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Karl-Heinz Tuschel Kurs Minosmond Band 207 In einem märkischen Dorf wird ein Mann tot aufgefunden, der anscheinend kerngesund war; eine Gruppe unbescholtener Bürger glaubt plötzlich fliegen zu können und bringt sich in höchste Gefahr; ein Bildhauer zerschlägt in wildem Zorn eine Skulptur, die er selbst geschaffen hat … Wenzel Kramer soll all diese mysteriösen Fälle aufklären. Unterstützt wird er dabei von der jungen Pauline Fouquet, die ihm auch als Frau nicht gleichgültig ist. Doch dann lernt er Sibylle Mohr kennen, die den großen Streit der Wissenschaftler um ein Projekt schlichtet, das schließlich zur Besiedlung unserer Nachbarplaneten beiträgt. Und Wenzel begreift allmählich, daß ein Zusammenhang besteht zwischen seinen Recherchen und Fragen der Menschheit, die das gesamte Sonnensystem betreffen.
Karl-Heinz Tuschel
Kurs Minosmond Wissenschaftlich-phantastischer Roman
Verlag Neues Leben Berlin
Mit Illustrationen von Karl Fischer
ISBN 3-355-00165-1 © Verlag Neues Leben, Berlin 1986 Lizenz Nr. 303 (305/332/86) LSV 7503 Einband: Karl Fischer Typografie: Katrin Kampa Schrift: 11 p Garamond Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30 Bestell-Nr. 644169 6 00810
1 Der Tote lag in einer Blutlache. Pauline hielt sich am Türrahmen fest. Ich bin dreiundzwanzig und habe noch nie einen Toten gesehen, dachte sie. Dann fiel ihr ein, daß das nicht stimmte. Im vorletzten Jahr, während ihrer Ausbildung für den Ordnerdienst, hatte sie sogar zwei Tote gesehen, bei der Obduktion; für sie waren es freilich Namenlose gewesen. Das hier aber war Onkel Otto, den sie von klein auf gekannt hatte, Onkel im Kindersinn und später guter Nachbar und mehr; das war Otto Mohr gewesen, etwas über fünfzig, Glasgestalter, Feinmechaniker, Tierzüchter – gestern war er alles noch gewesen. Oder vielleicht sogar heute morgen noch, vor Stunden? Erst jetzt, als sie sich auf ihre Pflichten als Ordner besann, wurde ihr voll bewußt, wie ungeheuerlich, wie außerhalb jeder Erwartung, wie eigentlich unmöglich das war, was sie hier sah. Ihre Pflichten für solchen Fall, einst gelernt als fast überflüssiges, aber noch nicht abschaffbares Regelwerk, hatte sie nie ausüben müssen, und sie hatte auch nie mit einem gesprochen, der sie ausgeübt hatte. Sie wußte zwar aus dienstlicher Information, daß es hier und da Fälle gewaltsamen Todes gab, elf im letzten Jahr in der Region Mitteleuropa, meist Selbstmorde aus unglücklicher Liebe, einmal auch eine Tötung im Affekt; doch das alles war für Pauline bisher Statistik gewesen. Jetzt aber mußte sie sich ebendiese Pflichten vergegenwärtigen, und indem sie das tat, wich ihre Verwirrung. Nun war sie bedrückt, weil ihr bewußt wurde, daß sie mehr Verwirrung als Trauer oder Entsetzen gespürt hatte. Wieder einmal schien ihr der Verdacht gerechtfertigt, den zuerst andere und dann auch sie selbst gegen sich erhoben hatte, daß sie nämlich nicht die Gefühlsskala normaler Menschen hätte. Vor diesem trübsinnigen Gedanken, nun endlich, rettete sie sich in ihre Aufgabe als Ordner im Vorwerk von Altenwessow. Was zuerst? Feststellen, ob Hilfe nötig. Das hatte die Ratgeberin getan, die Otto Mohr gefunden hatte. Zweitens: Zeugen feststellen und zur Anwesenheit oder Erreichbarkeit verpflichten. Nun, Zeugen gab es nicht, bisher wenigstens. Drittens: feststellen, ob Verdacht auf gewaltsamen Tod gerechtfertigt ist. Allem Anschein nach war er es, auch die
Ratgeberin war zu diesem Schluß gekommen. Da lag ein Mann in der Diele seines Hauses, mitten auf dem Parkettfußboden, in einer Blutlache; ein Mann, von dem man wußte, daß er gesund gewesen war und kräftig wie ein Bär. Was sollte man da denken? Viertens: den Fundort sichern, daß nichts verändert wird – das tat sie jetzt. Und schließlich fünftens: den RR benachrichtigen, den Ratgeber der Region, genauer, seinen Zweiten Gehilfen, der sich auf solche Fälle verstand – das tat gerade jetzt die Ratgeberin über ihre Grapschkiste, Verzeihung, den Personenidentifikator, verbesserte sich Pauline in Gedanken mit einer leicht spöttischen Verbeugung vor der Amtswürde jenes Zweiten Gehilfen, den sie zwar nicht kannte, den sie sich aber ungefähr so vorstellte wie ihre Lehrer an der Ordnerschule: pedantisch, nur im Amtsstil redend, unaufhörlich damit beschäftigt, alles nicht Sachdienliche, nicht Sachbezogene beiseite zu schieben. Was blieb ihr also zu tun? Da sie ihre Aufgaben heruntergehaspelt hatte, fühlte sie sich klar im Kopf und bereit zu handeln – und nun mußte sie warten. Und das womöglich lange. Denn der Zweite Gehilfe hatte, wie sie sich jetzt erinnerte, seinen Sitz in Prag, einer der fünf Metropolen der Region Mitteleuropa, das nahe Berlin gehörte noch dazu, Warschau, München und Hamburg. Jedenfalls konnte es Stunden dauern, bis er hierherkam, einen halben Tag, einen ganzen sogar, wenn er nicht gleich abkömmlich war – aber nein, dann würde er sicherlich jemanden schicken, beauftragen, in solch dringendem Fall; aber einen halben Tag konnte es schon dauern. Etwas blinkte. Die Sonne war weitergewandert, ihr Schein hatte den Toten erreicht, und dort, am Hals, wurden die Strahlen gebrochen und reflektiert. Pauline, aus ihren Überlegungen gerissen, löste sich vom Türrahmen, bückte sich und betrachtete aus flachem Winkel das Parkett – da war alles blank, keine sichtbare Spur. Auf Zehenspitzen ging sie zu dem toten Nachbarn. Da sah sie, daß ein Glasstab in dessen Hals steckte, und plötzlich traf sie ein Gedanke wie ein Schlag: Das mußte jemand getan haben! Dieser Gedanke hatte sich bisher vor ihr versteckt hinter der Anonymität des Begriffs gewaltsamer Tod, sie hatte wohl nicht daraufkommen wollen, aus Scheu vor dem, was sich daraus ergeben würde; und so schlau und weitsichtig waren die unbewußten Impulse, daß es eines Ge-
genstands bedurft hatte, die Einsicht freizusetzen: Es mußte ja auch jemand dagewesen sein, der Gewalt ausgeübt hatte! Der aber mußte entweder aus dem Vorwerk stammen, was Pauline erst einmal nicht glaubte, oder er mußte zum Vorwerk gekommen sein, zufällig oder vorsätzlich, in der Absicht, Gewalt zu üben – nein, was war das alles für Widersinn! Wer sollte einen Grund dazu haben, hier oder sonstwo? Im Vorwerk kannte sie jeden der knapp sechzig Einwohner und wußte, daß niemand den geringsten Grund hatte, Otto auch nur übelzuwollen. Also doch ein Fremder? Ja, doch wohl ein Fremder – und auf die Länge eines Gedankens fiel sie um Jahrhunderte zurück, in einen geistigen Zustand, in dem man fremd gleich schlecht setzte. Aber sie bemerkte es nicht einmal, weil nun ihr Denken in Bewegung geriet: Gestern abend, nachts oder heute früh? Der Arzt würde das genauer sagen können. Da sie nun sachlicher wurde, bemerkte sie auch, daß der Tote Arbeitskleidung für den Stall trug, wo er heute morgen hatte Dienst tun wollen und von wo man die Ratgeberin angerufen hatte, die dann wiederum nach ihm sehen gegangen war und ihn gefunden hatte. Heute morgen also! In der Stunde zwischen Aufstehen und Dienstbeginn mußte es geschehen sein. Sie würde sich erkundigen, wann er hatte beginnen wollen, und dann die Stunde wissen, sicherlich eine Zeit, in der das Vorwerk schon belebt war. Und dann brauchte sie nur zu fragen. Irgend jemand mußte einfach etwas gesehen haben! Sie trat aus dem Haus, es war Frühling. Die helle Sonne, das frische Grün, sonst wohltätig, lösten jetzt in ihr eine dumpfe, schwarze Woge aus, eine Art von Wut, die sie noch nicht erlebt hatte in den knapp zwanzig Jahren, an die sie sich erinnerte. Bisher hatte sie nur solche Aufwallungen bösen Gefühls gekannt, die sie schon als albern oder lächerlich empfand, noch bevor sie sich richtig entfalten konnten – warum soll der Mensch sich wegen irgendwelcher Lappalien von bösen Gefühlen peinigen lassen? Was aber jetzt in ihr aufstieg, ließ sich nicht abstreifen oder wegtüfteln, das war eine Mischung von allem Bitteren: Daß der Tote tot bleiben würde; daß die Sonne weiterschien, als sei nichts geschehen; daß so etwas überhaupt möglich war in ihrer heiteren Zeit; daß es gerade diesen hatte treffen müssen und daß sie nichts, nichts, nichts tun konnte, um etwas daran zu ändern – das würgte sie im Hals und drückte von innen gegen die Schädeldecke, daß ihr der Kopf weh tat.
Mit zwanzig Schritten war sie bei der Ratgeberin, ließ sich Papier und Stift geben, schrieb: NICHT BETRETEN! DER ORDNER. „Ich häng den Zettel an die Tür, guck mal ab und zu hin, bitte, du siehst ja die Tür von hier aus.“ „Mach ich“, sagte die Ratgeberin, „ich sitze sowieso noch ein paar Stunden an der Grapschkiste. Übrigens, der Zweite wird gerufen, er ist nicht in Prag.“ „Jaja“, sagte Pauline ohne rechtes Interesse; sie verfolgte einen Gedanken, der ihr eben gekommen war. „Sag mal, seit wann hast du an der Grapschkiste gesessen?“ „Seit acht. Bis der Anruf vom Stall kam, da bin ich dann rübergegangen zu Otto.“ „Und hast du immer die Straße im Auge gehabt? Ich meine …“ „Weiß schon, was du meinst. Nein, es ist keiner zu Otto gekommen. Auch keiner rausgegangen. Ich brauch doch einen Tischler für uns, für ein Jahr, weil Jochen Bantekow kunsthalber zur Südsee fährt, und ein ganzes Jahr ohne Tischler im Vorwerk – na, kurz, ich dachte, vielleicht kriegen wir einen reisenden Meister, hab mich erkundigt im Kreis, im Bezirk, in der Region, mit ein paar Leuten direkt verhandelt, andere nicht erreicht – dauert alles seine Zeit. Jedenfalls hab ich fast immer aus dem Fenster geguckt, und selbst wenn ich auf den Schirm blicke, sehe ich doch dahinter durchs Fenster die Straße und Ottos Haustür. Wenn natürlich einer von hinten durch den Garten …“ „Ich geh zum Stall“, sagte Pauline. „Da guck ich mir unterwegs den Garten an.“ Zwischen Mohrs und dem nächsten Grundstück führte ein Trampelpfad in den Busch, Pauline lief ihn ein Stück entlang und sah ohne große Mühe, daß niemand im Garten gewesen sein konnte. Der Garten war klein, ein paar Blumenrabatten, ein paar Beete für Kräuter, alles erst spärlich bewachsen, der Boden glatt und geharkt, auch der Weg, keine Fußtapfen. Also, auf zum Stall! Der Stall nun hatte wenig mit dem gemein, was die Vorväter unter diesem Wort verstanden hätten, und auch nicht viel damit, was in der Übergangszeit so geheißen hatte. Pauline neigte dazu, sich die Dinge im Wandel ihrer Geschichte vorzustellen, im Gegenwärtigen die vielfältigen
Formen und Gestalten zu erkunden, die die Gegenstände oder erst recht die Begriffe hinter sich gebracht hatten; für geschichtliche Abläufe hatte sie ein fast liebhaberisches Interesse. Dieser Hang wohl zuallererst und auch das früh erlernte Schneiderhandwerk hatten sie auf die Kunst der Modistin geführt, der Gewandmeisterin, die die Kostüme für das Kreistheater entwarf. Diese Neigung, sich gedanklich in andere Zeiten zu begeben, hatte bei ihr den Drang nach Bewegung im Raum, nach großen Reisen zu anderen Völkern und Ländern, nicht aufkommen lassen. Wenn er je einmal im Keim vorhanden gewesen sein sollte, so war er durch den üblichen Besuch aller Kontinente während der Schulzeit voll befriedigt worden, und nie hatte es Pauline aus dem Dorf, ja nicht einmal aus dem Vorwerk fortgezogen. Hier übte sie ihr Handwerk und ihre Kunst aus, hier leistete sie ihren Dienst an der Gesellschaft, anfangs als Biochemikerin im Stall, nun aber mit größerem Interesse, wenn auch zeitlich geringerem Aufwand als Ordner. Der Stall oder das, was die Leute wie auch Pauline aus Tradition und umgangssprachlicher Untertreibung als Stall bezeichneten, diente hauptsächlich zwei Zwecken, einem übergreifend-wissenschaftlichen und einem lokalwirtschaftlichen. Wissenschaftlich war das Institut mit einem ganzen, die Region sogar überschreitenden Ring gleicher, kleiner Einrichtungen verbunden, dessen Hauptaufgabe die Renaturalisierung der Landschaft, der Flora und Fauna, war, wobei das „Re-“ nicht einfach ein Zurück bedeutete; die Urlandschaft vorgeschichtlicher Zeit war unwiederbringlich, es ging vielmehr darum, die Folgen der ökologischen Schwankungen und Krankungen, die das Ende der Übergangszeit weltweit begleitet hatten, gänzlich aufzuheben und zugleich eine Landschaft entstehen zu lassen, die es noch nicht gegeben hatte: Biotope, innerlich im Gleichgewicht und miteinander harmonisiert, meist nur kleinwirtschaftlich genutzt, also beispielsweise für den Holzeinschlag durch die örtlichen Handwerker; all das mit ständig geringer werdendem menschlichem Eingreifen; darin eingelagert freilich auch geeignete Flächen großwirtschaftlicher Nutzung, allerdings nicht hier, in der Umgebung des Dorfes. Im Rahmen dieser ungeheuer komplizierten und vor allem langfristigen Vorhaben hatte jede dieser kleinen Stationen eine winzige Teilaufgabe, sei es die intensive Hege oder sogar die Nachzüchtung einer immer noch bedrohten Wildtierart, sei es die Anpassung einer Pflanze durch genetische Veränderung und Vermehrung, das alles jeweils verbunden
mit Forschung einerseits und großflächigen Versuchen andererseits, und das alles mit Hilfe eines einfachen Instrumentariums, in dem EMikroskop, Ultrazentrifuge und Kleinrechner noch das aufwendigste waren. In der Regel hatte jede Station eine zentrale Aufgabe, die nach mehreren Jahren wechselte, und einige Nebenaufgaben, meist beobachtender und messender Art, immer jedoch so gehalten, daß die dreißig oder vierzig Leute, die hier arbeiteten, mit ihren zwei Dienststunden am Tag auskamen und dabei auch noch die lokalwirtschaftliche Aufgabe erfüllen konnten. Die hiesige wissenschaftliche Aufgabe war derzeit die Nachzüchtung von tollwutresistenten Füchsen, die lokalwirtschaftliche das Abnehmen und Konservieren der Vermehrungszellen von den Schweinen und Rindern, die einige Bewohner des Vorwerks als gesellschaftliche Dienstleistung am Haus hielten. Die Zellen brauchte die industrielle Fleischproduktion, und die Tiere selbst, wenn sie schlachtreif waren, lieferten den Dörflern das Tierfleisch, dessentwegen manche Feinschmecker aus der Stadt gelegentlich gern die Gastlichkeit des Dorfs in Anspruch nahmen.
Im Stall also, das heißt im Terrarium für die Füchse, in den Labors und so weiter, traf Pauline sieben Leute, die alle nichts gesehen hatten. Einer, der mehrere Tagewerke zusammengelegt hatte, um einen langwierigen Versuch steuern zu können, und also heute morgen schon hier gewesen war, wußte aber wenigstens, daß Otto Mohr sich für acht Uhr das EMikro reserviert hatte. Alle waren betroffen über den plötzlichen Tod ihres Nachbarn, aber niemand schien etwas zu ahnen von dem wirklichen Geschehen. Deshalb fragte Pauline auch nicht weiter, sondern überlegte: Acht Uhr? Wer konnte da etwas gesehen haben? Die Kinder! Richtig, Marta wollte doch heute mit ihrer Klasse zum Mückentümpel, vielleicht sollte sie gleich …Im Dauerlauf war sie in einer Viertelstunde dort, in einer halben Stunde zurück … „Wenn die Ratgeberin anruft, sagt ihr bitte, ich bin in einer halben Stunde wieder da!“ bat Pauline. Dann setzte sie sich in Trab. Eine Zeitlang konnte sie einer guterhaltenen Schneisefolgen, dann aber wurde es schwieriger, Büsche waren in den Trampelpfad hineingewachsen, Zweige hingen tief – sie mußte sich, wenn sie ihr Tempo nicht mindern wollte, immer wieder blitzschnell bücken oder zur Seite ausweichen. Das machte ihr Spaß, sie spürte in ihren Bewegungen eine Leichtigkeit, die ihr sonst fehlte. Leichtfüßig liefen auch ihre Gedanken. Um acht Uhr hatte Otto im Stall arbeiten wollen, am E-Mikroskop, also wäre er wohl spätestens um drei Viertel acht aus dem Haus gegangen. Demnach war es wohl bis zu diesem Zeitpunkt geschehen. Der Täter, wenn es einen gab, müßte vor acht das Haus verlassen haben. Jetzt war es nötig, die Zeit von der andern Seite her zu begrenzen. Wenn sie Glück hatte – ach, was hieß hier Glück! –, also, vielleicht hatten Marta oder die Kinder etwas gesehen. Schon von weitem hörte Pauline die Stimmen der Kinder. Dann rief die Lehrerin: „Hallo, wer ist denn da!“ Die Stimme schien von oben zu kommen. Pauline sah hinauf: Halbhoch im Geäst eines Baumes saß Marta und animierte von dort aus einen zaghaften Jungen, ihr nachzuklettern. Die anderen Kinder, Neun- und Zehnjährige, waren eifrig am Werk. Drei standen mit Gummistiefeln und Keschern am Rande des Tümpels, zwei saßen am Campingtisch und bedienten ein Mikroskop. Die drei vom Tümpel kamen in ihren Gummistiefeln herangestapft, nur die zwei am Mikroskop lösten sich sichtlich ungern von ihrer Tätig-
keit. Alle gaben Pauline die Hand. Eibners Zwillinge sagten wie immer bei solchen Gelegenheiten ihre Vornamen, damit man sie auseinanderhalten konnte. Nur Bachmanns Fritz fragte mit dem herausfordernden Witz der Halbwüchsigen: „Jagen Sie den Übeltäter, der die Schweißsocke in den Wald geworfen hat, um die Ameisen zu vergiften?“ Alle lachten, und Marta, die inzwischen heruntergeklettert war, schickte sie wieder an die Arbeit. Zu anderer Zeit hätte sich Pauline darüber geärgert, daß ihr so schnell keine lustige Antwort einfiel. Jetzt aber hatte sie ganz ernsthaft nein gesagt, doch die Kinder hatten auch das lustig gefunden. „Was macht dein Vater, hat er die Prüfungen bald hinter sich?“ fragte die Lehrerin. Pauline hatte die Frage erwartet. Vater war jetzt Anfang Fünfzig, er wollte auch Lehrer werden wie Marta. Die Prüfungen erstreckten sich über zwei Jahre, aber er hatte die meisten bereits mit Erfolg hinter sich gebracht, und Pauline konnte stolz auf ihn sein, nicht alle kamen so weit. Die Antwort ließ wohl zuwenig davon merken, denn die Lehrerin fragte beunruhigt: „Du hast doch einen bestimmten Grund, daß du hierhergekommen bist?“ „Habt ihr heute morgen jemanden gesehen, als ihr losgegangen seid?“ „Gesehen? Ja, den Mohr-Otto, er hat uns noch zugewinkt!“ „Von wo aus? Was hatte er an? War er allein?“ „Natürlich war er allein. Von wo aus? Aus dem Fenster zum Garten hat er geguckt, wir sind den Trampelpfad entlanggekommen. Was er anhatte? Ich glaube, Stallkleidung.“ „Und wann? Wann war das?“ „Wir sind ein bißchen später los, weil bei Bachmanns gerade die Kuh gekalbt hat, da hab ich die Kinder gleich zugucken lassen, also das war – das muß so gegen drei Viertel neun gewesen sein.“ Alles umsonst, dachte Pauline enttäuscht, meine Zeit stimmt nicht! Wenn er um acht im Stall sein wollte, aber um drei Viertel neun noch zu Hause war … „Etwas Schlimmes?“ fragte die Lehrerin.
„Ja, Otto ist gestorben“, antwortete Pauline. Plötzlich hatte sie es eilig. „Danke für die Auskunft!“ sagte sie, und dann rief sie: „Wiedersehen, Kinder!“ Und sie setzte sich wieder in Trab. Mit zwiespältigem Gefühl verließ Ruben Madeira das Raumschiff VR III, genannt „der Zollstock“. Letzteres war selbstverständlich ein Spitzname, und er rührte nicht etwa von der Form des Schiffes her, sondern von seiner ursprünglichen Bestimmung. Es hatte anfangs als Vermessungsraumschiff gedient, und der Name hatte sich vererbt. Einerseits freute Ruben sich darauf, wieder im Raum zu hantieren. Andererseits erforderte wenigstens das, was jetzt unmittelbar bevorstand, keinerlei Denken, nicht einmal viel Aufmerksamkeit, nur Bereitschaft und eventuell ein bißchen Geschicklichkeit im Umgang mit Plastpflaster, Schweißgerät und Spritzpistole. Dazu brauchte man höchstens den Grundlehrgang für Montage, genaugenommen nicht einmal den. Aber er war hier mit sich allein, und falls er Lust haben sollte, sich selbst einen Vollidioten zu nennen, würde das niemanden belästigen. Und schließlich hatte er alles so gewollt. Mit einem Handgriff koppelte Ruben seinen Feuerstuhl an das Mittelstück des ersten von vier Sonnenkollektoren, den er entkonservieren sollte und der jetzt, im zusammengefalteten Zustand, wie eine riesige Ananas aussah. Nun folgte das einzige, was man bei der ganzen Operation mit ein bißchen gutem Willen als Arbeit bezeichnen konnte: Er mußte die Ananas um hundertachtzig Grad drehen, bis der Strunk, an dem er jetzt hing, der Sonne abgewandt war, dann würde die Sonnenwärme den Kollektor zu einem Hohlspiegel von hundert Kilometer Durchmesser entfalten. Nach dem Drehen mußte er so schnell wie möglich die Ananas in bezug auf die zentrale Anlage justieren; wenn der Gasdruck erst den Schirm entfaltete, war der Kollektor nicht mehr sehr stabil. Drehen, auspendeln, justieren am Meßlaserstrahl der hundert Kilometer entfernten zentralen Anlage, dann abkoppeln – fünf Minuten. Nun begann das Warten. Er verband seinen Feuerstuhl mit der Beobachtungsautomatik des Zollstocks, die ihm melden würde, wenn irgendwo am Schirm etwas zu reparieren wäre, und nahm erst mal, da er nun schon im Schatten des sich entfaltenden Schirms stand, den Blendschutz aus dem Helmvisier.
Nun also, warum hast du dich auf diese Arbeit an der Anlage Blastron I eingelassen, Ruben Madeira, du Schaf? Schaf ist schon versöhnlicher, stellte er belustigt fest, auch ähnlicher: Schaf steht auf der Wiese und zupft Grashalme, hier einen, da einen, und er steht auf der Himmelswiese zwischen Venus- und Merkurbahn und klebt – vielleicht – Löcher zu, hier eins und da eins. Aber war er nicht mit ganz anderen Vorstellungen und Absichten vom Minos zurückgekehrt, dem größten der noch nicht lange bekannten äußeren Planeten jenseits des Pluto? Hatte er, der Entdecker des erdähnlichen Minosmondes Esther – der Name stammte von ihm –, nicht vorgehabt, all seine Autorität dafür einzusetzen, daß sein Vorschlag, diesen Mond zu besiedeln, mindestens ernsthaft erwogen wurde? Da, die Automatik zeigte einen Fehler an und hatte auch schon den Feuerstuhl programmiert; mit einem gar nicht sehr sanften Stoß setzte er sich in Bewegung. Noch war der Schirm nicht sehr weit aufgerollt, ein paar Kilometer waren es nur bis zu der defekten Stelle, ein Minimeteorit war wahrscheinlich verglüht und hatte einen zehn Zentimeter langen Riß erzeugt, kein Problem, er brauchte nur zu hinterpflastern, der Spiegelverlust auf der anderen Seite der Folie war so minimal, daß es sich nicht lohnte, ein neues Stück einzusetzen. Er erledigte das und ließ sich langsam zum Zentrum zurücktrudeln. Ja, der schöne Mond Esther. Hatte er den nun aufgegeben zugunsten der Frau und Kollegin Esther, die ihn geholt hatte für diese Aufgabe, die ja schon einmal auch die seine gewesen war – die Aufgabe, nicht die Esther, nein, die nicht, und sie würde es auch nicht werden. Hatte er wirklich aufgegeben? Gingen die größten Entwicklungen nicht immer kurvenreiche Wege? Konnte es sein, daß er sein Ziel, auf das er sich während der ganzen einjährigen Rückreise ausgerichtet hatte, jemals aus den Augen verlor? Er war ehrlich genug zuzugeben: Ja, das konnte sein, es war vorstellbar, daß das geschehen konnte, nach sehr langer Zeit vielleicht oder nach sehr erfüllter Zeit, wenn etwa diese damals stillgelegte Anlage jetzt die erwarteten oder noch besser unerwartete Ergebnisse liefern würde – und hatte nicht gerade diese Unsicherheit ihn gereizt? Diese Prüfung einer Idee durch längere Nichtbeachtung? Würde es denn in dieser Zeit der Harmonie und der Stabilität menschlicher Verhältnisse überhaupt genügend Leute geben, die die Erde verlassen und auf so sehr unsicherem Boden siedeln würden? Jetzt, da die Menschheit sich hauptsächlich mit Kunst und Kultur beschäftigte und schon die Wissenschaft-
ler fast wie Sonderlinge wirkten, weil sie häufig von ihrem künstlerischen Beruf um der Forschung willen Abstriche machten? Und selbst unter den Wissenschaftlern hatte er kaum jemanden gefunden, der seine Idee nicht auf Anhieb entweder belächelt oder ernst zurückgewiesen hätte. Wie denn nun – jetzt sah es ja fast so aus, als sei er hierher geflüchtet, vor seiner eigenen Idee. Das stimmte auch nicht. Warum, zum Teufel, mußten gerade bei den wichtigsten Entscheidungen, die der Mensch im Leben trifft, die Motive immer so im dunkeln bleiben? Und warum grub er überhaupt nach den verborgenen Wurzeln seines Entschlusses? Es war doch ein guter Entschluß – mit ziemlicher Sicherheit war hier jetzt die vorderste Front der physikalischen Forschung, er kannte die Anlage, die Arbeit, sogar die meisten Leute, er war mit zweiunddreißig der Jüngste hier, immer noch, wie er schon damals der Jüngste gewesen war, vor mehr als drei Jahren, zu jener Zeit allerdings auch noch Anfänger. Aber älter geworden waren die anderen auch seither, selbst Esther, der man das natürlich überhaupt nicht ansah, sie war über fünfzig, in dem Alter also, wo sich jahrzehntelang das äußere Bild nicht mehr ändert …Na, und da wären wir ja wieder bei der Esther! stellte er grimmig fest, und nun wußte er auch, warum es in ihm grübelte: Er war wohl immer noch nicht fertig mit seiner einseitigen, dummschwärmerischen, beinahe blöden Anbetung, die ihn damals hatte seine Fähigkeiten zum kollektiven Arbeiten verlieren und folglich weggehen lassen, als Pilot zur Minosexpedition. Da hatte er wahrhaftig Zeit gehabt, damit fertig zu werden, und er war auch überzeugt, daß die Namensgebung für den Mond der letzte und abschließende Akt seiner Verehrung war, bereits in die Vergangenheit gerichtet – und nun? Hatte er sich nicht im Verdacht, daß von dem ausgerupften Unkraut in seiner Seele durch irgendeine Ritze wieder ein neuer, kleiner Trieb wucherte? Nein, jetzt war er plötzlich ganz sicher: Diesen Verdacht hatte er zu Unrecht. Da, der Schirm war entrollt, weitere Fehler waren nicht aufgetreten, auf also an Bord des Zollstocks! Eine Viertelstunde später und hundertfünfzig Kilometer weiter verließ Ruben das Schiff wiederum, um den zweiten Kollektor zu entkonservieren. Der kurze Flug und die damit verbundenen Hantierungen hatten sein Grübeln unterbrochen, und er hatte sich vorgenommen, bei den weiteren drei Kollektoren nicht noch mal darein zu verfallen. Aber wie soll man das Gehirn daran hindern, immer wieder in die am stärksten erregenden Gedankengänge zu rutschen? Am besten, indem man etwas Nützliches repetiert, Bekanntes
wiederholt, auffrischt, um es immer parat zu haben, also wenn er hier nun arbeiten würde, zum Beispiel die Geschichte dieser Versuche. Die Bläschen und die EGI – um diese beiden Pole kreisten die Versuche seit je. Die Bläschen, wissenschaftlich Blastulae wegen einer gewissen Analogie mit der gleichnamigen Stufe der Keimentwicklung, die Bläschen waren vor etwa zehn Jahren entdeckt und sofort als etwas ganz und gar Neuartiges erkannt worden. Es waren Gebilde von atomarer Größe, die vermutlich, nein sehr wahrscheinlich aus den gleichen Subteilchen bestanden wie die Atome, nur völlig anders aufgebaut waren. Strenggenommen war das Bläschen nur eine Modellvorstellung für ein solches Subteilchen-Kollektiv. Es verhielt sich damit vergleichsweise wie mit dem Aufblasen eines Luftballons: Wenn es entstanden war, wurde ihm ständig Energie zugeführt, dabei dehnte es sich aus bis zur Molekülgröße. Das ständige Energiewachstum war einerseits unerläßliche Lebensbedingung, andererseits führte es irgendwann zur Explosion des Bläschens. Die Lebensdauer lag im günstigen Fall etwa bei einer Minute, was für subatomare Bereiche fast eine Unendlichkeit bedeutete. Die Bläschen, Ergebnis der Hochenergiephysik, erfuhren unzählige Deutungen und gaben zu den sonderbarsten Hypothesen Anlaß. Zwei davon blieben bedeutend und beeinflußten den weiteren Verlauf der Experimente. Eine theoretischphysikalische Deutung: Da die Subteilchen nicht frei darstellbar waren, wegen der Riesenmasse, die sie dann annehmen müßten, führte die weitere Erhöhung der experimentellen Energie im Bogen zurück in die Makrowelt, aber zu unbekannten Strukturen auf einem sehr hohen Energieniveau, wie es etwa in Sternen herrschte; die Bläschen stellten nur eine Übergangsstufe zu einer ganz anders aufgebauten Welt dar. Die andere Deutung war energetischexperimenteller Art: Im Augenblick der Explosion der Bläschen entstanden in ihrem freien Zentrum Energiekonzentrationen, die etwa denen in sehr massereichen Sternen entsprachen, wenn auch nur für Pikosekunden. Beide Überlegungen hatten sofort dazu geführt, daß die Experimente abgebrochen wurden und die Anlage von der Erde in den Raum verlegt wurde, wo eventuell ausgelöste große Energieumsetzungen kein Unheil anrichten konnten und vor allem keine Materie vorhanden war, in der sich eine Kettenreaktion entzünden könnte. Vier Jahre dauerten Aufbau und Transport dieser Anlage, die man jetzt entkonservierte; drei Jahre lang wurde dann damit gearbeitet – ohne befriedigende Ergebnisse.
Zwar gelang es immer, die Bläschen zu erzeugen, sie folgten auch brav den Magnetfeldern, die sie einschlossen; aber sobald man etwas feinere Maßstäbe anlegte, mehr und andere Parameter einbezog, ergab sich ein regelloses Bild, dem auch bei immer neuen Wiederholungen der Versuchsanordnungen keine Gesetzmäßigkeit abzugewinnen war. Nach drei Jahren verfügte man über eine ständig wachsende Flut von Daten ohne die Spur eines Ordnungsprinzips. Die Versuche wurden unterbrochen zugunsten einer mathematischen Aufarbeitung der Daten. Damals ging Ruben auf die Minosreise. Die Signallampe unterbrach Rubens Gedanken: Ein Loch im Schirm. Der Feuerstuhl setzte sich in Bewegung. Diesmal war die Entfernung schon größer, die defekte Stelle, ein Loch, kein Riß wie vorhin, befand sich fast am Rand des Schirms, Ruben brauchte längere Zeit, um dorthin zu gelangen, und das war gut so. Diesmal war die Sache nicht ganz so einfach, das Loch hatte, wie die Automatik meldete, einen Durchmesser von mehreren Zentimetern, er würde sprühen, kleben und zugleich sich selbst schützen müssen gegen das durch das Loch scheinende Sonnenlicht; alles nicht umwerfend schwierig, aber doch Aufmerksamkeit erfordernd. Denn wenn er den Blendschutz einschaltete, konnte er nichts sehen, weil es diesseits des Schirms zu dunkel war; wenn er ihn nicht einschaltete, durfte er nicht nur nicht hineinschauen in den Strahl, er mußte auch vermeiden, daß Reflexe an Geräten und dergleichen sein Auge trafen. Vor allem aber mußte er die Stelle im Schirm erst einmal so rechtzeitig entdecken, daß der Feuerstuhl ihn nicht mitten hinein in den Sonnenstrahl trug. Als er nach Automatikangaben nahe heran war, gab er einen Wolkenschuß ab, sonst eigentlich als weithin sichtbares Signal gedacht, hier im Dunkeln bleibend, bis plötzlich schmerzhaft hell der Strahl und das Loch, durch das er drang, sichtbar wurden. Ruben wartete, bis die Wolke sich weiter ausgedehnt hatte, wodurch die Helligkeit des Strahls abnahm, und schob sich dann von der Seite heran. Alles Weitere war das Werk einer Minute: Er säuberte das Loch, indem er dessen Ränder aufschmolz, sprühte einen Flicken mit der metallischen Reflexionsschicht ein und klebte ihn gegen das Loch – fertig. Der dritte Kollektor machte Ärger. Eine der Rippen, in die das erwärmte Gas strömte, mußte verstopft oder defekt sein, jedenfalls funktionierte die Geschichte nicht richtig, der Schirm entfaltete sich ungleich-
mäßig, und wenn er nicht schnell den Fehler fand, dann würde der Schirm später reißen, na, und was dann an Arbeit entstand, das konnten alle sechs nicht in vierzehn Tagen bewältigen. Er suchte an der Rippe, fand jedoch nichts, also umflog er den Schirm, setzte sich innen vor die zurückbleibende Wulst, regulierte die Geschwindigkeit des Feuerstuhls ein und schob die Rolle mit dem Fuß vorwärts, eine lächerlich primitive, aber wirksame Methode. Nach einer Viertelstunde merkte er, daß die Rolle sich auch ohne seine Hilfe im richtigen Tempo entfaltete, die Störung hatte sich offenbar von selbst behoben oder war durch die längere Sonnenbestrahlung überwunden worden. Er umflog den jetzt halbentfalteten Schirm und blieb auf der dunklen Seite, bis auch dieser Kollektor einsatzbereit war. Der letzte Kollektor schien sich problemlos ausbreiten zu wollen, und Ruben geriet wieder ins Erinnern. Die EGI – Abkürzung für Ensemblegestützte Intuition – war eine Methode des Experimentierens, die an dieser Anlage in jenen drei Jahren entstand, inzwischen aber auch anderswo angewandt worden war, mit unterschiedlichem Erfolg, aber stets mindestens mit interessanten Begleitumständen verbunden. Sie hatte sich durchaus noch nicht allgemein durchgesetzt, war auch wohl nur in bestimmten Fällen anwendbar, manche hielten sie für eine höhere Form kollektiver Arbeit, andere für Mumpitz. Die Blastula-Gruppe jedenfalls, die immerhin ungefähr fünfhundert Wissenschaftler umfaßte, hatten ihren Experimentatoren empfohlen, sie nun bei der Fortsetzung der Versuche wieder anzuwenden. Die EGI bestand eigentlich nur darin, daß eine Gruppe von arbeitsteilig nicht differenzierten Leuten, in diesem Fall fünf an der Zahl, einem automatisch gesteuerten Prozeß tatenlos zusahen, bis der erste einen Einfall hatte, wie einzugreifen sei, und zugleich das sichere Gefühl, daß die andern sein Eingreifen verstehen und ihm folgen würden. Von dieser Sekunde an wurde er zum Leiter, und die anderen ordneten sich ihm zu. Das alles klang für jemanden, der noch nicht daran teilgenommen hatte, sehr nach Zufall und Subjektivismus, und diesen Vorwurf erhoben auch die meisten Kritiken. Tatsächlich aber, Ruben wußte es aus eigener Erfahrung, hatte die Sache weder mit dem einen noch mit dem andern viel zu tun; allerdings hatte bisher auch keiner von denen, die sie praktiziert hatten, genau sagen können, was sich da eigentlich abspielte. Nur in einem waren sich alle einig: daß das Arbeitsklima, die Kollektivität während dieses Prozesses ungeheuer enthusiastisch, befreiend und beflü-
gelnd war – weshalb sie auch den Ausdruck Ensemble gewählt hatten, der ja eigentlich mehr der Kunst zugehörte als der Wissenschaft. Ruben bedauerte ein wenig, daß er an diesem Experimentzyklus als Außenseiter mitarbeiten sollte, also in einer inzwischen zur Methode gehörenden Position, in der er nicht an der EGI teilnahm, sondern den Prozeß von außen überwachte, auch registrierte und beurteilte. Aber da er nach nunmehr drei Jahren Trennung noch nicht wieder die intensiven psychischen Beziehungen zu den anderen hatte wie diese untereinander, war die Position des Außenseiters für ihn der einzige Einstieg ins Kollektiv. Alle anderen Voraussetzungen erfüllte er, denn er kannte den Gegenstand und die Methode und hatte sich über alle inzwischen entstandenen Erkenntnisse und Hypothesen informiert. Der letzte Kollektor war entfaltet, Ruben wollte gerade an Bord des Zollstocks gehen, da meldete die Automatik: Unmittelbar neben dem Zentrum des Schirms begann der Metallbelag auf der Innenseite für einen Teil der Strahlung durchlässig zu werden, und zwar auf einer ziemlich großen Fläche. Ruben mußte hinüber, aber jetzt nicht mehr außen um den ganzen Schirm herum, das würde zu lange dauern; er würde die Folie auftrennen, sozusagen einen Triangel in den Stoff reißen, dort durchschlüpfen, später wieder zurück und zuletzt das Schlupfloch zukleben. Mit dem Feuerstuhl konnte er freilich nicht hinüber, dazu standen die Rippen hier zu eng. Er mußte also das Loch direkt am Mittelstück schneiden, dann alles hinüberstecken und mit Magnethaftern befestigen. Er machte den Feuerstuhl am rückwärtigen Teil des Mittelstücks fest und schätzte die Fläche ab; es trat so viel sichtbares Licht hindurch, daß sie sich deutlich abzeichnete. Ein Dutzend kleine Rollen würden genügen. Sollte er jemand zur Hilfe anfordern? Das fehlte noch! Der erfahrene Pilot, der die große Photonik an den Rand des Sonnensystems gesteuert hatte! Gleich darauf erschien ihm diese Regung wunderlich. Er war doch sonst nicht von Überheblichkeit geplagt. Trotzdem war der Entschluß richtig – das hier war Arbeit für einen, und die andern fünf hatten an der Anlage Blastron genug zu tun. Als er auf die Sonnenseite des voll entfalteten Kollektorschirms hinüberwechselte, mit abgedunkeltem Visier selbstverständlich, hatte er zuerst den Eindruck, sich in einer riesigen Kugel zu befinden, von der
eine größere Kappe abgeschnitten war – das Stück schwarzer Himmel, in dessen Mitte die Sonne strahlte. Von dieser Seite aus war nicht zu sehen, wo sich die beschädigte Fläche befand, aber Ruben hatte sich ihre Form und Größe gut gemerkt, und ihr Anfang war ja gegeben durch das Mittelstück, das hier schon den stempelförmigen Verdampfer bis in den Brennpunkt des Spiegels ausgefahren hatte. Ruben drehte sich der Spiegelfläche zu und kniete nieder; eigentlich war es der entgegengesetzte Vorgang des Niederkniens, denn er mußte nicht wie auf der Erde mit den Muskeln das Körpergewicht ausgleichen – er hatte ja keins –, er zog vielmehr seinen Körper an den Kollektor heran, mit dem ihn die Magnetschuhe verbanden. Aber Ruben hatte genügend Erfahrung bei Arbeiten im Raum, das irritierte ihn nicht. Schwieriger war schon das Sehen. Er regelte die Abdunklung des Visiers herunter, so weit, daß er die Rippen unterscheiden konnte – nun durfte er freilich nicht mehr in die Sonne blicken, nicht einmal mehr auf den gesamten Schirm des Kollektors. Er nahm die erste Rolle, hielt den Rand der Folie fest und gab ihr einen gelinden Schubs. Die Folie entrollte sich und wurde zugleich an die schon vorhandene Bespannung gedrückt, mehr war nicht nötig, der Lichtdruck würde sie anpressen und glätten. Aber schon nach zwei Metern sah Ruben nicht mehr, ob die Folie sich richtig entfaltete, zu hell und gleichförmig war das Bild. Er wechselte auf die andere Seite hinüber, regulierte den Blendschutz und sah, daß er gut getroffen hatte. Wieder hinüber, herüber und noch einmal, und noch einmal …Je länger Ruben im dichten Licht auf der Sonnenseite des Kollektors arbeitete, um so weniger sah er. Vielleicht sollte er eine Pause machen und das Visier ganz abdunkeln, damit die Augen sich erholen konnten? Aber nun merkte er, daß ihm sehr heiß war. Und die Kühlung des Anzugs ließ sich nicht mehr stärker stellen. Nun ja, die Lichtdichte. Wie viele Rollen hatte er noch? Drei. Die würde er doch wohl schaffen. Zwei verlegte er schnell. Die dritte aber, mit der er ja auch das Schlupfloch abdecken mußte, verhielt sich widerspenstig. Zuerst gelang es ihm nicht, den Rand der Folie mit seinen dick behandschuhten Fingern zu fassen, er haftete wie angeklebt an der Rolle. Als er endlich einen Zipfel gefaßt hatte, löste sich plötzlich der ganze Rand, und die Rolle entfaltete sich, der aufgewandten Kraft folgend, in den Raum statt auf den Kollektor. Und da beging Ruben einen Fehler: Er blickte der Rolle hinterher.
Dann sah er nichts mehr. Feuer wogte vor seinen Augen, deren Lider sich krampfhaft geschlossen hatten. Die Kopfbewegung war zu schnell gewesen, die Automatik hatte den Blendschutz um den Bruchteil einer Sekunde zu langsam heraufgeschaltet. Wie lange würde es dauern, bis er wieder sehen konnte? Es wurde auch immer wärmer im Schutzanzug …Jetzt die Sinne zusammennehmen. Er mußte hinüber auf die andere Seite. Blind. Wo war die Richtung? Er tastete. Hier. Er kroch am Mittelstück des Kollektors entlang. Jetzt mußte er hindurch sein. Wenig später spürte er, daß es kühler wurde. Eine Weile danach verloschen die wogenden Feuer vor seinen Augen. Jetzt war alles schwarz. Es dauerte wiederum einige Zeit, bis er begriff, daß er jetzt von Hand den Blendschutz herunterregeln mußte, denn die Automatik glich nur einen kleinen Betrag aus. Nun sah er wieder. Er holte eine Rolle aus dem Feuerstuhl, und der Rest der Arbeit verlief ohne Schwierigkeiten. Ruben dachte daran, daß er wohl diese Arbeit sträflich unterschätzt hatte und daß er sich hüten mußte, künftig an andere Aufgaben so routinehaft heranzugehen. Starker Beifall belohnte Wenzel Kramers Zauberschau. Wenzel trat vor den Vorhang, verbeugte sich, verbeugte sich noch mal, horchte dabei in den Saal, freute sich, daß seine Kunstkollegen die versteckten Schwierigkeiten seiner Tricks erkannt hatten und honorierten, und war sich nun, bei seiner letzten Verbeugung, schon ganz sicher, daß sie ihn zum Europatreffen delegieren würden. Es wäre die höchste Graduierung seines Lebens, des bisherigen wie wohl auch des künftigen, denn weiter würde er nicht mehr kommen, er war schon fünfzig und würde in einigen Jahren beginnen, sich auf den Lehrberuf vorzubereiten. Die Delegierung nach Moskau wäre doch der Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn … Er trat hinter den Vorhang zurück, bevor der Beifall spürbar abebbte. Ja, es gehörte für ihn zu den schönsten Erlebnissen, einmal im Jahr vor Kollegen zu spielen, beim Gebiets- oder wie hier beim Regionstreffen; wer wußte so gut die Feinheiten zu würdigen wie gerade diejenigen, die selbst diese Kunst ausübten. Er wußte aber auch: Andern ging es anders. Manche hatten am Publikum um so mehr Freude, je weniger es fachlich vorbelastet war. Und merkwürdigerweise galt das auch umgekehrt: An
solchen hatte meist das Publikum mehr Freude. Aber eigentlich war das gar nicht merkwürdig …„Wie bitte?“ Der Inspizient hatte ihn angehalten, als er die Bühne verließ, und etwas gesagt. „Es war ein Ruf für Sie“, wiederholte der Mann, „von der Region. Im Sekretariat der Halle können Sie zurückrufen.“ Wenzel Kramer bedankte sich; er tat das nicht allzu erfreut, denn Angenehmes würde da kaum auf ihn warten. Was er dann aber erfuhr, war noch schlimmer, als er befürchtet hatte, obgleich er geneigt war anzunehmen, daß die Ratgeberin, mit der er im Anschluß sprach, sich in der Einschätzung des Todesfalls irrte. Als Zweiter Gehilfe des RR, des Ratgebers der Region, hatte er so viele verzwickte Fälle untersuchen müssen, daß er sich hütete, augenscheinliche Zusammenhänge zu ernst zu nehmen. Jedenfalls aber mußte er dorthin, er konnte das Ende des Magiertreffens leider nicht abwarten. Dabei war es noch ein Glück, daß das Treffen in Berlin stattfand, von wo er höchstens zwei Stunden mit einem Wagen unterwegs sein würde – oder wenn er den Ersten Gehilfen, der hier in Berlin saß, um seinen Hubschrauber bat? Das wird am günstigsten sein, entschied sich Wenzel. Den Arzt nehme ich auch von hier mit, Hasgruber am besten, mit dem habe ich schon gearbeitet, mal sehen, ob er erreichbar ist … Eine halbe Stunde später war der Hubschrauber auf dem Flug zum Vorwerk von Altenwessow. Das Sirren der Elektromotoren störte Wenzel, es war nicht laut, aber unangenehm für seine Ohren, außerdem nörgelte Dr. Hasgruber ständig, er war aus einer mehrtägigen künstlerischen Schaffensperiode herausgerissen worden, mit seinem Einverständnis zwar, aber nicht zu seinem Vergnügen. Und unter ihnen war nichts als Wald, Wald und Busch, nur selten von einer Straße durchschnitten. Früher mochte es hier – wenigstens von oben – abwechslungsreicher ausgesehen haben, früher, vor Beginn der Meeresbewirtschaftung, als der hiesige nicht sonderlich gute Boden noch landwirtschaftlich genutzt wurde und nicht wie jetzt landschaftlich. Es war also kein angenehmer Flug, obwohl die Sonne schien; aber nun würde gleich, wahrscheinlich hinter diesem Hügel, Altenwessow auftauchen, und dann mußte man dem Weg westwärts etwa drei Kilometer bis zum Vorwerk folgen, der würde ja hoffentlich erkennbar und jetzt, im Frühling, noch nicht vom Laub überdeckt sein. Da, das war das Dorf, und dort nun, richtig, das war der
Weg, abschnittweise schlecht einzusehen, und da war das Vorwerk, dort stand auch schon der Rettungswagen vom Kreiskrankenhaus, den Wenzel noch von Berlin aus in Marsch gesetzt hatte, der Platz daneben reichte zum Landen. Eine kräftige Frau und ein junges Mädchen empfingen sie, als sie aus dem Hubschrauber stiegen. Die Frau erkannte Wenzel, es war die Ratgeberin, mit der er über Video gesprochen hatte. Das Mädchen – das war wohl der hiesige Ordner, ein junges, unbeholfenes Ding, das war Wenzels erster Eindruck, aber ihr Händedruck war kräftig und angenehm, nun, man würde sehen. „Was haben Sie schon festgestellt?“ fragte Wenzel. „Nicht viel“, antwortete Pauline. „Heute früh, zwischen acht und neun Uhr, wurde der Tote noch am Fenster gesehen. Ein Fremder wurde gestern und heute im Vorwerk nicht beobachtet.“ Sie lächelte. „Auch kein Bekannter. Ich meine, niemand, der nicht hier wohnt.“ Da muß sie ganz schön rotiert haben! dachte Wenzel, ließ sich aber seine Anerkennung nicht merken. „Und welches Haus ist es?“ fragte er. „Das da“, sagte die Ratgeberin und wies darauf, dann schwenkte ihr Arm herum. „Und das da ist meins. Wenn Sie was brauchen. Ich kann dann wohl gehen. Übrigens, zum Abendbrot lade ich Sie ein!“ Sie zögerte einen Augenblick. „Das heißt – wenn Sie Tierfleisch mögen. Manche Städter ekeln sich ja davor.“ Wenzel zwinkerte Hasgruber zu, der schon ablehnen wollte, und bedankte sich für die Einladung. Er hatte sich mit Hilfe des ihm zugänglichen Personenregisters der Region vorher über die Ratgeberin informiert: Ihr Mann übte das Kochen als Handwerk aus, da durfte man wohl einiges erwarten. „Gehen wir!“ sagte er. Die Mannschaft des Rettungswagens blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. „Wie lange dauert’ s denn noch?“ fragte einer. Wenzel durchschaute in diesem Augenblick, wie vorsorglich die Ordnerin gehandelt hatte; offenbar hatte sie die Mannschaft draußen warten lassen, und dazu mußte sie sie wohl auch über ihn, Wenzel, informiert haben. „Sind Sie der Arzt?“ fragte Wenzel. Der junge Mann nickte.
„Begleiten Sie jetzt bitte hier Dr. Hasgruber zur Leiche. Er wird nachher mit Ihnen fahren und in Ihrem Krankenhaus die Obduktion vornehmen.“ Wenzel betrat als erster den Vorbau des Hauses und lehnte sich dann ebenso in die Tür zur Halle, wie das Stunden zuvor Pauline getan hatte. Die anderen warteten hinter ihm. „Während ich Aufnahmen mache, erzählen Sie mir bitte alles, was sie zur Sache wissen und festgestellt haben“, bat Wenzel die Ordnerin. „Zur Person bitte noch nichts, das machen wir später.“ Pauline erzählte ihm, was sie wußte und was sie getan hatte seit der Entdeckung, und Wenzel fotografierte das Zimmer und den Toten von mehreren Seiten und in verschiedene Spektralbereichen. Dann fragte er: „Wohnte er allein hier?“ „Ja, allein“, antwortete Pauline. „Die Ärzte bitte!“ sagte Wenzel. „Wir bleiben hier stehen. Und nun erzählen Sie mir etwas von dem Toten.“ „Otto Mohr“, begann Pauline, schluckte heftig und hatte sich dann wieder in der Gewalt, „Otto Mohr, zweiundfünfzig, Dienst: Tierzüchter, Handwerk: Feinmechanik, Kunst: Glasgestaltung, hier geboren und aufgewachsen, wissenschaftliches und künstlerisches Studium in Berlin vor rund dreißig Jahren, drei Kinder, geschieden vor fünf Jahren; die Kinder in aller Welt, die Frau als Physikerin in Gagarin, da oben!“ Pauline zeigte tatsächlich mit dem Daumen in den Himmel, so als sei die berühmte Weltraumstadt immer direkt über dem Vorwerk. Die kleine, halb kindliche Geste rührte Wenzel; das Mädchen mußte sich wohl ungeheuer beherrschen, er stellte besser zunächst mal nur sachliche Fragen. „Mit welcher Wahrscheinlichkeit glauben Sie sagen zu können, daß kein Ortsfremder hier war?“ Pauline zögerte. Dann entschied sie sich, ausführlicher zu antworten. „Wenn man davon ausgeht, daß jemand das hier vorgehabt und sich richtig vorbereitet hat und hereingeschlichen ist ins Dorf und aufgepaßt hat, daß er nicht bemerkt wird – dann ist das sicherlich gut möglich. Falls man voraussetzt, daß er die örtlichen Verhältnisse genau kennt. Wenn man diesen Fall jedoch ausschließt, ist es nahezu unmöglich, daß ein Ortsfremder hier war.“
„Warum sind Sie so sicher?“ fragte Wenzel. „Die Straße ist doch wohl nicht durchgängig belebt, oder?“ „Die Hunde“, sagte Pauline. „Die Hunde bellen dann anders, wenn ein Fremder durch das Dorf geht. Anders, als wenn sie sich bloß miteinander über Nachbars Katze unterhalten.“ „Und als wir gekommen sind?“ fragte Wenzel. „Freilich, die Hunde haben den Hubschrauber eher gehört als wir. Deshalb konnten wir ja so ‘ ne Art Empfangskomitee bilden.“ Sie mal an, dachte Wenzel, wenn man sie von dem Schlimmen hier etwas ablenkt, ist sie ja ganz lustig! Da fiel ihm aber auf, daß die Ärzte leise über irgend etwas diskutierten. „Was gibt’ s denn?“ fragte er. Dr. Hasgruber erhob sich, den Glasstab in der Hand, als wolle er ihn zeigen. „Die Halsschlagader ist zerrissen“, sagte er. Wenzel kannte die kurz angebundene Art des Arztes. „Und das bedeutet?“ fragte er. „Wenn er da noch gelebt hätte, müßte der ganze Raum hier voll Blut sein“, sagte er fast widerwillig. „Er war also schon tot, als der Glasstab in den Hals drang?“ „Als der Stab die Halsschlagader zerstörte, hatte das Herz bereits aufgehört zu schlagen, das hab ich gemeint!“ Wenzel wußte, daß der ablehnende Ton des Arztes wie auch die Nörgelei vorhin im Hubschrauber von der Erschütterung herrührten, in die ihn solche Vorfälle immer noch versetzten. Unter normalen Umständen – das hatte Wenzel jedoch erst einmal erlebt – war der Arzt ein freundlicher und umgänglicher Gesprächspartner. Aber Dr. Hasgruber schien noch nicht fertig zu sein, er hob den Glasstab ein bißchen höher. „Was ist das überhaupt für ‘ n Ding hier, dieser Glasstab, ich hab so was noch nie gesehen, wozu braucht man das?“ Wenzel sah Pauline an, die hob ratlos die Schultern. „Der Tote betrieb die Glasgestaltung als Kunst“, sagte Wenzel. „Wir werden nachher sehen, ob wir so etwas im Hause finden. Kann die Leiche jetzt weg?“ Der Arzt nickte. „Ich hole die Trage“, sagte der Arzt vom Rettungswagen und ging hinaus. Als draußen der Rettungswagen anfuhr, lehnten Wenzel und Pauline noch immer in der Tür.
„Sie kennen sich im Hause aus?“ fragte Wenzel. „Ja, recht gut“, antwortete Pauline. „Er hat mir öfter Glaszeug für meine Kostüme gemacht, ich bin nämlich auch Kostümtante fürs Kreistheater.“ „Dann führen Sie mich bitte herum, aber nichts anfassen, nichts verändern, noch nicht, bitte.“ Die Räume des Hauses erschienen fast unberührt, das Bett war gerichtet, in der Küche sah man, daß Otto Mohr allein gefrühstückt hatte – Brettchen, Messer, Tasse, Teelöffel standen in der Abwaschautomatik, nun schon lange getrocknet, es gab nicht das geringste Zeichen dafür, daß jemand anders hiergewesen wäre. In der Glaswerkstatt hielt Wenzel sich lange auf, öffnete auch Schränke und Laden, aber nirgends fand sich etwas, was dem Glasteil ähnlich gesehen hätte, diesem etwa zwanzig Zentimeter langen Glasstück, das zylindrisch begann und dann spitz zulief wie manche Kerzen. Sogar eine Art Docht schien an der Spitze herauszuragen. Er würde wohl Kunstkollegen des Toten befragen müssen, wozu man das brauchte. Oder – stammte das Ding überhaupt von hier? Hatte es vielleicht jemand nur deshalb benutzt, weil der Tote eben Glaskünstler war? Alles Unsinn, so kam man nicht weiter. „Würden seine Frau und seine Kinder auch als Fremde gelten, was die Hunde betrifft?“ fragte Wenzel. „Ja gewiß“, antwortete Pauline, „das heißt, die Kinder vielleicht nicht, aber seine Ehemalige auf jeden Fall, die war seit fünf Jahren nicht mehr hier.“ „Sie mögen sie nicht?“ „Spielt das irgendeine Rolle?“ Oho, dachte Wenzel, die Kleine kann ja kiebig werden! Laut sagte er: „Ich denke schon, wir werden sie wohl herbitten müssen!“
Eigentlich, dachte Ruben Madeira, ist das, was ich hier mache, überflüssig. Sie saßen jetzt im Zollstock, etwa tausend Kilometer von der Anlage entfernt, und bereiteten sich auf das Experiment und die EGI vor. Genaugenommen war die Ensemblegestützte Intuition schon angelaufen. Die fünf anderen hatten sich an ihren gleichgeordneten Steuerpulten plaziert, gemeinsam ein klassisches Musikstück gehört und dann ihre Atmung synchronisiert. Ruben überwachte zwar diese und viele andere Körpersynchronisationen an einem halben Dutzend Bildschirmen, die EEG, EKG, EMG und andere physiologische Meßwerte wiedergaben, und er stellte auch wachsende Synchronisation aller fünf Personen fest, die bis zur Ununterscheidbarkeit ging – aber er griff in keiner Weise in den Vorgang ein, vermittelte keine Meßwerte oder sonstigen Aussagen, er hätte ebensogut fehlen können, er wurde nicht gebraucht. Nicht einmal den Beginn des eigentlichen Experiments bestimmte er – die Beteiligten fühlten selbst, wann ihre Übereinstimmung weit genug gediehen war. Solche direkten Wirkungen des Körperlichen auf das Seelische, obwohl in vielen uralten Volksmedizinen seit Jahrtausenden praktiziert,
blieben theoretisch immer noch voller Rätsel. Und das war ja nun erst der Beginn dieser verblüffenden Methode. Die Rahmenbedingungen für die Existenz des Bläschens wurden automatisch gesteuert – also die Prozedur der Erzeugung, dann die Form der Magnetfelder, die es festhielten, und ihre Veränderung bei steigender Energieaufnahme, ebenso die Laser, die ihm Energie zuführten und gleichzeitig gegenseitig ihre Lichtdruckwirkung aufhoben, selbstverständlich auch die unvorstellbar präzise Meßtechnik, die Ort und Zustand dieses anfangs atom-, später molekülgroßen Teilchenkollektivs feststellte. Im Rahmen dieser durch die bisherigen Versuche normierten Existenzbedingungen des Bläschens gab es aber viele andere Parameter, die man innerhalb der gegebenen Grenzen variieren konnte, beispielsweise das Tempo beim Wechsel der Magnetfelder, Schwankungen in der Veränderung der Energiezufuhr und anderes, und das alles während jeder Sekunde oder hundertstel Sekunde der etwa einminütigen Lebenszeit des Bläschens – mehr Variationsmöglichkeiten, als hundert solche Anlagen in hundert Jahren praktisch ausprobieren konnten. Denn auf jede Änderung solcher Parameter reagierte das Bläschen auf irgendeine Weise, und die Experimente waren mindestens auf zweierlei aus: einerseits die Lebensdauer zu erhöhen, andererseits das Fassungsvermögen für Energie zu vergrößern. Beides mußte durchaus nicht auf dem gleichen Wege erreichbar sein. Nun löst man solche Probleme in der Regel damit, daß man einen Zufallsgenerator anschließt, der die Parameter variiert. Ebendas hatte vor Jahren zu nichts geführt, woraufhin die EGI entwickelt wurde, die den Zufall durch eine subjektive Linie ersetzte, durch persönliches abstraktes Formgefühl, Prozeßfühligkeit oder wie immer man das nennen wollte. Jetzt – Ruben sah es auf seinen Geräten: Die letzten nichtübereinstimmenden Körperreaktionen bei den fünf unterblieben, alle Linien liefen parallel, und jetzt startete die schwarze Esther das erste Bläschen, und sie war dabei so souverän, daß sie ihm, Ruben, zulächeln konnte, ohne ihre Integration mit den anderen im mindesten zu stören. Ruben sah nun auch auf die Geräte, die den Fortgang des Experiments anzeigten, die Kennlinien des Kollektivs behielt er nur mit im Auge. Er sah, wie das Bläschen ausgestoßen wurde in den leeren Raum auf der Schattenseite der Anlage und wie sofort die Laser von den Seiten her begannen, Energie zuzuführen. Er sah, wie das Bläschen wuchs, und sah
auch, wie in der fünfzehnten Sekunde die Physikerin auf Platz drei zu arbeiten begann und wie ihr wenige Sekunden später die anderen folgten. Sie mußte ein Programm haben für ihre Tätigkeit, und mehr noch, die anderen vier mußten dieses Programm begriffen haben, nur Ruben als Außenseiter hatte keine Ahnung, wie das Programm aussah. Es war eine der Merkwürdigkeiten dieser Methode: Sie saßen im selben Raum, hatten die gleichen Voraussetzungen, sie blickten auf dieselben Anzeigegeräte, aber der Außenseiter, also der, der sich nicht seelisch in das Ensemble eingefügt hatte, verstand nicht, was vorging, ihm war es höchstens im nachhinein durch Analyse der Meß- und Steuerwerte möglich, das Programm zu erkennen. Natürlich waren die Personen nicht beliebig auswechselbar; die bei dieser Methode das Ensemble bildeten, mußten sich kennen und aufeinander eingespielt, gewissermaßen trainiert sein, und sie mußten die Sache, um die es ging, beherrschen, mußten alles wissen, was es bis dahin zu wissen gab über diese Bläschen, mußten sozusagen täglich mit ihnen umgegangen sein, kurz, es mußte alles das auf alle Teilnehmer zutreffen, was bei einem einzelnen als Voraussetzung für eine Entdeckung notwendig war. Ruben war es, als verspüre er eine Art Sog, der ihn hineinziehen wollte in das Ensemble, und er wehrte sich dagegen, indem er seine Atmung der der anderen entgegensetzte, bemüht leise, um nicht zu stören. Dann tat er noch etwas, was die anderen nicht tun konnten: Er holte sich von dem Punkt, an dem Platz drei eingegriffen hatte, die Aufzeichnung auf den Schirm, das nützte ihm auch nichts, er konnte daraus nichts ersehen, aber er kam aus dem Rhythmus der anderen. Nun mußte die Minute fast um sein. Ruben entschloß sich, die zu erwartende Explosion des Bläschens in Zeitlupe zu beobachten, er ließ also von diesem Augenblick an die Aufzeichnung laufen, jedoch verlangsamt, was sonst erst nach dem Experiment getan wurde. Es war übrigens schon etwas über eine Minute, dieses Bläschen war relativ langlebig. Aus dem Augenwinkel sah Ruben, daß die andern sich zurücklehnten, er hörte auch an ihrer Atmung, das das Experiment beendet, das Bläschen explodiert war, aber er ließ sich nicht ablenken, er folgte gespannt den Vorgängen auf den Bildschirmen, so als zeigten sie den wahren Ablauf. Und plötzlich sah er etwas, was die andern unmöglich bemerkt haben konnten, weil das Ereignis von zu kurzer Dauer war; es war aber etwas,
was bei keinem bisherigen Experiment aufgetreten war: Ganz kurz vor der Explosion, es mochten vielleicht zwei, drei Mikrosekunden sein, zog sich das Bläschen ein wenig zusammen, statt sich wie bis dahin auszudehnen. „Nehmt mal mein Bild auf euern Schirm“, sagte Ruben und ließ die Aufzeichnung zehn Mikrosekunden Realzeit zurücklaufen. „Ich will euch was zeigen!“ Die andern sahen sich stumm das Ereignis an. „Haben wir ein Schwein!“ sagte Esther nach einer Weile. „Gleich zu Beginn der neuen Serie!“ Sie wandte sich an Ruben. „Ich hab gewußt, du bringst uns Glück. Nennen wir das Ding die Madeira-Schrumpfung!“ Sie sah sich triumphierend um. „Dann lieber nach Akito“, widersprach Ruben und nickte zum Platz drei hinüber. „Sie hat es doch angesteuert, ich hab es bloß als erster gesehen!“ „Außerdem ist das unwichtig“, sagte Akito und hatte natürlich recht. Solche Effekte wurden nur im Sprachgebrauch eines kleinen Kollektivs und auch dort nur vorübergehend und halb im Scherz nach Menschen benannt. Aber der Scherz war wohl nützlich gewesen zur Entspannung. Die Freude wirkte weiter, doch das Gespräch wurde nun sachlicher. Es erbrachte fürs erste drei Möglichkeiten der experimentellen Anknüpfung und Weiterführung: Erstens sollte zu Beginn der Schrumpfung die Energiezufuhr, also die Laserbestrahlung, abgebrochen werden; zweitens das Gegenteil, und zwar verdoppelt, und drittens sollte der Impulsbetrieb der Laserbestrahlung verlangsamt werden, und zwar so weit, daß man später, bei Zeitlupe, eventuelle Reaktionen auf einzelne Impulse isoliert betrachten konnte. Sie ließen drei Bläschen durchlaufen, vollautomatisch gesteuert gemäß dem Protokoll der EGI-Steuerung, nur vorprogrammiert mit einer der drei Varianten am Schluß – nichts änderte sich. Jedesmal trat diese kurzfristige Schrumpfung vor der Explosion auf, und sie konnte damit als gesicherte Entdeckung gelten. Aber jedesmal folgte dann auch in unverändertem Abstand die Explosion, die übrigens an sich keinerlei neue Erkenntnisse oder Begleitumstände brachte. Die sechs waren nicht enttäuscht. Eigentlich hatte niemand erwartet, daß nun gleich im Anschluß eine Kette unerhörter Entdeckungen folgen würde. So leicht machte es die Materie ihren Erforschern nicht.
Sie hatten sich auch gar nicht um die Abläufe gekümmert, sondern nur hinterher die Computerauswertung zur Kenntnis genommen, die besagte, daß die Lebensläufe der vier Bläschen identisch waren. Sie hatten vielmehr die Zeit genutzt, um den vom Ensemble gefundenen Ablauf mit allen früheren zu vergleichen. Freilich dauerte das länger als die drei Abläufe, schon deshalb, weil die Menschen die Ergebnisse in unterschiedlicher Form von der Anlage forderten, die einen rechnerisch, die andern als grafische Darstellung, wieder andere verlangten Präzisierungen in bestimmten Punkten. Erst als alle sich sozusagen mit Information gesättigt hatten, begann die Diskussion darüber, wie man weiter verfahren wollte, nachdem die automatisch-experimentelle Anknüpfung nichts ergeben hatte. Sie diskutierten wohl eine Stunde oder auch etwas länger, aber sie kamen zu keiner Übereinstimmung. Fast alle fanden diese kurze Schrumpfung vor Schluß äußerst bemerkenswert und wollten sie gern weiter untersuchen. Die meisten jedoch scheuten davor zurück, die Grundbedingung der EGI aufzuheben: die freie Variierbarkeit der Parameter, die das spontane Eingreifen möglich machte. Diese Scheu war eine Folge der Tatsache, daß neue Erscheinungen immer nur mit EGI, nie mit systematischen Programmierungen entdeckt worden waren. Ruben hielt sich in dieser Debatte zurück, obwohl seine Außenseiterschaft ja nur für die EGI-Zeit galt. Ihm war ein ketzerischer Gedanke gekommen, den wollte er, um die andern nicht unnötig zu verunsichern, nicht ungeprüft von sich geben. Er als Außenseiter durfte sich ohne Bedenken das Vergnügen leisten, an dem Glorienschein der EGI ein bißchen mit dem Fingernagel zu kratzen; die sie aber durchführten, durften das nicht. Ihm war aufgefallen, daß die EGI bei all ihrer erwiesenen Ergiebigkeit in der jetzt praktizierten Form völlig ungeeignet war für gezielte, systematisch angesetzte Versuche oder Versuchsserien zur Klärung oder Untersuchung eines bestimmten Problems – zum Beispiel dieser Schrumpfung. Einerseits war das natürlich, denn die EGI war eine rational unsystematische Methode, darin lag gerade ihre Stärke. Andererseits machten systematische Versuche eine Zielrichtung möglich. Wenn man die Vorteile beider Gruppen von Methoden vereinen könnte … Die Diskussion, obwohl unentschieden zu Ende gehend, entschied doch den weiteren Verlauf – inneres Schwanken der einzelnen Partner
wie auch äußere Gegensätze zwischen ihnen würden die EGI stören. Also wurde eine Serie von vollautomatisch gesteuerten Experimenten angesetzt, die eine Frage klären sollten: Wo im Ablauf des ersten Versuchs war der Punkt, an dem die Bedingungen für die Schrumpfung geschaffen wurden? Zu diesem Zweck sollte mal dieser, mal jener Abschnitt der EGI-Steuerung weggelassen werden. Hunderte von Bläschen mußten erzeugt und gesteuert werden, aber ohne Einfluß der Menschen – lediglich einer mußte jeweils den Ablauf überwachen, für den Fall, daß sich unerwartet etwas Besonderes ereignete. Danach, ausgeruht, würde man weitersehen. Zu den Bräuchen, die sich im Zusammenhang mit der EGI ausgebildet hatten und von denen niemand sagen konnte, ob sie notwendiger Bestandteil oder Zugabe waren, gehörte auch die künstlerische Beschäftigung in den Pausen, sowohl ausübender als auch aufnehmender Art. Das klingt wie eine Tautologie in dieser Zeit, da Kunst die Hauptproduktion der Menschheit ist; aber hier verhielt es sich doch etwas anders. Die Schwerelosigkeit an Bord des Zollstocks, der ja nur ein kleines Vermessungsschiff war, gab beinahe jeglicher Kunst einen leicht parodistischen Anstrich, und zwar für beide Seiten. Man kann sich unschwer vorstellen, daß sogar für einen Sänger, für den die Schwerelosigkeit nichts ändert an den direkten Bedingungen seiner Kunst, das fehlende Gefühl von oben und unten, das veränderte Körpergefühl Auswirkungen auf Intonation und Ausdruck hat, die bei der heutigen polyartistischen Bildung niemandem entgehen. Ganz klar wird das bei einem Musiker, der auf einem Instrument spielt. Aber wie soll man sich unter Schwerelosigkeit etwa die Kunst des Tänzers vorstellen? Rubens Kunst also? Seine Ideen, die er von der Esther, dem Mond des Minos, mitgebracht hatte, nämlich daß man den besiedeln könnte, und über die er mit Eifer gesprochen hatte – sie hatten sehr unterschiedliche Aufnahme gefunden. Aber die Wandlung seiner Tanzkunst, die in den knapp drei Jahren der Schwerelosigkeit vorgegangen war, hatte fast so etwas wie eine neue Kunstart entstehen lassen. Ansätze und Versuche hatten schon vor ihm einige Tänzer-Kosmonauten unternommen, aber keiner bisher hatte soviel Zeit gehabt wie er – soviel Zeit und soviel Platz. Für seinen Tanz hatte Ruben sich eine Musik ausgesucht, die jeder kannte, die kosmische Suite Nummer fünf von einem bekannten Komponisten, der auch als Physiker diente, nur in einem anderen Sektor des Riesenprojekts Raumkrümmung, dessen Musik aber auch auf der Erde
beliebt war, nicht nur bei seinen Dienstkollegen. Die Suite begann mit langsamen, gleitenden, ineinander übergehenden Orgeltönen. Ruben hatte die Magnetschuhe ausgezogen und löste sich mit einem für die Zuschauer unmerklichen Fußdruck vom Boden, auf den er sich gekauert hatte. Er hatte sich dabei eine Drehung um die Querachse und eine weitere um die Längsachse des Körpers erteilt, die er jedoch erst einmal stark verlangsamte, indem er den Körper in die Waagerechte streckte. Wie der Glanz irdischen Tanzes in der scheinbaren Schwerelosigkeit des Tänzers besteht, so bestand hier die Eleganz der Vorführung, von allen anerkannt, in der scheinbaren Schwere. Obwohl Ruben sich nur unter der Wirkung der Drehimpulse bewegte, verstand er es doch, zu entsprechenden Passagen der Musik immer wieder den Eindruck hervorzurufen, als schreite er in der Luft. Im Mittelteil der Suite, der aus schnellen walzerähnlichen Tonfolgen bestand, rollte sein zu einem Knäuel zusammengezogener Körper an der Wandung der Zentrale entlang wie ein hüpfender Ball, es war einfach nicht mehr vorstellbar, wie Ruben das zustande brachte. Aber im Schlußteil steigerte er sich noch. Die Musik ließ mehrfach auf einen stark betonten Taktteil eine Pause folgen, und Ruben gelang es, jeweils mit den Füßen so aufzukommen, als falle er schwer aus der Luft, und dann die Pause hindurch scheinbar regungslos zu verharren, als stehe er fest auf dem Boden. Dafür hörte sich aber der Beifall auch an, als stamme er nicht von fünf Kollegen im Zollstock, sondern von fünfzig auf der Erde. Esther bat ihn auf den Platz neben sich, und Ruben war ein wenig enttäuscht, daß sie jetzt von etwas ganz anderem sprach. „Dir ist vorhin etwas Wichtiges eingefallen, ich hab es dir angesehen“, sagte sie. „Kann ich erfahren, was?“ Ruben zögerte. Eigentlich hatte er sich die Sache noch durch den Kopf gehen lassen wollen, aber siehe da, die Kunst hatte auch ihn weitergebracht, plötzlich kam ihm ein Einfall, wie man vielleicht das Problem lösen könnte. „Mir ist aufgefallen“, sagte er, „daß diese großartige Methode überhaupt nichts taugt, wenn es um etwas Bestimmtes geht. Zum Beispiel um die Schrumpfung. Warte, ich weiß, das ist nicht neu und …und …, und ich habe vielleicht eine Idee, wie man beides vereinbaren kann. Wenn sich jetzt rausstellt, daß das erzeugende Moment für die Schrumpfung am Anfang von Akitos Eingreifen lag, also in der fünfzehnten Sekunde,
könnte man dann nicht bis dorthin, also bis zu dem Erzeugenden, alles laufenlassen und dann mit der EGI einsetzen? Was meinst du?“ „Siehst du“, sagte Esther, „du hast dich gegen den Außenseiter gesträubt, aber jetzt wirst du zugeben müssen: Er bringt was ein. Wenn er mit dem Richtigen besetzt ist.“ Sie ließ ihre weißen Zähne blitzen, um das Lob abzumildern, und Ruben freute sich – über die Anerkennung seiner Idee wie auch darüber, daß dieses Lächeln ihn nicht mehr aus der Fassung brachte. Wenzel Kramer hatte Pauline herumgeschickt im Vorwerk, sie sollte die Leute fragen, wer etwas über regelmäßige Besucher oder überhaupt persönliche Kontakte des Toten wußte, seien sie nun dienstlicher, handwerklicher oder künstlerischer Art. Er saß an der Grapschkiste, dem Personenidentifikator der Ratgeberin, der ja zugleich letztes Glied des großen Verwaltungsnetzes war, das die Welt umspannte. Er überlegte, ob er in Gagarin, der Erdaußenstadt, anrufen sollte oder ob es besser sei, der ehemaligen Frau des Toten ein Telex zu schicken mit der Bitte, sie möge sich melden. Er kam aber nicht dazu, sich für das eine oder andere zu entscheiden, denn zuerst rief ein Sohn des Toten an und wollte Näheres wissen, die Ratgeberin hatte die Kinder verständigt; Wenzel vertröstete ihn und versprach, sich in einigen Tagen noch einmal zu melden. Dann erschien das Gesicht von Dr. Hasgruber auf dem Bildschirm. Der Arzt lächelte verkniffen. „Wie ich sagte – er war schon tot, als der Glasstab die Halsschlagader zerfetzte. Aber noch nicht lange.“ „Was heißt: noch nicht lange?“ „Höchstens fünf Minuten. Wenigstens drei Sekunden.“ „Und woran ist er gestorben?“ „Herzversagen.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Das gefällt Ihnen nicht?“ fragte Wenzel. „ Überhaupt nicht!“ antwortete der Arzt fast vorwurfsvoll, so als sei Wenzel dafür verantwortlich. „Mit meinem Zuständigkeitskode habe ich mir die Krankengeschichte zugänglich gemacht. Der Mann war kerngesund.“ „Gift?“
„Nicht nachweisbar.“ Wenzel wußte, wenn der Arzt dies sagte, dann konnte man fast sicher sein, daß kein noch so unbekanntes Gift hier im Spiel war. Aber immerhin, eine verschwindend geringe Möglichkeit blieb doch. „Ist er dort gestorben, wo wir ihn gefunden haben?“ „Wahrscheinlich. Sicher ist es nicht. Er kann sich beim Hinfallen den Stab durch den Hals gebohrt haben. Alles kann, kann, kann.“ „Und das Herzversagen – ein Schreck? Ein Schock?“ „Der hätte nicht mal schneller geatmet, wenn aus der Hausapotheke ein Skorpion herausgekrochen wäre.“ „Irgend etwas sonst in seinen Unterlagen, was ich wissen sollte?“ „Sind Sie allein im Zimmer?“ fragte der Arzt zurück. Wenzel bejahte und unterdrückte dabei ein Lächeln: Selbstverständlich durften nur Ärzte die Krankengeschichte eines Menschen aus dem Computer abrufen, und auch nur solche, die das für die Behandlung brauchten. Das war einmal, vor hundert Jahren und früher, von großer Bedeutung gewesen – seit über zwanzig Jahren aber war vor keinem Schlichter der Welt mehr ein Verfahren wegen Datenmißbrauchs verhandelt worden. Dr. Hasgruber jedoch hielt mit ängstlicher Strenge an allen herkömmlichen Sicherungsmaßnahmen fest. Und obwohl Wenzel das ein bißchen lächerlich vorkam, konnte er dieser Haltung des alten Arztes doch nicht seine Achtung versagen. „Keine Krankheit“, sagte Dr. Hasgruber, „aber ein paarmal Tropenanpassung, das letztemal vor – vor drei Jahren.“ „Ich erreiche Sie doch noch dort?“ „Zwei Reihen hab ich noch laufen. Wenn ich absolut sicher bin, daß keine Vergiftung vorliegt, melde ich mich noch mal. Sonst sehen wir uns beim Abendbrot.“ Wenzel gönnte seinen Augen einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Dieser Fall würde nicht zu denen gehören, die im Handumdrehen zu erledigen waren. Er fühlte das mit einer Sicherheit, als hätte er tausend Gründe dafür. Dabei war es wohl eher das Fehlen jeglichen einsehbaren Grundes für das Geschehene, was ihn so fühlen ließ. Was konnte er tun? Die Leute hier im Ort befragen. Die Leute befragen, die ihn vom Dienst her kannten, vom Handwerk, von der Kunst, Verwandtschaft. Schwierig, wenn man nicht wußte, wonach man fragen sollte.
Nicht sehr aussichtsreich. Blieb nur die Hoffnung, daß sich bei all den Gesprächen irgendein Anhaltspunkt ergeben würde. Und noch eins war nötig, ein Vorgehen, mit dem er mehrfach gute Erfahrungen gemacht hatte: die letzten drei Tage des Toten zu rekonstruieren, und möglichst nicht nur die räumlich-zeitlichen Koordinaten, sondern auch, was er getan, was ihn bewegt hatte. Das würde er der Ordnerin übertragen, sie kannte sich hier besser aus. Ja, er hatte sich jetzt entschlossen, er würde ein Telex aufgeben an die ehemalige Frau, sehen wollte er sie erst, wenn sie ihm persönlich gegenüberstand, der Bildschirm lieferte immer einen verfälschten Eindruck. Eben wollte er die Grapschkiste einschalten, da hielt draußen auf dem kleinen Platz ein Wagen, und eine schmale schwarzhaarige Frau stieg aus. Sie blickte kurz in die Runde, einen Augenblick länger zum Hubschrauber, und dann kam sie direkt auf das Haus der Ratgeberin zu. Eine Frau, die hier Bescheid weiß, vermutete Wenzel, aber längere Zeit nicht hier war. Sollte das …? „Guten Tag, entschuldigen Sie, ich wollte zu Ingrid.“ Die Frau hatte eine warme, überraschend volle Stimme, und sie war sehr beherrscht. Wenzel spürte nur dank seiner Fähigkeit zum Einschwingen in die Stimmung anderer, von der Magierkunst trainiert, daß sie sehr erregt war. „Frau Koslowski wird gleich wiederkommen“, sagte er. „Sie sind, wenn ich nicht irre, Frau Sibylle Mohr?“ „Was ist mit Otto?“ fragte sie zurück, nun deutlich aufgeregt. „Setzen Sie sich bitte“, sagte Wenzel. Es wäre ihm albern vorgekommen, zu fragen, weshalb sie denn argwöhne, es sei etwas mit Otto – die Frage konnte er sich allein beantworten: Sie kommt ihn besuchen, ruft von unterwegs an, niemand meldet sich, auf dem Dorfplatz steht ein Hubschrauber, im Zimmer der Ratgeberin ein Fremder… Statt dessen stellte er sich vor und sagte dann: „Ihr ehemaliger Mann, Frau Mohr, ist heute morgen gestorben.“ Die Frau bewahrte auch jetzt Haltung, aber Wenzel merkte doch, wie schwer es ihr fiel. Er fuhr fort: „Es sah anfangs aus wie ein gewaltsamer Tod, sogar wie ein Mord, aber inzwischen ist das nicht mehr so wahrscheinlich. Ich war übrigens gerade im Begriff, Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, als ich Sie aussteigen sah.“ Wenzel hatte das Ende des Satzes ein wenig schweben lassen, so daß man ihn auch als Frage auffassen konnte.
Frau Mohr begriff sofort. Sie öffnete ihre Handtasche, kramte etwas darin und nahm einen Brief heraus. „Deshalb bin ich hier“, sagte sie und reichte Wenzel den Brief. „Danke“, sagte Wenzel. Der Brief war von hier nach Gagarin gegangen, eine immerhin nicht gewöhnliche Strecke. Normalerweise wurden Briefe über Telex unter Personalkode übermittelt, nur der Adressat konnte sie auf dem Bildschirm abrufen oder ausdrucken lassen. Der persönliche, handgeschriebene Brief war selten geworden, und er war immer sehr intim. „Darf ich lesen?“ fragte Wenzel deshalb. „Bitte.“ Wenzel zog den Brief heraus und entfaltete ihn. Das Schriftbild war ihm sympathisch, noch ehe er die Worte gelesen hatte. Es waren nur wenige Sätze: „Liebe Freundin, bitte besuch mich zum Frühlingsanfang. Sei dieses eine Mal nicht unabkömmlich. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, sie haben viel verändert, und es ist nun bald der Punkt erreicht, an dem die Veränderung sich manifestieren wird. Du solltest dabeisein.“ Irgend etwas sollte also geschehen dieser Tage, etwas Wichtiges, etwas Abschließendes, so bedeutend, daß es eine Reise von Gagarin zur Erde und zurück rechtfertigte, wichtig aber in erster Linie für die Frau und den Mann, denn andere waren doch wohl nicht eingeladen, wenigstens war bisher dergleichen noch nicht bekannt geworden. Es konnte ja sein, daß jetzt, heute oder morgen, noch Freunde oder Kollegen erschienen – die Kinder hatte Otto Mohr jedenfalls nicht eingeladen, die hätten das der Ratgeberin gesagt. „Haben Sie eine Vorstellung, was er gemeint haben könnte?“ fragte Wenzel.
Sibylle Mohr schüttelte den Kopf. „Kann ich ihn sehen?“ „Später, er ist in der Obduktion.“ „Wie …, ich meine, wer …Was ist überhaupt geschehen?“ fragte Sibylle Mohr. Wenzel erzählte ihr, wie der Tote gefunden worden war und was inzwischen bekannt war, und er verbarg nicht, daß er augenblicklich noch ziemlich ratlos war. Der erste Punkt, der auf bisher unbekannte Zusammenhänge deutete, war diese Einladung. „Da ja nun dieser Brief ahnen läßt, daß hier langfristige Entwicklungen eine Rolle spielen – vielleicht könnten Sie mir ein Bild von dem Toten geben.“ „Es wird aber in einigen Punkten dem Bild widersprechen, das Ihnen andere geben werden, zum Beispiel …Hiesige …“ „Warum das?“ „Nun, sie haben hier auf jeden Fall eine bessere Meinung von Otto als von mir.“ „Weil Sie ihn verlassen haben?“ „Ja, oder vielmehr wegen der Gründe dafür. Was sie für die Gründe hielten.“ Es sei doch so, erklärte die Physikerin, daß die meisten Menschen von den drei Tätigkeitsbereichen – Dienst, Handwerk und Kunst – den letzteren am wichtigsten nehmen, so auch die Leute im Vorwerk. Sie hingegen sei mit Leib und Seele Wissenschaftlerin. Kunst sei fast immer mit dem Ort, der Gegend, allenfalls mit dem Sprachbereich verwachsen, Physik aber müsse man da betreiben, wo die Experimente gemacht werden. Nicht unbedingt immer und lebenslänglich, doch jeder Lebenslauf eines Physikers ziele letzten Endes darauf. So wurde auch sie auf Grund einer Veröffentlichung zum Projekt Raumkrümmung berufen – und nahm an. „Aus Ehrgeiz?“ „Das dachten die andern auch. Aber das dort ist das Lebenswerk von zehntausend Wissenschaftlern. Ich bin einer davon. Und auch die Art zu arbeiten läßt keinen Raum für Ehrgeiz. Wer ehrgeizig wird, kann nicht gedanklich mit andern kooperieren und schon gar nicht unbefangen kritisieren. Man wird unschöpferisch, das geht sehr schnell.“ „Hielt Otto Sie auch für ehrgeizig?“ fragte Wenzel, um das Gespräch wieder auf den eigentlichen Gegenstand zu lenken.
„Gerade Otto“, sagte sie. „Obwohl er es hätte besser wissen müssen. Aber daß er es tat, hat mir das Weggehen erleichtert.“ Sie lachte auf, es klang ein bißchen bitter. „Und wissen Sie, was sie mir hier am meisten übelgenommen haben? Daß ich mit meinem Fortgehen unser Streichquartett gesprengt habe. Wir hatten nämlich schon einen Europapreis.“ „Hätte Ihr Mann nicht mitgehen können?“ „Von den Arbeitsbedingungen her wahrscheinlich“, antwortete die Physikerin, „Gagarin ist ja eine richtige Stadt, in der alle Dienste und Handwerke gebraucht werden. Doch er konnte hier nicht weg. Er hatte seine Wurzeln hier. Merkwürdig, seiner Kunst merkt man das auf den ersten Blick gar nicht an. Haben Sie schon die Schmuckfenster hier im Vorwerk gesehen?“ „Am besten wird sein, Sie zeigen sie mir!“ sagte Wenzel. „Aber vorher erzählen Sie mir doch etwas von Otto. Wenn es Ihnen nicht zu schwer fällt.“ „Nein, nein“, erwiderte Sibylle, „ich bin nur kein Psychologe …“ „Das macht nichts“, sagte Wenzel ermunternd, „erzählen Sie ein paar Geschichten. Begebenheiten. Familienanekdoten.“ Wenzel erfuhr nun doch eine Menge von solchen Einzelheiten, die das Bild eines Menschen wenigstens umrißhaft entstehen lassen. Die Physikerin fand sich, nach anfänglichem Stocken, ins Erzählen, und Wenzel verstand zuzuhören. Da war die Geschichte, wie Otto Mohr vom Arbeitstisch aufstand und erklärte, er werde jetzt in den Himalaja fahren, dort sei eine ähnliche Züchtung gelungen wie die, mit der er sich gerade beschäftige, und wie es ihr eben noch gelang, ihm eine wetterfeste Jacke aufzunötigen. Zwar hatte sich die Sache mit der Züchtung dann als Mißverständnis herausgestellt, aber er hatte so viel gelernt und erfahren, daß ihn die Zeit und die Mühe nicht dauerten. Eine andere Episode berichtete, daß er einmal drei Wochen lang fast nicht aus der Werkstatt herausgekommen sei und nur das Allernötigste in Dienst und Kunst getan habe, einzig, um eine uralte Tischuhr eigenhändig wieder in Gang zu setzen und sie ihrer Tochter zur Jugendweihe zu schenken – die sie übrigens heute noch habe. Einem Wanderer schließlich, mit dem er ins Gespräch gekommen und der ihm sympathisch gewesen sei, habe er einmal ein Glasfenster mit bestimmten historischen Motiven versprochen, er habe Monate daran gearbeitet. Und als ihn Fachkollegen dann beschworen, das Werk in die Bezirksaus-
stellung zu geben, habe er sich geweigert und sich an die Absprache gehalten, und das, obwohl sich der Fremde nicht einmal, wie das doch üblich sei, mit einer Gegengabe aus seiner Kunst oder seinem Handwerk revanchiert habe. „Er konnte also einem Impuls mit großer Beharrlichkeit folgen“, stellte Wenzel fest. „Und ob!“ bestätigte die Physikerin. „Leicht hatte man es nicht mit ihm. Aber schön.“ Ihre Stimme wurde wieder traurig. „Ich hab ihn immer dafür bewundert, daß er trotzdem in allen drei Arbeitsbereichen tüchtig war.“ „Und nun muß ich Sie noch mal fragen: Haben Sie nicht die geringste Vorstellung, wie die Einladung zu deuten wäre? Der Text klingt ja ganz – nun, wie soll ich sagen, auf mich wirkt er heiter, gelassen. Diese Haltung könnte natürlich auch vorgetäuscht sein. Ein rachsüchtiger, von Haß erfüllter Mensch, der den anderen mit einem Selbstmord schocken wollte – jaja, natürlich trauen Sie ihm das nicht zu, aber wissen Sie, wie er sich psychisch inzwischen verändert hat? Sie waren ja nicht hier, soviel ich weiß, und viel Briefverkehr haben Sie wohl auch nicht gepflegt? Sehen Sie, Menschen in normalen Umständen halten all diese Dinge, mit denen ich mich ständig beschäftigen muß, für unmöglich, aber ich sage Ihnen: So etwas ist durchaus möglich. Na gut, wenn ich auch in diesem Fall nicht daran glaube. Das jedoch aus anderen Gründen. Selbstmord oder nicht – lassen wir das mal beiseite. Was könnte sonst der Grund für die Einladung sein? Arbeitsergebnisse, große, gewichtige, entweder im Dienst, im Handwerk oder in der Kunst? Wissen Sie davon etwas?“ „Haben Sie im Haus nichts gefunden?“ „Ich habe es nur flüchtig angesehen, mit Paulines Hilfe. Sie war wohl öfter dort gewesen.“ Die Physikerin schien einen Entschluß gefaßt zu haben. Sie stand auf. „Lassen Sie uns hingehen“, sagte sie. „Irgend etwas finde ich.“ Die automatisch gesteuerten Bläschen-Durchläufe hatten ergeben, daß tatsächlich jener Eingriff in der fünfzehnten Sekunde die Schrumpfung hervorgerufen hatte. Rubens Idee war angenommen worden und sollte bei den nächsten zehn Bläschen-Durchläufen praktiziert werden – wiederum mit ihm als Außenseiter. Dann, nach einer entsprechenden Pause, wollte Esther den Außenseiter übernehmen, und Ruben sollte zum ers-
tenmal wieder im Ensemble sitzen – für weitere zehn Durchläufe, falls sich bis dahin nichts wesentlich Neues ergeben haben sollte. Das war das Programm für den heutigen Tag. Ruben fühlte sich jetzt schon etwas wohler in seiner Rolle. Esther hatte recht, so ganz unnütz war der Außenseiter wirklich nicht, und für sein Nichtstun wurde er ja entschädigt durch die Möglichkeit, wichtige Einzelheiten des Ablaufs als erster genauer untersuchen zu können. Die Zahl von zehn Durchläufen je Serie war nicht technisch bedingt, sondern aus Erfahrungen mit der EGI abgeleitet: Ein Durchlauf von etwa einer Minute, zwei Minuten Pause, und das zehnmal hintereinander, eine halbe Stunde also im ganzen, dann war die Kreativität erschöpft, denn trotz oder vielleicht sogar wegen der starken Begeisterung, die der einzelne dabei spürte, stellte das Ganze eine sehr hohe seelische Beanspruchung dar. Bei ununterbrochenem Betrieb waren in früheren Jahren schon nach fünf Minuten EGI leichte psychische Störungen bei einzelnen Teilnehmern aufgetreten. Dank den Pausen ließ sich die Zeitspanne auf eine dreiviertel Stunde ausdehnen; eine halbe Stunde hatte sich jedoch als das Optimum herausgestellt. Ruben nutzte seine Außenseiterposition bei der ersten Serie nach Kräften. Immer wieder ließ er Aufzeichnungen von den Schrumpfungen in Zeitlupe laufen, natürlich nicht, weil er diesen Effekt als erster gesehen hatte, sondern weil der augenblicklich die interessanteste Erscheinung im Dasein der Bläschen war, so wie die Bläschen die interessanteste Erscheinung in der ganzen physikalischen Forschung waren – nach seiner Meinung jedenfalls. Beim neunten Durchlauf hatte er wieder gegen Ende die Aufzeichnung auf Zeitlupe geschaltet und wartete auf die Schrumpfung des Bläschens. Plötzlich wußte er, ohne auf die Uhr zu sehen, daß die Zeit schon überzogen war. Und war da nicht ein leichtes Flimmern gewesen, an der Stelle, wo sonst die Schrumpfung begann? Und immer noch keine Explosion …? Er blickte zur Seite – die andern schauten wie gebannt auf ihre Schirme, also auch in Realzeit noch keine Explosion, eine halbe Minute bereits darüber. Ruben holte noch einmal die Aufzeichnung auf den Schirm, aber jetzt nicht die Computergrafik, die ja eine geometrische Übersetzung der Meßwerte war, sondern die Werte selbst, die konnten noch langsamer
ablaufen, ja im Extremfall sogar Wert für Wert. Als er an den Punkt kam, wo ihm vorhin das Flimmern aufgefallen war, las er von den Werten nun doch eine kleine Schrumpfung ab, allerdings fiel sie bedeutend kürzer aus, so kurz, daß sie in der Zeitlupe nicht deutlich wurde. Ein erneuter Blick zur Seite zeigte ihm, daß die andern immer noch das Bläschen beobachteten, allerdings schien ihm, daß sie nicht mehr aktiv steuerten, was ja auch ganz vernünftig war. Er fuhr jetzt die Aufzeichnung zu dem von ihm schon markierten Punkt zurück und ließ sie dort stehen. Jetzt wollte er sich einen Überblick verschaffen, was die andern Meßgeräte anzeigten, die der automatischen Steuerung eingeschlossen. Er prägte sich die angezeigten Werte ein und ging dann Schritt für Schritt vorwärts, jeweils um zehn Nanosekunden. Was war denn mit dem Magnetfeld los? Die Werte stiegen plötzlich steil an. Nach etwa hundert Nanosekunden hörte der Anstieg auf, die Werte blieben – auf dem nun höheren Niveau – gleich. Mit dem Bläschen mußte etwas vor sich gegangen sein, was die anderen Meßgeräte nicht registriert hatten. Ein Blick zu den Gefährten zeigte ihm abermals, daß noch keine Explosion stattgefunden hatte. Zweieinhalb Minuten existierte das Bläschen bereits! Nahm es überhaupt noch Energie auf? Ruben holte sich die gegenwärtigen Werte zum Vergleich auf den Schirm und erkannte, daß sich die Parameter des Bläschens schon seit diesem Sprung, den er eben entdeckt hatte, nicht mehr geändert hatten. Eigentlich könnte man die Laser abschalten, dachte er, aber das war Sache der EGI-Mannschaft, er konnte sie dabei nicht stören. Also zurück zur Sprungzeit. Was war da geschehen? Wo konnte er suchen? Klar, das Magnetfeld hatte reagiert, und das, worauf es reagiert hatte, mußte ebenfalls gemessen worden sein, also wahrscheinlich wohl von den Meßfühlern der Feldsteuerung, die normalerweise nicht im Versuchsprotokoll erschienen, weil sie zu vielen lokal bedingten Schwankungen unterlagen, die aber selbstverständlich gesondert aufgezeichnet und abrufbar waren. Her damit! Es war nicht so leicht, diese Werte aus dem Computer herauszukitzeln, wenn man nicht ständig damit umging – da waren die Computerdialoge des Navigators in seinem großen Raumschiff einfacher gewesen. Doch er schaffte es, und als er sie endlich auf dem Schirm hatte, sah er sofort, daß sich die Mühe gelohnt hatte. Das Bläschen mußte sprungartig eine Zunahme an Masse erfahren haben. Oder an Energie.
Oder an beiden. Sprungartig, das hieß hier: innerhalb von zehn Nanosekunden. Und, alles in Masse umgerechnet, um ungefähr zehn Prozent. Aus dem Nichts. Ein Schöpfungsakt? Ein Mini-Urknall? Ruben mußte über sich selbst lächeln; der Eifer hatte ihn gepackt. Neuer Auftrag an den Computer: in der Umgebung des fixierten Zeitpunktes von plus minus zwanzig Nanosekunden alle Meßwerte auszugeben, die Veränderung zeigten. Das war aber nun doch mehr, als Ruben erwartet hatte, und weit mehr, als er im Augenblick und ohne Suchprogramme verarbeiten konnte. Noch ein Blick deshalb zu den andern und in die Realzeit: Das Bläschen existierte noch immer, jetzt schon vier Minuten. Sollten sie es stabil bekommen haben? Aber die Kollegen, deren Gesichter sein Blick streifte, sahen gar nicht freudig erregt aus. Dann wischte ein neuer Gedanke den Eindruck fort: Wenn nun das Bläschen ein neutrales Teilchen eingefangen hatte? Ein Neutron zum Beispiel? Bruder Zufall, wieder hättest du uns geholfen! Ein Zufall freilich wäre das, der ebensogut erst in zehn Jahren hätte auftreten können und der sich so schnell nicht wiederholen dürfte, aber er würde uns dennoch den Weg zeigen. Eine große Ruhe überkam Ruben, so eine tiefe, kräftige Ruhe, nur ganz im Hintergrund bohrte etwas und wollte ins Bewußtsein dringen, irgend etwas, was er gesehen hatte in den letzten Minuten, gesehen und nicht beachtet …Na gut, gib dich zufrieden, es waren zu viele Werte – aber das gute Zureden half nichts, er war jetzt auch schon nicht mehr ruhig, nein, eigentlich war er unruhig geworden. Und er wurde immer noch unruhiger. Meßwerte waren es nicht, die ihm im Kopf herumspukten, was dann, was hatte er sonst gesehen, ja nun, die Gesichter seiner Gefährten … Ruben war alarmiert. Er blickte jetzt aufmerksam zu der EGIMannschaft hinüber, irgend etwas stimmte da nicht. Daß sie nicht steuerten, gut, das war in Ordnung. Also blieb ihnen nur das Zusehen. Oder der Abbruch der EGI. Aber wie bricht man die EGI ab? Wenn der Versuch zu Ende ist, das Teilchen explodiert, taucht man von selbst aus der kollektiven Versunkenheit wieder auf. Wenn aber, wie jetzt, der Versuch nicht zu Ende geht …? Der Fall war, soweit Ruben wußte, bisher nicht eingetreten. Und jetzt erkannte Ruben, was ihn so tief im Innern gestört hatte: der unglückliche Ausdruck der Gesichter. Was war denn mit denen los?
