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Vorwort Vorwort Etwa 19% der österreichischen Gesamtpopulation bestehen aus Kindern und Jugendlichen. Die Gesundheitsausgaben für diese Altersgruppe betragen hingegen nur etwa 6% der staatlichen Gesamtausgaben für das Gesundheitssystem. Kinder und Jugendliche stellen somit eine relativ „billige“ Altersgruppe dar. Trotzdem wird auch im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde rationalisiert und teilweise sogar rationiert. Unter dem Titel „Werte versus Ökonomie“ wird im vorliegenden Buch eine Analyse versucht, wo diese Rationalisierungsbestrebungen berechtigt sind und wo sie zu Defiziten in der Versorgung führen können oder wo jetzt schon Defizite bestehen. Das vorliegende Buch entstand als Resultat der 1. Jahrestagung für Politische Kindermedizin, welche von 19. bis 20. 10. 2007 in Salzburg abgehalten wurde. Es handelte sich dabei um ein multidisziplinäres Treffen von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens, aber auch von engagierten „Laien“. Gemeinsames Ziel dieser Gruppe war es, einen konstruktiven Beitrag zu leisten zur Verbesserung der pädiatrischen Gesundheitsversorgung und -vorsorge in Österreich. Das vorliegende Buch beleuchtet die österreichische Gesundheitsmedizin aus verschiedenen Blickwinkeln. Mediziner, Sozialökonomen und andere Professionisten kommen ebenso zu Wort wie betroffene Eltern. Objektive Darstellungen in Form „nüchterner Zahlen“ finden ebenso Berücksichtigung wie ethisch-moralische Aspekte zur „Würde des Kindes“ oder das empathische Credo betroffener Eltern. Dabei wird immer wieder deutlich, dass – wie auch in anderen Bereichen des Kommunalwesens – die Finanzierung des Gesundheitssystems eine kritische Grenze erreicht hat. Die Frage „Ist unser Gesundheitssystem noch finanzierbar?“ hat längst auch die Kindermedizin erfasst. Dabei wird deutlich, dass über Therapiemaßnahmen und die Finanzierung derselben in vielen Bereichen nicht (mehr) Ärztinnen und Ärzte (alleine) entscheiden, sondern andere Berufsgruppen und letztlich gesundheitspolitisch Verantwortliche wesentlich mitentscheiden. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff „Ressourcenallokation“ immer mehr an Bedeutung. Darunter versteht man die Verteilung des Gesundheitsbudgets auf die in Frage kommende Klientel. Und es stellt sich die wesentliche Frage, mit welchen Maßnahmen bei (noch) vertretbaren Kosten der größtmögliche Nutzen erzielt werden kann. Bei oberflächlicher Betrachtung kann daraus leicht ein Konkurrieren verschiedener Alters- und Interessensgruppen um die beschränkten Ressourcen entstehen,
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Vorwort
z.B. Kinder und Jugendliche versus geriatrische Patienten oder Krebskranke versus Diabetiker. Eben diese Polarisierung gilt es aber zu vermeiden! Speziell für die Kindermedizin stellt sich die Frage, inwieweit zukünftig kostenintensive Therapien (Beispiel Enzymersatztherapie, prophylaktische Substitution bei Hämophilie u.a.) als „Standardtherapien“ übernommen werden können. Neben diesen gesundheitsökonomischen Aspekten werden im vorliegenden Buch auch sozialpolitische Aspekte behandelt, die sich unmittelbar auf die Kindergesundheit auswirken. In Österreich sind etwa 7–8% aller Kinder von „Kinderarmut“ betroffen, und noch einmal so viele sind armutsgefährdet. Es wird gezeigt, dass diese Personengruppe im weiteren Leben vermehrt krankheitsgefährdet ist und weniger zur nationalen Wertschöpfung beiträgt, früher aus dem Arbeitsleben ausscheidet und somit letztlich ökonomisch einen „Schaden“ darstellt. Investitionen zur Vermeidung und Bekämpfung von Kinderarmut werden allgemein als sinnvoll angesehen, und es gibt Berechnungen, dass jeder in diesem Bereich investierte Euro sich zwei- bis dreifach „amortisiert“. Ein weiterer Schwerpunkt der „Politischen Kindermedizin“ ist die Optimierung von Struktur- und Prozessqualität. Die Kindermedizin muss sich wie alle anderen Bereiche des Gesundheitswesens täglich die Frage stellen, wie und wo bestimmte Erkrankungen mit der Aussicht auf das bestmögliche Ergebnis behandelt werden können. Schließlich wird im vorliegenden Buch auch moralisch-ethischen Fragen breiter Raum gewidmet. Die „Rechte des Kindes“, aber auch „die Würde des Kindes“ sind Themen, die in der modernen Kindermedizin als selbstverständlich angesehen werden müssen und einen direkten Anknüpfungspunkt zur Politik darstellen. Dabei versteht sich „Politik“ in ihrem ursprünglichen und positiven Sinn, demgemäß der „Polites“ (griech.) der in der Gemeinschaft lebende und ins Sozialgefüge integrierte Stadt- bzw. Staatsbürger ist. Leider scheint sich gerade im Bereich des sozialen Zusammenlebens eine echte Schwachstelle aufzutun. Berechnungen haben ergeben, dass jährlich etwa 1,5% an Sozialkapital verloren gehen und somit eine „soziale Klimakatastrophe“ droht. Das vorliegende Buch wendet sich an alle, denen nicht nur die Kindermedizin, sondern allgemein das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen ein Anliegen ist. Die Kenntnis über Stärken und Schwachstellen im derzeitigen System sowie über vorhandenes Verbesserungspotenzial ist Voraussetzung für proaktives Handeln im Dienst unserer Kinder und Jugendlichen. Reinhold Kerbl Leonhard Thun-Hohenstein Klaus Vavrik Franz Waldhauser
Leoben / Wien / Salzburg im Mai 2008
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................................V Autorenverzeichnis ............................................................................................. IX Thomas Czypionka, Monika Riedel, Gerald Röhrling Die Gesundheitsausgaben im Kindesalter und Gesundheitsversorgung von Kindern im internationalen Vergleich. Eine Analyse der Studien von OECD und UNICEF .................................................................................... 1 Roswitha Pettliczek-Koller, Erich Schmatzberger Öffentliche Ausgaben für das Gesundheitssystem nach Altersgruppen....... 21 Claudia Wild Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenallokation. Fokus Kindermedizin........................................................................................ 35 Franz Waldhauser Politische Kindermedizin – Ein Wissenschaftszweig mit politiknahen Implikationen ? ................................................................................................. 47 Gerhard Gretzl, Gerhard Embacher Das LKFSystem – ein Problem für Kinder- und Jugendabteilungen ? ....... 63 Rudolf Püspöck, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner Pädiatrie in der Praxis: Was kann sie, was könnte sie ?................................ 75 Ernst Gehmacher Jugend ohne Sozialkapital – die soziale Klimakatastrophe ........................... 93 Klaus Vavrik Der Apfel und der Stamm – transgenerationale Aspekte in der Kindermedizin ................................................................................................. 103
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Inhaltsverzeichnis
Christian Popow Gesundheitsökonomie und Lebensqualität in der Kinder- und Jugendmedizin .................................................................................................123 Georg Spiel, Ernst Berger, Joachim Petscharnig Die Kindermedizin braucht spezifische Ressourcen und Strukturen. Eine Darstellung am Beispiel der Kinder- und Jugendpsychiatrie .............139 Ernst Tatzer Kinder, Jugendliche und Familien am Rande – na und ? ............................155 Leonhard Thun-Hohenstein Die Versorgungssituation psychisch auffälliger und kranker Kinder und Jugendlicher in Österreich..............................................................................163 Alfred Dilch Die Würde des Kindes in der Medizin ...........................................................175 Irmela Steinert Implementierung der Rechte des Kindes in Österreich ...............................183 Karin Mosler Die Würde des behinderten Kindes................................................................193 Irene Promussas Ziel und Tätigkeit der Selbsthilfegruppen für Kinder .................................203 Ronald Kurz Amor perficiat scientiam.................................................................................215
Autorenverzeichnis Ernst Berger, Univ. Prof. Dr., Abteilung Jugendpsychiatrie des PSD Wien Dietmar Baumgartner, Dr., niedergelassener Pädiater, Wiener Neustadt, NÖ Thomas Czypionka, Dr., Institut für Höhere Studien (IHS) Wien, Department of Economics & Finance, HealthEcon. Alfred Dilch, OA. Dr., Preyer’sches Kinderspital, Wien Gerhard Embacher, Mag., Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend, Wien Ernst Gehmacher, Univ. Prof. Dr., Institut für Empirische Sozialforschung (IFES) und Büro für Angewandte Sozialforschung (BOAS) Gerhard Gretzl, Mag., SOLVE Consulting Managementberatung GmbH, Wien, Projektkoordinator für die LKF-Weiterentwicklung im Auftrag der Bundesgesundheitsagentur Roswitha Pettliczek-Koller, Dir. Prof. Mag., Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger Ronald Kurz, em. O. Prof. Dr., Medizinische Universität Graz, Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde Karin Mosler, Dir.i.R., Sonderpädagogin, Frühförderin, Familienberaterin; Sozial- und Heilpädagogisches Förderungsinstitut Steiermark; Präsidentin der Europ. Gesellschaft für Frühförderung - EAECI „Eurlyaid“, Luxemburg Joachim Petscharnig, Mag., promente: kinder-jugend-familie Christian Popow, Ao. Univ. Prof. Dr., Medizinische Universität Wien, Univ. Klinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters Irene Promussas, Mag. pharm. Dr. rer.nat., Pharmazeutin, Obfrau der Lobby4kids – Kinderlobby, Wien Anna Püspök, Mag.rer.soc.oec., RTR (Radio- und TelekommunikationsRegulierungsbehörde), Wien Rudolf Püspök, Dr., niedergelassener Pädiater, Bruck an der Leitha, NÖ Monika Riedel, Dr., Institut für Höhere Studien (IHS) Wien, Department of Economics & Finance, HealthEcon.
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Autorenverzeichnis
Gerald Röhrling, Mag., Institut für Höhere Studien (IHS) Wien, Department of Economics & Finance, HealthEcon. Erich Schmatzberger, Dir. Dr., Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger Georg Spiel, Prim. Univ. Doz. Dr., Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters-LKH Klagenfurt/ promente: kinder-jugend-familie Irmela Steinert, Dr., KINDERSTIMME – Kuratorium für ein kinderfreundliches Österreich, Mitgliedsorganisation im „Netzwerk Kinderrechte Österreich“ Ernst Tatzer, Dir. Dr., NÖ Heilpädagogisches Zentrum Hinterbrühl Leonhard Thun-Hohenstein, Priv.Doz. OA Dr.; Kinder- und Jugendpsychiatrie, Univ.Klinik für Psychiatrie I; Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzurg Klaus Vavrik, Prim. Dr., Ambulatorium Fernkorngasse, Wien Franz Waldhauser, Ao. Univ. Prof. Dr., Medizinische Universität Wien, Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde Claudia Wild, Dr. phil., Ludwig Boltzmann Institut fürHealth Technology Assessment, Wien
Die Beiträge in diesem Buch geben die individuelle Sichtweise der jeweiligen Autorinnen und Autoren wider, welche nicht notwendigerweise der Ansicht der Herausgeber entspricht. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge tragen für ihre Beiträge die alleinige inhaltliche Verantwortung. „Politische Kindermedizin“ ist naturgemäß ein Thema, zu dem verschiedene Sichtweisen existieren. Diese ermöglichen erst eine lebendige und kritische Diskussion dieses Themas. Aus diesem Dialog heraus soll sich schließlich für die Kindermedizin, v.a. aber für die Kinder und Jugendlichen eine nutzbringende Entwicklung ergeben.
Die Herausgeber
Sponsoren Unten stehende Firmen haben die drucktechnische Herstellung dieser Publikation unterstützt. Die Herausgeber und Autoren bedanken sich bei den genannten Firmen für deren finanzielle Unterstützung. Darüber hinaus sind die Herausgeber dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger für dessen eigenen Beitrag in diesem Band und den Beitrag des Institutes für höhere Studien sehr verbunden, der ohne das Interesse von Generaldirektor Dr. Josef Kandlhofer an der Situation der Kinder nicht zustande gekommen wäre.
Sponsoren
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Ein großer Teil der Unterstützung dieses Buches wurde von der Marke Pampers im Rahmen des „Pampers Institut®“ Dialog-Programms übernommen – ein Projekt, das sicht um den Dialog zwischen Experten, Wissenschaft & Forschung, Eltern und all jenen, die Babys und Kleinkinder auf deren Weg durch die ersten Jahre begleiten, bemüht.
Gesundheitsausgaben im Kindesalter und Gesundheitsversorgung von Kindern im internationalen Vergleich – Eine Analyse der Studien von OECD und UNICEF Thomas Czypionka, Monika Riedel, Gerald Röhrling Die OECD-Studie kann in ihrer Globalbetrachtung nicht bestätigen, dass Österreich im internationalen Vergleich wenig für die Gesundheitsversorgung von Kindern ausgibt, auch wenn dies auf den ersten Blick so erscheinen mag. Für einen Vergleich der Ausgabenhöhe mit anderen Ländern sind die dort angeführten Altersausgabenprofile nicht geeignet. Die Studie der UNICEF wiederum sagt nicht pauschal aus, dass die Gesundheitsversorgung von Kindern in Österreich schlecht ist. Sie gibt – nach einer Detailanalyse – Aufschluss über Problem- und Handlungsfelder in Bezug auf kindermedizinische Fragestellungen in Österreich. Die Studie dokumentiert insbesondere den gravierenden Datenmangel bezüglich der Kindermedizin und weist somit auf den Forschungsbedarf in diesem Bereich hin.
I. Gesundheitsausgaben im Kindesalter: Eine Analyse der OECD-Studie „Projecting OECD health and long-term care expenditures: What are the main drivers?“ Ziel der OECD-Studie „Projecting OECD health and long-term care expenditures: What are the main drivers?“1 ist das Auffinden wesentlicher zukünftiger Kostenfaktoren für das Gesundheitswesen: sowohl demographischer (Veränderung der Bevölkerungsstruktur, Berücksichtigung von Sterbekosten, Gesundheitszustand der Überlebenden) als auch nicht-demographischer (Einkommenseffekt, Technologie, relative Preise oder „policies“). Im Fokus der Arbeit stehen Vorausschätzungen der öffentlichen Gesundheitsausgaben (ohne Ausgaben für Langzeitpflege). Ausgangspunkt für derartige Prognosen sind in der Regel sogenannte „Altersausgabenprofile“: diese stellen die durchschnittlichen öffentlichen Gesundheitsausgaben nach Altersgruppen – meist in Relation zur Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) eines Landes – dar, vgl. Abbildung 1. In der Studie erfolgt keine Interpretation oder Validierung der Ausgabenunterschiede zwischen den Ländern, sondern rein die Darstellung der Profile. 1 OECD: Projecting OECD health and long-term care expenditures: What are the main drivers?, Economic Department Workingpapers No. 477, ECO/WKP (2006)5; URL: http://www.oecd.org/dataoecd/57/7/36085940.pdf
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Abbildung 1: Öffentliche Gesundheitsausgaben nach Altersgruppen, in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Kopf, 2000
Quelle: OECD (2006), op. cit.
Derartige Ausgabenprofile weisen meist charakteristische Verläufe auf: die höheren Ausgaben im Zusammenhang mit der Geburt für die jüngste Altersgruppe im Vergleich zu Volksschulkindern, den „Babybauch“ im reproduktionsfähigen Alter der Frauen, den markanten Ausgabenanstieg mit dem Eintritt in das Pensionsalter sowie die wieder abfallenden Ausgaben der letzten Altersgruppe(n), die möglicherweise auf „zurückhaltende Therapie“2 bei Hochbetagten zurückzuführen sind. Bei der genauen Betrachtung des Ausgabenprofils im Bereich der jungen Altersgruppen zeigt sich, dass Österreich in dieser Darstellung am unteren Ende zu finden ist. Eine isolierte Interpretation dieser Darstellung legt nahe, dass die öffentlichen Ausgaben für Gesundheitsversorgung in Österreich bei Kindern und Jugendlichen besonders niedrig ausfallen, insbesondere in den Altersgruppen der 5 bis 9 und 10 bis 14-Jährigen. Um jedoch fundierte Aussagen über tatsächliche Unterschiede treffen zu können, muss das der Abbildung zugrundeliegende Datenmaterial einer genaueren Analyse unterzogen werden. 2 Schwere, kostenintensive Behandlungen können aufgrund zu starker Nebenwirkungen oder aufgrund eines allgemein bereits schwachen Gesundheitszustandes nicht mehr in dem Umfang angewendet werden wie bei etwas jüngeren Personen.
Gesundheitsausgaben im Kindesalter – internationaler Vergleich
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Die in der OECD-Studie verwendeten Basisdaten der Ausgabenprofile stammen aus einem Bericht der Europäischen Kommission3 des Jahres 2001. Auf Initiative der Finanzminister der Europäischen Union wurde erstmals eine Vorausschätzung unterschiedlicher Arten öffentlicher Ausgaben für die meisten EUMitgliedsstaaten durchgeführt, um die Belastung der öffentlichen Haushalte durch die sich abzeichnenden demographischen Verschiebungen abzuschätzen. Zu diesen Ausgabenarten zählten neben Pensions- und Bildungsausgaben auch die Bereiche Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege. Das Ausgabenprofil für Österreich wurde schon im Zuge dieses Berichts vom Institut für Höhere Studien (IHS) berechnet. Bei der Erstellung der Profile wurden jene Ausgabenkomponenten berücksichtigt, für die die österreichische Datenlandschaft damals alters- und geschlechtsdifferenzierte Ausgabeninformationen zur Verfügung stellte: Es konnten bereinigte stationäre Ausgaben in Fondsund Nichtfondsspitäler, Sozialversicherungsausgaben für ärztliche Hilfe und gleichgestellte Leistungen (ohne zahnärztliche Leistungen) sowie Sozialversicherungsausgaben für Medikamente abgedeckt werden. Da es sich im Jahre 2001 in Österreich (und auch in einigen anderen Staaten) um eine erstmalige Berechnung derartiger Altersausgabenprofile handelte, kann davon ausgegangen werden, dass die zugrundeliegenden Basisdaten mit Unschärfen behaftet waren: So konnte in Österreich im extramuralen Bereich bei der Berechnung der Ausgabenprofile für ärztliche Hilfe und gleichgestellte Leistungen ausschließlich auf Daten der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse (Folgekosten (FOKO)-Daten für das Bundesland Oberösterreich) zurückgegriffen werden – an dieser Stelle musste eine Anpassung für das gesamte Bundesgebiet durchgeführt werden. Bei den Medikamentenausgaben lag nur eine Information in 10-Jahres-Altersgruppen und ohne Trennung nach dem Geschlecht vor. Die exakten Ausgabenabdeckungsgrade in den anderen Staaten sind zum Teil nicht vollständig nachvollziehbar, sodass ein Niveauvergleich der Profile 2000 zwischen den Ländern nur sehr eingeschränkt zulässig ist. Weiters sollte berücksichtigt werden, dass in den einzelnen Ländern auch unterschiedliche Gesundheitssysteme und Organisationsformen vorhanden sind – so muss auch auf unterschiedliche Daten(quellen) und Berechnungsmethoden zurückgegriffen werden. Beispielsweise ist nicht immer ersichtlich, ob in den einzelnen Ländern eine Hochrechnung durchgeführt wurde, um altersmäßig nicht zuordenbare Ausgaben zu inkludieren; was bzw. wie viel zuordenbar ist dürfte international variieren. Eine derartige Hochrechnung wurde bei den österreichischen Profilen unterlassen, sodass die Ausgaben systematisch unterschätzt wurden. Im Jahr 2005 wurden die Berechnungen der Altersausgabenprofile aktualisiert und die Vorausschätzung vereinheitlicht und erweitert; die Ausgabenprofile als Basis für die Prognosen wurden wieder aus den Mitgliedsländern geliefert – für 3 Economic Policy Committee (EPC), ‘The budgetary challenge posed by ageing populations’, European Economy Reports and Studies N°4, European Commission, Directorate General for Economic and Financial Affairs, 2001, URL: http://europa.eu.int/comm/economy_finance/publications/european_economy/2001/eers0401_en. pdf
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Österreich erstellte wieder das IHS die Profile.4 Die Berechnung der AltersAusgabenprofile erfolgte abermals nach einem Bottom-up Ansatz und verwendete administrative Daten, diesmal für ganz Österreich: Das Ausgabenprofil im stationären Sektor bezieht sich auf FondsKrankenanstalten und wurde mit Hilfe von Daten aus der Leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung (LKF-Daten) und überregionalen Kostenrechnungsergebnissen (KORE-Daten) berechnet. Beide Datensätze wurden vom Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend (BMGFJ) zur Verfügung gestellt. Durch die Berechnung eines österreichweit einheitlichen „impliziten Punktwertes“ war es möglich, eine Abschätzung der tatsächlichen Kosten im öffentlichen stationären Bereich vorzunehmen. Im extramuralen Bereich wurden alters- und geschlechtsbezogene Daten der sozialen Krankenversicherung (alle Gebietskrankenkassen) herangezogen, wobei zwischen fünf ambulanten Ausgabenarten unterschieden werden konnte: Ausgaben für ärztliche Hilfe, Zahnbehandlung, Medikamente, Heilbehelfe und Patiententransport. Abbildung 2 zeigt beispielhaft die aktuellen Ausgabenprofile für Frauen im Vergleich aller EU15Länder. Abbildung 2: Öffentliche Gesundheitsausgaben nach Altersgruppen, in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Kopf, Frauen, 2003
Quelle: Economic Policy Committee (2006), op.cit. 4 Economic Policy Committee (EPC), The impact of ageing on public expenditure: projections for the EU15 Member States on pensions, health care, long-term care, education and unemployment transfers (2004-2050), Brussels, February 2006, URL: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/european_economy/2006/eesp106en.pdf
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Für Österreich konnten 2005 somit deutlich mehr Ausgabensegmente der öffentlichen Gesundheitsausgaben alters- und geschlechtsspezifisch abgedeckt werden als in der ersten „Berechnungsrunde“ des Jahres 2000. Bei genauerer Betrachtung der jungen Altersgruppen lassen sich Abweichungen des österreichischen Profils von den anderen EU-Staaten nicht mehr erkennen. Es ist zwar davon auszugehen, dass sich sowohl Datenqualität als auch Berechnungsmethoden in anderen Ländern ebenfalls verbessert und etwas aneinander angenähert haben, jedoch hinkt der Vergleich der Profile weiterhin: Grund dafür sind jene öffentlichen Ausgaben, für die keine alters- und geschlechtsspezifische Information vorliegt. Beim Vergleich der aus den Altersprofilen hochgerechneten Gesamtausgabenquote mit den offiziell publizierten öffentlichen Ausgabenquoten, zeigen sich länderweise unterschiedliche Anteile an Ausgaben ohne Altersund Geschlechtsverteilung. Würde man beispielsweise in Österreich jene Ausgabenkomponenten, für die keine alters- und geschlechtsspezifische Information vorliegt5 pauschal (also in jeder Altersgruppe wird der gleiche Pro-Kopf-Betrag zugerechnet) zuschlagen, würde sich das Ausgabenprofil weiter horizontal nach oben verschieben.
Gesamtfazit der OECD-Studie Die Studie der OECD kann in ihrer Globalbetrachtung nicht bestätigen, dass Österreich im internationalen Vergleich wenig für die Gesundheitsversorgung von Kindern ausgibt. Für einen Vergleich der Ausgabenhöhe mit anderen Ländern sind die Altersausgabenprofile nicht geeignet: auf Grund unterschiedlicher Abdeckungsgrade in den einzelnen Ländern, sprich „Welche Ausgabenkomponenten werden durch das Profil abgedeckt?“ auf Grund unterschiedlicher Gesundheitssysteme, Organisationsformen und Berechnungsmethoden in den einzelnen Ländern auf Grund dessen, dass beispielsweise für Österreich eine Adjustierung des Profils vorgenommen werden müsste um eine Konformität mit der offiziell publizierten Ausgabenquote nach System of Health Accounts (SHA)6 zu erhalten. Vielmehr dienen Altersausgabenprofile als Ausgangsbasis für länderspezifische Vorausschätzungen der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Weiters sei darauf 5 Dazu zählen beispielsweise Ausgaben in öffentlichen Spitalsambulanzen oder Ausgaben für Prävention, Verwaltung und Investitionen. 6 Das „System of Health Accounts“ ist ein konsistentes, international vergleichbares System von Gesundheitskonten zur umfassenden Dokumentation und Erfassung von Gesundheitsausgaben (inklusive Langzeitpflege) und ihrer Finanzierung. Seit dem Jahr 2005 befindet sich Österreich in der SHA-Implementierungsphase zur Berechnung der Gesundheitsausgaben, welche von Statistik Austria in Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Familie und Jugend (BMGFJ) durchgeführt wird.
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hingewiesen, dass eine isolierte Betrachtung der Gesundheitssausgabenseite ohne Miteinbeziehung des Gesundheitszustandes wenig aussagekräftig erscheint, da in Betracht gezogen werden muss, dass hohe Ausgaben nicht automatisch auch einen guten Gesundheitszustand der Bevölkerung implizieren müssen. Mehr Geld für das Gesundheitswesen ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für bessere Gesundheit. Geld kann nur in eine gerechte, effiziente und effektive Gesundheitsversorgung übergeführt werden, wenn geeignete Finanzierungsmethoden verwendet werden und institutionelle Kapazität und Arbeitskräfte vorhanden sind. Ohne diese Bedingungen können zusätzliche finanzielle Mittel für Gesundheit sogar Schaden anrichten.7 Durch die Stärkung von Gesundheitsförderung und Prävention bei Kindern (Förderung von gesunder Ernährung und Bewegung – Kampf dem Übergewicht bei Kindern, Kampf dem Rauchen/Alkohol, Haltungsschäden etc.) könnten diese bis ins Erwachsenenalter stark profitieren. Diese Investitionen würden zweifelsohne mehr finanzielle Mittel erfordern – könnten im Sinne einer nachhaltigen Finanzierung aber dazu führen, dass Kosten im Alter vermieden werden.
II. Gesundheitsversorgung von Kindern im internationalen Vergleich: eine Analyse der UNICEF-Studie „Child poverty in perspective: An overview of child wellbeing in rich countries“ Ziel der UNICEF-Studie „Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries“8 ist es Lebenssituationen, Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern in 21 Industrieländern einzuschätzen und zu bewerten. Dazu wurden sechs Dimensionen (materielle Situation, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen, Lebensweise und Risiken, eigene Einschätzung der Kinder und Jugendlichen) definiert. Jede dieser Dimensionen lässt sich in drei Komponenten klassifizieren, die wiederum aus einer unterschiedlichen Anzahl an Einzelindikatoren bestehehen. Insgesamt setzt sich der Gesamtscore aus 40 Indikatoren zusammen. Im Folgenden soll kurz die verwendete Berechnungsmethode näher ausgeführt werden: In einem ersten Schritt werden die einzelnen Indikatoren länderweise standardisiert (Standardnormalverteilung: z-scores). Anschließend wird länderweise für jede Komponente der Mittelwert über alle z-standardisierten Indikatoren gebildet; in einem weiteren Schritt dann länderweise für jede Dimension der Mittelwert über alle z-standardisierten Komponenten errechnet. Abschließend 7 Vgl. auch Hsiao WC: Why is a systemic view of health financing necessary?, Health Affairs 26/4, July/August 2007, S. 950-961. 8 UNICEF: Child poverty in perspective: An overview of child well-being in rich countries, Innocenti Report Card 7, 2007; URL: http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarmut/Internationale_ Studie.pdf
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wird für jede Dimension eine Rangreihe gebildet – durch die Mittelung dieser sechs Ränge ergibt sich für jedes Land eine durchschnittliche Endrangposition. Sowohl bei der Mittelung der standardisierten Indikatoren zu einer Komponente als auch bei der Durchschnittsbildung der Komponenten zu einer Dimension wurde keinerlei Gewichtung vorgenommen. Bei zu starker Korrelation einzelner Indikatoren miteinander wurde ein Indikator entfernt um eine Übergewichtung zu vermeiden. Der Vorteil gegenüber einem reinen Rangverfahren (=Ränge bilden und dann jeweils mittlere Ränge bilden) ist, dass bei diesem Verfahren auch die Streuung (Spannweite) abgelesen werden kann. Der Informationsverlust bei einem Rangverfahren wäre somit größer. Nachteil bzw. Problem im Zuge der Verwendung von z-scores ist, dass diese ein sogenanntes „implizites Gewicht“ aufweisen: wird ein Indikator mit großer Streuung (Spannweite) mit einem Indikator mit geringer Streuung (Spannweite) kombiniert, so erfolgt eine implizite, stärkere Gewichtung jenes Indikators der eine größere Streuung (Spannweite) aufweist. Die Ergebnisse für Österreich im internationalen Vergleich fallen äußerst schlecht aus, vgl. Tabelle 1. Unter den 21 untersuchten Industrieländern nimmt Österreich den 18. Gesamtrang ein. Die genauere Betrachtung der „hauptgesundheitsrelevanten“ Dimensionen „Gesundheit und Sicherheit“ sowie „Lebensweise und Risiken“ zeigt ein ähnliches Bild: In der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ rangiert Österreich an vorletzter Stelle – nur in den Vereinigten Staaten steht es um die „Gesundheit und Sicherheit“ von Kindern schlechter als in Österreich. Die Dimension „Lebensweise und Risiken“ weist Österreich an fünftletzter Position aus. Nur in der Dimension „subjektives Wohlbefinden“ platziert sich Österreich im vorderen Feld – diese Dimension beinhaltet jedoch nur eine gesundheitsrelevante Komponente, nämlich die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes.
Tabelle 1: Ergebnisse der UNICEF-Studie
Quelle: UNICEF (2007), op. cit.
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Um eine fundierte Aussage über die Ursachen und Hintergründe des schlechten österreichischen Abschneidens in den „haupt-gesundheitsrelevanten“ Dimensionen tätigen zu können, ist es notwendig, die einzelnen Dimensionen detailliert „unter die Lupe zu nehmen“ und die zugrundeliegenden Basisindikatoren und deren Datenquellen zu analysieren: dies passiert in den folgenden Unterkapiteln.
Detailanalyse der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ Die Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ besteht aus den drei Komponenten „Gesundheit der 0 bis 1-Jährigen“, „Präventive Gesundheitsleistungen“ und „Sicherheit“. Um nun festzustellen welche Komponente für das schlechte Abschneiden Österreichs (Rang 20 von 21 Ländern) verantwortlich ist, ist eine Detailanalyse der Einzelindikatoren notwendig.
Tabelle 2: Komponenten, Indikatoren und Datenquellen der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ Komponente Gesundheit der 0 bis 1Jährigen
Präventive Gesundheits-leistungen (Immunisierung)
Sicherheit
Indikatoren z Säuglingssterblichkeit (Anzahl der Säuglinge, die im ersten Lebensjahr sterben, pro 1.000 Lebendgeburten) z Niedriges Geburtsgewicht (Prozentsatz der Säuglinge, die mit niedrigem Geburtsgewicht (<2.500 Gramm) geboren werden) z Prozentsatz der Kinder zwischen 12 und 23 Monaten, die gegen Masern geimpft sind z Prozentsatz der Kinder zwischen 12 und 23 Monaten, die gegen Diphterie-Tetanus /Keuchhusten (DPT) geimpft sind z Prozentsatz der Kinder zwischen 12 und 23 Monaten, die gegen Polio geimpft sind z Todesfälle auf Grund von Unfällen und Verletzungen, pro 100.000 im Alter von 0-19 Jahren
Datenquelle OECD Health Data, Jänner 2006 OECD Health Data, Jänner 2006
World Development Indicators (WDI), 2003 Health Nutrition and Population (HNP) Database, 2002 Health Nutrition and Population (HNP) Database, 2002 WHO Mortality Database, 2005
Quelle: UNICEF (2007), op. cit.
a) Gesundheit der 0 bis 1-Jährigen Die Komponente „Gesundheit der 0 bis 1-Jährigen“ setzt sich aus den Indikatoren „Säuglingssterblichkeit“ und „Niedriges Geburtsgewicht“ zusammen, vgl. Tabelle 2. Die Säuglingssterblichkeit ist zwar ein international anerkannter Standardindikator für Kindergesundheit, jedoch mit der Einschränkung, dass diese Maßzahl nur beim Vergleich von/mit Entwicklungsländern wirklich aussagekräftig ist. Der Indikator bildet insbesondere ab, ob in einem Land ausreichend Ernährung, sauberes Wasser, sanitäre Einrichtungen oder grundlegende präventive Gesundheitsleistungen zur Verfügung stehen – Niveauunterschiede in entwickelten Staaten sind eher gering ausgeprägt, sodass die Säuglingssterblichkeit im Vergleich von Industriestaaten als weniger aufschlussreich angesehen werden kann. Abbildung 3 illustriert, dass Österreich mit einer Sterblichkeit von 4,5 pro 1.000 Lebendgeborene (2003, UNICEF-Bericht) im OECD-Durchschnitt liegt; insbesondere die skandinavischen Staaten und Japan zeichnen sich mit einer besonders
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niedrigen Säuglingssterblichkeit aus. Um zu eruieren, warum die Säuglingssterblichkeit in Österreich an diese Werte nicht herankommt wäre sicher eine Detailanalyse der Todesursachen bei Säuglingen aufschlussreich. In Österreich starben im Jahr 2005 insgesamt 327 Säuglinge:9 Bei knapp 47 Prozent führte eine “nicht näher bezeichnete Unreife” zum Tode; rund 27 Prozent starben an “angeborenen Missbildungen” und neun Prozent an “plötzlichem Kindstod”. Besonders interessant wäre die Untersuchung der 54 Babies oder 17 Prozent Todesfälle, die an sonstigen perinatalen oder anderen Todesursachen starben. Überraschend ist, dass Länder wie Tschechien, Portugal oder Spanien niedrigere Sterberaten aufweisen als Österreich. Diese Prozentsätze und Absolutzahlen sind allerdings auch abhängig von der Güte der Schwangerenbetreuung, indem bei schlechterer Versorgung Geburten in dieser Kategorie gar nicht aufscheinen, sondern bereits intrauterin versterben bzw. abortieren, also scheinbar weniger Neugeborene versterben.
Abbildung 3: Säuglingssterblichkeit (Todesfälle innerhalb der ersten 12 Monate, pro 1.000 Lebendgeborene), 2003 und 2005 10,0 9,0 8,0 7,0 6,0 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0
Island Japan Finnland Schweden Norwegen Tschechisch Frankreich Portugal Spanien Deutschland Belgien Italien Schweiz Dänemark Österreich Australien Griechenland Niederlande Irland Vereinigtes Kanada Neuseeland Polen Vereinigte Ungarn
Bericht 2003 2005 Mittelwert 2003 Mittelwert 2005
Quelle: UNICEF (2007), op.cit., OECD Health Data für das Jahr 2005, IHS HealthEcon 2007.
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Jahrbuch der Gesundheitsstatistik 2005, Statistik Austria.
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Abbildung 4: Niedriges Geburtsgewicht: Prozentsatz der Geburten unter 2.500 g
Bericht 2003 2005 Mittelwert 2003 Mittelwert 2005
Island Finnland Schweden Irland Norwegen Niederlande Dänemark Kanada Polen Neuseeland Australien Belgien Italien Schweiz Tschechische Frankreich Deutschland Spanien Österreich Portugal Vereinigtes Vereinigte Griechenland Ungarn Japan
10,0 9,0 8,0 7,0 6,0 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 0,0
Quelle: UNICEF (2007), op.cit., OECD Health Data für das Jahr 2005, IHS HealthEcon 2007.
Österreich rangiert mit 7,1 Prozent (2003, UNICEF-Bericht) auch in Bezug auf den Indikator „Niedriges Geburtsgewicht“ nur knapp über dem OECDDurchschnitt, vgl. Abbildung 4. Ein niedriges Geburtsgewicht kann mit einem höheren Krankheitsrisiko bis ins spätere Erwachsenenalter einher gehen. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Geburtsgewicht und den sozialen Verhältnissen, unter denen ein Kind bis zum frühen Erwachsenenalter lebt, einschließlich der sozialen Zugehörigkeit zu einer beruflich bedingten sozialen Schicht im Erwachsenenalter. Der Indikator zielt jedoch eigentlich gar nicht auf die Gesundheitsversorgung der Kinder, sondern vielmehr auf die Betreuung der Schwangeren und deren soziale Lage ab.
b) Präventive Gesundheitsleistungen (Immunisierung) Die zweite Komponente der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ setzt sich aus den Immunisierungsraten gegen Masern, Diphterie-Tetanus/Keuchhusten (DPT) sowie Polio zusammen. Die zugrundeliegenden Daten beziehen sich auf das Jahr 2003 und stammen aus zwei unterschiedlichen Datenbanken der Weltbank (World Development Indicators sowie Health, Nutrition and Population Database). Basierend auf diesen Daten nimmt Österreich innerhalb der Vergleichsstaaten bei Kombination aller drei Immunisierungsraten den letzten Platz ein: Österreich hat somit im OECD-Vergleich die niedrigsten Durchimpfungsraten.
