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Seewölfe 246 1
Roy Palmer 1.
Leicht taumelnd betrat Philip Hasard Killigrew das Hauptdeck seines Schiffes, der „Isabella VIII.“. Die Brandwunde auf seiner rechten Wange schmerzte noch heftig, und er vermochte den Unterkiefer nur unter erheblichen Anstrengungen zu bewegen. Doch kein Mensch konnte ihn dazu anhalten, auch nur einen Augenblick länger in der Kapitänskammer zu verweilen - auch Arkana und Araua nicht, die ihn verbunden und gepflegt hatten. Unwillkürlich schloß er bei dem Bild, das sich seinen Augen bot, die Augen. In der Nacht nach der Schlacht hatte er bereits Bilanz gezogen. Ben Brighton hatte ihm einen umfassenden Bericht von ihrer Situation gegeben. Doch jetzt, am Morgen, unter dem gnadenlos klaren .Sonnenlicht des erwachenden Tages war der Eindruck von der Lage noch viel schockierender. Die harte Realität traf ihn wie ein Schlag. Fast hätte er gestöhnt, aber nicht wegen seiner Schmerzen, sondern wegen des verheerenden Zustandes seines Schiffes und seiner Mannschaft. Das sollte noch die „Isabella“ sein, dieses rußgeschwärzte Wrack, das mit Schlagseite in der Bucht der Schlangeninsel lag und dem Untergang näher zu sein schien als jeder Hoffnung, die sich mit einer raschen Wiederherstellung der ursprünglichen Beschaffenheit verband — ihre „Isabella“? Der Seewolf schritt über das schräge Deck bis zur Nagelbank des Großmastes und lehnte sich dagegen. Sein Blick wanderte über die Kuhl und die Back, wo noch die Blutspuren des Gefechts zu sehen waren, zum Schanzkleid, das nur noch in lächerlichen Fragmenten vorhanden zu sein schien, und zu der zweitvordersten Culverine der Backbordseite, deren letzte Überbleibsel auf den Planken verstreut lagen. Er schaute auf und betrachtete einige Zeit die Masten und Rahen, das zusammengeraffte Tuch und das laufende und stehende Gut, in dem eine heillose Unordnung herrschte. Von den drei Masten der „Isabella“ war praktisch nur noch der Großmast völlig intakt.
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Hasard senkte den Blick und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dies war nun das bittere Fazit des Kampfes bei den Caicos-Inseln. Aber nicht nur die „Isabella“ war hart angeschlagen, auch die Crew hatte es schlimm getroffen, schlimmer als je zuvor. Zwar waren keine Toten zu beklagen, doch es gab jede Menge Verletzte, deren Klagen und Fluchen noch bis tief in die Nacht an seine Ohren gedrungen war. Jetzt lagen die Verwundeten im Mannschaftslogis, und der Kutscher und die Kriegerinnen Arkanas bemühten sich um ihr Wohlergehen, soweit die Umstände es zuließen. Eine Woche, dachte der Seewolf. Wir brauchen mindestens eine Woche Zeit, bis wir das alles wieder halbwegs in Ordnung gebracht haben. Und der Schwarze Segler Thorfin Njals? Und der Rote Drache von Siri-Tong? Er ließ seinen Blick wandern und sah die Schiffe in der Bucht ankern: schwere Schäden auch dort, viele Verletzte, und der Wikinger und die Rote Korsarin hatten reichlich damit zu tun, die Blessuren der Männer zu verarzten und die Lecks abzudichten, durch die das Wasser in die Rümpfe strömte. Don Bosco war endlich besiegt. Aber war der Preis, den sie für diesen Triumph gezahlt hatten, nicht zu hoch? Langsam, langsam, dachte Hasard, nur nicht zu pessimistisch sein. Hölle, hat es dir den Verstand verblendet? Er holte ein paarmal tief Luft. Der kühle Morgen ließ die Lebensgeister voll erwachen. Die Hölle, das hatte Old Donegal Daniel O’Flynn einmal in einem zuversichtlichen Moment gesagt, mußte nicht unbedingt so heiß sein, wie man vielleicht glauben mochte. Irgendwo gab es immer einen Hoffnungsschimmer. So hatte er, der ewige Schwarzmaler und Hellseher, sich ausgedrückt, rund wenn er schon dazu in der Lage war, dann mußte ein Philip Hasard Killigrew es erst recht sein. In dieser Lage bedeutete dies, sich selbst am Schopf zu packen und aus dem Schlamassel zu ziehen.
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Hasard kriegte ein grimmiges Grinsen zustande. Alte Lady, dachte er, dich flicken wir schon wieder zurecht, und am Ende siehst du besser aus als je zuvor, so daß dir kein Mensch dein wahres Alter ansieht. Er wurde in seinen Überlegungen durch Ben Brighton und Ferris Tucker unterbrochen, die gerade aus dem Vordecksschott traten und auf ihn zuhielten. Er sah sie an und sagte: „Also los, ihr beiden — raus mit der Sprache und nicht lange um den heißen Brei herumgeredet! Wie sieht es unten wirklich aus?“ Ben räusperte sich. „Sir, du solltest dich lieber schonen. Es ist nicht richtig, daß du schon wieder an Deck bist. Wir werden hier auch allein fertig.“ „Geschont habe ich mich schon die ganze Nacht über“, sagte der Seewolf. „Also?“ „Das mit dem Kiefer — ich meine, du solltest es nicht unterschätzen. Der Kutscher hat gesagt, daß er ihn vielleicht noch klammern muß. Du solltest ihn sowenig wie möglich bewegen.“ „Mister Brighton — soll das ein Redeverbot sein?“ Ben gab sich einen Ruck und sah seinem Kapitän offen in die Augen. „Nein, Sir, natürlich nicht.“ Ferris Tucker mußte grinsen. „Dann kommt zur Sache“, sagte Hasard. „Ich erwarte präzise Angaben. Dieser verdammte Kahn hat sich immer noch nicht wieder ganz aufgerichtet. Woran liegt das, Ferris?“ Das Grinsen verschwand aus dem Gesicht des rothaarigen Schiffszimmermanns. „Wir haben sämtliche Lecks in Höhe der Wasserlinie abgedichtet“, erklärte er. „Jeweils vier Männer bedienen umschichtig die Lenzpumpen, trotzdem zieht die ‚Isabella’ immer noch Wasser. Woran das liegt, ist logisch: Es gibt noch mehr Löcher, und zwar unterhalb der Wasserlinie.“ „Umwerfend logisch, Ferris“, sagte der Seewolf. „Weiter.“ „Sehr groß können sie aber nicht sein.“ „Das heißt mit anderen Worten?“
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„Ich warte, bis das Leckwasser so weit raus ist, daß ich an die Lecks herankomme. Dann stopfe ich sie zu, und zwar so fest, daß sich kein Meeresfloh mehr durch die Ritzen quetschen kann“, entgegnete Ferris Tucker. „Ich behaupte, daß noch vorm Dunkelwerden die ganze Lady so dicht ist wie ein zugeschmiedetes Kanonenrohr. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer. Dafür laß ich mir den Kopf abschlagen, wenn’s nicht stimmt.“ „Gut, Ferris. Wir brauchen also nicht aufzuslippen?“ „Nein. Das erkenne ich schon jetzt.“ Hasard war mit dieser Auskunft zufrieden. Ferris wußte genau, was er sagte, er hätte sich niemals in vage Ankündigungen verstiegen. Die Tatsache, daß die Schäden am Rumpf von den Frachträumen aus behoben werden konnten, daß die „Isabella“ also in der Bucht liegenbleiben konnte und nicht mühsam an Land gezogen werden mußte — allein das bedeutete eine erhebliche Zeitersparnis. „Was ist mit dem Rest?“ erkundigte er sich. „Drei Tage Arbeit“, erwiderte Ben Brighton. „Nicht mehr. Richtig, Ferris?“ „Goldrichtig.“ „Danke“, sagte der Seewolf. „Das genügt mir vorerst. Ich hatte schon befürchtet, das Instandsetzen des Schiffes würde eine Woche oder noch länger dauern.“ Ferris lächelte wieder. „Ach wo ! Die. Hunde haben uns zwar ganz schön zusammengeschossen, aber wir sind ja Gott sei Dank nicht alle flügellahm. Wir können kräftig zupacken, oder? Das Schlimmste sind die Lecks. Habe ich die erst mal dicht, ist der Rest fast ein Kinderspiel.“ Er wies auf die kaputten Masten und das ramponierte Schanzkleid. Der Bugspriet mußte erneuert werden, der Besan ebenfalls. Auch den Fockmast, den es im Gefecht bis zur Hälfte weggefegt hatte, galt es durch einen neuen zu ersetzen. Ferris mußte die fehlenden Rahen erneuern und das laufende und stehende Gut richten. Segel mußten teils geflickt, teils neu gesetzt werden, eine Aufgabe, die in erster Linie Will Thorne, dem
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Segelmacher, zufiel. Fast das gesamte Schanzkleid mußte renoviert werden, und auch ein neues Ruderhaus war erforderlich, denn das alte war im Gefecht zerstört worden. Nahm man die zahlreichen Beschädigungen auf dem Achterdeck, der Kuhl und der Back hinzu, so bedurfte es wirklich schon eines sehr sonnigen Gemüts, von einem „Kinderspiel“ zu sprechen. Aber Hasard kannte die Fähigkeiten seines Zimmermanns, er wußte, daß er auch auf Ben Brighton, Big Old Shane, Will Thorne und die anderen trotz aller durchstandenen Strapazen wie gewohnt zählen konnte. Der Gedanke daran verlieh ihm innerlichen Auftrieb. „Gut“, sagte er. „Ich will jetzt nach unseren Verletzten sehen.“. Ben sagte: „Ich glaube, Smoky hat es am schwersten erwischt.“ Der Seewolf wandte sich ab, ging zum Vordecksschott und tauchte im Halbdunkel des Vorschiffs unter. Als er das Logis erreichte, konnte er das Stöhnen seines Decksältesten Smoky deutlich vernehmen. * Arkanas Kriegerinnen schauten auf, als sie die Gestalt des Seewolfs im Eingang des Logis wahrnahmen. Der Kutscher, der sich auf dem Rand von Smokys Koje niedergelassen hatte, schien die Anwesenheit seines Kapitäns indes nicht zu bemerken. Leise, fast lautlos trat Hasard hinter den Rücken seines Kochs und Feldsehers. Er blickte ihm über die rechte Schulter und konnte im Schein einer Öllampe, die der Kutscher angezündet und an einen Nagel des Deckenbalkens gehängt hatte, nun auch Smokys wachsbleiches Gesicht erkennen. Smoky hatte die Augen geöffnet, aber er schien nicht viel von dem zu sehen, was um ihn herum vorging. „Hölle“, sagte er. „Bist du das, Kutscher?“ „Ja.“ „Was in aller Welt hast du Himmelhund hier — o Mann, was rumort da bloß in
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meinem verdammten Schädel? Satan, das geht ja auf keine Walhaut!“ „Du solltest nicht soviel sprechen“, sagte der Kutscher. „Davon wird’s nämlich bestimmt nicht besser.“ „Sag bloß, du bist hier, um das letzte Gebet mit mir zu leiern. Verflucht, das kannst du dir sparen.“ Smoky verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Der Kutscher schüttelte den Kopf. „Unsinn. Ich dachte mir nur, es ist besser, wenn ich mir dein Prachtexemplar von einem Kopf noch mal ganz genau ansehe.“ „Und? Was ist los? Hat mir jemand mit der Axt reingehauen?” „Das weißt du nicht mehr?“ „Keine Spur. Was ist passiert?“ Der Kutscher erklärte es ihm und fügte hinzu: „Bei alledem hast du aber noch Glück gehabt, denn du hast keine richtige Fraktur erlitten. Höchstens einen kleinen Knacks —und natürlich eine ordentliche Gehirnerschütterung.“ „Na, so ein Glück aber auch“, brummte Smoky. „Was soll ich tun? Vielleicht singen? Himmel, ich bin ganz verrückt vor lauter Freude.“ „Vielleicht ist er wirklich durchgedreht“, sagte Stenmark aus einer dunklen Ecke des Logis heraus. „Hört euch doch an, was für Sprüche er von sich gibt.“ „Kutscher, sag dem alten Schweden, er soll sein Maul halten“, knurrte der Decksälteste. „Ich hab keinen Talg in den Ohren, und wenn mich hier jemand beleidigt, dann kriegt er’s mit meiner harten Faust zu tun.“ Der Kutscher schien aufzuatmen. „Wenn du schon Stenmark an seiner Stimme wiedererkannt hast, weißt du wohl auch, wo du dich befindest.“ „Aber sicher. An Bord der ‚Isabella’. Ho, wieso sind wir eigentlich noch nicht abgesoffen?“ „Wir sind sozusagen mit einem blauen Auge davongekommen. Gut, sehr gut, Smoky, alter Junge.“ „Gut? Was soll daran gut sein? Spinnst du, Kutscher? Dich alten Knochenflicker scheint es ja schlimmer erwischt zu haben als mich.“
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„Nein, nein“, sagte der Kutscher hastig. „Ich dachte bloß schon, bei dir wäre ein Fall von temporärem Gedächtnisschwund eingetreten.“ „Schon wieder?“ Smoky stieß einen tiefen Laut aus, der einem abfälligen Grunzen ähnlich war. „Das fehlte noch. Das hab ich doch schon mal gehabt.“ „Auch daran kannst du dich erinnern?“ „Klar doch. Mensch, Kutscher, träumst du?“ Hasard schob den Kutscher sanft beiseite und beugte sich über die Koje. „Smoky, jetzt ist aber Schluß. Halt den Mund, versuche, so ruhig wie möglich zu liegen, und sieh zu, daß du schläfst. Das ist die beste Medizin für dich. Der Kutscher wird dir ein schmerzstillendes Mittel einflößen, aber wenn du nicht still bist, wirkt es nicht.“ „Ich habe ihm vorhin schon etwas zu trinken gegeben“, sagte der Kutscher. „Es braucht nur seine Zeit, bis die starken Kopfschmerzen etwas nachlassen:“ „Also doch“, flüsterte Bob Grey im Hintergrund. „He, Stenmark, Smoky hat das Teufelszeug gesoffen, ohne es zu merken. Ganz richtig im Schapp scheint er also doch nicht mehr -zu sein.“ „Kutscher“, sagte Smoky. „Wer zum Henker hat dir die Erlaubnis gegeben, mir .eins von deinen stinkenden Giften zu verabreichen? Mir wird ganz elend, wenn ich dran denke.“ „Ich habe das veranlaßt“, sagte der Seewolf. „Und jetzt mach das Schott dicht, alter Freund, oder ich lasse es dir zudübeln und verschalken.“ „Sir, ist das ein Befehl?“ „Ja.“ Smoky schwieg und beobachtete nur noch aus den Augenwinkeln, wie Hasard und der Kutscher sich entfernten und zu den Kojen von Bob Grey, Stenmark und Pete Ballie hinübergingen. Bob Grey hatte eine Wunde am linken Unterschenkel. Stenmark hatte einen Eisensplitter in den rechten Oberschenkel erhalten, als die Backbordculverine in die Luft und den Männern, die sich in der
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Nähe befunden hatten, buchstäblich um die Ohren geflogen war. Pete Ballie war ebenfalls ziemlich schwer verletzt worden, denn während des Gefechts war ihm das Ruderhaus über dem Kopf zusammengestürzt. Um die übrigen Mitglieder der Crew, die Blessuren davongetragen hatten, war es nicht so schlimm bestellt. Hasard sprach mit ihnen allen und mußte Luke Morgan, der um jeden Preis schon jetzt an Deck zurückkehren wollte, regelrecht zusammenstauchen, um ihn in seiner Koje zu halten. Schließlich verließ er das Logis, trat durchs Vordecksschott auf die Planken der Kuhl, die durch die Sonnenstrahlen erwärmt wurden, und wartete auf den Kutscher. Lange ließ der Kutscher nicht auf sich warten. Er blieb dicht vor seinem Kapitän stehen und sah ihn an. „Weiß schon, was du mich fragen willst, Sir“, sagte er. „Aber ich kann dich beruhigen. Für keinen der Männer besteht akute Gefahr. Smoky hat tatsächlich keinen Schädelbruch erlitten. Bobs Wunde sah anfangs schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit ist. Übler hat es Stenmark erwischt, aber Gott sei Dank ist sein Knochen unversehrt.“ „Und Pete?“ „Jede Menge Schrammen und Beulen, und auch zwei oder drei Rippen sind angeknackst. Aber das kriegen wir rasch wieder hin, keine Angst.“ „Glaubst du, daß du die Männer jetzt allein versorgen kannst?“ fragte Hasard. „Ohne die Hilfe von Arkanas Mädchen?“ „Ja, das meine ich.“ „Vielleicht könnten mir die Zwillinge noch ein bißchen Unterstützung leisten“, sagte der Kutscher. „Wenigstens für die Zeit, in der ich mit dem Zubereiten und Austeilen der Mahlzeiten beschäftigt bin.“ „Das veranlasse ich. Die Kriegerinnen können von Bord gehen, sonst passiert im Logis noch weiß der Teufel was.“ Der Anflug eines Lächelns glitt über die Züge des Kutschers. „Sir, wie geht’s deinem Kiefer?“ „Ich schätze, er wird mir nicht abfallen.“
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„Und die Brandwunde?“ „Die wird eine feine Narbe hinterlassen“, erwiderte der Seewolf. „Zufrieden?“ „Im großen und ganzen schon.“ Der Kutscher wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Augenblick ertönte über ihnen die Stimme von Bill. „Deck! Siri-Tong und der Wikinger setzen zur ‚Isabella’ über! Mister Brighton, Mister Carberry, würden Sie das bitte dem Kapitän melden?“ Ferris Tucker war wieder unter Deck verschwunden, der Profos stand bei Hasards Erstem Offizier und Bootsmann, nicht weit von der Kuhlgräting entfernt. Beide schauten zu Bill hoch, der als Ausguck in den Großmars auf geentert war. Carberry stemmte beide Fäuste in die Seiten und verzog zornig das Gesicht. „Du Stint!“ brüllte er. „Der Kapitän ist bereits an Deck, kannst du das nicht sehen? Sperr gefälligst deine Klüsen auf, du triefäugiger Bohrwurm, oder du kannst was erleben! Wisch dir den Schlick aus dem Gesicht!“ „Aye, Sir!“ gab Bill pflichtschuldigst zurück. Hasard ließ den Kutscher stehen Und ging zu Ben und dem Profos hinüber. Carberry schrie noch ein paar wüste Beleidigungen zu Bill hinauf – die gewohnte Musik an Bord hatte wieder begonnen, die Dinge schienen ins rechte Lot zurückzukehren und bald wieder ihren gewohnten Lauf zu nehmen. Hasard trat ans Schanzkleid und blickte zu den beiden Booten, die vom Schwarzen Segler und vom Roten Drachen abgefiert worden waren und jetzt unter dem rhythmischen Schlag der Rudergasten zur „Isabella“ herüberglitten. Schon konnte er die Gestalten von Siri-Tong und Thorfin Njal auf den Duchten erkennen. Die Rote Korsarin erhob sich, beschattete ihre Augen mit der rechten Hand und spähte zur „Isabella“. Vorsichtig fuhr sich der Seewolf mit der Hand übers Gesicht. Die Wunde brannte immer noch wie Feuer. Er war nicht sonderlich eitel, aber er konnte sich ausmalen, daß er keinen sehr erfreulichen
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Anblick bot. Sein Gesicht war verunstaltet, nicht zuletzt auch durch die alte Narbe, die von der linken Stirnhälfte über die Augenbraue auf die linke Wange verlief, und es würde für alle Zeiten gezeichnet bleiben. Arkana schien dies nicht als gravierend zu empfinden; sie hatte sich nur große Sorgen um seinen Unterkiefer bereitet. Und SiriTong? Würde sie sich abgestoßen fühlen? Nun, sie mußte sich mit den Tatsachen abfinden. Aber irgendwie war es ihm doch unbehaglich, ihr in diesem Zustand gegenübertreten zu müssen. Er drehte sich zu Ben und dem Profos um. Sie hatten ihn beobachtet, taten jetzt aber so, als gelte ihre ganze Aufmerksamkeit den nahenden Beibooten. Hasard räusperte sich. „Wenn Siri-Tong und der Wikinger an Bord sind, halten wir eine Lagebesprechung ab“, sagte er. „Wir müssen uns gegenseitig bei den Reparaturarbeiten helfen und unsere Kräfte so gut verteilen, wie es möglich ist. Ben, sorge du dafür, daß Arkana und Araua mit den Kriegerinnen zusammen so schnell wie möglich die ‚Isabella’ verlassen.“ „Aye, aye, Sir!“ Hasard überlegte, ob sich Arkana durch diese Maßnahme vielleicht brüskiert fühlen würde, aber er verwarf den Gedanken daran gleich wieder. Sie würde es verstehen, wie sie stets alle seine Entscheidungen begriffen hatte. Zu viele Frauen an Bord der „Isabella“ waren auf die Dauer ein Risiko für die Disziplin und Ordnung. Er, Hasard, würde einen anderen, besseren Weg finden, um sich für das zu bedanken, was Arkana und ihre Mädchen für ihn getan hatten. 2. Am zweiten Tag nach der Schlacht waren Luke Morgan, Matt Davies, Sam Roskill und einige andere leicht Verwundete bereits wieder auf den Beinen und begrenzt einsatzfähig. Ferris Tucker und seine Helfer hatten programmgemäß die Frachträume leer gepumpt und sämtliche
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Lecks abgedichtet, und jetzt nahmen die Arbeiten auf dem Oberdeck ihren Lauf. Am dritten Tag hatte die „Isabella“ wieder einen Bugspriet und einen neuen Fockmast, und am Abend stand auch der Besan. Will Thorne, Black und Jeff Bowie setzten eine neue Blinde, während Ferris und sein Trupp an den Rahen hobelten und feilten, die die im Gefecht verlorengegangenen Spieren ersetzen sollten. Der Profos, Big Old Shane, die O’Flynns und ein paar andere werkten eifrig am Schanzkleid der Backbordseite. Pete Ballie stand am Morgen des vierten Tages aus seiner Koje auf und meldete sich zum Dienst zurück. Bob Grey und Stenmark wollten ihm folgen, aber sie wurden von Hasard energisch ins Logis zurückgewiesen. Die Instandsetzung, der „Isabella“ lief auf Hochtouren. Gegen Mittag ließ der Seewolf eine der auf den Inselbergen postierten Kanonen an Bord holen. damit er die fehlende Culverine ersetzen konnte. Am Abend waren die neuen Rahen hochgehievt und an den Masten angeschlagen. Auch das Rigg war fast vollständig wiederhergestellt. Ferris Tucker arbeitete bis zum Dunkelwerden an dem neuen Ruderhaus und hätte auch im Schein von Öllampen und Talglichtern noch weitergewerkt, wenn Hasard ihn nicht auf Freiwache geschickt hätte. Am Morgen des fünften Tages wurden die letzten Arbeiten abgeschlossen — dann nahte die Stunde des Abschieds, und noch am Vormittag verließ die „Isabella VIII.“ mit dem Mahlstrom die Inselbucht. Sie glitt durch den Felsendom und über das Höllenriff, segelte sich frei und lief unter Vollzeug bei einem handigen Nordwestwind nach Südosten ab. Ein vielfacher Böller, von den Kanonen der Schlangeninsel als Salut abgegeben, war der letzte Gruß der Zurückbleibenden an die Seewölfe, die sich jetzt wieder anschickten. den Atlantik zu überqueren, neuen Zielen und Abenteuern entgegen. *
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Hasard nahm den 20. nördlichen Breitenkreis, der sie an Puerto Rico und den nördlichsten der Inseln über dem Winde vorbeiführte, als Orientierungsmarke und legte den Kurs bei anhaltendem Wind aus Nordwesten entsprechend fest. Zügig hatte die Reise über den Atlantischen Ozean, die etwa drei Wochen dauern würde, begonnen, und ebenso rasch ging es während der nächsten Tage weiter, so daß die „Isabella“ auf ein Etmal, also eine Tagesleistung, von mehr als hundertundfünfzig Seemeilen kam. Der Seewolf suchte oft auch tagsüber seine Kammer im Achterdeck auf, um sich in das Studium der Seekarten zu vertiefen, die sie auf den Maskarenen gefunden hatten. Manchmal holte er seine Söhne zu Hilfe, manchmal auch Dan O’Flynn, dann wieder Ben, Shane oder Old O’Flynn. Obwohl sie alle davon überzeugt waren, daß die Karten ein Geheimnis enthielten, gelangten sie immer noch keinen Schritt weiter. Die erste Karte enthielt seltsame, scheinbar wirre Muster und war mit Randbemerkungen versehen, die kein Mensch zu entziffern wußte. Da war einmal eine lange dünne Linie eingezeichnet, dann wieder schien eine Stadt dargestellt zu sein, die aber nicht am Wasser lag, als Hafenstadt. also ausschied. Eine Landkarte war es also, keine Seekarte, aber diese recht banale Feststellung hatten Hasard und seine Leute ja schon mehr als einmal getroffen. Die zweite Karte sagte ihnen ebenso wenig wie die erste. Sie war ein Pergament mit drei absonderlichen Bauwerken, die nebeneinander eingezeichnet waren: zwei große und ein kleineres Dreieck, die nach allem Dafürhalten aus großen Steinquadern erbaut waren. Neben diesen Skizzen waren Zahlen aufgeschrieben, die sich ohne weiteres lesen ließen, aber keinen Sinn zu ergeben schienen — Bauten von hundertsechsundvierzig und hundertsechsunddreißig .Yards Höhe gab es doch wirklich nicht. Oder? Existierten diese Konstruktionen vielleicht doch? Wenn ja, in welchem Teil der Erde befanden sie sich dann?
