Königs Erläuterungen und Materialien Band 484
Erläuterungen zu
Christoph Hein
In seiner frühen Kindheit ein Garten v...
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Königs Erläuterungen und Materialien Band 484
Erläuterungen zu
Christoph Hein
In seiner frühen Kindheit ein Garten von Rüdiger Bernhardt
Über den Autor dieser Erläuterung: Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt lehrte neuere und neueste deutsche sowie skandinavische Literatur an Universitäten des In- und Auslandes. Er veröffentlichte u. a. Monografien zu Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und Peter Hille, gab die Werke Ibsens, Peter Hilles, Hermann Conradis und anderer sowie zahlreiche Schulbücher heraus. Von 1994 bis 2008 war er Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee. 1999 wurde er in die Leibniz-Sozietät gewählt.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt oder gespeichert und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
1. Auflage 2010 ISBN: 978-3-8044-1889-9 © 2010 by Bange Verlag GmbH, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten! Titelabbildung: Christoph Hein, Foto [verfremdet] © Isolde Ohlbaum Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
2
Inhalt
Vorwort ........................................................................
5
1. 1.1 1.2 1.3
Christoph Hein: Leben und Werk ............................. 8 Biografie ........................................................................ 8 Zeitgeschichtlicher Hintergrund .................................... 15 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken ... 25
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Textanalyse und -interpretation ................................ Entstehung und Quellen ................................................ Inhaltsangabe ................................................................ Aufbau .......................................................................... Zeitangaben ................................................................... Zwei besondere Kapitel ................................................. Staatsauffassungen ........................................................ Zahlensymbolik ............................................................. Personenkonstellationen und Charakteristiken .............. Richard Zurek ............................................................... Friederike Zurek ............................................................ Oliver Zurek und Christin, geb. Zurek ........................... Heiner Zurek ................................................................. Konstantin ..................................................................... Feuchtenberger . ............................................................ Katharina Blumenschläger ............................................. Kobelius ........................................................................ Sachliche und sprachliche Erläuterungen ...................... Stil und Sprache . ........................................................... Interpretationsansätze ...................................................
29 29 37 64 65 68 71 71 75 75 76 77 78 79 79 80 81 82 100 108
3. Themen und Aufgaben .............................................. 115 4. Rezeptionsgeschichte . ................................................ 117 5. Materialien .................................................................. 122
Literatur ...................................................................... 127
(Zitiert durch nachgestellte Seitenangaben wird nach: Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2006 [suhrkamp taschenbuch 3773]. Die Ausgabe ist seitenidentisch mit der Hardcoverausgabe im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2005.)
3
4
Vorwort
Vorwort Christoph Hein gehört zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. Jedes seiner Bücher ist dank einer außergewöhnlich konsequenten Geistes- und Schreibhaltung des Autors, einer eingreifenden und engagierten Absicht, ästhetischer Disziplin und philosophischer Grundlegung ein literarisches Ereignis. Der Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) sucht die Beziehung zu mehreren sozialphilosophischen Entwürfen aus Staatsund Menschenrecht, aber auch, neben anderen literarischen Werken, zu Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1810) und Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974). Nicht nur Namensähnlichkeiten sind vorhanden – aus Bölls Katharina Blum wurde Heins Katharina Blumenschläger –, sondern beide Werke beschreiben, wie ein Staat mit Recht und Gerechtigkeit, eine Demokratie mit dem Individuum umgeht. Damit ist das Anliegen von Heins Roman umrissen. Die Presse, die bei Heinrich Böll Rufmord an Katharina Blum betrieb, gibt es nach wie vor. Christoph Heins Richard Zurek erlebt sie in vollem Umfang und dokumentiert sie; die mediale Macht ist seit Böll noch beherrschender geworden. Heins Roman handelt von einem Vater, der nach dem Tod seines Sohnes die Wahrheit sucht und dabei auf den Umgang des Staates mit dem Gewaltmonopol und den demokratischen Rechten stößt. Hein nutzte dazu ein Ereignis, das sich in der Spätphase der RAF (Rote Armee Fraktion) zugetragen hat. Doch weder verteidigt noch verdammt der Schriftsteller in dem Roman die RAF; Abkürzung, Begriff und Umschreibungen werden im Roman nicht genannt. Auch Oliver Zurek kommt nicht zu Wort und kann so keine Erklärung dazu abgeben. Indessen muss man sich mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund beschäftigen, wenn das Panorama des Romans und sein Hauptthema, die Rechte der Demokratie im Verhältnis zum Persönlichkeitsrecht des Individuums, Vorwort
5
Vorwort erscheinen sollen: Die Zeit von 1970 bis 1998 ist – so der ehemalige Innenminister der Bundesrepublik (1978–82) Gerhart Baum – „ein komplexes und schwer vermittelbares Stück Zeitgeschichte, das unterschiedlichste Deutungen erfährt. Sie ist nach wie vor eine offene Wunde. Die alten politischen Schlachten sind nicht vergessen.“1 Christoph Hein ist, vor allem mit Der fremde Freund (1982), der Chronist von Deformationen2 geworden: War es vor 1989 die Deformation des Menschen durch die Zivilisation und die Deformation der Zivilisation selbst, die er dokumentierte, so lässt er in diesem Roman, der nach 1989 handelt, Richard Zurek nach Deformationen des demokratischen Lebens und Handelns fragen. Bisher thematisierte Hein das von ihm vor 1989 und um 1989 Er lebte, die Suche nach historischen Wahrheiten, die Landschaft der Kindheit, die Bildung in der DDR. Im Roman Landnahme (2004) stand das nach 1989 geführte Leben auf dem Prüfstand. Die Handlung In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) hat ihre Wurzeln in der alten Bundesrepublik. Hein rüttelt in seiner bedächtigen Art, aber beharrlich an den „offenen Wunden“ eines Staates und seiner Politik. Der Roman beschreibt unaufgeregt eine aufregende Handlung, den Kampf des Vaters unter Nutzung aller rechtlichen Möglichkeiten, und schafft damit einen ersten Spannungsbogen: Im Gegensatz zu dem erregenden Geschehen um den Tod des Oliver Zurek und die Verhaftung der Katharina Blumenschläger, analog zum Tod von Wolfgang Grams und der Verhaftung Birgit Hogefelds, vollzieht sich der Roman zu Beginn und über weite Strecken verhalten und leise. Man erkennt, dass Hein den bis heute widersprüchlich beschriebenen Vorgang von Bad Kleinen und den Tod Wolfgang Grams’ aus den Akten studiert hat; es wird auch deutlich, dass durch Reduktionen, Veränderungen und einen für Hein typischen „Untertext“ die Geschichte der „frei“ erfun1 2
6
Gerhart Baum: Es war kein Krieg. In: DIE ZEIT vom 18. September 2008, Nr. 39, S. 50 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Christoph Hein. Der fremde Freund. Drachenblut. Königs Erläuterungen und Materialien Bd. 439. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2006, S. 6 f.
Vorwort
Vorwort denen Personen – das sind die namentlich genannten, wie Hein nachdrücklich betont (4) – des Oliver Zurek und seiner Eltern entstanden ist. Leser und Kritik waren in ihren Urteilen über den Roman uneins. Einig war man sich nur darin, dass der Roman leicht zu lesen und einfach zu verstehen sei. Dabei hätte das bei Christoph Hein verdächtig sein müssen, denn zu dem Text des Romans ist ein Untertext vorhanden – wie oft in Heins Prosawerken –, der an schwierigste Begriffe gebunden wird und zu grundsätzlichen Fragen führt. Bereits der aufwändig formulierte Titel, der ein Zitat von Iris Murdoch variiert, aber auch stilistisch auffallend in der Kombination „Kindheit“, „Garten“ und dem Attribut „frühen“ ist, deutet die vordergründige Schlichtheit als fragile Erscheinung an. Der scheinbar einfache Roman erweist sich als ein anspruchsvoller Text, der unterschiedlichste Leseerwartungen erfüllt. Im folgenden Kommentar wird neben einer gründlichen Analyse auch der Untertext des Romans erschlossen.
Vorwort
7
1.1 Biografie
1. Christoph Hein: Leben und Werk 1.1 Biografie
8
Jahr
Ort
Ereignis
1944 1945 1956 1958
Heinzendorf/ Schlesien (heute: Jasienica, Polen) Bad Düben bei Leipzig Bad Düben Berlin
Am 8. April als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren. Nach Kriegsende Flucht nach Thüringen, dann Sachsen. Leben im Pfarrhaus.
1960
Berlin
1961
Berlin
1964 1966
Berlin (Ost) Berlin (Ost)
Alter
Junge Gemeinde. Nach Ablehnung des Besuchs der Oberschule in Berlin (Ost) Internatsschüler in einem humanistischen Gymnasium in Berlin (West). Die Familie zieht nach Berlin (Ost). Hein entscheidet sich am 13. August (Mauerbau), bei der Familie im Ostteil der Stadt zu bleiben. Der Schulabschluss wird dadurch vorerst verhindert. Arbeit als Montagearbeiter, Buchhändler, Journalist, Kellner; Regieassistent bei Benno Besson. Abitur an einer Abendschule. Heirat mit Christiane H., einer Dokumentarfilmerin; die Söhne Georg und Jakob werden 1966 und 1971 geboren. Versuche, Dramaturgie zu studieren, scheitern.
1 12 14
16 17
20 22
1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr
Ort
1967–71 Leipzig/ Berlin (Ost) 1971
Berlin (Ost)
1973–79 Berlin (Ost) 1974
Berlin (Ost)
1979
Berlin (Ost)
1980 1982
Berlin (Ost) Berlin (Ost)
1984
Berlin (West)
1985 1986 USA
3
Ereignis
Alter
Studium der Philosophie und Lo- 23–27 gik bis 1971 (ab 1970 in Berlin); Diplom im Fach Logik. 27 Assistent und Dramaturg an der Volksbühne. Autor an der Volksbühne (Ltg.: 29–35 Benno Besson). 30 25. 9. Uraufführung der Komödie Schlödel oder Was solls (Regie: Manfred Karge/Matthias Langhoff) und Vom hungrigen Hennecke (einaktiges Kinderspiel). 35 Freiberuflicher Schriftsteller; nach dem Benno Besson die Volks bühne verlassen hat, kündigt Hein. 36 Erste Buchpublikationen. 38 Eintritt in den Schriftstellerverband der DDR. Heinrich-MannPreis der Akademie der Künste, Laudator: Peter Hacks3. – Herbst: Der fremde Freund (Drachenblut). 40 Literaturpreis des Verbandes deutscher Kritiker. 41 Wahl in den PEN (DDR). 42 Vorträge an Universitäten zur Literatur der DDR. 17. November: Preis der Neuen Literarischen Gesellschaft Hamburg.
Peter Hacks: Heinrich-Mann-Preis 1982. Laudatio. In: neue deutsche literatur (ndl), Berlin 1982, Heft 6, S. 159 ff. – Hacks bezeichnete Hein als den „letzten Vertreter der schlesischen Schule“.
1. Christoph Hein: Leben und Werk
9
1.1 Biografie
10
Jahr
Ort
Ereignis
1987
Paris
Berlin (Ost)
1989
Kamenz
Essen
Berlin (Ost)
Schweich
Hamburg
Berlin (Ost)
1990
Berlin
Lesungen und Diskussionen über die Literatur der DDR. Rede Die Zensur ist überlebt auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR (24.–26. November). 21. Januar: Lessing-Preis der DDR. Sommersemester: Poetik-Dozentur am Lehrstuhl für Poetik der Folkwang-Schule. Veröffentlichung des Stücks Die Ritter der Tafelrunde, das als Prophetie des Untergangs der DDR verstanden wird. Uraufführung in Dresden am 24. März. 9. September: Stefan-AndresPreis. Hein gibt dem Spiegel ein Interview zu aktuellen Fragen (23. Oktober, Nr. 43), Heins Antworten werden in der Jungen Welt vom 3. November nachgedruckt. Arbeit in der Kommission zur Aufklärung staatlicher Gewalt am 40. Jahrestag der DDR. 4. Nov.: Rede auf dem Alexanderplatz zur Großdemonstration. 7. Januar: Rede zum 100. Geburtstag von Kurt Tucholsky.
Alter 43
45
46
1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr
Ort
Ereignis
Wien
Berlin
6. Mai: Erich-Fried-Preis. Der von Hein verehrte Kritiker und Literaturwissenschaftler Hans Mayer hält die Laudatio.4 Berufung in die Akademie der Künste (West) und die Akademie der Künste (Ost). 22. November: Wahl zum Vizepräsidenten der Erich-FriedGesellschaft. Mitglied der neuen Akademie der Künste. Von nun ab Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. LudwigMühlheim-Preis u. a. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Peter-Huchel-Preis; Bundesverdienstkreuz. 14.–16. Juni: Mitarbeit an einem Kunstbuch anlässlich von Gerhart Hauptmanns 50. Todestag. Peter-Weiss-Preis. 30. Oktober: Wahl zum Präsidenten des vereinigten deutschen PEN für zwei Jahre.
1991
1992
Berlin
Darmstadt
1994 1996
Hiddensee
1998
Bochum Dresden
4
Alter
47
48
50 52 54
Der hochgebildete und vielseitige Literaturwissenschaftler Hans Mayer war für Generationen von Germanisten ein wichtiger Lehrer. Er und Walter Benjamin, dem Hein in seinem Stück Passage ein Denkmal setzte, sind in Heins Denken Leitbilder.
1. Christoph Hein: Leben und Werk
11
1.1 Biografie
Jahr
Ort
1999
2000 Solothurn 2001 Leipzig
2002
Kassel
Wien
2004
5 6
12
Berlin
Alter
Ereignis Hein spricht sich mehrfach gegen den Krieg im Kosovo aus: „Er ist das Ergebnis einer falschen, einer gescheiterten Politik. Die NATO führt diesen Krieg ohne Mandat der UNO.“5 Wechsel vom Aufbau- zum Suhrkamp-Verlag. Solothurner Literaturpreis. Roman Willenbrock.6 9. Juni: „Keine Umarmung, kein Gezeter“. Rede zum Tod des Ehrenbürgers und Literaturwissenschaftlers Hans Mayer. Januar: Brüder-Grimm-Gastprofessur für drei Vorlesungen. Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur. Tod von Christiane Hein. Die Erschütterung führt zu zeitweisem Schweigen und zur Schreibblockade. Februar/März: Lesereise mit dem Roman Landnahme in Hamburg, München, Berlin, Frankfurt a. M., Wien, Leipzig und Dresden. Moderatoren u. a. Richard
55
56 57
58
60
Vgl. „Ein Territorium des Hasses“. Deutsche Schriftsteller äußern sich zum Nato-Bombardement. In: Der Spiegel, Hamburg 1999, Nr. 15, S. 262 Gemeinsam mit Das Napoleonspiel und Von allem Anfang an auch als „Trilogie der Wende“ bezeichnet. Vgl. Rüdiger Bernhardt: Beschreibung zerfallender Menschlichkeit. In: unsere zeit (Essen) Nr. 31, 4. August 2000, S. 9
1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr
Ort
Stuttgart
Berlin
2005
7
Ereignis von Weizsäcker, Peter Turrini und Jutta Limbach. Schiller-Gedächtnis-Preis des Landes Baden-Württemberg für das Gesamtwerk. Oktober: ver.di-Literaturpreis des Landesbezirks Berlin-Brandenburg für den Roman Landnahme. 8. Oktober: Hein soll ab 2006 Intendant des Deutschen Theaters (DT) werden. Hein sieht es als „Abenteuer und Chance“. Heftige Reaktionen des Feuilletons führen zu einem vor allem im Westen betriebenen Kesseltreiben gegen Hein, das er als „neue Apartheit“7 bezeichnet. In der Öffentlichkeit wird der Vorgang als Beispiel dafür gesehen, wie weit die innere Einheit noch nicht vorhanden ist. 29. Dezember: Hein verzichtet auf die Theaterintendanz wegen der „massiven Vorverurteilungen“ seiner Person und einem vergifteten, feindseligen Klima“. Am Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten scheiden sich erneut die Geister Ost und West.
Alter
61
Kunst ist, was man nicht kann. Ein Gespräch mit dem zukünftigen Intendanten des Deutschen Theaters Christoph Hein. In: Berliner Zeitung vom 11. Oktober 2004, Nr. 238, S. 27
1. Christoph Hein: Leben und Werk
13
1.1 Biografie
Jahr
Ort
Ereignis
Alter
Die Verfilmung des Romans Willenbrock wird zum Erfolg. 2006 Frankfurt a. M. Theaterstück nach dem Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten. 2008 Walter-Hasenclever-Literaturpreis. 2009 Berlin Hein lehnt in einem Offenen Brief8 die Teilnahme am Verfassungsjubiläum ab, da sein Platz nicht bei den „Ausgrenzern“, sondern bei den „Ausgegrenzten“ sei. Er spielte damit auf die Ausstellung 60 Jahre, 60 Werke an, die keine Werke aus Zeiten der DDR aufgenommen hatte. 2010 Wangen 26. September: Eichendorff-Literaturpreis.
8
14
62 64 65
66
Christoph Hein: Die Freiheit, die ich meine. In: der Freitag, Nr. 19, 7. Mai 2009, S. 13
1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Der Anlass des Romans ist auf den Tag Anlass des Romans genau zu bestimmen: Der Tod des Terroristen Wolfgang Grams und die Ereignisse in Bad Kleinen am Sonntag, dem 27. Juni 1993, lösten bei den Eltern des Toten juristische Bemühungen um die Wahrheitsfindung aus, die Christoph Hein nachhaltig beschäftigten. Die Handlung erinnert daran. Erstmals setzte Hein seine ChronistenChronistenrolle rolle für einen Vorgang ein, dessen Anfänge aus der Bundesrepublik vor 1989 stammten und der sich zwischen 1993 und 1998 zu einem der heikelsten Rechts- und Ermittlungsvorgänge in der Geschichte des Landes entwickelte, ohne auffällige Beziehungen zur politischen Wende von 1989 oder zur untergegangenen DDR zu haben. Der Roman wurde ein wesentlicher Beitrag des ostdeutschen Schriftstellers Christoph Heins in einer gesamtdeutschen Literaturlandschaft. Sigrid Löffler erklärte Heins Griff zu der Thematik damit, dass ein Chronist auch „nach dem Verschwinden der DDR reichlich unangenehme Tatbestände im Lande vor(findet), an denen er in aller Nüchternheit seiner Berichtspflicht genügen kann. Staatliches Unrecht gedieh drüben; es gedeiht auch hüben.“9 Die Geschichte der RAF von 1968 bis zur dritten Generation der RAF, die Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld repräsentieren, hat in Umrissen Bedeutung; „… die tatsächlichen Vorgänge laufen nur im Hintergrund wie in einem Film ab“10. Die Bemühungen des Vaters von Wolfgang Grams, gerichtlich Klarheit über den Tod seines Sohnes zu erkämpfen, fanden ihr Ende am 5. Oktober 1999: Der Europäische Gerichtshof in Straßburg lehnte die Beschwerde der Eltern von Wolfgang Grams ab und entschied, es lägen keine Menschenrechtsverletzungen vor. Zuvor hatte 1998 der Vorsitzende 9 Löffler, S. 37 10 Brief Christoph Heins an den Autor dieser Erläuterung vom 14. Januar 2010
1. Christoph Hein: Leben und Werk
15
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Richter Heinz Sonnenberger – bei Hein heißt er bemerkenswerterweise Talmon-Bach (vgl. S. 98 der vorliegenden Erläuterung) – die Zivilklage der Eltern vor dem Landgericht Bonn auf Erstattung der Beerdigungskosten abgelehnt, aber in der Urteilsbegründung erklärt: „Wir bewegen uns im Dunkeln … wir kommen nicht zu einem erwiesenen Selbstmord und nicht zu einer erwiesenen Fremdtötung.“11 (Vgl. dazu auch S. 260 des Romans.) Damit waren die Umstände, die zum Tod von Wolfgang Grams geführt hatten, wieder offen und die offiziellen Erklärungen, Grams habe Selbstmord verübt, hinfällig.12 Der zeitgeschichtliche Hintergrund wird von drei historischen Abschnitten in unterschiedlicher Intensität geprägt. Einmal ist an die Geschichte der „Roten Armee FraktiGeschichte der „Roten Armee on“ (RAF) zu erinnern. Zwar spielt sie im Fraktion“ (RAF) Roman keine Rolle, aber die politischen Ziele Oliver Zureks und Katharina Blumenschlägers werden durch einen Lektürekanon erkennbar, der eine programmatische Grundlage für den politischen Kampf ist. – Die Literatur über die RAF im Allgemeinen und die zu Wolfgang Grams im Besonderen ist umfangreich13 und nur schwer überschaubar. Für den hier beabsichtigten Zweck wurde umfangreiches Material zur Kenntnis genommen, einiges davon ging in diesen Abriss ein. Letztlich aber wurden Aufsätze von Gerhart Baum14 aus der ZEIT, flankiert von mehreren Aufsätzen aus dem gleichen Anlass in der ZEIT, und 11 Wolfgang Höbel: Kohlhaas in Bad Kleinen. In: Der Spiegel Nr. 4 vom 24. Januar 2005, S. 170 12 Daran änderte auch die Darstellung von Butz Peters nichts, der die Selbstmordvariante zu beweisen versucht: Der letzte Mythos der RAF. Das Desaster von Bad Kleinen. Berlin: Ullstein, 2006. Auch nach dieser Darstellung bleiben die Vorgänge umstritten. 13 Vgl. dazu: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus. 2 Bände. Hamburg: Hamburger Edition, 2006, Willi Winkler: Die Geschichte der RAF. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008 und ID-Archiv im IISG (Internationales Institut für Sozialgeschichte/Amsterdam): Bad Kleinen und die Erschießung von Wolfgang Grams. Berlin und Amsterdam: ID-Verlag, 1994. Online-Ausgabe unter http://www.nadir.org/nadir/archiv/Repression/bad_kleinen/, Volltext als PDF unter http://syntheti.cc/badkleinen/pdf/BadKleinen.pdf (Abrufdatum März 2010) 14 Gerhart Baum: Dämonisierung des Terrors. In: DIE ZEIT vom 15. März 2007, Nr. 12, S. 52 und Gerhart Baum: Es war kein Krieg. In: DIE ZEIT vom 18. September 2008, Nr. 39, S. 49.
16
1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Jutta Ditfurths Biografie Ulrike Meinhof15 favorisiert, da Baum als Innenminister der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1978 und 1982 den Staat zu vertreten hatte und die intellektuelle Ausrichtung Ulrike Meinhofs der ähnlich ist, die Hein seinem Oliver Zurek gegeben hat. Die RAF wurde 1970 von Andreas Baa1970–1998 der, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u. a. in der Bundesrepublik Deutschland gegründet, 1998 erklärte sie ihre Selbstauflösung. Sie war eine linksextremistische, nach dem eigenen Verständnis antiimperialistische Vereinigung, die den „bewaffneten Kampf“ gegen das „imperialistische System“ führen wollte, und entstand aus dem Protest gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. Das politische Vorbild war die Stadtguerilla südamerikanischer Prägung. Aktuell war sie eine Reaktion auf den Schahbesuch in Berlin (2. Juni 1967), den Tod von Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke, um zeitgenössische Anlässe zu nennen, die sich mit einer politisierten Atmosphäre im öffentlichen Leben verbanden und sich mit dem Aufbrechen der frühzeitig erstarrten und weitgehend beendeten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt hatte, vereinigten. Die Existenz der RAF begann am 14. Mai 1970 mit ihrer ersten Befreiung Andreas Baaders Aktion: der Befreiung Andreas Baaders (1943–1977), der nach Brandstiftungen 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern, gesetzt als Zeichen gegen den Vietnam-Krieg, verurteilt worden war, sich der Haft allerdings entzog und erst am 4. April 1970 festgenommen werden konnte. Ulrike Meinhof (1934–1976) befreite ihn mithilfe weiterer Verbündeter. Meinhof war eine intelligente und angesehene Journalistin, die wesentlich für die politische Programmatik der RAF verantwortlich war. Im Sommer 1970 hielt sich die Spitze der RAF, unter ihnen Baader und Meinhof, in einem Lager der Fatah in Jordanien zur militäri15 Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Ullstein Taschenbuch Nr. 37249, Berlin: Ullstein Buchverlage, 2009
1. Christoph Hein: Leben und Werk
17
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund schen Ausbildung auf. 1971 veröffentlichte die RAF das Strategiepapier und Manifest Das Konzept StadtManifest guerilla. Kampfmethoden waren Morde, Das Konzept Stadtguerilla Banküberfälle und Sprengstoffanschläge; 34 Menschen – Bankiers, Staatsanwälte, Unternehmer, Polizisten, Fahrer und Hausfrauen – kamen insgesamt um16. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund gehörte die ab Mitte der 60er Jahre entstehende Studentenbewegung (sog. 68er-Bewegung) und die APO (außerparlamentarische Opposition), die sich u. a. gegen die Notstandsgesetzgebung, den Vietnamkrieg und die gesellschaftliche Verdrängung der Verbrechen unter Hitler durch die Elterngeneration wandten. Die Unfähigkeit der meisten Deutschen, „sich ernsthaft mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen“17, traf nicht nur auf Ulrike Meinhofs Verwandtschaft zu, sondern galt für die Mehrzahl der Bevölkerung. Problematisierungen der parlamentarischen Demokratie und der bürgerlichen Traditionen gingen parallel. Nicht nur für Ulrike Meinhof traf zu, für sie aber besonders, dass der politische Ausbruch und Aufbruch als Reaktion auf den mangelhaften Widerstand der Deutschen gegen den Nationalsozialismus, die ungenügende Aufarbeitung dieser Zeit und als Widerstand gegen die erneut autoritär agierende Herrschaftsschicht erschien. – International wurde diese Bewegung durch Bürgerrechtsbewegungen in den USA und den Protest gegen den Vietnamkrieg begleitet, national von der APO (außerparlamentarische Opposition). Im Juni 1972 wurden wichtige Mitglieder der RAF verhaftet, angeklagt und schließlich verurteilt. Mehrere führende Mitglieder der RAF starben durch Selbstmord im Hochsicherheitstrakt der JVA StuttTodesnacht von Stammheim gart-Stammheim, Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe am 18. Oktober 1977. 16 Ulrich Greiner: Klammheimliche Freude. In: DIE ZEIT vom 22. März 2007, Nr. 13, S. 3 17 Ditfurth, S. 89
18
1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Die Kampfmethoden und die Zusammensetzung der RAF änderten sich in den nachfolgenden Generatio2. Generation der RAF nen. Der Kopf der 2. Generation der RAF war Brigitte Mohnhaupt, die maßgeblich für den Deutschen Herbst verantwortlich war: Als Deutscher Herbst wird die Zeit September/ Oktober 1977 bezeichnet, in der es zahlreiche Anschläge der RAF gab; sie gilt als eine der schwersten Krisen der deutschen Nachkriegsgeschichte.18 Am 5. September 1977 wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Marin Schleyer entführt, um die inhaftierten RAFMitglieder freizupressen. Die Bundesregierung war jedoch nicht zum Gefangenenaustausch bereit, so dass die RAF als weiteres Druckmittel am 13. Oktober 1977 die Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch palästinensische Terroristen entführen ließ. Die GSG 9 stürmte am 18. Oktober in Mogadischu das Flugzeug und überwältigte die Terroristen; der Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe und die Ermordung Schleyers waren unmittelbare Reaktionen darauf. Am wenigsten ist bis heute über die 3. Generation der RAF 3. Generation bekannt, der Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld auf Kommandoebene zugeordnet werden. Etwa 20 Personen und 250 Unterstützer werden dazu gezählt. Der Plan sah vor, 1982 im Mai-Papier veröffentlicht, weniger Einzelaktionen wie Befreiungen durchzuführen, sondern mit anderen westeuropäischen Gruppen, wie den italienischen Roten Brigaten (Brigate Rosse) oder der französischen Action Directe, gemeinsame Aktionen zu planen. Beim Anschlag am 9. August 1985 auf die Rhein-Main Air Base fanden sich auf den Bekennerschreiben die Embleme der RAF und der Action Directe. Am 30. November 1989 wurde der Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen ermordet, am 1. April 1991 Detlev Karsten Rohwedder, der Präsident der Treuhandanstalt. 1992 kündigte die RAF an, Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat einzustellen. 18 Bereits am 7. April 1977 erschoss die RAF Generalbundesanwalt Siegfried Buback und am 30. Juli 1977 Jürgen Ponto, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank AG.
1. Christoph Hein: Leben und Werk
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1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Im März 1993 wurde die im Bau befindliche JVA Weiterstadt bei einem Sprengstoffanschlag zerstört; Grams und Hogefeld sollen daran beteiligt gewesen sein. Am 27. Juni 1993 kam es in Bad Kleinen zu einem Zugriff der GSG 9 auf Grams und Hogefeld, der völlig aus dem Ruder lief: Grams und ein GSG 9-Beamter starben. Die Umstände sind bis heute ungeklärt. Kurz darauf traten der Bundesinnenminister Seiters und der Generalbundesanwalt von Stahl zurück. Seither galt die RAF als weitgehend bedeutungslos; am 20. April 1998 erklärte sie ihre Selbst20. April 1998 Selbstauflösung auflösung. Doch ist die Geschichte der RAF damit nicht beendet: Während die ersten Mitglieder nach langjährigen Haftstrafen aus dem Gefängnis entlassen wurden, z. B. 2007 Brigitte Mohnhaupt, wird nach sieben ihrer Mitglieder nach wie vor gefahndet; acht Morde sind nicht aufgeklärt. Erst 2001 – inzwischen hatte sich die Kriminaltechnik revolutioniert – wurde anhand einer DNA-Analyse ermittelt, dass Wolfgang Grams bei der Ermordung Detlev Karsten Rohwedders 1991, des Chefs der Deutschen Treuhand, anwesend gewesen sein könnte. Die Justiz bezeichnete ihn jedoch nicht als Tatverdächtigen. Dass die RAF nicht so bedeutungslos war, wie es Journalisten gern möchten19, wurde während ihrer Existenz deutlich: Jeder Vierte unter 30 Jahren antwortete 1971 auf die Frage „Baader-Meinhof: Verbrecher oder Helden?“, er habe „gewisse Sympathien“20, „die Anziehungskraft der RAF in bestimmten Kreisen beruhte nicht allein auf der Tatsache, dass Gewalt ausgeübt wurde, sondern auf der Kombination von Gewalt mit politischen Zielen“21. Allensbach stellte ein „schwieriges sozialpsychologisches Klima für die Fahndung der Polizei“22 fest. 19 Hans-Martin Lohmann: Lasst die Toten endlich ruhen! In: DIE ZEIT vom 25. Januar 2007, Nr. 5, S. 55: „… niemand, der seinen Verstand beieinander hatte, machte sich irgendwelche Illusionen über den durch und durch kriminellen Charakter der Gruppe um Meinhof, Ensslin und Baader.“ 20 Ditfurth, S. 316 21 Gerhart Baum: Dämonisierung des Terrors. In: DIE ZEIT vom 15. März 2007, Nr. 12, S. 52 22 Zit. bei Ditfurth, S. 316
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1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Die vorsichtige Bereitschaft zur Anerkennung und die Zahl der Sympathisanten haben viele Ursachen. Sie finden sich in veränderungswürdigen Vorgängen wie Umverteilung des Geldes von unten nach oben, sinnlos erscheinende und opferreiche Kriege usw. Aber sie liegen auch in der Todesbereitschaft der RAF und ihrer Verachtung gegenüber kleinbürgerlichen Lebensvorstellungen. Sie inszenierten sich endlich auch als Märtyrer des von ihnen bekämpften Systems und erreichten damit Langzeitwirkung, nicht zuletzt in Kunst und Literatur. Der Versuch Jan Philipp Reemtsmas, die politischen Ziele der RAF zu bestreiten und sie als „Größenwahn, Machtgier und Lust an der Gewalttat“23 zu definieren, die Taten der RAF als Folge psychischer Dispositionen zu erklären, ging als wichtiger Beitrag in die Diskussionen ein, wie ein Aufsatz Felix Ensslins, des Sohnes des RAF-Mitglieds Gudrun Ensslin24, zeigt, fand aber auch viele Kritiker. Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, verwies auf die Ergebnisse der Terrorismusforschung Ergebnisse der und erklärte unter Berufung auf den SoTerrorismusforschung ziologen Peter Waldmann, „dass terroristische Gruppen in der Regel nicht isoliert auftreten, sondern im Kontext breiterer Protestbewegungen, … am Rande von radikalen Massenbewegungen“25. Diese Massenbewegungen entstünden, „wenn bestimmte politische Forderungen einer Bevölkerungsgruppe über längere Zeit unerfüllt bleiben“26. Die RAF beschäftigt die Menschen bis in die Gegenwart; ratlos stehen Journalisten vor der Tatsache, dass die RAF nicht mehr existiert, aber im sozialen und ästhetischen Bewusstsein der Gesellschaft eine Rolle spielt. „Zahlreiche künstlerische Deutungsversuche künstlerische Deutungsversuche entstanden in der Literatur, im Theater, in der Musik und bildenden 23 24 25 26
Jan Philipp Reemtsma: Lust an Gewalt. In: DIE ZEIT vom 8. März 2007, Nr. 11, S. 46 Felix Ensslin: Die doppelte Verdrängung. In: DIE ZEIT vom 22. März 2007, Nr. 13, S. 5 Gerhart Baum: Dämonisierung des Terrors. In: DIE ZEIT vom 15. März 2007, Nr. 12, S. 52 Ebd.
