen, die sich ständig veränderte. Diesmal starrte er allerdings vergebens, und der Seewolf blickte ihn mehrmals auffordernd an, aber Dan zuckte nur mit den Schultern.
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„Wo bleibt denn dieser lausige Eimer?" fragte der Alte. „So weit weg war er doch gar nicht!" „Ich finde es selbst merkwürdig. Wahrscheinlich haben wir uns wieder um ein paar Yards verfehlt." Vor dem Boot entstand eine Gasse im Nebel, man konnte überraschend weiter als fünfzig Yards sehen, aber von dem Schiff fand sich keine Spur. Hasard drehte nach Backbord ab, genau wie beim ersten Mal, und kehrte dann in einem halbkreisförmigen Bogen zurück. „Da ist es!" sagte Dan. „Aber - verdammt, das ist ja unser Schiff, die ,Isabella`!" Nur- ganz kurz war aus der Ferne der Rumpf der schlanken Galeone zu sehen, dann schoben sich Schleier dazwischen und verbargen ihn. „Dann liegen wir genau auf dem richtigen Kurs", sagte Hasard zu Dan, der sich ständig umdrehte und in alle Richtungen sah. Es blieb dennoch merkwürdig. Die Entfernung stimmte etwa, der Standort ebenfalls, aber sie fanden die „Preciosa". nicht. Es schien, als hätte das Meer sie verschluckt. Hasard zog immer weitere Kreise, und gleich darauf sahen sie die „Isabella" aus der Ferne noch einmal für kurze Zeit. Immer mehr begann sich der Nebel zu lichten, nur an vereinzelten Stellen trieben noch dichte, wallende Bänke über das Meer. Als die Sanduhr, die Dan mitgenommen hatte, zum zweiten Mal abgelaufen war, herrschte Ratlosigkeit. Die drei Männer sahen sich an und hoben erstaunt die Schultern. „Das begreife ich jetzt wirklich nicht", sagte Dan und zeigte mit der Hand in alle Richtungen. „Ob der verdammte Kahn abgedriftet ist? Oder hast du -eine andere Erklärung?" Hasard blickte ebenfalls zur „Isabella", die jetzt nur noch als kaum sichtbarer Schatten in der See stand. „Ich weiß nicht, was es mit diesem merkwürdigen Schiff auf sich hat. Mir ist, als hätte ich das alles nur geträumt. Das
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Schiff tauchte so plötzlich auf, und genauso plötzlich verschwand es auch wieder. Möglich, daß es weitergedriftet ist und wir es verfehlt haben. Wenn die Sanduhr erneut abgelaufen ist, geben wir auf und kehren an Bord zurück." Wieder streifte sie ein Windhauch, und die ersten Sonnenstrahlen schienen herab. Sie waren aber noch nicht in der Lage, den Nebel auf dem Wasser aufzulösen. Die Sanduhr lief ab, ohne daß sie den Spanier fanden. Um sie herum begann es sich merklich zu lichten, „Wir kehren um", sagte Hasard. „Wenn der Nebel weg ist, und es aufbrist, holen wir den Don schon noch ein." „Immer wenn ich mal dabei bin", murrte Old O'Flynn, „dann passiert aber auch rein gar nichts. In solchen Dingen habe ich wirklich Pech." „Nicht zu ändern, Donegal." Der Rest des Weges wurde schweigend zurückgelegt. Die Orientierung fiel leicht, denn immer wieder zeigten sich die Konturen der „Isabella", die wie ein verblaßter Schemen auf dem Wasser lag. Sie legten etwas später an und gingen an Bord. „Nehmt das Beiboot gleich an Bord", sagte Hasard. „Das andere Schiff haben wir nicht gefunden, vermutlich ist es abgedriftet oder steckt noch in einer entfernteren Nebelbank." Domingo blickte den Seewolf forschend an. „Es ist schade, Senor Capitan, daß Sie es nicht gefunden haben. Aber vielleicht sichten wir die Preciosa` später noch einmal." „Das ist gut möglich. Wie fühlen Sie sich?" „Mir geht es ausgezeichnet, und ich bin Ihnen zu großen Dank verpflichtet. Wenn Sie mich wirklich auf einer der CaicosInseln absetzen, werde ich Landsleute von mir treffen, die mich wieder mitnehmen. Hoffentlich ist es kein Umweg für Sie, Senor." „Nicht der Rede wert. Die Spanier laufen die Caicos ja ständig an. Vielleicht ist
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sogar die Besatzung der ,Preciosa` dort irgendwo gelandet." „Das kann ich nicht glauben. Sie sind bestimmt irgendwo verhungert oder verdurstet. Sie , haben ihre Flucht nicht genügend vorbereitet und an Wasser und Proviant in ihrer Angst nicht sehr viel mitgenommen." Hasard konnte und wollte dem Spanier nicht sagen, daß sie die geheimnisvolle Schlangen-Insel anliefen, um dort in der Karibik wieder einmal nach dem Rechten zu sehen. Mochte der Mann auch grundehrlich und anständig sein, ein unbedachtes Wort von ihm genügte, und die Dons kannten den reichsten Schlupfwinkel der Seewölfe und das Geheimnis der Schlangen-Insel. Aus dem Grund konnte der Mann nicht an Bord bleiben, und Hasard nahm deshalb den kleinen Umweg über eine der CaicosInseln in Kauf. Dort würde der Spanier, mit reichlich Proviant und Trinkwasser ausgestattet, schon bald auf seine Landsleute treffen, die dort öfter ihre Vorräte ergänzten. Wieder fuhr ein lauwarmer Hauch über das Schiff und vertrieb die Nebelschwaden. Hasard konnte sich nicht weiter um den Spanier kümmern, denn es sah so aus, als würden sich die schlaff herabhängenden Segel bald mit Wind füllen. Die ersten Anzeichen. dafür waren da. „Haltet euch bereit!" rief der Profos. „Oder riecht ihr den Wind noch nicht, ihr Heringe? Gleich ist er da, und dann werde ich euch an die Schoten und Brassen jagen, bis euch das Wasser aus den Poren dampft." „Laß es erst mal aufbrisen, Mann", sagte Smoky, „dann kannst du deine Sprüche immer noch loswerden! Vorerst ist noch gar nichts los, das dauert noch." Es dauerte wirklich noch eine ganze Zeit, bis aus dem lauwarmen Luftzug ein ganz lindes Lüftchen würde, das zum Segeln noch längst nicht reichte. Aber es vertrieb den Nebel immer mehr. Im Vordeck brüllte schon wieder der Kutscher mit den Zwillingen und Sir John
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herum und vollführte groteske Sprünge, als er nach dem Aracangaa griff. Die Zwillinge, Hasard und Philip, flitzten von vorn durch die Kuhl, und weiter nach achtern, gefolgt von Sir John, der bei dieser Jagd merkwürdig still blieb. Er krächzte nicht, er schimpfte und zeterte auch nicht, ein Zeichen, daß es ihm die Sprache verschlagen hatte. „Was ist denn mit diesen Bordflöhen wieder los?" fragte Carberry den tobenden Kutscher, zu dem sich Old O'Flynn gesellte. Auch ihm war das Spielchen nicht entgangen, das die beiden wieder mit Inbrunst betrieben, und deren wahren Hintergrund er immer noch nicht durchschaute. Der Kutscher reckte empört seine magere Brust heraus. „Das war doch von Anfang an so merkwürdig", sagte er aufgebracht. „Dauernd kreuzte dieser Federbalg in der Kombüse auf und strich über die Töpfe. Jetzt bin ich dahintergestiegen, was diese beiden Bordwanzen angestellt haben." „Nun quassel nicht dauernd um den Brei herum, Kutscher. Was also haben sie angestellt, die Rübenschweinchen?" fragte Ed. „Eigentlich nichts", mußte der Kutscher zugeben. „Der mistige Papagei war es. Der klaut dauernd Kandiszucker aus dem Sack." „Kandiszucker?" fragte O'Flynn verblüfft. „Seit wann fressen Papageien denn Kandiszucker?" „Seit ein paar Tagen schon." Carberry drehte sich langsam um. Da standen sie, achtern am Niedergang, und ihre unschuldigen Gesichter verrieten, daß sie entweder Zahnschmerzen hatten oder etwas kauten. Ed sagte kein Wort, er krümmte nur den Zeigefinger und winkte. Als die beiden losrannten, flitzte der Papagei in luftige Höhen und begann dort sein Gezeter. Ziemlich atemlos standen sie dann vor dem Profos. „Na, was habt ihr denn da eben gemampft?" fragte er sanft.