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Dieser Sachverhalt überrascht, sodass an dieser Stelle eine nähere Betrachtung angebracht ist, um Ursachen für dieses schlechte Abschneiden zu identifizieren. Nach Rücksprache mit dem Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend (BMGFJ), welches für die Erfassung und Berechung der österreichischen Immunisierungsraten zuständig ist, können folgende Relativierungen der Daten genannt werden: in Österreich gibt es (noch) keine einheitliche Erfassung der Durchimpfung: Das Impfwesen in Österreich befindet sich in der jeweiligen Landesgesetzgebung – das Ministerium ist somit auf Daten angewiesen, die aus den Bundesländern zur Verfügung gestellt werden. Ein Problem ist, dass in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Erhebungs- und Erfassungsmethoden angewendet werden. In den letzten Jahren wurden in einigen Bundesländern „elektronische Register“ entwickelt, die ein genaueres Bild der Immunisierung bei Kindern liefern. Basierend auf diesen Daten mit höherer Qualität und in Kombination mit Daten über abgerufene Impfstoffe ist das BMGFJ in der Lage, realitätsgetreuere Daten zu berechnen, wobei der Prozess der Datenqualitätsverbesserung noch nicht abgeschlossen ist. Dass in Österreich im Jahr 2005 eine deutliche Verbesserung der Datenqualität stattgefunden hat, zeigen die Ergebnisse der österreichischen Immunisierungsraten für dieses Jahr: So betrug im Jahr 2005 laut WHO10 die Immunisierung gegen Masern 91 Prozent (EU15: 90 Prozent) und die Immunisierung gegen DPT 92 Prozent (EU15: 93 Prozent), vgl. Tabelle 3. Auch andere ImpfexpertInnen bestätigten, dass in Österreich eine durchaus zufriedenstellende Durchimpfung gegeben ist; trotzdem könnte durch noch mehr sachliche Information und Aufklärung (beispielsweise durch das BMGFJ) die Zahl der „Impfverweigerer“ unter Eltern und ÄrztInnen noch weiter gesenkt werden.
Tabelle 3: Immunisierungsraten im Vergleich UNICEF (2003) Österreich 79%
UNICEF (2003) OECD 90%
WHO (2005) Österreich 91%
WHO (2005) EU15 90%
DPT
83%
94%
92%
93%
Polio
82%
93%
n.v.
n.v.
Masern
Quelle: UNICEF, op. cit.; WHO Health for all database, Juni 2007.
Weiters muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass ein internationaler Vergleich der Immunisierungsraten nur bedingt zulässig ist, da es auch in den einzelnen Ländern unterschiedliche Erhebungsmethoden gibt. Beispielsweise erfolgt die Erfassung in Schweden personenbezogen, indem jedes Kind nach Vollendung des zweiten Lebensjahres einem „Impf-check“ unterzogen wird; im Zuge dieser Überprüfung wird festgestellt, welche Impfungen das Kind erhalten hat und welche noch fehlen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die verwendeten Immunisierungsraten überholte Momentaufnahmen darstellen; die Verwendung anderer Datenquellen bzw. eines aktuelleren Bezugsjahres würde beispielsweise das österreichische Abschneiden deutlich verbessern. 10
Datenquelle für Österreich: BMGFJ.
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c)
Sicherheit
Die dritte Komponente der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ stützt sich auf einen einzelnen Indikator, nämlich die Todesfälle auf Grund von Unfällen und Verletzungen pro 100.000 0- bis 19-Jährige. Um die Sicherheit der Jugendlichen zu messen, werden hier eine Reihe unterschiedlicher Risiken (Unfälle, (Selbst-)Mord, Gewalteinwirkung) zusammengefasst. Der Indikator ist jedoch aus mehreren Gründen als problematisch anzusehen: Die Kennzahl misst zwar einerseits die medizinische Versorgungsqualität eines geschehenen Unfalls, erfasst aber auch andererseits eine Reihe anderer, nicht-gesundheits(system)relevanter Faktoren wie beispielsweise die Verkehrs- oder Produktsicherheit. Weiters muss darauf hingewiesen werden, dass dieser Indikator ohne Angabe der absoluten Todesfälle aller Ursachen wenig aussagekräftig ist; besser wäre die Verwendung der Todesfälle auf Grund von Unfällen und Verletzungen als Prozentsatz aller Todesfälle oder eine Relation zur gesamten Unfall- und Verletzungshäufigkeit, die allerdings wieder neue Messprobleme aufwirft. Da der Indikator auch starken jährlichen Schwankungen und niedrigen Fallzahlen unterworfen ist, wurde der Mittelwert der drei letztverfügbaren Jahre verwendet. Aufgrund sehr unterschiedlicher Bezugsjahre und veralteter Daten (1993-1995, 1994-1996, 1999-2001, 2000-2002) ist ein internationaler Vergleich nur eingeschränkt möglich. Die der UNICEF-Studie zugrundeliegenden Daten weisen Österreich im OECD-Durchschnitt aus (15 Todesfälle pro 100.000 0- bis 19Jährige.
d) Fazit bezüglich der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ Die Studie der UNICEF stellt Österreich in bezug auf die „Gesundheit und Sicherheit“ von Kindern ein (scheinbar) schlechtes Zeugnis aus. Ursache für die schlechte Position Österreichs sind sehr niedrige Immunisierungsraten bzgl. Masern, DPT und Polio; bei den Komponenten Gesundheit der 0- bis 1-Jährigen sowie Sicherheit rangiert Österreich im Mittelfeld. Die Verwendung aktueller Durchimpfungsdaten für Österreich mit höherer Qualität würde zu einem besseren Ergebnis im Dimensions- und Gesamtranking führen. Zusammenfassend sind folgende Kritikpunkte zur Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ festzuhalten: Einige Indikatoren stützen sich auf veralterte Daten und es werden zum Teil sehr unterschiedliche Bezugsjahre miteinander verglichen. Generell ist die Kombination der Komponenten Gesundheit und Sicherheit zu hinterfragen. Möglicherweise wäre eine Zusammenführung von Mortalitäts-, Morbiditäts- und Lifestyleindikatoren am sinnvollsten. Die Indikatoren der Dimension „Gesundheit und Sicherheit“ fokussieren primär auf Schwangerschaft/Geburt (Säuglingssterblichkeit, niedriges Geburtsgewicht) und Impfungen. Bessere Indikatoren insbesondere auch zur Messung der Morbidität und der Qualität der Gesundheitsver-
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sorgung bei Klein- sowie Schulkindern wären beispielsweise: Anzahl der Kinder mit Zivilisationskrankheiten, mit noch nicht behobenen Geburtsdefekten im Kindes-/oder gar Erwachsenenalter, Sprachstörungen aufgrund angeborenen (nicht behandelten) Hörfehlers, Amblyopie (Schwachsichtigkeit) durch unbehandeltes Schielen etc. Hauptproblem stellt – wie so oft – das Fehlen einer international vergleichbaren Datengrundlage dar. Das generelle Fehlen von Indikatoren, die bestimmte Gesundheitsbereiche von Kindern abdecken; hier seien Indikatoren zur psychischen Gesundheit, Stressindikatoren sowie Indikatoren, die auf Kinder mit speziellen Bedürfnissen (Behinderungen und chronische Krankheiten) abzielen, genannt. Aber auch hier scheitert eine Einbeziehung dieser Kennzahlen an der Datenverfügbarkeit, auf Grund des Fehlens gemeinsamer Definitionen und Forschungsmethodik.
Detailanalyse der Dimension „Lebensweise und Risiken“ Die Dimension „Lebensweise und Risiken“ besteht aus den drei Komponenten „Gesundheitsverhalten“, „Risikoverhalten“ und „Erfahrungen mit Gewalt“. Nun soll wiederum festgestellt werden, welche Komponente für das schlechte Abschneiden Österreichs (Rang 16 von 21 Ländern) verantwortlich ist. Sämtliche Daten dieser Dimension (mit Ausnahme der Teenagerfertilität) sind der WHOErhebung „Health Behaviour in School-age Children (HBSC)“ der Jahre 2001/02 entnommen. Diese wird seit 20 Jahren alle vier Jahre durchgeführt, wobei Jugendliche im Alter von 11, 13 und 15 Jahren befragt werden. Tabelle 4: Komponenten, Indikatoren und Datenquellen der Dimension „Lebensweise und Risiken“ Komponente Gesundheitsverhalten
Risikoverhalten
Erfahrungen mit Gewalt
Indikatoren z Prozentsatz der Kinder, die an Schultagen frühstücken z Prozentsatz der Kinder, die täglich Obst essen z Prozentsatz der Kinder, die physisch aktiv sind z Prozentsatz der Kinder, die übergewichtig sind z Prozentsatz der 15-Jährigen, die zumindest einmal pro Woche rauchen z Prozentsatz der Jugendlichen, die schon mehr als zweimal betrunken waren z Prozentsatz der Jugendlichen, die in den letzten 12 Monaten Cannabis konsumierten z Prozentsatz der 15-Jährigen, die bereits Sexualverkehr hatten z Prozentsatz der 15-Jährigen, die Kondome benutzen z Teenagerfertilität: Geburten pro 1.000 Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren z Prozentsatz der Jugendlichen, die in den letzten 12 Monaten in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt waren z Prozentsatz der Jugendlichen, die in den letzten zwei Monaten eingeschüchtert wurden
Quelle: UNICEF (2007), op. cit.
Datenquelle WHO: Health Behaviour in Schoolage Children (HBSC) - Survey WHO: Health Behaviour in Schoolage Children (HBSC) – Survey
World Development Indicators (WDI) WHO: Health Behaviour in Schoolage Children (HBSC) - Survey
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a) Gesundheitsverhalten Österreich nimmt in der Komponente „Gesundheitsverhalten bei Jugendlichen“ nach Standardisierung und Rangreihenbildung innerhalb der verglichenen 21 Industriestaaten die achte Position ein – befindet sich somit im „guten Mittelfeld“. Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Indikatoren zeigt sich, dass der Anteil der Jugendlichen, die täglich Obst essen, in Österreich überdurchschnittlich ausgeprägt ist, vgl. Abbildung 5. In Österreich geben knapp über 37 Prozent der Befragten an, täglich Obst zu essen, im OECD-Durchschnitt sind es lediglich 34 Prozent. Bei diesem Indikator muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Daten mögliche Verzerrungen enthalten können, da Verfügbarkeit und Preise von Obst in den einzelnen Ländern unterschiedlich sind, sowie die Saison, in der die Befragung durchgeführt wurde, einen Einfluss auf das Antwortverhalten der Kinder haben. Ebenfalls leicht überdurchschnittlich liegt der Anteil der Jugendlichen, die einer physischen Aktivität nachgehen – insgesamt muss aber konstatiert werden, dass das Niveau äußerst niedrig angesiedelt ist: in Österreich sind nur 4,2 Prozent der Jungendlichen physisch aktiv, im OECD-Schnitt gar nur 3,9 Prozent. Dieser Indikator ist u.a. abhängig vom Ausmaß und der Organisation des Schulsports, der Art und Weise wie Kinder von zu Hause in die Schule kommen sowie der generellen Verfügbarkeit von Freizeit. Schlechter als im OECD-Schnitt schneidet Österreich beim „regelmäßigen Frühstücken“ und beim „Übergewicht“ ab. In Österreich geben rund 54 Prozent der Jugendlichen an, an Schultagen zu frühstücken; im OECD-Durchschnitt sind es um sieben Prozentpunkte mehr. Abbildung 5: Komponente „Gesundheitsverhalten“ im Detail Index OECD-Länder =100 Tägliches Obstessen 150
109 100
Übergewicht
50
89
92
Regelm. Frühst.
108
Physische Aktivität
Quelle: UNICEF (2007), op. cit.; IHS HealthEcon Berechnungen 2007.
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Der Indikator „Anteil der übergewichtigen Kinder“ ist aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu genießen: da die befragten Kinder selbst angeben mussten wie viel sie wiegen, jedoch sehr oft nicht wissen, wie schwer sie sind, ist die „Ausfallsquote“ hoch und auch die Datenqualität schlecht. Die Prävalenz an übergewichtigen Kindern dürfte somit unterschätzt sein. Genauere und objektivere Daten könnten in diesem Fall durch das Wiegen der Kinder vor Ort erfolgen. Laut HBSC geben rund 12 Prozent der österreichischen Befragten an, übergewichtig zu sein. Im Vergleich dazu spricht der österreichische Adipositasbericht 2006 bei Buben von einem Anteil zwischen zehn bis 29 Prozent und bei Mädchen von sechs bis 42 Prozent übergewichtigen Kindern.11
b) Risikoverhalten Auch in der Komponente „Risikoverhalten von Jugendlichen“ nimmt Österreich unter den Vergleichsländern eine Mittelposition ein (Rang 11 von 21 Ländern) – wenn auch etwas schlechter als zuvor in der Komponente „Gesundheitsverhalten“. Abbildung 6: Komponente „Risikoverhalten“ im Detail Index OECD-Länder =100 Rauchverhalten
150
120
Kondombenützung
Alkoholmissbrauch
100
108
98
50
55 87
Sexualverhalten
Cannabiskonsum
138
Teenagerfertilität
Quelle: UNICEF (2007), op. cit.; IHS HealthEcon Berechnungen 2007.
11
Kiefer I, Rieder A, Rathmanner T, Meidlinger B, Baritsch C, Lawrence K, Dorner T, Kunze M: Erster Österreichischer Adipositasbericht 2006, Grundlage für zukünftige Handlungsfelder: Kinder, Jugendliche und Erwachsene, August 2006, URL: http://www.alternmitzukunft.at/upload/3031_AMZ_Adipositas_3108_final.pdf
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Besonders augenscheinlich ist das schlechte Abschneiden Österreichs bei den Rauchgewohnheiten unter den Jugendlichen. Mehr als 13 Prozent der Befragten geben an, zumindest einmal pro Woche zu rauchen. Damit liegt dieser Anteil um 20 Prozent über dem entsprechenden Anteil über alle OECD-Länder hinweg, vgl. Abbildung 6. Deutlich höher als im OECD-Durchschnitt findet sich Österreich auch beim Indikator „Teenagerfertilität“. Mit 22 Teenagergeburten pro 1.000 Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren gibt es in Österreich um sechs Geburten pro 1.000 mehr als im OECD-Durchschnitt. Auffallend ist, dass der Cannabiskonsum in Österreich laut HBSC besonders niedrig ausgeprägt ist, überdurchschnittlich viele Jugendliche Kondome benutzen bzw. der Alkoholmissbrauch im OECD-Durchschnitt zu liegen kommt.
c)
Erfahrungen mit Gewalt
In der Komponente „Erfahrungen mit Gewalt“ nimmt Österreich den letzten Rang innerhalb der Vergleichsstaaten ein. Insbesondere erlebten viele Jungendliche in Österreich in den letzten zwei Monaten vor ihrer Befragung Einschüchterungen diverser Natur. Beide Indikatoren bilden jedoch eher soziale Verhältnisse ab, als dass sie gesundheitsrelevantes Verhalten messen.
Abbildung 7: Komponente „Erfahrungen mit Gewalt“ im Detail Index OECD-Länder =100
142
150
102 100
50 Gewalttätige Einschüchterungen in den Auseinandersetzungen in letzten 2 Monaten den letzten 12 Monaten
Quelle: UNICEF (2007), op. cit.; IHS Health Econ Berechnungen 2007.
d) Fazit bezüglich der Dimension „Lebensweise und Risiken“ Das schlechte Ergebnis Österreichs in der Dimension „Lebensweise und Risiken“ ist auf die Komponente „Erfahrungen mit Gewalt“ zurückzuführen. Österreichi-
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sche Jugendliche sind demnach überdurchschnittlich oft in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt bzw. erleben Einschüchterungen diverser Natur. Eine Aussparung dieser Komponente, die zwar in bezug auf die gesamte Situation junger Menschen, aber kaum bezüglich der Kinder- und Jugendmedizin im speziellen relevant ist, würde eine deutliche Rangverbesserung für Österreich bewirken.
Kurzanalyse der Dimension „Subjektives Wohlbefinden“ In der Dimension „Subjektives Wohlbefinden“ nimmt Österreich eine Spitzenposition ein: Rang 4 von 21 untersuchten Ländern. Die einzig gesundheitsrelevante Komponente dieser Dimension ist die Selbsteinschätzung der Jugendlichen bezüglich ihres Gesundheitszustandes. Knapp 16 Prozent der befragten Jugendlichen in Östereich bewerten ihren eigenen Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht. Im Vergleich zum OECD-Mittelwert sind dies überdurchschnittlich viele (OECD: 14 Prozent); Österreich liegt damit im unteren Drittel. Grund für das sehr gute Abschneiden in der gesamten Dimension sind die beiden anderen Komponenten: „Situation in der Schule“ (Rang 2) sowie „Allgemeine Zufriedenheit“ (Rang 5).
Gesamtfazit der UNICEF-Studie Die Ergebnisse der UNICEF-Studie müssen in einer differenzierten Art und Weise betrachtet werden: Entscheidend bei derartigen Studien ist die Auswahl der verwendeten Indikatoren. Diese Kennzahlenauswahl ist insbesondere vom Vorhandensein international vergleichbarer Daten abhängig. Leider musste in dieser Studie in einigen Fällen auf veraltete Daten bzw. auf Daten aus unterschiedlichen Zeitperioden zurückgegriffen werden. Auch im Falle der Befragungsdaten (HBSC) ist die Qualität der Daten zu hinterfragen: Diese Daten weisen oftmals viele Antwortverweigerer auf und konzentrieren sich ausschließlich auf Kinder in Schulen. 15-jährige Lehrlinge sind nicht erfasst bzw. auch Randgruppen wie Kinder ethnischer Minderheiten, Kinderprostituierte etc. wurden sicher schlecht erreicht. Die Mehrheit der verwendeten Daten stammt aus der HBSC-Studie bzw. der PISA-Studie, sodass eine Konzentration auf Jugendliche zwischen 11 und 15 Jahren stattfindet (Ausnahme: Dimension Gesundheit – diese fokussiert auf die Geburt): Klein- bzw. Volksschulkinder kommen im Zuge der Indexberechnung zu kurz. Um für die nationale Interpretation konkretere Problemfelder eingrenzen zu können, müsste überdies eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht und auch Regionen ergänzt werden. Die Konstruktion derartiger Indizes kann darüber hinaus nur eine Momentaufnahme für einen Ländervergleich darstellen – eine zeitliche Entwicklung in den Ländern kann nicht abgelesen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Studie der UNICEF nicht pauschal aussagt, dass die Gesundheitsversorgung bzw. das Wohlbefinden von Kindern in Österreich schlecht ist. Die Studie bietet vielmehr die Chance ein Bild von der Situation der Kinder in Österreich zu gewinnen. Sie gibt Aufschluss über Heraus-
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forderungen, Problem- und Handlungsfelder in Bezug auf kindermedizinische Fragestellungen in Österreich. Insbesondere dokumentiert die Studie auch den gravierenden Datenmangel bezüglich der Kindermedizin und weist somit auf den Forschungsbedarf in diesem Bereich hin. Aus ökonomischer Sicht wäre auch eine Thematisierung der Rolle der Kindermedizin für die Erwachsenenmedizin wünschenswert. Eine Aufwertung der Kindermedizin in Österreich sowie ein gezieltes „Vorantreiben“ von Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogrammen für Kinder könnte helfen, Krankheiten und somit auch Kosten im Erwachsenenalter zu vermeiden.
Literatur Bradshaw J, Hoelscher P and Richardson D (2007): Comparing Child Well-Being in OECD Countries: Concepts and Methods. Innocenti Working Paper No. 2006-03. Florence, UNICEF Innocenti Research Centre. Economic Policy Committee (EPC) (2001): The budgetary challenge posed by ageing populations, European Economy Reports and Studies N°4, European Commission, Directorate General for Economic and Financial Affairs, URL: http://europa.eu.int/comm/economy_finance/publications/european_economy/ 2001/eers0401_en.pdf Economic Policy Committee (EPC) (2006): The impact of ageing on public expenditure: projections for the EU15 Member States on pensions, health care, long-term care, education and unemployment transfers (2004-2050), Brussels, URL: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/european_economy/2006/e esp106en.pdf Hsiao WC (2007): Why is a systemic view of health financing necessary?, Health Affairs 26/4, S. 950-961. Kiefer I, Rieder A, Rathmanner T, Meidlinger B, Baritsch C, Lawrence K, Dorner T, Kunze M (2006): Erster Österreichischer Adipositasbericht 2006, Grundlage für zukünftige Handlungsfelder: Kinder, Jugendliche und Erwachsene, August 2006, URL: http://www.alternmitzukunft.at/upload/3031_AMZ_Adipositas_3108_final.pd f OECD (2006): Projecting OECD Health and Long-term care expenditures: What are the main drivers?, Economic Department Workingpapers No. 477, ECO/WKP (2006)5; URL: http://www.oecd.org/dataoecd/57/7/36085940.pdf OECD Health Data, Juli 2007 Statistik Austria: Jahrbuch der Gesundheitsstatistik 2005. UNICEF (2007): Child poverty in perspective: An Overview of child well-being in rich countries, Innocenti Report Card 7, 2007; URL:
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http://www.unicef.de/fileadmin/content_media/presse/fotomaterial/Kinderarm ut/Internationale_Studie.pdf WHO Health for all database, Juni 2007.
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Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben für das Gesundheitssystem nach Altersgruppen Roswitha Pettliczek-Koller & Erich Schmatzberger Dieser Buchbeitrag gliedert sich in drei Themenblöcke. Im Mittelpunkt des ersten Themenkreises stehen die Ansprüche von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der medizinischen Kinderversorgung in Österreich. Dazu zählen Fragen des Versicherungsschutzes bis zum Leistungsumfang der sozialen Krankenversicherung. Der zweite Themenkreis behandelt die Kosten des Gesundheitswesens insgesamt, während sich der dritte Themenkreis mit den tatsächlich erbrachten Aufwendungen in Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen beschäftigt.
I. Ansprüche von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der medizinischen Versorgung in Österreich 1.
Sind Kinder und Jugendliche krankenversichert?
Im Jahr 2006 waren rund 8,2 Millionen Personen1, das sind 98,5 Prozent der Bevölkerung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung geschützt. Der Schutz kann im Rahmen einer Pflicht- oder freiwilligen Versicherung entstehen, oder durch eine beitragsfreie Mitversicherung. Beitragsfreie Mitversicherung setzt voraus, dass die betreffenden Personen nicht selbst krankenversichert sind. Seit 1. Jänner 2001 ist jedoch für bestimmte erwachsene mitversicherte Angehörige2 (Ehegatten, Lebensgefährten, haushaltsführende Angehörige), die keine Kinder haben oder auch keine Betreuungspflichten ausüben, die Mitversicherung beitragspflichtig und ein Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung vorgesehen.
1 2
Handbuch der österreichischen Sozialversicherung 2007 Vgl. § 51d ASVG
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Roswitha Pettliczek-Koller & Erich Schmatzberger
Abbildung 1: In der Krankenversicherung geschützter Personenkreis
EhegattInnen 6%
Kinder 20%
Pensionisten 25%
Sonstige 4%
Erwerbstätige und freiwillig Versicherte 45%
Quelle: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
Die 98,5 Prozent der Anspruchsberechtigten setzen sich aus 45 % Erwerbstätigen inklusive freiwillig Versicherter (die einen Beitrag abhängig von ihrem BruttoArbeitsverdienst bezahlen) und 25 % Pensionisten, die ebenfalls von ihrer Bruttopension einen Beitrag zur Krankenversicherung leisten, zusammen. Bei den 20 % Kindern und Jugendlichen sowie 6 % EhegattInnen handelt es sich meist um beitragsfrei mitversicherte Personen. Unter die 4 % Sonstige fallen zB Arbeitslosengeldbezieher, Wochengeldbezieherinnen und Kinderbetreuungsgeldbezieher. Kinder und Jugendliche3 sind grundsätzlich bei einem Elternteil beitragsfrei mitversichert. Beitragsfreie Mitversicherung bedeutet, dass der versicherte Elternteil für seine Kinder keinen gesonderten Beitrag zur Krankenversicherung leisten muss. Dadurch unterscheidet sich die soziale Krankenversicherung grundsätzlich von einer Privatversicherung. Die beitragsfreie Mitversicherung eines Kindes dauert grundsätzlich bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres; im Falle einer Schul- oder Berufsausbildung nach Vollendung des 18. Lebensjahres maximal bis zum 27. Lebensjahr. Ein erwerbsunfähiges (behindertes) Kind ist zeitlich unbegrenzt mitversichert. Der Eintritt von Erwerbslosigkeit nach Beendigung der Schulausbildung oder eines Studiums ermöglicht eine beitragsfreie Mitversicherung von bis zu maximal 24 Kalendermonaten. Eine eigene Pflichtversicherung für einen Jugendlichen wird bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, wie zB einer Lehre begründet. Ebenso besteht im Falle des Bezuges einer Waisenpension nach dem Tod des Vaters oder der Mutter eine eigene Pflichtversicherung. 3
Vgl. § 123 ASVG
Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben
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2. Welche Leistungen erbringt die soziale Krankenversicherung für Kinder und Jugendliche? Das österreichische Krankenversicherungsrecht sieht eine Reihe von präventiven Vorsorgemaßnahmen und Leistungen aus dem kurativen Bereich vor. 2.1. Vorsorgemaßnahmen 2.1.1. Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen4 Der Mutter-Kind-Pass dient der gesundheitlichen Vorsorge für Schwangere und Kleinkinder. Die im Rahmen des Mutter-Kind-Passes vorgesehenen Untersuchungen stellen eine Möglichkeit zur Früherkennung und rechtzeitigen Behandlung von Krankheiten sowie zur Kontrolle des Entwicklungsstandes des Kindes dar. Alle Schwangeren und Eltern von Kleinkindern sollten daher die Möglichkeit zur bestmöglichen Vorsorge für Mutter und Kind nutzen und diese Untersuchungen durchführen lassen. Gemäß den Bestimmungen des Familienlastenausgleichsgesetzes sind die Kosten für die ärztlichen Untersuchungen nach dem Mutter-Kind-Pass zu zwei Dritteln vom Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu tragen - für „Nichtversicherte“ werden die Untersuchungskosten zur Gänze übernommen. Die Kosten sind gegen Rechnungslegung dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger zu überweisen, welcher die Aufteilung an die Krankenversicherungsträger vorzunehmen hat. Die Mittel stammen aus dem Familienlastenausgleichsfonds. Das verbleibende Drittel der Kosten wird von der Sozialversicherung getragen. Der Aufwand für Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen belief sich im Jahr 2005 auf rund 49 Millionen Euro, wovon 32,7 Millionen Euro vom Bund und 16,3 Millionen Euro von der Sozialversicherung getragen wurden.
Abbildung 2: Aufwand für Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen € 16.300.000 SV 33%
€ 32.700.000 Bund 67% Quelle: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger 4
Vgl. MKP-Verordnung 2002
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2.1.2. Das österreichische Kinderimpfkonzept Zur Vermeidung gefährlicher Krankheiten sowie in der Folge auftretender Behandlungskosten wurde in Österreich ein Kinderimpfkonzept entwickelt, welches vier Impfgruppen umfasst. Im Rahmen einer Sechsfachimpfung werden Kinder im ersten und zweiten Lebensjahr in vier Teilimpfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, Haemophilus infl. B. und Hepatitis B immunisiert. Darüber hinaus werden bei Schulkindern allfällig notwendige Auffrischungsimpfungen durchgeführt. Im zweiten Lebensjahr erfolgt eine Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR), des weiteren werden Kinder seit dem Sommer 2007 zwischen der siebenten Lebenswoche und dem vollendeten sechsten Lebensmonat gegen Rotavirus geimpft. Im Falle der Zugehörigkeit zur Risikogruppe (rd. 10 Prozent eines Jahrganges) erfolgt auch eine Impfung gegen Pneumokokken. Im Jahr 2005 betrug der Aufwand für die verwendeten Impfstoffe 15 Millionen Euro. Dieser wird zu 2/3 vom Bund sowie jeweils 1/6 von den Ländern und der Krankenversicherung getragen.
Abbildung 3: Aufwand Impfstoffe € 2.500.000 SV 17%
€ 2.500.000 Länder 17%
€ 10.000.000 Bund 66% Quelle: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
2.1.3. Jugendlichenuntersuchungen Zielpersonen für die Jugendlichenuntersuchungen5 sind berufstätige Jugendliche. Die Jugendlichenuntersuchungen werden nach einem einheitlichen Untersuchungsprogramm durchgeführt. Berufsspezifische Belastungen werden besonders berücksichtigt. Die Jugendlichen werden von den Krankenversicherungsträgern schriftlich zur Teilnahme an den Untersuchungen eingeladen, wobei auf die Wichtigkeit der Untersuchung zur Vermeidung von Dauerschäden hingewiesen wird. 5
Vgl. § 132a ASVG
Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben
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Den die Untersuchungen durchführenden Medizinern werden die Kosten der Untersuchung jeweils zur Hälfte von Bund und Krankenversicherung ersetzt, hinsichtlich der Fahrtkosten der Jugendlichen erfolgt ein Kostenersatz durch Bund und Krankenversicherung im Verhältnis sechzig zu vierzig. Untersucht wurden im Jahr 2006 66.000 von 99.000 Zielpersonen6, es konnten somit zwei Drittel der Jugendlichen erreicht werden. Abbildung 4: Jugendlichenuntersuchungen – Verhältnis Zielpersonen zu untersuchten Personen
25.000 20.000 15.000
Zielpersonen Untersuchte
10.000 5.000 0 Wien
NÖ
Bgld
OÖ
Stmk
Kärnten
Sbg
Tirol
Vbg
Quelle: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
Abbildung 4 zeigt pro Bundesland das Verhältnis der eingeladenen Zielpersonen zu den tatsächlich untersuchten Jugendlichen. Während in der Steiermark ca. 90% der Zielpersonen die Untersuchung beanspruchten, waren es in Vorarlberg nur 49 % und in Niederösterreich 54 %. 2.2. Leistungen im Krankheitsfall Kinder und Jugendliche haben bei Eintritt des Versicherungsfalles der Krankheit7 Anspruch auf alle gesetzlich vorgesehenen Leistungen wie ärztlicher Hilfe, Heilmittel sowie allfällig erforderliche Heilbehelfe und Hilfsmittel. Wenn die Schwere der Erkrankung eine Pflege des hilfsbedürftigen Kindes zu Hause nicht mehr ermöglicht, besteht Anspruch auf Spitalspflege. 6 7
Handbuch der österreichischen Sozialversicherung 2007 Vgl. §§ 116, 135, 136, 137, 153 und 154 ASVG
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Roswitha Pettliczek-Koller & Erich Schmatzberger
Kinder erhalten diese Leistungen wie Erwachsene grundsätzlich als Sachleistungen von den Vertragspartnern oder in eigenen Einrichtungen der Krankenversicherungsträger. Bei Inanspruchnahme eines Wahlarztes leistet der zuständige Krankenversicherungsträger eine Kostenerstattung. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen besteht darin, dass Kinder von Kostenbeteiligungen weitgehend befreit sind, z.B. bei Heilbehelfen und Hilfsmitteln, nicht jedoch bei Rezeptgebühr und Zahnregulierungen. Erwähnenswert vom Leistungsportfolio sind noch Zahnbehandlungen (konservierende und chirurgische) sowie Kieferregulierungen. Für Kieferregulierungen sind Zuzahlungen des Versicherten für seine mitversicherten Kinder vorgesehen. Die Höhe der Zuzahlungen ist in den Satzungen der Krankenversicherungsträger unterschiedlich geregelt. Im Rahmen der medizinischen und psychosozialen Versorgung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher leistet die Kinderrehabilitation einen wichtigen Beitrag. 2.2.1. Ärztliche Hilfe Die österreichische soziale Krankenversicherung hat ihre medizinischen Leistungen in erster Linie als Sachleistungen zu erbringen. Soweit Versicherungsträger Leistungen nicht in eigenen Einrichtungen (z.B. Spitäler, Ambulatorien) erbringen, haben sie zur Erfüllung ihrer Leistungsverpflichtungen die Hilfe der Gesundheitsberufe als Vertragspartner in Anspruch zu nehmen. Das geschieht durch Verträge, deren Art und Inhalt vom Gesetz vorgegeben sind. Am 31. Dezember 2006 waren in Österreich 41.173 Ärzte8 gemeldet; davon standen 6.497 in Ausbildung, in der freien Praxis waren 15.088 (ohne Wohnsitzärzte und Zahnärzte) tätig. Von diesen freiberuflich tätigen Ärzten standen 4.249 Ärzte für Allgemeinmedizin und 3.812 Fachärzte in einem Vertragsverhältnis zu den Krankenversicherungsträgern. Es wirkten somit 2006 8.061 oder rund 53 % der freiberuflich tätigen Ärzte (ohne Zahnärzte) im Rahmen der sozialen Krankenversicherung. Tabelle 1 informiert über die Versorgung mit Kinderärzten, die einen Vertrag mit den Gebietskrankenkassen abgeschlossen haben.
8
Statistisches Handbuch der österreichischen Sozialversicherung 2002
Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben
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Tabelle 1: Entwicklung der Vertragsfachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde 1990 – 2006 in absoluten Zahlen Vertragsfachärzte - Entwicklung in absoluten Zahlen BunJahr des- Wien NÖ. Bgld. OÖ. Stmk. Ktn. weit
Sbg.
Tirol
Vbg.
1990
245
80
34
6
32
27
14
14
23
15
1995
260
82
38
7
30
31
17
16
23
16
2000
277
87
40
8
34
34
16
17
24
17
2006
287
89
40
7
39
36
17
18
24
17
Quelle: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
Um eine Relation zu den zu betreuenden Kindern und Jugendlichen herzustellen, stellt Tabelle 2 den Anteil der 0 bis 19jährigen von 1990 – 2006 an der Gesamtbevölkerung dar. Tabelle 2: Entwicklung der Gruppe 0 – 19 von 1990 bis 2006 Jahr
Gesamtbevölkerung
0 bis 19 Jahre
Prozent
Jugendquotient
1990
7.644.818
1.862.258
24,36 %
40,1
1995
7.943.489
1.875.112
23,61 %
38,5
2000
8.002.186
1.857.356
23,21 %
37,8
2006
8.265.925
1.804.463
21,83 %
35,4
Quelle: Statistik Austria
Der Jugendquotient ist ein Begriff aus der Demographie. Er gibt das Verhältnis von der Anzahl „junger“ Menschen, das sind solche, die noch nicht im erwerbsfähigen Alter sind, zu der Anzahl Menschen im erwerbsfähigen Alter an. Auf Grund der seit dem 20. Jahrhundert anhaltenden demographischen Veränderung in Österreich tritt eine Überalterung auf, die den Jugendquotienten beständig absinken und den Altenquotienten steigen lässt.
28
Roswitha Pettliczek-Koller & Erich Schmatzberger
II. Kosten der Gesundheitsversorgung Gesundheitsausgaben in Österreich Die Ergebnisse der Berechnung der Gesundheitsausgaben in Österreich beleuchten das Gesundheitswesen aus ökonomischer Sicht und liefern Informationen zur Finanzierung des österreichischen Gesundheitswesens sowie über die Verwendung dieser öffentlichen und privaten Mittel nach Gesundheitsleistungen und – gütern. Um den Stellenwert der Gesundheitsausgaben in der österreichischen Volkswirtschaft beurteilen zu können, werden die Gesundheitsausgaben nach der OECD–Methodik „System of Health Accounts“ (SHA) berechnet und in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) dargestellt. Tabelle 3 – Gesundheitsausgaben in Österreich präsentiert die Gesundheitsausgaben für das Jahr 2005 und deren anteilsmäßige Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt. Die Gesundheitsausgaben nach SHA setzen sich aus den laufenden Gesundheitsausgaben und den Investitionen im Gesundheitsbereich zusammen. Tabelle 3: Gesundheitsausgaben in Österreich laut System of Health Accounts (OECD) 2005 in % Bezeichnung in Mio des € BIP Laufende öffentliche Gesundheitsausgaben 18.283 7,4 (Staat und Sozialversicherung) Gesundheitsversorgung
16.479
6,7
Stationäre und häusliche Langzeitpflege
1.804
0,7
Laufende private Gesundheitsausgaben (Private Haushalte, Privatversicherung, Private Organisationen, Pflegeheime)
5.714
2,3
Investitionen
1.082
0,5
Gesundheitsausgaben insgesamt
25.079
10,2
Quelle: Statistik Austria
Im Jahr 2005 betrugen die Gesundheitsausgaben in Österreich laut SHA rund 25,1 Mrd Euro, das entspricht 10,2 % des Bruttoinlandsproduktes. Davon entfielen 24 Mrd Euro auf die laufenden Gesundheitsausgaben; 1,1 Mrd Euro wurden für Investitionen im Gesundheitsbereich ausgegeben. Der Anteil der laufenden öffentlichen Gesundheitsausgaben (dazu zählen Ausgaben des Bundes, der Länder, der Gemeinden und der Sozialversicherungsträger) an den Gesundheitsausgaben insgesamt betrug in Österreich für das Jahr 2005 75,7 %. Die laufenden Ausgaben des Staates inklusive Sozialversicherungsträger für Gesundheit beliefen sich 2005 auf ca 18 Mrd Euro. Davon wurden 45,9 % für stationäre Gesundheitsversorgung und 25,3 % für ambulante Gesundheitsversorgung ausgegeben. 8,4 % der laufenden Gesundheitsausgaben des Staates inklusi-
Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben
29
ve Sozialversicherungsträger entfielen in Österreich auf häusliche Langzeitpflege und 14,1 % auf medizinische Erzeugnisse, Geräte und Ausrüstungen. Für Krankentransporte und Rettungsdienste wurden 1,1 % der laufenden öffentlichen Gesundheitsausgaben verwendet, für Prävention 2,2 % und für die Verwaltung der Gesundheitsversorgung 3 %. Der Anteil der privaten Gesundheitsausgaben von 24,3 % beinhaltet Ausgaben der privaten Haushalte und Versicherungsunternehmen, der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck sowie Ausgaben für betriebsärztliche Leistungen. Die Investitionen betrugen 2005 insgesamt rund 1,1 Mrd Euro. Davon waren 709 Mio Euro, rund 65,6 %, öffentliche Investitionen. Die Investitionen der Fondskrankenanstalten sind in den öffentlichen Investitionen enthalten.
III. Öffentliche Gesundheitsausgaben in Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen 1. Kosten für die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu anderen Altersgruppen Betrugen die öffentlichen Gesundheitsausgaben im Jahr 2005 rund 16,5 Mrd Euro und somit durchschnittlich 2.002,- Euro pro Einwohner, so belief sich der Anteil der 0 bis 19jährigen auf ca 1,3 Mrd Euro und 696,- Euro pro Kopf.