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1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund Kunst.“27 Gerhart Baum führte dafür mehrere Filme an; Beispiele vom Beginn und aus der Spätzeit stehen stellvertretend dafür: Margarethe von Trottas Film Die bleierne Zeit (1981) wurde durch die Heroisierungen berühmt; Andres Veiel zeichnete in seinem Film-Doppelporträt Black Box BRD (2001) die Lebensläufe des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams und des RAF-Opfers und Bankmanagers Alfred Herrhausen nach. Dazu erschien ein gleichnamiges Buch mit zahlreichen Dokumenten, auch Briefen von Grams. – Ein eigenständiger Komplex bildete sich um Stefan Austs Buch Der Baader-Meinhof-Komplex (1985, erweitert und aktualisiert: 1997, vollständig überarbeitete Neuausgabe 2008), das zum Standardwerk über den Gegenstand avancierte und von Uli Edel unter dem gleichen Titel 2008 verfilmt wurde. – Im Januar 2005 wurde in Berlin eine RAF-Ausstellung eröffnet, die unter dem Titel „Mythos RAF“ laufen sollte, aber nach heftigen Protesten und viel Streit mit dem Titel aufwartete: Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF Ausstellung. Über die Exponate waren die Besucher unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Meinung: Sie reichten von den Urteilen „läppisch“ (Henryk M. Broder) bis zur Wertschätzung der Bilder als prägnant, einfach, verständlich, wie das Vorwort (Klaus Biesenbach) zum Katalog der Ausstellung mitteilt. Aber der Streit um Titel, Finanzierung, Ort, Dauer und Anliegen machte deutlich, wie aktuell und gegenwärtig die RAF war und ist. Gerhart Baum, der als Schirmherr wirkte, verteidigte die Ausstellung in mehreren Interviews und sah ihre Berechtigung darin, dass die Frage, wie ein Rechtsstaat auf terroristische Herausforderungen reagiere, mehr als aktuell sei. In der Literatur wandte sich Erich Fried Schriftsteller über die RAF gegen „die neue Barbarei, die Ulrike [Meinhof, R. B.] zu Tode gehetzt hat“28; zur RAF und einzelnen Mitgliedern äußerte sich Hans Magnus Enzensberger. Alfred Anderschs provozierendes Gedicht Artikel 3(3) beschrieb den zeitge27 Gerhart Baum: Es war kein Krieg. In: DIE ZEIT vom 18. September 2008, Nr. 39, S. 49 f. 28 Zit. bei Ditfurth, S. 448
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1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund nössischen Hintergrund. Offenkundige Bedeutung hatten für Christoph Hein Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974), mit ihren zahlreichen Bearbeitungen als Hör- und Fernsehspiel, Oper und Schauspiel, und Bölls Essay Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?29, in dem er „freies Geleit“ für Ulrike Meinhof und „einen öffentlichen Prozess“ forderte (1972). Er löste damals eine gewaltige Kampagne aus, die „Terroristenwahn und Intellektuellenhetze in der Bundesrepublik massiv verschärfte und dennoch notwendig war“30. Bölls Herangehen an das Thema hat Ähnlichkeit mit Christoph Heins Herangehen in seinem Roman – der erste Schriftsteller aus dem Osten Deutschlands, der sich eines Themas im Umkreis des Terrorismus annahm – sieht man vom lehrstückhaften Umgang mit Terror bei Heiner Müller (Mauser u. a.) ab. Heinrich Bölls teils aggressives Vorgehen gegen Springer und die BILD-Zeitung in diesem Zusammenhang war nicht die Folge von Sympathie für die Baader-Meinhof-Gruppe, sondern das nachhaltige Bekenntnis zum Rechtsstaat und gegen jede Vorverurteilung bzw. Hetzkampagne gerichtet. Ebenso war Heins Beschreibung des juristischen Kampfes um Wahrheit nicht eine Ehrenrettung des Wolfgang Grams oder gar der RAF, sondern die Probe, wie sich der Rechtsstaat in einer schwierigen und widersprüchlichen Situation verhält. Insofern steht Heins Roman der Erzählung Bölls näher, in der ebenfalls von RAF keine Rede ist, als den Liedern über Wolfgang Grams von der Punk-Band WIZO, der Punk-Band Dritte Wahl und der Band Slime, die ausnahmslos mit direkten Hinweisen auf die RAF und Wolfgang Grams arbeiteten. Auch Wolfgang Schorlaus Kriminalroman Die blaue Liste (2003)31, der 29 Heinrich Böll: Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit? In: Der Spiegel, Nr. 3, 10. Januar 1972, S. 54–57 30 Heinrich Vormweg: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000, S. 324 31 Wolfgang Schorlau: Die blaue Liste. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003. Schorlau führt drei ungeklärte Fälle, den Tod von Grams, von Rohwedder und einen Flugzeugabsturz, auf gemeinsame Ursachen zurück.
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1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund unter anderem auch den Widersprüchen beim Tod von Wolfgang Grams nachgeht, versucht sich als andere Möglichkeit der Neuordnung nach 1989 – eine Verwicklung von Verschwörung, Geheimdienstaktivitäten und kapitalistischen Umtrieben –, nicht aber als Frage nach Recht und Gerechtigkeit.
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1. Christoph Hein: Leben und Werk
1.3 Angaben und Erläuterungen zu den Werken
1.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken In diesem Kapitel wird auf Werke Heins eingegangen, die im Zusammenhang mit In seiner frühen Kindheit ein Garten betrachtet werden können. Cromwell (Ein Schauspiel, 1977 als unCromwell verkäufliches Manuskript vervielfältigt) musste sein „Spiel machen“ und hat sie dabei „alle reingelegt“.32 Aber die Gestalter von Geschichte werden am Ende abgeschafft, die Revolutionäre gehen in radikalen Brüchen unter. Das Stück – „weder eine Historie noch eine Parabel“33 – erinnert daran, wie die frühbürgerliche Revolution, die zum Vorbild für spätere Revolutionen wird, ihre Ziele mehr und mehr aus dem Blick verliert und zum Zerrbild des Entwurfs wird: „Das Land war zu schwach. Es taugt nichts. Eine Kanaille, die nur gelauert hat auf das Missglücken meiner Arbeit.“34 Brechungen – moderne Waffen wie Maschinengewehre und Institutionen wie „Oberste Heeresleitung“, Begriffe wie „journalistische Übertreibung“ und „Vertiko“, aber auch nachgestellte aktuelle Situationen, Verweise auf lateinamerikanische Vorgänge („Compañeros“) und revolutionäre Erfahrungen der Personen – weisen die Aktualität des historischen Vorgangs aus und enthistorisieren ihn zum übergreifenden Beispiel missglückten Fortschritts. Der neuere (glücklichere) Kohlhaas. Bericht Der neuere (glücklichere) Kohlüber einen Rechtshandel aus den Jahren haas. Bericht über einen Rechts1972/73 im Band Einladung zum Lever handel aus den Jahren 1972/73 Bourgeois (1980) beschreibt, wie der Buchhalter Hubert K. in einer volkseigenen Stuhlfabrik der DDR einen Rechtsstreit durch alle Instanzen führt: Ihm wurden von ei32 Christoph Hein: Cromwell und andere Stücke. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1981, S. 16 33 Interview mit Christoph Hein. In: Theater der Zeit, Berlin 1978, Heft 7, S. 51 (Erstveröffentlichung des Cromwell). 34 Christoph Hein: Cromwell und andere Stücke. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1981, S. 84
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1.3 Angaben und Erläuterungen zu den Werken ner Prämie 40,– Mark einbehalten, da er einige Tage wegen Krankheit nicht arbeiten konnte. Nachdem seine Klage mehrfach unbegründet zurückgewiesen oder abschlägig beschieden worden war, bekam er auf der obersten Ebene sein Recht, verlor jedoch durch Scheidung seine Familie und wurde einsam. Durch die Namensgebung „Konstantin“ stellt Hein eine Beziehung zwischen diesem Text und dem Roman her (vgl. S. 86 der vorliegenden Erläuterung). Horns Ende (Roman, 1985) beschreibt, Horns Ende wie Horn die von ihm erlebte Demokratie zu erweitern versucht, aber scheitert. Der Roman spielt in Guldenberg, die fiktive Kleinstadt wird erstmals genannt (Bad Guldenberg); sie dürfte der Stadt G. im Fremden Freund (1982) entsprechen und ist auch Handlungsort späterer Romane wie Landnahme (2004). Horns Ende und der Roman Landnahme verhalten sich zueinander wie Anliegen und Zurücknahme: Hatte Horn versucht, die Demokratie zu erweitern – er scheiterte –, so macht Haber nach 1989 die Demokratie zum Karneval und siegt. Die Landnahme der neuen Großbürger ist geglückt und vollendet. Demokratie funktioniert in beiden Fällen nicht in der erstrebenswerten Form. Beide Romane korrespondieren in dieser Auseinandersetzung mit In seiner frühen Kindheit ein Garten. So war es kaum ein Zufall, dass 2006 Armin Petras im Frankfurter Schauspiel eine Doppelinszenierung auf die Bühne brachte, die Horns Ende und In seiner frühen Kindheit ein Garten vereinigte. „Ich hielte gern Friede und Ruhe, aber der „Ich hielte gern Friede und Narr will nicht.“ Über Politik und IntellekRuhe, aber der Narr will nicht.“ tuelle. Essay (1996) Als einzige und mögÜber Politik und Intellektuelle liche Haltung für den Intellektuellen in der Gesellschaft wird „Distanz“ angenommen. Nur dann kann der Intellektuelle seine Aufgabe erfüllen: „Er hat zu betrachten und zu analysieren, das schließt Haltung und Verantwortung ein, und er muss vermelden, was er erfuhr. Er hat rücksichtslos zu berichten,
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1.3 Angaben und Erläuterungen zu den Werken das ist eigentlich schon alles.“35 Dabei ist er verpflichtet, „seine Wahrheit notfalls auch gegen den Geschichtsverlauf auszusprechen“36. Der Essay hat eine direkte Parallele zu dem Roman Im frühen Garten seiner Kindheit ein Garten, indem ein dort verwendetes Zitat Catos (246), das durch einen ihn umgebenden Dialog besonders akzentuiert wird, hier ebenfalls verwendet wird (vgl. S. 96 f. der vorliegenden Erläuterung). Von den unabdingbaren Voraussetzungen Von den unabdingbaren Vorausbeim Kleist-Lesen (1998/99): Hein hielt setzungen beim Kleist-Lesen diese Rede zur Eröffnung der 8. KleistFesttage in Frankfurt/Oder am 16. Oktober 1998. Es geht ihm besonders um Kleists Kohlhaas. Wir, so sagte er, „bewundern … sein Rechtsgefühl, erfreuen uns an seiner Rache und bemühen uns, die Bewunderung für den Selbsthelfer unseren Kindern zu vermitteln“37. Daraus leitete er die Frage ab, wie sich Rechtsgefühl und Verbrechen zueinander verhalten, und kam zu der aktuellen Feststellung, dass ein Rechtsstaat Unrecht nicht verhindern kann, „der Rechtsstaat zeichnet sich nur dadurch aus, dass er post festum das geschehene Unrecht zu sühnen sucht“38. Bei der Überlegung, Kleists Kohlhaas als Vorbild abzulehnen, könnte sich Hein auf Luther und Goethe berufen: Luther forderte Kohlhaas zum Nachgeben auf, Goethe sah in Kohlhaas einen Hypochonder. Aber die Deutschen – so fuhr Hein fort – folgten nicht dieser Überlegung, sondern gingen noch einen Schritt weiter und machten Georg Büchner, „nach dem seinerzeit als Mitglied einer kriminellen Vereinigung in Deutschland gefahndet wurde“39, zum Namensgeber einer der höchsten Auszeichnungen, dem GeorgBüchner-Preis, dabei sei er Mitglied einer Vereinigung gewesen, „die sich nach heutigem Sprachgebrauch als Armeefraktion be35 Christoph Hein: Aber der Narr will nicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 129 36 Ebd., S. 132 37 Christoph Hein: Von den unabdingbaren Voraussetzungen beim Kleist-Lesen. In: Ders.: Aber der Narr will nicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 120 38 Ebd., S. 121 39 Ebd., S. 122
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1.3 Angaben und Erläuterungen zu den Werken zeichnen würde“40. Spätestens hier wird in der Begrifflichkeit von „Armeefraktion“ erkennbar, dass der tatsächliche Ausgangspunkt der Kleist-Rede nicht Kleists Der Prinz von Homburg und Kohlhaas waren, sondern die Ereignisse in Bad Kleinen 1993 und der Tod von Wolfgang Grams. Rechte und Pflichten sieht Hein eingeschränkt und begrenzt durch das Eigentum; daraus leitet sich die Begründung für ein Handeln nach dem Beispiel Kohlhaas‘ ab. Rhetorisch schließt er mit der Frage, ob man sich nicht Luthers Rechtsgefühl anschließen sollte, der Kohlhaas zur Aufgabe aufforderte, und ob man den Hypochonder Kohlhaas nicht „aus unserer Gesellschaft verweisen“41 sollte. Als Antwort ist diese Überlegung nicht gedacht, sondern die Antwort ergibt sich aus der kritischen Selbstprüfung „bei einem unverstellten Blick auf uns und das, was wir tun“42. Diese Selbstprüfung wurde sechs Jahre später Thema des Romans In seiner frühen Kindheit ein Garten.
40 Ebd., S. 123 41 Ebd., S. 126 42 Ebd.
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1. Christoph Hein: Leben und Werk
2.1 Entstehung und Quellen
2. Textanalyse und -interpretation 2.1 Entstehung und Quellen Vergleiche dazu auch Kapitel 1.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund! Christoph Hein hat öfters beschrieben, wie er zu seinen Stoffen kam. Am treffendsten liest sich das im Umfeld seines Stückes Cromwell: „Das Thema eines Schriftstellers ist viel mehr bestimmt von seinen inneren (subjektiven) und äußeren (gesellschaftlichen) Befindlichkeiten, wozu vorrangig der Konsens mit der Zeit Konsens mit der Zeit zu zählen ist. Man hat die Möglichkeit, sich diesen Bedingungen zu stellen oder zu entziehen: zu wählen ist wenig.“43 Das trifft auf diesen Roman, dessen Entstehung bis zum Einsatz der GSG 9 am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen zurückreicht und eine umfangreiche Vorarbeit umfasst, vollständig zu. 1994 sprach Hein in der Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse über seine Sensibilität für Recht und Rechtsstaat sowie den Einfluss der Literatur auf diese Beziehung:
„Wir haben einen Sinn für das Dilemma entwickelt, den scheinbar unlösbaren Widerspruch eines Rechtsstaates, der kein Recht verschaffen kann. Wir haben – noch bevor wir selbst es erfahren mussten – aus der Literatur gelernt, dass Rechtsstaat und fehlende Gerechtigkeit durchaus einen Reim machen und dass der, der gegen diesen Missklang angeht, der sich damit nicht zufrieden geben will oder kann, der die Gerechtigkeit auch in einem und gegen einen Rechtsstaat durchzusetzen sucht, bald zum Räuber und Mörder wird.“44
Hein spielte auf das ihn lebenslang begleitende Thema des Michael Kohlhaas
Thema des Michael Kohlhaas
43 Christoph Hein: Anmerkungen zu ‚Cromwell‘. In: Ders.: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1987, S. 116 44 Christoph Hein: Prägungen. In: Ders.: Aber der Narr will nicht. Essais. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 32
2. Textanalyse und -interpretation
29
2.1 Entstehung und Quellen an, das auch für den Roman eine Quelle ist. Ereignis und literarisches Beispiel durchdrangen einander und wurden so gleichermaßen Quellen. Für Richard Zurek stehe Kohlhaas
„im Hintergrund, das ist schon ein sehr deutscher Charakter. Ich befürchte, wir Deutschen haben alle etwas von Kohlhaas, von diesem ‚fiat justitia‘ – Möge die Gerechtigkeit siegen, auch wenn man selbst, der Besitz, die Familie oder die Welt darüber zugrunde geht. Dieses Rechthaberische ist ja auch ein fataler Zug, der ist dem Kohlhaas eigen und meinem Zurek auch ein bisschen.“45
Christoph Hein war von dem Ereignis in Bad Kleinen 1993 nicht nur erschüttert, sondern verfolgte die Aufarbeitung des Vorfalls aufmerksam. Seiner Meinung nach musste der Rechtsstaat an der Aufklärung interessiert sein. Er las 1996 „ein halbes Jahr die Akten der verschiedenen Prozesse“46. Allerdings fand er keine Möglichkeit, mit den bisher bei ihm üblichen Mitteln der chronikalischen Dokumentation den Vorfall zu bewältigen. Das Ergebnis der Beschäftigung mit den Akten war schließEssay nach dem Studium der lich der Essay Von den unabdingbaren VoGrams-Akten raussetzungen beim Kleist-Lesen, in dem Hein die Klage der Familie des Wolfgang Grams gegen den Staat mit dem Kohlhaas-Thema verknüpfte:
„Noch in der Klage der Eltern von Wolfgang Grams, der als Terrorist gesucht wurde und in Bad Kleinen ums Leben kam, ist ein Echo auf diesen Kohlhaas auszumachen. Sie verklagten den Staat auf Erstattung der Bestattungskosten, weil sie rechtlich keine andere Möglichkeit hatten, die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes zu ermitteln und gerichtlich feststellen zu lassen.“47
45 Hametner, Michael: Christoph Hein im Gespräch. In seiner frühen Kindheit ein Garten. Interview für MDR FIGARO am 18. März 2005, www.mdr.de/mdr-figaro/literatur/1862027-hintergrund-6267160.html (Abrufdatum März 2010) 46 Brief Christoph Heins an den Autor vom 14. Januar 2010 47 Christoph Hein: Von den unabdingbaren Voraussetzungen beim Kleist-Lesen. In: Ders.: Aber der Narr will nicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 124
30
2. Textanalyse und -interpretation
2.1 Entstehung und Quellen Doch brachte ihm dieser Essay nicht die erhoffte Ruhe – „der Vorfall beschäftigte mich doch sehr“48. Er fand eine Lösung, die eine Variation seiner bisherigen Schreibmethode darstellte: „Keine Dokumentation, die Personen wurden frei erfunden, die tatsächlichen Vorgänge laufen nur im Hintergrund wie in einem Film ab.“49 Was in dem Kleist-Essay den originalen Sachverhalt betraf und mit den wirklichen Namen verbunden wurde, übertrug Hein in die Fiktion des Romans. Der Titel des Romans korrespondiert mit einem Satz Iris Murdochs aus Der Schwarze Prinz; dieser Satz wurde dem Roman vorangestellt (6). Auch der Name „Christin“, so heißt Zureks Tochter, Olivers Schwester, steht in Murdochs Roman: Es ist die Ex-Frau der Hauptgestalt. Garten und Kindheit sind Voraussetzungen für Glück. In der Erinnerung werden sie zur Idylle gesteigert, „damals in unserem kleinen Haus mit dem Gärtchen“ (178). Für die tote Hauptgestalt wird ein Glück der Kindheit nachgezeichnet, das irgendwann zerstört wurde. Die Presse, die in Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) den Rufmord betrieb, gibt es nach wie vor; die mediale Macht ist seither umfassender geworden. Heinrich Bölls Roman Billard um halb zehn (1959) ist in Formfragen wiederzufinden. Noch vor Beginn der Handlung überFiktion und Realität rascht der Hinweis des Autors, dass „namentlich genannte Personen des Romans … frei erfunden“ (4) seien. Damit wird eine Beziehung zwischen den Familienmitgliedern Zurek im Roman und denen der Familie Grams in der Realität ausgeklammert. Das entspricht Heins Hinweis, dass die Personen frei erfunden worden seien. Aber es wird gleichzeitig signalisiert, dass namentlich nicht genannte, aber durch ihre Funktionen beschriebene Personen – zum Beispiel der „Minister“ (26) – realen Personen entsprechen, das heißt, die Verantwortlichen für die Aufarbeitung der Dokumente sind erschließbar und auch die „wie in 48 Brief Christoph Heins an den Autor vom 14. Januar 2010 49 Ebd.
2. Textanalyse und -interpretation
31
2.1 Entstehung und Quellen einem Film“ ablaufenden Hintergrundereignisse des Terrorismus bzw. der RAF wurden nicht frei erfunden, sondern sind dokumentarisch belegbar. Es handelt sich, auch durch den Hinweis auf Bad Kleinen signalisiert, um den Tod von Wolfgang Grams50, dem RAF-Mitglied der dritten Generation. Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld Polizeieinsatz in Bad Kleinen wurden durch einen V-Mann des Verfassungsschutzes, Klaus Steinmetz, in eine Falle geführt. Am 27. Juni 1993 kam es auf dem Bahnhof Bad Kleinen „zu einer chaotischen Fahndungsaktion“51 mit einem Schusswechsel zwischen gesuchten RAF-Mitgliedern und Beamten der GSG 9. Birgit Hogefeld wurde festgenommen, Wolfgang Grams so schwer getroffen, dass er wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Der Polizeibeamte Michael Newrzella starb ebenfalls an Schussverletzungen. Danach verbreitete sich die Darstellung, Grams sei, getroffen und wehrlos auf den Gleisen liegend, von einem der Polizeibeamten durch einen aufgesetzten Kopfschuss geradezu hingerichtet worden, um den Kollegen zu rächen. Eine kaum überschaubare Desinformationspolitik folgte. Die Staatsanwaltschaft Schwerin erklärte schließlich 1994 den Tod mit Selbstmord in aussichtsloser Lage. Grams habe sich „selbst getötet, durch einen Kopfschuss im Rückwärtsfallen auf das Bahngleis“52. Birgit Hogefeld wurde 1956 in WiesbaBirgit Hogefeld den geboren. Ihre politische Arbeit begann sie in legalen Gruppen, ehe sie sich der RAF anschloss. Sie wurde lange gesucht, ohne dass es genaue Beweise für ihre Beteiligung an Terrorakten gab. Schließlich wurde sie mit Grams 1993 durch den V-Mann den Beamten des Grenzschutzes zugespielt. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und in Frankfurt am Main inhaftiert. 50 Zusammenfassende Darstellung in „Zurückgeblättert“, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 27. 06. 2005 51 Löffler, S. 38 52 Ebd.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.1 Entstehung und Quellen Wolfgang Werner „Gaks“ Grams wurde Wolfgang Grams 1953 in Wiesbaden geboren. Er hatte einen Bruder, Rainer Grams, seine Eltern waren Flüchtlinge aus dem Osten. Er war musikalisch begabt, arbeitete als Statist am Theater und wollte Förster oder Pastor werden. Die Erfahrungen des Vietnamkrieges veranlassten ihn zur Verweigerung des Militärdienstes. 1973 engagierte er sich für die inhaftierten Mitglieder der RAF, 1978 wurde er verhaftet und saß in Untersuchungshaft, für die er anschließend entschädigt wurde. Mit Birgit Hogefeld bezog er eine gemeinsame Wohnung. Sie schlossen sich der RAF an und gingen 1984 in den Untergrund. 1987 wurde nach beiden über die Tagesschau der ARD gesucht. 1990 traf sich Grams ein letztes Mal mit seinen Eltern im Taunus. Nach dem Tod Grams’ klagten sich die Eltern erfolglos durch alle Instanzen bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Das Schicksal von Wolfgang Grams regte seine Eltern zum Handeln an. Je undurchsichtiger die Informationen wurden, desto entschiedener kämpften sie um Klarheit und wurden durch die sich häufenden Zweifel zunehmend motiviert. – Diese Grauzone von Verdacht und Vermutung, aber ohne Beweise bot dem Romancier Hein Gelegenheit, sich des Vorfalls anzunehmen und an diesem Beispiel, wobei er die Biografie Oliver Zureks im Vergleich zur Grams’schen um 3 ½ Jahre verkürzte, das Verhalten der eingesetzten Beamten wie ihrer Vorgesetzten und der Justiz im Umgang mit dem Ereignis darzustellen. Zunehmend interessant wurden die Ereignisse dadurch, dass der reale Vorfall zum Medienereignis und zum Regierungsskandal wurde, ausgelöst durch sich häufende Pannen, Falschinformationen und vernachlässigte Aussagen von Augenzeugen. „Beweismaterial wurde unterdrückt oder vernichtet, Videoaufnahmen verschwanden.“53 Heins Oliver Zurek wurde 1956 geboren. Er hat eine Schwester und einen Bruder; sein Vater stammt aus Kassel, war Soldat im 53 Löffler, S. 38
2. Textanalyse und -interpretation
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2.1 Entstehung und Quellen Zweiten Weltkrieg und in Gefangenschaft. Oliver wollte Tierarzt werden, brach aber das Studium ab und arbeitete als Tischler und Maurer, auch als Restaurator (267). Christoph Hein nahm während des Hein – Eltern Grams‘ Schreibens „bewusst“54 keinen Kontakt zu der Familie Grams auf, um sich nicht in der Fiktionalität der Handlung beeinflussen zu lassen. Erst nach Abschluss der Arbeit, aber noch vor dem Erscheinen des Romans hat er der Familie Grams das Manuskript über ihren Anwalt übermittelt. Die Eltern antworteten ihm, über den Inhalt teilte Hein nichts mit. Da es ihm nicht um die Geschichte der RAF ging, führte er keine Gespräche mit RAF-Angehörigen. Oliver Zureks Vater nimmt den Kampf gegen die Behörden wie ein Kohlhaas auf, um Gerechtigkeit für den Sohn zu erreichen. Er setzt dabei alles aufs Spiel, auch die eigene Existenz als Pensionär, ohne allerdings zu den nichtjuristischen Mitteln eines Kohlhaas zu greifen. Das erinnert an das berühmte Beispiel, distanziert sich aber auch in der Gestalt Richard Zureks von ihm: Michael Kohlhaas ist eine der geistigen Quellen des Romans. Dem Kaufmann Michael Kohlhaas (eigentlich: Hans Michael Kohlhaas Kohlhase)55 aus Kölln an der Spree, der alten Partnerstadt zu Berlin, wurden auf der Reise zur Leipziger Messe am 1. Oktober 1532 an der sächsischen Grenze durch junkerliche Willkür zwei Pferde beschlagnahmt. Kohlhaas, der als ein Muster der Rechtschaffenheit galt, ging den Rechtsweg, wurde aber abgewiesen, worauf er zur Selbstjustiz griff und sein Recht mit Gewalt durchzusetzen versuchte. Vorgeschlagene Einigungen scheiterten, weil Kohlhaas die Entschädigung verweigert wurde. Kohlhaas’ Selbstjustiz schlug in Raub, Brandstiftung und andere Verbrechen um. In Berlin schließlich gefangen genommen, erhielt er sein Recht: Zuerst bekam er seine Pferde wieder, dann wurde er 54 Brief Christoph Heins an den Autor vom 14. Januar 2010 55 Vgl. Kurt Neheimer: Der Mann, der Michael Kohlhaas wurde. Berlin: Buchverlag Der Morgen, 1979
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2. Textanalyse und -interpretation
2.1 Entstehung und Quellen hingerichtet. Das Geschehen diente oft als Beispiel dafür, wie ein rechtschaffener Mensch, der sich ausschließlich der Gesetze zu bedienen und in diesen zu leben versuchte, daran scheiterte und zum Verbrecher wurde. Das berühmteste literarische Zeugnis wurde Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas (1810). Der Name Kohlhaas wurde zum „Synonym für Zivilcourage und fanatisches Gerechtigkeitsstreben“56. Der Hein’schen Grundhaltung entsprechend agiert Richard Zurek juristisch wie Kohlhaas, aber in der Fortsetzung nicht mit Gewalt wie Kohlhaas. Zurek sucht nur im Rahmen der Gesetze nach Gerechtigkeit und setzt damit seiner Suche Grenzen. Den Typ des gewalttätigen Kohlhaas vertritt nicht die literarische Figur Richard Zurek, die bis zuletzt in den Grenzen ihres Amtseides auf das Grundgesetz handelt. Zum gewaltbereiten Kohlhaas avanciert Zureks Freund Lutz Immenfeld. War Kohlhaas Rosshändler, so Immenfeld Fleischer; wie Kohlhaas durch Brandenburg und Sachsen als Händler zog, so Immenfeld, allerdings nunmehr Besitzer eines Großbetriebes, durch Hessen und Niedersachsen. Selbst die Namensbildung der beiden Figuren ist mit den tierischen-ländlichen Grundworten (Imme, d. i. „Biene“ – Haas, Kohl – Feld) ähnlich. Immenfeld will durch Gewalt, die außerhalb des Rechtes liegt, den Staat zwingen, „Recht zu sprechen, was er ohnehin tun sollte“ (187). Richard Zurek und Immenfeld Richard Zurek und Immenfeld verkörpern die zwei Seiten des Kohlhaas, verkörpern die zwei Seiten der sowohl konsequenter Vertreter des des Kohlhaas Rechts als auch – nachdem er mit der Berufung auf das Recht nichts erreichen konnte – Gesetzesbrecher wurde. Die Gesetze, in deren Grenzen sich Zurek bewegt, haben auch zu Desinformation, Beweismittelunterdrückung und Falschaussagen geführt. Da Zurek die Gesetze nie in Frage stellt und nicht einmal ihre Grenzen überschreitet, verkennt er auch die Ziele der RAF, 56 Ebd., S. 8
2. Textanalyse und -interpretation
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2.1 Entstehung und Quellen die er nicht für Terroristen hält, sondern für Träumer. Als Zurek sich vom Eid entbindet und damit auch die Grenzen der Gesetze zu überschreiten bereit ist, hat der Kampf sein Ende erreicht. Die Institutionen sind durchlaufen; die von Zurek geforderte Gerechtigkeit für den Sohn und Wahrheit über seinen Tod wird es nicht geben. Er erfährt nur, dass auch die von der Gegenseite verkündete Wahrheit nichts wert ist. Eine gewichtige Rolle spielt im Roman Rolle des Eides der Eid. Den Amtseid als Beamte haben abgelegt: der ehemalige Gymnasialdirektor Dr. Richard Zurek, der Gymnasialdirektor Kobelius, Oberstudienrätin Christin geb. Zurek und der erste Gutachter (Universitätsprofessor, 95). Sie alle schworen, „sich in den Dienst des Staates zu stellen und seine Gesetze zu wahren“ (46). Einen Eid anderer Art, verpflichtend gegenüber seinem Bruder, hat Heiner Zurek abgelegt, als er schwor, nicht an Olivers Kampf teilzunehmen, denn „einer muss bei den Eltern bleiben“ (48, vgl. auch 236 f). Richard Zurek hat insgesamt vier Eide geschworen: Zwei in der Kirche, die er „leicht einhalten kann“ (188), die Treue in der Ehe betreffend allerdings nicht eingehalten hat, den Eid in der Wehrmacht, der ihn lange „gequält“ (188) hat, und den Eid als Lehrer, der ihn nun am meisten belastet.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe
2.2 Inhaltsangabe Der Anlass des Romans bleibt erkennbar, aber unbestimmt: Nimmt man als Datum des Todes von Oliver Zurek den Todestag Wolfgang Grams‘ am 27. Juni 1993 an, beginnt der Roman 1998, fünf Jahre (vgl. z. B. 13, 17, 23, 248) nach dem Vorfall in Kleinen, wie Bad Kleinen im Roman heißt. Auf Olivers Tod wird ab dem 4. Kapitel zurückgeblendet; von hier aus führt die Handlung auf das Jahr 1998 zu. Der Roman endet am 23. Oktober 1998: Olivers Vater Richard Zurek nimmt in seiner ehemaligen Schule vor Schülern, Lehrern und dem Direktor seinen Beamteneid auf den Staat zurück und beendet seinen Kampf um die Wahrheit. Nirgends wird der 27. Juni 1993 definitiv genannt. Rückrechnungen von den im Roman gesicherten Angaben des Februars „1997“ (238, Kapitel 20) und des darauf „folgenden Jahres“ (254, Kapitel 22), woraus sich 1998 ergibt, und daraus ein Kapitel später der 23. Oktober 1998 (264–266) führen zu einem anderen tabellarischen Ablauf, der insgesamt aber auch nicht schlüssig ist. Die Zeitangaben stellen ein Problem des Romans dar. Sie sind unterschiedlich. Rechnerisch (Rückrechnung von Februar 1997) könnten sich die ersten drei Kapitel auch 1997 abspielen – auf Teile des Kapitels 20 und auf Kapitel 21, die in direkter Verbindung zu den ersten drei Kapiteln stehen, trifft das verwirrenderweise definitiv zu („Im Februar 1997“, 238, „Drei Monate später“, 248) –, dann müsste man als Todesjahr Olivers das Jahr 1992 annehmen. Da jedoch Hein ausdrücklich darauf hinweist, dass nur die „namentlich genannten Personen des Romans … frei erfunden“ (4) sind, ergibt sich aus der Angabe des Rücktritts des Innenministers (57; der damalige Innenminister Rudolf Seiters übernahm die politische Verantwortung für die Vorgänge in Bad Kleinen und trat am 4. Juli 1993 von seinem Amt
2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe
zurück) und der Entlassung des Generalbundesanwaltes (57; der damalige Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde am 6. Juli 1993 von der Justizministerin in den einstweiligen Ruhestand entlassen), beide namentlich im Roman nicht genannt, aber durch ihre Funktion präsent, wieder das Jahr 1993 als Todesjahr Olivers. Dafür spricht auch die Angabe der Wochentage [die Freitage 30. Juli (116) und 6. August („sieben Tage später“, 117)] nehmen Bezug auf das Jahr 1993, im Jahr 1992 handelte es sich um Donnerstage; ebenso trifft ein Freitag, der 23. Oktober (265), auf das Jahr 1998 zu. Für die Interpretation des Romans spielen die zeitlichen Unstimmigkeiten, die nicht aufzuheben sind, keine tragende Rolle. Ihre Ursache haben sie im literarischen Verfahren Christoph Heins. Es ging dem Schriftsteller nicht um den Polizeieinsatz der GSG 9 in Bad Kleinen, bei dem Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld festgenommen werden sollten, auch nicht um den Zusammenhang der Ereignisse mit der Geschichte der RAF und mit Terrorismus auf deutschem Boden, sondern um „die merkwürdige Aufarbeitung, die rechtsstaatlich schwer zu verkraftenden Prozesse“57 eines solchen Vorgangs. Christoph Hein ist ein genau arbeitender Schriftsteller; ihm „unterläuft“ so etwas nicht. Vielmehr folgt das dem Hinweis zu Beginn, „die Zeitanzeige war nicht genau“ (7). Was sich auf den Regulator bezieht, wird in dem mit zahlreichen Zeitangaben versehenen Roman ausgeweitet zum Hinweis auf die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion (Olivers Tod in Kleinen) und Wirklichkeit (Wolfgang Grams‘ Tod in Bad Kleinen); die Chronistenpflichten gegenüber dem historischen Vorgang und gegenüber dem fiktiven Beispiel geraten miteinander in Konflikt und lassen eine zeitliche „Grauzone“ entstehen, denn „eine Identität von Grams 57 Brief Christoph Heins an den Autor dieser Erläuterung vom 14. Januar 2010
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe
und Zurek war nicht beabsichtigt, sollte vermieden werden“58. In dieser Erläuterung wird das Jahr 1993 als Ausgangspunkt angenommen, hierauf bezieht sich dann auch die Inhaltsangabe. Allerdings wird an entsprechenden Stellen auf zeitliche Unstimmigkeiten hingewiesen, siehe hierzu besonders S. 42 f. und 61 dieser Erläuterung. Um dem Leser des Romans die zeitliche Abfolge zu erleichtern, die im Roman verschiedenen Handlungsebenen zugeordnet wurde, folgt eine Zeittafel, die Daten der Familie Zurek mit realen Ereignissen, die kursiv gesetzt sind, verbindet. Eine mögliche tabellarische Übersicht, geht man vom realen Datum von Bad Kleinen im Juni 1993 aus, ist: 1922 1926 1941–43/44 1943/44–47 1944 1948
1950
1953 1954
Januar: Geburt Richard Zureks in Kassel Geburt Friederikes, Zureks späterer Frau Vier Jahre Kriegsteilnahme Richard Zureks Drei Jahre Kriegsgefangenschaft Zureks Olympische Spiele fallen aus; Friederike war als Teilnehmerin vorgesehen. Studentenfasching in Frankfurt: Bekanntschaft zwischen Friederike, die eine Hebammenschule besucht, und Richard, der Lehramt für Deutsch, Latein und Physik studiert. Zurek nimmt seine Tätigkeit als Lehrer auf; Eheschließung Richard und Friederike Zurek; Einzug ins Reihenhaus mit dem „alten Garten“ (68); sie wohnen dort bis 1965. 6. März, Wiesbaden: Geburt von Wolfgang Grams Geburt von Christin Zurek
58 Brief Christoph Heins an den Autor dieser Erläuterung vom 2. März 2010
2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe 1956 1958 1970 1971 1973
1973
1975 1977
1978
1984
1984
1985
23. Oktober: Geburt von Oliver Zurek Geburt von Heiner Zurek Dr. Richard Zurek wird Direktor des Gymnasiums. Pfarrer Alarich konfirmiert Oliver. Zurek führt das Gymnasium wieder zu altem Glanz zurück; er hat 19 Monate lang ein Verhältnis mit Susanne Parlitzke. Grams schließt sich der „Sozialistischen Hilfe Wiesbaden“ an, die inhaftierten RAF-Mitgliedern während eines Hungerstreiks hilft. Oliver erlebt Polizeieinsätze: „… dann knüppelten sie auf alles ein“ (225). Deutscher Herbst59: Im September und Oktober finden mehrere Anschläge der RAF statt; der Freitod der inhaftierten führenden Mitglieder der RAF und die Ermordung Schleyers ist das Ende der sogenannten „Offensive 77“. Verhaftung Wolfgang Grams’: 153 Tage in Untersuchungshaft; nach der Entlassung erhält er vom deutschen Staat Haftentschädigung. Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld gehen in den Untergrund, nachdem sie sich dem aktiven Kreis der RAF angeschlossen haben. Verhaftung Oliver Zureks aufgrund einer Denunziation, der unschuldig ein halbes Jahr in Untersuchungshaft sitzt (220). Mai: Oliver verabschiedet sich von seinen Eltern und geht in den Untergrund (221).