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„Au Backe", sagte der kleine Hasard. „Sir John ließ ein Stück Kandiszucker fallen, und weil es ein ziemlich großer Brocken war, haben wir ihn uns geteilt." „Jetzt blicke ich endlich durch", sagte O'Flynn. „Jetzt weiß ich, wie das gelaufen ist. Mir habt ihr Zwerge gesagt, ihr wolltet ihm das Fliegen ,beibringen, und das ausgerechnet in der Kombüse. Ihr habt ihm beigebracht, wie man Kandiszucker aus dem Sack klaut, nichts anderes." „Das war Sir Johns Schuld", sagte Hasard. „Klar, wirr haben schließlich nichts geklaut", sagte sein Bruder Philip eifrig. „Was können wir denn dafür, wenn er Kandis klaut und ihn aufs Deck schmeißt. Wir haben ihn nur aufgehoben und gegessen, mehr nicht." „Mehr braucht ihr ja auch nicht zu tun", sagte Ed grimmig. „Aber wenn ihr nicht jeden Tag etwas Neues aushecken . könnt, dann fühlt ihr euch anscheinend nicht wohl, was, wie?" Die beiden senkten die Köpfe und blickten auf die Planken. Eds Zorn war schon längst verraucht, schließlich war niemand zu Schaden gekommen, aber er bewunderte doch insgeheim, wie clever die beiden Kerlchen waren, und was sie bei dem Gaukler alles gelernt hatten. „Nun mal ehrlich unter uns Brüdern", sagte er wohlwollend „Ich will nur den Trick wissen, denn von allein klaut der Papagei nur das, was er selbst gern frißt. Und Kandiszucker gehört nun einmal nicht dazu. Wie war das also?" Hasard, meist der Sprecher der beiden, blickte den Profos treuherzig an und grinste. „Das war so, Mister Carberry, Sir, also wir haben dazu mehr als eine Woche gebraucht, weil der Papagei Angst hatte, in die Kombüse zu fliegen. Dann haben wir ihn mit Sonnenblumenkernen gelockt und mit Stücken von Nüssen." „Und Mais haben wir ihm auch gegeben", erklärte Philip. „Ja, Mais auch. Es war nicht ganz leicht, und es ging nur, wenn der Mister Kutscher nicht da war. Wir haben ihm Kandiszucker in den Schnabel gestopft und den Schnabel
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zugehalten. Philip ging dann nach draußen und lockte ihn wieder mit Nüssen und Kernen." „Und dann?" fragte Ed mit steinernem Gesicht. „Dann flog Sir John raus, ließ den Kandis fallen und schnappte sich die Kerne. Na, und dann hatten wir ihn, und wenn Sir John was zu fressen haben wollte, mußte er Kandis bringen. Er hat fast zwei Tage lang gehungert", sagte Hasard bedauernd. „Aber dann hat er genau gewußt, was er tun muß: ` „Er flog bis aufs Achterdeck", erklärte Philip stolz, „und sobald er Hunger hatte, ging er klauen, sauste in die Kombüse und flog mit Kandis im Schnabel wieder zurück." Jetzt grinste auch Philip, und dann prusteten alle beide, los, krümmten sich und lachten, bis ihnen die Tränen über die Gesichter liefen. Carberry stand wie belämmert da, Old O'Flynn hatte es die Sprache verschlagen, und der Kutscher schnappte empört nach Luft. „Wenn ihr mit eurem wahnsinnigen Gelächter fertig seid", sagte Ed, „dann wird sich einer von euch bequemen, den dünnen Tampen an der Nagelbank zu holen, damit ich euch zum Tänzchen aufspielen kann. Und Sir John", sagte er und wandte sich an den Kutscher, „den kannst du nachher rupfen und heiße Brühe von ihm kochen. Ich dulde keine verklauten Papageien an Bord, verstanden!" Aus dem brüllenden Gelächter wurde gleich darauf ein klägliches Jammern. „Nein, Sir John kann nichts dafür, Mister Profos, Sir. Wir sind schuld. Lieber lassen wir uns kielholen." „Ja, ich lasse mich auch kielholen", versicherte Philip, „wenn Sir John was passiert." „Kielholen", sagte Ed und strich sich über das Kinn. „Da bringt ihr mich auf eine gute Idee. Gut, der Vogel bleibt ungerupft, aber euch Würstchen lasse ich kielholen. Los, mein Junge, du bist zuerst an der Reihe."
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Er packte den verblüfften Hasard am Kragen, drehte ihn um und ging in die Kombüse, wo der Zuckersack stand. Dann hielt er ihn an den Beinen, bis Hasard kopfüber über dem Kandiszucker hing. „Schnabel auf und hol dir einen Brocken!" befahl der Profos. Hasard junior wußte nicht, wie ihm geschah, aber wenn der Profos ihn im Zuckersack kielholen wollte, nun - der Profos mußte es schließlich selbst am besten wissen. Gehorsam schnappte er einen Brocken und hielt ihn mit den Zähnen fest. Carberry drehte den Bengel um und stellte ihn auf die Beine. Dann verfuhr er mit seinem Bruder in der gleichen Weise. Die beiden begriffen überhaupt nichts mehr. Jeder mit einem taubeneigroßen Brocken im Schnabel, so standen sie verdattert da. Carberry holte mit der flachen Hand aus und gab jedem einen Klaps auf den Hintern. „Sag mal", rief der Kutscher empört. „Was sind das denn für komische Erziehungsmethoden? Dafür, daß sie Kandiszucker klauen, werden sie auch noch belohnt? Wo, auf der Welt, gibt es denn so etwas noch?" „An Bord der ,Isabella"`, erwiderte Ed ungerührt. „Ich werde dir mal was sagen, Kutscher: Wenn einer dumm und brutal vorgeht beim Klauen, dann gehört ihm eins auf die Schnauze, weil es ihm ganz einfach an Grips fehlt. Aber wer so ausgekocht und clever vorgeht, der hat meine Anerkennung. Und die beiden Sandflöhe haben sich ja auch wirklich alle Mühe gegeben. Deshalb gab ich jedem noch einen Brocken, denn für eine ganze Weile wird es ihr letzter sein. Und nun zu euch beiden Vorpiekläusen. Wenn das noch einmal passiert, dann ist hier der Teufel los. Es ist niemand zu Schaden gekommen, dem Koch fehlen nur ein paar Stücke Zucker, und die kann er verschmerzen. Was soll's also! Aber es war das letzte Mal, habt ihr das verstanden, ihr Blubberfische?"