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Bei den Zeichnungen mochte es sich um Tempel oder ähnliche Kultstätten handeln. Die andere, auf der dritten Karte, zeigte eine langgestreckte Gestalt mit einem löwenähnlichen Kopf und einem mächtigen Hinterleib, die wie eine hingekauerte Riesenkreatur anmutete — und ganz in ihrer Nähe waren wieder die seltsamen Dreiecke. Immer wieder kehrte der Seewolf zu seiner ursprünglichen Annahme zurück, daß die Landkarte den Verlauf eines ziemlich breiten Stromes zeigte, von dem kleine Flüsse abzweigten, die wiederum durch einen künstlich gezogenen Kanal miteinander verbunden waren. Der alte Sidi Barim hatte den Zwillingen einmal von solchen alten Bauwerken berichtet, die einem Märchen zufolge bis in den Himmel wuchsen. Könige, die vor Tausenden von Jahren bestattet worden waren, sollten im Inneren begraben liegen. Philip und Hasard junior vermuteten, daß die „Spitzhäuser“ in Ägypten, in Persien oder anderswo standen. Aber durfte sich ihr Vater auf diese vagen Angaben, die vielleicht noch durch ihre Phantasie verzerrt wurden, verlassen? Er wußte, daß ihm die Karten noch viel Kopfzerbrechen bereiten würden. Aber er hatte sich jetzt, nachdem die Abenteuer um Tortuga und die Schlangeninsel überstanden waren, erneut in die Sache verbissen. Er würde nicht lockerlassen, bis er das Geheimnis entschleiert hatte, koste es, was es wolle. Vielleicht lagerten dort, in dem rätselhaften Land mit den uralten Bauwerken, unermeßliche Schätze. Vielleicht stießen sie, die Männer der „Isabella“, dort auf ungeahnte Phänomene, Neuigkeiten, die der Klärung und Verbreitung bedurften. Auch Dan O’Flynn war fest entschlossen, das Rätsel der Karten zu lösen. Hartnäckigkeit führte in vielen Dingen zum Ziel, vermutlich auch in diesem Fall. Der alte Entdeckergeist der Seewölfe war wieder geweckt. Die Wunden der Schlacht um die Caicos-Inseln begannen zu vernarben, das Gewesene gehörte bald der
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Vergangenheit an. England, das sie schon so lange nicht mehr gesehen hatten, lockte, aber noch stärker war der Drang, nach den eigentümlichen Bauten und der kauernden Wesenheit zu forschen. Vorderasien, dachte der Seewolf, während er nach neuerlichem Abwägen und Schätzen vom Pult aufstand und auf die Heckgalerie der „Isabella“ hinaustrat, der Orient, möglich, daß dort der Schlüssel zu allem liegt. Er sah auf das leicht schäumende, auseinanderfächernde Kielwasser hinunter. Wahrscheinlich werden wir einen Abstecher ins Mittelmeer unternehmen, überlegte er, vorausgesetzt, es gerät nichts dazwischen. * Bob Grey und Stenmark waren jetzt’ auch wieder zum Dienst angetreten. Hasard hatte sie nicht ins Logis zurückgeschickt, da der Kutscher ihm erklärt hatte, die beiden könnten durchaus mit leichteren Arbeiten betraut werden. Demgemäß hatte der Seewolf Bob und den Schweden zum Spleißen von Tauen einteilen lassen, einer Aufgabe, die sie im Sitzen auf der Back versehen konnten. Viel frische Luft, reichhaltiges Essen, der gewohnte Umgang mit den Kameraden und das Fluchen des Profos’ trugen eher zur Genesung bei als das allzu lange Liegen in der Koje oder Hängematte. Smoky betrat an diesem Nachmittag zum erstenmal wieder die Kuhl und schaute sich blinzelnd nach allen Seiten um. Die Sonne stach ihm in die Augen, und sie rief sofort wieder das schmerzhafte Zerren und Zucken in seiner Kopfhaut hervor, das ihn während der vergangenen Tage ununterbrochen geplagt hatte — bis zum Mittag dieses Tages. „Au, verdammt!“ brummte der Decksälteste und faßte sich mit der Hand an den Kopf. „Ist wohl doch noch zu früh. Hölle, aber einen Versuch ist es wert. Soll ich denn unten im Logis vergammeln? Nein, das will ich nicht.“ Etwas unsicher bewegte er sich voran.
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Stenmark und Bob Grey hoben die Köpfe und beobachteten ihn über die Balustrade der Back hinweg. „Hör mal“, sagte Bob. „Er führt Selbstgespräche.“ Der Schwede grinste. „Mann, Mann, ich hab den Verdacht, daß in seinem Gehirnkasten ein paar Bolzen locker sind. Wie das wohl weitergeht?“ „Sprich ein wenig lauter, dann steigt er zu uns ‘rauf und weicht uns selbst die Birnen ein.“ Stenmark senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Bloß nicht. Aber sieh mal, wie er schwankt, der gute alte Smoky.“ „Er läuft gleich aus dem Ruder“, sagte Bob respektlos. Smoky manövrierte zum Steuerbordschanzkleid der Kuhl und hielt sich mit einer Hand an den Leehauptwanten fest. Er holte tief Luft. Das Atemschöpfen ließ das unangenehme Flirren vor seinen Augen aussetzen, das eben begonnen hatte, und auch die dumpfen Kopfschmerzen ebbten etwas ab. Na bitte, dachte er, nur weiter so. Wird schon klappen. Blacky, Matt Davies, Batuti, Sam Roskill und die anderen Männer, die gerade Wache auf dem Hauptdeck hatten, sahen verstohlen zu ihm hinüber. Smoky bemerkte es aber doch. Die denken, du bist nicht mehr ganz echt, sagte er sich. Na wartet, ihr Halunken, ihr werdet euch noch wundern. Auch Carberry hatte jetzt den Decksältesten entdeckt. Er fuhr herum, marschierte quer über den achteren Teil der Kuhl und steuerte auf Smoky zu. „Was?“ rief er. „Wie? Was willst du denn hier? Wer hat dir die Erlaubnis gegeben, hier aufzukreuzen?“ Smoky verdrehte die Augen ein wenig. „Der liebe Gott“, erwiderte er mit seltsam veränderter Stimme. „Und Knecht Ruprecht.“ Der Profos blieb stehen und stemmte beide Fäuste in die Seiten. Somit nahm er seine typisch drohen de Haltung ein, was bei ihm stets gleichbedeutend war mit aufziehendem Sturm.
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„Wer?“ fragte er barsch. „Rede mal deutlicher, du Barsch, es kommt hier so dünn an. Wenn man gegen den Wind spricht, muß man sich anstrengen. Also los, noch mal!“ „Wind?“ wiederholte Smoky scheinbar überrascht. „Wo weht hier der Wind? Kein Lüftchen regt ich, und der Kirchturm steht ganz still.“ Er wies zum Großmast hoch. „Wenn’s windet, wackeln die Glocken, aber die Glocken bummeln nicht.“ Matt, der jedes Wort verstanden hatte, kratzte sich am Kinn. „Bummeln? Bammeln muß es doch heißen, oder?“ „Bimmeln“, verbesserte Sam Roskill. „Das ist doch wohl klar. Mensch, Matt, mach bloß keinen Ärger.“ Blacky wandte sich zu ihnen um. „Heda!“ sagte er. „Sind bei euch die Schotten auch nicht mehr dicht?“ Matt grinste. Sam verzog ärgerlich das Gesicht, er fühlte sich auf den Arm genommen. Carberry schien immer noch nicht richtig begriffen zu haben. Er trat noch einen Schritt näher an Smoky heran. „Mal aufpassen, Mister Smoky!“ brüllte er, um sicher zu sein, daß der große Mann ihn auch wirklich verstand. „Was redest du da von Türmen und Glocken? Was ist das für eine Art, einfach aus dem Logis zu kriechen und blödes Zeug zu faseln? Weißt du, daß ich das melden muß? Hasard. hat ausdrücklich verboten, daß du ...“ Smoky hob lächelnd die freie Hand. „Ruhig, Gevatter, nicht verzagen. Fürchtet euch nicht, es naht der Tag, an dem die himmlischen Seescharen euch von euren Qualen erlösen.“ „Seescharen?“ Dem Profos sackte der Unterkiefer nach unten. „Ist das dein Ernst? He, Smoky, Mann, weißt du, wer ich bin?“ „Der Wassermann in Person“, zischelte Matt Davies, der genau wie die anderen gespannt die weitere Entwicklung der Situation verfolgte. „Holla!“ rief Smoky so plötzlich, daß der mächtige Narbenmann fast zusammenzuckte. Smoky deutete auf die
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Großrah. „Was ist denn das? Ein dicker Ast?“ Carberry schritt zögernd weiter, ließ nun aber die Arme baumeln. „Erkennst du mich nicht, Smoky?“ fragte er entsetzt. „Siehst du mich überhaupt?“ Smoky hielt seinen Blick immer noch nach oben gerichtet. „Bunte Wimpel flattern in den Baumästen“, erklärte er. „Die Vögel zwitschern in der Frühlingssonne.“ „Es ist Herbst“, sagte der Profos verdattert. „Denk doch mal scharf nach. Tu mir den Gefallen, ja? Im August sind wir von der Schlangeninsel weg, aber jetzt wird’s September.“ „O Gott! Heiliger Klabautermann!“ sagte Blacky. „Das halt ich nicht mehr aus.“ „Wir holen am besten ein paar Taue“, schlug Stenmark von der Back aus vor. „Es wird Zeit, daß wir ihn festbinden, sonst springt er über Bord oder haut alles kurz und klein.“ „Wer?“ fragte der Kutscher, der eben aus der Kombüse getreten war und den Niedergang zur Back hochstieg. „Der Profos?“ „Die Lage wird unübersichtlich“, sagte Bob Grey grinsend. „Aber ich schätze, es gibt gleich eine böse Überraschung.“ „September, November, Dezember“, sagte Smoky zum Profos. „Die Tage werden immer länger.“ „Falsch!“ stieß der Narbenmann bestürzt aus. „Ganz falsch! Sie werden kürzer! Smoky, alter Junge, sieh mir mal ins Gesicht. Ich bin’s, dein lieber alter Profos Edwin Carberry, erinnerst du dich nicht? Mann, sag doch nicht dauernd so was Verrücktes. Das macht mich ganz krank. Hier, faß mal an, ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Dein Profos! Soll ich dir in den Arm kneifen? Wird es davon vielleicht besser?“ Er streckte den Arm aus und legte Smoky die Hand auf die Schulter. Plötzlich blickte der Decksälteste ihn offen an. „Sag mal, ist bei dir was ausgehakt, Ed? Was sind denn das für dämliche Annäherungsversuche? Und was quatschst du da eigentlich zusammen? Meinst du, ich weiß nicht, daß du der Profos bist? Wer
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würde ein Walroß wie dich wohl jemals vergessen? O Hölle, laß mich bloß los!“ Carberry wich einen Schritt zurück. „Wie? Du bist also doch nicht verrückt geworden? Du bist normal?“ „Nie normaler gewesen“, sagte Smoky grob, obwohl er sein Lachen kaum zurückhalten konnte. Das totale Begreifen nahm in Carberrys verwüstetem Gesicht Gestalt an. Er lief dunkelrot an und brüllte: „Reingelegt hast du mich! Na warte, das wirst du noch bereuen! Du karierte Bilgenlaus, dir zieh ich die Haut in Streifen von deinem verdammten..... Weiter gelangte er nicht. Eine wohlbekannte Stimme unterbrach ihn. „Mister Carberry! Was sind denn das für Töne? Mußt du ausgerechnet Smoky anschreien?“ Der Profos fuhr zum Achterdeck herum. Die Männer auf dem Hauptdeck und auf der Back blickten in dieselbe Richtung. Hinter der Schmuckbalustrade stand hoch aufgerichtet der Seewolf und sah ärgerlich zu Carberry. Er war fast unbemerkt aus dem Achterkastell erschienen und hatte das Achterdeck geentert, nur Ben Brighton und Big Old Shane, die amüsiert die Münder verzogen, hatten ihn gesehen. Shane hatte für die Zeit, in der Pete Ballie Freiwache hatte, das Ruder übernommen. Ben stand neben ihm im Ruderhaus. „Sir“, sagte Carberry. „Dafür hab ich meine Gründe.“ „Das Meer hat auch seine Gründe“, erklärte Smoky hinter seinem Rücken. „Aber trotzdem ist es ruhig, ganz ruhig und gelassen.“ Der Profos ballte die Hände zu Fäusten. „Warte mal ab, du Seegurke, wenn du nachher aufläufst, hast du Grund genug, wirres Zeug zu faseln. Dann ...“ „Mister Carberry!“ sagte der Seewolf scharf. „Ich verlange eine Erklärung!“ Smoky trat vor. „Die Erklärung kann ich dir geben, Sir. Alle denken, ich sei nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber das stimmt nicht. Ich habe den Burschen einen
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kleinen Streich gespielt, um die Sache klarzustellen.“ „Mit anderen Worten, du bist wieder gesund, Smoky?“ „Voll auf dem Damm, Sir.“ „Gut. Also?“ „Hiermit melde ich mich zurück zum Dienst, Sir.“ „Angenommen“, sagte Hasard. „Aber vorerst keine Strapazen, Smoky. Du gehst auf die Back und überwachst dort die Arbeiten, bis du anderslautende Anweisungen erhältst.“ „Aye, aye, Sir!“ „Das ist alles“, sagte Hasard. Smoky drehte sich um und schritt zum Backbordniedergang des Vorkastells. Er lächelte grimmig. „Wir sprechen uns noch“, sagte Carberry hinter seinem Rücken. Smoky ging an den Männern vorbei, die vorsichtshalber ein bißchen vor ihm zurückwichen, enterte die Back und blickte zu Stenmark und Bob Grey, die außerordentlich konzentriert in das Spleißen der Taue vertieft waren. „Sehr gut“, sagte Smoky. „Weiter so. Mit den Tauen binden wir nachher ein paar Kerle zusammen, die hier das Maul zu weit aufreißen. Solche Burschen hätten es verdient, dass man sie in ein Faß voll lebendiger Aale steckt, aber leider können wir mit Aalen nicht dienen. Wißt ihr, was das heißt? Stenmark, weißt du es?“ „Nein.“ „Das heißt, daß ihr mächtiges Glück habt“, brummte Smoky. „Aber es gibt auf diesem Kahn immer noch eine Vorpiek, vergeßt das nicht, ihr Kakerlaken.“ 3. In der zweiten Woche der Atlantiküberquerung sprang der Wind plötzlich um und blies aus Nordosten. Bald wurde er stürmisch, und die „Isabella“ mußte sich gegen die höher und höher steigenden Wogen stemmen. Aber es wurde nur ein mittelschwerer Sturm, und er dauerte nur eine Nacht. Am darauffolgenden Tag glätteten sich die
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Wellen wieder. Mühelos hatten die Männer das Wetter abzureiten verstanden. Der Wind fiel jedoch nach wie vor aus nordöstlicher Richtung ein, so daß der Seewolf gezwungen war, seinen Kurs geringfügig zu ändern. Die „Isabella“ fiel etwas vom Wind ab und richtete ihren Bugspriet nach Südosten. Sie segelte über den 20. Breitengrad hinaus und drang in das Kapverdische Becken ein, eine der tiefsten Wasserregionen des Atlantiks. Später, bei günstigeren Windverhältnissen, wollte Hasard nach Norden vorstoßen und - in etwa dem Verlauf der afrikanischen Westküste folgend - die Kanarischen Inseln, Madeira und die Straße von Gibraltar ansteuern. Auf dem Kurs lagen jetzt als erste Vorboten Afrikas die Kapverdischen Inseln. Ursprünglich hatte Hasard vorgehabt, sie im Norden zu passieren. Jetzt hätte er den Archipel im Süden umrunden können, doch ein Problem tauchte auf, das ihn zu einer neuen Entscheidung zwang. Der gesegnete Appetit seiner Männer hatte dazu geführt, daß die Vorräte an Bord schneller zur Neige gingen, als man auf der Schlangeninsel hatte voraussehen können. „Wir haben nur noch Fleisch für drei Tage“, meldete der Kutscher zu Beginn der dritten Woche besorgt seinem Kapitän. „Mit den Speckseiten sieht es noch schlechter aus.“ „Und mit Schinken und Dauerwurst?“ „Die sind bereits alle. Außerdem brauchen wir Brot und Frischgemüse, Mehl, Salz und Zucker. Ich glaube, wir müssen ein paar Fastentage einlegen, bis wir die Küste von Afrika erreichen.“ „Unsinn“, sagte der Seewolf. „Du legst mir eine detaillierte Liste vor für alles, was wir brauchen, und dann laufen wir die Kapverden an. Wie sieht es mit Trinkwasser aus?“ „Haben wir zum Glück noch zur Genüge“, erwiderte der Kutscher. „Aber Nachschub könnte auch da nicht schaden, wenn wir schon auf Proviantsuche gehen. Nur - nun, die Kapverdischen Inseln werden doch von den Portugiesen beherrscht, nicht wahr?“
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„Genau. Die lieben Dons sitzen dort schon seit über einem Jahrhundert.“ „Dann könnte es also sein, daß wir uns gehörig in die Nesseln setzen. Meinst du nicht auch, daß es ein Risiko für uns ist, den Leuten einfach dreist vor der Nase herumzusegeln?“ „Natürlich ist es das“, erwiderte der Seewolf. „Aber ich habe nicht vor, mich auf ein Gefecht einzulassen, das wäre die Sache nämlich nicht wert. Wir setzen eine andere Flagge und geben uns als spanische Kauffahrer aus.“ Der Kutscher lächelte. „Dann solltest du dir einen zünftigen Namen einfallen lassen, mit dem du dich vorstellen kannst.“ „Wie wäre es mit - Carlos Guido Y Spano?“ Überrascht hob der Kutscher die Augenbrauen. „Donnerwetter, das kommt ja wie aus der Pistole geschossen! Capitan Don Carlos Guido Y Spano - ja, das klingt gut, das ist sehr lautmalerisch und schindet bei den Dons garantiert Eindruck.“ „Wir kaufen ihnen ab, was wir brauchen, und ehe sie den Schwindel bemerken, sind wir wieder verschwunden“, erklärte Hasard. „Sag unseren Blondköpfen Bescheid -Stenmark und den anderen -, daß sie rechtzeitig genug unter Deck verschwinden, wenn die Inseln in Sicht sind. Wenn die Portugiesen zuviel helles Haar an Deck sehen, schöpfen sie Verdacht, es könne was nicht stimmen.“ „Ja“, sagte der Kutscher. „Wir verfahren wie gehabt.“ „Richtig - wie gehabt.“ Hasard stand von seinem Pult auf und verließ mit seinem Koch und Feldscher die Kapitänskammer. Er trat auf das Hauptdeck und wandte sich dem Achterdeck zu, um mit Ben, Shane, Old O’Flynn, Dan und Ferris die Einzelheiten des Vorhabens durchzusprechen. Es war nicht das erstemal, daß sie die „Isabella“ in ein „spanisches Schiff“ verwandelten und vorgaben, Seiner Allerkatholischsten Majestät, König Philipp II., zu unterstehen. In dieser Hinsicht hatten sie also schon Übung, und
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Hasard hegte eine gewisse Zuversicht, daß alles wie geplant ablaufen würde. Er ahnte nicht, daß er sich täuschte. * Der Morgen, an dem Bill vom Großmars aus das Erscheinen der Kapverdischen Inseln an der östlichen Kimm meldete, war sonnendurchglänzt. Sie befanden sich jetzt direkt im Einzugsgebiet des Nordostpassats, aber der Wind hatte nachgelassen und wehte nur noch sanft, gerade stark genug, um der Galeone ausreichenden Schub zu verleihen. Eine schwache Dünung kräuselte die See. Einzelne Federwolken an dem sonst klaren blauen Himmel verkündeten, daß das Wetter beständig bleiben würde. Die „Isabella“ lief den Archipel nach dem ältesten System der Navigation an: Zunächst ließ Hasard anluven und folgte dem Verlauf des 17. Breitengrades, den er mit dem Astrolab und Jakobsstab leicht zu ermitteln vermochte. Als dann die gewünschte geographische Länge erreicht war, ließ er abfallen und steuerte das Schiff mit raumem Wind nach Süden. So hielten sie auf die am weitesten westlich liegende Insel zu. Hasard beobachtete vom Achterdeck aus durch sein Spektiv das Hochwachsen der Bergkuppen über der Kimm, dann wandte er sich an seine Söhne, die er durch den Profos zu sich hatte schicken lassen, um ihnen einige Erklärungen zu geben. „Die Insel heißt Santo Antao“, begann er. „Mit Santiago zusammen, die sehr viel weiter im Süden liegt, ist sie die größte der ganzen Gruppe.“ „Wie viele Inseln sind es denn insgesamt?“ fragte Philip junior. „An und für sich sind es zehn, nicht gerechnet eine Handvoll unbewohnter Vogelfelsen. Entdeckt wurde der Archipel, der seinen Namen nach Afrikas grüner Westspitze erhalten hat, 1459 durch die Portugiesen Diogo Gomes und Antonio da Noli.“
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„Halt. Dad“, sagte Hasard junior. „Wir schreiben jetzt das Jahr 1591, also vor genau hundertzweiunddreißig Jahren.“ „Richtig. Damals gründeten die Dons ihre erste überseeische Kolonie, und auf Santo Antao richteten sie den größten Hafen und die Hauptstadt ein: Ribeira Grande.“ Philip sah seinen Vater verwundert an. „Und ausgerechnet dorthin segeln wir, direkt in die Höhle des Löwen? Ich finde, wir könnten doch auch eine der kleineren Inseln anlaufen und uns dort zusammenschießen und suchen, was wir an Proviant und Wasser brauchen.“ „Eben nicht.“ „Aber wenn die Inseln so schön grün und fruchtbar sind, müßte es doch Tiere und Früchte in ausreichender Zahl geben!“ warf Hasard junior ein. Sein Vater schüttelte den Kopf. „Ein großer Irrtum. Es gibt kaum eine natürliche Vegetation auf den Inseln, denn aus den Wolken des Nordostpassats regnet es fast nie. Mit anderen Worten, dieses Land ist so karg, daß kaum ein Grashalm wächst, und die Portugiesen haben sich geirrt, als sie den Archipel nach dem ,Cabo Verde’ tauften.“ Old O’Flynn war zu ihnen getreten und sagte mit düsterer Miene: „Über den Inseln liegt der Fluch der Dürre. Die Menschen verhungern, wenn sie nicht in die Häfen ziehen, denn nur dort gibt es ausreichend zu beißen.“ Der Seewolf warf seinen Söhnen einen Seitenblick zu. „Versteht ihr jetzt, warum ich mich nach Ribeira Grande wende? Es hat keinen Zweck, Zeit mit dem Abforschen der Inseln zu vergeuden, denn wir würden dabei doch keinen Erfolg haben. Wenn wir es geschickt genug anstellen, kriegen wir in der Hauptstadt alles, was wir brauchen, und handeln vielleicht sogar noch die Preise herunter.“ Hinter ihnen lachte jemand. Es war Ben Brighton. Sie drehten sich zu ihm um. „Sir, du willst dort nicht mehr Zeit verbringen, als unbedingt erforderlich ist, oder?“ „Nein. Ich wüßte nicht, was uns dort noch halten sollte, wenn wir Eßwaren und
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Wasser erst an Bord haben. Glaubst du denn, daß die öde Insel sehr gastlich ist?“ „Nein, das nicht. Aber vielleicht haben die Männer Lust, einen Abstecher in die Spelunken von Ribeira Grande zu unternehmen.“ Hasards Augen verengten sich ein wenig. „Diesmal nicht, Mister Brighton. Nicht in einer Stadt der Portugiesen, wo hundert Fallen auf uns lauern könnten.“ Ben grinste. „Aus diesem Grund solltest du vielleicht auch das Feilschen unterlassen, damit wir so schnell wie möglich wieder auslaufen können.“ „Ein mit allen Wassern gewaschener Kauffahrer wie Don Carlos Guido Y Spano handelt immer“, sagte der Seewolf lächelnd. „Er würde nur auffallen, wenn er’s nicht täte.“ * Wie mürrische Riesen wuchsen die Inselberge hinter der Bucht empor, an deren Ufer Ribeira Grande erbaut worden war. Die „Isabella“ hatte die Landzunge gerundet, die sich als natürlicher Wellenbrecher von Osten her vor die Bucht schob. Jetzt steuerte sie, nur noch mit Großsegel, Fock und Blinde segelnd, genau auf die Hafenfeste, die weißgetünchten Häuser, die Kaimauer und die Piers zu. Der Seewolf hatte rechtzeitig den White Ensign mit dem roten Georgskreuz niederholen lassen. An seiner Stelle flatterte jetzt die Flagge der spanischen Galeonen im Besantopp. Sie war in den Farben Rot, Weiß und Gelb gestreift und zeigte in ihrem Zentrum einen gekrönten schwarzen Adler und das Band des Ordens vom Goldenen Vlies. Stenmark, Pete Ballie, Gary Andrews und, alle anderen blonden Männer waren vorsorglich im Vordeck verschwunden, ebenso Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, dessen Anwesenheit an Bord eines spanischen Schiffes bei den Portugiesen sicherlich Verblüffung hervorrufen würde.