59 Der Begriff „Deutscher Herbst“ leitet sich vom Film Deutschland im Herbst (1978; Regie: Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Alexander Kluge und andere), eine Collage mehrerer Dokumentarfilme, ab.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe 1987 1987 1990 1993
1993
1994
1995
Richard Zurek geht zwei Monate früher als vorgesehen in Pension. Urlaub der Zureks in Mooskopf (147), Fahndung nach Oliver Hausdurchsuchung bei Zureks (71) Zweite Handlungsebene des Romans: 27. Juni: Oliver Zurek stirbt in Kleinen. Sein Tod wird von den offiziellen Stellen unterschiedlich begründet. Am 6. August, einem Freitag (116 f.), wird Oliver beerdigt. Sonntag, 27. Juni: Wolfgang Grams stirbt unter ungeklärten Umständen in Bad Kleinen, ebenso der Beamte Michael Newrzella. Januar: Einstellung des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft, Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft März: Abschlussbericht der Bundesregierung – Oliver habe sich selbst getötet. Juni: Zurek schreibt die ersten Briefe an den zurückgetretenen Innenminister und den entlassenen Generalbundesanwalt. Ende August: Brief Katharina Blumenschlägers an die Zureks September: Die Beschwerde der Zureks gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens liegt ausgearbeitet vor. Oktober: Besuch Lutz Immenfelds bei Zureks Heiligabend: Besuch Heiner Zureks bei seinen Eltern Ende Januar: Richard Zurek feiert seinen Geburtstag . Mitte Februar: Prozess gegen Katharina Blumenschläger
2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe
1996
1997
1998
1998
42
Beschwerde der Zureks gegen den Einstellungsbescheid wird abgelehnt, ebenso ihre anschließende Verfassungsbeschwerde. Darauffolgende Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wird ebenfalls zurückgewiesen (228 f.) Ende Mai: Krankenhausaufenthalt Friederike Zureks 6. bis 27. Juni: Urlaub der Zureks auf Amrum 29. März: Klageerzwingungsverfahren der Eltern von Grams als unbegründet verworfen. 17. Juli: Bundesverfassungsgericht nimmt Beschwerde der Eltern nicht an. November: Birgit Hogefeld wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Februar: Katharina Blumenschläger zu lebenslänglicher Haft verurteilt. September: Klage der Zureks auf Übernahme der Beerdigungskosten September: Zivilklage der Eltern Grams‘ auf Übernahme der Beerdigungskosten abgewiesen. In ihrer Urteilsbegründung stellen die Richter fest, dass es weder für eine Fremdtötung noch für einen Selbstmord von Grams überzeugende Beweise gebe. Damit widersprechen sie der Darstellung der Bundesregierung in dem Klageverfahren, die einen Selbstmord Grams‘ für erwiesen hält. Erste Handlungsebene des Romans im 1.–3. und 21.–23. Kapitel, fünf Jahre nach dem Tod Oliver Zureks
2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe
1999
Die zeitliche „Grauzone“ im Roman wirkt sich nun am deutlichsten aus, fiktive und reale Handlung überlagern sich und geraten zeitlich gesehen in einen unlösbaren Widerspruch und einen unvereinbaren Gegensatz, die nur zum Teil zu bewältigen sind. Auch wenn der Leser die Handlungen rigoros trennt und nun eine Handlung von 1993 bis 1998 dem historischen Vorgang belässt, der fiktiven Handlung aber einen anderen Ablauf zubilligt, der im September 1997 zur Klage gegen den Staat führt, die im August 1998 entschieden wird – Ablehnung der Klage, aber Teilsieg Zureks – und am 23. Oktober 1998 mit der Rücknahme des Amtseides endet, bleiben zeitliche Irritationen. Diese Irritation des Lesers bewirkt, dass für ihn die Identität von Wolfgang Grams und Oliver Zurek nochmals nachdrücklich zerstört wird. 23. Oktober: 42. Geburtstag Oliver Zureks (270 f.) 5. Oktober: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte weist die Beschwerde der Eltern von Grams als unbegründet zurück und bestätigt die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Schwerin.
Die Parallelität zwischen dem Tod von Oliver Zurek im Roman und dem Tod von Wolfgang Grams in der Realität lenkt, wie Rezensionen erkennen lassen60, den Blick trotz Heins Hinweis, keinen Roman zu diesen Themen geschrieben zu haben, und sei60 Rezensenten führender Zeitungen (Ijoma Mangold in der Süddeutschen Zeitung vom 15. März 2005; Hubert Spiegel in der F.A.Z. vom 5. Februar 2005, Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung vom 1. Februar 2005, Martin Lüdke in der Frankfurter Rundschau vom 29. Januar 2005) nahmen Heins Hinweis nicht ernst und betrachteten die Beziehung zwischen Roman und RAF als Ausgangspunkt ihrer Bewertungen, die durchweg negativ ausfielen. Vgl. dazu Kapitel 4 dieses Bandes, Rezeptionsgeschichte.
2. Textanalyse und -interpretation
43
2.2 Inhaltsangabe nen aufwändigen Bemühungen, die Identität zwischen Wolfgang Grams und Oliver Zurek zu vermeiden, auf RAF und Terrorismus. Beides waren nicht Christoph Heins Themen, aber sie werden berührt oder stellen sich im Zusammenhang mit der Lektüre ein. Christoph Hein erklärte: „Der Roman handelt nicht von der RAF und dem dt. Terrorismus; es geht um den Staat, um Rechtsstaatlichkeit. Und darüber, wie es den Angehörigen erging und ergeht bei diesem bunten Gemisch von Aufdecken und Verschleiern.“61 – Der Roman konzentriert sich – Ausnahme ist ein Rückblick vor 1993 – auf fünf Jahre des Lebens von Richard und Friederike Zurek zwischen 1993 und 1998 und beschreibt, wie der dem Staat treu ergebene, „das Grundgesetz und alle Gesetze des Landes“ (268) wahrende pensionierte Gymnasialdirektor Dr. Richard Zurek, der diese Treue mit dem „Amtseid eines Staatsangestellten“ (267) bestätigt hat, von diesem Staat und seinem Recht enttäuscht wird, da der Staat „seine eigenen Gesetze nicht wahrt“ (268), so dass er seine Staatstreue verliert und seinen Eid am Ende widerruft, um sich „nicht zu seinem Schurken machen“ (268) zu lassen. Erst danach fühlt er sich wieder als ein zufriedener Mensch und „unternehmungslustig“ (271). Vom vertrauensvollen Miteinander zwischen Bürger und Staat ist die Bürokratie geblieben; statt Lehrer oder Pfarrer ist man „Verwaltungsangestellte(r)“ (22) geworden und redet nicht mehr, wie vorgesehen und notwendig, mit den Menschen, sondern verwaltet „Archive“ und „Akten“ (22). Der Grund für den Sinneswandel des Dr. Zurek ist der Skandal, dass zwischen den offiziellen Mitteilungen und Berichten über den Tod seines Sohnes Oliver und den Zeugenaussagen große Widersprüche bestehen, die zum Rücktritt der dafür verantwortlichen hohen Beamten führen, aber trotzdem nicht offiziell zur Kenntnis genommen werden. 61 Brief Christoph Heins an den Autor vom 14. Januar 2010. Ähnlich hatte Hein schon am 18. März 2005 in MDR-Kultur, Figaro, erklärt, keinen RAF-Roman geschrieben zu haben (siehe Hametner, Michael: Christoph Hein im Gespräch. In seiner frühen Kindheit ein Garten. Interview für MDR FIGARO am 18. März 2005, www.mdr.de/mdr-figaro/literatur/1862027-hintergrund-6267160. html (Abrufdatum März 2010)
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe Der Roman beginnt an einem Sommerabend des Jahres 1998 (zu den Zeitunstimmigkeiten sei an dieser 1. Kapitel Stelle nochmals ausdrücklich auf die S. 37–39, 42 f. und 61 dieses Bandes verwiesen) in der Wohnung der Zureks in einer kleinen Stadt in der Nähe Wiesbadens und führt in ihr Milieu ein. Es ist von Geradlinigkeit, Ordnung und Seriosität bestimmt. Äußeres Zeichen ist der fast pedantische Umgang mit der Zeit, die täglich zu Beginn der Fernsehnachrichten korrigiert und präzisiert wird. Bereits nach dem ersten Absatz, der die Beschreibung bringt, wird eine Störung der Ordnung erkennbar: Richard Zurek hat an diesem Abend nicht die Uhr gestellt und wird auch nicht die Nachrichten hören; er ist nicht zu Hause. Der pensionierte Gymnasialdirektor Dr. Richard Zurek war Beamter, hat den Eid auf seinen Staat geleistet und ihn eingehalten. Er hat diejenigen, welche heute Gastwirt, Lehrer oder Untergrundkämpfer sind, erzogen. Als Untergrundkämpfer ist Zureks Sohn Oliver 1993 gestorben. Unklar ist, ob er sich selbst erschossen hat, ob er erschossen, geradezu hingerichtet wurde oder ob der Todesschuss ein Zufall war. Nichts anderes will Zurek seit fünf Jahren klären; er hat deshalb fünf Jahre lang die juristische Auseinandersetzung gesucht. Eine letzte Klage ist noch nicht in Angriff genommen worden. – Richard Zurek besucht seit langer Zeit wieder einmal sein Stammlokal, eine „Weingaststätte mit elsässischer Küche“ (9) und fragt den Gastwirtsohn Ronald Plöger, der mit seinem Sohn Oliver in die Klasse ging, was mit Oliver passiert sei, „wie ist es dazu gekommen?“ (12) Das 1. Kapitel schließt mit der Besorgnis Friederikes, weil ihr Mann dem Vorschlag seines Freundes Immenfeld folgen und den Staat verklagen will, so dass sie nie zur Ruhe kämen. Richard stimmt ihrer Befürchtung zu, ist aber nicht bereit, deshalb „einem Unschuldigen die letzte Ruhe zu verwehren“ (15). Aber nicht Lutz Immenfeld (15) – der Name erscheint erstmals und fällt dann lange Zeit nicht mehr (181 ff.) – entscheide, sondern sie beide selbst. Der Vorgang wird im 20. Kapitel aufgenommen (239 ff.). 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Im 2. Kapitel wird an einem Morgen beschrieben, wie sich Zureks Arbeitszimmer in den zurückliegenden fünf Jahren verändert hat: An die Stelle der Lehrbücher und Lexika traten nach und nach Ordner für den Briefwechsel mit Behörden, dem Rechtsanwalt Feuchtenberger, Pressemitteilungen usw. Das eigentliche Ereignis, um das es im Roman geht, bleibt immer noch im Ungewissen, ist das „Unerklärliche“ (17). Zurek nimmt andererseits seine gesellschaftlichen Pflichten, z. B. im protestantischen Gemeindekirchenrat, wahr. Der Gemeinderat hat vordergründig für die Handlung wenig Bedeutung. Für die Organisation des Romans bildet er andererseits ein wesentliches Element: Die ihn betreffenden Zeitangaben korrespondieren mit späteren Angaben (vgl. 180, 230) und stützen den chronologischen Ablauf der Handlung. Außerdem bildet der Gemeindekirchenrat eines der stabilen Kommunikationszentren Richard Zureks mit der Außenwelt (237). Die Bindung zeigt außerdem Zureks protestantische Haltung. – Der Gemeindekirchenrat unter der Leitung Pfarrer Härles, seit drei Jahren Geistlicher in dieser Pfarrei, beschäftigt sich, 14 Tage vor dem Erntedankfest, mit dem Umbau des neu errichteten Gemeindezentrums, weil dieses „fünf Monate nach der Einweihung“ durch „ein leichtes Erdbeben“ (20) beschädigt wurde. Zurek schreibt einen Brief an einen Minister, der im Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes zurückgetreten ist. Dem Anwalt Feuchtenberger hat er wegen der letzten noch möglichen Klage noch nicht geschrieben, drei Monate seien dazu noch Zeit, zuvor wolle er nach Kleinen fahren. Zu Zureks Überraschung möchte Friederike mitkommen. Im 3. Kapitel fahren die Zureks nach 3. Kapitel Kleinen, um erstmals den Todesort ihres Sohnes zu sehen. Die Begegnung mit dem trostlosen Bahnhof veranlasst Zurek, bei seinem Rechtsanwalt um einen Termin zu bitten. Er hat sich für die Klage gegen den Staat entschieden, denn „Oliver hat ein Recht darauf, mit Anstand und Würde beerdigt zu 2. Kapitel
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe werden“ (36). In Vorbereitung des Besuches beim Rechtsanwalt sieht Zurek nochmals alle Dokumente durch und erinnert sich ausführlich an das Kesseltreiben durch Presse und Fernsehen. Das 4. Kapitel beginnt mit der Rück4. Kapitel schau auf den Tod Olivers vor fünf Jahren; danach werden die Hintergründe langsam erhellt und die ersten Reaktionen der Eltern und Geschwister nach dem Tod Olivers erinnert und erzählt. Den ersten Meldungen zufolge hatte Oliver zusammen mit Katharina Blumenschläger und Bernd Emmerling, alle drei steckbrieflich gesuchte Terroristen, beim Polizeizugriff auf dem Bahnhof in Kleinen das Feuer eröffnet, bei dem ein Beamter ums Leben kam. Oliver sei so schwer angeschossen worden, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus starb, während die beiden anderen unverletzt festgenommen werden konnten. Christin, Olivers zwei Jahre ältere Schwester, bringt einen der Konflikte ins Gespräch: Ihr Eid auf den Staat, sie ist verbeamtete Oberstudienrätin in Hamburg, bringt sie in Widerspruch zu ihrem Bruder, einem „Terroristen und Polizistenmörder“ (46). Auf ihren Eid ist sie stolz und erwähnt ihn öfters (82). Auch der Bruder Heiner, zwei Jahre jünger als Oliver und Programmierer in einer Nürnberger Computerfirma, hat einen Eid geleistet, allerdings dem Bruder: Er musste schwören, sich nicht an Olivers Kampf zu beteiligen, damit sich einer um die Eltern kümmern könne, „wenn er untertaucht“ (48, vgl. auch 236 f.). – Nach Olivers Tod erscheinen seine Freunde bei den Eltern (48): Karin Gloedel und Gerd Schmückle, den der Leser als „Revoluzzer“ (25) kennt, bringen den Rechtsanwalt Feuchtenberger mit. Grund ihres Besuchs sind Widersprüche zwischen offiziellen Verlautbarungen und Informationen aus dem „Umfeld von Oliver“ (50), Gloedel glaubt an eine Ermordung Olivers. Zureks stimmen einer weiteren Obduktion Olivers zu.
2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Offiziell wird wenig später mitgeteilt, „die Befragung der Einsatzkräfte habe ergeben, dass der Terrorist einen der Polizisten erschossen habe und sich danach in aussichtsloser Lage nicht ergeben wollte, sondern selbst erschoss“ (56). Kurze Zeit später überrascht die Eltern die Mitteilung, dass Oliver nicht mit der eigenen Waffe erschossen worden sei. Auch eine Selbsttötung Olivers wird vom Rechtsmediziner, den die Staatsanwaltschaft beauftragt hat, ausgeschlossen, wie der Generalbundesanwalt der Presse mitteilt. Zudem sei der erschossene Beamte vermutlich Opfer einer verirrten Kugel aus der Waffe eines Kollegen. Nun verändert sich die Situation grundsätzlich: Zeugen wollen beobachtet haben, dass Oliver von Beamten des Bundesgrenzschutzes „geradezu exekutiert worden sei“ (56). Der Innenminister tritt zurück, der Generalbundesanwalt wird in den Ruhestand entlassen. Die Eltern Olivers sind erleichtert, dass ihr Sohn weder zum Selbstmörder noch zum Mörder geworden ist. „Demonstrationen der Trauer und des Zorns“ (58) finden statt; die Stimmung schlägt um und richtet sich gegen „Willkür und ungebändigte Maßlosigkeit der Polizei“ (59). Das 5. Kapitel knüpft direkt an das 5. Kapitel vierte an: Zureks Nachfolger, Direktor Kobelius, versucht nach diesen überraschenden Ereignissen den Vorgänger zu gewinnen, vor den Abiturientenklassen über die „Hinrichtung seines Sohnes“ (60) in Kleinen zu sprechen. Zurek erinnert sich an die Anfänge seiner Direktorentätigkeit Anfang der siebziger Jahre. Er wurde auf Weisung der vorgesetzten Behörde Direktor, da sein Vorgänger die Schule entsprechend dem „Zeitgeist“ (62) geleitet hatte. Dadurch war der Unterricht „einem diffusen Lustprinzip“ gewichen und Entscheidungen unterlagen „einem Verfahren, das man basisdemokratisch“ (62) nannte. Im Gegensatz dazu vertrat Zurek das Prinzip der Autorität und machte so in drei Jahren das Gymnasium wieder zu einer anerkannten Bildungseinrichtung. – In den folgenden Tagen gibt es immer wieder überraschende Mitteilungen, es geht unter anderem um eine in ihrer Existenz bestrittene verschwundene Videoaufzeichnung
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe des Polizeieinsatzes, die sich manipuliert wiederfindet, und um die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Einsatzbeamte wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung Olivers. Karin Gloedel bringt den Eltern Dokumente Olivers, darunter Briefe, Tagebücher und Zeichnungen, damit sie nicht bei ihr gefunden werden: Sie hat eine Besuchserlaubnis für Katharina Blumenschläger beantragt und wird damit ins Blickfeld der Fahnder geraten. Die zwölf Zeichnungen sind eine Bilddokumentation von Olivers Erinnerungen im Untergrund, darunter eine Zeichnung, die auf den Romantitel verweist: „ihr alter Garten, der Garten hinter dem Reihenhaus“ (68), in dem Oliver seine Kindheit verbracht hat, und eine „Landschaft in Algerien“ (69), die sich möglicherweise auf die Ausbildung in der RAF bezieht, aber auch idyllische Gegenden holländischer Art und den Drachenfels am Rhein. Allein durch die Zahl Zwölf bekommen die Bilder etwas Abgeschlossenes und Gültiges. Zureks erfahren bei dieser Gelegenheit, dass Katharina Blumenschläger Olivers Partnerin gewesen ist und beide, wenn sie „ein bürgerliches Leben geführt hätten“ (72), wohl verheiratet gewesen wären. Unter Olivers Briefen sind zwölf Liebesbriefe von Katharina Blumenschläger, „schlichte Liebesbriefe“ (74), in denen von einer „Zukunft“ gesprochen wird, in einem arabischen Land am Mittelmeer, von gemeinsamen Kindern. Bei der Durchsicht der Briefe an Oliver finden die Eltern den eines evangelischen Bischofs, der auf die Beziehungen zwischen Rechtsstaat, Unrecht, Recht und Gesetz eingeht und Oliver vor Alleingängen warnt. Er solle versuchen, nach „Recht und Gesetz“ (74) zu seinem Recht zu kommen, nachdem er unschuldig inhaftiert war. Wenn es aber auf diesem Weg keine Gerechtigkeit für ihn gebe, solle er um seiner selbst willen das Unrecht hinnehmen und nicht selbst Unrecht tun, was sein eigenes Unglück nur vergrößern werde. Die Nachrichten vermelden mittlerweile, dass es sich bei Bernd Emmerling um einen irrtümlich festgenommenen V-Mann des Verfassungsschutzes handele und dass sich die Bundesregierung hinter die Grenzschutzeinheit stelle. 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Das 6. Kapitel schließt zeitlich an und handelt an einem Samstag. Die Zureks erwarten ihre Tochter Chris6. Kapitel tin und den geliebten fünf Jahre alten Enkel Konstantin, der aber die Neigung seiner Großeltern nicht erwidert. (Sein Name findet sich in der früheren Erzählung Der neuere (glücklichere) Kohlhaas Christoph Heins.) Mit ihrem Schwiegersohn Matthias, einem Unternehmensberater in Hamburg, haben die Zureks „keine Gemeinsamkeiten“ (76). Entgegen der Ankündigung bleibt Christin nur kurz, um ihren Eltern ihre Meinung zu Oliver mitzuteilen: Während einige ihrer Schüler ihn inzwischen für einen Märtyrer halten („Opfer des Polizeistaates“, 77), werde sie als Schwester von den Journalisten bedrängt, halte im Übrigen Oliver für einen Mörder. Richard Zurek macht sich dagegen Selbstvorwürfe, bei der Erziehung seines Sohnes versagt zu haben, sucht nach der Schuld und findet sie in der irrationalen Überlegung, überlebt zu haben: „Die Überlebenden haben immer Unrecht.“ (80) Er vergleicht das mit den Überlebenden der KZs, die sich „schuldig gegenüber den Ermordeten“ (80) fühlten. In dem Gespräch zwischen Zurek und seiner Tochter wird der Hauptkonflikt im Ansatz erkennbar: Er besteht zwischen unterschiedlichen Staatsauffassungen, die das Recht des Menschen und sein Verhältnis zur Gewalt unterschiedlich erklären (78). Christin hat einen Eid auf den Staat abgelegt und ist bereit, ihn konsequent zu vertreten. Oliver aber führt gegen diesen Staat, „das Schweinesystem“ (83), seinen Kampf. Christin erweitert ihre Erklärung, die von der Verpflichtung auf den Staat handelt und damit eine Variante des Hauptkonfliktes aufzubauen beginnt: Wie lange und bis wohin darf der Eid auf den Staat die individuellen Entscheidungen bestimmen und wann erhalten diese einen Eigenwert? Christin hat Oliver zehn Briefe geschrieben, um mit ihm zu reden. Danach hat er angerufen und es kam zu einem letzten Gespräch, das ohne gegenseitige Verständigung verlief. Erinnernd wird die Bedeutung des „Gartens“ herausgestellt: Er war Ort des vertrauten Umgangs zwischen den Geschwistern und Oliver vergrub „fortwährend die
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe unmöglichsten Dinge“ (89). So bekam der Garten symbolische Bedeutung, denn Oliver glaubte, man könne alles vermehren, „wenn man es im Garten eingräbt“ (89). – Friederike Zurek warnt ihren Mann, es nicht mit der Tochter zu verderben; er müsse sich mit ihren gefühlskalten Reden über Oliver und dem ungeliebten Schwiegersohn, der außer Geld „kein Interesse“ (92) habe, abfinden, wenn er Christin nicht verlieren wolle. Im 7. Kapitel, am Abend des gleichen 7. Kapitel Tages, wird Oliver erneut offiziell der Tötung des Einsatzbeamten und der „Selbsttötung“ (93) mit seiner eigenen Waffe bezichtigt. Gutachten sind willkürlich austauschbar geworden, „ein Gutachten widerspricht dem anderen“ (108). Die Eltern Olivers sind entsetzt, der Bruder Heiner spricht von einem „staatlichen Komplott“ (94). Dass gegen zwei Beamte, die an der Aktion in Kleinen beteiligt waren, offiziell Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden (97), zeigt zunehmend die Unsicherheit der staatlichen Macht. Solidaritätsbekundungen unterstützen die Eltern und demonstrieren „die Verbundenheit mit einem von der Polizei erschossenen Verdächtigen“ (97). Zurek lehnt die Solidarität ab, beauftragt aber den Anwalt, „Strafanzeige gegen den Bundeskanzler zu erstatten“ (98), nicht in dessen Funktion als Kanzler, sondern als Bürger, der „wegen übler Nachrede“ (99) verklagt werde; er hatte Oliver öffentlich als Mörder bezeichnet (93). Die Zureks können sich diese erneut veränderte Situation nicht erklären und werden immer hilfloser. Christin empfiehlt telefonisch, zum Arzt zu gehen und zu verreisen. Der Sohn Heiner kommt mit Sigrid Erckmann, einer Kollegin, die in einem „Unterstützerkomitee“ (106) mitarbeitet, zu Besuch. Friederike Zurek trägt einmal mehr ihren Wunsch vor, von Heiner ein „Enkelkind“ (106) zu bekommen. – Durch die neue Lage sagt Zureks Nachfolger, der Direktor Kobelius, am Montag die Veranstaltung Zureks mit Abiturienten ab, da es kein „Versagen des Staates und seiner Organe“ (108) gegeben habe; Oliver sei ein Polizisten- und Selbstmörder. Zurek reagiert mit einer entschiedenen Ablehnung der 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Deutung und beschreibt Maßnahmen, die „eines Rechtsstaates unwürdig“ (108) sind. Kobelius beruft sich auf seinen Eid auf den Staat und erinnert auch Zurek an den seinen. Im 8. Kapitel, am Mittwoch danach, 8. Kapitel fährt Zurek zu seinem Rechtsanwalt Feuchtenberger nach Wiesbaden und erfährt von ihm, dass er zwei Studenten als Mandanten habe, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei, weil sie den Einsatz der Grenzpolizei in Kleinen mit „den mörderischen Unternehmungen der SS“ (111) gleichgesetzt hätten. Zurek lehnt Vergleiche dieser Art ebenso ab wie er es missbilligt, mit der erhobenen Faust gegrüßt zu werden. Er nutzt den Aufenthalt in Wiesbaden, um unerkannt einzukaufen. Die Informationen um Olivers Tod werden immer verworrener und führen zu absurden Äußerungen der Politiker (114). Zurek denkt erstmals darüber nach, sein Land nicht begriffen, die Schüler falsch erzogen und für eine Gesellschaft vorbereitet zu haben, „die lediglich in meinem Kopf existierte“ (114). Er sei deshalb „ein Idiot“ (114). Beim Sammeln der Artikel über Oliver und die Familie verbirgt er vor seiner Frau, was sie verstören und möglicherweise wieder zu einem Asthmaanfall führen würde. Am Freitag, dem 30. Juli 1993, wird Olivers Leiche zur Bestattung freigegeben, eine Woche später, am 6. August, wird er auf dem Matthäus-Friedhof beerdigt. Das 9. Kapitel setzt am Vorabend der 9. Kapitel Beerdigung ein: Christin kommt mit Mann und Kind zur Bestattung, die „in aller Stille erfolgen“ (119) soll. In der Ansprache hebt Pfarrer Alarich, der Oliver konfirmiert hatte, die „Wahrheitsliebe“ und „das ausgeprägte, unabdingbare Rechtsgefühl“ (120) Olivers hervor, den „die so gebrechliche und unvollkommene Welt unablässig beschäftigt hatte“ (120). Während die Familie alle politischen Äußerungen zum Tode Olivers vermeidet, grüßt ein junger Mann den Toten mit der „geballte(n) Faust“ (121) und redete von Rache. – Die Verwirrung über Olivers Tod durch Gutachten und Aussagen geht weiter, es verstärkt sich der
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe Eindruck, dass die Aussagen zunehmend manipuliert werden. Aber das Interesse der Journalisten erlischt allmählich. Das 10. Kapitel beginnt sieben Monate 10. Kapitel nach dem Tod Olivers. Das Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen Olivers Tod wird eingestellt, obwohl zahlreiche Widersprüche bestehen bleiben und die Staatsanwaltschaft an der Darstellung der beschuldigten Beamten zweifelt. Zurek liest den Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft bei dem Anwalt Feuchtenberger; beide kommen zu dem Ergebnis, dass die Einstellung des Verfahrens ungerechtfertigt sei, es spreche alles dafür, „Anklage gegen die beiden Beamten zu erheben“ (128). Auch vermutet der Anwalt, dass juristisch manipuliert wurde und die „staatlichen Gewalten“ (130) sich abgesprochen haben, aber er werde sich offiziell dazu nicht äußern, um seine „Zulassung als Anwalt“ (130) nicht zu verlieren. Sie einigen sich darauf, gegen den Einstellungsbescheid Beschwerde einzulegen, obwohl dies wenig aussichtsreich sei. Nach weiteren zwei Monaten erscheint der Abschlussbericht der Bundesregierung, der sich kaum von dem der Staatsanwaltschaft unterscheidet. Das Kapitel enthält die zentrale Frage des Romans, um die sich Zureks Mühen gruppieren („Wo leben wir eigentlich?“, 131) und für die Christoph Hein eine Antwort sucht. – Waren die vorigen Kapitel meist einzelnen Tagen gewidmet und folgten zeitlich dicht aufeinander, vergeht im 10. Kapitel ein Dreivierteljahr, denn es kommen zu den sieben und zwei Monaten nochmals einige Wochen hinzu, nach deren Verlauf gegen eine Zeitschrift ermittelt wird, die das Einsatzkommando in Kleinen „mit den mörderischen Todesschwadronen in Südamerika gleichgesetzt hatte“ (134). Im 11. Kapitel kehrt der Alltag zu den 11.Kapitel Zureks zurück; Oliver ist seit einem Jahr tot. Die Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens ist zurückgewiesen worden; Zurek hat den Endpunkt erreicht und kann den ungleichen Kampf nicht fortsetzen. Er beginnt, in den Büchern Olivers zu lesen. Es sind Standardschriften des revo2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe lutionären Denkens (Marx’ Das Kapital62, Che Guevara, Gramsci63); sie erscheinen Zurek wie Lyrik, „wunderbar. Erbaulich und schön wie die Korintherbriefe.“ (137) und wie die Bergpredigt. Am ersten Todestag Olivers schreibt Zurek an die beiden zurückgetretenen hohen Beamten, den Innenminister und den Generalbundesanwalt, um zu erfahren, was in Kleinen tatsächlich passiert ist. Man habe Oliver in einem „Dom der Lüge beigesetzt“, sie wollten ihn endlich „in der schlichten Erde unseres Friedhofs wissen“ (139). Er versichert, die Antworten nur für sich und seine Frau zu verwenden und niemandem zu zeigen. Als sie das Grab ihres Sohnes besuchen, liegt dort ein Spruchband mit Racheschwüren, das Zurek beseitigt. Rechtsanwalt Feuchtenberger hält die Briefaktion für sinnlos; Zurek schickt die Briefe dennoch ab. Beide Zureks beschließen, sich um eine Besuchserlaubnis bei Katharina Blumenschläger zu bemühen. Die Handlung hat ein vorläufiges Ende erreicht und kommt zum Stehen. Das 12. Kapitel steht in der Mitte des 12. Kapitel Romans; Kapitel an dieser herausgehobenen Stelle haben bei Hein oft eine besondere Bedeutung. Der Titel des Romans klingt zu Beginn des Kapitels an: „das Gras im Garten hinter dem Haus“ (145). Der Garten ist beiden Zureks Betätigungsfeld und der Garten ihres früheren Hauses war für Oliver ein wichtiger Ort. Dagegen hat der Enkel Konstantin solche Bindungen nicht entwickelt. Im 12. Kapitel wird das Erlebnis im Schwarzwald als eine Rückblende der Rückblende nachgetragen, auf das bereits hingewiesen, das aber nicht ausgeführt wurde (103): Es war ihre bisher letzte Urlaubsreise. Das Kapitel durchstößt die zeitliche Struktur des Romans und handelt als einziges vor dem Tod Oliver Zureks zu der Zeit, als er seit zwei Jahren untergetaucht war. 62 Ulrike Meinhof erbat sich in die Haft auch Marx’ Das Kapital, erhielt es aber nicht. Vgl. Ditfurth, S. 356 63 Noch kurz vor ihrem Tod diskutierte Ulrike Meinhof mit Jan-Carl Raspe „über Gramsci und Lenin und das Verhältnis von politischem Bewusstsein und revolutionärer Identität“ (Ditfurth, S. 433).