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Hasard gab dem Profos seine kleine Hand und sah ihm in die Augen. „Jetzt passiert das nie mehr, Mister Profos, Sir. Darauf gebe ich mein Wort als Seewolf." „Als Seewölfchen, meinst du wohl!" „Und ich gebe auch mein Wort darauf", versicherte Philip. „Gut, ich glaube euch. Und jetzt 49 verschwindet nach achtern zu eurem Vater und erzählt ihm die Sache mit Sir John. Und wenn der Papagei noch einmal Kandis holt, könnt ihr euch mit seinen Federn schmücken und den Rest als Brühe trinken. Ist das klar?" „Aye, Sir!" schrien beide. Und dann flitzten sie los. Der Kutscher sah immer noch mißmutig den -Profos an. Nur O'Flynn grinste, obwohl ihn die beiden Satansbraten so clever übertölpelt hatten - oder vielleicht gerade deshalb. „Haben wir uns nicht auch schon alle möglichen Tricks ausgedacht, um die Dons in die Pfanne zu hauen?" fragte Ed. „Schon, schon", gab der Kutscher zu. „Und kriegten wir nicht auch für unsere Gerissenheit immer eine Belohnung?" „Ja, schon. Gold oder so", meinte der Kutscher lahm. „Demnach muß so was wenigstens etwas belohnt werden, oder?" „Hm, wenn du meinst. Aber den Zuckersack stelle ich weg." „Klar, die Spanier haben ihre Beute auch immer in Sicherheit gebracht, nachdem wir sie gerupft hatten. ten. Und du als Kombüsenhengst hättest das längst merken müssen." „Ich hab mir nichts dabei gedacht." „Du bist wie ein richtiger Spanier", sagte Ed grinsend.. „Die haben sich auch immer nichts dabei gedacht. Die merkten es erst, wenn es zu spät war." „Du kannst mich mit allem vergleichen, aber nicht mit einem verdammten Don!" schrie der Kutscher. „Du mußt das nicht so verbissen sehen, Kutscher. Reg dich wieder ab, die beiden waren eben um eine Nummer besser als
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du. Ich an deiner Stelle würde meine Niederlage eingestehen, und ihnen dafür auch noch ein Kandis geben." „Soweit sind wir also schon! Da wird man von vorn und hinten begaunert und soll noch Loblieder anstimmen. Und jetzt nimm deine Griffel vom Schott und laß mich in Ruhe." Der Kutscher donnerte das Schott hinter sich zu und ging an seine Arbeit. ' Aber Old O'Flynn stand noch lange da und grinste, wobei sein Gesicht noch zerknitterter wurde, als es schon war. 8. Der Nebel verschwand, als hätten Geisterhände ihn weggeschoben. Nur noch vereinzelt trieben Schwaden über die See, die von der durchbrechenden Sonne weggescheucht wurden. Man konnte noch nicht ganz bis zum Horizont blicken, aber bald würde auch das möglich sein. Von dem spanischen Schiff war weit und breit nichts zu entdecken. Ebenso war der größte Teil des Seetangs verschwunden. Nur ein paar winzige Inseln lagen noch still im Wasser. Hasard hatte den. Spanier zu sich aufs Achterkastell gebeten, und Domingo hatte fasziniert die Ruderanlage bewundert und immer wieder den Kopf geschüttelt. Eine derartig geniale und doch so einfache Konstruktion hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Jetzt beschäftigte ihn wieder das verschwundene Schiff. „Ich verstehe das nicht", sagte er. „Keins der beiden Schiffe bewegte sich. Oder wenn doch, dann nur in einer gemeinsamen Richtung." „Es scheint hier gegenläufige Strömungen und starke Abdriften zu geben", sagte Hasard. „Ich habe keine andere Erklärung. Ihr Schiff muß schon verschwunden sein, als wir die zweite Fahrt unternahmen." „Ja, es ist mit der Tanginsel zusammen weitergedriftet. Wissen Sie ungefähr, wo wir uns befinden, Senor Capitan? Ich habe
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seit langer Zeit völlig die Orientierung verloren." „Wir müssen unseren Standort ebenfalls erst neu berechnen, seit wir in die Kalme geraten sind.. Später werde ich es Ihnen ungefähr sagen können." Wieder fuhr ein Windstoß über Deck, und in den Gesichtern der Seewölfe standen Erleichterung und Freude geschrieben. Hasard suchte mit dem Spektiv die See ab und gab dem Spanier das zweite. „Gesunken ist es nicht, es war noch sehr stabil", sagte der Seewolf, „aber bis hinter den Horizont kann es unmöglich getrieben sein, das geht mir einfach nicht in den Sinn." „Es ist ein verhextes Schiff, Senor", begann der Spanier. „Es wird rastlos über die Meere treiben und jeden erschrecken, der es sieht." „So abergläubisch?" fragte Hasard spöttisch. „Seit ich gesehen habe, was da passierte ja! Ich werde mein Leben lang nie die beiden Gesichter vergessen, diese unheimlichen toten Schwimmer. Ich habe verzweifelt nach einer Erklärung gesucht und sie nicht gefunden. Niemand wird sie finden, aber ich bin sicher, jeder, der einmal an Bord geht, wird sie sehen." Hasard wußte, daß der Mann kein Phantast war, obwohl er ihn erst wenige Stunden kannte. Dieser Domingo war kein Spinner, das stand für ihn fest, aber dennoch suchte der Seewolf hartnäckig nach einer glaubwürdigen Erklärung, weil die Geschichte allen Naturgesetzen Hohn sprach. Er fand jedoch auch keine Erklärung und mußte sich mit der Erzählung des Spaniers zufriedengeben. Vielleicht gab es doch nicht immer für alles eine einleuchtende und plausible Erklärung. Er sah, wie sich die schlaffen Segel langsam mit Wind füllten, und blickte auf die breite Gestalt Carberrys, der sich ebenfalls immer wieder argwöhnisch nach dem spanischen Schiff umsah. Er hörte, daß die Männer an Deck tuschelten, die Köpfe zusammensteckten und nach allen
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Himmelsrichtungen mit den Fingern deuteten. Jeder schien es an einer anderen Stelle zu vermuten, doch sah es keiner von ihnen. Als Dan auf dem Achterdeck erschien und der Rudergänger Pete Ballie seine breiten Pranken um das Ruder legte, versuchen sie, gemeinsam mit Ben Brighton, den Standort festzustellen. „Vorerst bleiben wir auf Südwestkurs, Pete, aber erst, sobald das Ruderblatt Druck kriegt." „Aye, Sir. Südwest liegt fast an, wir bewegen uns schon." Der erste Wind blies jetzt ganz zaghaft in die Segel und begann sie leicht zu bauschen. Daraufhin kriegte auch das Ruderetwas Druck und Pete konnte auf Südwest gehen und anliegen. Die „Isabella" bewegte sich weiter dem nördlichen Wendekreis entgegen, zuerst nur langsam und zögernd, dann blies der Wind kräftiger und schob den Rahsegler durch die Fluten. " Hasard hatte darauf verzichtet, nach dem spanischen Schiff zu suchen. Das hätte tage- oder wochenlang dauern können, und ob sie es dann fanden, blieb immer noch fraglich. Damit war allerdings auch das Rätsel um die beiden angeblichen Schwimmer nicht gelöst, aber auch darauf verzichtete Hasard. Er fand sich damit ab, jedenfalls nach außen hin. Am späten Abend briste es noch mehr auf, und aus der dunkelblauen See wuchsen kleine Berge und Täler, durch die die „Isabella" sanft hindurchglitt. In der Nacht, der Wind schob sie platt vor sich her, schätzte der Seewolf die Geschwindigkeit des Schiffes auf neun Knoten, und als Smoky mit der Logleine nachmaß, stimmte es haargenau. * Zwei Tage segelte die „Isabella" platt vorm Wind und lief ihrem Ziel entgegen, als Stenmark aus dem Ausguck rief: „Kleine Tanginsel, zwei Strich Backbord voraus!"