Sahen sie überhaupt noch, was auf den Bildschirmen gezeigt wurde? Waren sie noch im Experiment, oder waren sie längst ausgestiegen? Er hielt den Atem an und lauschte. Doch ja, sie atmeten noch im gleichen Rhythmus, die EGI lief noch. Aber zeigten die Gesichter jetzt nicht schon fast eine Art Qual, bei einigen wenigstens? Ruben wischte die Experimentaldaten von seinem Bildschirm und schaltete statt dessen die Biodaten der Gefährten drauf. Außer Übereinstimmung sagten diese Daten jedoch gar nichts aus, innerlich schimpfte Ruben auf die Psychologen, wußte aber ganz genau, daß er ihnen unrecht tat. Es lag nicht an ihnen, wenn sich die höchstorganisierte Bewegung der Materie, das Psychische, immer noch quantitativen Messungen entzog. Ja, die Gesichter verrieten mehr als die feinsten Meßinstrumente. Erschöpfung breitete sich auf ihnen aus, und nun, als er dies erkannte, erschrak Ruben tief. Natürlich waren sie erschöpft! Es war schon am Ende der halben Stunde gewesen, als dieses Bläschen stabil blieb, und seitdem, schon fast fünf Minuten, waren die andern in der EGI geblieben, sie waren längst überbeansprucht, vielleicht waren sie zu schwach, selber herauszufinden. Und er, konnte er ihnen helfen? Er wußte keine Antwort. Nur eins war klar: Von außen unterbrechen durfte er die EGI nicht, das konnte erfahrungsgemäß zum Schock führen, der um so schwerer sein dürfte, je erschöpfter die fünf waren. Was also konnte er tun? Ruben schloß den Helm, um die andern nicht aufzuschrecken, und rief den raummedizinischen Dienst in Gagarin an, schilderte die Situation und bat um Hilfe. Als der Ruf abgegangen war, rechnete er: Fünf Minuten ging der Spruch hin, fünf Minuten zurück, mindestens drei Minuten, ehe der Diensthabende eine vorläufige Antwort formuliert hatte. Er sah in die Gesichter der fünf Gefährten und wußte, so lange durfte er nicht warten. Das probate Mittel bei psychischen Störungen aller Art war im Raumschiff von jeher Schlafgas. Aber wenn das nun schadete? Ruben setzte sich ein Ziel von zwei Minuten. Innerhalb dieser Zeit mußte er zu einem vernünftigen Schluß kommen. Medizinische oder psychiatrische Fachkenntnisse hatte er nicht, doch die EGI kannte er, hatte sie selbst oft erlebt, auch noch in ihren Anfangszeiten, und er hatte alles gelesen, was darüber publiziert worden war. Er entsann sich, daß sie
einmal sehr erschöpft gewesen waren, sie hatten die Zeit weit über das normale Maß hinaus gedehnt, auch um festzustellen, wie lange man den Zustand aufrechterhalten könne. Sie hatten zwar das Experiment noch selbst abgebrochen, waren dann aber sofort schlafen geschickt worden. Jetzt waren die Gefährten noch in der EGI, gemeinsam, aber der Schlaf verschloß die Sinnesorgane, und damit mußte die Synchronisation der fünf zerfallen und zugleich Erholung einsetzen. Ob das stimmte? Das konnte ihm im Augenblick keiner sagen. Wenn er aber bei jedem Entschluß auf vollständige Information gewartet hätte, dann wäre sein Raumschiff nicht mal bis zum Minos gekommen, geschweige denn zurück. Ruben war entschlossen. Er zog sein Visier wieder herunter und ließ Schlafgas in die Zentrale. Aufmerksam beobachtete er die Anzeige der Körperwerte aller fünf: normale Schlafanzeichen. Und langsam schwand die Parallelität, jeder bekam seine eigenen charakteristischen Kurven. Im Archiv mußten die Schlafkurven der fünf gespeichert sein. Ruben holte sie auf die Schirme – die jetzigen Kurven stimmten mit den archivierten überein. Nun sah er in die Gesichter und atmete auf. Die Qual und die Unruhe waren aus ihnen verschwunden, alle sahen wie normale Schlafende aus. Ruben blies das Schlafgas aus der Zentrale, öffnete sein Visier und stand auf. Mit Gurten sicherte er die Schlafenden in ihren Sesseln. Und dann endlich kam die Antwort aus Gagarin. Eine gutaussehende, aber nicht mehr allzu junge Frau erschien auf dem Bildschirm. „Geben Sie Schlafgas, und wenn eine Beruhigung eingetreten ist, kommen Sie nach Gagarin zurück. Inzwischen übermitteln Sie mir bitte die Biowerte der Patienten, ich melde mich dann wieder.“ Ruben war ungeheuer erleichtert, daß er anscheinend das Richtige getan hatte. Er schaltete die Körperwerte der fünf auf den Sender. Jetzt zum erstenmal dachte er wieder an das Experiment und seinen merkwürdigen Ausgang. Was war mit dem Bläschen geschehen? Existierte es noch? Er blickte auf die Bildschirme der anderen. Sie waren leer. Irgendwann mußte es explodiert sein. Nun, das würde er sich später anschauen. Er schaltete, aber von der Anlage Blastron I kamen überhaupt keine Werte mehr. Was war denn da los? Er schaltete das Radar des Zollstocks ein und suchte die Anlage. Sie war nicht schwer zu finden, vor allem wegen der riesigen Kollektor-
schirme, in deren geometrischer Mitte sie lag. Moment mal …, das war doch nicht möglich …Ruben schaltete zum Radar das Infrarotbild. Tatsächlich, die Anlage taumelte. Die Steuerdüsen wurden gezündet, unregelmäßig, mal die, mal jene. Und in den Abgasen der Düsen zeichnete sich für den Bruchteil einer Sekunde ein schmaler weißer Streifen ab: die Laser arbeiteten noch! „Wir können jetzt nicht nach Gagarin kommen“, sprach Ruben ins Mikrofon.
2 Draußen schien die Nachmittagssonne, der Sandweg leuchtete gelb, das Gras grün. „Warum hat er Sie eingeladen und Ihre Kinder nicht?“ fragte Wenzel. Es war ihm klar, daß die Physikerin das jetzt auch nicht wissen konnte; doch wenn sie schon nach Antworten suchen wollte, dann sollte sie dazu mit möglichst genauen Fragen ausgestattet sein. Sibylle Mohr hatte auch schon darüber nachgedacht. „Wenn es eine neue Schöpfung in Kunst oder Handwerk gewesen wäre, dann hätte er zuerst seine entsprechenden Kollegen eingeladen. Es muß mit mir zu tun haben, mit uns, mit unserer Trennung. – Da sind wir.“ Sie traten in die Diele, die den größten Teil des Erdgeschosses einnahm. Diesmal sah Wenzel sie nicht als Fundort einer Leiche, sondern als Lebensbereich, als Wohnung: eine kleine Halle mit Kamin und Stützpfeilern, wohnlich eingerichtet; die künstlerischen und handwerklichen Produkte des Besitzers und seiner Nachbarn schmückten Wände und Schränke. Ein Raumteiler aus grünen Glaselementen unterschiedlicher Form und Größe fiel ihm auf, bestimmt ein Werk des Toten; kleine Tonfiguren, die mochten vom Mann der Ratgeberin stammen; ein Bild, das eine hiesige Landschaft zeigte, aber so, wie sie seit höchstens fünfzig Jahren aussah, schon renaturalisiert, das Signum deutete auf die Ratgeberin hin. Die Physikerin hatte vor dem Blutfleck gestockt, war vorsichtig darum herumgegangen und stand nun an einem schweren Eichentisch mit hochlehnigen, schnitzwerkverzierten Stühlen; sie bot Wenzel mit einer Handbewegung Platz an und setzte sich auch selbst. Ihre Hand streichelte die Tischkante. „Dieses Ensemble hab ich immer besonders gern gehabt“, sagte sie. „Es stammt noch von meinem Urgroßvater.“ „Aus der Anfangszeit der Stabilisierung also.“ „Ja, er war immer sehr stolz darauf, daß er zu den ersten gehört hatte, die sich Möbel wieder aus Holz hergestellt und sie ihren Kindern und Kindeskindern vererbt haben, statt sich dreimal im Leben neu einzurichten mit diesen schnell verschleißenden Industriemöbeln, die damals üb-
lich waren. Das war für uns Kinder praktischer Unterricht in Ökonomie der Stabilisierung.“ „Sie haben die Möbel hiergelassen, als sie sich trennten?“ „Ja, was sollte ich damit auf Gagarin? Oder in Sternenstadt? Hier können sie bleiben, bis einmal die Enkel das eine oder andere Stück erhalten.“ Das war eigentlich klar, das Gespräch plätscherte jetzt dahin, man sagte sich Selbstverständlichkeiten, aber auf freundliche Weise – schließlich hätte er sich nicht für die Modalitäten der Trennung interessieren müssen, und sie hätte ihm nicht die Frage nach den Möbeln zu beantworten brauchen: Sie kamen einander näher, stellten sich innerlich auf Kooperation ein, und das war. gut so. Denn Wenzel wollte der Physikerin die Führung überlassen. Sie wußte zwar genausowenig wie er, was sie suchten, aber sie würde es jedenfalls eher finden als er, ihr würde eher auffallen, was neu oder ungewöhnlich oder auch nur verändert war. Übrigens hatte die Bemerkung der Physikerin über die Möbel mehr Erinnerungen in Wenzel wachgerufen, als sie ahnen konnte. Er hatte als junger Mann Soziologie studiert, und zwar die des Übergangs, der Harmonisierung und der Stabilisierung, und er wußte genauer als die meisten anderen, wie absurd die normalen Dinge und Einrichtungen des heutigen Lebens den Leuten noch vor hundert, na gut, vor hundertfünfzig Jahren erschienen wären, damals während der Harmonisierung, als alle Völker und Staaten auf den Stand der Fortgeschrittensten gebracht wurden – oder gar vorher, vor dem Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt, der die Übergangszeit beendete und die Zeit der Harmonisierung einleitete. Es waren fröhliche Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, und überhaupt fühlte er sich augenblicklich so erfüllt von angenehmer Freundlichkeit, daß ihm das direkt unpassend vorkam in diesem Raum und an diesem Tage. „Hören Sie nichts?“ fragte da die Physikerin. Wenzel verneinte, etwas verwundert. „Mir war nur so“, sagte die Physikerin. „Gehen wir?“ In der Küche, die gleich von der Diele abging, lagen die Gegenstände auf dem Tisch, die der Tote in den Taschen seines Arbeitsanzugs gehabt hatte: ein Schnupftuch, unbenutzt, und ein kleines Schlüsselbund. Daneben standen mehrere Behälter mit Werkzeugen und Instrumenten.
„Die Schlüssel?“ fragte Wenzel. Schlüssel waren selten geworden in den letzten hundert Jahren. „Vom Stall“, sagte Sibylle Mohr, „das Labor muß verschlossen sein; wenn zufällig Wanderer darin Unterschlupf suchen und keiner ist da, dann können sie sich allerhand Schaden zufügen. Diese Tasche kenn ich auch, die auch – aber was ist das hier?“ Sie öffnete eine Art Werkzeugtasche, sie enthielt einen Satz verschieden großer Röhrchen, die sich aber anscheinend nicht herausnehmen ließen. „Das ist neu, das kenne ich nicht. Keine Ahnung, ob das zu Stall, Feinmechanik oder Glas gehört.“ „Wir werden fragen“, sagte Wenzel und ließ sich die Tasche geben. Sibylle Mohr stöberte in Kühlschrank, Kästen und Schiebern herum, sagte aber nichts. Wenzel stellte nebenbei fest, daß normale Vorräte im Haushalt waren – immerhin nicht unwichtig für die Untersuchung. „Hier ist nichts, kommen Sie.“ Die Physikerin ging in die Diele zurück und die Treppe hinauf. Die Wohnräume boten ebenfalls nichts Bemerkenswertes, und so beobachtete Wenzel die Frau aufmerksamer als die einzelnen Räume, die er ja schon mal besichtigt hatte. Das Wiedersehen
mit ihrem früheren Lebenskreis unter so unglückseligen Umständen – das mußte auch die sehr beherrschte Wissenschaftlerin belasten. Wenzel fühlte jetzt schon diese Belastung mit, er brauchte auch sonst nicht viel Zeit, um sich in einen andern einzufühlen und der Atmung, den Stimmnuancen, den winzigen Verschiebungen im Bewegungsrhythmus, der Über- oder Unterbetonung in Mimik und Gestik Wichtiges über den Zustand des anderen zu entnehmen – das brachte seine Magierkunst mit sich. In diesem Fall spürte Wenzel deutlich, wie die Erregung der Frau sich steigerte, als sie die feinmechanische Werkstatt betraten. Das erschien ihm aber ganz erklärlich: Hatten die beiden doch dasselbe Handwerk ausgeübt; wie ja überhaupt meist Eheleute einen der drei menschlichen Tätigkeitsbereiche gemeinsam haben. Es erschien ihm hilfreich, die Frau abzulenken. „Von hier stammt diese Werkzeugtasche wohl nicht?“ fragte er. „Ich meine, sonst würden Sie doch wenigstens ihre Bestimmung kennen.“ „Da haben Sie recht“, sagte sie nachdenklich. „Gehen wir runter in den Keller. In das Glasatelier.“ „Weiter oben ist nichts?“ „Der Dachboden – wenn Sie wollen?“ Sie stiegen die Bodentreppe hinauf, Sibylle Mohr öffnete die Tür. Wenzel stand hinter ihr, zwei Stufen tiefer, konnte nichts sehen, aber da mußte etwas sein, er merkte es an ihrer Atmung, etwas Schlimmes, dessen Bedeutung sie aber nicht sofort erfaßt hatte; es hatte sie zuerst verwundert und dann erschreckt. „Sehen Sie“, sagte sie leise und trat einen Schritt weiter, so daß Wenzel folgen konnte. Von der Decke hing eine Seilschlinge. Darunter stand ein Hocker. Da Wenzel vorbereitet gewesen war, gelang es ihm nun, ruhig zu bleiben. „Lassen Sie Ihre unruhigen Gedanken nicht wie die Fledermäuse umherflattern“, sagte er, „wir werden auch dafür eine Erklärung finden.“ „Sie fühlen sich gut ein in andere Menschen“, stellte die Physikerin fest, als sie die Treppe hinunter in den Keller stiegen. „Ich hoffe“, sagte Wenzel bescheiden. Im Glasatelier, das Wenzel auch schon besichtigt hatte, herrschte wie in den anderen Räumlichkeiten eine Ordnung, die alles unbenutzt erscheinen ließ, wenigstens auf den ersten Blick.
Sibylle Mohr aber ging gleich auf einen kleinen Induktionsofen zu, nahm einen Tiegel heraus und befühlte den erstarrten Glasfluß. „Noch warm“, sagte sie, „damit hat er heute morgen noch gearbeitet.“ „War er ein Frühaufsteher?“ „Nicht so sehr“, sagte die Physikerin, „heute muß er aber früh aufgestanden sein.“ „Wohl weil er Sie erwartet hat. Dann könnte er also hier noch etwas fertiggemacht haben, was für Sie bestimmt war. Oder zu Ihrem Empfang?“ „Das mag wohl sein“, sagte die Physikerin zerstreut, und Wenzel bemerkte, daß sie sich an irgend etwas zu erinnern suchte. Dann zog sie mit schnellen, nervösen Bewegungen ein, zwei Laden auf und entnahm der letzten eine offenbar mit Zeichnungen gefüllte Mappe, die sie auf den Arbeitstisch legte und aufschlug. Auch jetzt verlor die Frau nicht die Beherrschung, obwohl sie etwas sehen mußte, was sie noch mehr erschreckte als die Schlinge auf dem Boden. Sie hatte erst den Atem angehalten, holte jetzt stoßweise Luft und preßte die Arme an den Körper, als ob sie fröre. Wenzel trat an ihre Seite und hielt sie an den Armen fest. „Schon gut“, sagte er und wiederholte die sinnlose Bemerkung, während seine Augen die Zeilen auf dem Blatt entzifferten, das zuoberst in der Mappe gelegen hatte – es war ein Abschiedsbrief an die Frau. Doch Selbstmord? Aber wieso dann der Brief in dieser Mappe? Damit seine Frau ihn findet und sonst niemand? Sie hat ja auch jetzt zielbewußt nach der Mappe gesucht. Nein, doch nicht. Jetzt, nicht mehr mit dem Entziffern der schwer leserlichen Handschrift beschäftigt, fiel ihm etwas anderes auf. „Sehen Sie“, sagte Wenzel so alltäglich, wie ihm das möglich war, „sehen Sie die Korrekturen, die Verbesserungen, da ein Abschnitt durchgestrichen und neu geschrieben, mindestens mit drei, nein, mit vier Schreibwerkzeugen, zu unterschiedlichen Zeiten also, und wahrscheinlich … auch schon älter …“ Er hielt den Bogen gegen das Licht. „Das muß in ein chemisches Labor, die können uns sagen, wie alt die Schreibmasse ist. Was ist eigentlich noch in der Mappe?“ Wenzel spürte, wie die Atmung der Frau sich normalisierte. „Entwürfe“, sagte sie nach einiger Zeit und blätterte in den Skizzen und Zeichnungen, „aber fragen Sie mich nicht, wofür. Das sind ganz
andere Dinge als früher. Ich meine, wenn es sich zum Beispiel um ein Glasfenster handeln würde, das würde ich erkennen, auch wenn es in der Skizze nur angedeutet wäre. Aber das hier – es sind eben doch fünf Jahre vergangen.“ Sie seufzte. „Wissen Sie, was ich denken muß?“ fuhr sie fort, als sie die Treppe hinaufgingen. „Früher mal dachten die Leute, wenn Krieg und Hunger aus der Welt sind, dann würde eitel Freude und Sonnenschein herrschen. Aber immer noch halten Glück und Unglück sich die Waage.“ Wenzel kannte solche Betrachtungen. Sie wurden meist angestellt, wenn Leute von einem Unglück betroffen waren, und als Entdeckung empfunden. Aber da er viel mit solchen Fällen zu tun hatte, hörte er sie öfter und hatte ihnen auch etwas entgegenzusetzen, was sicherlich genauso oberflächlich, aber dafür tröstlich war – schließlich sind solche Gespräche keine Geschichtskolloquien. „Ich glaube, wenn wir von alten Zeiten reden, dann verhält es sich eher so: Die kleinen Probleme unserer Vorfahren, das sind unsere großen. Unsere kleinen kannten sie nicht. Und ihre großen Probleme, eben Hunger und Vernichtung und Gefahr des Weltuntergangs – ich weiß nicht, ob wir Heutigen mit unserer Sensibilität sie überhaupt bestehen würden. Aber vielleicht ist das auch falsch, vielleicht sind wir stärker und belastungsfähiger, als wir denken. Für uns jedenfalls“, sie setzten sich wieder an den Eichentisch, „für uns war es heute ganz schön viel.“ „Ich danke Ihnen“, sagte die Physikerin und schwieg eine Weile, weil es unnötig war, in Worte zu fassen, was sie beide wußten, nämlich, daß er ihr geholfen hatte, in dieser Situation zu bestehen. „Jetzt bin ich schon wieder ganz fröhlich“, sagte sie dann. „Eigenartig, wenn man hier sitzt …Ich habe das früher nie so empfunden. Vielleicht ist es der Blick aus dem Fenster, der mich an sehr glückliche Zeiten erinnert, als die Kinder klein waren und …“ Sie brach ab und verschwieg, was sonst noch gewesen war in jenen Zeiten, und Wenzel dachte: Nein, der Blick aus dem Fenster ist es nicht, denn er sah nicht aus dem Fenster, aber er spürte das gleiche, von dem die Frau sprach, es mußte etwas im Raum sein, was – nun ja, was glückliche Gedanken weckte, primitiv ausgedrückt, doch eine treffendere Ausdrucksweise fiel ihm nicht ein, zumal das Gefühl zwar spürbar, aber auch wieder verschwommen war.
„Lassen Sie uns ein paar Minuten ganz still sitzen und ruhen“, bat die Physikerin plötzlich, „es ist etwas hier in der Diele.“ Wenzel schloß die Augen – genau das hätte er ihr vorgeschlagen, wenn sie nicht selbst daraufgekommen wäre. Wie war das vorhin gewesen, hatten sie da nicht ähnlich gefühlt, nur nicht so intensiv? Und hatte die Physikerin nicht gefragt, ob er etwas höre? Nein, er hörte auch jetzt nichts. Und das Gefühl einer Fröhlichkeit, die ihn von irgendwoher anwehte, wurde auch schwächer. „Bitte bleiben Sie sitzen“, sagte Sibylle Mohr und stand auf. Zögernd, nicht entschlossen und energisch wie sonst, sondern eher behutsam ging sie im Raum auf und ab, mal nach der einen, mal nach der andern Seite, und blieb schließlich vor dem gläsernen Raumteiler stehen, den Wenzel schon vorhin bewundert hatte. „Kommen Sie, schnell!“ flüsterte sie, lachte und sprach dann laut: „Nein, Unsinn, kommen Sie ruhig langsam!“ Wenzel stand auf und trat an den Raumteiler heran, von der anderen Seite. Aus einigen Metern Abstand hatte das Glas grün ausgesehen; jetzt bemerkte Wenzel, daß an einigen Stellen helle Teile darunter waren, ähnlich dem Glasstab, der dem Toten in den Hals gedrungen war. Dann hatte Otto Mohr den wohl in der Hand gehalten, vielleicht ausgewechselt? Doch warum hatte er, Wenzel, diese Elemente im Raumteiler nicht vorher entdeckt? Nur weil er nicht aufmerksam hingesehen hatte? Nein, diese Stellen waren umgeben von einem Gespinst feinster Glasfäden, die, aus der Nähe gesehen, changierten, aus ein paar Metern Abstand aber wohl so grün wie der ganze Raumteiler aussahen. Wenzel wollte zurücktreten, um diese Vermutung zu überprüfen, im selben Augenblick fiel ihm jedoch ein, daß Sibylle Mohr ihn sicher nicht deshalb gerufen hatte, denn sie stand ihm jetzt auf der anderen Seite mit geschlossenen Augen gegenüber, wie ein Mensch, der intensiv zuhört; und so tat er das gleiche, er schloß die Augen, horchte, so intensiv er konnte, und plötzlich hörte er ein feines, helles, liebliches Klingen. „Das Glas singt!“ sagte er verwundert. „Ich muß darauf bestehen, daß Sie nach Gagarin kommen“, hatte die Ärztin gesagt und Ruben hatte geantwortet, sie würde bald verstehen, worum es gehe, es sei aber keine Zeit, alles mehrmals zu erklären bei diesen zehnminütigen Pausen, deshalb möge sie eine Konferenzschal-
tung vorbereiten, er brauche jetzt Rat, und zwar von einem Laserexperten, einem Steuerungstechniker und selbstverständlich auch von ihr; in fünf Minuten werde er eine detaillierte Darstellung der Lage geben. Ruben war dabei unwillkürlich in den freundlichen, aber bestimmten Ton verfallen, in dem er als Raumschiffpilot seine Weisungen erteilt hatte und den er sich jetzt, als Wissenschaftler, eigentlich abgewöhnen wollte. Hier jedoch war dieser Ton wohl am Platz gewesen, denn die Ärztin stellte alle ihre Einwände zurück bis zur Konferenz – sie hatte herausgehört, daß da einer sprach, der genau wußte, was er wollte, sollte und durfte, und dann war ihr auch eingefallen, wer dieser Ruben Madeira war. Der aber brauchte die fünf Minuten, um sich über einige wichtige Fragen die Klarheit zu verschaffen, die er nötig haben würde, wenn er die Lage darstellen wollte. Ein Blick auf die EEGs der andern fünf zeigte ihm, daß diese unverändert schliefen. Also dann! Erste Frage: Wie reagierte die Anlage auf den Abschaltbefehl? Normalerweise schalteten sich die Laser automatisch ab, wenn ein Durchlauf beendet und ein Teilchen explodiert war, und die Energie der Kollektoren wurde in die Puffer geleitet, und wenn die voll waren, schalteten sich die Kollektoren ab. Es war aber im Steuerungsregime auch eine Abschaltung vom Zollstock aus vorgesehen. Nun empfing er zwar keine Signale mehr von der Anlage, aber es konnte ja sein, daß nur die Rückkopplung gestört war. Also gab er das Abschaltsignal. Ruben betrachtete gespannt das kombinierte Radar-Infrarot-Bild der Anlage auf seinem Schirm. Nichts veränderte sich, die Anlage schaukelte weiter, die Laser strahlten. Folglich: Verbindung in beiden Richtungen gestört. Zweite Frage: Wie sind die Parameter der Schwankung, wie groß, wie stabil? Er schaltete den Navigationsrechner ein, programmierte ihn entsprechend und gab ihm das Bild von seinem Schirm. Das Ergebnis kam nach zwei Schwankungen, nicht, weil der Computer so langsam war, sondern weil er ja den ganzen. Ausschlag und auch seine Wiederholung messen mußte. Ergebnis: Die Anlage schwankte in einer Ebene, die durch den Fahrstrahl Sonne – Anlage ging und senkrecht auf der Ekliptik stand, und zwar schwankte sie mit gleichbleibenden Ausschlägen – eine Steuerdüse gab einen Impuls ab, der die Anlage drehte. Bei einer
bestimmten Auslenkung, etwa zehn Grad, erfolgte der Gegenimpuls, der die Drehung aufhob und umkehrte. Die fünf Minuten waren fast vorbei, aber Ruben mußte unbedingt noch etwas nachsehen, etwas berechnen, etwas überprüfen, es dauerte noch einige Minuten länger, und einen letzten Blick warf er auf die Anzeige des Navigationsrechners: Die weiteren Schwankungen, die der inzwischen vermessen hatte, waren stabil geblieben. Im Kopf alles klar und richtig sortiert? Gut, dann …Er schaltete die Sprechtaste ein. „Ruben Madeira an Bord von VRIII. Über den Zustand der Besatzung sind Sie informiert. Ich beschränke mich daher auf den Zustand der Anlage Blastron I. Die Verbindung zwischen uns und der Anlage ist abgerissen, wir empfangen keine Signale mehr, und auf unsere Signale reagiert die Anlage nicht. Letzteres ist nachgewiesen durch den Abschaltbefehl, der nicht befolgt wurde. Die Lagestabilisierung des Anlagezentrums ist von hier aus nicht mehr beeinflußbar. Ob eventuell Steuerbefehle für den Experimentalteil befolgt würden, ist nicht kontrollierbar, augenscheinlich auch unwesentlich. Die vier Sonnenkollektoren arbeiten weiter. Das ist eine Schlußfolgerung aus den Beobachtungen im Radar-Infrarot-Bereich, auf die ich noch komme – ohne die Kollektoren hätten die Laser keine Energie mehr. Die zweite – hier vorweggenommene – Schlußfolgerung besteht darin, daß die Energieübertragung von den Kollektoren zum Zentrum ebenfalls funktioniert und durch die Schwankungen nicht unterbrochen ist. Die genannten Beobachtungen – Sie können sie abrufen – haben folgendes ergeben: Erstens – die Experimentallaser haben weitergearbeitet und, Moment bitte, arbeiten jetzt noch. Zweitens – die Steuerdüsen der Lagestabilisierung drehen die Anlage hin und her, nach jeder Seite bis zu einer Auslenkung von zehn Grad, in einer Ebene senkrecht zur Ekliptik. Der Rhythmus ist bisher gleichgeblieben. Offensichtlich ist in der Steuerung ein Defekt entstanden, aber ein winziger, denn er hebt die Stabilität nicht auf, sondern erhöht nur die Toleranz auf zwanzig Grad. Und er betrifft nur eine Drehebene. Was wird weiter geschehen? Da kann man nur Varianten angeben, und auch die werden nicht vollständig das Feld der Möglichkeiten umfassen. Das wichtigste scheint mir: Die Lagestabilisierung, da selten in Betrieb, verfügt nur über einen kleinen Vorrat an Treibstoff. Wenn ihre jetzige
Tätigkeit unverändert anhält, wird der Treibstoff in dreißig bis fünfundvierzig Minuten verbraucht sein. Dann wird sich das Anlagezentrum unter der Wirkung des letzten Steuerimpulses weiter drehen, wird rotieren in der gleichen Ebene, in der es jetzt pendelt. Danach gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Verbindung zwischen Kollektoren und Zentrum reißt ab, dann werden die Laser nach Ausschöpfung des Puffers erlöschen, also nach ein bis anderthalb Minuten, und alle aktuellen Probleme wären gelöst. Oder aber die Verbindung bleibt erhalten. Dann werden die Laserstrahlen, die jetzt senkrecht aus der Ekliptik hinausgehen, bei der Drehung die Ekliptik schneiden, immer wieder, und es ist nicht unter Kontrolle zu bringen, daß nicht die Erde oder Gagarin oder die Raumfahrt gefährdet wird. Natürlich ist es unwahrscheinlich, daß ein Laserstrahl etwas Lebendes trifft, aber es ist nicht mehr unmöglich. Leider ist diese zweite Variante des Fortgangs der Ereignisse wahrscheinlicher als die erste, harmlose. Die Verbindung Kollektor – Zentrum ist nämlich in einem gewissen kleinen räumlichen Spielraum selbstreguliert, und ich glaube, wenn diese Regulierung die jetzigen Schwankungen ausgleichen kann, dann auch die Drehung. Wie geht es mit der zweiten Variante weiter? Schätzen wir die entstehenden Umdrehungen der Anlage auf drei je Stunde, dann werden die vier Laser also künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit zwölfmal in der Stunde die Ekliptik schneiden. Das darf nicht zugelassen werden. Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu verhindern: die Zerstörung der Anlage von hier aus mit Hilfe einer lenkbaren Sonde, die mit der Anlage kollidiert – oder den Flug zur Anlage mit dem Zollstock und ihre Abschaltung von Hand. Die erste Möglichkeit halte ich für unannehmbar. Zur zweiten: Der Flug zur Anlage würde bei aller Vorsicht – also zum Beispiel Beschleunigung unter ein drittel g – knapp eine Stunde dauern. Ich habe folgende Fragen beziehungsweise Bitten. Erstens an Sie alle: Enthält meine Darstellung der Lage aus Ihrer Sicht irgendwelche gravierenden Fehler, oder bleibt Wesentliches unberücksichtigt?
An den Laserexperten: Welche Möglichkeiten habe ich gegebenenfalls, den Zollstock vor der Laserbestrahlung zu schützen? An den Steuerungstechniker: Bitte stehen Sie uns zur Verfügung, wenn wir an Ort und Stelle sind; bauen Sie sich ein mathematisches Funktionsmodell der Blastron-Steuerung, falls das bis dahin zu schaffen ist. Oder ist das wie bei großen Raumschiffen bereits im Computer eingespeichert und jederzeit verfügbar? An die Ärztin: Bitte überwachen Sie weiter den Zustand der anderen und geben Sie mir Ratschläge, worauf ich zu achten habe und was ich im einen oder anderen denkbaren Fall zu tun hätte – zum Beispiel wenn sie erwachen und sich beteiligen wollen. Ich erwarte Ihre Antworten.“ Ruben lehnte sich tief atmend zurück, aber nur für zwei, drei Sekunden, dann beugte er sich wieder vor. Er mußte die Minuten nutzen. Zuerst sah er sich die Biowerte seiner Gefährten an. Die EEGs zeigten unterschiedliche Schlaftiefe, zwei waren in der rem-Phase, es schien sich alles normal zu entwickeln. Hoffentlich. Es würde wohl viel Arbeit kos-
ten, der Sache auf die Spur zu kommen. Denn für ihn und seine Freunde war die Hauptsache natürlich nicht die Stillegung der Anlage und die Beseitigung der Gefahr, sondern der bisher noch unbekannte Ausgang des Experiments. Nach sechs Jahren Arbeit die Lebensdauer des Bläschens vervielfacht, und dann nicht wissen, was daraus geworden ist – das wäre! Als zweites kontrollierte er noch mal die Verbindung zur Anlage; sie war nach wie vor gestört. Dann wandte er sich der Navigation und dem Antrieb des Zollstocks zu und bereitete sie auf den Start vor, programmierte auch den Flug, denn er wollte in der Zwischenzeit bis zur Ankunft ungestört arbeiten. Schließlich – er überschritt die fünf Minuten wiederum – programmierte er die Radarbeobachtung der Anlage: Wenn sich da etwas änderte, zum Beispiel das Pendeln in Drehung überging, sollte der Automat das melden. Dann ließ er die inzwischen eingelaufenen Antworten der drei Konferenzteilnehmer auf Gagarin abspielen. „Bei der Energiedichte der dort installierten Laser“, sagte der Experte, „gibt es keinen wirksamen passiven Schutz gegen den Strahl. Selbst dichter Staub wird innerhalb einer Mikrosekunde unwirksam, weil die in den Strahl einfallenden Teilchen so enorm beschleunigt werden, daß sie nicht nur aus dem Strahl mit hoher Geschwindigkeit fliehen, sondern dabei auch noch die Umgebung ionisieren. Da es jedoch bei den Ionisierungsstößen eine Rückwirkung gibt – Teilchen werden in den Strahl geschleudert –, läßt sich dieser Prozeß optimieren, wenn man die Staubdichte steuern kann, aber, wie gesagt, höchstens bis zu einer Mikrosekunde. Die Wandung des Raumschiffs würde etwa hundert bis zweihundert Mikrosekunden standhalten. Das genügte, falls der Strahl in die Ekliptik dreht, solange Sie auf Ihrer jetzigen Position bleiben. In der Nähe der Anlage jedoch reicht das nicht mehr, wegen der Winkelgeschwindigkeit. Sie könnten dem Problem aus dem Wege gehen, wenn Sie nicht direkt zur Anlage fliegen, sondern im Halbkreis, so daß Sie sich bahntangential nähern, da ja die Laser, bezogen auf die Sonne, die Ekliptik radial schneiden würden. Allerdings brauchten Sie mehr Zeit, und es entstünde Zentrifugalbelastung für Ihre Gefährten. Ich stehe Ihnen für die gesamte Dauer der Operation zur Verfügung.“ „Ich ebenfalls“, erklärte der Steuerungstechniker. „Das Computermodell ist bereits in Betrieb. Es gibt Aussagen, die nicht uninteressant sind,
allerdings werden Sie sie erst brauchen, wenn Sie dort sind. Ich überspiele sie Ihnen auf Speicher wie auch die Optimierungsdaten des Laserspezialisten für Ihre eventuellen Staubschüsse. Allerdings habe ich noch eine Frage: Warum halten Sie die erste Variante – Zerstörung der Anlage – für unannehmbar? Doch nicht wegen des materiellen Schadens?“ „Ich beginne mit der Feststellung“, sagte die Ärztin nun, „daß wir alle drei keine schwerwiegenden Fehler oder Unterlassungen in Ihrer Lagebeurteilung entdecken können und uns also Ihren Schlußfolgerungen anschließen. Für Ihre Gefährten ist das wichtigste, daß sie nicht durch äußere Ereignisse geweckt werden, sondern sozusagen ausschlafen. Ich habe Ihnen ein Programm zusammengestellt, das soll jeder ihrer Gefährten nach dem Wachwerden absolvieren. Wenn das fehlerfrei geschieht, ist der Betreffende einsetzbar, soweit das überhaupt zu beurteilen ist; wenn nicht, ist es besser, er schläft weiter – so er kann, aus eigener Kraft, andernfalls mit Hilfe von Medikamenten. Hypnose und Autosuggestion in welcher Form auch immer würde ich so kurz nach dieser psychischen Implosion ablehnen.“ Psychische Implosion – noch nie gehört, dachte Ruben als erstes, vielleicht hat sie den Ausdruck gerade erfunden. Und erst bei diesem Gedanken wurde ihm klar, wie erregt und gefesselt auch seine Partner auf Gagarin sein mußten. Er entschloß sich deshalb, doch auf die Frage des Steuerungsmanns zu antworten. „Die Gründe dafür, daß die Zerstörung der Anlage unannehmbar ist, liegen außerhalb der gegenwärtigen Situation, deshalb habe ich sie nicht genannt. Das Experiment, das dieser Störung vorausging, hat wahrscheinlich bahnbrechende Ergebnisse geliefert; aber der größte Teil davon ist im jetzigen Zustand der Anlage verschlüsselt. Ich bin überzeugt, meine Kollegen würden – wie auch ich – eher die Gefahr einer gesundheitlichen Schädigung in Kauf nehmen als auf diese Ergebnisse verzichten.“ Ruben unterbrach und schaltete das Logbuch dazu. „Mein Entschluß: Ich fliege mit Mindestschub in Richtung Anlagezentrum. In der zweiten Hälfte des Fluges, bei der Bremsung, werde ich seitlich auslenken, so daß VRIII außerhalb des Schwenkbereichs der Laser ist, wenn der Kraftstoff der Steuerdüsen bei der Anlage verbraucht ist. An Ort und Stelle werde ich mich nach der entstandenen Situation
richten, also danach, wie sich die Anlage verhält, sowie danach, wie viele von meinen Kollegen wieder einsatzbereit sind. Ich starte.“ Nach dem Start schaltete er die verschiedenen vorbereiteten Programme ein, anhand deren der Computer ihn verständigen sollte, falls sich irgend etwas änderte. Denn er selbst hatte etwas anderes vor. Er holte sich die Aufzeichnung der letzten Minuten des Experiments auf den Schirm. „So“, sagte er, „nun wollen wir mal sehen, was eigentlich passiert ist.“ Als Wenzel mit der Physikerin zurückkam in das Ratgeberhaus, fand er dort eine bunte Gesellschaft vor – und neue Ergebnisse. Außer der Ratgeberin, Pauline und Dr. Hasgruber warteten noch zwei Fremde auf ihn, und einer davon war ein Asiat, ein Inder, wie er später erfuhr. Sie waren zu Pferde gekommen, aus einem nicht allzu weit entfernten Dorf, und daß sie nun hier waren, war Paulines Verdienst. Sie hatte sich an den Besuch des Inders vor einem Jahr erinnert wie auch daran, daß er ein Kunstgenosse von Otto Mohr war, der eine Studienreise durch Europa machte, und sie hatte den nächstwohnenden Glaskünstler angerufen und nach geduldigem Herumvideofonieren schließlich den Inder ganz in der Nähe gefunden. Der war denn auch gleich zusammen mit seinem jetzigen Gastgeber gekommen. Der Inder, den man hier in guter Erinnerung hatte, bekam als am weitesten gereister Gast den Ehrenplatz an der Abendtafel, zu der die Ratgeberin und ihr Mann nun einluden. Der Tisch war im Familienzimmer gedeckt. Der Raum, wie in den meisten Häusern dieser Region der Geselligkeit vorbehalten, wirkte anheimelnd auf Wenzel. Bilder und kleine Tonfiguren, sparsam verteilt, Arbeiten der beiden Wirtsleute, schufen eine überraschend harmonische Stimmung. Ein phantasievoller Raumteiler aus grünen Glaselementen, die Pflanzenteilen ähnelten, trennte den Eßplatz ab – sicherlich ein Werk des Toten, allerdings außer in Farbe und Material ohne jede Ähnlichkeit mit dem in Mohrs Haus. Der Hausherr servierte den ersten Gang, setzte sich dann auch und hob das Glas mit einem orangefarbenen Aperitif. „Sie sehen mich“, sagte er, „im Zwiespalt zwischen der Trauer um unseren Nachbarn und der Freude, so viele Gäste zu bewirten, darunter so weitgereiste“, er verbeugte sich zu dem Inder, „so hochgestellte, wie unsere Vorväter gesagt hät-
ten“, er verbeugte sich zu Wenzel, „und so lang entbehrte!“ Er verbeugte sich zu Sibylle. „Es ist nicht meine Sache, die Totenrede zu halten, aber es ist an mir, den Nachbarn mit einem Essen zu ehren, wie denn jedermann mit seiner Hände Werk seine Nachbarn zu ehren pflegt. Möge uns das Essen vereinen, damit es nicht nur dem Körper, sondern auch Geist und Seele neue Kräfte zuführt, wie wir sie zur gemeinsamen Klärung seines Todes brauchen. Auf das Wohl der Lebenden!“ Das Essen war vorzüglich, aber es verlief trotz der aufmunternden Tischrede sehr ruhig, manchmal wurde die Stille mit fast geflüsterten Bitten zum Zureichen eher noch betont als unterbrochen. Wenzel war diese Pause sehr recht, denn er konnte die Zeit nützen, alles noch mal zu überdenken, was er bisher erfahren hatte. Dr. Hasgruber hatte nun endgültig ausgeschlossen, daß irgendein Gift im Spiel war. Medizinisch gesehen also – und das war augenscheinlich das schwierigste an diesem Fall – konnte der Tote gar nicht gestorben sein. Das zum ersten. Zweitens hatte die fleißige Pauline nicht nur den Inder herbeigeholt, sondern auch fast alle Einwohner des Vorwerks befragt wie auch ein paar Leute aus dem Dorf, die öfter hier waren, junge Leute meist, die Freund oder Freundin hier hatten. Ergebnis: Otto Mohr hatte – mindestens im letzten Jahr – außer zu seinen Dienstkollegen und zu einigen Glaskünstlern, darunter dem jetzt hier an der Tafel sitzenden Inder, kaum Kontakte, jedenfalls keine Gäste, und auch er selbst war nie länger auswärts gewesen. Allerdings hatte er viel Post erhalten, Briefe sowohl als auch Pakete. Da wäre eventuell noch etwas nachzuforschen. Drittens aber, und das widerlegte eigentlich die Selbstmordthese: Sowohl im Dienst als auch in der Kunst hatte er große Erfolge in letzter Zeit. Die für heute eingetragene Benutzung des E-Mikroskops sollte eine erfolgreiche Serie von Experimenten abschließen, und in der Kunst war ihm ein Preis von der Europaausstellung zuerkannt worden. Lediglich im Handwerk hatte er sich wohl auf gelegentliche Reparaturen für Bewohner des Vorwerks beschränkt. Was war zu tun? Wenzel wußte jetzt schon sehr sicher, daß er in diesem Fall keiner leicht errungenen Erkenntnis trauen durfte. Wohl würde sich bald etwas klären, wohl würde er bald an einen Punkt kommen, wo die widersprechenden Fakten sich zu einer Hypothese ordnen ließen. Dieser Hypothese dann sollte er mit allen Kräften zu Leibe rücken, sie
so schnell wie möglich widerlegen, denn in diesem Fall lag die Lösung bestimmt in einer Tiefe, in die er jetzt noch keinen Einblick hatte. Die nächsten Schritte freilich waren einfach: Er mußte den Inder fragen, was der zu sagen hatte, und er mußte dem Kunstkollegen von Otto Mohr den singenden Raumteiler, jenen Glasstab und auch die seltsame Werkzeugtasche zeigen. Schließlich mußte er die Briefe des Toten durchsehen, hoffentlich hatte der zu jenen Leuten gehört, die ihre Post aufheben. Morgen früh würde er nach Berlin fahren, in ein Labor, und feststellen lassen, wie alt die Schrift auf dem Abschiedsbrief war. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, nämlich daß die Schrift schon sehr alt war, dann war die Selbstmordthese hinfällig. „Sie sind gar nicht recht bei der Sache?“ sprach ihn der Hausherr plötzlich an. „Oh, ich weiß“, sagte Wenzel, „daß es ein Verstoß gegen alle guten Sitten ist, ein Essen wie dieses nicht mit der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Sinne zu würdigen. Und ich möchte Ihnen danken und versichern, wenn einmal ein freundlicherer Anlaß uns zusammenführen sollte, werde ich mich solchen Genüssen mit der Achtung und Aufmerksamkeit widmen, die sie verdienen. Für mein gedankliches Abschweifen entschuldige ich mich.“ Er verneigte sich leicht vor dem Gastgeber, der aus Freude errötet war. Dann fuhr er fort: „Entschuldigen möchte ich mich auch für die Ungelegenheiten, die diese Untersuchung mit sich bringt. Ihnen ist sicherlich bekannt, daß zu den wenigen weltweit noch bestehenden Verbindlichkeiten für alle Menschen diejenige gehört, daß ungewöhnliche Todesfälle geklärt werden müssen, im Interesse aller, damit niemand ungewollt und vor der Zeit diese schöne Erde verlassen muß. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist die Tatsache, daß die meisten neuen Krankheitserreger, aber auch neuartige psychische Konfliktsituationen dank dieser Verbindlichkeit rechtzeitig entdeckt wurden. Auch in diesem Fall habe ich das Gefühl, wir werden auf etwas Unbekanntes stoßen. Wahrscheinlich nicht gleich, sondern erst nach einiger Arbeit, in die Sie ebenfalls immer wieder einbezogen sein werden. Im Augenblick allerdings habe ich nur eine Frage, die ich an alle richten möchte, das heißt an alle, die in den letzten Wochen und Tagen Kontakt mit Otto Mohr hatten, und das ist eine, nun, sehr unbestimmte Frage, eine Frage ans Gefühl. Ich stelle sie auch nur, weil ich der Meinung bin, die Sensibilität ist heute bei allen Menschen, selbst den robustesten, so weit ausgeprägt, daß niemand seine grundsätzliche emotionale Befindlichkeit vor seinen Freun-
den und Nachbarn verbergen kann. Selbst wenn sich jemand bemüht, nicht davon zu sprechen und sich nichts anmerken zu lassen – es bleibt nicht verborgen. Meine Frage also lautet: War Otto Mohr sehr unglücklich?“ „Nein“, sagte die Ratgeberin und blickte sich um. „Oder ist jemand anderer Meinung? Allerdings hatte ich manchmal das Gefühl, daß er uns etwas verbarg, aber sozusagen etwas Gutes, Freundliches, es war so eine Art verstecktes Schmunzeln in ihm, eine Vorfreude, ich weiß nur nicht, worauf.“ Der Inder, dem von seinem Kunstfreund ins Englische übersetzt worden war, was erst Wenzel und dann die Ratgeberin gesprochen hatte, sagte leise etwas. Aber da hob der Gastgeber die Tafel auf, bedankte sich und lud alle Anwesenden für ein Jahr später zu einer neuerlichen Mahlzeit ein. Wenzel begab sich mit Pauline, dem Glaser und seinem indischen Gast in das Arbeitszimmer der Ratgeberin. Es war ein Glücksumstand, daß alle vier Englisch sprachen und die Unterhaltung daher in dieser dem Inder geläufigen Sprache geführt werden konnte; ein Zufall war es freilich kaum, denn jeder Mensch sprach ja außer seiner Muttersprache noch die Regionalsprachen, hier also Polnisch und Tschechisch oder Slowakisch, und zwei oder drei große Sprachen der angrenzenden Regionen, hier meist Englisch, Russisch oder Französisch. Der Inder, der vor einem Jahr ein paar Wochen bei Otto Mohr gelebt hatte, war Glaskünstler wie dieser und befand sich auf einer fünfjährigen Studienreise durch Europa, wo er Kollegen aufsuchte und mit ihnen arbeitete, die ihm durch Ausstellungen oder aus Fachveröffentlichungen aufgefallen waren und bei denen er etwas zu lernen hoffte. Derartige Bildungsreisen waren verbreitet, aber nicht allzusehr, denn sie waren auf andere Weise wieder sehr eintönig; der Reisende hatte selten Gelegenheit, sein Handwerk auszuüben, und fast nie, einen Dienst zu leisten, und mit nur einer Art von Arbeit kann man ja auf die Dauer kein seelisches Gleichgewicht halten. So ging es auch dem Inder: Seines Handwerks wegen war er nur einmal ein paar Tage nach Berlin gefahren, er war nämlich Goldschmied, und dieses Handwerk war auf den Dörfern nicht sehr verbreitet, jedenfalls nicht da, wo seine Gastgeber wohnten; und
sein Dienst war so mit dem heimatlichen Dschungel verbunden, daß er hier nichts ausrichten konnte mit seinen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Er stimme, berichtete der Inder, mit den anderen darin überein, daß Otto Mohr ein ausgeglichener, freundlicher Mensch gewesen sei, keineswegs unglücklich, aber geistig beschäftigt mit dem Unglück. Er habe aus künstlerischen Gründen auf mehrfache Art versucht nachzuempfinden, wie ein unglücklicher Mensch sich fühlt, was seine Seele bewegt, in welchem Rhythmus seine Emotionen ablaufen; er habe zum Beispiel versucht, sich in einen Selbstmörder zu versetzen, zuerst praktisch, indem er sich eine Schlinge um den Hals gelegt habe, aber das habe nichts ergeben, danach dann durch wiederholte Autosuggestion, wovor er, der Berichtende, ihn gewarnt habe. Sehr vertraut mit Yogaübungen und – Weisheit, habe er in den Versuchen des Otto Mohr gefährliche Tendenzen erkannt, methodische Aspekte dessen, was sehr alte Yogis unternehmen, wenn sie ihren eigenen Tod herbeiführen wollen. Zwar wüßten auch die Kundigen des Yoga nicht, ob diese Übungen tatsächlich den Tod zur Folge hätten oder ob sie ihn nur begleiteten, aber so weit reiche die Kenntnis wohl, daß man sie als gefährlich bezeichnen müsse. „Und?“ fragte Wenzel, seine Betroffenheit verbergend, „hat er diese Versuche daraufhin eingestellt?“ Er könne es nur hoffen, erklärte der Inder, denn die Aussprache darüber habe erst wenige Tage vor seiner Weiterreise stattgefunden, ausgelöst durch die Bitte Ottos, er möge ihm: bei der Vertiefung seiner Meditationen behilflich sein. Ob er wisse, welche künstlerischen Impulse sich Otto Mohr davon versprochen habe, wollte Wenzel wissen. Er habe den Eindruck gehabt, sagte der Inder, Otto Mohr habe das selbst noch nicht gewußt; nur eins sei wohl jedem Künstler klar, daß wachsende Reife und Gestaltungskraft sich eines Tages an dem Konflikt zwischen Leben und Tod zur messen haben. Diese allgemeine Erwägung sei wahrscheinlich Ottos wichtigstes Motiv gewesen, und die eigene Gefühlswelt habe anscheinend – trotz der Trennung von seiner Frau – nicht dazu ausgereicht. Ob er aus seiner Kenntnis des Yoga – oder aus anderen Erfahrungen – einen Zusammenhang sehen könne zwischen diesen Übungen vor einem Jahr und dem jetzigen Tod?
Diese Frage verneinte der Inder. Wenzel bedankte sich bei ihm, und indem er sich an den Gastgeber des Inders zugleich wandte, bat er: „Wenn Sie beide nicht sofort zurückreiten müssen, dann würde ich Ihnen nachher gern noch etwas zeigen und Sie zu ein paar Dingen befragen. Wir könnten gleich …“ Aber der Gastgeber erklärte, es sei ihnen schon recht, doch sie müßten jetzt erst einmal ins Dorf reiten, wo sie jemanden begrüßen wollten; dann, in einer Stunde vielleicht … Man verabredete sich. „Was halten Sie davon?“ fragte Pauline neugierig, als sie mit Wenzel allein war. „Es entspricht meinen Erwartungen“, sagte Wenzel, noch tief in Gedanken versunken. Erst an Paulines fragendem Blick merkte er, daß sie mit diesem Satz nichts anfangen konnte. Er fuhr darum fort: „Ich fürchte, je mehr wir erfahren, um so undurchsichtiger wird der Sachverhalt.“ „Sie müssen entschuldigen, falls ich zuviel fragen sollte, ich will ja etwas lernen. Einmalige Gelegenheit für mich.“ „Das wollen wir doch sehr hoffen, daß sie einmalig bleibt“, erklärte Wenzel mit Nachdruck, so daß eine ganz kleine Zurechtweisung im Ton lag – es hatte ihm nicht gefallen, daß sie den Tod eines anderen als Gelegenheit für sich bezeichnete. Doch wiederum, sagte er sich, hatte sie ja auch recht. „Also fragen Sie!“ fügte er hinzu. „Warum hat der Inder den Zusammenhang zwischen den damaligen Selbstmordgedanken und dem jetzigen Tod verneint? Er hat ja selbst gesagt, daß er nicht weiß, ob Otto diese Übungen eingestellt hat.“ „Sie haben genau hingehört“, sagte Wenzel, „aber nur auf die Antworten. Meine Frage hatte aber diesen Zusammenhang mit der Yogalehre verbunden.“ „Ja und?“ „Die Gefährlichkeit der Übungen hatte darin bestanden, daß jemand, der diese Versunkenheit nicht beherrscht, sie unwillentlich in schädigende Zustände überleiten kann. Nun war aber die Situation, in der Otto Mohr starb, gewiß nicht mit Meditation und Versunkenheit verbunden. Der Tod hat ihn mitten in einer Handlung getroffen, in einer erfüllenden Aktivität, an der ihm sehr viel gelegen haben muß, denn er hat ihretwegen Unpünktlichkeit im Stall in Kauf genommen. Damit wären wir beim
Thema. Haben wir genug Material zusammen, um einen ersten, groben Ablauf der letzten zwei Tage und des heutigen Morgens zu entwerfen?“ „Einen Ablauf kaum“, antwortete Pauline, „ich hatte immer das Gefühl, hier im Vorwerk sieht man jeden Nachbarn jeden Tag mindestens dreimal, aber das stimmt gar nicht. Im Grunde haben wir nur vier zeitlich fixierbare Aussagen. Vorgestern hat er von acht bis zwölf im Stall Dienst getan, und zwar hat er eine längere Versuchsreihe im wesentlichen abgeschlossen, positiv, also mit interessanten Ergebnissen, doch ja, die werden ziemliches Aufsehen erregen, soweit ich mich da noch auskenne. Die Reihe offiziell abzuschließen wäre aber erst heute möglich gewesen, da noch einige Zubringer zu liefern hatten, und das war für den gestrigen Tag geplant. Otto war deshalb gestern nur zu Hause und wurde zweimal gesehen – morgens am offenen Fenster, demselben übrigens wie heute früh, und nachmittags im Garten. Das Vorwerk hat er sicherlich nicht verlassen, das Haus wahrscheinlich nicht.“ „Warum das Vorwerk nicht?“ „Dann hätte er sich ein Pferd oder einen Wagen geholt, und außerdem ist es üblich, bei der Ratgeberin zu fragen, ob jemandem etwas mitzubringen ist, wenn man ins Dorf oder in die Stadt fährt.“ „Und wenn er einfach so spazierengegangen ist?“ „Spazieren gehen nur Städter.“ „So absolut?“ „Leute, die hier wohnen, haben alle etwas mit der Natur zu tun – dienstlich, handwerklich oder künstlerisch, meist auf mehrere Arten. Da wird jeder Spaziergang zum Kontrollgang oder mit anderen nützlichen Zwecken verbunden.“ Wenzel glaubte schon, daß sie recht hatte, aber er bohrte aus Prinzip weiter. „Und zu einem Rendezvous?“ „Er hatte keine.“ „Er wird doch eine Frau gehabt haben, wenigstens hin und wieder.“ „Früher ja“, sagte Pauline. „Bis etwa vor einem Jahr.“ Endlich begriff Wenzel. „Die Frau war …“ „Ich.“ In Wenzels Kopf schossen verschiedene Gedanken und Gefühle kreuz und quer, aber er sagte nur: „Also dann weiter im Ablauf.“
„Das ist schon fast alles. Heute früh, wissen wir, wollte er um acht im Stall sein, war auch entsprechend angezogen, war aber gegen halb neun noch im Hause. Den Kindern hat er fröhlich zugewinkt.“ „Morgens ist es noch ziemlich kalt. Warum hat er an beiden Tagen morgens dasselbe Fenster aufgemacht? Geschlafen hat er oben, gegessen in der Küche, es war also nicht nötig, zu lüften. Sie müssen doch seine Gewohnheiten kennen?“ „Es ist mir nie aufgefallen, daß er erpicht darauf war, Fenster aufzureißen.“ „Dann muß uns jetzt auffallen, daß er es getan hat“, sagte Wenzel, und in ihm klang es wie ein Echo nach: Fenster aufreißen, Fenster aufreißen …, aber er kam nicht darauf, welche Analogie ihn da bewegte, es schien ihm nur, daß die Worte mit irgend etwas in Verbindung standen, was in ihm selbst oder in diesem Fall eine Rolle spielte. Er kam aber auch nicht mehr dazu, die Frage mit Pauline zu diskutieren, denn jetzt trat Frau Mohr ins Zimmer und lud die beiden ein: „Bitte kommen Sie mit in Mohrs Haus, das hiesige Quartett hat mich gebeten, in einem kleinen Konzert zum Abschied von Otto mitzuspielen.“ Sieh an, dachte Wenzel, der Tod hat die Spannungen überbrückt. Nun ja, wer sollte seinen Groll wohl auch über fünf Jahre frisch halten, und wozu! Im Haus des Toten nutzte Wenzel noch schnell die Gelegenheit, dem fremden Glaskünstler und dem Inder den Glasstab und die seltsame Werkzeugtasche zu zeigen. Beide wußten damit nichts Bestimmtes anzufangen; zur Glaskunst gehöre die Tasche jedenfalls nicht, meinten sie. Den Raumteiler konnten sie freilich nicht singen hören, dazu war zuviel Betrieb in der Halle. Das halbe Vorwerk hatte sich zum Konzert versammelt, wahrscheinlich sogar mehr als die Hälfte der Einwohner, wenn man die Kinder abrechnete, die jetzt wohl schon im Bett lagen oder gerade versorgt wurden. Frau Mohr spielte die Violine, und das Quartett mußte wirklich hervorragend sein und der Raum eine besonders gute Akustik haben. Wenzel spürte jedenfalls gleich zu Beginn, wie die Töne ihn mitnahmen auf die Reise, er setzte ihrer Führung keinen Widerstand entgegen, es war etwas Klassisches, Beethoven vielleicht, dachte er. nebenbei, dieses Denken störte ihn nicht, er fühlte, wie er sich innerlich immer mehr öffnete, wie tief Verschlossenes sich auftat, während die Sachbezogen-
heit der Tagesaktivität unwesentlich wurde, die Leute im Raum rückten in größere Fernen, wurden durchsichtig wie Glas, nur zwei nicht, die beiden Frauen, Sibylle und Pauline. Die letzten Minuten des Experiments liefen in Zeitlupe über den Bildschirm – der Zeitraum also, den Ruben Madeira nicht mehr verfolgt hatte, weil er sich um seine Gefährten sorgen mußte. Ruben war neugierig, aber sicherlich hätte die Neugier allein ihn nicht bewegt, die andern aus den Augen zu lassen und ihre Überwachung dem Computer anzuvertrauen. Ruben vermutete, daß der Ausgang des Experiments und die folgenden Ereignisse etwas miteinander zu tun hatten, und damit wurde die Sache auch unmittelbar für die Beseitigung der Gefahr wichtig. Aber ebenso wichtig war es sicherlich, die Kollegen mit einer erfreulichen Neuigkeit aufzumuntern, wenn sie erwachten. Denn beim Experimentieren, das wußte er aus eigener Erfahrung, heilt nichts so gut die Folgen einer schweren Erschöpfung wie der Erfolg des Experiments. Was also war in den letzten Minuten geschehen? Wenn man den Instrumenten glauben wollte: nichts. Das jetzt schwerer gewordene Bläschen nahm keine Energie mehr auf, es bewegte sich nur noch träge spiralig um die Feldlinien der Magnetflasche, in der es festgehalten wurde. Trotzdem war das etwas unerhört Neues: In seinem bisher bekannten Zustand konnte das Bläschen nur existieren, indem es ununterbrochen Energie aufnahm, im stabilen Ungleichgewicht also wie etwa ein Organismus oder, einfacher, wie eine Kerzenflamme, wobei alle diese Vergleiche hinkten, denn bei den genannten Beispielen wurde ja wiederum Energie abgegeben, was das Bläschen nicht tat. Im zweiten Stadium aber nahm es keine Energie auf, wuchs auch nicht mehr, war also wohl im stabilen Gleichgewicht. Und dann – ein Strahlungsblitz, aus, das Bläschen war verschwunden. Einige zehn Mikrosekunden später brach die Datenübertragung zusammen. Was war das für eine Strahlung? Mit der gewohnten Explosion des Bläschens hatte es nichts zu tun, darauf waren die Instrumente vorbereitet, die hätten sie eindeutig angezeigt. Also zuerst einmal die Strahlung analysieren!
Aber da signalisierte der Computer, daß Akito wach wurde. Ruben ging zu ihr, öffnete das Helmvisier, löste die Gurte, die Kopf und Hände fixierten. Jetzt öffnete sie die Augen. Der Blick, zuerst verständnislos, wurde interessierter, schweifte umher und kehrte auf Rubens Gesicht zurück. „Wir fliegen?“ fragte sie. „Was ist los?“ „Ihr seid in der EGI zusammengebrochen“, sagte Ruben. „Fühlst du dich kräftig genug für einen Computertest? Die aus Gagarin haben ihn überspielt und überwachen uns auch.“ „Ja, mach!“ „Hier“, er drückte den Kode, der den Test auf Akitos Terminal rief. Stöhnend beugte die Physikerin sich vor und legte die Hände auf die Tastatur. Ruben setzte sich auf seinen Platz und beobachtete sie sorgenvoll. Er merkte, wie sie manchmal mit der Antwort auf die Testfragen zögerte; auch schien es ihr schwerzufallen, sich ohne Lehne aufrecht zu halten. Der schwache Andruck, der dem Körper höchstens ein Fünftel seines Gewichts gab, konnte so belastend nicht sein. „Ruben, ich halte nicht durch!“ Sie stöhnte. „Ist das schlimm?“ Ruben erhob sich aus seinem Sitz, so schnell und vorsichtig er konnte, und schwang sich zu ihr. „ Überhaupt nicht schlimm, du versäumst nur den langweiligen Flug, schlaf weiter!“ Er schloß ihr Visier und fixierte wieder Arme und Kopf, ein Vorgang, der sie bestimmt beruhigte, da er für angetriebenen Flug normal war. Dann wartete er. Was würden die in Gagarin sagen? Zehn Minuten später meldete sich die Ärztin. Die Erschöpfung sei doch noch tiefer, als sie befürchtet habe, erklärte sie, allerdings habe sie dem abgebrochenen Test doch einiges entnehmen können. Es sei jetzt das beste, wenn er allen noch mal Schlafgas gebe, für ein bis zwei Stunden etwa. Ruben öffnete die Visiere der anderen und schloß seins, ließ das Gas in den Raum, wartete die entsprechende Zeit, blies es aus, schloß die Visiere der anderen, öffnete seins – und nun erst konnte er sich wieder dem Bläschen zuwenden. Er brauchte über zehn Minuten, bis er den Strahlungsblitz identifiziert hatte. Das Ergebnis verblüffte ihn: Synchrotronstrahlung, die entsteht,
wenn Elektronen bis an die Grenze der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Was für Elektronen? Wo kamen die her? Aus der Intensität der Strahlung und dem Magnetfeld ließ sich, wenn man annahm, daß nur das Feld der Anlage gewirkt hatte, die Menge der Elektronen errechnen. Sie entsprach der elektrischen Ladung des Bläschens. Hatte sich das Bläschen in Elektronen aufgelöst? Aber was war dann mit seiner Masse geschehen? Bei schweren elektrisch geladenen Teilchen würde das Magnetfeld nicht ausreichen, nur Elektronen konnte es so hoch beschleunigen. Oder hatten sich die Felder verändert? Etwa wieder sprunghaft erhöht? Ruben kontrollierte die Anzeigen der Feldgeneratoren um den Zeitpunkt, an dem das Bläschen verschwand. Ja, da war eine Reaktion, aber ein Sinken der Feldstärke, und zwar nach dem Blitz, gerade vor dem Erlöschen der Übertragung. Ein Gedanke wollte ihm kommen, aber er wurde erneut durch ein Computersignal unterbrochen. Was war diesmal los? Aha, das Taumeln der Anlage hatte sich verändert – es war durch einige abseitige Steuerimpulse eine zweite Taumelebene hinzugekommen, aber deren Korrekturrhythmus war anders, so daß die Bewegung für ein menschliches Auge und Hirn nicht mehr abschätzbar war. Ruben programmierte den Computer auf die Vorhersage und Warnung, falls die Laser die Flugbahn kreuzen sollten, später, wenn der Treibstoff der Anlage verbraucht war und die Steuerdüsen das Taumeln nicht mehr korrigieren würden – ein Zeitpunkt, der schon nahe war und um so näher rückte, als ja jetzt ein zweites Düsenpaar arbeitete. Zum Ausgleich für dieses Pech waren sie aber jetzt schon so nahe, daß das Radar die Bewegung der Anlage sehr präzise verfolgen konnte. Und noch eine Folge hatte diese Veränderung. Ruben wollte sich gerade wieder dem Bläschen zuwenden, als sich der Steuertechniker von Gagarin meldete. Sehr aufgeregt verkündete er: „Diese zweite Störung ist ein wahrer Segen! Wenn ich voraussetze, daß sie aus dem gleichen Defekt hervorgeht wie die erste und die zweite durch das längere Wirken der ersten hervorgerufen wurde, kann ich die Baugruppe ermitteln. Vielleicht sogar den Kristall. Wie finden Sie das?“ Ruben fand das gewiß erfreulich, aber es interessierte ihn im Augenblick nicht – sehr zu Unrecht, wie sich zeigen sollte.
Der Zollstock war jetzt am Wendepunkt angekommen, er drehte sich um hundertachtzig Grad und begann zu bremsen, und nach diesem Manöver setzte Ruben sich wieder an die Aufzeichnung vom Verschwinden des Bläschens. Ruben versuchte, dem Gedanken auf die Spur zu kommen, bei dessen Entstehung er unterbrochen worden war, doch das wollte und wollte ihm nicht gelingen. Schließlich gab er es auf – brauchbare Gedanken kommen sowieso wieder, sagte er sich. Also prüfte er noch mal alle Messungen zum fraglichen Zeitpunkt, sowohl die des Protokolls als auch die internen, und fand ein paar abweichende, aber wenig aussagekräftige Angaben. Immerhin sahen einige so aus – zum Beispiel die Spinresonanz –, als hätten ganz kurzfristig zwei Teilchen bestanden. Sollte also das Bläschen sich geteilt haben? Und jetzt war der Gedanke von vorhin da: Sollte das Bläschen seine elektrische Ladung abgestoßen haben, in Form einer Elektronenwolke, und sich damit der Fesselung durch die Magnetfelder entzogen haben? Die Wolke hatte dann eine vergleichsweise geringfügige Masse, das Feld wirkte wie ein Synchrotron und baute sich infolge Rückkopplung mit der Versuchssteuerung ab. So konnte es abgelaufen sein – so könnte es, wenn das nicht ganz widersinnig wäre, gegen alle Erfahrungen, jeder vernünftigen Relation widersprechend. Das Bläschen müßte dann eine Entwicklung durchlaufen haben innerhalb von Minuten – Entwicklungen in diesen Größenordnungen vollziehen sich aber in Nano- bis Mikrosekunden. Es sei denn – es handelte sich um einen stochastischen Prozeß, dann konnte der Einzelfall nach einer Mikrosekunde oder ebensogut nach einer Million Jahren eintreten, und nur eine hinreichend große Zahl von Bläschen unterlag der Gesetzmäßigkeit in Form einer Halbwertszeit. Keine erfreuliche Aussicht, aber immerhin eine Erklärung. Und einiges davon mußte sich nachrechnen lassen, zum Beispiel die Reaktion der Magnetfeldsteuerung … Ein Lämpchen blinkte. Was gab’ s? Oh, war die Zeit vergangen! Der Zollstock schwenkte jetzt vorlaufend auf die heliozentrische Bahn der Anlage ein. Ein Glockenton dazu – an der Anlage mußte sich etwas verändert haben. Er schaltete. Das Bild erschien, eingerahmt von laufenden Zahlenangaben. Keine Steuerimpulse mehr. Die Anlage hatte begonnen, sich zu drehen, und – ja, die Laser arbeiteten weiter. Jetzt konnte es ge-
fährlich werden. Allerdings war seine Position jetzt günstig. Ruben schaltete die Computerprognose dazu, die er vorhin programmiert hatte – für die nächsten zehn Minuten keine Kreuzung mit einem der Laserstrahlen. Ein Piepton – man verlangte nach ihm. Er schaltete um. Die Ärztin aus Gagarin sehr erregt: „Versuchen Sie, Esther wach zu bekommen, beeilen Sie sich. Geben Sie Sauerstoff, bewegen Sie sie, sprechen Sie mit ihr. Im EEG nehmen bedrohliche Rhythmen zu!“ So schnell der geringe Andruck es erlaubte, war Ruben bei der schwarzen Esther, riß ihr Visier auf, klemmte ihr die Sauerstoffmaske auf die Nase, löste ihre Arme und begann, sie heftig zu bewegen. Dabei sprach er mit ihr, rief sie beim Namen, bis sie endlich die Augen öffnete, ihn voll anblickte, verständnislos auf ihre Maske schielte. Dann riß sie ihm ihre Arme aus den Händen, nahm sich das Sauerstoffgerät und sagte verblüfft, halb erbost: „Was ist denn hier los?“ „Arbeite das Programm ab!“ sagte Ruben in autoritärem Ton und schaltete ihr das Testprogramm auf den Schirm. Dann schwang er sich zu seinem Platz hinüber – es hatte schon wieder gepiept. Diesmal meldete sich der Steuerungstechniker. „Ich habe weitergedacht“, sagte er, „nach dem Prinzip: Wo zwei Störungen auftreten, kommt bald auch eine dritte. Ich hab mir jetzt einen Antriebsingenieur dazugeholt, und wir haben zusammen den Treibstoffverbrauch der Anlage genau berechnet. Hören Sie: Der Treibstoff ist noch nicht alle. Die Anlage muß noch eine kleine Reserve haben. Sie müssen darauf gefaßt sein, daß sie plötzlich Bocksprünge veranstaltet! So, und jetzt geb ich ihnen den Lasermann.“ Der hatte auch überlegt. „Bei der jetzigen Drehgeschwindigkeit der Anlage, die ja höher ist als anfangs angenommen, hätte ich einen Schutz wenigstens für die Besatzung vorzuschlagen. Ihr VR III ist, soviel ich weiß, spindelförmig? Mein Nachbar hier bestätigt das. Dann sitzt die Mannschaft im Bugteil? Ja, gut. Drehen Sie Ihr Schiff mit dem Heck zur Anlage – falls der Laser darüber weghuscht, wird er allenfalls die Antriebe zerstören, aber nicht durch das ganze Schiff bis zum Bug dringen. Das war’ s erst mal. Ich bleibe dran.“ Und wieder die Ärztin. „Sorgen Sie dafür, daß Esther wach bleibt, egal was der Test ergibt. Lassen Sie sie nicht allein.“ Und leise fügte sie hinzu: „Wenn’ s geht.“
Ruben blickte zu Esther. Die hatte den Test absolviert und das Gespräch mit angehört. „Wie war der Test? Wie fühlst du dich?“ „Gemischt. Aber ich glaube, ich komme ohne Krankenschwester aus.“ „Das mußt du auch!“ sagte Ruben und erklärte ihr, so kurz es ging, die Lage. „Ich werde rausgehen und die Laser abstellen“, fuhr er fort, „und du mußt hier auf die andern aufpassen. Sieh dir dein EEG von kurz vor dem Wecken an, da ist irgend etwas drin, was die Ärztin alarmiert hat, am besten fragst du sie auch – wenn das bei einem von den andern auftritt, mußt du ihn wecken. Und wenn ich draußen getroffen werde, mußt du raus!“ Eigentlich hatte Ruben mit dem Zollstock die Sonnenkollektoren anfliegen und sie abstellen wollen. Nun aber, nach dem Hinweis des Laserspezialisten, fand er es doch besser, das Schiff entsprechend zu parken und die fünf Kollegen in Sicherheit zu wissen, selbst wenn er dadurch mit dem Feuerstuhl ein paar hundert Kilometer fliegen mußte. Freilich, das würde Zeit kosten, und je länger es dauerte, um so größer wurde die Gefahr, daß ein Laser mal in ihre oder seine Richtung taumelte. Er konnte auch direkt zur Anlage fliegen, aber das war nun weit gefährlicher, und es war auch nicht sicher, ob er dort sofort eine Möglichkeit fand, die Laser von der Energiezufuhr abzuschneiden. Er rief sich die Anlage ins Gedächtnis, sie hatte die Form eines großen Fasses, fast die gesamte Oberfläche war als Empfänger für die von den Kollektoren gesendete Energie ausgebildet, nur am Sonnenfernen Rand waren die vier Laser aufgesetzt, und der Boden zwischen ihnen war mit allerlei Geräten bestückt, die den Experimenten dienten. Hingen die Laser an einer Energiezuführung, oder hatte jeder eine eigene? Und wo war die? Er entsann sich nicht, zu lange war es her, daß er sie mit eingerichtet hatte, und an ihrer Entkonservierung hatte er ja nicht teilgenommen, weil er die Kollektoren zu entfalten hatte. Er fragte Esther, die wußte zwar, daß es nur eine Zuführung gab, nicht aber, wo sie verlief. Er konnte natürlich die Unterlagen aus Gagarin anfordern, aber dazu hatte er jetzt keine Geduld mehr, es war wohl auch nicht notwendig. Ob er nun die Anlage aufschlitzte, um an die Zuführung zu gelangen, oder jeden Laser einzeln abschnitt, machte keinen solchen Unterschied. Viel wichtiger war: Ließ sich die Gefahr nicht minimieren? „Esther?“ „Ja?“
„Fühlst du dich in der Lage, mich ständig zu informieren?“ Esther überlegte einen Moment, prüfte sich. „Ja, was soll ich tun?“ „Hier ist die Prognose über die Bewegung der Anlage. Wenn die Gefahr entsteht, daß ein Laserstrahl den Zollstock trifft, zeigt sie an, woher, und zeigt das drei, vier Minuten vorher. Da ich mich auf der Linie Zollstock – Anlage befinde, trifft das auch auf mich zu. Du müßtest mir sagen, wenn ein Strahl auf mich zukommt und von wo. Kannst du das durchhalten – neben der Beobachtung der anderen?“ „Ja.“ Ruben verließ die Zentrale, setzte sich in einen Feuerstuhl und schleuste sich aus. Die Anlage war zwar ein paar hundert Kilometer entfernt, aber da sie torkelte und folglich der beleuchtete Teil sich ständig änderte, war sie gut zu sehen. Die Steuerung war unproblematisch, auf so kleine Entfernungen und Relativgeschwindigkeiten wirkten sich die Kreiselkräfte kaum aus. Er war schon ganz in der Nähe, nur noch etwa hundert Meter entfernt, als plötzlich eintrat, was der Steuerungsmann prophezeit hatte. Ein paar Steuerdüsen zündeten, die Bewegung wurde unregelmäßiger, Esther schrie: „Achtung, von rechts!“ Ruben gab dem Feuerstuhl einen Impuls – und dann hielt er direkt auf die Anlage zu, erwischte sie fast genau am oberen Boden des Riesenfasses, also an der ungefährlichsten Stelle, fuhr am linken Skaphanderärmel den Stahlhaken aus und hieb ihn in den gewebeähnlichen Bezug des Fasses. Mit der anderen Hand hielt er den Feuerstuhl fest und überlegte einen Augenblick. „Ich bin dran, du brauchst nicht mehr auf mich zu achten!“ sagte er, und Esther bestätigte.
Ruben band seinen Fuß am Feuerstuhl fest, steckte sich aus dem Werkzeugsatz des Fahrzeugs ein kleines Laserschweißgerät in den Gürtel und hangelte dann, den Feuerstuhl hinter sich herziehend, mit beiden Armhaken den großen gebogenen Teil des Fasses entlang bis zum unteren Boden. Da die Drehung nicht allzu schnell war, hatte er mit der Zentrifugalkraft keine großen Schwierigkeiten, nur der Feuerstuhl zerrte manchmal am Bein. Er nahm eine Signalpatrone und blies eine Natriumdampfwolke hinter das Faß. Schmerzend hell blendeten die Strahlen der vier Laser, die sofort sichtbar wurden. Ruben kappte den Fuß des ersten Lasers – ein Strahl erlosch, die anderen leuchteten weiter. Der nächste war nicht weit entfernt – auch er erlosch. Nun mußte Ruben am unteren Rand des Fasses ein Stück entlangkriechen bis zum nächsten. Auch der machte keine Schwierigkeiten. Beim letzten Laser merkte Ruben plötzlich, daß der Energievorrat seines Schweißgerätes erschöpft war – er konnte den Fuß des Lasers nicht durchtrennen. Aber im Werkzeugkasten des Feuerstuhls waren ja Energiepatronen. Die Suche danach und die Bestückung des Geräts waren
unter den herrschenden Umständen etwas kompliziert. Ruben mußte seinen Fuß lösen. Dann ging alles sehr schnell. Unglücklicherweise erfüllte sich gerade in diesem Moment noch einmal die Vorhersage des Steuerungstechnikers: Das Faß gab ein halbes Dutzend ungeregelte Impulse aus den Steuerdüsen von sich. Der erste Ruck erzeugte eine Gegenbewegung Rubens, die dem Feuerstuhl einen Stoß gab, die nächsten Impulse verhinderten, daß er das Gefährt mit ausgestrecktem Fuß angeln konnte. Die Sache wurde noch schlimmer dadurch, daß er dem Feuerstuhl aus Versehen einen Tritt versetzte, und der gondelte nun, da sich das Faß wieder beruhigte, sanft auf den Laserstrahl zu. Ruben wechselte, so schnell er konnte, die Patrone in seinem Schweißlaser und versuchte, den letzten Anlagelaser abzuschweißen, bevor der Stuhl in dessen Strahl kam, aber schließlich sah er ein, daß es nicht zu schaffen war, und duckte sich hinter den Rand des Fasses. Ein heller Schein zeigte die Explosion des Feuerstuhls an, eine Wolke breitete sich aus, und Ruben sah ein paar Wrackteile davondriften. „Keine Bange, ich lebe, das war nur der Feuerstuhl!“ sprach er ins Helmmikro, damit Esther sich keine unnötigen Sorgen machte, und in diesem Augenblick fiel ihm noch nicht auf, daß Esther nicht antwortete. Esther hatte mit Spannung und Sorge die Aktionen des Mannes verfolgt, der ihr doch nicht ganz so gleichgültig war, wie sie immer geglaubt hatte. Sie liebte ihn nicht, nein, gewiß nicht, jetzt jedoch spürte sie, daß er auf eine ganz andere Weise zu ihrem Leben gehörte, sie fühlte es unbestimmt und wußte noch keinen Namen für dieses Gefühl. Sie hatte am Bildschirm gesehen, daß der erste der vier Laser erlosch, dann der zweite. Es ging alles seinen Gang, ging seinen Gang, sie sah Leute, die einen komischen Gang hatten, schreckte auf – sie war weggewesen, ganz kurze Zeit nur, es waren immer noch zwei Laser in Tätigkeit. Sie rieb sich die Augen, setzte sich angespannt gerade, atmete tief, das durfte sich nicht wiederholen, bevor Ruben fertig war, erst mußte er fertig sein, daß ihm nichts mehr geschehen konnte, dafür war sie verantwortlich, da, der dritte Laser erlosch, nun war alles überstanden, sie konnte sich fallen lassen … Sie hatte vergessen, daß es einen vierten Laser gab, und war eingeschlafen.
Ruben hatten den letzten Laser abgeschweißt, schnaufte kurz und sagte: „Ich bin fertig, Esther, aber der Feuerstuhl ist hin. Du mußt mich hier abholen.“ Er wartete, und dann erinnerte er sich plötzlich, daß Esther auch vorhin nicht geantwortet hatte. Zwei Möglichkeiten: Die Verbindung war gestört, oder Esther war nicht bei Bewußtsein. Vielleicht hätte er ständig mit ihr sprechen sollen? „Achtung, Ruben Madeira“, sagte eine undeutliche Stimme, wohl die der Ärztin, „hoffentlich hören Sie uns. Esther ist wieder eingeschlafen, sie hat versucht, dagegen anzukämpfen, hat es jedoch nicht geschafft, das sehen wir hier deutlich am EEG. Wenn Sie zum Schiff zurückkehren, geben Sie ihr noch mal Sauerstoff, aber nicht viel, und lassen Sie sie schlafen.“ Eine Sekunde lang empfand er die Ironie der Situation: Die in Gagarin wußten noch nichts davon, daß der Feuerstuhl im Eimer war. Wenn er zurückkehrte – haha, aber wie? Das war so ziemlich das ungünstigste Zusammentreffen vieler Umstände, das Ruben jemals erlebt hatte. Im Prinzip war es nicht ausgeschlossen, daß er mit Hilfe der Handraketen zum Zollstock zurückkehrte; aber erstens war die Strecke sehr weit, er würde Stunden brauchen, zweitens stand das Schiff wegen der vorhin bestehenden Lasergefahr mit dem kleinsten Querschnitt zu ihm. Er konnte es nicht sehen, wußte nur ungefähr dessen Position im Geviert eines Sternbildes, und erst nach der Hälfte der Strecke würde er es optisch ausmachen. Drittens durfte er auch nicht hierbleiben und einfach abwarten, bis die im Schiff ausgeschlafen hatten. Obwohl nämlich die Hochfrequenzstrahlung, die die Energie von den Kollektoren zum Faß trug, nicht direkt gefährlich war, erreichte sie in der Umgebung der Anlage eine solche Intensität, daß man nicht unbegrenzte Zeit darin verweilen durfte. Viertens … Ach was, es hatte keinen Sinn, alle Schwierigkeiten und Hindernisse der Reihe nach aufzuzählen. Ein einziger Umstand war jedenfalls günstig: die sonnennahe Position. Die Sonne war ruhig, und ihre Strahlung, die den Raumanzug traf, reichte nicht nur aus, ihn aufzuheizen, sondern auch, die Regeneration des Sauerstoffs zu betreiben. Damit würde sich sein Vorrat von zwanzig Stunden auf hundertzwanzig verlängern – jedenfalls lange genug, um von einem Rettungsschiff aufgefischt zu wer-
den, falls er den Zollstock verfehlte. In diesem Fall freilich waren die fünf im Zollstock ohne Hilfe, also durfte er ihn nicht verfehlen. Als erstes mußte er maximale Geschwindigkeit aus dem Absprung herausholen, sich so kräftig wie möglich und in der Richtung so genau wie möglich vom Faß abstoßen. Das war leicht gesagt – das Ding taumelte im Raum, die letzten Steuerimpulse hatten die unkontrollierbare Bewegung noch verstärkt. Wenn er erst einmal abgesprungen war, konnte er nichts mehr korrigieren, wenigstens nicht ohne Handraketen, und die würde er später noch so nötig brauchen wie den Sauerstoff. Aber war das denn wirklich so? Konnte man aus dem Taumeln nicht auch Nutzen ziehen? Das Seil war fünfhundert Meter lang, er mußte es irgendwie so am Faß befestigen, daß er sich gleich nach dem Absprung zurückziehen konnte, während zehn oder fünfzehn Sekunden später das Seil vom Faß abgestreift wurde …Warte mal, vielleicht so: mit der stumpfen Seite des Doppelhakens hinter eine Kante hängen, die langsam in die Sprungrichtung eindrehte – ja, das mußte gehen! Er brachte das Seil zur Probe an und zog es fest, dann krabbelte er entgegen der Taumelrichtung um das Faß herum, die Leine löste sich ohne Schwierigkeit. Noch ein paar Minuten der Sammlung, ein paar Überschlagsrechnungen im Kopf, den Kurs betreffend, den er nehmen mußte – nein, bei dieser winzigen Geschwindigkeitsdifferenz war die Abweichung von der Parkbahn um die Sonne geringfügig. Also? Er sprang ab. Und sah sofort, daß er sich in der Richtung zu sehr vertan hatte. Schnell zog er sich wieder zurück und atmete tief durch, als er den Stahlhaken der Hand wieder in den Bezug des Fasses hieb. Noch einmal – diesmal war die Richtung gut, wenn auch der Stoß nicht ganz so kräftig war wie bei dem Versuch vorher. Er flog eine halbe Minute, dann holte er das Seil ein. Während der folgenden zwei, drei Stunden sprach er öfter und trotz der entfernungsbedingten Pausen mit Gagarin. Gewiß war er weder schwach noch neu im Raum, aber selbst der Stärkste und Erfahrenste brauchte bei solchem Alleinflug Kontakt. Wenn sie ihm auch nicht direkt helfen konnten, so erfuhr er doch etwas über die Gefährten an Bord des Zollstocks und daß für ihn ein Rettungsschiff bereitgestellt wurde. Mit den Handraketen, fünf waren es zu Anfang, ging er sparsam um, er nutzte nur eine zur Beschleunigung und behielt die anderen zur Kurskorrektur. Die nun wäre zwar zu Beginn am effektivsten gewesen, aber er
war in der Orientierung auf das optische Prismensystem seines Helms angewiesen und konnte doch den Zollstock noch gar nicht sehen. Deshalb hob er sie lieber auf. Als er den Zollstock zum erstenmal erblickte, war eine Abweichung von der geraden Linie Anlage – Raumschiff kaum feststellbar. Später wurde sie deutlicher, die größere Geschwindigkeit hatte ihn ein bis zwei Kilometer, so schätzte er, über die gemeinsame Parkbahn der beiden Körper hinausgetragen, und er verwandte zwei Handraketen zur seitlichen Korrektur. Als er noch etwa einen Kilometer vom Schiff entfernt war – geschätzt immer, wenn auch mit den Hilfsmitteln seines Helms, die für sich genommen fast eine Ministernwarte darstellten –, verbrauchte er eine Handrakete zur Bremsung. Bis zu diesem Augenblick hatte er keine Angst gespürt. Jetzt hatte er nur noch eine Handrakete, und die mußte ihn, wenn er kurz vor dem Schiff war, darauf zutragen, bis seine Magnetstiefel mit der Außenhaut Kontakt hatten. Je näher er kam, um so deutlicher sah er, wie gut er mit seinen Antriebsmitteln gewirtschaftet hatte. Die Geschwindigkeit war, relativ zum Schiff, winzig, und er würde in vielleicht zwanzig Meter Abstand vorbeitreiben – ohne die Rakete. Und dann, als er in Höhe des Bugs war, wollte er die Rakete zünden – es ging nicht, sie sprang nicht an. Wäre das unterwegs passiert, hätte er sie schon in Gang gekriegt. Aber hier hatte er höchstens zwei Minuten Zeit, dann war er am Schiff vorbeigetrieben. Plötzlich überfiel ihn die Angst und lähmte ihn für Sekunden. Keine überflüssige Bewegung! war der erste Gedanke, der wieder durchdrang, dann: Zwei Minuten sind viel Zeit! Dann: Machst du dich eben selbst zur Rakete! Als erstes warf er mit kräftigem Schwung die unnütze Rakete fort, schräg nach hinten vom Schiff weg, damit er ein wenig gebremst und ein wenig näher ans Schiff getragen wurde. Danach nahm er alles Werkzeug aus den Taschen und ließ es folgen. Ungefähr in der Mitte des Schiffs sah er den Effekt, er war langsamer geworden und trieb näher an das Schiff heran, aber er stellte auch fest, daß alles das nicht reichen würde. Zehn Meter lange Beine müßte er haben! Und warum nicht? Er zog, so schnell er konnte, die Stiefel aus und band sie an die Leine. Ein kleiner Schubs – die Stiefel schwebten auf das Schiff zu. Setzten auf. Saßen fest. Jetzt straffte sich die Leine. Ruben gab nach, damit der Ruck nicht die Stiefel löste. Jetzt, jetzt konnte er es wagen – die Leine ruckte, die Stiefel
hielten. Langsam schwenkte die Leine mit Ruben am Ende auf das Schiff zu. Er setzte am Heck auf. Wenzel hatte Pauline mit nach Berlin genommen, sie hatte ihn darum gebeten, er nahm an, das Institut würde sie interessieren, mit dem er vorher Zeitpunkt und Dauer der Untersuchung abgesprochen hatte. Unterwegs hatte er gegrübelt. Eigentlich sprach alles gegen einen Selbstmord – kein Motiv, keine Gelegenheit, keine Spuren. Alles außer einem: daß die Todesursache nicht bekannt war. Irrsinnig wäre es, anzunehmen, der Mann habe das getan, um sich an seiner Frau oder sonstwem zu rächen. Und doch – hatte er nicht vergleichbare Fälle gehabt? Die Wege des Menschen sind mitunter unerforschlich. Hätte Otto Mohr seine Absichten und seine Stimmung so verbergen können? Gestern hatte Wenzel das verneint, den anderen gegenüber – heute zweifelte er diese Verneinung an. Woher kam ihm dieses Mißtrauen? Er hatte in seinem Dienst mehr Verirrungen des Gefühls erlebt, als sie einem anderen Bürger dieser menschenfreundlichen Zeit in seinem ganzen Leben begegnen mochten, und darunter Begebenheiten, die jeder andere vergangenen Jahrhunderten zugeordnet hätte. Wenzel mußte an die Feindschaft zweier Maler denken, die vor Jahren die ganze Einwohnerschaft eines Städtchens über Monate hinweg in Atem gehalten hatte – eher ein komischer als ein tragischer Fall. Sie hatten einander die raffiniertesten Streiche gespielt, die freilich nie jemanden schädigten, aber doch beunruhigend wirkten durch die scheinbare Unerklärbarkeit der Vorgänge. Erst ein Verfahren vor dem Schlichter hatte die Rivalität der beiden, die zu dem Zeitpunkt wohl auch schon ihren Höhepunkt überschritten hatte, aufgehoben und in Partnerschaft verwandelt. Sie arbeiteten gelegentlich sogar zusammen, spielten sich zwar immer noch Streiche, aber nur mehr mit spitzer Zunge, und sie nahmen sie einander nicht mehr übel. Vorher jedoch hatten sie sozusagen gewaltige Leistungen an Verstellungskunst und Verschleierungstaktik vollbracht, warum also sollte nicht auch Otto Mohr …? Dann fiel ihm der Fall des jungen Pianisten in Mecklenburg ein, der zwei Mädchen, die sich in ihn verliebt hatten, so lange gegeneinander aufhetzte, bis eine von ihnen Selbstmord beging. Auch hier hatte es Verdecktes gegeben; nicht nur, daß die krankhafte Bosheit, mit der er seinen psychologischen Krieg betrieb, bis zu dem traurigen Ergebnis unbemerkt
blieb, der Anfangspunkt dieser Entwicklung war sogar dem Kranken selbst unbekannt oder besser unbewußt: eine Zurückweisung seiner Liebe mehrere Jahre davor. In früheren Zeiten waren solche Entwicklungen oder Entgleisungen häufig, heutzutage sorgte die Sensibilität der Umwelt dafür, daß sie nicht ausuferten. Aber einzelne Fälle, in denen diese Sensibilität versagte oder nicht ausreichte, gab es eben immer noch. Und hätte nicht auch Otto Mohr etwaige Vergeltungsgelüste so tief verstecken können, daß niemand sie bemerkte, zeitweise nicht einmal er selbst? Immerhin hatte er ja allein gelebt seit der Trennung von seiner Frau – bis auf das Verhältnis zu Pauline, die jetzt neben Wenzel saß. Aber diese Beziehung war ja wohl auch gescheitert. Daran? Man müßte sie fragen. Das war freilich sehr intim, es wäre vielleicht besser, sie durch den Gang der Untersuchung an den Punkt zu bringen, wo sie von selbst darüber sprach. Und außerdem würde es kaum ausschlaggebend sein – erst mal sehen, was bei der Analyse der Schrift in dem merkwürdigen Abschiedsbriefentwurf herauskam. Wenzel landete auf einem Hubschrauberplatz am Rande Marzahns, im Nordosten Berlins also, in der Nähe des Instituts. Sie brauchten nicht einmal eins der vielen herumstehenden Selbstfahrtaxis zu nehmen, es war nur fünf Minuten Weg. Pauline sah sich neugierig um, sie war jahrelang nicht mehr in der Stadt gewesen, aber ihre Neugier erlosch bald – rein äußerlich gab es wenig Neues, auch darin drückte sich der Charakter der Epoche aus: Stabilität. Das Institut war in einem etwa zwanzigstöckigen Gebäude untergebracht, Pauline zählte die Stockwerke nicht, sie schätzte bloß. Nach ihrer Kenntnis mußte das früher einmal ein Wohnhaus gewesen sein; früher, das hieß also, vor der vollständigen Automatisierung der Industrie und dem darauffolgenden Zurückfluten der Bevölkerung aufs Land, das wiederum Raum schaffte für die Handwerke und Künste aller Einwohner. Vordem hatten ja nur wenige Handwerk und Kunst betrieben, eigentlich unvorstellbar, wie die Leute damals lebten, eine einzige Arbeit, und die oft fürs Leben und den ganzen Tag lang. Es soll auch manche gegeben haben, die mitunter keine Lust hatten zu arbeiten – gut, Pauline konnte das durchdenken und sich manches erklären und rational ableiten, aber nachempfinden konnte sie es nicht.
Es ging alles sehr schnell. Wenzel gab den Brief ab in einem der Räume, sie wurden in zwei Stunden wiederbestellt, kehrten zum Aufzug zurück, und dann standen sie wieder unter den Bäumen der Allee, die uralt waren im Vergleich zu den Menschen, über hundert Jahre, aber immer noch jünger als die Häuser. Die Straße war um diese Zeit nicht sehr belebt, ein paar Taxis summten vorbei, ein kleiner LKW, der sicherlich irgendwelchen Handwerkern oder Künstlern Material brachte, und auf dem sandigen Mittelstreifen trabten drei Reiter. „Gehen wir spazieren“, schlug Wenzel vor, „kommen Sie, ich zeig Ihnen was!“ Er bog um ein Haus und führte sie auf den riesigen Hof, der Sportanlagen und Spielplätze enthielt, Rasen und Büsche sah sie und – fast hätte Pauline vor Bewunderung aufgeschrien – an denjenigen Hauswänden entlang, die keine Balkons trugen, eine Herde grauer Elefanten, mehrere Stockwerke hoch gemalt oder geklebt oder sonst irgendwie auf die Hauswände gebracht, einer hinter dem andern, verspielt, jeder den Vordermann mit dem Rüssel am Schwanz haltend. „Wenn die Kunst für die meisten Menschen zur wichtigsten Arbeit wird“, dozierte Wenzel, „dann wird alles zum Kunstgegenstand – Häuser, Straßen, Fahrzeuge …“ „Sie kennen sich hier wohl aus?“ fragte Pauline nach einer Weile. „Ich denke, Sie leisten ihren Dienst in Prag?“ „Ich habe hier eine Kunstfreundin wohnen, dort im fünften Elefanten“, erklärte Wenzel. Dann aber hörten sie Hammerschläge und laute, empörte Rufe, mehrere Leute liefen auf eine Stelle zu, die für Wenzel und Pauline verdeckt war. Beide blickten sich an und setzten sich gleichzeitig in Trab. Als sie um die Ecke einer kleinen Schwimmhalle bogen, sahen sie den Grund der Unruhe: Inmitten einer laut protestierenden Menschengruppe schwang ein Mann einen großen Hammer und zerschlug eine Plastik, die dort aufgestellt war. Einer, ein kräftiger Mann, wollte den Wütenden hindern, wurde mit dem Hammer bedroht und wich zurück. Rufe wurden laut: „Ist denn kein Ordner da! – Immer wenn man sie braucht …“ „Ich bin Ordner!“ sagte Pauline laut und so ruhig, wie es nach dem kurzen Lauf ging. „Machen Sie bitte Platz, und Sie – stellen Sie die Zerstörung ein!“ Und zu Wenzel, der ihr helfen wollte: „Bleiben Sie zurück!“
Sie legte dem Hämmernden die Hand auf die Schulter, der fuhr herum, hob den Hammer, es war nicht zu sehen, ob er die Absicht hatte zuzuschlagen, jedenfalls kam er nicht mehr dazu – eine schnelle Bewegung Paulines, der Hammer flog ein paar Meter weit, und der Mann lag am Boden. Wenzel hatte gewiß nicht zum erstenmal eine solche Kampfsportvorführung gesehen, wenn es auch sonst eben Sport gewesen war. Doch was ihn hier staunen ließ, war zunächst seine eigene Reaktion wie auch die der Umstehenden. Gewöhnlich weckt die Anwendung körperlicher Gewalt, wenn sie wirklich einmal unumgänglich wird, Abscheu oder mindestens Verlegenheit. Er aber hatte hier nichts davon gespürt, und auch die meisten Umstehenden nicht, einige klatschten sogar Beifall. Es war verblüffend – die sonst eher staksige Pauline hatte in diesen Sekunden Bewegungen von höchster Eleganz gezeigt, so als sei sie eigentlich erst in dieser heftigen Aktion und auch nur für Sekunden ganz sie selber. Einen Nachglanz davon glaubte er noch jetzt zu spüren, da sie das Weitere organisierte: einen Arzt bestellen ließ, den Kranken – denn als solchen mußte man ihn wohl betrachten – versorgte, Personalien der Zeugen aufnahm. Die freundliche Trägheit, die sonst bis in die Bewegungen hinein ihre Erscheinung bestimmte, kehrte erst nach und nach zurück. Wenzel kam es so vor, als habe sie selbst sich noch nicht entdeckt – ganz zu schweigen davon, daß andere sie entdeckt hätten. Er nahm sich vor, diesen Fall Mohr mit ihr gemeinsam zu Ende zu bringen, natürlich, falls sie das wollte, und dabei mehr als bisher auf sie zu achten. Übrigens stellte sich heraus, daß der Hammerwütige Urheber der Plastik war, und einige der Umstehenden glaubten nun, er habe daher auch das Recht, sie zu zertrümmern, wenn sie ihm nicht mehr gefalle, aber Pauline war anderer Meinung: Was man anderen geschenkt habe, dürfe man nicht wieder wegnehmen, und ein Kunstwerk sei der Menschheit geschenkt, und außerdem und schließlich habe diese Frage der Schlichter zu entscheiden, den sie auf jeden Fall anrufen werde, dazu sei sie als Ordner verpflichtet, da sie körperliche Gewalt angewandt habe.
Anderthalb Stunden ihrer Wartezeit waren vergangen, als alles erledigt war: der Kranke, geistesabwesend die ganze Zeit über, in ärztlicher Versorgung, der örtliche Ratgeber verständigt, der Vorfall beim Schlichter zu Protokoll gegeben. Sie gingen schweigend noch ein wenig unter den Bäume spazieren. „Daß so etwas geschehen kann!“ sagte Pauline schließlich. „Das dritte Grundprinzip der Stabilisierung“, erinnerte Wenzel. „Tatsächlich? Sie dozieren doch so gern, erklären Sie’ s mir!“ Wenzel war überrascht – ja, er dozierte wirklich gern, wenn man die Darlegung allgemeiner Zusammenhänge als Dozieren bezeichnen wollte. Aber soweit er sich erinnerte, hatte er das gegenüber dieser jungen Frau erst einmal getan, doch sie mußte gleich gemerkt haben, daß es zu seiner Art gehörte. Er sagte sich immer, daß kein Mensch mit einem fertigen Weltbild geboren werde und daß eine solche philosophische Herausforderung im Gespräch nur nützlich sein könne. „Hören Sie etwa gern dozieren?“ fragte er. „Manchmal. Von manchem. Ja.“ „Das dritte ist das Prinzip der durchbrochenen Regel. Für den Umgang mit Sachen und für sachliche Beziehungen in der Gesellschaft gelten Regeln. Diese Regeln können verletzt werden, wenn dabei kein Mensch zu Schaden kommt oder gefährdet wird. Auf den meisten Lebensgebieten gilt: Bei Regelverletzungen zwischen fünf und zehn Prozent ist die Gesellschaft gesund. Für diesen Prozentsatz ist die Gesellschaft materiell gepuffert. Unterhalb oder oberhalb dieser Spanne ist etwas nicht in Ordnung – entweder die Regel oder die Gesellschaft. Denn eine nicht durchbrochene Regel ist eine Zwangsjacke, eine zuviel durchbrochene Regel hebt sich selbst auf. Die Regel zu durchbrechen ist menschlich und natürlich. Beispiel – die Verwaltungseinteilung: für hundert Menschen im Ort einen Ratgeber und einen Ordner, für das Hundertfache im Kreis wieder Ratgeber, Ordner und Schlichter, also für zehntausend Menschen, das gleiche wieder im Bezirk für das Hundertfache, also für eine Million – und so weiter. Aber nie stimmt die Zahl genau, weil es menschlich und natürlich ist, die gewachsenen territorialen und sprachlich-kulturellen Strukturen zu berücksichtigen. Hier können die Abweichungen sogar viel höher als zehn Prozent sein. Alles Binsenweisheiten, wie? Ich denke trotzdem viel darüber nach.“
Sie waren wieder am Institutshaus angelangt. Nach wenigen Minuten standen sie dem Chemiker gegenüber. Jetzt fühlte Wenzel die bisher beiseite gedrängte Spannung wachsen. Alt oder neu, die Schrift? Selbstmord oder nicht? „Ich weiß ja nicht, was Sie erwartet haben“, sagte der Chemiker, „aber keine dieser Schriften auf dem Blatt ist älter als vierzehn Tage.“ Zwei Tage Ruhe und Training unter Anleitung der Ärzte von Gagarin waren notwendig, ehe sich die Besatzung des Zollstocks wieder an die Arbeit machen konnte. Eine fast übermenschliche Disziplin hatten sich die Physiker abverlangt, indem sie jeden Gedanken beiseite schoben, der irgendwie mit dem Experiment und seinem Ausgang zusammenhing. Nur Ruben hatte es leichter, er war beschäftigt damit, die Kollektoren von Hand abzuschalten und das Faß, die Anlage also, aufzutanken und dann, ebenfalls handgesteuert, das Taumeln abzufangen und sie zu justieren. Dabei erledigte er etwas anderes gleich mit: Der Steuerungstechniker in Gagarin hatte aufgrund der aufgetretenen Störungen errechnen können, wo in der Steuerung der Defekt lag, er hatte nicht nur angegeben, in welcher Baugruppe, sondern sogar einen Kristall benannt. Ruben wechselte als letztes die Baugruppe, probierte die Steuerung aus – sie reagierte nur kurz mit zwei ganz schwachen Impulsen, die den letzten Rest des Taumelns aufhoben – und kehrte dann zum Zollstock zurück. Dort erwarteten sie ihn bereits. „Wir sind als geheilt entlassen“, sagte Esther grinsend. „Wir warten ungeduldig, daß du uns endlich erzählst, was eigentlich passiert ist.“ Ruben war darauf vorbereitet. Er hatte schon vorher die entsprechenden Stellen in den Protokollen ausgewählt. Jetzt berichtete er rückhaltlos alles, was er beobachtet, gedacht und empfunden hatte, und schloß: „Ich glaube, die Stabilität des Bläschens, die wir beobachtet haben, war auch nur scheinbar. Ich glaube, es strebte dahin, wo hochkonzentrierte Energie war, also Atome, wurde aber durch das Magnetfeld festgehalten, suchte einen Weg, sich dieser Fesselung zu entziehen, und fand ihn im Abstoßen der Elektronen – und es muß ein gerichtetes Abstoßen gewesen sein, damit der Rückstoß es in die Anlage brachte. Es landete in der Steuerung, überfraß sich und platzte. Der defekte Kristall hier drin wird uns mehr erzählen!“ Er zeigte die ausgewechselte Baugruppe herum.