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Alle anderen blieben an Oberdeck — auch Arwenack und Sir John, die beiden Bordmaskottchen. Carberry hatte den strikten Befehl erhalten, nicht mehr herumzubrüllen, auch nicht auf spanisch, denn seine Fremdsprachenkenntnisse ließen immer noch zu wünschen übrig. Schweigend hantierte die Crew an den Brassen und Schoten und wartete auf die Order zum Beidrehen und Ankerwerfen. Mit Hasard standen Ben Brighton, Shane, Ferris Tucker und die beiden O’Flynns auf dem Achterdeck, Dan hatte das Ruder übernommen. Sie alle sprachen fehlerloses und akzentfreies Spanisch und konnten den Abgeordneten des Hafenkommandanten mit Gelassenheit entgegentreten, falls diese zu einer Inspektion auf der „Isabella“ erschienen. Die Zwillinge hatten das Achterdeck geräumt und leisteten dem Kutscher in der Kombüse Gesellschaft. Mißtrauisch spähte der alte O’Flynn zu den Hafenanlagen. „Das ist merkwürdig“, sagte er. „Keine Galeone auf der Reede, nicht mal eine Karavelle, und an den Piers nur ein paar schäbige Pinassen und Schaluppen. Das soll alles sein, was die Dons an Schiffen zu bieten haben? Das will mir nicht in den Kopf.“ „Die Kapverden sind ein Umschlagplatz für den Sklavenhandel, Donegal“, sagte der Seewolf. „Das weißt du genauso gut wie ich. Es ist durchaus möglich, daß ein größerer Konvoi nach Westafrika, unterwegs ist, um schwarze Fracht für die Neue Welt abzuholen.“ Der Alte gab einen unwilligen Laut von sich. „Schon, schon, aber kein vernünftiger Mensch würde eine Stadt wie diese völlig schutzlos zurücklassen. Was passiert, wenn jemand Ribeira Grande von See her angreift — jemand wie wir?“ Hasard mußte unwillkürlich lachen und wies zur Festung. „Dann sind immer noch die Kanonen des Kastells da. Siehst du sie nicht, Donegal? Man kann sie mit bloßem Auge erkennen.“ „Natürlich seh ich sie“, brummte Old O’Flynn. „Aber da stimmt trotzdem was
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nicht, sage ich. Es riecht nach Verdruß. Vorsicht, Leute. Vielleicht haben die Dons unsere alte Lady trotz der Maskerade erkannt.“ „Fängst du schon wieder mit deiner Schwarzmalerei an?“ fragte Big Old Shane aufgebracht. „Hölle, auf den Kapverden sind wir doch noch nie gewesen, die Leute können also gar keine Ahnung haben, wer wir in Wirklichkeit sind.“ „Möglich, daß es sich rumgesprochen hat, wie die ,Isabella` aussieht“, meinte der Alte. Ben Brighton sagte: „Auf keinen Fall bis hierher, Donegal. Diese Inseln liegen weitab von den meistbefahrenen Routen, und bis nach Afrika sind’s noch gut vierhundert Meilen. Nein, bis hierher ist uns unser Ruf noch nicht vorausgeeilt, und bekannt wie ein bunter Hund ist die ‚Isabella’ nun auch wieder nicht.“ „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, murmelte Old O’Flynn. „Da braut sich was zusammen. Ich will mein Holzbein verbrennen, wenn da wirklich alles seine Ordnung hat. Warum taucht jetzt zum Beispiel keine Menschenseele am Kai auf? Eigentlich müßte es schon von Neugierigen wimmeln, die unseren Kahn begaffen wollen. Und wieso segelt nicht mal eine müde Schaluppe zu uns rüber? Die Dons lassen doch bestimmt niemanden unkontrolliert herein, und wenn’s ihr Generalkapitän höchstpersönlich ist.“ Shane, der sich bei Gelegenheiten wie dieser gern mit dem Alten anlegte, wollte schon wieder aufbrausen, aber der Seewolf hob jetzt mahnend die recht? Hand und sagte: „Mal Ruhe, Leute.“ Ben Brighton blickte sich zu den anderen um. „Und wenn noch jemand spricht, dann bitte nur auf spanisch. Wir sind schon zu nah am Hafen, jedes englische Wort könnte zumindest dem Klang nach gehört werden.“ „Ich glaube, so unrecht hat Donegal diesmal nicht“, sagte Hasard leise. „Die Stadt liegt wie verlassen da, kein Mensch zeigt sich. Alles ist wie ausgestorben. Was hat das zu bedeuten?“
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Sie hoben ihre Spektive, um die Hafenanlagen und die Gebäude genauer in Augenschein zu nehmen. Aber wohin sie auch blickten - niemand war zu entdecken, keine menschliche Stimme war zu vernehmen, nicht einmal das Kläffen eines Hundes oder das Wiehern eines Pferdes. „Alles tot“, sagte Ferris Tucker. „Hol’s der Henker, so was hab ich noch nicht erlebt.“ „Noch nicht?“ brummte Old O’Flynn. „Dann denk mal scharf nach. Das hier ist ein richtiger Geisterhafen, Leute. Und wißt ihr auch, warum?“ Sie ließen die Rohre sinken und sahen ihn verdutzt an. „Hier hat eine Seuche gewütet und alles Leben dahingerafft“, sagte der Alte dumpf. „Die Pest.“ 4. „Hölle und Teufel“, sagte Ferris Tucker erschüttert. „Da schlag doch einer lang hin. Ist das dein voller Ernst, Donegal?“ „Glaubst du, mir ist zum Spaßen zumute?“ „Wenn’s nicht die Pest war, dann vielleicht die Cholera. Oder das Gelbfieber. Oder die Ruhr“, sagte Ben Brighton. „Ja, hier muß sich ein entsetzliches Drama abgespielt haben.“ „Am besten drehen wir gleich wieder ab und segeln weiter“, sagte Big Old Shane. „Wenn das so ist, dann laufen wir nämlich Gefahr, uns selbst noch anzustecken. Beim Donner, mir wird ganz anders, wenn ich bloß daran denke.“ Sie schwiegen und dachten mit Grauen daran, wie sie vor der Küste des Reichs der Mitte dem Schwarzen Tod begegnet waren. Sie alle hatten sich geschworen, nie wieder etwas Derartiges zu unternehmen, lieber wollten sie tausend Schlachten und ebenso viele Entbehrungen auf sich nehmen. Gegen die Seuchen gab es kein Mittel, der Mensch war ihnen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert. Nur das Knarren der Rahen und Blöcke und das leise Rauschen des Wassers an den Bordwänden waren zu vernehmen, sonst herrschte Totenstille. Die scheinbare Anmut des strahlenden Vormittags hatte
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sich in eine Atmosphäre der bösen Ahnungen verwandelt. Von der Stadt ging die Aura des Schreckens aus, der Gifthauch des Todes schien mit einemmal spürbar zu sein. „Auf was warten wir noch?“ fragte Ben Brighton. „Augenblick mal“, sagte der Seewolf. „Wir sollten uns zumindest vergewissern, ob es Überlebende gibt —in den Häusern oder auf der Festung beispielsweise. Männer, das ist unsere Pflicht. Wenn jemand unsere Hilfe braucht, dann müssen wir sie ihm bieten.“ Ben räusperte sich, eine Spur von Verlegenheit trat in seine Züge. „Im Prinzip ist das richtig, aber wir müssen auch an unsere Crew denken. Nur einer von uns braucht an Land zu gehen, und schon wird er mit dem Pestfieber infiziert. Er überträgt es auf alle anderen. Ich denke, daß sich in gewissen Situationen jeder selbst der Nächste ist.“ Hasard blickte ihn ernst an. „Das weiß ich, Ben, und ich bin um die Mannschaft genauso besorgt wie du. Nur — wir wissen noch nicht, ob hier tatsächlich eine schwere Krankheit geherrscht hat. Sollten wir uns nicht wenigstens davon überzeugen?“ „Vielleicht ist es besser, den Kutscher zu Rate zu ziehen“, meinte Ben, aber es war ihm bewußt, daß er nur eine ausweichende Antwort gab. Bill, der nach wie vor seinen Dienst als Ausguck im Großmars versah, stieß plötzlich einen scharfen, zischenden Laut aus. Hasard und alle anderen blickten zu ihm auf. ..Dort. Sir!“ rief Bill auf spanisch. „Senor — zwischen den Häusern! Es hat sich was bewegt!“ Sofort spähten sie in die von ihrem Moses angegebene Richtung, hoben wieder die Kieker ans Auge und versuchten, ebenfalls das Anzeichen von Leben zu entdecken, das Bill offensichtlich gesehen hatte. „Nichts“, sagte Ben Brighton. „Da ist absolut nichts.“
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Carberry stand an der Nagelbank des Großmastes und richtete seinen Blick nach oben. „Bill, du verdammter ...“ Blacky war plötzlich neben ihm und zischte: „Achtung, Ed! Nicht mehr englisch sprechen, nur noch spanisch.“ „Maldicho!“ grollte der Profos, aber dann sagte er lieber nichts mehr, denn er wußte ja selbst, daß sein Spanisch grauenvoll klang. Er dachte nur: Bursche, wenn du dich verguckt hast, dann kannst du was erleben. Diesmal kommst du mir nicht mit heiler Haut davon. „Senor“, sagte Bill, der sich jetzt weit über die Segeltuchumrandung des Großmars beugte. „Ich bin ganz sicher, da war ein Mensch. Ob Mann oder Frau, habe ich nicht erkennen können, aber da ist jemand durch eine Gasse gelaufen.“ „Danke!“ rief Hasard zu ihm hinauf. „Kannst du mir beschreiben, welche Gasse es war?“ „Ja.“ Bill gab sich Mühe, diesen Hinweis so präzise wie möglich zu geben. Der Seewolf ließ ihn durch ein Handzeichen wissen, daß er verstanden hatte, dann wandte er sich seinen Männern auf dem Achterdeck zu. „Ich gehe an Land“, sagte er. „Allein. Ben, du läßt sofort das eine Beiboot abfieren.“ „Ich begleite dich!“ „Ich auch“, sagte Ferris Tucker. Shane und die beiden O’Flynns wollten sich ihm anschließen, aber Hasard stoppte jede weitere Wortmeldung durch eine neuerliche Geste. „Nein. Ich weiß, daß eure Bereitschaft ehrlich gemeint ist, aber ich kann sie nicht annehmen.“ „Sir“. sagte Dan O’Flynn eindringlich. „Denk daran, was geschieht, wenn das alles eine Falle ist. Dann läufst du den Portugiesen geradewegs in die Hände. Sie können dich als Geisel nehmen und uns alle zwingen, uns kampflos zu ergeben.“ „Es ist keine Falle“, sagte Hasard. „Ben, führe jetzt meinen Befehl aus. Dan, wir drehen bei und gehen in sicherem Abstand zum Hafen vor Anker.“ Er verließ das Achterdeck über den Backbordniedergang, der auf die Kuhl
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hinunterführte, trat zu Carberry und Blacky und sagte: „Beidrehen, Segel aufgeien und den Anker werfen. Wir gehen Klarschiff zum Gefecht.“ „Aye, aye, Sir!“ stieß der Profos einigermaßen überrascht aus, dann korrigierte er sich: „Si, Senor Capitan.“ Der Seewolf schritt zum Kombüsenschott, öffnete es und wandte sich an den Kutscher, der neben den Zwillingen stand und wie sie fragend zu ihm aufblickte. „Kutscher, ich möchte wissen, ob du die Kapitänskammer als Quarantänestation einrichten könntest.“ „Das wäre praktisch durchaus möglich, Sir, aber ...“ „Kein Aber. Du triffst alle erforderlichen Vorbereitungen, vorsichtshalber. Anschließend bleibst du an Deck und läßt es räumen, wenn ich zurückkehre und euch mein Zeichen gebe, daß in Ribeira Grande wirklich eine Seuche umgeht.“ „Aye, Sir !“ Hasard kehrte auf die Kuhl zurück und sah zu Smoky und Al Conroy hoch, die auf der Back standen und verdutzt zu ihm herabschauten. „Bewegt euch“, sagte er. „Ladet die vorderen Drehbassen. Paßt auf, gleich beginnt das Ankermanöver.“ Er ging zu den Beibooten. Blacky, Matt Davies, Sam Roskill und Luke Morgan hatten damit begonnen, die Zurrings der einen Jolle zu lösen. Ferris Tucker verließ das Achterkastell. Er hatte Hasards Radschloß-Drehling und ein paar Flaschenbomben geholt, blieb dicht vor seinem Kapitän stehen und setzte ein schiefes Grinsen auf. „Äh, ich schätze, wenn du schon unbedingt allein an Land willst, solltest du lieber ausreichend Waffen und Munition mitnehmen.“ Hasard nickte ihm zu. „In Ordnung. Verstau alles unter den Duchten der Jolle.“ Er zog seine doppelläufige Pistole und prüfte, ob sie nach wie vor einwandfrei geladen war. *
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Die Jolle glitt durchs Hafenbecken. Hasard pullte mit ruhigem, nicht zu kräftigem Schlag und kontrollierte durch Blicke über seine Schulter immer wieder, ob er die Richtung einhielt. Er wollte mitten zwischen die Piers steuern, an denen die Pinassen und Schaluppen vertäut lagen. Die Ruderpinne hatte er festgelascht, damit sie nicht hin und her schlug. Das Boot allein voranzubewegen war eine verhältnismäßig mühsame Angelegenheit, da es für mindestens sechs Rudergasten eingerichtet war. Als Fluchtmittel war es schlecht geeignet. Hasard hoffte, es nicht für diesen Zweck benutzen zu müssen. Über das Heck der Jolle sah er die „Isabella“ im ruhigen Wasser der Bucht liegen. Sie richtete ihr Vorschiff nach Osten und schwojte leicht an ihrer Ankertrosse. Die Männer hatten sich am Schanzkleid der Steuerbordseite versammelt und sandten ihrem Kapitän besorgte Blicke nach. Ben Brighton tat es nicht ohne Gewissensbisse. Er bereute in diesem Augenblick schon, einen raschen Rückzug angetreten zu haben. Hätte er nicht seine Furcht vor der Ansteckung zum Ausdruck gebracht, hätte der Seewolf ihn vielleicht doch mitgenommen; Er biß sich auf die Unterlippe. Verdammt, dachte er, du weißt doch, wie er es mit der Hilfeleistung und Gründlichkeit hält. Niemals wäre er unverrichteter Dinge wieder abgesegelt. Der Seewolf selbst sah die Lage anders. Er hätte keinen seiner Männer mit an Land genommen, so oder so nicht. Er konnte sich vorstellen, daß sich Ben, Shane, Ferris, die O’Flynns und auch die anderen mit Vorwürfen herumplagten, aber er wußte auch. daß es keinen Zweck gehabt hätte, sie von der Grundlosigkeit solcher Selbstbezichtigungen überzeugen zu wollen. Die Jolle war jetzt zwischen den Piers. Hasard suchte sich einen freien Platz, bugsierte sein Boot dorthin, holte die Riemen ein und kletterte über die Duchten nach vorn, um die Festmacherleine um einen der hölzernen Poller zu belegen.
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Er zog die Waffen unter den Duchten hervor, steckte sich die Flaschen in die Taschen und nahm den Drehling am Tragriemen über die Schulter. Dann sprang er auf die Pier. Er blieb stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Die Ruhe war vollkommen, nicht einmal das Säuseln des Windes war hier, in der außerordentlich geschützt liegenden Bucht, zu vernehmen. Nach wie vor war kein Mensch zu entdecken. Hatte Bill sich am Ende doch getäuscht? Hasard schritt über die Pier zum Kai. Überlaut klang das Geräusch seiner Stiefel auf den Planken. In Gedanken überprüfte er die Richtigkeit seiner Aktion. Was glaubte er vorzufinden? Überlebende? War sein ganzes Unternehmen nicht zu missionarisch? Wenn die Pest auf den Kapverden Einzug gehalten hatte, dann brauchte er sich bezüglich des Schicksals der Inselbewohner keinen Illusionen hinzugeben. Wo hockte der Tod, wo hatte er seinen Ausgang genommen? In der Taverna, auf die er jetzt zuhielt? In der Hafenmeisterei, die gleich nebenan in einem hohen, düster wirkenden Gebäude mit schmalen Fenstern untergebracht war? In einem der Wohnhäuser? Geisterhafen ist der richtige Ausdruck, dachte er, hier scheinen wirklich nur noch die Seelen der Verstorbenen umzugehen. Was aber war, wenn er einer fatalen Täuschung erlag? Einer seiner alten Feinde mochte auf Santo Antao lauern und die „Isabella“ frühzeitig entdeckt haben. Lucio do Velho vielleicht, der die erlittenen Niederlagen immer noch nicht verwunden hatte und auf Rache sann. Er hatte sich einen seiner Tricks einfallen lassen, um die Seewölfe in seinen Griff zu kriegen. Konnte das sein? Ja, sagte sich Hasard, und wenn es so ist, dann bist du auf dem Weg zu einem Himmelfahrtskommando. Er betrat die Taverna, deren Tür nur angelehnt stand. Sie knarrte ein wenig in ihren angerosteten Angeln. Dämmrig war das Licht in dem großen, langgestreckten
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Schankraum. Hasards Augen mußten sich erst darauf einstellen. Das erste Todesopfer, das er entdeckte, war ein portugiesischer Soldat, der Uniform nach zu urteilen, höchstwahrscheinlich ein Mitglied der Stadtgarde. Er lag bäuchlings auf einem der quadratischen Tische. Sein breitkrempiger Hut war zu Boden gefallen. Seine Arme baumelten nach unten, seine Beine waren abgespreizt und hielten ihm auch jetzt, da alle Kraft aus seinem Körper gewichen war, noch das Gleichgewicht. Ein Aberwitz. Mit einem Schlag war es dem Seewolf klar, daß hier weder die Pest noch irgendeine andere Seuche gewütet hatte. Seine grausige und makabre Entdeckung gab ihm Aufschluß darüber: Die Tragödie, die Ribeira Grande zu einem Geisterhafen hatte werden lassen, war ganz anderer Natur: Aus dem Rücken des Portugiesen ragte deutlich sichtbar das Heft eines Messers. * Hasard zog die doppelläufige Reiterpistole und ging weiter. Seine Schritte knirschten auf dem Steinfußboden. Er stieß mit dem Fuß gegen etwas Weiches und blieb abrupt stehen. Sein Blick fiel auf die Gestalt eines zweiten Toten. Wieder war es ein Soldat, aber diesen Mann hatte man nicht erstochen. Ein Loch in seiner linken Schläfe verriet, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Seine offenen Augen waren blicklos zur Balkendecke gerichtet, er lag auf dem Rücken. Die weitere Untersuchung der Hafenkneipe offenbarte Hasard, welchen Ausmaßes der Kampf gewesen sein mußte, der hier vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden hatte. Noch drei Tote fand er, zwei Soldaten und einen Zivilisten, dann - hinter dem breiten, abgewetzten Schanktisch - einen sechsten Mann, dem man ins Herz gestochen hatte. Aufgrund seiner ledernen Schürze identifizierte ihn der Seewolf als den Wirt der Taverna.
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Hasard hätte jetzt das Haus verlassen und seine Kameraden benachrichtigen können. Aber plötzlich hob er den Kopf. Leise Geräusche drangen aus dem Obergeschoß an sein Ohr. Die Gasse, in der Bill die Gestalt eines Menschen gesehen haben wollte, lag gleich neben der Taverna. Es war denkbar, daß der Unbekannte das Lokal durch eine Seitentür betreten hatte, um dann nach oben zu schleichen. Hasard vergewisserte sich, daß diese Nebentür tatsächlich existierte. Dann kehrte er in den Schankraum zurück und pirschte die Treppenstufen hinauf, darum bemüht, ein verräterisches Knarren der Bohlen um jeden Preis zu vermeiden. Der erbitterte Kampf hatte während der Nacht stattgefunden, dessen war er nach der Entdeckung und Untersuchung der Leichen sicher. Wer immer jetzt an den Schauplatz des blutigen Geschehens zurückgekehrt war - er mußte ihm Aufschluß über die Ursachen und Hintergründe geben. Ein Überfall auf die Stadt, dachte er, aber wer hat ihn verübt? Und warum hat er es getan? Lagern hier Reichtümer? Schwarze Fracht, Sklaven aus Afrika, die auf die Verschiffung nach Mittel- und Südamerika gewartet hatten? Er langte im oberen Stockwerk an und verhielt. Wieder hörte er die Geräusche, ein Rascheln und Schaben, als ob etwas geöffnet und durchsucht wurde, vielleicht eine Schublade. Viele Türen mündeten auf den langen Flur, der durch ein Bleiglasfenster an seinem Ende erhellt war. Eine der Türen stand offen. Hasard schob sich darauf -zu, streckte die Pistole vor und war auf jede Art von Überraschung gefaßt. Als er am Türrahmen vorbeiglitt und in den Raum blickte, war er aber doch erstaunt. Der unbekannte Besucher entpuppte sich als eine Frau, besser, als ein Mädchen von schätzungsweise zwanzig Jahren, das ihm das Hinterteil entgegenreckte und in einer Kommodenschublade herumkramte.