30
Roswitha Pettliczek-Koller & Erich Schmatzberger
Tabelle 4: Öffentliche laufende Gesundheitsausgaben ohne Langzeitpflege nach Alter Öffentliche Gesundheitsausgaben je Einwohner
Alter in Jahren
Öffentliche Ausgaben in Mio Euro
Bevölkerung 2005
Insgesamt
16.479
8.233.306
2.002
100
0-4
338
398.509
849
42
5-9
263
432.662
608
30
10 - 14
293
486.536
601
30
15 - 19
363
488.584
743
37
in EURO
Messzahl insgesamt = 100
0 - 19
1.257
1.806.291
696
35
20 - 59
6.739
4.616.298
1.460
73
60 und mehr
8.483
1.807.340
4.694
234
Quelle: Statistik Austria; Berechnung des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger
Eine Aufschlüsselung der Ausgaben nach Altersgruppen in 5–Jahressprüngen zeigt, dass die Ausgaben in den ersten vier Lebensjahren mit nicht ganz 340 Mio Euro deutlich über dem Ausgabenniveau der 5- bis 9-jährigen und 10- bis 14jährigen liegt. Eine Verknüpfung der öffentlichen Gesundheitsausgaben mit dem Bevölkerungsanteil der 0- bis 4-jährigen weist ebenfalls mit 849,- Euro je Einwohner die höchsten öffentlichen Gesundheitsausgaben aus gegenüber den beiden folgenden Altersgruppen. In der Altersgruppe der 15- bis 19-jährigen steigt der Aufwand wieder, sowohl in Absolutbeträgen als auch je Einwohner. Nachstehende Tabelle 5 gibt einen Überblick über die Aufteilung der öffentlichen Ausgaben in Höhe von rund 16,5 Mrd Euro auf die beiden großen Bereiche, stationäre Gesundheitsversorgung mit über 8 Mrd Euro und ambulante Gesundheitsversorgung mit 4,6 Mrd Euro. Die restlichen 3,7 Mrd Euro entfallen auf medizinische Erzeugnisse, Transporte, Prävention und Verwaltung.
Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben
31
Tabelle 5: Öffentliche laufende Gesundheitsausgaben ohne Langzeitpflege – Aufteilung nach Alter nach LIVE
Öffentliche laufende Gesundheitsausgaben ohne Langzeitpflege (in Euro) Alter in Jahren
Stationäre Gesundheitsversorgung
Ambulante Gesundheitsversorgung
Medizinische Erzeugnisse, Transporte Prävention, Verwaltung
Öffentliche Ausgaben insgesamt
Gesamt
8.123.000.00 0
4.624.000.000
3.732.000.000
16.479.000.000
0-4
208.354.950
93.636.000
36.349.680
338.340.630
5-9
90.408.990
126.235.200
46.202.160
262.846.350
10 - 14
101.131.350
135.067.040
56.390.520
292.588.910
15 - 19
166.765.190
135.205.760
61.167.480
363.138.430
0 - 19
566.660.480
490.144.000
200.190.840
1.256.914.320
20 - 24
226.956.620
175.203.360
73.781.640
475.941.620
25 - 29
262.291.670
198.832.000
87.664.680
548.788.350
30 - 34
298.439.020
240.078.080
114.087.240
652.604.340
35 - 39
341.003.540
307.958.400
159.580.320
808.542.260
40 - 44
388.848.010
353.227.360
196.639.080
938.714.450
45 - 49
426.213.810
353.828.480
215.896.200
995.938.490
50 - 54
458.055.970
348.372.160
242.393.400
1.048.821.530
55 - 59
569.503.530
386.150.240
313.711.920
1.269.365.690
60 - 64
632.131.860
384.300.640
358.906.440
1.375.338.940
65 - 69
734.725.350
383.052.160
392.942.280
1.510.719.790
70 - 74
739.355.460
299.912.640
356.443.320
1.395.711.420
75 - 79
896.535.510
297.138.240
394.509.720
1.588.183.470
80 - 84
914.731.030
244.840.800
365.512.080
1.525.083.910
85 - 89
422.802.150
101.358.080
162.342.000
686.502.230
> 89
244.745.990
59.603.360
97.479.840
401.829.190
Quelle: Statistik Austria
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Roswitha Pettliczek-Koller & Erich Schmatzberger
Die Verteilung nach Altersgruppen zeigt, dass von den 1,3 Mrd Euro der Altersgruppe 0 bis 19 Jahre, 45% der Ausgaben auf den stationären und ca 39% auf den ambulanten Bereich entfallen. Die restlichen 16 % verteilen sich auf medizinische Erzeugnisse, Transporte, Prävention und Verwaltung. Der hohe Kostenanteil für den stationären Bereich hängt damit zusammen, dass etliche besonders kostenintensive Behandlungen ausschließlich stationär durchgeführt werden können. Hinzu kommt, dass Kinder, die krank auf die Welt kommen, vorwiegend stationär behandelt werden. Dies wird durch die hohen stationären Ausgaben der Altersgruppe 0 bis 4 Jahre mit 62% gegenüber 28% im ambulanten Bereich untermauert. Im Alter von 4 bis 14 Jahren kommt es zu einer Umkehrung, hier dominiert die ambulante Gesundheitsversorgung. Erst vom 15. bis zum 19. Lebensjahr überwiegen wieder die für die stationäre Gesundheitsversorgung getätigten Ausgaben. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben insgesamt steigen mit zunehmendem Alter bis zur Altersgruppe der 65- bis 69-jährigen wie Tabelle 5 zu entnehmen ist. Danach sinken sie leicht und pendeln sich für die 75- bis 79-jährigen und 80- bis 84-jährigen wieder auf dem Niveau der 65- bis 69-jährigen ein. Während der Bevölkerungsanteil der über 80-jährigen nur 5 % beträgt, werden 11% der Gesundheitsausgaben für diese Altersgruppe aufgewendet.
2.
Pro-Kopf-Ausgaben im öffentlichen Gesundheitswesen
Die Effizienz eines Gesundheitswesens wird durch das Verhältnis von Kosten zu Leistungen bestimmt. Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheitsleistungen liegen in Österreich bei 2.916,- Euro und damit über Deutschland und Frankreich.
Die Realität der medizinischen Kinderversorgung in Österreich – Öffentliche Ausgaben
33
Abbildung 5: Pro-Kopf-Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen 8000
7377
7000
6000 5068 5000
4000
3339
3000
2348
2000
1472 987
1141
696 1000
0 0-19
20-29
30-39
40-49 50-59 Altersgruppe
60-69
70-79
80 und mehr
Quelle: Statistik Austria
Abbildung 5 gibt einen Überblick über den Anstieg der öffentlichen Gesundheitsausgaben mit zunehmendem Alter. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Akutversorgung der über 80jährigen sind durchschnittlich fünfmal so hoch, wie jene der Altersgruppe 40 bis 49.
3.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die soziale Krankenversicherung das Leistungsspektrum im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention in den letzten Jahren sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ausgebaut hat. Für Kinder und Jugendliche laufen mehrere Projekte, wie z.B. „Gesundheitsförderung in Schulen“, mit den Schwerpunkten gesunde Ernährung und Bewegung, Zahnprophylaxe. Ziel ist, Krankheiten und Schädigungen in einem möglichst frühen Stadium aufzuzeigen und zu behandeln, um Dauerschädigungen mit hoher Kostenbelastung zu verhindern. Dieser Weg wird in Zukunft weiter verfolgt.
“This page left intentionally blank.”
Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenallokation. Fokus Kindermedizin Claudia Wild Ein öffentlicher Diskurs zu gerechter Ressourcenverteilung, der auch gesellschafts-, nicht nur gesundheitspolitische Aspekte berücksichtigt, ist dringend notwendig. Instrumente der Operationalisierung – wie HTA/Health Technology Assessment – sind unumgänglich, aber eben kein Ersatz für Wertentscheidungen auf politischer Ebene. Ressourcenallokationsentscheidungen müssen auch Grenzwerte für Angemessenheit, Bedarf, Nutzen einbeziehen, und werden in Zukunft nicht allein auf der Ebene des Arztes/der Ärztin passieren können.
Verteilung knapper Mittel: Verteilungsgerechtigkeit Vor dem Hintergrund der vielfältig bedingten steigenden Ausgaben für die Gesundheitsversorgung wird es immer offensichtlicher, dass selbst mit größerem Ressourceninput die zur Verfügung stehenden Mittel knapp sind und knapp bleiben werden. Noch etwas zögerlich und mit großen Berührungsängsten behaftet, aber dennoch immer häufiger wird das Thema der „Ressourcenallokation“ diskutiert: Denn kein Gesundheitssystem der Welt, wenngleich großzügig mit finanziellen Mitteln ausgestattet, kommt an dem Thema einer Grenzziehung vorbei. Da die Mittelbegrenzung für das Gesundheitswesen auch in Konkurrenz zur Mittelverwendung zu anderen gesellschaftlichen Anliegen steht (z.B. Bildung oder Beschäftigung), steht deren Notwendigkeit zwar nicht zur Diskussion, wohl aber die Mittel und Instrumente zur Benennung der Grenzen. Die öffentliche Diskussion um eine gerechte Verteilung der knappen Mittel ist noch selten und auch die Debatten in Expertenkreisen wie etwa Bioethik-Kommssionen oder dem Nationalen (österreichischen oder deutschen) Ethikrat tauschen nur vorsichtig den Begriff der „Prioritätensetzung“ durch „Rationierung“ aus. Ethisch angemessene Lösungsansätze zu einer verteilungsgerechten Ressourcenallokation bedürfen aber zunächst einer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Sichtweisen und Positionen. Der Begriff der Rationierung ist durch „Vorenthalten“ von medizinischen Leistungen definiert. Im engeren Sinne bedeutet er das Vorenthalten von Leistungen, ohne die gesundheitliche Beeinträchtigungen auftreten würden. Im breiteren und oft populistisch verwendeten Sinne bedeutet er lediglich das Vorenthalten jedweder medizinischen Leistung ohne Bewertung des Nutzens für den/die LeistungsbezieherIn. Implizite oder stille Rationierung passiert dann, wenn eine Leistungsbeschränkung nicht thematisiert wird, explizi-
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Claudia Wild
te Rationierung, wenn die Kriterien der Begrenzung klar benannt werden. Health Technology Assessment/ HTA wird in diesem Kontext verstärkt zur Steuerung und Regulierung, d.h. zur Operationalisierung der Grenzziehung und expliziten Rationierung herangezogen und stellt damit einen rationalen Lösungsansatz dar. Verdeckt durch Pragmatismus in alltäglichen Entscheidungen zur Ressourcenallokation ist es nicht vordergründig offensichtlich, dass jeder Allokationsentscheidung aber auch eine Werthaltung zugrunde liegt. Diese zugrundeliegenden Werthaltungen offenzulegen, die den Einsatz des Politikinstruments HTA beeinflussen, ist wesentlich in der Forcierung des öffentlichen Diskurses zur Ressourcenallokation. Im Wesentlichen können drei Grundpositionen zur Beurteilung von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit herangezogen werden: • Liberalisten setzen auf die Urteilskraft und Autonomie der Individuen, ein Sozialsystem für die Befriedigung gesundheitlicher Bedürfnisse ist von untergeordneter Bedeutung. • Egalitaristen streben gleiches Wohlergehen von Individuen mit unterschiedlichen Befähigungen an und fordern gleichen Anspruch auf Gesundheitsversorgung für alle, unabhängig vom medizinischen Ergebnis. • Utilitaristen oder Kommunitaristen orientieren Allokationsentscheidungen an „Substantiellen Gemeinschaften“ und orientieren sich also am Nutzen für möglichst viele. Österreichische gesundheitspolitische Entscheidungen bauen auf dem Weltbild des Egalitarismus, also gleicher Chance auf Zugang aber geringer Ergebnisorientierung, auf. Bei knappen Ressourcen müssen aber dennoch Entscheidungen zugunsten oder ungunsten von größerer Dringlichkeit, größerem Nutzen in Bezug auf die Lebensspanne etc. getroffen werden. Derzeit fließen enorm viele Ressourcen in high-tech Interventionen mit (individuellem aber auch gemeinschaftlich) marginalem Nutzen am Lebensende. Ressourcen, die eben u.a. auch bei kindermedizinischen Eingriffen und/oder personalintensiven sozial-psychologischen Interventionen in der Pädiatrie fehlen. Ressourcenallokationsentscheidungen, bei denen die Grenzwerte für Angemessenheit, Bedarf, Nutzen entschieden werden, werden in Zukunft nicht allein auf der Ebene des Arztes passieren können. Ein öffentlicher Diskurs zu gerechter Ressourcenverteilung im Gesundheitssystem ist dringend notwendig. Bevor aber über Gerechtigkeit in der Mittelverteilung reflektiert wird, sollen noch einige Fakten zur Mittelaufbringung und – verwendung aus gesellschaftspolitischer, weniger aus gesundheitspolitischer Perspektive dargestellt werden.
Gerechtigkeit auf Makrobene: Mittelaufbringung und Mittelverwendung Zahlreiche Studien aus dem Bereich der Public Health Forschung belegen, dass die Lebensbedingungen wie Bildungsstand, Arbeits- und Wohnbedingungen, Ernährungsgewohnheiten, etc. die wesentlichen Gesundheitsdeterminanten sind.
Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenallokation. Fokus Kindermedizin
37
Der Gesundheitsversorgung (nur geschätzte 10-30%) wird dagegen eine relativ geringe Bedeutung in der Erhaltung von Gesundheit zugemessen. Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sind also wesentliche Elemente in einer Diskussion zu „Gerechtigkeit“, d.h. insbesonders einer verteilungsgerechten Gesundheitspolitik. Österreich gibt derzeit 25 Mrd. Euro für die Gesundheitsversorgung aus: Da nur Erwerbstätigkeit, nicht Einkommen aus anderen Quellen zum Aufkommen der Mittel beitragen und zusätzlich die Höchstbeitragsgrundlage zur Folge hat, dass untere Einkommen verhältnismäßig größere Beiträge leisten, geht die Mittelaufbringung eindeutig zu Lasten niedriger sozialer Schichten. Mit 25 % privatem Anteil (mittels direkter oder indirekter Kostenbeteiligungen) an den gesamten Einnahmen für das Gesundheitswesen liegt Österreich im EU-15 Vergleich in jenem Drittel mit den höchsten Selbstbeteiligungen. Gleichzeitig sind aber die österreichischen Ausgaben für die Gesundheitsversorgung im EU-Vergleich überdurchschnittlich hoch. Europäische Länder liegen – bei groben Indikatoren wie Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit – nahe bei einander, unabhängig von den Gesundheitsausgaben. Gesellschaften mit größerer Gleichheit bei Chancen zu gesellschaftlicher Teilhabe etwa an Wissen, Bildung, Macht durch Entscheidungen, Arbeit und damit Geld und Prestige, aber gleichem Risikoverhalten weisen aber deutlich weniger Unterschiede bei Morbidität und Mortalität zwischen den sozio-demographischen Gruppen auf. In den USA und GB etwa sind diese inter-gesellschaftlichen Unterschiede am größten, in Skandinavien am geringsten. Die wenigen Untersuchungen für/in Österreich zeigen etwa, dass allein in den Wiener Arbeiterbezirken (15.-17. Bezirk) Mortalitätsunterschiede von 2-3 Jahren im Vergleich mit den bürgerlichen Bezirken (13., 18., 19. Bezirk) vorliegen. Mittelausgaben in der Gesundheitsversorgung, die primär auf Akutversorgung abzielen, werden gemeinhin als „konsumptive“ Ausgaben bezeichnet, während Ausgaben für gesundheitspolitische Randbereiche (sozialpolitsche Prävention) „investive“ Ausgaben genannt werden können. Eine starke Fokussierung, d.h. Ressourcenallokation auf konsumptive Versorgung geht wiederum zulasten niedriger sozialer Schichten, da diese nicht nur stärker betroffen sind von schlechten Lebensbedingungen („Armut macht krank“), sondern häufig später in die Versorgungsstrukturen eintreten. Zusätzlich zielen investive Ausgaben in der Gesundheitsversorung auf jüngere sozio-demographische Gruppen ab, als konsumptive, die häufig erst am Ende des Lebens verbraucht werden. Studien zeigen, dass Kinder aus benachteiligten sozialen Gruppen eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für physische und psychosomatische Erkrankungen haben, als Kinder der „Oberschicht“: so leiden Kinder aus unteren Schichten deutlich häufiger an Kopfschmerzen (22% vs. 9%), Rückenschmerzen (16% vs. 9%), Einschlafstörungen (26% vs. 16%), Nervosität (22% vs. 8%), Einsamkeit (19% vs. 9%) und Hilflosigkeit (14% vs. 3%)1, auch psychische und Verhal 1
Vgl. Klocke A, Hurrelmann K (1995) Armut und Gesundheit. Inwieweit sind Kinder und Jugendliche betroffen? In: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften (ZFG) 2. Beiheft. 138-151
38
Claudia Wild
tensauffälligkeiten sind bei Kindern und Jugendlichen mit niedrigem Sozialstatus deutlich häufiger (Tabelle 1). Tabelle 1: Psychische und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichem Sozialstatus Kinder: 3-10 J %
Jugendl: 11-17 J %
Jungen
niedriger Sozialstatus mittlerer Sozialstatus hoher Sozialstatus
16,4 8,1 4,0
13,0 7,9 5,5
Mädchen
niedriger Sozialstatus mittlerer Sozialstatus hoher Sozialstatus
10,5 4,1 1,7
8,7 5,2 2,7
Quelle: Lampert 2008 In der Diskussion um Ressourcenverteilung auf Ebene aller der Gesellschaft zur Verfügung stehender Mittel ist die Frage zu stellen, ob mehr Ressourcen im Gesundheitssystem durch Erhöhung der Einnahmen und damit der Erhöhung des Anteils am BIP/ Bruttoinlandsprodukt auch zu einer gerechtenVerteilung führen. Einiges spricht dagegen: Mehr an Ressourcen in der Gesundheitsversorgung könnte als ungerecht betrachtet werden, weil diese woanders – in anderen Politikfeldern, die soziale Lebensbedingungen prägen - fehlen. Die Konzentration der Mittel auf konsumptive Ausgaben (reine Krankenversorgung) basiert auf einem kurzfristigen Denken, das systematisch jüngere Menschen benachteiligt. Konsumptive Gesundheitsausgaben (Versorgung chronischer Krankheiten im Alter ohne Grenzen) gehen zu Lasten investiver Ausgaben (Höherqualifikation Junger aus niedrigen sozialen Schichten). Nicht umsonst plädierte die WHO für „Health in all policies“. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass bereits auf Ebene der gesamtgesellschaftlichen Mittelaufbringung und –verwendung sozial Schwächere und jüngere Menschen systematisch benachteiligt werden.
Gerechtigkeit auf Mesoebene: Mittelverwendung im Gesundheitssystem Für eine verteilungsgerechte Ressourcenallokation innerhalb des Gesundheitssystems hat sich die kritische Auseinandersetzung mit dem Bedarf nach Gesundheitsversorgung und mit dem Nutzen von Interventionen als Mittel der Bewer-
Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenallokation. Fokus Kindermedizin
39
tung zugunsten einer Grenzziehung – in den genannten weltbildlichen Perspektiven in unterschiedlicher Ausprägung – etabliert. Die Wissenschaftsmethode Health Technology Assessment (HTA) wurde vor diesem Hintergrund vor bereits mehr als 30 Jahren als Analyse- wie Politikinstrument entwickelt. Aufgabe und Ziel von HTA ist es, medizinische Interventionen auf ihre tatsächliche Wirksamkeit, ihre angemessene und effiziente Anwendung, auf Qualitätsveränderungen, klinische und organisatorische Auswirkungen, gesellschaftliche Akzeptanz etc. zu untersuchen. Der (ev. irreführende) Technologiebegriff von HTA bezieht sich dabei sowohl auf medizinische Interventionen, Verfahren und Methoden, wie auch auf Großtechnologien und technische Geräte, aber auch soziale Interventionen. Aus Notwendigkeit der „Straffung“ (Beseitigung von Ineffizienzen) im Gesundheitswesen unterstützt HTA gesundheitspolitische Entscheidungen, welche medizinischen Interventionen wirksam und kostengünstig sind, und bei welchen Interventionen ein Wirksamkeitsnachweis noch aussteht. HTA ist also ein Instrument der Entscheidungsunterstützung, das sich auf die Identifizierung von "unnötigen" (nicht schädlich, aber auch nicht wirksam) und "unnotwendigen" (falsche Indikationsstellung) medizinischen Interventionen konzentriert. Ziel ist die Beseitigung von Ineffizienzen ohne Qualitätsverlust für den/die PatientInnen. Da gerade die rasche, unkontrollierte Verbreitung und unzweckmäßig häufige Anwendung von medizinischen Interventionen (Mengenausweitung) zu der Kostensteigerung einen wesentlichen Beitrag leisten, kommt die Methode HTA als gesundheitspolitisches Instrument der Steuerung und Regulierung der Anwendung medizinischer Leistungen zum Einsatz. Einfluss sollen Assessments auf den medizinisch wie ökonomisch sinnvollen Einsatz von medizinischen Interventionen haben: Sie basieren auf der politischen Maxime, dass der Rationalisierung des Einsatzes der vorhandenen Ressourcen Vorzug zu geben ist gegenüber einer Rationierung – dem Vorenthalten effektiver Leistungen. HTA ist also ein Instrument/eine Methode, das/die systematisch und transparent vorhandenes Wissen zur klinischen Wirksamkeit und zu ökonomischen wie organisatorischen Auswirkungen (neuer) medizinischer Verfahren offenlegt. HTA ist ein international (http://www.inahta.org/) sehr ernstgenommenes und häufig genutztes Instrument der Gesundheitspolitikberatung und verfügt auch über eine umfangreiche Datenbank (http://www.crd.york.ac.uk/crdweb/). Die Perspektiven, aus denen einzelne Assessments und Bewertungen von Interventionen durchgeführt werden, sind aber unterschiedlich, denn erst „der Standort bestimmt die Perspektive“. Handelt es sich um ein nationales, dem öffentlichen Gesundheitsdienst mit allen seinen Sektoren (intra- und extramural, Pflegedienste) unterstelltes HTA-Programm (Beispiel: Großbritannien, Kanada) ist die Perspektive auf der Makroebene angesiedelt. Hierbei stehen die langfristige Erfüllung von Gesundheitszielen, gleicher Zugang in der Versorgung sowie Fragen der Reorganisation von Angeboten (z.B. Tagesklinische Eingriffe statt Spitalsaufenthalte, Arzneitherapie vs. chirurgische Eingriffe) im Zentrum. Handelt es sich um ein nur mit einem Sektor (Krankenanstalten oder Sozialversicherungen) oder sogar nur mit einem Kostenträger kooperierendes HTA-
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Programm, ist die Perspektive auf jene medizinischen Leistungen beschränkt, die im Leistungskatalog refundiert werden, oder zu denen Anträge zur Refundierung vorliegen (Beispiel: Niederlande, Österreich). Sektorspezifische Fragen der Instrumente der Umsetzung (z.B. Kriterien der Leistungsaufnahme, Tarifierung) und ökonomische Aspekte (Kosten-Effektivität von Arzneimitteltherapie A vs. B) mit unmittelbarer Entscheidungsrelevanz dominieren die Fragestellungen. Health Technology Assessment ist aber eben nur ein Instrument mit den allerorts anstehenden Problemen der Knappheit umzugehen und unterstützt die Politik bei Resourcenallokationsentscheidungen. Die Entscheidungen zu Grenzwerten für Angemessenheit, Bedarf, Nutzen sind Werturteilsentscheidungen, für die es gesellschaftlichen Konsens geben sollte. Dieser öffentliche Diskurs steht in Österreich noch völlig aus. Ein Beispiel dafür wie nicht nur PolitikerInnen, sondern auch BürgerInnen und (potentielle) PatientInnen zu GrenzwertEntscheidungen geführt werden könnten, soll unten dargestellt werden (Tabelle 2). Bis vor Kurzem war es noch undenkbar, dass medizinische Neuheiten und Innovationen nicht mit Selbstverständlichkeit und ohne Bedarfs- und Nutzenevaluation auch breit an PatientInnen angewandt wurden. Aufgrund vielfältiger Faktoren, nicht nur demografischer Entwicklungen und damit der Nachfrage nach mehr Leistungen, sondern auch aufgrund hoher Produktivität der Arzneimittelund Medizinprodukteindustrie bei gleichzeitig nur mittelmäßiger Innovationskraft, aber hohen Preisen, ist es offensichtlich, dass medizinische Leistungen selektioniert werden müssen, bevor sie diffundieren. Sogenannte Effektmaße werden zunehmend herangezogen, um medizinischen Aufwand mit Nutzen in Relation zu setzen. Darüber hinaus werden noch ökonomische Maßzahlen (Kosten-Effektivitätsverhältnis auch unter Einbezug von Lebenszeit und Lebensqualität) verstärkt zu Entscheidungsunterstützung herangezogen. Zur Erläuterung der Tabelle 2: Bei HochrisikopatientInnen (ein Risiko von 1015% an der Krankheit zu versterben) wird ein Medikament A oder B eingesetzt, das nicht nur gewissen Nutzen hat, sondern auch (gravierende) Nebenwirkungen zeigt. Das Medikament A muss 52, das Medikament B 55 PatientInnen gegeben werden (NNT: 52 oder 55), damit 1 PatientIn nicht an der Krankheit verstirbt. Gleichzeitig erzeugt die Verabreichung des Medikaments über eine gewisse Dauer (A: über 6 Jahre, B innerhalb von 12 Monaten) Grad 3 und 4 Nebenwirkungen, das sind bei A Myopathien bei 0,1% (1: 1000), bei B bei 2% (1:50) der PatientInnen symptomatische und häufig irreversible Herzinsuffizienzen. Medikament A kostet 1.200,- pro Patient, Medikament B 42.000,- pro Patientin. Es wird dementsprechend 62.000,- resp. 2,3 Mio aufgewendet, um einen Todesfall zu verhindern.
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Tabelle 2: Entscheidungsunterstützung zu Relation von Nutzen, nichtmonetären Kosten/ Nebenwirkungen und monetären Kosten Medikament A
Medikament B
KHK-Mortalität Basisrisiko: 10-15% NNT 52 NNH: 1000 (0,1 % Myopathie) RRR = 18 - 43% ARR = 3 - 9% Kosten pro Therapie: 200 Euro p.a. x 6 J= 1.200 Kosten pro verhindertem Tod: 52 x 1.200 = 62.000 Euro
Mammakarzinom-Mortalität Basisrisiko: 10-15% NNT 55 NNH: 50 (2% Herzinsuffizienz) RRR = 34% ARR= 1,8% Kosten pro Therapie: 42.000,- (12 M) Kosten pro verhindertem Tod: 55 x 42.000,- = 2.300.000 Euro
Quelle: Eigene Darstellung Das Beispiel dient dazu, systematisch Nutzen und Nutzen-Schaden-Relationen darzustellen. Eine gesellschaftspolitische Diskussion zur Ressourcenallokation muss immer vor dem Hintergrund geführt werden, dass die zur Verfügung stehenden Mittel nur einmal ausgegeben werden können und daher in einem anderen Versorgungsbereich fehlen. In einer rationalen Diskussion zur Mittelverteilung innerhalb des Gesundheitssystems müssen daher folgende Fragen gestellt werden: • • •
Wieviel Nutzen kann noch als genug Nutzen gelten, um in einem solidarischen Gesundheitssystem geleistet zu werden? Wieviel nicht-monetärer Schaden (= gravierende Nebenwirkungen) steht noch im Verhältnis zum Nutzen? Wieviel (monetäre) Kosten/ Schaden sind/ist angemessen im Verhältnis zum Nutzen?
HTA Analysen finden also am häufigsten auf der Mesoallokationsebene statt, da diese Methoden bei der Behandlung konkreter PatientInnen (Mikroebene) als inopportun gelten. Auf dieser Mesoebene kommt es aber auch am häufigsten zu Zielkonflikten zwischen Versorgungszweigen (Pädiatrie vs. Geriatrie, Kardiologie vs. Onkologie, präventive vs. kurative Medizin, high-tech Spitzenmedizin vs. breite auch sozialmedizinische Versorgung). Mit diesen Zielkonflikten umzugehen – sie zunächst zu erkennen und zu benennen – ist die Herausforderung einer Gesundheitspolitik, die auf Verteilungsgerechtigkeit, abseits von vehementem Lobbyismus von Interessensgruppen, setzen möchte.
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Um derartige Zielkonflikte im Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel zu entkräften wurden primär in den skandinavischen Ländern wie in den Niederlanden Instrumente zur rationalen Prioritätensetzung entwickelt. Tabelle 3: Checkliste zur Prioritätensetzung (Quelle: Oortwijn 2000) Kriterium KRANKHEITSLAST/ Burden of Disease Epidemiologische Kriterien
Quality of Life
Krankheits-Kosten
Interventionshäufigkeit POTENTIELLE EFFEKTE Efficacy
POTENTIELLE KOSTEN UNSICHERHEIT IN DER ANWENDUNG Kontroversen in der Anwendung Indikation Ethische & soziale Indikationen
Beschreibung
Prävalenz Inzidenz Mortalität Qualitative Beschreibung Generische Daten Krankheits-spezifische Daten „Utility“/Nutzen Bewertungen Qualitative Beschreibung Direkte Kosten Indirekte Kosten Qualitative Beschreibung Anzahl von Interventionen in Zeitperiode und/oder geographischer Region Morbidität Mortalität Generische Daten Krankheits-spezifische Daten „Utility“/Nutzen Bewertungen Kosten der Intervention
Unterschiede in der Bewertung durch Professionen Definition der Indikation Fragen der Anwendung Regulierungsfragen
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Dementsprechend sollten Krankheitsfelder, in denen die Krankheitslast – die Schwere der Erkrankung - besonders groß ist, Interventionen mit hoher Wirksamkeit vorhanden sind und langfristiger Heilung oder zumindest Steigerung der Lebensqualität möglich ist, jenen (häufig sehr kostenintensiven) Interventionen vorgezogen werden, die mir großen Unsicherheiten bezüglich Nutzen für den/die Patienten/in, aber großen Nebenwirkungen und nur kurzfristiger Linderung verbunden sind. Dieser utilitaristische Ansatz der Nutzenmaximierung ist tendeziell altersdiskriminierend und priorisiert zugunsten jüngerer/heilbarer Menschen. Um aber nicht das Alter als primären Entscheidungsparameter in einer Nutzenbewertung heranzuziehen, ist die Ergebnisbeurteilung sozialer und medizinischer Interventionen sowie die Forcierung eines qualitativen Fortschrittsbegriffs zu befürworten.
Conclusio Gesellschaftspolitische Diskussion ist dringend notwendig Es ist Zeit für eine Enttabuisierung der Diskussion um Nutzen und Ergebnisse, insbesondere marginalen Nutzen (etwa 3-4 Woche Lebensverlängerung ohne jeglich Hoffnung auf Heilung oder Linderung) einer high-tech Medizin zu enormen Kosten für Medikamente oder andere Interventionen, bei gleichzeitig fehlenden Mitteln für humane Altenbetreuung oder personalintensive psychiatrische und/oder sozialmedizinische Betreuung psychisch kranker Kinder. Es geht hier nicht um das Ausspielen von Patientengruppen, sondern um eine öffentliche gesellschaftliche Diskussion, was als medizinischer Fortschritt und Innovation gelten soll und wohin wir mit unserer Gesundheits- resp. Krankenversorgung gehen wollen. Als Mittel der Ergebnisbeurteilung hat sich in einigen Ländern HTA/ Health Technology Assessment etabliert. Ressourcenallokationsentscheidungen, bei denen auch Grenzwerte für Angemessenheit, Bedarf, Nutzen entschieden werden, werden in Zukunft nicht allein auf der Ebene des Arztes/der Ärztin passieren können. Ein öffentlicher Diskurs zu gerechter Ressourcenverteilung, der auch gesellschaftspolitische Aspekte berücksichtigt, ist dringend notwendig. Instrumente der Operationalisierung – wie HTA/Health Technology Assessment – sind unumgänglich, aber eben kein Ersatz für Wertentscheidungen auf politischer Ebene. Ressourcenallokation ausschließlich Arzten/Ärztinnen zu überlassen, führt nicht nur zu einer Überforderung derer, die kraft ihres Berufsstandes auch mit individueller Hoffnung umgehen müssen, sondern auch zur systematischen Ungleichbehandlung jener, die sich weniger artikulieren können: sozial Schwache und Kinder.
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Politische Kindermedizin – Ein Wissenschaftszweig mit politiknahen Implikationen ? Franz Waldhauser Politische Kindermedizin befasst sich nicht mit Krankheiten per se, sondern mit Organisationsstrukturen, die das Auftreten, die Diagnostik und den Verlauf von Krankheiten bei Kindern beeinflussen. Mit Hilfe ihres wissenschaftlichen Standbeins sucht sie den Einfluss von organisatorischen Gegebenheiten mit natur- oder sozialwissenschaftlichen Methoden exakt zu beschreiben und zu analysieren. Sie bildet damit das Fundament für eine „evidence-based“ Gesundheitspolitik. Analog zu den anderen klinischen Wissenschaften versucht sie die gewonnen Erkenntnisse praktisch für die Patienten umzusetzen. Als praktisches Standbein setzt sie traditionelle politische Mittel ein. Dies kann zu massiven Konflikten mit übergeordneten Dienststellen aus Gesundheitsmanagement und Politik führen, aber auch innerhalb der Kindermedizin beträchtliche Spannungen mit potenziellen „Strukturverlierern“ hervorrufen. Wenn laut amerikanischen Quellen zumindest 100 Personen täglich in den US-Spitälern an vermeidbaren Fehlern sterben und wenn dies zu den acht häufigsten Todesursachen zählt, so lässt es erahnen, welches Potenzial in der Auseinandersetzung mit politisch veränderbaren Strukturfragen steckt.
Einleitung Basierend auf zwei großen exakten wissenschaftlichen Arbeiten (3;4) schließt das amerikanische Institute of Medicine 1999 in dem Bericht To Err Is Human: Building a Safer Health System, dass in den amerikanischen Krankenhäusern jährlich zwischen 44.000 und 98.000 Personen an vermeidbaren medizinischen Fehlern und nicht an Erkrankungen per se sterben (5;6). Das NEJM schreibt dazu in einem bemerkenswerten Editorial „If the Institute of Medicine is right, then at the very least, 100 patients will die in hospitals in the United States today because of injuries from their care, not from their diseases”(7). Vermeidbare medizinische Fehler gehören demnach zu den acht häufigsten Todesursachen in den USA und sind neben persönlichen Fehlleistungen meist organisatorischer Natur (7). Der Bericht wurde der breiten Öffentlichkeit vorgestellt und in den Medien heftig diskutiert1,2. Das war der am meisten beachtete medizinisch-wissenschaftliche 1
Preventing fatal medical errors. New York Times December 1, 1999: A22
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Bericht des Jahres 1999 in der amerikanischen Laien-Presse und führte zu unmittelbaren politischen Aktionen: der amerikanische Präsident erließ mehrere Verordnungen, das Repräsentanten-Haus und der Senat veränderten die Gesetzeslage um die Sicherheit in den Krankenhäusern zu erhöhen. Über die Veröffentlichung der Qualitätsparameter der Krankenhäuser liegen sich Ärzte- und Schwesternschaft auf der einen Seite und Patientenvertretern auf der anderen Seite aber noch heute in den Haaren (6). Das Institute of Medicine wurde 1970 als Teil der National Academy of Sciences mit dem Ziel errichtet “independent, objective, evidence-based advice to policymakers, health professionals, the private sector, and the public” zu liefern3. Die Situation bei Kindern ist zwar prinzipiell nicht anders, aber im Ausmaß weniger dramatisch als bei Erwachsenen (8). Dies zeigt eine rezente Studie, laut der es in den amerikanischen Spitälern jährlich zu 70.000 Zwischenfällen an Kindern kommt, von denen 60 Prozent vermeidbar wären (9). Diese Studie ist jedoch bisher nicht entsprechend in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Eine analoge Geschichte ereignet sich zur Zeit in Deutschland: „Übung macht den Meister“ ist eine alte Weisheit. Unter den Neonatologen wird seit Jahren diskutiert, ob dieser Satz auch für die Betreuung sehr kleiner Frühgeborenen gültig ist (10). Kernpunkt der Diskussion: Gibt es eine Mindestausstattung und eine Mindestanzahl an Fällen pro Jahr, um sehr kleinen Frühgeborenen bestmögliche Überlebenschancen zu bieten? Bis zum Sommer 2007 war es ein Streitthema ohne überzeugende Daten. Im Mai 2007 veröffentlichte das New England Journal eine große Untersuchung über die Mortalität unter sehr kleinen Frühgeborenen ( <1.500 g; n= 48.234) in Kalifornien zwischen 1991 und 2000 und kam zu dem Schluss, daß die Mortalität in relativ schlecht ausgerüsteten Einrichtungen mit geringer Fallzahl mehr als doppelt so hoch ist wie in gut ausgestatteten Einheiten mit hoher Fallzahl (11). Die deutsche Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie stieß nach, indem sie im Juni 2007 diesem Thema eine Schwerpunktnummer widmete4 und mehrere Arbeiten publizierte, die denselben Zusammenhang für Deutschland aufzeigten (12-14). Analog zum ersten Beispiel haben die deutschen Wissenschafter auch den Weg in die Öffentlichkeit nicht gescheut und die Laienpresse entsprechend informiert (z.B. Welt 5; Spiegel 6). 2
Weis R. Medical Errors blamed for many deaths; as many as 98.000 a year in US linked to mistakes. Washington Post. November 30, 1999: A1 3 http://www.iom.edu 4 http://www.thieme-connect.com/ejournals/toc/zgn/7306 5 http://www.welt.de/wissenschaft/article939638/Jedes_fuenfte_Fruehchen_koennte_noch_ leben.html 6 http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,514202,00.html
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Die deutsche Gesundheitsministerin Ulla Schmidt unterstützt die Anliegen der Neonatologen7, und tatsächlich hat der Gemeinsame Bundesausschuß (G-BA), das oberste Beschlussgremium zur Erstellung des Leistungskataloges der Krankenkassen8, mit 19.7.2007 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt, den aktuellen Wissensstand über den Zusammenhang von Mindestmengen und Ergebnisqualität bei Frühgeburten unter 1.500 g zu sichten 9. Die beteiligten deutschen Neonatologen haben offensichtlich den Stein ins Rollen gebracht und haben gute Chance auf positive Erledigung ihres Anliegens. Zwei medizinische Nachrichtendienste fassten die Ereignisse vor kurzem zusammen (siehe Kasten10,11):
Sehr viel mehr deutsche „Frühchen“ könnten gesund überleben Überleben und Gesundheit von Neugeborenen, die zu früh und untergewichtig zur Welt kommen, hängen ganz entscheidend davon ab, in welchen Krankenhäusern sie behandelt werden……." Es ist unbestreitbar, dass Säuglinge von der Qualität und Größe einer Klinik entweder profitieren oder dort ihr Leben riskieren", erklärte Prof. Klaus Vetter, Leiter der Geburtsmedizin im VivantesKlinikum Berlin-Neukölln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin. Und auch die Deutsche Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin fordert, dass der "Gemeinsame Bundesausschuss" der Ärzte und Krankenkassen seine Haltung aufgibt, wonach "Mindestmengen" für die Erlaubnis zur Behandlung stark untergewichtiger Neugeborener keine Rolle spielen. Allenthalben ist von Qualitätssicherung und -verbesserung in der Medizin die Rede. Seit Jahrzehnten fordern Spezialisten für Pränatal-, Geburts- und Neugeborenenmedizin, die Schwangeren mit hohen Risiken sowie die Neugeborenen, die in einem kritischen Zustand zur Welt kommen, in Zentren zu behandeln, die nicht nur entsprechende Qualifikationen vorweisen, sondern aufgrund größerer Fallzahlen umfassende Erfahrungen haben. Zu solchen "Mindestmengen" konnte sich der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in seinem Beschluss vom September 2005 jedoch nicht durchringen. Immer mehr - statt weniger, hochspezialisierte - Kliniken behandeln auch Risikoschwangere und Neugeborene mit extrem niedrigem Geburtsgewicht. Dies ist nicht zuletzt Folge des neuen Abrechnungssystems für Krankenhäuser (DRGs), bei dem sich die Vergütung an Diagnosen orientiert. In diesem Fall fordern die 7
Der Spiegel (44/2007) - 29.10.2007, Krankenhäuser: Geboren am falschen Ort http://www.g-ba.de 9 http://www.iqwig.de/download/V07-01_Berichtsplan_V_1_0_Menge_und_Ergebnis_ bei_der_Versorgung_von_Fruehgeborenen.pdf 10 www.medaustria.at/f_news_n.html?main=cgi-bin/closed/pan_news1.cgi?s:1181814085 11 http://fruehgeborene-rlp.de/Downloads/mindestmengen.pdf 8
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Fachleute hingegen eine "Zentralisierung" in entsprechend qualifizierten Krankenhaus-Abteilungen, die mindestens 50 Fälle pro Jahr behandeln. Mehrere Publikationen in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie untermauern diese Forderung mit Fakten. Aus den Arbeiten geht hervor, dass vor allem sehr kleine Frühgeborene (unter 1.500 Gramm), die in Häusern mit wenigstens 50 Fällen behandelt wurden, sowohl eine größere Chance auf Überleben als auch auf ein Leben ohne Behinderungen haben. Diese Ergebnisse werden aktuell durch eine amerikanische Studie bestätigt, die im international renommierten New England Journal of Medicine erschienen ist. Prof. Michael Obladen, Leiter der Neonatologie der Charité an den Standorten Virchow und Benjamin Franklin, fasst die Ergebnisse so zusammen: "Jedes fünfte verstorbene Kind mit sehr geringem Geburtsgewicht in Deutschland könnte noch leben, wenn es in der richtigen Klinik behandelt worden wäre. Abrechnungstechnische Gründe dürfen keine Rolle mehr spielen". Und der Vorsitzende der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Prof. Christian Poets (Universität Tübingen), schreibt: "Im Interesse der uns anvertrauten Kinder und ihrer Familien bleibt zu hoffen, dass die zusätzlichen Beweise die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger endlich bewegen, Mindestmengen vorzuschreiben. MedAustria News; MWM-Vermittlung
Hier ist nicht der Ort, in eine Detaildiskussion über Auswirkungen dieser deutschen Geschehnisse auf österreichische Verhältnisse einzugehen und potenzielle Einflüsse auf die gesamte Kindermedizin zu diskutieren. Vorerst sind einmal die einschlägigen Spezialisten am Zug. Die beiden dargestellten Fälle sollten eher als Musterbeispiele dafür dienen, die Charakteristika und Strukturelemente einer Politischen Kindermedizin zu erkennen und zu beschreiben.