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe Die Zureks hatten sich 1987 – Richard Zurek ist zwei Monate vorzeitig in Pension gegangen – für zwei Wochen im Schwarzwald eingemietet und sahen sich dort mit Fahndungsfotos ihres Sohnes konfrontiert. Richard Zurek ließ sich von seiner Pensionswirtin ein Fahndungsplakat geben. Sie vermuteten, dass die Fahndung in dem Ort in direktem Zusammenhang mit ihrem Aufenthalt stehe, weil man glaube, sie träfen sich mit ihrem Sohn. Erstmals wird deutlich, dass die Zureks nicht nur durch den Gang des Sohnes in den Untergrund 1985 (221) belastet sind, sondern dass sie auch unter uneingeschränkter Beobachtung der Sicherheitsorgane stehen. Das 13. Kapitel knüpft an den Anfang 13. Kapitel des 12. Kapitels an und beschreibt zunächst die Beziehungen der Zureks zu angeblichen Freunden Olivers, die nach den Ereignissen in Kleinen bei ihnen auftauchen und die sich zwar als Gleichgesinnte herausstellen, Oliver aber nicht kannten. Auch Gerd Schmückle taucht zweimal auf, wird aber von Zurek schließlich aus dem Haus geworfen. Zurek beschleichen Selbstzweifel, ob er ein guter Lehrer gewesen ist; das wird aber von seiner Frau energisch bestätigt. Sie erinnert sich an die Zeit ihres Kennenlernens 1948, schon damals sei er ihr als „der geborene Lehrer“ (158) erschienen. Er erfährt, dass Friederike mit ihrer Freundin auch über seine sexuelle Verklemmtheit gesprochen hat und wie sie „im Bett miteinander zurechtkommen“ (160). Zurek ist irritiert. Beide bestätigen sich, ordentliche und sinnvolle Tätigkeiten ausgeübt zu haben; dabei hat Zurek stets mehr als seine Pflicht getan. Zu Beginn des 14. Kapitels wird der Be14. Kapitel suchsantrag der Zureks für Katharina Blumenschläger (vgl. dazu 144) abgelehnt. Sie war bei dem Einsatz in Kleinen verhaftet worden und sitzt seit fünfzehn Monaten in Untersuchungshaft. In einem Brief an die Zureks Ende August (166; nimmt man Olivers Tod im Jahr 1993 an, spielt das 14. Kapitel 1994) beschreibt sie ihr Verhältnis zu Oliver und seine vorbildliche Moral, Kraft und Disziplin. Sie habe ihn bewundert, geliebt 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe habe sie seine Fantasie; sie bekennt sich zur Partnerschaft mit Oliver. – Fünf Monate nach der Ermittlungseinstellung hat Anwalt Feuchtenberger die Beschwerde gegen den Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft ausgearbeitet (vgl. dazu 129 f.). Dennoch wird die Beschwerde erfolglos sein, denn „ein Staat muss siegen, möge auch die Gerechtigkeit dabei zugrunde gehen“ (171). Zurek zweifelt inzwischen an den von ihm vermittelten Werten wie Demokratie, Staatstreue und Gerechtigkeit (172) und sieht die „Idee des Staates“, eine Leitidee Hegels im Zusammenhang mit der Freiheit des Individuums, auf den „Übermut der Ämter“ (172) reduziert. Auf seine Briefe an den damaligen Innenminister und Generalbundesanwalt hat er nie eine Antwort erhalten. Im 15. Kapitel übernehmen die Zureks 15. Kapitel die Betreuung des Enkels im September in Hamburg, da Christin und ihr Mann zu einem Kongress nach Dallas fliegen. Nach der Rückkehr kommt es erneut zum Disput über Olivers Schuld zwischen Zurek und seiner Tochter, die Oliver für einen „Terroristen“ (176) hält, sich aber an die Idylle mit ihm im alten Garten ihrer Kindheit (178) erinnert. Bei der Heimkehr nimmt Zurek an einer Sitzung des Gemeindekirchenrates teil; der alte Pfarrer teilt mit, dass er in 14 Monaten in den Ruhestand gehen wird. (Auch hier findet sich eine Zeitunstimmigkeit: Der Pfarrer würde demnach im November in Pension gehen, tatsächlich findet der Pfarrerwechsel aber Ostern (S. 230) statt, also April). Das 16. Kapitel beginnt mit dem Besuch 16. Kapitel des Kasseler Schul- und Kriegskameraden Lutz Immenfeld bei Richard Zurek im Oktober. Immenfeld hatte Philosophie und alte Sprachen studiert, später ist er aber in die väterliche Fleischerei eingetreten, hat sie zur Fleischereikette erweitert und seinen beiden Söhnen einen Großbetrieb übergeben, in dem er selbst noch „die treibende Kraft“ (182) ist. Im Gespräch über das zurückliegende Jahr empfiehlt Immenfeld dem Schulfreund, sich einen berühmten Anwalt zu nehmen. Zurek sieht das Problem jedoch nicht in der Person des Anwalts, sondern
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe in der geschaffenen Situation, „das höhere Interesse eines Staates schreckt auch in einer Demokratie nicht davor zurück, den Einzelnen für seine Zwecke zu opfern“ (185); alles deute auf eine „Staatsverschwörung“ (183) hin. Zurek hält es unter diesen Voraussetzungen durchaus für möglich, wäre er noch jung, zu Kämpfern wie Oliver zu gehören. Immenfeld würde mitmachen; in dem Gespräch zwischen den beiden Freunden entsteht eine typische Michael-Kohlhaas-Situation. Da die Möglichkeiten der Gesetze ausgeschöpft scheinen, müsste man den Kampf gegen den Staat aufnehmen: „Wir wollen den Staat zwingen, Recht zu sprechen, was er ohnehin tun sollte.“ (187) Zurek schreckt zurück, er habe geschworen, „die Gesetze des Landes zu wahren“ (188). – Zwei Tage später erhalten die Zureks einen Brief von Katharina Blumenschläger, die über ihre Haft berichtet und beim Nachdenken über ihr Leben inzwischen die „fatalen Denkstrukturen“ (191 f.) erkannt hat, in die sie sich bei ihrem Kampf verirrt hatten. Ihr Dilemma sei, zu dem Gegenteil dessen gekommen zu sein, was sie „wollten und beabsichtigten“, ihre „Menschlichkeit“ habe sie „zu Unmenschlichkeiten“ geführt (192). Die Ursachen dafür lägen in der Geschichte des Landes, „die Macht macht schmutzig, und der Kampf gegen diese schmutzige Macht ebenso“ (192). Im 17. Kapitel trifft Zurek im November 17. Kapitel in einem Blumengeschäft eine frühere Geliebte, Susanne Parlitzke, genannt Suse, wieder; sie ist inzwischen seit vier Jahren Rentnerin. Er verabredet sich mit ihr; seine Frau, die er 1973/74 mit Suse neunzehn Monate hintergangen hat, reagiert schroff, hat sie doch unter dieser Beziehung, von der sie ahnte, gelitten. Suse und Zurek erinnern sich an ihre Bekanntschaft, ihr Verhältnis und ihre Trennung. Suse hatte diese vollzogen, indem sie allmählich Zureks „Flammen etwas gedämpft“ (204) hat. Sie wollte eine Katastrophe verhindern und stellte ihr Glück hinter das Glück Zureks mit seiner Frau. – Gerade dieses Kapitel hat von der Kritik viel Unverständnis erfahren (s. S. 69 f. der vorliegenden Erläuterung). – 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Das 18. Kapitel handelt zwei Wochen vor Weihnachten. Christin teilt mit, dass Konstantin nicht zu den 18. Kapitel Großeltern kommt, weil er mit seinen Eltern auf „einer kleinen Weltreise“ (211) sein wird, Gegenteil des Gartens in „früher Kindheit“. Sie wünscht sich von den Eltern zu Weihnachten, dass diese in Frankfurt eine Oper besuchen und fein essen gehen; Zurek greift den Vorschlag auf. – Während eines Einkaufs trifft Zurek einen Kollegen, der ihm erklärt, er sei zum richtigen Zeitpunkt in Pension gegangen. Da er einen Eid geleistet habe, hätte er sich vor den Schülern über seinen Sohn äußern müssen. Dabei wäre er in „ein Dilemma gekommen“ (214) zwischen dem Vater und dem Beamten. Zurek reagiert empört: „Kann es sein, dass Sie ein Idiot sind, Herr Pfaff?“ (214) – Heiligabend kommt Heiner, die Feiertage verbringen Zureks allein und genießen den Besuch in Frankfurt: Der Besuch in der Oper ist „ein beglückendes Fest“ (216). Ende Januar 1995 wird Zurek 73 Jahre alt. Der Sohn Heiner findet zu einer Partnerschaft, der Enkel Konstantin interessiert sich überraschend für die alten Fotos der Familie. Es läuft ein alltägliches Familienleben ab, in das keine Informationen über Zureks Beschwerde eindringen und Olivers Andenken manchmal schon zurücktritt. Zurek sagt zu seiner Frau: „Wir lernen, damit zu leben.“ (218) Im Gespräch mit den Eltern erklärt Christin Olivers Weg durch „die falschen Freunde, die falschen Bücher, die falschen Zeitungen“ (219). Auslöser sei dann eine Nichtigkeit gewesen. Zurek widerspricht und sieht die Ursache in „dieser unseligen Verhaftung“ (220). 1984 wurde Oliver nach falschen Beschuldigungen verhaftet und blieb ein halbes Jahr „unschuldig“ (220) in Untersuchungshaft. In der Öffentlichkeit wurde er jedoch als Terrorist verurteilt. Nach seiner Entlassung im Oktober 1984 und „einer dünnen Entschuldigung“ (220) wohnte er im November einige Wochen bei seinen Eltern, lebte danach ein halbes Jahr in Frankfurt und ging im Mai 1985 in den Untergrund. Einen letztes Lebenszeichen – einen Brief – erhielten die Eltern zwei Monate später (221; nach einer anderen Textstelle des Romans einen Monat später, 148).
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe Vater und Tochter betrachten die Vorgänge gegensätzlich: Während Zurek keinen Beweis sieht, dass Oliver ein Terrorist gewesen ist, glaubt Christin dem Abschlussbericht der Bundesregierung und vertraut den polizeilichen Ermittlungen. Beide entwickeln inzwischen ein gegensätzliches Verständnis von Demokratie: Während Christin die Demokratie verteidigt, zweifelt Zurek, ob es richtig ist, sich vor diese Demokratie zu stellen, da der Staat sein Gewaltmonopol missbrauche und „selber zum Terroristen“ (225) werde, indem er die Gebote von „Offenheit und Transparenz“ (225) verletze. Mitte Februar 1995, so beginnt das 19. Kapitel 19. Kapitel, eröffnet der neu ernannte Generalbundesanwalt den Prozess gegen Katharina Blumenschläger. Im April gelingt es den Zureks, an einem Prozesstag in den Gerichtssaal zu gelangen. Katharina und die Zureks sehen einander kurz und erkennen sich. – Die Beschwerde Zureks wegen der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen die Polizeibeamten wird abgelehnt; die Rechtsmittel sind ausgeschöpft, denn auch eine Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ist inzwischen von diesem für unzulässig erklärt worden (228 f.). Anwalt Feuchtenberger kann Zurek keine weiteren rechtlichen Möglichkeiten bieten, eine geringe Hoffnung setzt er lediglich auf den Prozess gegen Katharina: durch dort gegen alle Wahrscheinlichkeit auftauchende neue Fakten könne ein Wiederaufnahmeverfahren erreicht werden. Im Gemeindekirchenrat wird die Ablösung des Pfarrers zu Ostern vorbereitet. Beim Abschiedsgottesdienst wiederholt sich eine früher bereits ähnlich geschilderte Szene mit dem neuen Pfarrer (vgl. 19 und 230); für den Leser haben die Szenen, die die beiden Pfarrer betreffen, eine zeitlich orientierende Funktion, denn sie spielen 1998 (19), September 1994 (180) und April (Ostern) 1995 (230). Ende Mai 1995 bringt Zurek seine Frau in das Universitätsklinikum Frankfurt; Untersuchungen sind notwendig. Besorgniserregende Befunde gibt es nicht, aber der Arzt rät zu Urlaub, möglichst in Deutschland. 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe Im 20. Kapitel fahren die Zureks im Juni 1995 für drei Wochen nach Amrum in Urlaub. Bei Anmeldun20. Kapitel gen und Bestellungen merken sie, dass ihr Name nicht mehr auffällt: „keinen erinnerte dieser Name an den spektakulären Todesfall von Kleinen“ (234). Sie kehren am zweiten Todestag Olivers (234), am 27. Juni 1995, nach Hause zurück. – Heiner beruhigt seinen Vater in einem Gespräch, dass er in Olivers Vorhaben nicht „verstrickt“ (235) gewesen und von der Gruppe „geschnitten“ (235) worden sei, vermutlich auf Betreiben Olivers. Er berichtet von einer langen Unterhaltung mit Oliver nach dessen Haftzeit im Herbst 1984; Heiner musste damals schwören, sich der Eltern wegen „niemals an illegalen Aktionen zu beteiligen“ (236, vgl. dazu auch 48). Oliver erzählte ihm in diesem Gespräch auch von „Waffen, die sie sich besorgt hätten oder noch besorgen würden“ (236). – In diesem Kapitel findet nun ein großer Zeitsprung von Sommer 1995 auf den Anfang des Jahres 1997 statt, circa anderthalb Jahre vergehen. (238) „Im Februar 1997“ (238) wird Katharina Blumenschläger zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Urteil und Strafe beziehen sich auf Taten, die mit Kleinen nicht im Zusammenhang stehen (239). Lutz Immenfeld, der sich regelmäßig bei Zurek meldet und gern wie ein moderner Kohlhaas den Kampf gegen den Staat aufnehmen würde, lässt sich von Zurek den Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens, der Beschwerde des Anwalts und ihrer Rückweisung geben. Immenfelds Anwalt findet einen Weg, den Fall Olivers rechtlich begründet erneut vor Gericht zu bringen: Zurek solle den Staat „auf Erstattung der Begräbniskosten des erschossenen Oliver Zurek verklagen“ (240). Übernehme der Staat die Kosten, erkenne er damit seine Schuld an, lehne er ab, müsse der Staat dies in einem neuen Prozess begründen. Anwalt Feuchtenberger hat einen solchen Schritt ebenfalls erwogen, aber verworfen und rät auch Zurek davon ab: „Ich bezweifle die Unabhängigkeit der Gerichte in einem solchen Fall“ (243); es werde genauso entschieden werden wie zuvor. Zudem
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe sollten sich Zurek und seine Frau nicht aufreiben. Zurek überlegt jedoch, diesen Prozess zu führen, und bittet um Bedenkzeit. Bis „Ende September“ (247) müsse Feuchtenberger Bescheid wissen. In diesem Kapitel schließt sich der Kreis; sein Inhalt korrespondiert mit dem und wiederholt Teile des 2. Kapitels: Beide Kapitel erwähnen, dass Zurek sich noch nicht zu einer Klage entschieden hat (19, 247), in beiden Kapiteln wird von dem zweiten Brief an den ehemaligen Innenminister berichtet (26, 248). Im Gespräch zwischen Zurek und seinem Anwalt gibt Hein über ein Zitat Catos auch einen Hinweis auf seine Haltung zu dem Konflikt (s. S. 96 f. der vorliegenden Erläuterung). Das 21. Kapitel handelt im Sommer ei21. Kapitel ner zeitlichen „Grauzone“, die weder mit 1997 – darauf weisen alle Angaben seit der Klage hin (238) – noch mit 1998 – darauf weisen die ersten Kapitel mit ihrer Anlehnung an das reale Geschehen von Bad Kleinen hin – schärfer zu fassen ist, um die Identifizierung Oliver Zureks mit Wolfgang Grams endgültig zu unterbinden: Richard und Friederike Zurek fahren nach Kleinen. Das Kapitel reflektiert nochmals die Ereignisse des 3. Kapitels. Wiederaufgenommen wird auch die Überlegung Zureks, „den Staat“ (14) zu verklagen: Nach ihrer Rückkehr aus Kleinen beauftragt Zurek den Anwalt, „die Bundesrepublik auf Erstattung der Begräbniskosten für Oliver Zurek zu verklagen“ (249). Bei seinem Anwaltsbesuch in Frankfurt sieht er in einer Galerie „ein Landschaftsbild, es war fast monochrom in Weiß gehalten“ (249). Solche Kunstwerke und insbesondere in Weiß gehaltene Bilder haben in Heins Werken symbolische Bedeutung (s. S. 97 f. der vorliegenden Erläuterung). Für Richard Zurek wird es zum Ausdruck von etwas „Wunderschöne(m)“ (249). Im August besuchen die Zureks Katharina Blumenschläger in der Haft, erfahren allerdings nur wenig, da das „Gespräch abgehört“ (250) wird. Da Zurek auf seinen Brief an den früheren Innenminister keine Antwort bekommt, fragt er nach und muss sich sagen lassen, dass „Briefe querulantorischen Charakters“ (252) nicht beantwortet 2. Textanalyse und -interpretation
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2.2 Inhaltsangabe würden. Mehr als die Belehrung, es heiße „querulatorisch“ und nicht „querulantorisch“, bleibt ihm nicht. Im 22. Kapitel wird „im August des fol22. Kapitel genden Jahres“ (254; zum Jahr der Handlung siehe Anmerkung zu Kapitel 21 oben sowie S. 37–39 und 42 f. der Erläuterung) die Klage gegen die Bundesregierung vor dem Landgericht Bonn verhandelt. Als Agenturen und Presse über den bevorstehenden Prozess berichten, meldete sich Christin entsetzt am Telefon, da sie von dem Prozess im Gegensatz zu Heiner, der den Vater zum Prozess begleitet, nicht zuvor informiert worden war. Als Zureks bei ihrem vierten Besuch im Gefängnis Katharina von dem Prozess informieren, sieht auch die es als „ein aussichtsloses Unternehmen“ (256), da man die Wahrheit nicht zulassen werde. Aber der Prozess geht letztlich anders aus: Trotz der Klageabweisung zerreißt der Richter „das gesamte Gespinst der Staatsanwaltschaft“ (259) und „konstatiert ein non-liquet“ (260), was für den Staat „die allerfeinste Ohrfeige“ (259) bedeute. Insofern geht Zureks Hoffnung in Erfüllung, denn die „Selbsttötung“ (260) Olivers hält die Kammer für nicht erwiesen. Nur weil Zurek die „Fremdtötung“ (260) nicht beweisen kann, muss der Richter die Klage abweisen, da es sich um einen „Fall von Beweislosigkeit“ (260) handelt. Aber es bleibt als Ergebnis: Oliver ist „seit heute vor dem Gesetz völlig schuldlos“ (262). Zurek fällt es schwer, aus dem Urteil dieses Ergebnis herauszulesen. Seiner Frau gesteht er: „… ich bin nicht zufrieden, Rike. Ich glaube, ich habe erst heute verstanden, dass er tot ist.“ (263) Zurek möchte nun den Schülern des Gymnasiums „die Wahrheit“ (265) sagen, aber Kobelius lehnt die Bitte ab. Da Zurek darauf beharrt und mit der Presse droht, wird ihm schließlich der Nachmittag des Freitags, dem 23. Oktober 1998, vorgeschlagen, als Anwesende seien ausschließlich Schüler und Lehrer erlaubt. Kobelius weiß nicht, dass dies Olivers Geburtstag ist. Das 23. Kapitel spielt am Freitag, dem 23. Kapitel 23. Oktober 1998. (Zum Jahr der Handlung siehe Anmerkung zu Kapitel 21 oben sowie S. 37 ff. und 42 f.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.2 Inhaltsangabe der Erläuterung.) Zurek spricht vor 25 Schülern, zwei Lehrerinnen und dem Direktor Kobelius über Olivers Leben, den „winzigen Garten“ (266), Olivers abgebrochenes Studium der Veterinärmedizin, seine Arbeiten als Taxifahrer, Maurer, Tischler und seine Begabung fürs Restaurieren. Als Ergebnis seines Nachdenkens über Olivers Schicksal kommt Zurek zu dem Ergebnis, dass der Staat seine eigenen Gesetz nicht wahrt und er damit von seinem Amtseid entbunden ist. Er erklärt öffentlich: „Ich widerrufe hiermit meinen Eid“ (268) und bittet Kobelius, der Schulbehörde davon Meldung zu machen. Als ein Journalist, den Kobelius nicht als solchen erkannt hat, die Rede haben will und Zurek ihm die Blätter gibt, sind diese leer. Auf dem Heimweg nimmt er 42 Rosen für seine Frau mit, denn am 23. Oktober wäre Oliver 42 geworden. Für den Abend bestellt er für seine Frau und sich Abendessen im alten Bahnhofsgebäude. „Gegen sieben“ (271) wollen sie kommen; Zurek gibt damit erneut seine normierte Ordnung preis, um sieben Uhr die Uhr zu stellen und Nachrichten zu sehen. Damit hatte der Roman begonnen und so endet er; allerdings ist der Ausbruch nun ein völlig anderer, hat Zurek sich doch aus den Grenzen seines Amtseides gelöst.
2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau
2.3 Aufbau Der Titel ist mit der Gattungsbezeichnung „Roman“ versehen. Damit wird das Buch einer literarischen Großform zugeordnet, die sich innerhalb der Gattungen spät entwickelte und heute sowohl die verbreitetste wie auch die publikumswirksamste literarische Form darstellt. Der Roman wird sachlich auf der Grundlage juristischer Vorgänge und zurückhaltend eingebrachter familiärer Beziehungen berichtet. Die Perspektive Richard Zureks wird bevorzugt. Es gibt nur selten einen Erzähler, der sich kommentierend einmischen würde. Hein setzte vorzugsweise von den verschiedenen Möglichkeiten des Erzählens die personale Erzählsituation, inpersonale Erzählsituation nerhalb dieser den Erzählerbericht, ein. Der Leser erlebt das Geschehen vorwiegend aus der Perspektive der betroffenen und agierenden Personen. Die Eröffnung „Sie schaute auf die Uhr …“ (7) ist dafür typisch, denn der Leser bekommt nicht einmal den Namen der Person mitgeteilt, hieße das doch, die personale Situation zu gefährden, wüsste doch ein anderer als die Person um den Namen. So fällt ihr Name Rike, verkürzt aus Friederike, konsequenterweise erst im Gespräch mit ihrem Mann Richard. Auch Richard Zurek wird zuerst namenlos eingeführt („von seinen Eltern“, 7), ehe er als der Vermittler von Zeit und Abläufen genannt wird („Richard Zurek hatte es sich angewöhnt ...“, 7). Zwischen Zurek, der die zeitliche Ordnung der fiktiven Handlung verwaltet, und der realen Wirklichkeit („Gongschlag im Fernsehen“, 7) entwickeln sich fortlaufend täglich zeitliche Differenzen („jeden Abend“, 7), ein konstituierendes Merkmal der gesamten Handlung und auf den verschiedenen Ebenen von der häuslichen bis zur offiziell gesellschaftlichen Ebene, die „Grauzonen“. Es finden sich aber Abschnitte, die zuauktoriale Erzählsituation rückhaltend einen auktorialen Erzähler erkennen lassen. Das wird notwendig, wenn abgeschlossene
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2. Textanalyse und -interpretation
2.3 Aufbau Handlungen aus der Zeit vor 1993 einbezogen werden müssen wie zum Beispiel der Urlaub in Mooskopf (146 ff.). Sprachliche Hinweise auf solche Abschnitte sind Zeitangaben wie „damals“ (146), „Als sie in jenem Sommer“ und „Zu dieser Zeit“ (147), die auf das Wissen eines unbeteiligten Erzählers weisen. Dabei fällt auf, dass dieser auktoriale Erzähler sorgfältig und detailliert erzählt. Charakterlich ist er Zurek ähnlich und erreicht wie dieser die Grenze der Pedanterie. Ein besonders auffälliges Beispiel ist die Beschreibung eines Autounfalls, der Zurek so „verschreckte“ (146), dass er anschließend das Auto verkaufte. Das Geschehen ist für die Handlung unwichtig, weist aber Zureks Macht in der Familie aus, die er bedingt noch ausübt („nicht gewagt“, 147). Im Roman gibt es mehrere Konflikte. Sie Konflikte im Roman alle gehen auf eine Frage Richard Zurek zurück, die ihn quält: Wurde sein Sohn Oliver erschossen oder hat er sich selbst erschossen; ist er zum Mörder geworden oder wurde der Polizist von der Kugel eines Kollegen versehentlich getroffen? Die Gründe für den Vorgang interessieren Zurek nicht. Hat Oliver den Polizisten und sich selbst erschossen, stimmt das nicht mit dem humanistischen Erziehungsziel und Bildungsideal der Eltern überein; wurde er erschossen, stimmt das nicht mit Zureks Demokratieverständnis überein. Auf dieser Frage bauen sich alle anderen Konflikte auf: zwischen Recht und Gerechtigkeit, Demokratie und Gewalt, Gewalt und Gewaltmonopol, Interessen des Staates und Interessen des Individuums, Amtseid und Vaterpflicht usw.
Zeitangaben Der Roman hat 23. Kapitel, deren auffälligste Ordnung durch Zeitverhältnisse hergestellt wird. Den Text organisieren Zeitangaben: Am Beginn des Romans wird eine Uhr, „ein alter Regulator“ (7), beschrieben. Zureks Frau Friederike, genannt Rike, erlebt durch ihn Zeit: „… es waren nur zwei oder drei Minuten vergangen.“ (7) 2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau Das ist ein Hinweis auf die ungewöhnliche Zeitdeckung, die sich vollzieht. Zeitangaben haben in dem RoZeitdeckung man eine herausragende Bedeutung. Wer sie nicht verfolgt, wird sich in einem Dschungel der Abläufe verirren. Erst die Absage an die Zeit, verbunden mit dem Widerruf des Eides, bringt Zurek die Orientierung auf sein eigenes Leben zurück: „Heute habe ich keinen Tag verloren“ (271); zwei Zeitangaben stehen am Ende, öffnen den Roman in eine ungewisse Zukunft. Zurek stellt an dem Abend des Jahres 1998, an dem der Roman beginnt, die Zeiger der Uhr nicht. Aber die Jahre zwischen 1993 und 1998 können nur durch die Zeitangaben im Roman in eine chronologische Folge gebracht werden; der Hinweis darauf, dass Zurek die Uhr an diesen eröffnenden Abend nicht stellt, darf als Hinweis genommen werden, dass es, da keine Korrektur erfolgt, zeitliche Unstimmigkeiten geben wird, deren Sinn von Hein reflektiert worden war. (Vgl. dazu auch S. 37 ff., 42 f. und 61 der Erläuterung.) Die Häufung von Begriffen zu Beginn Häufung von Begriffen zum des Romans, die zum Wortfeld „Zeit“ geWortfeld „Zeit“ hören (Uhr, Regulator, Jahrzehnte, Uhrwerk, Pendel, Zeitanzeige usw.), macht auf die Bedeutung von Zeit, Zeitverhältnissen und zeitlichem Ablauf aufmerksam. Die Abfolge Uhr – Regulator – Jahrzehnte erhöht die Uhr zur Lebensuhr und den alltäglichen Vorgang zum Lebensmerkmal. Zwei Hinweise nimmt der Leser auf, die auf die vergehende Zeit verweisen: Das „Pendel“ (7) des Regulators assoziiert die unabänderlich gleichförmig vergehende Zeit. „… die Zeitanzeige war nicht genau“ (7) weist auf den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Romanfiktionalität, die nicht deckungsgleich sind, auch zeitlich nicht. „Zeitanzeige“ ist mehrdeutig erschließbar: als konkrete Zeitangabe einer Uhr, als Merkmal eines zeitlichen Verlaufs, als Hinweis auf eine zeitliche Situation. Ab dem 14. Kapitel werden in den Kapiteln, oft an den Anfängen, MoMonatsnamen natsnamen verwendet – „Ende August“
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2. Textanalyse und -interpretation
2.3 Aufbau (166), „Im September“ (174) usw. –, um die Handlung allmählich auf den zeitlichen Ausgangspunkt der ersten Kapitel, das Jahr 1998, hinzuführen. Beide Handlungsebenen, die auch Zeitebenen entsprechen, werden durch zahlreiche Zahlenangaben und durch feste Zeitangaben wie den „Beginn der Abendnachrichten“ (7, 28, 40, 72), Fernsehen und „Spätnachrichten“ (14), durch Zeitungen und Berichte im Fernsehen gegliedert. Entgegengesetzt verliefen das Leben Olivers im Untergrund, die Tätigkeit von Terroristen und Aktionen des politischen Widerstands. Bei diesen Themen finden grob genannte Zeitabschnitte: „… ein halbes Jahr nach der Haftentlassung“ tauchte er unter und „verschwand“ (45), allerdings wird neben den grob genannten Zeitabschnitten eine der beiden konkreten Jahresangaben des Romans, von denen aus Zeitübersichten zu entwickeln sind, mit Olivers Untertauchen im „Mai 1985“ (221) mitgeteilt. Die herausragende Funktion von Zeitangaben ergibt sich durch die zwei gegeneinander verlaufenden erste Handlungsebene Handlungen: Die erste Handlungsebene geht den Bemühungen des Ehepaars Zurek nach, 1998, fünf Jahre nach dem Tod ihre Sohnes Oliver, immer noch die Ehre ihres Sohnes bewahren zu wollen und einen entsprechenden juristischen Kampf zu führen. Sie bemühen sich seit fünf Jahren, die Wahrheit über die Ereignisse zu erfahren und bewegen sich dabei in den Grenzen eines seriösen, ruhigen, ehrbewussten, rücksichtsvollen bürgerlichen Lebens: „Auf uns wartet ja keiner mehr.“ (16) Die zweite Handlungsebene verfolgt die Erzweite Handlungsebene eignisse unmittelbar nach dem Tod Olivers 1993 und führt langsam diese Zeit von 1993 auf das Jahr 1998 zu. Eine dritte Handlungsebene bedritte Handlungsebene stimmt ein einziges Kapitel, das 12.: Es blendet in die Zeit vor 1993 zurück, in der Oliver im Untergrund lebte. Daraus ergibt sich ein kunstvoller, von der jeweiligen Handlungszeit bestimmter Handlungsaufbau, der zu einer symmetrischen Struktur des Romans führt: 2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau
1.–3. 4.–11. 12.