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„Hoffentlich geht der Affenzirkus nicht wieder von vorn los", sagte Ben Brighton. „Von Tanginseln und Kalmen bin ich reichlich bedient." Dan, der wieder an den Karten rechnete, richtete sich auf und spähte zu dem winzigen Stück Tang hinüber. „Auf der Insel steht etwas", sagte er, „so genau läßt sich das nicht erkennen. Ein Gebüsch vielleicht, oder eine abgestorbene Palme." „Seit wann wachsen die denn auf Tanginseln?" fragte Ben. „Ich kann es noch nicht genau sehen. Aber wir liegen ja fast auf dem gleichen Kurs." „Die Tanginseln interessieren mich nicht", sagte der Seewolf. „Wir bleiben auf unserem Kurs, Pete." „Aye, aye, Sir." Pete nickte nur. Aber dann blieben sie doch nicht auf demselben Kurs, denn etwas später sah Dan den Gegenstand besser und deutlicher. „Scheint ein kaputtes Boot zu sein", meinte er. Noch etwas später sah es auch der Seewolf durchs Spektiv. „Ein längst verrottetes Boot, teilweise vom Tang überwuchert und in die Algen eingesunken", sagte er nachdenklich. „Gut, wir ändern den Kurs und laufen das Ding an." Der Spanier räusperte sich. „Wir haben vor Jahren hier fast ein Dutzend treibende Beiboote in den Inseln gesehen. Manche waren uralt, einige ließen sich noch verwenden, so gut waren sie erhalten. Sie trieben irgendwann einmal in den Tang und konnten sich nicht mehr befreien. Die Boote befanden sich fast immer im Zentrum der kleinen Inseln und waren zugewuchert. Bei manchen hatte sich der Tang im Lauf der Zeit durch die Planken gebohrt und sich im Boot ausgebreitet." Der Kurs wurde geändert. Auf einen Wink von Hasard ließ der Profos die Segel ins Gei hängen, bis sich die Fahrt der Galeone merklich verringerte. „Ganz hart am Tang vorbeilaufen, Pete", sagte der Seewolf.
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Die Tangschicht ragte etwas mehr als einen Yard aus dem Wasser. Ihre fast schwarzen Ränder waren naß und in lebhafter Bewegung. Weiter zur Mitte hin, wo der Tang sich auftürmte, war er steinhart und knochentrocken. Und genau darin lag das Boot, oder das was davon noch übrig war. Die Insel maß etwa dreißig Yards im Durchmesser, vielleicht war es auch etwas weniger. Pete ließ den Segler so weit abfallen, daß er hart an der Insel vorbeischrammen würde. Auf der Backbordseite standen die Seewölfe am Schanzkleid. Einige hatten sich die Wanten ausgesucht, um aus der Höhe einen besseren Blick auf das Boot werfen zu können. Als sie auf gleicher Höhe mit der Insel waren, begann der nasse Tang am Schiff zu schlurren, als wollte er sich festsaugen. Carberry und Ferris Tucker zuckten zusammen, als hätte sie gleichzeitig ein giftiges Schlangenpaar gebissen. Niemand sprach ein Wort, sie sahen nur mit starren Augen auf das knapp fünfzehn Yards entfernte Boot. Zunächst sah es wie ein riesiger aufgeschichteter Reisighaufen aus. In bizarren Formen hatte sich der Tang um die Beplankung geschlungen und war dann getrocknet. Überall stand er um das Boot herum wie feine Äste, um gnädig das zuzudecken, was sich in dem Boot befand. Auf den längst eingebrochenen Duchten lagen vier Männer kreuz und quer durcheinander. Sie waren schon seit Ewigkeiten tot, verhungert oder verdurstet, und von den vier Männern sah man nur noch die Skelette und daran ein paar undefinierbare Fetzen Stoff, die die Sonne restlos gebleicht hatte. Der Spanier, der das grauenhafte Bild vom Achterkastell aus sah, bekreuzigte sich und faltete die Hände. Er murmelte unhörbar vor sich hin. Jedenfalls verstand niemand, was er sagte. Im Geäst der abgestorbenen Braunalgen, halb von dem Tang bedeckt, lag noch ein weiteres Skelett. Der Totenschädel war der
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Sonne zugewandt, die Knochen lagen verstreut herum. Das Boot war teilweise auseinandergefallen, die Duchten waren zerbrochen und die Beplankung hatte sich unter der Hitze zu bizarren, knochenähnlichen Gebilden verformt. Ob noch mehr Leichen in dem Tang steckten, ließ sich nicht erkennen, aber den Männern genügte dieser Anblick restlos. Auch das waren einmal Seeleute gewesen, genau wie sie, dachte jeder schaudernd, und es konnte auch ihnen einmal passieren, was hier geschehen war. Eine unbeschreibliche Tragödie mußte sich da abgespielt haben. Dann war die „Isabella" an der Tanginsel vorbei, die jetzt in lebhafte Bewegung geriet und achteraus blieb. Die meisten blickten den Spanier an, und jeder stellte sich wohl insgeheim die Frage, ob es die Männer von der „Preciosa" waren, die in diese tödliche Falle aus Tang geraten waren. Als Hasard den Spanier daraufhin ansprach, schüttelte der den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Gott allein weiß es", sagte er erschüttert. „Aber es ist nicht auszuschließen. Das wird sich wohl auch nicht mehr feststellen lassen. Ich wünsche nicht, daß sie es waren, denn diese dort haben einen furchtbaren Tod gehabt und sind unter entwürdigenden Umständen gestorben." Lange noch blieb Domingo stehen und blickte auf die immer kleiner werdende Insel, die jetzt von weitem wieder so aussah, als wachse in ihrer Mitte lediglich ein dürrer Busch. Auf der Kuhl wurde der Anblick ebenfalls diskutiert, und man bedauerte die armen Kerle. „Und ich sage euch, das waren die Männer von dem Geisterschiff", behauptete O'Flynn hartnäckig. „Wie willst du das denn so genau wissen?" fragte der alte Segelmacher Will Thorne. „Das habe ich im Gefühl, Will. Außerdem paßt das alles zusammen. Die sind wie die Irren losgepullt, und eines Nachts saßen sie in diesem Teufelszeug fest. Vielleicht sind