„Teleologischer Quark!“ brummte jemand. Esther widersprach. „Sag das nicht – oft verhalten sich die Dinge so, als hätten sie ein Ziel.“ „Aber sie haben keins!“ „Das nehme ich auch nicht an“, sagte Ruben. „Obwohl es auch nicht ganz ausgeschlossen ist – es gibt ja Spekulationen, daß die Bläschen Bausteine einer anderen Welt sind, warum dann nicht auch gleich Bewohner? Aber Spaß beiseite – ich schlage vor, daß der Widersprechende als erster den fraglichen Kristall röntgen darf.“ „Gut“, sagte der, „wenn du recht hast, muß das Bläschen da drin explodiert sein, nicht wahr?“ Ruben gab ihm die Koordinaten des Kristalls in der Baugruppe, wie der Steuerungstechniker sie errechnet hatte, und alle warteten gespannt auf das Ergebnis. „Haha!“ sagte der Physiker plötzlich, der Ton lag zwischen Erstaunen, Triumph und Lachen. Dann berichtete er: „Es sind zwei große Störstellen im Kristall, wie paßt das zu deiner These?“ „Zwei?“ fragte Ruben ungläubig. „Ja, dann …“ Er wußte nicht, was dann sein könnte, aber Esther wußte es. „Dann hat sich das Bläschen nach Aufnahme von Masse geteilt, und die beiden Teile sind explodiert.“ „Teilung – schon wieder eine neue Spekulation.“ „Warum nicht? Teilung und Verschmelzung sind Grundreaktionen der Materie.“ „Und warum hat es sich nur einmal geteilt und nicht unbegrenzt? Und warum …, warum …, warum …“ Es gab ja auch tausend Fragen, die ebenso viele oder eigentlich hundertmal mehr Untersuchungen und Experimente erforderten, aber so viel war Verteidigern wie Kritikern klar, daß jetzt eine neue Etappe der Bläschenforschung begann und daß dieser Krümel von einem Kristall der Stern war, der über der neuen Etappe leuchtete. Und so waren sich alle einig, daß man jetzt, vor jedem weiteren Experiment, diesen kostbaren Kristall nach Gagarin bringen mußte, wo angemessene apparative Möglichkeiten für seine Untersuchung bestanden. Ruben richtete den Zollstock auf Startposition aus.
3 Wenzel lag in der schon wärmeren Mittagssonne, die schlafende Pauline im Arm, und grübelte. Neben ihnen, auf der Lichtung, grasten ihre Pferde. Es war alles anders gekommen, als er beabsichtigt hatte. Was er auch angefaßt hatte – statt Klarheit waren Unklarheiten, statt Gewißheit Ungewisses herausgekommen. Zwei Tage lang hatten sie alles und alle noch einmal untersucht und befragt, um sich ein genaues Bild über Otto Mohrs letzte Tage zu verschaffen, sowohl zeitlich und räumlich als auch hinsichtlich seines seelischen Befindens. Es gab jemanden, zu dem Otto Mohr gesagt hatte, er freue sich über den baldigen Besuch seiner Ehemaligen, und derjenige hatte sich noch gewundert, daß da kein bißchen Ironie oder Bitterkeit mitgeklungen hatte, sondern nur ganz reine und ehrliche Freude. Ein anderer wiederum erzählte, Otto habe sich ihm gegenüber mißbilligend über seine Kinder ausgesprochen, in sanfter, sozusagen kopfschüttelnder Mißbilligung freilich, nicht zornig oder ärgerlich. Ein paar zeitliche Präzisierungen existierten auch, die aber für sich genommen und auch zusammen mit dem bisher Bekannten nichts aussagten. Das Bild des Toten drehte sich etwas, wurde aber dadurch nur noch unklarer, da das Rachemotiv für einen Selbstmord immer unwahrscheinlicher wurde. Und Wenzel verhehlte sich nicht: Je mehr Leute über Mohrs gute Stimmung aussagten, um so mehr wurde auch seinem Mißtrauen der Boden entzogen. Briefe hatte der Tote leider nicht hinterlassen. Wie befürchtet, gehörte er zu den Leuten, die ihre Korrespondenz nicht aufhoben, weil sie sich sagten: Was wichtig ist, behält man sowieso im Kopf oder im Herzen, und was Kopf oder Herz nicht so bewegt hat, daß es sich einprägte, ist auch nicht wichtig. Es gab viele, die so dachten und die höchstens wissenschaftliche Abhandlungen und Kunst oder Handwerk Betreffendes aufbewahrten, dann aber nicht in Originalform, sondern in einer kleinen Kristallothek gespeichert. Tatsächlich hatte Otto Mohr eine solche in Gebrauch gehabt, und Wenzel hatte nach kurzen Stichproben Sibylle Mohr gebeten, sich Überblick und Einsicht in das dort Gespeicherte zu
verschaffen. Außerdem hatte er sie gebeten, die letzten künstlerischen Skizzen und Pläne des Toten noch einmal durchzusehen, notfalls mit Hilfe der Kreiskommission der bildenden Künstler. Wenzel war damit auf ein Angebot Sibylle Mohrs eingegangen, die sich sowieso für vierzehn Tage von ihren laufenden wissenschaftlichen Arbeiten beurlaubt hatte und die Zeit dazu nutzen wollte, bei der Aufklärung der Zusammenhänge zu helfen. Auch das singende Glas, den Raumteiler, hatten sie sich zu viert noch einmal angesehen, Sibylle, Pauline, die Ratgeberin und er, aber da sang es merkwürdigerweise nicht, und Wenzel war sich eigentlich sicher, daß ihn nicht übergroße Sensibilität genarrt hatte, als er es singen hörte. Es mag wohl vorkommen, wenn man dergleichen erwartet, daß die Anstrengung des Hinhörens das Erwartete hervorbringt; aber Wenzel war seiner Kunst wegen an präzise Beurteilung leiser und leisester Äußerungen gewöhnt. Wenn er sich etwa von jemandem zu einem versteckten Gegenstand führen ließ, dann mußte er die winzigen Änderungen der Atmung, die kaum wahrnehmbaren Ausweichbewegungen genau erfühlen, deren sich der Partner nicht einmal bewußt wurde. Jedenfalls, warum auch immer, reagierte das Glas nicht, weder bei geöffnetem noch bei geschlossenem Fenster, so daß Wenzel hier fürs erste aufgeben mußte, obwohl ihm wieder jenes „Fenster aufreißen“ in den Ohren klang, das schon einmal in ihm irgendeine verschwommene Assoziation wachgerufen hatte. Die ganze übrige Zeit hatte er mit Pauline zusammengearbeitet, und dabei hatte er sie immer mehr schätzengelernt. Sie stürzte sich mit einem wahren Feuereifer auf jede scheinbar noch so unwichtige Einzelermittlung – Wenzel kannte das von sich selbst als Anfängereifer. Sie aber tat das ohne die üblichen Anfängerfehler und – Übertreibungen, und das hatte er noch gar nicht erlebt, nicht einmal bei sich selbst – richtiger: schon gar nicht bei sich selbst. Es war mehr als das; da war jemand dabei, sich und seine Aufgabe im Leben zu finden. Wenzel glaubte zu wissen, daß Pauline nach Abschluß dieser Angelegenheit nicht mehr Ordner im Vorwerk von Altenwessow sein würde, doch er hätte noch nicht sagen können, was sie dann statt dessen tun würde; er nahm sich aber vor, das als erster zu erfahren. Es war nicht ausgeblieben, daß er auch ihre Eltern kennengelernt hatte, bei denen sie wohnte. Er hatte deren Reserviertheit gespürt, trotz aller selbstverständlichen Freundlichkeit, und er hatte sie auch verstanden.
Diese Tochter, immer noch ledig, hatte mit den Gleichaltrigen nichts im Sinn, war mit dem viel älteren Mohr kürzere oder längere Zeit zusammen gewesen, und nun brachte sie wieder einen viel älteren Mann ins Haus. Mochte Dienstliches oder was immer sie zusammengeführt haben, daß die beiden mindestens harmonierten, blieb nicht verborgen, und wenn auch diverse Vorurteile der Geschichte angehörten, fernen Zeiten, in denen die Menschen in der Mitte ihres Lebens alt wurden, so gehörte jedenfalls der Wunsch nach Enkeln und Urenkeln nicht der Vergangenheit an – wenigstens nicht für Paulines Eltern. Freilich hatte er auch gespürt, daß er trotz aller gelegentlichen Sympathie fürs Landleben doch im Grunde Städter war und bleiben würde. Fast jeder, der hier lebte, hielt ein Stück Vieh oder auch mehrere; das wollte gefüttert und gewartet und dann schließlich geschlachtet werden – eine widersprüchliche Beziehung zwischen Zuwendung zum lebenden Tier und seiner Verwandlung in einen Gebrauchsgegenstand. Am Vorabend war ihm das klargeworden, als bei Paulines Eltern geschlachtet wurde. Er hatte den Vorgang aufmerksam verfolgt, aus Prinzip, weil er sich nie eine Gelegenheit entgehen ließ, etwas zu beobachten, was er noch nicht kannte oder jahrzehntelang nicht mehr erlebt hatte; das zahlte sich immer aus, in der Kunst wie auch im Dienst. Es hatte ihn dann Mühe gekostet, von der dampfenden Wurstsuppe zu trinken, um die Gastfreundschaft nicht zu verletzen, und wenn ihn heute die Ratgeberin gefragt hätte, ob er sich vor Tierfleisch ekle, so hätte er mindestens nicht so spontan verneint wie vor ein paar Tagen. Im Bewußtsein, daß seine sonstige Ernährungsweise den Tieren nicht weh tat und nicht ihren Tod forderte, da seine Schnitzel in den Fleischfabriken aus verklonten Zellen gezüchtet wurden, gelang es ihm, sich zu überwinden und die Suppe zu trinken. Niemand hatte es bemerkt außer Pauline, aber in deren Augen hatte es ihm offenbar nicht geschadet; denn heute vormittag, als eine Pause eintrat in ihren Arbeiten, hatte sie ihn zu einem Ausritt herausgefordert, den Kopf auszulüften, wie sie sagte. Ihrem übermütigen Lächeln hätte er eigentlich schon entnehmen müssen, was dann folgen würde, wenn er nicht eben wirklich dessen bedürftig gewesen wäre, was sie als Grund vorgab. Auf der Lichtung angekommen, sprang sie vom Pferd, er tat das gleiche, sie trat vor ihn hin, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn, fragte: „Magst du mich?“ Er hätte lügen müssen, wenn er hätte nein
sagen wollen, und so breitete sie eine Decke aus und begann sich auszuziehen. Jetzt lag sie in seinem Arm und schlief, und er starrte in den Himmel. Je mehr Zeit verrann, je größer der Abstand von diesem Erlebnis wurde, um so seltsamer kam es ihm vor. Sie hatten jeder dem andern gegeben, was Mann und Frau voneinander erwarten durften, und trotzdem wurde das Gefühl immer stärker, daß irgend etwas gefehlt hatte, und nicht nur ihm. Seit der Trennung von seiner ersten Frau stellte er sich bei jeder erotischen Begegnung die Frage, ob er mit dieser Frau die zweite Hälfte des Lebens verbringen möchte, und in diesem Fall war die Antwort wie leider schon so oft: nein. Er wußte, er würde ihr nicht genug geben können, vielleicht ein, zwei Jahre lang, aber nicht für immer. Und vielleicht nicht mal so lange. Er stellte sich Pauline vor, wie sie ausgesehen hatte, als sie den Kunstzerstörer aufgehalten hatte. Diese Eleganz der Bewegung, dieses plötzliche Hervortreten der ganzen Persönlichkeit aus den Alltagskleidern der Trägheit und Gewohnheit – das hatte er mit all seinen Liebkosungen nicht erreicht. Und sie, war sie nicht auch eine, die sich jedesmal eine so grundsätzliche Frage stellte wie er? Die suchte, ohne bisher zu finden? Sonst wäre sie wohl schon verheiratet, die Eltern hätten ihre Enkel… War sie nicht vielleicht eingeschlafen, um über die nicht erfüllte Hoffnung auf den einen Mann, den sie erwartete, hinwegzuschlummern? Nichts war klarer geworden. Denn so aktiv sie auch mit ihm umgegangen war, in ihrem Suchen war eine große Passivität. Sie ging nicht dahin, wo viele Menschen waren, also in eine Stadt oder in einen Dienst, der sie oft aus dem Vorwerk herausführte, sie schuf sich keine Gelegenheit, sondern wartete, daß sie von selbst entstanden. Ja, diese Passivität war es, die sich in der Trägheit ihrer Bewegungen ausdrückte, die wie ein abgenutzter Mantel ihre wirkliche Schönheit verbarg. Wenn er diesen Widerspruch auch nicht ganz verstand, so begriff er doch, daß er wenigstens eins würde tun können und müssen: ihr diese Gelegenheiten zu schaffen, wenn nämlich dieser Fall, wie er schon ahnte, ihn noch weit über Vorwerk und Dorf und Kreis und Bezirk hinausführen würde. Nun also – ein wenig war doch klarer geworden. Nur nicht im Fall Otto Mohr. Je mehr er über die Persönlichkeit des Toten zutage förderte, je tiefer er in sie eindrang, um so verschwommener wurden alle Zusammenhänge.
Hatte Otto Mohr sich rächen wollen an seiner Frau? Nur zwei Dinge sprachen dafür: daß er nur sie eingeladen hatte und daß er einen Abschiedsbrief entworfen hatte – allerdings nur entworfen, und damit begann schon die stattliche Reihe der Argumente, die dagegen sprachen. Die Beobachtungen und Beurteilungen aller seiner Freunde und Nachbarn wogen schwer, es hätten handfeste Tatsachen dazu gehört, sie alle für Getäuschte zu halten. Und dann und vor allem: Wie hatte er den Selbstmord gemacht? Wie denn? Hatte er aber vorgehabt, eine große künstlerische Leistung zu präsentieren – wieso hatte er dann nur seine Frau eingeladen und nicht auch seine Kinder? Vielleicht war das Verhältnis zu den Kindern aus irgendeinem Grund, den Wenzel nicht kannte, etwas getrübt – aber dann wäre doch hierbei die beste Gelegenheit gewesen, das in Ordnung zu bringen! Und woran, ja, woran wäre er dann gestorben? Und dann stand da immer noch der Schemel auf dem Boden unter der Schlinge, von der auch der Inder berichtet hatte, und es war Wenzel schon beim erstenmal aufgefallen, daß keine dicke Staubschicht darauf lag. Nein, so ging es auch nicht weiter. Der einzige Gegenstand, der noch weiterführen konnte, war diese Werkzeugtasche mit den Röhrchen – und das war eine schwierige Geschichte: Sie trug kein Herstellerzeichen, war also, obwohl anscheinend industrielles Erzeugnis, eine Sonderanfertigung nach Kundenwünschen, für das der betreffende Betrieb keine Urheberschaft übernahm. Und da auch keine Korrespondenz vorlag und nicht einmal eine Vorstellung, worum es sich eigentlich handelte, konnte man nicht einfach den Computer suchen lassen; denn suchen, ohne zu wissen, wonach, konnten nur Menschen. Oder war dieser verdammte Fall daran schuld? Daß er hier lag mit einem schönen Mädchen im Arm – denn schön war sie inzwischen für ihn – und nichts Besseres zu tun hatte als über eines anderen Tod zu grübeln? Daß ein Riegel das letzte, tiefste Gefühl der Vereinigung zugesperrt hatte? Waren die Gedanken an diesen Fall der Riegel gewesen und nicht etwa Divergierendes in den seelischen Kräften? Wenn er sie so ansah, wenn er ihr ins Gesicht sah … Nein. Alles Konkrete, Faßbare hatte gestimmt. Er lächelte über das gedachte Wort faßbar. Aber es war wie in diesem Fall: Alles Konkrete verwirrte. Die erste und gröbste heuristische Regel besagte: Wenn du nicht weiterkommst, denke das Gegenteil. Das Gegenteil vom Konkre-
ten also. Den Fall Mohr ohne den Brief. Ohne diese Werkzeugtasche. Ohne den singenden Glasvorhang. Ohne den Schemel und die Schlinge. Ohne den Glasstab, den Otto Mohr wohl zufällig in der Hand gehalten hatte. Was blieb dann übrig? Nichts. Nein, so ging es auch nicht. Halt, hier war irgendwo ein Haken. Wenn der Glasstab nicht gewesen wäre und das Blut, dann wäre es wahrscheinlich überhaupt kein Fall geworden. Nun wieder zurück zum Konkreten: Was wäre geschehen? Pauline hätte sich ein wenig gewundert und den Arzt gerufen. Der Arzt hätte sich gewundert und den Totenschein ausgestellt. Die Ratgeberin, ebenfalls etwas verwundert, hätte ihn gegengezeichnet und zu den örtlichen Papieren gelegt, nachdem sie beide die Todesnachricht an den Computer gegeben und mit ihren Kennungen bestätigt hätten …Nein, er war jetzt über den Punkt schon hinausgeschossen, das fühlte er. Also wieder abstrakt: Alle hätten sich ein wenig gewundert und, abgesehen von Trauer und Tränen, sich zufriedengegeben. Daß es ein Fall wurde, war einem Zufall zu danken: dem Zufall, daß Otto Mohr den Glasstab in der Hand gehabt hatte, oder wenn das kein Zufall gewesen sein sollte, dann dem Zufall, daß er gerade so unglücklich fiel, daß Sturzrichtung und Handhaltung zum Zerreißen der Halsschlagader führten. Ob das ein seltener Zufall war? Je seltener der Zufall … Die plötzliche Erkenntnis schüttelte ihn. Entsetzlicher Gedanke! Wenn hinter diesem Tod eine unbekannte Ursache steckte, dann war es möglich, daß diese Ursache schon viel mehr Menschen umgebracht hatte; denn ihr Tod wäre ja nicht aufgefallen! Hundert konnten es sein. Tausend. Je seltener der Zufall, um so mehr. Und ebenso viele waren gefährdet. Man mußte sofort – ja, was mußte man? Vergleichbare Fälle untersuchen. Was waren vergleichbare Fälle? Unerwartet eingetretene Herzinfarkte? Vielleicht. Das mußte überlegt und beraten werden. Aber klar war jetzt schon eins: Es war nur der Schatten eines Verdachts, wenn auch eines ungeheuerlichen; sie mußten ihn selbst verdichten oder wegwischen, das konnten sie niemand anderem übertragen. Sie wußten ja nicht einmal, falls der Verdacht sich bestätigte, in welchem Bereich die Ursache zu suchen war. Unbekannte Erreger? Aber dann hätte es lokale Häufungen gegeben, die längst aufgefallen wären. Psychische Störungen? Aber die rufen nicht unmittelbar Herzinfarkt hervor, nicht bei Leuten, die gesund sind, würden die Ärzte sagen. Also: Fälle suchen und sie unter die Lupe nehmen! Wenzel hatte sich beruhigt. Also dann: Auf, Paulinchen, es gibt Arbeit!
Pauline hatte schon längere Zeit wach gelegen und nachgedacht, ohne sich das merken zu lassen. Sie fühlte sich wohl und warm, nur ein leises Bedauern war geblieben, daß dieser eben auch nicht der Richtige war. Aber dafür wußte sie jetzt etwas, was ihr vorher nicht klar gewesen war: Es war nicht in erster Linie der Mann gewesen, der sie gereizt hatte, sondern die Sache, die er betrieb. Als Wenzel jetzt unwillkürlich mit dem Arm zuckte, schlug Pauline die Augen auf, rekelte sich, sprang plötzlich hoch, hielt ihm die Hand hin, zog ihn hinauf, ließ gleich wieder los, kleidete sich an und lief zu ihrem Pferd. Als sie oben saß, sagte sie: „Du gehörst zu denen, die ich nicht vergessen will.“ Wenzel nickte. Vierzehn Tage würde es dauern, hatten die Computerleute gesagt, bis man die beim Experiment erhaltenen Daten nach allen Richtungen durchgearbeitet hatte; die Experimentatoren würden wenig dabei helfen können. Suchprogramme verhielten sich zum normalen Rechnerbetrieb wie Integralgleichungen zum Einmaleins. Ruben hätte die vierzehn Tage seinem fast schon verkümmerten Handwerk widmen können, er war Elektroinstallateur, und auf Gagarin gab es wie überall, wo Menschen wohnten, trotz Ultralanglebigkeit der Anlagen immer etwas zu erneuern oder zu reparieren. Aber eine Anfrage, die ihn über den Arbeitsdispatcher erreichte, reizte ihn mehr: Sie bot einen Flug zur Venus. Von der neueren Venusforschung hatte Ruben bisher nur gesprächsweise gehört, um nicht zu sagen gerüchtweise; sie hatte begonnen kurz vor seiner Abreise vor über drei Jahren, und damals hatte er naturgemäß keine Gehirnzelle frei gehabt für irgend etwas anderes als seinen Auftrag. Und seit seiner Rückkehr hatte er die widersprüchlichsten Meinungen vernommen, die Skala reichte von „echtem Forschergeist“ bis zu „verrücktem Separatismus“. Mit letzterem hatte er wenig anfangen können, auch hatte ihn die Abwertung geärgert, die da herauszuhören war, und so hatte er sich nicht weiter damit befaßt. Jetzt freilich sah die Sache anders aus. Der Funkkontakt war abgebrochen, die turnusmäßige Sendung von Ausrüstung und Material war erst in einem halben Jahr fällig, also mußte ein außerplanmäßiger Flug mit
einer eben zur Verfügung stehenden Besatzung angesetzt werden, auch Leute dabei mit Venuserfahrung, selbstverständlich, aber kein Kommandant. Und da er, Ruben, Erfahrung mit fremden Atmosphären hatte, war die entsprechende Frage auch an ihn gerichtet worden. Weil sich die Venus gerade auf derselben Seite der Sonne befand wie die Erde, würden vierzehn Tage für den Flug reichen, und Ruben sagte zu. Von Meinungen anderer hatte Ruben in diesem Fall erst mal genug, er ließ sich das verfügbare Speichermaterial über die Venusforschung der letzten Jahre in die Bordkristallothek des Raumschiffs überspielen und nahm sich vor, während der Flugtage alles zu studieren, was nicht für seine Kenntnisse zu speziell war. Die Besatzung bestand aus sechs Kosmonauten, ausschließlich Männern, vielleicht hatten die Psychologen gedacht, während eines so kurzen Flugs würde niemand Interesse an einer Partnerschaft haben. Je zwei taten zusammen Dienst, die anderen hatten Freizeit oder schliefen, und zu allgemeiner Geselligkeit fehlte die Atmosphäre. Rubens Partner jedenfalls hatte an Meinungsaustausch sowenig Interesse wie er selbst; auch für ihn war diese Reise ein Pausenfüller. Ruben sichtete in seiner ersten Freiwache das überspielte Material und nahm sich als erstes eine Publikation eines der Forscher vor, die sie jetzt besuchen wollten; sie war seltsamerweise unter dem Hauptstichwort Meinungsstreit archiviert und erst in zweiter Linie unter Venus. Da war er freilich schon wieder bei einer Meinung, aber wenigstens, wie er hoffte, bei einer kompetenten. Die Publikation trug den Titel „Das Ende der irdischen Venusforschung und der Beginn der Venusbesiedlung“. Ruben überflog den Text und war fasziniert. Das war ja seine eigene Idee von der Besiedlung anderer Himmelskörper! Der Enthusiasmus des Artikels entsprach seinem eigenen. Werbung für die Idee, Einpflanzung des scheinbar absurden Gedankens in den menschlichen Geist – das war die Absicht. Die Beweise für die Richtigkeit der Idee waren leider mager, was allerdings nicht am Autor, sondern an der Sache lag. Der Verfasser mußte allzuoft die Beweise durch weitreichende Extrapolation oder sogar durch Phantasie ersetzen. Deshalb wohl war der Artikel in Dialogform geschrieben. Ruben fühlte sich von den parallelen Gedanken dieses Fremden mächtig angezogen. Er las den Artikel zum zweitenmal und gründlicher:
„Sind wir auf der Venus Forscher oder Siedler? Die Praxis hat diese Frage beantwortet, noch bevor wir sie uns selbst in dieser Deutlichkeit stellten, und zwar mehrfach beantwortet. Erstens dadurch, daß von einhundertdreiundachtzig Menschen, die vor mehr als drei Jahren in die Atmosphäre der Venus eintauchten, nur sieben die Rückreise angetreten haben, nachdem ihre vorgesehene Zeit herum war, darunter zwei aus gesundheitlichen Gründen. Zweitens dadurch, daß die Mehrheit von uns heute nicht mehr oder nicht mehr hauptsächlich mit der Erforschung der Venus beschäftigt ist, sondern mit der Aufrechterhaltung und Reproduktion unserer Lebensbedingungen, und man kann derzeit schon sagen, daß wir allmählich zur erweiterten Reproduktion übergehen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn wir nicht mehr von Stationen, sondern von Siedlungen sprechen. Nun werden Sie fragen: Wie kann man denn von einer Besiedlung sprechen, wenn diese Stationen oder, wie wir sagen, Siedlungen gar nicht selbständig existieren können, sondern ständigen Nachschub von der Erde brauchen? Gewiß können wir nicht unabhängig von der Erde existieren – so wenig, wie ein Kind unabhängig von den Eltern und sogar von der ganzen Menschheit existieren kann. Die achtzehn Jahre, die das Kind braucht, um erwachsen zu werden, machen etwa zwölf bis dreizehn Prozent seines Lebens aus, während dieser Zeit muß es von der Menschheit versorgt werden, ohne selbst einen Beitrag zu liefern. Wenn man nun eine neu entstehende Zivilisation – wie unsere – mit der gleichen Elle mäße, was wären da hundert oder fünfhundert oder tausend Jahre bis zur vollständigen Lebensfähigkeit? Gibt es denn überhaupt eine Möglichkeit dazu, fragen Sie angesichts der enormen Lebensfeindlichkeit der Venus, von der in Ihren Schulbüchern und sonstigen Informationsquellen immer die Rede war. Ihre Schulbücher haben Sie richtig unterrichtet: Auf dem Boden der Venus herrschen in jeder Beziehung höllische Verhältnisse. Aber wer sagt denn, daß eine Zivilisation unbedingt auf dem Boden des Planeten leben muß? Noch dazu, wenn der Planet eine so stabile, so zuverlässige Atmosphäre besitzt wie unserer? Wir leben in fünfundfünfzig Kilometer Höhe bei einer Außentemperatur von zwanzig Grad und einem Luftdruck, der etwas niedriger ist als auf der Erde. Das sind, wie Sie zugeben müssen, sehr freundliche Verhältnisse, auch wenn die Luft fast aus-
schließlich aus Kohlendioxid besteht. Aber wozu gibt es schließlich Pflanzen und die Photosynthese, wenn noch dazu den ganzen Tag eine große Sonne scheint? Hinsichtlich Atemluft und Energie haben wir nicht die geringsten Sorgen. Jetzt höre ich Sie fragen: Aber das Wasser? Es gibt doch kein Wasser? Ich danke Ihnen, daß Sie so aufmerksam gefolgt sind. Aber in diesem Punkt sind Sie unvollständig unterrichtet. Für uns gibt es genug Wasser. Die obere Wolkenschicht, die wir normalerweise über uns haben, besteht hauptsächlich aus Eiskristallen. Zweimal bei jeder Umrundung des Planeten, die für uns im ganzen immer etwa einen Erdmonat dauert, stoßen wir hinauf über die Wolken, in die Zone des ständigen Sturms, um schnell durch die Nachtseite bzw. die subsolare Zone zu kommen. Bei diesen Gelegenheiten nehmen wir reichlich Wasser auf. Allerdings müssen wir sparsam damit umgehen: Recycling ist in puncto Wasser absolute Pflicht. Aber das Wasser würde auch reichen, wenn wir unsere Zukunftsvorstellungen und -träume verwirklichen könnten. Ach, fragen Sie, Zukunftspläne gibt es auch? Gewiß. Können Sie ohne Pläne und Träume leben? Wir haben aber mehr als das. Wir haben eine Konzeption. Um die Atmosphäre des Planeten zu verändern – was fehlt uns denn? Geeignete Pflanzen lassen sich züchten, die Kohlendioxid abbauen zu Grünmasse und Sauerstoff. Alle notwendige Technologie liegt im Grunde vor, nur im einzelnen noch nicht. Freilich, drei Stationen oder Siedlungen können nichts ausrichten. Jeden Kilometer der Tagzone eine Siedlung, das wären etwa dreißigtausend, mit knapp zwei Millionen Menschen – das würde für den Anfang genügen, um meßbare Wirkungen zu erzielen. Und nun werden Sie sagen: So können vielleicht einzelne Menschen leben, aber keine Gesellschaft. Und nun sagen wir: Doch, sie kann.“ Beim zweiten Lesen war Ruben eine Nuance aufgefallen, die er vorher übersehen hatte: Im Ton schien etwas Herausforderndes zu liegen, besonders am Schluß, etwas von „Sie werden schon sehen“ oder sogar von „Wir werden’ s euch zeigen“. Das erschien ihm bedenklich, vor allem im Zusammenhang mit der aktuellen Unterbrechung der Funkverbindung. Auf Gagarin hatte man zwar die notwendigen Schritte eingeleitet, also dieses Schiff entsandt, aber nicht angenommen, daß irgend etwas Katastrophales eingetreten sei. Man glaubte eher an eine Panne des Übertra-
gungssatelliten, denn sonst hätte wohl eine Station geschwiegen, doch nicht alle drei zugleich. – Wie alt war der Artikel? Ein halbes Jahr. Sollten sie damals etwas vorgehabt haben, was sich heute abspielte? Aber spekulieren hatte wenig Sinn. Ruben wandte sich deshalb den verschiedenen Quellen zu, die zu einzelnen Stichworten des Artikels angegeben waren. Sie gingen jedoch so ins einzelne, daß sie ihm nicht viel sagten. Er begriff nach und nach, daß die Stationen – oder Siedlungen, wie die Venusier sagten – große Ballons waren oder vielmehr Bündel von Ballons, deren größter die Besatzung trug, und zwar nicht unter sich, wie man sich das bei irdischen Ballons vorstellt, sondern in sich. Metallische Werkzeuge und Aggregate gab es so gut wie gar nicht; verständlich, der Tragfähigkeit wegen. Na gut, alles andere würde er sich selbst ansehen. Auf jeden Fall würde wenigstens er, Ruben, diese Gedanken aus dem Artikel ernst nehmen, wenn auch anscheinend dessen Wirkung verpufft war, bisher wenigstens: Es gab weder Zustimmung noch Entgegnung. Nach einem halben Jahr müßte sich doch jemand aufgerafft haben. Oder war der Autor zu unbekannt? Das sollte eigentlich kein Maßstab sein, aber hin und wieder kam es wohl vor, daß das eine Rolle spielte, besonders bei zweifelhaften‹ oder polemischen Texten, und der Geruch von beidem haftete dem Artikel an. Ruben kannte den Autor oder die Autorin auch nicht, der Artikel war nur mit McPherson gezeichnet, und Ruben war niemand dieses Namens erinnerlich. Er ließ die Liste der ersten Teilnehmer auf dem Schirm erscheinen, der Name kam hier auch nicht vor, er löschte sie wieder, rief die Namen der später Nachgekommenen hinzu, auch dort kein McPherson – aber dann holte er die erste Liste zurück, ihm war plötzlich etwas aufgefallen, und zwar, als er sie schon gelöscht hatte, richtig, da stand es: Teilnehmer der Forschungsexpedition Venus von …bis… Eine Zeitspanne von anderthalb Jahren war angegeben, beginnend mit der damaligen Einrichtung der Stationen. Tatsächlich aber war keine Ablösung erfolgt, abgesehen von ein paar Ausnahmen. Darüber mußte es doch eine offizielle Dokumentation geben, hatte er die nicht in seinen Materialien? Er gab dem Computer den Auftrag, die Titel aller gespeicherten Materialien aus dieser Zeitspanne zu zeigen.
Ruben rief die Dokumente ab und vertiefte sich darein. Donnerwetter, das war ja allerhand! Die Venusleute hatten sich regelrecht widersetzt, als sie abgelöst werden sollten, hatten einen Beschluß des Wissenschaftlichen Rates zurückgewiesen, der sie abberief, und – das gab es doch nicht! – den Rat für unzuständig erklärt. Sich sozusagen dem eigenen Kommando unterstellt. Etwas Vergleichbares hatte Ruben noch nie erfahren, nicht einmal davon gehört, und für einen Augenblick machte ihn das fassungslos. Wie will man denn leben ohne repräsentative Entscheidungen in den grundlegenden Fragen und ohne ihre selbstverständliche Respektierung. Zum erstenmal kam ihm so etwas wie eine Ahnung davon, daß hinter dieser sonderbaren Geschichte weit mehr stecken mußte; denn der Rat hatte ja die Entscheidung der Venusier anerkannt, und das konnte gewiß nicht nur deshalb geschehen sein, weil ihm nichts anderes übrigblieb! Spätere Materialien zu dieser Frage waren nicht archiviert; zweifellos hatte es welche gegeben, und wenn sie nicht zugänglich waren, dann mußte es einen entsprechenden Beschluß der nächsthöheren Instanz geben, des Raumbüros vielleicht oder sogar der Versammlung der Kon-
rats, der Kontinentalratgeber. Da lief also etwas, was aus der öffentlichen Diskussion herausgehalten wurde – ebenfalls ungewöhnlich. Nun war Rubens Interesse hellwach, und er war sehr gespannt, wie es auf den Venussiedlungen tatsächlich aussah. Denn wenn das alles so war, wie es sich jetzt darstellte, dann war der Artikel sicherlich das erste Signal dafür, daß die Sache bald der Menschheit zur Kenntnisnahme vorgelegt werden sollte. Vielleicht war er auch ein Versuch, festzustellen, welche Resonanz die Vorstellungen der Venusier bei der Menschheit fanden. Und in diesem Zusammenhang war wenigstens eins sehr sonderbar: Für den Artikel hatten sich offensichtlich nicht allzu viele Menschen interessiert – aber von denen, die auf der Venus waren, kehrte nur eine verschwindende Minderheit zurück. Die also einmal da waren, hielt es offensichtlich dort fest. Und dafür mußte es Gründe geben, die zu erfahren Ruben begierig war. Zunächst näherten sie sich jetzt der Venus und mußten zuerst den Funksatelliten anfliegen und gegebenenfalls reparieren. Dazu war die Schichteinteilung aufgehoben worden, und als die Manöver zur Bahnanpassung begannen, waren alle sechs Kosmonauten in der Zentrale. Eine Stunde später hatten sie den Funksatelliten unmittelbar vor sich, und die beiden Spezialisten begaben sich in ihren Feuerstühlen dahin. Schon nach zehn Minuten meldeten sie, daß lediglich eine Baugruppe defekt sei, und einer kam ins Schiff, um die zwei Ersatzgruppen zu holen, es handelte sich um eine gedoubelte Gruppe. Ruben nahm sich vor zu veranlassen, daß alle gedoubelten Baugruppen geprüft werden sollten, denn es konnte sein, daß schon mehrere auf das zweite Exemplar umgeschaltet hatten. Bei dem intensiven Sonnenwind hier ließ sich die Lebensdauer von Bauelementen nur schwer vorhersagen. Jetzt aber winkte einer der Monteure, und im selben Augenblick leuchtete an Rubens Schaltpult die entsprechende Lampe auf: Die Verbindung war wiederhergestellt. „Venus, ich rufe Venus, hier spricht Raumschiff Antares im Orbit der Venus, Kommandant Ruben Madeira. Wir haben den Funksatelliten repariert und bringen Materialien für die Siedlungen. Venus, bitte melden.“ Nachdem er dreimal gerufen hatte, meldete sich eine Frauenstimme. „Hier Venus zwei. Wir begrüßen Sie herzlich. Sie sind zur rechten Zeit gekommen. Beziehen Sie bitte mit der Venusfähre zunächst bei uns Sta-
tion, also bei Venus zwei. Wir geben Ihnen Peilzeichen, beginnend in dreißig Minuten.“ „In Ordnung“, antwortete Ruben. „Aber wieso zur rechten Zeit gekommen?“ „Sie werden sehen“, sagte die Frau und schaltete ab. Nur eine Computerumfrage konnte weiterhelfen und vielleicht Klarheit bringen, ob Wenzels Verdacht gerechtfertigt war oder nicht. Das heißt, die Untersuchung solcher Fälle, die der Computer zur Auswahl stellen würde, konnte das gewünschte Ergebnis liefern. Aber vor diesen technisch einfachen Vorgang waren einige schwer zu überwindende Hürden gesetzt. Statistische Anfragen konnte jedermann zu jedem beliebigen Gegenstand stellen, das Netz der Kontinentalcomputer lieferte jede Auskunft. Fragen zu einer bestimmten Person jedoch wurden nur dieser Person selbst beantwortet. Ausnahmen von dieser Regelung gab es im wesentlichen drei: Erstens konnte diese Person selbst Teile der Information über sich allgemein abfragbar erklären, auch zeitweise – so wurde zum Beispiel oft mit dem Aufenthaltsort verfahren, wenn jemand längere Reisen unternahm, aber für seine Freunde erreichbar bleiben wollte, allerdings mußten die Abfrager dann seine Registriernummer kennen. Zweitens konnte der behandelnde Arzt alle medizinisch belangvollen Daten abfragen, ebenso der Notarzt, jedoch nur, solange der Betreffende lebte. Und drittens konnte der RR mit Zustimmung des Schlichters der Region die Datensperre über einzelne Personen zweckgerichtet und zeitlich begrenzt aufheben – das aber geschah sehr selten und dann auch nur bei stichhaltiger Begründung. In dieser Zwickmühle saß nun Wenzel Kramer: Er brauchte Angaben über einzelne Personen, zunächst Name und Adresse von Leuten, denen es ähnlich ergangen sein mochte wie Otto Mohr. Aber eine stichhaltige Begründung dafür konnten ihm eigentlich erst die Fälle liefern, die hinter diesen Namen oder einigen davon standen. Der bloße Verdacht war kein hinreichender Grund, die Sperre aufzuheben. Also mußte Wenzel versuchen, statistisches Material zusammenzubekommen, das seinen Verdacht wenigstens einigermaßen untermauerte. Wie viele Fälle von tödlichem Herzversagen ohne erkennbare Vorgeschichte hatte es seit Jahresfrist in der Region gegeben? Es dauerte eine halbe Stunde und kostete einige Nachfragen, bis Wenzel die Frage com-
putergerecht formuliert hatte. Die Antwort kam nach Sekundenfrist. Die Zahl war überraschend hoch, und Wenzel grübelte eine Weile darüber nach, was das wohl bedeuten mochte, bis ihm endlich einfiel, daß unter dieser Formulierung ja auch die überwiegende Zahl der Todesfälle aus Alterung einbegriffen war. Er begrenzte also die Frage auf Personen unter hundert Jahre, und schon sank die Zahl beträchtlich. Trotzdem erschien sie ihm immer noch hoch, und als er sie ins Verhältnis setzte zur Zahl der Todesfälle unter hundert überhaupt, zeigte sich, daß sie etwa zehn Prozent ausmachte. Diese hohe Prozentzahl brachte ihn auf den Gedanken, daß möglicherweise schon irgend jemand das Problem untersucht haben könnte, und er verschob weitere statistische Betrachtungen zugunsten einer Abfrage der Wissensspeicher. Tatsächlich waren dazu allein in der Region Dutzende von medizinischen Artikeln geschrieben worden, darunter auch von bekannten Forschern: Siebenundvierzig waren es, und der Versuch, sie zu lesen, scheiterte an der hohen Spezialisierung. Gewiß steckten darin wichtige Informationen, aber Wenzel bekam sie nicht heraus ohne ein Studium wenigstens der fünfhundert gängigsten Fachausdrücke, und unterspezialisierte Fassungen der Artikel, wie sie in den Naturwissenschaften gang und gäbe sind, hatten die Autoren nicht herstellen lassen. Er hätte einen Arzt bitten müssen, ihm das Wichtigste herauszuziehen. Dr. Hasgruber vielleicht, aber den konnte er nicht schon wieder belästigen. Seufzend machte Wenzel sich daran, die siebenundvierzig Artikel und Schriften wenigstens diagonal zu lesen, vielleicht, daß das Auge hier und da an etwas Faßbarem hängenblieb, aber die Mühe war vergeblich. Wenzel war schon beim fünfundvierzigsten, als Sibylle Mohr hereinkam. „Wenn ich störe …“, sagte sie. „Endlich stört mich jemand“, sagte Wenzel. „Was gibt’ s denn?“ „Es ist Post gekommen für Otto, ein Buch aus der Kreisbibliothek, das er offenbar vor längerer Zeit bestellt hat, Titel: Physiologische Grundlagen der Musik. Ein Standardwerk, das jeder Musiker kennt, ich frage mich nur, was Otto damit wollte, er hatte wenig Beziehung zur Musik. Ach ja, und dann hier dieses Gerät, es sieht so ähnlich aus wie diese merkwürdige Tasche, die keiner benennen konnte. Aber hier ist der Absender darauf, ein kleiner Thüringer Betrieb. Hier das Anschreiben, ich hab es mitgebracht.“ Wenzel sah sich das Schreiben an.
„Sehr geehrter Herr Otto Mohr! Hiermit senden wir Ihnen das gewünschte Resonanzprüfgerät mit den von Ihnen vorgegebenen Parametern. Wir machen allerdings darauf aufmerksam, daß der normale Geräuschpegel einer Straße oder eines Raumes, in dem sich mehrere Menschen aufhalten bzw. bewegen, bereits zu hoch liegen dürfte für effektive Messungen. Sollte das Gerät also Ihre Erwartungen nicht erfüllen, müssen Sie Ihre Untersuchungen in einen schallisolierten Raum verlegen. Dieser Nachteil ist nicht durch technologische Schwierigkeiten bedingt, die den Bau des Geräts betreffen, sondern durch die von Ihnen geforderte Empfindlichkeit. Sollten Ihre Untersuchungen befristet sein und Sie danach keine Verwendung für das Gerät mehr haben, nähmen wir es gern zurück. Mit den besten Wünschen für Ihre Arbeit Ihr …“ „Wissen Sie, woran ich denken muß?“ fragte Wenzel. „An das singende Glas“, sagte Sibylle, „ich habe auch sofort daran gedacht. Es muß etwas damit zu tun haben.“ Wenzel nickte. Es ging wohl nicht an, daß er den konkreten Fall gänzlich beiseite ließ und sich nur dem vermuteten allgemeinen Zusammenhang widmete. Hier wurde Neues sichtbar …Trotzdem mußte er wenigstens versuchen, diese mühselige und wahrscheinlich undankbare Umfrage in die Wege zu leiten. „Ich muß jetzt hier erst mal weitermachen“, sagte er. „Rufen Sie doch bitte den Thüringer Betrieb an, vielleicht wissen die Leute dort Näheres. Bitten Sie um Videoübermittlung der gesamten Korrespondenz. Ich komme nachher vorbei, dann schauen wir sie gemeinsam an.“ Wenzel, wieder allein, sah mehr aus Prinzip als aus Erwartung die restlichen Artikel durch, schaltete dann ab und überlegte. Das hier brachte ihn nicht weiter. Vielleicht hatte er sich vorhin durch diese außergewöhnliche Häufung der Todesfälle ablenken lassen? Besser wohl, er wühlte weiter in Statistiken, möglicherweise kam ihm dabei ein Gedanke. Was bot sich an als Frage? Zum Beispiel ein Vergleich der Regionswerte mit den Werten für die gesamte Weltbevölkerung. Der war schnell abrufbar: Die Zahlen waren genau die gleichen. Wieder etwas Sonderbares – sonst spielten immer regionale Unterschiede eine Rolle, die sich wenigstens in Abweichungen hinter dem Komma manifestierten. Hier
nicht. Das mußte nichts bedeuten. Doch wenn es etwas bedeuten sollte, dann nur, daß das Problem überregional, sogar überkontinental war. Ein Grund mehr, den wirklichen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen. Aber vielleicht auch die Gelegenheit, diese ganze Sache abzugeben an die Konrats, wenn der übergreifende Charakter erst einmal hinreichend belegt werden konnte …Unsinn, so in die Zukunft zu spekulieren. Bisher gab es nichts außer einigen Eiweißmolekülen, die sich im Gehirn des ehrenwerten Wenzel Kramer herumtrieben. Also, gehen wir die Zahlen mit den üblichen groben Mitteln an! Örtliche oder zeitliche Häufungen? Örtliche nicht, zeitliche nicht. Häufungen in Dienst, Handwerk oder Kunst? Keine. Unterschiede des Geschlechts? Auch keine. Häufungen in den Altersstufen? Donnerwetter! Gerade als Wenzel schon glaubte, es werde hierbei ebenfalls nichts Nennenswertes herauskommen – gerade jetzt dieses Ergebnis! Eine unübersehbar deutliche Häufung zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahren! Wenzel hatte die letzten Fragen auf die Region bezogen, jetzt wiederholte er diese Frage, bezogen auf die Weltbevölkerung – das gleiche! Noch deutlicher ausgeprägt die Glockenkurve der Normalverteilung mit dem Zentrum bei zweiundfünfzig Jahren! Und das sollte noch niemandem aufgefallen sein? Aber vielleicht war diese Erscheinung neu? Wenzel stellte die Frage jetzt für die Zeit des vorangegangenen Jahrzehnts. Tatsächlich, die Häufung war weniger prägnant. Weiter! Ein Jahrzehnt früher – ganz schwach. Vor fünf Jahrzehnten – kaum erkennbar. Vor acht Jahrzehnten, gleich nach Einführung des Netzes – nichts. Gab es dazu Forschungen? Wenzel brauchte einige Zeit, bis er die Frage formuliert hatte, und er dehnte sie dabei gleich aus auf Gesundheit allgemein. Wieder zogen schier endlose Reihen von Titeln über den Bildschirm, aber diesmal trugen viele von ihnen das Sternchen, das das Vorhandensein unterspezialisierter Fassungen verkündete, es waren wohl auch nicht ausgesprochen medizinische Werke, sondern eher soziologische. Wenzel bestellte drei davon auf den Schirm und begann zu lesen. Viel mehr, als er schon wußte, gaben sie freilich auch nicht her: daß zu Beginn des sechsten Lebensjahrzehnts eine erhöhte Anfälligkeit gegen Herz- und Kreislaufunregelmäßigkeiten bestehe, daß diese Erscheinung relativ neu sei und also noch nicht deutbar, daß man weiter forschen
müsse und daß jedenfalls erhöhte Vorsicht in diesem Alter geboten sei, daß aber schließlich die Anfälligkeit nach ein paar Jahren wieder abflaue. Das hilft Otto Mohr nicht mehr! dachte Wenzel grimmig. Und mir auch nicht. Vielleicht war die Originalfassung ergiebiger, aber die konnte er wieder ohne Hilfe nicht verstehen. Der zweite Artikel zählte alle möglichen Dinge auf, die im Leben der Menschen zu Anfang des sechsten Jahrzehnts als Problem auftreten können: Die Kinder gehen aus dem Haus. Viele über fünfzig beginnen mit der Vorbereitung auf den Lehrberuf. Persönliche Krisen in dem einen oder anderen Bereich der Arbeit sind nicht selten. Ehepaare trennen sich. Wechsel des Wohnorts. Das und vieles andere mehr häufte sich in diesem Lebensalter – aber für keinen dieser Faktoren und auch nicht für ihre Summe ließ sich ein direkter Zusammenhang mit der Gefährdung statistisch nachweisen. Der dritte Artikel befaßte sich mit der Entstehung dieser Erscheinung. Er stellte allerdings eher ein Programm für Forschungen als ein Ergebnis dar. Nach der Periode der Harmonisierung und mit Beginn der Stabilisierung, die gegenwärtig noch andauerte, wurden die Voraussetzungen geschaffen für eine fortschreitende Sensibilisierung der menschlichen Seele. Die Abwesenheit von schädlichen Einflüssen aller Art, die auf die Individualität gerichtete schulische Erziehung, die gleiche Auslastung beider Gehirnhälften, verbunden mit der Kultivierung körperlicher Geschicklichkeit, so stellte der Artikel fest, schufen einen neuen Menschen überall und in wachsender Zahl. Die seelische Sensibilität und die körperliche Ausgewogenheit verdrängten die Alterung bis ins elfte und zwölfte Jahrzehnt. Der Artikel stellte die Hypothese auf, daß in dem fraglichen Lebensalter der biologische Alternsprozeß bereits begonnen habe, die seelische Aktivität ihn jedoch erstens verlangsame und zweitens seine äußeren Anzeichen unterdrücke. Dennoch müsse es einen Umschaltpunkt oder vielmehr eine Umschaltphase von vier bis fünf Jahren geben, in der der Mensch besonders empfindlich, also auch sensibel im negativen Sinne sei, was sich unterschiedlich äußern könne, zum Beispiel auch in der zur Debatte stehenden Erscheinung. Alles schön und gut, dachte Wenzel – aber hilft mir das bei meinem Antrag auf eine Umfrage? Immerhin, man könnte es versuchen; auch diese Artikel sprechen ja für eine Gefährdung unwissender Menschen. Ziel der Untersuchung müßte dann ein entsprechender Vorschlag an die Konrats sein, die Angelegenheit zur globalen Frage zu erklären, denn
damit käme sie direkt in die Themenliste des Forschungsrates. Also mußte er jetzt die Begründung für die Umfrage formulieren. Wenzel stand auf, er hatte die Flimmerscheibe jetzt satt. Drüben wartete Sibylle Mohr auf ihn, Pauline würde auch bald wieder aus der Kreisstadt zurückkommen, wohin er sie geschickt hatte, damit sie noch einmal den Kreisvorstand des Künstlerverbandes befragte. Diese Sibylle Mohr war ein verdammt diszipliniertes Weib. Da hatte er zu ihr gesagt, er würde später kommen, und nun saß sie in ihrem Haus und wartete. Wie lange war das her? Anderthalb Stunden mindestens. Und auch sonst – wie sie sich beherrschte. Na ja, mußte sie wohl als Wissenschaftlerin. Wenzel wurde plötzlich bewußt, daß er von ihrem Dienst nicht die mindeste Vorstellung hatte; sie hatte nichts erzählt, und weder er noch die anderen hatten danach gefragt. Das war nicht gut, man durfte nicht so uninteressiert am anderen Menschen sein. Freilich auch nicht zu neugierig. Aber es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, und dann würde er sie fragen. Er war jetzt wirklich neugierig auf ihre Antwort. Wenzel öffnete das Fenster. Von irgendwoher kamen Geigenklänge, es mochte wohl Sibylle sein, in Mohrs Haus, die sich die Wartezeit vertrieb. Also los, die Begründung skizzieren, und dann das Ganze über die Grapschkiste an den RR! Eine halbe Stunde später hatte Wenzel den Text eingegeben, adressiert und als Bestätigung seine Hand auf die Identifexscheibe gelegt. Obwohl ihm klar war, daß dies nur der Anfang der Schreibtischarbeit gewesen war, fühlte er sich doch erst einmal erleichtert. Er trat aus der Tür, der Himmel war jetzt grau bezogen, aber das machte Wenzel nichts aus, die Luft war trotzdem frühlingshaft, er schlenderte zu Mohrs Haus hinüber. Ob sie wohl etwas erreicht hatte? Ob sie ihn wohl kommen sah durch das Fenster, das ihn sofort an jenes andere erinnerte, welches offengestanden hatte an jenem Morgen, der jetzt schon wie lange zurücklag? Fünf Tage? Ja, fünf Tage waren es wohl. Aber dieses Fenster war geschlossen, natürlich, was sonst, und ohne einen anderen Grund als den Gedanken an das Fenster und den Tod spürte Wenzel plötzlich Sorge. War es richtig, Sibylle Mohr da tagelang in diesem Haus allein zu lassen? Eigentlich unsinnig, die Fragestellung, und wohl nur hervorgekommen, weil die Unruhe nach rational Faßbarem suchte …
Als Wenzel in die Halle trat, sah er Sibylle Mohr am Boden liegen, neben dem Tisch, die Geige, ein kostbares Instrument, befand sich auf dem Tisch, den Bogen hatte die Frau noch in der Hand. Mit zwei, drei Sätzen war er bei ihr, kniete nieder, ja, sie atmete, nur das Gesicht war etwas bleich, eine Ohnmacht anscheinend, weiß der Himmel, für einen Sekundenbruchteil hatte er in einer fast abergläubischen Angst das Schlimmste befürchtet. Er nahm sie vorsichtig auf die Arme und trug sie zu einem Sofa, das an der anderen Seite der Halle stand. Sie wurde wohl wach dabei oder halbwach, denn sie schlang ihm die Arme um den Hals, sicherlich, damit er sie besser tragen konnte, aber es war ihm nicht unangenehm. Vorsichtig legte er sie nieder. Sie schlug die Augen auf. „Die Geige …?“ „Liegt unbeschädigt auf dem Tisch“, sagte Wenzel. „Ich habe einen Schrei gehört“, flüsterte Sibylle, offensichtlich bemüht, sich zu erinnern, was geschehen war. „Was für einen Schrei? Wer hat geschrien?“ fragte Wenzel behutsam. Sibylle antwortete nicht. Sie hatte die Augen jetzt geschlossen. Schlief sie? Wenzel ging ein paar Schritte hin und her, überlegte, blieb zufällig vor dem Raumteiler stehen. „Kommen Sie, bleiben Sie da nicht stehen“, sagte da Sibylle mit plötzlich ganz klarer Stimme, „kommen Sie hierher. Ich weiß jetzt wieder.“ „Ja?“ Er setzte sich zu ihr. „Ich habe Geige gespielt, bin auch so hin und her gelaufen, auch vor dem Raumteiler stehengeblieben, und …“ Wenzel wartete geduldig. Als sie endlich sprach, tat sie es mit leiser Stimme, so als zögere sie, sich selbst zu glauben. „Und das singende Glas – hat geschrien.“ Direkter Kontakt zwischen einem Flugkörper im venusnahen Raum und einer Venusstation ist eins der technisch und navigatorisch schwierigsten Probleme. Der Flugkörper kann ja nicht landen oder wassern, da die Station in der Atmosphäre schwebt; man könnte sagen, er muß „luften“. Er hat seine Bahngeschwindigkeit, die nach Kilometersekunden mißt, zu senken auf die Umlaufgeschwindigkeit der Station gleich Windgeschwindigkeit, ihm steht aber nicht die Schirmbremsung in den dichteren Schichten der Atmosphäre zur Verfügung. Und er darf wenigstens auf
den letzten zehn, zwanzig Kilometern nicht mehr die Triebwerke benutzen, damit keine Turbulenzen entstehen, die der Station schaden könnten. Und dann muß er in möglichst kleinem Abstand von der Station in der Luft stehenbleiben, was nur durch Auflassen von riesigen Heliumballons erreicht werden kann; denn der Flugkörper – in diesem Fall die Kontaktfähre – ist ja bei aller Leichtbauweise ein ziemlich massives Ding, das außerdem noch den Treibstoff für den Rückstart zum Raumschiff in seinen Tanks hat. Eine komplizierte Angelegenheit also, und Ruben überließ darum das „Luften“ den Besatzungsangehörigen, die das schon öfter getan hatten. Bis auf die außerordentlich heftige Bremsung gleich zu Beginn verlief rein äußerlich alles wie bei einer Landung auf der Erde. Die Erhitzungsperiode war kürzer, weil vorher stärker gebremst worden war, dann kam noch eine Bremsung mit Antrieb, danach wurden die Schirme für die Hochatmosphäre entfaltet, der Himmel färbte sich violett, die Sterne verblaßten, dann wurde er blau – nur hinuntergucken durfte man nicht, das Weiß blendete so stark, daß ungeschützte Augen schmerzten. „Achtung, anschnallen!“ sagte der steuernde Kosmonaut, „jetzt wird’ s ungemütlich, wir kommen gleich in die Windzone.“ Diese Zone in etwa achtzig Kilometer Höhe über dem Venusboden, in der der Wind mit der immerhin beachtlichen Geschwindigkeit von dreihundertsechzig Stundenkilometern immer rund um den Planeten wehte, flogen sie gegen die Windrichtung an, das bot ihnen die stärkste natürliche Bremsung, die zu erreichen war, aber es brachte auch in der Übergangsschicht außerordentlich heftiges Rütteln und Schütteln mit sich, und wenn die Schirmfläche nicht rechtzeitig vorher verkleinert worden wäre, hätten die Schirme wohl auch nicht dem Druck standgehalten. Hier war die Navigation schwierig. Zwar lag die Fähre, einmal in die Luftströmung eingetaucht, ganz ruhig, doch der Navigator mußte nun schon Ballons auflassen, um die Sinkgeschwindigkeit steuern zu können. Sie würden zu dem Zeitpunkt die Windzone verlassen und in die oberste Wolkenschicht eintauchen, wenn ihre Relativgeschwindigkeit zur Station gleich Null war: Jetzt! Noch einmal Rütteln, dann ein Bündel Ballons hinaus. Für das Auge und das Gefühl war es schon erholsam, daß nun unten wieder unten und der Himmel oben war. Dafür knisterte es intensiv, und das hörte sich geradezu gefährlich an, war aber harmlos – die
Eiskristalle der dünnen oberen Wolkenschicht rieben sich an den Ballons. Der Himmel war unterhalb dieser Schicht fast von irdischer Bläue, und was noch schöner war: Die Wolkenschicht unter ihnen blendete nicht mehr, sondern leuchtete nur noch weiß, hier und da mit einem roten Schimmer. Hier sah alles sehr friedlich und vergnüglich aus, und es war kaum vorstellbar, welche Hölle sechzig Kilometer unter ihnen lag: Hitze und Druck von unvorstellbarer Höhe, ringsum rotes Licht, meßbar alles, aber nicht vorstellbar eben. Und dann zischte es, ein Dutzend Ballons wurden gleichzeitig aufgeblasen, am Höhenmesser war zu erkennen, daß die Fähre jetzt in der Luft hing. Trotzdem hatte Ruben das Gefühl, sie sänken weiter, und er blickte zwei-, dreimal auf den Höhenmesser, was den anderen natürlich auffiel. „Das ist der Gewichtsverlust auf der Venus“, sagte einer, „wir wiegen hier noch ungefähr achtzig Prozent, das bringt die sonderbarsten Illusionen hervor, ganz anders als Mond und Schwerelosigkeit. Wohl weil die Differenz so gering ist.“ Ruben nickte. Er wollte fragen, wie es nun weitergehe, als Schläge gegen die Außenwand pochten. Hier zum erstenmal hatte Ruben das Gefühl, das ihn später noch öfter überkommen sollte, nämlich, daß er hier einer eigentlich schon anderen, ganz unirdischen Zivilisation begegnete. Wenn aber auch jemand von außen anklopfte! „Das sind sie“, sagte der Steuermann und betätigte die Schleuse. Minuten später traten drei hagere Gestalten ein, nur spärlich mit einem hautengen Anzug aus einem mattschimmernden Stoff bekleidet. Die nicht mehr ganz junge Frau in der Mitte sah sich um, ihr Blick blieb an Ruben haften, sie trat auf ihn zu und gab ihm die Hand. „Ich habe mich also nicht verhört – Ruben Madeira!“ sagte sie. „Ich heiße Sie willkommen, ich bin Sheila McPherson.“ „Die Autorin?“ fragte Ruben überrascht. „Es freut mich, daß Sie meinen Artikel gelesen haben, ich hoffe, wir werden Verbündete. Aber bevor wir ins Reden kommen – meine Begleiter regeln die Entladung, Sie darf ich zu uns einladen. Sie sind nur ein bißchen zu schwer angezogen, bitte legen Sie das hier an!“ Sie reichte ihm ein winziges Paket.
Er hatte seine Schwierigkeiten mit dieser Art von Anzug, aber schließlich kam er doch damit zurecht. Sheila half ihm und machte ihn besonders auf die Klebeflächen aufmerksam, die fest geschlossen sein mußten, draußen waren immerhin etwas Unterdruck und vor allem fast reines Kohlendioxid. Ruben war nun gespannt, wie die Probleme der Atmung und Fortbewegung gelöst werden würden. Sie begaben sich in die Schleuse. Sie war fast ausgefüllt von einem Ballon, der Ruben trotzdem für seine Aufgabe geradezu unverhältnismäßig klein vorkam. Und er sollte sogar sie beide tragen! Sheila zeigte Ruben ein Loch, durch das er Arme und Oberkörper schieben sollte. Dann klebte sie ihm den Ballon um die Gürtellinie herum fest an und schlüpfte durch ein benachbartes Loch ebenfalls zur Hälfte hinein. „Jetzt die Hände in diese Handschuhstülpungen stecken, wir müssen uns draußen festhalten, bis der Ballon aufgeheizt ist!“ sagte sie. Vorsichtig drängten sie den Ballon aus der jetzt offenen Schleuse und hielten sich am Rand fest. Fast zusehends wölbte sich der Stoff auf, und jetzt erst sah Ruben, daß es sich nicht um eine große Kugel handelte. Nur der untere Teil schien Atemluft zu enthalten, dann kam eine trennende Folie, und der größere Teil oben … „Oben ist Helium drin. Helium und Stickstoff sind die Hauptmasse der Fracht, die wir noch von der Erde brauchen. Ohne Helium würde es vielleicht auch gehen, aber nur, wenn wir ein paar tausend Siedlungen hätten, daß sie nicht so weit auseinander liegen. Für einen Langstreckenflug braucht man Helium. Wegen der viel größeren Tragkraft.“ Ruben spürte, wie der Zug an der Gürtellinie nach oben immer kräftiger wurde, der Ballon schien sich unter der Sonne schnell zu erwärmen. „Langstreckenflug?“ fragte Ruben. „Ja, wir müssen doch mal von Siedlung zu Siedlung. Immer ein Drittel Venusumfang. Zweiunddreißig Stunden im Transportwind.“ Sie zeigte nach oben. „Wenn Sie wollen, fliegen wir zusammen Ihrer Fähre voraus.“ „Es scheint, ich genieße bei Ihnen besondere Gastfreundschaft?“
„Ja. Uns ist nicht entgangen, wer da zu uns kommt, und auch nicht, daß Sie Siedlungen gesagt haben und nicht Stationen. In Ihrem ersten Funkspruch. So, jetzt können wir loslassen.“ Ruben sah, wie die Frau ihre Hände aus den Handschuhen zog und an irgendwelchen Foliefetzen hantierte – hier einen löste, ihn da wieder anklebte –, und dann stellte er fest, daß der Ballon sich von der Fähre entfernte, langsam, doch gleichmäßig, denn die Folie ringsum war in Blickhöhe durchsichtig. „Haben Sie einen Antrieb?“ fragte Ruben überrascht. „Ja, aber nur einen schwachen, zum Manövrieren. Sehen Sie, die Sonne, die da unten auf dem Boden die Gluthölle erzeugt, liefert uns hier oben fast alles, was wir brauchen. In erster Linie: absolute Stabilität der Verhältnisse. Dann Energie. Die obere Ballonhaut nimmt nicht nur Wärme auf, und dies stufenförmig regelbar, sondern erzeugt auch Strom. Mit dem Strom betreiben wir im Oberteil des Ballons einige Peristaltikschläuche, die nehmen Luft von außen auf und stoßen sie auf der anderen Seite beschleunigt wieder aus. Einige dienen nach Bedarf zum Drehen der Ballons. Er ist also, wenn Sie so wollen, eine kleine Rakete, aber mit minimalem Antrieb.“ Sie schwieg einen Moment. „Fast jede Art von technischer Bewegung wird bei uns mit dieser Peristaltik bewerkstelligt, auch die Produktion und Entsorgung; wir können ja kein metallisches oder keramisches Gefäßsystem gebrauchen, des Gewichts wegen. Nun, Sie werden Zeit haben, sich das alles anzusehen. Da ist die Siedlung zwei!“ Sie zeigte nach schräg unten. Ruben erblickte ein beeindruckendes Gebilde. Ein Ballon, einem riesigen Schlauchboot ähnlich, hing da unten in der Luft, und an beiden Längsseiten des Schlauchboots stiegen Ballonkaskaden nach oben, oder nein, Wände aus Ballons wäre richtiger gesagt, die sich oben, etwa in ihrer Flughöhe, in große Bündel von Ballons auflösten. Das Verblüffendste an diesem Anblick aber war: Das Schlauchboot sah grün aus.
„Fragen Sie jetzt bitte nichts, ich muß landen“, sagte die Frau. Ruben merkte, wie es heller wurde – der Lichteinfall von oben verstärkte sich, auf irgendeine Art war wohl die dunkle Ballonoberfläche aufgehellt worden, damit sie nicht soviel Wärme absorbierte. Und richtig, schon begann der Ballon zu sinken, auch schwebte er jetzt langsamer, glitt schräg nach unten, auf das U-förmige Einflugtor zu. In der Mitte des Schlauchboots war ein gelber Fleck, dort ragte etwas heraus, mehrere Stangen, die sich bewegten, nein, das waren ja – das waren Arme! Ja, Arme, in Futteralen, die sie festhalten sollten, so wie sie sich vorher an der Fähre festgehalten hatten, ganz einfach, wenn man’ s weiß. Irgendwas wurde aufgerissen und wieder zugeklebt, und dann stand Ruben mit der Frau und einigen anderen Venusiern in einem kleinen gelben Raum. Der Boden unter den Füßen federte schwach, wenn Ruben das Gewicht verlagerte. Hier zu gehen, würde er wohl erst lernen müssen. „Freunde“, sagte die Frau, „dies ist Ruben Madeira, unser lieber Gast!“ Die Anwesenden verneigten sich lächelnd, aber stumm, und Ruben, unsicher, wie er sich am besten verhalten sollte, tat das gleiche. Wieder
kam er sich vor wie bei einer ganz und gar unirdischen, fremden Gesellschaft. Entgegen seinen Befürchtungen gewöhnte er sich schon nach zehn, zwanzig Schritten an den federnden Boden. Er folgte seiner Führerin durch die halbe Siedlung, sie gingen in der Längsachse des Schlauchboots, das etwa hundert Meter lang war und wohl dreißig Meter breit. Die Wände des Ganges waren wie sicherlich alle hier aus dünnster Folie. Die Decke jedoch zeigte nun, was von außen grün ausgesehen hatte: Sie bestand aus einem Blätterwald, die Pflanzen mußten oben an der Decke befestigt sein. Offensichtlich erfüllte dieses Blätterdach zwei Aufgaben zugleich, nämlich die Atemluft wenigstens teilweise zu regenerieren und das grelle Sonnenlicht abzuschwächen etwa auf das Licht eines irdischen Sommertags in grüner Umgebung. Vielleicht trugen die Pflanzen auch zur Ernährung bei. Ruben wollte gerade fragen, als seine Führerin ihn zu einem Imbiß einlud. „Der Imbißraum!“ sagte sie und zog eine lose hängende Folie beiseite. Ruben hätte diesen Raum für alles andere gehalten. Keine Tische, nur aufgeblasene Sitzpuffer, im Kreis angeordnet, und an den Wänden etliche sonderbare Elemente, mit denen er nichts anzufangen wußte. Sheila McPherson lächelte stärker. „Wir haben natürlich auch ganz andere Eßgewohnheiten als auf der Erde“, sagte sie, „Geschirr können wir uns nicht leisten, es wiegt zuviel. Wenn Sie hier die Folie abheben“ – sie tat das an einem Schlitz – „finden Sie dahinter einen Behälter mit frischen Blättern. Nehmen Sie eins, klemmen Sie den Stiel zwischen Ringfinger und kleinem Finger fest, so, ja richtig, und jetzt rollen Sie mit der Handfläche und den übrigen Fingern eine Art Tüte, zeigen Sie mal, ja, sie braucht nicht besonders fest zu sein. Jetzt gehen wir hier an diese Zitzen der Peristaltik, die blauen liefern feste Nahrung, die roten breiige, die gelben flüssige, also Getränke, aber das machen wir später. Die Geschmackskomponenten gehen von gebratenem Fleisch links über Kochfleisch und Fisch bis zu Süßspeisen rechts. Sie können freilich auch Braten und einen süßen Fruchtbrei dazu wählen, das Blatt paßt im Geschmack zu allem. Sie müssen jeweils nur etwas anmelken.“ Trotz der guten Erklärung und der fehlerlosen Vorführung beschränkte Ruben sich aus Vorsicht auf die feste Nahrung. Er machte es Sheila nach, hielt die Tüte unter die linke blaue Zitze, zupfte mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand daran – wahrscheinlich aber wohl zu stark,
denn die Zitze spuckte gleich drei Klöße in sein Blatt. Es schmeckte wie – na ja, es schmeckte. Aber ein ganzes Leben lang? „Vorläufig noch ein Kompromiß zwischen Station und Siedlung“, sagte Sheila McPherson. „Könnten Sie sich vorstellen, daß man darüber eine ganze Eßkultur errichten kann?“ „Vorstellen könnte ich’ s mir schon“, sagte Ruben nachdenklich. „Das Sortiment ließe sich gewiß verbreitern, auch die Möglichkeit individueller Geschmackszurichtung oder -zutat ist vorstellbar, das Fehlen von Geschirr, Tisch und dergleichen läßt an eine peripatetische Eßkultur denken, Gespräche beim Umherwandeln, so etwa?“ „Probieren wir das doch gleich, hier bitte, nehmen Sie sich ein Becherblatt, das stupsen Sie gegen eine Gelbzitze, dann haben Sie ein Getränk, und nun, worüber sprechen wir?“ „Darüber, was Sie mit mir vorhaben“, schlug Ruben vor. Sheila lachte. „Also gut. Ich möchte Sie als Verbündeten gewinnen. Ich weiß, daß Ihnen die Idee im Kopf herumspukt, den Minosmond Esther zu besiedeln. Unsere Träume gehen in die gleiche Richtung.“ Ihr Gesicht wurde ernst. „Sie sind nicht so fernab der Verwirklichung, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag – aber Diskussionsgegenstand oder gar Projekt sind sie offiziell noch nicht. Ich möchte“, sagte sie, wandte sich ihm zu und lächelte offen, „daß Sie unsere Wirklichkeit erleben, uns rational und emotional erfassen. Welche Schlüsse Sie daraus ziehen, was Sie daraus machen und ob Sie überhaupt etwas daraus machen, das soll ganz und gar Ihre Sache sein. Wollen Sie?“ Ruben nickte, hob dabei die Augenbrauen und stülpte die Lippen vor, so daß zu sehen war: Ebendas hatte er gewünscht. „Dann stehe ich Ihnen für die ganze Zeit zur Verfügung, Sie können mich alles fragen.“ Das war natürlich eine generelle Erklärung, aber Ruben nahm sie wörtlich. „Wie lange sind Sie auf der Venus?“ „Von Anfang an“, antwortete die Frau, etwas erstaunt. „Ich habe Ihren Namen nicht auf der ursprünglichen Teilnehmerliste gefunden“, erklärte Ruben seine Frage. Er spürte sofort, daß er an etwas Unangenehmes gerührt hatte. Das Gesicht der Frau verschloß sich und öffnete sich gleich darauf wieder.
„Mein Mann gehörte zu den wenigen, die zur Erde zurückgekehrt sind. Ich habe daraufhin meinen Mädchennamen wieder angenommen.“ „Sie waren demnach schon vor mehr als zwei Jahren auf dem Punkt, den Ihr Artikel markiert?“ „Ja. Was da steht, ist länger als anderthalb Jahre von allen hier gründlich geprüft worden. Ich habe sozusagen nur ein Protokoll der allgemeinen Meinung abgeliefert.“ Diese Bescheidenheit gefiel Ruben nicht. „Nachdem Sie die allgemeine Meinung entscheidend mitgeprägt haben“, sagte er, halb als Feststellung, halb als Frage. „Ich bestreite es nicht“, sagte sie in beiläufigem Ton, aber eine kleine, nicht unterdrückbare Kopfbewegung zeigte, daß sie stolz darauf war. Dann lächelte sie wieder. „Zufrieden mit meinem Psychogramm?“ fragte sie. Nun mußte Ruben lachen. Diese Redewendung, nur noch gebräuchlich unter erfahrenen, lang gedienten Raumfahrern, ging auf die so benannte Beschreibung der Persönlichkeit zurück, die noch vor zehn Jahren für unverzichtbar gehalten worden war, bis sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß sich so schematisch keine Persönlichkeit erfassen ließ und daß sie gerade für kritische Situationen, in denen sie Sicherheit bringen sollte, absolut unzuverlässig war. Vielleicht war sie auch von der mächtigen Entwicklung der Persönlichkeiten überholt worden, die mit der massenhaften Produktion von Kunst und Kultur eingesetzt hatte und durch den sprunghaften Anstieg der Kreativität ausgewiesen war. So oder so – man hatte das Psychogramm als Einrichtung endgültig begraben, und nun war es schon fast vergessen. Der Spott hatte sie einander nähergebracht, oder richtiger, er hatte den Annäherungsprozeß abgeschlossen, der mit Rubens vertraulicher Frage begonnen hatte. „Für die übrigen Personalien haben wir noch genug Zeit, wenn wir fliegen“, sagte Sheila, „Sie müssen die Siedlung kennenlernen, um zu begreifen, daß unsere Ansichten und Absichten auf Tatsachen und Erfahrungen fußen und nicht auf Wunschträumen, wie manche Terraner meinen.“ Sie lächelte etwas spöttisch und beobachtete genau, wie er auf das Wort Terraner reagierte, mit dem die Erdbewohner hier benannt wurden, und seine Reaktion befriedigte sie – er registrierte den Begriff als etwas für ihn Neues, aber er wertete ihn nicht. „Ich schlage Ihnen
folgendes Programm vor“, fuhr sie fort, „erstens Ökonomie der Siedlung, unterteilt in Reproduktion der Lebensbedingungen – Luft, Wasser, Nahrung, sonstige Produkte, Mangelstoffe und -produkte, die wir noch von der Erde brauchen, Entsorgung, Anteil der lebendigen Arbeit an der Produktion und Reproduktion. Zweitens Gesundheitswesen. Drittens Wissenschaft. Viertens Kunst und Kultur. Merken Sie was?“ „Ja, ich merke was“, sagte Ruben, „wo macht man hier das Gegenteil vom Essen? Und wie?“ „Vorläufig noch auf Kosmonautenart. In Ihrem Schlafraum hängt ein frischer Satz, nach Benutzung bitte ablegen und hängenlassen, das ist für Gäste die einfachste Methode. Ich bringe Sie hin.“ In seinem Zimmer zeigte sie ihm noch die Handhabung der Waschschwämme und einiger anderer Kleinigkeiten, dann wandte sie sich zum Gehen. „Sie finden mich zwei Türen weiter, wenn Sie rauskommen, links.“ „Moment“, sagte Ruben, „wo ist denn nun eigentlich die versprochene Überraschung?“ Jetzt lächelte Sheila auf eine so sonderbare Weise verschmitzt und freundlich-frohlockend, daß Ruben sich sagte, es müsse schon eine umwerfende Überraschung sein. „In der Siedlung eins“, sagte sie. Es mußte wohl so sein, daß der Raumteiler unter bestimmten Bedingungen Töne erzeugte, Schwingungen war richtiger, deren Ober- oder Untertöne man hörte. Nicht nur ihre Erfahrungen mit diesem Glaskörper sprachen dafür, sondern auch die Auskunft des Thüringer Betriebs, die Sibylle eingeholt hatte, bevor sie zur Geige griff. Bei den merkwürdigen Taschen handelte es sich um Sätze von Schwingungsresonatoren für ausgewählte Frequenzen auch im Ultra- und Infraschallbereich mit höchster Empfindlichkeit. War nun Wenzels ganze Mühe an der Grapschkiste umsonst gewesen? Klärte sich vielleicht hier der Tod des Glaskünstlers? Gab es so etwas wie eine tödliche Frequenz? Dergleichen hatte er noch nie gehört, aber wer konnte schon alles wissen, man würde die Mediziner fragen müssen. Sibylle war doch nicht der Typ, der schnell in Ohnmacht fällt. Ihr Kör-
per wehrte sich gegen Überbelastung, indem er das Bewußtsein ausschaltete … Nein, man mußte wohl die Untersuchung in mehreren Richtungen fortführen, jetzt freilich auch in dieser konkreten. Wenigstens einfache Dinge würde man ohne großen wissenschaftlichen Aufwand klären können, Otto Mohr hatte ja auch so gearbeitet. Zunächst konnte man die Wirkung der Geige wiederholen, und zwar mit verstopften Ohren und statt dessen unter Benutzung der Anzeigegeräte. Sibylle war damit einverstanden; sie hatte sich wieder vollständig erholt. Jetzt war auch ihr wissenschaftliches Interesse erwacht, und sie hatte sofort eine Systematik gefunden, nach der man vorgehen konnte. Selbstverständlich waren sich beide der Tatsache bewußt, daß ihr Vorgehen notwendigerweise laienhafte Züge tragen würde und eigentlich nur zur näheren Bestimmung des Gegenstandes diente – die wirkliche Forschungsarbeit würden Fachleute leisten müssen. Aber sie hatten ja erst einmal festzustellen, aus welchem Fach diese Leute sein mußten. Den ersten Versuch machten sie tatsächlich mit der Geige, sie hatte bis jetzt die stärkste Reaktion des Glases hervorgerufen. Sie hatten sich Watte in die Ohren gestopft, es sah komisch aus. Aber dann schauten sie sich nicht mehr an, Sibylle blickte auf den Vorhang, Wenzel auf die beiden Taschen mit den Anzeigegeräten. Er hörte durch die Watte hindurch, daß die Geigerin verschiedene Töne strich, die Anzeigegeräte sagten nichts, und zu hören war schon gar keine Reaktion des Vorhangs. Einen Augenblick lang erwog Wenzel, ob vielleicht gar nicht dieses Glas der Verursacher der Schwingungen war, sondern eine versteckte Elektronik etwa, die den nachmaligen Benutzer des Hauses oder auch einen Besucher necken sollte. Ein Bastler konnte leicht so etwas bauen, Wenzel wußte das, es schlug in sein Gebiet, sowohl handwerklich als auch künstlerisch, und es wäre für ihn leicht gewesen, das festzustellen, er hätte nur ein paar entsprechende Meßgeräte besorgen müssen. Doch er verwarf diesen Gedanken wieder – dieses Vorgehen wäre zu kindisch gewesen für einen Mann wie Otto Mohr. Trotzdem schien es so nicht weiterzugehen. Sibylle schlug vor, nach diesem ersten Versuch genau zu reproduzieren, was sie eine Stunde vorher getan hatte: Sie hatte eins ihrer Lieblingsstücke gespielt, Passagen aus dem D-Dur-Violinkonzert von Beethoven, und sie hatte sich dabei dem Vorhang genähert.
Sibylle sah ihn jetzt fragend an – er nickte und zog sich, fast unbewußt, einfach um nicht zu stören, mit seinen Geräten ein Stück zurück. Die Physikerin begann zu spielen und jetzt reagierten die Geräte, in dem alten Satz von Resonatoren glimmte ein Stäbchen am oberen Ende auf, in dem neuen, der mit der Post gekommen war, gleich drei, eins stark und zwei schwach. Der Raumteiler sandte tatsächlich Resonanzen aus. Das Glas sang. Übrigens blieb es nicht dabei, auf dem neuen Satz entfaltete sich ein regelrechtes Lichterspiel, andere Stäbchen glimmten auf, die vorigen erloschen, auch die Intensität änderte sich während des Spiels, nur ein Stäbchen, das dritte, schien immer dunkel zu bleiben. An einer Stelle des Spiels leuchtete plötzlich fast die ganze Skala der Stäbchen auf, und hier nahm Wenzel den Ton durch die Watte in den Ohren wahr. Das mußte die Stelle sein, an der Sibylle Mohr den Schrei gehört hatte. Eine so starke Reaktion wiederholte sich bis zum Schluß nicht. Sibylle setzte die Geige ab und sah sich um. Wenzel nickte. Es war so gekommen, wie sie vermutet hatten. Nun begannen die abgesprochenen Experimente. Die Physikerin spielte zuerst das Stück noch mal, aber nicht als Musik, sondern nur die Tonfolge, mit Pause nach jeder Note. Dann blickte sie sich wieder um – Wenzel schüttelte den Kopf: nichts, keine Reaktion. Sie spielte ein zweites Mal das gleiche, aber mit kürzeren Pausen – ebenfalls nichts. Ein drittes, viertes Mal, mit immer kürzer werdenden Pausen – endlich konnte Wenzel nicken, jetzt begannen die Geräte anzuzeigen. Nun behielt sie dieses Tempo bei, verkürzte aber die Töne, so daß die Pausen wieder länger wurden – keine Reaktion. Erst als die Pausen wieder die vorhin erreichte Kürze hatten, begannen die Geräte erneut anzuzeigen, zuerst der neue Satz, der ganz offenbar empfindlicher war. Sibylle Mohr legte die Geige beiseite und nahm die Watte aus den Ohren. Wenzel tat es ihr nach. „Er reagiert also nicht auf einen einzelnen Ton, er ist kein einfacher Resonanzboden“, sagte sie. „Wie zeigen die Geräte an?“ Wenzel erläuterte es ihr. „Ich werde jetzt noch einmal ohne Watte spielen“, sagte sie entschlossen, „wenn es zu schlimm werden sollte, höre ich auf.“ Sie nahm die Geige wieder auf und spielte den Solopart noch einmal.
Wenzel hatte auch die Watte aus den Ohren gezogen. Eigentlich wollte er wieder die Geräte beobachten, aber das Spiel nahm ihn völlig gefangen, so daß er nur nebenbei registrierte, daß da wieder etwas glimmte. Von der Musik ging eine so starke Faszination aus, daß es fast einem Rausch nahekam, allerdings ohne das Nebulöse, das diesem Wort anhaftet, eher vergleichbar einer großen Kreativitätslust. Erst an der besagten Stelle, an der die Geigerin vorhin ohnmächtig geworden war, bemerkte Wenzel, daß er nicht die Geige allein hörte, sondern ebenfalls Resonanzen des Raumteilers; aber auch jetzt, als sie so stark wurden, empfand er sie nicht als unangenehm. Sibylle schien es ähnlich zu gehen, warum war ihr vorhin schlecht geworden? Sie erörterten die Frage, als sie fertig war, und kamen zu einigen Vermutungen: Das Gehör der Musikerin übt beim Spiel schließlich eine andere psychische Funktion als das des Zuhörers aus, es kontrolliert das Spiel, unverständliche und unerwartete Abweichungen könnten eine Art schöpferischer Verzweiflung hervorrufen. Aber schlüssig war das alles nicht. Plötzlich hatte Wenzel eine Idee. „Haben Sie noch mehr Lieblingsstücke?“ „Drei, vier.“ „Spielen Sie sie. Oder Ausschnitte daraus.“ Die Physikerin griff zur Geige, spielte, bei zwei von drei Stücken erlebte Wenzel das gleiche wie eben, bei einem Stück nicht. Der Unterschied war deutlich. „Er hat wohl den Vorhang auf meine Lieblingsparts präpariert“, sagte Sibylle Mohr. Ihre Stimme vibrierte an einigen Stellen stärker als sonst. „Ja“, sagte Wenzel. Und nach einer sehr langen Pause fuhr er fort: „Aber er selbst hat doch nicht Geige gespielt?“ Sibylle blickte zuerst verwundert, dann überrascht, schließlich beunruhigt – jetzt hatte sie den Sinn der Frage verstanden. „Machen wir eine wirkliche Pause“, schlug Wenzel vor, „erzählen Sie mir etwas von Ihrer Arbeit als Wissenschaftler?“ Wenzel erfuhr, daß sie zur Zeit in der Blastula-Forschung als Dokumentarist arbeitete. Er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, war aber froh, Näheres darüber zu hören. Ihre Aufgabe war nicht nur, wie Wenzel gleich vermutet hatte, die verschiedenen Ergebnisse der Experimentatoren und der Theoretiker auf unterschiedlichen Schwierigkeitsebenen dem öffentlichen Zugriff bereitzustellen, was an sich schon eine schwierige Aufgabe war; sie mußte
außerdem, und das war für die Wissenschaft als Ganzes sogar wichtiger, Beziehungen, Zusammenhänge, Analogien, mögliche Verwertbarkeit in anderen Wissensbereichen suchen oder anbieten, immer in persönlichem Kontakt mit denen, die die Ergebnisse geliefert hatten. Deshalb lebte sie auch meist in Gagarin, der Raumstadt. Wenzel brauchte nicht danach zu fragen, er konnte sich gut vorstellen, daß eine solche Arbeit nur zu leisten vermochte, wer sowohl große Erfahrungen in den verschiedensten Wissensbereichen hatte als auch über ein gehöriges Maß an Kreativität verfügte. Bei der Unmenge von Wissen, die immer noch täglich produziert wurde, hingen die Leistungen von Experiment und Theorie stark davon ab, wie griffig solche Information aus angrenzenden oder auch weit entfernten Gebieten bereitgestellt wurde. „Etwas Zeit werde ich noch haben“, sagte sie, „aber dann geht es wieder los, eine neue Serie von Experimenten hat schon begonnen.“ „Etwas Zeit wird nicht reichen, hier zum Ende zu kommen.“ „Dann machen wir doch weiter.“ „Wissen Sie, wie?“ „Ich glaube, Sie haben das Stichwort gegeben“, sagte die Physikerin, „Otto hat nicht Geige gespielt. Also muß der Raumteiler auch noch auf anderes reagieren. Ich entsinne mich, als wir einmal hier saßen, zu Anfang, wie mir plötzlich unbeschreiblich wohl wurde, trotz der bedrückenden Situation. Ich werde mich jetzt ganz ruhig vor das Glas stellen.“ Wirklich, der neue Gerätesatz zeigte Reaktion. Dann sagte Sibylle leise: „Ich fühle es.“ Der Ton ihrer Stimme ließ die Intensität der Anzeige nach beiden Richtungen schwanken. Wenzel bemerkte, wie ihm irgendeine Einzelheit, in den ersten Tagen festgestellt, im Hinterkopf herumgeisterte und sich nicht zu erkennen gab. Was war es nur, das ihm damals aufgefallen war in mehreren Aussagen? „Stellen Sie sich doch auch mal davor!“ sagte Sibylle. Einen Moment lang wunderte sich Wenzel über die Aufforderung, dann kam sie ihm sinnvoll vor, schließlich hatte er auch dieses Wohlsein gespürt, sogar jetzt eben ein wenig. Wenzel gab ihr die Geräte und stellte sich vor den Raumteiler. Er bemühte sich, ganz entspannt und gelassen dazustehen. Im selben Maße, wie ihm das gelang, fühlte er vom Glas her etwas sanft Wohltuendes
heranströmen, ihm wurde leicht und locker, die Gedanken gingen lebhaft und freudig im Kopf herum, viele, ja, auch was er eben noch gesucht hatte, fiel ihm nun ein. Das Fenster war’ s gewesen, das geöffnete Fenster, Otto Mohr mußte wohl die Wirkung des Glases ausprobiert haben, und vielleicht verstärkte oder schwächte das Fenster ab. Aber lag darin nicht noch Bedenkenswertes? Etwa, daß der Vorhang offenbar auf alle wirkte, also weit mehr als ein privates Kunstwerk war? Unsinn, das war er auch, wenn er nicht auf alle wirkte … „Da scheinen wir ja beide, wie man so sagt, auf der gleichen Wellenlänge zu liegen!“ stellte Sibylle fest. Wenzel trat zurück. „Wieso?“ fragte er, begriff im selben Moment, konnte aber die Frage nicht mehr zurücknehmen. „Der Raumteiler wirkt auf mich, auf Sie, und auf Otto hat er wohl auch gewirkt. Mit Otto habe ich mich sehr gut verstanden, oft ohne Worte. Bei Ihnen habe ich das gleiche Gefühl.“ Interessant, sie ging also von vornherein davon aus, daß die Resonanz nicht bei allen auftrat. Nun, das würde man feststellen. Jetzt erst einmal das Fenster. Er ging hin und öffnete das in den Aussagen erwähnte Fenster; es lag dem Vorhang am nächsten. „Probieren Sie noch mal?“ bat Wenzel und erklärte auf Sibylles fragenden Blick hin: „In mehreren Aussagen wird erwähnt, daß dieses Fenster offenstand.“ Tatsächlich, die Wirkung war stärker. Ob das mit dem Luftzug zusammenhing, der durch das Zimmer strömte? Vielleicht lieferte er zusätzliche Energie? Man wußte ja noch gar nicht, was überhaupt die Resonanzen anregte, der Herzschlag, die Atmung, die Motorik der Bewegungen oder alles zusammen? Da aber brach die Wirkung ab, nichts wurde mehr angezeigt, auch Sibylle wandte sich um und schüttelte den Kopf, und zwar in dem Augenblick, als Pauline die Außentür öffnete und in die Halle trat. „Ich habe Neuigkeiten!“ rief Pauline. „Da war einer beim Kreisvorstand der bildenden Künstler, der …Aber was ist, störe ich?“ „Nein, nein, setz dich und erzähle!“ bat Wenzel. „Otto Mohr hat an etwas gearbeitet, was mit Glas, Akustik und Psychologie zusammenhing. Er hat jedenfalls auf diesen Gebieten Dienste
in Anspruch genommen, die über den Etat des Kreisverbandes abgerechnet werden, ich hab auch die Adressen der Leute und Institutionen.“ „Ein Thüringer Gerätewerk dabei?“ fragte Wenzel. „Ja!“ sagte Pauline verblüfft und etwas enttäuscht. „Mach dir nichts draus, die andern kennen wir noch nicht, und die sind sicher wichtiger. Der Raumteiler da ist das bewußte Kunstwerk! Stell dich mal ganz ruhig davor, so, gut, entspann dich …“ Ein Blick auf die Instrumente zeigte: Nichts rührte sich. „Was soll das?“ fragte Pauline. Wenzel erklärte ihr, was sie herausgefunden hatten. „Das war also die Überraschung, die er in dem Brief an Sie angekündigt hat?“ vergewisserte sich Pauline noch einmal. „Höchstwahrscheinlich“, bestätigte Sibylle, „ich hab auch das Gefühl, daß die Resonanzwirkung Kreativität entfesselt.“ „Aber dann …“, begann Pauline, stockte aber und biß sich auf die Lippen. „Sprich es ruhig aus“, sagte Wenzel. „Dann wird doch völlig unverständlich, woran er gestorben ist!“ Wenzel nickte, wurde aber einer Antwort dadurch enthoben, daß die Ratgeberin hereinstürmte. „Da war ein Anruf für Sie …“ „Moment, Moment, da kommen wir gleich noch drauf, stellen Sie sich bitte erst mal vor den Raumteiler hier …“ „Der Anruf kam aber …“ „Jaja, gleich, so, jetzt bitte ganz ruhig, glauben Sie mir, es ist wichtig, entspannen Sie sich, bleiben Sie stehen. Augenblick noch!“ Er trat zurück. Auch bei der Ratgeberin reagierte das Glas nicht. Sibylle hatte also recht gehabt. „Was ist denn das für ein Unsinn“, sagte die Ratgeberin, „ich muß doch gleich wieder zurück. Ich wollte bloß …“ „Schönen Dank“, sagte Wenzel, „wenn Sie Eile haben, erzähle ich Ihnen beim Mittagessen, was das hier bedeutet. Und was nun wollten Sie mir bestellen?“ „Anruf von RR. Der Schlichter hat Ihren Antrag abgelehnt.“
„Hat er noch etwas mitgeteilt?“ „Sie möchten zurückrufen.“ „Gut, ich komme gleich mit“, sagte Wenzel, und zu den beiden Frauen: „Wartet ihr bitte auf mich?“ Ihm wurde gar nicht bewußt, daß er Sibylle Mohr damit geduzt hatte. Wenzel war dabei, sich einzugestehen, daß er enttäuscht war von dieser Entscheidung, zugleich verstand er sie aber und fand sie sogar ein bißchen in die Situation passend: Im Konkreten wie auch im Allgemeinen war er auf einen neuen Ansatz zurückgeworfen. Bereits nach einigen Stunden hatte Ruben die wesentlichen wirtschaftlichen Zusammenhänge der Siedlung überblickt und auch eine Reihe von interessanten Projekten kennengelernt, darunter einen Flugapparat mit Flatterantrieb, auf der Grundlage von Sonnen- und Muskelenergie, der allerdings vorläufig noch an dem hohen Sauerstoffverbrauch des Fliegenden scheiterte. Was er freilich noch nicht ganz verstand, war die Kraft, die die Leute hier auf der Venus festhielt, unter Bedingungen, die doch für jede Art von Arbeit weit schwieriger waren als auf der Erde. Oder war es gerade diese Schwierigkeit? Nein, das wohl auch nicht, denn man trachtete ja danach, sie zu überwinden, Erleichterungen zu erfinden. War es die Aussicht, von sehr viel späteren Generationen einmal als Begründer einer neuen menschlichen Gesellschaft gefeiert zu werden? Solche weltentfernte Romantik konnte vielleicht einzelne hin und wieder bewegen, aber doch nicht die ganze Mannschaft. Und schließlich waren die Leute ja fast alle hiergeblieben. Sosehr er sich ihnen also grundsätzlich durch die Idee der Planetenbesiedlung verbunden fühlte, so wenig verstand er ihre Motive. Sie blieben für ihn also doch eine fast fremde Gesellschaft.
Vielleicht spielte auch die Gefahr eine Rolle. Ganz so gleichförmig, wie es den Erläuterungen nach den Anschein hatte, floß das Leben hier wohl doch nicht dahin. Störungen gab es durchaus, und jede Störung wurde zum Abenteuer, jede Gefahr war sogleich eine Gefahr auf Leben und Tod für die Siedlung. Ruben erlebte ein Beispiel: Ein Tuten war zu hören, plötzlich rannten Leute durch die Gänge, da war auch sofort Sheila McPherson, die ihn mit sich zog, kommen Sie, kommen Sie, Erklärungen später, bleiben Sie bei mir, hier, hängen Sie das um den Hals! Er erhielt etwas, was nach einem Atemgerät aussah, sie kletterten federnde Stufen hinauf und saßen dann in einer Art Kanzel, von wo sie Überblick hatten über das Deck der Siedlung, über ihnen der blaue Himmel und die Ballonbündel, die die Siedlung trugen, und hinter einem Bündel, hier und da durchblendend, die riesengroße Sonne. Jemand rannte über das Deck nach hinten und warf etwas in die Luft. Hinter der Siedlung entfaltete sich eine schwarze Wolke, wuchs und wuchs. „Das Zeichen für die Transportmannschaft, daß sie mit der Fähre in den Transportwind hinaufgehen.“
„Ich sollte dort sein“, sagte Ruben zögernd. „Jetzt unmöglich. Aber Ihre Kollegen sind alle alte Hasen, die kommen schon zurecht. Und unsere Transporter kennen die Fähre auch.“ „Was ist eigentlich los?“ „Ich erkläre es Ihnen nach und nach“, sagte Sheila, „aber fragen Sie jetzt bitte nicht, ich muß beobachten, vielleicht handeln.“ Es sah aus, als horche Sheila auf etwas. Dann griff sie an die Wand, löste etliche solcher Klebeverbindungen, wie Ruben sie gleich zu Anfang kennengelernt hatte, und schloß andere. Für Rubens Augen veränderte sich gar nichts, aber Sheila sagte nach einer Weile: „Sehen Sie – die Ballons wachsen. Wir steigen.“ „Ich merke nichts“, gestand Ruben. Sheila lachte. „Das glaube ich“, sagte sie. „Also nun, was los ist. Vor uns ist eine Liau-Turbulenz aufgetaucht, benannt nach Kollegen Liau Wan-tschi in der Siedlung drei, der sie zuerst beschrieben und auch erforscht hat, soweit das bisher möglich war. Sie tritt sehr selten auf, ihre Ursachen sind noch unbekannt. Es handelt sich um eine Art Wirbelsturm, nicht in unserer Wohnsphäre, sondern unterhalb der mittleren Wolkenschicht, wo sonst Windstille herrscht. Die Gefahr für uns besteht darin, daß der Oberteil der Turbulenz bis in die Wohnsphäre hinaufreicht und vor allem die mittlere Wolkendecke hinaufdrückt bis an die obere, so daß uns auch die Schwefelsäure der mittleren Wolkenschicht bedroht. Hören Sie?“ Es knisterte leise. Ruben wollte etwas sagen, doch Sheila bedeutete ihm, ruhig zu sein. Auch für Rubens ungeübtes Ohr war nun erkennbar, das Knistern verstärkte sich. Es mußte wohl eine Gefahr ankündigen, denn Sheila wirkte sehr konzentriert, aber er fühlte die Gefahr nicht wie sonst. Das war sonderbar, denn gewöhnlich wird man doch gerade dann für Ängste anfällig, wenn man die Aktivitäten anderen überlassen muß. Sheila setzte eine kleine Pfeife an die Lippen, gab einen schrillen Pfiff ab, von irgendwoher ertönte Antwort, dann schaltete sie wieder an ihrer ungewöhnlichen Schaltwand herum, die keine Tasten und Knöpfe hatte, sondern nur Klebestellen. Er kümmerte sich jetzt nicht mehr darum, sondern sah neugierig nach draußen, vor allem nach vorn, bemüht, irgend etwas zu entdecken. Und da, er war nicht ganz sicher, ob es wirklich so war oder ob er es sich nur einbildete, aber dann wurde es deutlicher: Vor ihnen wölbte sich der weiße Horizont der unter ihnen liegen-
den mittleren Wolkendecke zu einer kleinen Beule auf – das war sie wohl, die Turbulenz! Plötzlich hörte er ein lautes Rauschen, blickte umher, sah an den Ecken der Siedlung große, dunkle Ballons sich entfalten und schnell anwachsen. „Wir sind schon in der Korona der Turbulenz“, erklärte Sheila, „hier wirbeln mächtige elektrische Felder, die meisten elektrischen Geräte funktionieren nicht mehr störfrei, daher dies hier.“ Sie hob die Hand mit der Pfeife. „Wir können jetzt nur hoffen, daß die Zusatzballons schnell genug ziehen, sonst …“ Wie als Antwort auf Sheilas Andeutung prasselte etwas. Das Geräusch ließ aber bald wieder nach und verschwand schließlich. „Schwefelsäureregen“, sagte die Frau. Ein Weilchen horchte sie noch, dann atmete sie auf. „Es war nicht viel.“ Sie wies auf die Folie, durch die sie nach draußen sahen – hier und da bildete sich ein Tröpfchen. „Gleich wird’ s abgewaschen.“ Wieder prasselte es, leiser diesmal, in einem anderen Ton, und es hielt auch länger an. Der Blick nach draußen wurde getrübt, nach und nach wurde die Folie ganz undurchsichtig wie Milchglas. Nur wo die Sonne stand, war noch ein heller Fleck erkennbar. „Eis“, kommentierte die Venusierin. „Wir durchstoßen die obere Wolkenschicht.“ Ruben fröstelte – es war kalt geworden in dem kleinen zeltartigen Verschlag, in dem sie saßen, und etwas dunkler auch. Aber schon wurde es wieder heller, in den Sonnenfleck konnte man nicht mehr sehen, hier und da tauchte schon ein Fleckchen Blau auf. „Das Eis schmilzt nun, und das Wasser spült die Säure weg. Schnallen Sie sich jetzt an, so wie ich hier, es geht gleich los.“ Was da gleich losgehen sollte, spürte Ruben bald: Die Siedlung wurde so heftig gerüttelt und geschüttelt, daß er sich wunderte, wie stabil alle diese Seil- und Stoffverbindungen waren. Wie Sheila erklärte, waren das die Luftwirbel an der Grenze zur Sphäre des ständigen Orkans, den die Venusier Transportwind nannten, weil sie ihn hauptsächlich dazu nutzten, von einer Siedlung zur anderen zu kommen oder mit der gesamten Siedlung die Nachtseite der Venus in zwei Erdentagen zu durchfliegen.