XXX
XXXXXXXX
X
13.–20.
XXXXXXXX
21.–23.
XXX
1998
Vor 1993
1993–1997
(Die „Grauzone“ der Zeitangaben hat auf diese Symmetrie kaum Auswirkungen.)
Die Symmetrie wird verstärkt durch Parallelen zwischen Anfang und Ende; beide Male geht es um Zeitangaben – „vor sieben Uhr“ (7) und „gegen sieben“ (271) – und es werden Zahlen verwendet („Zwölf“, „zwei oder drei Minuten“, 7; „zweiundvierzig Rosen“, 271). Im 1. und im 23. Kapitel spielt die Gaststätte „Der Bahnhof“ eine Rolle: Anfangs erfolgen dort die wichtigsten Fragen zu Oliver („Weißt du, was mit ihm passiert ist? Wie ist es dazu gekommen?“, 12), am Ende sind diese Fragen hinfällig geworden und man kann Olivers Geburtstag feiern. Symmetrie und Parallelen sind Merkmale einer Ordnung, die gestört wurde, aber am Ende hergestellt wird als eine andere Ordnung. Es ist die Lebensordnung des Richard Zurek, die nicht nur sein Leben bestimmte, sondern auch Inhalt seines Unterrichts war. Sie ist einer neuen Ordnung gewichen, die von Unsicherheit geprägt ist („Was ist heutzutage schon sicher, Fred?“, 271). Sicher und verlässlich ist nur die textgewordene Erinnerung; Ordnung – so signalisiert die strenge Form – ist in der Kunst, zumindest in der des Chronisten.
Symmetrie
Zwei besondere Kapitel Das 12. Kapitel, es steht im Zentrum des 12. Kapitel Romans, führt in das Jahr 1987 und damit zeitlich am weitesten zurück, es war „zwei Jahre her, dass Oliver untergetaucht war“ (147). Der Leser wird von der familiären in
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2. Textanalyse und -interpretation
2.3 Aufbau die gesellschaftliche Situation geführt, mit der die Familie Zurek während ihres Urlaubs konfrontiert wird. Zureks werden Zeuge der unterschiedlichen Befindlichkeiten gegenüber ihrem Sohn, der in der Öffentlichkeit als Verbrecher gesehen wird: Er ist eine „des Terrorismus verdächtige Person“ und auf einem Fahndungsplakat (147), auf dem „Plakat mit den Verbrechervisagen“ (150); er gehört zu den „Terroristen“ (150) und der „Bande“ (151). Die Plakate hängen überall, „im Eingangsbereich der Sauna …, beim Bäcker und vor dem Supermarkt“ (153). Die gesellschaftliche Vorverurteilung ist vollständig; Fragen werden nicht mehr gestellt. Das 17. Kapitel hat, wie bereits das 12., 17. Kapitel eine besondere Funktion für den Roman. Das 12. Kapitel führt als einziges zeitlich vor den Tod Olivers zurück, das 17. Kapitel führt die Handlung als einziges über das Schicksal Olivers hinaus und ist weitgehend unabhängig von ihm. Es hat in der Kritik Ablehnung erfahren – „Zurek trifft sich in einem willkürlich eingeschobenen Exkurs mit seiner Ex-Geliebten … Hanebüchener Unfug ist das“64 –, und hat auch Leser wenig überzeugt: „stümperhaft und schriftstellerisch wenig geglückt“65. Das Kapitel erfüllt im Roman mehrere Aufgaben: Es setzt den zeitlichen Verlauf fort („Im November …“, 194), lässt Zurek im Umgang mit dem Treueeid großzügig erscheinen und dadurch die Bedeutung des Amtseides hervortreten, führt in die Meinungsbildung und Akzentsetzung einer Kleinstadt ein („Seit Olivers Tod schwatzt die ganze Stadt immerzu über dich.“, 198), bringt verdrängte Konflikte an die Oberfläche und relativiert die Vermutung, es könnte beim Kampf des Vaters um die Wahrheit über seinen Sohn nur um ihn selbst gehen. Diesen Vorwurf hat die Kritik vorgetragen66, aber im 17. Kapitel wird deutlich, dass Zurek sich weder der öffentli64 Wolfgang Höbel: Kohlhaas in Bad Kleinen. In: Der Spiegel Nr. 4 vom 24. Januar 2005, S. 170 65 Gunilla „Gunilla“, nach eigener Aussage Deutschlehrerin: Gepflegte Langeweile, 23. Juli 2009, www.amazon.de, Rezension zur Taschenbuchausgabe; Abrufdatum März 2010 66 Vgl. Wolf Scheller: Ein alter Lehrer kämpft gegen Justiz und Staat. In: Nürnberger Nachrichten vom 1. Februar 2005: „Allerdings bekommt der Leser auch bald mit, dass es dem Vater in Wahrheit nur um sich selbst geht.“
2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau chen Meinung unterwarf („überhört“, 201), noch die ungeschriebenen Gesetze der Kleinstadt beherzigte („… das ging alles gar nicht“, 201). Deshalb muss sein Kampf vorrangig als Versuch betrachtet werden, Recht und Gerechtigkeit unter dem Dach der Wahrheit in weitgehende Übereinstimmung zu bekommen, um damit die Säulen der Demokratie zu sichern. Im 15. Kapitel wird diese Aufgabe und ihr politischer Zusammenhang von Richard Zureks Tochter Christin entwickelt; sie ist in die Beschwerde des Anwalts eingegangen: Die Demokratie wird begründet durch „das Vertrauen, ohne das eine Gemeinschaft nicht lebensfähig ist“ (176). Schließlich bietet das 17. Kapitel ästhetisch Vergleiche aus der traditionellen LiteraVergleiche aus der traditionellen tur an. Das ist die wichtigste Funktion Literatur des Kapitels im Roman, die Vergleiche finden sich nur hier. Susanne Parlitzke „träumte davon, eine Kameliendame zu sein“ (203), konnte es aber nicht, und Richard Zurek war kein „Rosenkavalier“ (206). Damit werden zwei tradierte Bilder der bürgerlichen Literatur genannt, die überwunden und historisch geworden sind. Die Kameliendame (1848, 1852) ist ein Roman und ein Drama von Alexandre Dumas d. J., der die Vorlage für Giuseppe Verdis Oper La Traviata (1853) und für zahlreiche Verfilmungen bot. Der Rosenkavalier (1911) ist eine Oper von Richard Strauss nach einem Libretto von Hugo von Hofmannsthal. In beiden Werken geht es um eine Liebe, die gegen die gesellschaftlichen Normen und Konventionen steht, aber dennoch von ihnen beherrscht wird: Die Kameliendame, eine Kurtisane, will aufgrund der Liebe zu einem Mann aus besten Pariser Kreisen ihr Leben ändern, gibt das Vorhaben aber auf, um die Zukunft des Mannes nicht zu gefährden. Der Rosenkavalier Octavian, der Geliebte der alternden Feldmarschallin, soll der jungen Sophie die silberne Rose ihres Bräutigams Ochs auf Lerchenau überbringen; dabei verlieben sich Octavian und Sophie ineinander. Sie werden freigegeben und dürften sich binden; ob sie es tun, bleibt ungewiss.
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2.3 Aufbau Eine nüchternere und trivialere Wirklichkeit ist entstanden, hat diese Bilder verdrängt und ihre eigenen Inhalte – Inhalte wie den des Romans – geschaffen, ohne dass die Konventionen verloren gegangen wären. Die Ehe ist immer noch gültige Bindung geblieben. Staatsauffassungen Traditionelle poetische Schönheiten und sprachliche Auffälligkeiten wurden vermieden, um die spröde Trockenheit des juristischen Geschehens nicht zu beeinträchtigen. Fast lähmend fällt der Text streckenweise über den Leser: Es geht nicht um Vergnügen, sondern um Aufklärung und um WisAufklärung und sensvermittlung oder WissensaktualisieWissensvermittlung rung. Ein erster Höhepunkt wird im 6. Kapitel erreicht: Es stoßen zwei Staatsauffassungen aufeinander, einmal das „Gewaltmonopol des Staates“ in der Tradition Thomas Hobbes’, von ihm aus über die Aufklärung zu den französischen Materialisten, und zum anderen die „Übereinkunft der Menschen“ gegen Gewalt in der Tradition Epikurs, von ihm aus in eine spezifisch revolutionäre Tradition zu Rousseau bis zu Marx und Engels führend. In beiden Fällen wird an das Verhältnis von Staat und Gewalt der bürgerlichen Französischen Revolution von 1789 erinnert (vgl. S. 86 f. der vorliegenden Erläuterung). Zahlensymbolik Sie wird begründet durch ein Jubiläum, der Tod Olivers liegt fünf Jahre zurück: „Vor fünf Jahren war ihr Sohn bei einem Schusswechsel mit Beamten des Grenzschutzes ums Leben gekommen.“ (40) Bevorzugt werden die Zahlen fünf, die Zahlen fünf, zwei und drei zwei und drei, wobei zwei und drei erneut fünf ergeben. Neben dem Tod Olivers, der mit der Fünf in Beziehung gebracht wird, erscheint die Fünf in Olivers Umkreis: sein Vater ist eines der fünf Mitglieder des Kirchenrates (20), fünf Tage wartet Zurek auf das Treffen mit seinem Anwalt, um die Kla2. Textanalyse und -interpretation
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2.3 Aufbau ge einzureichen (37), in Kleinen sollen fünf der „Freunde“ anwesend gewesen sein (51), fünf Jahre haben Zureks nichts von ihrem Sohn gehört (69), fünf Jahre vor seinem Tod hat Oliver die Bilder zur Aufbewahrung an Karin Gloedel gegeben (70) usw. Die Zahl Fünf steht in der Zahlensymbolik für den Menschen; das bekannteste Beispiel wurde Leonardo da Vincis Proportionenstudie des Menschen (1490) in Quadrat und Kreis, wobei eine der beiden Stellungen (Kopf, waagerecht gehaltene Arme und gespreizte Beine) ein Pentagramm ergibt. Das Pentagramm war für Magier wie Agrippa von Nettesheim das Sinnbild des Menschen. Die Fünf vereint in sich das weibliche Element, symbolisiert in der Zwei, und das männliche, symbolisiert in der Drei. Auch sonst hat die Fünf durch die Fünfzahl der Sinne, Finger und Zehen an Hand und Fuß Bedeutung für den Menschen. Richard Zurek erwähnt fortwährend den Tod seines Sohnes vor fünf Jahren (13, 17, 23 und öfter), ist davon traumatisiert und erinnert an den Verlust eines Menschen. Die Fünf ist zudem eine säkulare Zahl; nur wenige mythische Elemente verbinden sich mit ihr (die fünf Bücher Mosis, die fünf täglichen Gebete der Moslems). Dafür ist sie die Zahl der Händler, Gastwirte und der Geschäfte, des Rechts und des Betrugs (ein X für ein U machen, das U ging aus dem lateinischen V hervor = die römische Zehn sind zwei aufeinandergestellte römische Fünfen: X). Bedeutung bekommen im Roman auch die Zehn und die Zwölf die Zehn und die Zwölf (7, 57, 68, 73; vgl. zur Zwölf S. 49 dieses Bandes). Christin hat zehn Briefe an Oliver geschrieben (82). Die christlichen Gebote fallen ein, das 10. Gebot lautet: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist.“ Das Gebot stellt den Gegensatz dar zu der Aufhebung des Eigentums, wie es Oliver anstrebte. Deshalb will er Christins Haus nicht wieder betreten, weiß er doch dort den Hüter des Eigentums, den Unternehmensberater Matthias, der Oliver für „krank“ (86) hält; sein „revolutionärer Kampf gegen das Schweinesystem, Volkskrieg, Ausbeutung,
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2. Textanalyse und -interpretation
2.3 Aufbau Imperialismus“ (83) ist Konfrontation mit dem Privateigentum. Christins Denken richtet sich aber auf Eigentum; mit ihren Eltern spricht sie über einen „Wohnungskauf“ (85) in Hamburg. Die Zahlensymbolik erinnert in dieser Dichte und organisatorischen Funktion an Heinrich Bölls Roman Billard um halb zehn. Erfahrene Leser werden auch den Klang der Romaneröffnung Bölls im Ohr haben und ihn in der Romaneröffnung bei Hein wiederfinden. An Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum erinnert einer der wichtigsten Namen: Olivers Partnerin war Katharina Blumenschläger (31); sie entspricht der Originalgestalt Birgit Hogefeld, aber auch der literarischen Gestalt Katharina Blum. Die Presse manipuliert in Bölls Erzählung ähnlich wie in Heins Roman (17, 116: Bilder von Friederike und Richard Zurek erscheinen in den Zeitungen „mit hasserfüllten Überschriften“, 116). Auffällig in Heins Romanen ist, dass ihnen mehr oder weniger bestimmend die Struktur eines KriminalroStruktur eines Kriminalromans mans unterlegt wird.67 Seine Romane spielen in der Alltäglichkeit, haben aber spannungsschaffende Elemente. Bereits die Eröffnung mit den zahlreichen detaillierten Zeitverweisen und dem anschließenden akzentuierenden Hinweis „An diesem Abend …“ (7) schafft eine Erwartungshaltung beim Leser, die nach dem besonderen Ereignis drängt. Um die Nähe zur Eröffnung von Kriminalromanen zu erfassen, bieten sich Texte Georges Simenons an: „Es war halb acht. Mit einem erleichterten und zugleich müden Seufzer, dem Seufzer eines schweren Mannes am Ende eines heißen Julitages, zog Maigret im Büro des Chefs mechanisch die Uhr aus der Westentasche.“68 Oder: „Für Maigret war das Datum leicht zu behalten, denn es war der Geburtstag seiner 67 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Christoph Hein. Der fremde Freund. Drachenblut. Königs Erläuterungen und Materialien Bd. 439. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2006, S. 55 68 Georges Simenon: Maigrets Pfeife. In: Ders.: Dreimal Beifall für Maigret. Berlin: Volk und Welt, 1986, S. 7
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2.3 Aufbau Schwägerin, der 19. Oktober. Außerdem war es ein Montag …“69. – Ein erster Hinweis auf das Ereignis in Heins Roman wird durch die Mitteilung geschaffen, dass Zurek „selten aus dem Haus gekommen“ (12) ist „seit Olivers Tod“ (12). Dieser Tod hat seine Geheimnisse, denn Olivers Vater weiß nicht, was zuvor „mit ihm passiert“ und „wie es dazu gekommen“ ist (12). Auch danach werden die Angaben nicht genauer, sondern bleiben im Bereich eines schwer beschreibbaren Geschehens von besonderem Ausmaß: Zurek will „nun sogar den Staat verklagen“ (14). Dass das Ereignis schwer benennbar ist, wird auch bei anderen Personen deutlich: An die „Geschichte mit Ihrem Sohn“ (23) wird durch den Pfarrer erinnert, es habe in den Zeitungen gestanden. Dass diese allgemeinste Umschreibung „Geschichte“ von einem Pfarrer verwendet wird, der die Genauigkeit des Wortes tagtäglich einzusetzen hat, lässt das Ereignis immer geheimnisvoller werden. Aktenordner, Presseberichte, „Kopien von Büchern und Aufsätzen der Zeitschriften“ (16 f.) vergrößern den „Fall“ (17), der bereits die herkömmlichen Dimensionen verlassen hat, ehe der Leser mit ihm konfrontiert wird; es könnte sich auch um ein außergewöhnlichen Kriminalfall handeln. Zu Beginn des 4. Kapitels wird das Ereignis lapidar mitgeteilt und dann das Geheimnis gelüftet: Ihr Sohn wurde „seit Jahren als Terrorist gesucht“ und kam „bei einem Schusswechsel mit Beamten des Grenzschutzes ums Leben“ (40). Das wie ein Kriminalfall anmutende Geschehen wird durch das außergewöhnliche politische Ereignis abgelöst, ohne dass die spezifischen Attribute und Requisiten des Kriminalromans aufgegeben würden; selbst das Bundeskriminalamt (44), Krimilesern unter der Abkürzung BKA geläufiger, wird einbezogen.
69 Georges Simenon: Maigret und der Mann auf der Bank. In: Ders.: Dreimal Beifall für Maigret. Berlin: Volk und Welt, 1986, S. 53
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken
2.4 Personenkonstellationen und Charakteristiken Dr. Richard Zurek wurde im Januar 1922 geboren. Er ist ein pensionierter Lehrer und unterrichtete Deutsch, Latein und Physik. Zwanzig Jahre war er Direktor des Gymnasiums, auf das auch sein Sohn Oliver ging, und ging nur unwillig in Pension. Nur eine „Viertelstunde“ (23) zu Fuß wohnt er von der Schule entfernt. Am Ende des Romans ist er 76 Jahre. Er und seine Frau haben drei Kinder großgezogen: eine Tochter und zwei Söhne. Die Tochter ist inzwischen selbst Mutter eines Sohnes. Zurek ist ordnungsliebend, ordnungsliebend, gründlich und gründlich und pflichtbewusst bis zur Pepflichtbewusst danterie. Mehrfach wird auf diese Grenze verwiesen; so schrieb er „seine Fragen“ zum Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft „säuberlich in das Schulheft“ (127), Olivers Nachlass nähert er sich „penibel prüfend“ (145). Sein Auftreten ist seriös, „so bedeutungsvoll, so ehrwürdig“ (158), ließe sich aber auch als „verklemmt“ (158) bezeichnen. Vor allem machte ihn alles, „was mit Fleisch und Blut zu tun hatte“ (159), also auch Sexualität, verlegen. Für die Theorien Olivers hat er vor und direkt nach Olivers Tod kein Verständnis, er ist ein loyaler Staatsbeamter von unverbrüchlicher Treue. Diese Haltung vermittelte er auch als Lehrer. Charakterlich ist er von einem ausgeausgeprägtes Rechtsempfinden prägten, teils übertriebenen Rechtsempfinden, bei dem die Schuld stets bei anderen gesucht wird. In einem Detail wird diese Eigenschaft hervorgehoben: Als er Kaffee auf die Tischdecke schüttet, erklärt er das damit, dass seine Frau ihn mit Fragen gelöchert habe (9), und diese antwortet: „Dann ist ja alles wieder in Ordnung. Dann haben wir ja einen Schuldigen gefunden.“ (9) „Ordnung“ ist ein Leitbegriff seines Lebens. Er ist ein disziplinierter Christ, der sonntags die Kirche besucht und im Gemeindekirchenrat mitarbeitet. Sein einziger Fehltritt war seine
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 19 Monate währende Leidenschaft zu Susanne Parlitzke vor vielen Jahren. – Sein festes Weltbild kommt ins Wanken, als der Staat sich in Widersprüche verwickelt und diese nicht ausräumt, auch nicht auszuräumen bereit ist. Da erst sucht er nach den Gründen für den Weg seines Sohnes in den Untergrund und sieht sie in seinem Versagen bei der Erziehung Olivers. Seine Schuld besteht jedoch in keinem objektiven Versagen, sondern in einer subjektiven Reduktion des zu vermittelnden aufklärerischen Weltbildes: Dieses Weltbild war zwar Zivilisation und Kultur verpflichtet, aber durch vollständige und kritiklose Staatstreue steril und unproduktiv geworden. Er war ein guter Lehrer, „aber streng, sehr streng“ (13). Sein Versuch, Olivers Entwicklung zu verstehen, seine Handlungen zu begreifen und die Widersprüche seines Schicksals zu lösen, scheitert weitgehend. Er muss sich mit dem Versuch einer Annäherung an den Sohn und an ein Patt in der rechtlichen Bewertung des Falles zufriedengeben. Friederike Zurek, genannt Rike hat ihren späteren Mann 1948 beim Studentenfasching kennengelernt. Sie besuchte zu der Zeit eine Hebammenschule; ihren Beruf übte sie gern und mit Leidenschaft aus. Innerhalb der Familie ist sie auf Harmonie und Ausgleich bedacht; auf Harmonie und Ausgleich für Olivers politischen Kampf hat sie bedacht kein Verständnis, bemüht sich auch nicht darum. Ihr Verhalten ist vollständig abhängig von ihrem vier Jahre älteren Mann Richard, auch wenn sie dessen Fehler und Schwächen kennt und mit ihnen umzugehen weiß. Sie will unter allen Umständen die Beziehungen zu den beiden lebenden Kindern erhalten und sie nicht durch den von Richard Zurek geführten Rechtsstreit gefährden. Ihr besonderes Interesse gehört dem Enkel; sie wünscht sich weitere.
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Oliver Zurek und Christin, geb. Zurek Die Tochter der Zureks und Schwester des toten Oliver, Christin (* 1954), zwei Jahre älter als Oliver, ist Lehrerin in Hamburg und hat als Beamtin den Eid auf den Staat abgelegt. Sie steht den Ideen und Taten Olivers verständnislos und abverständnislos lehnend gegenüber. Sie beruft sich mehrfach auf ihren „Eid auf den Staat“ (S. 82), kann sie doch dadurch allen Anfechtungen, sich für die Veränderung der Welt einzusetzen, abwehrend begegnen. Zusammen mit ihrem Mann Matthias, einem Unternehmensberater, ist sie für ihren Bruder die Personifikation des Gegners, den Oliver sucht und den er „bekämpft“ (S. 82). Christin und Matthias haben einen fünfjährigen Sohn, Konstantin. Oliver (* 1956) war, wie Eltern und Freunde aussagen, ein Einzelgänger (69), wirkte aber auf sie vorbildlich. Bereits in seiner Jugend fiel er durch „Wahrheitsliebe“ und „das ausgeprägte, unabdingbare Rechtsgefühl“ (120) auf, so betont Pfarrer Alarich in seiner Trauerede am Grab Olivers. „Seine Moral, seine Kraft und Disziplin“ (166) haben seiner Freundin ausgeprägtes Rechtsgefühl Katharina Blumenschläger „in den Jahren der Illegalität geholfen“ (166). Als er das Elternhaus verlassen hatte, löste er sich aus den Bindungen und fügte seinem Weltbild die ausgeklammerten Bestandteile des aufklärerischen Denkens Gerechtigkeit und soziale Gleichheit zu. Dadurch geriet er in Widerspruch zur Gesetzes- und Rechtstreue von Vater und Schwester, zumal Oliver gerade die Staats- und Gesetzestreue, auf die sich Vater und Schwester verpflichtet hatten, nicht akzeptierte, denn der Staat hatte ihm „Unrecht“ (74) getan, indem er ihn unschuldig ins Gefängnis steckte. – Später, als Olivers Tod noch nicht gewiss ist, retten die Eltern sich allerdings in die zweifelhafte Hoffnung, eine Verhaftung würde dazu führen, dass sich Oliver von seiner Haltung und Lebensführung trenne und „sich mit einem Leben abzufinden, das für ihn heute unannehmbar und verächtlich sei“ (41). Sein Tod verhindert, dass ihre Hoffnung, er würde ihr geord2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken netes Leben führen, enttäuscht wird. – Oliver hatte sich zwar einem löblichen Ziel der Gerechtigkeit und dem damit verbundenen Kampf zur Verfügung gestellt, aber den Rahmen zerstört, in dem sich dieser Kampf hätte vollziehen müssen. Olivers Ansichten und Christins Haltung bilden zusammen eine funktionierende Einheit, die auf den griechischen Materialismus zurückgeht und zum Programm der Aufklärung bis hin zur Französischen Revolution von 1789 geworden ist. Indem Oliver auf den staatsgründenden Gedanken der Gesetzlichkeit verzichtet, Christin aber den Gedanken der Veränderbarkeit aufgegeben hat, sind sie beide der ursprünglichen Verpflichtung auf die bürgerliche Gesellschaft und ihre ZielFreiheit, Gleichheit und stellungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Brüderlichkeit untreu geworden. Die Ursachen liegen bei beiden in der Gefühlsveranlagung: Bei Oliver ist eine Introvertiertheit vorhanden, die geheimnisvoller Mystik vertraut (Man kann „alles vermehren …, wenn man es im Garten eingräbt.“, 89), Christin hat eine Extrovertiertheit entwickelt, die alle seelischen Regungen äußerlichen Ereignissen unterordnet (Christins Besuch nach Olivers Tod wird „ein sehr kurzer Besuch“, denn sie muss „zu einer Matinee ihres Theatervereins“, 77). Die gegensätzliche Veranlagung der beiden Kinder ist auf dem Titelblatt der Buchveröffentlichung deutlich gemacht worden: Auf einem Foto sind beide zu sehen. Oliver fliegt von der Schaukel in eine unbestimmte und schrankenlose Freiheit, Christin sitzt diszipliniert auf der Schaukel und beobachtet den Bruder und die frei fliegende Schaukel. Heiner Zurek Der zweite Sohn der Zureks ist das jüngste der Zurek-Geschwister, er ist 1958 geboren. Er hat mit drei Freunden in Nürnberg eine Computerfirma gegründet und arbeitet dort als Programmierer. Er ist in dieser Tätigkeit viel unterwegs und hat dadurch keine Gelegenheit, eine Bindung einzugehen oder eine Familie zu gründen.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Doch gilt seine Sehnsucht einer solchen Ordnung, die er anstrebt und wofür gerade gute Bedingungen entstehen. Früher hat er sich für Olivers An- und Absichten sehr inteHeiners Schwur ressiert, er „wollte unbedingt mitmachen“ (48), musste Oliver aber schwören, dies der Eltern wegen nicht zu tun. Konstantin ist Christins Sohn, sein Vater ist Matthias, ein erfolgreicher Unternehmensberater. Er ist der Enkel des Ehepaars Zurek und 1993 fünf Jahre. Er ist der Liebling der Großeltern, deren Neigung ihn aber gleichgültig lässt und auf deren Bemühungen er abweisend und „einsilbig“ (85) reagiert. Richard Zurek hält die Kinderzeit für „die schönste Zeit im Leben“ (11); die Enttäuschung über die Gleichgültigkeit des Enkels gegenüber gleichgültig gegenüber Großeltern den Großeltern sitzt deshalb besonders tief. Konstantin hat seine Kindlichkeit und Natürlichkeit bereits teilweise verloren, da er von seinen Eltern im Sinne äußerlicher Geltung und Wirkung erzogen worden ist. So spielen auch traditio nelle Spielsachen – „eine Eisenbahn aus Holz“ (77) – für ihn keine Rolle; wichtiger ist ihm sein Gameboy. Heiterkeit ist verpönt und wird, den Vater kopierend, als „kaspern“ abgetan (174). Lediglich an alten Fotos hat er Freude, ein Zeichen für noch vorhandene Interessen. Feuchtenberger ist der Anwalt der Zureks aus Wiesbaden. [In der Realität handelte es sich um den Wiesbadener Anwalt Andreas Groß.] Kurz nach Olivers Tod brachten seine Freunde ihn ins Haus der Eltern. Als Anwalt vertritt er bevorzugt das Recht kleiner Leute, auch Oppositioneller wie Olivers Freunde, und betrachtet seinen Einsatz für diese Menschen als „Bürgerpflicht“ (131), d. h. er verzichtet in manchen Fällen auch auf das Honorar. Vor Gericht gilt er deshalb bei einigen Richtern als „Terroristenanwalt“ (244). Er vermutet die 2. Textanalyse und -interpretation
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Abhängigkeit aller Rechtsprechung von Geld, unterwirft sich dem aber nicht: Den „Geruch des Ruhms und des Geldes“ (245), der Achtung verschaffe, lehnt er ab, glaubt deshalb auch, von den Richtern verachtet zu werden. Er wird zur Vertrauensperson der Zureks. Vertrauensperson der Zureks Sein Auftreten hatte die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen: „sehr umsichtig“, „warmherzig“, „geduldig“, „zurückhaltende und ruhige Art“; er beeindruckte „durch seine präzisen, durchdacht wirkenden Darlegungen“ (52). Er begleitet die Zureks durch das Gewirr der juristischen Vorgänge. Zu Beginn des Romans steht Richard Zurek vor einer wichtigen Entscheidung, die – wie der Leser später erfährt – einen letzten Versuch betrifft, die Wahrheit über Olivers Tod zu erfahren. Feuchtenberger ist bereit, dafür den Staat zu verklagen. Katharina Blumenschläger, Olivers Lebensgefährtin (72), die sich mit ihm in Kleinen getroffen hatte, wurde bei dem Einsatz verhaftet und sitzt in Untersuchungshaft. Karin Gloedel – eine Freundin Katharinas und Olivers – hat eine Besuchserlaubnis bekommen; der Antrag der Zureks wird abgelehnt, da sie Katharina als Schwiegertochter ausgegeben haben, was zwar ihrem Gefühl, nicht aber der gesetzlichen Ordnung entspricht. Sie hat sich während ihrer Haft einen „sehr disziplinierten Tagesablauf verordnet“ (166), mit dem sie ihren Arbeitsplan erfüllt, und hat ein Soziologiestudium aufgenommen (256). Die Disziplin hat sie sich „durch Olivers Hilfe antrainiert“ (166). Während der Haft gelangt sie zu der Einverantwortungsbewusst sicht, dass ihr „Gefühl für Verantwortlichkeit“ und ihre „Menschlichkeit“ sie wider Willen zu unmenschlichen Taten geführt haben (192). Im Verlauf der Handlung findet der Prozess gegen sie statt und sie wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Die Zureks besuchen sie regelmäßig im Gefängnis.
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2.4 Personenkonstellation und Charakteristiken Kobelius ist der Nachfolger Richard Zureks als Direktor des Gymnasiums. Christoph Hein hat ihn mit unsympathisch wirkenden Zügen ausgestattet und als Kontrastfigur zu Richard Zurek angelegt, sowohl menschlich wie auch als Lehrer und Direktor. Friederike Zurek bringt den Gegensatz auf den Punkt, wenn sie ihren Mann als eine „Persönlichkeit“ (110) bezeichnet, Kobelius aber nicht. – Richard und Kobelius waren sich „von der ersten Minute an nicht sympathisch“ (61). Zwar kommt Kobelius mit klaren Vorstellungen über den Tod Olivers zu Zureks – „Hinrichtung“ (60) –, will Zurek zu einer Veranstaltung mit den Abiturklassen einladen und gibt seiner Trauer Ausdruck – entgegen einem „unterkühlten Verhältnis“ (61) zu Zurek übermäßig, so dass Friederike Zurek „verlegen“ (60) wurde, aber er ist bei kleinen Veränderungen in der öffentlichen Berichterstattung sofort bereit, seine Haltung grundsätzlich zu ändern. So lädt er Richard Zurek wieder aus, nachdem ein anderes Gutachten bekannt wird, und statt von opportunistisch „Hinrichtung“ spricht er nun von Oliver als „Polizistenmörder“, der „sich selber erschossen“ hat (108). Dabei verschanzt er sich hinter seinem Kollegium, da er nicht den Mut zu einer eigenen Meinung hat. Seine pädagogischen Ziele sind von Äußerlichkeiten und öffentlicher Wirkung bestimmt, nicht von erzieherischen Notwendigkeiten.