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die anderen entkommen und irgendwo an Land gegangen, denn der Don sprach ja davon, daß sie alle Boote abgefiert hätten." „Möglich ist das schon", räumte Thorne ein. „Aber es war ein verdammt erschütternder Anblick, und so möchte ich auf meine alten Tage bestimmt nicht enden." „Ich bin immer heilfroh, wenn wir dieses unheimliche Meer heil durchsegelt haben. Bisher sind wir noch nie durchgefahren, ohne daß etwas passierte." „Ja, da hast du allerdings recht." Die beiden Bordältesten klönten und palaverten weiter. Die beiden Jüngsten dagegen, Hasard und Philip, hatten sich nach achtern verzogen und „gruselten" sich, wie der Moses Bill behauptete. Er hätte sie noch nie so bleich gesehen, sagte er. Nach einer weiteren Stunde war die unheimliche Insel endlich am Horizont verschwunden, und die „Isabella" jagte jetzt unter vollen Segeln dahin. Noch vor ein paar Stunden, so überlegte Hasard, hatten sie in einer Kalme gelegen, und das Meer hatte ausgesehen wie flüssiges Silber, ohne jede Bewegung. Jetzt sah es nach einem handfesten Sturm aus, denn am Horizont braute sich etwas zusammen. Hasard war darauf gefaßt, denn das Sargassomeer war launisch und unberechenbar, und alle Vorhersagen brachten nichts ein. Man wußte nie genau, wie man in dieser geheimnisvollen See dran war. „Spätestens heute nacht wird uns der Wind ganz gehörig um die Ohren pfeifen, Ben", sagte er. „Ed soll alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, na ja, du weißt ja Bescheid." „Ja, wir kriegen einen handfesten Sturm, und wenn der losheult, haben wir noch immer kein Land in der Nähe. Es wird noch zwei Tage dauern, bis wir die Caicos erreichen, vorausgesetzt, daß wir uns nicht geirrt haben." Er verließ das Achterkastell und ging zum Profos. „Klar kriegen wir eins auf die Mütze, und wie", versicherte Carberry. „Das gibt ein
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nettes Tänzchen. Ich lasse nachher Strecktaue spannen und alles absichern." Aus der anfangs sanften Dünung wurden lange Wellentäler. Die „Isabella" hob ihren Bug hoch aus dem Wasser und tauchte tief ein, bis die ersten Wasserschleier über Deck stoben und wie ein riesiger Vorhang alles zudeckten. Dann ging sie auf den anderen Bug, als der Wind die Richtung änderte. An Deck konnte man nur noch vorsichtig gehen. Immer wieder rollten dunkle Wellen gegen das Schiff und schienen an der Bordwand zu explodieren. Nach Einbruch der Dämmerung wurde der Himmel schwarz, etwas später ging ein tropischer Regen nieder, dem ein gewaltiges Gewitter folgte. Blitze zuckten über den gesamten nachtschwarzen Himmel. Sie rissen die Schwärze auf und beleuchteten das Schiff, das sich jetzt mühsam seinen Weg durch hohe Wellen bahnte. Das Deck wurde immer wieder überflutet. Mehr als einmal stand das Wasser yardhoch in der Kuhl und lief nur langsam durch die Speigatten wieder ab. Nur noch zwei Sturmsegel standen jetzt, und unter denen jagte der Rahsegler wie der Teufel durch das Wasser. In den Pardunen und Wanten heulte und toste es, , als wäre der Meergott persönlich an Bord erschienen und hätte die Führung des Schiffes übernommen. Der Sturm hielt weitere zwei Tage lang an und pfiff immer noch mit der gleichen Stärke. 9. „Land voraus!" Der Ruf aus dem Großmars löste Freude aus. Ganz schwach voraus war in der gewaltigen Dünung ein feiner Strich zu erkennen, der immer wieder verschwand, aber genauso beharrlich auch immer wieder auftauchte und dabei langsam größer wurde. Nach Hasards Berechnungen handelte essich zweifelsfrei um eine der Caicos-
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Inseln, aber welche es war, konnte der Seewolf nicht genau sagen. Die „Isabella" hielt darauf zu in der Hoffnung, eine geschützte Bucht zu finden, in der man den Sturm abwarten konnte, denn der hatte den Männern in den letzten Tagen eine Menge abverlangt. In Küstennähe war das Wasser immer noch aufgewühlt, und die Wellen gingen haushoch. Die Nordküste der Insel bot keinen Schutz. Dort gab es nur vom Wind gebeugte Palmen und einen anscheinend unbewohnten endlos langen Sandstreifen. Gleich dahinter begann dunkelgrünes Dickicht. „Wir runden die Insel", sagte Hasard. „Auf der anderen Seite finden wir Schutz, dort ist es ruhiger." Die Westseite der Insel bot die erste Möglichkeit, denn dort standen die Palmen dichtgedrängt, und eine vorspringende Landzunge kündete von einer Bucht. Der Seewolf hielt darauf zu. Er hatte jetzt selbst das Ruder übernommen und segelte die „Isabella" um die Landzunge. Erst als sie halb herum waren, sahen sie das Schiff. Arg zerrupft mit zwei gebrochenen Masten und beschädigter Bordwand lag es in der Bucht dicht vor Land vor Anker. Es war eine kleine spanische Galeone, die hier vermutlich vor dem Tosen des Sturms Unterschlupf gesucht hatte. „Na, das ist aber eine Überraschung", sagte Carberry grimmig. „Liegt da ein kleiner lausiger Don, nicht viel größer als die Golden Hind` und sieht aus, als wäre er schon gerupft worden. Der wird aber die Klüsen aufreißen, wenn er uns sieht." Auch Ferris Tucker musterte das Schiff fachmännisch. „Der hat einen schlimmeren Sturm abgeritten als wir", sagte er. „Einen Mast hat er noch, alles liegt an Deck herum, und das Schanzkleid hat die See auf der einen Seite auch eingedrückt." Jetzt erst wurde die „Isabella" bemerkt. Der Spanier glaubte sich in dem Unwetter in absoluter Sicherheit und hatte ganz sicher nicht mit einem anderen Schiff gerechnet.