Bald ließ das Rütteln und Schütteln nach, und unter fast dunkelblauem Himmel hoch über den blendendweißen Wolken, schien die Siedlung unbeweglich zu schweben. Freilich waren die Ballons, die sie trugen, jetzt größer und dunkler, und auch das Schlauchboot selbst sah nicht mehr hellgelb, sondern braun aus – mehr Sonnenenergie wurde aufgenommen. „Ende des Manövers“, sagte Sheila und erhob sich. „Haben Sie noch Fragen?“ „Ja, eins fiel mir auf – wieso sackt die Siedlung unter dem Gewicht des Eises nicht ab, wenn Sie die Wolken durchstoßen?“ „Das hab ich vergessen zu sagen. Während des normalen Flugs in der Wohnsphäre entstehen trotz fast vollständigen Stoffkreislaufs doch in kleinerem Umfang Ballaststoffe, die für uns nicht mehr verwertbar sind. Die werden gesammelt und in solchen Fällen der Vereisung, die ja auch nicht immer auftreten, dann wirklich als Ballast benutzt, nämlich abgeworfen.“ Dieses kleine Beispiel überzeugte Ruben mehr als alle sonst vorgeführten oder erläuterten Kreisläufe, Regelungen, Abstimmungen: Das waren wirklich Siedlungen, das alles war schon historisch gewachsen, wenn auch die Historie erst einen winzigen Zeitraum umfaßte. Es würde nicht mehr lange dauern, und die vorher konstruktiv erdachten und bei Gründung verwirklichten Regelungen würden die Minderzahl bilden – und dann war dies tatsächlich eine Gesellschaft für sich. Aber ebenso gewiß war es nicht seine Gesellschaft. Ihr Verbündeter wollte er gern sein – ihr Mitkämpfer nicht. Doch das war sicherlich auch nicht notwendig, denn ihre Interessen gingen parallel: Begann erst einmal die Besiedlung eines Planeten, dann würden bald auch andere folgen, darunter gewiß der schöne Mond Esther, der zwar viel weiter entfernt lag, dafür aber auch bedeutend günstigere Voraussetzungen hatte. Und was fesselte ihn eigentlich so an diesem Projekt? Warum verstand er nicht, was die Venusier hier festhielt? Ruben gestand sich ein, daß er erst einmal aufhören müsse zu grübeln und daß er vielleicht etwas mehr Lebenserfahrung und Weltkenntnis brauchte, also kurz: Alter, um sich selbst und dann auch andere zu verstehen. „Reihen Sie mich ein unter Ihre Verbündeten“, sagte er. „Was macht die Fähre?“ „Die ist schon unterwegs zur dritten Siedlung“, antwortete Sheila. „Wir sollten gleich von hier aus hinterherfliegen, da sparen wir uns den noch-
maligen Abstieg. Der beginnt in ungefähr fünf Minuten. Einverstanden?“ Etwas über dreißig Flugstunden waren es bis zur dritten Siedlung. Die ersten Stunden vergingen schnell, weil Ruben lernte, wie der Zweimannballon manövriert wurde. Das war denkbar einfach. Der Transportwind war nämlich durch und durch homogen, keine Wirbel, keine Böen störten den Flug, und das Manövrieren beschränkte sich eigentlich darauf, die Höhe zu halten und später, bei Annäherung an die Siedlung, seitliche Korrekturen auszuführen mit Hilfe der Peristaltik, die wie ganz schwache Steuer- und Antriebssysteme wirkten. Von den Gesprächen, die sie danach führten und die meist persönliche Themen und Erinnerungen betrafen, blieben zwei in Rubens Gedächtnis haften, sie fielen ihm später immer wieder ein und wurden mit der Zeit zu wesentlichen Anstößen seines Denkens. Das eine Gespräch drehte sich um das Wohlbefinden. Ruben war aufgefallen, daß er sich bei allem, was er tat und dachte, stets lustvoll und kreativ fühlte. Sheila erklärte ihm, daß das eine Wirkung der verminderten Gravitation sei, und zwar der um eben den hiesigen Betrag verminderten Gravitation. „Wir hatten Glück damit“, sagte Sheila, „das ist schon jetzt zu einem Bestandteil unseres Heimatgefühls geworden. Selbst wenn sich auch mal negative Folgen dieser Erscheinung einstellen sollten, werden wir zweifellos damit fertig werden.“ Das zweite Gespräch, an das sich Ruben später immer wieder erinnerte, führten sie kurz vor Erreichen der dritten Siedlung. Ruben äußerte die Vermutung, daß es gut wäre, einen Katalog der ungelösten naturwissenschaftlichen Probleme aufzustellen, vor die die Venusier in Zukunft gestellt sein könnten. „Die größeren Probleme“, sagte Sheila darauf, „sind ganz zweifellos gesellschaftswissenschaftlicher Art. Jetzt sind wir so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Wenn wir erst zehn- oder hunderttausend sind, ist das nicht mehr möglich. Aus der Geschichte der Menschheit folgt, daß eine klassenlose Gesellschaft nur langzeitig stabil sein kann auf der Grundlage des materiellen Überflusses. Den aber erreichen wir in den Luftsiedlungen nicht, sondern erst, wenn der ganze Planet bewohnbar ist. Wie halten wir uns in der Zwischenzeit stabil? Wie verhindern wir, daß aus Verfügung über Sachen wieder Macht über Personen ent-
steht, und sei es auch in verschleierter Form? Müssen wir vielleicht irgendeine Art historischen Rückfall von vornherein in Kauf nehmen? Ich könnte nicht sagen, daß dieser Gedanke mir gefällt, aber leichtfertig verneinen darf man ihn auch nicht, sonst steht man eines Tages da und staunt darüber, was man angerichtet hat. Da ist die Siedlung.“ „Nun bin ich aber doch gespannt auf die Überraschung!“ „Wir kommen genau rechtzeitig dazu, keine Minute zu früh und keine zu spät.“ Ruben stutzte. „Woher wissen Sie das?“ Sheila lächelte seltsam. „Ich weiß es eben“, sagte sie. Sie landeten, wurden willkommen geheißen, Ruben hörte noch einmal, daß es gleich soweit sei, sie gingen auf dem Ruben schon bekannten Korridor, irgendwoher klang Stöhnen, sie traten in einen Raum, in dem viele Bewohner der Siedlung standen und saßen, wieder stöhnte jemand, dann war es wieder still, kurz darauf ein Schrei – und dann ein dünnes, klägliches Weinen. Nun wußte Ruben, worin die Überraschung bestand, und im selben Augenblick, da ihm das klargeworden war, wurde ein Vorhang beiseite geschoben, jemand zeigte ein Baby, frisch gewindelt, hielt es für alle sichtbar hoch und sagte mit Rührung in der Stimme: „Aphrodite – das erste Kind auf der Venus!“
4 Es gab ein Wiedersehen, das sich Wenzel nicht hatte träumen lassen, und das war so gekommen: Der neue Anfang, den Fall Otto Mohr selbst betreffend, war die experimentelle Untersuchung des Raumteilers gewesen, und das hatte Wenzel mit Freuden Sibylle Mohr überlassen, die diese Seite gewiß gründlicher und ideenreicher angehen konnte als er oder Pauline. Was aber die Verallgemeinerung betraf, so war nun, nach der Ablehnung der personellen Computerumfrage, nur ein Weg geblieben: die Ausforschung von Einzelfällen. Denn selbstverständlich kann jeder jeden alles fragen, solange der Gefragte nach Belieben die Antwort geben oder verweigern kann. Also mußte Wenzel sich doch, was er eigentlich hatte vermeiden wollen, an Dr. Hasgruber wenden, daß der ihm weiterhalf. Es dauerte aber einige Tage, bis es dazu kam, und die nutzten Wenzel und Pauline zu einem gründlicheren Studium der Unterlagen, die Wenzel eingesehen hatte, vor allem der Statistiken und Artikel, und sie überlegten sich genau, was bei der Ausforschung von Einzelfällen besonders interessant wäre. Nach einigem Hin und Her waren sie auf die ziemlich allgemeine Formulierung gekommen: alles, was nicht in die Statistik paßt; davon wieder besonders all das, was den Einzelheiten im Fall Mohr entweder sehr ähnlich oder ausgesprochen entgegengesetzt ist. Bei Dr. Hasgruber, den Wenzel und Pauline gemeinsam aufsuchten, stellte sich heraus, daß er einen solchen Patienten gehabt hatte, und er war nicht nur bereit, Verbindung zu den Hinterbliebenen herzustellen, sondern empfahl das geradezu. Die Frau des Verstorbenen hatte bis heute noch nicht aufgehört, nach Gründen und Ursachen des plötzlichen Todes zu suchen und, da sie keine fand, sich einer gefährlichen Tendenz der Selbstbeschuldigung hinzugeben. Er halte allerdings, sagte er ungehemmt, Pauline für geeigneter, Kontakt mit der Frau aufzunehmen. Wenzel empfahl er etwas anderes, und da bahnte sich die Überraschung schon an – er kannte einen der drei Verfasser, deren Artikel Wenzel in der unterspezialisierten Form studiert hatte, die Verfasserin des dritten Artikels nämlich, Professor Klara Mannschatz, und arrangierte eine Verabredung. Als Wenzel dann ins Zimmer trat, kam ihm die
Frau sofort bekannt vor, sie lächelte etwas abwartend, etwas spöttisch, und da wußte er auch schon, wer das war. „Klarissima“, sagte er, „die Überraschung ist gelungen!“ „Dank dem überlebten Unfug, daß die Frauen ihren Namen ändern, wenn sie heiraten“, sagte sie. „Ich hab natürlich gleich gewußt, wer da auf mich zukommt, als der Doktor deinen Namen nannte. Hat mich interessiert, ob du mich wiedererkennst und woran!“ „An der Schönheit“, sagte Wenzel unverfroren. „Oder, wenn du es wirklich wissen willst, an dem spöttischen Lächeln.“ Sie waren Kommilitonen gewesen in Prag und Berlin, über ein halbes Jahrzehnt hin, immer freundschaftlich verbunden, aber ohne erotisches Interesse füreinander, was vielleicht die Haltbarkeit ihrer Beziehung erklärte wie auch die schnelle und schmerzlose Trennung, nachdem ihre beruflichen Wege auseinandergegangen waren. Sie unterhielten sich eine Weile über die Studienzeit und gemeinsame Bekannte, nicht lange, nur so viel, wie nötig war, um etwas von der alten Vertrautheit wiederherzustellen. Dann erläuterte Wenzel, was ihn hergeführt hatte’ und was er vorhatte. „Du hast wohl recht“, sagte Klara Mannschatz nachdenklich, „über statistische Untersuchungen führt der Weg nicht weiter, das haben wir selbst festgestellt; vielleicht bringen Untersuchungen von Einzelfällen mehr – oder geben wenigstens neue Anstöße. Ich würde gern von deinen Untersuchungen profitieren. Möglicherweise mich später auch anschließen.“ „Sehr willkommen“, sagte Wenzel. „Aber woher nehme ich die Einzelfälle?“ „Ich kann ein paar rauskriegen. Einen kenn ich sogar. Du mußt die Leute aber selbst fragen.“ Wenn Wenzel einen Namen hatte, konnte er auch die Adresse sowie Geburtstag und berufliche Tätigkeiten erfragen, das gehörte zu den Informationen, die für ihn als Zweiten Gehilfen der Region zugänglich waren. Wolfgang Rebner, Sohn des verstorbenen Klaus Rebner, war Stadtgärtner, Töpfer, Keramiker, alle drei Berufe waren offenbar eng miteinander verflochten, und so wunderte sich Wenzel nicht, auf einen freundlichen, gemächlichen jungen Mann zu treffen, der Zeit hatte und auch nicht abgeneigt war, über seinen Vater zu sprechen. Sie setzten sich
in einer kleinen Parkanlage im Herzen von Berlin, die der junge Mann gerade betreute, auf eine Bank – es war ein schöner Frühlingstag, und man konnte es da schon eine Weile aushalten. Der Vater hatte einen seltenen und interessanten Dienst versehen: Qualitätsprüfer bei der Fließfertigung von Fleisch in einem der kommunalen Versorgungsbetriebe. Sonst war er ein regelrechter Pechvogel gewesen, in des Wortes unangenehmer und zugleich harmloser Bedeutung: Großes Unglück hatte ihn nicht erreicht, das war ja auch überhaupt selten geworden; aber dumme, behindernde Zufälle, die zu überwinden immer einigen Aufwand gekostet hatte, waren ihm auf Schritt und Tritt zugestoßen. Nach Meinung des Sohnes hatte ihn das lange geärgert und zermürbt, bis er sich schließlich auf eins konzentrierte und in aller Stille daran arbeitete, eine verbesserte Aromakontrolle zu entwickeln, was ihm auch gelungen sei und zu dem ersten großen Erfolg seines Lebens geführt habe. Und gerade deshalb sei es allen so widersinnig, ja geradezu absurd vorgekommen, daß er bald darauf starb. Was das für dumme Zufälle gewesen seien, wollte Wenzel wissen, ob er da Beispiele nennen könne. „Beispiele die Fülle“, sagte der Sohn. „Ein Keramikteller, heimlich für die Mutter zu Weihnachten gebrannt, und eine Woche vor den Feiertagen tauscht sie sich einen fast gleichen bei einem Kunstkollegen von Vater ein. Ein anderes Beispiel: Vater muß zu einer dienstlichen Fachberatung, ganz was Wichtiges, er soll einen Vortrag halten, er setzt sich also in ein E-Taxi. Es gibt …zigtausend davon in Berlin, ich hab noch nie gehört, daß eins eine Panne hatte – Vaters hatte eine. Und nicht irgendwo, nein, mitten auf der Kreuzung. Mehrere andere bilden ein Knäuel, die Verkehrsordner kommen, und ehe sie alles entwirrt haben, ist die Beratung vorbei. Oder ganz einfach – nahm er den Regenschirm mit, kam die Sonne durch, nahm er ihn nicht mit, regnete es. Oft ausprobiert. Man konnte Wetten darauf abschließen. Zehn Prozent Verlustquote.“ „Aber mit der Familie hat er Glück gehabt?“ „Und wir mit ihm. Er war ein guter Mensch. Gütig. Als Kinder müssen wir ihm ja sehr zugesetzt haben, weil wir immer über sein Pech gelacht haben und ihn so gezwungen haben mitzulachen; heute denk ich mir manchmal, ob er vielleicht seinen Verdruß nur tiefer vor uns versteckt hat? Als wir dann groß waren und verständiger, da hat er die Sache, glaube ich, wirklich mit Humor genommen.“
„Wissen Sie, ob er irgendwann mal an Selbstmord gedacht hat?“ „Dazu war er nicht der Mensch. Nein, unvorstellbar. Obwohl: gedacht? Nur gedacht? Mit dem Gedanken gespielt? Wer will das sagen?“ „Und in den Berufen, was überwog da – Erfolge oder Enttäuschungen?“ „Halb und halb. Die Erfolge beruhten auf Können, die Enttäuschungen auf Pech; wenn Sie wissen wollen, wie das in unserer Kindheit war, müssen Sie unsere Mutter fragen. Aber besser, Sie fragen sie nicht. Sie ist noch lange nicht drüber hinweg.“ „Ich werde sie nicht belästigen“, versprach Wenzel. „Zumal sie ja nicht im Lande war, als ihr Vater starb.“ Er wußte das von Klara. „Aber vielleicht können Sie sich überwinden und mir wenigstens über diesen Tag Genaueres berichten. Sie haben doch Ihren Vater gefunden?“ Wolfgang Rebner schluckte ein paarmal, dann nickte er. „Konnt ich mir ja denken, nur um ein Schwätzchen sind Sie sicher nicht hergekommen“, sagte er. „Also das war so: Frühmorgens im Dienst bekam er die Urkunde für seine Erfindung, und es soll alles prima gewesen sein, die richtige Mischung zwischen kollegial und würdevoll, jedenfalls waren alle bester Laune, aber vielleicht fragen Sie selbst noch mal in der Fleischbude nach, wissen Sie, wo? Ja? Gut. Gegen elf war er dann im Töpferbüro, wegen Materialbestellung, doch nur kurz, immer noch fröhlich und guter Dinge. Anschließend hat er sich bei einem Bekannten, einem Tischler, ein paar Leisten zu einem Rahmen für die Urkunde zusammengehauen, da hat er noch Witze gemacht: das halbe Leben, um sie zu kriegen, die Urkunde, die andere Hälfte, um sie anzugucken. Dann muß er wohl nach Hause gegangen sein. Ich hab ihn abends gefunden – vom Stuhl gefallen, den Kleber in der Hand, der Rahmen mit der Urkunde heruntergefallen und gebrochen. Die Hinterseite war bereits mit Kleber eingestrichen. Es muß passiert sein, gerade als er das Ding gegen die Wand drücken wollte.“ Wenzel lauschte der Erzählung des Sohns nach. Da gab es durchaus Parallelen zu Otto Mohr, wenn auch verwischt, ungenau: das freudige Ereignis, hier schon vollzogen, dort in Vorbereitung. Oder? War vielleicht dieses Glasstück, das Otto Mohr durch den Hals gefahren war, ein eben ausgewechseltes Teil des Raumteilers gewesen, das letzte nicht ganz stimmige vielleicht …? Man mußte weitere Fälle untersuchen, ob sie auch solche Parallelen aufwiesen. Es wurde jedenfalls jetzt schon sichtbar, daß
etwaige Parallelen das Gewicht der Einzelheiten sehr verändern würden. Die Urkunde hatte jedenfalls bestimmt keine Töne von sich gegeben, keine psychische Rückkopplung lag in diesem Fall vor. Oder? „Hatte diese Handlung“, fragte Wenzel, „ich meine das Aufhängen der Urkunde, oder auch der Ort, wohin er sie hängen wollte, oder irgend etwas anderes in diesem Zusammenhang eine überhöhte Bedeutung für Ihren Vater gehabt? Etwas Symbolisches oder Gleichnishaftes?“ Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann mir’ s nicht vorstellen“, sagte er. „Aber absolut verneinen wollen Sie auch nicht?“ Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Hat Ihr Vater musiziert? War er geräuschempfindlich?“ „Eigentlich alles normal. Aber darf ich jetzt auch mal was fragen?“ „Ja, gleich, nur noch zwei Fragen: Musizierte Ihre Mutter oder ein anderes Familienmitglied?“ „Nein.“ „Und Ihr Vater, was mochte er besonders? Spielte er ein Instrument?“ „Er hat uns, als wir Kinder waren, ein paarmal etwas auf der Mundharmonika vorgespielt, im übrigen war er nur Konsument. Hauptsächlich leichte Musik. Ein bißchen Folklore.“ „Danke“, sagte Wenzel etwas enttäuscht, aber nicht zu sehr, denn eine solche Parallele wäre doch zu äußerlich gewesen. „Und nun Ihre Frage?“ „Warum wollen Sie das alles wissen? Und warum gerade das – Musik und so?“ „Es gibt einen ähnlichen Todesfall. Wahrscheinlich sogar viele. Wir suchen nach gemeinsamen Punkten, verstehen Sie das?“ „Das würde also heißen“, fragte der junge Mann zögernd, „es war eine – so was wie eine unbekannte Krankheit oder so?“ Jetzt zuckte Wenzel mit den Schultern. „Wir wissen es nicht. Die Ärzte schließen eine körperliche Erkrankung oder Vergiftung aus, wenigstens in dem Fall, den wir untersuchen, und bei Ihrem Vater war es ja wohl auch so. Wir können bisher leider nur sagen, was es nicht ist.“ Er erhob sich. „Vielen Dank noch mal. Wenn wir etwas Genaues wissen, informiere ich Sie. Es kann aber lange dauern.“
Er sah dem jungen Mann ins Gesicht, und es tat ihm leid, sich so nichtssagend zu verabschieden; denn daß der Sohn weit mehr an dem Vater gehangen hatte, als der Wortlaut seiner Antworten erkennen ließ, war ihm längst klargeworden. Die Fleischproduktion für den Stadtbezirk befand sich in einem Gebäudekomplex im Südosten Berlins, der so alt war, daß er sicherlich schon vor Jahrhunderten irgendeine Fabrikation beherbergt hatte. Die Diensthabende, eine ältere Frau, guckte zuerst ungläubig, als Wenzel sich vorstellte, dann fingen ihre Augen zu leuchten an, und sie murmelte, während sie öffnete und Wenzel einließ, so etwas wie: „Nee, daß ich das noch erlebe, daß sich mal einer für uns interessiert!“ Vor Aufregung hätte sie fast vergessen, die Tür abzuschließen – Lebensmittelproduktion geht ja sicherheitshalber immer hinter verschlossenen Türen vor sich. „Ich muß Sie gleich enttäuschen“, sagte Wenzel, noch während sie zur Steuerzentrale der Diensthabenden gingen, „ich interessiere mich nicht für die Produktion.“ „So? Na, macht nichts, wer tut das schon, alle Leute essen jeden Tag Fleisch, aber glauben Sie, daß sich irgend jemand darum kümmert, wie das hergestellt wird? Man gerade so, daß wir mal einen gewinnen, der den Dienst hier weiterführt, wenn einer ausscheidet. Aber dann sind’ s meistens Ältere, zum Beispiel, wenn sie die Prüfungen als Lehrer nicht bestanden haben wie ich beispielsweise.“ In der Zentrale fing sie gleich an, den Ablauf zu erklären, und sie tat das mit großem innerem Bedürfnis, daß Wenzel sie nicht unterbrach; außerdem sagte er sich, daß er schon einen gewissen Überblick haben müsse, um sich halbwegs in die Gedanken und Gefühle des Verstorbenen zu versetzen oder auch nur, um nicht allzu dumme Fragen zu stellen. Tausend Muskelstränge verschiedener Fleischsorten wuchsen hier aus Tierzellen und lieferten je Tag etwa fünfundzwanzig Tonnen Fleisch, die dann automatisch abgetrennt, verpackt und im Kühlkeller zur Reifung gestapelt wurden. Die Nährstoffe, ebenfalls fünfundzwanzig Tonnen am Tag, wurden über das Wirtschaftspipelinesystem angeliefert und automatisch zu Nährlösung verarbeitet. Der Diensthabende – es gab sechs während des Tages, nachts lief die Produktion unbeaufsichtigt – hatte neben allgemeiner Überwachung zwei Aufgaben: Stichprobenhaft die Qualität zu kontrollieren und einmal am Tag eine neue Tierzelle anzusetzen, die
dann wieder für drei Jahre Fleisch lieferte. Die gesamte Anlage lief seit mindestens zehn Jahren – weiter reichte die Erinnerung der Diensthabenden nicht zurück – ohne Beanstandung. „Wenn man nicht“, so schloß die Frau, „die Qualität als heilige Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen ansehen würde, dann würde man hier vor Langeweile sterben. Aber jetzt müssen Sie sich einen Augenblick gedulden, eine Kontrolle ist an der Reihe.“ Auf ihrem Arbeitstisch erschien ein Schälchen mit einer Fleischscheibe. Die Diensthabende rieb die Scheibe zwischen Daumen und Zeigefinger, roch an den Fingerbeeren und nickte; dann zerteilte sie die Scheibe geschickt und schnell in ein halbes Dutzend Stückchen, die sie in ebenso viele Schälchen legte, mit denen sie dann die verschiedensten Geräte beschickte. Die meisten gaben Ergebnisse über Lämpchen und Skalen aus, deren Sinn Wenzel nicht verstand, aber nach fünf Minuten nahm sie aus einem Gerät das Schälchen, piekte mit einer Gabel in das Fleischstückchen, pustete es an, roch daran und steckte es dann in den Mund, kaute und nickte zufrieden. „In Ordnung!“ Sie drückte ein paar Tasten, es piepte, und alle Skalen und Lämpchen erloschen. „Und nun sind Sie an der Reihe“, sagte sie. „Was möchten Sie wissen? Zehn Minuten haben wir Zeit, bis die Ablösung kommt. Das heißt, ich hab natürlich auch mehr Zeit, wenn es nötig ist.“ „Es geht um Klaus Rebner“, sagte Wenzel. „Um ihn oder seine Erfindung?“ „In erster Linie um ihn. Was halten Sie von seinem Tod?“ Die Diensthabende seufzte. „Er war eben ein Pechvogel. Hat er endlich mal was erreicht, und schon stirbt er.“ „Was hat er denn erreicht? Was bedeutet seine Erfindung? War sie wichtig?“ „O Mann, sie bringt eine Umwälzung. Mit seinem automatisierten Aromatest werden wir hier überflüssig, ein Diensthabender genügt, der jeden Tag mal seine Nase hier hereinsteckt, und der braucht nicht mal besondere Fähigkeiten im Riechen und Schmecken.“ „Aber destabilisiert das nicht das ganze Gewerbe?“
„Im Gegenteil, es paßt genau in die Entwicklungstendenz. Die geschmacklichen Ansprüche der Leute wachsen von Jahr zu Jahr, deshalb werden immer mehr Geruchs- und Geschmacksspezialisten in der Verarbeitung gebraucht. Wenn ich hier frei werde, kann ich mir einen Dienst ganz in der Nähe aussuchen, drei reißen sich schon um mich, ein Restaurant, ein Lebensmittelmagazin und ein Delikatessenladen.“ „Schön für Sie, aber mal zurück zu Klaus Rebner. Ist Ihnen in den letzten Tagen irgendwas Besonderes an ihm aufgefallen – ich meine, in den letzten Tagen vor seinem Tod. Oder Wochen vielleicht, Sie haben sich ja auch nicht so oft gesehen.“ „Na – eigentlich nicht, nein, aufgefallen nicht. Ich meine, er war natürlich ganz begeistert von seiner Erfindung, hat er ja auch lange dran gearbeitet, und dann wollte er nächsten Monat einen, na, eine Art Wettkampf organisieren, zwanzig Qualitätsprüfer gegen sein Gerät, und er hatte wohl auch weitere Pläne, aber darüber hatte er noch nichts Konkretes gesagt.“ „Aha. Wissen Sie, ob die Urkunde selbst für ihn eine besonders große Bedeutung hatte?“ „Was denn für eine Urkunde? Ach so, bei der Feierstunde. Nein, weiß ich nicht.“ Wenzel verabschiedete sich von der Diensthabenden noch vor Ablauf der Zehnminutenfrist. Sehr zufrieden war er nicht, aber was er nun noch fragen sollte, wußte er auch nicht, klar war jedenfalls, daß der Tote sein Leben nicht als abgeschlossen betrachtet hatte, sondern eher als nun erst richtig beginnend, und daß er keineswegs deprimiert gewesen war, sondern eher enthusiasmiert. Nur um nichts zu versäumen, ging Wenzel in das Töpferbüro und erfuhr dort, daß Rebner tatsächlich Material für seine handwerkliche Arbeit der nächsten Monate bestellt hatte. Aber dann kam ein anderer Töpfer hinzu, hörte, daß es um Klaus Rebner ging, und stellte sich als Freund des Toten vor. Und er mußte wirklich ein sehr guter Freund gewesen sein, denn er wußte sogar über Rebners Erfindung viel mehr als die Dienstkollegin vorhin. Einen Forschungsauftrag des städtischen Wirtschaftsrates hatte der Tote gehabt, ein paar hundert Computerstunden und Kapazität an mehreren Forschungsinstituten hatten ihm zur Verfügung gestanden – so bekam Wenzel erst jetzt einen richtigen Begriff von Bedeutung und Ausmaß dieser Leistung.
Wenzel unterhielt sich noch lange mit dem Töpfer, sie verließen das Büro und gingen spazieren, aßen dann irgendwo zu Mittag und verabschiedeten sich erst, als es dunkel wurde. Immer mehr verdichtete sich bei Wenzel der Eindruck, daß kein Mensch, ausgenommen vielleicht die Ehefrau, den Toten so gut gekannt hatte wie dieser Gesprächspartner. Aus vielen Einzelheiten, jede für sich nichtssagend, entstand ein Charakterbild des Toten, und zu diesem Bild paßte nur eins nicht: sein Tod. Übrigens unterschied sich dieses Bild nicht wesentlich von dem, das der Sohn gegeben hatte, es war nur genauer. Alles in allem hatte Wenzel nun einen Gesamteindruck von der Person, aber wenig konkrete Anhaltspunkte. In einer Hinsicht hatte er allerdings falsch getippt: Die Urkunde – als Gegenstand – hatte für den Toten keine so große Bedeutung gehabt wie der Raumteiler offenbar für Otto Mohr, sonst hätte gewiß dieser Töpfer etwas davon gewußt. Es war wohl doch noch zu früh, Parallelen zwischen den Fällen zu suchen. Na gut, na schön, hoffentlich erreicht Pauline mehr! dachte er. Ausgerüstet mit einem umfangreichen Programm für neue Experimente, das die Theoretiker erarbeitet hatten, waren die Experimentatoren mit dem Zollstock zur Anlage Blastron I zurückgekehrt und hatten sie nach Reparatur der Laseranschlüsse sofort wieder in Betrieb genommen. Die Computeranalysen hatten doch etwas mehr ergeben als die Betrachtungen Rubens, die sich ja immer nur auf einzelne ausgewählte Meßwerte gestützt hatten. Aus den Berechnungen hatte sich ein Gedankenmodell geformt. Fest stand, daß irgendein positiv geladenes Teilchen genau zum Zeitpunkt der Schrumpfung in den Mittelpunkt des Bläschens gelangt war, das ja – am Ende der bis dahin als höchste Lebensdauer angesehenen Minute – schon die Größe eines Riesenmoleküls erreicht hatte; wahrscheinlich hatte es sich um ein Proton, Deuteron oder Alphateilchen gehandelt. Diesen dann für mehrere Minuten stabilen Zustand hatte man als Haselnußmodell beschrieben, und er sollte nun wiederholt hergestellt, beobachtet und getestet werden. Zu diesem Zweck waren auch mehrere Teilchengeneratoren an das Faß montiert worden. Das Haselnußmodell war nicht das einzige Resultat der Untersuchungen, aber über die anderen Ergebnisse gingen die Meinungen sehr auseinander, das Modell dagegen war einhellig verabschiedet worden.
Die neuen Experimente waren, wenigstens für den Anfang, von der unauffälligen Art: Der Computer steuerte sie nach Programm, und niemand erwartete aufregende Ergebnisse. Wahrscheinlichkeitsberechnungen aufgrund des Haselnußmodells besagten, daß viele hundert Durchläufe nötig waren, bis man mit einem positiven Ergebnis rechnen konnte – falls nämlich das Modell selbst der Wirklichkeit in genügendem Ausmaß entsprach. So arbeitete die Anlage einige Tage lang ununterbrochen, jeweils nur von einem Menschen überwacht – was aber nicht bedeutete, daß der einsam und allein in der Zentrale saß. Es gab immer Neugierige, die sich einige Phasen eines bestimmten Durchlaufs näher ansahen oder auch irgendwelche anderen Berechnungen anstellten. Theoretiker und Experimentatoren waren nämlich durchaus nicht in jedem Fall verschiedene Menschen. Während Ruben nur Experimentator war und die Theorie zwar begriff, aber auf diesem Gebiet nicht schöpferisch wurde, gehörten zum Beispiel Esther und Akito zu denen, die das Haselnußmodell und den mathematischen Formelapparat, der es beschrieb, erarbeitet hatten, beide übrigens mit unterschiedlichen Meinungen darüber, wie es weitergehen würde. Ruben war ziemlich sicher, daß die beiden jetzt hier an Bord auch theoretisch weiterarbeiteten, sie sprachen zwar nicht darüber, aber sie hielten auch nicht geheim, was über ihre Bildschirme huschte, wenn sie rechneten, und so theoriefremd war er nun auch nicht, daß er sich nicht auf das eine oder andere hätte einen Reim machen können. Sie kannten sich alle zu gut, um nicht eine mit dem Fortgang der Experimente wachsende gereizte Spannung zu spüren. Sie sprachen nur nicht darüber, weil sie fühlten, daß es noch nicht an der Zeit war. Mochte die Gereiztheit daher rühren, daß die gegensätzlichen Standpunkte sich verhärteten, oder daher, daß bisher immer noch keins der automatischen Experimente positiv ausgegangen war – in jedem Fall war es richtiger, das Ergebnis der ganzen Serie abzuwarten. So kam es, daß sie immer mehr vereinzelten. Aber es bildeten sich keine Grüppchen wie sonst wohl, nur zu künstlerischen Darbietungen trafen hin und wieder alle die zusammen, die gerade wach waren. Schließlich ließ es sich aber nicht mehr leugnen: Die Versuche waren längst über das von der Theorie gesetzte Maß hinausgeschritten, ohne daß die Stabilitätsstufe des Bläschens ein einziges Mal erreicht worden wäre. Alphateilchen, Protonen, sogar Deuteronen hatte man eingespeist,
keins dieser „normalen“ Teilchen hatte mit dem Bläschen reagiert. Wie nun weiter? Eine Ideenkonferenz sollte helfen. Zuerst kamen die naheliegenden Vorschläge: es mit anderen Teilchen zu versuchen, Mesonen, schwereren Kernen und so weiter. Das alles hatte freilich jeder schon vorher für sich bedacht, alle diese Möglichkeiten hatten den Nachteil, daß man sie mit der im Augenblick greifbaren Technik nicht realisieren konnte. Man wäre gezwungen gewesen, nach Gagarin zurückzukehren und die entsprechenden Vorrichtungen zu holen, in einzelnen Fällen gab es die nicht einmal, sie hätten erst gebaut oder umgebaut werden müssen. Wie immer trat nach diesen sozusagen vernünftigen, auf der Hand liegenden Vorschlägen eine Pause ein, und alle warteten auf die verrückten Ideen, die Anstoß zum Weiterdenken liefern sollten. Endlich sagte einer: „Wenn das Vieh nichts fressen will, jagen wir’ s in den Wald, soll es selbst suchen, was ihm schmeckt!“ Die Idee zündete. Das konnte man versuchen. Der Wald – das wäre ein Target aus verschiedenen Stoffen oder, besser noch, ein Wasserstofftarget, metallische Phase, mit speziellen Verunreinigungen dotiert, ein kleines selbstverständlich, ein winziges, für menschliche Begriffe, aber für das Bläschen riesengroß wie ein Wald. Die Vorbereitungen dauerten nur einige Stunden. Man mußte das Target herstellen und zur Anlage bringen, während ein paar andere inzwischen die Magnetfelder umprogrammierten, damit sie das Target auch hielten, sozusagen als Stöpsel auf der Magnetflasche. Die Aussichten, damit etwas zu erreichen, wurden freilich unterschiedlich beurteilt. Einige meinten, es werde gar nichts passieren, andere rechneten – wenigstens vorsichtshalber mit einer Kettenreaktion, die das Target verpuffen würde. Aber da sie alle Experimentatoren waren, spalteten diese unterschiedlichen Erwartungen sie nicht auf, sondern vereinten sie im Gegenteil in bester wissenschaftlicher Neugier. Die Gereiztheit war überwunden, die Spannung geblieben. Obwohl auch dieser Versuch automatisch gesteuert ablief, saßen alle an ihren Plätzen. Das Bläschen wurde emittiert, bestrahlt und nach Ablauf der Minute in Richtung auf das Target beschleunigt. Aber es explodierte vorher. Mit solchen Fällen hatte man gerechnet – es gab keine Anzeichen, die die kurzzeitige Schrumpfung des Bläschens vorher ankündigten, und die Existenzdauer schwankte immer noch um Sekunden,
auch bei völlig identischem Ablauf, so daß man schon einige Bläschen bewegen mußte, ehe man erreichen konnte, daß die Schrumpfung im direkten Kontakt mit dem Target auftrat. Der zweite und der dritte Durchlauf schienen das gleiche negative Ergebnis zu bringen, und nur Ruben, der mehr aus Gewohnheit und Wiederholung die Zeitlupe einschaltete, bemerkte, daß da etwas anders war. Auf seinen Hinweis hin studierten sie die zwei letzten Sekunden systematisch. Sie teilten die Meßwerte untereinander auf und gingen in Millisekundenschritten vorwärts. Das war ein unerhört anstrengendes Unternehmen; zwei Sekunden haben zweitausend Millisekunden, und wenn sie für jeden Schritt nur eine Sekunde brauchten, so dauerte das Ganze eben mehr als drei Stunden – das heißt, so lange würde es gedauert haben, wenn das Bläschen sich normal verhalten hätte. Aber schon nach einer Dreiviertelstunde stießen sie auf die erste Abweichung. Sie hielten den Ablauf an, machten eine Pause und verteilten die Rollen neu. Eine Gruppe kontrollierte fortlaufend die abweichenden Größen des Versuchsprotokolls, die zweite Gruppe suchte die entsprechenden Größen in den Anlageprotokollen. Auch jetzt ging es sehr langsam vorwärts, aber nach einigen Minuten begann sich abzuzeichnen, was die Abweichungen in den Meßwerten bedeuteten: Das Bläschen wurde einige Nanometer vor dem Target gebremst. Das war zwar unerwartet, aber kaum sensationell, dafür, so schien es zuerst allen, ließen sich quantenmechanische Erklärungen finden, denn in diesem Größenbereich des Bläschens übten derartige Prozesse im Target immer noch einen meßbaren Einfluß aus. Nun setzte auch die Schrumpfung ein, und sie verkleinerten die Zeitschritte und ließen sie dafür schneller ablaufen. Es zeigte sich, daß das Bläschen genau zum richtigen Zeitpunkt auf das Target traf, aber dann geschah etwas, was mit Quanteneffekten kaum noch zu erklären war: Das Bläschen wurde nicht nur gebremst, sondern elastisch gestreut. Danach verschwand die Schrumpfung, und das Bläschen explodierte. Der nächstliegende Schritt bestand jetzt darin, die Kraft, die das Bläschen in Richtung Target beschleunigte, zu erhöhen, um die seltsamen Abstoßungskräfte zu überwinden. Während Esther das programmierte, löste Akito mit Hilfe der anderen die schwierigere Aufgabe, ein Indikatorprogramm zu schaffen, das anzeigte, ob das jeweilige Bläschen zum richtigen Zeitpunkt, nämlich bei Schrumpfung, auf das Target getroffen
war – damit man nicht jeden nun folgenden Versuch auf die gleiche zeitraubende Weise kontrollieren mußte. Wieder dauerte es eine halbe Stunde, bis das Indikatorprogramm etwas anzeigte. Noch sorgfältiger prüften sie die Protokolle, und als Esther mitten in dieser Prüfung plötzlich eine Pause vorschlug, wunderten sich zunächst die anderen, dann rieben sie sich die Augen und stellten fest, daß auch sie ziemlich erschöpft waren. Bei Konzentrationslücken hatte es aber keinen Sinn, weiter die Protokolle zu prüfen, zu groß war die Gefahr, daß einer etwas übersah. Sie absolvierten ein Krafttraining, wie es bei länger anhaltender Schwerelosigkeit üblich war, hörten etwas beruhigende, bebilderte Musik und ruhten eine Viertelstunde. Dann ging es weiter, und so gelangten sie schließlich zu dem Ergebnis, daß das Bläschen auch bei stärkster Beschleunigung weiter reflektiert wurde, und zwar elastisch. Die Kräfte, die hier wirkten, waren unbekannt. Das war zugleich aufregend, weil es etwas Neues war, und ärgerlich, weil es sinnlos war, weiter zu experimentieren ohne eine neue Idee. „Das Vieh geht nicht in den Wald“, eröffnete Esther die Debatte. „Vielleicht stehen da die Bäume zu dicht. Oder es gibt kein Futter. Wer weiß, welches exotische Teilchen damals mit dem Bläschen reagiert hat. Wir werden’ s nicht erfahren. Wenigstens vorläufig nicht. Es hat also wenig Sinn, die gesamte Liste unserer Teilchen und Resonanzen abzuklappern, zumal der apparative Aufwand viel zu groß wird. Eine Möglichkeit bestände vielleicht darin, diesen Vorgang mehrere tausendmal zu wiederholen und mit irgendeiner Art Tunneleffekt zu rechnen. Aber ich könnte nicht sagen, daß mir dieser Gedanke sonderlich gefällt. Wir sollten doch lieber versuchen, an der ganzen Sache einen Haken zu finden, an den wir etwas hängen können.“ „Nehmen wir mal an, es reagiert überhaupt nicht mit unserer gewöhnlichen Masse“, begann Akito, „beziehungsweise es reagiert schon, aber abstoßend.“ „Wieso hat es dann mit der Steuerung reagiert, damals?“ warf Ruben ein. „Das war das zweite Stadium. Setzen wir aber für das erste die bisherige Erfahrung, nämlich daß es nicht zu einer Verschmelzung kommt, versteht ihr, dann entsteht ein Widerspruch zum Versuch: Beim ersten und bisher einzigen Übergang ins zweite Stadium muß doch etwas Masse
unserer gewöhnlichen Struktur mitgewirkt haben. Da sehe ich den Haken.“ „Gut“, schloß Esther die Diskussion eine halbe Stunde später, nachdem alle an diesem Haken gerüttelt hatten, ohne ihn zu lockern, „darüber wollen wir jetzt nachdenken, jeder für sich, und morgen entscheiden wir uns, wie es weitergehen soll.“ Pauline atmete dreimal tief durch, bevor sie den Klingelknopf drückte, unter dem E. Kilian stand. Sie wußte, das E. bedeutete Elsbetha, mehr wußte sie nicht. Wohl hätte sie sich informieren können, aber sie hatte darauf verzichtet, weil sie aufgeregt war. Sie war gewiß selbständiges Arbeiten gewohnt, aber es war doch ein Unterschied, ob man jemandem sachliche Fragen stellte oder ob man wie hier ein behutsames Gespräch führen mußte, immer bedacht, nicht zu verletzen und vorhandene Wunden nicht noch zu vertiefen, und das, ohne zu wissen, wonach man eigentlich forschte. Wenn ihr nun gar nichts bekannt war außer dem Namen und dem Todesfall, so hatte sie wenigstens ein paar sachliche Fragen, die sie stellen konnte; denn nach etwas zu fragen, was sie schon wußte, wäre ihr heuchlerisch vorgekommen. Die Frau, die öffnete und Pauline einlud, hereinzukommen und Platz zu nehmen, war schlank, fast hager, hatte ein langes Gesicht mit großen grauen Augen. Als sie hörte, daß Pauline wegen ihres verstorbenen Mannes käme, legten sich kleine, bittere Falten um ihren schmalen Mund. Vorsichtig versuchte Pauline, sich nach Einzelheiten zu erkundigen, aber sie spürte, wie die andere immer steifer wurde, die Antworten wurden kürzer und nichtssagender, so kam sie nicht weiter. Was hatte Dr. Hasgruber angedeutet? Sie litt an Selbstvorwürfen? Vielleicht war sie schon soweit, Vorwürfe von anderen zu befürchten? Pauline sah sich im Zimmer um. Es war mit altem, dunklem Holz möbliert, war aber weder ein ausgesprochenes Wohn- noch ein Arbeitszimmer, mehr eins von der Art, in die man Besucher bittet, und zwar – wenn man oft Besucher hat, im Zusammenhang mit einer der Tätigkeiten, die man ausübt. Auf dem Tisch, an dem sie saßen, lagen einige Fotos, Theaterszenen, wie es schien, und ein Spielplan des Wohnbezirkstheaters. „Entschuldigen Sie, es ist zwar unhöflich, aber dürfte ich hier mal schnell durchblättern?“ fragte Pauline und deutete auf den Spielplan,
wartete jedoch die Antwort nicht ab. Schon auf der dritten Seite fand sie, was sie gesucht hatte. Da stand unter den Mitwirkenden einer Inszenierung: Holobild E. Kilian. „Sind Sie auch beim Theater?“ fragte die Frau; ihre dunkle Stimme klang jetzt lockerer, mindestens interessiert. „Ja, ich entwerfe Kostüme, manchmal nähe ich sie auch. Und Sie machen Hologramme für das Bühnenbild? Ich hab schon davon erzählen hören, aber gesehen hab ich’ s noch nie.“ „Dann kommen Sie, wir gehen in mein Atelier“, bot Frau Kilian an. „Wenn Sie mögen?“ Das klang wieder unsicher. „O ja, sehr gern!“ sagte Pauline, fast begeistert, und das war sie in diesem Augenblick auch, ihre Augen und ihr Gesicht überzeugten wohl die andere davon. Das Atelier war ein größerer Raum innerhalb der Wohnung, der größte wahrscheinlich, eine Ecke war vom Modell einer Bühne eingenommen, die anderen standen voll mit Arbeitstischen, Pulten und Schaltschränken verschiedenster Bestimmung. Frau Kilian gab Pauline eine Schutzbrille, die die Augen nach den Seiten hin abschirmte, und setzte selbst eine auf. „Im Theater brauchen Sie die natürlich nicht, aber hier im Atelier sind sie notwendig, als Schutz vor reflektiertem Laserlicht. Am besten, ich spiel Ihnen ein Stück Film vor von einer unserer ersten Inszenierungen mit holographischem Bühnenbild, es ist sozusagen ein Standardwerk, mit dem alle anfangen.“ Sie schaltete, und auf der kleinen Bühne erschien, ungefähr im Maßstab eins zu fünf ein vorgeschichtliches Bürozimmer mit einem entsprechenden Beamten – so hießen die damals –, der an einem alten Schreibtisch saß und mit irgendwelchen Akten hantierte. „Hologramm sind die Wände, links, rechts und hinten, passen Sie auf, jetzt!“ Durch die Hinterwand gesteckt, erschien plötzlich ziemlich weit oben der Kopf eines anderen, ähnlich frisierten Beamten, der den unten sitzenden mit Schimpfworten traktierte und ihm dann die Zunge herausstreckte. Pauline lachte hellauf. „Der Mann, der durch die Wand ging“, sagte sie dann. „Nach Aimee.“ „Sie kennen das Stück?“ fragte Elsbetha Kilian.
„Nein, nur die Novelle“, sagte Pauline. „Für solch einen Trick ist ja ein Hologramm geradezu ideal. Aber ausgeschöpft sind die Möglichkeiten damit doch wohl nicht?“ Nein, im Gegenteil, das sei nur der einfache Anfang, sozusagen das Tauglichkeitszeugnis ihrer Kunst, erklärte Frau Kilian, und nun wurde nach Herzenslust gefachsimpelt. Pauline war wirklich tief interessiert und wollte so gern etwas von hier mitnehmen, etwas Fachliches, daß sie manchmal vergaß, wozu sie eigentlich hergekommen war. Sie erfuhr, daß das Hologramm durchaus nicht nur statisch und auch nicht nur real abbildend verwandt wurde. Der Holographikerin waren dynamischabstrakte Farb- und Linienspiele am liebsten, freilich nicht als Selbstzweck, sondern der dramatischen Situation, den Spannungen und Konflikten zugeordnet, auch untergeordnet, ja wenigstens in dem Sinne, daß ihre Kunst den grundlegenden Entwicklungen des Textes oder neuerdings auch der Musik folgte. Sie führte Beispiele vor, und im Nu waren zwei Stunden vergangen. Paulines Zwischenfragen mußten wohl so klug und zugleich so ehrlich gewesen sein, daß sie die Sympathie der Elsbetha Kilian gewonnen hatte. Aber mit ihrer nächsten Frage schien sie danebengegriffen zu haben. „Woran arbeiten Sie jetzt?“ fragte sie. Elsbethas Gesicht spannte sich, ihr Blick ging an Pauline vorbei ins Leere. Erst nach einer ganzen Weile, als die Ordnerin sich schon eine neue, ablenkende Frage überlegte, antwortete die Holographikerin. „Ich kann nicht mehr arbeiten“, sagte sie. „Mir gelingt nichts mehr. In der Kunst.“ Sie sprang plötzlich auf und schaltete. „Sehen Sie, hören Sie!“ rief sie fast theatralisch anklagend. Pauline sah und hörte. Hörte eine zeitgenössische Sinfonie, die ihr nicht unbekannt war, aber auch nicht zu ihren Lieblingsstücken zählte, und sah, wie sich das Licht auf den drei Seiten der Bühne bewegte, die in diesem Fall wohl ein Modell des Zuschauerraums war, sah, wie Licht und Schatten miteinander spielten, Farben auftauchten, sich mischten und wieder verschwanden, und das Ganze ließ sie unbeteiligt. „Wie ist Ihr Eindruck?“ fragte Elsbetha so hoffnungslos, als wisse sie die Antwort im voraus. „Ich finde, das Licht fügt der Musik nichts hinzu“, antwortete Pauline ehrlich. „So ist es, so ist es“, rief die Holographikerin. „Es wird eben nichts, mir ist nicht mehr zu helfen. Auch Sie können mir nicht helfen.“
„Ich wollte Ihnen gar nicht helfen“, sagte Pauline ruhig. Jetzt mußte sie die Stimmung der anderen brechen, Aktivität fordern, sonst würde das entstandene Vertrauen wirkungslos abklingen. „Nicht?“ fragte Elsbetha, für einen Moment verdutzt. „Aber – ach ja, Sie wollten …“ „Daß Sie mir helfen. Uns.“ „Jaja, ich erinnere mich, Sie haben so was gesagt am Anfang, als sie kamen, ich hab’ s nicht verstanden, entschuldigen Sie – wissen Sie was? Wir gehen ins Wohnzimmer, ich mach uns einen Kaffee, und dann – fragen Sie mich, ich werde versuchen …Kommen Sie.“ Beim Kaffee begann Pauline noch einmal von vorn, diesmal allerdings spürte sie, daß die andere zuhörte. „Wir untersuchen eine Reihe ähnlicher Fälle, bei denen Menschen um die Fünfzig herum plötzlich und eigentlich grundlos einem Herzversagen erlegen sind. Angefangen hat es mit einem Fall in meinem Dorf, wo ich Ordner bin, und wir sind nur dadurch draufgekommen, weil dieser Fall zuerst wie ein gewaltsamer Tod aussah. Wir fürchten aber, daß irgend etwas dahintersteckt, etwas Unbekanntes. Etwas, was die Ärzte nicht wissen. Es gibt nämlich in der Statistik des Herzversagens ein deutliches Maximum bei etwa fünfzig Jahren. Wir können nur weiterkommen, wenn wir möglichst viele Fälle genau untersuchen. Sie können natürlich ablehnen, wenn es Ihnen zu schwer fällt, darüber zu sprechen, ich meine, über die ganz konkreten Vorgänge beim Tod Ihres Gatten.“ „Kannten Sie den Mann gut, da in Ihrem Dorf?“ Pauline zögerte. Dann aber entschloß sie sich, ihr Engagement nicht zu verbergen. „Ja. Vor einem Jahr war er noch – mein Geliebter.“
Elsbetha Kilian trank den letzten Schluck aus ihrer Tasse. „Es ist gut, daß Sie das gesagt haben“, meinte sie dann. „Das macht es mir leichter, über ein paar Dinge zu sprechen, die in diesem Zusammenhang wichtig sein können. Aber dazu sollten wir in seine Wohnung gehen.“ „In seine Wohnung?“ „Ja, wir waren erst ein halbes Jahr verheiratet und noch nicht ganz und gar zusammengezogen. Meist haben wir hier gelebt, aber mit der endgültigen Regelung haben wir noch gewartet – ich, weil ich an meinem Atelier hing, und er, weil er sich mit der Weitergabe seiner Möbel noch nicht schlüssig war. Und jetzt muß ich auch erst noch eine Menge Dinge regeln, bevor ich die Wohnung frei melde. Im Moment hab ich noch gar nicht die Nerven dazu. Kommen Sie, es ist gar nicht weit.“ Sie gingen eine verkehrsfreie Straße hinunter, auf der Kinder Fußball spielten, und überquerten eine Allee, die in der Mitte zwei Reihen schöner alter Bäume und dazwischen einen Sandweg für Spaziergänger hatte. Zwei Fahrbahnen auf jeder Seite reichten anscheinend auch in Spitzenzeiten für den Individualverkehr; jetzt waren sie fast unbefahren. „Hier
im Stadtkern ist wohl lange nichts mehr verändert worden?“ fragte Pauline. „Man sieht’ s an den Bäumen.“ „Ja, seit der großen Restaurierung vor knapp hundert Jahren soll sich hier nicht mehr viel geändert haben. Damals wurde das Pipelinesystem für den Gütertransport fertiggestellt und die U-Bahn zum letztenmal erweitert. Interessiert Sie das?“ „Wenn ich etwas sehe, möcht ich immer wissen, wie es geworden ist“, gestand Pauline. „Man kriegt es zwar selten ganz raus, die wirkliche Entwicklung ist immer vielseitiger gewesen, als man nachlesen kann, aber spannend ist es doch. Stammen Sie von hier?“ „Ja, meine Großmutter hat mir noch davon erzählt, muß ja schlimm gewesen sein, die ganze Allee eine Baugrube, das heißt die ganze nicht, sie haben wohl im Takt gearbeitet, immer fünfhundert Meter freigelegt, fünfhundert Meter gebaut und fünfhundert Meter zugeschüttet und bepflanzt und so weiter. Irgendein entfernter Großonkel von mir soll da auch mitgearbeitet haben. Wenn es Sie interessiert, es gibt im Stadtarchiv bestimmt Berichte und Reportagen.“ „Ich frag mich, wie man heute so was machen würde“, sagte Pauline nachdenklich. „Ich komm ja nun vom Dorf und kann mir das kaum vorstellen, aber irgendwann und irgendwo ist doch sicherlich auch heute solche Restaurierung notwendig. Und ganz automatisch geht das wohl auch nicht. Mit Zweistundendiensten ist das doch nicht zu machen!“ „Ja, man merkt, daß Sie vom Dorf sind. Ich meine das nicht böse, bestimmt ist da vieles schöner als hier in der Stadt – aber hier gibt es eben immer genügend junge Leute, die vielleicht ein Jahr lang drei oder vier Dienste am Tag leisten und dann drei oder vier Jahre in der Welt herumreisen.“ „Das müssen sie doch nicht“, sagte Pauline verwundert. „Es ist aber üblich“, war die Antwort. „Wer nimmt schon gern, ohne zu geben. Übrigens, haben Sie es sehr eilig? Ich würde am liebsten mal …“ Sie zeigte auf eine Boutique. „Aber bitte, gern, ich komme mit rein, vielleicht kann ich noch etwas vom hauptstädtischen Chic profitieren.“ Elsbetha Kilian suchte nach einem dünngewebten Schaltuch, das zu verschiedenen Kleidern passen sollte, die sie aber nicht bei sich hatte, was der Modistin gar nicht gefiel. Die bestand darauf, daß die Kundin
sich wenigstens eine Stoffbahn der entsprechenden Farbe umschlang, damit man beurteilen konnte, wie das zusammen wirkte, und darüber verging ziemlich viel Zeit. Pauline blätterte unterdessen in einem ausliegenden örtlichen Programmbuch, in dem die künstlerischen Veranstaltungen des Quartals aufgeführt waren. Endlich war aber doch Übereinstimmung erzielt, die Modistin reichte der Kundin einen Rohrpostbehälter, damit sie ihn auf ihre Wohnungsnummer programmierte, und dann verabschiedeten sie sich. Draußen sagte Elsbetha Kilian plötzlich erschrocken: „Jetzt hab ich ganz vergessen, daß Sie ja auch etwas wollten!“ „Ach, ich laß es lieber“, wehrte Pauline ab, „ich hab im Augenblick gar keine Übersicht, was ich alles für den Sommer im Schrank hängen habe, ich müßte das erst mal durchmustern. Sagen Sie, mir ist aufgefallen, im Programmbuch, das dort lag – wie oft spielt eigentlich ein Ensemble bei Ihnen?“ „Schwer zu sagen“, antwortete die Holographikerin. „Die Ensembles sind nicht streng getrennt. Es gibt fünf in unserem Stadtbezirk, doch manche Interpreten spielen auch bei zwei Ensembles mit, es ist manchmal schwierig mit dem Spielplan. Na ja, es kommen so ein bis zwei Veranstaltungen in der Woche heraus.“ „Wir haben acht Theatergruppen im Kreis, aber auch drei Bühnen zu bespielen. Da ist jedes Ensemble fast jeden zweiten Tag dran. Unserer Meinung nach ist das zuviel, da leidet die Kunst. Wir wollen darauf hinsteuern, daß wir noch zwei Ensembles zur Bühnenreife bringen, eins für Schauspiel und eins für Musikdramatik. Wenn wir Glück haben, ziehen wir noch ein paar Leute aus Berlin an uns, wir haben jetzt landschaftlich Interessantes zu bieten.“ Pauline lachte. „Solche technischen Raffinessen wie Ihre Holobilder haben wir freilich nicht.“ Sie betraten eins der alten Häuser aus der kapitalistischen Zeit, die schon so oft restauriert waren, ihres historischen Wertes wegen, daß außer dem – inzwischen verstärkten – Baukern nicht mehr viel Ursprüngliches geblieben war, ja eigentlich nur die abstrakte Aufteilung des umbauten Raums. Vier Treppen hoch lag die Wohnung, die ebenfalls das Schild „E. Kilian“ trug – nur daß E. hier Ernst bedeutete. Elsbetha führte Pauline in das Studio, wie sie sagte. Eine Wand war mit Büchern vollgestellt, richtigen alten Büchern, wie man sie in dieser Menge sonst nur noch in Bibliotheken findet. Die andern Wände und die
Decke waren mit Rupfen bespannt, auf dem Boden lag ein weicher anthrazitfarbener Plast, das Fenster hatte ein Zugrollo, keine Gardinen, ein Tisch und zwei Stühle bildeten die einzige Einrichtung. Über dem Bücherregal war indirekte Beleuchtung angebracht; Elsbetha schaltete sie ein, als sie das Studio betraten, und irgendwelche Meßfühler regelten das Licht so, daß der Raum gleichmäßig ausgeleuchtet war. „Ernst war nur Schauspieler“, sagte die Holographikerin. Sie setzten sich und schwiegen. Pauline dachte daran, daß nun wohl bei ihrer Partnerin jene Selbstvorwürfe spürbar werden müßten, von denen Dr. Hasgruber gesprochen hatte. Oder sollte sie die inzwischen überwunden haben? Kaum, denn die Schwierigkeiten in ihrer Kunst zeugten doch eher von nicht bewältigten emotionalen Störungen. „Am besten, ich erzähle Ihnen was“, sagte Elsbetha. „Ich erzähle Ihnen unser kurzes Leben, und warum es so herrlich war. Vielleicht erzähl ich zuviel, aber das ist Ihnen sicher lieber als zuwenig. Ernst und ich kannten uns ein Jahr lang intim, und ein halbes Jahr lang waren wir verheiratet. Meine erste Ehe war, sagen wir mal, normal und alltäglich. Wir waren durchaus überzeugt, daß wir uns liebten, hatten beide auch wenig Interesse an anderen Partnern, und wir hatten zum Glück beide keine Ahnung, daß uns Sympathie, Freundschaft, Kameradschaft, gemeinsames Elternglück, gegenseitige Fürsorge und alles, was Sie sich noch denken können, miteinander verband, nur eins nicht – Liebe. Ich hab normal gesagt, eigentlich sollte das unnormal sein, aber ich glaube, es ist weit verbreitet. Das ist übrigens nicht mein Urteil allein; meinem ehemaligen Mann ging es ebenso, nachdem wir uns in aller Freundschaft getrennt hatten, als die Kinder aus dem Haus waren und wir plötzlich entdeckten, daß wir nur noch unsere Vergangenheit gemeinsam hatten. Deshalb reden wir auch durchaus noch über Persönliches, wenn wir uns begegnen, und daher weiß ich, daß er zu der gleichen Meinung gelangt ist. Mit Ernst fing das Leben an. Ich habe in dem einen Jahr eine Gefühlswelt ausgemessen, gegen die die fünfzig vorangegangenen Jahre eine armselige Wüste waren. Erwarten Sie bitte nicht, daß ich das jetzt näher bezeichne und mit Worten belege – das kann ich nicht. Wenn ich eins hervorhöbe – beispielsweise unser sexuelles Glück –, würde ich hundert andere Relationen herunterspielen, die ebenso wichtig waren. Erlassen Sie mir also eine psychologische Analyse. Aber wir wollen ja auch mehr von Ernst reden als von mir. Sie wissen, was Plato den Sokrates erzählen läßt über die Entstehung der Liebe? Uns schien es immer, als seien wir
die vor Urzeiten von den Göttern getrennten zwei Teile eines einheitlichen Menschen, die endlich zueinander gefunden haben. Bei Ernst mag übrigens die Sexualität eine größere Rolle gespielt haben als bei mir, denn er hatte in dieser Beziehung nicht viel wirkliches Glück kennengelernt. Als Schauspieler war ihm das wohl einerseits nützlich gewesen; ein Kritiker hatte einmal in seltener Hellsichtigkeit geschrieben, daß sein Spiel eine in Energie umgesetzte Erotik ausstrahle, und Ernst hatte hinzugefügt, weil sie nicht in Sex umgewandelt wurde. Aber im letzten Lebensjahrzehnt hatte er selbst bemerkt, daß sein innerer Reifeprozeß gebremst wurde, und er wurde auch nie mit seiner Traumrolle besetzt, dem Hamlet – erst jetzt. Nun ist er nicht mehr dazu gekommen, ihn zu spielen. Er war übrigens im Kostüm, als ich ihn fand.“ „Sie haben ihn gefunden?“ fragte Pauline. „Bitte erzählen Sie das genauer, ich meine, den ganzen Tag, den Vortag vielleicht auch, oder was in der Woche zuvor an Wichtigem geschehen ist.“ * „Geschehen ist sonst nichts“, sagte Elsbetha nachdenklich, „wenigstens äußerlich. Er hat viel am Hamlet gearbeitet. Vormittags war es, da hab ich plötzlich gespürt, daß mit ihm etwas geschehen ist. Ich bin sofort hingelaufen und …, und …da lag er.“ Sie zeigte zum Fenster. Pauline fühlte, daß sie jetzt ganz dicht an den Punkt herangekommen waren, wo all dieses Normale hier in etwas absolut Unnormales umschlagen, wo sich in irgendeiner Art Dr. Hasgrubers Meinung bestätigen würde; es lag soviel Spannung im Zimmer, obwohl die Frau ganz ruhig schien. Ein bißchen fürchtete Pauline, jetzt etwas Falsches zu sagen oder zu fragen, und sie war froh, als die Holographikerin weitersprach. „Er ist übrigens an einer bestimmten Textstelle gestorben“, sagte sie, „falls das für Ihre Untersuchungen von Bedeutung ist.“ „Sein oder Nichtsein?“ fragte Pauline schnell, es war das erste, was ihr einfiel. „Nein, eine andere: Ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen.“ „Woher wissen Sie das?“ „Ich hab es gehört. Sie müssen sich nicht wundern, ich hab öfter gewußt, was er sagt und denkt, auch wenn ich ganz weit weg war. Wir haben es hinterher verglichen, es stimmte. Dieses eine Mal – konnten wir hinterher nicht mehr …“ Sie schluchzte nicht auf, sie blieb nur stumm
und sah wieder an Pauline vorbei. „Telepathie nennt man das wohl“, fügte sie müde hinzu. Diesmal sollte Ruben an der EGI teilnehmen und Esther den Außenseiter machen. Sie hatten es schon seit langem so verabredet, aber jetzt kam noch hinzu, daß der Außenseiter eine neue, verantwortungsvolle Aufgabe bekommen hatte: die EGI von außen abzubrechen, falls eine Situation einträte wie kürzlich vor der psychischen Implosion. Die Psychologen hatten eine Methode dazu ausgearbeitet, doch sicher war natürlich niemand, daß sie auch richtig funktionierte. Auf jeden Fall war es also das beste, wenn der Erfahrenste die Außenseiterposition einnahm, wenigstens so lange, bis auch dieser neue Teil der EGI gesichert war. O ja, Ruben war aufgeregt. Immerhin war es mehr als drei Jahre her, seit er an dieser Art Kollektivarbeit zum letztenmal teilgenommen hatte, und hinzu kam noch, daß die Erforschung des Bläschens mächtig in Gang gekommen war. Er hatte Mühe, sich in die gelassene, heiterangeregte Stimmung zu versetzen, aus der man am leichtesten in die Ensemblebindung eintrat. Aber als Akito den Auftakt gab, fühlte er sich ohne Einschränkung bereit. Die Aufgabe, Atmung und weitere Körperrhythmen mit den anderen zu synchronisieren, beanspruchte ihn anfangs voll und ganz. Dann, je mehr das gelang, nahm die Mühe ab und die Leichtigkeit zu – nicht diese körperliche Gewichtslosigkeit, die sie ja sowieso hatten und die eher unangenehm war; es handelte sich mehr um eine geistig-seelische Leichtigkeit, die schwer zu beschreiben war: Vervielfachte geistige Kräfte, Vergnügen am Denken, äußerst verfeinertes Gefühl für intellektuelle Stimmigkeit – das alles steckte darin und war doch nur einzelnes, das ganz unzulässig aus einem einheitlichen, geschlossenen, mächtigen Strang psychischer Aktivität herausgelöst war. Ruben erlebte aufs neue diese scheinbare Unbeweglichkeit und Untätigkeit der in der EGI stehenden Mitarbeiter als höchste Aktivität, als eine Aktivität freilich, die die Kräfte nur spielerisch in Anspruch zu nehmen schien. Während ihm gleichzeitig und nebeneinander die verschiedenen Hypothesen durch den Kopf kreisten, die in der Diskussion entwickelt worden waren, und während er sie mit den Daten des laufenden Versuchs in Beziehung setzte, war er sich außerdem noch bewußt, daß er, wenn man Denken überhaupt quantitativ erfassen konnte, min-
destens das Zehnfache leistete von dem, was ihm allein und außerhalb der EGI möglich war. Alles jedoch, was in seinem Kopf vorging, hatte Bezug auf die Aufgabe, auf das gemeinsame Anliegen. Aber dieser Rahmen war sehr weit gefaßt, er schloß Analogien zu Vorgängen dieser Aufgabe ein, mochten sie auch noch so fern liegen oder persönlichkeitsgebunden sein. So ging ihm jetzt schon zum drittenmal die Erinnerung an ein Theaterstück durch den Kopf, es hatte „Die Regel und die Ausnahme“ geheißen, Werk eines deutschen Klassikers, und der Stücktitel hatte auf eine noch nicht durchschaubare Weise etwas zu tun mit der Tatsache, daß der Übergang des Bläschens ins zweite Stadium, damals, als die EGI zusammenbrach, zuerst von allen für eine große Ausnahme gehalten worden war. Und etwas daran hatte sich jetzt bestätigt, da die Versuche ergeben hatten, daß die Aufnahme eines positiven Kerns in das Bläschen, genau zum Zeitpunkt der kurzen Schrumpfung, wohl doch in höherem Maße als Ausnahme zu betrachten war, als die Ableitungen aus dem mathematischen Modell des Vorgangs zunächst hatten erwarten lassen. Plötzlich fühlte Ruben, daß sich etwas vorbereitete. Gleich würde einer von ihnen die Initiative ergreifen und etwas tun, er spürte es genau, und zwar einer rechts von ihm, er wußte nicht, wer, und er hätte auch nicht sagen können, woher er das spürte – irgendeine winzige Veränderung in der Atmung vielleicht, ein fast unhörbarer Laut, eine kaum erkennbare Bewegung –, selbst mit feinsten Kontrollgeräten war bis heute nicht feststellbar, was eigentlich die gegenseitige Abstimmung übertrug, aber tatsächlich geschah dieser Wandel, den die Psychologen ein kleines Wunder nannten: Bis zur ersten Aktivität waren alle gleichberechtigt, danach alle anderen untergeordnet dem, der die erste Aktivität ausgeübt hatte, und dieser Umschlag, von dem die Außenstehenden immer erwartet hatten, er sei die größte psychische Anstrengung, vollzog sich ohne die geringsten Hemmungen, ganz selbstverständlich, als seien die fünf Gehirne ein Gehirn. Ruben jedenfalls begriff sofort, was Akito vorhatte – Bremsung der zum Beschuß vorgesehenen Alphateilchen durch ein vorgeschaltetes gegenläufiges elektrisches Potential, und er sah auch sofort, was er zu tun hatte, seine Hände handelten fast von selbst, ebenso wie die der anderen. Trotzdem war er kein blindes Rädchen in einer sturen Maschinerie. Er war sich bewußt, daß er von diesem Einfall keine Ergebnisse erwartete.
Sie hatten nach der mißglückten ersten Serie wieder auf das Target verzichtet und sich entschlossen, mit den gleichen Zusatzteilchen wie bisher zu experimentieren, aber unter der EGI. Akitos jetziger Einfall erschien Ruben zu einfach, aber das behinderte sein Handeln nicht und auch nicht seinen Willen, zum Erfolg dieses Experiments das Seine beizutragen. Die EGI war auch deshalb für den einzelnen ein so positives Erlebnis, weil sie Skepsis und Kritik nicht etwa zeitweilig unterdrückte, sondern sie durchaus bestehen ließ, aber die tätigen, schöpferischen Kräfte so vervielfachte, daß der Zweifel des einzelnen für das Handeln keine Rolle spielte. Rubens Zweifel jedenfalls waren in diesem Fall gerechtfertigt: Das Experiment ergab nichts Neues, das Bläschen nahm die angebotenen Teilchen nicht an und explodierte nach der gewohnten Minute. Niemand war enttäuscht, schließlich konnte nicht jeder Einfall zu etwas Neuem führen. Auch der nächste Durchlauf endete mit dem gleichen Ergebnis. Ebenso der dritte. Aber ganz ergebnislos waren diese Experimente nicht; jedesmal trat die Schrumpfung auf, und das bewies, daß sie auch gegen größere Änderungen des Ablaufs stabil war, und das wiederum bedeutete wohl, daß sie ein wesentliches Ereignis im Lebenslauf eines Bläschens war und nicht nur eine zufällig unterlaufene Abweichung – was man vom zweiten Stadium noch nicht sagen konnte. Nein, sie zweifelten nicht, daß sie irgendwann dieses zweite Stadium wieder erreichen und dann seine Herstellung methodisch stabilisieren würden. Aber jeder hatte auch das Gefühl, daß an diesem bisher einmaligen Ereignis irgend etwas irritierend Zufälliges, Ausnahmehaftes war, das hatte die vorangegangene Diskussion ergeben. Und mit diesem Gedanken ging Ruben in den vierten Durchlauf unter der EGI. Er spürte genau, daß in ihm ein Einfall heranwuchs, der war noch nicht da, aber schon nahe. Und offenbar spürten das auch die anderen, denn niemand unternahm etwas. Das Bläschen existierte jetzt schon eine halbe Minute, ohne daß einer der anderen eingegriffen hätte. In Rubens Gehirn schwirrten die verschiedensten Assoziationen herum – Worte, Begriffe, Erinnerungen, Analogien dazu, die wiederum andere nach sich zogen, doch ein paar kamen immer wieder: die Regel und die Ausnahme, das Bläschen und das positive Teilchen, das Bläschen und das Wasserstofftarget, die Ausnahme als Geburtshelfer der Regel. Und wenn ein
Teilchen unserer Struktur die Ausnahme darstellte, was wäre dann vermutlich die Regel? Ein Teilchen mit Bläschenstruktur? Also, da man nur eins dieser Art kannte und erzeugen konnte, ein anderes, zweites Bläschen? Schon arbeiteten Rubens Hände, und schon sahen die anderen, worauf es hinauslief, in einer Diskussion hätte es sicher ebenso viele Argumente dafür wie dagegen gegeben, dafür zum Beispiel, daß das neu erzeugte Bläschen gerade die richtige Größe hatte, um dem inzwischen angewachsenen alten als Kern zu dienen; dagegen zum Beispiel, daß beide gleiche Ladung hatten; darauf als Antwort wiederum, daß man ja wisse, das Bläschen könne sich neutralisieren, dann werde es vielleicht auch die Ladung umkehren. All das und viel mehr hätte sich dafür und dagegen sagen lassen können, aber in der EGI wurde nicht diskutiert, hier wurde gehandelt, ein Gedanke eben durchgeführt, daß man seine praktische Konsequenz zu erkennen vermochte. Es war jetzt zehn Sekunden vor dem Zeitpunkt, zu dem im ersten Bläschen die Schrumpfung einsetzte. Ruben hatte als erstes den Bläschengenerator angeworfen. Was jetzt kam, war eine immense Arbeit: die Magnetflasche, die bisher nur für das Festhalten des Bläschens programmiert war, während des Prozesses, innerhalb weniger Sekunden, so umzuprogrammieren, daß sie die Begegnung der beiden, des alten und des noch auszustoßenden jungen, genau zum richtigen Zeitpunkt ermöglichte. Sie teilten sich die Arbeit ohne Absprache, sie bewältigten sie innerhalb von drei Sekunden und wußten noch nicht, daß diese Leistung später in den Lehrbüchern als Musterbeispiel für die EGI stehen würde: Die gleiche Aufgabe, von den gleichen Leuten unter normalen Arbeitsbedingungen gelöst, würde zweiundzwanzig Minuten in Anspruch nehmen. Noch zwei Sekunden: Das Bläschen war erzeugt. Noch eine Sekunde: Es wurde in die Flasche ausgestoßen. Und jetzt – nichts. Ende des Versuchs. Schluß der EGI. Ruben blickte zu Esther hinüber, die die Außenseiterposition eingenommen hatte. Die wiederum sah sich auf dem Bildschirm die Zeitlupe an, so wie er das seinerzeit getan hatte. Er schaltete nicht ihr Bild herüber, er war jetzt müde, hatte keine Lust. Da blickte Esther ihn an und lächelte, daß die Zähne blitzten. „Eine blendende Idee!“ rief sie. „Das braucht nur noch etwas apparative Vor-
bereitung. Wir benötigen einen zweiten Satz Laser. Das zweite Bläschen ist verhungert, ehe es gefressen werden konnte.“ Nach einer Pause, die sie pflichtgemäß einhielten, aber von vornherein so kurz wie möglich angesetzt hatten, gingen alle an die Arbeit. Ruben steuerte den Zollstock zur Anlage Blastron, zwei bereiteten die Laser zum Anbau vor, und die anderen drei erarbeiteten die neuen Steuerprogramme, die um vieles komplizierter waren. Acht Stunden später war alles montiert, die Programme waren eingegeben, die Anlage war bereit, und der Zollstock lag wieder an seinem Stammplatz. Seine Besatzung aber ging erst einmal schlafen. Diesmal geschah das nicht ohne Murren, Ruben vor allen anderen war ungeduldig, verständlicherweise, doch er wußte, daß er unrecht hatte, und dieses Wissen hinderte ihn mehr, sich durchzusetzen, als der Widerstand der anderen, die ja ebenfalls neugierig waren. Frühstück, Training, etwas Musik mit Farbspielen – und dann war es soweit. Eine Serie automatisch gesteuerter Experimente sollte Rubens Idee ausprobieren. In jedem Versuch war das Alter des zweiten Bläschens und dessen Standort im Augenblick der Schrumpfung des ersten ein wenig verschoben. Auch Ruben – und ebenso gewiß auch die andern – dachte nun etwas ruhiger an diese Versuchsserie als gestern, da der Einfall noch neu war. Es wäre unsinnig gewesen, zu erwarten, daß der Erfolg sich sofort einstellen würde. Aber daran, daß es vorwärtsging, zweifelte er nicht mehr. Diese automatische Versuchsserie verfolgten alle mit sichtlich höherem Interesse, als das sonst der Fall war – ein Zeichen, daß auch die andern etwas erwarteten. Aber der Erfolg ließ sich Zeit. Da sie hierbei nicht im entferntesten so beansprucht waren wie bei der EGI, hatten sie die Serie sehr groß angesetzt. Nach zwei Stunden erst, es war der zweiundsechzigste Durchlauf, trat das Erwartete ein: Die beiden Bläschen vereinigten sich zu einem stabilen Gebilde, das keine Energie mehr aufnahm, jedenfalls nicht in den Größenordnungen, wie sie von den Lasern angeboten wurden. Freude, Gratulation an Rubens Adresse. Hochspannung. Das Stadiumzwei-Bläschen existierte. Es lag stabil und passiv in der Magnetflasche. Und nun? Jetzt war der Punkt erreicht, an dem schon vorher die Meinungen auseinandergegangen waren. Aber erst einmal waren die Daten der Um-
wandlung so interessant, daß sich alle nur damit beschäftigten. Und sie sahen dann auch ein wenig anders aus als die der ersten Umwandlung, damals. Schon das war Stoff genug für die theoretische Bearbeitung, das Haselnußmodell konnte bestimmt daran verfeinert werden. Fünf Minuten existierte das Bläschen jetzt, bald würde es die Zeit des ersten übertroffen haben, es war dies ein Punkt, der noch einmal großes Interesse hervorrief: Würde auch dieses Exemplar zerfallen und sich davonmachen? Nein, es blieb weiter in der Flasche, zehn Minuten, fünfzehn Minuten – und dann, als man schon anfing, sich hin und wieder anderen Dingen zuzuwenden, war es plötzlich verschwunden. Erneut hatte es sich aus der Fesselung befreit, indem es die elektrische Ladung in Form von Elektronen abgestoßen hatte, die Synchrotronstrahlung war exakt gemessen worden, einzelne Werte des Vorgangs lagen etwas anders als beim erstenmal, das alles war interessant, aber das. wichtigste war: Das Stadium zwei war nicht einmalig geblieben, man konnte es reproduzieren, und seine Erforschung würde nun beginnen. Explodiert freilich war das Bläschen nicht. Wohin es verschwunden war, davon gab es keine Spur. „Vielleicht trifft es irgendwo auf einen Planeten, ein Stäubchen oder ein Atom und explodiert“, sagte Esther als eine Art Nachruf. „Ich weiß nicht“, warf Ruben ein. „Was heißt: ‚ Ich weiß nicht‘ ?“ „Ich bin draufgekommen“, erklärte Ruben langsam, „weil ich mir gedacht habe, das Bläschen mit dem Normalteilchen im Kern sei so etwas wie ein exotisches Atom, etwa wie das Mesonium, im Vergleich zu einem normalen Atom. Und das normale Bläschen im Stadium zwei sei dann eins mit einem Kern seiner eigenen Art. Und das wäre dann möglicherweise viel stabiler. Oder reaktionsfähiger. Oder – ich weiß nicht.“ „Ich weiß, es ist nicht sehr gastfreundlich“, sagte die Ratgeberin zu Wenzel, „aber ich muß es Ihnen sagen: Wir brauchen hier im Vorwerk jetzt unsern Ordner. Es wird bald Sommer, die Jugend schwärmt aus in die Landschaft, und jemand muß nach dem Rechten sehen. Voriges Jahr hätten wir bald eine Brandrodung erlebt wie im Mittelalter.“ Sie seufzte etwas unglücklich. „Also wenn Sie Pauline behalten wollen, dann muß
jemand neu eingesetzt werden. Andernfalls muß das Mädchen hier seinen Dienst tun.“ „Wir regeln das“, versprach Wenzel, der eben in Begleitung von Pauline und Klara Mannschatz aus Berlin zurückgekommen war und nun eigentlich mit der Ratgeberin über Unterbringung und Verpflegung hatte reden wollen. „Sie haben noch jemanden mitgebracht, wie ich sehe“, fuhr die Ratgeberin fort. „Da wird sich mein Mann freuen, kann er wieder kochen. Ich meine, für Gäste. Bleibt sie länger?“ „Ein paar Tage“, sagte Wenzel. „Es ist eine bekannte Soziologin, Frau Professor Klara Mannschatz, ich stelle sie Ihnen mittags vor. Und das mit Pauline wird heute noch geklärt.“ Pauline und Klara waren inzwischen vorgegangen zu Mohrs Haus. Als Wenzel eintrat, war bereits eine lebhafte Unterhaltung im Gange, vor allem Pauline erzählte, was sie als Erkenntnisse aus Berlin mitgebracht hatte. Sie tat das gut, fand. Wenzel, nur am Schluß ihres Berichts unterlief ihr eine Wertung, die aber mehr im Tonfall als in den Worten lag, als sie nämlich von der Hellseherei der Holographikerin berichtete. Klara Mannschatz wiegte den Kopf. „Es ist bis heute nicht so ganz und gar möglich, bei dem irrationalen Erbe der Vergangenheit herauszufinden, was völlig unsinnig ist und wo doch ein Körnchen Wahrheit stecken könnte. Telepathie wird jedenfalls wissenschaftlich untersucht. Nicht überall und auch nicht mit dem allergrößten Aufwand, aber sie wird untersucht.“ „Was verstehen Sie unter irrationalem Erbe?“ wollte Sibylle wissen. „Auch das ist nicht genau abzugrenzen. Aberglauben, hinter dem oft Beobachtungen stecken; Wahrsagerei, Telekinese und manches andere, was mit Sicherheit Unsinn ist; die mannigfaltige Gruppe der Volksmedizinen; Funde, die angeblich vom Besuch fremder Kosmonauten in grauer Vorzeit sprechen; schließlich auch Gedankenübertragung und Hellseherei; freilich nicht die, die Wenzel auf der Bühne betreibt.“ „Daß es das alles noch gibt!“ sagte Pauline. „Daß es das alles noch gibt, liegt in der Natur der Sache – und im Entwicklungsstand unserer Gesellschaft. Jedermann kann alles betreiben, solange er nicht andere damit schädigt. Keiner wird als Philosoph geboren. Nicht jeder wird im Laufe seines Lebens Philosoph. Ich meine, von
der Grundhaltung her, über die normalen Schulkenntnisse hinaus. Doch jeder wird auf irgendeine Weise Künstler. Die Kunst hat eine andere Position zu Zufall und Notwendigkeit als die Wissenschaft, und daher …, aber das führt jetzt wohl zu weit.“ „Bringen Sie wenigstens den Satz zu Ende“, sagte Sibylle. „Gut, aber ich warne Sie: Ohne langatmige Erläuterung klingt er sehr angreifbar und gefährlich, beinahe paradox. Also vorsichtshalber ganz abstrakt: Die Kunst, welche auch immer, beruht auf der Auswahl aus einem Kontinuum der Mittel, Methoden und des Materials. Die Auswahl ist von der Persönlichkeit des Künstlers geprägt – und von vielem anderem, aber das spielt hier keine Rolle. Ihre Wirkung ist außerdem von der Persönlichkeit dessen geprägt, der sie aufnimmt. Im Normalfall deckt sich das nicht völlig mit dem, was der Künstler von seiner Persönlichkeit hineingelegt hat. Es steht sozusagen rechts und links etwas über. Darin liegt zum Beispiel eine Quelle, aus der irrationale Erlebnisse gespeist werden. Eine andere Quelle ist die Sprache selbst mit ihren Wendungen, die aus der Tiefe der Geschichte stammen und etwas davon immer weiter in die Zukunft tragen. Aber nun ist es wirklich genug.“ „Sie referiert gut, nicht?“ fragte Wenzel etwas scherzhaft. „Sie macht das auch gern.“ „Paß auf, du!“ drohte Klara Mannschatz. „Ich werde jedenfalls darüber nachdenken“, sagte Sibylle mit einem Blick auf Wenzel, der ihr wider Willen etwas tadelnd geriet. „Nun will ich aber auch etwas loswerden, ich hab nämlich nicht geschlafen die ganze Zeit, ich hab gleich zwei Entdeckungen gemacht!“ „Am Raumteiler?“ fragte Wenzel. „Das ist die eine, von der anderen später. Erst mal zum Raumteiler. Ich habe durch eine Reihe von getrennten Experimenten mit ziemlicher Sicherheit festgestellt, daß als Übertragungsmedium von Person zu Raumteiler nur die Luft in Frage kommt. Wenn ich sagen würde: akustische Übertragung, so würde das schon eingeengt sein, denn beispielsweise auch der Luftzug, den bestimmte Körperbewegungen hervorrufen, oder vielmehr sein Rhythmus übt einen Einfluß aus. Der Raumteiler wirkt als Resonanzboden, der bestimmte Elemente der körpereigenen Rhythmen durch Rückkopplung verstärkt, andere mindert oder löscht, und zwar in solcher Auswahl, daß das Wohlbefinden gesteigert wird. Es ist für mich ganz interessant, daß wir vorhin auf Irrationales zu sprechen
kamen, denn ich habe auch daran gedacht und als erstes ausgeschlossen, daß irgendwelche unbekannten Wellen oder so was am Werk sind. Ich habe einfach mit hochempfindlichen Mikrofonen mich selbst aufgenommen, und nun werden wir mal sehen, wie das wirkt. Wir müssen dazu in die Küche gehen, damit wir nicht stören.“ Sie lief voran, und die andern folgten ihr in die Küche, die aber jetzt mehr wie ein Tonstudio aussah: Aufnahme- und Wiedergabegeräte verschiedener Typen standen herum, Leitungsdrähte lagen auf dem Boden oder hingen an den Wänden. „Ich schalte jetzt gleich ein Band ein, das hat drei Phasen: In der ersten gehe ich in der Diele auf und ab, in der zweiten stehe ich vor dem Raumteiler und in der dritten dito, aber bei geöffnetem Fenster. Letzteres, weil das in der Untersuchung ein bisher sinnloser Anhaltspunkt war. Hier haben wir die Anzeigegeräte – es reicht vielleicht erst mal, zu wissen, daß sie an die beiden Resonatorsätze angeschlossen sind, die in der Diele stehen, diese Werkzeugtaschen, an denen wir eine Weile herumgerätselt haben. Ich schalte ein. Sehen Sie, die Anzeige reagiert nicht sofort, sondern mit einer Verzögerung von etwa einer halben Sekunde. Obwohl ich mich bewege, gehe, Schritte mache, bleibt die Resonanz des Raumteilers gleich, sie schwankt nicht mit der Intensität der Geräusche, die ich verursache. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, daß es sich bei dem Raumteiler um ein äußerst kompliziertes Resonanzsystem handelt, das die aufgenommenen Schwingungen vielfach transformiert. Achtung, jetzt beginnt die zweite Phase. Etwas verschobene Frequenzen und höhere Intensität. Das beweist, daß zum Beispiel die infrarote Wärmeabstrahlung des Körpers keine Rolle spielt, denn ich bin ja in diesem Augenblick nicht dort. Übrigens gleichen die jetzt vom RT ausgehenden Schwingungen genau denen, die entstehen, wenn ich persönlich davorstehe. Ach so, RT, ja, entschuldigen Sie die Abkürzung, aber Raumteiler ist zu lang und stimmt ja auch nicht, und ein neues Wort haben wir noch nicht. So, und jetzt wird das Fenster geöffnet – Sie sehen, die Intensität erhöht sich, die Frequenzen bleiben gleich. Warum, weiß ich noch nicht, aber so bedeutend ist die Erhöhung nicht, daß ein neuer Effekt entstünde. Merkwürdig ist etwas anderes – nämlich die psychologische Wirkung dieser abgestrahlten Töne.“ Sibylle Mohr schaltete das Tonbandgerät ab, wechselte die Kassette und sagte: „Wir wußten bisher, daß der RT zum
Beispiel auf mich und auf Herrn Kramer reagiert, auf Fräulein Fouquet und die Ratgeberin dagegen nicht. Wie sieht es nun andersherum aus? Ich weiß inzwischen, daß außer Herrn Kramer und mir auch die Ratgeberin auf die abgestrahlten Töne reagiert, und ich werde jetzt die aufgenommenen Frequenzen abspielen, etwas verstärkt, weil der Raum hier anders ist, und ich möchte besonders Frau Professor Mannschatz und Fräulein Fouquet bitten, darauf zu achten, ob sie in sich irgendwelche psychischen Reaktionen spüren.“ Sie drückte auf den Knopf, ein feines Sirren war zu hören, freilich nur einen Augenblick. Das Geräusch blieb, das bewiesen die Anzeigegeräte, aber es wurde, wie hinterher alle übereinstimmend feststellten, nicht mehr wahrgenommen. Nach einer Minute schaltete Sibylle ab. „Nun?“ fragte sie. „Ich würde sagen“, begann Klara Mannschatz, „ein Gefühl kräftigen Wohlbefindens. Lust zu arbeiten, zu essen. Und so weiter. Es setzte ein, als das Singen verschwand. Aber“ – sie schüttelte verwundert den Kopf – „es hält ja noch an! Sie haben doch abgeschaltet?“ „Und Sie, Fräulein Fouquet?“ Pauline nickte. Sibylle wandte sich wieder Klara Mannschatz zu. „Sie haben recht – die Wirkung hält an. Inzwischen hab ich festgestellt, daß bis zu einer halben Stunde die Nachwirkung gleich der Direktwirkung ist, danach sinkt sie.“
„Der RT wirkt also auf alle“, sagte Wenzel, „oder doch auf einen sehr viel größeren Kreis von Menschen als auf die, die ihn anregen, hab ich das richtig verstanden? Und er wirkt offenbar positiv, belebend, ermutigend?“ „Erst mal, mit aller Vorsicht, könnte man das so sagen“, erwiderte Sibylle zögernd. „Es könnte sich allerdings noch herausstellen, daß er einzelne gar nicht oder negativ beeinflußt. Oder daß er in extrem anderen Gemütslagen anders wirkt. Da müssen dann Psychologen ran.“ „Und das offene Fenster verstärkt den Effekt?“ „Anscheinend ja.“ „Dann gibt es wenigstens eine deutliche Parallele zu den anderen Fällen. So bitter es klingt – sie scheinen alle vor Glück gestorben zu sein.“ „Genauer: Glück nach überwundenem Unglück“, sagte Sibylle, „wenn ich nämlich das, was ihr berichtet habt, mit der zweiten Entdeckung vergleiche, die ich inzwischen gemacht habe. Das Tagebuch von Otto.“ Alle spannten sich. „Wo?“ fragte Wenzel.
„Im Sockel des Raumteilers. In einer Kassette. Ich sollte es wohl nicht sofort finden, sondern erst in Sternenstadt oder in Gagarin. Es sind nicht tägliche Aufzeichnungen, sondern oft mit Monatsabständen, und ich habe für euch die wichtigsten zusammengestellt. Einige möchte ich für mich behalten. Sie enthalten aber, bezogen auf unsere Untersuchung, nichts, was nicht auch in den ausgewählten Passagen vorkäme. Ich spiele sie euch jetzt vor. Die erste datiert etwa ein Vierteljahr nach unserer Trennung.“ Sie drückte eine Taste. Otto Mohrs Stimme erklang, für zwei von ihnen fremd, für die andern beiden sehr vertraut. „Ich beginne langsam zu begreifen, daß ich allein bin. Zur Überprüfung meiner seelischen Zustände werde ich in größeren Abständen etwas über meine Befindlichkeit auf Band sprechen. Das bin ich der Kunst schuldig. Denn wenn ich schon unglücklich bin, dann will ich diesen Zustand wenigstens produktiv machen. Ich bin ja nicht der einzige – es gibt auch in unserer heiteren Zeit genügend Unglückliche, die also Kunsterlebnisse brauchen, welche ihrer Lage angemessen sind. Freilich weiß ich noch nicht, wie das mit Glas zu machen wäre.“ Sibylle schaltete aus und ließ das Band ein Stück vorlaufen. „Was jetzt kommt, war zugleich schlimm und tröstlich für mich. Aber auch wesentlich für Otto. Ein halbes Jahr später.“ Wieder erklang die Stimme. „Es ist nicht, als ob einem eine Hälfte fehle; es ist, als sei man nur noch der Schatten seiner selbst. Ich bin gewiß kein Selbstmörder, aber wenn ich es auch nicht tue und nicht tun werde, so denke ich doch hin und wieder daran. Man liest davon, daß es anderen so geht und ging, aber das sagt gar nichts, wenn man es nicht erlebt. Um so dringlicher stellt sich mir die Aufgabe, mir und anderen mit den Mitteln der Kunst zu helfen, wenn ich auch immer noch nicht weiß, wie. Vielleicht muß ich noch tiefer hinab in das Erlebnis des Unglücks, bis das Gefühl dem näher kommt, was der Verstand mit dem Selbstmordgedanken herbeizitiert: dem Tod. Manchmal denke ich, das sind alles nur Worte, mit denen ich mich selbst bedaure. Was ich wirklich bedaure: Ich habe ihr vorgeworfen, daß sie ehrgeizig ist, um ihr den Abschied, der doch auf jeden Fall kam, leichter zu machen. Es war nicht meine wirkliche Meinung.“ Ohne Kommentar schaltete Sibylle aus und nach einem weiteren Vorlauf wieder ein.
„Es ist jetzt ein Jahr her seit der Trennung, das Gefühl, hinter einer Glaswand zu leben, schwindet langsam. Momentan sind Dienst und Handwerk für mich uninteressant geworden, ich versehe sie selbstverständlich ordentlich, aber mein Inneres, Gedanken wie Gefühle, ist ausschließlich mit der Kunst beschäftigt. Alles, was ich bisher aus Glas geschaffen habe, kommt mir leer und sinnlos vor angesichts der Aufgabe, die mir im zurückliegenden Jahr zugewachsen ist und die ich schon angedeutet habe. Ich hab mir diese Aufgabe nicht ausgesucht, sie ist auf mich zugekommen, aber seit ich sie akzeptiert habe, führt sie mich aus dem Glaskasten heraus, und vieles sonst ganz Normale, Alltägliche ordnet sich ihr fast von selbst zu. Gestern habe ich ein paar Glasteile auf eine Schnur gefädelt, zu einem ganz anderen Zweck, und plötzlich, als ich die Kette klirren hörte, durchfuhr es mich: Da könnte eine Ausdrucksmöglichkeit sein, die sich eignet.“ „Zwei Jahre später“, sagte Sibylle und schaltete. „Ich habe – wenig genug nach drei Jahren, aber doch schon unendlich viel – die Aufgabe formuliert: ein Glasensemble zu schaffen, das man gern ansieht und das, angeregt von der davorstehenden Person, leise oder vielleicht unhörbare Töne von sich gibt, die eine freudige Aktivität stimulieren. Daß Töne auf das Gefühl wirken können, weiß die Musik seit tausend und aber tausend Jahren, warum sollte es also nicht möglich sein?“ „Ein halbes Jahr danach“, verkündete Sibylle. „Es geht! Ich weiß, daß es geht! Freilich erst im Ansatz, aber der weitere Weg ist erkennbar. Jetzt habe ich eine Sorge: daß mein Herz, derzeit in guten Händen, die Gefühle der Trennung und des Todes vergessen könnte. Ich unternehme allerhand Dummheiten, um sie wachzuhalten, stelle mich auf einen Stuhl und stecke den Hals in eine Schlinge, doch das ist alles Mumpitz. Nun habe ich begonnen, mich durch Meditation in einen entsprechenden Zustand zu versetzen, in dem ich dann die Wirksamkeit meiner Entwürfe prüfen kann. Denn ohne diese Mühe hätte ich den ganzen Tag gute Laune und brauchte die Stimulierung nicht, könnte also die Wirksamkeit nicht beurteilen.“ „Monate später.“ „Mein indischer Gast warnt mich vor meinen Meditationen, erstens wegen ihres Gegenstandes und zweitens, weil ich darin ungeübt bin. Wahrscheinlich hat er recht, ich brauche sie jetzt auch fürs erste nicht
mehr, ich habe mir Meßgeräte anfertigen lassen. Später muß ich freilich noch mal darauf zurückkommen. Die vor mir liegende Strecke stellt wohl mehr kunsthandwerkliche Anforderungen. Aber etwas anderes ist mir beim Abhören all dieser Notate eingefallen. Ich bin meiner Frau – meiner früheren Frau, muß ich ja sagen – etwas schuldig, ich habe in den ersten Aufzeichnungen davon gesprochen. Wie wäre es, wenn ich ihr dieses Werk widme und schenke? Sicherlich braucht sie bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit manchmal eine Ermunterung, eine Aufhellung des Gemüts. Also müßte ich das Werk so bauen, daß es nur von ihr angeregt wird. Ich kann sie aber nicht gegenwärtig machen. Nun denke ich mir – wir klangen damals in so idealer Weise zusammen, konnten uns fast ohne ein Wort aufeinander einstimmen –, daß vielleicht das Werk, das auf mich reagiert, es auch bei ihr tut. Wenn es fertig ist, werde ich sie einladen.“ Sibylle schluckte und schaltete ab. Eine lange Zeit sprach niemand. Schließlich erhob sich Wenzel und ging auf und ab. Jetzt sahen alle, daß er in tiefes Nachdenken versunken war, und niemand wollte ihn stören. Endlich blieb er vor den anderen stehen und sah sie an. „Das wird ein globales Problem!“ sagte er. „Früher konnte Unglück tödlich sein, das war schlimm, weil es viel Unglück gab. Wenn aber jetzt, in unserer Epoche der Heiterkeit, das Glück tödlich wirken kann …Das ist Irrsinn! Dem muß man beikommen! Jetzt werden sie wohl die Namen freigeben.“ „Ja, das halte ich auch für selbstverständlich“, sagte Klara Mannschatz. „Und was macht dir dabei Sorgen?“ „Ich weiß es“, sagte Sibylle, als Wenzel nicht gleich antwortete. „Ich hatte gedacht, nachdem ich die Notate gefunden und gehört hatte, jetzt sei der Fall geklärt. Nun stellt sich heraus, daß er neue, bedeutendere Fragen aufwirft. Ich glaube, bei diesem Problem führt jede Lösung nur zu neuen, schwierigeren Problemen. Es gibt ja so was.“ „Das Gefühl habe ich auch“, sagte Wenzel nur. „Ich fürchte, es ist eine Lebensaufgabe. Wenn ich jetzt den Fall nicht abgebe, werde ich das später nicht mehr können. Mein ganzes Leben wird sich verändern. Meine Zukunftspläne, meine künstlerischen Absichten und Wünsche, alles.“ „Und? Wie wirst du dich entscheiden?“ fragte Klara Mannschatz. „Ich weiß noch nicht. Aber etwas anderes müssen wir gleich regeln. Pauline, du hattest recht – es gibt doch einen Zusammenhang zwischen den Meditationen und dem Tod. Willst du an dieser Sache dranbleiben?
Ich denke, sie wird weit hinausführen aus dem Vorwerk, dem Kreis, auch aus der Region – wer weiß wohin. Wenn du dich dafür entscheidest, brauchen sie hier einen neuen Ordner.“ „Ich will dranbleiben“, sagte Pauline so gleichmütig, als sei die Frage für sie schon entschieden gewesen, bevor sie eben gestellt worden war. Sie nickte noch mal, wie zur Bestätigung; denn mit diesem Gedanken gespielt hatte sie schon vorher, aber erst jetzt, in der Sekunde, nachdem sie zugesagt hatte, hatte das Gefühl sie überfallen, sie habe ihr Leben lang auf so etwas gewartet. Wenzel lächelte die andern an. „Vielleicht sollte ich mir daran, ein Beispiel nehmen?“ fragte er. „Soviel älter bin ich mit meinen Fünfzig doch auch nicht.“ Der Streit brach aus, nachdem die Meßergebnisse des letzten Experiments durchgesehen und vorläufig ausgewertet waren. Es ging aber nicht um die Deutung der Ergebnisse, obwohl die mit einfloß. Es handelte sich darum, was weiter geschehen sollte. „Natürlich ist das wichtigste Ergebnis die Wiederholbarkeit des zweiten Stadiums“, sagte Esther, als sie sich zur Besprechung zusammengesetzt hatten. „Aber als nächstwichtiges Ergebnis rechne ich eine Tatsache, die sich während der letzten Serien herausgestellt hat: Die Bläschen sind einheitlicher geworden, ihre Lebensläufe nähern sich einander immer mehr. Das ist doch, meine ich, eine prinzipielle Änderung. Zum Beispiel der Zeitpunkt der Schrumpfung variiert bedeutend weniger, als wir erwartet hatten. Aber auch die anderen Daten liegen in viel engeren Toleranzen als früher. Ich ziehe den Schluß, daß wir das Bläschen besser in den Griff bekommen haben. Ich ziehe den zweiten Schluß, daß die Lage für große Serien günstig geworden ist und wir die EGI nur noch zur Suche bestimmter Problemlösungen einsetzen sollten, wie bei der letzten. Und ich ziehe drittens den Schluß, daß wir Ideen brauchen für die Verfeinerung der Meßmethoden, wieder einmal, vor allem in kleineren Größenordnungen des Raumes und der Zeit, dazu spezielle Geräte für bestimmte Effekte – zum Beispiel für die Synchrotronstrahlung und für Dinge, die wir noch gar nicht entdeckt haben, die aber sicherlich auf uns zukommen –, damit wir die Bläschen am Ende noch fester zu packen kriegen.