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen
2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Iris Murdoch (6): (1919–1999), anglo-irische Schriftstellerin von großer Produktivität, auch Philosophin. Bekannt für die spannenden Handlungen ihrer Romane, die sich oft erotischen Themen widmen. Sie litt seit 1995 unter der Alzheimer-Krankheit. Der Schwarze Prinz (6): Roman von Iris Murdoch von 1973, in dem es um eine außergewöhnliche Erotik eines alten Mannes zu seinem jungen Mädchen geht, das ihn jedoch wiederliebt. Der Roman zählt zu ihren Hauptwerken. ein alter Regulator (7): Uhr mit einem Pendel, Perpendikel, im 19. Jahrhundert als Standuhr beliebt. Die Ganggenauigkeit lässt sich mit der Länge des Pendels einstellen. beim Gongschlag im Fernsehen … auf die Zwölf (7): Damit wird die Zeit der Nachrichten angegeben, die Punkt 19.00 im ZDF, genau 20.00 in der ARD gesendet werden. Aber der Begriff „auf die Zwölf stellen“ bedeutet metaphorisch die Ankündigung eines Endzustandes. Mit der Wendung „Es ist kurz vor Zwölf“ wird auf eine drohende Katastrophe, einen drohenden Untergang hingewiesen. Dass der Schriftsteller an diese metaphorische Bedeutung gedacht haben kann, wird durch die Verwendung der „Zwölf“ annehmbar, die er durch „volle Stunde“ und ähnliches hätte ersetzen können. Die Zwölf bekommt zusätzlich Bedeutung innerhalb der Zahlensymbolik. „Amici, diem perdidi“ (7): Ausspruch des römischen Kaisers Titus Flavius Vespasianus (39–81): „Freunde, ich habe einen Tag verloren.“ ein leichtes Erdbeben (20): In einigen Gebieten Deutschlands, im Vogtland, in der Schwäbischen Alb und im Rheingraben, treten Erdbeben, oft sogenannte Schwarmbeben, auf, die zahlreich sein und zu kleineren Schäden führen können. den Schreckensbildern des Fernsehens und der Zeitungen (20): Kurz zuvor wurde Zureks umfangreiche Dokumentation des
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen „Falles“ vorgestellt, darunter allein drei Ordner mit Artikeln aus der Boulevardpresse. Jetzt wird auf den verhängnisvollen Einfluss der Medien hingewiesen, die Ängste und Verwirrung auslösen. Es ergibt sich ein deutlicher Zusammenhang mit Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Venceremos (24): span. „Wir werden siegen.“ Titel eines politischen Kampfliedes aus Chile, das nach dem Militärputsch in Chile 1973, dort durfte es danach nicht mehr gespielt werden, international berühmt wurde. Revoluzzer (25): Bezeichnung für einen nicht ernst zu nehmenden Revolutionär; bekannt wurde Erich Mühsams Gedicht von 1907 Der Revoluzzer, das er der deutschen Sozialdemokratie widmete. Minister (26): Mit dem Minister ist der CDU-Politiker Rudolf Seiters (geb. 1937 in Osnabrück) gemeint. Er war von 1991 bis 1993 Bundesminister des Innern und trat nach dem Tod von Grams zurück. Er übernahm die politische Verantwortung diesen Tod, für den es mehrere Erklärungen gab. Seit 2003 ist S. Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Kleinen (27): Bezieht sich auf Bad Kleinen, Gemeinde zwischen Wismar und Schwerin am Schweriner See, einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte in Mecklenburg-Vorpommern. Bekannt wurde der Ort, als am 27. Juni 1993 die GSG 9 versuchte, zwei Mitglieder der Rote Armee Fraktion festzunehmen. Dabei kam es zu einem Schusswechsel, bei dem Wolfgang Grams und der GSG9-Beamte Michael Newrzella tödlich getroffen wurden. Bernd Emmerling (43): Es handelt sich, wie später mitgeteilt wird (72), um einen V-Mann des Verfassungsschutzes. In Wirklichkeit war es Klaus Steinmetz, der seit 1982 für den Verfassungsschutz tätig war. Geplant war, dass während der Festnahme von Grams und Hogefeld, im Roman Oliver und Katharina, Steinmetz entkommen sollte, um weiterhin für den Verfassungsschutz zu arbeiten; er wurde aber vorübergehend festgenommen und dann freigelassen. Aufgrund der nicht zu klärenden Todesumstände Grams‘ konnte Steinmetz‘ Rolle aber nicht mehr verheimlicht 2. Textanalyse und -interpretation
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen werden. Später nahm die RAF zur Rolle von Steinmetz Stellung und gestand den Fehler zu, ihn trotz seiner politischen Inaktivität nicht als Spitzel erkannt zu haben. Eid geleistet (46): Zureks Tochter Christin hat einen Eid als Beamtin (Lehrerin) auf den Staat geleistet; diesen Eid hat auch Zurek abgelegt. Daraus wird ein Konflikt entstehen, denn der Eid könnte die Wahrheit beeinträchtigen, wie am Beispiel eines Gutachters erörtert wird (95). Zureks Sohn Heiner hat ebenfalls „schwören“ müssen (48, 236 f.), allerdings seinem Bruder Oliver einen Eid im privaten Umfeld. Die Eide stehen sich gegensätzlich gegenüber: Der Oliver gegenüber abgelegte Eid betrifft familiäre Verhältnisse, der Eid der Beamten gesellschaftliche: Sie haben geschworen, „sich in den Dienst des Staates zu stellen und seine Gesetze zu wahren“ (46). Damit bekommt der Eid für den Roman eine wesentliche konfliktauslösende Funktion. fünf ihrer Freunde (51): Neben Wolfgang Grams (Oliver Zurek) und Birgit Hogefeld (Katharina Blumenschläger) waren auch der V-Mann des Verfassungsschutzes Klaus Steinmetz (Bernd Emmerling), der in die RAF eingedrungen war, und die RAF-Mitglieder Volker Staub und Daniela Klette in Kleinen anwesend, wie Fingerabdrücke ergaben. Ob sie miteinander Kontakt hatten, ist unklar. Generalbundesanwalt (57): Der G. ist der Chef der Bundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof und für den Staatsschutz die oberste Strafverfolgungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland. Er wird als Staatsanwalt tätig bei schwerwiegenden Strafangelegenheiten, die Angriffe auf die innere oder äußere Sicherheit darstellen. Angriffe auf die innere Sicherheit sind insbesondere terroristische Gewalttaten. – Generalbundesanwalt in der Realität war seit 1. Juni 1990 der FDP-Politiker Alexander von Stahl (geb. 1938). Er wurde von der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) am 6. Juli 1993 in den einstweiligen Ruhestand entlassen. Der Generalbundesanwalt wurde für die Informationspolitik zum Einsatz in Bad Kleinen verantwortlich gemacht, die desolat und
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen widersprüchlich verlief. Er selbst gab mehrere einander widersprechende Erklärungen zu dem Fall ab. Nach seiner Entlassung zog er sich aus der Politik zurück und arbeitete wieder als Rechtsanwalt. Wiesbaden (58): Landeshauptstadt von Hessen; Geburtsort von Wolfgang Grams. Hein siedelt die Handlung der Zureks in der Nähe Wiesbadens an: Die Zureks wohnen in einer namentlich nicht genannten Kleinstadt 20 km von Wiesbaden entfernt, W. wird mehrfach geschildert, wenn Zurek seinen Rechtsanwalt besucht (111, 249 u. a.). Hinrichtung (60): Während Zurek den Begriff nicht verwendet, spielt er für den Rechtsanwalt Feuchtenberger eine Rolle bei den Ermittlungen („Exekution“, 129). Zureks Nachfolger Kobelius setzt ihn ein, um Zureks Zusage für die Veranstaltung vor den Abiturklassen zu erhalten. Auch in Bölls Billard um halb zehn wird der Jugendliche Ferdinand Progulske 1935 hingerichtet, weil er gegen die Macht revoltierte. Per Plakat wird die „Hinrichtung“70 bekannt gemacht, die zwar der Staat verantwortete, die aber ein Verbrechen war. dem damaligen Zeitgeist (62): Der Zeitgeist wurde von zwangfreien Formen der Erziehung und Bildung geprägt, die unter dem Begriff „antiautoritäre Erziehung“ zusammengefasst werden können. Sie entstand im Zusammenhang mit den Studentenbewegungen in den sechziger Jahren und hatte einen Höhepunkt im Umfeld der Achtundsechziger. Es bestehen sehr unterschiedliche Vorstellungen von dieser Erziehung, die sich nicht prinzipiell gegen Autorität wendet, aber gegen zu eng gesetzte Grenzen. In der Praxis entstanden aber vielfältige Auswüchse, die den wesentlichen Faktor des Lernens in der Schule vernachlässigten. Drachenfels (68): Berg zwischen Königswinter und Bad Honnef; markante Erhebung über dem Rheintal mit der Ruine der Burg Drachenfels. 70 Heinrich Böll: Billard um halb zehn. Roman. Leipzig: Insel-Verlag, 1961, S. 61
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Landschaft in Algerien (69): Oliver war mit Karin Gloedel und Freunden über ein Jahr in Algerien. In einigen arabischen Staaten gab es Befreiungsorganisationen, z. B. die PLO mit mehreren Tochterunternehmen, die die RAF unterstützten oder mit ihr sympathisierten. Zu den Staaten gehörten neben Syrien, dem Irak, dem Nord-Jemen und Libyen auch Algerien. Als im sogenannten „Deutschen Herbst 1977“ die Bundesregierung die in Haft befindlichen RAF-Gefangenen nach einem möglichen Ziel befragte, falls man sie ausfliegen lasse, antwortete Andreas Baader: „Algerien/ Vietnam, Libyen, VR Jemen/Irak“. Rechtsstaat (73): An diesen Begriff, verwendet im Brief eines evangelischen Bischofs an Oliver, schließt sich eine Einlassung auf Recht und Unrecht, Gesetz und Willkür an, die einer MichaelKohlhaas-Situation entspricht. Sigrid Löffler überschrieb einen Abschnitt ihrer Rezension „Ein Michael Kohlhaas, gewaltfrei“71. Konstantin (76): Christins Sohn und Zureks Enkel trägt einen Namen, den Hein schon in einer Erzählung verwendete, die eine Vorstufe zu dem Roman darstellt: Der neuere (glücklichere) Kohlhaas. Bericht über einen Rechtshandel aus den Jahren 1972/73. Elvira K. ist verheiratet mit Hubert K. – ein Hinweis auf Kohlhaas, er führt den Rechtshandel. Beider Sohn heißt Konstantin. Zivilisation (78): Der Begriff wurde vom Adjektiv „zivil“ (bürgerlich) abgeleitet und geht auf den lateinischen Begriff „civis“ = Bürger zurück. Im Frankreich vor der Revolution von 1789 verband sich der Begriff der Z. mit der bürgerlichen Philosophie und entwickelte sich zum Gegensatz des Begriffs „Barbarei“. Gewaltmonopol des Staates (78): Darunter versteht man das ausschließlich staatlichen Organen vorbehaltene Recht, körperliche Gewalt ausüben zu dürfen oder anzuerkennen. Es ist ein Bestandteil moderner Staaten und hat sich seit Thomas Hobbes (1588– 1679) herausgebildet. In Hobbes’ Lehre vom Staat und vom Recht, niedergelegt 1651 in Leviathan, unterwirft sich der Bürger dem allgemeinen Willen der Staatsgewalt; dadurch wird der Mensch, der 71 Löffler, S. 38
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen nach Hobbes im Kriegszustand gegen die anderen Menschen lebt, gezähmt. Auch bei ihm ist die Rede von einem gegenseitigen Vertrag der Menschen, der aber dazu dient, Stärke und Mittel im Staate zu bündeln, der sie einsetzt. Der Soziologe Max Weber brachte schließlich 1919 in einem Vortrag Politik als Beruf diese Macht des Staates auf den Begriff „Gewaltmonopol des Staates“. Übereinkunft der Menschen (78): Diese Fügung geht auf die atheistische Denkkultur der griechischen Philosophen zurück und weist direkt auf Epikur von Samos hin. Er schuf eine Rechtsgrundlage für einen Staat, indem er von der Vorstellung und dem Grundsatz ausging, dass Menschen einen gegenseitigen Vertrag, eine Übereinkunft miteinander treffen, einander keinen Schaden zuzufügen noch sich zufügen zu lassen: „Das der menschlichen Natur entsprechende Recht ist eine Vereinbarung über das Mittel, mit dem verhindert wird, dass sich Menschen gegenseitig schädigen oder schädigen lassen.“72 Diese Übereinkunft wurde die Grundlage für die „Allgemeinen Menschenrechte“, die erstmals in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 Eingang fanden und am 26. August 1789 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung aufgingen. Aufgelistet wurden die Grundrechte, die durch den Staat geschützt werden sollten, um den Menschen nicht zu veranlassen, durch Gewalt diese Rechte zu erobern und zu sichern. in den Berichten der Überlebenden der Konzentrationslager (80): Solche Überlegungen und Gedanken, wodurch sie überlebten bzw. wie das gegenüber den Toten zu rechtfertigen ist, finden sich bei überlebenden Schriftstellern der KZs, so bei Ehm Welk und Jean Améry, bei Ernst Wiechert und Imre Kertész u. a. Hein hat diese Überlegungen fast wörtlich auch in seine Rede auf den Tod Siegfried Unselds aufgenommen: „Nichts, gar nichts kann mir erklären oder begründen, warum mein mir Nächster stirbt und ich überlebe.“73 72 Epikur: Wege zum Glück, hrsg. und übersetzt von Rainer Nickel. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, 2005, S. 129 (31. Hauptlehrsatz) 73 Christoph Hein: Sechs Sätze zu Siegfried Unseld. In: Ders.: Aber der Narr will nicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 178
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen solche unsinnigen Schuldgefühle (81): Zuerst spricht der Vater von solcher Schuld, dann Christin, die Vater und Mutter – und damit diese Schuld- und Schamgefühle – dem Psychiater überantworten möchte. Der Vater beruft sich auf die „Überlebenden der Konzentrationslager“ (80), die sich schuldig gegenüber den Ermordeten gefühlt hätten. revolutionärer Kampf (83): Christin fasst Olivers Zielstellungen in einigen Schlagwörtern zusammen, die samt und sonders nicht mit den zwischen Vater und Tochter diskutierten Staatstheorien zu vereinbaren sind, sondern deren Vernichtung anstreben. Olympische Spiele (87): Friederike Zurek hätte an den Olympischen Sommerspielen 1944 in London teilgenommen, die aber wegen des Zweiten Weltkrieges ausfielen. 1948 fanden die Spiele dann in London statt, aber Deutschland durfte nicht teilnehmen. Bundeskanzler (93): Zu dieser Zeit regierte Helmut Kohl; er war von 1982 bis 1998 Bundeskanzler. Händel (99): Zurek hat eine Sammlung von Werken Georg Friedrich Händels (1685–1759), ein in Halle (Saale) geborener und besonders in London wirkender Komponist von großer Produktivität (46 Opern, 25 Oratorien), der alle Genres seiner Zeit bediente und bis heute einer der wirkungsvollsten Komponisten aller Zeiten ist. Lascia ch’io pianga (99): Arie (Sarabande) aus Händels Oper Rinaldo (Libretto: Giacomo Rossi), die 1711 uraufgeführt wurde. Die Übersetzung lautet: „Lass mich beweinen mein grausames Schicksal“; die Arie wurde aus der Oper Almira übernommen. Rinaldo spielt zwischen 1096 und 1099 in Palästina; der Inhalt geht auf Torquato Tassos Das befreite Jerusalem zurück. Die Arie gehört zu Händels bekanntesten Werken und wurde im 20. Jahrhundert in der Werbung, aber auch als Filmmusik (Lars von Trier Antichrist) verwendet. Almirena beklagt ihr Schicksal und bittet um Gnade. Sie fühlt sich verbannt und ersehnt den Tod. damals im Schwarzwald (103): Es wird ein Ereignis erwähnt, an das sich die Zureks nur ungern erinnern. Erst später (146 ff.) wird es erneut aufgenommen: Zureks waren 1987 – Oliver ist unterge-
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen taucht – in Mooskopf, unweit von Freudenstadt im Schwarzwald, im Urlaub und sehen bei der Einfahrt in den Ort ein Fahndungsplakat mit den Fotos ihres Sohnes und Katharina Blumenschlägers. Sie werden während des gesamten Urlaubs mit diesen Fahndungsplakaten konfrontiert. Rotfrontkämpferbund (112): Der RFB war die paramilitärische Organisation der KPD in der Weimarer Republik, wurde 1924 gegründet und 1929 verboten. Der Gruß der Kämpfer war die erhobene geschlossene Faust, die sich auch auf dem Emblem des RFB befand. Der Vater des Mörders ist der Lehrer unserer Kinder (116): Die erste Hälfte der Bildunterschrift ist fast identisch mit dem Titel der Erzählung von Alfred Andersch Der Vater eines Mörders (1980), die zweite Hälfte nennt den Beruf: Auch in Anderschs Erzählung ist die Hauptgestalt Direktor eines Gymnasiums; er heißt Himmler und ist der Vater des nationalsozialistischen Massenmörders Heinrich Himmler. Die Parallelität verdeutlicht, wie verantwortungslos und unhistorisch die Presse mit dem Fall umgeht. die Welt hinzunehmen, wie sie nun einmal ist (120): Der Ausspruch des Pfarrers beschreibt ein Weltverständnis, das seit der Aufklärung kritisch beurteilt und in Voltaires Roman Candide oder Der Optimismus ironisiert worden ist. Voltaire ironisierte die vorhandene Welt als die „beste aller Welten“, in der „die Dinge nicht anders sein können als sie sind“74. Das bedeutete auch, „ruhig und besonnen die Ungerechtigkeiten hin(zu)nehmen“ (120 f.). Im weiteren Verlauf seiner Rede zweifelt der Pfarrer selbst an der Richtigkeit seiner These. Geduld des Schafes (121): Die in der Traueransprache des Pfarrers Alarich gebrauchte Wendung geht auf „Agnus Dei“ (Lamm Gottes) zurück; seit dem 4. Jahrhundert ist es das Sinnbild Christi. Es werden auch die Grenzen der Geduld angedeutet; so sagt der Volksmund: „Es gehen viele geduldige Schafe in einen Stall“. Der Kenner 74 Voltaire: Sämtliche Romane und Erzählungen. 1. Band. Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1959, S. 149
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen der Werke Heinrich Bölls wird auch den Roman Billard um halb zehn (1959) assoziieren, in dem das Sakrament des Lammes, weisend auf die Menschlichkeit des Christentums, und das Sakrament des Büffels, Symbol für Gewalt, miteinander konfrontiert werden. Böll gibt Beispiele dafür, dass die „Lämmer“ durchaus „Aufruhr und Rache“75 ausüben können, wenn sie es für richtig halten. Todesschwadronen (134): Im letzten Viertel des 20. Jahrhundert waren Todesschwadronen in Lateinamerika verbreitet. Bekannt und berüchtigt wurden die in El Salvador, die Erzbischof Romero ermordeten, aber auch die in Brasilien, Guatemala und im Chile Pinochets. Sie standen oft in engem Zusammenhang mit den jeweiligen Militärs, wurden meist in den USA (School of the Americas) ausgebildet und von Militärberatern der USA unterstützt. Che Guevara (136): Ernesto Rafael Guevara de la Serna (1928– 1967) war ein marxistischer Politiker, Guerillaführer, Arzt und Philosoph. Er ist neben Fidel Castro Comandante und die Symbolfigur der Kubanischen Revolution von 1957/58. Seine Reden und Schriften beeinflussten revolutionäre Bewegungen in der gesamten Welt, insbesondere seine Theorie vom Export der Revolution. Sein Tod im revolutionären Einsatz in Bolivien machte aus ihm einen Märtyrer von ungeahntem postumem Kult. Er wird zu den 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts gerechnet. Gramsci (136): Antonio Gramsci (1891–1937) war ein italienischer marxistischer Theoretiker und 1921 Mitbegründer der Italienischen Kommunistischen Partei. Er wurde 1928 zu 20 Jahren Haft verurteilt; in dieser Zeit entstanden die berühmten Gefängnishefte. Er vertrat u. a. die Ansicht, dass aus spontanen Bewegungen der Massen Vorstellungen über die Veränderbarkeit der Gesellschaft entstünden. In den 70-er Jahren stieg der Einfluss G.s auf die linken Kräfte der Bundesrepublik nachdrücklich. Marx (136): Karl Marx (1818–1883) begründete – gemeinsam mit Friedrich Engels – den Sozialismus wissenschaftlich und schuf die nach ihm benannte marxistische Philosophie. Er ging von der 75 Heinrich Böll: Billard um halb zehn. Roman. Leipzig: Insel-Verlag, 1961, S. 60
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen aus und entwickelte daraus seine Vorstellung von der Gesellschaft und der Geschichte der Menschheit. Zu seinen wichtigsten Schriften gehörte das Manifest der Kommunistischen Partei (1848), bis heute von Bedeutung beim Verständnis für die Bewegungen des Kapitals ist seine entsprechende Analyse, ausgearbeitet in dem dreibändigen Hauptwerk Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1. Band, 1867; 2. und 3. Band 1885 und 1895 von Engels herausgegeben). Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche (137): Ein berühmter Ausspruch Che Guevaras, der während der Studentenrevolte 1968 oft verwendet und auch in Variationen („… fordern wir das Unmögliche“) eingesetzt wurde. Man muss das Volk vor sich erschrecken lehren … (137): Zitat aus Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) von Karl Marx, veröffentlicht in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern.76 Korintherbriefe (137): Der Apostel Paulus von Tarsus hat vermutlich um 51 vier Briefe an die Korinther geschrieben, aber nur zwei blieben erhalten. Sie wurden in das Neue Testament der Bibel aufgenommen und geben Einblick in das Leben einer urchristlichen Gemeinde. Die Briefe antworten auf Fragen der Korinther, die aus dem Aufeinandertreffen des Hellenismus mit der christlichen Kirche entstanden waren und Missbräuche, Zügellosigkeit, Unzucht und falsche Toleranz betrafen. Berühmte Maximen stammen aus diesen Briefen: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor., 13, 13) Expropriation der Expropriateure (137): dt.: die Enteignung der Ausbeuter. Es handelt sich um eine Begriffsfügung von Karl Marx im Kapital, die dieser im Zusammenhang mit der Feststellung aufstellte: „Die Expropriateurs werden expropriiert. … Die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist die Negation der Ne76 Deutsch-Französische Jahrbücher, hrsg. von Arnold Ruge und Karl Marx 1844. Leipzig: Reclam, 1981 (Universal-Bibliothek, Bd. 542), S. 153
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen gation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“77 Bergpredigt (138): Die große Rede des Jesus von Nazareth, 40–50 Jahre nach Jesu Tod aufgenommen in das Evangelium des Matthäus (Mt 5–7), ist ein Dokument des öffentlichen Wirkens Jesu. Der Name stammt vom Ort der Rede; als Jesus das Volk sah, ging er auf einen Berg und sprach zu ihm von dort aus. Jesus zerstört in der Rede die pharisäischen Vorgaben und beschreibt den Beginn des Reiches Gottes: „… ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5, 17). Dazu stellt er den Zuhörern Forderungen, Gebote und das Vaterunser vor. Dom der Lüge (139): Die Wendung korrespondiert mit dem Begriff „Lügengebäude“; das über Oliver errichtete hat riesige Ausmaße angenommen, aus dem Gebäude wurde der Dom. Aber die Wendung gehört auch zum Untertext, denn sie erinnert an das 9. Kapitel Der Dom in Franz Kafkas Roman Der Prozess, in dem K. von einem Geistlichen im Dom erfährt, dass „die Lüge … zur Weltordnung gemacht“78 wird. Gustav Adolf (150): Gemeint ist Gustav II. Adolf, König von Schweden (1594–1632). Er war einer der herausragenden protestantischen Herrscher und von großer Bedeutung für die Rolle der Protestanten im Dreißigjährigen Krieg, in dem er 1632 bei Lützen fiel. Die Beurteilung der großen Persönlichkeit schwankte mehrfach in der Geschichtsschreibung, letztlich gehört er aber heute noch zu den herausragenden und oft gefeierten historischen Persönlichkeiten. Fantasie (166): Olivers Vorbild Wolfgang Grams wurde künstlerische Fantasie bescheinigt; er spielte Gitarre und war Statist am Wiesbadener Theater. Nicht nur Katharina Blumenschläger ist von 77 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 23: Das Kapital. Berlin: Dietz Verlag, 1968, S. 791 78 Franz Kafka: Erzählungen, Der Prozess, Das Schloss. Berlin: Rütten & Loening, 1965, S. 407
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Olivers Fantasie begeistert, sondern auch seine Schwester Christin erinnert sich trotz aller Vorbehalte, die sie gegen den Bruder entwickelt hat, an diese herausragende Fantasie (178). Minister, Demokratie, Beamter (172): Zurek unterrichtet Latein und führt seine Schüler in moderne Werte ein, indem er wesentliche Begriffe des Staates ins Deutsche übersetzt: der Minister als Diener/Gehilfe. In Gesellschaftskunde und im Deutschunterricht setzt er diesen Unterricht fort, erläutert die Demokratie und erklärt, dass es sich beim „Beamten“ um einen „Staatsangestellte(n) mit einer besonderen Treuepflicht“ handelt, der „selbstlos … der Gerechtigkeit zu dienen hat“ (172). Idee des Staates (172): Der Begriff durchzieht die staatsrechtlichen Entwürfe von der Antike (Platon, Epikur) bis zur Gegenwart. Seit der entstehenden Aufklärung rückte er ins Zentrum der Staatsund Rechtsphilosophie und erlebte wirksame Bestimmungen bei Thomas Hobbes (Leviathan). Der moderne Begriff „Idee des Staates“ geht auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss zurück. Die „Idee des Staates“ verwirklicht sich nach Hegel dadurch, dass das Individuum sich den sittlichen Geist des Staates aneignet und danach lebt. Damit verwirklicht es die „Idee des Staates“ und damit sich selbst in Freiheit: „Im wahrhaft vernünftig gegliederten Staat sind alle Gesetze und Einrichtungen nichts als eine Realisation der Freiheit nach deren wesentlichen Bestimmungen … Willkür heißt man zwar oft gleichfalls Freiheit; doch Willkür ist nur die unvernünftige Freiheit, das Wählen und Selbstbestimmen nicht aus der Vernunft des Willens, sondern aus zufälligen Trieben und deren Abhängigkeit von Sinnlichem und Äußerem.“79 Hein hat sich mehrfach zu diesem Begriff Hegels geäußert und ist darauf eingegangen, dass Hegel „im Staat die Verkörperung einer sittlichen Idee“80 gesehen hat. 79 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, Bd. 1. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1965, S. 106 80 Christoph Hein: Lorbeerwald und Kartoffelacker. In: Ders.: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1987, S. 14
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Dilemma (192): In einem D. steckt, wem nur die Wahl zwischen zwei gleich unangenehmen Möglichkeiten bleibt. Katharina Blumenschläger beschreibt damit selbstkritisch den Charakter ihres Kampfes. Seine Funktion für den Roman bekommt der Begriff erst später (vgl. die Anmerkung zu S. 214). Kameliendame (203): Berühmte Titelgestalt des Romans (1848) und des Dramas (1852) La dame aux camélias (Die Kameliendame) von Alexandre Dumas d. J., Vorlage für die Oper La Traviata (1853) von Giuseppe Verdi. Es ist die Liebesgeschichte der entsagenden Frau, die um der Zukunft des Mannes willen ihre Liebe aufgibt und stirbt. Es siegen die gesellschaftlichen Konventionen. Rosenkavalier (206): Hier: ein Mann, der einer Frau häufig Blumen mitbringt. – Der Rosenkavalier, Oper in drei Aufzügen, von Richard Strauss, Libretto von Hugo von Hofmannsthal, Uraufführung 1911 in Dresden. Die Oper spielt im Österreich der Kaiserin Maria Theresia und lebt von der Pracht der Wiener Aristokratie. Hier siegt die Liebe zwischen Octavian und Sophie über die Konvention, die Octavian erfüllen sollte, indem er als sog. Rosenkavalier die silberne Rose des Bräutigams Baron Ochs der Braut Sophie überbringt. Ob beide heiraten werden, ist jedoch ungewiss, denn Sophie ist im Zweifel, ob ihre Beziehung ein Traum oder Wirklichkeit ist. in ein Dilemma gekommen (214): Ein Kunstgriff verweist auf das Problem, vor dem Oliver und Katharina Blumenschläger einerseits, der Beamte Pfaff andererseits stehen. Hein legt beiden den gleichen Begriff „Dilemma“ (Zwangslage) in den Mund (192). Bei Katharina besteht das Dilemma darin, Menschlichkeit erkämpfen zu wollen und den Kampf mit Unmenschlichkeit zu führen. Für den Beamten besteht das Dilemma zwischen dem Eid des Beamten und dem Bekenntnis des Vaters zum Sohn; damit wird die moralische Problematik des Staates zur Alltäglichkeit erhoben. Der Begriff „Dilemma“ gehört zu den Lieblingsbegriffen Heins: So beschrieb er das D. der DDR81, das D. der Geistes- und Gesell81 Christop Hein: Als Kind habe ich Stalin gesehen. Essais und Reden. Berlin und Weimar: AufbauVerlag, 1990, S. 106
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen schaftswissenschaften82, das D. der Historiker und Schriftsteller mit ihrem Publikum83 u. a. m. Dilemma im Zusammenhang mit dem Rechtsstaat und der Darstellung dieses D.s durch Literatur verwendete Hein 1994 in seiner Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse. Die dort getroffenen Formulierungen erscheinen wie eine Abstraktion des Romans (s. S. 29 der vorliegenden Erläuterung). Demokratie (224): Zurek konzentriert sein Verständnis von Demokratie auf den Einsatz der Mittel, den Gebrauch des Gewaltmonopols und sieht als wesentliches Kriterium für D., dass „nur rechtliche, nur rechtmäßige Mittel seitens des Staates erlaubt sind“ (224). Daraus leitete er ab, dass eine D. immer verteidigt werden muss. Aber indem man gegen Oliver unrechtmäßige Mittel eingesetzt habe, sei dieser zum Terroristen geworden und habe „Polizisten nur noch als Faschisten bezeichnet“ (225). – In der Antike bezeichnete Demokratie die Volksherrschaft (demos = Volk, kratia = Herrschaft), wobei das Volk in diesem Falle begrenzt, weil wahlberechtigt nur die altersmäßig begrenzte Gruppe der freien, waffentragenden Männer war. Bereits die verschiedenen Formen der griechischen Demokratie waren umstritten; Platon lehnte sie konsequent ab und hielt sie für überlebt. Das moderne Verständnis von Demokratie geht vom gleichen Recht aller Bürger aus, das sich auf Natur- und Menschenrecht gründet. Die Menschen entscheiden sich dabei in Freiheit, wobei Freiheit als Einsicht in Notwendigkeiten begriffen wird: Die Menschen beteiligen sich am Gesetzgebungsverfahren, in dem Regeln entstehen, die man als gut und nützlich erkannt hat und gemeinsam befolgen will. wer sich in Gefahr begibt (225): Christin zitiert einen katholischen Bibelspruch „Denn wer sich gern in Gefahr begibt, verdirbt darin“ (Jesus Sirach 3, 27) – heute meist zitiert: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“ –, den sie jedoch nicht vollkommen ausspricht, weil es die Eltern am wundesten Punkt treffen würde. 82 Ebd., S. 115 83 Ebd., S. 118
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen der neu ernannte Generalbundesanwalt (227): Am 7. Februar 1994 übernahm in der Wirklichkeit Kay Nehm (geb. 1941) dieses Amt nach Alexander von Stahl (siehe Anmerkung zu S. 57) und übte es bis zum 31. Mai 2006 – Nehm trat in den Ruhestand – aus. Bonvivant (227): heute ungebräuchlich: Lebemann; wird auch für ein Rollenfach im Theater verwendet und bezeichnet dabei einen leichtlebigen, auch leichtsinnigen und eleganten Lebemann. nach dem Tod des Mannes (234): Das geschilderte Erlebnis mit den Frauen, die zwei Leben führen, eines mit „Entbehrungen“ und „Kränkungen“ und eines in Freizügigkeit, erinnert an Brechts Erzählung Die unwürdige Greisin (1939, später aufgenommen in die Kalendergeschichten); Brechts Greisin bringt Jahrzehnte in „Knechtschaft“ und zwei Jahre an ihrem Lebensende in einem frei bestimmten Leben zu. Justitia eine Binde vor den Augen (244): J., lat. Iustitia, nach lat. ius = Recht, ist die römische Göttin der Gerechtigkeit, bei den Griechen Themis. Sie steht oft als Plastik vor oder in Gerichtsgebäuden, ausgestattet mit einer Waage für das sorgsame Abwägen des Sachverhalts, mit einem Schwert als Zeichen der Strafe und – seit dem 16. Jahrhundert – mit einer Augenbinde als Zeichen der Unparteilichkeit, damit sie sich nicht von Persönlichkeiten beeindrucken lässt, nichts anderes sehen oder auf Angebote eingehen kann. Ovid (246): Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. bis ca. 18), römischer Dichter, galt als Lieblingsdichter der Gebildeten seiner Zeit. Er blieb bis in die Gegenwart berühmt durch seine Ars amandi (Liebeskunst) und Metamorphosen. Cato (246): Das lat. Zitat heißt übersetzt: „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato.“ Es ist ein Zitat aus Lucanus‘ Pharsalia (1, 128). Der jüngere Cato, Marcus Porcius Cato Uticensis (95–46 v. Chr., Freitod in Utica), war ein entschiedener Gegner von Julius Cäsar, aber auch von Pompeius. – Das Zitat verwendet Hein auch in seinem Essay Ich hielte gern Friede und Ruhe, aber der Narr will nicht (1996) und benutzt es, um die
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Haltung des Intellektuellen zu beschreiben und damit die eigene Position zu bestimmen. Zwar beschreibe Cato „eine großherzige und würdige Gesinnung, er kennzeichnet aber nicht die Haltung des Intellektuellen. Er hat sich nicht zu dem Sieger oder zu dem Besiegten zu stellen, sondern muss sein Feld behaupten, seine Wahrheit. Das moralische Weltgebäude der Vernunft hat er gegen die Welt zu setzen. Freilich wird er sich daher nur zu oft bei den Verlorenen und Unterlegenen wiederzufinden.“84 Landgraf, bleibe hart (247): Das Sprichwort ist in der Form „Landmann, werde hart!“ überliefert. Es geht auf die Sage zurück, dass der Thüringer Landgraf Ludwig II. (der Eiserne, 1140–1172) unerkannt bei einem Schmied in Ruhla übernachtete, der beim Schmieden diesen Satz gesagt habe. Er wollte damit die Nachsichtigkeit des Landgrafen anprangern. Der Landgraf nahm sich das zu Herzen und schritt gegen den disziplinlosen Adel, Unzucht und Unordnung im Lande mit eiserner Faust ein. Im Stadtwappen von Ruhla ist dieser Schmied zu sehen. die Hausmannschen Boulevards (249): Georges-Eugène Baron Haussmann (1809–1891) war französischer Präfekt von Paris und Stadtgestalter. Er plante Paris neu und gestaltete unter anderem den Opernplatz neu. Dazu ließ er Straßen durchbrechen und Boulevards durch die Stadt schlagen, die auf dem Opernplatz mündeten und ihn zur Drehscheibe des Pariser Verkehrs machten. Es entstanden breite, die Stadt durchziehende Boulevards, die Paris zur modernen Stadt mit gewaltigen Sichtachsen machten und gleichzeitig geeignete Aufmarschorte waren. Landschaftsbild … fast monochrom in Weiß (249): Ein ähnliches Bild malt Paula Trousseau in Christoph Heins Roman Frau Paula Trousseau (2007). Das weiße Bild, wird zur zentralen Metapher: Es ist ein Winterbild in Weiß, auf dem die „nicht sichtbare, verborgene Landschaft, eine Welt hinter der Welt“85 gesucht wird. Das Weiß ist in der europäischen Tradition die Farbe der Reinheit 84 Christoph Hein: Aber der Narr will nicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 133 85 Christoph Hein: Frau Paula Trousseau. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2007, S. 271
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen und Unberührtheit. Von den Professoren der Kunsthochschule abgelehnt, von ihren Kommilitonen akzeptiert, verschwindet das weiße Bild Paulas wie das Bildnis des Dorian Gray in Oscar Wildes Roman für lange Zeit. Als Paula es nach 20 Jahren wieder hervorholt, findet sie nicht, wie Dorian Gray, das gelebte Leben darauf, sondern: „Die weiße Landschaft … war eines meiner nicht gelebten Leben.“86 Talmon-Bach (256): Hein gibt dem Richter den Namen des bekannten jüdischen Geschichts- und Rechtsgelehrten Jacob Leib Talmon (1916–1980), der an der Universität Jerusalem lehrte. Er prägte die Begriffe „Totalitäre Demokratie“ und „Politischer Messianismus“, so hießen auch zwei seiner Hauptwerke (The Origins of Totalitarian Democracy, 1952; Political Messianism –The Romantic Phase, 1960). Er entwickelte eine Linie von Rousseau über die Französische Revolution bis zu Stalin, die sich auch auf den heutigen Terror anwenden ließe: Danach ist nur das Ziel wichtig, nicht die Mittel, nur das Erreichen eines absoluten kollektiven Zwecks, nicht die Interessen des Individuums. – In der Realität hieß der Vorsitzende Richter am Landgericht Bonn Heinz Sonnenberger. Pyrrhussieg (260): Benannt nach Pyrrhus, dem König der Molosser, der 279 v. Chr. über die Römer siegte, aber dabei so schwere Verluste hatte, dass der Sieg einer Niederlage gleichkam. non liquet (260): lat.: „Es ist nicht klar.“ Feststellung aus dem Rechtswesen, dass eine Behauptung oder ein Sachverhalt weder von der einen noch von der anderen Seite bewiesen werden kann. Fuchsschwanz angeklebt (260): Der abgetrennte und präparierte Schwanz eines Fuchses (fachsprachlich „Lunte“) dient zu verschiedenartigem Schmuck: als Narrenattribut im Karneval – in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht tragen noch heute viele Narren den Fuchsschwanz –, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an Rückspiegeln und Antennen, besonders bei 86 Ebd., S. 507
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2.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen Mantas, aber auch als Attribut des Gejagten beim Geländespiel oder der Schnitzeljagd. In Sebastian Brants Narrenschiff (1494) ist der angehängte Fuchsschwanz Zeichen für Betrug, verlogenes Geschwätz und üble Nachrede des Trägers. Infolgedessen bezeichnete man Betrüger als „Fuchsschwänzer“.