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„Spanische Flagge heißen?" fragte Carberry. Hasard winkte ab. „Keine Flagge zeigen, er soll von uns denken, was er will. Vermutlich hält er uns der Bauweise nach ohnehin für einen Spanier." Er zeigte mit der Hand zum Land hinüber, wo eine Handvoll Leute stand und dem Schiff mißtrauisch entgegensah. „Wir ankern dort vorn, Ed, außerhalb der Reichweite seiner Geschütze, aber so, daß wir ihn jederzeit beharken können, falls er feindliche Absichten zeigt." „Nennst du das etwa Geschütze, Sir?" fragte Ed. „Er hat auf jeder Seite nur drei, und das sind bestenfalls Pusterohre, mit denen er Erbsen verschießt. Aber: aye, aye, Sir." Die letzten beiden Segel wurden weggenommen, und gleich darauf klatschte der Anker ins Wasser und faßte Grund. Auf dem Spanier standen etwa zwölf Mann unbeweglich wie die Ölgötzen und blickten herüber. Auch die Handvoll Männer am Strand schien erstarrt zu sein. Keiner bewegte sich. Hasard sah, daß ein Spektiv auf sie gerichtet wurde, und ein Mann, vermutlich der Kapitän, auf dem schräg geneigten Achterdeck stolperte und der Länge nach hinfiel. Domingo war ebenfalls an Deck erschienen, und war über seinen Landsmann hocherfreut, auch wenn der noch so mitgenommen und zerrupft aussah. Aber das war ein Schiff, daß ihn nach der letzten Höllenfahrt ganz sicher in die Heimat mitnahm. „Der Bursche, der da eben auf die Schnauze fiel", sagte Brighton, „sieht so aus, als sei ihm der Schreck in die Knochen gefahren. Ich sah, wie er Halt suchte, aber keinen fand. Und dann flog er der Länge nach an Deck." „Vielleicht hat er unseren Namen gelesen und kennt uns", meinte Dan. In die starren Figuren kehrte Leben zurück. Männer rannten durcheinander. Zuerst schoben die Kerle am Ufer ihr Boot ins Wasser, sprangen hinein und pullten ihrem halben Wrack entgegen.
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Dann wurde auf dem Achterdeck des Spaniers die Flagge eingeholt und an seiner Stelle ein weißer Lappen gehißt. „Der gibt aber schnell auf", staunte Bob Grey. „Klarer Fall, daß der uns kennt. Was ist denn jetzt los?" Verwundert sahen die Seewölfe, wie das Boot an der Bordwand anlegte, die Kerle ausstiegen und die Mannschaft wechselte. Diesmal ging zuerst der Mann hinein, der eben noch auf den Planken des Achterkastells ausgerutscht war. Ihm folgten drei weitere, die sich in die Riemen legten und lospullten, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her. Der Spanier blickte verwundert auf seine Landsleute, die jetzt Kurs auf die „Isabella" hielten. Dann wieder ging sein Blick ungläubig zu den Ruderern und dem Mann, der aufrecht im Boot stand und ein weißes Leinenhemd in der Hand hielt, mit dem er aufgeregt wedelte. „Das ist ja eine Übergabe, eine Unterwerfung", sagte er. „So sieht es aus", erwiderte Hasard lächelnd. „Kennen Sie das Schiff, Senor Capitan?" „Nie gesehen, aber vielleicht kennen die uns." Domingo blickte zu dem Seewolf auf, sah in dessen eisblaue Augen und schüttelte den Kopf. Es war ihm peinlich, daß seine Landsleute so schnell die Flagge strichen und sich ergaben. Welchen Grund mochte das haben? Am Schanzkleid lehnten die Seewölfe und grinsten dem Boot entgegen. Der schwitzende Mann mit dem Hemd in der Hand hatte- kugelrunde Augen, die ihm vor Angst fast aus dem Schädel quollen. Er klemmte sich das weiße Hemd unter den Arm, legte die Hände an den Mund und schrie aus voller Lunge: „Nicht schießen, Senores! Nicht schießen. Ich übergebe mein Schiff freiwillig, ohne Blutvergießen! Sie verstehen mich, Senores?" „Wer soll denn auf dich Rübenschwein schießen?" rief Carberry grinsend zurück. „Da gibt es doch nichts mehr zu zerstören."
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„Darf ich an Bord, Senor?" schrie der Kerl laut. „Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig!" „Entern Sie auf!" rief Hasard. „Aber Ihre drei Männer bleiben im Boot sitzen, klar?" „Völlig klar, Senor." Gleich darauf enterte ein total verstörter und entnervter Mann an Bord, der sich vor dem Seewolf immer wieder linkisch verneigte und einen Namen stammelte, den kein Mensch verstand. Er war jedenfalls der Kapitän des Zwergseglers, soviel stand fest. „El Lobo del Mar", hauchte der rotgesichtige schwitzende Mann zutiefst erschüttert. „Es tut mir leid, Senor, daß ich Ihnen die Bucht streitig machen mußte, aber der Sturm zwang mich leider dazu. Hätte ich nur geahnt, daß Sie den Platz beanspruchen, wäre ich draußen auf See geblieben." Hasard klopfte dem Spanier auf den Rücken, damit er endlich mit seinen endlosen Verbeugungen aufhörte. „Oh, Senor, ich erkannte Sie gleich, als ich die herrlichste aller Galeonen sah. Gott verzeihe mir meine Frechheit, daß ich einfach liegenblieb, aber mein Schiff ist beschädigt. Oh, Senor, verzeihen Sie tausendmal, Sie kennen mich nicht, wie sollten Sie auch. Es war damals vor Panama, und später bin ich einmal vor Ihnen ausgekniffen, und dann sah ich Sie mit diesem herrlichen Schiff. Ich weiß, daß Sie gnadenlos alle Spanier versenken, aber lassen Sie diesmal Gnade vor Recht ergehen, und..." „Nun mal langsam, Freundchen", sagte Hasard ungeduldig. Er verstand kaum noch ein Wort, so schnell sprach der andere. „Wir haben gar nicht die Absicht, Ihr armseliges Wrack zu versenken. Was sollen wir damit? Und ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie an einem Wehrlosen vergriffen, im Gegenteil. Wir suchten diese Bucht nur auf in der Hoffnung, hier auf einen Spanier zu treffen." „Ich ahnte es, Senor, Sir, Lobo del Mar. Sie jagen Spanier."
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Die Seewölfe grinsten über beide Ohren, als sie dieses Nervenbündel von einem Kapitän sahen. Der schien nicht nur eine Heidenangst vor ihnen zu haben, der zitterte wie Espenlaub und kroch vor Angst fast in die Planken. Erst als Hasard ihn anpfiff, hörte er ungläubig zu. „Gar nichts wollen wir von Ihnen, Mann", sagte er. „Sie können uns ein Gefallen erweisen." „Jeden, Senor, jeden, auf der Stelle." Hasard schob Domingo vor und nannte seinen Namen. „Dieser Mann ist Spanier und schiffbrüchig. Wir nahmen ihn an Bord, aber die Geschichte wird er Ihnen selbst erzählen. Ich denke, daß Sie ihn an Bord nehmen werden, denn wir wollen bald weiter, sobald sich der Sturm gelegt hat oder etwas nachläßt." Die beiden Männer begrüßten sich, dann wandte sich der Kapitän wieder dem Seewolf zu und ergriff dessen Hand. „Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen einen Gefallen erweisen zu dürfen", versicherte er. „Darf ich meinen Landsmann gleich mitnehmen, Senor?" „Bitte, dem steht nichts im Wege." „Dann schlage ich vor, wir gehen gleich." Der hat es aber eilig, dachte der Seewolf, dem dampft ja regelrecht der Hosenboden. Er konnte gar nicht schnell genug verschwinden, so verängstigt war er. „Da ist noch etwas", sagte Hasard. „Können Sie Ihr Schiff allein aufriggen, oder brauchen Sie Hilfe? Ich werde Ihnen gern meinen Schiffszimmermann hinüberschicken und ein paar Leute, die ihm helfen." „Vielen herzlichen Dank, Senor, aber wir sind schon dabei und auch gleich fertig. Es wird nicht mehr lange dauern. Wirklich nicht nötig, nochmals vielen Dank." Er ergriff den verblüfften Spanier an der Hand und wollte das Schiff verlassen. Wenn er diese Burschen sah, die für ihn so etwas wie eine unglaubliche Legende waren, dann wurde ihm immer heißer.