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Sie trug ein Kleid mit üppigem Rüschenbesatz und hatte lange schwarze Haare, soviel konnte er gerade von ihr erkennen. Etwas reimte sich in seinem Geist zusammen. Eine brave Bürgertochter bist du nicht, dachte er, eher das Gegenteil. Er sagte auf spanisch: „Bitte schreien Sie nicht, ich will Ihnen nichts tun.“ Sie schien soeben entdeckt zu haben, wonach sie suchte, fuhr jetzt -aber herum und ließ ihren Fund zu Boden fallen einen kleinen ledernen Beutel, in dem es vielsagend klirrte. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, dann stand sie wie angewurzelt da und richtete ihren von Panik erfüllten Blick auf ihn und seine Pistole. Ihr Mund öffnete sich langsam, aber sie brachte keinen Laut heraus. Hasard ließ die Doppelläufige sinken und deutete auf den Beutel. „Münzen? Nun, ich werde sie Ihnen nicht abnehmen. Sie haben sie sich sauer genug verdient, nehme ich an, Senorita. Richtig?“ „Wer - wer sind Sie?“ stammelte sie. „Eine berechtigte Frage. Mein Name ist Carlos Guido Y Spano. Ich bin der Kapitän des Schiffes, das Sie sicherlich in die Bucht haben einlaufen sehen. Oder?“ „Ja, ich habe es gesehen.“ „Sie haben aber nicht damit gerechnet, daß jemand an Land geht, während Sie die Taverna nach Gold und Silber durchsuchen, nicht wahr?“ „Dies ist mein Geld“, antwortete sie. „Ich habe mir nur mein Eigentum geholt, weil heute nacht - keine Zeit dafür war. Das ist doch mein gutes Recht. Verstehen Sie das? Nein, Sie verstehen mich nicht.“ „Wie heißen Sie?“ „Elena. Elena Vicente.“ „Gut, Elena. Erzählen Sie mir, was hier passiert ist.“ „Gehören Sie denn nicht zu denen? Zu diesen - diesen Teufeln?“ Er steckte die Pistole weg. „Ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden. Noch einmal: Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Ich bin Kauffahrer. Meine Leute und ich haben diesen Hafen angelaufen,
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um frischen Proviant und Trinkwasser an Bord zu nehmen. Bueno?“ „Bueno. Darf ich mich setzen?“ „Natürlich dürfen Sie das.“ Sie ließ sich auf den Rand des großen Bettes sinken, das augenscheinlich den wichtigsten Einrichtungsgegenstand des karg möblierten Zimmers darstellte, atmete tief,- durch und sagte: „Bitte duzen Sie mich, Capitan. Ich bin es nicht gewohnt, daß man Sie zu mir sagt. Ich - vielleicht habe ich mehr Vertrauen zu Ihnen, wenn wir uns wie zwei gute Freunde unterhalten können.“ „Einverstanden, Elena. Dann bin ich für dich aber auch Carlos. Was für den einen gilt, sollte auch für den anderen gelten.” Sie nickte eifrig. „Fein. Also. Du hast die Toten gesehen, nicht wahr? Wenn ich nicht wie die anderen geflohen wäre, hätte ich vielleicht auch mit einem Messer oder einer Kugel im Leib dort unten gelegen oder diese Satanskerle hätten mich auf ihr Schiff verschleppt, wie sie’s mit Greta, Camilla und Viola getan haben.“ „Kannst du nicht zusammenhängend sprechen? Was waren das für Kerle, die euch überfallen haben?“ „Lord Henry und seine Crew - das schrie ihr Anführer immer wieder, als sie über uns herfielen. Er ist ein großer, wilder Bastard mit blonden Haaren und einem blonden Bart. So groß wie du ist er. Vielleicht sogar noch ein bißchen größer.“ „Ein Engländer?“ „Ein Engländer, der sehr gut Spanisch spricht.“ Hasard sann nach. Unter den englischen Korsaren und Freibeutern, die er in den Jahren kennengelernt hatte, die er nun zur See fuhr, war kein Mann dieses Namens, und er hatte von einem Piratenkapitän, der sich so nannte, auch noch nie etwas gehört. Lord Henry, dachte er, vielleicht treten wir uns noch gegenüber, wer weiß. „Plötzlich waren sie mitten unter uns“, fuhr Elena Vicente in ihrem Bericht fort. „Ich saß mit Greta, Camilla und Viola bei dem Hafenleutnant und seinen Soldaten, die auf einen Becher Rotwein hereingekommen waren. Warum wir da zusammenhockten
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und was mein Beruf ist, brauche ich dir wohl nicht groß zu erklären.“ „Nein, das ist wirklich nicht nötig.“ Er tat zwei Schritte auf den Lederbeutel zu, bückte sich danach und überreichte ihn ihr. Sie ließ den Beutel in ihrem Kleidausschnitt verschwinden. Ihre Stimme senkte sich ein wenig. „Die Kerle hatten es auf den Leutnant abgesehen. Sie schossen, stachen und hieben um sich und hatten im Nu die Oberhand gewonnen. Wer sich noch retten konnte, der ergriff die Flucht.“ „Waren sie mit ihrem Schiff denn direkt in den Hafen gesegelt? Hat sie niemand aufhalten können?“ „Unsere Männer sagen, daß sie östlich der Bucht gelandet sein müssen, heimlich im Schutz der Dunkelheit. Zu Fuß schlichen sie sich in die Stadt. Ich - ich hätte nie gedacht, daß so etwas-möglich ist, aber sie schafften es. Sie nahmen den Leutnant als Geisel, stürmten die Hafenkommandantur und nahmen auch den Kapitän, Don Amado Marcos, mit. Alles Weitere, was ich weiß, habe ich von unseren Männern vernommen, die sich mit uns in die Berge zurückgezogen haben, um ihre Familien zu retten. Diese Piraten verschafften sich Zugang zur Festung. Sie schossen jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie besetzten den Söller, auf dem die Kanonen stehen, hißten ihre Flagge im Burghof und drohten, die ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen, wenn ihnen nicht alles gehorchte.“ „Wo sind eure Schiffe?“ „Vor zwei Wochen ausgelaufen nach Westafrika. Sie hätten längst zurück sein sollen.“ „Mit Negersklaven?“ „Ja. Dieser Lord Henry hatte es auf die Sklaven und auf die Frauen abgesehen, aber im Kerker der Festung hat er nur ganz wenige Schwarze vorgefunden. Die Frauen, die er aus der Stadt auf sein Schiff entführt hat, sind auch nicht sehr viele.“ „Sein Schiff lief nach dem geglückten Raid in den Hafen ein?“ „Ja. Alle gingen an Bord, die Piraten und die Gefangenen, das konnten unsere
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Männer beobachten. Dann segelte die Galeone wieder fort.“ „Eins begreife ich nicht“, sagte der Seewolf. „Warum seid ihr nicht längst wieder in eure Häuser zurückgekehrt?“ Sie blickte ihn aus ihren großen dunklen Augen an. „Weil wir Angst haben, daß die Hunde noch immer um die Insel herumschleichen. Sie haben nicht genug Beute. Das Durchstöbern der Häuser hat ihnen nichts eingebracht, es gibt keine großen Reichtümer auf Santo Antao. Sie wollen Menschen - Frauen, Mädchen, sogar Kinder -, um sie in die Hurenhäuser der Neuen Welt zu bringen und dort zu verkaufen.“ Menschenhandel, dachte der Seewolf. Lord Henry, du bist wirklich ein schmutziger Bastard. 5. Sie schilderte ihm die letzten Einzelheiten, die sie über das Geschehen der Nacht wußte, dann verließen sie beide den Raum und stiegen die Treppe in den Schankraum hinunter. Hasards Entschluß stand fest. Er würde seine Männer unterrichten und versuchen, den tolldreisten Lord Henry zu jagen und zu fassen - falls er wirklich noch mit seiner Galeone um die Insel Santo Antao herumsegelte. Vorläufig bezweifelte der Seewolf dies noch, denn er hielt die Vorstellung, daß der Pirat die Insel wie ein Raubtier belauerte, für ein Produkt der Angst, die nach wie vor in den aus der Stadt geflüchteten Menschen war. Andererseits hoffte Hasard aber fast, daß er Lord Henry und dessen Bande von Schnapphähnen und Galgenstricken noch begegnete, denn er brannte jetzt darauf, den Kerlen eine Lektion zu erteilen. Jeder Korsar verachtete Sklavenjäger und Menschenhändler und ließ sich nicht mit ihnen ein. Der Raub und die Entführung von Männern. Frauen und Kindern waren das Niedrigste und Verabscheuungswürdigste, was es in den Augen von Hasard und seiner Crew gab.
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Deswegen würden sie es darauf anlegen, die Sklaven zu befreien -und natürlich auch Greta, Camilla, Viola und die anderen weißen Frauen von Ribeira Grande, die sich an Bord der Freibeutergaleone befanden. Auch Don Amado Marcos, der Hafenkapitän, und sein Leutnant waren nach wie vor in der Gewalt von Lord Henry. Daß er sie noch nicht umgebracht hatte, schien zu bestätigen, daß er im Hinblick auf die Flüchtlinge noch etwas plante. Er würde die Offiziere vielleicht erneut als Geiseln benutzen und unter Androhung ihrer Ermordung die Inselbewohner zwingen, ihre Frauen und Mädchen auszuliefern. Hasard war mit Elena Vicente neben dem Schanktisch angelangt, als seine Überlegungen eine jähe Unterbrechung erfuhren. Eine Gestalt erhob sich hinter dem Tresen - genau an dem Platz, an dem Hasard den toten Wirt entdeckt hatte. Elena fuhr nach links herum und stieß einen erstickten Schrei aus, ihre Augen weiteten sich ungläubig. Wahrscheinlich glaubte sie in diesem Moment daran, daß die Toten zum Leben auferstanden. Hasard duckte sich und wollte seine Pistole aus dem Gurt reißen, aber die dunkle Stimme des Fremden warnte ihn: „Keine Bewegung mehr, du Narr, oder ich schieße dich über den Haufen! Willst du, daß ich dir ein Loch in den Schädel blase?“ Der Mann sprach ein akzentgefärbtes Spanisch. Der Art nach zu urteilen, wie er das R rollte, konnte er nur ein Engländer, Schotte oder Ire sein. Hasard wandte langsam den Kopf und betrachtete ihn genauer. Der Kerl war über sechs Fuß groß, hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt und trug zwei große Ohrringe. Die langen Enden seines Schnauzbartes hingen über die Mundwinkel. Sein graues Hemd klaffte vorn bis zum Bauchnabel auf, und er trug quer über die Brust einen breiten Lederriemen, in dem die beiden Pistolen gesteckt haben mußten, die er auf den Seewolf und das Mädchen richtete. Er grinste triumphierend.
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Lord Henrys Mann, dachte Hasard entsetzt, zum Teufel, jetzt bist du doch noch in eine Falle getappt. Er zwang sich zur Ruhe. Auf englisch sagte er: „Hör zu, ich habe keine Ahnung, wie du heißt, aber ich versichere dir, daß du einen schweren Fehler begehst. Ich habe mit Lord Henry eine Übereinkunft getroffen, und ich bin hier, um ihn zu unterstützen. Davon weißt du vielleicht. nichts, weil er dich nicht eingeweiht hat, aber ...“ Mit einer herrischen Gebärde schnitt der andere ihm das Wort ab. „Halt dein Maul! Glaubst du, ich laß mich für dumm verkaufen? Keiner legt Tim Scoby rein, merk dir das. Ich bin Henrys bester Kumpel, sozusagen seine rechte Hand, du Wanze, und da willst du mir was von Abmachungen erzählen, die ihr getroffen habt? Ich hab alles gehört, was du oben mit der Hure gesprochen hast, spanischer Bastard. Ich frag mich jetzt nur, wo du so gut Englisch gelernt hast, du Kastanienfresser.“ „Ich war lange Zeit in Irland.“ „Zur Hölle mit den irischen Himmelhunden, diesen Verrätern!“ Tim Scoby lachte verächtlich. „Nun, Don Carlos, wie haben wir diesen Raid durchgeführt? Sind wir nicht Prachtkerle, Henry, ich und unsere Macker? Oh, wir haben die Weisheit alle nicht mit Löffeln gefressen, aber schlau und gerissen sind wir. Als wir den Hafenkapitän, diesen alten Trottel, erst geschnappt hatten, konnte uns keiner mehr den Zugang zur Festung verwehren — und dann ging alles ruckzuck.“ „Aber ihr habt euch doch verrechnet. Ihr hofftet, viele Sklaven zu finden, doch es war nur eine Handvoll.“ Der Pirat rückte näher auf ihn zu. „Nur zehn, wenn du’s ganz genau wissen willst: Nachschub aus Afrika trifft bald ein, aber wir können uns nicht mit dem ganzen Konvoi herumschlagen. Also beschloß Henry, alle Weiber aus der Stadt mitzunehmen, und darauf hat er’s nach wie vor angelegt.“ „Deshalb ließ er dich in der Stadt zurück?“
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Scoby lachte wieder, grollend und voller Hohn. „Wir sind eine ganze Meute, die sich drüben in der Burg eingenistet hat, um die Sache auszubaldowern, sobald das feige Volk in die Häuser zurückkehrt. Als du mit deinem Kahn in die Bucht liefst, Capitan, habe ich meinen Leuten die Anweisung gegeben, sich zu verstecken und sich durch keinen Schuß, keinen Laut zu erkennen zu geben. Ich sah dich mit der Jolle übersetzen. Wolltest du plündern?“ „Nein. Ich brauche Proviant und Wasser, das hast du doch schon vernommen.“ Tim Scoby grinste. „Eben. Weil kein Mensch mehr in der Stadt ist, dachtest du, du könntest dir nun wohl holen, was du brauchst - ohne zu bezahlen. Aber du hast dir ins eigene Fleisch geschnitten. Ich bin von der Feste hier herübergeschlichen, ohne daß deine Männer mich vom Schiff aus sehen konnten. Auch deinem Ausguck hab ich ein Schnippchen geschlagen, Don Großmaul, denn es gibt viele Gäßchen und Winkel in diesem Elendsnest, die ich ausgenutzt habe. So kam ich her und legte mich auf die Lauer, als du nach oben stiegst. Und nun hab ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“ Er sah Elena an, die verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, aus der Taverna zu fliehen. Doch es gab keine Chance, sie waren dem Kerl ausgeliefert. „Dich nehm ich mit aufs Kastell, Liebchen“, sagte Scoby. „Es wird meinen Kerls Spaß bereiten, dich ein bißchen über den Burghof zu schieben.“ Er blickte wieder zu Hasard. „Aber vorher pullen wir zurück zu deinem Schiff, Capitan. Deine Leute müssen es mir widerstandslos übergeben. sonst fang ich an, dich mit meinem Messer zu kitzeln, und wenn sie dich erst schreien hören, werden sie ihre Meinung sehr schnell ändern. Einen Teil deines Haufens sperren wir in den Kerker der Festung, der Rest kann an Bord bleiben, denn schließlich brauchen wir eine Mannschaft. Ho, Henry wird sich über diese Prise freuen. Mit zwei Schiffen sind wir stärker als je zuvor, und wie ich deinen Dreimaster so daliegen sehe, scheint er mir ein sauberer Kahn zu sein.“
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Hasard ließ die Augen etwas nach rechts wandern. Über die linke Schulter des Kerls weg meinte er im Hintergrund des Schankraumes eine Bewegung zu sehen. Beim ersten Blick glaubte er schon, sich getäuscht zu haben, und dachte, die Einbildung habe ihm ein Trugbild vorgegaukelt, aber jetzt stellte er fest, daß sich außer ihnen dreien doch noch ein vierter lebendiger Mensch im Haus befand. Ein junger Mann allem Anschein nach - er schlich sich an und brachte sich hinter den Schanktisch. Er hatte. eine Pistole und einen Säbel, wie Hasard registrierte, und es war vom ersten Moment an offensichtlich, für wen er Partei ergriff. Er gehörte nicht zu Lord Henrys Bande, mußte also einer der Männer aus der Stadt sein, die in die Berge geflohen waren. Nach allem, was er erlauscht hatte, konnte er sicher sein, in Hasard einen Verbündeten zu haben. Er näherte sich Tim Scoby, um ihn zu töten. Hasard blickte absichtlich immer noch an dem Piraten vorbei. Scoby grinste wieder. „Wie dumm du bist, Don Großmaul. Bildest du dir wirklich ein, ich falle auf einen derart idiotischen Trick herein? Du müßtest es schon mit etwas Schlauerem versuchen, wenn du ...“ „Ich finde, du hältst dich für zu gerissen“, unterbrach ihn der Seewolf. „Das kann auch mal ins Auge gehen. Wenn man sich selbst überschätzt, fällt man früher oder später auf den Bauch.“ „Sei still.“ „Du kannst mich bedrohen, aber du kannst mir nicht den Mund verbieten.“ „Ich kann dir dein verfluchtes Maul stopfen!“ rief Scoby zornig. „Soll ich dir zeigen, wie?“ Elena die den jungen Mann nun auch endlich bemerkt hatte, hielt vor Schreck und Unglauben den Atem an. Scoby, unsicher geworden, warf doch einen Blick über seine Schulter nach hinten – und genau in diesem Moment warf sich der Seewolf nach vorn und packte mit beiden Händen zu. Er drehte die Arme des Kerls mit einem Ruck herum, so heftig,
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daß dieser aufschrie und seine Pistole fallen lassen mußte. Hasard brachte ihn durch den Aufprall seines Körpers aus dem Gleichgewicht. Scoby stolperte rückwärts, strauchelte, fiel und stieß dabei einen mörderischen Fluch aus. Der junge Mann hieb mit dem Knauf seines Säbels zu, traf Scobys Kopf und wollte noch einmal zuschlagen, aber jetzt holte der Seewolf mit rechts aus und rammte dem Freibeuter die Faust so hart unters Kinn, daß diesem augenblicklich die Sinne schwanden. Ohnmächtig blieb er liegen, nicht weit von dem toten Wirt entfernt.’ Hasard richtete sich auf. Elena war hinter ihm und bückte sich nach den beiden Pistolen des Freibeuters. Sie hob sie auf und legte sie auf den Schanktisch. Wutentbrannt wollte der junge Mann mit seinem Säbel auf Tim Scoby einstechen, doch Hasard hielt ihn. zurück. „Zügeln Sie sich“, sagte er. „Man tötet keinen bewußtlosen Mann, auch nicht, wenn er ein Mörder und Beutelschneider ist wie dieser Scoby.“ „Sie wissen ja nicht, was diese Hundesöhne angerichtet haben.“ Hasard wies mit einer Handbewegung auf die Toten. „Doch, davon habe ich schon einen Eindruck erhalten. Und Elena hat mir erzählt, was hier vorgefallen ist.“ „Alles? Auch, daß sich meine Schwester in der Gewalt der Piraten befindet?“ „Wie heißt Ihre Schwester, Senor?“ fragte der Seewolf. „Greta, Camilla oder Viola?“ Der junge Mann trat einen Schritt zurück. „Senor! Wer immer Sie sind, was fällt Ihnen ein, mich zu beleidigen? Wie können Sie auch nur annehmen, daß eine dieser Dirnen zu meiner Familie gehört?“ Er warf einen verächtlichen Blick auf Elena Vicente. „Es ist schon genug, daß Sie mit diesem Mädchen überhaupt gesprochen haben.“ Hasard wollte ihm eine geharnischte Antwort geben, aber er besann sich darauf, daß ihm der junge Mann schließlich aus einer gefährlichen Lage geholfen hatte. Außerdem hielt er sich den Stolz der
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Spanier und Portugiesen vor Augen, den es in gewissen Situationen zu respektieren galt. Er streckte die rechte Hand aus und sagte: „Nichts für ungut, nehmen Sie mir dieses Mißverständnis bitte nicht übel. Ich entschuldige mich in aller Form. Ich biete Ihnen meine Freundschaft an. Mein Name ist Carlos Guido Y Spano, ich bin der Kapitän der Galeone ‚Isabella’, die Sie draußen im Hafen vor Anker liegen sehen.“ Die Züge des anderen entspannten sich. Er war schlank und hochgewachsen und hatte ein glattes, angenehmes Gesicht mit dunklen Augen und einem schmallippigen, empfindsamen Mund. Er schob seinen Säbel in das Wehrgehänge zurück, das er um die Hüften trug, und nahm die ihm dargebotene Hand an. „Danke, Amigo“, sagte er. „Ich heiße Umberto Lando.“ Hasard beobachtete ihn genau, während er lächelnd seine Hand drückte. Die Nennung des Namens „Isabella“ schien in Lando keinerlei Verdacht wachgerufen zu haben. „Und wie heißt Ihre Schwester?“ fragte er ihn. „Sandra.“ „Wir werden alles tun, um Sandra zu retten“, versprach Hasard. „Ich habe mir nämlich fest vorgenommen, Lord Henry das Handwerk zu legen.“ 6. Elena Vicente hatte sich von ihrem großen Schreck erholt und trat näher. „Senor Lando“, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang Spott mit. „Welchen Anlaß hattest du überhaupt, in die Stadt zurückzukehren? Bist du mir etwa gefolgt?“ „Ja, wenn du’s genau wissen willst. Mein Vater war dagegen, aber ich hab mich in einem günstigen Augenblick davongeschlichen. Wir alle haben uns gefragt, warum du wohl plötzlich verschwunden warst. Die anderen waren überzeugt, daß du in dein Unglück rennen würdest, denn für jeden stand es fest, daß
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die Piraten Wachtposten in Ribeira Grande zurückgelassen hatten, die jeden schnappen; der sich hier blicken läßt. So ist es ja auch. Allerdings wäre keiner bereit gewesen, auch nur einen Finger für dich zu rühren und dich zurückzuhalten.“ Sie schob sich an Hasard vorbei und dicht an Umberto Lando heran. Mit der raschen Vertraulichkeit, die allen Frauen ihres Gewerbes zu eigen war, legte sie ihm die Hand auf die Schulter und versuchte, sich an ihn zu schmiegen. „Nein, wirklich?“ sagte sie. „Du wolltest mich also retten?“ Unwirsch schob er sie zurück. „Unsinn. Ich weiß ganz genau, auf was du aus bist — auf Geld. Wenn man dich nicht daran hindert, würdest du sämtliche Häuser durchsuchen, und wahrscheinlich hättest du dabei mehr Glück als diese Bastarde von Engländern, denn du weißt, wo viele Familien ihre Habe versteckt haben.“ Ihre Augen funkelten zornig. „Dein Alter hat es wohl nicht mehr geschafft die Kasse an sich zu reißen und mitzunehmen, als ihr in der Nacht abgehauen seid, wie? Davor hast du Angst, Bürschchen — daß ich in euren Laden eindringe. Du bist schon genau wie dein lieber Vater, ich kenne dich. Bei euch zählen nur Gold und Silber, nichts anderes.“ „Und bei dir?“ zischte er feindselig. Sie lehnte sich gegen die Kante des Tresens und hob ein wenig den Kopf. „Ich muß sehen, wie ich mich durchschlage, Don Umberto, du eingebildeter Schönling. Aber davon hast du ja keine Ahnung. Einer wie du weiß ja nicht, was es heißt, am Hungertuch zu nagen und mehr schlecht als recht zu leben.“ Sie gab sich plötzlich einen Ruck, stieß sich ab und stand wieder dicht vor ihm. „Aber soll ich dir was verraten?“ fuhr sie ihn giftig an. „Auch eine wie ich hat ihre Ehre, bei allem, was mir heilig ist. Den Besitz von anderen rühre ich nicht an, verstanden? Schreib dir das hinter die Ohren!“ „Du“, fauchte der junge Mann. „Jetzt will ich dir mal sagen, was ich von dir halte, du ...“