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2.6 Stil und Sprache
2.6 Stil und Sprache Die Sprache des Romans ist sachlich und nüchtern; auf den ersten Blick bietet sie kaum Auffälligkeiten. Sie verbindet „tiefe Redlichkeit mit hoher Glanzlosigkeit“87 – eine treffende Beschreibung der Sprache des Schriftstellers, die zu einer Besonderheit seines Schreibens wurde und im Falle des vorliegenden Romans besonders angemessen ist. Die Alltäglichkeit des Vorgangs verweigert sich jeder Überhöhung; die Sprache wird bis ins Detail mit der Pedanterie der Hauptperson Richard Zurek abgestimmt. Man sieht ihn vor sich, Zeitungen durchgehend, Artikel ausschneidend und in Mappen abheftend (116). Er bleibt immer der disziplinierte erfahrene Pädagoge, der nicht aus der Rolle fällt. Das führt in den mittleren Kapiteln (4.– 20.) zu einer Genauigkeit, die zur Redundanz tendiert: „Der ewig gleiche Ablauf ihrer Tage“ (146) wird damit sprachlich umgesetzt; die Unterwerfung unter die genaue Tagesplanung hilft ihnen, die Erschütterungen zu unterdrücken. Richard Zurek lebt in einer nüchternen Sprachwelt:
sachlich und nüchtern
„Es herrscht in diesem Buch oft eine sprachliche Betulichkeit, die stark nach Aktenstaub mieft. Vielleicht aber bringt gerade sie den richtigen Ton in die Geschichte. Statt sich zu empören oder mit Leidenschaft gleich auf eine Seite zu schlagen, breitet der Autor Hein ruhig und beharrlich die Details eines deutschen Dramas aus – und die verschiedenen, radikal entgegengesetzten Schlüsse, die man daraus ziehen kann.“88
Richard Zurek wird die geistige Welt Olivers zur Erleuchtung; er spürt in der Welt, in der sich Oliver orientiert hat – es ist die Welt hoher philosophischer Präzision und wird vertreten durch Gramsci, Karl Marx und Che Guevara (136) –, „der Schönheit dieser Wor87 Löffler, S. 37 88 Wolfgang Höbel: Kohlhaas in Bad Kleinen. In: Der Spiegel Nr. 4 vom 24. Januar 2005, S. 169
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2.6 Stil und Sprache te nach, dem wundervollen und berauschenden Sirenengesang ihrer Formeln“ (137). Als Richard Zurek seine nüchterne Haltung aufgibt, wird das zuerst in sprachlichen Veränderungen deutVulgarismen lich: Er gebraucht Vulgarismen, die sonst bei ihm unüblich sind: „Dieses Gesicht. Eine Fresse. Ein Arschgesicht.“ (114), seine Frau schaut ihn „fassungslos“ (115) an. Er steigert sich zu „ein großer Haufen Scheiße“ (133) und erhebt diese Feststellung fast zu einem „Lehrsatz“ (133). Die Eröffnung des Romans ist bereits Eröffnung des Romans ist von von großer Präzision: Sie reicht vom Verb großer Präzision „schaute“ (7) am Beginn bis zu seiner Wiederholung. Als die bisher namenlose Beobachterin ein zweites Mal auf die Uhr schaut, sind erst „zwei oder drei Minuten vergangen“ (7). Romantechnisch hat der Leser es mit der für Prosa ungewöhnlichen Zeitdeckung zu tun, bei der die erzählte Zeit mit der Erzählzeit deckungsgleich ist. Dieser erzählerische Aufwand findet seinen Sinn zuerst in einer detaillierten Milieuschilderung. Sie erstreckt sich vom „alte(n) Regulator“, einer Standuhr aus vergangener Zeit mit Pendel, über die Möbel aus einem Antiquitätengeschäft bis zur täglichen Zeremonie des Zeitstellens. Alle Requisiten dienen der Beschreibung von alter, bürgerlicher Solidität, Bescheidenheit und Korrektheit. Eine lange Ehe – die Hochzeit war vor „Jahrzehnten“ (7) – bestätigt dieses Bild ebenso wie die humanistische Bildung des männlichen Partners, denn die tägliche Zeremonie des Zeitstellens wird verbunden mit einem lateinischen Zitat: „Amici, diem perdidi.“ („Freunde, ich habe einen Tag verloren.“) Es geht bei dem Zitat nicht um das Ausstellen von Bildung, sondern um die Abrechnung vertaner Möglichkeiten: Der Tag ist verloren, weil man nichts Gutes oder Denkwürdiges geleistet hat. Der Satz wird am Ende erneut aufgenommen, nun in Deutsch und in gegenteiliger Bedeutung: „Heute habe ich keinen Tag verloren“ (271).
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2.6 Stil und Sprache Die Zeitdeckung gehört zu dem Gestaltungsmittel „Zeit“: Begriffe aus dem zugehörigen Wortfeld beherrZeitdeckung schen den Abschnitt (Uhr, Regulator, Pendel, Uhrwerk, Zeitanzeige, Pendeluhr usw.). Innerhalb einer Zeitspanne von Minuten wird der Umriss eines Lebens und einer Ehe erkennbar, die in ihrer Spätphase angekommen sind. Vor Jahrzehnten hat man geheiratet, anfangs hat man sparsam, fast spartanisch gelebt, ein Hinweis auf eine junge Ehe in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges. Erst allmählich hat man sich die wertvolle Einrichtung zusammenkaufen können, nachdem mehrere billige Einrichtungen einander abgelöst haben. Der erste Abschnitt erfüllt die Aufgabe einer Exposition: Ein solides, seriöses und gebildetes älteres Ehepaar lebt einen geregelten Alltag in großer Genauigkeit und einem ritualisierten Ablauf, der durch eine Irritation gestört worden ist. Von gleicher Präzision ist der gesamte Roman. Wenn vom „Alltag“ (135) zu lesen ist, und er wird vom Beginn an in mehreren Varianten eingeführt („jeden Abend“ in Wiederholung, 7; „immer wieder“, 17; „wöchentlich“, „jeden Morgen nach dem Frühstück“, 145; „der ewig gleiche Ablauf ihrer Tage“, 146 usf.), wird dieser minutiös beschrieben und in seinem alltäglichen zeitlichen Verlauf verfolgt: „tagein, tagaus“, „zur selben Stunde, „ um die gleiche Zeit“ (135). Erst am Ende brechen die Zureks aus diesem Alltag aus; Richard Zurek hat seinen Eid zurückgenommen, ist also niemandem mehr verpflichtet, sein Ziel hat er letztlich erreicht – gegenüber dem Staat – und so gehen sie „im Bahnhof essen“ (271). Es ist die Ausnahmesituation und der letzte Satz des Romans. Im 6. Kapitel kommt es zu einer Aussprache zwischen dem Vater Richard Zurek, dem Lehrer in Pension, und seiner Tochter Christin, einer verbeamteten Lehrerin. Die sprachliche Gestaltung zielt auf Grundsätzliches: Christins Rede ist Christins Rede untypisch für ein Gespräch mit dem Vater; aus dem Monolog wird die Beschreibung der politischen, moralischen und philosophischen Unterschiede zwischen Christin,
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2.6 Stil und Sprache die auf den Staat einen Eid abgelegt hat, und Oliver, der gegen diesen Staat militant zu Felde gezogen ist und ihn vernichten wollte. Aus der privat grundierten Situation, die aufgehoben wird, entsteht die Beschreibung eines grundsätzlichen Konfliktes zwischen Bekenntnis zum Staat und Kampf gegen den Staat. Zureks Anwalt bringt es auf den Punkt: „In diesen Fall (des Oliver Zurek, R. B.) ist der gesamte Staat involviert, Staatsschutz, Polizei, Bundeskriminalamt, Landesregierung, Generalstaatsanwalt, Innenministerium, sie alle stecken mittendrin.“ (130) Im Hintergrund des Konfliktes und seiner sprachlichen Umsetzung stehen staatsrechtliche Konzeptionen, die auf Epikur und Hobbes, Lewis Henry Morgan und Friedrich Engels zurückgehen. Das gehört nicht zu den notwendigen Bildungsvoraussetzungen Christins, aber durchaus zu den Erziehungsinhalten Zureks und zu den Wertvorstellungen des Erzählers/Autors. Der Übergang vollzieht sich mit der Feststellung: „Er hat eine Linie überschritten …“ (78). Meint Christin mit der „Linie“ das Verhalten Olivers in der Familie, so ändert sich an dieser Stelle auch Art und Inhalt des Monologs von Christin: Er verliert seinen privaten Gesprächscharakter und bekommt Züge einer staatsrechtlichen Züge einer staatsrechtlichen Belehrung: Belehrung Es reihen sich anschließend Begriffe des Staatsrechts (Staat, Gewaltmonopol, Zivilisation, Kultur, Barbarei), die in einem Schlüsselbegriff des Romans „Übereinkunft der Menschen“ (78) gipfeln. Damit wird die Tür zum philosophischen Hintergrund geöffnet, ist es doch ein zentraler Begriff Epikurs und betrifft das menschliche Zusammenleben. Die Öffnung zu Morgan und Engels geschieht bereits durch die vom Titel ausgelösten Assoziationen. Hein überzieht seine Prosa mit derartigen Wortfeldern; sie schaffen indirekt eine Kommentierung der Ereignisse. Neben der „Übereinkunft der Menschen“ ist ein bestimmendes Wortfeld das von „Olivers Tod“ (12). Damit wird das den Roman durchziehende Ereignis neutral bezeichnet. Im Anschluss daran wird die Neutra2. Textanalyse und -interpretation
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2.6 Stil und Sprache lität aufgehoben durch Umschreibungen aus verschiedenen Perspektiven: Der Vater fragt danach, „… was mit ihm passiert ist? Wie ist es dazu gekommen?“ (12) Andeutungen erklären den Tod zum Mord (15). Der Pfarrer betrachtet das Ereignis als „Geschichte mit Ihrem Sohn“ (23), die Fahrgastbegleiterin in Kleinen sieht Oliver als „Mörder“ (34). Der Begriff „Terrorist“ (42), ergänzt durch „Polizistenmörder“ (46), wird verwendet, aber Oliver wird auch als Opfer (Ermordeter) („… das Komitee sprach von Mord“, 58), als „durch einen aufgesetzten Kopfschuss“ Exekutierter (56) und als Opfer einer „Hinrichtung“ (60) bezeichnet. Mit der Vielzahl von Begriffen wird der Vorgang als umstritten und ungeklärt ausgewiesen. Hein legt Wert auf die Bezeichnung Hein als Chronist „Chronist“. Das hat auf seine Sprache und seinen Stil Einfluss. Den Begriff „Chronist“ – so sagt er – benutzt er „weniger im Sinne des Buchhalters als des wirklichen Chronikschreibers etwa des 14. und 15. Jahrhunderts, wo die kleinen Fürsten einen Schreiber hatten, der wirklich tagtäglich aufzeichnete, was da passierte, und dies auch mit ein bisschen Rückgrat machte. Er berichtete auch über Dinge, die nicht berichtet werden sollten.“89 Vorbildhafte Chronisten sind für Hein Homer, Shakespeare und Kafka, den er am häufigsten erwähnt. Die Folge der Chronistenhaltung ist, dass Hein in seinen Texten Autorenkommentare grundsätzlich verhindert und als Autor Kommentare verweigert. Ereignisse, die er als Zeitzeuge chronikalisch gesichert hat, sollen von einer befähigten Leserschaft beurteilt werden. An Kafkas Josef K. im Roman Der Prozess hatte bereits Heins Hubert K., eingeführt mit der gleichen Abkürzung, aus der Erzählung Der neue (glückliche) Kohlhaas erinnert, jetzt wurde in der Kindheit eine Entsprechung vorgenommen. (Zu Kafka vgl. auch S. 106 f. der Erläuterung.) 89 „Dialog ist das Gegenteil von Belehren“. Gespräch mit Christoph Hein. In: Hammer (Hrsg.), Chronist ohne Botschaft, S. 12 f.
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2. Textanalyse und -interpretation
2.6 Stil und Sprache Eine für Hein typische sprachliche Erscheinung ist der „Unter text“90. Hein hat diese sprachliche Gestal„Untertext“ tungsmöglichkeit aus den Werken Georg Büchners und Anton Tschechows für sich gewonnen. Neben dem sachlich klaren Wortinhalt, der sich zu Handlungsvorgängen entwickelt und dem in der Regel jeder Leser folgen kann, gibt es eine zweite Ebene, die an Bildungsvoraussetzungen und Interessen geknüpft ist. Sie ist über Begriffe, feststehende Wendungen, Titel und Namen zu erreichen. Der Titel des Romans gibt mit dem Begriff „Garten“ den ersten Hinweis auf diese Begriff „Garten“ Ebene: Ein „Garten hinter dem Reihenhaus“ (68, 89, 145 f.) ist ein realer Ort und spielt in den ersten Lebensjahren Olivers eine wichtige Rolle, möchte er doch dort schöne Dinge seiner Kindheit vermehren, die er aber durch seine Versuche zerstört. Der „Garten“ im Titel stammt indessen aus dem Roman Der Schwarze Prinz von Iris Murdoch und ist nicht nur realer Ort, sondern auch Begriff für eine entstehende Struktur von Verhältnissen, ein „Reich“ (6) des Kindes. Das weist auf die philosophiegeschichtliche Bedeutung des „Gartens“ bei Epikur und öffnet den Zugang zu Staats- und Menschenrecht, Gesellschaftsvertrag und Rechtssystem. Die zu diesem Thema gehörenden Begriffe durchziehen den gesamten Roman und bilden ein Diskursmodell staatsrechtlicher Möglichkeiten, das sich zwischen der Alternative „demokratischer Rechtsstaat“ und dem Ziel, „diese Welt von all ihren Ungerechtigkeiten, ihrer unaufhörlichen Gewalt und dem Furor der Selbstzerstörung zu erlösen“ (137), bewegt. Die Handlung wird teilweise durch die Zahlensymbolik gesteuert, der Diskurs im Untertext durch Begriffe, die zu Termini geworden sind: „Demokratie, Wirtschaftsmacht und Tyrannenmord“ (49), „Gewaltmonopol des Staates … Übereinkunft der Menschen“ (78), „revolutionärer Kampf gegen das Schweinesystem, Volkskrieg, Ausbeutung, Imperialismus“ (83), „Rechtssystem“ (129) und anderes. 90 Vgl. dazu: Rüdiger Bernhardt: Christoph Hein. Der fremde Freund. Drachenblut. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2006, Königs Erläuterungen und Materialien Band 439, S. 87 f.
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2.6 Stil und Sprache Einen Untertext besitzt auch Zureks Formulierung vom „Dom der Lüge“ (139). Olivers Vater macht den An„Dom der Lüge“ geschriebenen, dem einstigen Innenminister und dem früheren Generalbundesanwalt, deutlich, wie sich das über Oliver errichtete Lügengebäude ins Riesige, zu einem Lügendom ausgewachsen hat. Das ist die sachliche Information. Aber die Formulierung korrespondiert auch mit Franz Kafkas Roman Der Prozess91: Das 9. Kapitel trägt die Überschrift Im Dom und Kafkas Josef K. erfährt in diesem Dom, dass die Lüge zur Weltordnung gemacht wird. Aus der sachlichen Information wird dadurch ein geschichtliches Problem, das seit Kafka ungelöst ist. Eingefügt in Kafkas Der Prozess, im 9. Kapitel, ist einer der bekanntesten Texte Kafkas: Vor dem Gesetz, auch als Türhüterlegende oder Türhüterparabel bekannt; ein Geistlicher, der sich als Gefängniskaplan vorstellt, erzählt ihn K., dem im Roman von einer mysteriösen Behörde der Prozess gemacht werden soll. Je mehr er seine Unschuld verteidigen will, um so tiefer sinkt er ins Gestrüpp undurchschaubarer Gesetze und menschlicher Verwirrungen. Vor dem Gesetz wurde 1915 von Kafka separat und als einziger Text aus dem Fragment Der Prozess veröffentlicht. In der Türhüterlegende versucht ein Mann vom Lande, Eintritt in das Gesetz zu erreichen, wird aber von einem Türsteher aufgehalten, wartet sein Leben lang erfolglos auf diesen Eintritt und erfährt kurz vor seinem Tod, dass dieser Eingang nur für ihn bestimmt gewesen sei. Es ist eine Parabel, die auch auf Zureks Streben nach Wahrheit und Aufklärung, auf sein Drängen nach einer klaren Gesetzesanwendung passt. Durch den Verweis auf die Parabel Kafkas – Kafka nannte den Text „eine Legende“ – wird der besondere Vorfall zur allgemeinen Entwicklung der Gesetzlichkeit in Beziehung gesetzt, ist das Drängen des Individuums nach verständigem Umgang mit dem Gesetz zum Scheitern verurteilt: Kafkas Josef K. scheitert ebenso wie Heins Zurek; beiden wird es unmöglich gemacht, das Gesetz 91 Vgl. dazu: Volker Krischel: Franz Kafka. Der Proceß. Hollfeld: C. Bange Verlag, 52009, Königs Erläuterungen und Materialien Band 417
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2. Textanalyse und -interpretation
2.6 Stil und Sprache zu erfahren und zu begreifen. Das reale Gesetz, unter dessem Dach Zurek für die Wahrheit über Oliver kämpft, hat sich dem Menschen ebenso entfremdet wie die reale Wirklichkeit in Kafkas Romanen. Zurek und K. erleben Gesetz und Gericht einer bürgerlichen Bürokratie, die den Menschen in einer entfremdeten Welt alleinlässt und ihm die Hoffnungen nimmt. Deshalb kann Zurek erst dann sein Scheitern überwinden, als er den Amtseid widerruft und sich so von der Bürokratie löst.
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2.7 Interpretationsansätze
2.7 Interpretationsansätze Das erste Ergebnis der Beschäftigung Heins mit dem Stoff war der Essay über Kleist Von den unabdingbaren Voraussetzungen beim Kleist-Lesen. Speziell ging es dabei um Michael Kohlhaas Kohlhaas, ein Thema, mit dem sich Hein lebenslang beschäftigt. Im Falle des Essays konzentriert sich Hein auf das rechtliche Vorgehen der Eltern von Wolfgang Grams, das er als „ein Echo auf diesen Kohlhaas“92 bezeichnete. Der Kampf der Eltern Grams‘ um die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes nutzt alle rechtlichen Möglichkeiten aus und geht durch alle Instanzen bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Diesen Teil des Kohlhaas’schen Streites um sein Recht nimmt der Chronist Hein ohne jede einseitige Beurteilung in seinen Roman auf. Da er die Unklarheiten übernimmt – warum Rücktritt und Entlassung, wenn es keine Schuld gab; warum der verantwortungslose Umgang mit Beweisen u. a. m. –, wirkt Zureks Unerbittlichkeit bei der Wahrheitsfindung und seine Handlung, den Eid auf den Staat zurückzunehmen, berechtigt, hat sich doch der Staat ihm gegenüber skandalös verhalten; die Demokratie hat versagt und ist zum Zerrbild geworden. Andererseits ist daraus nicht abzuleiten, dass das Recht mit ungesetzlichen Mitteln durchgesetzt werden darf, wie es Zureks Freund Lutz Immenfeld möchte. Diesen Teil des Kohlhaas’schen Kampfes lehnt Hein ab und rät sogar, Kohlhaas nicht „als mutigen, freien und hochherzigen Mann hinzustellen“, sondern als einen „Räuber und Mörder“93, und ihn durch das Vorbild Luther zu ersetzen. Allerdings fügt er ironisch an, dass der Kohlhaas dann seine Berechtigung habe, wenn man sich darüber klar sei, was man tue. Insofern bringt jeder Kampf um das Recht, solange er mit gesetzlichen Mitteln geführt wird, auch etwas von einer Kohlhaas-Haltung ein, vor allem dann, wenn er sich gegen 92 Christoph Hein: Von den unabdingbaren Voraussetzungen beim Kleist-Lesen. In: Ders.: Aber der Narr will nicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004, S. 124 93 Ebd., S. 126
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2. Textanalyse und -interpretation
2.7 Interpretationsansätze Größen wie den Staat richtet und von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg hat. Dass aber Luther das richtige Beispiel ist – Hein zitiert ihn mit den Worten: „Könnt Ihr das Recht nicht erlangen, so ist kein ander Rat da, denn Unrecht leiden.“94 – bleibt in der Frage stecken und wird – wie die gesamte Passage – ironisch gebrochen. Es geht Hein um den Umgang des StaaUmgang des Staates mit tes mit seinen Gegnern und mit Wahrheiseinen Gegnern ten, die ihm nicht passen, um Einhaltung oder Beugung des Grundgesetzes und der Gesetze. Die Parteienlandschaft der Bundesrepublik spielt keine Rolle und wird auch nicht erwähnt; die RAF wird als Begriff nicht genannt, wenn sie auch durch den im Roman verwendeten Vorgang in Bad Kleinen nicht völlig auszuklammern ist. Eine besondere Akzentuierung der RAF oder von Terroristen ist im Roman nicht zu finden. Vielmehr stehen Ermittlungs- und Rechtsfragen im Ermittlungs- und Rechtsfragen Mittelpunkt. Darstellungen des Geschestehen im Mittelpunkt hens in Kleinen widersprechen sich sogar in den Verlautbarungen des Generalbundesanwaltes, Beweismittel verschwinden oder werden manipuliert, frühzeitige Vorverurteilungen sind vor allem bei der Presse an der Tagesordnung. Unter diesen Umständen ist die sachliche Erhellung der Umstände nicht möglich und wird offiziell auch nicht angestrebt. Oliver Zurek ging in den Untergrund, weil ihn der Staat durch eine unberechtigte Untersuchungshaft abgestempelt hatte. Dass sein Kampf aus seiner Sicht legitim war, wird im Nachhinein deutlich: Sein Vater muss erkennen, dass es keine Wahrheit, Ehrlichkeit oder Gerechtigkeit auf dem von ihm nach Olivers Tod eingeschlagenen Wege gibt. Klarheit über den Tod seines Sohnes wird nicht geschaffen. Letzte Konsequenz des Letzte Konsequenz: pensionierten Lateinlehrers ist, seinen Rücknahme des Amtseides Eid auf den Staat zurückzunehmen und das an der Stelle, wo er ihn lebenslang erfüllt hat: in der Schule. 94 Ebd., S. 126
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2.7 Interpretationsansätze Seine Einsicht stellt seine Arbeit als Lehrer und so sein Leben in Frage: „Ich habe [die Schüler] für ein Leben in einer Gesellschaft vorbereitet, die lediglich in meinem Kopf existierte.“ (114) Die entstehenden Zweifel Zureks an dem Staat und an seinem Bemühen, Grundgesetz und Gesetze einhalten zu wollen, verbindet sich mit zunehmenden Zweifeln an der Brauchbarkeit der Demokratie. Zurek hat sich für Demokratie eingesetzt und hat seine Schüler dazu erzogen, sie auch zu verteidigen. An diesen Zielen beginnt er zu zweifeln. Hein artikuliert in der Gestalt Zureks ein Missbehagen, das inzwischen eine breite Basis gefunden hat. Seit Jahren sind durch Machtkämpfe in den Parteien, Lobbypolitik, falsche und unseriöse Wahlversprechen, schamlos betriebene Diätenpolitik, zunehmende soziale Ungleichheit Missbehagen der Bürger usw. Zweifel am Wert der herrschenden Form der Demokratie aufgekommen; „Demokratieverdrossenheit“ folgt auf die „zerstörte Fähigkeit des Staates …, den Wählerwillen zu erfüllen“.95 Politik- und Politikerverdrossenheit und Wahlmüdigkeit sind ebenso die Folge wie Radikalisierungsvorgänge, Wertverluste und jede Art von Beliebigkeit. Statt individueller Leistungsbereitschaft herrscht Parteibuchpolitik und wird auch als Methode dieser Demokratie beschrieben.96 Der Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik vermerkt den Zusammenhang zwischen zunehmender sozialer Ungleichheit, wachsender Perspektivlosigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen und der Unzufriedenheit mit der Demokratie. Neben zahlreichen Einzelbelegen, die nachdenklich stimmen, fasst der Bericht zusammen: „… die Zufriedenheit mit der Demokratie [hat] sich als besonders kritisch erwie 95 In fast allen überregionalen Zeitungen und Zeitschriften wurden und werden derartige Diskussionen geführt. Verwiesen wird auf Frank Drieschner: Wenn das Volk zweifelt und Hans-Peter Bartels: Demokratie vererbt sich nicht. In: DIE ZEIT vom 18. Januar 2007, Nr. 4, und die zahlreichen Leserbriefe unter dem Titel Das Volk hört weg. Warum auch nicht? In: DIE ZEIT vom 1. Februar 2007, Nr. 6, S. 20 96 Der sächsische CDU-Generalsekretär Kretschmer schätzte den Unterschied zwischen Kommunalwahlen und Land- bzw. Bundestagswahlen ein: „Kommunalwahlen werden nicht über das Parteibuch, sondern hohe persönliche Akzeptanz gewonnen.“ Vgl. Hubert Kemper: Einfluss der CDU bröckelt. In: Freie Presse (Chemnitz), 19. Januar 2010, S. 5
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2. Textanalyse und -interpretation
2.7 Interpretationsansätze sen“97. In jüngster Zeit hat sich zusätzlich die Frage nach der Käuflichkeit der Demokratie eingestellt. Als eine notwendige Schlussfolgerung wurde in dem Datenreport vermerkt, und sie lässt sich auch aus Christoph Heins Roman ableiten:
„Will man langfristig einer drohenden Entfremdung der ökonomisch schwächeren Schichten von unserer Gesellschaftsordnung entgegenwirken, so scheint es u. a. notwendig, Politikangebote stärker und gezielter auf diese Gruppen zuzuschneiden und die hiermit in Zusammenhang stehenden Entwicklungen zumindest mittelfristig genau zu beobachten.“98
Christin Zurek entwickelt im Gespräch Christins Weltbild mit ihrem Vater (78) ihr Weltbild, das einerseits deutlich von den Forderungen der Aufklärung geprägt ist – genannt werden Zivilisation, Kultur als Gegensatz zur Barbarei –, andererseits auf die „Übereinkunft der Menschen“ Epikurs zurückgeht. Diese Übereinkunft hat Rousseaus Gesellschaftsvertrag wesentlich beeinflusst und den Staat aus „einem gegenseitigen Vertrage der Menschen, einem contrat social“99 erklärt. Epikur entwickelte eine materialistische und atheistische Naturerklärung, die keinen göttlichen Eingriff benötigte. Sie hatte drei Jahrhunderte v. Chr. beträchtlichen Einfluss. Im 17. Jahrhundert wurde der Epikureismus von dem französischen Philosophen Pierre Gassendi (1592–1655) – 1647 erschien eine Biografie Epikurs von ihm – modernisiert und für das aufstrebende Bürgertum nutzbar gemacht. Aber Christins Weltbild bewegt sich in starre Staatstreue Grenzen, die durch die starre Staatstreue geprägt sind. Die revolutionären Ziele der Aufklärung und der Materialismus Epikurs werden zu statuarischen Versatzstücken – 97 Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Statistischen Bundesamt (Destatis). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2008, S. 411 98 Ebd. 99 Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie. Berlin: Dietz Verlag, 1960, S. 133
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2.7 Interpretationsansätze geben also ihre dialektische Qualität auf, weil Christin die „Übereinkunft der Menschen“ unter dem As„Übereinkunft der Menschen“ pekt einer bedingungslosen Ergebenheit an den Staat betrachtet und sie von ihrem Zusammenhang mit Gleichheit und Gerechtigkeit getrennt hat. Hein hat inhaltliche und sprachliche Hinweise an einer Textstelle verankert, die auf den philosophischen Hintergrund verweisen und die Fragestellung des Romans ins Philosophische ausweiten. Die Beziehung zwischen Gesetzestreue des Individuums, sein diszipliniertes Verhältnis zu Staat, Zivilisation und Kultur einerseits und der Kampf um soziale Gleichheit, juristische Gerechtigkeit und Veränderbarkeit der Eigentumsformen andererseits fallen auseinander. Zu Heins inhaltlichen Hinweisen gehören die gehäuften philosophie- und kulturgeschichtlich geprägten Begriffe, aus denen das übergreifende Weltbild als Einheit von Christins und Olivers Denken zu entwickeln ist. Zu den Hinweisen gehört der Titel des Romans mit dem darin enthaltenen Begriff „ein Garten“. Epikur hat seine Philosophie in einem ihm gehörenden Garten gelehrt, „Garten“ (κ´hπος – Kepos) Epikurs Garten wurde so zum Schulbegriff. Mit seinen Schülern, zu denen auch Sklaven gehörten, lebte er in vertrauter Übereinkunft zusammen, die eigene Lehre praktizierend. Kindheit und Garten sind die Begriffe für eine harmonische Frühzeit, in der Mensch und Umgebung übereinstimmten; diese Erinnerungen als Entwürfe für die Zukunft zu betrachten ist das Anliegen des Chronisten Hein. Der Titel stellt nicht nur eine Metapher für Oliver Zureks Lebenswert dar – die Kindheit im Garten als Zustand der Geborgenheit und Ort eines sinnvollen Lebens –, sondern „Kindheit“ und „Garten“ im gehobenen Stil des Titels mit dem überhöhenden Attribut „frühen“ in der Wendung „In seiner frühen Kindheit“ können die Erinnerung an den harmonischen Beginn der Menschheitsgeschichte assoziieren. „Kindheit der Menschheit“ und „Garten der Menschheit“ sind dabei nicht zufällig immer wieder genannte Me-
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2. Textanalyse und -interpretation
2.7 Interpretationsansätze taphern. Zurek erklärt die Kindheit zur „schönste(n) Zeit im Leben“ (11); er meint damit die Kindheit des Menschen. Der Roman lenkt durch seinen Titel und die Variation desselben im Text den Leser auf eine frühe harmonische Entwicklungsphase der Menschheit, ob sie die einen nun unter dem Garten Eden fassen oder die anderen als eine notwendige Stufe zur Zivilisation betrachten. Ob Hein hier Lewis Henry Morgan (1818–1881) im Kopf hatte, der in seinem Hauptwerk Die Urgesellschaft oder Untersuchung über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation (1877, dt. 1891) eine „Kindheit der Menschheit“ auf der Grundlage eines kollektiven Eigentums annahm, die durch die Entstehung des Privateigentums zerstört und in die modernen Gesellschaftsformationen überführt wurde, sei dahingestellt – immerhin verwendet Christin etliche der in dem Titel vorhandenen Begriffe. Die Weiterführung dieses Gedankens bei Friedrich Engels war dem Philosophen Christoph Hein sicherlich gegenwärtig. Engels beschrieb die „Kindheit des Menschengeschlechts“ als ein ursprüngliches Leben, die Menschen ernährten sich von Früchten, Nüssen und Wurzeln und „die Ausbildung artikulierter Sprache ist Hauptergebnis dieser Zeit“100. Es war ein Urzustand der Menschheit, der an keinem Ort der Erde mehr existiert und nur erinnert werden kann. Mit ihm verbanden sich Gartenkultur und Gärten, aus denen die Menschen Nahrung gewannen. Unbekannt waren Staat und Staatsrecht; man lebte in einer Zusammengehörigkeit, die trotz der harten Bedingungen idylli„Garten der Menschheit“ sche Züge besaß. „Garten der Menschheit“ assoziiert auch die Schöpfungsgeschichte, nach der Gott für den Menschen einen „Garten in Eden“ pflanzte, die Bäume waren „verlockend anzusehen und gut zu essen“; der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen standen in seiner Mitte (1. Mose, 2, 8–9). Ob Morgans anthropologischer, Engels’ soziologischer Ausgangspunkt oder die Schöpfungsgeschichte 100 Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluss an Lewis H. Morgans Forschungen. Berlin: Dietz Verlag, 1953, S. 25
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2.7 Interpretationsansätze der Bibel – es wurden in allen Fällen Idyllen am Beginn der Menschheit beschrieben, die durch Entwicklung aufgehoben wurden, aber nicht als Denkmöglichkeiten verschwanden. Dem protestantisch erzogenen und philosophisch gebildeten Schriftsteller Christoph Hein waren diese Erinnerungen an die „Kindheit“ gleichzeitig Entwürfe für eine mögliche Zukunft. Scheinbar nur am Rande spielt Trauer Trauer der Eltern im Verhalten der Eltern eine Rolle. Aber die Trauer der Zureks wird in einem umfassenden Sinn zur Trauerarbeit, denn sie wollen die Richtung ihrer Trauer wissen. Dabei spielt eine Rolle, wie weit sie eigene Schuld in Olivers Handlungen wiederfinden. Ist er weder Mörder noch Selbstmörder, haben sie auch als Eltern nicht versagt. Das ist weniger ein Versuch der Rechtfertigung oder gar Reinwaschung Richard Zureks, wie mehrere Rezensenten den Vater kritisierten, als mehr die Prüfung eines lebenslang verwirklichten Erziehungsauftrages als Lehrer, in dem Oliver nur ein Beispiel war. Nicht umsonst wird mehrfach darauf verwiesen, dass er Schüler am Gymnasium seines Vaters war. Es steht die moralische Integrität des Lehrerberufs auf dem Prüfstand; Kobelius, Pfaff und Christin sind Beispiele, wie Wertmaßstäbe verloren gegangen und Bildungs- wie Erziehungsideale erstarrt sind. Zurek hat sich diese Integrität trotz mancher Abstriche in seinem moralischen Wertesystem erhalten und auch im Erziehungsprozess weitergegeben, wie ihm ein ehemaliger Schüler bestätigt: „Sie waren ein guter Lehrer, aber streng, sehr streng ... Ich glaube, Sie haben Ihr Bestes gegeben.“ (13) Insofern kann er die anhaltende Trauer über den Tod des Sohnes mindestens teilweise auffangen durch den aufrechten Gang eines Erziehers, der auf einen souverän erfüllten Erziehungsauftrag verweisen kann.