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Er stand ungeduldig daneben, als Domingo sich verabschiedete und immer wieder seinen Dank beteuerte. Hasard wehrte lachend ab. „Das war wirklich keine große Strapaze für uns", sagte er. „Ich freue mich, daß es so gut geklappt hat." Domingo ließ es sich nicht nehmen, jedem einzelnen der Seewölfe die Hand zu drücken, während der spanische Kapitän danebenstand und ungeduldig wartete. Das belustigte Grinsen in den Gesichtern der Männer nahm er gar nicht wahr. Er wollte nur noch fort, und das so schnell wie möglich, denn dieser Seewolf war ihm nicht geheuer, zumal er ihm auch noch angeboten hatte, sein Schiff zu reparieren. Dann fuhr er lieber gleich mit gebrochenen Masten aufs Meer hinaus, als sich hier weiter in des Teufels Küche aufzuhalten. Unter unzähligen Verbeugungen und der laufenden Betonung, daß ihm noch nie in seinem erbärmlichen Leben eine größere Ehre zuteil geworden sei, zog er sich ins Boot zurück, winkte von dort noch einmal und riß einem der Seeleute den Riemen aus der Hand. „Mann, legen die aber einen Zahn vor", staunte Tucker. „Der hat uns wohl für die Höllenfürsten persönlich gehalten. So ein Angstbündel habe ich noch nie gesehen." Die Seewölfe lachten, als das Boot fortpullte. „Nicht mal seinen Kahn wollte er sich reparieren lassen", sagte Dan fassungslos. „Dem qualmen die Stiefel." Sie verfolgten das Boot noch, bis es drüben anlegte und die Spanier noch einmal winkten. Sie schienen sich in dieser Bucht nicht mehr sonderlich wohl zu fühlen. Aber dann begann drüben eine Hektik, wie es keiner der Seewölfe von den Dons gewohnt war. Da wurde geklopft, gehämmert und genagelt, mit einem Eifer und einem Krach, der, mühelos das Tosen des Sturmes übertönte. Auch als die Dämmerung einsetzte, schufteten die Spanier verbissen, um ihr Schiffchen aufzuriggen. Hasard ließ vier Wachen für die Nacht aufziehen und die Ankertrosse ständig
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überprüfen, denn der Sturm riß und zerrte an der „Isabella" mit aller Kraft, obwohl sie in dieser langgezogenen Bucht relativ sicher lag. Gegen Mitternacht bemerkte Dan O'Flynn, wie der Spanier langsam davontrieb und wandte sich an Big Old Shane, der mit ihm die Wache teilte. „Dem ist die Trosse gebrochen, glaube ich. Wir sollten sie warnen, sonst rennt er aufs Land." Der graubärtige Schmied lachte leise. „Die Trosse gebrochen?" wiederholte er. „Der verzupft sich vor lauter Angst, dessen bin ich ganz sicher." „Bei dem Sauwetter?" „Was ist schon das bißchen Sauwetter gegen uns? Den Sturm fürchtet er nicht, aber die Anwesenheit der Isabella` liegt ihm wie ein Bleiklumpen im Magen." „Tatsächlich", sagte Dan, „die Kerle setzen Segel. Die müssen wahnsinnig sein." Das kleine Schiff nahm Fahrt auf, richtete den Bug nach Süden, um so weit wie möglich von der „Isabella" wegzubleiben und verzog sich dann still und heimlich aus der Bucht. „Wirklich ein Verrückter", sagte Dan. „Dabei hat ihm keiner auch nur das geringste getan." „Das wirst du diesem lausigen Don nie in seinen Schädel hämmern können, Junge. Der hat den einen Mast nur halb aufgeriggt und seine Segel sind die Angst, die ihn treiben. Den hält hier nichts mehr auf der Welt, der wünscht sich nur noch ganz weit fort." Etwas später war der Spanier verschwunden. Eine Überraschung ganz anderer Art brachte der nächste Morgen. Daß sich der Don nächtlicherweise verholt hatte, löste bei den Seewölfen Heiterkeitsstürme aus, aber sehr lange konnten sie sich mit ihrem Gelächter nicht aufhalten, denn erst jetzt begann der Sturm zu wachsen und über die Insel zu pfeifen. Die See in der Bucht wurde aufgewühlt und schien zu kochen. Hasard spähte zum Land hinüber. Der Himmel war bedeckt, und in der Luft lag
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ein eigentümliches Brausen und Heulen, als stünde der Weltuntergang kurz bevor. „Das sieht nach einem ausgewachsenen Orkan aus", sagte er. „Das wird so schlimm wie im Chinesischen Meer damals. Seht mal, wie sich auf der anderen Seite die Palmen biegen. Wir müssen Leinen ausbringen, der Anker hält uns nicht. Noch können wir gefahrlos mit dem Boot an Land und die Leinen an den Palmen befestigen. Los, an die Arbeit, Männer! Wir beginnen noch vor dem Frühstück, wir haben keine Zeit mehr." An einer verlängerten Wurfleine wurden die ersten Tampen befestigt und ins abgefierte Beiboot gelegt. Vier Mann, Carberry, Shane, Tucker und Batuti sollten das Boot segeln und pullen und die Leinen an den Palmen befestigen. Die vier Männer saßen kaum im Boot, als ganz in ihrer Nähe eine riesengroße Blase aus dem Wasser stieg. Als Tucker genauer hinsah, fiel das merkwürdige Gebilde in sich zusammen und versank. „Was, zum Teufel, war das denn?" fragte er entsetzt. „Kümmere dich jetzt nicht darum", sagte Carberry, „das war Sand, den der Sturm aufgewirbelt hat." „Wenn das Sand war, freß ich sämtliche Rahen." Sie mußten schon schreien, um verstanden zu werden, denn jetzt steigerte sich der Lärm der himmlischen Mächte zu einem infernalischen Brausen. Knallharter Wind fegte durch die Bucht, der durch das Dickicht und die Palmen kaum gemildert wurde. Der Sturm fiel mit voller Stärke von der Nordseite der Insel ein und gab Töne von sich, die ihnen Schauer über den Rücken jagten. Das kleine Segel war straff gespannt und trieb das Boot durch die Bucht. Sie brauchten nicht zu pullen. Ein Schlag an dem Boot ließ sie zusammenfahren. Ein langes, dickes Etwas schnellte aus dem Wasser und zuckte wieder zurück. Was es war, ließ sich nicht erkennen. „Raus jetzt!" schrie Shane in voller Lautstärke, als sie auf den Strand liefen.