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„Warum sprichst du denn überhaupt mit mir, he?“ unterbrach sie ihn. „Ist das nicht unter deiner Würde?“ Hasard lächelte und zog das Mädchen am Arm zu sich zurück. „Streitet euch nicht, ihr beiden. Wir sitzen alle drei im selben Boot. Elena, was für einen Laden hat unser Freund denn eigentlich?“ „Das Geschäft eines Schiffsausrüsters“, erwiderte Umberto Lando an ihrer Stelle. „Wir handeln mit allem, was die Konvois der spanischen Krone und die Kauffahrteischiffe, die unseren Hafen anlaufen, brauchen.“ „Auch mit Proviant?“ „Selbstverständlich.“ „Ich glaube, dann kommen wir noch miteinander ins Geschäft“, sagte Hasard. „Ich brauche nämlich so einiges. Die Hauptsache ist, daß Lord Henry euren Laden nicht schon geplündert hat.“ „Ich habe eben nachgesehen“, erklärte Umberto. „Es fehlt fast nichts. Tauwerk und Blöcke, Pökelfleisch und Speckseiten scheinen die Hunde nicht zu brauchen.“ „Umberto“, sagte der Seewolf und schlug jetzt einen vertraulicheren Tonfall an. „Bist du sicher, daß dich von der Festung aus niemand beobachtet hat?“ „Ganz sicher. Ich kenne jeden Schleichweg in der Stadt, und ich konnte mir ja leicht ausmalen, daß sich die elenden Bastarde dort niedergelassen haben.“ „Nun, wir müssen in die Festung eindringen und die Piraten überwältigen.“ „Ja. Aber wir könnten Verstärkung von deinem Schiff holen, Capitan.“ „Bedenke, daß Lord Henrys Männer dadurch mißtrauisch werden könnten“, sagte Hasard. „Sie wissen, daß Scoby hierher in die Taverna geschlichen ist, um mich gefangen zu nehmen. Sicherlich hat er seinen Kumpanen schon gesagt, daß er anschließend versuchen würde, die ,Isabella` in seinen Besitz zu bringen. Das Übersetzen eines zweiten Beibootes mit meinen Leuten würde in diesen Plan nicht hineinpassen — die Freibeuter in der Burg wären gewarnt.“ „Ich verstehe“, sagte der junge Mann ernst. „Wir sind auf uns allein angewiesen. Also
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los! Ich bin dabei und werde mich schlagen, wie es sich gehört.“ Hasard deutete auf die Fenster des Lokals, die zum Kai wiesen und durch hölzerne Läden verschlossen waren. „Kann man es von der Festung aus bemerken, wenn ich eins dieser Fenster öffne?“ „Nein“, erwiderte Umberto. „Die Front der Taverna liegt nicht im richtigen Blickwinkel für die Piraten. Ich weiß schon, was du vorhast, Don Carlos. Du willst deinem Ausguck, der sicherlich die Taverna fest im Auge hat, wenigstens ein paar Zeichen geben.“ „Richtig, damit meine Besatzung Bescheid weiß“, sagte Hasard lächelnd. Er nahm den Drehling von der Schulter. „Hier, sieh dir schon mal dieses Gewehr an. Es ist ein Sechsschüsser, und ich werde dir zeigen, wie man damit umgeht.“ „Und du?“ „Ich habe eine Pistole und nehme außerdem noch Scobys zwei Waffen mit.“ Er klopfte auf seine Taschen. „Und dann habe ich noch eine nette Überraschung für unsere Feinde in der Feste.“ Elena Vicente verstellte ihm den Weg, als er durch den Schankraum zu einem der Fenster gehen wollte. „Einen Moment“, sagte sie hastig. „Ihr wollt mich hier doch wohl nicht allein lassen, oder? Ich gehe auf jeden Fall mit euch und ...“ Hasard schüttelte den Kopf. „Das tust du nicht. Wir fesseln und knebeln Tim Scoby, und du erhältst Umbertos Säbel und paßt damit auf den Kerl auf. Wenn er irgendwelche Tricks versucht, wird es dir schon gelingen, ihn einzuschüchtern. Ich bin überzeugt, daß du es schaffst.“ „Hier? Zwischen all den - den Leichen?“ Er sah sie an. „Wo sonst? Wir haben keine Wahl. Elena, du bist ein hartgesottenes Mädchen. Du wirst bestimmt auch das überstehen.“ Sie verzog ein wenig den Mund. „Das hättest du mir nicht zu sagen brauchen, Carlos.“ „Dann vergiß es.“ *
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Um das Tor der Hafenfeste zu erreichen, hätte man eine Anhöhe hinaufsteigen müssen, die jedoch genauso karg und trocken war wie sämtliche anderen Inselhügel. Mit anderen Worten: Hier gab es keine Versteckund Deckungsmöglichkeiten, und für die Besatzer der Festung hätten Hasard und Umberto sich wie auf einem Präsentierteller befunden. Daher mieden sie diesen Weg und pirschten sich von der Rückseite an das hohe, wuchtige Gemäuer heran. Im Süden, also zum Inneren von Santo Antao hin, bildete die Außenmauer des Kastells einen senkrech- ten Verbund mit dem Hang. Gleich darunter drängten sich die kleinen, meist einstöckigen Wohnhäuser der Stadt aneinander und bildeten Gassen und Gänge, in denen man sich vorzüglich vor dem Blick des Gegners verbergen könnte. Hier kannte sich der junge Portugiese hervorragend aus. Er hatte die Führung übernommen und zeigte dem Seewolf, von wo aus man am besten bis dicht an den Hang gelangte. Sie hatten einen kurzen Abstecher in den Laden der Landos unternommen und von dort, ein langes, starkes Tau und einen großen Enterhaken mitgenommen. Im Schatten einer schmalen Passage, die nicht einmal breit genug war, um zwei Männer nebeneinander durchzulassen, verspleißten sie jetzt das eine Ende des Taus mit dem Haken und prüften die Festigkeit. „Das hält kanonensicher“, wisperte Umberto seinem neuen Verbündeten zu. „Wir können es riskieren. Aber ich frage dich noch mal, Capitan: Wäre es nicht besser, Verstärkung zu holen? In den Bergen warten mehr als fünfzig Männer, und mehr als die Hälfte davon könnte ich bestimmt überreden, uns zu helfen.“ „Wie weit muß man laufen, um sie zu erreichen?“ fragte Hasard leise. „Eine halbe Stunde, und wir sind im Versteck.“ „Das dauert zu lange. Es würde uns eine Stunde verlorengehen, die Zeit nicht mitgerechnet, die mit den entsprechenden
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Erklärungen und Verhandlungen verstreichen würde. Inzwischen würden die Piraten anfangen, nach dem verschollenen Scoby zu suchen, glaub es mir.“ „Wie du meinst. Es war ja auch nur ein Vorschlag.“ Hasard musterte seinen Begleiter ernst. „Überlege es dir gut, was du tust. Noch kannst du zurück. Du brauchst nicht mit mir zu gehen. Ich nehme das auch allein auf mich. Nur muß ich schnell handeln, sehr schnell.“ Der Blick des jungen Portugiesen verhärtete sich. „Mein Interesse daran, diese Teufel von unserer Insel zu vertreiben, ist noch größer als deins, Don Carlos. Für meine Familie, meine Stadt, meine Insel tue ich alles. Genügt dir das?“ „Ja. Also los!“ Hasard trat ganz nach vorn, an den Ausgang der Passage. Er ließ den Enterhaken zunächst an einem Tauende von halber Armlänge herabbaumeln und taxierte die Höhe des Hanges und der Burgmauer. Schätzungsweise sieben Yards über ihren Köpfen war die Öffnung eines engbrüstigen Fensters, dessen Maße jedoch reichen mußten, um sie beide durchzulassen. Hasard visierte das Fenster als Ziel an, ließ den Enterhaken ein paarmal probeweise wippen und begann dann, ihn in kreisende Bewegungen zu versetzen. Umberto hatte den Kopf in den Nacken gelegt und paßte auf, daß sich keiner der Piraten auf dem Söller zeigte, der die Mauer an ihrer oberen Seite abschloß. Er hielt den Radschloß-Drehling, dessen genaue Funktion der Seewolf ihm auseinandergesetzt hatte, mit beiden Händen und war darauf vorbereitet, jeden Gegner nötigenfalls niederzuschießen. Hasard ließ den Haken nach oben entgleiten. Er flog hoch, erreichte die Fensterbank und schien sich festkrallen zu wollen, rutschte dann aber doch wieder ab und kehrte nach unten zurück. Hasard und der junge Mann sprangen zur Seite. Klirrend landete der Enterhaken vor ihren Füßen.
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„Verdammt!“ Umberto biß sich auf die Unterlippe. „Hoffentlich hat das keiner gehört.“ Hasard entgegnete nichts darauf. Unverzagt führte er sein Werk fort. Wieder schwirrte der Haken hoch, und diesmal hatte er Erfolg. Offenbar hatte sich eins der spitzen Eisenenden in den Ritzen der gemauerten Fensterbank verfangen. Der Haken hielt, Hasard konnte das Tau straffen und mit seinem Körpergewicht belasten, es gab nicht mehr nach. Ohne einen Moment zu zögern, hangelte er an dem Tau hoch. Sehr schnell langte er vor dem Fenster an, hielt sich an den Steinen fest und versuchte, es zu öffnen. Fast hätte er einen Fluch ausgestoßen: Es war verriegelt. Hasard zog sein Messer, schob die Klinge in den Zwischenraum, der zwischen Fenster und Rahmen klaffte, und versuchte, den Riegel zu finden und ihn anzuheben. Zunächst schien es, als würde dies niemals klappen, aber dann zahlte sich seine Hartnäckigkeit doch aus. Der Riegel sprang auf, das Fenster ließ sich durch leichten Druck öffnen. Seine eisernen Angeln schienen sogar gut geölt zu sein, sie gaben nicht das leiseste Quietschen von sich. Hasard deutete Umberto durch einen Wink an, daß er ebenfalls hochklettern könne, dann kroch er über die Brüstung ins Innere des hinter dem Fenster liegenden Raumes. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, vom Fenster aus zum Söller hochzuklimmen, aber Umberto hatte davon abgeraten, als sie ihr Unternehmen besprochen hatten. Vom Söller aus führte eine Treppe direkt in den hinteren Hof der Anlage hinunter, und dieser Hof wiederum war von den Gebäuden aus, „in. denen die Piraten sich verschanzt hatten, gut zu überblicken. Die Ringmauer indes war ein Gebäude für sich. Winzige Räume und ein fortlaufender Gang waren darin untergebracht, deren Zweckmäßigkeit sich nur im Fall einer Belagerung zeigte, denn dann sollten in diesen Räumlichkeiten Munition, Waffen
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und Proviant für die Verteidigung aufbewahrt werden. . Hasard wartete auf Umberto. Er half ihm über die Fensterbank, dann zogen sie den Enterhaken zu sich und holten das Tau herauf. Sie schossen es auf, und der Portugiese hängte sich die Rolle über die Schulter. Sie verließen den engen Raum durch eine Tür, die auf den Wehrgang führte, und duckten sich, denn von hier aus konnte man über eine Brüstung hinweg genau auf den Innenhof sehen. Ebenso gut konnte man von unten und von den Fenstern des Hauptgebäudes aus entdeckt werden. Die Brüstung trug Säulen, deren Kapitelle die Dachbalken stützten. An diesen Säulen vorbei schlichen Hasard und sein Verbündeter. Sie gelangten, dem Verlauf den Mauer folgend, an eine schwere Bohlentür mit breiten eisernen Beschlägen. Zum Glück ließ sie sich mühelos öffnen. Sie war nicht verschlossen. Sie schlüpften durch den Spalt und befanden sich jetzt im oberen Geschoß des Festungshauptgebäudes. Umberto ließ die Tür behutsam wieder ins Schloß gleiten. Geräuschfetzen drangen zu ihnen herüber; das rauhe Lachen von Männerstimmen, das Poltern von Gegenständen, vielleicht von Stühlen, das Klirren von Gläsern. „Sie feiern ihren Sieg“, raunte Hasard. „Wahrscheinlich sind sie schon stark angetrunken, aber wir sollten sie trotzdem nicht unterschätzen.“ „Nein“, flüsterte Umberto. „Aber mir ist etwas eingefallen. Wenn es uns gelingt, an ihnen vorbeizupirschen, könnten wir die Treppe erreichen, die in das Kerkergewölbe hinunterführt. Ich nehme an, daß dort die Offiziere und Soldaten eingesperrt sind, denn die Kerle können unmöglich alle umgebracht haben.“ „Hoffen wir, daß du recht hast. Du meinst also, es wäre klüger, erst deine Landsleute zu befreien?“ „Ja. Du nicht?“ Hasard überlegte, dann erwiderte er: „Ich finde, wir sollten es versuchen. Ein Risiko ist allerdings dabei, daß uns nämlich die Freibeuter, die den Kerker bewachen,
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vorzeitig entdecken und auf uns schießen. Dadurch alarmieren sie ihre Kumpane.“ „Die Bastarde hocken in der Wohnung des Kommandanten, wenn ich mich nicht irre“, zischte Umberto Lando. „Sie würden die Schüsse im Kellergewölbe auf jeden Fall hören, das stimmt. Aber wenn ihre Gefängnisposten dort stehen, wo sich sonst auch die regulären Kerkerwächter aufhalten, haben wir eine reelle Chance, sie zu überlisten.“ „Dann los!“ flüsterte der Seewolf. * Die Wohnung des Festungskommandanten Don Olegario de Nunez bestand aus zwölf Zimmern, die er mit seiner Frau und seiner einzigen Tochter benutzte. Zur Zeit hatten jedoch alle drei keine Gelegenheit mehr, sich der gediegenen Einrichtung und der wertvollen Gemälde, die an den holzgetäfelten Wänden hingen, zu erfreuen, denn man hatte sie in der Nacht zusammen mit den Sklaven, den Frauen aus der Stadt, Don Amado Marcos und einigen Offizieren auf das Schiff des Piratenkapitäns verschleppt. An ihrer Stelle hatten sich die Besatzer des Kastells in den Räumen eingenistet - sechs abenteuerlich gekleidete, wilde Kerle, die als Zentrum ihres Aufenthalts, der bis zum Abend, vielleicht aber auch noch bis zum nächsten Tag andauern mochte, die große „Sala“ gewählt hatten, von der aus man sowohl zum vorderen Hof, zum Söller und zum Hafen blicken konnte als auch zur Seite der Anlage. Somit war der Wohnraum ein strategischer Platz in dem gesamten Gemäuer. Von hier aus konnten sie die Lage kontrollieren, während sie Lamm- und Schweinefleisch über dem offenen Kaminfeuer brieten und die Weinvorräte des Don Olegario erheblich verminderten. Draußen, auf dem Söller der zum Hafen weisenden Mauer, waren zwei weitere Männer postiert. Sie hatten vor etwa einer Stunde das Einlaufen der „Isabella“ in sämtlichen Manöverphasen verfolgt und ihr Auftauchen Tim Scoby gemeldet, der
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aber ohnehin schon von den Fenstern der Sala aus die Galeone mit seinem Spektiv beobachtet hatte. Zwei andere Piraten bewachten die Kerkerzellen im Keller der Festung. Sie wurden jeweils im Turnus von drei Stunden abgelöst. Somit befanden sich zehn Männer von Lord Henry im Innern der yardbreiten, wuchtigen Mauern, mit Scoby wären es sogar elf gewesen. Ein großflächiger Kastanienholztisch beherrschte den Mittelpunkt der Sala. Fünf der Männer hatten sich hier auf den Stühlen niedergelassen, drei hatten die Beine hochgelegt. Zwei hatten nackte Füße, die anderen trugen Stulpenstiefel oder Schnallenschuhe, die sie auf einem ihrer Beutezüge an sich gebracht hatten. Der sechste Pirat hockte am Kaminfeuer und achtete darauf, daß die Schweinelenden und Lammkoteletts nicht anbrannten. Mulkenny, ein großer, grobknochiger Schotte, ließ die vierte Korbflasche kreisen und führte das große Wort. „Trinkt!“ grölte er. „Wir sind die Herren der Insel, wir können hier tun und lassen, was wir wollen! Wir werden diesen großmäuligen Kastaniendons noch gewaltig eins überbraten und uns hier vielleicht sogar für immer und ewig niederlassen. Na, wie wäre das? Reagan, he, was glotzt du so verdrießlich drein? Sag was, du Höllenbraten, deine Miene macht mich ganz krank!“ Die anderen lachten, gossen die Gläser voll und ließen den schweren, dunkelroten Wein in. ihre Kehlen rinnen. Reagan, ein Deserteur der englischen Armee aus Birmingham, hob seinen Blick und richtete ihn auf den Schotten. „Die ganze Sache gefällt mir nicht. Irgendwas ist faul, sage ich. Warum kommt Tim nicht zurück?“ Mulkenny wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Die Antwort ist einfach: Alles braucht seine Zeit. Vielleicht muß er diesen Narren, der von der Galeone aus allein an Land gegangen ist, erst davon überzeugen, daß er alles zu tun hat, was Tim ihm befiehlt. Manche
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Burschen sind störrisch und dickköpfig, die muß man erst bearbeiten.“ „Oder aber der Fremde hat Tim eins übergebraten, nicht umgekehrt“, meinte Reagan. „Wie wäre das?“ „Pest noch mal!“ rief Mulkenny. „Tim Scoby läßt sich nicht übertölpeln, nicht von einem Dutzend von Kerlen!“ „Er wird uns gleich rufen, damit wir gemeinsam mit ihm und der Geisel zu der Galeone pullen“, sagte ein dritter Mann, der auf den Namen Clackton hörte. „Dann kapern wir den Kahn, ohne daß auch nur ein Schuß fällt, und Henry reißt gewaltig die Augen auf, wenn er in den Hafen zurückkehrt.“ „Na, ich weiß nicht“, brummte Reagan. „Irgendwie bin ich nicht davon überzeugt, daß es klappt. Meiner Ansicht nach könnte die Galeone zu dem Konvoi gehören, der ja bald zurückkehrt, wie wir gehört haben. Wenn dieser Konvoi tatsächlich auftaucht, sind wir alle geliefert, dann gibt es keinen Pardon mehr für uns.“ „Feigling“, sagte Mulkenny verächtlich. „Wir haben die Geiseln, vergiß das nicht.“ Reagan beugte sich ruckartig vor und sah den Schotten feindselig an. „Wag es bloß nicht, mich noch mal so zu nennen. Ich hab mich nie gescheut, mit dem Feuer zu spielen, Mulkenny. Ich hab keine Angst, vor nichts und vor niemandem. Aber man soll den Bogen auch nicht überspannen, das weißt du so gut wie ich.“ „Trink“, sagte Mulkenny. „Und nimm das Leben nicht so ernst, du Griesgram. Die Galeone da draußen, das ist nie und nimmer ein Kriegssegler und auch kein Sklavenfänger. Das ist ein harmloser Kauffahrer, den wir, überrumpeln und bis zum Kielschwein ausnehmen, ehe er richtig merkt, was gespielt wird.“ Wieder lachten die anderen grölend. Clackton hieb sich vor Begeisterung sogar mit der Hand auf den Oberschenkel. „Na ja, mag ja sein“, sagte Reagan einlenkend. „Aber da bleibt immer noch die andere Gefahr - daß nämlich die Bewohner der Stadt aus den Bergen zurückkehren, wo sie sich meiner Meinung
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nach verkrochen haben, und versuchen, das Kastell zu stürmen.“ „Henry glaubt eher daran, daß sie irgendwo anders, an einer anderen Küste der Insel, noch kleine Schiffe oder Boote liegen haben, mit denen sie zu türmen versuchen. Deswegen rundet er die Insel und trachtet, sie abzufangen, diese schmutzigen Hurensöhne.“ Mulkenny nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas, dann fuhr er fort: „Aber gut, nehmen wir mal an, Henry irrt sich. Beim Henker, Reagan, laß das Volk doch anrücken, dann werden wir ihnen schon zeigen, zu was für einem feinen Tänzchen wir aufzuspielen verstehen. Sie haben nur ganz wenige Waffen, diese Kümmerlinge, und wenn wir sie mit zwei oder drei Kanonenkugeln bepflastert haben, werden sie jammernd die Flucht ergreifen.“ „Nur die, die dann noch laufen oder kriechen können, wolltest du wohl sagen“, warf ein anderer lachend ein. „Sie trauen sich nicht hierher“, sagte Clackton. „Sie haben ja schon gesehen, was für Teufelskerle wir sind. Daß wir vor nichts zurückschrecken. So ist mit denen noch keiner umgesprungen, wette ich.“ Reagan trank, setzte sein Glas ab und sagte: „Aber sie kennen sich auf der Insel und in der verfluchten Stadt hervorragend aus. Das ist ihr Trumpf. Sie können sich anpirschen, ohne daß wir es merken, Mann für Mann. Ich finde, daß die Rückseite der Festung nicht genügend gesichert ist.“ „Teufel, verdammter Mist!“ Mulkenny hieb mit der Faust auf den Tisch. „Jetzt fängst du damit schon wieder an! Wer soll denn an der hinteren Mauer hochkriechen? Eine Eidechse würde das schaffen, sonst aber keiner. Wenn Tim jetzt hier wäre, würde er dir das Maul stopfen, denn er kann dein ewiges Genörgel noch weniger vertragen als wir.“ Reagan erhob sich. „Denkt doch, was ihr wollt“, sagte er wütend. „Ich tue jedenfalls das, was ich für meine Pflicht halte. Ich gehe noch mal nach hinten und sehe nach, ob auch alles in Ordnung ist.“