Politische Kindermedizin – eine neue Subspezialität? Wissenschaftlich-theoretischer Teil Das Thema der politischen Kindermedizin sind organisatorische Gegebenheiten, die Auftreten, Erkennen, Verlauf und Ausgang von Krankheiten bei Kindern beeinflussen und durch politische Maßnahmen bedingt sind und durch politische Maßnahmen verändert werden können. Um den Umfang des Themenkreis noch klarer zu umreißen zwei weitere Beispiele: In den USA und Kanada hat die staatlich verordnete Supplementierung des Mehls mit Folsäure zu einer Abnahme der Neuralrohrdefekte um 23 % bzw. 54 % geführt (15). In Schweden kam es nach Zentralisierung der kinderkardiochirurgischen Eingriffe auf zwei Standorte
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und Schließung der beiden anderen (mit relativ höherer Mortalität) zu einem massiven Abfall der landesweiten postkardiochirurgischen Mortalität (Abb.1) (16).
Abb.1 Verlauf der 30-Tagesmortalität nach offenen Herzoperationen bei Kindern in Schweden, Deutschland und England. In Schweden kam es in den Jahren 1993 und 1994 zur Zentralisierung der Herz-Operationen auf 2 Zentren (16).
Im Unterschied zu den herkömmlichen Subspezialitäten der Kindermedizin befasst sich Politische Kindermedizin nicht mit organischen, physiologischen oder psychischen Besonderheiten der erkrankten Kinder, sondern mit den politisch-bedingten Vorgaben, wie die Kindermedizin ausgeführt wird, und mit den daraus esultierenden Ergebnissen. Verständlichweise kommt hierbei der OutputMessung und damit der Qualitätskontrolle eine zentrale Rolle zu. Methodisch unterscheidet sich die Politische Kindermedizin in nichts von den anderen Subspezialitäten. Es gelten die streng natur- / sozialwissenschaftlichen Regeln bei der Durchführung, weil nur so die Intersubjektivität gegeben ist und eine gewisse allgemeine Akzeptanz der Ergebnisse erwartet werden kann. Das „Peer-Review“-System - heute ein Standard jeder medizinischen Forschung – ist natürlich genauso zu inkludieren. Das Ziel einer politischen Kindermedizin müsste es sein, Grundlagen zu schaffen für evidence-based politics, nach der die Gesundheitsversorgung der Kinder organisiert sein sollte. Die bisher dargestellten Topics sind die Adaptierung eines typischen Katalogs einer klassischen Subspezialität der Kindermedizin an die Besonderheiten der Politischen Kindermedizin. Man könnte sie auch als den wissenschaftlich-theoretischen Teil der Politischen Kindermedizin bezeichnen.
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Praktischer Teil Alle Subspezialitäten der Kindermedizin gehören zum klinischen Fächerkanon und haben damit das Ziel, ihre Erkenntnisse unmittelbar praktisch für die Patienten umzusetzen. In den organisch orientierten Subspezialitäten führt die Umsetzung neuer Erkenntnisse meist zu keinen massiven Widerständen. Wenn das Ergebnis gut belegt ist und die Kosten nicht beträchtlich sind, steht einer entsprechenden Adaption meist nicht viel entgegen; die Veränderungen werden oft auf Abteilungsebene oder im unteren Gesundheitsmanagement erledigt. In allen oben angeführten Beispielen wurde der Weg in die Öffentlichkeit, i.e. das Herantreten an den Souverän, gewählt. Die Vorgangsweise des Institute of Medicine ist in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben: es wurden bereits in der Literatur vorhandene Arbeiten in einem Sachbuch zusammengefasst und die zum Benefit der Patienten nötigen politisch-organisatorischen Veränderungen der breiten Öffentlichkeit dargelegt. Im Versuch der praktischen Umsetzung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse geht also die Politische Medizin / Kindermedizin neue Wege: neben dem „Dienstweg“ wird das Feld der Politik direkt betreten. Hier kommen Mittel wie Pressestatements, Pressekonferenzen, Sachbuchdarstellungen, Information von Eltern und Betroffenenorganisationen und Schulterschluss von gleichgesinnten Wissenschaftlern und Therapeuten zum Einsatz. Offensichtlich waren alle Akteure in den obigen Beispielen der Überzeugung, dass die praktische Umsetzung ihrer Erkenntnisse nur mit politischen Mitteln möglich war. Bei einer Analyse des „politischen Umfelds“ wird dies verständlich: Politisch direkt Verantwortliche haben oft nicht das Budget, um Organisationsänderungen durchzuführen und/oder die Kraft, um den Widerstand, der aus den bestehenden Organisationen gegen Strukturveränderungen kommt, auszuhebeln. Meistens haben Politiker wenig Interesse, dass Insuffizienzen in ihrem Verantwortungsbereich breit in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Es ist eher in ihrem Interesse, in der Öffentlichkeit den Schein einer perfekten Gesundheitsorganisation zu wahren, da sie ja wiedergewählt werden wollen. Rezente Statements österreichischer Gesundheitspolitiker, warum das „weltbeste Gesundheitssystem“ in Österreich trotzdem reformiert werden soll, zeigen, welchen Spagat sie in ihren Erklärungen zu vollziehen haben. Gesundheitsmanagern kommen Berichte über Mängel in der Gesundheitsorganisation nicht gelegen, müssen sie doch befürchten, daß sie als Sündenböcke übrig bleiben, die die Balance zwischen Einsparungsauftrag und bestehendem Reformbedarf nicht geschafft haben. Jedenfalls könnte ihre oft gut bezahlte und mit beträchtlicher Macht ausgestattete Position gefährdet werden. Vertreter und Mitglieder von in Frage gestellten Organisationen werden sich verständlicherweise mit Leibeskräften wehren, wenn ihre Position in Gefahr ist.
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Niemand lässt sich gerne weg rationalisieren. Die besondere Tragik dieser Therapeuten ist, dass sie sich in manchen Fällen bis zum Äußersten für ihre Patienten einsetzen, aber aufgrund der bestehenden Strukturmängel die Qualität trotzdem nicht erbringen können. Darüber hinaus werden sie von manchen Patienten persönlich für die Defizite verantwortlich gemacht werden. Der oben erwähnten Schließung von zwei kinderherzchirurgischen Zentren in Schweden war eine zwanzigjährige – über weite Strecken frustrierende - Diskussion vorangegangen. Die Entscheidung dürften letztlich die Eltern der kleinen Patienten herbeigeführt haben. Sie haben die Qualität der Behandlung höher bewertet als die Kürze des Anfahrtsweges. Es ist im Original nachlesenswert, wie ein derartiger Prozess in einem so rationalen Land wie in Schweden abgelaufen ist (16). Träger der Politischen Medizin bzw. der Politischen Kindermedizin ist idealerweise eine finanzkräftige und weisungsunabhängige Institution mit hoher Reputation wie das Institute of Medicine, eine Teilorganisation der American Academy of Sience. Sie hat eine gewisse Chance, gegen das geballte Beharrungsvermögen bestehender Institutionen die praktische Umsetzung zu bewerkstelligen. Sind die Träger Teil eines bestimmten Arbeitsgebietes mit Aussichten auf Gewinne bei Strukturveränderungen - wie in Schweden die kinderkardiochirurgischen Zentren mit geringer Mortalität -, ist oft eine hohe Motivation gegeben. Die Gefahr von massiven Auseinadersetzungen mit potenziellen Strukturverlierern ist jedoch gewaltig und die praktische Umsetzung kann dadurch massiv verzögert werden. Die größten Schwierigkeiten haben kleine Aktionsgruppen: Sie müssen gruppeninterne Auseinandersetzungen mit potenziellen „Strukturverlierern“ aushalten. Außerdem sind sie als Einzelindividuen etwaigen Repressalien übergeordneter Stellen voll ausgesetzt. Dass die öffentliche Darstellung von Organisationsmängeln meist nicht gerade karrierefördernd ist, braucht wohl nicht im Detail ausgeführt zu werden. Schwerer wiegt hier schon der jüngste Versuch, die Redefreiheit von Universitätsangehörigen gegenüber der Presse einzuschränken oder das Disziplinarrecht einzusetzen. Die österreichische Rechtssprechung bietet hier allerdings einen gewissen Schutz, aber der Verfahrensaufwand ist gewaltig. Tatsächlich bedrohlich sind jedoch Klagen wegen Ehrenbeleidigung oder unlauteren Wettbewerbes etc., wobei hier das Problem primär in den potenziell hohen Verfahrenskosten und der Verfahrensdauer liegt. Bei der Konstellation Einzelindividuum gegen öffentliche Hand hat der Einzelne aus finanziellen Gründen kaum die Möglichkeit das Recht durchzusetzen. Gewöhnlich sind die persönlichen Mittel begrenzt und der Einzelne kann sich eine Auseinandersetzung durch mehrere Instanzen finanziell und zeitlich nicht leisten, während die öffentliche Hand ihren Streit über Steuern finanziert.
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Spezifische Probleme Qualität der Daten So kurz und prägnant die Forderung nach wissenschaftlich korrekten Analysen in der Politischen Kindermedizin aufzustellen ist, so schwierig ist oft die Durchführung. Die Voraussetzung für jede sinnvolle Analyse des Einflusses von Organisationsstrukturen auf das medizinische Ergebnis sind richtige Datensätze. Datensätze von Expertengruppen Als Lieferant von solchen Datensätzen kommen im allgemeinen medizinische Expertengruppen in Frage, z.B. Spezialisten, die bestimmte Patienten behandeln und die Therapieergebnisse freiwillig an eine zentrale Auswertungsstelle weiterleiten. Üblicherweise wird die Richtigkeit dieser Angaben nicht durch externe Monitoren überwacht. Die Problematik mit derartigen Daten wird in einer Arbeit von Gibbs et al.(17) aufgezeigt. Die Autoren haben die freiwilligen Meldungen der britischen Kinderkardiochirurgen von Sterbefällen innerhalb von 30 Tagen nach einer Operation mit den Daten im Nationalen Sterberegister verglichen. Vom 1.4.2000 bis zum 31.3.2001 wurden demnach 3.666 Kinder operiert und 1.828 hatten einen interventionellen Herzkathetereingriff; tatsächlich starben mehr als ein Viertel mehr Kinder, als gemeldet wurde (siehe Tab.1). Die tatsächliche Mortalität nach Herzoperationen bei Kindern lag also um 27,6 Prozent höher als aufgrund der Eigenmeldungen kalkuliert wurde. Erhebung durch
Sterbefälle (n)
Office for National Statistics.
194
Freiwillige Meldungen
152
Diff.
- 42
Tab.1: Anzahl der Sterbefälle innerhalb von 30 Tagen nach einer Herz-Operation an Kindern in den UK zwischen 1.4.2000 und 31.3.2001; Erhebung durch das nationale Statistikbüro vs. Meldung durch die Operateure (17). Die Studie zeigt recht augenscheinlich, dass freiwillig berichtete Daten ohne externen Monitor von geringem Wert sind. Daher sollte bei der Erstellung von freiwilligen Fachdateien ein offizieller Monitor inkludiert werden, um die Möglichkeit eines persönlichen Bias durch die Betreuer auszuschließen. Das gilt heute als internationaler Standard (18;19). In einer ähnlichen Analyse über die postkardiochirurgische Mortalität bei Kindern in Österreich wies das ÖBIG für die Jahre 1998-2002 (incl.) 1.901 Operationen und 119 Sterbefälle aus, an die AG für Pädiatrische Kardiologie der ÖGKJ
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wurden jedoch im selben Zeitraum 2.472 Operationen, aber nur 100 Sterbefälle gemeldet 12. Öffentliche Datensätze Leider können auch offizielle Daten oft erhebliche Mängel aufweisen, die deren Aussagekraft in Frage stellen. So hat das ÖBIG im Jahr 2002 für den Zeitraum von 1994-2001 einen völlig anderen Anteil an Kindern mit Lebertransplantation im Internet publiziert als im Jahr 2004 (Tab.2): Laut Angaben aus 2004 war der Anteil von Transplantationen an Kindern für den angeführten Zeitraum um rund ein Drittel höher als 2002 angegeben wurde (3,8 % vs. 5,0%). In beiden Darstellungen wird jedoch die gleiche Gesamtzahl von Lebertransplantationen für die einzelnen Jahrgänge angegeben. Wie sollen seriöse Berechnungen über die Anzahl und die Entwicklung der Lebertransplantation bei Kindern in Österreich durchgeführt werden, wenn die offiziellen Daten des Staates derartige Abänderungen im Nachhinein erfahren ?
Gesamtzahl an Lebertransplant.
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
MW
96
110
132
134
134
151
151
128
129,5
<15a (%)*
8
2
5
2
2
3
4
3
3,8
<15a(%)**
11
4
3
6
4
5
5
2
5,0
Tab.2: Angaben zum Transplantationsgeschehen in Österreich laut ÖBIG Statistik 1992-2001 (*) und ÖBIG Statistik 1994-2003 (**) für die Jahre 1994 – 2001. Angegeben werden die Gesamtzahl an Lebertransplantationen und der prozentuelle Anteil an Kindern ( <15 Jahre) pro Jahrgang; MW = Mittelwert. Weitere Beispiele finden sich bei Riedel et al. im ersten Kapitel dieses Buches: Besonders hervorzuheben ist hierbei die Analyse der von Österreich an die OECD weitergeleiteten Daten zur Impfung: demnach wären im Jahr 2003 nur 79% der österreichischen Kinder gegen Masern, 83% gegen Diphtherie/Tetanus/Pertussis und 82% gegen Polio geimpft gewesen. In der Durchimpfungsrate landet Österreich damit auf dem letzten Platz unter den 21 reichen OECD-Staaten. Tatsächlich scheint dies nichts mit der Realität zu tun zu haben, sondern ein Problem der mangelhaften Datenerhebung und Datenanalyse zu sein. Nettoeffekt: Österreich rangiert in einer international viel beachteten Studie bzgl. seiner Impfungen - wahrscheinlich zu Unrecht – auf dem letzten Platz unter allen 12
Franz Waldhauser, Christian Popow, Olaf A. Jürgenssen Zur postkardiochirurgischen Mortalität bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern in Österreich http://www.weggelegt.at/mort0405.pdf
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reichen OECD-Ländern. Ursache: wahrscheinlich nicht repräsentative Daten der Republik.
Spezifische Widerstände Gesetzliche Normen Seit den frühen 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts werden in den USA auf nationaler Ebene die Todesursachen von Feten und Neugeborenen in Einzelfallanalysen systematisch aufgearbeitet (FIMR; Fetal and Infant Mortality Review). Involviert in diesen Prozess sind neben Gynäkologen, Pädiatern und Gerichtsmedizinern Spezialisten diverser Felder, die zur Einzelfallanalyse beitragen können. Ziel ist eine detaillierte Ursachenforschung, um für die Zukunft geeignete prophylaktische Maßnahmen setzen zu können (20). Das System ist heute international entwickelt (21) und hat wegen seiner Effizienz zur Ausdehnung auf alle Todesfälle bei Kindern und Jugendlichen geführt (22) (23). In Österreich sterben jährlich knapp über 500 Kinder, das ist um ein gutes Drittel weniger als es Verkehrstote gibt (Tab. 3). Die Verkehrsunfälle werden analysiert, und das Verkehrssicherheitsnetz wird immer wieder modifiziert um die Effizienz zu steigern. Dazu werden auch durchaus persönliche Freiheitsrechte eingeschränkt wie z.B. bei der Gurten- und Sturzhelmpflicht etc. Das ist gut so. Die Todesursachen der Kinder werden nicht in Einzelfallanalysen aufgearbeitet. Es können keine entsprechenden Kenntnisse erlangt werden, die prophylaktische Konsequenz hätten. Hier ist ein Unterschied zu den Verkehrstoten, und hier ist ein nachteiliger Unterschied im Umgang mit Todesfällen von Kindern zu zahlreichen anderen Staaten. Das ist nicht gut so. Jahr 2003 2004 2005
<15a 537 520 507
Verkehr 931 878 768
Tab.3: Sterbefälle: Kindern <15 a und Verkehrstote aufgeschlüsselt nach Jahren (lt. Statistik Austria) Anscheinend verhindert das Österreichische Datenschutzgesetz (DSG 2000)13 die Freigabe der personenbezogenen Daten der verstorbenen Kinder durch das statistische Zentralamt. Dies wäre jedoch der erste Schritt zu einer flächendeckenden Einzelfallanalyse der kindlichen Todesfälle in Österreich.
13
http://www.ris.bka.gv.at/taweb-cgi/taweb
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Die oben erwähnte Studie aus den UK über Unterschiede in den Angaben von behandelnden Chirurgen und nationalem Statistikbüro über die postkardiochirurgischen Sterbefälle bei Kindern (17) wäre in Österreich aus Datenschutzgründen nicht möglich. Genausowenig ist es möglich, vergleichende Qualitätsparameter einzelner pädiatrischer Institutionen zu errechnen, weil die Daten durch Statistik Austria nicht herausgeben werden dürfen. Sollte Qualitätskontrolle mehr als ein vermarktungsorientiertes Schlagwort sein und sollte tatsächlich angestrebt werden, die Qualität der betriebenen Kindermedizin in allen Aspekten zu bewerten, müsste das Verhältnis von Privatsphäre vs. öffentliche Gesundheitsinteressen beim Datenschutz neu diskutiert werden. Natürlich hat die internationale Debatte darüber schon begonnen (18). Widerstände von Interessensgruppen In zwei der oben angeführten internationalen Beispiele ist die Herkunft der Widerstände völlig offensichtlich. Im Rahmen der Zentralisierungen der Kinderkardiochirurgie in Schweden ist ein anhaltender Widerstand von den Abteilungen gekommen, an denen die operative Tätigkeit letztlich eingestellt worden ist (16). In Deutschland ist eine massive Auseinandersetzung zwischen kleineren und größeren Neonatologien im Gange14. Selbst das offizielle Protokoll der Gesellschaft für Neonatologie und Intensivmedizin reflektiert diese Auseinandersetzung15. Sieht man bestimmte Datensätze an, so wird sofort offensichtlich, von welcher Seite Widerstände zu erwarten sind. Abb. 2 zeigt die Entwicklung der Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen der 4 wissenschaftlich aktivsten pädiatrischen Institutionen Österreichs über 17 Jahre16. Ein direkter Vergleich zwischen den 4 Institutionen ist nicht sinnvoll, da sie sehr unterschiedlich ausgerüstet sind. Dazu müsste die Anzahl der Publikationen zur Größe der Institution, i.e. Ausrüstung mit Personal und Sachmitteln, in Relation gesetzt werden. In der präsentierten Form ist jedoch eine Aussage über die Entwicklung der 4 Institutionen während dieser Zeit möglich. Aus dem Verlauf der publikatorischen Tätigkeit ist offensichtlich, dass mit der Implementierung des UG 2002 keineswegs der Übergang zur „WeltmeisterschaftsUniversität“ zu erkennen ist, wie von politischer Seite prognostiziert worden ist. Es würde nicht verwundern, wenn von dieser Seite Widerstand gegen diese Daten käme. Es würde aber auch nicht wundern, wenn bestimmte verantwortlichen Rektoren und Klinikleiter kein gesteigertes Interesse an der Verbreitung dieser Daten hätten. 14
http://www.berliner-aerzte.net/pdf/bae0712_014.pdf http://www.gnpi.de/pdf/Mitgliederversammlung%202007.pdf 16 http://www.docs4you.at/Content.Node/Members/AG-Foren/Wissenschaft_und_ Forschung/Zusammenstellung_Analyse_Publikationen_2006.pdf 15
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Trotzdem ist es für Entfaltung der Kindermedizin in einem Land von eminenter Bedeutung, ob seine Spitzeninstitute mehr oder weniger produktiv sind. Das frühzeitige Aufzeigen von fragwürdigen Entwicklungen ist die Voraussetzung für eine rasche Therapie.
Abb.2 Anzahl der medizinisch-wissenschaftlich Fachpublikationen der 4 wissenschaftlich aktivsten pädiatrischen Einrichtungen Österreichs aufgeschlüsselt nach Jahrgängen (Quelle: Österreichische Gesellschaft für Kinder- u. Jugendheilkunde).
Galilei - ein Lehrbeispiel für Wissenschaft und Politik Jeder Wissenschaftler, der sich in die Politik einmengt, aber auch jeder, der sich mit Wissenschaft und Politik auseinandersetzt, sollte immer das Schicksal von Galileo Galilei vor Augen haben (2;24). Hier wurde quasi exemplarisch demonstriert, wie ein Prozess schief laufen kann, wenn wissenschaftliche Ergebnisse nicht in das Konzept von Machthabern passen: Primär wird versucht die Aussagen als spekulative Konstrukte in den Bereich der Theorie zu verbannen. Gelingt das nicht oder geht der Wissenschaftler in die Öffentlichkeit, ist die Gefahr einer Kaskade von negativen Reaktionen durchaus möglich (siehe Kasten).
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Galileo Galilei (1564- 1642) In seinem Werk „Von den Umdrehungen der Himmelskörper“ behauptet Kopernikus 1543, im Jahr seines Todes, dass sich die Erde um die Sonne drehe. Die Behauptung beruht auf über viele Jahre vorher gesammelten Daten und Beobachtungen. Kopernikus wusste, daß er mit seinem heliozentrischen Weltbild im Gegensatz zum ptolemäischen (= geozentrischen) Weltbild der Kirche stand und wagte die Veröffentlichung erst am Totenbett. Das geozentrische Weltbild war damals integraler Bestandteil der Theologie. Tatsächlich brachte die Inquisition das Werk 1616 auf den Index. Galilei ist seit seinen ersten Studien über die Geometrie vom kopernikanischen Weltbild überzeugt und vertritt es auch, nachdem es 1616 auf den Index gekommen ist. 1624 wird er zu Urban VIII, dem neuen Papst, gerufen und von diesem ermahnt, über das kopernikanische System, wenn überhaupt, nur als mathematische Hypothese zu schreiben. Galilei tut das Gegenteil: er veröffentlicht 1632 das Buch „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische“ (1) in italienischer Sprache. Es ist ein Gespräch unter drei Männern, in dem ein florentinischer Gelehrter einem venezianischen Edelmann und einem „Simplicio“ das damals neue heliozentrische Weltbild begründet und dem alten geozentrischen gegenüberstellt. Galilei schreibt hier keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein Sachbuch, das intelligenten und weniger intelligenten Laien seine neuen Erkenntnisse auseinander setzt. Er möchte die "Wahrheit" über den Sternenhimmel verbreiten. Die Kirche ist zur damaligen Zeit aber nicht bereit ihr Monopol über die Entscheidung, ob etwas wahr oder unwahr ist, aufzugeben. Sie macht Galilei 1633 in Rom den Prozess. Hauptanklagepunkt der Inquisition ist, das kopernikanische System anders als eine reine Hypothese behandelt zu haben. Galilei wird mehrmals verhört und schwört schließlich, als ihm mit Folter gedroht wird, er habe seit dem Erlass von 1616 die kopernikanische Lehre nicht mehr für wahr gehalten noch verbreitet. Er lügt für sein Leben. Das Urteil besagt, dass Galilei für immer der ketzerischen Lehren abschwören und sie sogar verfluchen müsse. Außerdem wird sein Werk, der "Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische" verboten. Das bedeutet, sein Buch darf weder gedruckt, veröffentlicht, besessen oder verbreitet werden. Doch noch im selben Jahr veranlasst Galilei, dass sein "Dialog" illegal nach Frankreich gebracht wird und dort, nachdem es vom Italienischen ins Lateinische übersetzt worden ist, verbreitet wird.
Johannes Hemleben Galileo Galilei: In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten Reinbek bei Hamburg 1979 Rowohlt (2)
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Schlussfolgerung Internationale Studien, Beispiele und oft auch subjektive Erfahrungen legen nahe, dass medizinische Organisationsformen einen beträchtlichen Anteil an negativen Ergebnissen haben. In der kritischen Analyse und in der nachfolgenden Reorganisation liegt die Chance für eine Verbesserung. Dies gilt sowohl für die Erwachsenenmedizin als auch die Kindermedizin. Die Hauptschwierigkeit für die Politische Medizin/Kindermedizin liegt in der Akzeptanz als auch in der Umsetzung ihrer Erkenntnisse. Hier muss mit wesentlich höheren Widerständen gerechnet werden als in anderen Subspezialitäten. Widerstand ist zu erwarten von der Politik, dem Management und den Teilen bestehender Organisationen. Betrachtet man aber bloß die oben angeführten Beispiele, so wird ersichtlich, welches Verbesserungspotential in der Art liegt, wie wir heute Medizin betreiben. Es wäre wert, daß sich Ärzte und Therapeuten dieser Sache annähmen. Es wäre wert, dass Politik und Management den Freiraum für ihre Entwicklung zuließen.
Literatur 1. Galilei G, Strauß E. Galileo Galilei - Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme. Das ptolemäische und das kopernikanische. Paderborn: 2007. 2. Hemleben J. Galileo Galilei: In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1979. 3. Brennan TA, Leape LL, Laird NM et al. Incidence of adverse events and negligence in hospitalized patients. Results of the Harvard Medical Practice Study I. N Engl J Med 1991; 324(6):370-376. 4. Thomas EJ, Studdert DM, Burstin HR et al. Incidence and types of adverse events and negligent care in Utah and Colorado. Med Care 2000; 38(3):261271. 5. To Err Is Human: Building a safer Health System. Washington DC, National Academiy Press, 2000. 6. Altman DE, Clancy C, Blendon RJ. Improving patient safety--five years after the IOM report. N Engl J Med 2004; 351(20):2041-2043. 7. Berwick DM. Errors today and errors tomorrow. N Engl J Med 2003; 348(25):2570-2572. 8. Slonim AD, LaFleur BJ, Ahmed W, Joseph JG. Hospital-reported medical errors in children. Pediatrics 2003; 111(3):617-621. 9. Woods D, Thomas E, Holl J, Altman S, Brennan T. Adverse events and preventable adverse events in children. Pediatrics 2005; 115(1):155-160. 10. Bartels D. Mindestmengenregelung in der Peri- und Neonatologie. In: Gerber A, Lauterbach KW, editors. Gesundheitsökonomie und Pädiatrie. Stuttgart: Schattauer GmbH, 2006: 141-146.
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11. Phibbs CS, Baker LC, Caughey AB, Danielsen B, Schmitt SK, Phibbs RH. Level and volume of neonatal intensive care and mortality in very-low-birthweight infants. N Engl J Med 2007; 356(21):2165-2175. 12. Obladen M. [Minimum patient volume in care for very low birthweight infants: a review of the literature]. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211(3):110117. 13. Teig N, Wolf HG, Bucker-Nott HJ. [Mortality among premature newborns below 32 weeks of gestational age depending on level of care and patient volume in Nordrhein-Westfalen/Germany]. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211(3):118-122. 14. Heller G, Gunster C, Misselwitz B, Feller A, Schmidt S. [Annual patient volume and survival of very low birth weight infants (VLBWs) in Germany a nationwide analysis based on administrative data]. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211(3):123-131. 15. Zwieauer K. Prophylaxe von Neuralrohrdefekten mit Folsäure. Gynäkologe 2005; 38(38):46-52. 16. Lundstrom NR, Berggren H, Bjorkhem G, Jogi P, Sunnegardh J. Centralization of pediatric heart surgery in Sweden. Pediatr Cardiol 2000; 21(4):353357. 17. Gibbs JL, Monro JL, Cunningham D, Rickards A. Survival after surgery or therapeutic catheterisation for congenital heart disease in children in the United Kingdom: analysis of the central cardiac audit database for 2000-1. BMJ 2004; 328(7440):611. 18. Treasure T. Congenital heart disease. BMJ 2004; 328(7440):594-595. 19. Jenkins KJ, Gauvreau K, Newburger JW, Spray TL, Moller JH, Iezzoni LI. Consensus-based method for risk adjustment for surgery for congenital heart disease. J Thorac Cardiovasc Surg 2002; 123(1):110-118. 20. Koontz AM, Buckley KA, Ruderman M. The evolution of fetal and infant mortality review as a public health strategy. Matern Child Health J 2004; 8(4):195-203. 21. Durfee M, Durfee DT, West MP. Child fatality review: an international movement. Child Abuse Negl 2002; 26(6-7):619-636. 22. Webster RA, Schnitzer PG, Jenny C, Ewigman BG, Alario AJ. Child death review. The state of the nation. Am J Prev Med 2003; 25(1):58-64. 23. Hochstadt NJ. Child death review teams: a vital component of child protection. Child Welfare 2006; 85(4):653-670. 24. Brecht B. Leben des Galilei. Suhrkamp, 2007.
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Das LKF-System – ein Problem für Kinder- und Jugendabteilungen? Gerhard Embacher, Gerhard Gretzl Mit Einführung der „Leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung“ (LKF) sollte auch eine den Relationen zwischen Kosten und Erlösen entsprechende Abgeltung der stationären Krankenhausleistungen erreicht werden. Vor Einführung des LKF-Systems hatten Kinder- und Jugendabteilungen bei dem damals geltenden Finanzierungssystem nach Pflegetagen aufgrund des höheren Betreuungsaufwandes ihrer Patientinnen und Patienten bei gleichzeitig kürzerer Belagsdauer im Vergleich zu anderen Abteilungen eine ungünstige Kosten-ErlösRelation aufzuweisen. Mit diesem Beitrag soll ein aktueller Überblick über das LKF-Modell und die geplanten Schwerpunkte der Weiterentwicklung gegeben werden. Im Besonderen wird auf die nunmehr aufgrund der LKF-Abrechnung gegebene Situation für die Kinder- und Jugendabteilungen näher eingegangen, und es werden die in Diskussion stehenden Änderungsvorschläge zur Abrechnung von Leistungen dieses Bereiches dargestellt.
I. Ziele und Grundprinzipien der österreichischen LKF – Ausgangslage Bereits mit der ersten im Jahr 1978 abgeschlossenen Bund-Länder-Vereinbarung gem. Art. 15a B-VG zur Regelung der Krankenhausfinanzierung wurde zwischen dem Bund und den Bundesländern die Zielrichtung für eine leistungsabhängige Finanzierung festgelegt. Nach mehreren Jahren der Entwicklung und praktischen Erprobung von verschiedenen Modellen der Krankenhausfinanzierung wurde die Entscheidung getroffen, ein an DRG-Systemen (DRG=Diagnosis-RelatedGroups) angelehntes Modell zu entwickeln, das die gegebene österreichische Struktur der Gesundheitsversorgung berücksichtigt und die verschiedenen Leistungsspektren der Krankenhäuser adäquat abbilden kann. Nach erfolgreicher Erprobung dieses neuen Abrechnungssystems in den Bundesländern Vorarlberg und Niederösterreich in den Jahren 1995 und 1996 wurde schlussendlich die Entscheidung getroffen, die Krankenanstaltenfinanzierung in Österreich ab dem Jahr 1997 auf ein leistungsorientiertes Abrechnungssystem umzustellen. Bis zur Einführung des LKF-Systems im Jahr 1997 wurde mit den Sozialversicherungsträgern ein Kostensatz je Pflegetag abgerechnet. Da diese Art der
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Gerhard Embacher, Gerhard Gretzl
Abrechnung keine leistungsabhängige Gewichtung enthielt, waren je nach Versorgungsauftrag und Leistungsschwerpunkten der einzelnen Krankenhäuser große Schwankungsbreiten in der Kostendeckung gegeben.
LKF-Ziele Mit der Einführung der leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung wurden u.a. folgende Zielsetzungen verbunden:
a) Nachhaltige Eindämmung des Kostenzuwachses In den Jahren 1990 bis 1996 betrugen die jährlichen Kostensteigerungsraten in den Krankenhäusern zwischen 9% und 12%. Das LKF-Modell sollte dazu beitragen, eine bessere Transparenz über diese Entwicklungen zu erreichen und damit die Möglichkeit für das Management zu schaffen, die wesentlichen Kostentreiber zu identifizieren und geeignete Maßnahmen zur Eindämmung der Kostenzuwächse zu setzen. In den Jahren der ersten Gültigkeitsperiode 1997 – 2000 wurden tatsächlich nur mehr jährliche Kostensteigerungen zwischen 2% und 4% gemessen. Es kann daher als ein wesentlicher Erfolg der damaligen Reformmaßnahmen betrachtet werden, durch Wechsel von einer nicht differenzierten Pflegetagsabrechnung hin zu transparenter und leistungsbezogener Abrechnung das Kostenbewusstsein gesteigert und damit einen Rückgang der Kostenzuwächse gefördert zu haben.
b) Entlastung der Krankenanstalten Die Kostendämpfung wurde wesentlich durch eine Entlastung der Krankenanstalten erreicht. Während das System der Pflegetagsabrechnung lange Belagsdauern eher gefördert hat, ist durch die pauschalierte Abrechnung, die innerhalb gewisser Grenzen unabhängig von der Belagsdauer ist, auch ein Rückgang der Aufenthaltsdauern eingetreten und damit war auch eine Reduktion der Vorhaltekapazitäten, ausgedrückt in Betten, möglich. Im Zeitraum 1996 bis 2006 sank die durchschnittliche Belagsdauer von 7,07 Belagstage auf 5,71 Belagstage und die Zahl der Belagstage in österreichischen Krankenanstalten sank im selben Zeitraum um ca. 13 %. Begleitend dazu konnte die Zahl der aufgestellten Betten um ca. 10.000 reduziert werden. Gleichzeitig wurde aber auch eine Steigerung der Aufnahmen um ca. 25 % beobachtet, die wiederum zum überwiegenden Teil durch vermehrte 0Tagesaufnahmen (Aufnahme und Entlassung am selben Tag) bedingt ist. Generell kann somit festgestellt werden, dass die gewünschte vermehrte tagesklinische Leistungserbringung anstelle eines längeren stationären Aufenthalts erreicht wurde. Kritisch ist hier jedoch zu hinterfragen, ob diese Behandlungen nicht auch im ambulanten Bereich möglich gewesen wären und somit noch weiteres Entlastungspotenzial gegeben ist.