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„Beeilt euch, sonst können wir hierbleiben." Mit vereinten Kräften wurden die Trossen um die Palmen gelegt und vertäut. Auf der „Isabella" wurde die Lose durchgeholt. Die Trossen wurden an den Pollern belegt. „Zurück!" schrie Carberry, als die Wellen in der Bucht immer höher wurden. Selbst seine Donnerstimme ging in dem infernalischen Brausen hoffnungslos unter. Das Boot legte sich hart zur Seite, und im selben Augenblick flog das kleine Segel mit einem peitschenden Knall auseinander. Sofort schlug es quer, aber die vier Männer griffen schon zu den Riemen und legten sich ins Zeug. Dann glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen, als das Wasser der Bucht neben dem Boot wieder blubberte, ein riesengroßer schleimiger Schädel erschien und ein kaltes Auge sie ausdruckslos anglotzte. Shane ließ vor Schreck das Ruder los, griff aber instinktiv gleich wieder zu. Das monströse Gebilde wuchs atemberaubend schnell aus der See. Lange Tentakel hoben sich aus dem Wasser, tasteten haltsuchend durch die Luft und legten sich auf die Ducht. Zwei weitere Arme suchten ebenfalls nach Halt. Kalmare! Es waren die zehnarmigen Riesenbiester, wie es sie auf der Schlangen-Insel zur Genüge gab. Sie griffen niemals Boote an, aber das war eine besondere Situation. Die See war durch den orkanartigen Sturm aufgewühlt worden, und harte Grundseen hatten die Riesenkralken aus ihren Höhlen vertrieben. In der schweren See waren sie hilflos und griffen blind nach jedem erdenklichen Halt, der sich ihnen bot. Bei diesem Kalmar hatte es ganz den Anschein, als wolle er sich festeren Halt verschaffen und ins Boot ziehen. Noch ein Arm tauchte auf, und Carberry dem fast die Haare zu Berge standen, schlug mit verbissener Kraft auf die Tentakel ein, die sich festsaugten und das Boot zum Kentern bringen konnten. Dazwischen schrie und heulte es wie aus tausend Höllenschlünden. Die Natur
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geiferte und spie mit Wassermassen um sich. Eine See schlug über dem Boot zusammen, und der Kalmar in seiner Angst suchte immer noch nach Halt. Shane, Tucker und der jetzt graugesichtige Batuti hörten ihr eigenes Geschrei nicht mehr, als sie wie die Wilden draufloshieben. Einer der Tentakel löste sich, der monströse Riesenleib ging in einer gewaltigen Woge unter, tauchte aber sofort wieder auf und holte einen weiteren Arm aus der Tiefe. , Ein ungleicher Kampf spielte sich ab, bei tobender See, brüllendem Sturm und nervenzerfetzendem Heulen. Immer wenn der Riesenschädel aus der See tauchte, glaubte Carberry, das große Auge des Kalmars glotze ihn vorwurfsvoll an, obwohl es völlig ausdruckslos auf die Männer starrte und sie vermutlich gar nicht wahrnahm. Von der „Isabella" her krachten Musketenschüsse, bis der Kalmar langsam einen Tentakel nach dem anderen löste, sich in voller Größe aus der See hob und dann langsam hintenüber in den kochenden Fluten verschwand. An seiner Stelle tauchte ein zweiter auf, doch er geriet dem Boot nicht so nahe und trieb hilflos und mit gewaltigen Fangarmen um sich tastend durch die Bucht. Gemeinsam brachten sie das halb gekenterte Boot mit dem Bug in Richtung der „Isabella" und pullten weiter. Mal sahen sie den Rahsegler aus luftiger Höhe in eine gigantischen Wellental verschwinden, dann wieder befand er sich hoch über ihnen und drohte herabzustürzen. Das kleine Boot wurde zum hilflosen Spielball der Wellen. „Wenn wir anlegen, werden wir zertrümmert!" brüllte der Profos. „Wir müssen es von der anderen Seite versuchen, da gehen die Wogen noch nicht so hoch." Immer wieder drückte die See sie erbarmungslos zurück, bis sie es nach schier übermenschlicher Anstrengung endlich geschafft hatten.
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Vom Schiff wurden ihnen Taue zugeworfen. Den anderen Seewölfen stand ebenfalls das Entsetzen im Gesicht. Batuti fluchte laut vor sich hin und brüllte etwas das sich so anhörte wie: „Kugelrundes Mistfisch, Glotzauge, verrücktes Riesenpudding!" Von der Landseite her vernahmen sie einen Knall, gleich darauf wirbelte eine abgebrochene Palme mit Getöse über sie weg. Sie hievten Carberry an Bord, dann Batuti, Ferris Tucker und schließlich Big Old Shane. Die Männer waren klatschnaß und sahen erschöpft aus, aber nach dieser Anstrengung war das auch kein Wunder. Es gelang ihnen auch noch, das Beiboot unbeschadet an Bord zu nehmen. Dann raste ein orkanähnlicher Sturm über die Caicos-Insel, fegte den Sand vor sich her, warf ihn hoch in den Himmel und schleuderte ihn auf die „Isabella", die ächzte und stöhnte, als hätte jetzt endgültig ihre letzte Stunde geschlagen. Die Taue strafften sich, sangen in den höchsten Tönen und drohten wie straff gespannte Gitarrensaiten zu brechen. Aber die Trossen hielten bis auf eine, die mit berstendem Knall auseinanderflog und sich um den Mast wickelte. Auf den Rahsegler regnete es Trümmer. Palmblätter fegten über das Deck, ausgerissene Wurzelballen von abgeknickten Palmen flogen an Bord, und immer wieder wühlte die brodelnde See die Riesenkalmare auf, die hilflos durch die Bucht trieben. Die Hölle hatte sich aufgetan, und der Seewolf dachte mit Schaudern an den Spanier, der kurz zuvor ausgelaufen war. Hoffentlich war es ihm gelungen, eine der näheren Inseln zu erreichen, sonst hatte er nicht die geringste Chance. Die See würde ihn restlos zertrümmern und in Strandgut verwandeln. Mehr als zwei Tage heulte, tobte und brüllte der Sturm über die Insel und brachte die Bucht zum Kochen. Draußen auf See hätte selbst die stabile „Isabella" dem Sturm nicht trotzen können. Da blieb kein Mast mehr stehen, da brodelte nur
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noch die Hölle, da rasten und brüllten Urgewalten, gegen die der Mensch klein und häßlich wirkte. Erst in der Nacht des dritten Tages hatten sich die Elemente ausgetobt. Die CaicosInsel bot ein Bild der Verwüstung. Am Strand der Nordseite stand nichts mehr, und in der Bucht gab es nur noch sechs oder sieben abgebrochene Palmenstümpfe. Alles andere hatte die See geschluckt. Zwei der Riesenkalmare lagen mit teilweise abgerissenen Tentakeln tot am
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Strand - willkommene Beute für Seevögel, die sich nach Abflauen des Sturmes zaghaft wieder einfanden. Wie sie es geschafft hatten, zu über-' leben, blieb den Seewölfen ein Rätsel. Noch am selben Tag lichtete die „Isabella" den Anker, die Trossen wurden eingeholt und die Segel gesetzt. Hinter ihnen blieb ein Chaos zurück, eine verwüstete Landschaft des Grauens. Mit Kurs auf die Schlangen-Insel lief der ranke Rahsegler weiter, seinem eigentlichen Ziel entgegen.
ENDE