Letzteres wäre eine Aufgabe, der wir uns in Gagarin und Sternenstadt gemeinsam mit den Gerätebauern zuwenden müßten. Was die Versuchsserien angeht, sehe ich zunächst einmal drei Untersuchungszwecke. Erstens sollten wir herausfinden, welche Abhängigkeit zwischen der Vereinigung der Bläschen, dem Zeitpunkt und der gegenseitigen Entfernung besteht. Die Größe würde ich zunächst nicht mit einbeziehen, weil sie eine Funktion der Zeit ist. Zweitens sollten wir ergründen, ob es für die Dauer bis zur Abgabe des Elektronenschauers ein Maximum gibt. Bisher haben wir zwei Werte, einmal fünf und einmal fünfzehn Minuten. Beides sind äußerst sonderbare Zeiten, höchstens vergleichbar mit den Halbwertszeiten bestimmter Radionuklide, aber im Bereich der normalen Teilchen gibt es nur eine einzige Entsprechung: das Neutron. Ich rechne mit etwa tausend Versuchen, ehe ein Maximum erkennbar wird. Drittens sollten wir aus den Daten der Synchrotronstrahlung festzustellen versuchen, ob die Bläschen beim Verschwinden eine bevorzugte Richtung haben. Das müßte möglich sein, wenn wir die Richtung der emittierten Elektronen ermitteln. Einwände, Akito?“ „Im einzelnen nichts dagegen, aber im ganzen alles. Das Programm ist an sich richtig, doch wir dürfen es meiner Meinung nach nicht durchführen. Wir wissen nicht, wohin die Bläschen verschwinden. Wir wissen nicht, was sie anrichten können, wenn sie auf feste Körper treffen; aber nach dem ersten Fall, dem Defekt in der Steuerung, müssen wir mindestens vermuten, daß sie sich teilen, vielleicht auch mehrfach, und dabei Zerstörungen anrichten. Auch eine Kettenreaktion kann nicht ausgeschlossen werden. Bei diesem Stand der Kenntnisse wäre es unverantwortlich, tausend Bläschen in die Weltgeschichte zu jagen. Schon das eine war zuviel. Wir sind an einer experimentellen Grenze angekommen, die wir ohne größeren theoretischen Vorlauf nicht überschreiten dürfen.“ Ruben wunderte sich ein wenig, daß die schon seit einiger Zeit spürbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen Esther und Akito, bisher mehr theoretischer Natur, jetzt einen so praktischen Gegensatz hervorbrachten; aber er wunderte sich nicht sehr, denn einmal mußte die Sache ja zum Ausbruch kommen und dann auch ausgetragen werden. Er war sich freilich noch nicht sicher, wem er recht geben sollte; er wußte nicht ein-
mal, ob die beiden Standpunkte unvereinbar waren. Doch jetzt mußte erst Esther etwas entgegnen. „Vorsicht ist für uns alle eine Tugend“, sagte sie, „aber in Vorsicht steckt auch Sicht. Was sehen wir, wenn wir das Verschwinden der Bläschen betrachten? Klingt ulkig, nicht – das Verschwinden betrachten. Aber wir können tatsächlich etwas sehen. Die kinetische Energie der Bläschen ist begrenzt, also auch ihre Geschwindigkeit. Wir wissen nicht genau, wie groß sie ist, auf jeden Fall liegt sie, hier, ich rechne euch das vor …“, sie hantierte an ihrem Pult, über den Bildschirm huschten die entsprechenden Zahlen, „auf jeden Fall liegt sie weit unter der Entweichgeschwindigkeit, die für diese heliozentrische Bahn gefordert ist. Das heißt, die Bläschen bleiben weiter innerhalb der Venusbahn und fallen schließlich in die Sonne. Innerhalb der Venusbahn ist aber außer uns niemand. Und wir sollten, denke ich, das kleine Risiko tragen können. Es ist eigentlich gleich Null. Millionenmal geringer als der Zusammenstoß mit einem Mikrometeoriten.“ „Dieser Rechnung traue ich nicht, das heißt der Rechnung schon, aber nicht ihren Voraussetzungen“, sagte Akito. „Es sind andere denkbar. Das Bläschen könnte auf einen Meteoriten treffen, von dem zugleich transportiert und vermehrt werden, und wenn der dann in sonnenfernere Gebiete kommt, vielleicht in die Nähe der Erde? Ich meine, bereits die Möglichkeit einer Gefährdung sollte Experimente verbieten.“ „Das ist ein richtiger Grundsatz“, stimmte Esther zu, „aber besteht eine solche Möglichkeit? Eine Kettenreaktion hat auch ihre Bedingungen. Sie erfordert homogenes Material, derart, daß sich in ihm die auslösenden Bedingungen in ständig wachsendem Maße reproduzieren. Eine Kettenreaktion in nichthomogenem Material und bei ganz verschiedenen physikalischen Bedingungen an Druck, Temperatur, Stoffstruktur und so weiter ist nicht denkbar. Das ist doch Grundwissen.“ „Und wenn unsere Stoffstruktur für die Bläschen ein homogenes Material darstellt?“ Die Debatte war in einer Sackgasse gelandet. Es war schon zu spüren, jedes weitere Argument würde mit einem Gegenargument beantwortet werden. Aber eine Entscheidung mußte getroffen werden. „Schlichtung“, schlug jemand vor. „Und mit wem als Schlichter?“
„Wie war es denn mit Sibylle Mohr?“ Es stellte sich allgemeines Einverständnis heraus. Die Genannte war erfahren, sie hatte durch ihre Arbeit in der Information große Übersicht, fast jeder der Anwesenden hatte schon mit ihr gearbeitet oder kannte sie wenigstens von wissenschaftlichen Beratungen größeren oder kleineren Umfangs. „Und nun?“ fragte Esther. Das war es ja – mit dem Schlichtungsvorschlag war ihr jetziges Problem nicht gelöst. Sollten sie schon wieder nach Gagarin zurückkehren und warten, bis die Schlichtung zustande käme? Ruben, der immer noch nicht wußte, welcher Seite er sich zurechnen konnte, sah von einem zum andern. Er habe da einen Vorschlag, wollte er sagen, da nickte ihm Akito zu. „Sprich es aus!“ „Das Bläschen ist ungefähr so groß wie ein großes EIWEIßMOLEKÜL“, sagte er. „Und es kann keine sehr große Geschwindigkeit haben. Es müßte eigentlich durch Spiegelfolie aufgehalten werden. Aber das denke ich mir nur als zusätzliche Sicherung. Wenn wir nun bis zur Schlichtung eine andere Serie fahren, bei der wir nicht warten, bis das Bläschen im Unbekannten verschwindet, sondern es vorher, also während des zweiten Stadiums, auf ein Wasserstofftarget lenken! Wir könnten mindestens die erste Aufgabe lösen, die Esther genannt hat, und außerdem messen, ob und wie sich die reflektierende Wirkung des Targets im zweiten Stadium wiederholt. Die Folie könnte halbkugelförmig abschirmen.“ Schnell wurde Einigung erzielt, wenigstens erst mal eins dieser Experimente durchzuführen und, wenn es sich herausstellen sollte, daß die kritische Phase, das Verschwinden, in diesem Fall nicht eintrat, auch damit fortzufahren. Das erforderte wieder einmal den Flug zur Anlage. Es dauerte also einschließlich Pause, Körperpflege, Training und all der im Raum notwendigen Dinge einen ganzen Tag, bis das erste Experiment dieser Serie stattfand. Sie hatten weder ihre Meinungsverschiedenheiten noch ihren Entschluß für sich behalten. Schließlich saßen in Gagarin und auf der Erde in Sternenstadt rund tausend Mitarbeiter dieser Forschungsgruppe, für die und – genaugenommen – in deren Auftrag sie die Experimente durchführten und die auch ständig die Ergebnisse verarbeiteten, nur nicht direkt Einfluß nehmen konnten, weil die Funksignale mehrere
Minuten brauchten. Diesen Entschluß aber hatten sie auch diskutiert und mitgeteilt, daß sie ihn unterstützten. Jetzt lief das erste Bläschen in die Magnetflasche. Rubens Interesse war vor allem darauf gerichtet, ob das Bläschen auch im zweiten Stadium das normal strukturierte Target ablehnte, also reflektiert wurde, oder ob es mit dem Target auf irgendeine Weise reagierte. Möglich war beides, denn inzwischen mußte man wohl den Zustand nach dem Abstoßen der Elektronen als drittes Stadium bezeichnen, und in diesem hatte damals das Bläschen mit dem Material der Steuerung reagiert. Esther und eine Reihe anderer Mitarbeiter hatten sich bei diesem automatisch gesteuerten Versuch auf den Übergang vom ersten zum zweiten Stadium vorbereitet, Akito und er auf das Target, wenn auch mit unterschiedlichen Erwartungen – Akito vor allem, weil ihre Sorge trotz der Beschränkung nicht beschwichtigt war. Jetzt kam der Übergang zum zweiten Stadium. Er vollzog sich normal, an mehreren Steuerplätzen wurde nun intensiv gearbeitet, um wenigstens flüchtig alle Daten durchzusehen, auf die es ihnen ankam. Sie hatten dafür drei Minuten eingeplant, also eine Zeit, die kürzer war als die bisher erreichte Lebensdauer im zweiten Stadium. Die drei Minuten kamen Ruben vor wie eine Ewigkeit. Schließlich liefen aber doch die letzten Sekunden. Drei – zwei – eins – null … Das Bläschen war im Target verschwunden. Nicht reflektiert, aber auch ohne sichtbare Wirkung. Die Geschwindigkeit des Bläschens war diesmal bekannt, damit auch seine Energie, es konnte auf keinen Fall das Target durchschlagen haben, sondern mußte darin steckengeblieben sein. Explodiert war es auch nicht, das Target war so klein gehalten, daß eine Bläschenexplosion auch in seinem Innern meßbar gewesen wäre. Neun Sekunden, zehn, elf – da! Plötzlich glühte das Target auf, und gleich darauf verpuffte es. „Die Kettenreaktion!“ rief Akito. Ruben schaltete. Deutlich erschien auf einem kleinen Arbeitsschirm seines Pultes eine steile Glockenkurve. „ Übernehmt mal auf Schirm C – das ist die charakteristische Strahlungsemission bei der Bläschenexplosion. Sie haben sich vermehrt, sind aber alle explodiert.“ „Alle?“ fragte Akito ironisch.
„Gegen eine Kettenreaktion spricht die Dauer. Wenigstens gegen eine unvermittelte. Eine vermittelte aber kann man steuern!“ Es war Esther, der das sofort aufgefallen war. Ruben hielt sich immer noch aus dem Streit heraus. Er wollte möglichst viel erfahren über das, was sich da abgespielt hatte. Er betrachtete, nun aus der Konserve, das Leuchten des Targets im Spektrographen. Selbstverständlich herrschten dort die Linien des Wasserstoffs vor, daraus bestand ja das Target. Aber wenn auch schwächer, wurden doch andere Linien sichtbar; die des Heliums und, noch schwächer, die des Sauerstoffs. Später schien es ihm, als ob er bereits in diesem Moment geahnt hätte, was daraus folgen sollte. Jedenfalls, die grundsätzliche Idee durchfuhr ihn wie ein Blitz.
5 Innerhalb von vierzehn Tagen hatte Pauline erlebt, wie schnell man schwimmen lernt, wenn man ins Wasser geworfen wird. Sie hatte eine Idee gehabt, einen glücklichen Einfall, wichtig für die Untersuchung, zur rechten Zeit, am rechten Ort: Wenn, so hatte sie gesagt, einige Todesfälle auftreten nach dem mit mehreren Beispielen erhärteten Wandel vom Unglück zum Glück im Lebensalter um die Fünfzig oder knapp darüber, wenn also irgendwelche noch unbekannten Ursachen im Menschen selbst dies hervorrufen, dann konnte man damit rechnen, daß diese Ursachen bei sehr viel mehr Menschen wirken, vielleicht ohne Folgen, vielleicht mit weniger aufsehenerregenden Folgen, leichten Schwindelanfällen etwa oder ähnlichem, die niemand beachtet, auch der Betroffene nicht, weil sie sich nicht wiederholen. Wenn das aber zutraf, würde ein Langzeitversuch mit einer größeren Anzahl Menschen, die für so etwas anfällig sein konnten, weiterhelfen. Wenn man das. auf eine Stadt beschränkte, etwa Berlin, oder sogar nur auf ein oder zwei Stadtbezirke, sollte man die Dringliche Medizinische Hilfe einbeziehen, die medizinische Sektion der Universität, andere Kliniken und Forschungseinrichtungen. Und sicherlich würde man unschwer fünf- oder zehntausend Leute finden, die bereit wären, tagsüber einen Stirnring mit Elektroden für das EEG und einen Pulsmesser am Handgelenk zu tragen, deren Werte an eine Zentrale zu funken und vom Computer zu überwachen wären. Nach der inzwischen erfolgten grundsätzlichen Zustimmung des RR und des Schlichters zur Freigabe von Personaldaten im Rahmen dieses Problems gab es keine prinzipielle Schwierigkeit mehr, Paulines Idee in die Tat umzusetzen – nur einen gewaltigen Berg Arbeit. Die zu leisten oder leisten zu lassen, beauftragte Wenzel seine junge Mitstreiterin. Er hatte dafür mehrere Gründe. Einige Tage mußte er in Prag damit zubringen, laufende Arbeiten zu erledigen, die sich inzwischen angehäuft hatten. Danach wollte er wieder ins Vorwerk, den ganzen Fall Mohr noch einmal mit Sibylle und anderen durchgehen, weil ihm schien, daß er immer noch nur die Fakten, das Äußerliche, begriffen habe und nichts über die seelische Dynamik des Vorgangs wisse.
Der Hauptgrund aber, daß er Pauline die Aufgabe übertrug, ihre eigene Idee in die Tat umzusetzen, war perspektivischer Natur. Immer tiefer verdichtete sich in ihm die Gewißheit, daß dieser Fall sich ausweiten würde, mehr und mehr, über Zeit und Region hinaus, und daß die junge Frau, bisher beschränkt auf das Vorwerk, sich den Atem holen müsse für größere Aufgaben und Reichweiten. Bei welcher Gelegenheit sollte sie Enthusiasmus, Zähigkeit und Übersicht besser üben, als wenn sie eine eigene Idee verwirklichte – eine, die alle ihre Kräfte fordern, sie aber wohl nicht überfordern würde? So richtete also Pauline das Berliner Büro des Zweiten Gehilfen ein, was überhaupt keine Schwierigkeiten bot, da der hier amtierende Erste Gehilfe Raum und Informationsverbindungen aus seiner Reserve zur Verfügung stellte. Am selben Tag noch hatte sie mit der Gesundheitskommission der Stadt Verbindung aufgenommen, Rahmen und Prinzipien des Langzeitversuchs wurden festgelegt, und abends hatte sie schon mit ein paar maßgeblichen und kundigen Leuten zusammengesessen, um die technischen und organisatorischen Einzelheiten zu überdenken. Sie hatten sich auf dreitausend Teilnehmer am Versuch geeinigt; dazu mußte man etwa viertausend geeignete Personen finden, denn man mußte damit rechnen, daß nicht jeder einverstanden war, sich ein Jahr lang in Berlin aufzuhalten und dabei täglich einen Gerätesatz mit sich herumzutragen. Diese viertausend mußten etwa fünfzig sein, eine Wende vom Unglück zum Glück erfahren oder vor sich haben, ein Merkmal, dessen Vorhandensein und Echtheit schwer zu prüfen war. Dabei sollten Medizin- und Soziologiestudenten helfen, die das als Aufgabe ihres Studiums bekamen und die von Pauline genaue und treffende Informationen erwarteten. Die ersten zwanzig gingen bereits am nächsten Tag los, abends wurden ihre Erfahrungen mit dem nächsten Trupp debattiert, zwischendurch mußten Fragen der Produktion und Bereitstellung der dreitausend Gerätesätze für die Teilnehmer des Langzeitversuchs geklärt werden, hier und dort waren Absprachen zu treffen. Pauline arbeitete den ganzen Tag, und alles war ungewöhnlich: daß sie in all der Zeit das gleiche tat und es war doch immer wieder jede Minute etwas anderes. Das hatte sie, an die tägliche Abwechslung zwischen den drei Berufen gewöhnt wie die meisten Menschen, noch nie erlebt. Und sie ermüdete nicht etwa dabei, wie man doch denken sollte – im Gegenteil, das Gefühl, daß der Wirkungsbereich dessen, was sie tat, sich von Stunde zu Stunde ausdehnte, daß sie eine täglich wachsende Zahl von
Menschen und Dingen in Bewegung setzte – dieses bisher unbekannte Gefühl berauschte sie sogar ein wenig. Sie bemerkte das erst, als es plötzlich Schwierigkeiten gab, als am dritten Tag nicht mehr alles so leicht und wie von selbst lief. Aber sie bekam schnell heraus, daß sie bestimmte Bereiche für die Studenten ungünstig eingeteilt hatte und daß deshalb der Zustrom von Teilnehmern nachließ, und als sie die Schwierigkeiten überwunden hatte, stellte das angenehme Gefühl sich sogar noch stärker wieder her. Am fünften Tag abends wurde ihr vor dem Einschlafen plötzlich klar, daß sie sich nun schon über hundert Stunden, eigentlich nur durch knappen Schlaf unterbrochen, mit derselben Sache beschäftigte, ohne Kunst und Handwerk zu betreiben, ohne Sport und Entspannung, und daß es ihr nicht im geringsten lästig wurde. Das widersprach doch allem, was man in der Schule gelernt hatte, und sie dachte an Otto Mohr und Sibylle und daß sie die Physikerin vielleicht zum erstenmal zu begreifen begann, und dann schlief sie ein.
Nach etwa zehn Tagen hatten sich die Handlungen der beteiligten Personen und Gruppen so weit koordiniert, daß die Aktion gleichsam von
selbst weiterlief und Pauline nur noch die Ergebnisse entgegennahm. Zweitausend mögliche und bereite Teilnehmer waren gefunden, täglich war ein Zugang von etwa zweihundert zu erwarten. Plötzlich wurde es langweilig. Zu Hause hätte sie sich an Kostümentwürfe gesetzt, sie versuchte das auch hier, hatte aber nicht die Nerven dafür. Weil es wärmer wurde, die erste Hitzeperiode in diesem Jahr setzte ein, holte sie ein Stück Stoff und nähte sich etwas auf einer Maschine, die in der Boutique stand, aber auch das machte ihr nicht den gewohnten Spaß. Sie begriff, daß sie im Rahmen ihrer Aufgabe etwas gegen die Langeweile unternehmen mußte. Bei den verschiedenen Absprachen hatte sie schon öfter mit der Stadtbezirkszentrale der Dringlichen Medizinischen Hilfe zu tun gehabt, und sie hatte gleich zu Anfang gebeten, daß sie sofort benachrichtigt würde, wenn irgendwo ein Fall auftreten sollte, der den äußeren Merkmalen nach mit ihrem Forschungsgegenstand zu tun haben könnte. Sie rief an, erinnerte noch einmal an das Versprechen, und der Zufall wollte es, daß sich am selben Vormittag etwas Derartiges ereignete; bei Umrüstungsarbeiten an einem vollautomatischen Industriebetrieb war eine etwa fünfzigjährige Computerspezialistin zusammengebrochen. Pauline dankte für die Nachricht, suchte auf dem Stadtplan, den sie an die Wand gehängt hatte, den Betrieb, er war nicht weit weg. Sie hinterließ eine Nachricht für die Studenten, fuhr nach unten und nahm sich eins der herumstehenden E-Taxis. Zwanzig Minuten später stand sie vor dem Gebäude. Von einem Industriebetrieb hatte sie kaum eine Vorstellung, zumal ja auch Menschen darin normalerweise nichts zu suchen hatten. Daß aber hier etwas Ungewöhnliches im Gange war, das sah sie wohl: Auf der Laderampe, auf der sonst die von der Automatik produzierten Maschinen, in Containern verpackt, zum Abtransport bereitgestellt wurden, standen Kraftwagen verschiedener Größe und Bestimmung, Personenwagen darunter, Arbeitswagen, andere, deren Funktion nicht sofort zu bestimmen war. Das Ausgabetor war offen, Kabel liefen hinein, Leute in einem sonderbaren, enganliegenden Dreß bewegten sich davor, zwei kamen heraus, einer ging hinein, ein weiteres Kabel hinter sich herziehend – sicherlich nicht gerade ein Menschengewimmel, wenn man an historische Fabriken dachte, aber vor dem Ausgang einer vollautomatischen Fabrik absolut ungewöhnlich.
Pauline schritt die Front der Wagen ab und kam an einen, bei dem eine kurze Trittleiter zu einer Tür hinaufführte, und an der Tür klebte eine Art Betriebsschild mit einer Abkürzung, die sie nicht kannte. Das war wohl die Zentrale des Unternehmens. Sie klopfte an und trat ein, nachdem jemand drinnen kräftig dazu aufgefordert hatte. Sie sah einen Mann in den Vierzigern, umgeben von einer unwahrscheinlichen Menge Papier, an den Wänden hing es, auf dem Tisch und dem Boden lag es, zwei Hocker waren vollgestapelt; meistens schien es sich um Karten oder Grundrisse zu handeln, wahrscheinlich wohl von dieser Fabrik. „Warten Sie, gleich“, sagte der Mann und verfolgte irgend etwas mit großer Intensität auf der Karte, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte, „ich stehe Ihnen gleich zur Verfügung, Fremdling, aber Sie müssen entschuldigen, unsere Leute klopfen nicht an, und wenn Sie keiner von uns sind, ist das, was Sie herführt, weniger wichtig, so, das war’ s“, er sprach plötzlich lauter, und da sah Pauline, daß er ein Mikrofon am Jackenaufschlag trug, „Rudi, sieh dir mal die Reihe dreizehn an, die bestand ursprünglich aus sieben Aggregaten, stell bitte die Nummern von den sechs fest, die noch da sind.“ Jetzt endlich schaute der Mann hoch, und offensichtlich freute er sich über Paulines Anblick, er schluckte und sagte dann: „Da kommt der Sommer ins Haus, und man sieht nicht einmal auf! Kommen Sie aus der Modebranche?“ Pauline mußte lachen – solchen Erfolg hatte sie sich von dem Fummel, den sie sich gerade genäht hatte, wahrhaftig nicht versprochen. Und von sich selbst schon gar nicht. „Ich bedanke mich“, sagte sie, „aber was mich herbringt, ist nicht so erfreulich. Hier war ein Unfall?“ „Unfall?“ „War hier nicht die DMH angefordert worden?“ Der Mann lachte wieder. „Ein Irrtum. Zum Glück. Wissen Sie, wir sind sonst ein eingespielter Haufen, nur einer war neu, der hat die Elke, das ist unsere Computerspezialistin, also, wie soll ich sagen, die Elke war gerade trans, da kam er dazu und dachte, sie sei zusammengebrochen.“ „Was ist ‚ trans‘ ?“ fragte Pauline, die sich nicht eingestehen wollte, daß sie sich den Weg umsonst gemacht hatte, und nun wenigstens neugierig sein wollte.
„Am besten fragen Sie die Elke selbst, Sie finden sie in dem großen Wagen, wo die meisten Kabel hinführen, es ist völlig ungefährlich, Lichtleiterkabel.“ Er fingerte am Rockaufschlag und sprach: „Elke, hallo, Elke, da kommt jemand zu dir!“ Pauline bedankte sich und kletterte wieder hinunter. Den Wagen fand sie schnell, nur den Eingang nicht, aber da öffnete schon eine etwas hagere Frau, das Alter war schwer zu schätzen, aber sicherlich war sie schon weit über die Fünfzig hinaus – Pauline fiel in diesem Moment auf, daß sie sich angewöhnt hatte, alle Leute, die ihr begegneten, daraufhin zu betrachten, ob sie zu den Fünfzigern, also zu der sie interessierenden Gruppe, gehörten. Die Frau reichte ihr die Hand und zog sie mit einem kräftigen Ruck zu sich hinauf. „Elke Wichmann!“ stellte sie sich vor. Pauline erklärte, was sie hergeführt, und auch, daß sie schon erfahren habe, was geschehen sei, und daß sie nun eigentlich keinen Grund mehr habe außer Neugier. „Ein guter Grund“, meinte die Frau lachend; dann wurde sie ernster. „Was wir hier machen, geschieht so selten, und es gibt so wenig Leute, die überhaupt davon wissen, daß uns Neugier gar nicht unwillkommen ist. Immerhin sichern wir ein paar hundert Jahre Zukunft. Was hier gerade ausgeschlachtet wird, ist die erste Hundertjährige. Die erste automatische Fabrik, die hundert Jahre ohne Korrektur gelaufen ist.“ Pauline fühlte sich daraufhin betrachtet, was sie wohl für ein Gesicht machen würde bei dieser Eröffnung, und sie wußte, daß es sicherlich nicht spontanen Jubel zeigte – sie war auf diesem Gebiet unwissend und hatte keinen Grund, das zu verbergen. „Da hat die – die Fabrik hundert Jahre das gleiche produziert?“ fragte sie. „Die Menschheit lebt von der Automatik“, sagte Elke Wichmann mit gespielter Empörung, „aber es kümmert sie nicht, wie die arbeitet! Innerhalb eines vorgegebenen Rahmens – hier Schwermaschinenbau – können Sie, also kann die Wirtschaftskommission alles bestellen, was denkbar ist, und nach den vom Menschen vorgegebenen Parametern organisiert die Zentralsteuerung Konstruktion, Technologie und Produktion der bestellten Maschinen.“ „Schon gut, Sie merken ja, ich habe keine Ahnung“, sagte Pauline. „Und was ist ‚ trans‘ ?“
„Schwer zu erklären“, sagte die Computerspezialistin. „Vielleicht so: Die Maschinen und Aggregate sind nach der geplanten Zeit physisch weitgehend verschlissen; übrigens sind die auch nicht alle hundert Jahre alt, im Lauf der Zeit werden selbstverständlich auch Teile von Anlagen ausgewechselt, teils produziert die Fabrik sie selbst, teils bestellt sie sie bei anderen Fabriken. Aber absolut nicht verschlissen, sondern eigentlich erst richtig fit ist die Zentralsteuerung, der Computer. Ist doch klar – er sammelt hundert Jahre Erfahrungen, steuert die Produktion immer rationeller und effektiver, und dann – wird er abgeschaltet. Da geht etwas verloren. Also muß man irgendwie herausfinden, was daran wertvoll ist und wie man es herausholen, aus der Masse der Strukturen und Speicherinhalte herauspräparieren kann. Dazu bedienen wir uns, ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll, einer Art Musik. Meine Anlage hier im Wagen tastet die Zentralsteuerung ab und übersetzt die Ergebnisse in Töne, und an dem gesamten Tonstrom erkenne ich interessante Strukturen und, wenn ich Glück habe, auch Kreuzungspunkte im Bahnennetz der Steuerung. Dieses Hineinhorchen nennen wir trans, Abkürzung aus Translation des Endzustands.“ „Das kann sicherlich nicht jeder“, sagte Pauline mit leiser Bewunderung. „Es ist erlernbar“, sagte Elke Wichmann trocken. Doch dann lachte sie auf, unmotiviert, wie es Pauline schien. „Angefangen hab ich an Einjährigen, dann weiter trainiert an Zehn- und Zwanzigjährigen. Aber was mir diese erste Hundertjährige heute geboten hat – ich war eigentlich mehr im Tran als im Trans, daher auch der Irrtum, daß sie die DMH gerufen haben.“ „Im Tran – was ist das nun wieder?“ „Das ist Jargon. Von mir. Ich meine, ich habe geschlafen. Oder so etwas Ähnliches. Die Musik aus dem Translator hat mich in eine Art Hypnose versetzt.“ „Das ist ein gefährlicher Beruf!“ sagte Pauline halb im Scherz, halb in ernstem Respekt. „Gefährlich kaum, aber ein bißchen abenteuerlich schon. Was meinen Sie, weshalb ich jetzt mit Ihnen schwatze? Ich brauche Abstand, ich kann die Translation nicht knacken, ich hab noch nie etwas so Kompliziertes gehört, ich muß sie vielleicht noch fünf-, sechsmal hören, ehe ich
da etwas erkenne. Und dazu muß mir noch ein Mittel einfallen, wie ich diese Hypnose vermeide.“ „Dann haben Sie wohl eine Aufzeichnung von der Musik?“ „Ja, aber sagen wir lieber: Geräuschfolge.“ „Kann ich sie mal hören?“ bat Pauline. „Sie? Sie hören da nichts heraus. Dazu braucht’ s Übung.“ „Nur Neugier. Außerdem können Sie ja dann sehen, ob ich auch hypnotisiert werde.“ Der letztere Grund fiel Pauline gerade noch ein; den wirklichen Grund sagte sie nicht, weil sie nicht in die Lage kommen wollte, die ganze lange und komplizierte Geschichte ihrer Aufgabe erzählen zu müssen. Ihr war nämlich eine Parallele eingefallen: Otto Mohrs Raumteiler und diese Translation beeinflußten beide die Psyche eines Menschen über Geräusche. „Ich möchte doch nicht“, sagte Elke Wichmann, „ich weiß letzten Endes nicht genau, ob das absolut unschädlich wäre für jemanden, der auf diese Dinge nicht trainiert ist.“ „Gut“, stimmte Pauline zu, und sie sprach genauso friedlich und ohne jede Schärfe: „Sie senden bitte eine Kopie der Aufzeichnung an den Zweiten Gehilfen des RR, Berliner Büro, Berlin-Mitte, hier die Rohrpostnummer.“ Sie schrieb die Nummer auf einen Zettel und sagte dann zu der leicht erstaunten Computerspezialistin: „Würden Sie mir bitte noch zwei Fragen beantworten, auch wenn sie Ihnen vielleicht seltsam vorkommen? Bitte glauben Sie mir, daß sie wichtig sind im Rahmen einer allgemeinen Untersuchung!“ „Ja gern.“ „Wie alt sind Sie?“ Elke Wichmann hob die Augenbrauen. „Einundsechzig.“ „Dann gehören Sie nicht mehr zum betroffenen Personenkreis. Trotzdem noch die zweite Frage: Sind Sie in den letzten Jahren über einen längeren Zeitraum hinweg unglücklich gewesen?“ „Nein“, sagte die Frau und runzelte die Stirn. „Das geht mir nun aber doch zu weit“, fügte sie ärgerlich hinzu. „Was berechtigt Sie, mir solche Fragen zu stellen?“
„Oh, ich vergaß“, sagte Pauline sanft, „ich vergaß zu sagen, daß Sie selbstverständlich nicht zu antworten brauchen, wenn Sie nicht wollen. Auf Wiedersehen!“ Psychologe, Physiologe, Mathematiker, Physiker, Ästhetiker – aus diesen Fachrichtungen setzte sich die Forschungsgruppe zusammen, die jetzt in Mohrs Haus arbeitete, um den Raumteiler und seine Effekte zu untersuchen. Und alle wohnten auch dort – zum Abtransport des Raumteilers wollten sie sich erst entschließen, wenn die wichtigsten Fragen geklärt waren, denn man befürchtete, daß das Kunstwerk in anderer Umgebung nicht so wirkte wie hier. Da also das Haus voll war und ein ungestörtes Gespräch eigentlich nirgends möglich, hatte Sibylle Wenzel zu einem Spaziergang eingeladen, um sich zu verabschieden – sie war als Schlichter nach Gagarin gerufen worden und mußte am selben Abend abreisen. Das Bedürfnis nach einem solchen Gespräch hatten beide; wahrscheinlich hätten sie auch ohne den Raumteiler bemerkt, daß zwischen ihnen eine etwas tiefere Beziehung entstanden war als sonst zwischen Leuten, die gelegentlich eine Weile miteinander arbeiten. Es regnete stark, aber das störte sie nicht. Sie gingen durch den Wald, in dem seit anderthalb Jahrhunderten die Bäume der verschiedensten Arten durcheinander wuchsen, manche schon im voll entfalteten Schmuck ihres Laubs, manche erst in hellem Grünschimmer aufbrechender Knospen, dazwischen immer wieder das dunkle Leuchten der Nadelhölzer. Sie gingen nebeneinander, sie sahen das gleiche, hörten das gleiche, gingen im gleichen Schritt, sie sprachen nicht miteinander und wußten doch einer vom andern, was er dachte. Sie hatten die körperliche Nähe bisher vermieden, nicht weil sie ohne Begehren waren, sondern weil sie hinter diesem Begehren etwas Tieferes sahen, die Möglichkeit und Gefahr einer großen, nur unter großem Schmerz trennbaren Liebe. Je länger sie nebeneinander gearbeitet hatten, um so deutlicher hatte jeder gefühlt, daß er in dem anderen eine fast ideale Ergänzung hatte, bis an die Grenze des Träumbaren; nur daß sie nicht miteinander leben konnten, ohne daß einer seinen Beruf aufgab, also den von den drei, der für ihn die Lebensaufgabe ausmachte; und dieser Verzicht, das hatten sie beide schon einmal erfahren, würde die
Trennung erzwingen. Und einmal im Leben eine solche Trennung reichte aus, meinten sie. Es war ihnen, als könnte jeder die Gedanken des anderen hören, als sprächen sie wirklich miteinander, in Rede und Gegenrede; ja, sie hatten sich mit diesem Spaziergang die Gelegenheit geschaffen, das entscheidende Wort zu sprechen, aber sie waren losgegangen mit dem untrüglichen Gefühl, daß dieses Wort nicht gesprochen werden würde. Für Sibylle stand fest, daß sie ihre wissenschaftliche Arbeit, die sie an Gagarin im Raum und Sternenstadt auf der Erde band, nicht aufgeben konnte, ohne sich selbst aufzugeben. Während sie sich in dieser Hinsicht absolut sicher war, befand sich Wenzel im Zustand völliger Unsicherheit. Es war unvorhersehbar, wohin ihn diese Untersuchung führen würde; aber er war ziemlich sicher, daß sie sein weiteres Leben bestimmen würde. Vielleicht würde sie ihn umhertreiben auf allen Kontinenten. Eigentlich waren sie beide, gemessen an ihrem Zeitalter, unnormale Menschen. Für die überwiegende Mehrheit war das harmonische Gleichgewicht zwischen den drei Berufen und der Familie normal, mit einer leichten Überbetonung des Künstlerischen vielleicht; eine das ganze Leben bestimmende Aufgabe war selten, so selten, daß die meisten mit diesem Problem überhaupt nicht in Berührung kamen. Auch Wenzel hatte bisher so gelebt; in seiner Vorstellung hatte er sich am Ende dieses Jahrzehnts als Lehrer gesehen. Jetzt hatte er eine Wendung vollzogen – nein, er wußte nicht mit der sonst üblichen Sicherheit, was nun wirklich kommen würde, aber er brauchte nur zu summieren, was er in den vergangenen Wochen getan und nicht getan hatte: Seinen Dienst hatte er getan, und das ausschließlich; keine Zauberei, kein Handwerk hatten ihn beschäftigt. Und das würde gewiß wenigstens für das kommende Jahr im wesentlichen so bleiben; denn wenn er morgen nach Berlin ging, würde die eigentliche Arbeit erst beginnen. Konnte er denn jetzt sagen: Ich übergebe alles, gehe mit nach Gagarin, irgend etwas werde ich dort schon zu tun finden – konnte er das, ohne sich selbst als Persönlichkeit zu verlieren? Und durfte er ein entsprechendes Opfer von ihr annehmen, falls sie es hätte bringen wollen? Substanzverlust des einen Partners zerstörte immer auch den anderen. Man konnte sich das so erklären, aber man konnte auch einfach auf die Furcht lauschen, die sich auftat bei dem Gedanken, einander zu verlieren, und die deutlicher warnte als alle rationellen Ableitungen.
Freilich, wenn sie etwas begonnen hätten miteinander, in diesen Wochen, dann wäre vielleicht eine Bindung entstanden, die sie nicht mehr hätten auflösen können, und die Konflikte hätten sie beherrscht statt umgekehrt. Blieb noch die Frage, ob sie sich nicht etwas vormachten, beide, wenn sie so dachten und fühlten und unentschlossen blieben. Denn das entscheidende Wort, zu dem jetzt Gelegenheit war, hätte ja auch ein Wort der endgültigen Trennung sein können, der Aufgabe, des Verzichts. Dazu aber war ihr Fühlen nicht bereit, und kein noch so schlüssiger Gedankengang hätte sie dazu gebracht. Etwas von diesem sehr zurückgehaltenen Erleben miteinander wollten sie sich bewahren, als Hoffnung, und sei es als vergebliche, die nach und nach erlischt … „Halt!“ Wenzel griff nach Sibylles Arm, aber auch sie war stehengeblieben, im Gebüsch hatte es geknackt, und dann wechselte zehn Meter vor ihnen Muffelwild über den Weg. Sie sahen den Tieren nach, bis sie im Wald verschwunden waren, der auf dieser Seite etwas lichter war. „Wo waren wir stehengeblieben?“ fragte Wenzel. „Bei der Hoffnung“, sagte Sibylle. Sie gingen weiter. Bald aber hatte Wenzel das Gefühl, daß ihre Gedanken und Gefühle nun nicht mehr gleich liefen; und es war ja auch alles gedacht, was hätte gesagt werden können. „Wollen wir umkehren?“ fragte er. „Was den Weg betrifft, ja, meinetwegen!“ sagte Sibylle. Ruben war dahintergekommen, daß dieses verdrießliche Gefühl, das ihn jedesmal in Gagarin packte, wenn wie jetzt die Experimente unterbrochen wurden, alles andere als Langeweile war. Es war etwas anderes gewesen, was ihn auf die Venus getrieben hatte oder nun wieder zum Versorgungsflug für die Marsstation. Wenn er mit den anderen gemeinsam experimentierte, am Blastron I, dann war dieses Gefühl so weit in den Hintergrund gedrängt, daß er es nicht mehr wahrnahm; sobald diese fesselnde Tätigkeit aber unterbrochen wurde, ergriff ihn die Unruhe von neuem. Erst auf dem Flug zum Mars wurde ihm klar, was ihn antrieb. Er hatte die Zukunft seiner großen Idee, der Besiedlung der Esther, der weiteren Entwicklung anvertraut, sowohl der objektiven als auch seiner eigenen,
da aber Entwicklung sich in Form von Zufällen durchsetzt, mußte er sich nicht wundern, wenn seine Seele ständig nach geeigneten Zufällen suchte, überall, also auch während solcher Pausen wie jetzt. Weshalb flog er also zum Mars? Er wollte wissen, wie die Leute dort lebten, nachdem er schon einiges, wenn auch sicherlich längst nicht alles oder vielleicht nicht einmal das Wichtigste, über das Leben auf der Venus erfahren hatte. Der Flug selbst hatte freilich einen anderen Zweck: Turnusmäßig sollte die Station Mars Zwei mit neuem Personal und Material versorgt werden. Da die Landung auf dem Mars im Vergleich zu Erde und Venus kinderleicht war, hatte er außer den zwei Ablösern keine Besatzung an Bord; selbstverständlich hatte einer der beiden auch ein Pilotendiplom, und bei den Abgelösten würde auch einer sein, der ein Raumschiff fliegen konnte, so daß der grundlegenden Forderung nach Doppelbesetzung Genüge geleistet wurde. Der Flug selbst dauerte mit den neuen Antrieben des planetarischen Verkehrs und auch, weil der Mars gerade in Opposition stand, nur etwas über einen Tag. Da ein Teil davon noch verschlafen wurde, kam nicht viel Unterhaltung auf. Ruben wußte zwar, daß die beiden Fluggäste schon mehr als zwei Jahre Marszeit hinter sich hatten, aber er hätte nicht gewußt, wonach er sie hätte ausfragen sollen, wenn ihm das nicht sowieso ein Greuel gewesen wäre. In einem Punkt schienen sie sich jedenfalls wesentlich von den Venusleuten zu unterscheiden, das hatte er aus kurzen Bemerkungen und Wortwechseln zwischen den beiden, die sich ja kannten, schon mitbekommen: Die beiden hatten keine Sehnsucht, für immer auf dem Mars zu bleiben, und empfanden ihren Urlaub auf der Erde als Erholung – ja, sie gebrauchten dieses altertümliche Wort für mehrwöchige Dienstpausen, die es auf der Erde nur noch selten gab, wenn man die Wander- und Reiseperioden in der Jugend nicht dazu rechnen wollte. Ruben hatte seine Schlafzeit in die Mitte des Fluges verlegt, gleich nach dem Wenden und dem Beginn der Bremsung. Als er wieder aufstand, peilte er den areostationären Satelliten an, der über der Station geparkt war, auf fünf Grad südlicher Breite und fünfundneunzig Grad Länge, in dem Rillengebiet am Westende des Kanals Coprates, wo die Sonne für Marsverhältnisse schön warm war und Stürme so gut wie nie auftraten –
vielleicht einmal in zwei Jahren. Die Station war die einzige auf dem Mars, die Zwei in ihrem Namen besagte nur, daß sie eine primitive Vorgängerin gehabt hatte, die aber am selben Platz gestanden hatte. Sie diente gemeinsam mit den zwei umlaufenden und dem stationären Satelliten vor allem der Erforschung des Planeten. Aber diese Arbeit der Datenermittlung hätten letztlich auch Automaten leisten können, wenn noch nicht bei ihrer Begründung vor fünfzig Jahren, so doch jetzt, da man weit vollkommenere Automatensysteme zur Verfügung hatte. Am Leben gehalten als von Menschen besetzter Stützpunkt wurde die Station vor allem durch die Autorität zweier Wissenschaftler, die dort arbeiteten, Vater und Mutter der heutigen Planetologie, die alle heute tätigen Planetologen ausgebildet hatten und die den Standpunkt vertraten, ein Planetologe müsse wenigstens einen Planeten außer der Erde etwas genauer kennen. Mehrmals war dieser Standpunkt als veraltet angegriffen worden, immer dann, wenn es Schwierigkeiten irgendwelcher Art gegeben hatte, aber jedesmal hatten die beiden, von ihren Schülern unterstützt, sich durchgesetzt. Selbstverständlich kannte auch Ruben die beiden, Joan und Pete Takaroru, und auch er war ihnen nicht unbekannt, wie er feststellte, als Pete sich meldete und ihn ansprach. „Daß Sie es sind, freut mich“, sagte der alte Mann, dessen weißes Haar mit den goldbraunen Tönen seiner Haut angenehm kontrastierte. „Es erleichtert mir, meine Bitte vorzubringen.“ „Eine Bitte? Schon erfüllt!“ antwortete Ruben. „Nicht so hastig. Erst einmal muß ich Sie warnen und Ihnen freistellen, ob Sie überhaupt landen wollen oder nicht. Es ist nämlich leider eben der seltene Fall eingetreten, daß wir einen Orkan erwarten, voraussichtlich in sechs bis sieben Stunden. Sie können ihn auf der Parkbahn abwarten, er wird maximal drei Tage dauern, es ist nur ein winziges Orkänchen.“ „Ich lande“, sagte Ruben. Wenn es schon nötig war, dann wollte er die drei Tage auf der Station verbringen.
„Dachte ich mir“, sagte der Planetologe. „In diesem Fall meine Bitte. Drei unserer Leute sind auf einer Expedition am Südwesthang des Mons Olympicus. Wäre es Ihnen möglich, dort zwischenzulanden und sie aufzunehmen? Es ist ein bißchen unwirtlich draußen, wenn ein Orkan tobt. Sie geben Ihnen Funkpeilung und richten einen Landeplatz ein.“ „Geht in Ordnung, mit unserer Jolle können wir überall landen.“ Tatsächlich würde die Zeit knapp werden, er konnte die Flugdauer noch etwas verringern, wenn er später und heftiger bremste, aber trotzdem durfte der Sturm nicht allzu früh losbrechen. Notfalls aber konnte er sogar im Orkan landen, diese Stürme auf dem Mars erreichten zwar kaum vorstellbare Geschwindigkeiten bis zu dreihundert Kilometer in der Stunde, dafür aber war der Luftdruck so gering, daß die auf das Schiff ausgeübte Kraft nicht nennenswert war. Nur die Navigation wurde dann schwierig – die Sicht war durch den Sandgehalt der Luft genommen, und das Radar wurde durch elektrische Entladungen gestört, die über die ganze Breite der Radiofrequenzen wirkten. Etwa eine Stunde vor Ausbruch des Sturms landeten sie am Hang des riesigen Berges, des größten im ganzen Sonnensystem, und nahmen die drei auf. Eine halbe Stunde später stand das Raumschiff vor der Station, Ruben fuhr sogleich die Stützen aus und legte es lang hin, damit es dem Sturm nicht soviel Fläche bot. Pete Takaroru drängte, sie sollten hereinkommen und die Entladung bis nach dem Sturm verschieben, und Ruben, der noch alle Systeme abschalten und die kälteempfindlichen konservieren mußte, spürte tatsächlich schon den ersten leichten Druck des Windes, als er zur Station ging. Zuerst hatte er nur Augen für die Einrichtung der Station, aber dann fiel ihm auf, daß der geschäftige alte Mann, der hier etwas schaltete und dort etwas überprüfte, anscheinend der einzige Mensch war, mit dem er hier zu tun hatte – alle anderen, auch die, die er mitgebracht hatte, und ebenso die Fluggäste vom Mons Olympicus, waren verschwunden. „Ich hätte gern Ihre Frau begrüßt“, sagte Ruben schließlich, „wenn ich schon einmal hier bin …“ „Nach dem Sturm“, sagte Pete, „sie ist schon im Nirwana. Ach ja, ich erkläre Ihnen das gleich, ich muß nur noch ein paar dringende Handgriffe erledigen.“
Die paar Handgriffe bestanden offenbar vor allem darin, Licht zu löschen und andere Systeme abzuschalten. Bald sah Ruben ihn nur noch schattenhaft. „Ihr Raumanzug ist doch heizbar?“ fragte Pete plötzlich. „Gut, ich setze mich jetzt zu Ihnen und erzähle Ihnen noch, was hier vor sich geht, danach ziehe ich mich auch zurück. Sie müssen wissen, die Station hat keine eigene Energiequelle. Braucht sie auch nicht. Das Sonnenlicht reicht hier, am Äquator, aus, um am Tage eine freundliche Zimmertemperatur zu erzeugen und über unsere Solarzellen so viel Energie zu liefern, daß wir die Station betreiben und auch noch in unseren Akkus genug für die Nacht speichern können, wenn draußen minus vierzig Grad sind. Kommt aber nun ein Sturm, dann dürfen wir nachts nicht heizen, da wir ja am Folgetag noch nicht wieder aufladen können. Volle Akkus reichen aus, um vierzehn Tage lang den Kern der Station auf einige Grad über Null zu halten, wobei Menschen und Algen zwar nicht produzieren, aber überleben können. Da die Algen weder Sauerstoff noch Nahrung produzieren, müssen auch die Menschen aufhören zu essen und zu atmen. Das nennen wir Nirwana. Entschuldigen Sie die Anleihe bei einer der alten Religionen. Die Methode ist letzten Endes auch daher übernommen – die indischen Fakire haben jahrtausendelang das Geheimnis gekannt, wie man die Körperfunktionen herabsetzt, daß man sich sozusagen einige Tage lang begraben lassen kann; wir haben das nur übernommen. Na ja, und zu einer rationellen Methode ausgebaut, die natürlich Training braucht. Sie können das ohne weiteres nicht, deshalb bleiben Sie in Ihrem geheizten Raumanzug, soviel liefern die Akkus schon, der Sturm wird höchstens drei Tage dauern. Die Luft wird wohl auch reichen, wenn es knapp werden sollte, hier sind Patronen für etwa achtundvierzig Stunden. Gewisse Reserven haben wir natürlich auch. Alles klar?“ Ruben war doch ein wenig verwirrt. „Nein, eigentlich gar nichts“, sagte er, „aber das werden Sie ja wohl auch nicht erwartet haben. Ich will mich mal bemühen, jetzt nur die notwendigsten Fragen zu stellen. Also – schlafen kann ich, ja?“ „Soviel Sie wollen. Stellen Sie aber trotzdem den Notwecker in Ihrem Anzug. Für den Fall, daß Temperatur oder Luftzusammensetzung außer Kontrolle geraten.“ „Wie werden Sie wach?“
„Einer wird automatisch geweckt, in diesem Fall meine Frau. Das ist aber nur eine zusätzliche Sicherheit, meistens werden wir von selbst wach, nach Ablauf der Zeit, die wir uns vorgenommen haben.“ „Und wenn der Sturm länger als vierzehn Tage dauert?“ „Tut er nicht. In dieser Gegend nicht. Deshalb liegt die Station ja hier. Da sind ein paar Bücher, dort Getränke, zum Essen nehmen Sie bitte die eiserne Ration aus Ihrem Anzug, und nun alles Gute, lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden!“ Wenzel Kramer war sicher gewesen, daß Pauline ihre Aufgabe bewältigen würde, aber als er nun erlebte, was sie tatsächlich geleistet hatte, erkannte er, daß selbst er mit seinen Erfahrungen auf organisatorischem Gebiet das Ausmaß der Arbeit unterschätzt hatte und daß er Pauline damit nicht hätte allein lassen dürfen und daß sie es trotzdem geschafft hatte, der Himmel mochte wissen, wie. Das Holokino war gebaut wie ein kleines Fußballstadion oder wie ein Zirkus – ringsherum Plätze und in der Mitte eine freie Fläche. Das Ganze war ein Saal mit viertausend Sitzplätzen, auch Kongresse wurden hier manchmal abgehalten und eine besondere Art Theater aufgeführt, das auf das Guckkastenprinzip der Bühne verzichtete. Heute saßen etwas mehr als dreitausend Menschen im Saal, die Teilnehmer des Langzeitexperiments ATTACKE und ihre Betreuer, zweihundert Studenten, also einer für je fünfzehn Teilnehmer. In der Mitte aber, auf der freien Fläche, stand Pauline mit einem älteren Mann, das mußte wohl der leitende Mediziner sein, Wenzel kannte ihn nicht, er war gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um Pauline kurz zu begrüßen und dann in der Menge Platz zu nehmen. Irgend etwas war sonderbar an dieser Menschenmenge, und Wenzel rätselte eine ganze Weile herum, bis er auf den einfachen Grund kam, der den Eindruck der Seltsamkeit hervorrief: Die Leute waren alle fast gleichaltrig, ausgenommen natürlich die Studenten. In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß er selbst ja auch in diese Menge paßte, wenigstens, was das Alter betraf, denn sonst … War er unglücklich gewesen über längere Zeit? Nein. Stand ihm ein besonderes Glück bevor? Kaum, wenn man erfolgreiche Entdeckungen, auf die er hoffte, nicht als Glück bezeichnen wollte. Nein, was er Glück nennen würde, das fand wohl vor-
erst nicht statt; er dachte an den Abschied von Sibylle Mohr. Also war er wenigstens auch kein Kandidat für dieses medizinische Experiment. Jetzt schaltete Pauline, die sich noch mit dem Mediziner unterhalten hatte, das Mikrofon ein und hob den Arm. Das leise Gesumm, das in der Halle schwebte, verklang. „Es geht jetzt gleich los“, sagte Pauline, offensichtlich bemüht um einen lockeren Ton, „aber wie immer muß vorher noch einer reden. Ich möchte mich noch mal bedanken bei Ihnen für Ihre Teilnahme, ohne alle Feierlichkeit, aber im vollen Bewußtsein der Bedeutung. Wir wollen gemeinsam einer Gefahr beikommen, die den Menschen droht. Sicherlich nur einigen von zehn Milliarden Menschen, aber das reicht ja. Jeder von Ihnen wird somit gewiß ein Lebensretter, und wenn die Auswertung zu entsprechenden Schlußfolgerungen führt, was wir alle hoffen, dann werden Sie auch erfahren, wem Sie als erstem das Leben gerettet haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Ihr eigenes Leben in Gefahr ist. Statistisch sind die Fälle viel seltener, als daß wir damit rechnen können, unter dreitausend Menschen innerhalb eines Jahres einen solchen Fall zu haben. Wenn aber doch, dann wird Ihr Leben gewiß gerettet, denn die Ärzte werden Sie innerhalb von Minuten erreichen. Die Mediziner hoffen aber, daß wenigstens ein oder zwei Fälle auftreten, die Sie selbst wahrscheinlich nur als momentanes Unwohlsein registrieren würden. EEG und EKG dieses kurzen Zustands jedoch werden ihnen sagen, worum es sich überhaupt handelt und wie weitere Forschungen angelegt werden müssen. Ich möchte nun wiederholen, wozu Sie sich bereit erklärt haben. Sie legen jeden Morgen den Reifen um den Kopf und das Armband um das rechte Handgelenk und nehmen sie erst beim Schlafengehen wieder ab. Sie können damit baden, in der Sonne liegen oder in der Sauna; was Sie wollen, nur nicht gerade mit einem Hammer draufhauen. Sie werden in diesem einen Jahr ab heute – dafür bedanken wir uns besonders – wegen der Funkreichweite der Geräte Ihren Stadtbezirk nicht verlassen. Gibt es zwingende Gründe, daß Sie eine dieser Vereinbarungen nicht einhalten können, wenden Sie sich an Ihren Betreuer – wir treffen dann Sonderregelungen. Sollten Sie aus irgendeinem Grund in ärztliche Behandlung gehen, teilen Sie dem Arzt als erstes mit, daß Sie Teilnehmer dieses Experiments sind.
Genug geredet. Sie sehen jetzt hier gleich ein Stereotelebild unserer Zentrale, die die Sendungen Ihrer Reifen und Armbänder entgegennimmt und auswertet.“ In der Mitte der Arena erschien das Hologramm eines Computerpultes in starker Vergrößerung. Eigentlich gab es hier nichts zu sehen, und es würde nicht viel mehr werden, wenn das Experiment anlief – flackernde Lämpchen und hellgrüne Kurven auf Bildschirmen hatte schließlich jeder schon mal betrachtet. Aber Pauline und die leitende Gruppe des Experiments hatten sich eine stärkere Bindung der Teilnehmer an den Versuch versprochen, wenn der Beginn auch optisch erlebbar war. „Ich werde jetzt am Rand der Bildfläche entlanggehen, den vollen Kreis, und diejenigen Teilnehmer, die jeweils auf meiner Höhe sind, beginnen mit dem Anlegen des Armbands und des Reifens, in dieser Reihenfolge bitte. Sie können dann auf dem Bild verfolgen, wie die Anlage zu arbeiten beginnt.“ Sie lief zum Rand der Bildfläche, drehte sich zur Seite und sagte: „Jetzt!“ Mit langsamen Schritten setzte sie sich in Bewegung. Es war, als ginge eine Lichterwelle über den Computer, und als Pauline den Kreis geschlossen hatte, leuchtete oben auf der Anlage ein grünes Licht auf. „Das wird von jetzt ab immer leuchten, solange nur ein Teilnehmer angeschlossen ist. Nur wenn Unregelmäßigkeiten auftreten, und zwar solche in gefährlichem Ausmaß, wird es rot leuchten. Wir hoffen, daß das nicht geschieht. Nochmals also unsern Dank an alle, auch an die vielen Helfer und Betreuer. Damit ist unsere Eröffnung zu Ende, wenn Sie wollen, können Sie noch ein Holoprogramm sehen mit ausgewählten interkontinentalen Beiträgen, es beginnt in fünf Minuten.“ Pauline schaltete das Mikrofon ab und ging die Stufen hinauf in der Nähe des Sektors, in dem Wenzel saß. Er stand auf und lief ihr entgegen. „Na, hat die Arbeit geschmeckt?“ fragte er. „Toll!“ sagte Pauline mit so viel Inbrunst, daß Wenzel lächeln mußte. „Du siehst aber doch ein bißchen mitgenommen aus“, stellte er besorgt fest. „Ja, einen Kaffee könnte ich brauchen. Hier in der Nähe weiß ich eine ganz kleine Kaffeestube, gehen wir?“
Wenzel stimmte zu, und sie verließen das Holokino. „Und deine Arbeit?“ fragte sie, als sie auf die Straße traten. „Ich habe viel Kram erledigt. Allen, der angefallen war. Aber nicht nur Kram, ich hab auch Sibylle Mohr verabschiedet. Grüßen soll ich.“ „Habt ihr endlich miteinander geschlafen?“ fragte Pauline. Für einen Augenblick war Wenzel von dieser Direktheit frappiert. Pauline deutete sein Schweigen falsch und beteuerte, keine Angst, sie wolle nichts von ihm. Wenzel blickte sie an und sah hier, bei Tageslicht, deutlicher die Erschöpfung auf ihrem Gesicht, aber auch einen beträchtlichen Zuwachs an Selbstbewußtsein, mit dem sie wohl jetzt, in dieser Abspannung, nicht so genau wußte, wohin. „Nein“, sagte er und ließ offen, ob er damit ihre Frage oder ihre Beteuerung meinte. Da waren sie aber schon vor dem kleinen Café, sie gingen hinein, sahen sich um, wählten einen von den drei Tischen, der unbesetzt war, und ließen sich von dem jungen Mann, der hier Dienst tat, beraten. Der breitete sein kleines Sortiment an Kaffeegetränken und Gebäck wie die Schätze des Orients vor ihrer Phantasie aus, hauptsächlich aber vor Paulines, wie Wenzel vergnügt bemerkte. Sie wählten bescheiden, wie es der geringen körperlichen Belastung entsprach, der sie zur Zeit unterworfen waren. Sie aßen und tranken schweigend und mit Genuß. Erst als Wenzel bei Pauline die Bereitschaft zu einem Gespräch spürte, sagte er: „Ich habe ja gesehen, was du getan hast, das war ein tüchtiges Stück Arbeit. Jetzt würde ich aber gern wissen, was da geistig in Bewegung gekommen ist, bei den Teilnehmern und vor allem bei den Helfern. Und vielleicht auch bei dir.“ Er sah, daß Pauline etwas ratlos blickte, und setzte hinzu: „Man zieht nicht so ein Riesenunternehmen auf, ohne daß die Beteiligten auf neue Gedanken und Gefühle stoßen. Manche behalten sie für sich, manche sprechen darüber.“ „Stimmt“, sagte Pauline überrascht. „Warte, ich will versuchen, mich zu erinnern. Bei der Arbeit hab ich das alles beiseite geschoben. Alles, was nicht in den Fortgang der Dinge paßte. Ist das wichtig?“ „Im Prinzip ja, ob im einzelnen, weiß ich natürlich nicht. Ich habe auch viel gegrübelt, und ich bin überzeugt, daß alles, was wir wissen müssen, alles, was in unserm Zusammenhang wichtig ist, schon irgendwo existiert oder untersucht wird – wir müssen nur darauf stoßen. Und
das kann ebenso der gelegentliche Gedanke eines Studenten sein wie ein Satz im Jahresbericht einer Universität.“ „Und die Computer?“ „Laß mal die Computer, die werden uns später helfen, wenn wir genauer wissen, was wir wollen. Stell dir vor, du suchst einen bestimmten Menschen, von dem du nur weißt, daß er Müller heißt, und sonst nichts. Der Computer würde dir alle Müller nennen, aber was hättest du davon? Fang lieber an zu erzählen!“ „Als erstes fällt mir ein Gedanke ein, den einer der Studenten mal geäußert hat, wahrscheinlich mehr aus Flachs: Wenn nun bei den Teilnehmern das Wissen um die Gefahr die Gefahr bereits beseitigt, läuft das ganze Experiment leer. Ich habe gesagt: Wie schön, wenn es so wäre, dann wäre die Rettung der Fünfzigjährigen eine reine Informationsfrage, aber so einfach wird’ s wohl nicht sein.“ „Das glaube ich auch nicht“, stimmte Wenzel zu. „Einige, vor allem Mädchen, waren betroffen, wieviel Unglück es dennoch gibt, ich versteh das, ich bin ja auch nicht viel älter, und wenn ich nicht als Ordner manches erfahren würde, hätte ich auch keine Vorstellung davon. Man lebt in Stabilität, und unwillkürlich glaubt man, das Glück müsse auch stabil sein. Dabei gibt es rund um uns alle Sorten von Unglück, berufliches, familiäres, charakterliches – es wird nur im allgemeinen Wohlbefinden bis zur Unsichtbarkeit aufgelöst. Freilich, wenn wir in die Geschichte zurückgehen, damit verglichen ist das fast nichts, aber ich glaube, wir empfinden unser Unglück genauso tief wie die Urahnen das ihre, auch wenn die objektive Größe nicht vergleichbar ist.“ „Bestimmt“, sagte Wenzel nachdenklich. Einen Augenblick lang erwog er, ob man nicht versuchen sollte, die Unglückserlebnisse der dreitausend Teilnehmer zu klassifizieren und statistisch zu untersuchen, doch dann ließ er den Gedanken fallen, für die Statistik war die Zahl der Fälle zu klein. „Dann war da noch, hm, das ist eigentlich zu blöd, aber – also ein paar von den Helfern waren nicht nur deshalb begeistert von dieser Aufgabe, weil sie Menschen helfen und Neues entdecken konnten, sondern auch, weil es ihnen sonst langweilig war. Wie kann einem das Studium oder das Leben langweilig sein? Ich habe mich ziemlich darüber geärgert, hab aber nichts gesagt.“
„Langeweile“, sagte Wenzel, „junge Leute und Langeweile, merkwürdig, wir werden mal die Soziologen konsultieren, demnächst. Langeweile.“ „Laß mich auch mal was fragen, ja? Bist du denn schon auf solche – solche entscheidenden Zusammenhänge gestoßen?“ „Einer war der, der mich auf Klarissima treffen ließ. Aber der entscheidende steht noch aus, und es ist vielleicht gar nicht schlecht, daß es so ist.“ „Versteh ich nicht.“ „Kann sein, er springt mich an, wenn ich auf ihn stoße. Aber wahrscheinlicher scheint mir, daß er sich maskiert. Je länger wir uns mit der Sache befassen, je mehr Umfeld wir kennen, um so eher werden wir die Maske durchschauen, wenn wir auf ihn treffen. Deshalb sollten wir auch von Zeit zu Zeit alle alten Gedanken noch einmal vorkramen und unter die Lupe nehmen. Doch, ich glaube, wenn wir auf ihn stoßen, werden wir ihn auch erkennen.“ Wenzel nickte noch einmal, ließ dann die Nachdenklichkeit des Tons und der Haltung fallen, beugte sich vor und fragte: „Und du? Was hast du erlebt? Was ist dir neu vorgekommen?“ „Wenn ich ganz ehrlich sein soll – entschuldige, blöde Redensart, aber mir wird das selbst erst in diesem Moment klar: Eigentlich war mein Erleben zwiespältig. Handwerk und Kunst haben mir einerseits sehr gefehlt, einmal hab ich mir schnell ein Kleid genäht, da war ich richtig begeistert, obwohl es gar nichts Besonderes war. Aber andererseits hat diese Sache, dieses Langzeitexperiment, mich erfaßt wie noch nichts in meinem Leben, das saugt mich richtig auf, und jetzt, wo es losgeht, erst recht, ich glaube, ich werde in dem ganzen Jahr zu nichts anderem kommen!“ „Und nun mußt du dich davon trennen.“ „Was? Das kann doch nicht …, das geht doch nicht …“ Pauline war bestürzt. Wenzel lächelte ihr mitfühlend und aufmunternd zu. „Fällt dir schwer, ja? Hast alles in die Sache gesteckt, was Kopf und Herz hergegeben haben, und nun – aus. Andere werden ernten, wo du gesät hast.“ „Muß das denn sein?“ Pauline bemühte sich zu lächeln.
„Mehr noch. So wird es jetzt immer sein. Wir werden etwas in die Wege leiten und es dann anderen überlassen. Fühlst du dich dem gewachsen?“ „Und was machen wir?“ „Suchen. Hier und da und dort. Für die nächsten Wochen haben wir ein volles Programm, und dann sehen wir weiter. Die Verhandlung vor dem Schlichter wegen der zertrümmerten Statue. Ein Institut, das auf dem Gebiet der Telepathie forscht. Und immer Schreibtischarbeit. Aber das Büro, das du eingerichtet hast, behalten wir erst mal als Zentrum.“ Ruben hatte, solange er zurückdenken konnte, nie Langeweile gehabt. Selbst während der langen Reise zur Esther und zurück hatte er ein festes Programm wissenschaftlicher, handwerklicher und künstlerischer Aufgaben erfüllt, manche mit intensiver Arbeit, manche als angenehme Beschäftigung. Hier war nichts von dem möglich. Gegen Abend, als der Sturm losbrach, war es noch angenehm warm. Innerhalb von vier Stunden sank die Innentemperatur auf fünf Grad, Ruben mußte im Raumanzug dasitzen und sich möglichst wenig bewegen, um nicht zuviel Sauerstoff zu verbrauchen. Anfangs versuchte er sich vorzustellen, was da draußen passierte, aber es war ja kein heulender, pfeifender Sturm wie auf der Erde, nichts war zu hören, ein leises Sirren vielleicht, doch nur, wenn man lange hinhorchte, und dann war man auch nicht sicher, ob es nicht auf Einbildung beruhte. Zudem war es dunkel, nur ein paar Ecken und Kanten im Raum, die mit Leuchtfarbe gestrichen waren, schimmerten schwach – man sparte hier wohl immer nachts mit Licht. Verrückte Geschichte, so eine Station zu bauen ohne eigene Energiequelle! Vielleicht doch nicht so verrückt. Immerhin war die Energiequelle das Aufwendigste an solch einer Station, wenn die planetaren Ressourcen noch nicht genutzt werden konnten. Auf dem Mond hatte man inzwischen einen Satellitenring geschaffen, der die Stationen auch während der Nacht mit Sonnenenergie versorgte, aber auch das war einigermaßen aufwendig. Und wenn sie damit hinkamen – hier dauerte die Nacht normalerweise ja nicht einmal zwölf Stunden, auf dem Mond dagegen vierzehn Tage … Jaja, die Anpassung der Bedingungen an den Menschen mußten wohl doch immer ergänzt werden durch die Anpassung des Menschen an die Bedingungen.
Es war dies aber ein Gedanke, der ihm schon bei seinem Venusbesuch gekommen war, und der hatte etwas Beunruhigendes an sich: eine Ahnung, als sei das ganze Problem der Besiedlung fremder Planeten etwas komplizierter, als Ruben sich das vorgestellt hatte. Natürlich war ihm klar gewesen, daß Begeisterung allein nicht ausreichen würde, daß völlig neue Technologien im weitesten Sinn würden entwickelt werden müssen; aber mußten nicht vielleicht die Menschen selbst ebenfalls neue Eigenschaften entwickeln, Methoden der körperlichen und seelischen Anpassung wie die hier? Und auch auf der Venus mußte es irgend so was geben, er hatte es gespürt, es hatte irgendwie in der Luft gelegen, aber er hatte nicht fragen wollen, eine sonderbare Scheu hatte ihn zurückgehalten. Doch das Beunruhigende an diesen Gedanken war zugleich belebend. Es war schließlich keine Schande, wenn er als gerade Dreißigjähriger das Problem nicht von Anfang an in all dessen Entwicklungsmöglichkeiten und -tendenzen durchschaute; das konnte ein einzelner wohl überhaupt nicht. Im Gegenteil – wenn ihm jetzt nach und nach Wenn und Aber zu Bewußtsein kamen, dann hieß das doch, daß sein Geist an der Sache weiterarbeitete! Vielleicht war es gut, daß er hier unbeschäftigt herumsaß. Möglicherweise kam er so auf Gedanken, die sonst von den vielerlei Dingen des Tagesablaufs unterdrückt wurden. Aber ob er das drei Tage lang aushalten würde? Er hatte ja noch einige Themen, über die zu grübeln sich lohnte, zum Beispiel seine Ahnung nach jenem vorläufig letzten Experiment mit der Blastron-Anlage … Ruben schlief gut in dieser ersten Nacht, er wurde wach, als gelbes Dämmerlicht den Raum füllte. Die sanitären Unbequemlichkeiten des Raumanzugs, das Tubenfrühstück und der bevorstehende lange Tag ließen ihn überlegen, ob er nicht doch besser im Raumschiff geblieben wäre, aber dann sagte er sich, daß es wichtiger sei, das Leben auf der Marsstation kennenzulernen, und zwar von der sicherlich unangenehmsten Seite. Er versuchte, sich eins der Probleme vorzunehmen, über die er nachdenken wollte, aber es gelang ihm nicht, ohne alle Geräte, ohne Notizen, Licht und Bewegung geistig zu arbeiten. Er wurde nach ein bis anderthalb Stunden so müde, daß er eine Viertelstunde schlief, das geschah ihm mehrmals, und nun fürchtete er, nachts nicht schlafen zu können, aber
diese Befürchtung erwies sich als grundlos. Am zweiten Tag vermochte er sich schon besser zu konzentrieren, und am dritten erledigte er sogar kleinere Berechnungen, für die er sonst Taschenrechner benutzte, im Kopf. Gegen Abend geschah etwas, was er zunächst nicht verstand. Plötzlich leuchtete die Decke bläulich, und es knisterte leise. Ruben überlegte eine Weile und kam schließlich dahinter, daß es sich um elektrische Entladungen handeln müsse, wie es sie auf der Erde auch gab, vermutlich erzeugte die Reibung der Sandkörner im Sturm elektrische Ladung. Er hatte sich gerade diese Erklärung zurechtgelegt, als ein Knacken durch den Raum ging, ein trockener, scharfer Ton, wie wenn etwas gerissen wäre. Aber nichts veränderte sich, kein Pfeifen entweichender Luft war zu hören noch sonst irgend etwas, und trotzdem beruhigte das Ruben nicht, er schaltete die Helmlampe an, um wenigstens etwas zu sehen. Der Schein blendete ihn nach drei Tagen Abwechslung zwischen Dunkelheit und Dämmerlicht, er mußte ihn sehr weit herunterregeln und leuchtete dann die Wände ab – nichts. Wenn er auch fremd war hier, soviel war ihm doch klar: Bei einem Schaden in der Außenwand mußte mindestens Reif- oder Eisbildung längs des Risses zu sehen sein. Vielleicht war es albern, das Knacken ernst zu nehmen. Vielleicht trat es immer in dieser Situation auf, und nur er wußte das nicht. Dennoch – er war als einziger wach, und wenn wirklich etwas geschah, konnte nur er die Mannschaft retten. Oder waren für solchen Fall auch irgendwelche ihm unbekannte Regelungen vorgesehen? Kaum denkbar. Er wußte nichts oder nicht viel von den Meditationen, mit denen sich die Leute hier in eine Art Anabiose versetzten, aber die Vorstellung, daß man aus diesem Zustand herausspringen könnte wie ein Feuerwehrmann bei Alarm, erschien ihm doch als ausgesprochen unrealistisch. So oder so, er war ruhiger geworden, aber er nahm sich vor, in Stundenabständen die Station zu kontrollieren. Die Lampe hatte er längst wieder gelöscht, zum Nachdenken brauchte er kein Licht, das mußte er aufsparen. Woran konnte er den Zustand kontrollieren? Eigentlich nur an der Temperatur. Solange die bei fünf Grad blieb, war alles in Ordnung. Wirklich? War dann wirklich alles in Ordnung? Das konnte eine Illusion sein – wenn etwa irgendwo Wärme entwiche, dann würden die Batterien den Verlust ausgleichen auf den eingeregelten Festwert bei fünf
Grad, freilich auf Kosten des Energievorrats. Sie würden sich also wahrscheinlich eher erschöpfen und dann ganz plötzlich aufhören zu heizen. Was konnte er dann tun? Er spürte, daß er zu müde war, um alles gründlich zu durchdenken, und beschloß, eine Stunde zu schlafen. Die innere Uhr würde ja wohl trotz allem funktionieren, sie hatte ihn noch nie im Stich gelassen, außer wenn er sehr erschöpft war, und das war er jetzt nicht. Er wurde auch pünktlich wach, wie ihm ein Blick auf die Leuchtzeiger der Uhr bewies, schaltete die Helmlampe ein und sah auf das Außenthermometer auf seinem Ärmel – exakt fünf Grad. Ruben fühlte sich erfrischt wie nach langem Schlaf. Also: Was konnte er tun im Fall der Fälle? Oh, es gab durchaus Möglichkeiten, sicherlich sogar mehrere, schließlich stand sein Raumschiff vor der Tür, und das verfügte über weit mehr Energiereserven, als hier gebraucht wurden. Die Frage war also nicht: woher nehmen, sondern: wohin damit? Er durfte die Station nicht beschädigen, ihre schlafende Besatzung nicht stören, er durfte die Sonnenkollektoren nicht gefährden, die da draußen rund um die Station irgendwo standen, jetzt wahrscheinlich unter Sand begraben. Und er durfte nur einmal die Station verlassen, jede Tür nur einmal öffnen, weil ja schon von Raum zu Raum ein großes Temperaturgefälle sein würde und mehrmaliges Hin- und Herlaufen alles auskühlen würde, ehe er dazu käme, etwas zu unternehmen. Dann würden die Algenkulturen absterben, und dann wäre die Station lebensunfähig und müßte aufgegeben werden na ja, man konnte diesen Gedanken sicherlich noch lange weiterspinnen, bis zur Katastrophe, aber das ging schon ins Ulkige. Teile ausbauen und herüberholen, Leitungen legen und ähnliches verbot sich also. Er brauchte eine einfache, ja vielleicht sogar primitive Lösung. Ja, das war’ s, ganz einfach. Das würde er tun, wenn… Wieder ging ein scharfes Knacken durch die Station. Wieder prüfte Ruben, so gut er konnte, und fand nichts. Nur eine neue mögliche Erklärung fiel ihm ein: Wenn der Boden stark auskühlte während des Sturms, weil er tagelang keine Sonnenstrahlung empfing, konnte er das Fundament der Station stark zusammenpressen – vielleicht zu stark? Aber auch wenn so ein Sturm nicht sehr oft auftrat, so hatte die Station doch schon mehrere unbeschadet überstanden, warum sollte gerade jetzt …Wenn er nur nicht so müde wäre, am besten, ein bißchen schlafen, nein, am Handgelenk glimmte ein rotes Licht auf, mal nachsehen, aha, die Luftzu-
sammensetzung, der Kohlendioxidanteil wurde zu hoch, jetzt, da die Regeneration abgeschaltet war, Ruben hatte zuviel geatmet in den drei Tagen, mal eine Büchse Sauerstoff aufmachen, nein, sparsamer war wohl, alle zwei, drei Minuten eine kleine Dusche unter die Nase – ah, da war ihm doch gleich wohler! Kalt war ihm trotzdem. Er leuchtete das Thermometer an – im Raum waren noch fünf Grad. Aber sein Raumanzug erhielt keinen Strom mehr aus der Stationsbatterie! Jetzt war es doch soweit. Gleich, wo die Ursachen lagen, er mußte etwas unternehmen! Er zog das Helmvisier zu und stellte den Anzug auf Eigenversorgung um, das reichte für eine Stunde, die Reservebatterie nicht gerechnet, und er mußte ja nur ins Raumschiff kommen. Er verließ den Raum und achtete darauf, daß er die Tür schnell öffnete und schloß, denn im nächsten Raum und auf dem Gang zur Schleuse herrschten schon Minusgrade. Die Schleuse reagierte nicht auf Tastendruck, er stutzte, zuerst etwas verwirrt, bis ihm einfiel, daß sie wohl auch von der Stromversorgung abgeschaltet war. Er bediente die Handregelung, drehte die Räder und klinkte die Verriegelung aus, und das klappte ohne Schwierigkeiten, dauerte dafür aber länger. Als er endlich draußen stand und die Tür wieder geschlossen hatte, war eine Viertelstunde vergangen. Der Sturm zerrte an ihm, zwar schwach, aber Ruben fühlte sich dabei sonderbar, er war ja nur ein gutes Drittel so schwer wie auf der Erde, und da mußte er darauf achten, daß er das Gleichgewicht nicht verlor. Überhaupt merkte er jetzt, daß ihn die hiesige kleinere Schwerebeschleunigung im Vergleich zu Erde und Venus störte, während ihm die geringfügig kleinere auf der Venus im Vergleich zur Erde angenehm gewesen war. Hier betrug sie ein gutes Drittel der irdischen, auf dem Mond dagegen ein Sechstel, und das war seltsamerweise angenehmer. Aber sicherlich würde sich der Körper auch hier an die Verhältnisse gewöhnen. Da war der Einstieg zum Raumschiff, die Schleuse reagierte auf den Befehl, nun war Ruben drinnen – und atmete auf. Gute Luft, die Aussicht auf ein anständiges Frühstück, das alles stimmte ihn fröhlich, zuerst aber mußte er seinen Plan umsetzen, und noch etwas störte ihn: das helle Licht, das er nicht mehr gewohnt war. In der Zentrale angekommen, schaltete er es ganz aus, denn er wollte sehen, was draußen passierte, wenn er das chemische Triebwerk zündete und ohne Antrieb laufen ließ. Da es nur für die Bewegung in der Atmosphäre bestimmt war, konnte er
es zwei Tage leer laufen lassen, ohne daß der Rückstart gefährdet war, soviel Reserve hatte er bei der dünnen Atmosphäre des Mars. Zwanzig Minuten, seit er die Station verlassen hatte. Er zündete, es gab ein paar Unregelmäßigkeiten im Lauf, weil das Heck gegen den Sturm gedreht war und der Sand weggepustet werden mußte, der da wohl eingedrungen war, aber dann lief das Triebwerk, drückte einen schwachen Feuerstrahl gegen den Sturm, und es schien, daß Rubens Rechnung aufging: Der Sturm drängte die heißen Gase zurück, am Schiff vorbei und zur Station, das Infrarotbild zeigte es. Dann erschien zuerst ein weißer Schimmer auf der Kuppel der Station, das Wasser in den Verbrennungsgasen schlug sich als Eis nieder, aber schon nach fünf Minuten verschwand das Weiße wieder: Jetzt begannen die Gase, die Station aufzuheizen.
Nun fühlte sich Ruben doch bedeutend wohler. Er bereitete sich ein Frühstück, wobei er nach und nach das Licht auf normale Werte hinaufregelte. Toast, Butter, Honig, ein Ei – wenn auch alles synthetisiert war, gab es doch unermeßliche Genüsse her nach der Tubennahrung der letzten Tage. Ein Bad vervollkommnete die Behaglichkeit.
Nachdem er alles genossen hatte, hätte er rundum zufrieden sein können. Er war es nicht. Sollte er nicht besser in die Station zurückkehren? Vorhin hatte er gedacht, das wäre nicht zu machen, ohne die Stabilität noch weiter zu gefährden. Jetzt fragte er sich, ob er dort nicht eventuell gebraucht würde. Wenn das Knacken nun doch weiterreichende Folgen haben sollte, dann wären die Schläfer in Gefahr, auch jetzt noch – den Oberteil konnte er schnell aufheizen, der Boden würde sich langsamer erwärmen, und damit auch die unter der Oberfläche gelegenen Teile der Station. Zumindest würde es wohl keinen kritischen Wärmeverlust bedeuten, wenn er noch einmal die Schleuse benutzte und durch die Zimmer ging, und an Sauerstoff würde er ja noch ein paar Reserven mitnehmen können. Entschlossen, wenn auch nicht sehr erfreut von seinen eigenen Gedanken, zog Ruben den Raumanzug wieder an, belud sich mit Sauerstoffflaschen und ging zur Station zurück. Die Schleuse machte keine Schwierigkeiten, aber als er drinnen war, stellte er erstaunt fest, daß sein Heizen von außen nicht so wirkte, wie er gehofft hatte, hier in den ersten Räumen, die er betrat, herrschten Temperaturen unter Null, und das konnte ja gar nicht anders sein, wie ihm plötzlich klar wurde, denn dieselbe Isolierung, die die Station vor der Kälte schützte, bewahrte sie nun auch vor der Wärme von draußen. Erregt lief er weiter, bis er den zentralen Raum erreicht hatte, in dem er drei Tage gelebt hatte: auch hier unter Null. Die Algen waren tot. Die Station nicht mehr lebensfähig. Und die Menschen? Der kleine Saal mit seinen hundert Plätzen faßte gerade die Zeugen und Gäste, die zur Schlichtungsverhandlung in Sachen Plastik Murzahner Ring gekommen waren. Wenzel hatte Pauline, die als Zeuge geladen war, begleitet, nicht weil er glaubte, daß sie seine Unterstützung brauchen würde, sondern weil ihn die Sache selbst interessierte. Er hätte nicht einmal sagen können, warum, es gab bestimmt kompliziertere Fälle, die in diesen Tagen in der Region verhandelt wurden; aber hier war er beim Vorfall selbst dabeigewesen, und außerdem reizte ihn das Unerklärliche, das Irrationale an dem Vorgang. Was geht in einem Künstler vor, der sein Werk zerstört? Und zwar nicht unmittelbar, nachdem er es geschaffen hat, da wäre die Sache klar: Er fühlt, er hat nicht erreicht, was er schaffen wollte. Nein, die Plastik hatte zehn Jahre dort gestanden, sie hatte nicht gerade Aufsehen in der Kunstwelt hervorgerufen, aber die
Anwohner mochten sie und hatten sich an sie gewöhnt; sie stellte einen Baum dar oder ein ähnliches Gewächs, auf dessen Ästen überall Vögel saßen; das Ganze machte einen freundlichen Eindruck – oder vielmehr, hatte einen freundlichen Eindruck gemacht, bis der Schöpfer der Plastik, Kurt Kowalla, mit dem Hammer darauf eingeschlagen hatte. Von alldem hatte sich Wenzel anhand von Bildern und Aussagen der Anwohner überzeugt; er hatte sich die Zeit genommen, sich gründlich auf die Verhandlung vorzubereiten, obwohl er dort nichts als Zuhörer sein würde. Er hatte aber doch den einen oder anderen Gedanken, der ihm dabei gekommen war, mit Pauline diskutiert. Der Schlichterplatz an der Stirnseite des Saals war noch leer, das Armaturenpult des Schlichters war aber schon aufgebaut, ebenso die Projektionsfläche, auf der Computerauskünfte und Berechnungsergebnisse, falls es solche geben würde, den Zuschauern sichtbar gemacht werden sollten. Die geladenen Zeugen, Betroffenen und Sachverständigen saßen in der ersten Reihe, darunter auch Pauline; Wenzel saß drei Reihen hinter ihr. Als der Schlichter den Saal betrat, verstummten die Gespräche, und alle erhoben sich von ihren Plätzen – einer der vielen alten Bräuche, die über den Wechsel von Zeiten, Zuständen und Inhalten hinweg erhalten geblieben waren. Der Schlichter, ein weißhaariger Mann um die Hundert, eröffnete die Verhandlung mit der Feststellung von Zeit, Ort und Gegenstand für das Protokoll. Dann rief er den Künstler auf. „Herr Kurt Kowalla, Sie sind Dispatcher im Verkehrswesen, Steinmetz, Bildhauer, dreiundfünfzig Jahre alt, Adresse und Personalkode sind im Kopfteil des Protokolls angegeben. Soweit richtig?“ „Ja, das ist richtig.“ „Sie haben am elften März gegen zehn Uhr versucht, die Plastik am Murzahner Ring mit einem Hammer zu zerstören. Sie wurden von einem Ordner mit körperlicher Gewalt daran gehindert, wurden kurzzeitig in ärztliche Obhut genommen und haben den begonnenen Versuch dann nicht wieder aufgenommen, ist das richtig?“ „Ja, das ist richtig. – Ich habe sie vor etwa zehn Jahren gestaltet. Sie ist meine Schöpfung, mein geistiges Eigentum.“
„Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß das Wort Eigentum in der Umgangssprache zwar noch benutzt wird, aber keinen exakten Sachverhalt mehr ausdrückt. Die Beziehungen zwischen Personen und Sachen werden durch den Begriff der Verfügung geregelt. Die Plastik befand sich unter öffentlicher Verfügung, in diesem Fall des Stadtbezirks. Da es sich um ein Kunstwerk handelt, haben Sie als Schöpfer Anspruch auf Mitverfügung. Diese bezieht sich auf Platzwechsel, Restaurierung und Abbau, keinesfalls jedoch läßt sie eine Zerstörung von Ihrer Seite zu. Erkennen Sie das an, oder erheben Sie dagegen Einspruch?“ „Es klingt alles einfach und überzeugend, und trotzdem – ganz und gar zustimmen kann ich dem nicht.“ „Gut, dann später dazu. Bitte nehmen Sie Platz, ich rufe Frau Pauline Fouquet, Ordner, Schneider, Kostümbildner, dreiundzwanzig, ist das richtig?“ Pauline war aufgestanden und vorgetreten. „Ja, das ist richtig, mit der Einschränkung, daß ich zur fraglichen Zeit Ordner in Altenwessow war und jetzt einen anderen Dienst versehe.“ „Sie haben eingegriffen und die vollständige Zerstörung der Plastik verhindert, indem Sie körperliche Gewalt gegen den Ihnen unbekannten Zerstörer anwandten, ist das richtig?“ „Unter Auslassung wesentlicher Teilvorgänge, ja.“ „Darauf kommen wir gleich. Was waren die Gründe für Ihr Eingreifen?“ „Ich mußte nach Lage der Dinge annehmen, daß mutwillig eine unter öffentlicher Verfügung stehende Sache zerstört wurde. Dabei war die Gefährdung von Menschen als möglich anzusehen.“ „Wie das?“ „Der Zerstörer war von einer Menge Menschen umgeben, etwa zehn bis fünfzehn, die versuchten, ihn von seinem Handeln abzubringen. Er hätte sich gegen diese Behinderung zur Wehr setzen oder aber jemanden durch herumfliegende Bruchstücke verletzen können.“ „Schildern Sie jetzt bitte Ihr Eingreifen.“ „Ich stellte mich als Ordner vor und forderte Herrn Kowalla auf, seine Handlung abzubrechen. Er sah mich an und hielt den Hammer weiter erhoben. Durch die Drehung des Oberkörpers zielte der Hammer nun auf mich. Rückwirkend, vor allem aus dem Folgeverhalten, muß ich sa-
gen, ich habe nicht den Eindruck, daß Herr Kowalla mich mit dem Hammer angegriffen hätte, aber das war in diesem Augenblick nicht entscheidbar. Ich setzte Herrn Kowalla mit den gelindesten der mir bekannten kampfsportlichen Methoden außer Gefecht.“ Der Schlichter blätterte in seiner Akte. „Die ärztliche Untersuchung ergab keinerlei Verletzungen, die Behandlung beschränkte sich auf die Verabfolgung einiger Psychopharmaka gegen den Schock. Herr Kowalla?“ „Ja bitte.“ „Würden Sie der Darstellung von Frau Fouquet zustimmen?“ „Ja, soweit mir die Vorgänge bewußt sind. Ich möchte sie um Entschuldigung bitten und versichern, daß ich nicht die Absicht gehabt habe zuzuschlagen, ich glaube, ich könnte das auch in allergrößter Erregung nicht.“ „Danke. Sie können sich beide setzen. Der Ordner, Frau Fouquet, und Herr Kowalla werden hinsichtlich der körperlichen Auseinandersetzung entlastet, eine Schlichtung ist unnötig. Erhebt jemand Einspruch gegen diese Festlegung?“ Zum erstenmal hob der Schlichter den Kopf so weit, daß er den ganzen Saal überblickte. Sein Gesicht drückte höchste Aufmerksamkeit aus. Wenzel hatte den Eindruck, daß unter den Blicken dieses Mannes jede Aufregung abebben und jede Unsicherheit sich verlieren mußte, obwohl der Schlichter eigentlich nur trocken-sachliche Dinge sagte. „Wir haben jetzt eine von allen anerkannte Schilderung des Vorgangs“, sagte der Schlichter. „Wir werden sie, wenn es nötig sein sollte, noch vertiefen. Als nächstes aber müssen wir die Verfügungsverhältnisse klären. Ich bitte den Ratgeber des Häuserblocks, der vom Ratgeber des Stadtbezirks bevollmächtigt ist, ihn zu vertreten. Äußern Sie sich bitte dazu.“ Eine jüngere Frau erhob sich und sagte: „Die Plastik ist seit rund zehn Jahren unter Verfügung des Stadtbezirks. Auf Antrag unseres Wohnblocks übernahm damals der Stadtbezirk die Verfügung über die Plastik von Herrn Kowalla, was in einem Übergabeprotokoll festgehalten und archiviert wurde. Der Anspruch auf Mitverfügung des Schöpfers im üblichen Rahmen, den Sie vorhin nannten, ist unwidersprochen und wurde auch vor drei Jahren bei der Restaurierung der Plastik angewandt.“
„Hat Herr Kowalla Ihnen gegenüber vor der hier verhandelten Aktivität Ansichten oder Wünsche geäußert, die eine Veränderung dieses Zustands betrafen?“ „Ja, er hat mir einmal gesagt, er wolle eine neue, bessere Plastik machen. Ich habe ihm daraufhin gesagt, daß wir diese Plastik gern haben und keine neue möchten, aber ich habe ihm freigestellt, über diese Frage im Wohnblock abstimmen zu lassen. Das wollte er jedoch auch nicht.“ „Herr Kowalla, stimmt das soweit?“ „Ja, das stimmt.“ „Dann danke ich Ihnen“, sagte der Schlichter zur Ratgeberin. „Und nun, Herr Kowalla, schildern Sie uns, wie es zu der zerstörerischen Handlung gekommen ist. Beginnen Sie, wo Sie es für notwendig halten.“ „Ich weiß nicht, wann es angefangen hat“, sagte der Bildhauer, „und ich hab vielleicht auch nicht die rechten Worte, um es treffend auszudrücken. Ich bin ja nun wie jeder andere zehn Jahre lang daran vorbeigegangen, an der Plastik, nur war ich ja der Urheber. Ich denke, daß meine künstlerischen Auffassungen sich in der Zeit gewandelt haben; jedenfalls begann die Plastik eines Tages mich zu stören, ungefähr vor drei Jahren. Zuerst gefiel sie mir einfach nicht mehr, aber da dachte ich noch, der Mensch ändert sich eben, und das ist ein Stück von mir, wie ich früher war. Aber nach und nach, wie ich nun jeden Tag wieder daran vorbeiging, merkte ich, daß sie mich – wie soll ich sagen – nervös machte. Ein paar Dinge mißlangen mir, und innerlich gab ich der Plastik daran schuld, ich hatte das Gefühl, als stünde ich in meiner Entwicklung vor einer Schwelle, die ich nicht überschreiten könnte, ehe ich nicht mit dieser Plastik fertig wäre, und so festigte sich die Absicht in mir, nicht irgend etwas Neues zu machen, sondern diese Plastik neu zu machen. Was ich erreichen wollte, wußte ich, in allgemeinen Zügen jedenfalls, aber ich schaffte es nicht.“ „Was wollten Sie erreichen“, unterbrach ihn der Schlichter, „können Sie uns das erklären?“ „Ich wollte, daß der Beschauer sich mehr aufgefordert fühlt, sich selbst und seine Phantasie hineinzuprojizieren, daß er mehr von sich dazugibt, wenn er die Plastik betrachtet, aber nun wieder nicht irgend etwas, also sagen wir mal, nicht so, daß er bei schlechter Laune lauter Krähen und bei guter Laune bunte Kolibris sieht – sondern so, daß er …, nun ja …,
das Beste von sich dazugibt und dadurch, wenn er das sieht, selbst auch besser wird, so ungefähr.“ „Wann faßten Sie den Vorsatz, die Plastik zu zerstören?“ „Eigentlich gar nicht. Ich hab nur immer deutlicher gemerkt, daß sich die neue und die alte Plastik nicht vertragen, in mir, verstehen Sie, daß sie nicht gleichzeitig existieren konnten, ohne mich zu zerreißen. Dieses Gefühl wurde über Wochen immer stärker, immer unerträglicher, bis …, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe.“ „Herr Kowalla, jeder von uns übt eine Kunst aus, aber kaum einer geht hin und zerstört sein Werk, bevor er ein neues schafft. Ich denke da zum Beispiel an ein Gedicht, das ich sehr mag und von dem es drei Fassungen gibt – der Dichter hat die ersten zwei in den Bibliotheken nicht löschen lassen, als er die dritte schrieb.“ Der Schlichter drückte einige Tasten auf seinem Pult, an der Schirmwand erschienen Zahlen. „Jeder Mensch ist Künstler, aber es gibt in den letzten drei Jahren auf der ganzen Welt nur – sehen Sie hier –, nur dreihundertsiebenundzwanzig Fälle, in denen Menschen wie Sie gehandelt haben.“ „Ich hab mir ja auch immer wieder gesagt, daß das nicht der richtige Weg ist, aber welche Möglichkeiten hatte ich denn?“ flüsterte der Bildhauer. „Mindestens zwei“, sagte der Schlichter. „Sie hätten die Bewohner Ihres Blocks überzeugen können, daß die Mehrheit einer Neuschöpfung der Plastik zustimmt, dann hätte gewiß auch der Ratgeber des Stadtbezirks seine Zustimmung gegeben. Oder Sie hätten eine andere Plastik geschaffen oder eine bereits vorhandene genutzt, um sie dem Stadtbezirk anzubieten, und wenn Sie Ihre Krise überzeugend dargelegt hätten, so wie hier jetzt, dann hätte man auch in diesem Fall sicherlich zugestimmt, die alte Plastik im Austausch wieder in Ihre Verfügung zu geben. Das hätte freilich verlangt, daß Sie nicht nur mit Ihrem eigenen gespaltenen Ich Dialoge führen, sondern mit anderen Menschen. Die beste Prüfung für eine Ansicht ist der Versuch, andere davon zu überzeugen.“ „Es geht ja nicht um eine Ansicht – es ist etwas Tieferes. Ich will sagen: Den einen Weg hab ich versucht zu gehen, aber ich habe sofort gemerkt, das nützt nichts, ich brauche die Explosion, und ich brauche sie bald. Der beste Beweis für die Richtigkeit ist die neue Plastik, Sie können sie in meinem Atelier besichtigen, sie ist zur Aufstellung bereit. Sie wird vielleicht deutlicher erklären als meine Worte, was eigentlich vorgegan-
gen ist. Und da sie nun fertig ist, kann ich auch sagen: Das war kein Vorgang, der jetzt zur Methode wird, sondern es war eine einmalige – ich will nicht sagen Befreiung, wovon denn schließlich, vielleicht Freisetzung neuer schöpferischer Kräfte.“ „Sie sind sehr überzeugt davon“, sagte der Schlichter etwas reserviert, „aber ich muß Ihnen entgegenhalten: Erfolg schafft kein Recht!“ „Ich möchte das ja auch nicht noch mal erleben“, sagte der Bildhauer, nun etwas erschöpft, „und ich sage ja auch nicht, daß es rechtens war, was ich getan habe. Aber ich muß doch fragen: Wenn es Hunderte ähnlicher Fälle gibt, dann ist das doch anscheinend ein inneres Problem nicht nur von Kurt Kowalla, sondern der Kunstentwicklung, und stimmt denn da alles mit unseren Vorstellungen und Normen?“ „Es überschreitet die Möglichkeiten dieser Verhandlung, darauf eine grundsätzliche Antwort zu geben“, sagte der Schlichter. „Es überschreitet sogar unsere Möglichkeiten, eine solche Antwort zu suchen. Immerhin mag die Verhandlung einen Anstoß in dieser Richtung geben, ich werde das veranlassen. Eine praktische Antwort freilich gibt es, von den dreihundertsiebenundzwanzig Fällen wurden dreihundertfünfundzwanzig auf die gleiche Weise entschieden. Hat noch jemand Fragen?“ Der Schlichter drückte einige Tasten, auf der Bildfläche erschien eine Tabelle: Fälle 327 – Übereinstimmung des Schlichtungsspruchs mit …, Nichtübereinstimmung des Schlichtungsspruchs mit …Fällen. „Keine Fragen? Dann der Schlichtungsspruch: Personenschaden ist nicht entstanden. Sachschaden ist nur vorübergehend entstanden und wird unmittelbar nach der Schlichtung behoben. In diesem Fall übt die Gesellschaft Toleranz und verzichtet darauf, das Handeln des Kurt Kowalla an den gesellschaftlichen Normen zu messen.“ Auf der Bildfläche erschien bei Übereinstimmung die Zahl 325, bei Nichtübereinstimmung die Zahl 2. „Einsprüche können innerhalb von vierzehn Tagen erhoben werden. Die Verhandlung ist beendet.“ Der Schlichter, der bei der Verkündung gestanden hatte, setzte sich nun und drückte wieder ein paar Tasten, so daß die Verhandlung und ihr Ergebnis archiviert wurden. Dann hob er den Kopf. „Ich würde mir gern die neue Plastik ansehen“, sagte er, „die Ratgeberin sicherlich auch?“
„Aber gern, kommen Sie mit in mein Atelier“, sagte der Bildhauer erfreut und wandte sich an die Umstehenden, „und wer noch interessiert ist, ist herzlich eingeladen!“ Wenzel hatte sich, während die meisten Leute dem Ausgang zustrebten, nach vorn durchgedrängelt und stand jetzt vor dem Schlichterpult. „Wenzel Kramer, Zweiter Gehilfe der Region“, stellte er sich vor und streckte die Hand zur Grapschkiste aus, die der Schlichter selbstverständlich auch auf seinem Pult hatte. „Ich habe eine Bitte.“ „Wenn sie nicht zu aufwendig ist?“ fragte der Schlichter zurück. „Bei den dreihundertsiebenundzwanzig Fällen – könnten Sie da bitte feststellen, ob es eine auffällige Altersverteilung unter den Künstlern gibt?“ „Solange Sie keine Namen verlangen, gern“, sagte der Schlichter und schaltete. „Sonderbar“, sagte er, „eine ganz starke Häufung zwischen fünfzig und fünfundfünfzig, hier, sehen Sie, kommen Sie mal rum. Haben Sie das erwartet, war das der Grund Ihrer Frage?“ „Ja, es hat mit einer Untersuchung zu tun, die wir gerade führen, das heißt meine Kollegin Fouquet und ich.“ „Na, wenn ich Ihnen helfen konnte!“ sagte der Schlichter und schaltete die Anlage ab. „Kommen Sie mit ins Atelier?“ Wenzel sah Pauline an, die nickte leicht, sie war also interessiert. „Ja“, sagte Wenzel. Die Plastik selbst sagte ihm nicht viel, oder besser, nicht viel mehr als die alte, von der er ein Hologramm gesehen hatte. Dafür beobachtete er sehr aufmerksam den Bildhauer, und sein Eindruck, den er schon während der Verhandlung gehabt hatte, festigte sich immer mehr. Als sie später nach Hause gingen, sagte er nach einer längeren Strecke des Schweigens zu Pauline: „Was meinst du, ob wir nicht in einer ganz falschen Richtung suchen?“ „Wir suchen doch gar nicht in einer bestimmten Richtung?“ erwiderte Pauline verwundert. „Wir haben in der Vergangenheit Dutzende von Menschen ausgeforscht, wir haben tausend Publikationen studiert oder überflogen, wir haben ein ganzes Netz über einen Stadtbezirk von Berlin geworfen – mit welcher Rechtfertigung?“ „Na“, sagte Pauline etwas unsicher, „um Unheil von den Menschen abzuwenden.“
„Eben“, sagte Wenzel. „Und was wäre daran falsch?“ fragte Pauline empört. „Nichts an dem, was wir getan haben. Aber daß wir uns davon die Richtung aufdrängen lassen, immer nur nach weiterem Unheil zu suchen.“ „Das tun wir doch gar nicht“, sagte Pauline fast verzweifelt. „Ich versteh dich nicht – du hast doch selbst unser Programm entworfen für die nächste Zeit!“ „Ja, wir knüpfen an Nebenerscheinungen der bisher erkannten Fälle an – vielleicht ist es aber umgekehrt, vielleicht sind die Fälle Nebenerscheinungen von etwas, auf was wir erst noch stoßen müssen! Und vielleicht ist es viel mehr Glück als Unglück?“ „Ich weiß es nicht – sag, was du denkst!“ „Ich habe den Schlichter gefragt, ob bei den paar hundert ähnlichen Fällen in der Altersgliederung ein Maximum auftritt, und auch da gibt es eins bei fünfzig Jahren. Und worum ging es im Prinzip bei dem Bildhauer? Um eine schöpferische Explosion. Wenn nun – warte mal, jetzt trägt es mich selbst weiter, als ich dachte, es kann absoluter Blödsinn sein, aber ich muß es aussprechen: Wenn nun die Menschheit vor einer schöpferischen Explosion steht? Wenn …, wenn in uns neue Kräfte wirken, die wir noch nicht beherrschen, dann muß es zwangsläufig in einigen extremen Fällen dazu kommen, daß diese Kräfte den Menschen beherrschen und daraus Unheil entsteht. Aber …, aber dann werden wir nichts wirklich Wichtiges finden, solange wir in Richtung Unglück suchen!“ „Neue Kräfte! Was denn für neue Kräfte? Es ist doch alles erforscht, was wirken kann!“ „Was hast du denn da für Ansichten? Wir stehen am Anfang des Wissens, nicht am Ende! Was für Kräfte, weiß ich auch nicht, aber auf jeden Fall seelische Kräfte, neue Möglichkeiten der Psyche, und das wäre gar nicht so sonderbar, will mir jetzt scheinen, denn schließlich durchlaufen wir jetzt nach der politischen und ökonomischen Befreiung der letzten Jahrhunderte das Zeitalter der seelischen Befreiung, in dem die künstlerische Erkenntnis wichtiger ist als die wissenschaftliche, jedenfalls für den überwiegenden Teil der Menschheit, und wenn dabei… neue Kräfte freigesetzt werden …“
„Dann müßte man“, versuchte Pauline zu ergänzen, „das gesamte gesellschaftliche Leben, auch den Alltag, auch das uns Selbstverständliche, danach absuchen, was in unserer Epoche neu aufgetreten ist, meinst du das?“ „Nicht alles“, sagte Wenzel, „aber du hast mich besser verstanden als ich selbst. Ja, alles absuchen – nach dem Schöpferischen!“ Was tun? Die Besatzung wecken? Aber wie? Ruben wußte ja nicht einmal, wo sie ruhte. Und dunkel hatte er die Vorstellung, daß man die Leute in ihrem jetzigen Zustand nicht einfach an der Schulter rütteln und mit dem Ruf „Aufstehen!“ wecken dürfe. Ruben hatte gewiß schon kritische Situationen erlebt, doch noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt. Das Raumschiffinnere ist und bleibt immer ein Teil der Erde, auch wenn man sehr lange und sehr weit unterwegs ist. Aber die Leute auf anderen Planeten, wenn sie jahrzehntelang da lebten, wie auf der Venus, weitgehend abgeschlossen, waren das dann schon irgendwie Angehörige einer anderen Menschheit? Ach, das Grübeln führte auch zu nichts. Die Unruhe trieb Ruben umher, er verließ den Raum, ging zur Schleuse, da war es schon wärmer, ein Grad über Null, jetzt zeigte der Wärmegradient in umgekehrte Richtung, von außen nach innen. Ruben mußte also innen alle Türen öffnen, dann würde sich auch das Zentrum schneller erwärmen, wenigstens erzielte seine Aktivität eine positive Wirkung, und das gab ihm ein etwas sichereres Gefühl. Da bewegte sich etwas, der Schein seiner Helmlampe hatte etwas gestreift, da, nein, da war nichts, hinter der Glaswand, in der Zentrale – Ruben bekam einen Schreck, eine weiße Gestalt schien da zu schweben, ein Gespenst aus alten Sagen, natürlich nicht, denn das Gespenst sagte jetzt guten Tag und fügte hinzu: „Sie sind sicherlich Ruben Madeira? Ich bin Joan Takaroru, die Algen haben mich geweckt.“ „Die Algen?“ fragte Ruben ungläubig. „Ja, der Todesschrei des Algenrings, ich erklär Ihnen das später. Sagen Sie bitte, was ist hier geschehen?“ Ruben, von Herzen froh, daß er dem Grübeln enthoben war, berichtete von dem Leuchten und dem Knacken und seiner Triebwerkunterstützung.