Das LKF-System – ein Problem für Kinder- und Jugendabteilungen?
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c) Instrumentarium für gesundheitspolitische Planungs- und Steuerungsmaßnahmen Für die Einführung und praktische Anwendung des LKF-Systems sind standardisierte Dokumentationen erforderlich. Diese Daten, insbesondere das Alter und das Geschlecht der Patient/inn/en, regionale Kriterien sowie die dokumentierten Diagnosen nach ICD-10 und die erbrachten Leistungen nach dem bundeseinheitlichen Leistungskatalog ermöglichen auf Makroebene auch die Beobachtung von Entwicklungen im Gesundheitswesen. Diese Dokumentationen liefern somit die notwendige Datengrundlage für die Planung der Strukturen und Leistungsangebote, und ermöglichen in der Folge auch die Evaluierung von Steuerungsmaßnahmen. Auf der Mikroebene schafft dieses System Grundlagen für die Vergleichbarkeit von Krankenhausleistungen und deren Kosteneffizienz, und ist somit ein wesentliches Informations- und Managementinstrument für die Krankenhausführung.
II. Grundprinzipien des LKF-Systems 1. LKF ist ein Fallpauschalierungssystem Das LKF-System ist ein auf Fallpauschalen basierendes Abgeltungssystem für Krankenhausaufenthalte. Wesentliche Kriterien für die Abrechnung nach Fallpauschalen sind die pro Aufenthalt codierten Diagnosen und Leistungen und weitere spezielle Zusatzinformationen, z.B. das Alter der Patient/inn/en. Das bedeutet in der Anwendung, dass nicht der Einzelfall mit seinen jeweiligen individuellen Leistungen gesondert abgerechnet wird, sondern die Bewertung innerhalb der zuordenbaren Fallpauschalen erfolgt, die nach medizinischen und ökonomischen Homogenitätskriterien gebildet wurden. Dabei kann innerhalb definierter Belagsdauergrenzen auch bei kürzerer tatsächlicher Belagsdauer die gesamte Fallpauschale abgerechnet werden. Erst bei sogenannten Belagsdauerausreißern (festgelegte Grenzen unter- oder überschreitende Belagsdauer) werden von der Fallpauschale abweichende Kostenersätze geleistet.
a) Berücksichtigung aller akutstationärer Bereiche Eine Besonderheit des österreichischen LKF-Modells liegt darin, dass alle akutstationären Bereiche über das LKF-System abgerechnet werden können. Während andere DRG-Systeme z.B. die Psychiatrie oder die Geriatrie ausnehmen, sind in Österreich auch diese Bereiche über das LKF-System abgedeckt und geregelt. Damit wurde insbesondere auch den Erwartungen der Vertreter/innen der verschiedenen medizinischen Fachrichtungen und Leistungsbereiche entsprochen, keine eventuell für diese Bereiche nachteiligen Sonderregelungen außerhalb des LKF-Systems vorzusehen.
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Gerhard Embacher, Gerhard Gretzl
So wurden beispielsweise für den Bereich der Psychiatrie, den Bereich der Akutgeriatrie/Remobilisation und den Bereich der Palliativmedizin innerhalb des LKF-Systems adäquate Abrechnungsregelungen bzw. spezielle Fallpauschalen vorgesehen. Weitere spezielle Regelungen wurden für den Bereich der Intensivmedizin entwickelt. So erfolgt im Bereich der Intensiveinheiten für Erwachsene eine Kategorisierung nach einem eigenen Dokumentationssystem (TISS 28) und nach Strukturqualitätskriterien. Gerade auch im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde wurden im Rahmen des LKF-Systems eine Reihe von Regelungen vorgesehen, um das spezielle Leistungsgeschehen und die besonderen Erfordernisse bei der Betreuung dieser Patient/inn/engruppe entsprechend zu berücksichtigen. So wurden im Bereich der Intensivmedizin für die neonatologischen und pädiatrischen Intensiveinheiten spezielle Dokumentations- und Abrechnungsregelungen festgelegt. Die abrechnungsrelevanten Einstufungskriterien sind die mit den Expert/inn/en dieses Bereichs aktuell erarbeiteten und inhaltlich abgestimmten Strukturqualitätskriterien und Personalschlüssel. Weiters bestehen für den Bereich der Kinderpsychiatrie eigene spezielle medizinische Einzelleistungen für die komplexe Behandlung Schwer- und Mehrfacherkrankter bzw. für die Eltern-Kind-Behandlung und für die Betreuung auf speziellen Einheiten für die rehabilitative bzw. intensive Behandlung Schwerund Mehrfacherkrankter. Zusätzlich ist auch der tagesklinische Bereich über definierte Einzelleistungen im LKF-Modell abgebildet und verrechenbar. Der spitalsambulante Bereich ist zurzeit noch nicht über ein bundesweit einheitliches Fallpauschalsystem geregelt, sondern wird über bundesländerspezifische Finanzierungsregelungen abgerechnet. Die Schaffung einer vergleichbaren Dokumentation im ambulanten Bereich und die Erarbeitung von sektorenübergreifenden Abrechnungsmodellen für den ambulanten Bereich sind Gegenstand der neu für die Jahre 2008 bis 2013 abgeschlossenen Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG über die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens.
b) Bundesweit einheitliche Finanzierung für den stationären Bereich nach dem LKF-System Die für die einzelnen Fallpauschalen abrechenbaren Punkte drücken die Gewichtung dieser Fallpauschale im Verhältnis zu anderen Fallpauschalen aus und stellen mit diesen Gewichten eine Relation zu den durchschnittlichen Kosten dieser Diagnose- oder Leistungsgruppe dar. Durch die föderale Struktur der österreichischen Krankenhausfinanzierung im Wege der Landesgesundheitsfonds werden aber die Punkte je Bundesland mit unterschiedlichen Werten abgerechnet, abhängig von der Höhe der finanziellen Mittel, die im Rahmen der Landesgesundheitsfonds über das LKF-Modell abgerechnet werden.
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Eine österreichweite Vergleichbarkeit von Abteilungen und Fallpauschalen ist daher nur über die für die einzelnen Fallpauschalen bundeseinheitlich festgelegten LKF-Punkte möglich, nicht aber über die damit abgerechneten Finanzmittel. Die Frage, ob und für welche Fachrichtungen und Leistungsbereiche das LKFSystem sich nachteilig auswirkt, kann nur dann seriös beantwortet werden, wenn von einer möglichst umfassenden (d.h. möglichst 100 % der Mittel werden nach dem LKF-System abgerechnet) und ungewichteten Abrechnung nach dem LKFSystem ausgegangen wird. Es erfolgt sowohl im BMGFJ als auch in den Planungsabteilungen einzelner Bundesländer eine laufende Beobachtung und Evaluierung der Ergebnisse und Auswirkungen. Erforderlichenfalls werden entsprechende Anpassungen im Zuge der jährlichen Wartung des Systems vorgenommen. An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass das LKF-System als Abrechnungssystem für stationäre Krankenhausfälle und nicht als Instrument für eine Abteilungsbudgetierung konzipiert wurde. Es ist daher bereits vom Modellansatz eine Aufteilung der abgerechneten Punkte auf die einzelnen Abteilungen äußerst schwierig und in Einzelfällen bzw. für einzelne Leistungsbereiche nicht aussagekräftig.
2. Krankenanstaltenfinanzierung über Landesgesundheitsfonds a) Einrichtung von neun Landesfonds Pro Bundesland ist ein Landesgesundheitsfonds eingerichtet, der für die Finanzierung der Krankenanstalten primär zuständig ist. Das oberste Organ des Landesgesundheitsfonds ist die Gesundheitsplattform. Die Gesundheitsplattformen auf Länderebene haben im Landesbereich wesentliche Aufgaben unter Einhaltung der Vorgaben der Bundesgesundheitsagentur und unter Berücksichtigung gesamtökonomischer Auswirkungen wahrzunehmen. Dazu gehören unter anderem: Umsetzung des LKF-Systems auf Landesebene Entwicklung, Wartung und Weiterentwicklung der regionalen Strukturpläne Gesundheit Mitwirkung an der Umsetzung und Kontrolle der Einhaltung von Qualitätsvorgaben für die Erbringung von Gesundheitsleistungen Erprobung und Umsetzung von Modellen zur sektorenübergreifenden Finanzierung des ambulanten Bereichs Entwicklung und Umsetzung konkreter strukturverbessernder Maßnahmen (einschließlich Reformpool-Projekte) Über den Landesgesundheitsfonds sind jedenfalls die Zahlungen der Sozialversicherung, die Zahlungen der Bundesgesundheitsagentur und die für die Krankenanstaltenfinanzierung definierten Anteile des Aufkommens der Umsatzsteuer der Länder und Gemeinden abzurechnen. Darüber hinaus können – wenn dies landesspezifische Regelungen vorsehen – weitere Mittel der Länder, der Gemeinden und der Krankenanstaltenträger sowie weiterer Finanziers (z.B. Krankenfür-
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Gerhard Embacher, Gerhard Gretzl
sorgeanstalten) über die Landesgesundheitsfonds und somit über das LKFSystem abgerechnet werden. Abbildung 1 Mittelaufkommen und Mittelverteilung über die Landesgesundheitsfonds
Bund Fonds-KA1 Bundesgesundheitsagentur
KA-Träger1
(Bundesgesundheitskommission)
Fonds-KA2 Fonds-KA3
SV-Träger
LandesgesundheitsFonds (9)
Länder
KA-Träger2
Fonds-KAx
KA-Trägern
Fonds-KA1-m
Gemeinden
Fondsfinanzierte Krankenanstalten: o öffentl. allgemeine und öffentl. Sonder-KA o gemeinnützig geführte allgemeine KA
Sonst. Finanziers
b) Bundeseinheitlicher Kernbereich und länderweise gestaltbarer Steuerungsbereich Die Bepunktung je leistungsorientierter Diagnosenfallgruppe im LKFKernbereich wird von der Bundesgesundheitsagentur bundesweit einheitlich festgesetzt und in regelmäßigen Abständen angepasst. Darüber hinaus kann bei der leistungsorientierten Abrechnung im Rahmen eines länderspezifisch festgelegten LKF-Steuerungsbereiches auf die besonderen Versorgungsfunktionen einzelner Krankenanstalten Rücksicht genommen werden. Dies geschieht in der Regel durch Festlegung von krankenhausspezifischen Gewichtungsfaktoren. Als besondere Versorgungsfunktionen im Rahmen der LKF-Abrechnung gelten
Zentralversorgung Schwerpunktversorgung Krankenanstalten mit speziellen fachlichen und/oder regionalen Versorgungsfunktionen
Das LKF-System – ein Problem für Kinder- und Jugendabteilungen?
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III. Datengrundlagen zur Evaluierung von Kinder- und Jugendabteilungen im LKF Zur Klärung der Frage, ob die derzeitigen LKF-Regelungen sich nachteilig auf den Bereich der Kinder- und Jugendabteilungen auswirken, sollen zunächst einige Datengrundlagen dargestellt werden und daraus Möglichkeiten für die Evaluierung und Weiterentwicklung abgeleitet werden.
1. Statistikkennzahlen Datenbasis der folgenden Darstellungen sind die über die Landesgesundheitsfonds abgerechneten Fälle des Jahres 2006. Von den insgesamt 890 definierten Fallpauschalen wurden in 602 Fallpauschalen auch Kinder bis 15 Jahre abgerechnet. Darunter waren 62 Fallpauschalen, die speziell für Kinder definiert sind, z.B. durch das Kriterium „Alter“. In diesen Gruppen wurden ca. 36% aller Kinder abgerechnet. Ca. 75% aller Kinder bis 15 Jahre wurden in Kinderabteilungen stationär aufgenommen (siehe Abbildung 2). Die abgerechneten Punkte je Belagstag für Kinder bis 15 Jahre sind um ca. 30 % höher als die Punkte für stationäre Fälle älterer Patient/inn/en in denselben Fallpauschalen. Dies erklärt sich dadurch, dass die gleiche Pauschale abgerechnet wird, obwohl die Belagsdauer von Kindern oft kürzer ist. Mit nur 19 Hauptgruppen (Zusammenfassung von Fallpauschalen derselben Gruppe nach Diagnosen oder Leistungen) werden mindestens 50% der stationären Aufnahmen, der Belagstage und der abgerechneten LKF-Punkte erreicht. Abbildung 2 Stationäre Aufnahmen von Kindern bis 15 Jahre nach Fachabteilungen Fachabteilung Kinderheilkunde Kinder-Chirurgie Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Chirurgie Unfallchirurgie Kinder-Neuropsychiatrie Urologie Orthopaedie und orthopaedische Chirurgie Frauenheilkunde und Geburtshilfe Augenheilkunde Interdisz. Bereich Innere Medizin Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
Anz.Aufn bis 15 Jahre 136.423 23.256 15.929 11.030 6.922 5.186 4.589 2.216 1.698 1.685 1.587 1.582 976
%. Ant Aufn. 63% 11% 7% 5% 3% 2% 2% 1% 1% 1% 1% 1% 0%
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Bezüglich der Belagsdauer ist eindeutig festzustellen, dass diese bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen wesentlich kürzer ist und seit Einführung des LKFModells noch weiter gesunken ist: Abbildung 3: Entwicklung der Belagsdauern Entwicklung Belagsdauer 2002 - 2006 (nur Aufenthalte zwischen 1 und 28 Tagen) 6,5
6,0
5,5 Belagsdauer 5,0
4,5
4,0
3,5
3,0 2002
2003
2004
2005
2006
Jahre
Kinderheilkunde
Kinder-Chirurgie
Gesamt-KH
Eine Analyse der Kosten je Belagstag auf Kinderabteilungen zeigt, dass nur wenige Abteilungen, diese aber deutlich über dem Österreich-Durchschnitt von Kinderabteilungen liegen. Dies lässt den Schluss zu, dass in Kinderabteilungen die Bildung von Schwerpunkt- und Kompetenzzentren besonders ausgeprägt ist. Umgekehrt kann daraus abgeleitet werden, dass die derzeitigen Regelungen im LKF-Modell nicht generell nachteilig für Kinder- und Jugendabteilungen sind, sondern dass im Rahmen der Weiterentwicklung ein wesentliches Augenmerk auf eine bessere Differenzierung nach Behandlungsschwerpunkten zu legen sein wird. Für die Beurteilung, ob eine adäquate Abbildung von Abteilungen besteht, ist zwischen einer monetären und einer systemischen Betrachtung zu unterscheiden. Bei der monetären Betrachtung wird geprüft, ob die abgerechneten LKF-Punkte die Kosten decken. Dies ist aber abhängig vom Punktewert je LKF-Punkt (Bandbreite von ca. 0,80 Euro bis 1,15 Euro je LKF-Punkt, abhängig vom Bundesland) und abhängig davon, ob und in welcher Höhe die Mittel ungewichtet nach dem LKF-Kernbereich oder gewichtet nach dem LKF-Steuerungsbereich verteilt werden. Auf Grund der länderweise unterschiedlichen Ausgestaltung der Abrechnung über die Landesgesundheitsfonds ist die monetäre Methode daher für diese Evaluierung nicht zielführend.
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Bei der systemischen Betrachtung wird evaluiert, ob die Relationen der Punkte der Fallpauschalen den Kostenrelationen entsprechen. Dies ist die Methode der Wahl zur Evaluierung des LKF-Modells mit Punkten als Gewichtungsfaktoren. Im Rahmen der Weiterentwicklung sollen daher insbesondere die Relationen geprüft und neu berechnet werden und so ein stabiles und gerechtes System gewährleistet werden.
2. Kalkulationsmethode zur Errechnung der Relationen der LKF-Punkte Die Punkte je Fallpauschale im derzeit geltenden LKF-Modell wurden in Zusammenarbeit mit ausgewählten Referenzkrankenanstalten ermittelt (darunter waren u.a. folgende Krankenanstalten mit Kinder- und Jugendabteilungen: KH St. Pölten, Kinderklinik Linz, LKH Leoben, LKH Innsbruck, LKH Feldkirch, AKH Wien, Wilhelminenspital Wien und St. Anna Kinderspital Wien). Von den Referenzkrankenanstalten wurden Kalkulationen für die medizinischen Einzelleistungen erstellt und diese sind in die Berechnung der Fallpauschalen als Leistungskomponente eingeflossen. Die für die Abrechnung stationärer Aufenthalte von Kindern und Jugendlichen relevanten Tageskosten je Fallpauschale wurden berechnet, in dem die durchschnittlichen Tageskosten jener Abteilungen herangezogen wurden, auf denen die Behandlung und Pflege von Kindern und Jugendlichen erfolgte (z.B. neben den Aufenthalten auf Kinderabteilungen auch die Aufenthalte auf kostenmäßig davon abweichenden allgemeinen internen oder chirurgischen Abteilungen). Daher kann in einigen Fallgruppen die Kalkulation der Punkte sich aus einem Mischsatz von Kinderabteilungen und anderen Abteilungen ergeben. Im Rahmen der aktuellen Weiterentwicklung des LKF-Modells wird bei der Berechnung der Fallpauschalen auf den relativ höheren Pflegeaufwand von Kindern bei der Betreuung auf den jeweiligen Abteilungen durch entsprechende Gewichtung der Tageskosten speziell Rücksicht genommen.
IV. Wartung und Weiterentwicklung des LKF-Modells 1. Jährliche Wartung des LKF-Modells Um über mehrere Jahre eine vergleichbare Datengrundlage sicherzustellen, ist die jährliche Wartung auf aus medizinischer und ökonomischer Sicht erforderliche Änderungen zu beschränken. Inhalte der jährlichen Anpassungen sind:
Wartung des Leistungskatalogs Aktualisierung der Belagsdauerwerte Anpassung / Neuaufnahme von Fallpauschalen
72
Gerhard Embacher, Gerhard Gretzl
2. Aktuelle Weiterentwicklung des LKF-Modells Mit der Zielsetzung einer Modellumstellung mit 1. Jänner 2009 wurden Arbeiten zur umfassenden Aktualisierung und Weiterentwicklung des LKF-Modells aufgenommen und werden im 1. Halbjahr 2008 abgeschlossen. Die wesentlichsten Änderungspunkte werden sein:
Kalkulation mit überarbeitetem Kalkulationsleitfaden auf Basis der aktualisierten und weiterentwickelten Krankenanstalten-Kostenrechnung Weiterentwicklung des LKF-Modells unter Einbeziehung von Bepunktungsregelungen für Intensiveinheiten und für spezielle Leistungsbereiche Abstimmung des LKF-Modells mit den Versorgungsmöglichkeiten im spitalsambulanten und niedergelassenen Bereich (Harmonisierung der Dokumentation, Abgrenzung der Inhalte und Bepunktung der Fallpauschalen zu den anderen Versorgungsbereichen).
3. Schwerpunkte der LKF-Weiterentwicklung für Kinder- und Jugendabteilungen Speziell aus der Sicht von Kinder- und Jugendabteilungen werden folgende Schwerpunkte gesetzt:
a) Verbreiterung der Datenbasis Zur Erhöhung der Repräsentativität werden bei der Aktualisierung der Kalkulationen Berechnungen nicht nur aus dem Bereich der ausgewählten Referenzkrankenanstalten, sondern unter Berücksichtigung aller Krankenhäuser und Abteilungen durchgeführt. Damit sind die Erwartungen verbunden, dass das Leistungs- und Kostenspektrum aller Kinder- und Jugendabteilungen als Grundlage für die Modellbildung einfließt und damit sichergestellt wird, dass auch sehr spezifische Schwerpunkte in der Bewertung der Fallpauschalen berücksichtigt werden können.
b) Spezifischere Bewertung von Kindern nach Betreuungsaufwand Kinder werden generell mit dem Pflegeaufwand analog zu Kinderabteilungen gewichtet und nicht aus ungewichteten Mittelwerten aller behandelnden Abteilungen berechnet. Der Nutzen dieser Vorgangsweise besteht darin, dass für spezifische Patient/inn/engruppen (Kinder, aber auch ältere Patientinnen und Patienten) der jeweils angemessene Aufwand berücksichtigt wird und so auch eine bessere Differenzierung und unterschiedliche Gewichtungen bei den Fallpauschalen möglich werden.
Das LKF-System – ein Problem für Kinder- und Jugendabteilungen?
73
Beispiel: Fallpauschale „Appendektomie (Kinder 0-14)“: im Ist-Stand werden von insgesamt ca. 4.500 Fällen ca. 2.800 auf Kinderabteilungen und 1.700 auf anderen Abteilungen behandelt. Das Fallpauschale wurde daher auch aus diesem Abteilungsmix berechnet. Durch die Berücksichtigung des mit der Betreuung von Kindern verbundenen höheren Pflegeaufwands bei der fallspezifischen Gewichtung der Tageskosten auf Abteilungen wird eine differenziertere Bewertung der Fallpauschalen möglich sein.
c) Spezielle Kinderfallpauschalen Weiters sollen vermehrt kinderspezifische Behandlungen in eigenen Fallpauschalen, z.B. durch Alterskriterien, abgebildet werden. Der qualitative Vorteil dieser Methode liegt darin, dass die Fallpauschalen ausschließlich aus den Werten dieser Gruppe gebildet werden. So werden dadurch die für Kinder- und Jugendabteilungen gegebenen höheren personellen Standards berücksichtigt und nicht aus den Mittelwerten über alle Altersgruppen mit diesen Diagnosen und Leistungen gebildet. Beispiel: Bestehende Fallpauschale „Affektionen der ableitenden Harnwege (Alter 0-69)“: bei zukünftig eigener Kindergruppe (z.B. Alter 0-6) wird das Fallpauschale nur aus den (gewichteten) Werten für Kinder berechnet.
d) Weiterentwicklung der Abrechnungsregeln für Kurzlieger und 0-Tagesfälle Geplant ist, dass im Zuge der Weiterentwicklung die Belagsdauer-Untergrenzen angepasst werden, so dass auch bei weiterer Verkürzung der Belagsdauer die gesamte Fallpauschale abgerechnet werden kann. Damit sollen Anreize vermieden werden, dass Kinder mit typischerweise verhältnismäßig kurzen Belagsdauern aus abrechnungstechnischen Gründen länger im Krankenhaus verbleiben müssen.
e) Abstimmung der Versorgungsmöglichkeiten zwischen stationärem und ambulantem Bereich Mittel- bis langfristig sollen Abrechnungsmodelle auch für ambulant erbrachte Leistungen entwickelt werden, die eine adäquate Finanzierung auch im ambulanten Setting ermöglichen, ohne dass eine stationäre Aufnahme Voraussetzung für eine Abrechnung ist. Es sollen damit nicht notwendige stationäre Aufnahmen vermieden und so eine bedarfsorientierte Behandlung von Kindern sichergestellt werden.
74
Gerhard Embacher, Gerhard Gretzl
V. Resümee Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bereits im derzeitigen Modell der leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung eine Reihe von spezifischen Regelungen für den Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde enthalten sind, um bei der Abrechnung das spezifische Leistungsgeschehen und die besonderen Erfordernisse bei der Betreuung dieser Patient/inn/engruppe entsprechend zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung des LKF-Systems und der Beantwortung der Frage, ob sich die derzeitigen LKF-Regelungen nachteilig für den Bereich der Kinder- und Jugendabteilungen auswirken, ist zwischen jenen Effekten, die durch die aktuelle LKF-Modellgestaltung und die derzeitige Gewichtung der Fallpauschalen bedingt sind, und jenen Auswirkungen, die sich auf Grund der länderspezifischen Umsetzung des LKF-Systems ergeben, zu unterscheiden. Bei der aktuellen Weiterentwicklung des LKF-Modells wird durch die Verbreiterung der Datenbasis und eine spezifischere Bewertung des Pflegeaufwandes bei der Ermittlung der Fallpauschalen eine differenziertere Berücksichtigung des mit der Betreuung von Kindern und Jugendlichen verbundenen höheren Aufwandes möglich sein.
Literatur BMGFJ, Hrsg. 2008, Leistungsorientierte Krankenanstaltenfinanzierung, Modell 2008
Pädiatrie in der Praxis: Was kann sie, was könnte sie? Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner PädiaterInnen in der Praxis sind einerseits einer optimalen Versorgung ihrer PatientInnen verpflichtet, haben aber andererseits als Selbstständige auch auf wirtschaftliche Aspekte ihrer Tätigkeit zu achten. Sie stehen somit in einem Spannungsfeld, in dem ökonomische Rahmenbedingungen die Betreuung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen beeinflussen können. Eine Analyse der Situation der niedergelassenen Kinder- und JugendärztInnen in Niederösterreich (NÖ) belegt Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren besonders für Kinder und Jugendliche, die einer zeitlich aufwändigen Betreuung bedürfen. Eine optimierte pädiatrische Versorgung bedarf auch entsprechender ökonomischer Voraussetzungen.
Einleitung Eine ärztliche Tätigkeit, die sich an entsprechenden qualitativen und ethischen Ansprüchen orientiert, muss für den/die jeweilige/n Arzt/Ärztin nicht gleichzeitig von ökonomischem Vorteil sein. Es darf zwar die Maxime gelten, dass jede/r Pädiater/in im Einzelfall das Wohl des Kindes vor ökonomische Überlegungen stellt, für die Schwerpunktsetzung der gesamten Tätigkeit in der Praxis und damit die Motivation, Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern und/oder Entwicklungsstörungen zu behandeln, sind Einflüsse wirtschaftlicher Aspekte aber nicht a priori auszuschließen. Im Rahmen des Themas Werte vs. Ökonomie haben wir daher die Frage gestellt: Gibt es Zusammenhänge zwischen den ökonomischen Rahmenbedingungen für niedergelassene PädiaterInnen und einer wünschenswerten Versorgung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen? Der erste Teil unseres Beitrages „Pädiatrie in der Praxis - Was kann sie?“ stellt eine Bestandsaufnahme dar. Es werden Quantität und Qualität der pädiatrischen Tätigkeit, Honorarsituation sowie Honorarordnung und verrechnete Leistungen dargestellt. Untersucht wird die Situation der niedergelassenen PädiaterInnen in Niederösterreich, dem von der Fläche her größten österreichischen Bundesland mit über 1,5 Millionen EinwohnernInnen. Der zweite Teil „Pädiatrie in der Praxis - Was könnte sie?“ ist eine auf den Daten und Erkenntnissen der Bestandsaufnahme basierende Diskussion der Entwicklungsmöglichkeiten der Pädiatrie in der Praxis.
76
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
I. Pädiatrie in der Praxis – was kann sie? 1. Quantität und Qualität Wir haben im Juni 2007 eine Befragung aller niedergelassenen FachärztInnen für Kinder- und Jugendheilkunde in Niederösterreich (NÖ) durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt waren auf der Homepage der Ärztekammer für NÖ1 103 Adressen angeführt, 100 stellten sich als aufrechte Adressen heraus. Rücklauf: gesamt Pädiater Pädiaterinnen mit Kassen ohne Kassen
52/100 30/51 22/49 28/41 24/59
52,0 % 58,8 % 44,9 % 68,3 % 40,7 %
Die Fragen bezogen sich in einem allgemeinen Teil hauptsächlich auf die Art und den Umfang der Tätigkeit in der Praxis wie Kassen- oder Wahlarzt, Ordinationszeiten, tatsächliche Arbeitszeiten, Zahl der Angestellten, Dauer der Tätigkeit. Zum Thema relevant sind die Angaben zu weiteren Tätigkeiten neben der Praxis, die in Tab.1 getrennt nach Kassen- oder Wahlarzttätigkeit angeführt sind.
insgesamt Angestellte/r in Spital KonsiliarärztIn SchulärztIn Mutterberatung Sonstiges
Alle 78,8 32,7 19,2 17,3 30,8 28,8
mit Kassen 64,3 10,7 28,6 21,4 32,1 28,6
Tabelle 1: NÖ PädiaterInnen mit Praxis, weitere Tätigkeiten Angaben in Prozent der jeweiligen Gruppe
1
www.arztnoe.at
ohne Kassen 95,8 58,3 8,3 12,5 29,2 29,2
Pädiatrie in der Praxis: Was kann sie, was könnte sie?
77
Bemerkenswert scheint die hohe Zahl von Nebentätigkeiten auch bei PädiaterInnen mit Kassenverträgen. Signifikante Unterschiede zu PädiaterInnen ohne Kassen ergaben sich für „Insgesamt“, „Angestellte/r“ und „KonsiliarärztIn“. Die Fragen im speziellen Teil richteten sich auf: Wichtigkeit der Betreuung durch PädiaterInnen, Ausbildungsstand, Fortbildungswunsch, Zeitaufwand, Einschätzung des Zeitbudgets und der Honorare für verschiedene Tätigkeiten, Zufriedenheit mit Aufgabenbereich und Honorarsituation. Auf den folgenden Seiten werden nur die wichtigsten Ergebnisse dargestellt. Für die Befragung wurde die pädiatrische Tätigkeit in einzelne Bereiche unterteilt, die im Wortlaut wie folgt definiert wurden: • • • • •
•
MKP Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen Impf Impfungen andGes andere Gesundenuntersuchungen (z.B. Sportuntersuchungen, Operationsfreigaben) akKr Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit akuten Krankheiten inklusive Beratung der Eltern chrKr Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten inklusive Beratung der Eltern (z.B. Asthma, Neurodermitis, Cystische Fibrose, rezidiv. Harnwegsinfekte, Diabetes etc.) EntSPS Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen inklusive Beratung der Eltern (z.B. Störungen in Motorik, Sprache, Wahrnehmung, Verhalten, diverse neuropädiatrische und kinderpsychiatrische Krankheitsbilder, psychosomatische Störungen, Kinder und Jugendliche mit Behinderung)
Die wichtigsten Fragen werden in der Folge in identer Formulierung wie in der Umfrage wiedergegeben und die Ergebnisse der Antworten in Tabellen dargestellt. Die ersten 3 der dargestellten Fragen ergaben keine signifikanten Unterschiede für die Kategorien PädiaterInnen mit Kassenverträgen bzw. ohne Kassenverträge, sodass hier keine Differenzierung erfolgt.
78
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
Frage 1: Für wie wichtig halten Sie es, dass Kinder und Jugendliche im jeweiligen Aufgabenbereich von einem Pädiater / einer Pädiaterin und nicht von einem/r anderen Arzt / Ärztin betreut werden? 1
2
3
4
5
MKP
84,0
12,0
2,0
0
2,0
Ø 1,24
Impf
40,8
14,3
32,7
4,1
8,2
2,24
andGes
57,1
24,5
12,2
2,0
4,1
1,71
akKr
56,3
29,2
10,4
4,2
0
1,62
chrKr
84,0
12,0
2,0
0
2,0
1,24
EntSPS
89,8
8,2
0
0
2,0
1,16
Tabelle 2 (zu Frage 1): Wichtigkeit der Betreuung durch PädiaterIn Häufigkeit der Antworten in %, 1 = sehr wichtig ….. 5 = überhaupt nicht wichtig Ø = durchschnittliche Bewertung
Frage 2: Für wie gut schätzen Sie den eigenen Ausbildungsstand für die Erfüllung der Aufgaben im jeweiligen Bereich ein?
MKP
1 80,4
2 17,6
3 0
4 0
5 2,0
Ø 1,25
Impf
84,3
11,8
2,0
0
2,0
1,24
andGes
42,9
40,8
14,3
0
2,0
1,78
akKr
82,0
16,0
0
0
2,0
1,24
chrKr
32,7
49,0
16,3
2,0
0
1,88
EntSPS
21,7
34,8
30,4
10,9
2,2
2,37
Tabelle 3 (zu Frage 2): Ausbildungsstand Häufigkeit der Antworten in %, 1 = sehr gut ….. 5 = ungenügend Ø = durchschnittliche Bewertung
Pädiatrie in der Praxis: Was kann sie, was könnte sie?
79
Frage 3: Wie wünschenswert wäre für Sie persönlich eine Fortbildung in den einzelnen Bereichen ?
MKP
1
2
3
4
5
31,3
16,7
29,2
18,8
4,2
Ø 2,48
Impf
28,8
20,4
18,4
18,4
4,1
2,29
andGes
18,0
32,0
24,0
20,0
6,0
2,64
akKr
24,0
20,0
34,0
14,0
8,0
2,62
chrKr
53,1
20,4
14,3
6,1
6,1
1,92
EntSPS
68,6
11,8
7,8
3,9
7,8
1,71
Tabelle 4 (zu Frage 3): Fortbildungswunsch Häufigkeit der Antworten in %, 1 = sehr wichtig ….. 5 = überhaupt nicht wichtig Ø = durchschnittliche Bewertung Die NÖ PädiaterInnen sehen es naturgemäß allgemein als wichtig an, dass Kinder und Jugendliche durch sie selbst betreut werden. Dies gilt besonders für Vorsorgeuntersuchungen, chronische Krankheiten und vor allem für Entwicklungs- und sozialpädiatrische Probleme, wofür 90% das als „sehr wichtig“ bezeichnen. Interessant ist diese Einschätzung deshalb, weil der letztgenannte Problembereich kein klassisches pädiatrisches Aufgabenfeld ist, die Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen in Österreich nicht klar strukturiert und damit mangelhaft ist2 und die PädiaterInnen dazu auch oft nicht ausreichend ausgebildet sind. Überraschend selbstkritisch sehen dies auch die NÖ PädiaterInnen. Während sie sich für die typisch kinderärztlichen Aufgabenfelder MKP-Untersuchungen, Impfungen und akute Krankheiten in jeweils über 80% als sehr gut ausgebildet fühlen, ist dies bei chronischen Erkrankungen nur mehr in knapp über 30% und bei Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Problemen sogar nur in etwas über 20% der Fall. Auch die durchschnittliche Bewertung des Ausbildungsstandes ergibt für diese Tätigkeiten deutlich weniger gute Ergebnisse. Gleichzeitig besteht für jene Bereiche, in denen man sich am wenigsten gut ausgebildet fühlt, der stärkste Wunsch nach Fortbildung. Da in der Umfrage die Fragen nach Ausbildungsstand und Wunsch nach Fortbildung weit voneinander getrennt waren, kann das fast spiegelbildliche Ergebnis als Bestärkung der Einzelergebnisse gewertet werden. Die nächsten dargestellten Fragen ergaben teilweise hochsignifikante Unterschiede für die Kategorien PädiaterInnen mit Kassen bzw. ohne Kassen, sodass in der Folge auch eine entsprechende Differenzierung erfolgt. 2
E.Tatzer und C. Popow in „Weggelegt, Kinder ohne Medizin?“, Czernin-Verlag 2003
80
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
Frage 4: Schätzen Sie den durchschnittlichen Zeitaufwand pro Konsultation für die einzelnen Bereiche
MKP Minuten
0-5
5-10
10-15
15-20
>20
Alle
0
12,5
43,8
31,3
12,5
mit Kassen
0
19,2
61,5
19,2
0
ohne Kassen
0
4,5
22,7
45,5
27,3
Minuten
0-5
5-10
10-15
15-20
>20
Alle
25,5
47,1
19,6
5,9
2,0
mit Kassen
44,4
51,9
3,7
0
0
ohne Kassen
4,2
41,7
37,5
12,5
4,2
Minuten
0-5
5-10
10-15
15-20
>20
Alle
0
19,6
51,0
23,5
5,9
mit Kassen
0
29,6
59,3
11,1
0
ohne Kassen
0
8,3
41,7
37,5
12,5
Minuten
0-5
5-10
10-15
15-20
>20
Alle
2,0
45,1
33,3
17,6
2,0
mit Kassen
3,7
77,8
11,1
7,4
0
ohne Kassen
0
8,3
58,3
29,2
4,2
Minuten
0-5
5-10
10-15
15-20
>20
Alle
0
6,4
25,5
34,0
34,0
mit Kassen
0
12,5
33,3
41,7
12,5
ohne Kassen
0
0
17,4
26,1
56,5
Impf
andGes
akKr
chrKr
Pädiatrie in der Praxis: Was kann sie, was könnte sie?
81
EntSPS Minuten
0-5
5-10
10-15
15-20
>20
Alle
0
0
8,3
25,0
66,7
mit Kassen
0
0
8,0
36,0
56,0
ohne Kassen
0
0
8,7
13,0
78,3
Tabellen 5a – 5f (zu Frage 4): Zeitaufwand für einzelne Bereiche Häufigkeit der Antworten in Prozent der jeweiligen Gruppe Es bestehen beträchtliche Unterschiede in den Angaben zur tatsächlich aufgewendeten Zeit pro Fall zwischen PädiaterInnen mit und ohne Kassen. Generell wenden solche ohne Kassen deutlich mehr Zeit für die einzelnen PatientInnen auf. Die Unterschiede sind besonders groß in jenen Bereichen, die tendenziell einer kürzeren Behandlungsdauer bedürfen: wärend über 95% der KassenärztInnen für Impfungen maximal 10 Minuten aufwenden, sind dies bei WahlärztInnen nur etwa 45%, mehr als 80% der KassenärztInnen haben für akute Krankheitsfälle bis höchstens 10 Minuten Zeit, WahlärztInnen in über 90% mehr als 10 Minuten. Bei den primär zeitaufwändigeren Betreuungen wie MKP, chronische Krankheiten sowie Entwicklungs- und sozialpädiatrische Störungen bestehen zwar ebenfalls teilweise deutliche Unterschiede, diese sind aber nicht so stark ausgeprägt und nehmen mit zunehmender Behandlungsdauer ab. Frage 5: Sind Sie der Ansicht, dass Sie in Ihrer Praxis für den jeweiligen Bereich ausreichend Zeit haben ? (1 = völlig ausreichend ….. 5 = nicht ausreichend)
MKP 1
2
3
4
5
Alle
65,3
16,3
10,2
4,1
4,1
mit Kassen
40,7
25,9
18,5
7,4
7,4
ohne Kassen
95,5
4,5
0
0
0
1
2
3
4
5
Alle
73,5
14,3
4,1
4,1
4,1
mit Kassen
63,0
18,5
7,4
3,7
7,4
ohne Kassen
86,4
9,1
0
4,5
0
Impf
82
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
andGes 1
2
3
4
5
Alle
61,2
18,4
12,2
4,1
4,1
mit Kassen
37,0
29,6
18,5
7,4
7,4
ohne Kassen
90,9
4,5
4,5
0
0
1
2
3
4
5
Alle
60,4
16,7
14,6
6,3
2,1
mit Kassen
34,6
23,1
26,9
11,5
3,8
ohne Kassen
90,9
9,1
0
0
0
1
2
3
4
5
Alle
35,4
14,6
22,9
18,8
8,3
mit Kassen
7,7
3,8
38,5
34,6
15,4
ohne Kassen
68,2
27,3
4,5
0
0
1
2
3
4
5
Alle
42,9
4,1
18,4
20,4
14,3
mit Kassen
11,5
0
23,1
38,5
26,9
ohne Kassen
78,3
8,7
13,0
0
0
akKr
chrKr
EntSPS
Tabellen 6a – 6f (zu Frage 5): ausreichend Zeit für Bereiche Häufigkeit der Antworten in Prozent der jeweiligen Gruppe 1 = völlig ausreichend…..5 = nicht ausreichend In der subjektiven Bewertung der PädiaterInnen fällt besonders auf, dass jene ohne Kassenverträge für praktisch alle Bereiche angeben, ausreichend Zeit zu haben. In allen Betreuungskategorien geben 95 – 100% der befragten WahlärztInnen die Bewertung 1 oder 2 an, also dass sie „völlig“ oder „fast völlig“ ausreichend Zeit haben, bei Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen sind dies immerhin auch noch 87%. Demgegenüber meinen die KassenärztInnen, dass sie zwar in den meisten Betreuungsbereichen auch mehrheitlich ausreichend Zeit
Was kann sie, was könnte sie?