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„Zum wievielten Mal?“ fragte Clackton höhnisch. „Zum fünften, sechsten, siebten Mal?“ Reagan antwortete nicht darauf, sondern verließ verdrossen die Sala. Er öffnete die schwere Eichenholztür langsam, so daß sie kaum ein Geräusch verursachte, trat auf den Flur hinaus, warf einen Blick nach links und dann nach rechts — und erstarrte. Zwei Fremde stahlen sich den Flur entlang, schienen eben an der Tür der Sala vorbeigegangen zu sein und schickten sich nun an, die nächste Ecke zu umrunden. „Halt!“ schrie Reagan, lief den Männern nach und zog seine Pistole. „Stehenbleiben!“ Im Saal bückten sich Mulkenny, Clackton und die drei anderen verdutzt an. „Was ist jetzt los?“ fragte der Schotte. „Sieht der Kerl jetzt schon Gespenster?“ Er dachte daran, daß Reagan in seinen Augen ein Miesmacher und Dummkopf war, den er noch nie hatte leiden können. Das hämische Grinsen, das er aufgesetzt hatte, verschwand aber doch allmählich aus seinen Zügen. 7. Der Seewolf glaubte, einen schwachen Laut hinter seinem Rücken vernommen zu haben, und fuhr herum. Umberto Lando blickte über seine rechte Schulter zurück, und so entdeckten sie gleichzeitig die Gestalt des Mannes, der unverhofft hinter ihnen aufgetaucht war. Hasard handelte geistesgegenwärtig. Es hatte keinen Sinn, um die Ecke zu verschwinden und doch noch über die Treppe ins Gewölbe hinunterzulaufen. Der Pirat, der eben zu schreien begann, würde keine Mühe haben, seine Spießgesellen, die unten Wache standen, durch sein Gebrüll zu alarmieren. Mit vier langen Sätzen war Hasard bei Reagan, der seinerseits losgerannt war, und warf sich auf ihn, ehe dieser die Pistole zu zücken vermochte. Sie stürzten beide, überrollten sich auf dem Steinfußboden und rangen erbittert miteinander. Hasard
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konnte dem Mann die Pistole entwinden, sie rutschte ein Stück über den Fußboden und blieb dann liegen. Hasard wollte mit der Faust zuschlagen, doch Reagan war schneller und rammte ihm den Ellbogen gegen das Brustbein. Hasard keuchte Vor Schmerz. Die Laute der beiden kämpfenden Männer drangen bis zu Mulkenny, Clackton und den anderen Piraten. Mulkenny stand etwas schwerfällig vom Tisch auf und bewegte sich polternden Schrittes auf die offene Tür zu. Umberto war neben Hasard und Reagan, bückte sich und hieb mit dem Kolben des Drehlings zu. Reagans Bewegungen erstarben, sein Körper wurde schlaff. Er war in tiefe Ohnmacht gefallen. Der junge Portugiese hatte seinen Kopf genau an der richtigen Stelle getroffen. Hasard fand nicht die Zeit, sich für die Hilfeleistung zu bedanken. Er sprang auf, lief zur Tür der Sala und riß seine Doppelläufige aus dem Gurt. Er sah den nächsten Piraten aus der Tür treten, hob die Pistole und zielte auf dessen Brust. Mulkenny blieb stehen wie vom Donner gerührt, dann wich er langsam in den Raum zurück. Hasard folgte ihm: Clackton und die beiden anderen, die am Tisch saßen, fuhren erschrocken hoch und griffen nach ihren Waffen. „Hoch die Hände!“ sagte der Seewolf laut. „Keine falsche Bewegung, oder es kracht!“ Er schritt langsam auf den Kamin zu und paßte auf, daß er die Kerle nicht für einen Moment aus den Augen ließ. Sie standen da und zauderten, aber ein Ruf Mulkennys würde genügen, daß sie in dem Glauben, sich gegen den einzelnen Mann leicht zur Wehr setzen zu können, ihre Pistolen und Entermesser herausholten. „He, du!“ sagte Hasard zu dem Mann am Kamin, der ihn wie einen Geist aus einer fremden Welt anstarrte. „Steh auf und geh zu den anderen. Na los, wird’s bald? Bleibt alle fünf am Tisch stehen, ja, so ist es recht.“ Der Pirat gehorchte. Mulkenny hatte sich halbwegs gefaßt, er wandte, während er die Hände hob,
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vorsichtig den Kopf und blickte zu seinen Kumpanen. „Hört ihr, wie gut er Englisch spricht? Das ist ein Engländer, sage ich. Den kann nur der Henker persönlich geschickt haben.“ „Das ist doch der, der mit dem Boot an Land pullte“, sagte Clackton. „Hölle und Teufel, was ist mit Tim passiert?“ „Er ist mein Gefangener“, erwiderte Hasard. „Er hielt sich für zu schlau, das war sein Fehler.“ „Wer bist du?“ fragte Mulkenny verblüfft. „Das steht hier nicht zur Debatte. Ich bin ein Kauffahrer.“ „Aber nicht unter spanischer Flagge“, sagte Mulkenny aufbrausend. „Maul halten!“ rief Hasard und richtete die Pistole wieder auf seine Brust. „Achtung“, sagte Clackton. „Da ist noch einer.“ Sie blickten zur Tür. Umberto war erschienen. Er hatte sich davon überzeugt, daß Reagan so bald nicht wieder aufwachen würde, und jetzt richtete er den Radschloß -Drehling auf die Versammlung der angetrunkenen, entgeisterten Kerle. „Dreht euch jetzt um!“ befahl Hasard. „Umberto, du kehrst auf den Flur zurück und hältst sie von dort aus in Schach“, sagte er auf spanisch zu dem jungen Mann. Er wandte sein Gesicht wieder den Piraten zu und sagte in seiner Muttersprache: „Wir gehen gemeinsam zu den Kerkerzellen hinunter. Ihr überzeugt eure Kameraden davon, daß es besser ist, keinen Widerstand zu leisten.“ Er beschrieb eine Gebärde zu Mulkenny hin. „Wenn sie dennoch einen Ausfall gegen uns unternehmen, stirbst du als erster.“ Mulkennys Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse, in der sich Haß und Verzweiflung abwechselten. Im nächsten Moment aber hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte: „Augenblick mal, langsam, langsam. Leute, hört her. Von diesen zwei Hurensöhnen lassen wir uns nicht reinlegen. Sie haben hoch gesetzt, aber falschgespielt. Ihre Würfel sind gezinkt, kapiert ihr das? Sie haben nur zwei Schuß, und sie können vielleicht zwei von uns ankratzen, wenn wir uns auf den
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Boden werfen und zurückfeuern – dann aber sind sie dran.“ „Vorsicht!“ rief Hasard. „Wir haben acht Schüsse, von denen fünf garantiert ihr Ziel treffen.“ Er rückte näher auf das flackernde Kaminfeuer zu. Er ahnte, was folgen würde, und er wußte, daß Mulkenny die Lage richtig beurteilte. Er würde aufs Ganze gehen und zweifellos siegen, denn wenn Hasard es auch schaffte, die beiden Läufe seiner Radschloßpistole leer zu feuern – Umberto brachte nur einen Schuß aus dem Drehling heraus. Es war eine recht umständliche Angelegenheit, die Trommel mit der Hand weiterzutransportieren. Bis er das schaffte, hatten ihn die wüsten Kerle bereits erledigt, denn er hatte mit dem Drehling nicht die Übung wie Hasard und seine Männer. Hasard griff in die Tasche. Mulkenny grinste. „Seht mal, er kapiert es auch. Schön, er hat eine doppelläufige Pistole. Vielleicht kriegt er beide Ladungen raus. Aber der andere Bastard schickt nur eine Kugel aus seinem Schießprügel, das schwör ich euch. Ich kenne die Art von Waffe. Also los, auf was warten wir? Seht sie euch genau an, die beiden Bastarde. Sie haben jetzt Angst. Sie haben sich auf etwas eingelassen, das zu groß für sie ist.“ Hasard hielt eine der Flaschenbomben in der Hand, bückte sich und entzündete die Lunte an der Flamme des Kamins. Er richtete sich schnell wieder auf und sagte: „Wenn ihr nicht augenblicklich gehorcht, jage ich euch mit dieser Flasche in die Luft!“ Er kalkulierte die Distanz, die zwischen ihm und dem Tisch lag. Sie war groß genug, Umberto und er würden nicht verletzt werden. „Was ist denn das?“ schrie Clackton. „Eine idiotische Flasche mit ein bißchen Pulver drin und einer Lunte im Hals!“ „Mummenschanz!“ brüllte Mulkenny. „Bauernfängerei! Alles nur Betrug, er kann uns nichts anhaben! Los!“ Er warf sich als erster hin und zog im Fallen seine Pistole. Clackton hechtete unter den Tisch, hatte seine Miqueletschloß-Pistole ebenfalls aus dem
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Gurt und rutschte bäuchlings ein Stück auf dem glattpolierten Fußboden entlang. Dann schoß er gleichzeitig mit Mulkenny. Der dritte Pirat sprang auf Umberto zu und legte mit seiner Pistole auf ihn an, der vierte kauerte sich hinter die Tischplatte, der fünfte versuchte, eins der Fenster zu erreichen, um es aufzureißen und seine beiden Kumpane auf dem Söller zu alarmieren. Umberto wich von der Tür auf den Flur zurück und gab einen Schuß in den Raum ah. Donnernd gingen die Ladungen der Waffen los. Pulverqualm stieg auf und breitete sich nach allen Seiten aus. Hasard ließ sich zu Boden sinken und schleuderte, noch ehe er hinter einem Stuhl in Deckung ging, die Höllenflasche. Sie stammte wie alle anderen Flaschenbomben aus der Werkstatt von Ferris Tucker und enthielt Pulver, Blei, Eisen und Glas. Aus dieser Bastelei, die zu Anfang, als Ferris sie entwickelt hatte, eher banal und untauglich gewirkt hatte, war im Laufe der Zeit eine mörderische Waffe geworden, die die Seewölfe allerdings nur einsetzten, wenn sie keine andere Wahl hatten. Die Flasche landete mit einem dumpfen Laut auf der massiven Tischplatte und ging den Bruchteil eines Augenblicks später hoch. Hasard warf sich hinter dem Stuhl platt auf den Boden, Umberto prallte auf dem Flur bis zur Außenwand zurück und duckte sich unwillkürlich. Deswegen konnten sie beide nicht sehen, wie der schwere Kastanienholztisch auseinanderflog. Sie hörten nur den gewaltigen Knall der Explosion, der ihr Gehör betäubte, und schützten ihre Köpfe mit den Händen, weil die Trümmerstücke quer durch den Saal und bis hinaus auf den Flur flogen. Hasard kriegte ein Stück von der Tischplatte gegen die Beine, durch seine rechte Wade fuhr ein krampfartiger Schmerz. Die Detonation ließ den Fußboden wackeln und warf die Stühle um, auch den, hinter dem der Seewolf Deckung gesucht hatte. Er kippte mit seiner Rückenlehne gegen die Raumwand. Die Holztäfelung platzte an einigen
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Stellen, die Gemälde großer Meister der Renaissance fielen von den Wänden, und der Luftdruck fegte derart heftig durch die Sala, daß das Kaminfeuer wild aufloderte und die Funken stoben. Ein schwerer Kronleuchter löste sich aus seiner Verankerung unter der Balkendecke und krachte zu Boden. Der Mann am Fenster wurde durch die Druckwelle vollends gegen die Bleiglasscheiben gestoßen. Das Glas zerbrach klirrend. Der Pirat wurde wie von einer unsichtbaren Macht durch die Öffnung gehoben und in den Festungshof hinunterbefördert. Der Donner der Explosion und sein gellender Todesschrei ließen die beiden Wächter auf dem Söller herumfahren. Entsetzt verfolgten sie, wie ihr Kumpan auf die Katzenköpfe des Hofes schlug und sich dort das Genick brach. Sie liefen von den Kanonen zur Treppe, eilten die Stufen hinunter und trachteten, den Hof zu überqueren und ins Hauptgebäude zu gelangen. Hasard erhob sich. Er hatte die Doppelläufige weggesteckt und zog zwei weitere Flaschenbomben aus den Taschen. Umberto und er hatten immer noch vier Piraten gegen sich, und in der Wahl der Waffen gab es jetzt keine Alternative mehr. Er hielt die Lunten in die züngelnden Flammen des Kamins, sprang über die Trümmer und war an dem zertrümmerten Fenster. Mit einem Seitenblick gewahrte er, daß Mulkenny, Clackton und der dritte Pirat, der sich hinter dem Tisch verschanzt hatte, tot waren. Wo war der vierte? Hasard beugte sich aus dem Fenster und warf die zweite Höllenflasche. Sie flog in den Hof hinunter und landete genau zwischen den beiden Piraten, die jetzt zu ihm aufschauten und mit Musketen auf ihn anlegten. Hasard sah die Stichflamme, die aus der Flasche aufzuckte, und er hörte die Schreie der Männer, dann wandte er sich bereits wieder von dem Fenster ab und stürmte durch den Saal, der den Anblick eines Schlachtfeldes bot.
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Er erreichte den Flur und sah den vierten Piraten, der, von Umbertos Schuß tödlich getroffen, neben Reagan zusammengebrochen war. Der junge Portugiese kauerte mit schmerzverzerrtem Gesicht bei dem Bewußtlosen und dem Toten. Hasard lief an ihnen vorbei über den Flur. Die Wade tat noch weh, behinderte ihn aber nicht beim Laufen. Er warf einen Blick auf die Lunte, beschleunigte seine Schritte, umrundete die Ecke und hielt auf die Treppe zu, die in den Kerker hinunterführte. Dort, auf den Steinstufen, waren jetzt die hämmernden Schritte der Gefangenenwärter zu vernehmen. Die dritte Flaschenbombe hatte eine längere Zündschnur als die ersten beiden, sonst wäre sie längst hochgegangen. Hasard warf sie in den Treppenschacht und konnte hören, wie sie die Stufen hinunterrollte. Die Flasche bestand aus außerordentlich dickem Glas, das jedem Aufprall trotzte. Hasard blieb stehen und zog die Reiterpistole und eine der Pistolen, die er von Tim Scoby erbeutete hatte. Er wich nach links hin zur Wand aus, lehnte sich dagegen und wartete ab –und da zerbarst das Glas der Flasche unter der immensen Wucht der Explosion. Die Schreie der Piraten gingen in dem Donner unter, der durch das ganze Gebäude rollte. Feuer und Rauch stoben aus dem Treppenaufgang hoch. Wieder bebten Fußboden und Wände, aber nur für kurze Zeit, dann trat Ruhe ein. Hasard wandte sich um, denn er hatte eine Regung hinter sich bemerkt. Er sah Umberto — der junge Mann stand neben der Ecke, mit aschfahlem Gesicht, versucht, ein erleichtertes Grinsen zu zeigen, was ihm jedoch mißlang. „Dios“, sagte er. „Mein Gott, was sind das für Wunderwaffen?“ „Flaschenbomben“, erwiderte der Seewolf. Er verengte die Augen und blickte auf Umbertos linken Arm, von dem Blut troff. „Was ist los? Ist es schlimm?“ „Nur ein Kratzer“, erwiderte Umberto gepreßt. „Nicht weiter der Rede wert. Der,
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den ich erschossen habe, konnte mit seiner Pistole noch auf mich feuern, aber glücklicherweise hat er nicht so gut gezielt.“ „Ehrlich?“ „Ganz ehrlich“, sagte Umberto. „Wo ist das Tau?“ „Es liegt noch auf dem Flur, wo ich es zurückgelassen habe.“ „Traust du dir zu, den Bewußtlosen damit zu fesseln?“ fragte Hasard. „Ja, natürlich.“ „Dann erledige das. Anschließend befreist du die Gefangenen aus dem Kerker. Ich gehe in den Hof hinunter und sehe vorsichtshalber nach, ob die zweite Bombe auch ihre gewünschte Wirkung getan hat.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er fort und suchte nach der Treppe zum vorderen Burghof, die er dank der Beschreibungen, die Umberto ihm vorher gegeben hatte, auch sofort fand. 8. Die Befürchtungen, die er im stillen hegte, bewahrheiteten sich nicht: Keiner der beiden Piraten vom Söller hatte die Explosion überlebt. Der Gründlichkeit halber kontrollierte Hasard auch noch, wie es um den Kerl bestellt war, der aus dem Fenster gestürzt war. Schnell hatte er sich davon überzeugt, daß ihnen auch dieser Mann keinerlei Schwierigkeiten mehr bereiten würde. Erst jetzt atmete er auf und begann, sich aufmerksam auf dem Hof umzusehen. Er gewahrte einen Fahnenmast in der Nähe des großen, überdachten Tores und sah die schwarze Flagge, die im Schutz der Mauern träge hin und her schlug. Zwei gekreuzte Säbel waren mit weißem Garn deutlich sichtbar auf diesem Stück Tuch eingestickt, und somit kannte der Seewolf nun auch Lord Henrys Panier, das von Scoby und den anderen hier gehißt worden war: die Flagge des Todes. Er schritt zu dem Fahnenmast, holte die schwarze Flagge nieder, begab sich auf die Suche nach zwei kleineren Signalflaggen und geriet dabei in einen niedrigen Anbau,
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in dem er zunächst etwas Schockierendes entdeckte. Die Leichen von Offizieren und Soldaten waren hierher geschleppt und einfach auf den Boden gelegt worden. Er zählte nicht, wie viele Tote es waren. Er hoffte nur, daß Umberto Lando im Kellergewölbe der Festung wenigstens noch ein paar seiner Landsleute befreien konnte. Nicht wenige waren es gewesen, die dem Angriff der Piraten trotz der Geiselnahme Widerstand geleistet hatten. Sie hatten mit ihrem Leben dafür bezahlt. Hasard fand zwei weiße Signalflaggen und kletterte damit auf den Söller. Er blieb neben einem der schweren eisernen Siebzehnpfünder stehen, hob die Flaggen und fing an, die Zeichen zu geben, auf die die Männer der „Isabella“ sicherlich schon voll Ungeduld warteten. Während er Ben, Shane, Ferris, Carberry, den O’Flynns, Smoky und all den anderen auf diese Art mitteilte, was er ihnen zu sagen hatte, richtete er seinen Blick nach Osten. Eine Veränderung der Wetterlage war eingetreten. Der Wind blies kräftiger und jetzt aus östlicher Richtung. War dies noch der Passat oder schon der Harmattan, der heiße, staubtrockene Bruder des Passats, .der an manchen Tagen aus der Sahara herüberwehte und alles mit salzkornfeinem Wüstensand überzog wie beispielsweise der „Libeccio“ in den südeuropäischen Mittelmeerregionen? Egal, dachte er, auf jeden Fall wird das Wetter nicht besser. Von Afrika näherten sich Wolkenbänke mit burgzinnenartigen Quellungen, die bewiesen, wie sehr auch die freundlichen Federwolken täuschen konnten, die noch am frühen Morgen anhaltend gutes Wetter versprochen hatten. Hasard ließ die Signalflaggen sinken und drehte sich um. Männer traten vom Hauptgebäude auf den Festungshof: Umberto, die Offiziere und die Soldaten, die soeben aus dem Kellerverlies befreit worden waren–insgesamt etwa zwei Dutzend Männer, deren verwunderte
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Blicke sich auf das richteten, was von den drei Piraten übriggeblieben war. Ausgezeichnet, dachte der Seewolf, das Empfangskomitee für Lord Henry wird immer größer. Je größer und stärker, desto besser. Jetzt fehlen nur noch die Flüchtlinge aus den Bergen, dann sind wir komplett. Er zweifelte keinen Moment daran, daß der englische Pirat den Explosionsdonner der Höllenflaschen vernommen hatte, ganz gleich, an welchem Punkt der Insel er sich derzeit befand. * Hasard ließ Elena Vicente und Tim Scoby durch seine Männer aus der Taverna abholen und zur Festung hinaufbringen, deren Tor jetzt von den portugiesischen Soldaten weit geöffnet worden war. Scoby und Reagan wurden in den Kerker gesperrt. Umberto Lando begab sich auf den Weg in die Berge, um die Männer, Frauen und Kinder, die dort in ihrem Versteck immer noch einem ungewissen Schicksal entgegenbangten, von den Neuigkeiten zu unterrichten und sie in die Stadt zurückzuholen. Innerhalb einer Stunde würden sie mit ihren wenigen Habseligkeiten, den Pferden, Maultieren und Waffen zurück sein, die sie hatten mitnehmen können. Dann würden sie sich in ihren Häusern verschanzen, um an der „Begrüßung“ teilzuhaben, die sich der Seewolf für Lord Henry ausgedacht hatte. Vor Ablauf dieser Stunde mußte auch im Hafen alles bereit sein für die unabwendbare Konfrontation mit dem Piraten. Es galt jetzt, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Die Lagebesprechung, die die Offiziere der Festung im Kastell anberaumten, fand im Arbeitszimmer von Don Olegario de Nunez statt. Ein Major namens Sirio de Falha hatte die Leitung übernommen. Er stand hinter dem breiten Intarsienschreibtisch und blickte die Anwesenden ernst an. Bei Hasard waren Ben Brighton, Big Old Shane, Ferris Tucker, Dan O’Flynn,
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Blacky, Sam Roskill und Matt Davies. Old Donegal Daniel O’Flynn hatte auf Hasards Anweisung hin vorläufig die Führung der „Isabella“ übernommen, die nach wie vor klar zum Gefecht auf ihrem Ankerplatz lag. „Allmächtiger, Sir!“ hatte Ben überrascht ausgestoßen, als er gesehen hatte, welche Schlacht der Seewolf mit seinen Flaschenbomben geschlagen hatte. „Was bist du doch für ein Teufelskerl! Kaum zu fassen, daß du das fertiggebracht hast - und dazu noch im Alleingang!“ „Das stimmt nicht ganz“, hatte Hasard gesagt. „Ich habe einen mutigen Helfer gehabt.“ Jetzt sprachen sie wieder spanisch und gaben sich Mühe, sich ganz wie Don Carlos Guido Y Spano und dessen Mannschaft von Handelsfahrern zu benehmen, um die einmal festgelegte Rolle auch jetzt nicht platzen zu lassen. „Senor“, sagte Hasard zu dem Major. „Ich bin fest entschlossen, dazubleiben und diesem Lord Henry ein für allemal das Handwerk zu legen. Durch seinen Unterführer Scoby wären meine Leute und ich um ein Haar in Teufels Küche geraten. Scoby hat nur den Fehler begangen, in seiner Selbstüberschätzung allein in der Taverna zu erscheinen - und dann sorgte Umberto Lando dafür, daß ich den Kerl angreifen konnte. Jetzt will ich Lord Henry spüren lassen, was es heißt, einen Spanier in eine Falle zu locken.“ Der Major räusperte sich. „Capitan, ich danke Ihnen für alles, was Sie getan haben, und für das, was Sie noch vorhaben. Aber vergessen Sie nicht, daß sich an Bord der Geleone der Freibeuter nach wie vor die Geiseln befinden - Don Amado Marcos und dessen Teniente, Don Olegario de Nunez, dessen Frau und Tochter sowie einige Offiziere aus der Festung, und, nicht zu vergessen, unsere Frauen und Mädchen aus der Stadt.“ „Richtig“, sagte der Seewolf. „Und, nicht zu vergessen, auch die zehn Negersklaven.“ De Falha hob überrascht die Augenbrauen. „Halten Sie das für so erwähnenswert?“