„Das Leuchten bedeutet, daß der Sturm gegen Morgen zu Ende geht“, sagte die Frau. „Das Knacken ist Kältepressung. Vielleicht ist dabei ein Leitungsschaden entstanden, über den jetzt Strom abfließt, so was haben wir noch nicht gehabt, aber das wäre die einzige Erklärung, denn sonst könnten die Akkus nicht leer sein. Trauen Sie sich zu, die Stelle zu finden?“ „Wenn ich die entsprechenden Geräte aus dem Raumschiff hole, ja!“ „Das ist gut, ich bin jetzt auf Ihre Hilfe angewiesen“, sagte Joan Takaroru. „Holen Sie bitte die Geräte, ich muß noch ein paar Minuten ruhen. Das sind die kleinen Unannehmlichkeiten auf dem Mars.“ Ruben hatte allerhand mitgebracht, als er eine Viertelstunde später zurückkam, es war ja bei der geringen Schwerkraft nicht schwierig, einen großen Berg Gegenstände zu tragen, die Menge war eigentlich weniger durch das Gewicht als vielmehr durch den Sturm begrenzt worden, der um so mehr zerrte, je mehr Angriffsfläche man ihm bot. Es war aber immerhin so viel, daß Ruben zweimal durch die Schleuse mußte. Sicherlich gab es noch eine größere Materialschleuse, doch von der wußte er nicht, wo sie war und ob sie sich von Hand bedienen ließ. „Ich hab Ihnen einen heißen Tee mitgebracht und ein anständiges Frühstück“, sagte Ruben, als er in der Zentrale angekommen war und eine Batterielampe aufgestellt hatte. Zuerst aber hängte er etwas an die Zimmerdecke, was sich sofort entfaltete und dadurch entfernte Ähnlichkeit mit einem umgedrehten Weihnachtsbaum bekam. „Absorber für Kohlendioxid“, sagte er, „bis die Algen wieder arbeiten. Ich nehme an, Sie haben noch Reserven, sonst müssen wir aus der Kultur des Raumschiffs etwas abzweigen.“ „Wir haben noch mancherlei Reserven“, sagte die Frau, „und vielen Dank auch für das Frühstück, aber dazu ist es noch zu früh, in fünf bis sechs Stunden. Doch den Tee nehm ich gern!“ „Tee mit Sauerstoff“, sagte Ruben lächelnd, goß ihr ein und drehte den Hahn einer Sauerstoffflasche etwas auf. Sie mußten den Raum durchqueren, in dem die Mannschaft schlief, um in den Batterieraum zu kommen. Hier war es noch über null Grad, und Ruben hatte, indem er die einzelnen Anschlüsse überprüfte, bald heraus, wo der Strom abfloß. Die Batterie war vollständig entladen.
„Schließen wir sie ans Raumschiff an, oder warten wir, bis die Sonne sie wieder aufgeladen hat?“ fragte er. „Gibt es draußen eine Anschlußmöglichkeit?“ „Wir haben“, sagte Joan, „eine Turbine mit chemischem Antrieb, die die Batterie aufladen kann, als letzte Reserve, aber die lassen wir lieber unangetastet, wir haben sowieso Zeit, eine Woche dauert es, bis die Algen regeneriert sind, dann erst kann ich die andern wecken. Wollen Sie mir so lange helfen?“ „Ja freilich“, sagte Ruben. „Haben Sie irgendwo einen Schaltplan? Wir müssen sehen, daß wir die lecke Stelle reparieren. Ich weiß ja nicht, wo die Leitung verläuft.“ „Die brauchen wir vorläufig nicht, lassen Sie sie erst mal abgeklemmt. Sie geht nach draußen, durch den Marsboden, zu verschiedenen Meßinstrumenten, die nachts beheizt werden müssen. Wie weit ist der Bruch entfernt?“ „Sieben Meter.“ „Dann ist er draußen. Künftig müssen wir also diese Leitungen abklemmen. Wieder was dazugelernt. Jedesmal lernt man etwas dazu, nicht wahr. Kommen Sie, ich muß noch ruhen. Sie dürfen aber fragen, was Sie interessiert, und dann machen wir unsern Arbeitsplan.“ In der Zentrale war es jetzt beinahe gemütlich – die Lampe leuchtete, der Absorber hatte der Atemluft fast alles Kohlendioxid entzogen, und die Flasche hatte den verbrauchten Sauerstoff ersetzt, und außerdem war die Temperatur wieder auf zehn Grad gestiegen. Es war gegen vier, in ein paar Stunden würde der Tag anbrechen, dann hoffentlich ohne Sturm. „Der Sturm ist schon schwächer geworden“, sagte Joan, als hätte sie Rubens Gedanken erraten. „Ich höre es.“ „Haben Sie besondere Sinnesorgane, die wir anderen nicht haben?“ fragte Ruben, halb scherzend, halb ernst. „Nein, nur besonders geschärfte und geübte, zumindest in ein paar Richtungen. Den Sturm abzuhorchen ist selbstverständlich eine reine Übungssache. Schwieriger ist es mit den Algen, da ist nämlich nicht ganz klar, wie das funktioniert. Sie wissen ja sicherlich, daß es Menschen gibt, unter deren Händen gedeihen alle Pflanzen, und wieder andere, denen
alle Pflanzen eingehen. Und selbstverständlich die ganze Skala, die zwischen den Extremen liegt. Ich gehöre zu denen, die sich mit Pflanzen gut verstehen. Ja, wenn Sie wollen, auch im Sinne von: verständigen können. Allerdings nicht ohne Vermittlung. Wir nutzen die geringen elektrischen Potentialschwankungen, die alle Pflanzen haben und die man mit einem EEG-ähnlichen Gerät abnehmen kann. Wir haben dazu in der Algenanlage einen kleinen Ring mit speziellen Abmessungen installiert, dort nehmen wir ab. Und wenn ich mir die – inzwischen verstärkten – Potentiale an den Kopf lege, kann ich ziemlich zuverlässige Aussagen über den Zustand der Algen machen. Eine relativ heftige Potentialschwankung entsteht, wenn die Zelle stirbt – das bezeichnen wir als Todesschrei. Bei einer einzelnen wird dies freilich nicht bemerkt, aber wenn der ganze Ring stirbt, dann holt mich das sogar aus dem Nirwana zurück.“ „Und Sie glauben, daß sich ein Teil dieser toten Algen regenerieren läßt?“ „Nein, die nicht. Wir haben aber noch einen Notgroschen. Schonend eingefrostet. Aus dem können wir neue Stämme ziehen.“ Notgroschen, was für ein seltsames Wort! dachte Ruben. Was es bedeuten sollte, war ja klar, Not auch, aber was war ein Groschen? Egal – alte Leute benutzten manchmal noch Wörter, die eigentlich schon ausgestorben waren, das hatte er schon ein paarmal erlebt. „Wollten wir nicht einen Plan machen?“ fragte er. Joan verzog das Gesicht. „Sind Sie denn gar nicht neugierig, wie wir hier leben?“ Ruben sah sie voll an – jetzt lächelte sie, und jetzt zum erstenmal sah er ihr auch ihr Alter an.
„Neugierig schon“, sagte er, „aber ich fürchte, mir fallen die wirklich wichtigen Fragen so schnell nicht ein. Dazu müßte ich länger hier sein. Und arbeiten. Nach meiner Erfahrung kommt man einer Sache nur auf den Grund, wenn man in ihr handelt. Mit vollem Einsatz.“ „Stimmt“, sagte sie. „Machen wir also unsern Plan.“ Gegen Morgen hatte sich der Sturm so weit gelegt, daß das Dämmerlicht der aufgehenden Sonne in die Station drang. Zehn Minuten darauf sprachen die Geräte an, die die Tätigkeit der Sonnenkollektoren anzeigten – die Morgenaggregate standen fast senkrecht und brauchten nicht erst vom Sand befreit zu werden. Ruben ging ins Raumschiff, schaltete das Triebwerk ab und packte Verpflegung für einige Tage ein; denn in der Station würden die Algen erst in drei, vier Tagen wieder anfangen, Nahrung und Sauerstoff zu liefern. Die neuen Algen anzusetzen war eine Laborarbeit, bei der Ruben nur Hilfestellung leisten konnte: das Wasser und die leere Anlage reinigen, verschiedene geheimnisvolle Pülverchen abwiegen, mit denen die Startbedingungen für die neue Algenzucht hergestellt wurden, das Wasser wieder einfüllen. Und dann konnte er nur noch zusehen: Joan füllte eine
Portion Algen zuerst in den Ring, klemmte Elektroden daran und legte sich einen Reif um den Kopf. Wohl eine Stunde lang saß sie unbeweglich da, dann setzte sie den Reif ab und sagte zu Ruben: „Sie kommen.“ Sie sah glücklich, aber auch erschöpft aus. Vormittags begannen sie, die anderen Sonnenkollektoren zu reinigen; das waren große Flächen von Thermowandlern, auf denen sich der Sandstaub abgesetzt hatte, und sie gingen auf die urtümlichste Weise zu Werke, die sich denken läßt: mit einer Art Besen, den man aber nur sehr vorsichtig bewegen durfte. Denn es nützte nichts, wenn der Staub nur aufgewirbelt wurde; er setzte sich dann hinter ihnen wieder auf den Flächen ab. Bei solcher Arbeit laufen die Gedanken, wohin sie wollen. Ruben wurde sich bewußt, daß alles, was er hier erlebt hatte, seiner bisherigen Vorstellung von einer Marsstation widersprach. Geprägt war diese Vorstellung aber von den volltechnisierten Systemen eines Raumschiffs, wo man dem Menschen nur wenig überlassen konnte, oder von denen auf dem Mond, wo sie gleichzeitig produktiven, wissenschaftlichen und sogar touristischen Zwecken dienten. Hier dagegen – und wohl auch auf der Venus – wurden die natürlichen Organe des Menschen weit mehr beansprucht, Arme und Beine und Herz und Lunge und vor allem das komplizierteste und wirksamste Organ: das Gehirn.
6 Es war inzwischen Ende Mai geworden, und der heraufkommende Juni kündigte sich in Berlin mit einer ersten Hitzewelle an. Wenzel hatte schlecht geschlafen, und der allmorgendliche Dreitausendmeterlauf löste heute nicht das Unbehagen auf, das ihn beim Erwachen befallen hatte; es machte ihm deutlich, wie oft er in der letzten Zeit so mißvergnügt aufgewacht war. Viel öfter als früher. Zu oft eigentlich. Aber darüber nachzudenken war erst recht keine Quelle des Vergnügens. Dabei war doch alles schön: das frische Grün, der Sonnenschein, die Morgenkühle, und auch die Leichtigkeit, mit der ihm die Muskeln, Sehnen und Gelenke seines Körpers gehorchten. Zum Abschluß lief er die sechs Treppen zu seiner Interimswohnung hinauf, statt den Lift zu benutzen, und als er dann unter der Dusche stand, hatte er das Mißbehagen fast verscheucht. Aber eben nur verscheucht; es hatte sich in irgendeinen hinteren Winkel des Gemüts verkrochen und wartete auf eine Gelegenheit. Das Appartement, eine Gästewohnung aus der Verfügung des lokalen Ratgebers, bot diese Gelegenheit nicht, es war einfach möbliert, aber freundlich ausgestattet, mit einem interessanten Ausblick auf Historisches. Das Frühstück bot diese Gelegenheit noch weniger, denn er hatte es selbst zusammengestellt, und die Zeit des Laufes hatte den verschiedenen Küchenautomaten genügt, das Ihre zu tun. Als aber Pauline klingelte und sagte, daß sie mit einem Selbstfahrtaxi unten warte, merkte er, daß das Unbehagen schon wieder und ganz ohne Anlaß aus seinem Versteck hervorgekrochen kam. „Schön, daß du dabei bist“, sagte er zu Pauline, als er einstieg, „wir sollten das auch weiterhin so machen, daß wir die wichtigen Termine gemeinsam wahrnehmen. Die für die Ideenfindung wichtig sind“, setzte er noch hinzu, aber das konnte den Satz nicht mehr retten, er hatte Blabla gesprochen, und Pauline hakte sofort ein. „Das machen wir doch sowieso“, sagte sie. „Was ist denn mit dir los? Du siehst irgendwie bedrückt aus.“ „Na, dann sei doch froh, daß wenigstens dein Anblick mich zu freundlichen Äußerungen verführt!“
Sie schwiegen eine Weile, und dann wurde ihm bewußt, daß dieser Satz eine unverdiente Zurückweisung für Pauline war. „Heute ist der Kontinentalausscheid in meiner Kunst“, sagte er leise. „Normalerweise wäre ich jetzt in Moskau.“ „Und warum bist du nicht gefahren? Die paar Tage hätten wir wirklich aufbringen können!“ Wenzel seufzte, und das war für ihn selbst so ungewöhnlich, daß er lachen mußte. Aber dieses Lachen fiel grimmig aus. „Es sind ja nicht nur die paar Tage“, sagte er dann. „Ein Magier muß genausoviel trainieren wie andere Artisten, und wenn er den Ausscheid seines Lebens bestreiten will, muß er noch dazu als Erfinder arbeiten. Auf kontinentalem Gipfel kannst du nicht mehr mit althergebrachten Nummern auftreten, da mußt du Neues bieten, wenn du dich nicht blamieren willst, und – ach!“ In diesem Ach lag eine solche Resignation, daß Pauline merkte: Sie kannte wohl bisher nur eine Seite von diesem Wenzel Kramer. Gewiß hatte er hier und da einmal, wenn es sich so ergab, ein paar Tricks vorgeführt, und einmal hatte er sogar einen ganzen Abend gegeben, im Vorwerk, als Dank für die Gastfreundschaft, und sie, Pauline, hätte all das meisterlich gefunden wegen der scheinbaren Leichtigkeit der Vorführung und der Unsichtbarkeit der wirklichen Vorgänge. Sie hatte sich vergnügt und nicht weiter darüber nachgedacht. Dabei hätte sie aus eigener Erfahrung wissen müssen, daß kein Künstler unempfänglich ist für die Lockungen des Ruhms, der über das wirkliche Ziel der Kunst, das Erlebnis des Rezipienten, hinausgeht. War sie denn nicht selbst eine Woche lang mit stolzgeschwellter Brust herumgelaufen, als sie einen Kostümwettbewerb gewonnen hatte? Vielleicht waren das Überbleibsel aus früheren Jahrhunderten, vielleicht waren es auch wirklich notwendige Stimuli … „Es ist aber nicht nur deswegen“, unterbrach Wenzel ihre Gedanken, „ich glaube, diese Einseitigkeit ist doch eine schwerere Belastung für uns, als ich gedacht hatte. Wir können sie aber nicht umgehen. Wir dürfen uns nur mit dieser einen Sache befassen – oder mit tausend Sachen, aber immer unserm Problem zugeordnet. Und das nicht wegen der Zeit. Zeit hätten wir schon. Vielleicht sollten wir gelegentlich eine Kleinigkeit Kunst und Handwerk betreiben, als seelische Hygiene sozusagen, in homöopathischen Dosen. Aber wir müssen so in diesem Forschungsprozeß drinstehen, daß unser Gehirn alle Einzelheiten begierig
aufsaugt und verarbeitet, auch unterhalb des Bewußtseins. Wir kennen nicht die Breite und Richtung dieser Forschung, ihr Ziel liegt im Nebel, wir sind darauf angewiesen, daß irgendeine Nuance einer Sache, die uns begegnet, sich als Schlüssel erweist, wenn nicht für das Ganze, so wenigstens für einen weiteren Abschnitt. Und weißt du, was das schlimmste ist?“ Pauline sagte gehorsam: „Nein.“ „Daß ich mich irren kann. Daß alles ein Irrtum sein kann.“ „Das glaube ich kaum“, sagte Pauline. „Aber geht es dir jetzt wenigstens besser?“ Wenzel lachte, zuerst etwas gezwungen, dann jedoch freier. „Ja, danke“, sagte er, fügte aber doch noch hinzu: „Wenn man wenigstens handeln könnte. Aktiv sein. Konkrete Dinge anpacken.“ „Kommt auch noch“, erwiderte Pauline und kam sich fast weise vor. „Wir sind da.“ Das Institut für Telepathie war offensichtlich keine sehr umfangreiche Einrichtung. Es nahm nur eine Etage eines alten Bürohauses ein, und davon wurden die meisten Zimmer, wie sie später bei einem Rundgang erfuhren, nur sehr sporadisch genutzt, wenn etwa Klienten einmal längere Zeit hier verbringen mußten oder Kollegen aus gleichartigen Instituten anderer Metropolen hier arbeiteten. Vielleicht wäre, wenn sie sich nicht angemeldet hätten, nicht einmal jemand dagewesen, an den sie sich hätten wenden können. So aber wurden sie von einem der Wissenschaftler dieser Einrichtung erwartet, einem etwa siebzigjährigen Professor, dessen Gesicht bedeutend und zugleich lustig aussah. Ein Mensch in diesem Alter an einem solchen Institut – das hieß doch, daß man es mit einem verbissenen Anhänger seiner Fachrichtung zu tun hatte; denn der, den sein Dienst nicht ganz und gar gepackt hatte, bemühte sich in den Fünfzigern um eine Lehrerprüfung, jedenfalls war das die normale Entwicklung und wenn er sich darum beworben hätte und durchgefallen wäre, würde er jetzt wohl nicht Professor sein. Aber verbissen war der Mann ganz und gar nicht! Pauline stellte diese Überlegungen an, weil sie – zwar höflich begrüßt, aber dann doch erst einmal in Wenzels Schatten stehend – zunächst nur zuzuhören brauchte. Sie betrachtete auch die sonderbare Grafik, die über dem Kopf des Professors die Wand zierte und irgendwie an ein EEG erinnerte. Plötzlich jedoch begannen die Auskünfte des Professors sie zu fesseln, obwohl oder vielleicht gerade weil sie fröhlich, unbekümmert
und nicht ohne einen Hauch von Selbstironie vorgetragen wurden. Wenzel hatte das Problem der Todesfälle skizziert und die Behauptung jener Holographikerin angeführt, sie habe ein telepathisches Signal von ihrem Partner erhalten, und dann gefragt, ob das möglich wäre und ob es bei der Erforschung der Telepathie irgendwelche Erscheinungen gäbe, die ihr Problem tangieren könnten. „Möglich ist vieles“, sagte der Professor, „aber nachweisbar nur sehr wenig, und gar nichts aus der Vergangenheit. Ich muß wohl doch drei Sätze darüber sagen, wo wir auf unserm Gebiet stehen. Die drei Sätze lauten: Erstens – es gibt Telepathie. Zweitens – es gibt viel weniger Telepathie, als man denkt. Drittens – es gibt viel mehr Telepathie, als man denkt. Muß ich dazu noch mehr sagen?“ Pauline konnte sich nicht zurückhalten, sie sagte laut: „Ja.“ Es klang fordernder, als sie beabsichtigt hatte. „Ich habe damit gerechnet“, sagte der Professor lächelnd. „Nach dem, was ich gehört habe, tappen Sie genauso im dunkeln wie wir auf unserm Gebiet.“ „Was haben Sie denn gehört?“ fragte Wenzel. „Von Ihrem Langzeitversuch ATTACKE. Im Grunde gehen wir genauso vor, nur nicht mit so vielen Leuten, dafür seit drei Jahrzehnten und in rund hundert ähnlichen Instituten in allen Teilen der Welt. Wir betreuen hier zwanzig telepathieverdächtige Personen, mal hundert – sehen Sie, es kommt aufs gleiche hinaus. Wir haben bisher rund dreihundert bestätigte Fälle von Telepathie. Jedes Jahr kommen zehn dazu. Unser Gegenstand existiert demnach. Um aus unserer Arbeit eine Wissenschaft zu machen, fehlt uns nur das Wichtigste: die Fähigkeit, Telepathie experimentell hervorzurufen. Das ist der Stand. Der zweite Satz umschreibt unsere Arbeit. Die besteht nämlich hauptsächlich darin, nachzuweisen, was alles nicht Telepathie ist. Alle Methodik, die wir entwickeln, die Geräte, das Netz der Mitarbeiter, Recherchen – alles das ist zum größten Teil darauf gerichtet, die wenigen Fälle wirklicher Telepathie, die am Schluß übrigbleiben, hieb- und stichfest zu machen. Sie glauben gar nicht, womit einem die Leute kommen! Und nicht nur einzelne – es bilden sich immer wieder Grüppchen, die daraus eine Pseudoreligion machen, mit allem Unsinn behaftet, den die Menschheit dazu jemals ausgedacht hat, vom Spiritismus bis zur Telekinese. Wir haben ständig alle Hände voll zu tun, um solche Dummheiten zu unter-
binden. Aber auch die harmloseren Fälle strapazieren uns sehr. Es nützt uns ja nichts, wenn jemand kommt und erzählt, soundso, mein Mann ist in Rostock ausgerutscht und hat sich das Bein gebrochen, und ich hab es in Berlin zur selben Zeit gewußt, wir haben später sogar die Zeit verglichen. Selbstverständlich ist das in den allgemeinen Fällen ein rückwirkender Trugschluß, aber sagen Sie das mal den Leuten! So sind wir eben fünfundneunzig Prozent unserer Zeit damit beschäftigt, uns selbst die Beine wegzuhauen. Sie wollten etwas fragen?“ „Ja“, sagte Pauline, „ich weiß nicht recht, ich kann mir das alles nicht so richtig vorstellen, aber – wie ist denn das möglich, was Sie vorhin sagten, ich meine, daß sich solche Grüppchen bilden, die einem Aberglauben nachlaufen? In unserer Zeit?“ „Warum denn nicht?“ antwortete der Professor. „In unserer Zeit stabilisiert sich alles, warum nicht auch der Aberglauben?“ Er blickte spöttisch, doch dann verschwand der Schalk aus seinem Gesicht, und er wurde wieder freundlich. „Wir sollten uns vielleicht nicht allzuviel auf unsere Zeit einbilden“, sagte er. „Bei aller Genialität, die sich entfaltet: Mit vierzehn wählt man sein Handwerk, mit achtzehn seine Kunst, mit einundzwanzig seinen Dienst – aber dann hört für mindestens zehn Prozent der Menschen die Entwicklung auf, fragen Sie die Soziologen. Und dafür müssen wir noch dankbar sein, denn wir können so schon all die Genies kaum verkraften, Verzeihung, will sagen, wirksam werden lassen. Mal im Ernst, zwei Drittel der Genialität richtet sich auf das Künstlerische, und da die Hälfte der Künste dauerhafte Werke hervorbringen, muß man sich bald fragen, wohin damit? Aber das sind nicht meine Sorgen. Ich will mal lieber zum dritten Satz übergehen. Je enger die tatsächliche Forschung ist – und sie ist auf unserm Gebiet sehr eingeengt, das hab ich Ihnen ja geschildert, um so breiter wuchern die Hypothesen. Die Fälle, die wir sicher haben, gehören sämtlich zu dem, was wir gebundene Telepathie nennen – nämlich gebunden an zwei bestimmte Personen, die in einer engen psychischen Beziehung zueinander stehen, Eheleute, Eltern und Kinder, in einigen Fällen auch Freunde, aber immer zwei Personen, und in neunzig Prozent der Fälle mit eindeutiger Festlegung von Sender und Empfänger, nicht umkehrbar. Und hier beginnt auch schon die Einengung: Es kann ja auch Hunderte anderer Empfänger geben, das ist für uns nicht kontrollierbar. Und das Wort ‚ gebunden’ schreit förmlich nach seinem Gegenteil: ungebundene Telepathie, also zufällig – oder nach noch nicht bekannten Gesetzen – zwi-
schen Unbekannten entstehend, doch die können wir noch viel weniger nachweisen, also existiert sie erst mal als Hypothese. Oder nicht mal als Hypothese – nur als künftiges mögliches Untersuchungsfeld. Zum Beispiel Problemtelepathie. Vielleicht ist einiges von dem, was der einzelne als Intuition erlebt, in Wirklichkeit telepathisch initiiert von anderen, die am gleichen Thema arbeiten. In der Physik haben sie jetzt eine neue Methode, die auch einmal für uns interessant werden kann, die sogenannte Ensemblegestützte Intuition. Aber da kommen wir vorläufig nicht ran, ich meine, mit Meßgeräten und dergleichen. Eine Zwischenform – nicht ganz gebunden, aber auch nicht ganz ungebunden – könnte die Begegnungstelepathie darstellen, die sich im praktischen Leben vor allem als spontane Sympathie und Antipathie äußert. Nein, ich weiß, das ist weitgehend als Reaktion auf geprägte Muster deutbar, aber es könnte ja sein. Und dann gibt es noch Gerüchte, daß die Leute auf den Venusstationen viel mit Telepathie arbeiten, ich versteh zwar nicht, wieso, aber jede Wissenschaft hat eben auch ihre Gerüchte. Kurz, mein dritter Satz bezog sich auf das, was alles sein könnte. Ich habe schon zuviel geredet. Haben Sie noch Fragen?“ „Einen Fall vorführen können Sie ja wohl nicht“, sagte Wenzel nachdenklich. „Nein, aber eine Aufzeichnung, wenn Ihnen damit gedient ist. Die Sache funktioniert folgendermaßen: Der Beginn der Sendung läßt sich automatisch am EEG ablesen, der Computer schaltet die Aufzeichnung ein bei Sender und Empfänger und alarmiert uns. Wir setzen uns zuerst mit dem Empfänger in Verbindung und dann mit dem Sender und befragen sie. Alles das – und auch unsere Aktivität hier – wird unter Eichzeitkontrolle aufgenommen, es ist schließlich ein wissenschaftliches Dokument, bei dem die Zeit entscheidenden Nachweischarakter hat. Nehmen wir mal – diesen Fall hier …, er ist ganz …interessant …“ Auf dem Bildschirm erschien eine Buchstaben-Zahlen-Chiffre, danach Schrift: Datum nach Tag, Stunde, Minute, Sekunde, die Namen des Senders und des Empfängers, einiges zu ihren Personalien und derzeitigen Aufenthaltsorten. Es handelte sich um Enkel und Großvater, der Enkel war der Sender. Zuerst sah man nur die Enzephalogramme, die Wenzel nichts sagten, dann erschien, während das Zeitband an der Seite weiterlief, ein Mann, der über Video rief, offenbar ein Mitarbeiter des Instituts, danach ein älteres Männergesicht, Schrift dazu, es war der Großvater in
Werneuchen, nordöstlich von Berlin, nicht ganz eine Minute war verstrichen. Der Dialog zwischen beiden wurde wiedergegeben: „Institut für Telepathie. Haben Sie etwas empfangen?“ „Ja.“ „Was haben Sie empfangen?“ „Bild, Ton und Text. Ich beschreibe: Das Bild war etwas Rundes, Unbewegliches, aber mit fließenden Rändern und so was wie Lichtreflexen in der Mitte. Es gibt nichts, woran mich das erinnert. Und es gibt nicht viel, was ich nicht gesehen habe. Der Ton – es war nicht viel, leises Zischen, hin und wieder schwache Geräusche, Atmen, es war eher, als warte man auf Geräusche. Oder auf etwas anderes. Der Text stand in diesem Ton, es waren kurze Worte, vielleicht Kommandos, sie waren für mich nicht identifizierbar, ich glaube, sie hatten für meinen Enkel keine Bedeutung, waren nur akustische Umgebung. Deutlich übertragen wurde ein Gefühl – Aufregung, vermischt mit Staunen.“ „Bitte bleiben Sie erreichbar, wir melden uns gleich wieder.“ Dann wurde der Enkel gerufen, das stellte sich als nicht so einfach heraus – der Enkel hatte ärztlichen Bereitschaftsdienst, und er war zu einem Unfall beim Ausbau des unterirdischen Transportsystems gerufen worden. Die Verbindung kam erst eine Viertelstunde später zustande, und da konnte der Enkel nur noch bestätigen, daß er bei der Fahrt durch eine Transportröhre zum Unfallort erregt gewesen sei, vor allem, weil er nie so etwas gesehen, und auch, weil er lange nicht mehr einen Unfall behandelt hatte. An seinen Großvater habe er dabei wohl auch gedacht. Als Anlage folgte ein später hergestellter Film von einer Fahrt durch dieses sonst geschlossene, hier aber gerade in Erweiterung stehende Röhrensystem. Dieser Film wirkte auf Wenzel und Pauline eigentlich überzeugender als alles Gesagte – so genau hatte der Großvater mit wenigen Worten den Eindruck umschrieben, den nun auch sie bekamen. „Ich muß dazu sagen, was für Sie vielleicht nicht selbstverständlich ist – die Tatsache, daß weder Großvater noch Enkel jemals zuvor Einblick in das Röhrensystem gehabt hatten, ist natürlich überprüft worden, keineswegs aus Mißtrauen, sondern aus Prinzip.“ „Dann ist der Ausdruck Gedankenübertragung eigentlich falsch“, sagte Wenzel, halb fragend, „und mit dem Gedankenlesen ist es ganz und gar Essig.“
„Das schlägt wohl auch mehr in Ihr Fach“, sagte der Gelehrte, und da Wenzel wohl etwas stutzig guckte, fügte er lächelnd hinzu, „ich hatte eine Einladung zu Ihrem Regionstreffen.“ „Wie groß ist denn die Reichweite der Telepathie?“ wollte Wenzel wissen. „Der weiteste bestätigte Fall liegt bei etwa tausend Kilometern, aber das mag an der Anlage unserer Beobachtungen liegen – wir haben ja immer Menschenpaare, die normalerweise an einem Ort leben oder doch nicht allzu weit voneinander.“ Wenzel zögerte einen Augenblick, bevor er fragte: „Waren Sie von Berufs wegen auf unserm Treffen?“ „Gewiß“, antwortete der Telepathiker. „Uns interessiert einfach auch der Gedanke, wieviel unbewußten, spontanen Anteil die Telepathie zum Beispiel bei solchen Führungsexperimenten haben mag, wie Sie auch eins gezeigt haben. Was meinen Sie dazu?“ An sich war diese Kunst für Wenzel immer eine klare, ganz und gar rationale Sache gewesen. Wenn jemand etwas versteckt hatte – oder wußte, wo es versteckt war –, dann nahm der Zauberkünstler ihn bei der Hand, und durch Bewegungs- und Atemreaktionen, die der Testperson selbst nicht bewußt wurden, ließ er sich führen. Jetzt aber zweifelte Wenzel zum erstenmal – waren diese Reaktionen nicht auch manchmal schon recht undeutlich gewesen, und er hatte trotzdem den versteckten Gegenstand gefunden? Hatte er nicht mitunter ein Gefühl der Sicherheit dabei gehabt, das er immer der Routine zugeschrieben hatte, das aber, wie er jetzt dachte, doch vielleicht mehr gewesen war als Routine? „Sie haben mich unsicher gemacht“, gestand er. „Sie sagten doch, Sie hätten so eine Art Signal, an dem Sie erkennen, wenn der Sender in Tätigkeit tritt – vielleicht wollen Sie mal die Spielperson bei solcher Vorführung mit EEG überwachen?“ „Wär nicht unrecht“, sagte der Gelehrte schmunzelnd, „es liegt zwar etwas außerhalb unserer Arbeitsrichtung, aber irgendwann müssen wir sowieso aus dem engen Kreis heraus.“ „Das Signal“, fragte Pauline plötzlich, „das Signal, an dem Sie so was erkennen – ist das die Grafik über Ihrem Schreibtisch?“ „Richtig“, sagte der Telepathiker überrascht, „das hätte ich ja fast vergessen, das wird Sie interessieren. Das ist nämlich die einzige folgenrei-
che Entdeckung, mit der wir bisher zum Schatz der Wissenschaften beigetragen haben. Das sind die Geronimo-Spindeln, ungewöhnliche Gehirnwellen im EEG, erst seit rund zehn Jahren bekannt, entdeckt von Doktor Geronimo in Madrid, einem bekannten Telepathiker. Nur haben sie leider nicht direkt etwas mit Telepathie zu tun, es gibt manchmal Telepathie ohne G-Spindeln, und es gibt ziemlich oft G-Spindeln ohne Telepathie, man hat sie bei bestimmten Formen der Hypnose gefunden, bei Selbstheilern, bei den verschiedensten Formen schöpferischer Erregung – freilich immer nur dann, wenn man sie gesucht hat, und das ist noch nicht allzuoft passiert. Telepathiker stehen eben immer noch etwas am Rand der Wissenschaft.“ Sie verabschiedeten sich herzlich, der Telepathiker sprach die Hoffnung aus, daß er habe helfen können, und Wenzel bejahte das, dachte aber dabei: Noch mehr hat mir Pauline geholfen – ich hätte diese GSpindeln übersehen. Das Gefühl, zu Hause zu sein, wollte und wollte sich nicht einstellen. Sternenstadt, unweit des großen Kosmodroms an den freundlichen Hängen des Kilimandscharo gelegen, bot unter tropischer Breite und bei gemäßigtem Klima seinen Bewohnern alle Schönheit der Erde, wichtig gerade für die, die die Hälfte ihrer Zeit oder mehr im Raum oder in Gagarin zubrachten. Sternenstadt war ein Paradies, und trotzdem fühlte sich Sibylle Mohr diesmal nicht wie eine Heimkehrerin ins Paradies. Die Schlichtung, die ihr angetragen worden war und die sie nach flüchtiger Musterung der Unterlagen angenommen hatte, fesselte sie außerordentlich, sie forderte schon jetzt alle Kraft und Erfahrung und sie würde, wenn die Ahnung nicht trog, ein bedeutendes Ereignis im Ablauf der gegenwärtigen Forschung überhaupt werden. Und trotzdem. Ja, natürlich wußte Sibylle, was mit ihr los war. Sie wußte es leider so genau, daß sie selbst sich nicht darüber hinwegtäuschen konnte. Im Vorwerk hatte sie immer mehr die innere Anteilnahme am Tod ihres ehemaligen Gatten verloren, je weiter die Untersuchung sich von Mord und Selbstmord entfernt hatte; dafür hatte der Untersuchende je länger, je mehr Raum in ihrem Herzen eingenommen. So war ihre Abreise ihr wie eine Flucht erschienen. Und das war wohl falsch gewesen, denn wenn man woanders geflohen ist und heimkommt, spürt man doch Erleichterung. Also war es zur Flucht schon zu spät gewesen. Also würde
der Repulsion eine Attraktion folgen, physikalisch-räumlich gedacht. Es war allerdings noch nicht sichtbar, wie das vor sich gehen sollte, und das machte sie unfroh und unheimisch, sobald sie von der Arbeit aufblickte. Selbst die Stunde Landschaftspflege, die hier jeder täglich leistete, auch zum eigenen Vergnügen und als körperlichen Ausgleich, und die ihr immer Spaß gemacht hatte, heiterte sie jetzt nicht auf. Freilich hätte sie Wenzel anrufen können oder er sie; aber sie brauchte dazu einen Grund, keinen Vorwand, sondern einen echten Grund, und sie war sicher, daß er ebenso dachte. Wenn nicht Notwendigkeit sie zusammenführte, und zwar eine so starke Notwendigkeit, daß man sich ihr beugen mußte, dann würden ihre so verschiedenen Berufe und Lebensläufe sie immer wieder auseinanderführen. Es sich leicht zu machen, das führte zu Scheinlösungen, die dem Leben nicht standhalten würden. Also versenkte sie sich immer tiefer in ihre Arbeit. Und das war auch nötig. Die Vorbereitung der Schlichtung nahm sie ganz in Anspruch, ihren sonstigen Dienst hatte sie abgegeben. Derzeitig erarbeitete sie sich eine Übersicht, hatte bereits eine Liste von Fragen, doch alle waren peripher, trafen nicht den Kern des Problems. Mehrmals bereits hatten ihre Überlegungen eine Formel gestreift, die die Mathematiker der Mannschaft nach den letzten Experimenten aufgestellt hatten und die alle Erscheinungen zwar nicht erklärte, aber ableitbar machte. Jetzt eben stieß sie wieder darauf, aus einer anderen Richtung kommend. Die Formel hatte außer dem Vorteil, daß man sie lange gesucht und endlich formuliert hatte, auch erhebliche Nachteile. Sie bestand selbstverständlich nicht aus einer einfachen Gleichung, sondern aus einem ganzen System von Gleichungen, und sie hatte eine große Zahl freier Parameter, über deren physikalischen Sinn nichts bekannt war, nicht einmal, ob sie einen hatten. Das war durchaus nicht sonderbar, denn die Erforschung der Welt der Bläschen begann ja erst, und dies war der erste mathematische Apparat überhaupt, der wenigstens alle experimentellen Ergebnisse umfaßte. Weitere Experimente würden eine Unzahl neuer Werte und Ergebnisse liefern, und dann würde man sehen, ob sie in die Formel paßten und wo sie ihr widersprachen. So wenigstens wäre der normale Gang der Dinge – wenn es weitere Experimente gäbe. Damit war sie wieder bei ihrem Problem. Daß sie noch keine Lösung wußte, beunruhigte sie nicht, das war normal. Niemand hätte eine Schlichtung beantragt, wenn ein bißchen Beschäftigung mit dem Stoff bereits zu Lösungen führen konnte. Sibylle hatte aber schon dreimal
erfolgreich als Schlichter gearbeitet und daher Vergleichsmöglichkeiten. Bei allen anderen Fällen war es ihr ziemlich schnell gelungen, sich in das Zentrum des Problems hineinzufragen. Hier stand im Mittelpunkt aller Erkenntnisse über die Bläschen zweifellos dieser Formelapparat, dieses System von Gleichungen. Mit einiger Mühe ließen sich daraus sicherlich ein Dutzend Richtungen ableiten, in die weiterzuforschen erfolgversprechend war. Über die Streitfrage – ob überhaupt weitermachen oder nicht – lieferte die Formel nichts. Es war überhaupt nicht zu sehen, woher eine Begründung für einen Schlichtungsspruch kommen sollte. Sibylle mußte jetzt schon mit der Möglichkeit rechnen, daß ihre Mission scheitern würde, und dann würde sie einen praxisbezogenen Kompromiß anordnen müssen – eine Regelung, die den Streit bestehen ließ, aber beiden Seiten Möglichkeiten und Grenzen für ihre Aktivitäten setzte, und so etwas war manchmal noch schwieriger. Trotzdem, solche Schwierigkeit schreckte sie nicht. Im Gegenteil, der Auftrag zog sie gerade durch seine vielen Unwägbarkeiten an. Abenteuer des Verstandes, war es nicht gerade das, was den Beruf des Wissenschaftlers für manche Menschen attraktiv machte, für deren Gefühl das Reich der Kunst zuviel Freiheit und zuwenig Notwendigkeit, zuviel Innenwelt und zuwenig Außenwelt bot? Eine Minderheit freilich, aber immer in der Geschichte waren die Abenteurer in der Minderheit – halt, das wußte sie nicht, soviel Ahnung von Geschichte hatte sie nicht, zurück also zum Problem! Wieder zog die Formel sie an. Formeln waren ihr etwas Vertrautes, nicht einfach eine schwierig zu verstehende Folge von Zeichen, Ziffern und Buchstaben, sie nahmen in ihrem Kopf außer dem sprachlichen Ausdruck noch eine andere Form an, die sie nicht recht fassen konnte, die aber spürbar und wirksam war, vor allem, wenn es um Problemlösungen ging; allerdings setzte dieser andere Ausdruck intime Bekanntschaft mit der Formel voraus. Irgendwie dachte sie dann nicht mehr in Worten, sondern in Bildern wie bei der Kunst, aber in abstrakten Bildern, etwa so, als stelle sie sich für die Formel ein physikalisches Modell vor …, alles ungenau, schwer zu fassen, aber wer weiß schon genau, was in seinem Kopf vor sich geht, wenn er sagt: Ich denke. Hm, physikalisches Modell. Sie tippte ein paar Zahlen in die Ruftastatur, und sie hatte Glück, als diensthabender Mathematiker meldete sich einer, den sie gut kannte. „Flori“, sagte sie, „es geht um die BläschenFormel, kennst du das Ding?“
„Ja, aber warte, ich hol’ s mir auf mein Terminal, ich hab so was immer gern vor Augen, so, da ist sie, schieß los!“ „Mir ist da so ein Gedanke gekommen. Könnte man nicht ein physisches Modell dieser Formel bauen, ich sage nicht physikalisch, es könnte aus ganz unterschiedlichen Technologien zusammengesetzt sein, sicherlich zum großen Teil aus Analog-Rechenelementen, und es müßte folgendes leisten: Ein- und Ausgabemöglichkeiten für alle Parameter, weiter müßte es eine Art Eichfeld darstellen, also scharf, solange die Parameterwerte nicht weit vom Mittelwert entfernt sind, aber bei großer Entfernung verschwimmend – ahnst du, wo ich hinwill?“ „Damit experimentieren wie mit der Blastron-Anlage, denk ich mir?“ „Stellvertretend, ja.“ „Durchaus möglich. Auch reizvoll. Man müßte die Redundanz an den Rändern verschiedenen allgemeinen Ordnungsprinzipien der Natur unterwerfen, wie Symmetrie, Invariantenbildung und so weiter, was meinst du?“ „Eingeschlossen die Möglichkeit, sie zu durchbrechen.“ „Sollen wir’ s bauen? Bestellst du das in deiner Eigenschaft als Schlichter? Wird ‘ ne Menge Aufwand kosten. Brauchst du’ s zur Schlichtung?“ Ja, das hatte sie eigentlich gedacht. Aber jetzt, da ihr die Frage von einem anderen gestellt wurde, überlegte sie: Warum erst zur Schlichtung? Wenn das Ergebnisse liefert – und das ist gar nicht ausgeschlossen –, dann kann ich diese Ergebnisse am besten vorher gebrauchen! „Wie lange dauert das?“ fragte sie. „Wenn du es dringend machst, vielleicht zwei Tage.“ „Gut, ich mach es dringend, ich tipp es gleich ein, kannst es von deinem Terminal abnehmen. Und bereitet die Experimentatoren von Blastron darauf vor, daß sie damit arbeiten sollen!“ Gibt die Formel vielleicht doch etwas her! dachte Sibylle. Kenne ich sie eigentlich schon richtig, kann ich sie aus dem Gedächtnis aufzeichnen? Sie versuchte es, skizzierte eine Viertelstunde und war dann doch nicht sicher, ob das Ergebnis stimmte. Sie holte die Originalformel auf ihr Terminal. Sieh mal an, da hatte sie sich an ein paar Stellen verhauen, wie kam denn das? Drei Stellen waren es. Sie verglich noch einmal ihre Gedächtnisskizze Punkt für Punkt – also Symbol für Symbol – mit dem Original. Ja, drei Stellen. Aber ihre Formel, die aus ihrem Gedächtnis,
gefiel ihr besser, sie wußte zuerst nicht, warum. Na klar, weil sie aus ihrem eigenen Gedächtnis kam. Lustig. Oder mehr als lustig? Formeln haben, wenn sie ein großes Gebiet der Wirklichkeit einschließen, nebenbei auch ästhetischen Charakter. Zugegeben, der erschließt sich nur einem Menschen, der auf dem Gebiet zu Hause ist, und auch da nicht jedem. Aber er existiert. Und er hat durchaus heuristische Bedeutung. Ja, ihre Formel war wirklich schöner. Sie unterschied sich von der echten hauptsächlich durch Weglassungen; aber wenn man genau hinsah, entstanden dadurch zusätzliche Symmetrien … Nun nicht überziehen! befahl sie sich. Sie legte die Skizze fort und löschte das Terminal. Ja, sie würde diesem Eindruck nachgehen, aber sie würde sich noch einige Tage überlegen, wie. Wieder unternahm Ruben einen wissenschaftlichen Seitensprung, diesmal aber zielbewußt. War er zur Venus geflogen, weil er Zeit hatte und weil er meinte, das könne nicht schaden, und zum Mars, weil das eine Ergänzung des Venusbesuchs darstellte, so hatte er diesmal mit Bedacht gewählt. Beide Ausflüge hatten ihn seinem Wunschziel wieder näher gebracht, aber das hatte sich eigentlich ergeben, ohne daß er es direkt beabsichtigt hatte. Jetzt nahm er an einer Serie von Experimenten mit Antimaterie teil, die auch im solaren Raum stattfanden, nicht einmal weit entfernt von Gagarin, und er hatte sich gedacht, er würde ja eine Sonne für seinen Mond Esther brauchen, wenn er den besiedelte, und falls ihn jemand ernsthaft danach fragen würde, müsse er wenigstens ein paar Grundgedanken zur Hand haben, wie das zu machen sei. Und Antimaterie konnte ja durchaus eine Lösung sein, wenn auch Herstellung und Transport fürs erste zu Lasten der Erde gehen würden.
Das Experiment, an dem er als Navigator teilnahm, also ohne sich vorher lange einarbeiten zu müssen, war jahrelang vorbereitet worden, man erwartete, daß es in den berechneten Bahnen verlief und die Theorie im wesentlichen bestätigte, höchstens daß vielleicht kleine Abweichungen auftreten würden, die dann Anlaß zu weiteren Forschungen gaben. Es ging um das Verhalten einer makroskopischen Menge Antimaterie – ein Gramm sollte eingesetzt werden – in einem hochverdünnten Gas, wie es etwa an der Grenze zwischen der Exosphäre der Erde und dem freien Raum bestand, wo das Experiment stattfinden würde, was wiederum einen hohen Aufwand an Sicherung erforderlich gemacht hatte, dem Ruben letztlich die Möglichkeit seiner Teilnahme verdankte. Mit anderen Worten: Er steuerte eins der Sicherungsschiffe, die die Antimaterie annihilieren sollten, falls sie außer Kontrolle geriete. Eine winzige Kugel Antimaterie wurde dreitausend Kilometer über der Erdoberfläche bei stabiler Bahngeschwindigkeit aus der isolierenden Magnetflasche entlassen, das Schiff der Gruppe, die das Experiment führte, blieb seitlich zurück, während die drei Sicherungsschiffe etwas tiefer gingen. Ihr Kurs war so berechnet, daß sie infolge der höheren Winkelgeschwindigkeit in etwa drei Stunden direkt unterhalb der Antimaterie liegen würden. Sofort nach dem Ausstoß begann die kleine Kuller zu leuchten, so intensiv, daß sie mit bloßem Auge zu sehen war. Daneben, auf einem Bildschirm, hatte Ruben auch die Meßergebnisse von Bord des Experimentführers. Seine Aufgabe war denkbar einfach – wie die anderen beiden Sicherungsschiffe mußte er nur den Kurs halten oder auch wechseln, falls sich das Experiment länger hinzog, und dabei die Zielautomatik für eine Feinstaubbombe überwachen. Ausgelöst würde sie gegebenenfalls vom Führungsschiff, und nur wenn das aktionsunfähig sein sollte, mußte er nach eigenem Ermessen oder nach Absprache mit den anderen Sicherungsschiffen handeln. Die Annihilation mit den sporadischen Luftmolekülen hatte also begonnen, und sie heizte das Kügelchen bestimmt kräftig auf, denn gar so sporadisch waren die Luftmoleküle dank der großen Bahngeschwindigkeit nicht. Bald mußte der Zeitpunkt kommen, wo nach Vorstellung der Wissenschaftler die Antimaterie – es handelte sich um reines Anti-Eisen – flüssig wurde und dann kurz darauf gasförmig.
Da, jetzt änderte sich etwas, zwar nicht für den Augenschein, aber auf dem Bildschirm: Das Kügelchen nahm Tropfenform an, war also verflüssigt; klar, der Zipfel des Tropfens zeigte nach hinten, und die Vorderfront war merklich heller, denn dort fanden die meisten Annihilationen statt, hauptsächlich Proton-Proton- und Elektron-Positron-Reaktionen. Die Eisenkerne wurden dabei aufgerissen, und es setzten zusätzlich verschiedene Kernreaktionen ein, die den Gesamtablauf regulierten, indem sie den Energietransport verlangsamten; das war aus früheren, kleineren Experimenten bekannt. Ohne diese Reaktionen konnte es keine gasförmige Phase geben; ob sie tatsächlich eintreten würde, das mußte sich jetzt zeigen. Und da kam sie. Mit bloßem Auge war zu sehen, wie der Tropfen wuchs, innerhalb weniger Sekunden schwoll er an auf Metergröße, und da sein Querschnitt zehntausendmal so groß wie vorher war, galt das ebenfalls für die Zahl der auftreffenden Luftmoleküle. Jetzt war der Rauminhalt MILLIONEN-MAL so groß, und der Ball wuchs immer noch weiter, wenn auch schon langsamer. Und dann hatte er die Größe erreicht, in der sich der Strahlungsdruck der annihilierenden Oberfläche mit dem Dampfdruck von innen die Waage hielt – nun war der Feuerball stabil, eine kleine, von Menschen geschaffene Sonne. Oder bescheidener: ein Modell dafür. Eine kleine Sonne freilich nur in Rubens Gedanken. Die Experimentatoren interessierten sich gewiß für alles andere mehr als für eine solch utopische Anwendungsmöglichkeit. Sie versuchten die Zusammenhänge zwischen Kern- und Anni-Reaktionen zu fixieren, forschten wohl auch nach Subquarks und Tachyonen. Ruben jedoch dachte in den anderthalb Stunden, die nun folgten, nur an die Anwendung: Man müßte eine solche Sonne in der Exosphäre des Minos unterbringen, des Riesenplaneten, und zwar so, daß sie immer auf der Linie Minos – Esther stand … Im Grunde genommen war das alles, technisch gesehen, nur noch ein Problem zielgerichteter Forschung von vielleicht zehn, zwanzig Jahren. Selbstverständlich nur dann, wenn man entsprechende Kräfte darauf, konzentrierte. Aber das eigentliche Problem war wohl das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis – es mußte möglich sein, einen Antimaterieball solcher Größe und Masse zu installieren, daß er für die Esther wenigstens zehn Jahre lang eine stabile Sonne bildete. Dann mußte man ihn mit
weiterem Antistoff nachtanken können. Ob das im Bereich des Möglichen lag – diese Frage zu beantworten, waren wohl noch mehrere Experimente nötig. Ruben ließ sich nicht dazu hinreißen, jetzt selbst Berechnungen anzustellen. Er hatte hier eine wenn auch bescheidene Aufgabe, und die war zu erfüllen. Groß und schwer hing die Erde unter ihm, keine Scheibe mehr, schon eine Kugel. Aber nur selten streifte sein Blick ihren Rand; denn langsam rückte sein Schiff dem strahlenden Ball näher, schon stand der bedeutend steiler als zu Beginn am vor ihm liegenden Himmelsquadranten. Ruben begnügte sich nicht damit, die Automatik immer wieder zu kontrollieren, er versuchte auch, sich Havariesituationen vorzustellen. Wie etwa, wenn der Ball in mehrere große Stücke zerplatzen würde? Klar, der Fall war theoretisch vorgesehen – jedes Schiff würde die ihm am nächsten liegenden Teile vernichten. Nein, das war nicht exakt, er zum Beispiel, jetzt gerade am weitesten vorn, würde die in Flugrichtung liegenden Teile nehmen, na ja, Hauptsache, der Automatik war die Einteilung klar. Hin und wieder blickte Ruben auch auf die Darstellungen der Meßergebnisse, die auf seinem Bildschirm erschienen. Er kannte sich zwar in den Feinheiten dieses Experiments nicht so aus wie die Kollegen im Leitschiff, die sich seit Jahren damit beschäftigt hatten, aber so viel Physiker war er auch, daß er sah und erkannte, wie sehr sich der Feuerball jetzt, knapp anderthalb Stunden nach dem Start, stabilisiert hatte. Es gab nur noch winzige Formveränderungen, Schwankungen um das Normalmaß, und selbst Mikroteilchen kosmischen Staubs, die auf den Ball trafen, größer immerhin als Luftmoleküle, waren nur noch an Veränderungen im Spektrum erkennbar. Diese Stabilität war gewiß das schönste Ergebnis des Experiments – für die Kollegen wie auch für ihn selbst mit seinen besonderen Interessen. Da geschah es – ein starkes Aufblitzen, und der Ball zerplatzte. Vier, nein fünf Teile größeren Umfangs, seitwärts ausgelenkt und nach hinten, dazwischen ein schwaches Schimmern, das schnell abklang. „S eins nicht schießen“, sagte eine Stimme, das betraf ihn, Ruben, er sah, daß die anderen bereits feuerten, stellte es an seinen Armaturen und kurze Zeit später am erneuten Aufblitzen der Bruchstücke fest, die weiter hinten lagen, doch nein, jetzt waren es keine Bruchstücke mehr, jetzt waren es schon wieder Kugeln, er sah es an den beiden vorderen, die in
sein Revier gefallen wären. Und jetzt verstand er auch, was die Wissenschaftler wollten, na klar, das war eine nicht geplante, aber ungeheuer erkenntnisträchtige Weiterführung des Experiments: Die beiden vorderen Bruchstücke stabilisierten sich wieder, und was würde nun geschehen? „In Ordnung“, bestätigte Ruben und wandte sich einem anderen Problem zu. Was hatte die Explosion verursacht? Wenn es etwas Äußeres gewesen sein sollte, so mußte es … „Ein Mikrometeorit an der Grenze der Erfaßbarkeit“, meldete das Leitschiff, „wir haben ihn im Radarprotokoll aufgespürt. Hört mal her, S eins bis S drei, wir haben eine Frage an euch. Wir möchten gern etwas probieren, aber da müßt ihr uns helfen, und das ist nicht ohne Risiko. Zwei von euch müßten nämlich dicht ran an die beiden Bälle und sie mit einem Magnetfeld vorwärts stoßen, so daß sie nicht mehr auseinanderdriften wie jetzt, sondern aufeinander zufliegen. Folgende Gefahren: Erstens – die beiden können sich verfehlen oder einander abstoßen, dann würden sie auf euch zuschweben; zweitens – ihre noch unbekannte Einwirkung aufeinander kann sie zum Platzen bringen; drittens – alles mögliche, das uns jetzt nicht einfällt. Einer sollte auf jeden Fall abseits bleiben, um bei eventueller Havarie eingreifen zu können. Wollt ihr?“ „Ich bin dabei!“ rief Ruben. „Spielen wir Delphin!“ „Ich nehm den rechten Ball!“ antwortete der Kollege von S3. „Delphin ist gut! Gefällt mir!“ „Ich sammle dann eure Reste auf“, sagte bedächtig der Pilot von S2. „Abenteuer liegen mir nicht.“ So viele Unterschiede es auch geben mag zwischen der Navigation eines Raumschiffs im erdnahen Raum und der Führung eines Autos auf der Erde – eins trifft doch auf beide zu: Schnell fahren kann jeder Dumme, aber langsam, ganz behutsam zu navigieren, Millimeterarbeit zu leisten – das ist Kunst. Ruben und sein Kollege beherrschten diese Kunst gleichermaßen, eine Viertelstunde später trieben sie die beiden Bälle, die inzwischen etwa zweihundert Meter auseinandergedriftet waren, mit leichten Magnetschlägen aufeinander zu. Später, als sie sich die Aufnahmen des Leitschiffs bei der Auswertung in Gagarin ansahen, wurden sie tatsächlich in hohem Maße an das Spiel der Delphine erinnert, die Bälle jonglieren. Jeder gab seinem Ball einen Schubs, die Kugeln schwebten aufeinander
zu, dann aber stießen sie einander ab und trieben, etwas seitlich ausgelenkt, zu den beiden Schiffen zurück, die fingen sie mit einem Magnetfeld wieder ein und stießen sie erneut aufeinander zu, mit stärkerer Kraft diesmal, sie sollten den Strahlungsdruck überwinden. Aber es mußte andere Ursachen haben als den Strahlungsdruck, daß die Kugeln nicht verschmolzen, auch eine nochmalige Erhöhung des Schubs konnte sie nicht dazu bringen. Und dann dieser letzte Versuch, an den Ruben sich noch Jahre später erinnern sollte, nicht weil Besonderes geschah, sondern weil er das normal Geschehende mit so seltsamen Gefühlen begleitete. Das Leitschiff schickte ihm ein Programm für den Feldgenerator, wonach die Kugel aus Antiplasma zu einem schmalen Pfeil komprimiert und auf die andere Kugel geschossen wurde. Es verlief alles wie gedacht, der Pfeil drang in die Kugel ein, sie blähte sich etwas und blieb danach stabil. Es war für die Wissenschaftler im Leitschiff gewiß ein bedeutendes Ergebnis – für Ruben war es weit mehr. Er sah sich mit seinem Schiff vom Mond Esther zum Planeten Minos fliegen und dort die künstliche Sonne mit einem gigantischen Pfeil aus Antistoff aufladen; er erlebte das intensiver als die Wirklichkeit und wußte doch in jedem Augenblick, daß das nur in seiner Vorstellung geschah. Und gleich danach, er wußte selbst nicht, warum, war ihm zum Lachen zumute, zu einem kleinen Lachen aus Fröhlichkeit. Gleich nach ihrer Rückkehr vom Telepathiker hatten Pauline und Wenzel das Computernetz befragt, was es zu den G-Spindeln zu sagen habe. Das Ergebnis war entmutigend – nicht wegen der Geringfügigkeit, sondern im Gegenteil wegen der Fülle der Angaben. G-Spindeln traten auf bei großen schöpferischen Leistungen in allen Künsten und Wissenschaften, aber auch bei starken psychischen Belastungen und sogar bei gewissen Krankheiten. Es gab mehrere Dutzend Forschungsgruppen, die sie untersuchten, aber jede nur unter einem bestimmten Blickwinkel; die Zeit für eine Synthese des Wissens darüber war offensichtlich noch nicht gekommen. Kein Wunder, wenn man bedachte, daß sie erst zehn Jahre bekannt waren. Wieso eigentlich? Das EEG wurde seit Jahrhunderten angewandt, warum ist nicht früher jemand darauf gestoßen? Konnte man daraus schlußfolgern, daß es die G-Spindeln erst seit Jahrzehnten gab? Als Schlußfolgerung war das sicherlich unzulässig, aber als Vermutung mochte es vielleicht hingehen, als Fragen produzierende Spekulation
gewissermaßen. Dann also hätte sich mit dieser jetzt lebenden Menschheit etwas ereignet, was es früher nicht gab, und wie es schien, etwas sehr Umfassendes, und es wäre nun herauszukriegen, was. Ob man dieser Spekulation wirklich nachgehen sollte, darüber müßte man wohl am besten einen Praktiker befragen. Immerhin hatte sie etwas gemeinsam mit den Gedankengängen, die Pauline und Wenzel seit einiger Zeit verfolgten. Aber das machte die G-Spindeln auch gleich wieder verdächtig – war es nicht vielleicht bloß Wunschdenken? Schließlich – und deswegen waren die beiden bisher nicht auf diese G-Spindeln gestoßen – zeigten die keinerlei Altersabhängigkeit, keine Häufung um die Lebensmitte. Dem konnte man jedoch entgegenhalten, daß die bisherigen Untersuchungen sich ja gar nicht das Ziel gesetzt hatten, statistisch repräsentativ zu sein. Wie auch immer – Pauline sprach mit einigen Medizinern, die am Projekt ATTACKE mitarbeiteten; sie waren ja fast alle Praktiker, was das EEG anging. Es kam zwar keine einhellige Meinung dabei heraus, aber die meisten hielten es für wahrscheinlich, daß die G-Spindeln schon früher entdeckt worden wären, wenn es sie gegeben hätte. Wenzel gegenüber mußte Pauline freilich zugeben, daß diese Majorität fragwürdig war: Der Gedanke, es könnte so sein, war für alle neu gewesen, noch nie war einer von ihnen daraufgekommen, und das Neue zieht ja bekanntlich an. Drei Tage hatten sie damit zugebracht, sich eine Übersicht über dieses Problem zu verschaffen, dann legten sie es zunächst einmal zu den Akten. Das war nichts Ungewöhnliches; mit den meisten Dingen und Fragen, denen sie sich zuwandten, ging es ihnen ebenso. Sie hatten sich längst daran gewöhnt und hofften nur, daß aus der Quantität irgendwann eine Qualität herausspringen würde, wie sie sich auch daran gewöhnt hatten, alle guten Sitten zu verletzen, indem sie fünf, sechs Stunden täglich Dienst taten. Und immer noch verging die meiste Zeit mit Befragung des Computernetzes. So traf sie der Alarm der ATTACKE-Zentrale, die ihren Sitz gleich nebenan hatte, in ihren Arbeitsräumen, jemand riß die Tür auf, brüllte „Alarm!“, sie sprangen auf, liefen mit, fuhren mit.
„Hier muß es irgendwo sein“, sagte der Fahrer, auch wohl ein Student wie die meisten ATTACKE-Mitarbeiter, und bog in eine Nebenstraße ein. Da stand schon der Wagen der Dringlichen Medizinischen Hilfe. Sie hielten, sprangen heraus, liefen hin. Die Mediziner untersuchten einen Mann, aber der war bei Bewußtsein und ziemlich lebhaft. „Ein leichter Anfall“, sagte der leitende Arzt, „wir können das hier abmachen. Ein bißchen Schonung hinterher – na, Sie wissen schon.“ Eine halbe Stunde später saßen sie zu sechst in der Zentrale der ATTACKE-Leute. Der Mann hieß Severin Runge und war als Planungskontrolleur unterwegs gewesen. Vom Handwerk war er Klempner, und seine Kunst war das Kupferschmieden. Natürlich kannte jeder die Institution des Planungskontrolleurs, aber wer wußte schon genau, was solcher Dienst alles umfaßte? Sie ließen es sich von Severin Runge erläutern. Die materielle Produktion und Reproduktion bleibt ja im wesentlichen konstant, wie jeder in der Schule lernt. Da auch der Stoffkreislauf beinahe geschlossen ist, also der Natur fast nichts mehr entnommen oder hinzugefügt wird, ist die Produktion ein periodischer Prozeß, dessen Planung dem Computernetz obliegt. Veränderungen gibt es nur sozusagen an der Basis, und die beziehen sich auf Einzelheiten, konkrete Anforderungen im Bestellsystem, die sich hier und da ändern, wobei aber die Änderungen sich spätestens im Regionsmaßstab gegenseitig aufheben. So lernt man es in der Schule. Aber in Wirklichkeit ist die Sache doch etwas komplizierter, denn wozu würden sonst die Planungskontrolleure gebraucht, die ein vielfach gegliedertes System menschlicher Verantwortung darstellen, das dem Computernetz übergeordnet ist. Die kollektiven Organe der Kontrolleure bestätigen oder verwerfen die Computerplanungen. Aber sie verwerfen sie selten; allzuviel Arbeit haben sie damit nicht: Die Stabilität überwiegt. Die Hauptarbeit des Kontrolleurs liegt an der Basis. Jeder Mensch oder jeder Haushalt bestellt im Herbst die langlebigen Gebrauchsgüter, die er im Jahr darauf haben möchte, und die Computer würden selbstverständlich alles planen und produzieren lassen, was da bestellt wird. Mißbrauch wäre, wenn auch selten, so doch möglich. Es kommt ja auch hier und da noch Mißbrauch mit Gütern des täglichen Bedarfs vor, nur
fällt der ökonomisch nicht ins Gewicht, eher moralisch. Die Planungskontrolleure prüfen also den Umfang der Bestellungen, und es gibt immer wieder mal einen Fall, wo sie mit dem Besteller sprechen und sich seine Wünsche begründen lassen. Im äußersten Fall können sie den zuständigen Schlichter anrufen – verweigern dürfen sie selbst nichts. Das lernt man zwar nicht in der Schule, aber man erfährt es nach und nach, wenn man älter wird. Was jedoch Severin Runge erzählte, war nicht nur Pauline, sondern auch Wenzel neu. „Ich habe mich heute halbtot gefreut!“ sagte der Kontrolleur, erschrak sogleich vor seiner eigenen Formulierung, die ja auf makabre Weise im direkten Wortsinn zutraf, winkte dann aber ab und lächelte wieder. „Was ich schon lange erwartet habe – jetzt geht’ s los! Jetzt hab ich handfeste Zahlen, nicht nur von hier, auch von Kollegen aus anderen Kreisen. Jetzt geht’ s als Bericht zum Regionsausschuß. Wenn Sie wollen, erklär ich’ s Ihnen, es macht mir ja Freude, also folgendermaßen …“ Wenzel blickte den Arzt an, der verstand die stumme Frage, ob es für den Patienten gut sei, wenn er sich so enthusiasmierte, und nickte leicht. Nun hörte Wenzel ohne Sorge und dann auch mit wachsendem Interesse zu; denn was der Kontrolleur ausführte, widersprach in mancher Hinsicht der Schulökonomie. „Im Grunde hat mich die Stabilität immer geärgert. Sie ist ja gut und funktioniert auch vortrefflich, wer sollte das besser wissen als ich, aber eigentlich widerspricht sie doch der menschlichen Natur. Ja, ich weiß alles, niemals haben die Menschen so viel Freizügigkeit gehabt, so viele Entfaltungsmöglichkeiten wie jetzt, und nach den großen Umwälzungen vergangener Jahrhunderte war eine Periode relativen Stillstands sicher notwendig. Also ich denke gar nicht, daß wir Menschen irgend etwas falsch gemacht hätten, ich meine nur, daß wir aufpassen müssen, sonst kann es passieren, daß wir jetzt etwas falsch machen. Seit ein paar Jahren nun vermute ich, daß wir gar nicht so stabil sind, wie die Zahlen ausweisen. Ich hab nicht wenige Debatten darüber geführt, hab mir ein dutzendmal lang und breit beweisen lassen müssen, daß ich unrecht habe, klar, ich habe mich geärgert, habe weiter gesucht, aber an der falschen Stelle, wie ich heute weiß. Obwohl der Verbrauch materieller Güter längst nicht mehr das Bestimmende ist in unserer menschlichen Gesellschaft, hält die Ökonomie daran fest, es ist ja auch so bequem. Doch ich hab mir immer gesagt: Irgend etwas muß sich
ändern, wir sehen es bloß nicht, die Menschheit kommt ohne Veränderung nicht aus, Entwicklung muß stattfinden, Stillstand ist Rückschritt, na, Sie kennen ja sicher diese Redensarten, aber wenn es auch Redensarten sind – es ist was dran. Jetzt weiß ich, wir haben wie hypnotisiert auf die Produkte gestarrt, das Ziel der Produktion, sozusagen hypnotisiert von unserer eigenen Geschichte. Immer hat es den Menschen an Produkten gemangelt, seit einer Million Jahren und nun ist die Menge der Produkte stabil. Gibt es etwa Schwierigkeiten, die Menschheit zu versorgen? Nein. Nicht mit Produkten. Aber jetzt passen Sie auf: Schwierigkeiten gibt es bei der Versorgung mit Arbeit. Oder sagen wir: Sie entstehen zur Zeit. Also mit Arbeit, die zu dem Menschen paßt, die er sich wünscht, die ihn fordert und fördert, na und so weiter. Das ist Ihnen neu, ja? Jeder kann sich ja in drei Berufen austoben, Hand, Herz und Hirn entwickeln sich in Handwerk, Kunst und Dienst, kenn ich alles, weiß ich alles. Aber wissen Sie, was passiert? Ich hab’ s jetzt aus zehn unterschiedlich strukturierten Kreisen: Der Dienst bleibt sich in der Masse gleich, ist auch klar, hier überwiegt das einfache Pflichtgefühl. Doch ist Ihnen bekannt, daß es im Handwerk eine Tendenz zu komplizierterer und produktiverer Technik gibt? Die Bestellungen weisen es aus. Den Leuten genügt nicht mehr, was sie tun. Sie wollen qualifizierter arbeiten. Und wissen Sie, was in der Kunst neu auftritt, auch dieses Jahr zum erstenmal signifikant? Die Welt ist voll von Kunstwerken, die Verbände richten Magazine ein, ahnen Sie, wohin das führen kann? Was, wenn die Kunst unattraktiv wird? Dann bricht die gesellschaftliche Struktur zusammen. Wohin mit den schöpferischen Kräften? Und auch das Handwerk, das sich jetzt noch steigern kann, hat in unserer Stabilität Grenzen. Wenn dort ebenfalls der Bedarf gesättigt ist und keine schöpferischen Potentiale mehr gebunden werden?“ Wenzel hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, diese Ansprache sei direkt an ihn gerichtet, aber das war sie natürlich nicht – nur er und wohl auch Pauline reagierten neuerdings auf derartiges sehr sensibel, konnte es doch mit ihrem Problem durchaus zu tun haben! Den Arzt allerdings schienen ökonomische Querelen weniger zu interessieren, er fragte jetzt: „Wie haben Sie denn die Attacke empfunden? Haben Sie sogleich das Gefühl gehabt, daß etwas nicht stimmt? Oder schon eine Weile vorher?“
„Ich hab ja schon gesagt: ein plötzlicher Schmerz unterm Brustbein. Da hab ich gleich gedacht, das war’ s wohl – denn irgendwie hat man sich ja doch dauernd mit dieser Sache befaßt. Aber vorher – nichts. Nein. Wenn Sie nichts haben?“ „Doch, ich hab was“, sagte der Arzt nachdenklich und betrachtete das Kardiogramm. „Sehen Sie hier …, na ja, das sagt Ihnen nichts …“ „Geben denn die Aufzeichnungen etwas her“, fragte Pauline, weil der Arzt schwieg, „ich meine, über die Natur der Sache, und vor allem, wie man dem vorbeugen kann?“ „Ich sollte mich wohl bei Ihnen bedanken“, sagte der Arzt zu Pauline, „Sie haben ja die ganze Sache eingerührt. Ja, sie geben etwas her. Einen Anfang. Aber jetzt werden wir wohl in allen fünf Metropolen diesen Langzeitversuch durchführen und danach sicherlich weltweit … Aber schon das EEG, sehen Sie mal!“ Er schaltete das von Severin Runge automatisch aufgenommene Enzephalogramm auf einen Bildschirm. „Das darf doch nicht …“, sagte Pauline aufgeschreckt und verstummte gleich wieder. Auch Wenzel hatte es einen Ruck gegeben. „Jaja“, sagte der Arzt, „Geronimo-Spindeln.“ Er konnte sich nicht erklären, warum die beiden so aufgeregt waren. Esther und ihre Mannschaft, eingeschlossen der Herumtreiber Ruben, waren gar nicht böse, wieder einmal auf der Erde zu sein und die Annehmlichkeiten von Sternenstadt zu genießen, wenn sie sich auch von dieser albernen Tastentipperei, wie die meisten die vorgesehenen Computerexperimente nannten, nicht viel versprachen. Außerdem waren sie hier durchaus nicht beschäftigungslos – Esthers Programm sah ja gemeinsame Arbeit mit den Gerätebauern vor, die die Meßinstrumente und -methoden verfeinern sollten. Esther und Akito, die theoretischen Köpfe der Experimentalgruppe, fanden den Auftrag des Schlichters besonders bemerkenswert und hatten sich auch mit Sibylles Variation der Bläschen-Formel befaßt. Und noch jemand interessierte sich sehr dafür: Ruben. Vermittelnd zwischen Akito, die sofort voll einsteigen wollte, und Esther, die vor allem die anderen langsam an diese Experimente heranführen wollte, schlug er vor, mit der Wiederholung des letzten Experiments zu beginnen. Die beiden Frauen stimmten schließlich zu, ohne zu wissen, daß Ruben damit bestimmte Hintergedanken verband. Später, so einigte man sich, wollte man auch
die dritte Bläschen-Phase zum Gegenstand der Versuche machen, zunächst mit der Originalformel und dann mit der Mohrschen Variation. Die EGI sollte ebenfalls angewandt werden, und zwar gleich von vornherein – wenn schon Experimente, dann auch richtig. Das war allerdings einfacher geplant als getan. Obwohl der Raum, von dem aus sie das Experiment führten, in vielem der gewohnten Zentrale des Zollstocks ähnlich war, wollte sich das Ensemblegefühl nicht einstellen. Nach mehreren mißglückten Ansätzen fragte Esther geradeheraus: „Irgendeiner von euch muß etwas gegen diese Experimente haben, anders kann ich mir die Sache nicht erklären. Jetzt aber heraus mit der Sprache!“ Es war nicht nur einer, wie sich herausstellte, und es war nicht Absicht gewesen, was die EGI hatte im Ansatz scheitern lassen. Sie funktionierte eben nicht, wenn nicht alle überzeugt waren, daß das Unternehmen auch sinnvoll sei. „Worum es eigentlich geht“, formulierte schließlich einer die Bedenken vieler, „ist doch die Frage: Tippen wir damit eine andere Welt, einen anderen Kosmos an oder nicht? Das kann doch nur die Wirklichkeit beantworten und nicht eine Maschine, wenn sie auch noch so kompliziert sein mag!“ Auf Esthers Stirn erschienen Unmutsfalten. „Das gefällt mir nicht“, sagte sie, „das gefällt mir ganz und gar nicht. Aus lauter Theoriefeindlichkeit habt ihr euch innerlich so geringschätzig zu der Sache verhalten, daß ihr gar nicht seht, worum es bei diesen Experimenten geht.“ „Und worum geht es?“ rief jemand. Akito nahm jetzt das Wort, bevor Esther etwas sagen konnte, und so entstand die merkwürdige und zugleich auch überzeugende Situation, daß die zwei absoluten Widerparte in dieser Angelegenheit die gleiche Meinung verteidigten. Sie sagte: „Es geht um die Formel, wir sollen die Ergiebigkeit der Formel testen. Die Schlichterin ist auch kein Doktor Allwissend, und wenn sie uns bittet, die Entscheidungsgrundlagen weiter auszubauen, dann ist das unsere ureigenste Sache, denn wir haben sie ja angerufen!“ „Das ist die Hauptsache“, stimmte Esther zu. „Außerdem ist aber die Formel, da sie alle bisher gewonnenen Daten berücksichtigt, mindestens eine Näherung an die objektive Wahrheit, und wenn man sie befragt, dann befragt man auch indirekt die Wirklichkeit.“
Nach einigem Hin und Her beschlossen sie, zunächst einmal einen Durchlauf nach dem Muster des letzten Experiments, aber ohne EGI, zu machen, um sich an die Bedingungen zu gewöhnen. Und tatsächlich, das Experiment lief genauso ab wie sein Vorgänger, was niemanden wunderte. Danach hatten sie sich an die Situation gewöhnt, zumal alles andere – Geräte, Anzeigen, Meßergebnisse – getreu simuliert war. Ruben übernahm wieder die Position des Außenseiters – auch aus eigenem Interesse; er wollte die Spektrallinien des Targets untersuchen, alles andere war ihm weniger wichtig. Unter der EGI wurden nun fünf Durchläufe der zuletzt vollführten Art variiert, also Entwicklung des Bläschens – oder richtiger: der zwei Bläschen – bis zur zweiten Phase und dann Auslenkung auf ein Target; das alles freilich nicht im realen Prozeß, sondern am physischen Modell der Formel. Ruben entdeckte dabei, daß mit Variierung der Bedingungen auch das Spektrum des glühenden Targets variierte, nicht qualitativ, sondern quantitativ – es traten die gleichen Linien auf, nur unterschiedlich stark. Nebenbei fand er auch, daß dieses Modell etwas leistete, was die Wirklichkeit bisher nicht geleistet hatte, da ihnen die geeigneten Meßmethoden gefehlt hatten: Es sagte aus, daß das Target keine Korpuskel emittierte, also auch keine Bläschen. Nur daß eben dieser Aussage – als Modellaussage – keine absolute Zuverlässigkeit zuzuordnen war. Nach dieser Serie machten sie eine Pause, Esther fragte Ruben, ob sie den Außenseiter wechseln sollten, aber Ruben lehnte ab. Er wollte seinen Gedanken weiter verfolgen, der sich im Verlauf dieser Serie immer klarer herausgebildet hatte. Während die anderen die zweite Serie in der EGI durchlaufen ließen, wollte er seinen Gedanken formulieren, sein Anliegen, denn er wollte es bei der Schlichtung zur Sprache bringen. Sollten sie also jetzt bis zur Phase drei gehen, das würde ihn höchstens interessieren, falls dabei ähnliche Prozesse im Target ablaufen sollten. Deshalb schlug er auch vor, das Target in der Versuchsordnung zu belassen.
Gleich beim erstenmal hatte ihn stutzig gemacht, daß im Target nach der Bläschen-Einwirkung Spektrallinien verschiedener Elemente auftraten, obwohl das Target ursprünglich aus reinem Wasserstoff bestanden hatte. Also mußten im Target Kernreaktionen abgelaufen sein, und das weit, weit unterhalb des energetischen Niveaus, auf dem sie normalerweise erst möglich waren. Die Bläschen wirkten vergleichsweise etwa so wie in der Chemie die Katalysatoren – sie ermöglichten eine Reaktion, gingen daraus unverändert hervor und leiteten sofort die gleiche Reaktion wiederum ein. Aber nun kam der kritische Punkt: Was geschah mit den Bläschen weiter? Beim realen Experiment war das Target verpufft, man konnte annehmen, daß die Bläschen explodiert waren, freilich erst, nachdem sie mindestens ein paar Millionen Reaktionen ermöglicht hatten, geschätzt nach der Empfindlichkeit der Spektrometer. Oder es war auch vorstellbar, daß die Bläschen dabei neue Bläschen schufen, während die alten verschwanden, und daß nur zufällig die Entstehungsrate gleich der Explosionsrate war. Wenn die erstere größer wäre als die letztere, zum Beispiel unter anderen Versuchsbedingungen, dann mußte es zur Kettenre-
aktion kommen. Aber warum sollte sich das nicht steuern lassen? Auch das Resultat bei der Veränderung der Elemente? Hier wurde Wasserstoff in Helium, Sauerstoff und anderes verwandelt – waren nicht andersgerichtete Umwandlungszyklen auch denkbar? Das alles zu erforschen würde gewiß viel Arbeit erfordern, aber am Ende winkte ein Ziel, für das zu arbeiten sich lohnte, wenigstens nach seiner, Rubens, Meinung. Das größte Hindernis bei der Besiedlung fremder Planeten war zweifellos das Fehlen oder der Mangel an bestimmten Elementen, die lebensnotwendig waren, vor allem in der Atmosphäre – beispielsweise Stickstoff auf der Venus. Vielleicht konnte man mit Hilfe der Bläschen Sauerstoff in Stickstoff und Wasserstoff spalten, der dort auch knapp war? Und woanders entsprechend anders? Die zweite Serie brachte nichts überwältigend Neues – hier war wohl auch das Modell an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt. Bei den wenigen Daten, die es bisher über die dritte Phase des Bläschens gab, grenzte es sowieso schon fast an ein Wunder, daß das Modell Ergebnisse lieferte, die durchaus im Bereich der Erfahrungen und Erwartungen lagen. Allerdings glühte hier kein Target auf, und auch über das Verbleiben des Bläschens, das seine Elektronen abgestreift hatte, gab das Modell keine Auskunft. Wieder Pause. Jetzt sagte Akito, was sie und Esther sich gedacht hatten für die folgenden Serien: Sie wollten beide bisher gelaufenen wiederholen, aber an einem gekürzten, verkleinerten Modell, das der Mohrschen Variante der Formel entsprach. „Es wird vor allem interessant sein, welche Abweichungen sich in den Ergebnissen zeigen. Wir haben zuerst daran gedacht, die Durchläufe automatisch zu wiederholen, aber dazu brauchten wir nicht hierzusitzen. Und dann gibt es ja auch die Erfahrung, die bis heute keiner erklären kann, die aber signifikant ist: Nur mit der EGI werden wir schöpferisch. O nein, ich weiß auch nicht, was es ist, aber man kann die EGI eben nicht einfach auf ‚ trial and error‘ reduzieren, das wissen wir alle. Und vielleicht wird unter der EGI sogar ein solches Maschinenaggregat wie unser Modell zum Werkzeug des Schöpferischen!“ Sie hätte das alles nicht zu sagen brauchen, es war jedem bekannt, aber sie wollte wohl möglichen Hemmungen vorbeugen, die die EGI unfruchtbar machen konnten. Wie es schien, hatte sie ihre Absicht erreicht, denn es ergab sich eine kurze, aber intensive Debatte daraus. Der Ge-
danke, Kreativität selbst mit Hilfe einer solchen Maschinerie zu zeigen, belebte alle. Wieder spielte Ruben den Außenseiter, diesmal allerdings mit mehr innerer Beteiligung, denn er hatte seinen Gedanken, wenn auch zunächst nur für sich allein, formuliert, später würde er das schriftlich tun, jetzt folgte er dem Experiment, erkannte und erfaßte auch die Idee des Eingreifens in die zweite Phase, das von einem Mitglied des Ensembles eingeleitet wurde – und dann geschah das Unerwartete, zuerst Unglaubliche und noch lange danach Rätselhafte. Das Target glimmte auf, erlosch wieder, glimmte auf, erlosch, glimmte wieder auf …Aber da war ja ein Rhythmus drin, die Abstände waren mal größer, mal kleiner, wie Morsezeichen, nein, nicht wie Morsezeichen, das Aufglimmen blieb gleich lang, nur die Abstände waren unterschiedlich, meist kurz, manchmal etwas länger, wenn man zählen würde … Eins, vier, eins, fünf, drei, eins, vier, eins, fünf, drei, eins – dann wiederholte sich alles. Fünf Zahlen, irgendwie bekannt. Ja, na klar, die Zahl Pi: drei Komma eins vier eins fünf! In Rubens Kopf war plötzlich alles gegenwärtig, was er jemals über fremde Zivilisationen diskutiert, gelesen oder auch nur gehört hatte, über fremde Zivilisationen und über die Verständigungsmöglichkeiten, bei denen die Mathematik und ihre Konstanten eine wesentliche Rolle spielten, denn die waren von Meßgrößen unabhängig. Aber nein, das war ja wohl Unsinn, das war doch alles unmöglich, wo sollte hier die Einwirkung einer fremden Zivilisation herkommen? Sie arbeiteten in einem abgeschlossenen Rechnersystem mit dem Formel-Modell, und die Bläschen, die manchmal schon als Angehörige einer fremden Welt bezeichnet worden waren, die waren ja hier gar nicht in natura dabei! Minuten später war wenigstens eins klar: Die fünf, die in der EGI verbunden gewesen waren, hatten das gleiche erlebt wie Ruben, den gleichen Gedankengang vollzogen: Rhythmus, Zahlen, Pi. Es herrschte helle Aufregung. Von einem sachlichen Gespräch konnte keine Rede sein, geschweige denn von einem wissenschaftlichen. Es wurde spekuliert, herzhaft und mit Lust, und es schien so, als käme das Kollektiv in eine Stimmung, in der auch sehr spekulativen Vorstellungen applaudiert wurde, Hauptsache, sie machten das Unwahrscheinliche ein bißchen weniger unmöglich. Semjon, der das Ensemble in diesem seltsamen Experiment geführt hatte, prägte schließlich den Begriff Anten-
neneffekt – er meinte, das nach der Bläschen-Formel gebaute physische Modell könne so etwas Ähnliches wie eine Antenne für die Botschaft der Fremden sein und vielleicht sei der Sinn der Formel und damit auch der Bläschen ebendiese Antenne. Jetzt wurde die Diskussion gegensätzlich – die einen fanden diese Spekulation bemerkenswert und äußerten sich beifällig, die anderen fragten ironisch, wo denn da noch der Unterschied sei zu spiritistischem Unsinn, das sei doch wohl nichts als modernes Tischrücken. Aber, entgegneten die ersteren, es habe doch stattgefunden, die Zahl Pi hätten sie alle erkannt, die könne doch wohl nicht zufällig entstanden sein, etwa durch den Defekt einer Diode? Dieser letzte Einwand brachte Ruben auf eine vage Idee. „Wir sehen uns mal die Aufzeichnung an“, schlug er vor. Alle stimmten zu. Das Protokoll des Durchlaufs erschien auf dem Bildschirm. Da, das Eingreifen Semjons. Die Spannung wuchs. Gleich mußte – da! Da kam das Flackern! Aber … Flackern ja, aber ohne Rhythmus. Einfach Flackern. Gleichmäßig. Keine Zahlen. Keine Botschaft, keine Fremden. „Ist das auch die richtige?“ fragte jemand zaghaft; doch niemand nahm diesen Einwurf ernst, nicht einmal der Fragesteller selbst. Nach einer längeren Pause sagte Esther: „Die EGI bringt immer neue Überraschungen.“ „Nein“, sagte Ruben. „Ich habe die Zahlen auch empfangen.“ Alle sahen zu ihm hin; er war ja Außenseiter gewesen, erinnerten sie sich jetzt, also nicht in diesem engen, intimen Kontakt mit den anderen, der manches noch nicht Geklärte doch wenigstens prinzipiell erklärbar erscheinen ließ. Wenn ihnen nicht jemand einen Streich gespielt hatte mit unterschwelligen Signalen, das mußte selbstverständlich untersucht werden, obwohl es unwahrscheinlich war, kam hier nur noch eins in Frage: Telepathie. Diese seltsame Geschichte, so fand Sibylle, die das als eine der ersten erfuhr und mit den Teilnehmern diskutierte, diese Telepathie – oder was immer es sonst gewesen war – hatte entschieden Ähnlichkeit mit den Dingen, denen Wenzel im fernen Mitteleuropa nachspürte. Da er aber auf keine andere Weise als durch sie davon erfahren konnte, war dies
unzweifelhaft ein zwingender Anlaß, ihn anzurufen – zwingend für sie selbst. Von einem bestimmten Grad des Selbstbewußtseins an ist es ja viel wichtiger, vor sich selbst zu bestehen als vor anderen. Nicht der Wunsch war der Vater des Gedankens gewesen. Sie hatte an der Diskussion die Ähnlichkeit entdeckt, die sie zum Anruf veranlaßte, und diese Entdeckung war mit einer so phantastischen Ausschweifung des Denkens verbunden gewesen, daß sie verblüfft und ein wenig erschrocken war. Jemand hatte auch die Antennenthese zur Sprache gebracht, die Spekulation also, die apparative Ausführung der Formel könne als Medium für Botschaften einer anderen Intelligenz dienen, einen Gedanken, den jeder seriöse Wissenschaftler nur belächeln konnte – und was geschah? Sie, Sibylle, war doch gewiß seriös, aber ihre Phantasie spann weiter: vielleicht nicht der Apparat, vielleicht die Gehirne! Womöglich gehen die Kontakte, auf die jeder phantasievolle Mensch in irgendeinem Winkel seines Herzens hofft, überhaupt nicht durch ein technisches Medium, sondern direkt von Gehirn zu Gehirn, aber erst wenn die Gesellschaft und nach ihr die Gehirne der Menschen dazu reif sind. Und dieser Zeitpunkt könnte sich jetzt ja nähern. Was hat sich in den letzten Jahrhunderten nicht alles in Denken und Lebensweise der Menschen verändert! Zum erstenmal in der Geschichte wuchsen Generationen nacheinander ohne gesellschaftliche Explosion, ohne Zwang und Einengung, ohne Einseitigkeiten in der persönlichen Entwicklung auf, konnte da nicht das Gehirn – von dem immer noch mehr als die Hälfte unausgelastet blieb, nach Schätzungen derer, die es wissen mußten – in eine grundlegend neue Phase eingetreten sein, in eine massenhafte Entfaltung von Möglichkeiten, die früher immer nur wenige einzelne zufällig und bruchstückweise zu realisieren vermochten und die deshalb nie reproduzierbar gewesen waren? Der Gedanke, bei dem sie da gelandet war, schien ihr weiterer Überlegungen würdig, selbstverständlich ohne die Abschweifung zu außerirdischen Botschaften. Vielleicht war das Problem, das sich aus dem Tod ihres ehemaligen Mannes so schnell entfaltet und verbreitet hatte und das immer weiter ausuferte, nur von dieser sehr allgemeinen Seite her lösbar? Vielleicht gehörte ebenfalls die EGI dazu, bei der ja die Psychologen nicht genau wußten, was da eigentlich vor sich ging? Wie auch immer – es war notwendig, Wenzel darauf hinzuweisen.
Vor dem Anruf zögerte sie. Sollte sie die Bildübertragung benutzen? Sie wollte eine sachliche Information geben, mehr nicht. Daß das Gespräch für sie beide unendlich viel mehr bedeuten würde, war auch ohne Bild klar. Gewiß hätte sie ihn gern gesehen und er sicherlich sie ebenfalls, aber ob sie dann so beherrscht würde bleiben können, wie sie das wollte? Doch was kann man einem ansehen; was man nicht der Stimme gleichermaßen anhören könnte? Also doch mit Bild. Sie rief zuerst in Prag an, erfuhr dort von dem Berliner Büro, und da hatte sie Glück: Sie traf Wenzel und auch Pauline an. Wenzel bekam große Augen, Pauline winkte und hatte plötzlich woanders etwas zu tun, und von dem Augenblick, da Pauline den Raum verließ, blieb Sibylle nur ein einziges großes Gefühl in Erinnerung. Sie sagte, was zu sagen war, und Wenzel antwortete, aber das alles war plötzlich ganz unwichtig geworden. Sie waren so sehr eins, daß dieses kurze Gespräch genügte, um alles zu klären, auch ohne daß mehr als das Sachbezogene gesprochen wurde. Kein Wort darüber, daß Wenzel nach Sternenstadt kommen würde, daß sie sich wiedersehen würden, daß jetzt, in diesem Moment, ihre Zusammengehörigkeit für alle Zukunft besiegelt war: Sie wußten es beide, zweifelten so wenig daran, daß sie nicht einmal zögerten, das Gespräch zu beenden, als Wenzel sich für die Mitteilung bedankt hatte. Anzusehen war es Wenzel allerdings doch; denn als Pauline wieder hereinkam, warf sie einen prüfenden Blick auf ihn und sagte: „Seid ihr euch nun endlich einig?“ Und fügte gleich den Stoßseufzer Hunderter von Frauengenerationen an: „Mein Gott, diese Männer! Da muß erst die Frau anrufen! Nicht in der Lage, die Initiative zu ergreifen!“ Aber Wenzel wollte nicht, daß sie sein Erlebnis zerredeten. „Was steht denn als nächstes auf der Liste?“ fragte er. „Weißt du doch“, antwortete Pauline streitbar. „Die Selbstheiler.“ Dr. Hasgruber, mit dem sie den Besuch verabredet hatten, wartete im Krankenhaus bereits auf sie. Er war inzwischen so etwas wie ihr ständiger medizinischer Konsultant geworden, auch aus eigenem Interesse. Besonders seit ihrem Erfolg mit dem Großversuch ATTACKE war er davon überzeugt, daß in dem sich immer weiter ausdehnenden Netz von Zusammenhängen, damals bei Otto Mohr begonnen, Grundsätzliches zutage gefördert werden würde. Freilich, die ATTACKE, ihre Folgeuntersuchungen und Maßnahmen, besonders die Herausarbeitung einer
Psychohygiene zur Vorbeugung, lagen jetzt in den Händen von Spezialisten; Pauline und Wenzel interessierten sich nur noch für die Ergebnisse. Sie befanden sich ständig auf der Suche nach neuen Fakten. Die Selbstheiler waren ein eigenständiges Forschungsgebiet, auf das sie bei der Verfolgung der G-Spindeln gestoßen waren. Hier ging es zunächst nur darum, sich mit dem Stand und den Ergebnissen der Forschung vertraut zu machen. „Das Selbstheilertum“, erklärte Dr. Hasgruber, „ist weiter verbreitet, als die meisten wissen. Fast in jedem Krankenhaus gibt es eine Abteilung für Selbstheiler. Im Grunde sind wir das sogar alle ein wenig; man lernt ja schon als Kind, wie man sich zu einer Wunde oder körperlichen Beschwerden verhält: ohne Angst, aber auch nicht gleichgültig, sondern eben aufmerksam. Diese Aufmerksamkeit lenkt die Körperkräfte auf die Heilung. Das ist das Prinzip des Selbstheilertums. Aber freilich nur das Prinzip. Was dabei alles im Gehirn und im Körper vor sich geht, ist nicht bis in die letzte Einzelheit geklärt. Das Selbstheilertum ist in seinen Wurzeln uralt, aber eine Massenerscheinung ist es erst im letzten halben Jahrhundert geworden. Und es ist auch nicht mehr ganz das, was der Name besagt: In neunzig Prozent der klinischen Fälle ergänzt es nur die herkömmlichen Methoden durch Beschleunigung und Intensivierung des Heilungsprozesses. Die Zeit verkürzt sich auf fünfundzwanzig bis dreißig Prozent. Außerdem treten keine Nebenerscheinungen auf.“ „Aber es gibt auch andere Fälle?“ fragte Wenzel. „Ja, da zeig ich Ihnen ein paar.“ „Und wann treten diese G-Spindeln im EEG auf?“ wollte Pauline wissen. „In den Konzentrationsphasen, jeweils auf dem Höhepunkt. Sie sind ein sicheres Zeichen für die Wirksamkeit. Drei- bis viermal am Tag konzentriert sich der Selbstheiler auf seine Wunde oder seine Beschwerden, das dauert etwa eine halbe Stunde und der Höhepunkt zwei bis drei Minuten.“ Sie waren über mehrere Flure und Treppen gegangen, so daß sie schon nicht mehr hätten sagen können, wo der Ausgang lag. Aber nun schienen sie angelangt zu sein. Dr. Hasgruber klopfte an eine Tür, ein kräftiges „Herein!“ war zu hören, und dann betraten sie ein behagliches, fast luxuriöses Krankenzimmer. „Herr Gorleben, ich bringe Besuch“, sagte Dr. Hasgruber.