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2. Textanalyse und -interpretation
3. Themen und Aufgaben
3. Themen und Aufgaben Textgrundlage: der Die zeitliche Abfolge des Romans gesamte Roman Versuchen Sie, den Inhalt des Romans als Lösungshilfe: chronologischen Bericht wiederzugeben. S. 37 ff., 65 ff., Welche Schwierigkeiten stellen sich bei 71 ff. diesen Versuchen ein? Welche verschiedenen Zeitebenen werden miteinander verzahnt und wie verhalten sich die Zeitebenen zueinander? Welche Bedeutung haben Zeit- und Zahlenangaben im Roman?
Textgrundlage: 2) Der Begriff „Garten“ Erklären Sie die Bedeutung von „Garten“ der gesamte Text, im Roman, gehen Sie auf die Herkunft des besonders S. 88 ff. und 145. Titels ein. Lösungshilfe: Setzen Sie „Garten“ in Beziehung zu Fragen S. 112 ff. des Staatsrechts, die aufgeworfen werden. Verfolgen Sie die Zerstörung der Idyllen „Garten“ und „Kindheit“.
Textgrundlage: der 3) Die Funktion der Kapitel gesamte Roman Beschreiben Sie die rahmenbildende FunkLösungshilfe: tion der ersten und letzten drei Kapitel. S. 68 ff. Erklären Sie die besondere Funktion des 12. Kapitels für den Inhalt und die Handlungsführung. Erklären Sie die Funktion des 17. Kapitels.
3. Themen und Aufgaben
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3. Themen und Aufgaben
Textgrundlage: der 4) Individuum und Gesellschaft gesamte Roman Erklären Sie Richard Zureks Verhältnis zur Lösungshilfe: Demokratie am Beispiel des Amtseides. Was fordert Zurek in Hinsicht auf seinen S. 36, 44, 108 u. ö. Sohn von der Demokratie? Wie steht Zurek zum Kampf seines Sohnes im Untergrund? Auf welche literarischen Werke wird in Heins Roman verwiesen, die sich ähnlichen Themen widmen?
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3. Themen und Aufgaben
4. Rezeptionsgeschichte
4. Rezeptionsgeschichte Christoph Hein hatte die Kritik in früherer Zeit fast immer auf seiner Seite. Vor der Wende 1989 galt er der westdeutschen Literaturkritik sogar als ein besonders zu lobender Schriftsteller, den man fälschlicherweise an die Seite der Dissidenten rückte. Aber da war er gegen das Unrecht in der DDR angetreten oder hatte Missstände thematisiert, die man der DDR zuordnete, obwohl sie eine Zivilisationserscheinung waren und von Hein auch so dargestellt worden waren (Der fremde Freund). Nach der Wende galt er schnell als einer der wichtigsten Autoren der deutsch-deutschen Literaturlandschaft. Das änderte sich mit diesem Roman, denn nun widmete er sich dem Unrecht im uneinheitliche Kritik Westen. Die Kritik war zurückhaltend, erbost und erbittert, aber auch enthusiastisch; sie umfasste alle Möglichkeiten und war vor allem uneinheitlich. Es gibt wenige Fälle, bei denen die Kritik in einem so unterschiedlichen und dissonanten Stimmengewirr erklang. Ordnen ließen sich die Auseinandersetzungen nur sehr grob, aber deutlich: Die führenden großen bürgerlich-konservativen Blätter lehnten den Roman ab, die Rezensenten aus dem Osten traten für ihn ein. Die Verwirrung insgesamt war groß und erfasste auch die Leser, so wenn eine Deutschlehrerin einschätzt, Literatur „beurteilen zu können“, und dann dem Roman bescheinigt, er sei kein „lesenswertes Buch“, und die Absicht des Autors nicht im Ansatz erkennt: „Die politische Ebene wird gänzlich ausgeblendet … Das Schlimmste an dem Buch ist jedoch die seitenlange Langeweile, das Verharren in Alltagstrivialitäten der Protagonisten, die hölzern und stereotyp agieren.“101 Verblüffung herrschte allgemein darüber, dass der zurückhaltende und stille Schriftsteller Hein sich diesem umstrittenen Thema der 101 Gunilla „Gunilla“: Gepflegte Langeweile. 23. Juli 2009, www.amazon.de, Rezension zur Taschenbuchausgabe; Abrufdatum März 2010
4. Rezeptionsgeschichte
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4. Rezeptionsgeschichte deutschen Geschichte näherte. Die Kritik nahm vor allem nicht Heins Hinweise ernst, dass es kein RoHein und die RAF man über die RAF im Allgemeinen und Wolfgang Grams im Besonderen war. Zwar waren diese Parallelen nicht zu übersehen und sollten auch nicht übersehen werden, wenn es um die Behandlung des Einzelfalles von Wolfgang Grams nach seinem Tod ging, aber Hein hatte genügend Sicherheiten für eine Distanzierung zwischen Wirklichkeit und Roman eingebaut: vom Hinweis auf die Fiktionalität der „namentlich genannten Personen“ (4) über die veränderten Namen und die biografischen sowie zeitlichen Verschiebungen. Was in jedem anderen Falle funktioniert hätte – nicht einmal Kleists Kohlhaas wurde an den dokumentarischen Vorlagen gemessen –, blieb in diesem Falle wirkungslos: Der Fall Wolfgang Grams war zu einer zu deutlichen Bloßstellung des Rechtssystems geworden, als dass man den Vergleich zwischen Wirklichkeit und Roman auslassen wollte oder konnte, ging es doch um den Wert und die Reputation des Rechtsstaates. Rezensenten führender Zeitungen – Ijoma Mangold in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. März 2005; Hubert Spiegel in der „F.A.Z.“ vom 5. Februar 2005, Roman Bucheli in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 1. Februar 2005, – nahmen Heins Hinweis nicht ernst und betrachteten die Beziehung zwischen Roman und RAF als Ausgangspunkt ihrer Bewertungen, die durchweg negativ ausfielen. Bucheli nannte den Roman ein „sentimentales Rührstück“ und warf ihm vor: „Der Roman porträtiert die RAF-Terroristen als harmloses Grüppchen von Verführten, die es doch eigentlich gut gemeint hatten.“102 Martin Lüdke103 erkannte dagegen Heins Verfahren und führte es auf den Unterschied von Gerechtigkeit und Recht zurück. Hein wisse um den Unterschied, „er gibt sich aber mit dieser Feststellung nicht zufrieden. Er übernimmt den juristisch umstrittenen Sachverhalt getreu den vorliegenden 102 Roman Bucheli: Die bleiernen Jahre als Rührstück. In: Neue Zürcher Zeitung vom 1. Februar 2005 103 Martin Lüdke: Ein Held aus dem Hause Hein. In: Frankfurter Rundschau vom 29. Januar 2005
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4. Rezeptionsgeschichte
4. Rezeptionsgeschichte Akten, rückt ihn aber – sein Kunstgriff – in einen neuen, durch und durch fiktiven Zusammenhang. Der Stoff, den der Fall Grams bietet, dient ihm auf diese Weise als Ausgangspunkt und Motor einer ganz anderen Geschichte“. Eine Rezensentin der „F.A.Z.“ fasste anlässlich einer Lesung Heins aus dem Roman in der „Deutschen Bibliothek“ den Tenor der meisten Tenor der meisten Rezensionen Rezensionen zusammen:
„,Der Stoff sucht sich den Autor aus‘, konterte Hein jetzt und sicherte sich einen Extra-Applaus mit der jüngst viel diskutierten Frage: ‚Wie können wir die Demokratie schützen, ohne sie zu erdrosseln?‘ Solche Sorgen hatte die Kritik in dem Buch jedenfalls nicht entdeckt. Vielmehr bemängelte sie das Betuliche dieses ‚Rührstücks‘ und ‚frommen Traktätchens‘. Tatsächlich fällt dem Leser, der erst im vorigen Jahr von der kunstvollen Komposition und dem trockenen Humor in Heins ‚Landnahme‘ verwöhnt worden war, nun eine extreme Kunstlosigkeit auf. Hat der Autor seine 271 Seiten einfach zwischendurch hingehudelt? Den kummervollen und öden Alltag des Ehepaars Zurek ohne den geringsten Anspruch an Form und allgemeine Aussage eins zu eins abgeschildert? Den Gerechtigkeitsanspruch des Vaters zu ernst genommen, ohne der anderen, der staatlichen Seite Gehör zu schenken und eine Stimme zu geben? Fest steht: Hein hat versucht, sich einzufühlen in einen Mann, der fünf Jahre nach dem gewaltsamen Tod seines Sohnes von Selbstvorwürfen zerfressen wird, und die Kunst der Empathie hat dabei offenbar die Kunst des Wortes verdrängt.“104
Was die Rezensentin ironisch anmerkt – Großteil der Kritik erkannte die Kritik habe solche Sorgen in Heins Heins Anliegen nicht Roman nicht entdeckt – ist tatsächlich ein Hinweis des völligen Versagens eines Teils der Kritik vor dem Roman: Sie erkannte Heins Anliegen nicht; sie unterschied nicht zwischen dem Material Heins, zu dem das Schicksal des Wolfgang 104 Claudia Schülke: Kunst der Empathie. Christoph Hein liest in Frankfurt. In: F.A.Z. vom 23. März 2005
4. Rezeptionsgeschichte
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4. Rezeptionsgeschichte Grams gehörte, und dem Thema Heins, der danach fragte, wo wir eigentlich leben und wie ein Rechtsstaat mit seiner Macht umgeht. Den Höhepunkt stellte dabei eine Rezension der „ZEIT“ dar. Der Rezensent Jessen erklärte Heins Roman sogar im Untertitel seiner Kritik zum „Buch über den RAF-Terroristen Wolfgang Grams“105, obwohl nichts davon genannt wird. Dass er dem Roman alle „ästhetischen Anstrengungen“ abspricht, nichts in dem Roman „auf Kunst“ ziele, ist sein Urteil. Dass er behauptet, es würde „mit der größten dramaturgischen, oft sogar grammatikalischen Sorglosigkeit erzählt“, spricht gegen den Rezensenten und weist sein Unvermögen aus, Romane dieser Art lesen zu können. Dass er den Satz „Pfarrer Härle stand in der Eingangstür des neuen Saals und begrüßte die eintreffenden Mitglieder des Gemeindekirchenrats mit Handschlag“ (S. 19) für überflüssig erklärt, obwohl dieser Satz auf S. 230 eine teils wörtliche Entsprechung erfährt und so Kontinuität und Stabilität im protestantischen Umgang mit Menschen ausweist – kein Wunder bei dem protestantisch erzogenen Autor –, zeigt Vorurteile, mit denen gearbeitet Vorurteile wurde. Die eigentliche Absicht des Rezensenten ist eine andere: Er sieht seinen Staat verunglimpft als „ein ‚Schweinesystem‘“ und so hätten „die Terroristen also Recht“106 gehabt. Dagegen will er sich verwahren und vor solchen Erkenntnissen die Leser bewahren. Er macht auf etwas aufmerksam, was bei Hein nicht behauptet wird. Denn davon ist in Heins Roman keine Rede. Der Begriff „Schweinesystem“ wird von Christin verwendet (83) und unter Olivers „Zeug, wovon er immerfort faselte“ (83), eingestuft. Es wird deutlich, auf welche Stufe sich der Rezensent aus lauter Zorn, sein System kritisiert zu sehen, begeben hat.
105 Jens Jessen: Da ließ Herr Zurek ihn ins Haus. Christoph Heins Buch über den RAF-Terroristen Wolfgang Grams ist kein Roman, sondern ein frommes Traktätchen für enttäuschte Genossen. In: DIE ZEIT vom 3. Februar 2005, Nr. 6, S. 44 106 Ebd.
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4. Rezeptionsgeschichte
4. Rezeptionsgeschichte Andere Kritiker dagegen trafen Heins Anliegen. Der Rezensent des „Spiegel“ Wolfgang Höbel konstatier„Spiegel“-Rezension te, der Frage nachgehend, warum „sich ausgerechnet der Schriftsteller Hein, der große Teile seines Lebens in der DDR zugebracht hat, für diesen Fall“ interessierte:
„Wer Heins Buch liest, begreift schnell: Hier staunt ein vor nicht allzu langer Zeit in diesem Land angekommener Bürger halb ungläubig, halb fasziniert über die Art und Weise, wie der bundesdeutsche Staat mit seinen Feinden umsprang. Und natürlich hat einer wie Hein, der das schiefe Rechtssystem der DDR kennen lernen musste, einen geschärften Blick für die Ungerechtigkeiten und Schwächen des angeblich besseren Deutschland, für die Mechanismen des medialen Rufmords, für behördliche Vertuschung. Die zentrale Frage des Buchs formuliert Vater Zurek: ‚Wo leben wir eigentlich?‘“107
Dort, wo die RAF nicht zur unmittelbar erlebten Wirklichkeit gehörte, in den neuen Bundesländern, fand man zur Perspektive des Schriftstellers. Christian Eger sprach von einem
„Zivildrama im Kammerton, … das demjenigen als harmlos und bieder erscheinen mag, der die sinnbildliche und sittliche Ebene des Textes übersieht. Da ist das Motiv des Gartens, der nicht allein Oliver Zurek in der Kindheit blühte. So wie der biblische Garten Eden als der letzte heile Ort inmitten der gefallenen Schöpfung gilt (draußen liegt die Wüste, das ‚tohuwabohu‘), bezeichnet der Garten bei Hein den Ort der Freiheit und Solidarität.“108
Der Roman rückte auf die Bestsellerliste Nominierung für den („Der Spiegel“ Nr. 7, 2005, 14. Februar, deutschen Buchpreis S. 169), die Leipziger Buchmesse 2005 feierte den Roman.109 Er wurde für den erstmals zu vergebenden 107 Wolfgang Höbel: Kohlhaas in Bad Kleinen. In: Der Spiegel Nr. 4 vom 24. Januar 2005, S. 169 108 Christian Eger: Die Stille nach dem Schuss. In: Mitteldeutsche Zeitung (Halle/Saale) vom 1. Februar 2005, S. 22 109 dpa: Leipzig feiert mit Hein und Semprun. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 4. März 2005
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4. Rezeptionsgeschichte Buchpreis nominiert. Man lobte in der Begründung, dass der Roman „auf die Bewertung zweifelhafter Tatsachenbehauptungen“ verzichte und „die Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer Rechtsordnung in den Mittelpunkt“110 rücke. 2006 wurde er von Jens Groß (geboren in München, Dramaturg in Wien, Braunschweig, Hannover, München, Frankfurt a. M. 2001– 09, Dresden; unterrichtete als GastproDramatisierungen fessor szenisches Schreiben am Literaturinstitut Leipzig) für die Bühne eingerichtet und gemeinsam mit einer Dramatisierung von Horns Ende im Schauspiel Frankfurt a. M. (schauspielfrankfurt, Regie: Armin Petras) aufgeführt. Am 26. April 2007 übernahm das Maxim Gorki Theater Berlin diese Inszenierung. 2009 wurde eine weitere Dramatisierung des Romans (für die Bühne eingerichtet von Christian Marten-Molnár, Birte Werner und Axel Vornam) in der Regie von Axel Vornam in Heilbronn aufgeführt.
110 Information zur Nominierungsbegründung zitiert in der rechten Randspalte neben HametnerInterview Christoph Hein im Gespräch. In seiner frühen Kindheit ein Garten. Interview für MDR FIGARO am 18. März 2005, www.mdr.de/mdr-figaro/literatur/1862027-hintergrund-6267160. html; Abrufdatum März 2010
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5. Materialien Zur Aufnahme des Romans in der Öffentlichkeit und zum Streit um Christoph Hein nahm Sigrid Löffler, damals Chefredakteurin der Literaturen (deutsche Literaturzeitschrift), in einem Artikel Stellung. Darin heißt es unter anderem: „Schließlich findet ein Chronist auch nach dem Verschwinden der DDR reichlich unangenehme Tatbestände im Lande vor, an denen er in aller Nüchternheit seiner Berichtspflicht genügen kann. Staatliches Unrecht gedieh drüben; es gedeiht auch hüben. Man denke nur an den unangenehmen Fall Grams. Wer der westdeutschen Rechtsstaatlichkeit am Zeuge flicken will, könnte sich keinen neuralgischeren Punkt aussuchen. Christoph Hein, jahrzehntelang im westlichen Landesteil verlässlich gelobt, solange er Unrecht und Missstände in der DDR zur Sprache brachte, begibt sich erstmals über die westdeutsche Schmerzgrenze und beginnt nun auch hüben zu bohren – in bewährter stiller Aufsässigkeit, aber diesmal ohne den gewohnten Beifall. Der Unwille war vorhersehbar: Was erlauben Hein? Er als Ostler habe sich herausgenommen, einen RAF-Roman schreiben zu wollen, tönte es missbilligend. Und schon dies ist ein großes Missverständnis. In seiner frühen Kindheit ein Garten folgt zwar kaum verhüllt, vielmehr akten- und faktengetreu, dem gut dokumentierten Fall Grams und dessen gerichtlichem Nachspiel; um einen RAF-Roman indes handelt es sich mitnichten. Wohl aber um Doku-Fiction, ganz ähnlich dem dokumentarischen Roman Mein Jahr als Mörder, in dem Friedrich Christian Delius neulich eine Kette von West-Berliner Justizskandalen nachging, die so manches mit dem Fall Grams gemein haben.“111
111 Löffler, S. 38
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5. Materialien Die Vergleiche zwischen Michael Kohlhaas und Terroristen wurden mehrfach gezogen. Auf Parallelen zwischen Kohlhaas und Terroristen machte Daniela Dahn aufmerksam: „Vordergründige Parallelen zwischen klassischer Fiktion (nach authentischem Vorbild) und moderner Realität verbieten sich, aber große Literatur ist gültige Literatur. Kohlhaas findet sich von der Obrigkeit betrogen und verraten. Nach individueller erlebt er nun strukturelle Gewalt. Lange war er bereit, die Ordnung nicht in Frage zu stellen. Erst als er sie als ‚ungeheure Unordnung‘ erfährt, entwickelt er ein ‚Gefühl der allgemeinen Not der Welt‘. Die klassische Voraussetzung für Rebellion. ... Terrorismus als wahnsinnig überzogenes, fehlgeleitetes, verletztes Rechtsgefühl? Das ungerecht werden lässt? Kleist lässt Martin Luther in diesem Sinne argumentieren, der dem sächsischen Kurfürsten nahelegt, dass er ‚in diesem außerordentlichen Fall, über die Bedenklichkeit, mit einem Staatsbürger, der die Waffen ergriffen, in Unterhandlung zu treten, hinweggehen müsse‘, da auch die Obrigkeit ein ärgerliches Verfahren geboten habe. ‚Die öffentliche Meinung, bemerkte er, sei auf eine höchst gefährliche Weise, auf dieses Mannes Seite, dergestalt, dass selbst in dem dreimal von ihm eingeäscherten Wittenberg eine Stimme zu seinem Vorteil spreche.‘“112 Der Verfasser vorliegender Erläuterung, der sich von Beginn an mit Heins Werk kritisch beschäftigt hat, nahm an der Diskussion zu diesem Roman mit einer Rezension teil, die Heins Methode und Anliegen herausstellen wollte: „Der Roman wird sachlich auf der Grundlage juristischer Vorgänge berichtet, erzählt wird er nicht. Keine Perspektive wird bevorzugt. Es gibt auch keinen Erzähler, der sich kommentierend einmischen würde. Poetische Schönheiten und sprachliche Auffälligkeiten wurden vermieden, um die Härte des Geschehens nicht zu beeinträchtigen. Spröde, 112 Daniela Dahn: Terrorist Kohlhaas. In: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft. Berlin 2002, Ausgabe 10 (http://www.sopos.org/aufsaetze/3d078eb05de67/1.phtml; Abrufdatum März 2010)
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5. Materialien fast lähmend fällt der Text über den Leser: Es geht nicht um Vergnügen, sondern um Aufklärung. Ein den Text organisierendes Element hat Hein eingebaut: Am Beginn des Romans wird eine Uhr, ‚ein alter Regulator‘, beschrieben. Zureks Frau Friederike, genannt Rike, erlebt durch ihn Zeit: ‚… es waren nur zwei oder drei Minuten vergangen. ‘ (Der Beginn lebt von einer in der Prosa seltenen Zeitdeckung, indem beschriebene Zeit und Lesezeit übereinstimmen.) Zeitangaben haben in dem Roman eine herausragende Bedeutung. Wer sie nicht verfolgt, wird sich in einem Dschungel der Abläufe verirren wie Zurek im Dschungel der Demokratie. … Mancher Kritiker möchte Heins Demaskierung einer anfälligen Demokratie zum Trost für postsozialistische Depressionen kanalisieren und zum ‚Traktätchen für enttäuschte Genossen‘ machen. Was für ein Irrtum. Hein rüttelt in seiner bedächtigen Art, aber mit Beharrlichkeit und Argumenten zum wiederholten Mal an den Auswüchsen eines Staates und seiner Politik, die sich selbst genug sind. Dass Zurek dabei auch das zweite Kind verlieren wird, die Tochter Christin, die wie der Vater den Eid auf den Staat geleistet hat und ihn unter allen Umständen einhalten will, nimmt er in Kauf. Es ist sein erster Schritt in den außerparlamentarischen Kampf, den ihm ein Freund schon längst angeboten hat. Da beginnt seine Ähnlichkeit mit jenem Michael Kohlhaas, dessen berechtigter Kampf gegen Gesetzesmissbrauch in jüngster Zeit immer öfter erinnert wird. Hein aber wird immer mehr zur moralischen Instanz, wie sie Heinrich Böll darstellte.“113 Eine bemerkenswerte Zuordnung zu bekannten literarischen Typen der deutschen Geschichte unternahm der Rezensent Claus-Ulrich Bielefeld: „Mit Richard Zurek ist Christoph Hein eine exemplarische Figur gelungen, in deren Verhalten sich im Guten wie im Schlechten deutsche Mentalität spiegelt: Noch einmal erleben wir den deutschen Charak113 Rüdiger Bernhardt: „Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden“. In: unsere zeit (Essen), Freitag, 11. März 2005, S. 13
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5. Materialien tertypus, Heinrich Manns Untertan, der sich in wilhelminischer Zeit oder noch früher gebildet hat und der mit dem rabiaten Modernisierungsschub Ende der sechziger Jahre an sein historisches Ende gelangt ist: Die Rede ist vom ordnungsliebenden und gesetzestreuen deutschen Bürger, in dessen Leben Redlichkeit und Starrsinn, Unterwerfung und Rebellion, Offenheit und Rechthaberei, Engagement und Kälte in einem unheilvollen Widerspruch standen. Diese Ambivalenz scheint in Christoph Heins Roman noch einmal wie in einem tiefen Spiegel auf: Im Vater-Sohn-Drama entfaltet sich auch das Drama deutscher Geschichte.“114
114 Claus-Ulrich Bielefeld: Eine exemplarische Geschichte. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 31. Januar 2005
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Literatur
Literatur 1) Ausgaben Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2005, als suhrkamp taschenbuch Nr. 3773, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006 (Beide Ausgaben sind seitenidentisch; zitiert wird nach der Taschenbuchausgabe.) Christoph Hein: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1987 (Darin frühe Äußerungen zu Che Guerara, Kafka u. a.) Christoph Hein: Aber der Narr will nicht. Essais. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004 Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder, hrsg. von Lothar Baier. Frankfurt am Main: Luchterhand Literaturverlag, 1990 (Sammlung Luchterhand 943) Christoph Hein. Chronist ohne Botschaft. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie, hrsg. von Klaus Hammer. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1992 Implosion und Sinndefizit. Gespräch Carsten Gansels mit Christoph Hein. In: Deutschunterricht, Berlin 1993, 46. Jg., Heft 10, S. 460–469 2) Lernhilfen und Kommentare für Schüler Bernhardt, Rüdiger: Christoph Hein. Der fremde Freund. Drachenblut. Königs Erläuterungen und Materialien, Band 439. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2006 (Heins Schreibmethode, der „Untertext“ u. a. werden beschrieben und kommentiert.) Literatur
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Literatur 3) Sekundärliteratur Behn, Manfred: Christoph Hein. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Heinz Ludwig Arnold, 1. Fassung: 19. Lieferung, 1985 Bernhardt, Rüdiger: Für und wider. (Debatte um den Fremden Freund). In: Weimarer Beiträge. 29. Jg., Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1983, Heft 9 (Auch abgedruckt in Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder, hrsg. von Lothar Baier) Bucheli, Roman: Die bleiernen Jahre als Rührstück. In: Neue Zürcher Zeitung vom 1. Februar 2005. (Online unter http://www. lyrikwelt.de/rezensionen/inseinerfruehenkindheit-r.htm; Abrufdatum März 2010) Dieckmann, Friedrich: Der Überraschungskandidat und Kunst ist, was man nicht kann. Ein Gespräch mit Christoph Hein, geführt von Detlef Friedrich und Ulrich Seidler. In: Berliner Zeitung. Feuilleton, Nr. 238 vom 11. Oktober 2004 Ditfurth, Jutta: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Ullstein Taschenbuch Nr. 37249, Berlin: Ullstein Buchverlage, 2009 Drescher, Angela: Der Christoph-Hein Sound. In: ndl (neue deutsche literatur), Berlin 1994, Heft 4, S. 164–168 Hametner, Michael: Christoph Hein im Gespräch. In seiner frühen Kindheit ein Garten. Interview in MDR-Kultur, Figaro, 18. März 2005, www.mdr.de/mdr-figaro/literatur/1862027-hintergrund6267160.html (Abrufdatum März 2010) Hammer, Klaus (Hrsg.): Christoph Hein. Chronist ohne Botschaft. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1992 (Wichtige Sammlung zu Werk und Autor mit Rezensionen zu einzelnen Werken.)
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Literatur
Literatur Höbel, Wolfgang: Kohlhaas in Bad Kleinen. In: Der Spiegel Nr. 4 vom 24. Januar 2005. (Online unter http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-39080882.html; Abrufdatum März 2010). Hörnigk, Frank: Christoph Hein. In: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen, Bd. 3, Berlin: Volk und Wissen, 1987, S. 101–116, 562–565 Jessen, Jens: Da ließ Herr Zurek ihn ins Haus. In: DIE ZEIT vom 3. Februar 2005, Nr. 6. (Online unter http://www.zeit.de/2005/06/ L-Hein?page=all; Abrufdatum März 2010) Löffler, Sigrid: Von drüben nach hüben. Wie Christoph Hein mit seiner ersten Docu-Fiction im Westen ankommt und dabei Kritik herausfordert. In: Literaturen. 6. Jahrgang, Berlin 2005, Heft 3, S. 37–38 Lüdke, Martin: Ein Held aus dem Hause Hein. In: Frankfurter Rundschau vom 29. Januar 2005. (Online unter http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/inseinerfruehenkindheit-r.htm; Abrufdatum März 2010) Scheller, Wolf: Ein alter Lehrer kämpft gegen Justiz und Staat. In: Nürnberger Nachrichten vom 1. Februar 2005. (Online unter: http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/inseinerfruehenkindheit-r. htm; Abrufdatum März 2010) Schülke, Claudia: Kunst der Empathie. Christoph Hein liest in Frankfurt. In: F.A.Z. vom 23. März 2005. (Online im Internetshop buecher.de: http://www.buecher.de/shop/buecher/in-seiner-fruehen-kindheit-ein-garten/hein-christoph/products_products/detail/ prod_id/20774457/lfa/quicksearch-product-1/; Abrufdatum März 2010)
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Literatur 4) Zitierte Aufsätze in der ZEIT zum Thema RAF Baum, Gerhart: Dämonisierung des Terrors. In: DIE ZEIT vom 15. März 2007, Nr. 12. (Online unter: http://www.zeit.de/2007/12/ Antwort-Reemtsma?page=all; Abrufdatum März 2010) Baum, Gerhart: Es war kein Krieg. In: DIE ZEIT vom 18. September 2008, Nr. 39. (Online unter: http://www.zeit.de/2007/12/ Antwort-Reemtsma?page=all und http://www.zeit.de/2008/39/ Baader-Meinhof-Film?page=all; Abrufdatum März 2010) Ensslin Felix: Die doppelte Verdrängung. In: DIE ZEIT vom 22. März 2007, Nr. 13. (Online unter: http://www.zeit.de/2007/13/ RAF-Staatsverstaendnis?page=all; Abrufdatum März 2010) Greiner, Ulrich: Klammheimliche Freude. In: DIE ZEIT vom 22. März 2007, Nr. 13, S. 3. (Online unter: http://www.zeit. de/2007/13/RAF-Terror?page=all; Abrufdatum März 2010) Lohmann, Hans-Martin: Lasst die Toten endlich ruhen! In: DIE ZEIT vom 25. Januar 2007, Nr. 5. (Online unter: http://www.zeit. de/2007/05/Lasst_die_Toten_endlich_ruhen?page=all; Abrufdatum März 2010) Reemtsma, Jan Philipp: Lust an Gewalt. In: DIE ZEIT vom 8. März 2007, Nr. 11. (Online unter: http://www.zeit.de/2007/11/ RAF?page=all; Abrufdatum März 2010)
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