83
haben, die Bewertungen sind aber allgemein deutlich schlechter. Besonders auffällig ist dies für die chronischen Krankheiten sowie die Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen, für die jeweils nur mehr etwas über 10% meinen, „völlig“ oder „fast völlig“ ausreichend Zeit zu haben. Frage 6: Bewerten Sie die Honorierung pro Fall bezogen auf die für eine gute Betreuung notwendige Zeit (1 = sehr gut…..5 = ungenügend)
MKP 1
2
3
4
5
Alle
19,1
34,0
27,7
8,5
10,6
mit Kassen
7,7
30,8
34,6
15,4
11,5
ohne Kassen
33,3
38,1
19,0
0
9,5
1
2
3
4
5
Alle
13,0
23,9
21,7
15,2
26,1
mit Kassen
11,5
19,2
26,9
19,2
23,1
ohne Kassen
15,0
30,0
15,0
10,0
30,0
1
2
3
4
5
Alle
13,3
26,7
28,9
17,8
13,3
mit Kassen
8,0
28,0
24,0
24,0
16,0
ohne Kassen
20,0
25,0
35,0
10,0
10,0
1
2
3
4
5
Alle
9,3
20,9
20,9
20,9
27,9
mit Kassen
0
4,3
30,4
21,7
43,5
ohne Kassen
20,0
40,0
10,0
20,0
10,0
Impf
andGes
akKr
84
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
chrKr 1
2
3
4
5
Alle
2,2
10,9
10,9
34,8
41,3
mit Kassen
0
0
7,7
34,6
57,7
ohne Kassen
5,0
25,0
15,0
35,0
20,0
1
2
3
4
5
Alle
2,1
14,9
6,4
17,0
59,6
mit Kassen
0
0
3,7
14,8
81,5
ohne Kassen
5,0
35,0
10,0
20,0
30,0
EntSPS
Tabellen 7a – 7f (zu Frage 6): Bewertung Honorar Häufigkeit der Antworten in Prozent der jeweiligen Gruppe 1 = sehr gut…..5 = ungenügend Die subjektive Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit dem zeitbezogenen Honorar pro Fall ist zwischen den einzelnen Gruppen in den Bereichen MKP, Impfungen und andere Gesundenuntersuchungen ausgewogen. Mit dem Honorar bei akuten Krankheiten sind KassenärztInnen massiv unzufrieden, was mit dessen Höhe von € 6,75 pro Ordination erklärbar ist. Es kann angenommen werden, dass die frei gestalteten Honorarsätze bei WahlärztInnen in diesem Bereich den höheren Zufriedenheitsgrad erklären. In der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten sowie Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen sind auch die ÄrztInnen ohne Kassen mit den Honoraren mehrheitlich wenig zufrieden, die KassenärztInnen halten diese in fast 60 bzw. über 80% als schlichtweg ungenügend.
Befragung NÖ PädiaterInnen mit Ordination Zusammenfassung: Die PädiaterInnen in NÖ sehen für ihr Fachgebiet die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten sowie solcher mit Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen als besonders wichtig an. Dazu fühlen sie sich aber am wenigsten gut ausgebildet und sie wünschen sich in diesen Bereichen am stärksten entsprechende Fortbildungen. KassenärztInnen haben für die aufwändige Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen auch oft nicht genug Zeit und halten das Honorar für diese Aufgabenbereiche überwiegend für ungenügend.
Was kann sie, was könnte sie?
85
2. Honorarsituation Die Honorare der niedergelassenen PädiaterInnen in Niederösterreich mit Kassen werden in Tabelle 8 im Vergleich zu anderen Fachrichtungen in NÖ und in ganz Österreich dargestellt. Tabelle 9 zeigt diese im Vergleich zu den anderen österreichischen Bundesländern. Die Honorarsummen geben das durchschnittlich im Jahr 2006 pro Arzt/Ärztin erhaltene Gesamthonorar von den so genannten §-2-Kassen an, bei denen je nach Region etwa 70 – 80 %, in Österreich insgesamt 76 % der Menschen versichert sind3. Hauptvertreter sind die nach Bundesländern organisierten Gebietskrankenkassen mit jeweils eigenen Honorarordnungen.
Österreich
NÖ
Allgem. FachärztInnen
218.460
246.060
Augen
253.490
327.997
HNO
202.831
211.329
Interne
262.547
326.562
Kinder
182.040
156.529
Orthopädie
268.869
324.142
Allgemeinmedizin
159.991
174.478
Tabelle 8: durchschnittliche Gesamthonorare von §-2-Kassen 2006 in Euro für verschiedene Fachrichtungen in Österreich und Niederösterreich4
Österreich
182.040
Niederösterreich
156.529
Burgenland
168.725
Steiermark
194.991
Kärnten
178.582
Tirol
169.298
Oberösterreich
197.532
Vorarlberg
229.463
Salzburg
186.112
Wien
176.880
Tabelle 9: durchschnittliche Gesamthonorare von §-2-Kassen 2006 in Euro für PädiaterInnen je nach Bundesland4 3 4
Profil, Jg.38, Nr.50, S.52 Daten aus „§-2-Statistik bundesweit“ der NÖ Ärztekammer
86
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
Die Honorare der niedergelassenen PädiaterInnen ohne Kassen können nicht dargestellt werden, da objektive Daten nicht vorliegen und eine Erhebung zuverlässiger Zahlen durch eine Befragung nicht möglich ist.
Honorarsituation, Zusammenfassung • • •
•
Niedergelassene PädiaterInnen erhalten in Österreich deutlich geringere Honorare als andere allgemeine FachärztInnen Die Situation ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich In NÖ erhalten PädiaterInnen als durchschnittliches Honorar von den §-2-Kassen 63,6 % des durchschnittlichen Honorars der allgemeinen Fachärzte und weniger als Allgemeinmediziner Fazit: PädiaterInnen stehen – speziell in NÖ - unter einem ökonomischen Druck
3. Honorarordnung und verrechnete Leistungen Tabelle 10 zeigt die wichtigsten Leistungspositionen, die PädiaterInnen in NÖ zur Verrechnung mit den §-2-Kassen zur Verfügung stehen. Weiß unterlegt sind Positionen zur Grundverrechnung, die von Art und Dauer der ärztlichen Tätigkeit mit dem einzelnen Kind oder Jugendlichen nicht beeinflusst sind. Hellgrau unterlegt sind Leistungen, die eines erhöhten Zeitbedarfes, aber im Wesentlichen keiner technischen Hilfsmittel bedürfen. Dunkelgrau unterlegt sind Untersuchungen, die eine entsprechende apparative Ausrüstung erfordern, die aber in einer modernen kinderärztlichen Praxis üblicherweise vorhanden ist.
Pos. Nr.
Beschreibung
Wert in €
Grundvergütung pro Quartal
3,47
12
Ordination
6,75
656
Zuschlag bis 6 a, 1x/Quartal
7,21
19
Ausf. diagn.-ther. Aussprache, 10 - 15 Min.
11,11
652
Eingeh. Beratung bei Enuresis, 1x/Quartal
14,43
Unters.+ Berat. bei Vd.CP, 1x; Neurol.Unters.
26,45
Weitere Unters. bei Vd.CP bis 2a, FG bis 6a
14,43
654, 681 655
Was kann sie, was könnte sie?
78 – 89 70,71,485 620 617 + 619
87
div. MKP-Untersuchungen
11,55-21,80
Sonographie der Säuglingshüfte
29,07-31,37
EKG
38,47
Sonographie Oberbauch und Nieren
60,40
Tabelle 10: Auszug aus der NÖ Honorarordnung5 weißer Grund = Grundleistungen grauer Grund = zeitaufwändige Leistungen dunkelgrauer Grund = technisch unterstützte Leistungen Es fällt auf, dass bestimmte Leistungen stark unterbewertet sind. So ist es im Rahmen einer üblichen Ordination mit einer Abgeltung von € 6,75 oft nicht möglich, den - auch laut Ärztegesetz - geforderten Qualitätskriterien zu entsprechen: diese umfassen neben Anamnese und Untersuchung des Kindes eine ausreichende Beratung der Eltern mit Begründung der empfohlenen Maßnahmen einschließlich Hinweise auf mögliche Nebenwirkungen von verordneten Therapien und die Darstellung von alternativen Therapieoptionen6. Auch die Bemessung einer „ausführlichen diagnostisch-therapeutischen Aussprache“ mit € 11,11 ist mit dem Junktim, dass diese mindestens 10-15 Minuten zu dauern habe, bemerkenswert. Damit lässt sich der von der Kasse zugestandene Wert ärztlicher Tätigkeit, die im Regelfall aber nicht ohne zumindest eine Sprechstundenhilfe zu leisten ist, auf durchschnittlich € 55,55 pro Stunde hochrechnen. Es kann nicht im Interesse eines/r finanziell und zeitlich unter Druck stehenden Pädiaters/in sein, viele derartiger Gespräche zu führen. Demgegenüber stehen die mit technischen Hilfsmitteln zu erbringenden Leistungen, die meist einen kürzeren Zeitaufwand für den Arzt selbst bedeuten oder wie bei EKG oder Lungenfunktionsmessungen von geschultem Ordinationspersonal durchgeführt werden können. Trotzdem werden sie von den Kassen wesentlich besser bewertet, was die Anschaffung der notwendigen Geräte und deren großzügigen Einsatz ökonomisch attraktiv macht. Die quantitative Bedeutung der verschiedenen Leistungspositionen im Rahmen der bestehenden Honorarordnung wird in der Tabelle 11 dargestellt. Neben der Art und dem Wert der Einzelleistung zeigt die Tabelle die Häufigkeit der 2006 von den 40 niedergelassenen PädiaterInnen in NÖ, die Verträge mit allen Kassen haben, verrechneten Leistungen und den jeweiligen Anteil am Honorarvolumen. Die Einzelhonorare und Honorarsummen betreffen wieder die der sogenannten „§-2-Kassen“ inklusive Sozialversicherungsanstalt der Bauern, also etwa 75 80% der von den Krankenversicherungen insgesamt ausbezahlten Honorare. 5 6
Honorarordnung NÖ §-2 Krankenversicherungsträger, Honorarsätze für 2006 s. Karin Prutsch, Die ärztliche Aufklärung, Facultas-Verlag, 2004
88
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
Pos.
Kurzbeschreibung
12
Ordination
70,71, 78 - 89
MKP, alle
656
70,71, 480,485
Wert Frequenz Anteil % 6,75 11,55 – 29,07
274.665
29,6
76.973
25,4
Zuschlag < 6a
7,21
91.605
10,5
Grundvergütung
3,47
148.262
8,1
13.193
6,4
Sono Hüfte
29,0731,37
Labor
5,3
620
EKG
38,47
5.837
3,6
19
Ärztliches Gespräch
11,11
16.832
3,0
4742
2,1
6969
2,1
617-619
Sono ohne Hüfte
654,655,657,681, Alle neurol. + neuropäd. 683
+ psychiatr. Leist. f. Päd.
Tabelle 11: NÖ PädiaterInnen mit Kassen, 2006 mit §-2-Kassen verrechnete Leistungen7; Gesamtsumme = € 6.263.716,65 weißer Grund = Grundleistungen grauer Grund = zeitaufwändige Leistungen dunkelgrauer Grund = technisch unterstützte Leistungen Die naturgemäß am häufigsten verrechneten Positionen 12 - Ordination, 656 Zuschlag für die einmal pro Quartal verrechenbare Untersuchung eines Kindes unter 6 Jahren und die Grundvergütung machen fast die Hälfte des gesamten Honorarvolumens aus. Ein weiteres Viertel erarbeiten PädiaterInnen in NÖ mit den Vorsorgeuntersuchungen laut MKP, wobei die Honorare dafür seit 1994 unverändert sind. Das restliche Viertel ist quasi das Zubrot der Kinder- und JugendärztInnen, das deutlich von technisch orientierten Leistungen bestimmt ist. So ist das für die Sonographie der Säuglingshüfte ausbezahlte Honorar mehr als dreimal so hoch wie sämtliche von PädiaterInnen verrechenbaren Leistungen aus den Gebieten Neurologie, Neuropädiatrie und Psychiatrie. Auch die Honorarsumme für das bei 7
Daten aus „Kinder Frequenzen 2006 inkl. SVB“ der NÖ Ärztekammer
Was kann sie, was könnte sie?
89
Kindern und Jugendlichen im Vergleich zur Erwachsenenmedizin kaum bedeutsame EKG liegt noch über der für das ärztliche Gespräch (= ausf. diagnostischtherapeutische Aussprache).
Honorarordnung und verrechnete Leistungen, Zusammenfassung
•
•
• • •
Die Honorarordnung in NÖ erscheint unausgewogen, sie präferiert sehr stark technische Leistungen gegenüber zeitlich aufwändigen persönlichen Betreuungen Die PädiaterInnen mit Kassen in NÖ leben davon, möglichst viele Kinder und Jugendliche in möglichst kurzer Zeit zu betreuen MKP-Untersuchungen sind die wesentlichsten zusätzlichen Honorarpositionen Das Gesamthonorar wird durch technische Leistungen aufgebessert Zeitlich aufwändige Betreuungen sind für das Einkommen der PädiaterInnen in NÖ nur von marginaler Bedeutung
Pädiatrie in der Praxis: Was kann sie? – Zusammenfassung Eine Zusammenfassung des bisher dargestellten Zahlenmaterials im Sinne der eingangs gestellten Frage lässt folgende Aussagen zu: • •
•
•
Die Pädiatrie in der Praxis versorgt auf der Primärebene eine sehr große Zahl von Kindern und Jugendlichen Sie bietet für die meisten Versorgungsbereiche eine gute fachärztliche Kompetenz, die aber auch selbstkritisch gesehen wird. Wo Defizite vermutet werden, besteht ein starker Wunsch nach Fortbildung Die Versorgung geschieht bei KassenärztInnen unter einem großen zeitlichen Druck mit teilweise nicht kostendeckenden Honoraren. WahlärztInnen haben mehr Zeit, die Honorare wurden in unserer Arbeit nicht erhoben Die zeitlichen Defizite beeinträchtigen vor allem die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten sowie solche mit Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen.
90
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
Es wurde eingangs im Rahmen des Themas „Werte vs. Ökonomie“ folgende Frage präzisiert: Gibt es Zusammenhänge zwischen den ökonomischen Rahmenbedingungen für niedergelassene PädiaterInnen und einer wünschenswerten Versorgung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen? Die Datenlage lässt - zumindest für die Situation in Niederösterreich - solche Zusammenhänge in folgenden Punkten als gegeben erscheinen: 1. 2. 3.
4.
PädiaterInnen mit Kassen stehen subjektiv und objektiv unter einem finanziellen und zeitlichen Druck Die Honorarordnung fördert technische Leistungen und bewertet nicht ausreichend zeitlich aufwändige Betreuungen PädiaterInnen mit Kassen geben an, wenig Zeit für jene Kinder und Jugendlichen zu haben, deren Betreuung sie selbst als besonders wichtig ansehen, die aber zeitaufwändig ist PädiaterInnen ohne Kassen haben subjektiv ausreichend Zeit und wenden für die Betreuung der einzelnen Kinder und Jugendlichen auch mehr Zeit auf.
5. Diese Situation muss im Sinne der Versorgungsqualität als unbefriedigend angesehen werden und wird im nächsten Teil diskutiert.
II. Pädiatrie in der Praxis – was könnte sie? Wie im vorigen Kapitel dargestellt beeinflussen die den in NÖ niedergelassenen FachärztInnen gebotenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Versorgung der Kinder und Jugendlichen. Diese Beeinflussung geschieht auf verschiedenen Ebenen: Die KassenärztInnen haben für aufwändige Betreuungen – auch nach eigener Meinung - durch die hohen Patientenzahlen nicht immer ausreichend Zeit. Der Faktor Zeit spielt aber im Honorarsystem der Krankenversicherungen im Wesentlichen keine Rolle. Wenn er berücksichtigt wird, dann in einer der ärztlichen Qualifikation nicht entsprechenden Weise: ein anhand des „Ärztlichen Gesprächs“ hochgerechnetes Stundenhonorar von € 55,55 inklusive notwendiger Infrastruktur entspricht nicht einem angemessenen Niveau für eine fachärztliche Tätigkeit. Es kann daher zeitlich und finanziell unter Druck stehenden ÄrztInnen nicht angelastet werden, wenn sie bei allem Engagement und Idealismus daneben Untersuchungen präferieren, die bei geringerem Zeitaufwand mehr an Honorar versprechen.
Was kann sie, was könnte sie?
91
Der Arbeitsschwerpunkt der Kinder- und JugendärztInnen mit Kassen wird dadurch zumindest graduell von der individuellen persönlichen Zuwendung weg und zur technisch unterstützten Medizin hin gedrängt. Die KassenärztInnen geraten damit in einen Konflikt mit ihren eigenen Interessen und Vorstellungen, wie die Ergebnisse unserer Umfrage belegen. Gleichzeitig kommen sie in eine zunehmende Konkurrenzsituation mit den niedergelassenen PädiaterInnen ohne Kassen. Diese können nach eigener Einschätzung für nahezu alle Probleme ausreichend Zeit aufwenden, was nur durch das Zusammentreffen mehrerer Umstände zu erklären sein dürfte: meist besteht keine so weitgehende wirtschaftliche Abhängigkeit von der Praxistätigkeit wie bei KassenärztInnen, es werden weniger Patienten betreut und für viele Behandlungen sind bessere - weil frei gestaltete - Honorare anzunehmen. Dies dürfte besonders bei der Behandlung von akut kranken Kindern und Jugendlichen der Fall sein, für die KassenärztInnen gerade € 6,75 erhalten. Der zeitliche Vorteil einer Betreuung durch WahlärztInnen ist auch für Eltern leicht erkennbar. Der Nachteil liegt für sie darin, dass sie diese Behandlungen oft direkt bezahlen müssen und bei entsprechenden Honoraren, die bei zeitaufwändigen Behandlungen unumgänlich sind, auch nicht die volle Summe von den Versicherungsträgern rückerstattet bekommen. Dieser Umstand bewirkt, dass für Familien mit geringeren finanziellen Ressourcen keine Wahlmöglichkeit besteht. Die Betreuung durch ÄrztInnen mit Kassen bedeutet nicht per se, dass sie qualitativ schlechter ist – sie kann im Gegenteil z.B. mit einem umfangreicheren Angebot an technischer und personeller Ordinationsausstattung und damit besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten verbunden sein. Viele KassenärztInnen kompensieren ihre begrenzten zeitlichen Möglichkeiten auch mit einer bis zur Grenze des Machbaren gehenden Ausweitung ihrer Arbeitszeiten. In unserer Befragung waren die häufigsten Angaben zur tatsächlichen Arbeitszeit im Zusammenhang mit dem Praxisbetrieb zwischen 45 und 60 Stunden mit Extremen bis 100 Stunden. Trotzdem ist durch die völlig unterschiedlichen Voraussetzungen für die Tätigkeit der PädiaterInnen mit und ohne Kassen die viel diskutierte Zweiklassenmedizin bereits Realität. Die Frage „Pädiatrie in der Praxis – was könnte sie?“ ist daher nur nach einer ausführlichen grundsätzlichen Debatte über deren wünschenswerten Aufgabenbereich und die dafür notwendigen Strukturen zu beantworten. Die den PädiaterInnen gebotenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind ein wesentliches Steuerungselement zur Optimierung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen.
92
Rudolf Püspök, Anna Püspök, Dietmar Baumgartner
Einige der zu diskutierenden Fragen sind: • • •
• • • • •
Welchen Aufgabenbereich sollen niedergelassene PädiaterInnen abdecken? Wo und durch wen soll die Primärversorgung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten und/oder Entwicklungs- und sozialpädiatrischen Störungen erfolgen? Wenn niedergelassene PädiaterInnen diese Versorgung wesentlich tragen sollen, welche Aus- und/oder Fortbildungskriterien werden dafür definiert? Erfolgt eine Honorierung nur mit einem entsprechenden Qualitätsnachweis? Wird so ein Qualitätsnachweis auch von WahlärztInnen verlangt? Wie wird die Honorierung gestaltet, kann sie den tatsächlich notwendigen Aufwand für Niedergelassene abgelten? Welchen Stellenwert soll die Versorgung durch KassenärztInnen in Zukunft generell haben? Wie hoch ist die für eine qualitatv entsprechende Versorgung notwendige Zahl an Kassenstellen? Welche Rolle können WahlärztInnen im Versorgungssystem einnehmen ohne einer Zweiklassenmedizin Vorschub zu leisten? Wie sichern wir für alle Kinder und Jugendlichen einen freien Zugang zu allen notwendigen Leistungen?
Die Frage, was die Pädiatrie in der Praxis über das jetzige Versorgungsausmaß hinaus leisten könnte, bedarf also einer sorgfältigen Abwägung der tatsächlichen Notwendigkeiten und einer entsprechenden Abstimmung mit den Sekundärund Tertiärsystemen. Da die Möglichkeiten wesentlich auch von ökonomischen Faktoren bestimmt werden, ist zu fordern, dass diese die notwendigen Werte in der medizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen unterstützen und sichern sollen und nicht umgekehrt eine wertorientierte Versorgung behindern.
Pädiatrie in der Praxis: Was könnte sie? – Zusammenfassung
Bei entsprechenden ökonomischen Rahmenbedingungen könnten die niedergelassenen PädiaterInnen einen noch deutlich besseren Beitrag für eine wünschenswerte Versorgung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen leisten. Dies betrifft vor allem jene Kinder und Jugendlichen, die unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
Jugend ohne Sozialkapital – die soziale Klimakatastrophe Ernst Gehmacher Das OECD-Programm „Messung von Sozialkapital“ ergab einen im Verlauf der Jahre negativen Trend bezüglich des sozialen Zusammenhaltes. Eine österreichische Studie (BOAS 2007) schätzt, dass im Generationentrend jährlich ein bis zwei Prozent an „Sozialkapital“ verloren gehen. Die Studie basiert auf einer kommunalen Gesundheitsbefragung bei mehr als 6000 Probanden und kommt zu dem Schluss, dass als Folge der Zunahme an sozialer Isolation und sozialer Belastung innerhalb von 40 Jahren die Zahl an depressiven Erkrankungen um das Zwei- bis Dreifache zunehmen wird. Strategien zur Umkehr dieses Trends müssen auf die Verbesserung der sozialen Kompetenz in der frühen Kindheit abzielen, aber auch auf die Phase der Familiengründung und die Umstände im Arbeitsleben.
Der moderne Begriff Sozialkapital für die psychischen Energien aus sozialen Bindungen, Ordnungen und Ideengemeinschaften (Ties, Norms, Trust) ist aus der politisch-ökonomischen Sorge hervorgegangen, die Modernisierung der Menschheit mit Technisierung und Individualisierung, Informationsexplosion und Auflösung der Traditionen, Mobilität und Globalisierung löse den „Kitt der Gesellschaft“ auf. Auf Initiative des OECD-Programms „Measuring Social Capital“ wurden Umfragemethoden zur Messung der sozialen Bindungskräfte entwickelt, die nun der Sozialforschung zur Verfügung stehen. Die ersten Anwendungen betrafen vor allem Wirtschaft, Bildungssystem und Organisationen (Betriebe, Schulen, Vereine), wo Gemeinschaftsbindungen direkt von Bedeutung sind. Die großen Fragen, die der Sozialkapitalforschung den Anstoß gegeben haben, lassen sich in drei Fragen fassen: 1) 2) 3)
Löst sich der „Kitt der Gemeinschaft“ auf? Was droht dann? Was kann man dagegen tun?
Neu sind diese Fragen sicher nicht. Seit jeher sind Gemeinschaften um ihren Zusammenhalt besorgt. Ketzer und Abtrünnige, Rivalen und Verrat, Ichsucht und Glaubenszweifel, Meuterei und Streik wurden immer als extreme Gefahren für die bestehende Gesellschaft gefürchtet und bekämpft. Die Angst vor der Auflö-
94
Ernst Gehmacher
sung der Bindungskräfte war und ist ein stetes Thema auf allen Ebenen von Gemeinschaft, vom Liebesband zwischen Lebenspartnern bis zur Treue zu Kampfgemeinschaften, vom Teamgeist bis zum Weltethos. Sehr modern ist aber die Technik, solche Bindungskräfte zu messen, um sie als Sozialkapital rational zu nutzen und gezielt zu vermehren. Die zunehmende Transparenz des kollektiven privaten Handelns durch die Registrierung und statistische Erfassung in der bürokratisierten Informationsgesellschaft gibt immer mehr Einblick in das Wirkungsfeld sozialer Bindungskräfte. Mitgliederzahlen, Wahlbeteiligungen, Veranstaltungskonsum, Ehescheidungen, Krankenstände – solche Indikatoren erlauben Schlüsse auf den Stand und den Trend der sozialen Gefühle. Diese emotionalen Kräfte selbst sind ja an sich nicht direkt erfassbar. Nicht einmal der einzelne Mensch hat den vollen Einblick in das zeitlich pulsierende Kräftefeld seiner eigenen Sympathien und Antipathien. Doch ergibt die bemühte Selbstbeobachtung wohl die beste Annäherung an die durchschnittliche Stärke der eigenen privaten Gefühle für und gegen Personen und Gemeinschaften. Die Sozialkapital-Messung greift mit ihrem psychologischen Test-Ansatz direkt auf solche Selbstbeobachtung zurück. Das kann nur dort funktionieren, wo mit der Bereitschaft der Befragten und Getesteten gerechnet werden kann, über privates und intimes soziales Erleben angstfrei und rational zu berichten. In modernen „offenen Gesellschaften“, in halbwegs friedlichen und nicht von Konflikten „zerrissenen“ Gemeinschaften ist das mit geheimer (schriftlicher und elektronischer) Befragung möglich. Die Sozialkapital-Messung mit Befragungsmethoden setzt ein kulturelles Klima demokratischer Teilnahmebereitschaft wie rationaler Nachdenklichkeit und Offenheit voraus – sie versteht sich selbst als „partizipative selbst-reflexive“ Sozialforschung. Dazu gehören auch das Prinzip der „Vollerhebung“ (statt der Stichproben-Auswahl) und die Regel des Ergebnis-Feedbacks an die Gemeinschaft. Die Methode hat sich in der Analyse des Ist-Zustands und der Korrelationen zwischen einzelnen Komponenten des sozialen Kräftefelds bewährt. Sie erfasst auch die Wirkung von Sozialkapital auf Befinden und Gesundheit und auf Leistungskriterien. Das „Netzwerk Gesunde Städte“ hat nun in Kooperation mit dem BOAS (Büro für angewandte Sozialforschung) den Kommunalen Gesundheits-Survey mit der Sozialkapital-Messung gekoppelt. Die ersten Ergebnisse daraus liegen nun vor. Auch wenn größere Analysen aus dieser neuen Forschung erst zu erwarten sind, alarmieren die vorläufigen Resultate. Die Sorge um den Rückgang sozialer Bindungen scheint gerechtfertigt: das „soziale Klima“ wird kälter. Und ein solcher negativer Trend gefährdet nicht nur ökonomische Leistung und politische Partizipation, sondern bedroht direkt die Gesundheit. Vereinsamung und Verlust des sozialen Grundvertrauens erhöhen das Risiko depressiver Stimmungslagen, die wiederum mit zeitlicher Verzögerung die Krankheitsresistenz schwächen.
Jugend ohne Sozialkapital – die soziale Klimakatastrophe
95
Kurzfristige Veränderungen von sozialen Bindungskräften durch gezielte Maßnahmen und ungewollte Einflüsse wurden durch die neue Sozialkapitalforschung in Einzelfällen kleinerer Gemeinschaften schon sehr genau erfasst. Doch verlässliche Aussagen über den großen Trend sind schwerer, weil die Messtechnik erst in den letzten Jahren entwickelt wurde. Doch lässt sich der Unterschied zwischen den heute lebenden Generationen, zwischen den Älteren und den Jüngeren, mit dem Sozialkapital-Test feststellen – in allen Facetten. Dabei mischen sich der Trend über die Generationen und die Wirkungen des Älterwerdens. Wenn die Älteren mehr Sozialkapital haben als die Jüngeren, kann das auch an der Erweiterung des beruflichen Kontaktkreises und an der Gründung einer eigenen Familie liegen, an beruflichem Aufstieg und steigendem Wohlstand, und am wachsenden Ansehen in Vereinen und Organisationen. Doch zeigt sich, dass die jüngere Generation gerade in den familiären und freundschaftlichen Nahbeziehungen nicht schlechter abschneidet, auch gesellig und ehrenamtlich recht rege ist und sich sehr wohl Geselligkeit leisten kann, gleichzeitig aber deutlich weniger eingebunden erscheint, wenn es Nachbarschaften, Politik und Kirche betrifft. Auch kennen die Jüngeren kaum mehr die „großen Gefühle“ der Begeisterung und des Verschmelzens mit dem Größeren – und wenn, dann am ehesten im Naturerlebnis und in Kunst oder Sport. Die sozialen Bindungen werden im Generationentrend der Modernisierung deutlich individualistischer, wählerischer und prekärer: Virtuelle Kontakte ersetzen persönliche Nähe. Aus solchen Befunden einen generellen Schluss zu ziehen, ist heikel. Doch der ganzheitlich mehrdimensionale Ansatz der neuen Sozialkapital-Theorie hilft, da er die vielfältigen Indikatoren sozialer Energie auf den latenten Maßstab der psychischen und sozialen Kraftfelder reduziert und sie an ihrer Wirkung bemisst. Und die wesentlichen Wirkungskriterien sozialer Kohäsion sind Sinnfindung, Glück, Gesundheit. Um zu einer quantitativen Schätzung des langfristigen Trends von Sozialkapital zu kommen, wurden daher aus einer rezenten Sozialkapitalstudie Indikatoren der sozialen Eingebundenheit oder Isolation nach Generationen analysiert. Es zeigt sich ein deutlich niedrigeres Sozialkapital-Niveau bei der jüngeren Generation (außer in sozialen Feldern mit Jugendvorteil wie Herkunftsfamilie und Verwandtschaft, Sport und Musik – wo der negative Generationen-Trend durch den Jugend-Effekt aufgewogen wird). Im Folgenden werden die Ergebnisse einer großen Vorarlberger Kommune (Dornbirn 2007) herangezogen, deren Bewohner zu den gesündesten und glücklichsten Stadtpopulationen in Österreich gehören, und wo das Sozialkapital auch noch überdurchschnittlich hoch ist. Der hier beobachtete Generationen-Trend der Sozialkapital-Auflösung ist sicher nicht durch die lokalen Verhältnisse verschärft und dürfte ziemlich im österreichischen Durchschnitt liegen – zwischen Großstadt und ländlichem Raum. Erste Analysen aus anderen Gemeinden liegen in einer ähnlichen Höhe oder etwas darüber. Über den Rückgang der sozialen Bindungen im Rahmen der Modernisierung gibt es einen langen wissenschaftlichen Disput zwischen dem optimistischen Fort-
96
Ernst Gehmacher
schrittsglauben und den Warnungen der Modernisierungskritiker. Darin spiegeln sich auch Weltanschauungen. Zweifellos haben sich die Bindungsstrukturen im Prozess der Modernisierung grundlegend geändert – und Sozialkapital ist dabei verloren gegangen. Doch da soziale Einbindung zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört, wachsen aus dem Defizit immer auch neue Gemeinschaftsformen heran, langsam und unbemerkt, oder auch stürmisch und geschichtsgewaltig. Und das spielt sich auch hier und jetzt ab. Neu ist nun, dass es eine explosive Entwicklung von Kommunikations- und Mobilitäts-Techniken gibt, die hier eingreifen. Und neu ist auch, dass nun diese Veränderungen gemessen werden – und damit viel früher und genauer wahrzunehmen sind.
Generationentrend - Soziale Isolation 80
70
60
50
40
30
20
10
0
56-65 J.
46-55 J.
36-45 J.
26-35 J.
15-25 J.
Offene Aussprache/ Vertrauen mit Nachbarn
Offene Aussprache/ Vertrauen im religiösen Umfeld
Bekanntenkreis mehrheitlich in der Gemeide Wahlen (sehr) wichtig Gemeinderat
Identifikation Politik (sehr) stark Wahlen (sehr) wichtig Nationalrat
Abb.1 Abnahme des sozialen Kapitals bei Jugendlichen
Jugend ohne Sozialkapital – die soziale Klimakatastrophe
97
Alter
Reduktion*
56-
46-
36-
26-
15-
65
55
45
35
25
40 J. 20 J.
Mit Nachbarn
26
27
31
37
44
.59
.65
Im religiösen Umfeld
61
63
70
75
81
.75
.86
In der Gemeinde
49
42
40
35
34
.69
.85
Im Verwandtenkreis
73
64
43
56
47
.64
.85
In der Nachbarschaft
68
58
56
43
35
.52
.63
Religion (sehr) stark
46
41
34
26
15
.33
.44
Natur sehr stark
59
61
59
55
35
.59
.59
Politik sehr stark
29
22
16
18
17
.59
.94
Religion
14
21
24
30
41
.34
.59
Politik
32
37
40
42
48
.67
.83
40
41
36
27
21
.53
.58
Gemeinderat
76
75
63
51
40
.53
.63
Landtag
72
75
63
51
40
.60
.69
Nationalrat
61
61
58
53
50
Keine offene Aussprache / Vertrauen (%)
Bekanntenkreis mehrheitlich (%)
Emotionale Bindung/ Identifikation (%)
Keine Bedeutung für mein Leben (%)
Ehrenamt (% aktiv) Wahlen (% sehr wichtig)
.82
.86
Durchschnitt der Reduktion**
.58
.71
Durchschnittlicher Verlust in % pro Jahr (bezogen auf den Ausgangswert)
1.33
1.68
Tabelle 1 Abnahme des Sozialkapitals in tabellarischer Darstellung. * Änderung des jeweiligen Parameters in Bezug auf den Ausgangswert, welcher als 1,0 gesetzt wird. [Spalte 40 J.] = Änderung im Vergleich der Altersgruppen 56-65 vs. 15-25 Jahre. [Spalte 20 J.] = Änderung im Vergleich der Altersgruppen 36-45 vs. 15-25 Jahre. ** Mittelwert aller erfassten Veränderungen
98
Ernst Gehmacher
Dass es zu einem Verlust an sozialer Einbindung im Generationen-Trend kommt, ist eindeutig – auch wenn man die neue Entstehung von Gemeinschaften in Rechnung stellt. Nach diesen Relationen bei den verschiedenen Indikatoren für sehr unterschiedliche Phänomene sozialer Bindung ist für die letzten 40 Jahre mit einem Verlust von 1,3 Prozent pro Jahr – und in den letzten 20 Jahren von 1,7 Prozent jährlich zu rechnen (eine vergleichbare Analyse für Bregenz erbrachte ähnliche Werte). Selbst bei der vorsichtigen Annahme, dass die Kräfte des sozialen Zusammenhalts jährlich nur um ein Prozent schrumpfen, bleiben nach 50 Jahren nur noch 50 Prozent, nach hundert Jahren bloß 35 Prozent vom Ausgangsniveau übrig. Und die ersten fünfzig Jahre seit der Solidarität der Nachkriegszeit und der Begründung des Wohlfahrtsstaats sind schon vorbei! Nun ist da noch einige Zeit für gegenläufige positive Entwicklungen und Gemeinschaftsstrategien, bevor es zu einer Katastrophe kommen muss. Doch Warnung scheint gerechtfertigt. Die Frage ist: Was sind die Folgen eines Rückgangs an Sozialkapital? Nun muss eine Einbuße an Gemeinschaftsbindung nicht unbedingt als Verlust gesehen werden. Individualismus steht hoch im Kurs. Singles können sich mehr leisten als Großfamilien. Flüchtige Geselligkeitsbeziehungen sind weniger anstrengend als geteilte Sorgen. Religion und Politik und Kinder fordern Hingabe und Engagement. Technik, Konsumgüter und Dienstleistungen versprechen bequemeres Glück als das Sich-um-einander-Kümmern in Gemeinschaften. Doch dieser moderne Glaube trügt. Der Mensch ist seiner Natur nach ein soziales Wesen. Und die Natur lässt sich nicht überlisten. Die Sozialkapitalforschung quantifiziert deutlich, wie sehr Mangel an sozialen Bindungen traurig und krank macht. Singles sind statistisch signifikant eher depressiv als Ehepaare. Kinder bedeuten Stress, aber auch Freude – und sind im Saldo ein Gewinn für die Psyche. Der Verzicht auf die echten starken Gemeinschaftsgefühle spiritueller und ethischer Natur um der Bequemlichkeit willen führt längerfristig in das Unbehagen der Sinnleere und Gefühlsverarmung. Die Korrelationen zwischen Sozialkapital und Befindlichkeit zeigen sich in den Sozialkapitalstudien allgemein. In der vorliegenden Analyse (BOAS, Dornbirn 2007) geht es um die Schätzung der Auswirkung eines Rückgangs an Sozialkapital auf die psychische Gesundheit. Die hier verwendeten Daten lassen für die Erwachsenenbevölkerung im Erwerbsalter (Senioren über 65 Jahren wurden um der repräsentativen Aussagekraft willen nicht einbezogen) Aussagen über die Häufigkeit depressiver Grundstimmung zu – und deren Zusammenhang mit Sozialkapital-Mangel erkennen.