„Immer herein“, rief der Kranke, der gar nicht krank aussah, mit kräftiger Stimme. „Jede Abwechslung ist willkommen!“ „Diesmal sind es keine Ärzte“, stellte der Arzt fest, „sondern Gehilfen des RR – Frau Fouquet und Herr Kramer.“ Und zu den beiden gewandt, fuhr er fort: „Herr Gorleben ist nämlich so was wie unser Paradepferd, das Prunkstück unserer Klinik, ja, es ist nicht untertrieben, ihn ein medizinisches Wunder zu nennen …“ „Ich fühl mich aber trotzdem wohl dabei!“ unterbrach der Kranke, der diese Worte wohl schon oft genug gehört hatte, und ließ ein dröhnendes Lachen folgen. Pauline und Wenzel sahen sich an und spürten, daß sie das gleiche Gefühl der Peinlichkeit hatten. Der Kranke mußte das wohl bemerkt haben, denn er sagte: „Es braucht Ihnen durchaus nicht peinlich zu sein, ich bin glücklich über meine Heilung und will gern alles tun, wenn ich damit auch andern helfen kann. Ich würde nur gern …“ Er hielt ein und schielte zu Dr. Hasgruber. „Na, was denn?“ fragte der. „Die Geschichte endlich mal selbst erzählen“, platzte der Kranke heraus. „Da die Herrschaften keine Mediziner sind, kann es doch nicht schaden, wenn ich hin und wieder nicht ganz kunstgerecht formuliere. Und außerdem können Sie mich ja korrigieren, Sie wissen ja, daß ich nicht empfindlich bin!“ Der Arzt war im ersten Augenblick etwas verblüfft, dann lachte er. „Na klar, können Sie!“ sagte er. „Wenn Sie gern erzählen, werden wir das immer so machen.“ Der Kranke, von dessen Krankheit immer noch nichts zu spüren war, schnaufte zufrieden. „Ich bin schon ein halbes Jahr hier“, begann er, „und werde auch noch ungefähr ein halbes Jahr bleiben. Deshalb die Einrichtung hier.“ Er ließ seine linke Hand eine ausholende Bewegung machen, die das ganze Zimmer einschloß, und da sahen sie zum erstenmal, daß die rechte in einer Art Fausthandschuh steckte. „Ich bin vom Dienst her Fluglehrer. Ich gebe Unterricht im Drachenfliegen und probiere auch neue Typen aus. Dabei ist es passiert – eine Bö nicht richtig genommen, und schon lag ich unten. Aber nicht auf dem Boden, sondern auf einem Baum. Den hat der Drachen ziemlich zerfetzt. Mich aber auch. Davon ist heute nichts mehr zu sehen, sogar die Narben hab ich weggekriegt. Nur noch das hier.“ Er zog den Fausthandschuh ab, da kam eine Kinderhand zum Vorschein. „Die Hand war ab-
gerissen, die Knochen gesplittert. Jetzt lassen wir die Hand nachwachsen. Zuerst haben sie mir solche Dinger – wie heißen die? Ich weiß schon: Nukleasen – gegeben, die schließen die Gene auf, aber dann hab ich mich auf die Sache konzentriert, und mein Körper hat angefangen, diese Nukleasen selbst zu produzieren und an der richtigen Stelle zu konzentrieren. Gut, was?“ Wenzel hatte der Erzählung mit wachsender Erregung gelauscht. Während nun der Arzt erläuterte, daß es bisher drei Fälle in der Welt gegeben habe, bei denen eine Extremität nachgewachsen sei, in jedem Fall Selbstheiler mit ärztlicher Hilfe, hörte Wenzel gar nicht mehr zu. Ihm war eine verblüffende Parallelität bewußt geworden. War es mit der Hand nicht genauso wie mit Mohrs Herz – wenn man von der Gegensätzlichkeit der Wirkungen absah? Hier wie da war eine neuartige, früher unbekannte Wirkung dadurch erzielt worden, daß der Betreffende sich lange Zeit darauf konzentriert hatte – dort der Tod ohne Grund, hier das Nachwachsen einer Hand. Wenn es sich nun um eine neue menschliche Fähigkeit handelte, die – unbewußt angewandt – Schaden anrichten konnte, bewußt angewandt aber unwahrscheinlichen Nutzen? Wenzel kam es so vor, als hätte er diesen Zusammenhang schon mal gelesen oder gehört, vielleicht auch nur in ähnlicher Form; aber er hatte in den letzten Wochen derartig viel Material durchgesehen oder auch nur überflogen und mit so vielen Leuten gesprochen, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, ob und von wem er diesen Gedanken übernommen hatte. Gleichviel – die Verfolgung dieser Angelegenheit eröffnete so ungeheure Perspektiven, daß er jetzt ganz sicher war: Das wuchs sich zu einem globalen Problem aus. Vermutet hatte er es schon lange, aber jetzt war der Punkt erreicht, wo aus der Vermutung Gewißheit wurde und wo sich die Vermutungen weiter vorausschoben: Was allein bot das Selbstheilertum an Möglichkeiten für die Menschheit, wenn man der Sache auf den Grund kam und sie noch gezielter anwenden konnte. Und das war nur ein Bereich – vermuten ließ sich doch, daß es Dutzende von Bereichen des Lebens geben würde, nein, nicht Dutzende, sondern letztlich alle, die von dieser neuen Fähigkeit des Menschen oder, wenn sich das als richtig herausstellen sollte, des menschlichen Gehirns revolutioniert würden! Eigentlich – und diese Überlegung ernüchterte Wenzel wieder – mußte die ganze Gesellschaft umgewälzt werden. Das aber – nein, das war zu weit gegriffen. Zum erstenmal stellte Wenzel in Gedanken nicht die eine
oder andere Regelung, nicht das eine oder andere Attribut der Stabilität in Frage, sondern die Stabilität überhaupt. Und das schien ihm unzulässig. So etwas durfte man nicht spekulativ denken. Nicht leichtfertig. Nicht ohne die zwingendsten Gründe. Aber der Gedanke war dagewesen und würde wiederkommen, und Wenzel würde sich irgendwann doch gründlich damit auseinandersetzen müssen. Er würde ihn nicht verschweigen können, wenn er mit dem Konrat zusammentraf, und das würde über kurz oder lang geschehen. Er würde den Gedanken nicht verschweigen dürfen. Dann aber mußte er eine Meinung dazu haben. Und bis dahin war es noch weit. Jetzt war er soweit, sich von dem Patienten zu verabschieden, ihm gute Besserung zu wünschen, ihm die gesunde Linke zu schütteln und die Bedeutung des Selbstheilertums zu würdigen. „Wer weiß“, sagte der Kranke plötzlich mit verschmitztem Lächeln, „vielleicht hilft das sogar gegen das Sterben!“ Als sie draußen waren, rief Dr. Hasgruber vergnügt: „Und jetzt zeig ich euch etwas noch Sensationelleres. Aber nur durch die Scheibe.“ Sie mußten wieder ein ganzes Stück laufen, Gänge entlang und Treppen hinauf und hinunter, und Pauline sagte: „Wenn ich denke, wie weit wir von Otto Mohr weggekommen sind, vom Schlimmen zum Guten, dann ist mir fröhlich zumute.“ „Ich habe das noch nicht im Zusammenhang durchdacht“, sagte der Arzt, „vielleicht besteht da wirklich einer. Vielleicht so – die Selbstheiler beeinflussen ihren Körper absichtlich und die Pseudoselbstmörder unabsichtlich, aus Versehen. Ist. aber sehr vage, einem Ärztekollegium dürfte man damit nicht kommen. Manche Kollegen erkennen ja nicht einmal das Selbstheilertum an.“ „Das gibt’ s?“ Pauline staunte. „Und ob. Freilich nicht so einfach, wie ich das jetzt gesagt habe, zuerst wird differenziert, eingegrenzt auf das nicht Bestreitbare, und dann wird alles verdonnert, was über diese engen Grenzen hinausgeht. Aber Streit muß sein. Jedenfalls besser als blinder Glauben einerseits und Leichtfertigkeit auf der andern Seite. Trotzdem – die ungeheuren Perspektiven sind da. Mich macht das auch froh. Wir Ärzte werden schon nicht überflüssig werden. – Hier sind wir.“ Sie sahen durch eine Glasscheibe in einen Raum, der wie ein Wartezimmer beim Ausbruch einer Grippewelle aussah – Leute saßen herum,
standen und gingen auf und ab. Bei näherem Hinsehen bemerkte man, daß sie nicht warteten: Niemand las Zeitung, niemand unterhielt sich, jeder machte einen irgendwie geistesabwesenden Eindruck. Oder einen sehr konzentrierten, was ja kaum davon zu unterscheiden ist. Es waren also offenbar auch Selbstheiler, und die Glasscheibe, die sie von ihnen trennte, deutete wohl auf eine Infektionskrankheit hin. Aber was für eine? „Die Leute“, sagte Dr. Hasgruber, und seine Stimme klang fast ein wenig ergriffen, „die Leute heilen die unausrottbarste aller menschlichen Krankheiten aus – den Schnupfen!“ Pauline und Wenzel dachten beide das gleiche. Schnupfen – na ja. Doch dann wurde ihnen klar, daß das hier wirklich nicht weniger bedeutend war als die nachwachsende Hand. Offensichtlich ließen sich die neuen, noch unbekannten Kräfte oder Fähigkeiten des Gehirns auf die verschiedenen Teilsysteme des Körpers richten …, und vielleicht nicht nur des Körpers … „Eins möcht ich doch wissen“, sagte Pauline, „warum machen die Leute das nicht zu Hause, ist doch viel bequemer?“ Dr. Hasgruber zögerte. „Einmal wegen der ärztlichen Aufsicht“, sagte er dann. „Wir versuchen, alle Selbstheiler in unserm Bereich zu erfassen und dazu zu bewegen, daß sie das hier tun. Es treten immer wieder, vor allem bei Anfängern, psychische Erschöpfungszustände auf. Zum andern aber – das ist unbewiesen, doch für viele Teilnehmer ein sehr deutliches Gefühl: Es scheint im Kollektiv besser zu gehen.“ „Wie lange dauert das?“ fragte nun Wenzel. „Die Heilung? Sie brauchen ungefähr eine Stunde, dann ist der Schnupfen weg. Und kommt auch im nächsten halben Jahr nicht wieder.“ Wenzel bewegte längst ein anderer Gedanke. Das alles, was er in den letzten Wochen kennengelernt hatte, war ihm vorher zum größten Teil unbekannt gewesen. Und dabei gehörte er infolge seines Dienstes zu den am meisten informierten Leuten. Wer hatte eigentlich noch einen Überblick über die Prozesse, die sich in der menschlichen Gesellschaft vollzogen? Gewiß kein einzelner, das nicht, aber wohl auch keine Institution. Oder? Entglitt das Schicksal der Menschheit, nachdem sie endlich ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, den Händen der Menschen? Vertrauten sie zu sehr auf die Stabilität? Was gab es noch alles,
was vielleicht nur der unmittelbaren Umgebung oder einigen Fachleuten bekannt war? Auf dem Weg zurück ins Dienstzimmer wurde Dr. Hasgruber von einem Kollegen aufgehalten. „Kann man denn da wirklich nichts machen?“ schimpfte der. „Schon wieder zwei von diesen ‚ Flattermännern‘ mit Knochenbrüchen!“ „Das wäre vielleicht auch etwas für Sie“, sagte Hasgruber im Weitergehen. „Ja, Donnerwetter, wenn ich es mir recht überlege…“ „Diese Flattermänner? Was ist das?“ „Ein Spitzname. Es ist so eine Art Sekte, ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Sie bilden sich ein, sie könnten fliegen. So, mit Armeschwingen, wie Kinder. Es ist natürlich noch nie einem geglückt, aber sie versuchen es immer wieder. Zum Glück sind ein paar davon auch ausgezeichnete Selbstheiler. Wir haben mit den Leuten geredet, wir haben den Stadtbezirksratgeber darauf aufmerksam gemacht, es nützt nichts. Die sagen, das Gefühl zu fliegen hätten sie schon gehabt, sie müßten sich nur noch mehr konzentrieren, dann würde es auch klappen.“ Wenzel erschrak tief. Der Enthusiasmus der letzten Tage und Stunden war wie weggewischt. Es wäre eine gefährliche Illusion gewesen, weiterhin zu hoffen, daß die neue Kraft hauptsächlich positive Folgen zeitigen würde. „Spirale“, sagte Pauline, die wohl das gleiche fühlte. „Was für eine Spirale?“ fragte Hasgruber verdutzt. „Wir laufen nicht im Kreis, sondern in einer Spirale. Wir sind jetzt eine Windung über Otto Mohr“, erklärte sie. Die Schlichtung hatte weite Kreise gezogen. Das war kein Wunder, denn Schlichtungen dieser Art waren große Ereignisse im wissenschaftlichen Leben, sie fanden nicht oft statt, nur wenn eine Frage auf die Spitze getrieben war, dann aber wurden sie meist zum Ausgangspunkt neuer Entwicklungen. Und da der Fall eine Grundsatzfrage des Forschens einschloß, nämlich die nach eventuellen Grenzen des Experimentierens, war das Interesse weltweit. Die Verhandlung war zwar nicht in das öffentliche Fernsehprogramm aufgenommen worden, aber fast alle wissenschaftlichen Zentren hatten
einen Übertragungskanal bestellt. Und Sibylle wußte, daß auch Wenzel Kramer in Berlin zusehen würde – sie hatten inzwischen mehrmals miteinander gesprochen, fernsichtlich, versteht sich, weil Wenzel noch Einzelheiten über die Geschichte beim Computerexperiment wissen wollte, auch Grundsätzliches über die EGI, die Ensemblegesteuerte Intuition, insbesondere, ob dabei G-Spindeln im Enzephalogramm auftraten, und es hatte sich herausgestellt, daß das der Fall war. Und nun war auch ein Besuch Wenzels in Sternenstadt verabredet worden. Das alles aber mußte sie jetzt weit von sich wegschieben. Der große Saal von Sternenstadt begann sich zu füllen, sie war ein wenig aufgeregt und überdachte deshalb noch einmal die Prinzipien, die sie sich für ihren Spruch zurechtgelegt hatte. Die waren beileibe nicht alle ihrem Kopf entsprungen, sondern fußten auf früheren Sprüchen mit ähnlicher Thematik – zum Beispiel war die Verlegung der Bläschen-Experimente in den Raum zwischen Venus und Merkur ebenfalls das Ergebnis einer Schlichtung gewesen. Ihr erstes Prinzip, auf dem sie fußen wollte, lautete: Wenn eine Katastrophe nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dann darf nicht weiterexperimentiert werden. Das zweite hieß: Tritt dieser Fall ein, muß gesagt werden, wie die Forschung weitergehen soll. Sie wußte noch nicht, ob sie bis zum Ende bei diesen Prinzipien bleiben würde, hatte sich aber vorgenommen, nicht leicht von ihnen abzurücken. Zwei Techniker und ein wissenschaftlicher Berater saßen schräg unter ihr – die Techniker für auswärtige und innere Verbindungen zuständig, für den Fall, daß sich jemand zur Debatte meldete, der nicht im Saal war, und der wissenschaftliche Berater für das Archiv der Schlichtungen, das für Abfragen zur Verfügung stand, auch wenn Sibylle selbst eigentlich nicht die Absicht hatte, es zu benutzen. Die Techniker und der Berater hoben die Hand – alles war bereit. Sibylle eröffnete die Schlichtungsverhandlung und gab den Kontrahenten das Wort – zuerst Akito, die ihren Antrag auf Einstellung der Versuche begründete, dann Esther, die für die Weiterführung der Experimente mit den Blastulae auf der Anlage Blastron argumentierte. Das dauerte eine knappe Stunde, da jede von beiden ihre Überlegungen mit Berechnungen stützte, die vorgeführt sein wollten, und zwar für die Mehrheit verfolgbar. Denn wenn die Berechnungen auch in erster Linie auf das Für und Wider dieser Sache gerichtet waren, so hatten sie
doch über weite Strecken durchaus Eigenwert und enthielten Ansätze zu einer Reihe neuer Ideen, ja vielleicht sogar künftiger Forschungsprogramme. An sich war es zu früh für eine Pause, aber Sibylle wußte sich im Vorteil gegenüber den anderen Teilnehmern im Saal und an den Übertragungsorten – sie hatte die Vorträge von Akito und Esther in schriftlicher Form schon seit drei Tagen in der Hand. Und sie sah auch, daß viele im Saal immer noch mit dieser oder jener Berechnung beschäftigt waren, die an den Schirmflächen stehengeblieben waren. „Ich unterbreche die Verhandlung für eine Stunde“, verkündete sie. „Danach hat Kollege Ruben Madeira das Wort.“ Sibylle zog sich in ihr Zimmer zurück und legte sich hin. Wie sah es denn nun aus? Auf jeden Fall hatte sich die Schlichtung, soweit man sie als wissenschaftliche Konferenz betrachtete, schon gelohnt. Vielleicht wurde das später einmal wichtiger als alles andere, es hatte bereits solche Schlichtungen gegeben; im Moment aber – und vor allem für sie – war das eine periphere Frage. War sie denn nun in der Abwägung der beiden Anträge weitergekommen? Noch gestern hatte es ihr geschienen, als seien beide gleich gut begründet. Jetzt allerdings konnte sie sich nicht verhehlen, daß der persönliche Vortrag der Kontrahentinnen die Lage verändert hatte. Der Eifer, mit dem sie gesprochen hatten, war ihren Argumenten nicht zuträglich gewesen. Eifer im Vortrag hat immer mindestens den Unterton der Verabsolutierung, und sie hatte mehr als diesen Unterton herausgehört, sie hatte die schwachen Stellen in beiden Positionen gefunden. Ihr erschienen jetzt beide Anträge gleich schlecht begründet. Sie hatten ihr gezeigt, daß die Entscheidungsprinzipien, die sie sich zurechtgelegt hatte, ihrer eigenen Kritik nicht standhielten. Denn wenn sie ihr erstes Prinzip, das Verbot der Experimente bei geringstem Katastrophenverdacht, anwenden wollte, dann mußte sie entscheiden, ob ein solcher Verdacht – gering oder nicht – berechtigt war. Und ebendas konnte sie sowenig wie die beiden Kontrahentinnen, das konnte überhaupt kein Mensch, das konnte nur die weitere Entwicklung mit sich bringen. Und dann hatte eine solche Entscheidung ja noch eine Menge anderer Aspekte. Zum Beispiel: Etwa dreitausend Menschen arbeiteten, alles in allem, an den Bläschen. Ohne die Möglichkeit zu experimentieren würde dieses Sachgebiet zusammenbrechen. Als Folge davon würden auch
andere Bereiche des Gesamtprojektes Raumkrümmung zu wanken beginnen. Tausende Wissenschaftler würden ihre – von den meisten leidenschaftlich geliebte – Arbeit verlieren. Und ohne daß zunächst einmal Ersatz in Sicht war. Außerdem lehrte die Entwicklung der Wissenschaft, daß Verbote wenig nützten – zumindest umfassende, ganze Richtungen betreffende Verbote. Genauso unzulässig war absolute Zügellosigkeit. Heute, da die Wissenschaftler selbst über ihre Arbeit entschieden, mußten sie sich auch selbst die Zügel anlegen; denn wie alle Menschen und menschlichen Einrichtungen waren sie für die Folgen dessen, was sie taten, verantwortlich, um so mehr dann, wenn die Folgen schwer oder gar nicht vorhersehbar waren. Sie würde sich also bei ihrem Spruch hüten müssen, irgend etwas zu sagen, was dem einen oder andern eifernden Absolutum Nahrung geben würde. Sie würde sagen müssen, wie es praktisch weitergehen sollte. Vielleicht nur das. Vielleicht unter Verzicht auf theoretische Begründung. Eine eindeutige Festlegung, zeitlich begrenzt, nein, besser sachlich begrenzt: bis zum Vorliegen tieferer Erkenntnisse. Den konkreten Punkt, an dem sie ansetzen konnte, mußte sie noch finden; das war nicht so schwierig, die Diskussion würde ihr helfen. Die Pause war vorbei. Sibylle erhob sich und ging in den Saal. Was mochte wohl dieser Madeira bringen? Sibylle kannte ihn zwar vom Sehen, er war ja doch auf eine gewisse Art eine Berühmtheit, und sie wußte auch, daß er an den Experimenten teilgenommen hatte. Aber theoretisch konnte er wohl weder Esther noch Akito das Wasser reichen, und daß er mit oberflächlichem Gerede auftreten wollte, dazu war er wohl nicht der Mensch. Was also? Nun, man würde sehen.
„Es ist nicht meine Sache, diesen Streit zu entscheiden“, sagte Ruben, als die Verhandlung wieder aufgenommen worden und ihm das Wort erteilt war, „ich gestehe, ich fühle mich von Akito überzeugt, wenn sie ihre Argumente vorträgt, und von Esther, wenn sie das Wort hat. Aber wie die Entscheidung auch ausfallen mag, ich habe einen Wunsch, den möchte ich anmelden. Bei der Auslenkung der Stadium-zwei-Blastula auf ein Wasserstofftarget entsteht eine noch weitgehend unerforschte Reaktion. Das Target glüht und verpufft dann. Beim Glühen sendet es Spektrallinien mehrerer Elemente aus, die vorher nicht enthalten waren, wenigstens nicht in dieser Menge: Helium, Stickstoff und andere. Es findet also eine Kernumwandlung statt, aber auf einem Energieniveau, das weit unter der für solche Reaktion notwendigen Höhe liegt, ich gebe Ihnen mal die Glühtemperatur des Targets. Die Bläschen katalysieren also den Kernumwandlungsprozeß. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, was es für Folgen hätte, wenn man diese Reaktion in die Hand bekäme. Da zum Beispiel die Energieausbeute von der Katalyse unabhängig ist, könnte man Kernfusionsreaktoren bauen, die weder Höchsttemperaturen noch
Strahlung abzufangen haben, sie könnten, wie mir Fachleute versichern, in ihrer Masse auf zwölf bis dreizehn Prozent der jetzigen verringert werden. Wir alle kennen uns ein wenig im Raum aus und wissen, was das für die Raumfahrt bedeuten würde. Aber auch das Gegenteil ist bedenkenswert, also nicht die Energieerzeugung, sondern die Stoffumwandlung. Man könnte daran denken, den Prozeß so zu steuern, daß aus einem beliebigen Ausgangsstoff – ob nun Wasserstoff oder Sauerstoff oder Kohlenstoff – ein gewünschter anderer Stoff entsteht oder ein gewünschtes Gemisch anderer Stoffe. Aus all diesen Gründen halte ich es für nötig, daß ein Weg gefunden wird, wenigstens mit den Bläschen des zweiten Stadiums weiterzuexperimentieren. Denn ich bin überzeugt“, er konnte es sich nun doch nicht versagen auszusprechen, was er eigentlich hatte für sich behalten wollen, „überzeugt, daß die Menschheit sehr bald dazu übergehen wird, ihre Nachbarplaneten zu besiedeln, und da ist die Umwandlung der Atmosphären das entscheidende Problem!“ Stellenweise tönte aus dem Saal Gelächter. Ruben störte es nicht, denn er sah, daß die Schlichterin ihn sehr aufmerksam und nachdenklich betrachtete. Obwohl die Möglichkeiten einer Anwendung nicht direkt etwas zu tun hatten mit ihrem Spruch, halfen Rubens Gedanken Sibylle doch, ihr Problem unter einem Blickwinkel zu sehen, der ihr letztlich die Lösung ermöglichte. Es war, als täte sie plötzlich einen tiefen Blick in die allgemeinen Zusammenhänge ihrer Wissenschaft. Das gesamte Projekt Raumkrümmung war ja fast ausschließlich ausgerichtet auf Erkenntniszuwachs in den Grundlagen des Wissens; praktische, also technisch nutzbare Ergebnisse erwartete man höchstens im Zusammenhang mit neuen Meßtechniken, die dabei entwickelt wurden. Eigentlich waren aber auch praktisch nutzbare Ergebnisse kaum gefragt, denn die Stabilität hatte das Tempo technologischer Umwälzungen stark gesenkt. Ruben nun hatte Anwendungsmöglichkeiten benannt, die zwar auch perspektivisch waren, aber durchaus für ein Menschenalter und nicht für unbestimmbare Zukunft wie der allgemeine Wissenszuwachs. Trotz des Lachens mancher Zuhörer sah Sibylle sofort, daß diese Möglichkeiten den Forschungsarbeiten ungeheuren Auftrieb geben würden. Sie spürte das ebendeshalb, weil es normalerweise ihre Arbeit als Dokumentarist war, Anwendungsmöglich-
keiten für gewonnene Erkenntnisse zu finden oder zu eröffnen, seien sie praktisch-technisch oder kognitiv für andere Wissenschaften. Während noch viele glänzende und wichtige Beiträge geliefert wurden, auch von außerhalb, formulierte sich in Sibylles Kopf schon der Spruch. Er mußte dort eine Grenze setzen, wo das Bläschen zur Zeit außer Kontrolle geriet, und den zweifellos entstehenden Ansporn für die Praxis berücksichtigen. Und je länger sie darüber nachdachte, um so mehr Beiwerk strich sie in Gedanken. Und das blieb am Ende übrig: „Bis tiefere Erkenntnisse vorliegen, ist mit dem ersten und zweiten Stadium des Bläschens weiterzuexperimentieren und die Entstehung des dritten Stadiums zu vermeiden.“
7 Wegen der Flattermänner hatte Wenzel sich an den zuständigen Bezirksratgeber gewandt und zunächst, fernmündlich, nicht mehr erfahren, als er sich ohnehin hatte denken können. Die als Sekten bezeichneten Gruppen waren eins der anscheinend unlösbaren Probleme der Stabilen Gesellschaft. Sie hatten allerdings, im Gegensatz zu früheren Zeiten, nur noch selten etwas mit Religion zu tun. Nachdem bei den großen Religionen die kirchlichen Hierarchien verschwunden waren, wie alle anderen gesellschaftlichen Hierarchien auch, hatten sich die Gemeinden, also die lokalen Organisationen, als außerordentlich langlebig erwiesen und waren nicht, wie manche Theoretiker erwartet hatten, abgestorben. Sie hatten gewisse Erstarrungen, die die hierarchische Ordnung gekennzeichnet hatten, überwunden und boten jedem religiösen Gefühl und Bedürfnis genügend Toleranz. Und das Bedürfnis gab es immer noch und würde es wohl auch noch einige Jahrhunderte geben. Es stabilisierte sich eben alles in dieser Gesellschaftsphase. In früheren Epochen waren die Sekten auch von der Unduldsamkeit der Kirchen genährt worden, ja, häufig waren sie nur Abwandlungen der verschiedenen Religionsbekenntnisse. Solche Sekten gab es nicht mehr. Die heutigen Sekten huldigten meist irgendeinem halbwissenschaftlichen oder halbkünstlerischen Aberglauben. Sie bestanden in der Regel nur einige Jahrzehnte, dann zerfielen sie wieder, aber anderswo entstanden neue, und so blieb die Gesamtzahl ziemlich konstant. Die Soziologen hatten verschiedene Erklärungen dafür zur Hand; die gängigste sagte etwa folgendes: Kreativität ist unzweifelhaft eine der höchsten gesellschaftlichen Tugenden und für den einzelnen außerordentlich erstrebenswert – sie macht das gesellschaftliche Leben und auch das persönliche Leben reichhaltiger. Normalerweise hat jeder die Voraussetzung und die Möglichkeit, auf irgendeinem Gebiet kreativ zu werden – wenn schon nicht im Dienst, was nicht überall möglich ist, dann aber doch im Handwerk und in der Kunst. Aber nicht jedermanns Leben verläuft geradlinig. Es gibt Glück und Unglück, Über- und Unterforderung, man kann übers Ziel hinausschießen oder es nicht erreichen – jedem passiert das mal, und die meisten wachsen daran. Wer aber nicht damit fertig
wird und vom nächsten Schlag schon ereilt wird, bevor er den vorangegangenen bewältigt hat, der kann in die Lage kommen, daß er sein Bedürfnis nach Kreativität nicht befriedigen kann. Hat er dazu noch einen relativ niedrigen Bildungsstand, weicht er vielleicht auf Gebiete aus, wo er sich scheinbar mit weniger Mühe, nämlich mit Hilfe von Illusionen, schöpferisch fühlen kann. Wenn zwei solche Leute aufeinandertrafen, war das schon der Keim einer Sekte. Meist hing eine solche Sekte einer Idee aus dem Arsenal der Illusionen an, die man sich gegen Ende der Vorgeschichte und noch in der Übergangsperiode gemacht hatte, wie etwa der Parapsychologie. Die Fliegenden Menschen, wie sie sich selbst bezeichneten, oder Flattermänner, wie sie spöttisch genannt wurden, obwohl es durchaus nicht nur Männer waren, sondern auch Frauen – diese Leute also gingen mit ihrer Idee auf solche Quellen zurück: Levitation, so wurde die angestrebte Fähigkeit genannt, sich durch seelische Konzentration gewichtslos zu machen, also die Schwerkraft aufzuheben. Die Erfahrung hatte gelehrt, daß man eine Sekte mit Argumenten nicht auflösen konnte; wissenschaftliche Kritik half da nichts, sie vergrößerte nur den Eifer der Entgegnungen und den Zusammenhalt der Mitglieder. Da solche Sekten auch fast nie andere bedrohten oder in ihrer Freiheit einschränkten, blühten sie auf und starben wieder ab, gingen vorüber wie leichte Infektionen, von denen niemand etwas merkte und die doch die Immunkräfte des gesellschaftlichen Körpers stärkten. Hier freilich lag ein Grenzfall vor. Die Flattermänner taten zwar andern Leuten nichts, aber sie taten sich selbst etwas: Irgendwer brach sich bei ihren Übungen die Knochen, manche sogar mehrmals, und kaum einer gab danach auf; aber noch niemand hatte bleibenden Schaden davongetragen. Wenzel hatte mit dem Stadtbezirksratgeber verabredet, daß sie benachrichtigt würden, wenn die Flattermänner sich wieder zu neuen Übungen versammelten. Doch als jetzt der Anruf kam, war Wenzel unterwegs. Pauline nahm die Nachricht entgegen, und die war alarmierend, der Anrufer – ein lokaler Ordner – konnte seine Aufregung schlecht verbergen. „Die Flattermänner wollen heute einen großen Versuch starten. Ich hab’ s vom Ratgeber eines Häuserblocks, der hat einen Nachbarn dabei. Sie wollen von der Kippe springen und fliegen.“
„Wo ist das?“ fragte Pauline, und während sie Ort und Zeit notierte, überlegte sie, was zu tun sei. „Der Zweite ist jetzt nicht hier, aber Sie können in seinem Auftrag die Ordnerschule anrufen, sie sollen eine Klasse dorthin schicken. Von mir hier ist es nicht weit, ich mach mich sofort auf den Weg.“ Sie legte noch eine Notiz für Wenzel mitten auf den Fußboden, so daß er sie unmöglich übersehen konnte; ihn zu suchen war jetzt keine Zeit mehr. Mit einem Selbstfahrtaxi war sie bald an der Kippe. Die Kippe war eigentlich ein Naherholungsgebiet, der Name war übriggeblieben aus der Zeit, als ganze Stadtteile neu gebaut und danach auf den Bauschutthalden Parks angelegt wurden. Pauline erblickte schon von weitem den Steilhang, der etwa zehn Meter hoch war und den Eindruck erweckte, er sei natürlich entstanden. Meist wurde der obere Rand als Absprung von Drachenfliegern benutzt, jetzt waren aber keine zu sehen, zum Glück jedoch auch keine Flattermänner, sie waren also noch rechtzeitig gekommen. Die Studenten der Ordnerschule, die in einem anderen Stadtbezirk lag, würden mindestens eine halbe Stunde länger brauchen. So lange mußte sie die Sekte aufhalten, wenn sie verhindern wollte, daß Menschen zu Schaden kamen. Und hier würde es nicht bei einfachen Knochenbrüchen bleiben. Theoretisch wußte Pauline, was sie tun konnte und durfte, aber praktisch hatte sie das noch nie getan, in ihrem Heimatdorf und im Vorwerk genügten meist ein ermahnendes Wort oder die Drohung mit der Öffentlichkeit; das Schlimmste, was sie erlebt hatte, war im vorigen Frühling geschehen, als ein gutes Dutzend junger Leute auf altertümlichen Zweirädern aus Berlin angebraust kam, solchen Dingern, die noch mit Wasserstoff angetrieben wurden und einen unwahrscheinlichen Lärm machten. Und die jungen Leute wollten unbedingt – nach vierzehntägiger Trockenheit! – ein großes Lagerfeuer veranstalten. Ihr war damals nichts weiter übriggeblieben, als einen nach dem andern zum Zweikampf aufzufordern, und erst als sie den sechsten zu Boden geworfen hatte, gaben die andern auf. Pauline ließ den Wagen auf dem Parkplatz stehen und rannte den Weg nach oben. Es war ein sauberer, gepflegter Pfad in einer lichten Parklandschaft, anders als im heimischen Busch, es gab keine Zweige und Ranken, denen sie ausweichen mußte, aber dafür ging es nun steil bergan.
Und dann sah sie die Flattermänner – etwa dreißig Leute, keine Kinder dabei, wenig Jugendliche, aber auch keine Alten, soweit sie das mit dem ersten Blick erfassen konnte. Sie trugen alle einen hellblauen Dreß, der Arme, Schultern und Beine frei ließ. Sie waren gerade dabei, in einer Linie parallel zum Abhang Aufstellung zu nehmen, und Pauline mußte innerhalb weniger Sekunden herausfinden, ob es hier so etwas wie einen Leiter oder einen Oberflattermann gab, denn das bot ihr die Chance, den Vorgang aufzuhalten. Jetzt sah sie es: Am linken Flügel, also am weitesten von ihrem jetzigen Standort entfernt, war jemand, der den andern Zeichen gab. Pauline rannte vor der Linie entlang, rief „Halt!“ und „Warten Sie!“ und wieder „Halt!“, und dann stand sie vor dem Mann, von dem sie glaubte, daß er der tonangebende Mensch dieser Gruppe sei. „Ich bin Ordner, ich muß Sie sprechen, jetzt!“ keuchte sie. „Jetzt nicht, gehen Sie beiseite!“ sagte der Mann barsch. Pauline blieb vor ihm stehen. Ihm die Sicherheit nehmen! dachte sie. Ihn zum Zweifeln bringen! „Sie können da nicht runterspringen!“ sagte sie. „Doch, ich kann!“ behauptete der Mann. „Ich kann fliegen!“ „Ihre Sache. Aber Sie dürfen den andern keine Zeichen geben, daß sie es auch versuchen.“ „Die können’ s auch!“ „Alle? Bis auf den letzten? Keiner darunter, der es vielleicht nicht schaffen könnte?“ „Die Schwachen trägt die Gemeinschaft.“ „Und wenn doch einer dabei ist, den sie nicht trägt? Ein einziger nur? Den haben Sie dann getötet!“ Pauline merkte, wie der Mann unsicher wurde. Aus den Augenwinkeln aber sah sie, daß in der Mitte der Linie sich ein neuer Führer gefunden hatte: Einer war vorgetreten, winkte den andern, und schon bewegte sich die ganze Linie auf den Abhang zu. Mit drei, vier großen Sätzen war Pauline bei dem neuen Oberflattermann und riß ihn zu Boden. Dann sprang sie wieder auf, streckte den andern die Arme entgegen und schrie: „Zurück! Zurück! Gehen Sie zurück! Gehen Sie zwanzig Schritte zurück!“
Die Linie stockte. Pauline war jetzt nur noch etwa fünf Meter vom Abhang entfernt, wenn sie die Leute nicht zum Halten brachte, konnte sie sogar mit in den Abgrund gerissen werden. Aber sie sah auch, daß die Leute zögerten. Ein konkretes Kommando geben! fiel ihr ein. „Gehen Sie zwanzig Schritte zurück!“ rief sie noch einmal. „Eins – zwei – drei …“ Tatsächlich, die meisten folgten dem Kommando, zwar zögernd, aber nach und nach immer einheitlicher. Pauline half dem Mann auf, den sie umgerissen hatte, während sie bis zwanzig kommandierte, dann entschuldigte sie sich bei ihm. „Es war meine Pflicht als Ordner, Sie aufzuhalten“, sagte sie. „Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht zu weh getan!“ „Wir tun hier nichts Unrechtes“, erwiderte der Mann, halb protestierend, halb erklärend. „Wir sind eine Sympathiegemeinschaft, die hier ihren Sport treibt, weiter nichts. Sie sind wohl nicht aus diesem Kiez?“ „Kommen Sie, gehen wir zu den andern!“ sagte Pauline. Je weiter weg vom Abhang, um so besser, dachte sie. Im Augenblick schien zwar die Entschlossenheit der Flattermänner einer allgemeinen Unsicherheit gewichen zu sein, aber das konnte sich ja wieder ändern, und absolut sicher durfte Pauline erst sein, wenn die Ordnerschule hier war – bis dahin mußte sie diese sonderbare Sympathiegemeinschaft hin- und von deren Sport abhalten. Zum Glück nicht mehr ganz allein, denn jetzt kamen zwei Männer den Berg heraufgelaufen, der eine war dem Gesicht nach der Ordner, der sie angerufen hatte, und der hatte wohl noch jemanden zur Hilfe mitgebracht. „Nein, ich bin nicht von hier“, sagte Pauline, „aber da kommt ja wohl jemand, der Sie kennt!“ Pauline und die beiden anderen Ordner verständigten sich durch einen Blick – mehr war nicht nötig, denn die Taktik ergab sich aus der Situation: Jeder von den dreien verwickelte einen Teil der Flattermänner in eine Diskussion und versuchte dabei, sie immer weiter vom Abhang wegzuziehen, so daß sie zu keiner gemeinsamen Handlung fähig waren, und auf Einzelaktionen waren sie wenigstens heute wohl nicht aus. Die Diskussion drehte sich mehrmals im Kreise von Sollen und Wollen und Können und Dürfen, sie führte zu nichts als dazu, die Leute festzuhalten, und das war ja auch ihr Ziel. Trotzdem spürte Pauline, daß sie die Flattermänner nicht mehr lange würden hinhalten können; eine neue Entschlossenheit schien aufzukommen – zunächst gegen sie gerich-
tet, der Umgerissene erklärte, er werde den Schlichter anrufen, und Pauline entgegnete, dazu sei sie als Ordner sowieso verpflichtet, da sie körperliche Gewalt angewandt habe, was den Beschwerdeführer für den Augenblick still werden ließ, denn so angenehm war ihm der Gedanke an den Schlichter wohl doch nicht. Trotzdem atmete Pauline auf, als ein kleiner E-Bus den Weg heraufkam und etwa zwanzig junge Leute heraussprangen: die Ordnerschüler. Pauline lief auf den Lehrer zu, den sie noch kannte, und sagte: „Ziehen Sie einen Kordon zwischen den Leuten und dem Abhang, schnell, Erklärung dann.“ Pauline stellte sich in die Mitte, bat um Aufmerksamkeit und sprach: „Hier wird heute nicht gesprungen. Bitte gehen Sie nach Hause und warten Sie den Spruch des Schlichters ab!“ Die Reaktion war unterschiedlich. Einige schienen empört zu sein und protestierten, andere schienen sich darein zu schicken und machten Anstalten, den Gipfel des Mont Klamott zu verlassen. Diese Unterschiedlichkeit war wohl die beste Gewähr dafür, daß in einiger Zeit, vielleicht in einer halben Stunde, vielleicht auch später, alle Flattermänner wenigstens für diesmal nach Hause gingen. Und dann kam Wenzel. Er ließ sich von Pauline erzählen, was sich abgespielt hatte. Sie hatte das kaum in wenigen Sätzen berichtet, als der erste Oberflattermann sich dazugesellte; er hatte wohl zu Wenzel aus irgendeinem Grund mehr Zutrauen als zu Pauline und den Ordnern, vielleicht dachte er auch, der Ältere sei ein Mann mit mehr Einfluß. Wenzel konnte sich nun, da die akute Gefahr behoben war, interessiert zeigen an dem, was der Flattermann vorzubringen hatte, und an der ganzen Menschenfliegerei überhaupt. Das war auch nötig, denn mit der heutigen Verhinderung der drohenden Katastrophe war ja das Problem nicht gelöst. Der Mann erzählte, daß sie schon das deutliche Gefühl des Schwebens und Fliegens erreicht hätten und daß es nur von weiterer kollektiver Anstrengung abhinge, das zu einem regelrechten Flug auszudehnen, was nur diese empörende Behinderung durch die Ordner verhindert habe, aber darüber sei das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es sei ja nun mal so: Erst der praktische Erfolg werde die Skeptiker überzeugen, und da man Angst habe, sich überzeugen lassen zu müssen, versuche man zu verhindern, daß es zu diesem Erfolg kommt.
Wenzel unterbrach die Tirade. „Würden Sie mir das mal vorführen? Ich meine, nicht am Abhang, sondern …“, er sah sich um, „vielleicht dort von der Parkbank? Und würden Sie dazu diesen Stirnreifen mit EEG-Elektroden aufsetzen?“ Der Flattermann willigte ein, sagte aber, er brauche einige Zeit, um sich zu konzentrieren, die ihm Wenzel selbstverständlich zubilligte. Pauline war klar, was Wenzel vorhatte, er wollte wissen, ob auch hier die G-Spindeln auftraten. Der Lehrer der Ordnerschule, der das nicht wissen konnte, verstand nicht, warum der Flattermann auf einmal ernst genommen werden sollte, enthielt sich aber einer Stellungnahme und fragte statt dessen, ob er und seine Leute noch gebraucht würden. Wenzel sah sich um, blickte dann Pauline an, die zuckte mit den Schultern. Wenzel bedankte sich also für den Einsatz und versprach, über den weiteren Gang der Dinge zu informieren, es war ja immerhin ein interessantes Thema für die Ausbildung. Der Kordon wurde aufgelöst, die jungen Leute gingen zu ihrem Bus, stiegen ein und fuhren ab. Auch die beiden Ordner aus dem Wohngebiet verabschiedeten sich. Sie saßen nun zu dritt auf einer Parkbank, am Rande des freien Gipfelplatzes; auf der einen Seite hatten sie den Blick auf einen Teil der Stadt, auf der anderen Bäume und Büsche, der Platz war jetzt leer und friedlich. „Wozu soll ich Ihnen das eigentlich vorführen?“ fragte der Flattermann. „Sie glauben ja doch nicht dran, oder?“ „Nein, ich glaube nicht daran, daß so etwas möglich ist“, sagte Wenzel aufrichtig. „Aber ich bin mit einer Sache beschäftigt, bei der bestimmte Gehirnwellen auftreten, und zwar oft bei großen psychischen Anstrengungen. Und ob Sie nun Erfolg haben oder nicht – eine große psychische Anstrengung liegt doch bei Ihnen vor, habe ich recht?“ „Das ja“, sagte der Mann, schwieg einen Augenblick und stand dann auf. „Also gut, ich will Ihnen den Gefallen tun. Wir sind ja nicht gegen wissenschaftliche Unterstützung, wir sind nur dagegen, daß man uns von vornherein für blöde hält.“ Er stieg auf die Bank, auf der sie gesessen hatten, Wenzel und Pauline waren auch aufgestanden und ein paar Schritte beiseite getreten. Ein paar Sekunden stand der Mann still, dann breitete er die Arme und sprang. Es war nichts Besonderes zu sehen an diesem Sprung, außer vielleicht, daß der Mann etwas plumpsend aufkam. Wenzel hatte den Absprung mit der Armbanduhr gestoppt, und sie gingen nun zu seinem Wagen, der auf
dem Parkplatz am Fuß des Berges stand und in dem er ein tragbares Wiedergabegerät mitgebracht hatte. Die Aufnahme der EEG-Impulse war zwar eine Viertelstunde lang, aber da sie mit Zeitzeichen versehen war, hatte Wenzel den Absprung schnell gefunden: Das Gerät zeigte, wenn auch nur ganz kurz, GSpindeln. „Da haben wir sie, sehen Sie, hier“, sagte Wenzel zu dem Mann, „das sendet Ihr Gehirn aus, wenn Sie springen.“ „Wie lange ist das?“ fragte der Mann. „Zehntelsekunden“, antwortete Wenzel. „Länger nicht?“ Der andere wunderte sich. „Ich hatte das Gefühl, zwei, drei Sekunden zu schweben.“ „Sind Sie nicht so was wie ein Übungsleiter?“ sagte Pauline. „Vielleicht sollten Sie einmal selbst Sprünge der anderen filmen, damit Sie Kontrolle über die Realzeit haben.“ „Nein, nein“, sagte der Mann etwas verwirrt, „das heißt, mit dem Filmen, das ist schon gut, nur – Übungsleiter oder so was gibt es bei uns nicht.“ „Aber Sie haben doch den anderen Zeichen gegeben, als ich kam?“ erwiderte Pauline. „Ja, das war, weil ich …Muß ich das beantworten?“ fragte er mit einer Wendung zu Wenzel. Offenbar war ihm Pauline wegen ihres rabiaten Eingreifens noch immer nicht ganz geheuer. „Sie müssen gar nichts“, sagte Wenzel, „aber ich glaube, es ist höchste Zeit, daß Sie Ihre Abkapslung beenden und sich ernsthafter Untersuchung stellen, bevor ein Unglück geschieht.“ „Es ist so“, sagte der Mann zögernd, „daß jedesmal ein anderer die Zeichen gibt. Es wird nicht vorher festgelegt, wer, wenn das Kollektiv sich konzentriert – ja, wie soll ich sagen, einer merkt eben, ich bin es. Und heute war ich es. Zu Anfang.“ „Und nach der Unterbrechung“, sagte Pauline mit plötzlicher Unruhe, „war es der andere, den ich umgerissen habe.“ Sie sah sich nach allen Seiten um. „Ob die wirklich nach Hause gegangen sind?“ „Durchaus möglich, daß sie es noch mal versuchen“, sagte der Flattermann. Es klang nicht triumphierend, aber auch nicht schuldbewußt.
Pauline war ohne ein Wort losgelaufen, Wenzel spurtete hinterher. Als sie Sicht auf den Gipfelplatz hatten, war es schon zu spät. Etwa fünfzehn Leute liefen auf den Abhang zu und sprangen. Pauline erwischte den letzten noch am Rand des Abgrunds, warf ihn um und verletzte sich selbst dabei, ohne es zunächst zu merken. Drei Flattermänner starben, bevor die Rettungswagen eintrafen. Vier blieben lebenslang geschädigt. Sibylles Schlichterspruch war unterschiedlich bewertet worden. Es gab zwar kaum einen, der ihn nicht für praktikabel gehalten hätte; manche aber fanden, sie habe sich die Sache zu leicht gemacht. Das waren freilich mehr Leute von der Peripherie des Geschehens, etwa aus dem Bereich der Dienstleistungen und des Transports, die nur wenig Einblick hatten in die Problematik und auch die Reichhaltigkeit der wissenschaftlichen Anregungen nicht überblickten, die von dem Verfahren ausgegangen waren. In Wirklichkeit aber war das Verfahren mit Sibylles Spruch noch nicht zu Ende. Führende Köpfe aus allen Bereichen der Raumfahrt, Physik, Kosmologie und verwandter Wissenschaften meldeten sich zu Wort, zum Teil mit Erwiderungen auf andere Beiträge, und denen folgten wiederum Entgegnungen, und Sibylle sorgte dafür, daß das alles kursierte. So war aus dem Verfahren eine große wissenschaftliche Konferenz geworden. Das war wiederum kein Wunder – turnusmäßige Konferenzen hielt niemand mehr ab; wenn Bedarf nach einer Auseinandersetzung entstanden war, wurde eben ein Schlichtungsverfahren, ein Projektbericht oder irgendeine andere Gelegenheit dazu benutzt. Obwohl die Ergebnisse allen zugänglich waren, auch den Experimentatoren der Blastula-Gruppe, hielt Sibylle es für geraten, sich noch einmal mit Esther, Akito und den anderen zusammenzusetzen. Nicht jeder vermochte der Debatte zu folgen, vor allem wenn er theoretisch nicht so beschlagen war, und bis das immer noch wachsende Material informatorisch aufbereitet war und auf mehreren Stufen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades formuliert vorlag, würde noch einige Zeit vergehen. Sie trafen sich zwanglos in einem der unzähligen kleinen Gesellschaftsräume in Sternenstadt, in denen man Getränke und Speisen bestellen oder auch selbst zubereiten konnte. Als alle sich versorgt hatten, begann Sibylle.
„Die Fragestellung unseres Verfahrens hat in allen Naturwissenschaften und nicht nur dort Echos erzeugt. Es wird als allgemeines Problem der Wissenschaft empfunden, daß es zunehmend schwieriger wird, Richtung und Grenze des Experimentierens festzulegen. Offenbar wird auch dort, wo noch kein konkreter Anlaß dazu besteht, die Befürchtung empfunden, man könne jeden Tag auf eine solche Grenzfrage wie die unsrige stoßen. Ich hatte gesagt, nicht nur in den Naturwissenschaften, und füge deshalb hier gleich als Beispiel die Ausarbeitung einer Gruppe von Wissenschaftssoziologen an, die dieses allgemeine, bestätigte Unbehagen darauf zurückführen, daß die Grundlagenforschung unserer Tage sich sehr weit von der Technik der Produktion gelöst hat und nur noch von ihren eigenen Fragestellungen inspiriert wird. Oder anders gesagt: Was der einzelne Forscher als fördernd empfindet, daß er sich auf den Erkenntnisgewinn konzentrieren kann und nicht Bedürfnisse der materiellen Produktion befriedigen muß, kann sich für die Forschung im ganzen als hemmend erweisen. Übrigens ist das ein uraltes Problem, es stellt sich nur in jedem Zeitalter neu. Das Neue heute ist, daß die stabile Produktion tatsächlich keine Anforderungen stellt – oder fast keine – und daß eine Änderung dieses Sachverhalts an den Grundfesten der Stabilen Gesellschaft rütteln würde. Das macht es verständlich, daß zu den Hauptthemen der Diskussion, die ich jetzt aufzählen will, der Beitrag von Ruben Madeira gehört. Obwohl er eigentlich nur ein persönliches Anliegen vorgebracht hat, zeigt er mit dem Wunsch, daß anwendbare Ergebnisse angesteuert werden sollen, einen möglichen Ausweg aus der obengenannten Lage. Wenn die Produktion vorläufig keine stimulierenden Anforderungen stellen kann, muß es die Forschung selbst tun. Unter diesen Aspekten wird sogar sein zweiter Vorschlag, der wohl etwas utopisch klingt, nämlich die Planeten zu besiedeln, ernster genommen, als ich das erwartet hätte. Der zweite Punkt, auf den sich vielseitiges Interesse konzentriert, ist die Formel beziehungsweise ihr physisches Modell – dieser Formelapparat, der das Verhalten eines unerhört exotischen Teilchenkollektivs beschreibt und so etwas wie ein Universalschlüssel für die Mathematisierung der unterschiedlichsten Probleme wird, in Bereichen, die überhaupt nichts mit Teilchen, ja oft nicht einmal etwas mit Physik zu tun haben. Unser Formelmodell entwickelt sich zu einem Unternehmen, das für andere Berechnungen anstellt, und über Auftragsmangel können sich die
Kollegen nicht beklagen. Sie bereichern damit unseren Dienstzeitfonds erheblich. Der dritte Punkt sind eure Experimente selbst. Auch da werden von vielen Leuten Vorschläge gemacht oder Fragen gestellt, die sich teilweise decken. Ich möchte ein paar Kernfragen und ihre Konsequenzen herauspräparieren. Erstens: Wird im Stadium zwei Energie zerstreut? Wir wissen, daß das Bläschen keine Energie mehr aufnimmt, weil es nicht mehr wächst. Aber wir wissen nicht, ob es nicht einen Teil der angebotenen Energie unter Gewinnung von Organisation zerstreut, das würde andere Meßmethoden erfordern, die aber im Prinzip möglich sind. An der Beantwortung dieser Frage hängen eine Mengen Dinge, zunächst das Bläschen selbst betreffend: Bei positiver Antwort könnte man eine Art Reifeprozeß bis zum Eintritt des dritten Stadiums vermuten, die Zeit bis dahin wäre dann keine reine Zufallsgröße. Aber auch die Neutrinophysik ist an der Antwort interessiert; denn wenn es diese Bläschen-Strukturen im Innern der Sterne gäbe, könnten sie den Energietransport verlangsamen, und für die Frage des Neutrinodefizits könnte sich eine neue oder zusätzliche Erklärung finden. Eine Reihe von Modellen der Sternentwicklung wäre unter diesen Umständen überholungsbedürftig. Alles Grundfragen für benachbarte Forschungen. Zweitens: Ist das Haselnußmodell das einzig mögliche System aus mehreren Bläschen? Denkbar wäre ja auch, daß mehrere Bläschen, die gleichzeitig an den Punkt der Schrumpfung kommen, sich auf eine noch unbekannte Art zusammenschließen. Diese Frage ist deshalb interessant, weil die Beantwortung voraussetzt, daß man mehrere Bläschen absolut gleichzeitig zur Schrumpfung bringt, was bisher noch nicht möglich war. Man müßte also das erste Stadium so in den Griff bekommen, daß man es auf eine Mikrosekunde genau steuern kann. Das würde zugleich die Formel weit aussagekräftiger für die folgenden Stadien machen. Drittens: Kann man nicht mehrere Haselnüsse aneinanderlagern zu einem stabilen Gebilde? Die Frage ist leichter zu beantworten, weil sie nicht die Genauigkeit der Teilchensteuerung erfordert wie eben, aber dafür reicht sie sehr dicht an das dritte Stadium heran, wir wissen noch zuwenig über die Existenzzeit des zweiten Stadiums, darum würde ich die zweite Frage vor der dritten lösen.
Viertens wurde auch eine Reihe von Sicherungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Grundsätzlich sollte ein Schwermetallmantel die Magnetflasche und das Target, falls eins verwandt wird, einschließen, und der sollte innen und außen je eine teilchenzählende Folie tragen. Wenn man das nun alles zusammennimmt, wird es nötig, die Anlage Blastron fast ganz neu auszurüsten. Die Zahl und der Umfang der Experimente wird steigen, und zwischen den schöpferischen Experimenten unter der EGI werden automatisch gesteuerte Serien laufen, auch wenn wie jetzt die Mannschaft nicht dabei ist. Allerdings dann beschränkt auf Stadium eins.“ „Alles in allem“, sagte Esther in die entstandene Pause hinein, „die Schlichtung hat also die Experimente bedeutend erweitert und nur einen qualitativ bestimmten Anteil in die Zukunft verlegt.“ „So sehe ich das auch“, bestätigte Akito. Es hätte dessen nicht bedurft, aber nun war Sibylle doch sehr froh, daß zwischen den beiden Parteien und ihr als Schlichterin ein so hohes Einvernehmen hergestellt war. Auch die andern empfanden das als wohltuend, die Atmosphäre lockerte sich, aus der Diskussion wurde eine Unterhaltung. Semjon, der einen Kunstfreund bei den Mathematikern hatte, erzählte, daß die dort drauf und dran waren, an den von Sibylle variierten Stellen der Formel weitere Veränderungen vorzunehmen, und einige davon experimentell bestätigt haben möchten, so daß sie, die Experimentatoren, bald zu Anhängseln der Rechenmaschine würden; aber wenn sie damit anderen Bereichen halfen, wollten sie gern bis zum nächsten Ausflug in den Raum die Zeit nutzen. An diesen in nicht ganz ernstem Ton vorgetragenen Gedanken schloß sich bald eine Debatte an, die zugleich heiter und gedankenvoll war – erfahrungsgemäß eine ungemein schöpferische Mischung. Sibylle hatte Freude daran, merkte jedoch auch, daß einer sich nicht daran beteiligte: Ruben Madeira. Der vergleichsweise junge Mann war aber nicht geistesabwesend, im Gegenteil, er betrachtete sie öfter mit aufmerksamen Augen, hinter denen eine Frage wartete. „Es ist übrigens interessant, auch mal an einem Beispiel zu verfolgen“, sagte sie in eine Gesprächspause hinein, „wie sehr sich unsere Schlichtung verbreitet hat. Die Zahl der Abforderungen einer Information aus dem Zentralen Speicher ist zwar nicht das einzige, aber doch ein wichti-
ges Maß für ihre Bedeutung. Die Abforderungen der Vorträge von Esther und Akito und einiger anderer Diskussionsreden liegen in der Größenordnung von Hunderttausenden. Aber die Rede von Ruben Madeira hat bis heute siebzehn Millionen Abforderungen erreicht, also mindestens so viele Menschen haben sie auf ihrem Bildschirm gelesen. Charakteristisch ist die Entwicklung über mehrere Tage: Zu Anfang lag sie mit den anderen Materialien gleichauf, dann aber wuchs die Abforderung von Tag zu Tag sprunghaft. Das ist doch nur so zu erklären, daß jeder, der sie gelesen hatte, einem Dutzend anderer gesagt hat, soundso, da redet einer über die Besiedlung anderer Planeten, mußt du dir unbedingt angucken. Es scheint, daß diese Idee enorme Massen von Menschen erfaßt.“ „Was Sie nicht gedacht hätten“, sagte Ruben, und er hatte Mühe, zu verhindern, daß seine Stimme bebte. „Was ich nicht gedacht hätte“, bestätigte Sibylle, „was ich aber gerade deshalb so bemerkenswert finde.“ Rückschauend könnte man sagen, daß Paulines und Wenzels Unternehmen mit der Tragödie der Flattermänner in seine kritische Phase getreten war – kritisch, weil dieses Unglück geschehen war, und kritisch auch in dem Sinn, daß keine Zeit mehr verloren werden durfte, daß nun nicht mehr nur das eigene Gewissen, sondern auch die Öffentlichkeit eine schnelle Klärung forderte. Dabei hatten sie ja genaugenommen auch vorher keine Zeit verloren. Doch gerade jetzt hatten sie schlechtere Voraussetzungen als je zuvor, irgend etwas zu bewerkstelligen. Pauline hatte sich den Arm angebrochen, als sie den letzten Flattermann gerettet hatte. Sie war also krank, aber guter Dinge, nachdem das erste Entsetzen abgeklungen war. Der verletzte Arm, leicht geschient, diente vor ihr selbst als Ausweis ihrer Rettungsaktion, ohne daß sie sich dessen ganz bewußt war. Wenzel dagegen war tief deprimiert. Er machte sich Vorwürfe, zu sehr auf seine G-Spindeln ausgewesen zu sein; sonst hätte er nämlich Pauline besser zugehört, und ihm wäre der Verdacht auf die Ereignisse, die dann schrecklicherweise folgten, eher und rechtzeitig gekommen. Immer wieder überdachte er das Geschehen, und immer wieder kam er zu dem Ergebnis, daß Pauline – wenigstens sie! – alles getan hatte, das Unglück
zu verhindern, daß er aber gerade zu dem Zeitpunkt eintraf, als größere Erfahrung und Voraussicht gebraucht wurden, und versagte. „Niemand macht dir einen Vorwurf“, sagte Pauline. „Ebendarum muß ich es selbst tun“, entgegnete Wenzel. „Drei Menschen starben, ihr Tod hätte verhindert werden können, und niemand macht niemandem einen Vorwurf?“ „Aber es hat doch niemand schuld!“ sagte Pauline mit sanftem Nachdruck. „Nein, nicht im Sinn eines Schlichterspruchs“, stimmte Wenzel beinahe erbittert zu, „aber siehst du denn nicht: Leben ist doch das wichtigste. Dient nicht alles, aber auch alles, was die Menschen tun, dem Ziel, die Lebensspanne zu vergrößern, entweder durch längeres oder durch intensiveres Leben! Und da soll es einfach so hingenommen werden, daß durch eine Folge von Unachtsamkeiten drei Menschen ums Leben kommen!“ „Es wären dreißig gewesen ohne uns“, sagte Pauline leise. „Fehlt nur noch, daß uns deswegen einer lobt.“ „Was willst du eigentlich?“ „Ich will mindestens, daß wir Minute für Minute und Zusammenhang für Zusammenhang dieses Falls daraufhin untersuchen, wo es Möglichkeiten gegeben hätte, die Katastrophe zu verhindern. Damit wir gerüstet sind.“ Sie taten es. Und da sie gründlich waren und die Entstehung und Entwicklung dieser Sekte einbezogen, kostete das weitere Recherchen und viele Tage Zeit. Die Erkundigungen zog Wenzel ein, teils bei den Opfern, die leichter verletzt davongekommen waren und von denen die meisten wie aus einem bösen Traum erwachten, teils bei ihren Nachbarn, Ärzten, Psychologen und anderen. Am fünften Tag, nachdem sie Stunden um Stunden gearbeitet hatten, sagte Pauline in eine Pause hinein: „Jetzt weiß ich es – du hast Angst.“ „Ja“, sagte Wenzel. „Und du hattest recht mit deiner Prophezeiung, daß wir auf der Spirale jetzt eine Windung höher sind als beim Fall Otto Mohr. Ja, ich habe Angst, was die nächste Windung bringt. Am Anfang hat mir Sorge gemacht, was wir wußten. Jetzt macht mir viel mehr Sorge, was wir nicht wissen.“ „Aber wir sind weiter!“ behauptete Pauline.
„Sind wir wirklich weiter? Haben wir gesicherte Indizien, die in allen Fällen auftreten? Zu Anfang war es das Alter, um die Fünfzig. Bei den Flattermännern sind jüngere und ältere dabeigewesen. Dann haben wir gedacht, die G-Spindeln wären es. Inzwischen ist doch klar, daß die auch auftreten, wo wirklich nicht die Spur von dem zu finden ist, was wir suchen. Also nichts Ungewöhnliches.“ „Wir waren aber auch schon mal soweit zu sagen“, widersprach Pauline, „daß das Gesuchte vielleicht in den gewöhnlichsten Dingen steckt.“ „Und das macht es noch schwieriger.“ „Ja.“ Erst nach einer Weile merkte Wenzel, daß sie nicht mehr miteinander sprachen, und in diesem Augenblick wurde ihm auch dank seinen geschärften Magiersinnen bewußt, daß Pauline in keinem normalen Zustand war. Er sah sie an – sie wirkte außerordentlich konzentriert und hob nur ganz leicht die Augenbrauen zum Zeichen, daß sie seinen Blick wahrgenommen hatte. Wenzel verstand – er sollte sie nicht stören. Vielleicht kommt sie der Sache näher, dachte er und wartete. Wieder versank er in Gedanken, bis er ihr Lachen hörte, ein kleines, helles, übermütiges Auflachen. „Was hast du?“ fragte er verwundert und auch mit einer Spur von Ärger, weil ihm Lachen in dieser Situation deplaziert erschien. „Ich experimentiere“, sagte Pauline. „Morgen kannst du mir den Stirnreifen aufsetzen.“ „Was?“ „Ich probiere die Selbstheilerei aus“, sagte Pauline. „Die Ärzte meinen, es wirkt.“ Wenzel blickte überrascht auf ihren Arm. „Dann wirst du bald fertig damit?“ „Sie schätzen, in acht oder neun Tagen.“ „Sehr gut, dann wirst du an meiner Stelle nach Sternenstadt fahren.“ Und da Pauline sofort widersprechen wollte, fügte er noch hinzu: „Ich kann jetzt nicht weg. Die Öffentlichkeit.“ Die Öffentlichkeit – das waren in erster Linie die Leserbriefe, eine Einrichtung, die aus grauen Tiefen der Geschichte herrührte und ihren Namen beibehalten hatte, wenngleich sich ihre Bedeutung vertausendfacht und ihre Form völlig verändert hatte, was aber eine Folge des ganz und gar veränderten Informationssystems war.
Seit alle Informationen – mit Ausnahme der geschützten Personaldaten – für jeden erreichbar waren, hatte die Presse alten Stils ihre Bedeutung verloren, oder vielmehr, sie hatte eine Bedeutung hinzugewonnen, die sehr schnell die hauptsächliche und dann die einzige Bedeutung wurde: aus der Flut der Information, die ein einzelner nicht mehr überblicken konnte – ja nicht einmal ein Kollektiv, vielleicht nicht einmal die Menschheit als Ganzes –, auf eine einigermaßen zuverlässige Weise das zu filtern, was für den einzelnen wichtig war. Das wurde sonderbarerweise erst möglich durch den einzelnen; als nämlich fast jeder Haushalt mit einem Televisions-Datenanschluß versehen war und meist auch mit einem Schnelldrucker, der Texte aus dem Angebot auf eine Folie druckte, von der man sie wieder löschen konnte, führte das dazu, daß jeder sich seine Tageszeitung aus dem globalen, kontinentalen, regionalen, rayonalen und lokalen Angebot von Nachrichten, Kommentaren, Reportagen und Leserbriefen selbst zusammenstellte. Selbstverständlich gab es Journalisten und Redaktionen, sie lieferten das Primärangebot auf den fünf Ebenen aus den verschiedensten Lebensbereichen. Dabei blieben Artikel, die oft abgerufen wurden, länger im Angebot, solche, die nicht abgerufen wurden, überlebten den Tag nicht. Eine Ausnahme machten die Leserbriefe. Sie wurden in dem Bereich angeboten, den sie betrafen, und dort mindestens drei Tage lang, wurden sie oft verlangt oder lösten sie weitere Leserbriefe aus, die darauf Bezug nahmen, rückten sie in das Angebot des nächsthöheren Bereichs, also zum Beispiel aus der lokalen in die rayonale Ebene. Die Leserbriefe waren in den meisten Fällen durchaus keine Briefe im alten Sinn, also auf Papier niedergelegte Texte. Meist waren es – früher hätte man gesagt: Anrufe bei der lokalen Redaktion. Der Text wurde zuerst auf Tonträger festgehalten, oft waren sie auch mit Bild verbunden. Das gesamte System hatte sich so entwickelt, daß diese Leserbriefe nicht nur durch ihren konkreten Gegenstand die öffentliche Meinung bildeten, nachdem es Versammlungen so gut wie gar nicht mehr und Abstimmungen äußerst selten gab, sondern verallgemeinert, durch ihre Thematik auch das Informationssystem steuerten. Ein altes Ideal war verwirklicht worden, und zwar im ganz wörtlichen Sinn: Die Leser bestimmten den Inhalt ihrer Presse. Diese Öffentlichkeit nun hatte sich des Unglücksfalls bemächtigt, und das war ungewöhnlich – sonst befaßten sich die Leserbriefe überwiegend mit künstlerischen und handwerklichen Problemen. Diesmal aber waren
die Briefe zunächst aus der Nachbarschaft gekommen, tags darauf erschienen sie schon im rayonalen Angebot, am dritten Tag im regionalen, also in ganz Mitteleuropa, und am vierten kontinental. Inzwischen waren es allein in der Region fünfhundert, in den Nachbarregionen nicht viel weniger, und Wenzel hatte mit den Zweiten Gehilfen aller europäischen Regionen vereinbart, daß jeder bei sich diese Briefe aufarbeiten und eine Zusammenfassung an die andern geben sollte. Das war allein schon eine Sisyphusarbeit, aber Wenzel mußte selbstverständlich noch mehr tun – er mußte versuchen, die Frage so aufzubereiten, daß eine soziologische Forschungsgruppe darauf angesetzt werden konnte. Die meisten Briefe fragten: Wie ist so etwas möglich? Diese allgemeine Fassungslosigkeit bildete den Grundton. Aber nur wenige Briefe beschränkten sich darauf, die meisten enthielten Informationen der Art: Auch bei uns gibt es … Nein, nicht diese Flattermänner, die schienen einmalig zu sein, dem Himmel sei Dank, aber verstiegene Sekten, die man bisher als harmlos eingeschätzt hatte, gab es vielfach, nur daß jetzt sich niemand mehr mit einer vermuteten Harmlosigkeit trösten wollte. Waren die Flattermänner nicht auch für harmlos gehalten worden, bis zu dem Tag, da sie den wahnsinnigen Entschluß faßten, von einem Gipfel zu springen, und den auch in die Tat umsetzten? Was könnte solchen Leuten nicht alles einfallen, wenn sie einen verrückten Gedanken bis ins Absurde verfolgten? Selbst der kindischste Unsinn konnte auf diese Weise gefährlich werden. Die Schwierigkeit bestand darin, daß die Gesellschaft nichts verbieten konnte, was nicht unmittelbar Menschen bedrohte. Aber waren nicht gerade deshalb in der Stabilen Gesellschaft diese geringfügigen Reste dessen aufbewahrt worden, was früher einmal der Staat war – Ratgeber, Schlichter, Ordner? Gerade deshalb, weil es noch Gefährdung geben konnte? Also mußten sie auch mit diesem Problem fertig werden. Bisher hatte man sich mit dem Treiben solcher Sekten abgefunden. Sie entstanden und verfielen wieder. Jetzt, da hierbei zum erstenmal Menschen in Gefahr gekommen waren, mußte man an die Sache grundlegend anders herangehen. Wenzel gestand sich ein, daß schon wieder ein konkreter Anlaß vorlag, die Stabilität in Frage zu stellen. Sosehr er sich anfangs gegen diesen Gedanken gewehrt hatte – je mehr Probleme solcher Art sich stellten, um so besorgter wurde er auch in dieser Richtung.
Er hatte sich einige Tage später mit Klara Mannschatz verabredet, um ihr seine Überlegungen vorzutragen und sich beraten zu lassen, wo sie gründlich oder wo sie noch nicht folgerichtig genug waren. Auf dem Weg zu ihr traf er auf eine weitere Folge der Katastrophe, an die er überhaupt nicht gedacht hatte. Auf der Einfassungsmauer eines Brunnens, vielleicht zwanzig Zentimeter hoch, stand eine Reihe Kinder, sechs waren es, er zählte sie später, die hielten die Arme seitlich gestreckt und schlugen sie auf und ab wie Vögel die Flügel. Dann rief eins: „Los!“, und alle sprangen hinunter. Zwei legten sich dabei lang auf das Pflaster. „Wir sind jetzt der Rettungswagen!“ riefen zwei andere und kamen wie ein Auto angefahren. „Wieso“, rief ein Mädchen von denen, die liegengeblieben waren, „wir sind doch tot, da braucht ihr keinen Rettungswagen mehr!“ „Kinder, was macht ihr denn hier?“ fragte Wenzel, obwohl er schon wußte, was die Antwort sein würde. „Wir spielen Flattermänner!“ – „Das macht Spaß!“ – „Gab’ s in Ihrer Kindheit noch nicht, wa?“ Wenzel gestand es später Klara: „Zu meiner Schande muß ich zugeben, ich wußte in dem Augenblick nicht, was zu sagen richtig gewesen wäre!“ „Wahrscheinlich war es das richtigste, gar nichts zu sagen. Doch wir müssen uns Gedanken darüber machen. Wenn die Kinder so etwas spielen, wird die Sache auf gewisse Weise in die Zukunft transportiert. Aber diese Seite der Sache wird vermutlich die letzte sein, der wir uns zuwenden können, weil sie die schwierigste ist. Möchtest du was trinken?“ „Vielleicht nachher, wenn ich fertig bin mit meinem Vortrag, einen Tee. Erst mal“, er zog aus seiner Tasche einen Stoß Computerausdrucke, „guck dir das hier an, ich habe die Leserbriefe und alle andere verfügbare Information über Sekten in unserer Region analysiert, die Ergebnisse – na, lies mal!“ Sie brauchte eine Viertelstunde, dann blickte sie wieder auf. „Zweitens hast du hier einen genauen Ablauf der Katastrophe“, sagte Wenzel und reichte ihr noch ein Blatt. „Ja“, sagte sie und überflog es, „das ist im wesentlichen alles bekannt.“
„Na gut“, sagte Wenzel, „was hältst du nun von folgendem Gedankengang.“ Er stand auf und trat zum Fenster, von dem aus man einen schönen Ausblick auf rekonstruierte historische fünf- und vierstöckige Häuser hatte. Er brauchte Sammlung, und nach einem längeren Blick über die Dächer fühlte er sich bereit. „Sektenangehörige sind Argumenten gegen ihren Irrglauben nicht zugänglich. Solche Argumente, sie mögen noch so gut und richtig und fundiert sein, erreichen sie nicht. Das ist bekannt. Sie sind aber positiven Argumenten gegenüber nicht ganz so unzugänglich, wie meine Verhandlung mit dem einen wegen des EEG zeigt. Das ist ein Anknüpfungspunkt. Ich habe überlegt, ob man Ordner speziell ausbilden und in die Sekten schicken soll, die nur dann aktiv werden, wenn es gefährlich wird. Das ist aber nicht nur unmoralisch, sie müßten ja heucheln und die Sektenmitglieder belügen und hintergehen, vor allem funktioniert es praktisch nicht. Die Sekten sind Sympathiegemeinschaften. In ihnen kann also nur mittun, wer die Sympathie der anderen hat. Wenn er in der wesentlichen Frage anderer Meinung ist, werden sie als Sympathiegemeinschaft das unfehlbar spüren. Wenn er aber selbst dem Irrglauben anhängt, kann er nicht mehr wirksam werden. Das geht also nicht. Ich denke mir, jede Sekte sollte einen wissenschaftlichen Berater bekommen. Der müßte durchaus draußen bleiben, und er soll auch nicht lügen, er soll ehrlich sagen: Ich glaube nicht daran, aber mal angenommen, ihr hättet recht und ich unrecht, dann müßte folgendes eintreten … Also den Irrglauben als Hypothese bejahen und daraus überprüfbare Schlußfolgerungen ableiten. Und vielleicht sogar aus der Sekte ein produktives Kollektiv machen, aber das wäre der Idealfall. Diese Idee zu prüfen, ob sie als Konzeption tauglich ist, wollte ich dich bitten.“ „Ich bin interessiert“, sagte Klara Mannschatz, „besser gesagt, ich brenne darauf. Wie stellst du dir das weiter vor?“ „Danke, Klarissima“, antwortete Wenzel, „damit sagst du ja, daß du die Idee akzeptabel findest. Ich denke, wir suchen ein Dutzend Sekten auf verschiedenen Sachgebieten aus und vermitteln sie an entsprechende wissenschaftliche Gruppen oder Institute. Die müssen natürlich dafür einen Dienststundenfonds kriegen, das kann ich von der Region aus regeln, zumindest in diesem Versuchsstadium. Später müssen die lokalen Ratgeber vermitteln.
Ich denke mir, es wird erst einmal alles davon abhängen, daß die richtigen Leute dafür gefunden werden. Aber wer die richtigen Leute sind, welche Eigenschaften sie haben müssen, das wissen wir noch nicht, das muß deine Untersuchung herausfinden. Übernimmst du das?“ „Ja, ich übernehme das, meine Kollegen werden nichts dagegen haben, ich müßte jetzt sowieso mein Thema wechseln. Aber du solltest mir wenigstens die ersten zwei Wochen noch zur Verfügung stehen. Erreichbar sein. Zeit haben. Mit mir zusammen knobeln können.“ „Sehe ich ein“, sagte Wenzel. Die Freude, diese Sache auf den richtigen Weg gebracht zu haben, war größer als das Bedauern, daß er seinen Besuch in Sternenstadt hinausschieben mußte. Zum erstenmal seit der Katastrophe fühlte er sich etwas erleichtert. „Wie geht es dem Mädchen?“ erkundigte sich Klara. „Pauline? Sie hatte den Arm angebrochen, jetzt macht sie auf Selbstheiler, es scheint zu wirken.“ „Interessant. Besuchen wir sie?“ „Besuchen? Ja, gut! Ich war heute noch nicht da.“ Pauline freute sich über den Besuch, und Wenzel, der sie jeden Tag gesehen hatte, staunte darüber, daß sie keine Schiene mehr trug. „Morgen bin ich fertig“, erklärte sie. „Ich bin ein guter Selbstheiler“, fügte sie stolz hinzu. Wenzel berichtete von der getroffenen Übereinkunft, und dann fragte Klara nach Einzelheiten des Selbstheilens. Sie gestand, daß sie diese Heilmethode bisher nicht für voll genommen habe. Es war auch für Wenzel nicht uninteressant, was Pauline erzählte. Er selbst hätte nicht danach gefragt, wenigstens in der augenblicklichen Lage nicht, da alle seine besorgten Gedanken der Sektenfrage galten. Pauline berichtete, die Hauptschwierigkeit sei, die persönliche Brücke zu finden, über die man sozusagen gehen müsse, um die entsprechenden nervlich-biochemischen Mechanismen zu erreichen, die das Heilen beschleunigen. Sie habe sie nach einigen Versuchen in bestimmten Farbvorstellungen gefunden; nach den auf die übliche Weise ausgeführten Konzentrationsübungen, die zuletzt auf die zu heilende Stelle zielten, habe sie sich in bestimmter Abfolge wechselnde Farben vorgestellt, und in dem Maße, wie es ihr gelang, sich die feinsten Abstufungen der Farb-
töne zu vergegenwärtigen, sei der Heilungsprozeß beeinflußt worden. Und natürlich habe sie auch die G-Spindeln hervorgebracht. „Dann kannst du also morgen nach Sternenstadt fahren?“ „Solltest du nicht lieber selbst …“ „Ja, lieber schon, aber noch bin ich Zweiter Gehilfe, und das nimmt mir keiner ab. Doch Grüße kannst du bestellen.“ „Das mach ich“, erklärte Pauline, „mit Vehemenz!“ Pauline hatte das langsame Luftschiff gewählt, mit dem üblicherweise Bildungsreisen absolviert wurden, so war sie fast einen ganzen Tag unterwegs und hatte dabei nicht nur das Vergnügen, die überflogene Landschaft ausgiebig betrachten zu können; ihr standen dazu noch die Informationen zur Verfügung, die hier jeder Passagier auf seinen Bildschirm rufen konnte und die vom historischen Werden berichteten. Paulines Sinn für Geschichte, eigentlich nur gespeist von Kostümaufgaben, hatte hier Gelegenheit, sich in den Lücken der Informationen phantasievoll zu betätigen. Das Luftschiff flog über Kairo nach Nairobi, und schon über Griechenland vergaß sie die anderen Passagiere, die Schulklassen, die Afrika bewundern wollten, die älteren Paare, die noch einmal eine Weltreise unternahmen. Wer mit dem Theater verbunden war, wie hätte den Griechenland gleichgültig lassen können! Für ein Dutzend griechische Stücke hatte sie die Schauspieler eingekleidet, und man glaube ja nicht, daß dabei das Interesse des Kostümbildners auf den Faltenwurf beschränkt gewesen wäre! Sie flogen nicht hoch, und sie konnte sich durchaus einbilden, etwa Orest durch diese Täler streifen zu sehen. Später, bei Kairo, sah sie die Pyramiden von oben, und kurioserweise fiel ihr Hubert Förster ein, der Historiker in Berlin, der sie so oft beraten hatte, wenn es um historische Kostüme ging. Er war nicht etwa Ägyptologe, er war überhaupt nicht auf eine bestimmte Region festgelegt, denn sein Fach war Historiometrie, er suchte und untersuchte Meßbares in allen Vorzeiten und bei vielen Völkern. Die Pyramiden waren in Paulines Gedächtnis deshalb mit Hubert Förster verbunden, weil er deren Maßverhältnisse in jedem zweiten Gespräch als Beispiel für die Faszination seines Fachs anführte.
Sie dachte also an ihn, und schon der nächste Gedanke, davon ausgelöst, führte viel weiter. Einer seiner Lieblingssätze war: Der Mensch, der eben in die Geschichte eintrat, glich dem heutigen in allen metrischen Proportionen, nur die absolute Größe war geringer. Das galt übrigens auch für das Gehirn – der Jäger der Altsteinzeit hätte durchaus lernen können, Differentialgleichungen zu lösen, wenn er eine dafür geeignete Sprache, eine entsprechende Schulbildung und entsprechende technische Probleme gehabt hätte. – Das nun war keine These, sondern eine in der Übergangsperiode und später in der Harmonisierungsperiode mehrfach praktisch bewiesene Tatsache. Und dann fiel ihr die Lateralisation ein, die einzige kleine Einschränkung dieser Tatsache; eigentlich keine Einschränkung, sondern eher eine Modifizierung, eine Erscheinung, von der man in der Schule hört und die man wie so vieles wieder vergißt, wenn man nicht direkt damit zu tun hat: daß rationelle und emotional-bildhafte Verarbeitung getrennt voneinander in unterschiedlichen Gehirnhälften stattfinden, normalerweise. Mit Geschichte hatte das insofern zu tun, als über mehrere Etappen hinweg, vom aufkommenden Kapitalismus bis zum Ende der Harmonisierung, das Rationale in der Gehirntätigkeit des Menschen weit überwog – Erziehung, Ausbildung, Umwelt und vor allem die Arbeit als wichtigste Lebenstätigkeit forderten die Unterordnung der Gefühle unter die Gedanken, wenigstens für die überwiegende Mehrheit der Menschen. Erst jetzt, da jeder produktiv Kunst betrieb und die meisten diese Tätigkeit sogar als wichtigste erlebten, wurde die Gleichheit wiederhergestellt. Aber was hieß wiederhergestellt? Wenn vorher, also spätestens ausgangs des Feudalismus, je eine Gleichheit in der Auslastung der Gehirnhälften existiert hatte, dann auf sehr niedrigem Niveau… Und konnte das, was sie jetzt bewegte und beschäftigte, nicht damit zu tun haben? Vielleicht war es in einzelnen Fällen schon früher aufgetreten? Jetzt gingen ihre Gedanken durcheinander; doch vergessen würde sie diesen Einfall nicht wieder, und auch nicht Hubert Förster, den würde sie von Sternenstadt aus anrufen. Bisher hatte sie an Geschichtliches kaum gedacht; aber wenn wirklich in den Erscheinungen, denen sie nachspürten, eine neue Qualität des Gehirns stecken sollte, die in nur fünf Jahrzehnten zur Massenerscheinung wurde, und zwar ohne daß sich das Gehirn wesentlich verändert hätte, dann konnte es doch sein, ja, dann war es sogar wahrscheinlich, daß es all diese Dinge im Ansatz und in Einzelfällen bereits im Hochfeudalismus und davor gegeben hatte!
Von Nairobi nach Sternenstadt fuhr sie mit einer Gleitbahn, und hier gab sie sich ganz der Landschaft hin, die Gedanken ruhten, der Körper auch – erfrischt trat sie am Ziel aus dem Zug und freute sich, daß Sibylle Mohr dastand und sie abholte. Sie freute sich aus vielen Gründen – weil das Reisen für sie ein neues Erlebnis war, weil es ihr nun angenehm war, angekommen zu sein, und zum Gefühl des Ankommens gehört ja auch, daß man erwartet wird; sie freute sich, weil ihr die Physikern, von der sie einst mit dem scheelen Vorurteil ihres Vorwerkes gedacht hatte, inzwischen vertraut geworden war, und sie freute sich, hier das Terrain vorzubereiten für Wenzel Kramer. Zwar hatte es noch einige vorbereitende Gespräche gegeben, und sicherlich hätte man einiges durchaus auch aus der Ferne erfragen können; aber da sie immer noch auf der Suche nach Zusammenhängen waren, die so großräumig sein mußten, daß man Intuition brauchte, und da schließlich Intuition meist nur im Kontakt mit den Tatsachen kommt, war es notwendig, an Ort und Stelle zu gehen. Sternenstadt war eigentlich ein Städtchen mit seinen zwanzigtausend Einwohnern; der Stadtkern, höchstens fünfstöckige Häuser, lag in einem Tal, die Stadt wurde niedriger zum Rande hin, und die Hänge hinauf kroch sie mit Bungalows. In einem davon wohnte Sibylle, wenn sie auf der Erde war. Es war ein Bungalow mit zwei Wohnungen, die andere stand zur Zeit leer, Sibylle bot sie Pauline an. „Ach nein“, sagte Pauline lächelnd, „die werden wir mal für Wenzel lassen, in ein bis zwei Wochen kommt er.“ Sie sah sich dabei geflissentlich im Zimmer um, aber Sibylle lachte nur leise und nahm die Bemerkung so freundlich, wie sie gemeint war. „Bleiben Sie so lange hier?“ fragte sie.
„Ich weiß noch nicht“, sagte Pauline unentschlossen. Vierzehn Tage waren für vorbereitende Arbeiten vielleicht wirklich zuviel, und ihr war, als müsse sie zeitlich ungebunden bleiben. „Dann ziehen Sie doch erst einmal hier ein“, riet Sibylle. „Später suchen wir Ihnen etwas im Zentrum. Das ist nämlich gar nicht so einfach. Nach dieser Schlichtung, Sie werden ja davon gehört haben …“ „Wir haben zugesehen“, warf Pauline ein. „Oh! Also danach hat hier ein ziemlicher Wirbel eingesetzt, Sternenstadt ist zur Zeit etwas überbelegt. Natürlich nur relativ; da ja immer einige tausend Leute in Gagarin sind, gibt es trotzdem überall Möglichkeiten. Nur die Hotels eben …“ „Gut“, stimmte Pauline zu. „Wir werden öfter miteinander schwatzen müssen.“ „Daran hab ich auch gedacht“, sagte Sibylle, „und nun wollen wir zu Abend essen.“ Beim Essen erzählte Pauline von ihren letzten Erlebnissen mit den Flattermännern, hauptsächlich, um zu erklären, warum Wenzel jetzt
nicht kommen konnte. Sibylle war sehr betroffen, sie hatte nichts davon gewußt, bis hierher war die Nachricht nicht gedrungen, oder sie hatte sie übersehen. „Das ist schlimm“, sagte sie, „und direkt beunruhigend ist für mich: Ihr seid darauf gestoßen in der Verfolgung der Fragen, die Ottos Tod aufgeworfen hatte. Das weitet sich aus.“ „Deshalb weiten auch wir aus, bis hierher nach Sternenstadt“, sagte Pauline scherzend und fuhr dann sehr nachdenklich fort: „Und wir müssen vielleicht noch viel mehr ausweiten. Es ist möglicherweise Unsinn, aber ich möchte auch diesen Planetenmann sprechen, wie heißt er, Rubin oder so ähnlich, läßt sich das machen?“ „Sicher, Ruben Madeira heißt er, ihr kommt sowieso mit ihm zusammen; jetzt sage ich ‚ ihr‘ , wenn ich von euch beiden spreche, sollten wir nicht auch du sagen?“ „Ich nehme das Angebot gern an“, sagte Pauline in friedfertigem Ton, damit nichts Distanzierendes zwischen ihnen stehe. Am nächsten Morgen liefen sie die drei Kilometer bis zu Sibylles Arbeitstrakt im Dauerlauf, wobei sie sich in der Führung abwechselten, denn es wehte ein milder, aber kräftiger Wind. Da man hier sowieso die Kleidung ablegen und Arbeitskombinationen anziehen mußte, konnte man auch schnell den Schweiß abduschen. Pauline bekam eine grausilberne Kombination mit einem schmückend stilisierten, roten G – Gast im roten Sektor. Die Kombination lag bereit, und sie paßte. Dann führte Sibylle die Besucherin in ein Zimmer. „Euer Arbeitszimmer, solange ihr hier seid“, sagte sie. Dann erklärte sie ihr die Anschlußkodes, die man auf den Schirm rufen konnte, und wo ihr eigenes Zimmer lag und auch wo Ver- und Entsorgungsräume zu finden waren. Schließlich sagte sie: „Ich gebe dir aus meinem Fonds erst mal zehn Dienststunden und zwanzig Computerminuten, damit du, wenn nötig, Aufträge erteilen kannst und nicht auf Gefälligkeiten angewiesen bist. Die werden zwar sonst gern erwiesen, aber im Moment ist es bei uns ein bißchen voll, wie schon gesagt. Wenn du nicht ausreichst damit, sag es mir.“ „Du hast an alles gedacht, was?“ „Ich hoffe“, antwortete Sibylle lächelnd. „Zum Mittagessen hole ich dich ab, frohes Schaffen!“ Obwohl Pauline nach dem, was sie seit dem Frühjahr getan hatte, im Umgang mit Informationssystemen nicht mehr ungeübt war, dauerte es
hier, im Zentrum der Wissenschaft, doch fast eine Stunde, bis sie sich durch die Kanäle und Chiffren bis zu dem Material durchgekämpft hatte, das sie sich ansehen wollte. Nun, das nächstemal würde es eine halbe Minute dauern, und diese und vielleicht noch andere kommende Stunden waren schon mal ein Aufwand, den sie Wenzel abnehmen konnte. Aber nun hatte sie die EEGs von einigen EGI-Experimenten, und nun konnte sie sich das ja schon mal ansehen. Sie ließ vier EEGs gleichzeitig über ihren Schirm laufen, so viele paßten darauf, ohne daß das einzelne zu undeutlich wurde. Vier Gehirne, in einem beliebigen EGI-Experiment – ja, da waren irgendwann GSpindeln. Doch schon, als sie sie sah, war ihr klar, so ging es nicht, sie mußte mehr wissen über die Experimente, die EGI, die Personen und dann über das einzelne Experiment, dessen EEGs sie betrachtete. Was geschah zu dem Zeitpunkt, als die Spindeln einsetzten, übrigens nicht gleichzeitig bei allen, das konnte sie schon mal festhalten; aber mehr ließ sich so nicht erkennen. Sie speicherte die Rufnummern für diese Aufnahmen in ihrem Gerät und schaltete es dann aus. Noch lange bis Mittag? Eine ganze Weile. Was konnte sie noch tun? Ja, sie würde den Historiker anrufen. Also los, zunächst Berlin, wie kam sie dahin, aha, so und dann … Ruben saß diesmal in der EGI-Mannschaft, und jemand anders machte den Außenseiter. Denn dieser Versuch jetzt war auf Rubens Betreiben hin ausgerichtet: Ein Stadium-zwei-Bläschen sollte in ein Target gelenkt werden, das sich zusammensetzte wie die Venusatmosphäre – das alles freilich am Modell. Obwohl sie noch in Sternenstadt waren, experimentierten sie mehr als sonst: Die Hälfte der Experimente am Modell richtete sich nach den Wünschen der Mathematiker, die andere Hälfte nach ihrem eigenen Programm. Im Grunde hätte dieser Versuch auch ohne die EGI laufen können; denn wenn ein Ablauf erst einmal entdeckt und gesichert war, dann konnte er automatisch wiederholt werden, und das Neue an diesem Experiment war ja ausschließlich die Zusammensetzung des Targets. Inzwischen aber nahmen auch die etwas theoriefernen Kollegen diese Arbeiten am Modell ernst, und man wollte keine Gelegenheit versäumen, auch das erste Stadium weiter zu befragen. Falls also nichts Umwerfendes mit
dem – angenommenen – Bläschen geschehen sollte, würde man im Stadium zwei Rubens Target verwenden. Es geschah nichts Umwerfendes. Semjon startete in der fünften Sekunde ein zweites Bläschen, alle bemühten sich redlich, es in der Nähe des ersten zu halten, aber dieses ließ nur Zeiger ausschlagen und Lämpchen blinken und kümmerte sich nicht um das zweite, das nach exakt sechsundfünfzig Sekunden platzte. Das erste ging, der automatischen Prozeßsteuerung folgend, ins zweite Stadium über und wurde kurz darauf auf das Target gelenkt. Das glühte auf und verlosch wieder – Ende. Und das Spektrum? Das war in diesem Fall natürlich nicht so einfach zu analysieren wie bei reinem Wasserstoff, und sie hatten eine Menge Arbeit damit. Jeder untersuchte einen anderen Bereich des Spektrums, aber am Ende kam es doch heraus: Stickstoff trat auf, der vorher gefehlt hatte, die andern Prozentzahlen hatten sich etwas verschoben, bei Wasserstoff, der ja auch knapp war auf der Venus, zum Positiven, zur größeren Konzentration. Ein ermutigendes Ergebnis – wenn auch leider nur ein Modellergebnis. Doch dieser Versuch ließ sich an der BlastronAnlage real wiederholen. Wenn es nur bald soweit wäre! Aber es würde ja bald soweit sein. Die Verzögerung entstand ausschließlich durch die geplante Neuausrüstung und Erweiterung von Blastron. Daß dies ohne längerfristige Planung möglich wurde, war eine weitere Wirkung der Schlichtungsverhandlung und wohl nicht zuletzt der Rede, die Ruben gehalten hatte, allerdings wohl mehr ihres ersten Teils, in dem die Möglichkeiten für Raumfahrt und -forschung erwähnt wurden. Jedenfalls hatten alle Sektoren des Projekts Raumkrümmung und auch die Raumfahrt selbst von ihren materiellen Reserven und Dienstzeitreserven dazugelegt, und eine parallele zweite Anlage war für das nächste Jahr in Aussicht genommen. Die längerfristige Planung wurde noch offengehalten, bis weiterführende Ergebnisse vorlagen, selbstverständlich gesicherte Ergebnisse von Realexperimenten. Es war also alles auf dem besten Wege, der Grundsatzstreit hatte ihnen auch praktisch weitergeholfen, und sie konnten in bester Laune, nur ein bißchen erschöpft, die Vormittagsserie abschließen und zum Essen gehen. Im Speisesaal fiel Rubens Blick sofort auf Sibylle Mohr, er ging auf ihren Tisch zu, um ihr von dem letzten Experiment mit der Venusatmosphäre zu berichten, sah natürlich schon von weitem, daß sie nicht allein
war, ein junges Mädchen, das rote G auf der Kombi, aha, wohl der angekündigte Besuch, ihm war schon bekannt, daß die Besucherin auch ihn befragen wollte, wenn er auch nicht wußte, wonach, der Nachmittag war also besetzt, man kam hier Gästen entgegen, wenn es sich irgend machen ließ, und es ließ sich machen, er war bei der EGI-Mannschaft durchaus ersetzbar. Sie wurden vorgestellt, und Ruben, der Sibylle erzählte, was sich soeben im Experiment gezeigt hatte, sah plötzlich Paulines Augen, die von der Seite auf ihn gerichtet waren, und dann sah er nichts mehr als diese Augen, er sprach weiter, glaubte wohl auch, man merke ihm nichts an, und er sprach immer noch, während er verzweifelt darüber nachdachte, was denn so besonders sei an diesen Augen, und erst als er aufgab, das jetzt herauszukriegen, kehrte er in die gegenwärtige Welt zurück, oder richtiger: Die Welt kehrte zu ihm, zu seinen Augen und Ohren zurück. „Erschöpft?“ fragte Sibylle lächelnd. Ja, das war er wohl auch – und erfolgreich gewesen und froh, es der Schlichterin erzählen zu können, und vielleicht hatte das alles dazu beigetragen, aber es konnte nicht das Entscheidende sein, er ahnte schon mit der Sicherheit, die Ahnungen manchmal haben, daß er am Abend bereits ein anderer Mensch sein würde. Pauline war durchaus nicht unberührt davon geblieben, denn freilich hatte sie wenigstens etwas von dem gefühlt, was dem Mann geschah, aber sie hatte ihm gegenüber zunächst, also jetzt beim Mittagessen, nur das leichte und freundliche Gefühl, angezogen zu werden, mit dem jeder ihrer bisher vergeblichen Versuche, einen Mann zu finden, begonnen hatte. Im Lauf des Nachmittags fühlte sie sich, als werde sie immer leichter, als verlöre ihr Körper an Gewicht und ihr Geist an Trägheit, und als ihr dieses Gefühl so deutlich wurde, daß sie es mit Worten ausdrücken konnte, wurde ihr plötzlich bange – immer leichter werden …, die Flattermänner … Unsinnig war das, sie überwand die Bangigkeit, und das Gespräch floß weiter, nicht nur Pauline erfuhr Neues, auch Ruben; das Gerücht über die Telepathie auf der Venus etwa, ja, das könnte wohl wahr sein, irgend so etwas hatte er gespürt, und er erzählte von den Besonderheiten der Menschen auf Mars und Venus und war schon wieder bei seinen Plänen und Träumen und allem, was er darüber jemals gedacht hatte, es war leicht, diesem Mädchen das alles zu erzählen, beinahe vergnüglich. Beim Abendessen beschlossen sie, daß Pauline die Nacht
bei ihm blieb, und anderntags beim Frühstück, daß sie versuchen wollten zusammenzubleiben. Am nächsten Tag spürte Pauline noch, daß sie sich irgendwie steigerte, dann nicht mehr – sie war in einem Zustand, in dem es nichts Schweres oder Schwieriges mehr gab. Wie von selbst fügten sich in ihrem Kopf Erlebnisse, Gedankenfetzen, halbe Schlußfolgerungen der letzten Monate zusammen, mühelos überbrückte ihr Gedanke die Schluchten des Unbekannten. Manchmal liegen Entdeckungen in der Luft. Manchmal erlebt ein Mensch einen Schub von Genialität. Trifft beides zusammen, geschieht ein Wunder. Wenzel hatte sich von den dringenden fernmündlichen Bitten Paulines bestimmen lassen, ein Dorf im Thüringer Wald aufzusuchen, um sich dort mit ihr zu treffen, oder richtiger, um dort mit ihr gemeinsam eine – wie hieß das? – historiometrische Arbeitsgruppe zu besuchen. Wenzel hatte zwar keine Vorstellung, was er dort sollte, aber er vertraute Paulines Urteil, und selbst wenn sich diese Zwischenstation auf der Reise nach Sternenstadt als überflüssig erweisen würde, so war es wenigstens eine kleine Erholung, und die hatte Wenzel nötig. Die Arbeit am Sektenproblem in die richtigen Kanäle zu leiten war noch schwieriger gewesen, als er befürchtet hatte. Er hatte es so regeln wollen: Eine Arbeitsgruppe unter Mitwirkung von Klara Mannschatz sollte an zehn bis fünfzehn Sekten im Raum Berlin die Idee mit der wissenschaftlichen Beratung erproben, jeweils der lokale Ratgeber würde die Sache bei seiner Sekte in die Hand nehmen; aber da gab es Schwierigkeiten, einige Ratgeber lehnten es ab, ihre Nachbarn wegen einer harmlosen Marotte zu belästigen, die wären ja keine Flattermänner, sondern Blumenanbeter oder Tischrücker oder kosmische Spurensucher und so weiter. Wenzel hatte schließlich den Schlichter der Region einschalten müssen, der ja in der Lage war, den Ratgebern Auflagen zu erteilen, und es in diesem Fall auch getan hatte, befristet natürlich, aber doch zeitlich ausreichend, daß die Arbeitsgruppe erst mal forschen und untersuchen konnte. Es war vielleicht nicht so sehr der ungewöhnliche Aufwand an persönlichem Engagement, der Kampf gegen die Widerstände gewesen, der Wenzel ermüdet hatte, sondern eher der Zwiespalt, einerseits diese le-
benswichtige Angelegenheit zu klären, auch wenn es lange dauerte, andererseits aber sich dem noch Ungewissen zuzuwenden, der noch verschwommenen Gefahr weiterer unbekannter Wirkungen, die zu finden doch noch dringlicher sein konnte. Er hoffte, daß wenigstens Pauline die Zeit hatte nutzen können. Bei den Ferngesprächen, die sie zwischendurch führten, hatte er den Eindruck gewonnen, sie sei verändert. Er wollte aber nicht fragen, er hatte ja den Kopf voll mit seinen Problemen, und Pauline war gewiß kein Mensch, den man bevormunden mußte. Wenzel hatte den Dienst als Zweiter Gehilfe aufgegeben, hauptsächlich, weil er wirklich nicht mehr in der Lage war, die anfallenden Aufgaben ordnungsgemäß zu erledigen. Der RR war ihm darin entgegengekommen, oder er war dem RR zuvorgekommen, gleichviel, die Sache war ohne Vorwürfe und in aller Sachlichkeit vonstatten gegangen, der RR hatte Wenzels selbstgestellte Aufgabe keineswegs geringgeschätzt, und Wenzel hatte auch das Berliner Büro und die entsprechenden Fonds für ein weiteres halbes Jahr bestätigt bekommen. Eigentlich hätte er froh sein müssen, denn er war jetzt ungebundener, konnte sich intensiver der Hauptsache widmen, und er war vielleicht sogar ein bißchen freier im ganz persönlichen Bereich – freier für Sibylle … Trotzdem: Er nahm Abschied von einem Dienst, den er nun schon anderthalb Jahrzehnte versehen hatte. Das geschah sicherlich auch anderen Menschen, aber ihn traf es in einer Situation, da Handwerk und Kunst für ihn fast bis zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken waren, und auch persönliche Bindungen stützten und hielten ihn nicht. Doch das war nicht eigentlich der Kern innerer Zwiespältigkeit. Dahinter stand die ein wenig ratlose Besorgnis, wie es denn möglich sei, daß seine Welt, die Stabile Gesellschaft, sonst in allem so perfekt den menschlichen Bedürfnissen angepaßt, jeglicher Aktivität Raum gebend, für eine solche Untersuchung, wie er sie führte, keine Möglichkeiten instituiert hatte. Für die Wissenschaften war sie zuwenig wissenschaftlich, für die Kunst zu arm oder zu reich an Gegenständen, je nachdem, wie man es sehen wollte, und für die Ratgeberschaft zerfiel sie sofort wieder in Einzelprobleme, wenn man glaubte, irgendwo einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben. Und diese Besorgnis lag leider genau auf der Linie, vor der Wenzel selbst wie fast alle, denen er sie angedeutet hatte, zurückschreckten, sie betraf die Infragestellung der Stabilität.
Es war Hochsommer jetzt, und der Thüringer Wald war nicht gerade menschenleer. Trotzdem traf er auf den letzten drei Kilometern, die er durch den Wald laufen mußte, niemanden. Ohne das hin und wieder aufleuchtende blaue H an Bäumen am Rande des Pfads hätte er den Weg vielleicht gar nicht gefunden. Die letzten fünfhundert Meter aber – ohne Pfad quer durch den Wald – waren einfach zu finden: Er ging dem Schall der Axtschläge nach. Eine Lichtung im Tal. Leute, die Bäume schlugen, mit richtigen Äxten, ohne Motorsägen, überhaupt ohne Sägen, wie es schien; andere, die die geschlagenen Bäume entlaubten; wieder andere, die daraus ein Blockhaus bauten. Und das alles, obwohl gleich nebenan mehrere moderne Falthäuser um einen hohen Sendemast gruppiert standen. An Kopf und Armen trugen die Holzfäller, wie Wenzel beim Näherkommen sah, Meßelektroden. Da erblickte ihn einer und stieß einen Pfiff aus, und schon kam aus einem der Falthäuser Pauline gelaufen, erhitzt und strahlend, und winkte ihm zu. Als Wenzel in das Falthaus trat, zu dem Pauline ihn geführt hatte, war er doch verblüfft über den Gegensatz: draußen vorzeitliches Handwerkeln, und hier drin eine Computerzentrale mit dem Verwirrspiel ihrer Dutzende von Schirmen, Skalen, Lampen, Tastaturen, die meisten davon in Betrieb. „Seien Sie willkommen!“ sagte ein älterer Mann, der von seinem Arbeitstisch aufstand und Wenzel die Hand reichte. „Hubert Förster, Geschichtsvermesser!“ stellte er sich vor. „Letzteres ist eine spaßige Übersetzung der richtigen Bezeichnung, was Sie natürlich nicht wissen können.“ Er lächelte so herzlich, daß Wenzel sich animiert fühlte zu sagen: „Ich weiß nicht einmal, was ich hier soll!“ „Ich auch nicht“, sagte der Historiometriker. „Aber das macht nichts – Hauptsache, Paulchen weiß es!“ „Ich möchte“, sagte Pauline, „daß Sie uns erklären, was Sie hier machen, und ich verspreche mir Aufschlüsse davon für unser Thema.“ „Ich hoffe, wir nehmen Sie nicht über Gebühr in Anspruch“, fügte Wenzel etwas steif hinzu.