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„Ich bin ein Kaufmann zur See, der mit Sklavenfängerei nichts im Sinn hat, Senor“ entgegnete Hasard. „Ich erkläre mich gern bereit, alle Geiseln zu befreien, und ich weiß, daß Sie es ohne mich, meine Männer und mein Schiff nicht schaffen können. Aber ich stelle eine Bedingung.“ „Und die wäre?“ erkundigte sich der Major, zusehends konsterniert. „Daß die schwarzen Männer nach dem hoffentlich erfolgreichen Abschluß unserer Aktion eine Schaluppe und freies Geleit erhalten - zurück nach Afrika.“ „Das ist - ungeheuerlich!“ entfuhr es dem Offizier. „Das kann ich nie und nimmer zulassen!“ „Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen. Ich kann den Handel mit Sklaven nicht dauerhaft unterbinden, ich hin kein Übermensch. Aber ich kann verhindern, daß einige dieser armen Teufel die lange Reise in ein trauriges Schicksal antreten und diese Gelegenheit nehme ich wahr.“ „Sie setzen sich für diese - diese schwarzen Hunde ein, die zu nichts taugen und nur etwas leisten, wenn sie mit der Peitsche zur Arbeit angetrieben werden?“ rief der Major. „Herrgott, was sind Sie denn für ein Mensch, Capitan?“ Hasard blieb ruhig, aber seine Stimme klang kühl. „Vielleicht ein unverbesserlicher Idealist, Senor. Aber ich habe auch genügend Sinn für die Realitäten des Lebens. Auch für Sie habe ich mich eingesetzt, als Sie mit Ihren Leuten unten in den Kerkerzellen saßen, vergessen Sie das nicht. Sie haben allen Grund, mein Angebot anzunehmen.“ „Ja“, sagte Elena Vicente überraschend. „Nehmen Sie es an, Senor Mayor. Wenn Sie auf die Sklaven verzichten, stehen Sie vor Don Olegario und vor Don Amado immer noch besser da, als wenn Sie versuchen, die Geiseln aus eigener Kraft zu befreien - und dabei kläglich scheitern.“ „Schweigen Sie!“ herrschte de Falha sie an. „Zum Teufel, wer hat dieses Frauenzimmer überhaupt hereingelassen?“ „Ich“, sagte Hasard schlicht. „Darauf hat sie ein Anrecht. Sie hat auftragsgemäß die ganze Zeit über auf Scoby aufgepaßt. Sie
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hätte stattdessen auch einfach weglaufen können - und Tim Scoby hätte sich vielleicht befreit. So hat Elena Vicente ihren Beitrag zum Gelingen unseres Unternehmens geleistet. Man sollte ihren guten Willen durch Freundlichkeit belohnen.“ Elena lächelte; „Danke, Don Carlos. Ich schwöre dir, du bist das erste richtige Mannsbild, dem ich in meinem Leben begegne. Ich würde dir gern beweisen, wie sehr ich dich ...“ „Sprich nicht weiter“, unterbrach er sie lächelnd. „Den Rest kann ich mir schon denken. Und übertreibe bitte nicht so schamlos.“ Der Major wandte sich seinen Offizieren und Soldaten zu, die sich ein Grinsen kaum verkneifen konnten. „Himmel, dieser Mann ergreift Partei für Neger und Dirnen“, sagte er erschüttert. „Ich bereue schon, daß er uns befreit hat.“ „Dann können wir ja gehen“, meinte Hasard, drehte sich um und nickte seinen Männern zu. Sie schlossen sich ihm an, ohne ein Wort zu verlieren, und schritten mit ihm zur Tür. „Senor Mayor“, sagte einer der jüngeren Offiziere. „Verzeihen Sie, aber Sie sollten daran denken, daß die Piraten uns alle früher oder später auch getötet hätten, wie sie unsere Kameraden umgebracht haben. Oder zweifeln Sie daran?“ Der Major schluckte heftig. So hatte noch keiner seiner Untergebenen mit ihm gesprochen, und in einer derart verzwickten Lage hatte er sich auch noch nie befunden. Er war es gewohnt, Befehle zu empfangen oder auszuteilen, und war auf klare Verhältnisse eingestellt. Er fühlte sich erheblich überfordert. Hasard öffnete die Tür. „Adios, Senor Mayor“, sagte er. Der Major schluckte noch einmal und räusperte sich, dann rief er: „Warten Sie, Capitan!`` Der Seewolf drehte sich noch einmal zu ihm um. „Nun?“ In seinen eisblauen Augen tanzten tausend Teufel. „Ich habe es mir anders überlegt“, sagte Sirio de Falha, wenn es ihm auch
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unendlich schwer fiel. „Die Sklaven erhalten freies Geleit. Ich bin bereit, diesen Pakt mit Ihnen einzugehen, vorausgesetzt, alle Geiseln kehren unversehrt nach Ribeira Grande zurück.“ Plötzlich lächelte der Seewolf. „Sehr gut. Ich schlage vor, wir hissen als erstes wieder die schwarze Flagge der Piraten, aber nicht im Hof, sondern hoch oben auf dem Söller der Festung. Das wird Lord Henry gefallen.“ * Der Wind wurde böig und wühlte die See auf, höher stiegen die Wellen und wurden bald von gischtenden, sprühenden Kämmen gekrönt. Die Wolken trieben von Osten auf die Kapverdischen Inseln zu. Sie verbanden sich zu einer grauen Bank, die unerwartet schnell die Sonne verdeckte. Nur allzu deutlich winkten die Vorboten des aufziehenden Wetters, und immer wieder schickten die Männer an Bord der großen, namenlosen Galeone argwöhnische Blicke zum Himmel. . Die Galeone der Piraten hatte sich im Osten der Insel Santo Antao befunden, als der Donner der Explosionen im Hafen von Ribeira Grande erklungen war. Laut genug war das Grollen gewesen, kein Wind, und sei er auch noch so stark, hätte es ganz davontragen können. So hatte Lord Henry, der bislang verbissen an der Inselküste nach den Flüchtlingen geforscht hatte, sofort beschlossen, wieder Kurs auf die Stadt und den Hafen zu nehmen. Hoch am Wind segelte die Galeone, stark nach Backbord krängend, am Ostufer von Santo Antao entlang. Die schwarze Flagge mit den gekreuzten Säbeln flatterte in ihrem Groß topp. Lord Henry stand, tief verstrickt in seine Überlegungen, auf dem Achterdeck und hielt sich an der Querbalustrade fest, um im zunehmenden Rollen des Decks nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Was war geschehen? Es schien ein Gefecht gegeben zu haben. Waren Scoby und die anderen von den in die Stadt zurückkehrenden Flüchtlingen angegriffen
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Worden? Hatten die Portugiesen sich wirklich erdreistet, die Festung stürmen zu wollen? Offenbar schon, denn nur drei Böller hatten gekracht, und jetzt herrschte wieder Stille. Scoby, Mulkenny, Clackton, Reagan und die sieben anderen Kerle hatten es schon verstanden, rasch mit den Dons aufzuräumen. Sicherlich hatten sie auch neue Gefangene. Somit war das Ziel erreicht: Die Frauen und Mädchen von Ribeira Grande befanden sich in ihrer Gewalt. Sie konnten an Bord geholt und im Frachtraum angekettet werden wie die anderen. Dann würde die Galeone in See gehen, bevor der erwartete Konvoi aus Afrika eintraf und einen Strich durch die Rechnung der Piraten zog. Das Schiff hatte die nordöstliche Spitze der Insel passiert. Lord Henry ließ jetzt abfallen und ging mit seinem Dreimaster platt vor den Wind. Mit mehr Fahrt rauschte das Schiff dahin und brach mit seinem Bug die Wogen. Der Kurs lag nach Westen an, Ribeira Grande war nicht mehr fern. Einer der Meute, den alle nur Dark Joe nannten — wegen seiner dunklen Augen und seiner lockigen schwarzen Haare —, enterte das Achterdeck und rief seinem Anführer zu: „Henry, einer dieser Dons will dich unbedingt sprechen. Er hat die Hosen gestrichen voll, wie mir scheint, und die Angst bringt ihn halb um.“ „Laß ihn schmoren!“ schrie der wilde blonde Mann. „Ich will sein Flennen nicht hören!“ „Er hat etwas von Gold gesagt —Gold, das er dir geben will!“ Lord Henry grinste, ließ die Balustrade los und schritt auf Dark Joe zu, wobei er das Stampfen und Schlingern der Galeone durch Beinarbeit ausglich. „Das klingt schon besser!“ brüllte er im lauter heulenden Wind. „Ich werde ihm etwas von meiner Wertvollen Zeit opfern.“ Dark Joe lachte. „Es ist der große Dicke — der Festungskommandant, nicht wahr?“ „Ja. Er heißt Don Olegario de Nunez.” „Hölle, das vergeß ich immer wieder!“ rief Dark Joe. „Kann ja auch kein Spanisch wie
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du. He, was ist, wenn er dich durch sein Gerede nur an der Nase herumführen will?“ Lord Henry blieb neben ihm auf dem Niedergang stehen. „Dann schneide ich dem Hund als erstem die Gurgel durch. Den Kerl brauchen wir wohl nicht mehr. Wir brauchen nur die Weiber. Seine Tochter können wir besonders gut verkaufen, sie ist hübsch, hat große Brüste und einen prallen Hintern und wohl auch noch andere Qualitäten.“ „Warum überläßt du sie nicht mir—nur für eine Nacht?“ fragte Dark Joe begierig. „Das läßt sich einrichten“, erwiderte der Piratenkapitän. „Aber erst bei der Überfahrt in die Neue Welt.“ Er ahnte nicht, daß diese geplante Überfahrt, die ihm eine Menge Geld einbringen sollte, mehr denn je in Frage gestellt war. 9. In Ribeira Grande war alles für die entscheidende Stunde bereit. Umberto Lando war mit seinen Eltern an der Spitze des langen Zuges der Zivilisten aus den Bergen zurückgekehrt. Die mit Musketen, Arkebusen und Pistolen bewaffneten Männer hatten sich auf Hasards Anraten hin in der Taverna und in anderen, zum Hafen weisenden Gebäuden verschanzt. In der Hafenmeisterei hockten Soldaten, und auf dem Söller der Festung standen Stückmeister und Geschützführer an den geladenen Culverinen bereit. Major de Falha führte das Kommando. Nur einem Mann konnte er nichts befehlen: Blacky. Der unterstand nach wie vor Hasards Order, obgleich sich der Seewolf mit allen anderen an Bord der „Isabella“ zurückgezogen hatte. Der Seewolf hatte sich Tim Scobys Piratenmontur „ausgeliehen“. Wutschnaubend hatte Scoby im Kerker die Prozedur über sich ergehen lassen müssen. Der Kutscher hatte die Kleidung „gründlich entlaust und entfloht“, dann hatte sich Blacky als „Tim Scoby“ verkleidet. Um die Sache so echt wie
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möglich zu gestalten, hatte der Kutscher ihm sogar einen dunklen Schnauzer aus richtigem Pferdehaar an die Oberlippe geklebt. Blacky stand mit den Signalflaggen bereit, genau unter dem Mast mit der schwarzen Flagge, die gehißt worden war und kräftig im Ostwind flatterte und knallende Laute verursachte. Blacky wußte genau, was er zu tun hatte. Er würde sich der Zeichen bedienen, die englische Piraten zur Verständigung benutzten. Die begriff sicherlich auch Lord Henry auf Anhieb. Hasard und alle anderen Männer der „Isabella“ befanden sich wieder an Bord. Der Anker war gelichtet. Die Galeone trieb im Hafenbecken —scheinbar führungslos. Pete Ballie stand zwar auf seinem gewohnten Posten im Ruderhaus, doch er hatte die Anweisung, sofort in Deckung zu gehen, wenn sich die Galeone der Piraten in der Bucht zeigte. Auf dem Haupt-, Achter- und Vordeck hatte Hasard kräftig die Feuer in den Kupferbecken schüren lassen. Der Wind blies hinein und trieb die Flammen zusätzlich noch hoch. Dies wirkte, als sei tatsächlich Feuer an Bord ausgebrochen. Die „Isabella“ glich einem schwelenden Schiff nach einer verlorenen Schlacht — Lord Henry sollte den Eindruck gewinnen, seine Männer hätten den Dreimaster vom Söller der Festung aus mit den Kanonen außer Gefecht gesetzt. Ein paar „Tote“ lagen auf der Kuhl: Hasard, Ben Brighton, Shane. der Profos, Sam Roskill, Dan und noch ein paar andere. Die übrigen Männer hatten sich im Vor- und Achterkastell versteckt und warteten nur auf das Zeichen zum Angriff. Die „Isabella“ taumelte leicht im Kabbelwasser, die Körper der auf Deck ausgestreckten Männer wurden etwas hin und her bewegt. „Ich frage mich, ob dieser Bastard von einem Nachttopf-Lord auch wirklich aufkreuzt“, sagte der Profos. „Wenn- er Lunte riecht, gucken wir in die Röhre. Dann können wir hier bis zum Abend rumliegen, und es tut sich doch nichts.“
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„Nur Geduld, Ed“, sagte Hasard. „Der Kerl verläßt sich voll und ganz auf die Fähigkeiten von Scoby und den zehn anderen Männern. Er wird annehmen, daß sich Scoby mit den Bürgern der Stadt herumgeschossen hat und dabei natürlich Sieger blieb.“ „Richtig, und jetzt erscheint er, um nachzusehen, ob Scoby Gefangene geschnappt hat“, meinte Ben. „Ist gar nicht so schwer, sich in die Denkweise dieses Henry hineinzuversetzen.“ „Na, hoffentlich habt ihr recht“, brummte Carberry. Es behagte ihm nicht, tatenlos auf den Planken der „Isabella“ zu liegen. Er kam sich dabei ein wenig albern vor. „Eigentlich ist es schade, daß jetzt Engländer gegen Engländer kämpfen müssen“, sagte Sam Roskill. „Aber anders geht es wohl nicht.“ „Hör mal zu, Sam“, meldete sich Dan zu Wort. „Ich kann’s ja gut verstehen, daß du in Erinnerung an deine Zeiten als KaribikPirat eher für Lord Henry Partei ergreifen würdest als für die Portugiesen. Aber denk mal daran, daß der Kerl mit seiner Meute auch schon viele englische Mädchen entführt und an die Bordelle der Hafenstädte versilbert haben könnte. Einer, der mit Menschen handelt, schreckt nämlich vor nichts zurück.“ „Pfui Teufel!“ sagte Big Old Shane. „In meinen Augen ist jeder Mensch, der Sklaven fängt und verkauft, eine niederträchtige, schmutzige Ratte -Leute wie dieser de Falha nicht ausgeschlossen, der ja auch seine Finger. im Geschäft mit den Schwarzen zu haben scheint.“ „Schon gut“, sagte Sam. „So hab ich das eben nicht gemeint. In Ordnung, ich hab’s begriffen. Ein Kerl wie Lord Henry kann nicht als Landsmann angesehen werden, aber wir halten’s natürlich auch nicht mit den Dons.“ „Mir geht es nur darum, den Unschuldigen zu helfen“, erklärte Hasard. „Das wären die Negersklaven und die Frauen und die Mädchen von Ribeira Grande. Nicht zuletzt muß ich auch Umberto Landos Schwester Sandra retten, denn das bin ich meinem portugiesischen Freund schuldig.“
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Die Gefangenen der Freibeuter saßen im Frachtraum zusammengepfercht wie Tiere. Henrys Männer hatten sie angekettet und bewachten sie noch zusätzlich, als gäbe es eine Möglichkeit der Flucht, was in Wirklichkeit aber völlig ausgeschlossen war. In dem schwankenden Schiffsraum baumelte eine kleine Öllampe von einem der schweren Deckenbalken herunter. Sie verbreitete dämmriges, rötlichgelbes Licht. Lord Henry, gefolgt von Dark Joe, blieb am Niedergang stehen und ließ seinen Blick wandern. Mit den zehn Negern und den wenigen weißen Frauen und Mädchen war der Frachtraum nicht einmal zu einem Drittel ausgefüllt. Er brauchte noch viele Sklaven, sonst war die Ladekapazität des Schiffes nicht ausgenutzt, und die Überfahrt zur Neuen Welt lohnte sich nicht. Und wo sollte er sonst noch Menschen fangen, wenn nicht auf den Kapverden? Er hatte Santo Antao zu einem günstigen Zeitpunkt überfallen und erfahren, daß der Konvoi aus Ribeira Grande ausgelaufen war. Nur in einem Punkt hatte er sich verrechnet: Er hatte gehofft, im Kerker der Festung mehr Schwarze vorzufinden, die dort schon auf die Verladung nach Amerika warteten. Er hätte nun auch zu den Nachbarinseln Sao Nicolau, Boa Vista, Maio, Santiago oder Fogo segeln können, doch er wußte nicht, wie gut Sao Nicolau und Santiago, die größten, bewacht wurden. Das Risiko wollte er jetzt, nachdem er schon soweit war, nicht mehr eingehen. Auf den kleineren Eilanden hingegen lebten nur ein paar armselige Eingeborene, häßliche Menschen seiner Überzeugung nach, deren Verkauf ihm nichts einbrachte. Den besten Erlös brachten weiße Frauen und Mädchen, selbst so junge Dinger wie das zwölfjährige Mädchen, das neben den Huren Greta, Camilla und Viola festgekettet war und dessen Namen er noch nicht kannte. Als „hervorragendes Material“ stufte er auch die Tochter des
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Festungskommandanten und die schlanke, niedliche Sandra ein, die ihn bei seinem Erscheinen mit giftigen Blicken bedachte. Dark Joe wies auf Greta, Camilla und Viola und hatte ein spöttisches Grinsen aufgesetzt. „Sie haben erklärt, wir könnten sie ruhig losketten, sie würden sowieso nicht fliehen. Es gefällt ihnen bei uns ganz gut, sagen sie.“ „Laßt euch von denen nicht einseifen“, sagte Lord Henry und blickte auch zu den Wachtposten. „Das sind ausgekochte Hafenhuren, die euch auch ein Messer in die Kehle stecken würden, verstanden?“ „Ja“, antworteten die Piraten. „Sir“, sagte Greta, die ein bißchen Englisch konnte, zu Lord Henry. „Warum du so böse? Nimm mich mit in Kajüte. Willst du? Greta Sachen kann, von denen nur träumst.“ Er versetzte ihr einen Tritt mit dem Stiefel, daß sie aufschrie und sich zwischen ihre Leidensgenossinnen zurückzog. „Luder“, sagte er. „Ich weiß, was du willst. Mich reinlegen, nicht wahr? Ich soll denken, daß es dir gleichgültig ist, drüben in der Neuen Welt das zu tun, was du auch schon auf deiner Insel getan hast. Aber ich weiß, daß ihr alle drei höllische Angst habt, denn auf Tortuga oder anderswo, wo es die schlimmsten Piratenspelunken der Welt gibt, seid ihr eures Lebens nicht mehr sicher.“ Er wandte sich dem rundlichen Kommandanten Don Olegario de Nunez zu, der die Szene mit geweiteten Augen verfolgt hatte. Obwohl er kein Wort verstanden hatte, konnte der Portugiese sich in etwa ausmalen, welcher Dialog sich zwischen Lord Henry und Greta abgespielt hatte. De Nunez hatte Angst, gräßliche Angst vor dem Tod. Seine Frau und seine Tochter saßen zwischen den Frauen, und wenn er zu ihnen hinüberblickte, packte ihn fast das heulende Elend. „Was willst du von mir?“ fragte ihn Lord Henry auf spanisch. „Hören Sie, Senor“, sagte de Nunez. „Können wir darüber nicht in Ihrer Kammer sprechen?“
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Lord Henry grinste breit. „In meiner Kammer empfange ich sonst nur Weibsbilder, du Fettwanst. Also reden wir hier. Was ist dein Anliegen? Beeil dich, ich habe nicht viel Zeit mit dir zu verlieren.“ Der Kommandant warf einen unsicheren Blick zu Don Amado Marcos, zum Leutnant und zu den anderen Offizieren, die ihn mit wachem Interesse beobachteten. Das, was er zu sagen hatte, war nicht für ihre Ohren bestimmt, aber die Furcht vor einem raschen, grausamen Ende ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Er senkte die Stimme, hatte aber nicht sehr viel Hoffnung, daß sie ihn nicht verstehen würden. „Ich habe Geld“, sagte er. „Viel Geld. Gold- und Silbermünzen, fast alles Piaster.“ Lord Henry zog die Augenbrauen hoch. „Pieces of eight, Achterstücke. Das hört sich vielversprechend an. Wo?“ „Nicht auf Santo Antao, sondern zu Hause, in Lissabon“, erklärte Don Olegario. „Sie gehören Ihnen, Senor, wenn Sie mich und meine Familie dorthin bringen und uns ungeschoren lassen.“ „Comandante!“ schrie Don Amado Marcos außer sich vor Wut. „Was fällt Ihnen ein, diesem dreckigen Hund, diesem Galgenstrick, so etwas vorzuschlagen! Sind Sie wahnsinnig?“ De Nunez wandte den Kopf. „So können Sie mit mir nicht reden, Capitan. Schweigen Sie gefälligst!“ „Den Teufel werde ich tun! Was Sie da tun, ist schlimmer als Fahnenflucht! Sie wollen sich auf einen Handel mit dem Feind einlassen? Das wird noch ein Nachspiel haben, Mann, ich verspreche es Ihnen!“ „Sie haben gut reden!“ stieß Don Olegario ziemlich schrill aus. „Ihre Familie ist an Land und damit in Sicherheit!“ „Noch lange nicht, solange die Kerle in der Festung hocken!“ „Joe!“ brüllte Lord Henry. „Bring diesen Höllenhund zum Schweigen!“ „Außerdem geht es Ihnen erst in zweiter Linie um Ihre Frau und Ihre Tochter, Comandante!“ brüllte Don Amado. Er war
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ein großer und kräftiger Mann mit einem gepflegten Knebelbart, dem es im Gegensatz zu Don Olegario an Schneid nicht mangelte. „Zuerst denken Sie an sich, denn Sie schlottern ja vor Angst! Reißen Sie sich zusammen!“ Dark Joe trat vor ihn hin, bückte sich nach ihm und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Er holte noch einmal aus, doch der Hafenkapitän verstummte jetzt. De Nunez’ Frau und Tochter begannen zu weinen. Sandra Lando rief: „Es ist eine Schande, Comandante, daß Sie sich freikaufen wollen! Es wird einen Prozeß deswegen geben, und ich werde als Zeugin gegen Sie aussagen.“ Lord Henry drehte sich wütend zu ihr um. „Nein, das wirst du nicht, Herzchen, denn du kriegst keine Gelegenheit dazu. Und jetzt halt’s Maul, sonst kriegst du von Joe eine Ohrfeige, daß es nur so knallt!“ Sie schwieg, und er sah wieder den Festungskommandanten an. „Was deinen freundlichen Vorschlag betrifft, Don Dicksack, so wirst du mir freiwillig verraten, an welchem Platz in Portugal deine Gelder liegen.“ „Sie bringen mich also dorthin?“ fragte de Nunez aufhorchend. Der Piratenführer lachte verächtlich. „Einen solchen Umweg schlage ich jetzt nicht ein. Erst bei meiner Rückkehr laufe ich Portugal an - in zwei, drei Monaten vielleicht, aber deine Piaster werden dann immer noch dort sein.“ De Nunez fuhr -sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Und -und wir?“ „Deine beiden Weiber verscherble ich an ein Hurenhaus auf Tortuga, das mir gut bekannt ist ...“ „Nein! Das dürfen Sie nicht!“ „... und dich lasse ich über die Klinge springen“, sagte Lord Henry höhnisch. Don Olegarios Stimme hob sich zu einem Kreischen. „Niemals verrate ich Ihnen, wo mein Geld liegt! Niemals!“ Der Pirat beugte sich zu ihm nieder und sah ihm in die Augen. Sofort verstummte der Kommandant.