Jugend ohne Sozialkapital – die soziale Klimakatastrophe
99
Wenn Sozialkapital-Defizit Ja
Nein
15-25 J.
6
4
26-35 J.
7
3
36-45 J.
10
2
46-55 J.
7
1
56-65 J.
4
1
Tabelle 2 Anteil an depressiver Stimmung in %
Anteil an depressiver Grundstimmung nach Sozialkapital-Defizit und Alter (in %) 12
Defizit kein Defizit 10
10
8 7
7
6
4
6
4
4 3
2
2 1
1
0
56-65 J.
46-55 J.
36-45 J.
26-35 J.
15-25 J.
Abbildung 2 Korrelation zwischen Defizit an Sozialkapital und depressiver Grundstimmung Depressive Grundstimmung ist bei Sozialkapital-Defizit bei etwa 7 Prozent der Bevölkerung (4 % bis 10 %) gegeben. Bei Sozialkapital-Suffizienz kommt depressive Grundstimmung nur bei den Jüngeren auch merklich vor (3 Prozent), über 45 Jahren kaum mehr. Alter macht glücklich, wenn soziale Einbindung und Lebenssinn (und physische „Fitness“) gewahrt bleiben (Gehmacher 2005, Happy Ageing). Dass Depression auch physisch krank macht, bestätigt sich in den Daten. Doch in den jüngeren Erwachsenen-Jahren hängt das noch weniger vom Sozialkapital ab. Die „flotten“ Singles und isoliert in „fremden“ Nachbarschaften eingekesselten Familien („Spaßgesellschaft“ und „Cocooning“) werden erst nach der Lebensmitte trübsinnig. Und dann auch krank. Massiv steigt die Morbidität bei den depres-
100
Ernst Gehmacher
siv gewordenen Vereinsamten mit gleichzeitigem Schaden an sozialer wie psychischer Energie. Wenn Sozialkapital Wenn Depression
Suffizient
Defizient
nein
ja
nein
Ja
15-25 J.
3
4
5
*
26-35 J.
2
6
6
10
36-45 J.
3
13
4
16
46-55 J.
5
*
7
11
56-65 J.
7
*
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Tabelle 3 Anteil chronisch Kranker (%) nach Sozialkapital und Depression * keine Daten vorhanden Die Anteile an so starken sozialen Defizienzen wie soziale Isolation und Vereinsamung einerseits und depressiver Grundstimmung andererseits sind in Umfragedaten nur unscharf zu schätzen – da ja Kranke und Unglückliche eher unerreichbar sind oder die Antwort verweigern. Auch kann trübe Augenblicksstimmung (Mood) in einer Umfrage Melancholie und Depression vortäuschen. Doch die Zusammenhänge sind deutlich genug. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse scheinen folgende Schätzungen gerechtfertigt: 1.
2.
Bei mangelnder sozialer Einbindung (Sozialkapital-Defizit) steigt der relative Anteil der Depressionen innerhalb von zwanzig Lebensjahren auf das Fünffache (von 2 auf 10 %). Wenn der Anteil der sozial Defizienten in den letzten zwanzig Jahren um 50 Prozent auf das Eineinhalbfache gestiegen ist, so droht dadurch in weiteren 20 Jahren eine Zunahme der Depressionen auf das Dreifache (durch Ausbreitung und Wirkungs-Akkumulation: 1 + 0.5*5=3.5).
Eine solche psychische Auswirkung des „sozialen Klimawandels“ kann durch die gleichzeitigen Effekte des wirtschaftlichen Leistungsabfalls und der Kriminalisierung verstärkt, aber auch durch Medizin, Sozialpolitik und Kulturfortschritt gemildert werden. Doch der Schaden des Rückgangs sozialer Einbindung geht über die unmittelbare psychische Wirkung hinaus. Soziale Anomie (= Zustand fehlender oder geringer sozialer Normen, Regeln und Ordnung) und Depression schwächen das Immun-
Jugend ohne Sozialkapital – die soziale Klimakatastrophe
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system und erhöhen die Anfälligkeit für chronische Krankheiten. Das zeigt sich auch in den Daten des vorliegenden Gesundheits-Surveys: Depressive Grundstimmung und chronische Krankheit korrelieren hoch – und kommen bei schlechter sozialer Einbindung (Sozialkapital-„Armut“) gemeinsam häufiger vor. Die Kausalität wird reziprok und damit entsteht ein Circulus vitiosus: mehr allein = mehr trist = mehr krank = mehr trist = mehr allein = mehr krank. Das Gegensteuern durch mehr Medizin, mehr Psychotherapie, mehr soziale Pflege wird immer aufwändiger. Am schwierigsten abzuschätzen ist die vielleicht gefährlichste Konsequenz des sozialen Klimawandels: die psychische Schädigung der nächsten Generation durch psychisch beschädigte Erziehungspersonen. Steigen die Anteile neurotischer und depressiver Eltern und Alleinerziehender, der verzweifelten Mütter schon vor der Geburt, so wird immer mehr Kindern das notwendige Urvertrauen, die unbedrohte Geborgenheit fehlen, ohne welche schon die pränatale und erst recht die frühkindliche Entwicklung einer gesunden und starken Persönlichkeit gefährdet ist. Dem mag teilweise entgegenwirken, dass psychisch Geschädigte in einer modernen Gesellschaft eher weniger oder keine Kinder haben und dass Kinder heute durch öffentliches Bewusstsein und soziale Institutionen besser vor Vernachlässigung, Aggression und Missbrauch geschützt sind. Doch der gesellschaftliche Trend stellt jedenfalls eine ernstliche Bedrohung dar. Wenn im Wechsel einer Generation die Verdreifachung von psychischer Labilität und depressiver Grundstimmung zu erwarten ist, dann ist wohl auch mindestens mit einer Verdoppelung der psychischen Läsionen bei Kindern zu rechnen. Auf Pädagogik und Psychiatrie wartet hier eine gewaltige Aufgabe ! In der Sozialpolitik legt das einen Schwerpunkt nahe, welcher der sozialen Prävention von Bindungsmangel und Anomie bei Kindern intensive Aufmerksamkeit zuwendet.
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Der Apfel und der Stamm – transgenerationale Aspekte in der Kindermedizin Klaus Vavrik Die nachhaltigen Risken für Gesundheit und Entwicklung von Kindern haben in Industriestaaten einen grundlegenden Wandel erfahren. An Stelle der klassischen Infektions- und Mangelerkrankungen sind zunehmend Lebensstilerkrankungen und zur Chronifizierung neigende Entwicklungsbeeinträchtigungen sowie psychosoziale Integrations- und Regulationsstörungen getreten. Der folgende Beitrag zeigt auf, wie Umweltbedingungen auf die Entwicklung des Kindes und die Ausprägung von bestimmten Fähigkeiten Einfluss nehmen können. Die aktuelle neurobiologische Forschung hat ein weites Feld eröffnet, in welchem deutlich wird, wie frühkindliche Erfahrungen – und hier vor allem jene mit primären Bezugspersonen – ihr Abbild sowohl in der Entwicklung und Steuerung von Gehirnfunktionen als auch auf der Ebene der hormonellen Regulation bis hinein in den genetischen Code hinterlassen. Als erste und basale Erfahrungsmatrix ist die frühe Bindungserfahrung somit eine zentrale Determinante und Prädiktor der späteren psychischen wie somatischen Gesundheit.
Präambel: Überlebensstrategie Habilitation Die bedeutendste Eigenschaft des Menschen ist seine Fähigkeit zu lernen und sich der Umwelt anzupassen bzw. sich dieser angepasst zu verhalten. Für diese Fähigkeit der so genannten Habilitation ist der Mensch auf Grund seiner biologischen Ausstattung im Besonderen geeignet, wie etwa Fische zum Schwimmen und Vögel zum Fliegen. Sie unterscheidet ihn am stärksten von allen anderen Lebewesen dieser Erde und hat ihn befähigt nahezu alle Lebensräume dieser Welt zu erobern. Sie ist die Grundlage dafür dass Kinder in Alaska, Afrika oder dem modernen Großstadtleben sich überall der Umwelt und Kultur angemessen entwickeln können. „Lernen“ bedeutet, Erfahrungen zu machen und daraus Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen zu entwickeln. „Verhalten“ wiederum ist Anpassungsleistung und Bewältigungsstrategie zugleich, um die Austauschprozesse zwischen Individuum und Umwelt zu gestalten und die Dichotomie zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Realitäten zu regulieren. Beides ist ein sehr aktives Geschehen, welches
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unablässig und ohne unser konkretes Zutun stattfindet: wir können gar nicht anders und lernen immer (Spitzer, 2002). Der transgenerationale Aspekt hiervon, d.h. die Möglichkeit, ein mehr oder weniger nützliches Verhalten an die nächste Generation weitergeben zu können, eröffnet aber ein oftmals hoch emotionalisiertes Spannungsfeld. Auf der einen Seite steht die Hoffnung und die elterliche wie gesellschaftliche Erwartung, die Menschen und damit das „Humankapital“ der nächsten Generation prägen und gestalten zu können. Anderseits finden sich Schuld und Versagensgefühle sowie wechselseitige Verantwortungszuweisung, wenn dies nicht in der erwünschten Weise gelingt. So kann die Metapher „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ sowohl Stolz aber auch Entwertung über die vermeintliche „Leistung“ der Vorgeneration angesichts des Geworden-Seins der Nachfolgegeneration transportieren. Doch wie funktioniert dieses transgenerationale Lernen? Wie erklärt sich die beim Menschen so besonders gut ausgeprägte Fähigkeit der Habilitation? Was steuert Lernen und Verhalten und wird es überwiegend anlagebedingt (Genetik, Konstitution, Disposition) oder zum größeren Teil erfahrungsbedingt (Sozialisation, Beziehungserfahrung) gelenkt? Die folgenden Seiten sollen einen knappen Überblick über rezentes Wissen aus der neurobiologischen Grundlagenforschung geben.
1. Genetik und Verhalten Die frühere Sicht der Vererbungslehre war im Prinzip folgende: Der genetische Code ist eine Doppelhelix von Basenpaaren, welche in bestimmter Reihenfolge auftreten und damit die persönlichen (vor allem körperlichen) Merkmale und Eigenschaften eines Menschen bestimmen und festlegen. Veränderungen treten lediglich bei der Zellteilung und dann im Sinne einer Mutation zumeist als potenzielle Pathologie auf. Transgenerationale Gesundheit beschränkte sich in dieser Sichtweise auf die Weitergabe von mehr oder weniger gesunden Genen bzw. Übertragungsfehler oder ungünstige Kombinationen. Neue Erkenntnisse zeigen aber, dass sich der genetische Bauplan viel lebendiger und dynamischer verhält, als früher angenommen. So ist aus Tierexperimenten bekannt, dass Mäuse nach Frühdeprivation (sie werden standardisierte Zeiten von der Mutter separiert und erleben dadurch frühen psychosozialen Stress) eine basale Erhöhung des Stresshormons Cortisol aufweisen. Dies ist eine natürliche biologische Reaktion, welche auch bei Menschenbabys auslösbar und über das Speichelcortisol messbar ist. Wird diese Deprivation chronifiziert (z.B. täglich 20 Minuten über mehrere Wochen), so behalten diese Probandentiere den höheren Stresshormonspiegel ihr ganzes weiteres Leben lang bei. Damit verbunden ist auch eine übermäßige Neigung zu verstärkten Arousalreaktionen (Panikattacken,
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Impulsivität, Irritabilität etc.). Ganz besonders bemerkenswert ist aber, dass dieser erhöhte basale Cortisolspiegel auch in der nächsten Mäusegeneration noch nachweisbar ist, obwohl diese selbst gar keine Deprivationserfahrung gemacht hat! Der entsprechende Modus der gesteigerten Genexpression hat sich offensichtlich vererbt (Francis et al., 1999). Dies bedeutet, dass eine psychosoziale Erfahrung sich innerhalb einer einzigen Generation im genetischen Code etablieren kann. Andere Ergebnisse aus Tierexperimenten zeigen, dass Rattenbabys postpartal eine erhöhte Dichte von Dopaminrezeptoren im Frontalhirn aufweisen, wenn ihre Mütter während der Schwangerschaft wiederkehrende Stresserfahrungen gemacht hatten. Die Folgen sind verstärkte Irritabilität und Schreckhaftigkeit nach der Geburt. Bei Frühadoption dieser Rattenbabys zu nicht gestressten Müttern mit gutem Pflegeverhalten kommt es zur Rückbildung der Veränderungen des Dopaminrezeptors. Eine Sensation in diesem Zusammenhang ist der wissenschaftliche Nachweis, dass „Unterschiede in der Intensität des mütterlichen Pflegeverhaltens zu stabilen Veränderungen in der DNA der kindlichen Gene nach der ersten Lebenswoche führen. Dies hat deutliche Auswirkungen z.B. auf die Stresstoleranz und auf das neuronale Wachstum“ (Weaver et al. 2004). Intrauteriner Stress hat demnach nachhaltige Auswirkungen auf die neuronale Regulation und bis in den genetischen Code, welche durch Frühadaption gemildert werden können. Diese Befunde lassen die Interpretation zu, dass für die Ausprägung von „Verhalten“ letztlich die Aufzuchtmutter entscheidender ist als die genetische Mutter. Interessant sind diese Implikationen z.B. für Störungsbilder wie ADHS, für welches unter anderem eine suboptimale neurobiologische Stressverarbeitung und eine Dopaminmangelhypothese postuliert werden. Weitere Forschungen weisen darüber hinaus auf die Existenz eines „Bindungsgens“ hin, denn ein Fehlen dieses μ-opoid-Rezeptorgens bei Knock-out-Mäusen ergab deutliche Defizite im Bindungsverhalten (Moles 2004). Zusätzlich besitzen Gene eigene „Schalthebel“ – sogenannte Promotor-Gene – welche auf Signale von außen reagieren und die Aktivität der Gene verändern können. Über On- und Off-Regionen werden ganze Programme von Genen an- u. abgestellt. Auch wenn Tierversuche nicht unkritisch auf Menschen übertragen werden dürfen, so liefern sie doch wichtige Hinweise auf mögliche Tendenzen. Man kann annehmen, dass Gehirne nach vergleichbaren Prinzipien funktionieren. All das sind Belege dafür, dass es genetisches „Lernen“ im Sinne der Weitergabe von generationsübergreifendem Wissen gibt, was grundsätzlich ja nicht verwundert und dem evolutionären Anpassungsprozess entspricht. Neu ist allerdings, dass der Modus dieses Lernens nicht wie früher angenommen ausschließlich nach dem Prinzip der Vererbung von „Eigenschaften“ erfolgt, sondern auch einen starken Bezug zu persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen hat. Die genetische Weitergabe von Verhaltensgrundlagen ist demnach viel lebendiger und aktiver orientiert, als dies die Biologie bisher gelehrt hat. Oder wie Prof. Bauer aus Freiburg es bei der Veranstaltung „Synergetik von Psyche und Gehirn“ 2005 in Krems formuliert hat: „Gene sind keine Autisten, welche wie auf Autopilot
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funktionieren. Gene reagieren auf Signale und kommunizieren mit der Umwelt“. Sie können Verhalten sowohl im Individuum als auch über Generationen hinweg bewahren und andererseits aktiv lernen. Auch soziale Erfahrungen etablieren sich im genetischen Code und werden partiell vererbt. Dieser Code ist somit zugleich kollektiver und höchst individueller Bauplan. Er beinhaltet einerseits die gesamte evolutionäre Entwicklung der Spezies „Mensch“, ist anderseits aber auch Träger der unverwechselbaren individuellen Merkmale jedes einzelnen Individuums. Darüber hinaus zeigen Kinder mit ähnlichen genetischen Veränderungen wie z.B. Down-, Fragilem X- oder PraderWilli-Syndrom neben ihren syndromenspezifischen Gemeinsamkeiten oft eine enorme Entwicklungsvariabilität. Jedem dieser Syndrome werden nicht nur besondere körperliche Merkmale sondern auch typische Verhaltensweisen zugeschrieben: Kindern mit Down-Syndrom ihre Freundlichkeit und Neigung zur Nachahmung, Kindern mit Fragilem X-Syndrom die Tendenz zur Hyperaktivität und jenen mit Prader-Willi-Syndrom unbändige Hungerattacken. Dennoch besitzt jedes einzelne dieser Kinder eine eigenständige Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen, die Entwicklungsverläufe sind höchst individuell. Es sind offensichtlich die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Erlebnisse, welche das Repertoire des sozial regulativen oder sozial adaptiven Verhaltens letztlich entscheidend prägen und beeinflussen. Die genetische Ausstattung ist für das gelebte Verhalten keine fixe Vorgabe und nicht einfach „Schicksal“. Die noch relativ junge Disziplin der „Verhaltensphänotypologie“ hat dafür den Begriff „Verhaltenskorridor“ geprägt (Sarimski 2003), welcher einerseits zwar die ungefähre Bandbreite eines möglichen Entwicklungsspektrums deutlich macht, aber auch zeigt, in welch großen Spielräumen sich der Weg des einzelnen Individuums bewegen kann.
2. Neurobiologische Grundlagen und neuronalen Plastizität Die Genetik ist also nicht die einzige Form von pränataler transgenerationaler Informationsweitergabe. Allgemein bekannt ist z.B., dass Kinder die Stimme der Mutter, die von ihr präferierten Gewürze oder ein häufig gesungenes Kinderlied postpartal wieder erkennen. Der „Suchreflex“ bei Säuglingen ist ein aktives, am Geruch orientiertes Suchverhalten mit dem Ziel, etwas bereits intrauterin Vertrautes und Sicherheit Gebendes wieder zu finden. Dies mag vielleicht der neurobiologische Boden für das Gefühl von Urvertrauen sein und führt uns zu weiteren spannenden Fragen: Wie werden Erfahrungen verarbeitet und gespeichert? Wie kommt die Außenwelt in uns hinein? Und wie wird darauf hin die innere Welt generiert, welche wiederum das Verhalten der Außenwelt gegenüber bedingt? Ein aktuelles Schlagwort in der Erforschung der Gehirnfunktionen ist die „neuronale Plastizität“. Frühere Vorstellungen sahen unser Gehirn als Organ, in dem jede spezifische Aufgabe streng an einem bestimmten Ort lokalisiert bzw. repräsentiert ist (z.B. Hirnkarten wie jene von Kleist 1934, wo Hirnverletzungen aus dem 1. Weltkrieg und neurologische Ausfälle korreliert wurden). Diese Vorstel-
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lung wurde mittlerweile abgelöst vom Verständnis eines dynamischen Organs neuronaler Netzwerke. Das menschliche Gehirn besteht im Wesentlichen aus Nervenzellen (Neuronen), den Verbindungen zwischen ihnen (Dendriten) sowie den Stütz- oder Gliazellen. In der 20. Schwangerschaftswoche hat der Mensch die maximale Zahl an Nervenzellen. Bis zur Geburt werden 70–90% (!) dieser Zellen wieder abgebaut. Es gibt also in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft einen enormen Filter, der bestimmt, welche Neuronen letztlich fürs Leben behalten werden und welche nicht. Vermutlich werden aus der riesigen Zahl von phylogenetisch gespeicherten Möglichkeiten nur jene behalten, die für die transgenerationalen Weitergabe „markiert“ worden sind, d.h. evolutionär Sinn machen und solche, die in der Frühschwangerschaft aktiviert wurden. Bei der Geburt sind jedenfalls ca. 1010 Nervenzellen allein im Kortex (Großhirnrinde) vorhanden. Das weitere Wachstum des Gehirns wird vor allem durch die „Verdrahtung“ der Neuronen, d.h. durch die Entstehung neuronaler Netzwerke bedingt. Jede einzelne Nervenzelle kann mit bis zu 10.000 anderen Neuronen Verbindungen eingehen, woraus sich die Anzahl der möglichen Verbindungen mit 1014 (1.000.000.000.000.000) berechnet. Diese Vernetzung und Verdrahtung ist anfangs nur im allernötigsten Ausmaß angelegt und nur lose verbunden. Dadurch ist der menschliche Säugling am Anfang seines Lebens nur mit ganz wenigen Kompetenzen ausgestattet und extrem ohnmächtig. Doch dieser scheinbare evolutionäre Nachteil, der auch zur Bezeichnung „physiologische Frühgeburt“ geführt hat, entpuppt sich später aber als sein großer Vorteil. Er ermöglicht jene unglaubliche Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste Lebens- und Umweltbedingungen. Das Verhalten von Tieren wird oft von nur ganz wenigen Komponenten gesteuert. Kleine Krokodile können von Geburt an schwimmen, fressen und kämpfen; ein Frosch wird immer, wenn er Hunger hat, auf jedes Objekt vor seinem Maul blitzschnell und perfekt von der ersten Stunde seines Lebens an reagieren. Es sind weitgehend vorprogrammierte, instinktgeleitete und im weiteren Leben wenig modifizierbare Verhaltensweisen. Die Entwicklung des Gehirns beim Menschen – und damit die Steuerung des Lernens und Verhaltens – ist hingegen wesentlich komplexer. Sie ist ein nutzungsabhängiger (d.h. erfahrungs- und anwendungsorientierter), sich selbst organisierender und durch die Interaktion mit der Außenwelt gelenkter Prozess. Dieser folgt einigen mittlerweile gut erforschten Prinzipien, welche im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.
Das Prinzip der Nutzungsabhängigkeit In der englischsprachigen Literatur wird dieses neurobiologische Gesetz plakativ mit „use it or loose it“ bezeichnet bzw. „use depended plasticity“ genannt. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Der Homunkulus des prämotorischen Kortex eines neugeborenen Kindes ist in seiner Form kein Zufall oder vorprogrammierter Plan, sondern das Ergebnis des intrauterinen Übens – also vorgeburtlicher
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Erfahrungen. Die Regionen rund um Zunge, Mund und Schlund sind am stärksten ausgeprägt und haben die größten Repräsentanzen, weil sie für das Überleben postpartal umfassend und differenziert funktionieren müssen. Kinder mit einer z.B. fehlenden Extremität bilden hingegen keinerlei neurologische Repräsentanz für dieses fehlende Glied aus. Unser Gehirn ist ein System, welches durch konkrete Erfahrung und Aktivität lernt und sich daran selbst gestaltet. Was hier exemplarisch für die Motorik deutlich gemacht wird, gilt in gleicher Weise für alle anderen Entwicklungsachsen wie die Wahrnehmung (Spitzer 2005) über die geistige bis hin zur Persönlichkeitsentwicklung. Die große Zeit der neuronalen Plastizität beginnt jedoch erst mit der Geburt. Es ist der Zeitpunkt, wo Milliarden Synapsen bereit sind, sich zu verschalten. Es braucht nur noch entsprechende Erregungsmuster, d.h. Erfahrungen und Vorbilder. Es ist ein Prozess, der vermutlich nie abgeschlossen ist, aber zumindest bis zur Pubertät hin langsam eine Hirnregion nach der anderen und zuletzt das Frontalhirn erobert, welches Träger der höchsten geistig-kortikalen Funktionen wie Selbstreflexion und Selbst(wirksamkeits)konzept, Impulssteuerung, IchFunktionen, soziale und emotionale Kompetenz, abstrakte Regelwerke, Moral, etc. ist. Die Aktivität und Struktur des Gehirns (inkl. Zahl und Verdrahtung von Nervenzellen) verändern sich permanent und durch jedes Erlebnis, am allermeisten jedoch durch affektiv involvierte, eigene Aktivität. Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist die Sprachentwicklung. Auf der Erde gibt es etwa 8.000 Sprachen, die allesamt aus ca. 70 lautsprachlich kleinsten Einheiten – den Phonemen – gebildet werden. Ein neugeborenes Kind ist sprachlich ein absoluter Universalist und kann alle Phoneme gleich gut unterscheiden. Im Alter von ca. 10 – 12 Monaten werden allerdings nur mehr die Laute der Muttersprache unterschieden. Eine andere Sprache kann ab dann nur mehr sehr mühsam und mit hohem Aufwand akzentfrei gelernt werden. Für das Ausbilden solch spezifischer neuronaler Verschaltungen gibt es offensichtlich typische Zeitfenster („Entwicklungsfenster“ oder „kritische Phasen“ genannt), was Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen und dem Phänomen der Prägung deutlich gemacht hat. Auch Singvögel kommen z.B. ohne ausgeprägtes Gesangszentrum auf die Welt, und nur wenn der Vater zum richtigen Zeitpunkt engagiert und fröhlich singt, kann auch der Sohn dies erlernen. Es braucht ein aktives Vorbild im richtigen Moment um den prinzipiell ungerichteten Befehl zur Verdrahtung zu lenken. Der Hippocampus (für Orientierung und Ortsgedächtnis zuständigen) von z.B. Sumpfmeisen und Eichhörnchen, die ihre Wintervorräte oft an 10.000 Plätzen verstecken und deren Überleben davon abhängt, dass sie diese wieder finden, ist interessanterweise bei ihrer Geburt ebenso klein wie bei anderen Tieren auch. Im prägenden Zeitfenster, zw. dem 30. und 50. Lebenstag, zeigen sie ein ausgeprägtes Versteckensverhalten und zugleich ein explosionsartiges Wachstum des Hippocampus. Bekommen sie in dieser Zeit ein Nahrungsüberangebot, das nicht versteckt werden kann (z.B. gemahlene Nüsse) dann bleibt der Hippocampus klein und kann nach dem 50. Tag auch bei neuerlicher Gabe von ganzen Nüssen
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nicht mehr aufgebaut werden. Mit der gewachsenen neurologischen Möglichkeit und Kapazität hingegen wird auch das Versteckverhalten immer differenzierter. Es gibt also einen positiven Feedbackmechanismus zwischen passendem Erfahrungsangebot und dem Aufbau neurologischer Kapazität. Was nicht erlebt und nicht erfahren wurde, kann nicht gelernt werden und ist im individuellen neurologischen System nicht repräsentiert. Erfahrung, Gehirnreifung, assoziative neurologische Kapazität und Entwicklung in all ihrer Vielfältigkeit bedingen und verstärken sich gegenseitig.
Das Prinzip von Wachstum und Umbau Derart nutzungsabhängig erfolgen auch andere Wachstums- und Umbauvorgänge im Gehirn: Beim Erlernen der Blindenschrift wächst jenes Areal messbar, das den rechten Zeigefinger im linken somatosensorischen Kortex repräsentiert. Bei Gitarre- oder GeigenspielerInnen wird im entsprechenden rechten Gehirnareal mehr Platz für die Repräsentanz der linken Finger bereitgestellt. Das gilt ebenso für die akustische Landkarte des Trompeters oder je nach Berufsjahren für den Hippocampus von Londons Taxifahrern. Dieser Vorgang ist aber auch in umgekehrter Richtung möglich. Zum Beispiel Bodenwürmer, welche in den Darm ausgewandert und dort zu Bandwürmern geworden sind, hatten plötzlich Nahrung im Überfluss, Wärme, keine natürlichen Feinde, ausreichende Geschlechtspartner – quasi ein Schlaraffenland. Ihr Gehirnäquivalent (das Oberschlundganglion) degenerierte jedoch innerhalb weniger Generationen völlig. Es gibt also ebenso Involution, ein Verkümmern durch Nicht-Benutzen. Erschreckend sind diesbezüglich die frühen Forschungen von Rene Spitz (1946, 1949), welcher aufgezeigt hat, dass chronische Deprivationserfahrung bei Waisenhauskindern ohne jegliche andere Erkrankung zu einem durchschnittlichen IQ von ca. 70, deutlich kleineren Gehirnvolumina, allgemeiner Wachstumsretardierung und schweren Persönlichkeitsentwicklungsstörungen geführt hat. Auf Grund dieser enormen Auswirkungen auf die kognitiven Entwicklung und den allgemeinen Gesundheitszustand wird frühkindliche Deprivation als so genanntes „sequenzielles Trauma“ in ihren Folgen von manchen Experten/innen als schwerwiegender eingestuft als Monotraumata durch Misshandlung oder Missbrauch.
Das Prinzip von Mustererkennung und Antizipation Wiederkehrende Erfahrungen bahnen also neuronale Netzwerke und werden „vom Trampelpfad zum Waldweg, über die Straße bis zur Autobahn“ im Gehirn. Diese Fähigkeit der Musterbildung hat zwei Seiten. Sie macht evolutionsbiologisch Sinn, denn es wäre viel zu aufwendig, jedes mehrmals auftauchende Objekt oder jede wiederkehrende Situation des Lebens neu analysieren und einordnen zu müssen. Es ist manchmal überlebenswichtig, dass Bedrohungen (z.B. das Bild einer Schlange am Waldboden) zu einer immer gleichartig und blitzschnell
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ablaufenden Reaktion führen, noch bevor es kortikal erkannt und verstanden ist. Unser Gehirn codiert und encodiert deshalb nicht analytisch oder sequenziell. Es setzt nicht eine Wahrnehmung Stück für Stück zusammen, um sie schließlich jedes Mal aufs Neue zu „erkennen“, sondern geht den genau umgekehrten Weg und bildet Verallgemeinerungen, Prototypen, Schablonen, etc. – eben Muster, um diese bei Bedarf rasch wiederzuerkennen. So sind Tomaten immer Tomaten und Äpfel eben Äpfel. Es werden nur mehr Abweichungen oder Besonderheiten registriert, das jeweils einzelne Wahrnehmungsbild aber sofort wieder vergessen. Es hätte keinen Sinn, sich im Laufe seines Lebens tausende Tomaten oder Äpfel zu merken. Dieses Prinzip findet sich bereits bei Babys: Wenn ihnen bekannte Muster gezeigt werden, dann sind sie rasch gelangweilt. Es sind hauptsächlich Neuigkeiten und Abweichungen, die Aufmerksamkeit erregen, „bewusst“ wahrgenommen und gespeichert werden (Abb. 1). Luat eienr Stduie der Cambrdige Unievrstiät speilt es kenie Rlloe in welcehr Reiehnfogle die Buhcsrbaen in eniem Wort vorkmomen, die eingzie whcitige Sache ist, dsas der ertse und der lettze Buhcstbae stmimen. Der Rset knan in eienm völilegn Duchrienanedr sein und knan trtozedm prboelmols gelseen wreden. Das ist, wiel das menchsilche Ague nihct jeedn Buhcstbaen liset. Ertsuanlcih, nihct? Zusätzlich denkt das Gehirn jede Aktivität, die wir setzen, voraus. Dadurch kommt es zu einer inneren Vorwegnahme, quasi einem Erahnen von Ereignissen. Menschen können z.B. die Aufmerksamkeit gegen Satzende, wenn der Sinn schon klar erscheint, deutlich geringer halten als zu Satzbeginn. Dies ist wie gesagt vielfach ökonomisch und hilfreich. Die Folge daraus ist aber auch, dass Vorerfahrung und die daraus entstehende Erwartung die Wahrnehmung enorm verzerren können. Wenn sich diese Wahrnehmungslenkung dann noch mit Emotion verbindet, sprechen z.B. die Individualpsychologen von „tendenziöser Apperzeption“. „Wahrnehmung ist mehr als ein bloßer physikalischer Vorgang, sie ist eine seelische Funktion“ (Adler 1927). Unser Handeln orientiert sich nicht daran, wie die Welt objektiv ist, sondern daran, wie wir sie wahrnehmen. Solche einmal gebildete Muster und Überzeugungen („innere Bilder“, Hüther 2005) sind im Laufe des Lebens sehr hartnäckig und nur schwer veränderbar. Bei geringer neuronaler Erregung und wenig Stress sind sie noch relativ flexibel und mit Varianz verwendbar. Je höher jedoch der Stress (d.h. „die Energie im System“) steigt, desto geringer werden die Entscheidungsmöglichkeiten. Bei hoher Anspannung oder Überforderung setzt schließlich ein Notprogramm ein, welches oftmals nur mehr eine einzige spezifische Reaktion zulässt.
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Das Prinzip der dialogischen und interaktiven Gehirn-Entwicklung Wie kommen diese „Muster“ aber nun hinein in unser Gehirn? Wie ist der Weg von der Wahrnehmung der äußeren Welt zur Entstehung innerer Bilder? Wie kommt es zur Ausbildung von Innenrepräsentanzen? Dies erklärt sich durch die so genannten Spiegelneurone (Bauer 2005). Wenn eine Person eine Bewegung ausführt und eine andere ihr dabei zusieht, so ist nachweisbar (etwa mittels funktionellem MRI), dass bei beiden Personen nahezu dieselben Hirnareale aktiv sind. Spiegelneuronen bilden ein neuronales System, das die Außenwelt vollkommen automatisch in uns abbildet, ohne dass wir diese extra analysieren müssten. Dies bietet sich als Erklärung für das bereits früh auslösbare Imitationsverhalten von Säuglingen (z.B. Zunge herausstrecken und grimassieren), für die ansteckende Wirkung des Gähnens oder für die Erfolge des mentalen Trainings von Spitzensportlern an. Besonders gut funktioniert diese Fähigkeit im Kontext von Beziehungen. So ist es vermutlich dasselbe System, das Empathie ermöglicht und hilft, interaktive Fähigkeiten des Dialogs auszubilden. Es befähigt, die Stimmung eines anderen aus einer Fülle kleiner Zeichen wie Mimik und Haltung zu erahnen und mehr oder weniger angemessen darauf zu reagieren, bis hin zur professionellen Nutzung bei den psychotherapeutischen Techniken der analytischen Deutung sowie der Übertragung und Gegenübertragung. So ist auch verstehbar, in welcher Weise der Säugling die Affekte und Ressourcen der Bezugspersonen erspüren und ein Bindungssystem aufbauen kann – und umgekehrt. Spiegelneuronen ermöglichen Internalisierung und bilden somit den Kern des am Vorbild orientierten, transgenerationalen Lernens!
Das Prinzip der Selbstorganisation (Synergetik) Das bisher Gesagte klingt möglicherweise sehr deterministisch, so als ob der Mensch lediglich einfacher Umweltimitation und -reaktion unterliegt. Doch das menschliche Gehirn ist keine fix determinierte „Hardware“, sondern ein sich selbst organisierendes Organ. Es werden im Laufe des Lebens zwar Muster entwickelt, welche sich als Handlungsanleitungen für verschiedene Situationen als sinnvolle oder notwendige Überlebensreaktionen herausstellen. Doch grundsätzlich ist das Gehirn nicht deterministisch aufgebaut, was vor allem für das Verständnis des freien Willens ein entscheidender Faktor ist. In jedem situativen Grundmuster gibt es eine Menge von Wahlmöglichkeiten, sofern diese über die Großhirnrinde verschaltet sind (vgl. Kap. Trauma). Dies bestätigt die Beobachtung, dass der emotional gesunde und affektiv nicht eingeengte Mensch daran erkennbar ist, dass er frei zum „So-oder-anders-Handeln“ ist.
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Um das Prinzip der Selbstorganisation zu beschreiben bedarf es einer Anleihe aus der Physik. Prof. Haken hat in den 80er-Jahren hierfür den Begriff der Synergetik geprägt und in die Neurowissenschaften eingebracht. Die Synergetik beschreibt das Funktionieren von nicht linearen, komplexen Systemen mit vielerlei Einflussgrößen und Ebenen. Ein Bild dafür ist das Fließen von Wasser eines Baches, welches – wenn es auf einen Brückenpfeiler oder Stein trifft – geteilt wird und sich mit verschiedensten Formen, in Strudeln oder brechend, eine neue Ordnung sucht. Es werden jedes Mal neue, nicht vorhersehbare und doch unzweifelhaft Muster einer in sich geschlossenen Ordnung produziert. Diese Muster sind zwar abhängig von Umwelteinflüssen (z.B. der Beschaffenheit des Untergrunds, der Temperatur oder der Fließgeschwindigkeit des Wassers etc.), folgen aber innerhalb dieses Rahmens einem kreativen und völlig selbstorganisierenden Prozess, in dem es viele Variationen geben kann. Nicht-Vorhersehbares und NichtPlanbares passiert und die „Entscheidung“ darüber, wie das System auf eine Anforderung oder Veränderung der Umwelt reagiert, trifft es im Rahmen der vielen theoretischen Möglichkeiten selbst. Auch Schwarmregeln von z.B. Vögeln oder Fischen dürften in ähnlicher Weise funktionieren. Doch wie kommt trotz allem eine sinnvolle Ordnung zustande? Wodurch wird verhindert, dass totales Chaos herrscht und das Gesamtsystem von unvorhersehbaren Reaktionen bestimmt wird? Hierfür beschreibt die Synergetik das z.B. beim Laser erforschte Konzept des „Ordners“. Stellen Sie sich vor, Sie werfen eine Handvoll Kieselsteine in einen Behälter voll Wasser. Ein solches Chaos von Wellenlängen herrscht auch bei der Entstehung von Laserlicht in einer Röhre mit Spiegeln an jedem Ende. Steigert man dann die Energiezufuhr über eine kritische Größe, verändert sich das Verhalten der Wellen schlagartig: Es entsteht ein hoch geordnetes Licht. In solchen Systemen kommt es zwischen den Wellen zu dynamischen Konkurrenzverhältnissen, wobei die „Stärkere“ schließlich gewinnt. Dieser „Ordner“ bringt nun immer mehr Wellen unter seinen Rhythmus und verbreitet bzw. vergrößert sich dadurch. In der Physik spricht man davon, dass der Ordner die anderen Elemente „versklavt“, welche dadurch wiederum den Ordner phasengerecht verstärken. Dies entspricht vermutlich dem Prozess in einem Menschen, der in einer Situation von einer Vielzahl von Impulsen und Bedürfnissen hin und her gerissen ist. In einem Zustand von niedriger affektiver bzw. situativer Energie ist er grundsätzlich zu vielen verschiedenen Entscheidungen fähig. Wenn die Energie bzw. der Druck (Angst, Zorn, Schuld o.ä.) jedoch steigt, dann werden die frei entscheidbaren Möglichkeiten immer weniger, der Spielraum wird enger. Wird eine „kritische Größe“ überstiegen, dann bleibt oft nur mehr eine letzte, schablonenhafte Reaktionsweise: der stärkste „Ordner“, die „Autobahn im Gehirn“ gewinnt. Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen den synergetischen Effekten physikalischer und human-biologischer Art: Der Fluss kann sich nichts merken! Seine Ordnung wird jedes Mal quasi aufs Neue erfunden und durch Zufall gestaltet. Der Mensch hingegen lernt und kann zukünftige Ordnungen
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beeinflussen. Im Modus neuronaler Netzwerke bedeutet Lernen, dass sich über Aktionspotentiale und Synapsenstärken Muster stabilisieren, sodass bei ähnlichen Situationen die gewohnten „Ordner“ rascher aktiviert werden. Ein einmal etabliertes und auf dem persönlichen Hintergrund höchst individuell geprägtes Muster ist langfristig enorm stabil. Vielleicht lässt sich so die Entstehung von Vertrautem und Gewohnheiten, von einer immer ähnlichen Partnerwahl bis hin zum Wiederholungszwang, verstehen.