„Keine Bange“, der Historiker lachte, „wir haben gern Gäste; hier allerdings nicht oft. Aber trotzdem – die Menschen können gar nicht genug über ihre Geschichte wissen. Wie fang ich’ s an? Vielleicht so: Die Geschichtsschreibung hat uns aus weit zurückliegenden Epochen nur überliefert, was die Herrschenden gedacht und getan haben, denn sie wurde ja von den Herrschenden oder in ihrem Auftrag geschrieben. Nun haben aber doch in Wirklichkeit die arbeitenden Klassen die Geschichte gemacht, die Sklaven, die Leibeigenen, Bauern, Handwerker und schließlich die Arbeiter. Wir können ihre Leistungen nur indirekt aus den Handlungen und Gedanken der Herrschenden ableiten. Ausnahmen gibt es gewiß, hier und da hat schon mal einer aufgeschrieben, was die Unteren getan haben, aber dann meistens mehr, was sie gelitten haben. Man kann aber diese wenigen Zeugnisse nicht bedenkenlos verallgemeinern. Dann gibt es noch stumme Zeugen: Geräte, Produkte und Beschreibungen von Verfahren. Außerdem haben wir die Verallgemeinerungen: Gesellschaftswissenschaften, Anthropologie. Und wir haben die phantasievollen Zeugnisse: Werke der Kunst und Literatur – selten direkt von den Betroffenen und meist aus einem gewissen historischen Abstand gestaltet, der aber immer noch kleiner war als unserer. Das sind, sozusagen, unsere Quellen, wenigstens die hauptsächlichen. Was wir nun betreiben, ist: diese Quellen soweit wie möglich ausschöpfen, um meßbare Ergebnisse herauszupräparieren, die die Leistungen der Arbeitenden beschreiben, und zwar die physischen und die psychischen – dies alles zunächst an ein paar ausgewählten Punkten der Geschichte. Wir hier versuchen, das erste Jahr einer Rodegemeinschaft vor etwa tausend Jahren zu rekonstruieren, die genau hier gelebt, den Wald gerodet, Äcker angelegt und Häuser gebaut hat. Wir haben in diesem Fall glänzende Voraussetzungen: Aus alten Urkunden und Aufzeichnungen des Klosters Fulda kennen wir die Zahl der Siedler und ihrer Kinder, ferner, was sie an Saatgut und Vieh vom Kloster vorgeschossen bekamen und wieviel sie als Zehnten ablieferten. Aus anderen zeitgenössischen Quellen wissen wir, was für Werkzeuge eine normale Bauernfamilie hatte. Einzelne Werte über den Kraft- und Energieaufwand bei körperlichen Arbeiten, zum Beispiel Bäume fällen mit dem damaligen Gerät, mußten wir experimentell entwickeln. Sie haben das sicherlich draußen gesehen. Das ist gar nicht schlecht, denn wir bekommen dadurch Vergleichswerte zu heutigen Menschen, die – na ja, historisch aussagekräftig sind sie nicht, aber vielleicht doch ganz interes-
sant? Wir werden sehen. Das heißt: Wir werden das heute noch sehen. Denn in einer Stunde sind die Vorbereitungen endlich abgeschlossen. Alles im Computer, wir können ihn anschmeißen.“ „Und der liefert dann alle Werte, die Sie brauchen?“ fragte Wenzel. Er fand das Ganze sehr anregend, nur was sich Pauline davon für ihr Problem versprach, verstand er nicht. „Nein, so einfach ist das nicht“, antwortete der Historiker stirnrunzelnd. „Das müßte Ihnen unser Mathematiker erklären, doch der hat jetzt keine Minute Zeit, na, ich will’ s versuchen. Also der Computer rekonstruiert das Jahr, indem er es durchlaufen läßt und aufzeichnet, und dann können wir alle gewünschten Werte von diesem Vorgang abgreifen. Er braucht dazu wahrscheinlich etwa eine Stunde. Er rechnet aber nicht einfach, sondern, wie soll ich das sagen …Ach so, ja, das hab ich vergessen, wir haben also als Startbedingung für jede Person, Mann, Weib, Kind oder Greis, eine Art Psychogramm eingegeben, und die so entstehenden Personeneinheiten bleiben relativ selbständig. Aber Sie merken schon, so richtig erklären kann ich das auch nicht.“ „Und wie zuverlässig sind die Ergebnisse?“ fragte Wenzel. „Immerhin ist es ja nicht die Wirklichkeit selbst, die Sie befragen.“ „Es ist nicht unsere erste Aktion“, sagte der Historiker, „und wir sind auch nicht die einzigen, die auf dem Gebiet arbeiten. Es gibt eine theoretische Zuverlässigkeit von achtundneunzig Prozent, die praktische kann bei sorgfältiger Arbeit um plus minus zwei Prozent schwanken. Begonnen wurde mit Messungen kleiner Kollektive in einem historisch besser zugängliche Zeitraum, etwa bei der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer, da existieren in einigen Fällen guterhaltene, umfassende Berichte. Auch Berechnungen, bei denen ein wesentlicher Teil dieser Berichte nicht berücksichtigt wurde, führten doch zu richtigen Ergebnissen. Allerdings, so weit zurück wie wir ist noch keiner gegangen – das heißt, zeitlich schon, rein von den Jahreszahlen, im Orient etwa, aber von der gesellschaftlichen Situation nicht.“ „Und läßt sich mit der Methode auch heutige Gesellschaftsprognose erarbeiten?“ fragte Wenzel gespannt; denn darin hatte er eben einen Sinn von Paulines Einladung zu entdecken geglaubt. Aber der Historiker wehrte ab: „Um Himmels willen, nein, über die Komplexität einer kleinen Gruppe kooperierender Menschen gelangen
wir bis jetzt nicht hinaus, dazu fehlen noch wesentliche mathematische Grundlagen – sagt unser Mathematiker, und der wird’ s doch wissen.“ „Und was erwarten Sie selbst von dieser Arbeit?“ „Was erwarte ich – nun ja, man hat selbstverständlich Vorstellungen, Hypothesen, doch die darf man nicht überschätzen; es kommt ja auch gar nicht so sehr darauf an, was bei unserer Geschichte an direkten Meßergebnissen gewonnen wird. Das ist gewiß auch wichtig, aber noch wichtiger ist, daß unsere ganze, noch ziemlich junge Wissenschaft Material erhält, Quasi-Fakten, wie wir das nennen, die, wenn sie eines Tages in großer Menge vorliegen, auch umfassend in Zeit und Ort, bedeutende Verallgemeinerungen möglich machen, Einsichten in unsere Geschichte, die uns heute noch verwehrt sind.“ „Aber trotzdem – was haben Sie für Vorstellungen?“ „Ich erwarte sehr hohe Werte der physischen und psychischen Kennziffern, höhere jedenfalls als bei den Hörigen und Leibeigenen, gar nicht zu reden von den Feudalherren und ihrem Gefolge, na, die sind ja auch nicht so interessant, die Herren meine ich. Es erfordert eben mehr Arbeit, Anstrengung, Können und Wollen, Wald zu roden und Land urbar zu machen, als schon erschlossenes Land zu bewirtschaften. Es gibt solche Messungen, die sich einigermaßen vergleichen lassen, von der Besiedlung Nordamerikas durch europäische Bauern. Diese Leute, die hier einmal ihre Siedlung errichtet haben, hatten ein Ziel: frei zu leben. Wenigstens für zwei oder drei Generationen haben sie das auch erreicht, verglichen mit der sozusagen normalen Lebensweise im Feudalismus. Auch wenn heute nichts mehr von ihrer Siedlung übrig ist.“ „Ich wage gar nicht zu fragen, wie Sie das messen“, sagte Wenzel. „Für die körperliche Arbeit ist das noch ziemlich einfach“, erklärte der Historiker. „Wir messen die verrichtete physikalische Arbeit, summieren sie über einen Tag und teilen sie durch das Körpergewicht der Person. Die erhaltene Größe nennen wir Wirksamkeit. Das mit dem Körpergewicht ist deshalb wichtig, weil die Leute früher viel kleiner waren. Schwieriger ist das natürlich mit der geistigen Arbeit. Sie ist wieder auf die Person bezogen. Wir teilen, grob gesagt, die Menge der am Tage verarbeiteten Informationen durch die Menge der im Gehirn gespeicherten und erhalten einen Wert zwischen null und eins. Wir nennen ihn Ausschöpfung. Er ist gewiß nicht umfassend, aber er sagt doch etwas aus über die geistige Anstrengung – wenn einer fast alles, was er weiß, an-
wenden muß, arbeitet er geistig sicherlich angestrengter als einer, der nur einen winzigen Bruchteil seines Wissens und Könnens verwendet.“ „Aber der geistige Horizont?“ „Ach, wissen Sie, der geistige Horizont ist ein ziemlich relativer Begriff. Auf das Rationale bezogen, ist er selbstverständlich heute viel weiter als damals. Aber bezogen auf die emotionale Sphäre? Ich habe da meine Zweifel. Und diese Sphäre müssen Sie doch mitrechnen, wenn von Informationsverarbeitung im Gehirn die Rede ist! Bei diesen Leuten waren Ratio und Emotion, Verstand und Gefühl noch eine Einheit, gut, auf niedrigerem Niveau, aber die ging dann im Verlauf der Geschichte notwendigerweise verloren und wird erst jetzt allmählich wiedergewonnen, seit die Kunst mit der Wissenschaft gleichgezogen hat, verstehen Sie, was ich meine? Es war ein notwendiger, unumgänglicher Prozeß, ich benutze gern folgenden Vergleich: Denken Sie sich eine Großstadt der kapitalistischen oder der Übergangsperiode. Schon der Fußgänger muß alle seine Gefühle unterdrücken und seine Aufmerksamkeit der gedanklichen Verarbeitung mehr oder weniger abstrakter Signale zuwenden, sonst kommt er nicht lebend über die Straße. Und was ist erst mit dem Autofahrer, diesem Ideal seiner Zeit? Er darf um keinen Preis an etwas denken, was ihn sehr erfreut oder sehr ärgert, sonst gefährdet er nicht nur sich, sondern auch andere. Und das gilt für das gesamte Leben jener riesigen Zeitspanne vom Ausgang des Feudalismus bis zum Ende der Harmonisierung. Ausbildung und Erziehung, die ganze Struktur des Wissens, ja selbst die in der Familie erlernten Reaktionen sind darauf ausgerichtet gewesen. Vielleicht ist es das, was Paulchen so interessiert hat an unserer Sache hier. Sie weiß, ich bin der Meinung, daß auf unsere Zeit jetzt eine andere folgt, in der körperliche und geistige Anstrengung wachsen und Riesenwirkungen hervorbringen werden. Allerdings hat das nun nichts mehr mit meiner Wissenschaft zu tun. Oder nur bedingt. Sie wissen sicherlich: In den exaktesten Wissenschaften wird am liebsten gesponnen.“ Bei den letzten Worten hatte Wenzel doch aufgehorcht. Schade, daß der Historiker gerade diese Gedanken so sehr abgewertet hatte. Er wollte noch etwas fragen, aber Pauline bedankte sich beim Historiker, wies mit dem Kopf zum Eingang des Falthauses und sagte zu Wenzel: „Gehen wir ein bißchen an die Luft?“
Wenzel, dem es nicht unrecht war, daß Pauline hier die Führung übernahm, folgte ihr. Sie setzten sich am Waldrand auf einen geschlagenen und entästeten Baum. Tatsächlich, die Messungen schienen beendet zu sein, niemand arbeitete mehr. Ob das Holz nun hier verkommen würde? Ach Unsinn, gewiß nicht, das hatten die Historiker bestimmt mit den örtlichen Ratgebern und Waldpflegern abgesprochen. Wenzel sah Pauline an, die neben ihm saß und in die Sonne blinzelte. „Du hast dich verändert“, sagte er. „Ich habe den Mann gefunden“, antwortete sie. „Und noch mehr, wie es scheint.“ „Und noch mehr.“ „Berichte.“ „Möchte ich nicht.“ Zum erstenmal war Wenzel verdutzt und sogar ein bißchen ärgerlich. Wird sie jetzt überheblich? „Nein“, sagte Pauline, als hätte er sie das tatsächlich gefragt, „es ist – es ist sehr verrückt. Und wenn du auch daraufkommst, nachdem du alles gesehen und erfahren hast wie ich, dann …“ „Dann ist es nicht mehr ganz so verrückt?“ „Ja.“ Wenzel überlegte. Ja, sie hatte recht. Nein, sie hatte nicht recht, weil die Zeit drängte. Aber wie sehr drängte die Zeit? Das wußte niemand. Und es mochte der Punkt kommen, wo es ins Gewicht fallen konnte, ob sie beide zutiefst überzeugt waren von dem, was sie dachten und wollten, wo sie vielleicht andere davon überzeugen mußten. Und dann würde es wichtig sein, daß sie unabhängig voneinander zum gleichen Ergebnis gekommen waren. Wenn sie wirklich dahin kamen. Also hatte sie recht. „Ist gut“, sagte Wenzel. „Was erwartet uns hier noch?“ „In einer Stunde sollten wir uns das Ergebnis ansehen“, schlug Pauline vor. „Wenn es ausfällt, wie er es erwartet, dann haben seine Forschungen einen Höhepunkt erreicht, soviel ich verstanden habe.“ Wenzel nickte und fragte nichts mehr. Er hatte keine Lust, sich zu unterhalten, denn er fing gerade an, sich wohl zu fühlen. Daß nun Pauline auf eine gewisse Art die führende Rolle übernommen hatte in ihrem
beiderseitigen Verhältnis, tat ihm gut und entspannte ihn. Die führende Rolle, ja, so war es wohl, hier auf dieser Lichtung im Thüringer Wald wie auch in Sternenstadt; wenigstens schien es so. Er schwieg und blinzelte nun auch fast vergnügt in die Sonne. Pauline, froh darüber, daß Wenzel auf ihren Vorschlag eingegangen war, schwieg ebenfalls. Dann aber erinnerte sie sich an etwas, was sie in den letzten Tagen beschäftigt hatte und von dem sie mehrmals gedacht hatte, sie müsse das irgendwann einmal mit Wenzel besprechen, denn wenn auch kaum direkt, so konnte es durchaus indirekt mit ihrer Sache zu tun haben. „Ruben – so heißt er, Ruben Madeira – Ruben brennt für sein Ziel.“ „Aha“, sagte Wenzel, der noch nicht spürte, wohin es gehen sollte. „Ja. Das unterscheidet ihn von allen Männern, die …“ Sie unterbrach sich, denn schließlich konnte sie von Wenzel nicht behaupten, daß er ziellos durch den Tag lief. „Also mindestens von Otto Mohr. Weißt du, in der Zeit, als ich mit ihm zusammen war, kam es mir immer so vor, als habe er kein rechtes Ziel mehr im Leben. Alles Wichtige schon hinter sich. Nichts mehr, was ihn bis zur Ekstase begeistern könnte. Er hat ja dann später dieses Ding gebaut, diesen musikalischen Raumteiler, und vielleicht war das ein echtes Ziel. Aber möglicherweise war es auch nur ein Zielersatz. Zu meiner Zeit jedenfalls – du verstehst, ich will keine Intimitäten ausbreiten …“ „Irgendwann hätte ich dich sowieso danach gefragt“, sagte Wenzel. „Aber ich wollte lieber warten, bis du von selbst davon anfängst. Was du da erzählst, kann schon wichtig sein. Hm. Ziel. Lebensziel.“ Er lachte leise. „Trifft ja für mich auch irgendwie zu. Wenn einer Kunst, Handwerk und Dienst aufgibt!“ „Wieso das?“ erkundigte sich Pauline, ein wenig beunruhigt. Wenzel berichtete ihr, was sich inzwischen begeben hatte. „Freu dich doch“, sagte Pauline, „kannst du von Sternenstadt aus arbeiten.“ Sie hätte beinah hinzugefügt, daß für ihr Gefühl dort alle Fragen kulminierten, die mit ihrer Sache zu tun hatten, aber das unterdrückte sie im letzten Augenblick – sie hatten ja abgemacht, daß er selbst daraufkommen sollte. Deshalb ließ sie den Satz in seiner privaten Bedeutung stehen, die er ja auch hatte, und knüpfte an das vorher Gesagte an. „Du hast ja nicht das Ziel aufgegeben, sondern den Dienst, und den eben um des Ziels willen“, sagte sie. „Aber das ist es gar nicht, was ich
meine. Sich ein großes Ziel setzen, kein rein persönliches selbstverständlich, ein menschliches, ein menschheitliches; prüfen vielleicht, ob es damit seine Richtigkeit hat, eine Zeitlang; aber dann voll dafür leben, freilich nicht bedenkenlos, aber mit aller Leidenschaft. Das meine ich.“ Sie schwieg eine Weile und fügte dann leise hinzu: „Ich habe das bei Älteren kaum einmal gefunden. Bei jungen Leuten manchmal, in Ansätzen; und jetzt zum erstenmal richtig. Ob das eine Altersfrage ist?“ „Immer ist ein jugendlicher Geist durch weniger Bedenken eingeschränkt“, stimmte Wenzel zu, „aber vielleicht ist es in Wirklichkeit umgekehrt. Es hat vielleicht stärker mit unserer Sache zu tun, als wir das jetzt sehen, und wenn dies der Fall ist, dann, glaube ich, ist es keine Altersfrage, sondern das Gegenteil: Im Verhältnis der Generationen drückt sich unser Problem ebenfalls aus, wie in vielen anderen Bereichen.“ „Daß sich also darin das Ende der Stabilität ankündigt?“ fragte Pauline. „Wenn es auch sicherlich noch weit entfernt liegt?“ Wenzel sah sie erstaunt an. Er hatte sich vor sich selbst nicht getraut, diesen Gedanken auszusprechen, und er bewunderte Pauline, nicht nur für die Klarheit, mit der sie diesen Gedanken formuliert, sondern auch für die Respektlosigkeit, mit der sie ihn ausgesprochen hatte. Da rief der Historiker: „Kommen Sie, kommen Sie!“ Sie liefen zum Falthaus, das übervoll war von Mitarbeitern, aber auch sie beide fanden noch Platz. Mit dem, was die Bildschirme zeigten, konnten sie allerdings nichts anfangen. Es mußte aber etwas Großes, Großartiges sein, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen. „Ich freue mich, daß wir Gäste haben, die unser Fach nicht kennen“, sagte der Historiometriker. „Ohne sie wäre es albern, wenn ich sagen würde, was alle von uns sehen. Es drängt mich aber, das zu sagen, es in Worte zu fassen, und für unsere Gäste kann ich’ s tun. Also: Sowohl die physische als auch die psychische Wirksamkeit, die wir bei unseren Personen messen konnten, liegen extrem hoch, weit höher als Vergleichswerte aus der Phase der Urbarmachung Nordamerikas und viel, viel höher als alle heutigen Vergleichswerte.“
Er hatte triumphierend begonnen, und dann war seine Stimme immer nachdenklicher geworden. Nach einer kleinen Pause setzte er leiser fort: „Sie hatten ein Ziel, das man heute nicht mehr hat. Sie haben sich ihre Welt geschaffen. Eine lächerlich kleine Welt im Vergleich zu dem, was wir heute darunter verstehen, aber sie haben sie sich selbst geschaffen.“ Die Arbeit am Modell war weiter fortgeschritten. Es existierten jetzt drei Modelle der Formel, nicht drei komplette, gegenständlich voneinander verschiedene, sondern eher drei in einem. Die sozusagen schnellen Bestandteile – Photonik und einfache Rechenelektronik – existierten nur einmal und arbeiteten in Intervallen; die langsamen Bestandteile, elektrische meist, waren getripelt: Einmal lagen die ursprünglich geschaffenen Teile vor, einmal die von Sibylle Mohr variierten und einmal solche, die sich inzwischen aus vielfachem und unterschiedlichem Gebrauch ergeben hatten. Man erhielt also bei jeder Verwendung drei Ergebnisse, manchmal stimmten sie überein, manchmal differierten sie, und das eine wie das andere war interessant.
Gewiß hatten all diese Ergebnisse, am Modell gewonnen, nicht den Beweischarakter tatsächlicher Experimente, aber wichtige Wegemarken setzten sie durchaus. Und es war auch nichts Wunderbares daran, daß sie nun häufiger auf bemerkenswerte Ergebnisse stießen, denn die Formel hatte ja alle bisherigen Erkenntnisse in sich aufgenommen, und bei jedem Eindringen in einen neuen Bereich der Wirklichkeit geht es am Anfang langsam und dann zunehmend schneller. Bei einem der letzten Experimente war es ihnen gelungen, am Ende des ersten Stadiums eine ringförmige Struktur von sechs Bläschen zu bilden, danach hatten sie abgebrochen. Heute würde diese Bildung wiederholt werden, und wenn festgestellt war, daß keine Veränderungen der Struktur mehr stattfanden, sollte der Ring auf ein Wasserstofftarget gelenkt werden – wohlgemerkt: immer im Modell. Aber trotz des Modellcharakters der Versuche hatten sich alle darauf geeinigt, sich auch hier, wo nichts passieren konnte, an die Weisungen des Schlichterspruchs zu halten. Es war dies eine Konsequenz der ernsthaften Einstellung zu diesen Versuchen – wenn schon, dann richtig – und zugleich der Überlegung geschuldet, daß für das dritte Stadium nur wenige Daten vorlagen, also auch nur wenige in der Formel verarbeitet waren, also die Formel nicht sehr aussagekräftig sein würde. Auf einen Außenseiter hatten sie inzwischen verzichtet, allerdings nur für die Zeit hier in Sternenstadt, wo die EGI von einem Dutzend Psychologen überwacht wurde; die Schlichtung und ein wenig auch die Fragen von Pauline hatten die Aufmerksamkeit erneut auf diese schöpferische Methode gelenkt. Von dem heutigen Versuch nun, bei dem Esther, Akito, Semjon, Ruben und ein fünfter von ihrer Gruppe die EGI-Mannschaft bildeten, versprach sich niemand sensationelle Ergebnisse. Die Entdeckung des Sechserrings der Bläschen, bei der jeder sofort an Kekulés Benzolring, die Bienenwaben und andere natürliche Sechserbildungen gedacht hatte, war eine echte Überraschung gewesen, zumal diese Sechserbildung auch wieder das Gefühl erweckte, daß alle Absonderlichkeiten der Bläschen doch irgendwie zu unserer Welt, zu unserer Natur gehörten; heute dachte man nur daran, diese am Modell gemachte Entdeckung zu festigen und vielleicht ein wenig weiterzuführen. Anfangs verlief der Versuch wie sein Vorgänger. Das seinerzeit von Ruben angeregte Verfahren, in bestimmten Wiederholungsfällen auch
unter der EGI den Prozeß zunächst automatisch ablaufen zu lassen und erst nach einem gewissen Zeitpunkt einzugreifen, hatte sich längst eingebürgert und funktionierte zuverlässig. Selbst wenn man in die EGI frei von vorgefaßten Absichten ging, so doch absolut nicht frei von theoretischen Erwägungen und einem Erfahrungsschatz, der nicht nur Rationales umfaßte und den man etwas ungenau mit dem Begriff Prozeßgefühl umschreiben konnte. Niemand also griff ein, bis der Sechserring sich gebildet hatte und das erste Stadium abgeschlossen war. Nun blieben ihnen zwei Minuten – auf diese Frist hatten sie sich geeinigt, man durfte auf keinen Fall riskieren, daß das Stadium drei erreicht wurde, in dem die Bläschen bisher immer außer Kontrolle geraten waren. Nach zwei Minuten also würde der Ring auf das Target gelenkt werden. Dann aber stellte der Sechserring höchst ungehörige Dinge an, die keiner von ihm erwartet hätte. Zuerst zeigte es sich, daß er auch weiterhin Energie aufnahm, im Gegensatz zu allem, was man bisher über das zweite Stadium wußte. Dann lief er ungebärdig Sturm gegen die Wände der magnetischen Flasche, in die er eingeschlossen war, man sah das an den Werten des Feldes, die von der Automatik geregelt wurden. Es war eigentlich selbstverständlich, daß jetzt niemand daran dachte, die Initiative zu ergreifen und die EGI-Mannschaft zu irgendwelchem Eingreifen zu führen; zu neu und zu überraschend war das Verhalten des Rings. Ruben – und wie sich später zeigte, auch alle anderen – war sich die ganze Zeit dessen bewußt, daß sie nach zwei Minuten den Versuch abbrechen mußten. Aber dieses Wissen war wie einer anderen Welt zugehörig, es lag außerhalb dessen, was er jetzt erlebte, und er fühlte so intensiv, als sei er selbst dieser Teilchenring, ungebärdig anstürmend gegen die Fesselung durch eine nachgiebige Kraft. Hinter dieser Fesselung lag etwas Ungeheures; nein, sich selbst kann man nicht abschalten, nicht in solcher Situation, in der die eigenen Kräfte und Möglichkeiten wachsen, oder: Man kann schon, aber man kann es nicht wollen, daß man’ s tut. Und ist es nicht erstaunlich, daß man die Werte schon weiß, eine Zehntelsekunde bevor sie angezeigt werden? Na klar, das ist echtes Prozeßgefühl, noch nie hatte Ruben das so intensiv erlebt. Immer näher spürte er es herankommen, dieses dritte Stadium, die Entfesselung, das Hinauswachsen aus der Enge in den Raum, und noch etwas wuchs: die Gewißheit, daß alle anderen genauso fühlten und dachten, daß sie fünf zusammen mit dem Ring eine neue, größere Sechsergemeinschaft bildeten, vielleicht Verführung durch Symmetrie, aber wenn auch…
Vier Minuten, siebzehn Sekunden. Der Ring brach aus, ähnlich wie früher die Bläschen durch Abgabe seiner negativen Ladung, und entzündete in der ebenfalls rechnerisch vorgestellten massiven Ummantelung des Experimentierfeldes die schlimmsten Reaktionen: die Katastrophe, wenn auch nicht die ganz große, vor der Akito gewarnt hatte, und wenn auch nur im Modell. Der Ausbruch beendete den Versuch und ließ sie aus der EGI aussteigen. Alle waren sich bewußt, was geschehen war. „Hat einer von euch“, fragte Esther mit etwas heiserer Stimme, „gedacht: Ach, es ist ja nur ein simulierter Versuch auf dem Rechner?“ Keiner antwortete. „Also keiner“, stellte sie fest. „Im Normalfall hätten wir jetzt die Katastrophe herbeigeführt.“ Merkwürdigerweise war es Akito, die den Selbstvorwurf einschränkte. „Aber wir wissen nun auch“, sagte sie, „daß das dritte Stadium sich im umgebenden Material vernichtet, zusammen mit großen Teilen dieses Materials.“ Sie begannen, die einzelnen Ergebnisse zu kontrollieren, diskutierten einzelne Fragen, aus Interesse gewiß, aber wohl auch aus dem Bedürfnis, das Erlebte abzureagieren. „Esther hat vorhin gefragt“, sagte Akito, „ob irgend jemand daran gedacht hat, daß es ja nur ein simulierter Versuch ist. Ich auch nicht, muß ich zugeben. Aber jetzt können wir dran denken. Noch ein paar solcher Versuche, und wir erhalten mehr Hinweise als bei hundert anderen.“ „Gerade du sagst das?“ fragte Ruben. „Ja, gerade ich.“ „Wir haben“, sagte Ruben langsam, „bei der Schlichtung und in den Debatten vorher und nachher immer die Frage im Auge gehabt, ob aus dem Bläschen eine Katastrophe hervorgehen kann oder nicht und wie man sich dagegen schützen kann und ob man’ s kann. Seht ihr denn nicht, daß jetzt etwas ganz anderes herausgekommen ist? Die Katastrophe steckt nicht im Bläschen, die Katastrophe steckt in uns! Wie schützen wir uns und die Welt vor uns selber?“ Nach einer Weile unerbaulichen Schweigens fügte er leise hinzu: „Aber ich bin Optimist. Wenn wir die Möglichkeit zur Katastrophe in uns ha-
ben, dann haben wir auch die Möglichkeit zu ihrer Fesselung, zur Ordnung.“
8 Zum erstenmal im Leben teilte Wenzel Kramer seine Zeit zwischen zwei Frauen auf. Die Nächte gehörten Sibylle Mohr, und wenigstens die drei ersten davon waren maßlos, oder richtiger, waren bestimmt, in der Unendlichkeit des Gefühls Maß und Rhythmus zu finden. Die Tage aber gehörten Pauline. Sie führte ihm die Dinge vor, deren Computeradressen sie vorher ermittelt und bereitgestellt hatte, die Materialien von der EGI und andere Informationen; und sie machte ihn mit Ruben bekannt, mit dem er sich stundenlang unterhielt. Schon nach fünf Minuten hatte Wenzel vergessen, was ihn zuerst an diesem Ruben interessiert hatte, nämlich wieso gerade er der Mann war, dem sich Pauline bedingungslos zuordnete. Er ließ sich über die Esther berichten und die Venus und den Mars, sprach später auch über Funk mit den Takarorus auf dem Mars und Sheila McPherson auf der Venus. Eigentlich war Wenzel spätestens nach der Unterhaltung mit Ruben klar, was Pauline ihm nicht hatte sagen wollen, weil er von selbst daraufkommen sollte. Fast überdeutlich zeichneten sich für ihn die Zusammenhänge ab, jetzt, da sie sich durch die Frage nach dem Ziel und das Angebot eines solchen Ziels zu einem großen Strom ordneten. Hatte er nicht von den ersten Tagen an immer das Gefühl gehabt, es habe etwas auf sich mit diesem Fensteraufreißen, im übertragenen Sinn? Und er hatte doch mit diesem Gefühl nichts anfangen können, bis er nun endlich begriff, daß es nicht darum ging, ein Fenster, sondern eine Tür aufzureißen, und nicht nur darum, sie aufzureißen, sondern auch durch sie zu gehen, hinaus ins All. Mit diesem Ziel war auch alles andere klargeworden. Aber Wenzel mißtraute dieser Klarheit, die sich ihm aufdrängte. Hatte ihm Pauline nicht die Tatsachen und die gedanklichen Motive allzu säuberlich geordnet und in der richtigen Reihenfolge vorgelegt, angefangen bei dem Historiker bis hin zu Venus und Mars? Und um diese Befürchtung weiterzuführen: Befanden sie sich nicht beide in einem Zustand, in dem Gedanken sich leicht zu Figuren ordnen, wenn diese Figuren nur der Seele gefallen? Um es deutlich zu sagen: in einem Glücksrausch?
Für sich wollte Wenzel diese Frage nicht entscheiden, aber wenn er Pauline betrachtete, kam es ihm vor, als sei dieses Urteil zu oberflächlich. Er und andere hatten es nicht geschafft, ihr etwas zu geben, was sie über den Alltag hinausführte und ihre Persönlichkeit dazu brachte, sich zu entfalten – diesem Ruben war es gelungen, das war zu sehen, und Entfaltung aller Talente und Fähigkeiten ist doch gewiß etwas anderes als Rausch, mag sie auch berauschend sein. Und vielleicht durfte er diesen Gedanken auch für sich in Anspruch nehmen? Dann aber war der wortarme und mühelos geistige Kontakt zwischen ihm und Pauline, das plötzliche Hervortreten großräumiger Zusammenhänge, das eher einem fröhlichen Spiel ähnelte als geistiger Arbeit – dann war das alles eine Kraft, die zu nutzen rechtens und notwendig war. Ja, notwendig auch, denn die Zeit lief weiter, und die damit zusammenhängenden Sorgen nahm ihnen niemand ab. Dennoch zögerte Wenzel noch drei Tage den Punkt hinaus, an dem er schließlich Pauline sagte: Du hast recht, ich denke genauso. Danach, im Beisein aller Freunde, die erreichbar waren, und in Konferenzschaltung mit denen, die nicht hiersein konnten, hielten sie eine Ideenkonferenz ab. Sie dauerte eine Stunde, dann war alles Wesentliche gesagt. Und danach schrieb Wenzel den Brief an den Konrat, den Kontinentalratgeber. Er hatte sich dazu entschlossen, weil keine andere Möglichkeit mehr blieb. Aber er tat es nicht leichten Herzens. Normalerweise hätte er sich bis zum Verfassen eines solchen Briefes noch ein Jahr Zeit genommen. Die hatte er nicht. Und so arbeitete er nicht nur seine Erkenntnisse, sondern auch seine Zweifel in den Text mit ein. Der aber hatte folgenden Wortlaut: An den Ratgeber des Kontinents Europa Fjodor Nikolajewitsch Petrow – Moskau Ich wende mich an Sie mit dieser Ausarbeitung, die ich nur als Brief bezeichnen kann, denn den Namen Studie verdient sie nicht, weil sie nur in einzelnen Zügen wissenschaftliche Strenge aufweist, aus Gründen, die ich sofort erläutern werde, nachdem ich mein Ziel genannt habe: Ich möchte erreichen, daß Sie und Ihre vier Kollegen eine globale Forschungsgruppe einberufen, die sich mit möglichst weitreichenden Fonds und Befugnissen den hier zu beschreibenden Problemen widmet.
Die diesem Brief fehlende wissenschaftliche Strenge könnte erst das Ergebnis langjähriger Arbeit einer solchen Forschungsgruppe sein. Der Umfang der Arbeit ergibt sich aus Breite und Tiefe des Gegenstands: Er umfaßt einen großen Teil des gesellschaftlichen Lebens, zunächst in Form weit gestreuter Fälle, wahrscheinlich in der Konsequenz aber das gesamte Leben. In diesem Stadium der Dinge (und also auch in diesem Brief) wird es häufig unvermeidlich sein, von konkreten Erscheinungen zu den höchsten Abstraktionen zu springen und Beweisführung oder Widerlegung späterer und qualifizierterer wissenschaftlicher Arbeit zu überlassen, die ja nicht vorweggenommen, sondern im Gegenteil angeregt werden soll. Der Grund aber, warum ich nicht mit meinem Anliegen warte, bis ich es in ausreichender Präzision darstellen oder wenigstens die gröbsten Sprünge überzeugend belegen kann, ist die außerordentliche Dringlichkeit der Sache. Diese Dringlichkeit scheint zunächst leicht begründbar: Menschen sind gestorben in der Blüte ihres Lebens, ihr Tod wäre vermeidbar gewesen, wenn Ursachen und Zusammenhänge bekannt gewesen wären, und der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß dergleichen in zunehmendem Maß weiter auftreten könnte. Bei den Toten handelt es sich um Opfer zweier verschiedener Gruppen von Ereignissen, die inzwischen in Berlin von lokalen Forschungskollektiven untersucht werden, im Langzeitversuch ATTACKE und bei Schlußfolgerungen aus dem Vorfall mit der Sekte der Flattermänner (Informationskennziffern siehe Anhang). Damit, nämlich mit der Gefahr für Menschenleben, wäre die Dringlichkeit nach meiner Meinung zwar hinreichend begründet, aber durchaus nicht erschöpfend behandelt. Sie erscheint hier, bei der direkten Ableitung aus praktischen Vorkommnissen, zunächst unter negativem Aspekt, auf die Verhinderung von Schaden gerichtet; die weitere Erläuterung des Sachverhalts wird jedoch zeigen, daß sie mindestens ebenso starke positive Aspekte hat. Und mehr noch: Wenn man die Merkmale der Augenblicklichkeit, der Direktheit fallenläßt, zeigt sich dahinter eine noch viel weiter reichende Dringlichkeit, die zwar keine Terminierung in sich trägt, aber gerade darum die Sorge aufkommen läßt, man möchte sich ihr nicht zu spät widmen, ihre Untersuchung nicht zu lange vor sich herschieben, damit nicht vielleicht die nächste Generation sich beklagen muß: Sie haben zu spät damit angefangen …
Aber ich muß einräumen, daß das Besorgnisse sind, die sich, wenn überhaupt, erst nach Einblick in das gesamte Material einstellen können, und ich habe sie nur erwähnt, weil sie mich treiben, dieses Schreiben zu verfassen. Vor etwa einem halben Jahr hatte ich in meiner damaligen Eigenschaft als Zweiter Gehilfe des Regionalratgebers Mitteleuropa einen Todesfall zu untersuchen, bei dem Verdacht auf gewaltsame Einwirkung bestand. Ohne diesen – wie sich zeigte, zufällig entstandenen – Verdacht würde dieser Brief nicht geschrieben. Ich bin freilich überzeugt davon, daß dann bald ein anderer, ähnlich bediensteter Mensch einen ähnlichen Wortlaut zu Papier gebracht hätte, denn die Zeit dafür scheint mir reif zu sein. Dieser erste und Ausgangsfall ließ sich schnell ausweiten auf eine ganze Gruppe von Menschen: Leute um die Fünfzig, die lange Zeit unter starkem negativ-emotionalem Druck gelebt haben, sind bei Auftreten plötzlicher Freude für Herzversagen anfällig. Die systematische Untersuchung führte zu vorläufigen Ergebnissen, die hinsichtlich der Vorbeugung praktikabel, hinsichtlich der Ursachen aber noch sehr hypothetisch sind: Es wird die (vielleicht neu entstandene) Fähigkeit des Gehirns vermutet, steuernd einzugreifen auch in körperliche Prozesse, die bisher dafür unzugänglich waren oder weitgehend unzugänglich. Das gleiche Prinzip wird übrigens – mit positiver Wirkung – seit vielen Jahren im Selbstheilertum angewandt; verbunden sind beide Erscheinungen – wie auch mit allen anderen, hier noch zu behandelnden – durch das Auftreten von sogenannten Geronimo-Spindeln, einem Muster des Elektroenzephalogramms, das erst seit zehn Jahren bekannt ist. Ich vermerke hier zum erstenmal eine positive Tendenz, es scheint jedoch, daß es auf allen behandelten Gebieten beide Tendenzen gibt, wobei unter gewissen Umständen, die später zur Sprache zu bringen sind, das Positive überwiegt. Ein weiterer, zeitlich viel später liegender Fall, der uns sehr erschreckte, zeigt eine andere Dimension dieser Erscheinung. Eine Gruppe von Menschen, Mitglieder einer Sekte, stürzte sich in einen Abgrund, weil alle glaubten, sie könnten fliegen. Eine Art kollektiver Wahnsinn? Vielleicht. Aber auch das positive Gegenteil existiert – eine kollektive wissenschaftliche Forschungsmethode, Ensemblegestützte Intuition genannt, in der psychische Vorgänge eine Rolle spielen, die nach neuesten Untersuchungen nicht auf das einzelne Gehirn beschränkt werden können und an Telepathie grenzen. Ebenfalls eine noch unbekannte Funktionsweise des
Gehirns, nur diesmal nach außen gerichtet. Die G-Spindeln lassen die Frage sinnvoll erscheinen, ob es sich in all diesen Fällen nicht um Äußerungen ein und derselben Quelle handelt. Diese. Frage kann schlüssig nur durch Forschungen beantwortet werden, wie wir sie vorschlagen und anregen; aber die Vermutung solchen Zusammenhangs hat sich bereits jetzt als fruchtbar erwiesen. Als wir zuerst auf die G-Spindeln stießen, eine den Medizinern allgemein bekannte Erscheinung, irritierte uns die Breite, in der sie auftraten; sie schienen nur an angeregte Zustände des Gehirns gebunden. Bald jedoch stellte sich für uns die Frage umgekehrt: War unser Blickwinkel nicht zu eng? Suchten wir irrtümlich nur nach Dingen, die von der Norm abwichen, die irgend etwas besonders Negatives oder auch Positives, jedenfalls aber Ungewöhnliches an sich hatten? Oder strömte aus der gesuchten Quelle vielleicht schon der Alltag unserer Gesellschaft oder doch vieles Alltägliche, über das niemand mehr nachdachte? Beispielsweise das explosive Wachstum an Kreativität? So daß also jegliches Auftreten von G-Spindeln bedeutete: Die Quelle ist aktiv? Ich schiebe hier eine Zwischenbemerkung ein, die mir gerade hier, wo der Übergang zu Vermutetem besonders kraß ist, am besten angesiedelt zu sein scheint. Ich sprach jetzt schon öfter von uns statt von mir, und ich muß deshalb – ohne Aufzählung von Personen, die im Anhang erfolgt – hier nun erwähnen, daß ein ganzer Kreis von Menschen unterschiedlicher Wissenschaften und Dienste an dieser Sache gearbeitet hat, ich brauche nicht zu betonen, daß es sich um verantwortungsbewußte, kritisch denkende Menschen handelt, und dennoch sind alle überzeugt, daß die nun folgende Vermutung so viel Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann, wie zur Begründung einer tiefgehenden und umfassenden Untersuchung vorausgesetzt werden sollte. Wir haben sie gemeinsam formuliert und denken, daß schon in der Formulierung sich die Unmöglichkeit offenbart, aus Kleinem und Einzelnem Beweise zu ziehen. Dies ist unsere Vermutung: In der Stabilität hat sich der Mensch von allem befreit, was ihn früher vorzeitig altern ließ: Zivilisationsgifte, Streß, ungesunde Lebensweise, unschöpferische Arbeit, einseitige Belastung – die Liste wäre ohne Mühe zu verlängern. Die Stabilisierung hat für den einzelnen vollendet, was die vorangegangene Harmonisierung für die Völker geschaffen hat: Harmo-
nie. Infolgedessen verlängerte sich die Lebenserwartung auf nun durchschnittlich hundertsechs Jahre. Insbesondere wurde der zweite Lebensabschnitt, der in früheren Epochen schon vom Altern geprägt war, davon befreit und zu wachsender Leistungsfähigkeit und -lust geführt. Kennzeichnend war für diesen Prozeß vor allem auch, daß mit der wachsenden Bedeutung der Kunst die unterschiedliche Auslastung und Ausbildung der beiden Gehirnhälften aufgehoben wurde, die wenigstens tausend Jahre lang das Leben der großen Masse der Menschen bestimmt hatte. Unter diesen Bedingungen, so nehmen wir an, erwarb das Gehirn des Menschen, oder nun genauer: erwarben die Gehirne der großen Masse der Menschen eine neue Qualität, die vorläufig noch nicht zu lokalisieren, ja nicht einmal genau zu umreißen ist, da sie in den verschiedensten Formen und Aktivitäten zutage tritt. Diese Fähigkeit umfaßt, soweit bisher sichtbar, nichts absolut Neues, noch niemals Dagewesenes. Im Gegenteil, man könnte sagen, daß jede der von uns untersuchten Leistungen bestimmt oder mit großer Wahrscheinlichkeit in der Geschichte der Menschheit an einzelnen Menschen schon aufgetreten ist – nie jedoch spontan an großen Massen von Menschen. Jetzt aber zeigt sich in fast allen untersuchten Fällen eine deutliche Zunahme ihres Auftretens. Wenn man einen Zeitraum angeben sollte, so müßte man aus mehreren Erwägungen sagen: Seit etwa fünfzig Jahren geschieht das mit der Menschheit, und das Tempo nimmt zu. Das aber ist nun wirklich absolut neu, und es deutet auf beträchtliche Auswirkungen, wenn man auch nur ganz vorsichtig in die Zukunft extrapoliert. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine neu auftretende Kraft, deren Wesen noch nicht erkannt ist und deren Möglichkeiten sich nur einzeln und spontan zeigen, zunächst sowohl positive als auch negative Wirkungen hat, wobei die negativen mehr ins Auge fallen. Man kann nun, wie wir es getan haben, die negativen Wirkungen einzeln angehen und Mittel zu ihrer Bekämpfung suchen und finden. Damit ist das Problem verschoben, aber nicht gelöst. Denn diese Kraft wird sich andere Möglichkeiten suchen. Aber das ist der geringere Schaden. Eine solche Kraft (ich weiß, das Wort Kraft ist nicht ganz am Platz, aber welches Wort wäre das hier, dieses Wort gibt es noch nicht) – eine solche Kraft also, die zielbewußt und in gehörigem Umfang angewandt wird, ändert oder variiert auch bis
zu gewissem Grad ihren Charakter, und man kann erreichen, daß sie ihre negativen Wirkungen verliert. Als Beweis dafür, oder sagen wir: als praktischen Beleg führen wir die Tatsache an, daß dort, wo die „Kraft“ effektiv ausgenutzt wurde, wenn auch ohne Kenntnis ihres eigentlichen Charakters, so gut wie keine negativen Wirkungen aufgetreten sind. Wir rechnen zu diesen Tatsachen die umfassende Verwendung der Telepathie in den Siedlungen der Venus und die Fähigkeit zu todesähnlichem Tiefschlaf bei allen Mitarbeitern der Marsstation, mit deren Hilfe sie Zeiten des Energie- und Sauerstoffmangels überstehen. Wir möchten noch einmal zurückkommen auf alltägliche Erscheinungen, in denen sich – vielleicht – schon eine neue Qualität der Gehirntätigkeit ausdrückt. Wenn wir, ausgehend vom Auftreten der G-Spindeln, annehmen, daß zum Beispiel jede größere Kreativität irgendwie damit verbunden ist, dann muß man in den kommenden Jahrzehnten einen so unerhörten Zuwachs erwarten, daß sich die Frage stellt: Wohin soll sie wirken? Worauf soll sich Schöpfertum richten? Wir sind – ohne eine allgemeingültige Übersicht zu haben – in einzelnen Fällen auf folgende Tendenzen gestoßen: Das Gebiet der Kunst beginnt unter Überfüllung zu leiden. Auf dem Gebiet des Handwerks zeichnet sich bei gleichbleibender Menge des Verbrauchs an Material und Werkzeugen eine Tendenz zu Werkzeugen höheren technischen Niveaus ab. Auch im Bereich der Dienste geht ein zwar langsamer, aber doch wahrnehmbarer Prozeß vor sich, der immer mehr Tätigkeiten automatisiert. Und nun wiederholen wir die Frage: Wohin mit dem zu erwartenden großen Zuwachs an Kreativität? Wir müssen eine weitere Vermutung aussprechen, der wir uns nur sehr zögernd und unter großem innerem Widerstand genähert haben, die zu verschweigen jedoch unehrlich wäre: Wir vermuten, daß die Periode der Stabilität zu Ende geht – oder anders: ihren Höhepunkt überschritten hat. Vielleicht ist ihr größtes Verdienst, daß sie den Menschen nicht nur von Leerlauf, überflüssigen Zwängen und ärmlichen Entfaltungsmöglichkeiten befreit hat, sondern vor allem von der Sklaverei des Verbrauchs materieller Güter, vom Konsumzwang, und der beste Beweis, daß ihr das gelungen ist, ist die Stabilität der Produktion selbst. Der Mensch, einmal befreit von jederlei Mangel, verlangt einfach nicht mehr
Konsumgüter, als er tatsächlich braucht. Aber er verlangt etwas anderes in ständig wachsendem Maße: qualifizierte, ihm angemessene, seine Kräfte fordernde Arbeit. Gewiß, auch diese Forderung wird erfüllt. Aber wird sie in zehn Jahren noch erfüllbar sein? In zwanzig Jahren? Es geht ja nicht um irgendwelche Beschäftigung. Die Arbeit verbindet den Menschen mit der Gesellschaft, und das, was ihn vor allem mit dieser verbindet, ist die Notwendigkeit der Arbeit für die Gesellschaft. Es ist also wahrscheinlich nicht damit getan, daß höhere, qualifiziertere, schwierigere Dienste, Künste und Gewerke ausgeknobelt werden. Die gesamte Gesellschaft braucht eine höhere, qualifiziertere, schwierigere Aufgabe. Wenn man von den beiden genannten Vermutungen ausgeht, kann man die Merkmale formulieren, die eine solche Aufgabe kennzeichnen müßten. Das erste Merkmal: Sie muß etwas grundsätzlich Neues darstellen, das den gewachsenen Kräften der Menschheit und vor allem der noch weiter um sich greifenden neuen Qualität der Gehirntätigkeit angemessen ist. Die Aufgabe muß von der Art sein, daß sie Begeisterung ebenso wie den Wunsch nach Anspannung aller Kräfte hervorruft. Sie muß deshalb auch vom Ausmaß her selbst die gigantischen Projekte der Harmonisierungsperiode übersteigen, in der Hunger, ökologische Gefahren und Borniertheit überwunden wurden. Das zweite Merkmal: Sie darf trotzdem nicht losgelöst von der menschlichen Geschichte sein. Sie muß alle positiven Entwicklungen menschlicher Geschichte in sich aufnehmen können und in gewisser Weise, aus dem Blickwinkel des heutigen Menschen, das Ziel aller bisherigen Geschichte darstellen. Sie muß die Schwelle zu einer neuen Epoche sein. Das dritte Merkmal: Sie muß in der Lage sein, in den nächsten Jahrzehnten in schnell wachsendem Ausmaß das Schöpfertum von Millionen, zehn, hundert Millionen und in der Perspektive von Milliarden Menschen zu binden. Natürlich haben wir diese Merkmale nicht ohne die Vorstellung einer solchen Aufgabe und folglich auf sie hin formuliert, was aber ihre Ableitung aus den vorausgesetzten Gegebenheiten und Vermutungen nicht beeinträchtigt, wenigstens nach unserer Überzeugung.
Und ebenso sind wir überzeugt, daß es nur eine Aufgabe gibt, die alle diese Merkmale hat und bis in die weite Zukunft haben wird: Das ist die Besiedlung der Nachbarplaneten und anderer erreichbarer Himmelskörper. Viele mag dieser Gedanke erschrecken. Wir können uns aber den kleinen, praktischen Hinweis nicht versagen, der die Popularität dieses Gedankens betrifft: Unser Freund Ruben Madeira hat anläßlich einer Schlichtung einen Beitrag zu diesem Thema geliefert. Der Beitrag erlebte innerhalb kurzer Zeit eine Abforderung von zwanzig Millionen, die höchste, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Es ist auch für uns selbstverständlich, daß solche Projekte erst nach gründlicher und allseitiger Vorbereitung bestätigt werden können. Zu dieser Vorbereitung gehört aber auch schon eine sehr weitgehende praktische Erprobung. Wir schlagen deshalb einen zwölf Jahre währenden Zeitabschnitt vor, in dessen Verlauf außer den Forschungsarbeiten auf der Erde die folgenden Arbeiten vorzunehmen wären: - jährliche Verdoppelung der Siedlungen und der Besatzungen auf der Venus, so daß im zwölften Jahr eine Zahl von etwa zwölftausend Siedlungen mit vierhunderttausend Bewohnern erreicht wäre; - Einrichtung eines äquatorialen Rings von Stationen auf dem Mars, die über ein Energieverbundsystem verfügen; - Entsendung einer zweiten Expedition zu der Esther, dem Minosmond, und Einrichtung einer ständigen Station; - auf allen drei Himmelskörpern sollten die Forschungen in der Hauptrichtung der Besiedlung betrieben werden; die physikalische Forschung auf der Erde und im erdnahen Raum sollte auf praktische zukünftige Aufgaben bei der Besiedlung und beim Transport großer Massen gerichtet werden. Wir glauben, daß die Stabile Gesellschaft diese Aufgaben noch bewältigen kann, ohne mehr als die normalen materiellen Reserven in Anspruch nehmen zu müssen. Gegen Ende des zwölfjährigen Abschnitts dürfte sich dann sowohl auf der Erde als auch mindestens auf der Venus bereits abzeichnen, wie die gesellschaftliche Entwicklung weitergeht. Seit Anbeginn des wissenschaftlichen Denkens sucht die Menschheit nach anderen Zivilisationen im All. Jetzt kann die Menschheit diese Frage auf ihre Weise lösen, nämlich produktiv: Sie sucht sie nicht mehr nur,
sondern sie schafft sie. Denn nach tausend Jahren werden die Bewohner etwa der Venus eine andere Zivilisation sein. Wenzel Kramer Anlage: Informations- und Personalkennziffern Wenzel hatte gehofft, nach Absendung des Briefes würde eine Periode ruhiger Arbeit beginnen. An diesem Wunsch hatten viele Umstände Anteil: seine Freude, mit Sibylle zusammen zu leben, ebenso wie der Sternenstädter Alltag. Er war noch nicht richtig dahintergekommen, warum ihm der so gefiel, aber einiges war eben anders als sonst in der Stadt, anders auch als auf dem Land – anders als anderswo, und er hatte es eher nebenbei beobachtet, weil es mit der Sache, die all seine Kräfte in Anspruch nahm, nichts zu tun hatte. Aber eben, daß hier vorwiegend Leute lebten, deren gesamte Kräfte von einer einzigen Sache, nämlich ihrer Wissenschaft, in Anspruch genommen wurden, machte schon den ersten großen Unterschied aus. Handwerk war der Wissenschaft zugeordnet, Kunst diente vorwiegend der Unterhaltung und Entspannung und wurde nur ausgeübt, wenn die Wissenschaft Zeit dazu ließ. Hinzu kam, daß ein großer Teil der Bewohner nomadisierte: Zeitweise lebten sie in Gagarin, zeitweise hier im Städtchen. Das hatte gewisse allgemeine Folgen für die Lebenskultur: Die Leute unterschieden sich weniger durch Kleidung, Eßgewohnheiten, Ausgestaltung der Wohnungen und andere individuelle Äußerlichkeiten, um so mehr jedoch in Wissen, Vorstellungskraft, geistiger Reichweite, Debattierfreudigkeit und anderen Merkmalen der inneren Kultur. Das folgte unmittelbar aus dem Überwiegen des Dienstes bei den Arbeiten – man tauschte eben eher und leichter wissenschaftliche Informationen aus als Handwerkserzeugnisse oder Kunstwerke, die nicht im gleichen Maß produziert wurden.
Deshalb fehlte zum Beispiel dem Mobiliar, in dem Sibylle und Wenzel lebten, diese Einmaligkeit, die sich sonst aus Ererbtem, Ertauschtem und Selbstgeschaffenem ergibt. Eine Ausnahme bildeten nur Tisch und Stühle aus dem Haus im Vorwerk. Sonst war alles zwar nicht häßlich, aber nüchtern, und Wenzel gefiel das, zum Teil wohl, weil ihm in Sibylles Nähe alles gefiel, zum Teil aber auch, weil er vorher viel auf Reisen gewesen war und sich ohnehin an das Wohnen in Hotels oder anderen zeitweisen Unterkünften gewöhnt hatte. Ein paar Monate Seßhaftigkeit hätte Wenzel sich also gewünscht, doch über das Berliner Büro – oder richtiger: über dessen Informationsautomatik – erhielt er eine Anfrage der Gruppe, die immer noch im Vorwerk den Raumteiler untersuchte. Diese Gruppe konnte aus irgendeinem Grund nicht zu einem befriedigenden Abschluß kommen und bat um seinen Besuch. Eigentlich hätte Wenzel nicht zu fahren brauchen; er hatte den Auftrag ordnungsgemäß erteilt, und für seine Sache würden sich daraus wohl kaum neue Aspekte ergeben. Aber er konnte erstens nichts von alldem, was sie angeregt hatten, als abgeschlossen betrachten, die Forschungen würden ja auch später weitergehen, jetzige Ergebnisse waren mit ziemlicher Sicherheit vorläufig. Zweitens hatte dort, im Vorwerk, alles begonnen, und drittens war der Raumteiler ja ein Erbstück für Sibylle, und viertens wartete die örtliche Ratgeberin gewiß darauf, über das Haus verfügen zu können, und fünftens … Wenzel fuhr. Über dem Vorwerk lag spätsommerliche Hitze. Der Busch sah dunkelgrün aus, hier und da schon mit einem braunen Schimmer. Wenzel meldete sich bei der Ratgeberin, die sich freute, ihn wiederzusehen, aber auch gleich fragte, wann das Haus endlich frei werde, die meisten Möbel hätten Mohrs Kinder schon abgeholt, ein Ensemble – Tisch und Stühle – sei nach Sternenstadt gegangen … „Jaja, ich weiß“, warf Wenzel ein, „von dort komme ich gerade, und viele Grüße, und hier werden wir mal sehen, was wir machen können.“ In Mohrs Haus hatte sich die Gruppe angesiedelt, die den Raumteiler erforschte. Da Wenzel seine Ankunft angekündigt hatte, saßen sie alle beisammen und erwarteten ihn, und sofort, als er eintrat, schien es ihm, als sähen sie alle gleich aus. Dabei waren es ganz unterschiedliche Menschen, und sie waren sich kein bißchen ähnlich: eine etwa fünfzigjährige
Akustikerin, die für die Gruppe das Wort führte, ein ziemlich alter Psychologe, zwei junge Laboranten, eine Elektronikerin Mitte Dreißig, von der sich später herausstellte, daß sie und Wenzel einen gemeinsamen Bekannten aus dem Handwerk hatten. Als er nun jeden einzelnen begrüßte, mit Handschlag und ein paar freundlichen Worten, verlor sich der Eindruck, aber als sie sich auf einfachen Klappstühlen im Kreis gegenübersaßen, merkte Wenzel, daß alle Gesichter von Erschöpfung gezeichnet waren, oder nein, eher von Enttäuschung, aber das traf es auch nicht ganz, also abwarten, irgendwie mußte sich das ja klären im Gespräch. „Einer ist krank“, sagte die Akustikerin, „sonst sind wir vollzählig.“ „Tut mir leid, was fehlt ihm denn?“ „Was uns allen fehlt: ein Resultat.“ Das war ziemlich bitter. Wenzel wurde nun sehr aufmerksam. Beim Herflug hatte er sich ein wenig gewundert, daß diese Gruppe immer noch arbeitete, sich aber keine weiteren Gedanken gemacht. Jetzt war er besorgt: Sollte dieser Eindruck, den er im ersten Augenblick so deutlich gehabt hatte, eine Art Krankheit widerspiegeln, die alle erfaßt hatte? „Erzählen Sie bitte“, sagte er. Der Raumteiler stand deshalb noch immer hier und hielt auch die Gruppe im Vorwerk fest, weil bisher keine Übereinstimmung in einer wesentlichen Frage hatte erreicht werden können: ob nämlich die Akustik des Raums einen entscheidenden Anteil an der Gesamtwirkung habe oder nicht. Es gab Anzeichen dafür: Wenn man Paravents aufstellte, minderte sich die Wirkung. Wenn man das bewußte Fenster öffnete, verstärkte sie sich. Einen Raum mit gleicher Akustik woanders nachzubauen war jedoch sehr schwierig und vor allem aufwendig, es hätte die Fonds der Gruppe überschritten. Selbst die ausgeklügeltsten Versuche brachten in dieser Hinsicht keine Klarheit. Also hatten sie den Raumteiler noch nicht abtransportiert. Statt dessen war etwas anderes allmählich klargeworden: Der Raumteiler und seine psychische Wirkung waren nicht so harmlos-erfreulich, wie es anfangs geschienen hatte. Einer von der Gruppe, der jetzt Fehlende, konnte nämlich ebenfalls im Raumteiler Resonanzen erzeugen, so daß die Gruppe nicht mehr ausschließlich auf die Tonbänder von Sibylle angewiesen war. Er wurde dafür auch von der Resonanz weit stärker beeinflußt als die anderen. Nach ein paar Wochen wurde er nachts vor
dem Raumteiler gefunden. Er habe nicht schlafen können, sagte er. Zu diesem Zeitpunkt war er schon – süchtig; ja süchtig, wiederholte die Akustikerin, so seltsam es klinge, und weil dieser Gedanke so absurd erscheine, habe auch zunächst niemand bemerkt, daß der Kranke seine Sucht zu verbergen suchte, einfach wie jedermann eine Erkältung oder sonst etwas Unangenehmes überspielt, um die andern nicht damit zu belästigen. Die Tätigkeit, die Versuche am RT, stillten ja auch täglich seine Sucht, und sie fiel erst dann auf, als sie jedes Maß überstieg; da aber war es schon zu spät. Jetzt, sagte die Berichterstatterin, sei er zu einer Entziehungskur, es sei sehr schwierig, man müsse ihn einschließen, einmal sei er schon ausgerissen und plötzlich hier aufgetaucht, Besserung trete nur sehr zögernd ein. „Und auf Sie selbst haben die Resonanzen keinen Einfluß?“ fragte Wenzel. „Wir haben uns seit einer Woche von diesen Resonanzen ferngehalten“, sagte die Akustikerin langsam, „wir betrachten nur ihre grafischen Darstellungen, das genügt ja auch für unsere Arbeit. Aber wir möchten alle den Raumteiler gar zu gern singen hören. Ich glaube, ganz unbeeinflußt sind auch wir nicht.“ „Wäre es da nicht an der Zeit, diesen gefährlichen Gegenstand unter Verschluß zu nehmen? Also in einem Labor oder so?“ Einige der Anwesenden verzogen die Gesichter, der Gedanke gefiel ihnen nicht. Andere beherrschten sich besser, darunter auch die Akustikerin, aber ihre Stimme war nicht ganz fest, als sie nun sagte: „Und wenn er dann nicht mehr funktioniert?“ Es fanden sich Stimmen, die sie mit Argumenten unterstützten. „Immerhin ist dies ein einmaliges Zusammenspiel von handwerklicher Kunst und produktivem Zufall, das sich so schnell nicht wiederholen dürfte.“ „Heil und Unheil sind oft in einem neuen Ding – unsere Sache ist es doch gerade, das eine vom andern zu trennen!“ „Zumal der Mann ja tot ist und keine Aufzeichnungen hinterlassen hat, wie er das gemacht hat!“ Sie waren sehr eifrig im Auffinden von Argumenten. Wenzel aber wurde sich seiner Vermutung mit jedem Argument sicherer, er wußte nur noch nicht, wie er vorgehen sollte. Da fiel ihm auf, daß die Akustike-
rin sehr schweigsam geworden war, und der Psychologe hatte überhaupt noch kein Wort gesagt. An die beiden wandte sich Wenzel nun. „Sie haben die Aufzeichnungen, und sie haben den Raumteiler. Wenn Sie ihn woanders aufbauen, muß es doch möglich sein, wenn nicht die volle Wirkung, so doch einen großen Teil davon wiederherzustellen. Ich glaube aber, Sie wollen das nicht. Ich glaube, Sie sind selbst schon ein wenig süchtig.“ Plötzlich schwiegen alle. Dann sagte jemand kraftlos: „Na wissen Sie …“ Und nun erhob sich der Psychologe. „Er hat ja recht“, sagte er, „wir sind’ s wirklich, geben wir’ s doch zu. Wir sehen uns jetzt vor, aber wenn wir noch ein halbes Jahr damit zubringen, sind wir genauso weit wie unser kranker Kollege. Er war eben nur anfälliger. Jeder von uns schleicht doch mal schnell in diesen Raum, wenn ein Versuch läuft, weil er angeblich irgend etwas vergessen hat. Ich auch. Aber noch sind wir diesseits der Grenze. Wir müssen die Versuche unter anderen Bedingungen fortsetzen.“ Niemand widersprach, einige nickten. „Gut“, sagte Wenzel, „darin besteht Einmütigkeit, wie es scheint. Was haben Sie noch herausgekriegt?“ Er erfuhr eine Menge Einzelheiten, die ihm nicht viel sagten, ließ sich aber weiter berichten, denn irgendein Gedanke ging ihm im Kopf herum, eine Frage, die sich stellen wollte, er bekam nur nicht heraus, was sie betraf, doch irgendwann in dem Gespräch würde schon ein Begriff fallen, dem sie sich assoziieren konnte. Meßreihen, differenzierte Funktionen der Teile des RT, auch der Glasstab, der Otto Mohr im Hals steckte, er war höchstwahrscheinlich an jenem Morgen noch ausgetauscht worden gegen einen neuen, der stärker wirkte, alles ganz interessant, aber es führte von der Frage weg; betraf sie etwa weniger den RT als … Ja, na klar, das hätte eigentlich die erste Frage sein müssen, nur die Sorge um die Gesundheit dieser Leute hatte Wenzel davon abgebracht, eine Kontrollfrage eigentlich nur, ohne viel Hoffnung auf ein Ergebnis: „Haben Sie von dem Kranken ein EEG gemacht, wenn er unter dem Einfluß des RT stand?“ Die andern blickten etwas verwirrt. „Unter Einfluß des RT nicht, sonst ja. Als wir entdeckt hatten, wie es um ihn stand, wollten wir nicht noch mal …“ „Aber ein Gerät haben Sie hier?“ Sie hatten eins.
„Dann machen Sie von mir ein EEG, ich werde mich vor den RT stellen, ich bin auch sehr auf ihn abgestimmt, keine Angst, ich bin noch nicht soweit, daß es mir schaden könnte.“ Wieder empfand Wenzel die außerordentliche Lust zur Kreativität, allerdings diesmal schien ihm ein klein wenig anderes dabeizusein, ein bitterer Beigeschmack, kam der nun von dem Wissen um die Gefährlichkeit oder davon, daß seine allgemeine Gefühlslage heute weitaus glücklicher war als damals? Jedenfalls ließ sich gut vorstellen, daß hier der Wunsch nach ständiger Wiederholung entstehen konnte, wenn dem Gefühl des Schöpferischen keine ebensolche Wirklichkeit gegenüberstand, und dieser Wunsch nach ständiger Wiederholung war dann wohl der Anfang der Sucht. Drei Minuten – das dürfte genügen. Wenzel ging in die Küche, wo die Mannschaft mit den Geräten saß. Er ließ sein Enzephalogramm abspielen. Da – G-Spindeln. Nicht sehr ausgeprägt, aber doch erkennbar. Er hatte es halb gehofft, halb befürchtet. Es klärte die Zusammenhänge nicht, es verwirrte sie. Gab es also bei Otto Mohr zwei Todesursachen, die zusammenwirkten? Oder gab es bei den anderen Fällen von Herzversagen ebenfalls noch mehrere Ursachen? Doch man durfte wohl nicht erwarten, daß die im großen einfach erscheinenden Zusammenhänge auch einfach blieben, wenn man in sie eindrang. Ob es zwischen dem Rhythmus der Resonanzen und dem der G-Spindeln eine Korrespondenz gab? Der kleine Tischrechner, den sie dort hatten, reichte völlig aus. Ja, diese Korrespondenz gab es, und sie war keine einfache Übereinstimmung, es gab zeitliche Verzögerungen zwischen beiden und damit überhaupt eine Menge weiterer Arbeit, die allerdings nicht mehr hier geleistet werden mußte. Die Experimentatoren hatten nach einer heißen Debatte alle Pläne über den Haufen geworfen und waren mit dem Zollstock und der Hälfte der Zulieferungen für die Erweiterung zur Anlage Blastron geflogen, der Rest sollte zwei Monate später mit einer Lastrakete folgen. Ausgangspunkt war das schon fast mysteriöse Ergebnis jenes Modellexperiments gewesen, bei dem sie unter der EGI die Grenzen überschritten, die sie sich selbst gesetzt hatten. Aber außer diesem Mißerfolg lag ja noch jenes seltsame Verhalten des Sechserrings vor, der erstmals auch im
Stadium zwei Energie aufnahm, und plötzlich wollte niemand mehr warten, alle wollten endlich sehen, wieviel davon im wirklichen Experiment geschehen würde. Von vornherein hatten sie sich gegen psychisches Versagen gesichert: Eine Automatik war entwickelt worden, die jeden Versuch eine Minute nach Eintritt in das zweite Stadium beenden würde, indem sie das Bläschen oder die Bläschen-Konfiguration auf ein Target lenkte. Außerdem wollten sie nach der Montage der zusätzlichen Einrichtungen zunächst die EGI nicht mehr anwenden, sondern alle die Hunderte von Versuchen durchführen, die am Modell gelaufen waren. Das weitere Programm sah dann eine zweite Experimentatorengruppe vor, die aus den Ergebnissen abgeleitete Versuche am Modell anstellen sollte, aus denen wiederum Versuchsanordnungen für Blastron abgeleitet würden – das alles erforderte noch konzentriertere Arbeit als früher. Man hatte ein Ziel: das erste Stadium und den Übergang zum zweiten sowie die Möglichkeiten der Elementumwandlung mit Hilfe des Bläschens studieren. Dennoch war es ein bißchen ungewöhnlich, die einmal gefaßten Pläne so schnell und rigoros zu ändern. Solche Änderungen mußte der Planungsrat bestätigen, der sich aus Vertretern aller Sektionen des Projekts Raumkrümmung zusammensetzte. Er tat es. Aber noch ungewöhnlicher war etwas anderes, was freilich nur das beteiligte Kollektiv zu bestätigen brauchte: Pauline Madeira flog mit. Pauline Madeira. Sie und Ruben hatten ohne Zögern vor dem zuständigen Ratgeber ihre Familienerklärung abgegeben und sonst weiter kein Aufhebens davon gemacht; daß sie zusammengehörten, wußten ohnehin schon alle, die Ruben oder Pauline kannten, es ließ sich auf keine Weise verbergen, und sie hatten es ja auch gar nicht verheimlichen wollen. Sibylle und Wenzel überreichten ihnen einen Blumenstrauß, sagten aber kein Wort darüber, ob sie dergleichen auch vorhätten oder nicht – ältere Leute, meinte Pauline später zu Ruben, überlegten in solchen Fällen wohl länger. Die Deklarierung des Fluges als Hochzeitsreise war einer von den Gründen, der das Kollektiv zustimmen ließ, wenn auch mehr ein humoriger. Es gab aber ernsthafte Gründe. Freilich konnte Pauline weder bei den Montagearbeiten noch bei den Experimenten helfen. Doch wenn die Anregungen aus Wenzels Brief aufgenommen wurden – und hier rechnete man eigentlich damit –, dann würde bald eine neue Expedition zur
Esther starten, und dort hätte Pauline in ihrem ursprünglichen Dienst als Biochemikerin durchaus zu tun. Vorher aber mußte sie wenigstens etwas Raumerfahrung sammeln. Es sah allerdings fast so aus, als wäre ebendas überflüssig, als wäre ihr die Raumerfahrung in die Wiege gelegt worden. Andruck wie Schwerelosigkeit überstand sie ohne die geringsten Beschwerden, nicht einmal ein wenig übel wurde ihr. Die andern, meist über Fünfzig, fanden das beachtlich; einige dachten an ihren ersten Flug, andere an ihre erste Liebe: jaja, eine geheimnisvolle Kraft immer noch … Die ersten Ungeschicklichkeiten aber bei der Bewegung in der Schwerelosigkeit, die man tatsächlich nur durch Training überwinden kann, machte sie den andern nur noch liebenswerter. Bald jedoch trat an die Stelle der väterlichen oder mütterlichen Zuneigung ein Gefühl der Achtung: Pauline faßte dieses Unternehmen keineswegs als Vergnügungsreise auf, sondern arbeitete hart. Unter Rubens Anleitung legte sie noch während des Anflugs, der ja über Tage antriebslos erfolgte, die ersten beiden Monteurprüfungen ab, und in der übrigen Zeit studierte sie ihr ehemaliges Fach, Biochemie also, um ihre Kenntnisse aufzufrischen, vor allem aber, um sich einen weiter reichenden Überblick zu verschaffen, als sie ihn früher bei ihrer Arbeit im Vorwerk nötig gehabt hatte. So war sie bei der Montage der zusätzlichen Anlagen schon eine Hilfe, wenn auch Ruben sie verständlicherweise nicht einen Moment aus den Augen ließ. Bei den Experimenten selbst konnte sie freilich überhaupt nichts tun. Um nicht zu stören, wollte sie in der Kabine bleiben und lernen, doch die andern baten sie dabeizusein, sie wäre so eine Art Maskottchen, nein, anders, man sei gewöhnlich bei diesen Versuchen vollzählig, und ohne sie fehle jemand, und ebendas würde stören – viele Argumente, und Pauline blieb. Einiges wußte sie selbstverständlich schon über diese Versuche; aber von den Dutzenden Bildschirmen und Anzeigegeräten konnte sie überhaupt nichts ablesen, dazu gehörten nun wirklich Kenntnis und Übung. Doch fragen konnte sie, wenn ihr etwas auffiel – Versuche unter der EGI wurden vorläufig nicht gefahren, nur die Wiederholung der Modellversuche stand auf der Tagesordnung. Sie machte aber fürs erste keinen Gebrauch davon. Es reizte sie viel mehr, das alles, was um sie herum geschah, als ein Spiel zu nehmen,
Ordnung und System der Anzeigen wenigstens bis zu einem gewissen Grad zu erraten und hinterher zu sehen, wie weit sie danebengeraten hatte, mit der stillen, ein wenig eitlen Hoffnung, sich vor sich selbst als Wunderkind zu erweisen. Eine Minute, die normale Laufzeit des ersten Stadiums der Bläschen, ist für ein solches Spiel gewiß eine extrem kurze Zeit; in dieser Minute lief noch auf allen fünf Plätzen das gleiche. Dann aber nahm sich jeder eine andere Phase, ein anderes Wiedergabetempo vor, und da etwas zu erraten war einfach unmöglich. Beim nächsten Durchgang beschloß Pauline, sich auf Ruben zu beschränken. Auf dem Hauptbildschirm war eine Art Grafik vorgegeben, eine vielfach verschlungene Linie, und eine zweite entstand, sie lag anfangs daneben, später wich sie ein wenig ab – das mochten wohl Darstellungen sein, deren erste einen Modellversuch zeigte und deren zweite den laufenden Realversuch. Es freute Pauline, daß die neue Kurve nur wenig abwich, aber Ruben schien gar nicht froh darüber zu sein, er machte ein finsteres Gesicht, was für Pauline, die das bei ihm noch nicht erlebt hatte, beinahe lustig aussah. Bei den nächsten Versuchen konnte Pauline Ähnliches beobachten, und als dann eine Debattierpause eintrat, erfuhr sie, daß man weit weniger enttäuscht gewesen wäre, wenn der Realversuch stellenweise stark abgewichen wäre und sich dafür an anderen Stellen gedeckt hätte mit dem Modellversuch; dann hätte man Hinweise auf bestimmte Zeitabschnitte, Teilvorgänge und dergleichen gehabt. Viele Abschnitte der Diskussion verstand Pauline nicht, besonders dann, wenn Meinungen oder Vermutungen mit Berechnungen belegt wurden. Aber sie fühlte sich durch diese unvermeidlichen Schwierigkeiten nicht ausgeschlossen, sie wunderte sich im Gegenteil, daß sie den Gedankengängen im großen und ganzen doch folgen konnte. Sie begriff den Verdruß: Es war eine nichtssagende Abweichung. Die allgemeine Meinung schien sich dem Vorschlag zuzuneigen, den ganzen Vorrat an Modellversuchen automatisch gesteuert durch die Anlage zu jagen und sich die Ergebnisse hinterher anzugucken. Einigen gefiel aber diese Tendenz nicht. Das konnte man auch von Gagarin oder sogar von Sternenstadt aus tun, dann konnte man ja gleich zurückfliegen. Akito sagte das, als Esther am Schluß der Debatte von jedem eine Meinung haben wollte.
Pauline dachte sich, während sie den anderen zuhörte, man müßte diesen kleinen Unterschied doch irgendwie beseitigen können, dann wären alle zufrieden, und in diese naive Überlegung hinein fragte Esther auch sie nach ihrer Meinung. „Optimieren“, sagte Pauline, es war der erste Begriff, der ihr im Zusammenhang mit ihrer Überlegung einfiel, „vielleicht bei einem einzelnen Versuch.“ Einige in der Runde lachten freundlich, selbst Ruben sah ein bißchen hilflos aus, aber Esther sagte plötzlich: „Seht mal, da ist was dran!“ Und im Handumdrehen hatte sie einen ganzen Plan entwickelt, Zusammenhänge und Methoden, an die Pauline nicht im entferntesten gedacht hatte: wirklich einen einzelnen Versuch immer abwechselnd real und am Modell zu wiederholen, im Zusammenspiel mit Sternenstadt; die Abweichung hier mußte zu wenn auch kleinen Korrekturen am Modell führen, diese wieder zu einer neuen Vorlage und so weiter, bis Übereinstimmung der Abläufe erreicht war – dann war auch die Formel entscheidend verbessert. Die Pausen, die aufgrund der Entfernung entstehen würden, konnte man damit füllen, die andern Modellversuche zu realisieren. So wurde auch verfahren. Niemand machte Aufhebens davon, daß das Raumküken Pauline die Grundidee geliefert hatte, auch sie selbst nicht. Trotzdem war sie auf das Ergebnis womöglich noch gespannter als die anderen. Und als nach dem dritten Wechsel die Verschmelzung der beiden Kurven deutliche Fortschritte machte, freute sie sich unbändig und wußte zugleich nun auch, warum: Es war dies der erste selbständige Schritt in ihrem neuen Lebensabschnitt. Nach einem Besuch bei Paulines Eltern, die Wenzel vorsichtig nach ihrem Schwiegersohn ausfragten und dann nach ihrer Chance, ihn auch mal zu Gesicht zu bekommen, und mit dem Versprechen im Gepäck, dem Mädchen ins Gewissen zu reden, war Wenzel erst einmal in das Berliner Büro gefahren. Dort fand er neben elektronisch konservierter Post, die in den letzten Tagen aufgelaufen war, auch ein Päckchen mit einem Kristallspeicher und einem richtigen Brief dabei – man entschuldigte sich, daß man die Kopie der Translation erst so spät zugestellt habe, die Kollegin Wichmann sei erkrankt und man habe in ihren Notizen erst jetzt den Hinweis gefunden …
Was für eine Translation war das und was für eine Kollegin Wichmann? Mit Mühe erinnerte sich Wenzel schließlich, daß Pauline damals irrtümlich zu dieser Frau gerufen worden war – irrtümlich? Wie war das gewesen? Im Bürotagebuch mußte das verzeichnet sein. Wenzel schaltete das Archiv ein und blätterte auf dem Bildschirm darin. Bald hatte er den Tag gefunden und auch die Notiz, die Pauline eingegeben hatte. Ein bißchen merkwürdig, das Ganze. Wenzel, noch bewegt von den Wirkungen des Raumteilers, witterte neues Unheil. Was heißt: krank? Wenn jemand Schnupfen hat, braucht man doch nicht in seinen Unterlagen nach eventuell unerledigten Dingen zu suchen? Das war doch schon Monate her! Nein, das mußte er sich genauer ansehen. Es war aber gar nicht so leicht, herauszufinden, wo er sich etwas ansehen konnte und was. Der Betrieb, der vollautomatische Fabriken umrüstete, bearbeitete zur Zeit die zweite Hundertjährige, und zwar in Prag. Hinfahren? Der Gedanke war verlockend, aber ein Anruf bestätigte ihm: Die Kollegin Elke Wichmann war nicht dort, sie lag noch in Berlin im Krankenhaus. In welchem, wußte er jetzt, aber man würde ihm so ohne weiteres kaum Auskunft geben, und Zweiter Gehilfe war er ja nicht mehr – vielleicht konnte Hasgruber etwas arrangieren. Vorher aber besuchte er noch mal die ATTACKE-Mannschaft, er hatte sowieso vorbeigehen wollen, um sie über die Raumteilergeschichte zu informieren, dort konnten sie sich diese Translation ansehen, ob das etwas mit ihrer Sache zu tun haben könnte. ATTACKE schien inzwischen ein umfangreicheres Unternehmen geworden zu sein, Wenzel kannte keinen von den Medizinern, aber selbstverständlich kannten diese Wenzels und Paulines Anteil, sie berichteten gründlich und bemühten sich sogar, medizinisches Fachkauderwelsch zu vermeiden. Man hatte inzwischen noch zwei weitere leichte Fälle gehabt und war der Ursache, dem Herd, dem Auslöser immer näher gekommen, so nahe, daß schon ein Gerät in zehn Exemplaren hergestellt war, von dem die Mediziner sich versprachen, es werde schwere Herzattacken dieser Art verhindern. Es war ein Stirnreif mit Elektroden, die ausgewählte elektrische Signale des Gehirns anzeigten und im Fall einer Attacke mit desynchronisierenden schwachen Stromstößen antworteten. Zwar konnte das keineswegs der Weisheit letzter Schluß sein, schließlich kann nicht die halbe Menschheit mit so etwas herumlaufen, aber es war doch schon
ein Ergebnis, das man vorzeigen konnte, und wenn auch nur einem einzigen Menschen dadurch das Leben gerettet wurde, war das ein Sieg. Die Mediziner drängten Wenzel, ein Exemplar davon mitzunehmen, und er tat das gern, denn eine Aussprache mit dem Konrat würde es bestimmt geben, und es war nicht schlecht, wenn man bei solcher Gelegenheit etwas Gegenständliches auf den Tisch legen konnte. Wenzel bedankte sich dafür mit Informationen. Er gab den Ärzten seinen Brief an den Konrat zu lesen, sie fanden das interessant; was sie sagten, klang aber nicht sehr enthusiastisch. Wenzel hatte das auch nicht erwartet, denn Ärzte müssen sehr bedächtig sein gegenüber Neuerungen, sie arbeiten ja nicht an einem Stück toten Materials, das man bei Mißlingen der Neuerung wegwerfen kann. Außerordentlich interessiert zeigten sie sich dagegen an den Suchterscheinungen bei der Arbeitsgruppe, die den Raumteiler untersucht hatte, und sie notierten sich sofort die Adresse. Der Fall Elke Wichmann jedoch versetzte sie vollends in Aufregung. Sie spielten die Computertranslation ab, entdeckten darin auf Anhieb Rhythmen, die mit den G-Spindeln korrespondierten, und stellten sofort die Verbindung zu dem Krankenhaus her, in dem die Frau lag. Die Ärzte dort waren froh über die Hilfe, die Patientin litt an einer Art Lethargie, mit der sie nichts anzufangen wußten. Im Nu waren Aufträge erteilt, alle brachen auf, bis auf einen, der als Diensthabender hierbleiben sollte und sich auch Wenzel widmen konnte. „Warum versetzt Sie das so in Aufregung?“ wollte Wenzel wissen. „Wir haben auf irgend so etwas gewartet“, sagte der Diensthabende. „Sehen Sie, das ist so: Es steht jetzt fest, daß die Ursache dieses Herzversagens im Gehirn sitzt. Das ist – wie sag ich’ s? Also das Herz reagiert zwar, wie jeder weiß, auf Vorgänge im Gehirn, vor allem auf emotionale, aber nur innerhalb gewisser Grenzen. Für seine lebenslange, ununterbrochene erstaunliche Tätigkeit hat das Herz eine sehr starke Selbstregulierung. Daß Impulse vom Gehirn diese Selbstregulierung nicht nur durchbrechen, sondern matt setzen können, bei einem völlig gesunden Menschen, das ist etwas Neues. Und sehr Gefährliches. Aber das wissen Sie ja selber. Um mit der Sache weiterzukommen, müßten wir andere Auswirkungen derselben Ursache untersuchen können. Was Sie uns mitgebracht haben, könnten Beispiele dafür sein. Deshalb die Aufregung.“ „Ich wäre am liebsten mitgefahren“, sagte Wenzel nachdenklich.
„Das lohnt sich für Sie kaum“, antwortete der Diensthabende. „Erst mal wird sich gar nichts ereignen, man wird beraten, und wenn dabei etwas herauskommt, rufen sie sowieso hier an. Aber das kann dauern.“ „Ja, und eigentlich sind für mich auch andere Aspekte von Interesse, die etwas außerhalb Ihres Blickfeldes liegen.“ „Ach?“ „Ja. Bisher begannen alle Ereignisse, die uns beschäftigen, im Kopf der jeweiligen Personen, wenigstens soweit wir wissen. In diesen beiden Fällen aber ist es anders – die Ereignisse wurden von außen angeregt, einmal durch ein Kunstwerk, einmal durch ein wissenschaftlichtechnisches Werk, einen Computer. Beim Kunstwerk sperrt sich in mir nicht ganz soviel dagegen; in ein Kunstwerk sind immer mehr oder weniger Emotionen des Künstlers eingeflossen. Aber ein Computer? Wie kann ein Computer etwas hervorbringen, was sich mit Gehirnaktivitäten auf solche Weise überlagern kann? Noch dazu mit Gehirnleistungen, die. wir für neuartig und höchstentwickelt halten? Haben denn diese Rechner in den automatischen Fabriken schon die Komplexität des Gehirns erreicht?“ „Kann ich mir nicht vorstellen, nein, bestimmt nicht!“ „Ich verstehe einfach zuwenig von Technik“, sagte Wenzel verdrossen. „Ich hätte vielleicht doch nach Prag fahren sollen.“ Er hatte das mehr zu sich selbst gesagt und nicht erwartet, daß der andere darauf einging. Der aber hatte inzwischen auch überlegt. „Ich kann Ihnen da nicht ganz zustimmen“, sagte er, „wenn Sie solche Unterscheidungen treffen: aus dem Gehirn selbst entstanden, von außen angeregt. Tatsächlich gibt es die Anregung von außen doch in jedem Fall, sei es nun durch ein Kunstwerk oder durch ein Ereignis oder eine Idee. Soweit ich sehe, jedenfalls. Sie überblicken ja mehr Bereiche dieses Problems. Aber ich meine, wo eine Anregung nicht sichtbar wird, muß man suchen. Trinken Sie einen Kaffee mit?“ Wenzel stimmte zu. Sie unterhielten sich weiter über diese Frage, kamen zwar nicht zu völliger Übereinstimmung, aber doch zu einer Annäherung, der Arzt fragte noch nach einigen Einzelheiten des Briefes, nach der Telepathie auf der Venus und dem Todesschlaf auf dem Mars, und Wenzel berichtete, was er davon wußte, und das war weit weniger, als der Arzt wissen wollte – und dann rief die Gruppe an, die ins Krankenhaus zu Elke Wichmann gefahren war.
„Die Patientin war bei ihrer Einlieferung völlig antriebslos. Die Behandlung hat zu einer gewissen Besserung geführt, aber der entscheidende Punkt ist noch nicht erreicht, die Kollegen hier haben den Eindruck, daß sie noch nicht ins Zentrum der Krankheit vorgedrungen sind, und versprechen sich viel von der Zusammenarbeit mit uns. Bis wir zu einer gemeinsamen Auffassung gekommen sind, wird die jetzt laufende Behandlung fortgesetzt.“ „Na schön“, sagte Wenzel, „weiter kann ich hier wohl nichts ausrichten. Geben Sie mir Bescheid, was dabei rauskommt? Gut, ich verabschiede mich.“ Und schon in der Tür, fügte er kopfschüttelnd hinzu: „Ich weiß nicht, ich hab das Gefühl, mein Brief ist bereits überholt.“ Wenzel zersägte gerade Pauline, die sich unter dem Jubel der rund hundert Zuschauer für diesen uralten Trick zur Verfügung gestellt hatte, als eine Frau und ein Mann den Raum betraten, die er schon mal gesehen haben mußte. Er beachtete sie aber nicht weiter, da sie schnell Platz nahmen und er sich auf seine Kunst konzentrieren mußte. Zwanzig Minuten Magie von Wenzel Kramer waren der Kern des Wohngebietsfestes im Mandela-Distrikt von Sternenstadt, nicht etwa, weil die anderen künstlerischen Darbietungen weniger attraktiv gewesen wären, sondern well der neue Mitbürger zum erstenmal seine Kunst präsentierte.
Wenzel hatte wohl eingesehen, daß er sich vorstellen mußte, aber er hatte den Termin so weit wie möglich hinausgeschoben, vor allem, weil er keine Ruhe zum Trainieren gehabt hatte. Der Berg von Arbeit, den er abzutragen hatte, wurde immer höher; da sich sein Gegenstand nicht ordentlich eingrenzen ließ, kam immer mehr Material auf den Tisch und in die Speicher, bei dem man meist erst einmal entscheiden mußte, ob es überhaupt dazugehörte. Auch die an andere Arbeitsgruppen abgegebenen Themen erbrachten immer mal wieder neue Informationen. Und dann fehlte ihm auch Pauline, die erst wenige Tage vor diesem Fest aus dem Raum zurückkehrte. Neue Mitarbeiter wollte und konnte er sich aber nicht suchen, bevor der Konrat sich nicht geäußert hatte. Als Wenzel dann dem Drängen der Nachbarn nachgegeben und angefangen hatte, sich auf diesen Auftritt vorzubereiten, merkte er während des Trainings, wie sehr ihm seine Kunst gefehlt hatte. Er hatte sich für glücklich gehalten und war es gewiß auch, schon durch die Gemeinsamkeit mit Sibylle; die dienstlichen Schwierigkeiten schränkten das nicht ein, man kann auch unzufrieden und glücklich zugleich sein. Aber ein halbes Jahr ohne Kunstausübung, das war für einen Menschen seiner Zeit ein
fast unerträgliches Opfer. Und wie würde das mit dem Menschen der Zukunft sein? Dieser Zukunft, die er gerade projektierte? Würde der Planetensiedler überhaupt Zeit und Kraft für Kunst haben? Und für welche? Auf solche und andere Fragen stieß er fast täglich, und je länger er auf die Antwort des Konrats wartete, um so größer wurde der Stapel unbeantworteter Fragen; ja, jedes einigermaßen konkrete Weiterdenken zerfaserte sofort in Bündel von Problemen, für deren Lösung es nicht einmal eine verschwommene Vorstellung gab. Manchmal fragte er sich besorgt, ob er nicht doch zu früh geschrieben hatte. Aber wieviel zu früh? Ein Jahr? Ein Jahrhundert? Und die Gefahren, die schon jetzt drohten? Jetzt dachte und spürte er nichts von alldem. Er fühlte sich befreit, er ging völlig auf in seinen Zaubereien, denn er spürte, daß er die Zuschauer auch im übertragenen Sinn des Wortes bezauberte. Es war gewiß kein sehr sachkundiges Publikum, aber er fühlte sich mit ihm enger verbunden, als das sonst der Fall war, wohl durch die Nachbarschaft, und er fühlte auch, daß dieser Umstand seinen Darbietungen mehr Schwung und Eleganz gab. Beifall begleitete die nunmehr wieder zusammengefügte Pauline in den Saal zurück, und Wenzels Blick folgte ihr und fiel noch einmal auf die beiden Zuspätgekommenen. Woher er die nur kannte? Er schob diesen Gedanken schnell wieder beiseite, er war in den letzten Wochen mit so vielen Leuten bekannt gemacht worden, daß er sich unmöglich alle hatte merken können. Er nahm sich aber vor, sie nachher zu fragen. Es ging jetzt auf die Schlußnummer zu, und die erforderte seine ganze Geschicklichkeit. Er fragte in den Saal, ob jemand einen Brief in der Tasche habe oder sonst ein Stück Papier, keine Angst, er würde ihn nicht vorlesen, nicht einmal lesen würde er ihn, aha, da meldete sich jemand, er lief ein paar Schritte, nahm einen Briefbogen entgegen, ging auf die Bühne zurück und rollte dabei den Brief zu einer Tüte zusammen. Und als er die Hand mit der Tüte nach vorn in den Saal streckte, erhob sich daraus eine Wolke kleiner Blüten, die sich nach oben bewegte, ausbreitete und dann sanft zu sinken begann. Hätte er sich jetzt verbeugt, hätte der Saal ihm großen Beifall gespendet, aber er tat das nicht, er nahm die Tüte vor die Brust, sah hinein, und nun merkten auch die Zuschauer, daß da wohl noch etwas kommen würde. An diesem Punkt brauchte Wenzel all sein Einfühlungsvermögen. Er mußte so lange warten, bis so viele Zuschauer wie möglich das begriffen hatten, und durfte doch nicht
eine Zehntelsekunde zu lange zögern, wenn der Trick nicht scheitern sollte – jetzt! Er streckte erneut die Hand mit der Tüte vor, und die Blütenwolke zog sich zusammen, kehrte in die Tüte zurück, Wenzel rollte die auseinander – nichts! – und verbeugte sich. Unter donnerndem Beifall gab er den Brief zurück, ging auf die Bühne, der Beifall hielt immer noch an, er verbeugte sich noch mal und trat dann ab. Er saß in seiner Garderobe und schminkte sich ab, als es klopfte. Auf sein Herein traten die beiden Spätkömmlinge ein, er sah sie im Spiegel, der Mann, ein Weißer, sagte auf russisch: „Ein gelungener Vortrag, meinen Glückwunsch!“ Und da erkannte Wenzel ihn oder eigentlich beide, der Mann war Fjodor Petrow, der europäische Konrat, und die Frau, eine Schwarze, war Soni Tabele, eine afrikanische Kollegin. Eine halbe Stunde später saßen sie zusammen in Wenzels Arbeitszimmer, er hatte Pauline vorgestellt und sie dazugebeten. Sie waren also zu viert, und sie sprachen Englisch, weil das alle beherrschten. „Ihr Brief an mich“, sagte der europäische Konrat, „birgt so viele überraschende Wendungen wie Ihre Zauberschau. Ich sage dies nur, um den Umfang der Arbeit anzudeuten, die vor uns liegt. Alle Konrats haben ihn gelesen, wir beide sind delegiert und berechtigt, Entscheidungen zu treffen. Es trifft sich dabei gut, daß Frau Tabele und ich von unseren früheren Diensten her Sachgebiete vertreten, die in Ihrem Brief zu kurz kommen, nämlich Kulturwissenschaft“ – er wies auf seine zartgliedrige schwarze Begleiterin – „und Ökonomie, was mich betrifft. Sie werden es sicherlich auch für zweckmäßig halten, wenn wir Ihre zweite Vermutung zuerst behandeln und die andere danach?“ Wenzel nickte. Er sah in diesem Angebot mehr als eine Verfahrensregelung – nämlich die Bestätigung dafür, daß ein innerer Zusammenhang zwischen den drei Punkten bestand und die Konrats ihn akzeptierten. Überhaupt alles, auch das persönliche Erscheinen gleich zweier Konrats hier bei ihm und Pauline, schien ihm darauf hinzudeuten, daß man seinen Brief außerordentlich ernst nahm; wenn auch sicherlich mit abweichenden Meinungen in der einen oder anderen Einzelheit. Fähig und bereit zu Entscheidungen – so waren sie gekommen; aber gewiß auch, um zu prüfen. „Ich nehme mir gleich das Wort“, sagte Fjodor Petrow, „und grundsätzlich, in Übereinstimmung auch mit Frau Tabele und den andern Konrats, muß ich zustimmen: Ja, Ihre Vermutung trifft zu, die Stabile
Gesellschaft hat ihren Höhepunkt überschritten. Wir Menschen sind ja, historisch gesehen, noch jung und haben wenig Erfahrung damit, wie die Etappen der klassenlosen Gesellschaft einander ablösen. Noch der Übergang von der Harmonisierung zur Stabilisierung war geprägt von der Überwindung der Vergangenheit, der letzten Übel der ehemaligen Klassengesellschaft also. Der nächste Übergang wird etwas ganz Neues für uns werden, daher die große Aufmerksamkeit, die wir Ihrem Brief schenken – wie allen ähnlichen Unternehmungen. Eins freilich wird sich wohl auch in Zukunft nicht ändern, ganz gewiß aber noch nicht bei diesem bevorstehenden Übergang: Auch er wird, wie alle Übergänge der Vergangenheit, letzten Endes von der Ökonomie bestimmt, also von der Art und Weise der materiellen Produktion und Reproduktion der Gesellschaft. Wie Sie wissen, ist die Voraussetzung für Stabilität, daß alle ökonomischen Kenngrößen, bei voller Variabilität im einzelnen, in ihrer Summe konstant bleiben. Da wir uns freier bewegen können als frühere Gesellschaftsformationen und -etappen, können wir das auch bestimmen. Alles können wir konstant halten – die Summe der Produkte und sonstigen Leistungen, die Reproduktionsprozesse innerhalb der Ökonomik, sogar die Bereitstellung an Arbeitsmöglichkeiten, nur eins nicht: die Produktivität der Arbeitskraft. Weil ihr Wachstum das Wachstum des Menschen selbst ist. Dies eigentlich von Anbeginn seiner Menschwerdung, aber erst recht auf einer gesellschaftlichen Stufe, wo die Arbeit zum wichtigsten Bedürfnis geworden ist. Dieses Bedürfnis wächst – jetzt noch vor allem qualitativ – mit dem Wachstum der Produktivität. Die Stabile Gesellschaft leitete bisher den Überschuß auf ideelle Produktion, vor allem auf Kunst und Kultur, die heute schon fünfzig Prozent der Arbeitskraft aufnehmen. Arbeit ist aber nur dann Arbeit, wenn sie gesellschaftlich notwendig ist. Sie haben selbst Beispiele dafür angeführt, daß es immer schwieriger wird, das Bedürfnis nach höherem Schöpfertum in der Arbeit zu befriedigen, und ich kann Ihnen aus dem Überblick, den ich als Konrat habe, bestätigen, daß das eine allgemeine Tendenz ist. Die Ökonomen rechnen damit, daß wir in einem halben Jahrhundert die Stabilität werden aufgeben müssen. Nur die Frage, was an deren Stelle zu setzen ist, kann die Ökonomie nicht oder noch nicht beantworten. Das sind eben die Probleme im Reich der Freiheit, um mit den Klassikern zu sprechen. Aber Soni Tabele hat auch einiges dazu zu sagen.“
„Der große Aufschwung der Lebenskultur in den letzten hundert Jahren“, erklärte Soni Tabele, „hat zunächst zur Stabilisierung und zur weiteren Ausprägung der nationalen und lokalen Kulturen geführt, wie das ja auch erwartet wurde. Aber unterhalb dieser vorherrschenden Tendenz gibt es eine andere, die anfangs nur zaghaft auftrat, im Lauf der Zeit kräftiger wurde und jetzt schon sehr stark wirkt. Sie bestimmt die Richtungen und Schulen, die bei aller äußeren Unterschiedlichkeit zwei Dinge gemeinsam haben: Sie schwingen sich auf von den nationalen und lokalen Kulturen, verleugnen sie nicht, sondern synthetisieren sie zu etwas Neuem, Menschheitlich-Ganzem – das ist das eine. Und das andere: Sie drängen. Stürmisches Drängen ist sozusagen ihr emotionaler Grundton. Man könnte sagen: Sie negieren schon die Stabilität. Sie führen mit den spezifischen Mitteln der Kunst einen Erkenntnisprozeß, der aus der Gegenwart in die Zukunft gerichtet ist. Sie kündigen – gerade weil sie sich um diese menschheitlich-ganze Sicht bemühen – einen Umbruch an. Und das auf eine für mich überzeugende Weise. Von dieser Seite her glaube ich nicht an die fünfzig Jahre, die die Ökonomen anführen. Ihr Brief kam genau zur richtigen Zeit. Und ich bin überzeugt, wenn Sie ihn nicht geschrieben hätten, dann hätte ihn jemand anders ein halbes Jahr später geschrieben, wenn auch vielleicht aus einem andern konkreten Grund oder mit einem anderen Gegenstand.“ Sie lächelte plötzlich. „Das enthebt uns freilich nicht der schweren Pflicht, genau zu prüfen, ob dieser Gegenstand nun auch das Richtige ist.“ „Ich muß die Schwierigkeit dieser Prüfung noch vergrößern“, sagte Wenzel. „Seit dem Schreiben des Briefes ist Zeit vergangen, und wir haben weitere Erfahrungen gemacht. Sie sind durchaus geeignet, die gesamte Problematik noch verschwommener erscheinen zu lassen.“ „Wunder darf man nicht erwarten“, sagte Fjodor Petrow, „und ein Wunder wäre es, wenn sich alles schnell und glatt klären würde.“ Er sah seine Kollegin fragend an, die nickte leicht. „Wir hatten ursprünglich vor, Ihnen mit Fragen aller Art zuzusetzen, die konkreten Dinge Ihres Briefes betreffend. Aber eigentlich könnten wir ja nur Ihre Überzeugtheit prüfen und nicht die Sache selbst. Sagen Sie also …“ „Warte, eine Frage möchte ich noch stellen“, unterbrach ihn Soni Tabele. „Wenn sich zum Beispiel für die Venus zehntausend Leute melden, jetzt in den nächsten Monaten – wie wollen Sie entscheiden, wer mitfliegen darf und wer nicht?“
Wenzel war etwas verblüfft, nach einem solchen Detail gefragt zu werden, merkte aber sofort, daß viel mehr dahinter steckte: Eigentlich traten sie in dem Augenblick, in dem die Konrats ihrem Antrag stattgeben würden, bereits aus der Stabilität hinaus. Und während er noch grübelte, antwortete statt seiner Pauline: „Das wissen wir noch nicht. Aber auf keinen Fall so wie in früheren Etappen, also mit Prüfungsmaschinen und Tauglichkeitsattesten.“ „Danke, das genügt mir“, antwortete Soni Tabele und nickte Fjodor Petrow zu. Der nahm wieder das Wort. „Sagen Sie mir also: Sind Sie so sehr von der Stimmigkeit Ihrer anderen Vermutungen überzeugt – nein, warten Sie, nicht überzeugt, sondern …im Innern durchdrungen, daß Sie bereit sind, Ihr eigenes Leben, Ihre ganzen fünf Jahrzehnte und“ – er verbeugte sich zu Pauline hin – „Ihre gesamten acht Jahrzehnte in den Dienst dieser Sache zu stellen, auch auf die Gefahr hin, daß Sie nicht normal wie ein Mensch dieses Zeitalters leben können, daß Sie vielleicht Kunst und Handwerk an den Rand Ihres Daseins drängen müssen, und all das, obwohl sich Ihre Vermutungen am Schluß doch als Irrtum herausstellen könnten?“ „Ja, das sind wir“, antwortete Wenzel, und Pauline nickte dazu. „Es scheint wohl doch so zu sein“, sagte Soni Tabele, und man spürte, dieser Gedanke war nicht im Augenblick geboren, sondern lange überlegt und hin und her gewendet worden. „Das Netz der Neuronen in unserm Gehirn hat sich immer enger verknüpft und dadurch eine immer größere Reichweite bekommen, und nun ist eine neue Qualität entstanden – es reicht so weit, daß sich Planeten darin fangen lassen. Übernehmen Sie bitte Gründung, Aufbau und Weiterentwicklung einer Perspektivkommission des Rates!“ Ein halbes Jahr später hatte die Erweiterung der Marsstation begonnen, und die der Venussiedlungen war für einen späteren Zeitpunkt bereits festgelegt. Und außerdem war die zweite Expedition zum Minos startbereit. Das Ereignis hatte Ruben als Leiter und Pauline, die zur Besatzung gehörte, noch einmal mit Wenzel und Sibylle zusammengeführt. Sie saßen in einem kleinen Klubraum in Gagarin, ein paar Stunden vor dem Start. Alles Wichtige war gesagt.
„Graust dir nicht vor der Weite da draußen?“ fragte Wenzel Pauline, halb im Scherz, aber die nahm die Frage ernst. „Ja, nicht wahr, seltsam“, sagte sie, „nie aus dem Vorwerk herausgekommen, und nun … Für mich ist der Mensch wichtig, nicht die Umstände.“ Sie drückte sich an Ruben, und dann scherzte sie doch: „Außerdem ist es auf dem Schiff eng genug!“ „Hoffentlich“, sagte Ruben zu Sibylle, „sind die Bläschen handhabbarer, wenn wir zurückkommen!“ Den Abflug sahen Wenzel und Sibylle am Fernseher. Eine Weile lang rührte sich keiner von beiden. Dann stand Sibylle auf, nahm das ATTACKE-Gerät heraus, das Wenzel seinerzeit aus Berlin mitgebracht hatte, und setzte es ihm auf den Kopf. „Vorsichtshalber“, sagte sie. „Denn du mußt doch jetzt wohl sehr glücklich sein.“ Wenzel setzte das Gerät wieder ab. „Das bin ich schon lange“, sagte er.