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„Du wirst es mir verraten“, sagte Lord Henry. „Ganz bestimmt. Ich weiß schon jetzt, daß du es tun wirst.“ 10. „Sie kommen“, sagte Major Sirio de Falha. „Das ist die Galeone der englischen Piraten.“ Sein Ausguck auf dem Söller der Festung hatte soeben das Schiff entdeckt, das sich unter Vollzeug von Osten näherte und im Begriff war, die Landzunge zu runden. Blacky lächelte. „Sehr gut, dann kann es ja losgehen. Würden Sie jetzt die Güte haben, sich mit Ihren Leuten zu verstecken, Mayor? Wenn der Ausguck von Lord Henry Sie entdeckt, ist für uns alles zu spät.“ De Falha behagte es nicht, Anordnungen von dem vermeintlichen Spanier entgegenzunehmen, aber was blieb ihm in dieser Lage anderes übrig? Er gab seinen Soldaten und Offizieren einen Wink, und alle duckten sich hinter die Zinnen der Festung. Blacky indessen blieb aufrecht stehen. Gleich mußten ihn die Piraten durch ihre Spektive sehen und ihn mit seinem roten Kopftuch, den Ohrringen, dem Schnauzbart, dem weit offenstehenden Hemd und dem Ledergurt mit den zwei Pistolen für Tim Scoby halten. Er wartete, bis die Galeone durch das graue, aufgerührte Wasser in die Hafenbucht segelte - jetzt wieder über Steuerbordbug liegend hoch am Wind -, dann hob er die Signalflaggen und begann, Lord Henry und seiner Meute durch Zeichen mitzuteilen, was sich ereignet hatte: daß nämlich eine spanische Galeone den Bewohnern von Santo Antao zu Hilfe gekommen wäre und er, Scoby, dieses Schiff mit drei Kanonenschüssen außer Gefecht gesetzt hätte. Drei gut gezielte Siebzehn-Pfünderkugeln konnten auf die geringe Entfernung durchaus ein so großes Unheil anrichten, wie Hasard und die anderen den Piraten vorzugaukeln versuchten. Es hatte eine Menge Tote gegeben. Die Überlebenden
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hatten es mit der Angst zu tun gekriegt und waren ins Wasser gesprungen. Sie waren an Land geschwommen und hatten sich zu den Portugiesen gesellt, die mittlerweile in die Stadt zurückgekehrt waren und mit Gewehren hinter den Fenstern ihrer Häuser lauerten. Die „Isabella“ trieb steuerlos im Hafenbecken und drohte vom Wind gegen die Felsen am Fuß der Festung gedrückt zu werden. Tim Scoby und seine Kumpane wagten sich vorläufig nicht aus dem Kastell, um das Schiff zu retten, denn die Portugiesen würden sie auf dem Hang zweifellos wie die Hasen niederknallen. Mit den Kanonen in die Stadt zu feuern hatte wenig Zweck, denn die Gegner konnten überall sein, und es hatte keinen Sinn, ganz Ribeira Grande jetzt noch dem Erdboden gleichzumachen. Lord Henry mußte die Situation retten, indem er die „Isabella“ mit einem Prisenkommando besetzte und dann mit beiden Schiffen drohend auf die Stadt zumanövrierte. All das versuchte Blacky den Piraten zu signalisieren. Er hatte nicht schlecht zu tun mit den Signalflaggen, sie flögen an seinen Armen pausenlos hin und her, auf und ab. Er grinste dabei zuversichtlich, um Lord Henry zu zeigen, wie stolz er darauf war, die „Isabella“ erobert zu haben. Sie lag praktisch griffbereit vor Henrys Nase, er brauchte nur noch zuzupacken. * Längst war die Galeone der Piraten gefechtsbereit und Lord Henry auf das Achterdeck zurückgekehrt. Er richtete selbst sein Spektiv auf die Festung und sah den Mann, der unablässig mit den Flaggen hantierte. Er sah auch die schwarze Flagge mit den gekreuzten Säbeln, die munter im Wind flatterte. „Scoby, dieser Satansbraten“, sagte er lachend zu Dark Joe. „Er hat den Spanier da geknackt und den Rest der Besatzung in die Flucht geschlagen, aber jetzt versperren ihm die Portugiesen von der Stadt aus den Weg zum Schiff.“
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Dark Joe entblößte grinsend seine schadhaften Zähne. „Na, das ist doch für uns kein Problem. Der Spanier ist ein Narr, daß er seinen Kahn aufgegeben hat. Was ist denn das - ein Kriegssegler?“ „Nein, natürlich nicht“, erwiderte Henry, der jetzt einen Blick auf die „Isabella“ warf. „Sonst wären die Burschen nicht so fix abgehauen, das steht fest. Das ist ein Kauffahrer, der keine große Erfahrung im Kämpfen hat. Woher er auch stammt und wer ihn auch gerufen hat - er gehört uns.“ „Ein -schmucker Kasten“, sagte Dark Joe anerkennend. „Sieh dir doch die langen Masten und die sehr flachen Aufbauten an. Das ist eine fortschrittliche Bauweise. Ein wendiges, schnelles Schiff. So was können wir brauchen.“ „Für Raubzüge in der Karibik“, sagte Lord Henry. „Wir werden die Dons angreifen.“ Das war schon immer sein Traum gewesen. „In ihren Kolonien. Mit einem Schiff allein ist das fast unmöglich, aber mit zwei großen Galeonen haben wir schon einen kleinen Verband.“ Er ließ das Rohr sinken und sah zu dem Schwarzhaarigen. „Aber woher kriegen wir die Besatzung für den Kahn?“ „Wir haben doch schon ein paar Portugiesen an Bord“, sagte Dark Joe, ohne zu überlegen. „Statt sie gleich zu töten, treiben wir sie zur Decksarbeit auf der spanischen Galeone an. Den Rest der Mannschaft holen wir uns aus der Stadt. Wer sich weigert, wird auf der Stelle erschossen.“ „Eine gute Idee“, meinte Lord Henry. „Die läßt sich verwirklichen. Also los! Wir gehen bei dem Spanier längsseits, ehe er gegen die Felsen prallt und zerschellt. Wir besetzen das Schiff mit einem Enterkommando, gehen dann mit beiden Schiffen an die Stadt heran und nehmen sie unter Beschuß, bis die Portugiesen endgültig ihre verdammte Nase voll haben.“ Er wandte sich der Kuhl zu, um seinen Männern die nötigen Kommandos zum Manövrieren zu geben. *
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Für Hasard, Ben, Shane, den Profos und die anderen, die auf dem Hauptdeck der „Isabella“ lagen, war die Galeone Lord Henrys nur als ein großer, drohender Schatten wahrzunehmen, der sich von Nordosten näherte und sich dann zwischen ihr Schiff und die Festung schob. Knarrend berührten die Fender des Piratenschiffes die Bordwand der „Isabella“, Enterhaken flogen und krallten sich hinter dem Schanzkleid fest. Blinzelnd öffneten die „Toten“ die Augen und sahen nun auch die Gestalten, die über das Schanzkleid an Bord sprangen. Ein Mann, auf den die Beschreibung paßte, die Elena Vicente von Lord Henry geliefert hatte, war nicht dabei, wie Hasard sofort registrierte. Angeführt wurde der Trupp vielmehr von einem nicht sonderlich großen, krummbeinigen schwarzhaarigen Kerl, der sich aufmerksam nach allen Seiten umschaute. Er näherte sich dem Seewolf. Hasard ließ ihn ganz dicht heran, dann entwickelte er Aktivitäten, die Dark Joe völlig überraschend trafen. Ehe er es sich versah, wurden ihm die Beine unter dem Leib weggerissen, und er lag auf den Planken. Ein einziger Schlag traf seine Schläfe, so hart, daß er augenblicklich das Bewußtsein verlor. Hasard war aufgesprungen und wandte sich dem nächsten Piraten zu, der ihn völlig verdattert anstierte. Dies war das Zeichen - auch Ben, Shane, Dan, der Profos und die anderen wurden jetzt lebendig. Carberry rammte einem Widersacher fluchend den Kopf in die Magengrube, hob ihn ein Stück hoch und beförderte ihn übers Schanzkleid weg zurück auf die Piratengaleone. Ben Brighton trat einem Kerl, der sich gerade verwundert über eins der Feuer gebeugt hatte, die es angeblich zu löschen galt, mit voller Wucht in den Hintern, so daß dieser gegen den Großmast prallte und daran zu Boden sank. Doch dies war nur der Auftakt, jetzt folgte die ernstere Phase des Kampfes. Die Schotten vom Vor- und Achterkastell
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flogen auf und knallten gegen die Wände. Heraus stürmten die Seewölfe, die sich unter Deck verborgen gehalten hatten: Old O’Flynn, Smoky, der Kutscher, Batuti, Bob Grey, Luke Morgan, Jeff Bowie, Matt Davies - selbst die Zwillinge, die auch schon eifrig mitmischen konnten. Erstaunt beobachteten sowohl die Offiziere und Soldaten auf der Festung als auch die Zivilisten, die sich in der Stadt verbarrikadiert hatten, wie nun also auch Blondschöpfe und ein riesiger Neger über das Deck des „spanischen Kauffahrers“ fegten, jeden niederschlugen, der sich ihnen in den Weg stellte, und dann als lärmende Einheit auf Lord Henrys Galeone hinübersetzten. Hasard war als erster auf dem Achterdeck der Galeone, schoß mit der Reiterpistole einen glatzköpfigen Kerl weg, der ihn zu stoppen versuchte, indem er mit der Muskete auf ihn anlegte, hetzte weiter und arbeitete sich zu dem großen Blonden mit dem Bart vor, der inmitten einer Meute von zornig aufschreienden Kerlen stand. Hasard schoß noch einmal und traf wieder, dann warf er die leere Reiterpistole weg und zog den Degen. Auch auf dem Hauptdeck der Piratengaleone krachten jetzt die Schüsse. Die Piraten, die ihren ersten Schreck überwunden hatten, begegneten dem Angriff der Seewölfe mit massivem Einsatz. Jetzt mußte sich zeigen, wer der Stärkere war — und diesmal ohne Flaschenbomben, denn sonst hätten die Männer der „Isabella“ sich selbst gefährdet. Hasard hoffte inständig, daß bei diesem Gefecht keiner seiner Männer ernsthaft verletzt wurde. Wenn es ihm gelang, Lord Henry zu fassen, konnte er ein größeres Blutvergießen verhindern. Big Old Shane fegte hinter dem Seewolf den Niedergang hoch, und gemeinsam nahmen sie den Kampf mit dem Pulk von Kerlen auf, die sich ihnen entgegendrängten. Ein hochgewachsener Rotschopf, der einen breitkrempigen schwarzen Hut trug, versuchte, Shane von hinten anzugehen,
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doch sein heimtückischer Anschlag wurde vereitelt: Plötzlich wirbelte ein Belegnagel aus den Besanwanten der „Isabella“ nieder und traf mit trockenem Laut den Hinterkopf des Kerls. Der Hut konnte die Härte des Aufpralls nicht dämpfen — das solide englische Eichenholz, aus dem der Koffeynagel hergestellt war, brachte den Rotschopf zu Fall. Arwenack hatte geworfen und getroffen. Vergnügt keckernd hüpfte der Schimpanse in den Webeleinen. Sir John, der karmesinrote Aracanga, flog über ihm hin und her und stieß wilde Flüche aus, auf englisch und auf spanisch. Hasard gelang es, durch einen blitzschnellen Vorstoß eine Bresche in die Gruppe der Gegner zu schlagen. Er warf sich hinein, und Shane deckte ihm den Rücken. Er lief genau auf Lord Henry zu, drängte ihn zurück bis ans Schanzkleid der Steuerbordseite, wich einem pfeifenden Degenstreich aus und parierte die Klinge, die erneut auf ihn zuschoß. Dann zog der Seewolf alle Register. Lord Henry sah einen schwarzhaarigen Teufel, der auf ihn eindrang, und zum erstenmal seit langer Zeit ließ er jeglichen Mut sinken. Was war das für ein Kerl, der noch verwegener als er selbst einen solchen Überfall ausgeheckt hatte und nun durchführte—doch wohl kein spanischer Kauffahrer? Hasard zog den Degen zweimal kräftig durch die Luft. Mit dem ersten Streich holte er Lord Henry den Degen aus der Hand, mit dem zweiten schlitzte er ihm das Hemd quer über der Brust auf. Ein Sprung, und Hasard stand neben ihm am Schanzkleid und drückte ihm die Spitze seines Degens gegen die Kehle. „Streich die Flagge, Bastard“, sagte er auf englisch. „Ruf deinen Leuten zu, daß sie aufhören sollen, sonst gehst du über die Kante.“ „Wer bist du?“ fragte Henry bestürzt. „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew.“ „Killigrew? Der Seewolf? Himmel, wenn ich das gewußt hätte ...“ „Ich habe gesagt, du sollst kapitulieren, Lord Henry!“ rief Hasard drohend.
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„Laß uns gemeinsame Sache machen!“ „Mit einem Menschenjäger? Niemals!“ „Bist du mehr als ich?“ zischte der Blonde. „Nein. Du hast keinen Grund, aufzutrumpfen, du verdammter Hu ...“ Er unterbrach sich, denn Hasard hatte den Druck der Klinge etwas verstärkt. Ein Blutstropfen quoll aus Henrys Haut hervor, und er verspürte Schmerzen, stechende Schmerzen. „Aufhören!” brüllte Lord Henry. „Wir ergeben uns! Werft die Waffen weg!“ Wie erstarrt blieben die Piraten stehen. Das Wort ihres Anführers galt, auch jetzt, da man die nackte Haut retten mußte. Polternd fielen die Waffen - Säbel und Cutlasses, Pistolen, Tromblons und Musketen -auf die Planken. Hasard grinste seinen Gegner an. „Na also, es geht ja doch. Ich wußte, daß wir uns einigen würden.“ Er wußte aber auch, daß er sich einen neuen Todfeind geschaffen hatte. Das konnte er in Lord Henrys Blick deutlich genug lesen. * Die Sklaven wurden von Batuti, Shane und Matt Davies von ihren Ketten befreit, um die Frauen und Mädchen kümmerten sich Dan O’Flynn. der Kutscher und die Zwillinge. Ferris Tucker und der Profos erlösten den Festungskommandanten Don Olegario de Nunez und den Hafenkapitän. Amado Marcos, die heftig miteinander stritten, sowie auch die übrigen Offiziere. Greta, Camilla und Viola warfen sich den Seewölfen an den Hals und küßten sie, bis der Profos ein paar barsche Worte sprach und alle aus dem Frachtraum nach oben scheuchte. Ferris und Ed Carberry blieben noch eine Weile unten, weil sie - wie mit Hasard vorher abgesprochen -noch einen „Sonderauftrag“ auszuführen hatten. Die befreiten Gefangenen wurden auf die „Isabella“ hinübergebracht. Hasard stand noch bei Lord Henry, der fassungslos verfolgte, wie nun auch die schwarze
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Flagge von Sam Roskill niedergeholt wurde. Der Seewolf hatte ihm mittlerweile alles erzählt - auch, daß Tim Scoby und Reagan im Kerker des Kastells saßen. „Liefere mich nicht an die Portugiesen aus“, sagte Lord Henry „Herrgott, sie hängen oder erschießen mich.“ Hasard hatte den Degen sinken lassen und den Mann entwaffnet Er stand einen Schritt von ihm entfernt auf dem schwankenden Achterdeck „Gut, ich lasse dich reisen, ehe die Portugiesen auftauchen und dich gefangen nehmen“, sagte er zu Henrys Erstaunen. „Aber du mußt mir versprechen, dich nie wieder auf Menschenhandel einzulassen.“ „Das schwöre ich.“ „Sollten wir uns jemals wieder begegnen, Mister Henry, und du hast diesen Schwur gebrochen, bin ich nicht so nachsichtig“, warnte ihn Hasard. „Denk daran. So, und jetzt sieh zu, daß du Land gewinnst. Der Seegang ist nicht so stark, daß man nicht auslaufen könnte, vielleicht gibt es erst in der Nacht Sturm - oder überhaupt nicht.“ Er blickte von dem verblüfften Piraten zu Carberry und Tucker, die soeben grinsend auf dem Hauptdeck erschienen waren. Es wurde Zeit, die Galeone der Piraten zu verlassen. * „Wahnsinn!“ Mit diesem Wort empfing Major Sirio de Falha den Seewolf und dessen Männer auf der Pier, an der die „Isabella“ eine Viertelstunde später vertäut hatte. „Wie können Sie so was tun? Warum haben Sie diese Mörder und Galgenstricke freigelassen?“ Hasard trat ihm kalt lächelnd gegenüber. „Weil sie Engländer sind —wie wir. Weil ich nicht will, daß sie alle von euch Portugiesen hingerichtet werden. Das denn doch nicht, Senor Mayor.“ „Sie sind — Engländer?“ keuchte de Falha. „Ja. Philip Hasard Killigrew und seine Crew stellen sich vor.“ Hasard deutete eine Verbeugung an. „Ich darf die Maske jetzt ruhig fallen lassen, schätze ich.“
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„Killigrew — El Lobo del Mar“, stammelte de Falha. Dann drehte er sich zu seiner Garde um. „Nehmt diese Hunde fest!“ „Nein! brüllte Don Amado Marcos von Bord der „Isabella“. „Wir sind immer noch Geiseln, Mayor! Wir sind vom Regen in die Traufe geraten, denn die Männer hier halten uns an Bord ihres Schiffes fest!“ De Falha sackte der Unterkiefer weg. Umberto Lando hatte sich durch die Menschenmenge gedrängelt, die sich auf der Pier eingefunden hatte, und schritt jetzt auf den Seewolf zu. Er hatte jedes Wort verstanden, genau wie die anderen. Auch Elena Vicente versuchte, sich den Weg zu Hasard freizukämpfen. „Carlos!“ rief Umberto. „Verzeihung, ich meine — Hasard! Das kannst du uns doch nicht antun!“ „Das will ich auch nicht“, sagte der Seewolf ruhig. „Ich verlange nur Proviant und Trinkwasser und die versprochene Schaluppe für die zehn Schwarzen, dann lasse ich den Comandante, den Capitan und alle anderen frei, natürlich auch deine Schwester.“ Plötzlich mußte Umberto grinsen, er hatte begriffen. „Den Proviant schenkt dir mein Vater, Amigo. Und auch das mit der Schaluppe geht in Ordnung, bei Gott! Ich bin selbst auch nicht für den verfluchten Sklavenhandel, das kannst du mir glauben, aber in einer Stadt wie Ribeira Grande muß man mit den Wölfen heulen, wenn man leben will.“ „Das verstehe ich“, sagte Hasard. „Was ich nicht verstehe, ist, daß du Lord Henry mit einem blauen Auge hast verschwinden lassen.“ Hasard lachte und schüttelte den Kopf. ,;Nicht nur mit einem blauen Auge, mein Freund. Sieh doch mal, mit welchem Tiefgang die Galeone aus der Bucht segelt.“ Umberto blickte an Hasard und der „Isabella“ vorbei zu Henrys Schiff, das jetzt gerade die Spitze der Landzunge erreicht hatte. „Himmel, das ist ja — al diablo, das Schiff zieht jede Menge Wasser, wenn ich mich nicht täusche.“
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„Du täuschst dich nicht.“ „Es ist leck?“ „Weil meine Männer es angebohrt haben“, erwiderte Hasard und wies auf Carberry und Tucker, die diabolisch grinsend am Schanzkleid der „Isabella“ standen und auf die Pier hinunterblickten. Umberto lachte. Er wandte sich zu seinen Landsleuten um und mußte noch lauter lachen, als er die Miene des Majors sah. „Habt ihr das gehört?“ rief Umberto. „Lord Henry säuft ab!“ * Sie bemerkten es, als die Galeone auf offener See war und nach Westen drehte, um vor dem Wind davon zu segeln. Dark Joe brüllte es über Deck, Lord Henry blickte entsetzt über das Schanzkleid und sah, daß die Meereswogen den Berghölzern jetzt viel näher waren. Killigrew, du verfluchter Hund, dachte er, du hast mich hereingelegt, zweimal gleich, aber das wirst du mir eines Tages büßen. „Wir müssen zurück zur Insel!“ schrie Dark Joe. Lord Henry fuhr zu ihm herum, als er den Niedergang des Achterdecks enterte. „Zur Insel? Du Narr, willst du, daß die Portugiesen uns doch noch gefangen nehmen? Willst du wie Tim Scoby und Reagan enden oder wie Mulkenny, Clackton und die anderen?“ „Nein !“ „Dann bleibt uns nur eine Wahl. Wir müssen die Beiboote zu Wasser bringen und das Schiff aufgeben!“ Das leuchtete allen ein. Es war ihre einzige Chance zum Überleben. In fieberhafter Eile begannen sie, die Zurrings der zwei Beiboote auf dem Hauptdeck zu lösen. Sie rissen das gewachste Segeltuch von den großen Jollen. Lord Henry packte selbst mit zu, aber er begann zu fluchen, als er in die Boote sah. „Wo sind die Masten? Wo die Segel?“ brüllte er. „Ohne die schaffen wir es nicht weit! Sucht sie, zum Teufel noch mal!“ Seine Kerle suchten lange, und es nützte ihm nichts, daß er sie durch Hiebe und
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Tritte antrieb. Wer die kleinen Masten und die Segel der Boote verschludert hatte, ließ sich nicht feststellen. Dark Joe schob die Schuld auf Scoby, und wahrscheinlich war es wirklich Scoby gewesen, der das Zubehör der Boote irgendwohin geschafft hatte, aus welchem Grund auch immer. Endlich entdeckte Dark Joe die Masten und die Segel in einer Last. Eilends wurden die Masten eingesetzt und die Segel angeschlagen, aber jetzt sank die Galeone bereits, und das Wasser flutete vom Frachtraum ins Vorschiff und ins Achterschiff, sprengte die Schotten und schoß über die Kuhl. Das Schiff neigte sich nach Backbord, lag schwer in den Wogen, deren Kämme schon über das Schanzkleid sprangen, und ließ sich nicht mehr manövrieren. „Die Segel aufgeien!“ brüllte Lord Henry. „Die Boote abfieren!“ Als die Galeone schließlich ohne Fahrt in der aufgewühlten See lag und querzuschlagen drohte, stand Henry bis zu den Hüften im Wasser. Die Jollen waren außenbords, die Männer hatten sie nur noch über das Schanzkleid zu hieven und nicht mehr abzufieren brauchen. Mit einem letzten Blick auf sein einst so stolzes Schiff kappte der Piratenführer das letzte Tau, das die eine Jolle noch hielt. Dann ließ er sich vom Wasser mitreißen, schwamm zum Boot und kletterte hinein. Dark Joe wollte ihm dabei helfen, aber Henry schlug wütend seine ausgestreckte Hand beiseite. Sie setzten die Segel und liefen nach Westen ab, um dem Sog, der beim Untergang der Galeone entstand, so schnell wie möglich zu entgehen. So fuhren die Jollen der Piraten auf den offenen Atlantik hinaus, einem ungewissen Schicksal entgegen – und die Galeone sank auf den großen Friedhof des Meeresgrundes vor Santo Antao, sank mit ihrer schwarzen Flagge, die von Sam Roskill in die Segellast des Achterdecks gelegt worden war. *
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Der Proviant und das Trinkwasser waren an Bord der „Isabella“. Einen Teil davon hatten die zehn schwarzen Männer erhalten, die jetzt bereits in der Schaluppe saßen und auf die Abreise warteten. Sie wußten ein Schiff zu führen. Batuti hatte mit ihnen gesprochen und erfahren, daß sie Fischer an der Küste von Dakar gewesen waren, ehe die Portugiesen und Spanter sie gefangen hatten. Außer Don Olegario und Don Amado durften alle Offiziere von Bord der „Isabella“ an Land, desgleichen die Frauen und Mädchen. Sandra lief überglücklich zu ihrem Vater. Die Frau des Kommandanten zog ihre Tochter an der Hand mit sich fort, um so schnell wie möglich in die Festung zu gelangen. Greta Camilla und Viola hatten sich überschwänglich bei den Seewölfen für die Rettung bedankt, jetzt blieben sie lächelnd bei Hasard, Umberto und Elena stehen, die ganz vorn auf der Pier waren und sich voneinander verabschiedeten. „Ich hab’s geahnt, daß du kein Spanier bist“, sagte Elena Vicente seufzend zu Hasard. „Irgendwie hab ich’s gespürt. Du bist ein toller Kerl, Lobo del Mar. Dich würde ich gern für eine Nacht bei mir im Bett haben — kostenlos natürlich.“ „Also wirklich“, sagte Umberto. „Jetzt reicht’s aber.“ Elena küßte Hasard auf den Mund, dann entließ sie ihn zu Greta, Camilla und Viola, die sich ebenfalls bedanken mußten. Hasard hob zum Abschluß lachend beide Hände. „Genug, ihr bringt mich noch um!“ Sie wichen in gespieltem Entsetzen zurück, dann kicherten sie. Umberto nutzte die Gelegenheit, um zu Hasard zu gehen und ihm noch einmal die Hand zu schütteln. „Amigo, wir sehen uns eines Tages wieder, das weiß ich“, sagte er. „Bei uns zu Hause bist du ein gerngesehener Gast.“ Hasard sagte: „Danke. Bei den anderen Senores, die auf der Festung sitzen, wohl nicht, aber wen stört das schon?“
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„Ja“, entgegnete Umberto lachend. „Wen stört das schon?“ Hasard ging an Bord der „Isabella“, und bald darauf legten sie ab. Die „Isabella“ hatte eine Schaluppe im Schlepp, und auf diese Schaluppe wurden Don Olegario de Nunez und Don Amado Marcos entlassen, als die Galeone die Landzunge erreicht hatte. Vorsichtshalber gab der Seewolf ihnen erst jetzt die Freiheit wieder, als sie sich außerhalb der Reichweite der Festungskanonen befanden. Don Olegario und Don Amado pullten zu den Piers zurück — immer noch heftig streitend. Sie warfen sich die übelsten Schimpfwörter an den Kopf und drohten sich gegenseitig Prozesse und Disziplinarverfahren an. Die „Isabella“ verließ bei unruhiger See Santo Antao — gezwungenermaßen, denn jede Stunde konnte der Konvoi zurückkehren, den Hasard um jeden Preis meiden mußte. Die Schaluppe mit den zehn befreiten Sklaven folgte im Kielwasser. Sie kreuzten gegen den Ostwind und trennten sich erst vor Sal und Boa Vista, den am weitesten östlich liegenden Inseln des Archipels. Die schwarzen Männer winkten und riefen noch lange zur „Isabella“ hinüber, ihre Freude kannte kein Ende. Ben Brighton stand neben dem Seewolf auf dem Achterdeck. „Fein”, sagte er. „Somit haben wir auf Umwegen doch noch unseren Proviant erhalten. Läufst du jetzt die Kanarischen Inseln an?“ „Ja. Wir gehen auf Nordkurs und segeln weiter“, erwiderte Hasard. „Solange das Wetter es zuläßt, segeln wir, denn ich will so schnell wie möglich ins Mittelmeer.“ „Hoffentlich gibt es keinen Sturm“, sagte Ben. „Hoffentlich nicht“, wiederholte Hasard. In Gedanken war er schon wieder bei den rätselhaften Karten, deren Geheimnis es zu entschleiern galt...
ENDE