Das Prinzip der neurohumoralen Steuerung: Motivations- und Aversionssysteme Lernen ist grundsätzlich ein durch Motive gelenktes System. Es wird vor allem dann gelernt, wenn eine Erfahrung im Unterschied zur Erwartung steht und diese sich an einem bereits bekannten Muster orientieren kann. Besonders gut gelernt wird etwas, wenn es zu einem echten „Wow“-Gefühl führt, also wenn etwas richtig „unter die Haut geht“. Dadurch können sich auch einmalige Erlebnisse tief einprägen. Die Effektstärke des Lernaktes (gleichsam der „Kitt“ zwischen den Synapsen) wird durch die affektive Besetzung – neurobiologisch formuliert: durch die Ausschüttung von entsprechenden Hormonen – bestimmt. Der Lernerfolg (Stolz, Zufriedenheit, Freude, Entspannung, etc.) bildet wiederum den Boden für die weitere Stabilisierung von Verdrahtungen und stimuliert neues neuronales Wachstum. Für das transgenerationale Lernen hat dies eine eminente Bedeutung. Erfahrungen wie erfolgreich, geliebt, kompetent oder etwas Besonderes zu sein, werden durch einen ganzen Cocktail von Botenstoffen vermittelt und belohnt. Interessanterweise ist der neurohumorale Effekt, der durch gute, zwischenmenschliche Beziehung (vermittelt z.B. durch einen freundlichen Blick) ausgelöst wird, vergleichbar mit jenem, der sich für eine/n Süchtige/n durch das Rauchen einer Zigarette aktiviert. Beides wird zumindest durch die gleichen hormoneller Achse, durch Botenstoffe im so genannten Belohnungssystem vermittelt. Alle Komponenten der „Stresshormonachse“ hingegen beeinflussen die Entwicklung und Reifung des Gehirns negativ. Sie destabilisieren neuronale Verbindungen, führen zum Zellabbau und hemmen die Lernmöglichkeiten erheblich. Reizüberflutung und frühkindliche psychosoziale Stressbelastungen können ein noch unreifes Gehirn überstimulieren und überfordern. Stresshormone führen zu „Chaos“ im Frontalhirn (zuständig für Antrieb, Impulskontrolle und Handlungsplanung) und „dann gerät das Kind in einen Teufelskreis aus überstark entwickeltem Antriebssystem und unzureichend entwickelter Impulskontrolle“ (Hüther 2005). Der Einfluss von Medikamenten kann hierbei neurobiologisch eine regulierende Wirkung haben. Ohne Zweifel ist es für betroffene Menschen enorm hilfreich zur Bewältigung ihres Alltags und zur Steigerung ihrer Lebensqualität, wenn z.B. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer weniger Überflutung oder leichtere Distan-
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zierung von Angst ermöglichen, oder wenn durch Methylphenidat weniger Erregbarkeit erreicht wird. Einige Grundlagenforscher (vgl. Spitzer 2002) geben jedoch zu bedenken, dass das Gehirn unter diesen Bedingungen nur wenig im oben ausgeführten Sinn „lernt“, weil es keine selbstorganisierenden neuen synaptischen Verschaltungen sucht bzw. bildet. Nachhaltig gelernt wird am besten über korrigierende emotionale Erfahrungen, weil diese eine Neubewertung von wiederkehrenden Schemata und den Aufbau neuer Muster ermöglichen. Im affektiv korrigierenden Übungs- und Wiederholungsaspekt liegt möglicherweise auch die Wirksamkeitserklärung für die lerntheoretischen Konzepte in der Psychotherapie. Nachhaltige Veränderung passiert jedenfalls kaum jemals nur durch Einsicht! Neujahrsvorsätze haben keine lange Halbwertszeit und sind rasch vergessen. Dies passiert zumeist aber nicht, weil ein echter Widerstand gegen das vorgenommene Ziel vorliegt oder weil jene Menschen es nicht wirklich erreichen wollen. Kognitive Inputs alleine können neue Muster nicht tief genug prägen und neu strukturieren. Neues Verhalten muss (korrigierend) erfahren und erlebt werden, um sich zu verankern. In diesem ersten Teil des Beitrags wurde also auf dem Hintergrund der neurobiologischen Grundlagenforschung beschrieben, welche Fähigkeiten der Mensch zur Verfügung hat und welche Modi Genetik, Gehirn und hormonelle Steuerung benutzen können um die Anforderungen des Lebens zu bewältigen. Der wesentlich prägende Faktor bleibt aber das reale Alltagserleben von Kindern und deren Möglichkeit Erfahrungen einer guten und gesunden Lebensführung zu machen. Diese zentrale Prämisse der transgenerationalen Gesundheitsförderung wird nunmehr im nächsten Kapitel beleuchtet.
2. Das Bindungssystem Die wohl wichtigste bio-psycho-soziale Verbindung zwischen den Generationen ist das Bindungssystem. Nach Bowlby (1975) stellt es ein primäres, genetisch verankertes, motivationales System dar, das zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat. Kinder werden also mit einem angeborenen Bedürfnis nach Bindung geboren. Durch Angst und Trennung (z.B. wenn der Säugling sich verlassen fühlt, unbekannte Situationen oder fremde Menschen als bedrohlich erlebt, an körperlichen Schmerzen leidet oder sich von inneren Regungen überwältigt fühlt) wird das Bindungssystem und entsprechende Verhaltensweisen (Weinen, Klammern) aktiviert. Durch körperliche Nähe und affektive Resonanz der Bindungsperson wird das Bindungsbedürfnis bzw. die Stressreaktion wieder beruhigt. Die primäre Bindungsperson wird der sichere emotionale Hafen für den Säugling.
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Dem Bindungssystem der Kinder steht das Pflegesystem der Erwachsenen gegenüber; beide ergänzen sich wechselseitig. Auch das Pflegesystem ist tief biologisch verwurzelt, was man an vielen physiologischen Reaktionen der Bindungsperson (Aktivierung vegetativer Systeme beim Schreien des Säuglings, Hormonausschüttung etc.) beobachten kann. Diese emotionale Bindung ist der Schlüssel zum Funktionieren von Elternschaft und zum körperlichen und psychischen Überleben des Säuglings. Wen der Säugling als Bindungsperson auswählt und wie gut die Bindungsqualität ist, das entscheidet die Feinfühligkeit in der Interaktion. Feinfühligkeit in diesem Zusammenhang bedeutet, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und angemessen und prompt zu reagieren (Ainsworth 1977, Brisch 2002). Dies geschieht unzählige Male im lebenspraktischen Alltag der Säuglingspflege, wobei zu jenen Bezugspersonen eine sichere Bindung entwickelt wird, die im Pflegeverhalten seine Bedürfnisse feinfühlig zu regulieren und zu befriedigen verstehen. Die zentralen Beziehungsregulatoren hierfür sind Wärme, Rhythmus, Konstanz und Resonanz (Vavrik 2007). Gelingt Bindung in einer konstanten und Sicherheit gebenden Art und Weise, dann kann aus dieser äußeren Balanciertheit und Geborgenheit das innere Selbst- und Weltbild einer „sicheren Bindung“ entstehen. Werden hingegen die Bedürfnisse in der Interaktion mit der Bezugsperson unzureichend, qualitativ unpassend oder inkonsistent beantwortet, dann entwickelt sich häufig eine „unsichere Bindungsbeziehung“. Dies ist ein interaktiver, sich im günstigen wie ungünstigsten Fall wechselseitig verstärkender Prozess. Das Bindungsbedürfnis des Kindes steht auch in wechselseitiger Abhängigkeit mit seinem Erkundungsbedürfnis. Wenn das Bindungsbedürfnis hinreichend erfüllt ist, kann der Säugling die Umwelt erkunden. Andernfalls ist er zu sehr damit beschäftigt, Sicherheit herzustellen. Eine sichere Bindung ist somit Voraussetzung dafür, dass ein Kind seine Umgebung lebendig erforschen und sich selbst effektiv und handelnd erfahren kann. Die biologische Bedeutung des Bindungssystems ist neben der Sicherung des Überlebens auch jene, ein affektives inneres Regulationssystems aufzubauen. Am Anfang des Lebens ist für den Säugling jedes Erleben gepaart mit großer Erregung (hohes Stressniveau, geringe Differenzierung). Das Erleben von Feinfühligkeit, Empathie, Containing und Dialog vermittelt die Erfahrung von Urvertrauen („sicherer Hafen“), Affektdifferenzierung („Ich kann Gefühle erkennen und unterscheiden.“), Affektregulation („Ich kann meine Gefühle steuern“) und Affektabstimmung („Ich kann Gefühle zeigen und mit der Umwelt kommunizieren“) (Vavrik 2007). Für solche Lernprozesse (vgl. Kernstock-Redl 2007) legt die frühe Bindungserfahrung den Grundstein. Sichere Bindung bedeutet also für das weitere Leben einen Schutzfaktor bei Belastungen und mehr Bewältigungsmöglichkeiten von inneren und äußern Stresszuständen. Kinder mit einer solchen Grunderfahrung werden schneller und
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beständiger zu selbstständigen und autonomen Persönlichkeiten (Typ „mastery“). Sie können sich leichter Hilfe holen, zeigen mehr gemeinschaftliches Verhalten, mehr Einfühlungsvermögen in andere Menschen, mehr Beziehungsfähigkeit, mehr Kreativität, Flexibilität und Ausdauer sowie bessere Gedächtnisleistungen und besseres Lernen. Alle diese Faktoren haben direkte Auswirkung auf die kindliche Gesundheit. Unsichere Bindungserfahrungen hingegen sind ein Risikofaktor bei späteren Belastungssituationen. Kinder mit unsicheren, das heißt distanzierten oder verstrickten Beziehungsmustern, haben vermehrt Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung (Typ „helplessnes“). Sie zeigen weniger Bewältigungsmöglichkeiten, einsameres Problemlösungsverhalten, vermehrt Rückzug aus gemeinschaftlichen Aktivitäten, weniger Beziehungen und weniger prosoziale Verhaltensweisen, mehr Rigidität im Denken und Handeln und schlechtere Gedächtnisleistungen und Lernen. Die individuelle Bindungserfahrung und der daraus entwickelte Bindungsstil ist also eine frühe und – wie aus neurobiologischer Sicht ausgeführt – grundlegende Matrix für den weiteren Weltbezug und die Fähigkeit der Selbstregulation. Sie kann als Risiko- oder Schutzfaktor für das ganze restliche Leben gewertet werden (Brisch 2003), insbesondere für das Verhalten in sozialen Situationen sowie beim besonders gesundheitsrelevanten Thema der Selbstfürsorge.
3. Trauma und seine transgenerationalen Auswirkungen Außerordentlich schwerwiegende und negative Folgen auf neuronale Strukturen und die Bindungssicherheit und damit auch auf die Entwicklung von Selbstwert und Selbstwirksamkeitsgefühl werden durch eine (frühkindliche) emotionale Traumatisierung erzeugt. Ein Psychotrauma ist lt. Definition von Riedesser (2003) ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt. Es ist eine Situation von existentieller Bedrohung mit einer Heftigkeit und Intensität, welche die persönlichen Anpassungs- und Bewältigungsmöglichkeiten völlig übersteigt und intensives Erleben von Angst, Schmerz und Panik, Entsetzen, Verzweiflung, Überwältigung, Ohnmacht oder Ausgeliefertsein bewirkt. Ein solches Erlebnis führt zu einer Überstimulierung der Sinne (z. B: Schmerz), zur Überforderung des Denkens (nicht begreifen Können der Dimension einer Naturkatastrophe oder eines Missbrauchs durch einen Angehörigen etc.) und zu Überflutung durch negative Emotionen. All das löst extremen biologischen Stress und neurobiologische Notprogramme aus. Hilflosigkeit, Selbstkontrollverlust, Verlust des „sicheren inneren Hafens“ und damit der gesicherten emotionalen Basis der Persönlichkeit können weitere
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Folgen sein und führen dazu, dass eine traumatische Erfahrung von betroffenen Menschen als verheerend und katastrophal erlebt wird. Danach ist für viele „nichts mehr so, wie es einmal war“.
Abb. 1
Eine derartige Erfahrung kann sowohl Opfer als auch Zeugen betreffen, die Katastrophen jedweder Art erleben mussten. Dazu gehören Angriffe auf Leib und Leben und Bedrohung der emotionalen oder sozialen Existenz wie sexueller Missbrauch, Vergewaltigung, Folter, Kidnapping, Kriegshandlungen, Naturkatastrophen, schwere Unfälle und auch medizinische Eingriffe sowie plötzlicher Verlust von sozialer Sicherheit oder vertrauten Menschen. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen sind traumatische Reaktionen aber auch auf heftiges Erschrecken, Demütigung und Beschämung, psychischen oder sozialen Verrat, große Schuld, Hilflosigkeit und tiefe Verunsicherung möglich, wenn diese Situationen mit überflutenden Emotionen und Unausweichlichkeit verbunden sind. In der neuronalen Verarbeitung folgen Psychotraumata nicht den oben beschriebenen Regeln des Lernens im Sinne der Bildung komplexer kortikaler Muster. Ganz im Gegenteil: es werden Sinneseindrücke des schrecklichen Erlebens „wie ein zersplitterter Spiegel“ in Einzelteile aufgespaltet. Die auf solche Art fraktionierten Inhalte werden v.a. im impliziten Gedächtnis rechtskortikal (= „unfassbar“, sprachlos) gespeichert. Das Gehirn versucht der Überflutung z.T. dadurch zu entgehen, dass es den Notmechanismus der Dissoziation einsetzt, bei welcher
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die bewusste Wahrnehmung verhindert oder verzerrt wird. Belastende Erinnerungsfragmente können durch Hinweisreize (sogenannte Trigger wie z.B. ein zum damaligen Trauma gehöriges Geräusch, ein bestimmter Blick etc.) immer wieder auch in real völlig „harmlosen“ Situationen ausgelöst werden. Das kann zu Überflutungszuständen bis hin zu Flash-backs mit Angst- und Panikattacken oder heftigen aggressiven Reaktionen führen, welche für die Umgebung und zumeist auch für den Betroffenen selbst situativ vollkommen unpassend und unverständlich bleiben. Die Bruchstücke des traumatischen Erlebnisses sind einer späteren kognitiven Bearbeitung kaum zugänglich und behalten oftmals auch noch nach Jahren ihre ursprüngliche Erlebnisqualität bei. Zusätzlich hält bei vielen Traumatisierten die akute Stressreaktion an und wird zu einem chronischen Hyperarousal. Eine Vielzahl sozial störender Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen wie Unruheverhalten, Störungen der Impulskontrolle, Aggressionsdurchbrüche, Davon-Laufen, Lügen, dissoziative Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörungen, Selbstverletzung und Sucht, Somatisierungen, u.v.a.m. sind häufig als Traumafolgestörungen zu sehen. Treffen schwere oder sequenzielle Traumatisierungen auf ein noch unreifes Gehirn, so strukturiert sich dieses als gesamtes „traumatoplastisch“ (Besser 2006). Ein noch in der Ausformung begriffenes Gehirn automatisiert Überlebensreaktionen wie z.B. ein schnelles Anfluten von Erregung und Angst (= Stressreaktion mit Flucht- oder Kampfimpulsen) und Dissoziation (= Notmechanismus des „Abschaltens“ und der Wahrnehmungsverzerrung). Darauf greift es später reflexartig oft schon bei kleinen alltäglichen Anlässen zurück. Hinter Bindungsstörungen und ihren emotionalen Folgen können (unverarbeitete) Traumatisierungen von Kind und/oder Eltern stehen: sequenziell unausweichliche Frustrationen oder extreme Ereignisse, wie sexuelle oder körperliche Gewalt, massive Vernachlässigung, häufig wechselnde Bezugssysteme, multiple Trennungen oder Verlusterlebnisse. Traumareaktionen betreffen in erster Linie die traumatisierte Person selbst, haben in der Regel aber auch transgenerationale Auswirkungen: Das Nähesuchen des Säuglings in der Nacht könnte für eine Mutter die unbewusste Erinnerung an einen sexuellen Übergriff und damit eine heftig aversive Reaktion auslösen, ohne dass ihr selbst dieser Zusammenhang verstehbar ist. Das Weinen eines Kindes könnte in einem Vater Erinnerungen an ehemalige Misshandlungen seiner selbst oder von Geschwisterkindern auslösen. Hoher Stress wäre die Folge und führt zu dem Wunsch, dieses Weinen ganz schnell beenden zu wollen. Daraus kann z.B. extreme Verwöhnung, aber auch neuerliche Misshandlung der nächsten Generation entstehen. Diese Vorgänge beruhen in solchen Fällen auf unbewussten Notprogrammen und müssen von den Betroffenen in ihrer Ursache verstanden werden, um gesteuert und verhindert werden zu können. Erst wenn die versprengten Fragmente aus den verschiedenen „Gedächtnis-Ebenen“ zusammen mit der unspezifischen Erregung in Verbindung gebracht werden, können sie als komplexe Erinnerung abgespeichert und einer weiteren prozesshaften Bearbeitung zugänglich gemacht werden.
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Andernfalls werden solche Traumatisierungen transgenerational enorm wirksam: das Trauma schädigt direkt oder wird reinszeniert und wiederholt sich.
4. Bindungsrepräsentation und Gesundheitsverhalten – Transgenerationale Chance Die Folgen des Wissens aus all diesen Teilbereichen sind weit reichend. Die Erfahrungen aus frühen Bindungsbeziehungen beeinflussen die weitere Lebensgestaltung nicht nur auf einem emotionalen Niveau, sondern bis tief hinein in die Entwicklungs- und Regulationsvorgänge des Gehirns, der hormonellen Steuerung und des genetischen Codes. Dies betrifft die grundlegenden Fähigkeiten vegetativer und kognitiver Stressverarbeitung, also Belastungen und Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Dazu gehört weiters das ganz konkrete Erlernen bzw. Entwickeln von Lebensstil, Vorlieben, Eigenschaften, etc., kurzum von Gewohnheiten und Persönlichkeitsentwicklung in umfassendem Sinn. Desorganisierte Bindungsmuster bzw. Bindungsstörungen mit dem emotionalen Ballast von ungelösten Traumata im Hintergrund bedingen oft ein Scheitern in den grundsätzlichen Lebenszielen wie gute Beziehungen, sichere Arbeitsstrukturen, gesunde Lebensführung oder persönliches Glück. Die über neuro-psychologische Mechanismen mit Bindung und Trauma verbundenen Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen sind mannigfaltig. Die Bandbreite reicht von Selbstregulationsstörungen wie frühkindliche Interaktionsstörungen (Fütter-, Schlaf-, Schreiprobleme) und Unruheverhalten (z.B. ADHS), Störungen der Affektregulation (Angst, Zwang, Depression) und des Sozialverhaltens über Probleme im Bereich Lernen und Gedächtnis bis hin zu Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, Borderline-Entwicklung, Suchtverhalten und dissoziativen Störungen. Etwa 15% aller Jugendlichen in Industriestaaten werden heute als psychiatrisch auffällig bezeichnet (Ziegert 2002). Aber auch eine Vielzahl der als somatische Stressfolge- oder Lebensstilerkrankungen gewerteten Krankheitsbilder wie Hypertonie, Fehlernährung mit allen Stoffwechselfolgen wie z.B. Adipositas und Diabetes, Magen-Darmerkrankungen, Bewegungsmangel etc. bis ins Erwachsenenalter hinein, müssen vermehrt im Zusammenhang mit Bindung und Trauma gesehen werden. Die Folgen für das Individuum selbst sind weit reichend. Der Verlust oder Gewinn für die Gesellschaft, also für das, was Prof. Gehmacher „Sozialkapital“ 1 (2006) nennt, ist dabei noch gar nicht beachtet. Wissenschaftliche Arbeiten bestätigen eindrucksvoll diese Annahmen, indem sie z.B. transgenerationale Depressions- und Angsterkrankungsraten von ca. 60% aufzeigen und eine deutliche Reduktion der kindlichen Psychopathologien bei erfolgreicher Behandlung der Mutter bzw. ein Ansteigen dieser Rate bei Scheitern der mütterlichen Behandlung ausweisen (Weissman et al., 2005 u. 2006).
_____________ 1 www.oecd.org/dataoecd/2/33/2380903.pdf; www.socialcap.at/download/Jugend_ ohne_SozialkapitalKim71026.pdf
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5. Resümee Die konkreten v.a. psychosozialen Umweltbedingungen – und innerhalb derer im Besonderen die Elternschaft – haben eine eindeutige Schlüsselfunktion bezüglich der Entwicklung von Lebensstil und (Gesundheits-)Verhalten. Transgenerationales Lernen ist somit der Boden für die Ausbildung von Schutz- oder Risikofaktoren sowie von Resilienz oder Vulnerabilität der Persönlichkeit (Resch 1996, Welter-Enderlin 2006). In der Diktion der Gesundheitsförderung wird dieses Wissen in Begriffen wie „Settingansatz“ oder „Verhältnisprävention“ transportiert (vgl. Ottawa Charta 1986, www.fgoe.org). Insbesondere die pränatale und frühkindliche Bindungsentwicklung sowie die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse sind wesentliche Determinanten späterer Gesundheit. Alles, was Elternschaft unterstützt und stärkt, hat somit direkte Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus der nächsten Generation. Es wäre vermessen zu glauben, mit Hilfe dieses Wissens nun die Menschheit „im Grundsätzlichen“ ändern zu können. Möglich ist es aber, die Aufmerksamkeit und Mittel für Gesundheitsmaßnahmen diesem Wissen entsprechend zu lenken. Es braucht hierfür eine Kindergesundheits- und Generationenpolitik mit nachhaltiger Public-Health-Verantwortung, welche sich als Querschnittsmaterie über alle Ressorts, insbesondere Gesundheit, Bildung und Soziales, versteht. Und es braucht – entsprechend dem Wissen über die enorme Anpassungsfähigkeit von Kindern – ein stetes Überprüfen und Gestalten unserer gesellschaftlichen Bedingungen und des Lebensstils auf ihre Kindgerechtheit (z.B. eine „Kinderverträglichkeitsprüfung“ aller gesetzlichen Maßnahmen ähnlich der Umweltverträglichkeitsprüfung). Dies sind langfristige und programmatische Pläne. Kurzfristiger könnten und sollten folgende Ziele erreicht werden, für die es konkrete Maßnahmen zu setzen gilt: 1.
Kinder- und Jugendlichengesundheit muss politisch priorisiert und die Betroffenen müssen als eine mit allen notwendigen Mitteln in ihrer Gesundheit zu unterstützende Zielgruppe erkannt werden (z.B. vermehrte Finanzierung von Gesundheitsförderungsprogrammen für Kinder und Jugendliche, keine Selbstbehalte bei Kinder- und Jugendlichentherapien etc.)
2.
Der Fokus von Diagnostik, Therapie und Gesundheitsförderung soll vermehrt auch auf die psychosozialen Belastungsfaktoren der Elternwelt gerichtet bzw. darum erweitert werden. Maßnahmen hierfür wären z.B. o o
Behandlungsfinanzierung nicht nur des kindlichen Indexpatienten, sondern auch von Eltern-Mitbetreuung Programme, welche Stressreduktion und Stressmanagement der Eltern zum Ziel haben und damit die Lebens- und Lernfelder der Kinder positiv verändern und einen kindgerechten Lebensstil fördern
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Unterstützung von Eltern in Zwangs- oder Notlagen (Existenzsorgen, Paarkrisen, Gewalt etc.), um unkontrollierbare und für das Kind nachteilige Stress- und Überforderungssituationen zu verhindern, aber auch rascher Einsatz von nachhaltigen familienunterstützenden oder -ersetzenden Angeboten, wenn die elterlichen Möglichkeiten erschöpft sind und diese für das Kindeswohl notwendig erscheinen Ressourcen und Responsivität sowohl in Elternschaft (z.B. SAFEProgramme 2 , Brisch 2007) als auch in Betreuungssystemen (Kindergarten, Schule, etc.) stärken
Alle diese Maßnahmen sollten aus Gründen der Ökonomie und der Wirksamkeit so früh wie möglich einsetzen. Dem Philosophen Hans Jonas ist es gelungen diese gesamte Thematik in einen Satz zu fangen: „Wie wir mit den Kindern heute umgehen – das wird die Welt von morgen prägen.“
Literatur Adler A. (1966 Lizenzausgabe) Menschenkenntnis. Fischer TB, Frankfurt am Main Ainsworth M.D.S. (1977) Feinfühligkeit versus Unempfindlichkeit gegenüber Signalen des Babys. In: Grossmann K.E. (Hrsg.) Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt: Geist und Psyche. Kindler, München Bauer J. (2005) Warum ich fühle was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hoffmann und Campe, Hamburg, München Bowlby J. (1975) Bindung: eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Kindler, München Besser L. (2006) Curriculum Psychotraumatologie, ZAP-Wien Brisch K.H. et al. (Hrsg.) (2002) Bindung und seelische Entwicklungswege. Klett-Cotta, Stuttgart Brisch K.H., Hellbrügge T. (Hrsg.) (2003) Bindung und Trauma, Risiko- und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Klett-Cotta, Stuttgart Brisch K.H. (2007) Unterbrechung der transgenerationalen Weitergabe von Gewalt: Primäre Prävention durch SAFE-Sichere Ausbildung für Eltern. Psych. in Österr. Vol 1:62-68 Francis D. et al. (1999) Nongenomic Transmission Across Generations of Maternal Behavior and Stress Responses in the Rat. Science, Vol 286: 1155-8 Gehmacher E. et al. (Hrsg.) (2006) Sozialkapital – neue Zugänge zu gesellschaftlichen Kräften. Mandelbaum Verlag Wien _____________ 2
www.hauner.klinikum.uni-muenchen.de/download/SAFE13.pdf
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Haken H., Schiepek G. (2005) Synergetik in der Psychologie. Hogrefe, Göttingen Hüther G. (2005) Die Macht der inneren Bilder. Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen Hüther G. (2005) ADHS – Abschied vom alten neurobiologischen Modell. Ars Medici 17:776-82 Kernstock-Redl H. (2007) Wie kommt der Zornaffe von der Palme. G&G, Wien Moles A. et al. (2004) Deficit in Attachement Behavior in Mice lacking the μopoid Receptorgene. Science, Vol 304: 1983-6 Resch F. (1996) Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters. Beltz, Weinheim Riedesser P. (2003) Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB, Stuttgart Spitz R.A. (1946) Anaclitic depression: an inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early childhood. The Psychoanalytic Study of the Child, 1, 4753 Spitz R.A., Wolf K.M. (1948) Somatic Consequences of Eotional Starvation in Infants (Somatische Folgen emotionaler Deprivation bei Säuglingen) Film W 624 des IWF Spitzer M. (2002) Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum, Heidelberg, Berlin Vavrik K. (2007) Pränatale und frühkindliche Entwicklung als soziale Determinante der Gesundheit. Vortrag auf der 9. Präventionstagung des Fonds Gesundes Österreich, „Soziale Ungleichheit und Gesundheit“, Wien Vavrik K. (2007) Traumaverarbeitung und Persönlichkeitsentwicklung. Vortrag auf der Jahrestagung der Öster. Ges. f. Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Salzburg Weaver I.C. et al. (2004) Epigenetic programming by maternal behavior. Nat Neuroscience Vol 7(8): 847-54 Weissmann M. et al. (2005) Families at High and Low Risk for Depression. Arch.Gen.Psy. Vol. 62: 29-36 Weissmann M. et al. (2006) Remissions in Maternal Depression and Child Psychopathology. JAMA Vol 295, No. 12: 1389-1398 Weissmann M. et al. (2006) Offspring of Depressed Parents: 20 Years Later. Am. J. Psych. 163: 1001-1008 Welter-Enderlin R., Hildenbrand B. (2006) Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl-Auer, Heidelberg Ziegert B. et al. (2002) Psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in der allgemeinärztlichen Praxis. Dtsch Ärztebl 99(43)
Sozialpädiatrie und Ökonomie Christian Popow Rechnet sich Sozialpädiatrie? Was sind die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen von Sozialfürsorge und Sozialpädiatrie? Wie sind die langfristigen Effekte sozialpädiatrischer bzw. sozialpädopsychiatrischer Maßnahmen, die Auswirkungen auf das Lebenswertschöpfungspotenzial, die ökonomische Relevanz von Präventionsmaßnahmen? Welche Bedeutung haben monetaristische Theorien für die Sozialpädiatrie?
I. Thesen Die monetaristische Wirtschaftspolitik insbesondere der letzten Jahre ist verantwortlich: für den Sozialabbau und die Zunahme armer und ausgegrenzter Menschen in Österreich für die Verschlechterung der Zukunftschancen sozial benachteiligter und psychisch kranker Kinder und für die ungerechte Verteilung von Gesundheits- und Bildungschancen. Sie ist mit verantwortlich für die Verschlechterung familiärer Probleme und die Zunahme von Delinquenz und Jugendarbeitslosigkeit. Aus unserer Sicht sollten
der Bereich Familie & Kinder aus sozialdarwinistischen Überlegungen und Programmen herausgehalten werden notwendige Unterstützungen und Therapien für Kinder und Jugendliche bürokratiearm und kostenfrei im erforderlichen Ausmaß zur Verfügung gestellt werden gezielte familien- und gesundheitspolitische Maßnahmen statt wahlpolitisch motivierter Gießkannenförderung umgesetzt und ihre Effizienz überwacht werden
Im Folgenden werden ökonomische Grundlagen und vorhandene Defizite im Bereich der Sozialpädiatrie und -fürsorge anhand allgemeiner und konkreter Beispiele besprochen.
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II. Ökonomische Grundlagen Eine der wesentlichen Fragen unserer postmodernen Gesellschaft ist, inwieweit bzw. wie lange noch der Wohlfahrtsstaat im vollen Ausmaß finanzierbar ist. Der von Bismarck zur Lösung der „sozialen Frage“ erfundene Wohlfahrtsstaat wurde bisher trotz laufend gestiegener Ansprüche erfolgreich durch Umverteilung (Transferzahlungen) und Wirtschaftswachstum finanziert. Diese Finanzierung stößt an ihre natürlichen Grenzen, da zur laufenden Finanzierung exponentielles Wirtschaftswachstum erforderlich ist („Zinseszinsmodell“). Dieses Wirtschaftswachstum wurde bisher vorwiegend durch Produktivitätssteigerungen und (bezahlte und unbezahlte) Frauenarbeit ermöglicht. Nunmehr werden aber die vor allem den reichen Ländern zur Verfügung stehenden Energie- und Rohstoffressourcen zunehmend knapper. Auch der Faktor Arbeit verliert vor allem für weniger Gebildete in den Industrieländern an Bedeutung durch Verlagerung auch der Sekundärproduktion in Billglohnländer. Das entstehende Überangebot an Arbeitskräften kann vom Tertiärsektor nicht mehr vollständig aufgefangen werden. Das Resultat sind zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung (in Österreich derzeit fast eine Million Menschen, das ist 1/8 der Bevölkerung) und ein zunehmendes Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich. Diese Tendenz, die zunehmende Lebenserwartung und die durch monetaristische Argumentation und laufenden Machtzuwachs immer geringeren Transferleistungen der (anonymen) Reichen lassen weitere einschneidende Veränderungen von sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit befürchten. Wirtschaft funktioniert primär als Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, wobei sich im so genannten kapitalistischen System der Preis eines Produkts weniger als Funktion des Werts, sondern als Funktion der Differenz von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die Nachfrage kann z.B. durch Werbung (iwS) erhöht, durch Marktsättigung oder einen (zu) hohen Preis verringert werden. Das Angebot richtet sich üblicherweise an der Nachfrage aus. Diese nachfrageorientierte Politik wurde zunächst aus der Mikroökonomie in die Makroökonomie übernommen.
1. J.M. Keynes vs. M. Friedman Nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, als deren Hauptvertreter der englische Sozialökonom John Maynard Keynes und der amerikanische Ökonom Paul Samuelsen gelten, sieht als wesentliche Möglichkeit staatlicher Einflussnahme in Zeiten der Rezession eine Erhöhung der Staatsausgaben bzw. der Staatsverschuldung oder eine Erhöhung der im Umlauf befindlichen Geldmenge zur Ankurbelung der Nachfrage (des Konsums) und zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Nach diesem Modell wurden in den 70er Jahren international die Probleme der Ölkrise bewältigt und in Österreich der Ausbau des Sozialstaats („Österreich als Insel der Seligen“) durch Erhöhen der Staatsverschuldung („deficit spending“) vervollkommnet. Vor- und Nachteile dieses Systems erscheinen evident, wobei
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als wesentliche Nachteile Bürokratielastigkeit, Eingrenzung der Budgetfreiheit durch den zunehmenden Schuldendienst und Inflationsgefahr gelten. In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts propagierten die Kritiker neokeynesianischer Ideen, Milton Friedman und die Chicagoer Schule (“Chicago Boys“) Steuersenkungen und eine Verringerung des staatlichen Angebots gegen zunehmende Staatsverschuldung („weniger Staat, mehr privat“) und Missbrauch von Sozialleistungen. Die positiven Folgen dieser neoliberalen Ideen, steuerliche Entlastung der Betriebe, verbilligte Kredite (da der Staat weniger als Schuldner auftritt) und Konjunktur fördernde Verbesserung der Produktionsbedingungen, stehen allerdings in krassem Gegensatz zu den Nachteilen: Abbau von Sozialleistungen, Lohndumping, Verschärfung der Armutsspirale. Diese Probleme wurden durch „Härteparolen“, sarkastische neoliberalistische und sozialdarwinistische Ideologien und „Nulldefizitidealisierung“ übertüncht. Gewinner in diesem System sind vor allem die zunehmend anonym (und daher umso kapitalistischer) agierenden Industriekonzerne und Kapitaleigner, Verlierer vor allem die Arbeitnehmer, von denen mehr „Mobilität“ und „Flexibilität“, erhebliche direkte und indirekte Einkommenseinbußen und Doppelverdienertum gefordert werden; die Alten, deren Altersversorgungsansprüche plötzlich als nicht mehr finanzierbar gelten; die Arbeitslosen, die sich mit einem wesentlich raueren Arbeitsmarkt konfrontiert sehen; und die Kinder und Jugendlichen, die sich nicht nur mit verringerter familiärer und öffentlicher Fürsorge, sondern auch mit dramatisch verschlechterten Zukunftschancen abfinden müssen.
2. Was hat all das mit (Sozial-) Pädiatrie zu tun? Wirtschaftliche Bedingungen bestimmen immer die Bedingungen der Schwächsten und daher auch der Kinder. Die neoliberale Wirtschaftsdoktrin mit ihrer Betonung der Eigenverantwortung der Individuen und der Familien hat daher auch Auswirkungen auf die Probleme der Kinder. Im Prinzip ist es richtig, dass jede Familie primär für ihre Mitglieder Verantwortung trägt. Probleme gibt es aber, wenn die Familie aus welchen Gründen auch immer nicht dazu in der Lage ist, ihre Probleme selbst zu lösen. Zwei wichtige, ethisch begründete Prinzipien, das Grundrecht jedes Menschen auf Gesundheit und wechselseitige Solidarität, garantieren zwar das Überleben, verhindern aber nicht, dass bei unterlassener Hilfeleistung lebenslanger, ev. nicht wieder gut zu machender Schaden entstehen kann.
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3. Was ist der Wert eines Menschen aus ökonomischer Sicht? Die folgende “Milchmädchenrechnung“ soll dies auf der Basis aktueller, nicht valorisierter Zahlen grob abschätzen: Die Lebenserwartung eines Menschen in einem Industrieland beträgt derzeit etwa 82 Jahre. Ein Arbeiter beginnt sein Erwerbsleben mit 15 Jahren und beendet es im Idealfall ohne Unterbrechungen zwischen 60 und 65. In diesen 45 bis 50 Jahren verdient er auf heutiger Lohnbasis etwa 900.000 €, wovon er etwa 1/3 oder rund 300.000 € an die Gemeinschaft an Steuern, Krankenversicherung usw. abgibt. Bis zu seinem 15. Lebensjahr betrugen seine Lebens(erhaltungs)kosten etwa 135.000 €. Er wird später, in seinem Ruhestand, etwa 200.000 € an Rente beziehen. Diese Lebensbilanz ist also mit etwa 660.000 € oder 8.000 € p.a. positiv (Abb. 1). Ein Akademiker beginnt sein Erwerbsleben mit etwa 25 Jahren und beendet es mit 65. In diesen 40 Erwerbsjahren verdient er etwa 35.000 € p.a. oder insgesamt 1,400.000 €, nachdem er bis zum 25. Lebensjahr etwa 240.000 € „gekostet“, ca. 40% oder 560.000 € an die Gemeinschaft an Steuern, Krankenversicherung usw. abgegeben hat und etwa 300.000 € an Pension erhalten wird. Diese Bilanz ist also mit etwa 860.000 € oder 10.000 € p.a. positiv. Jede Unterbrechung bedingt durch Arbeitslosigkeit, Invalidität etc. mindert nicht nur die Lebenserwerbssumme, sondern auch die Abgaben an die Gemeinschaft.
Abb.1 Lebenseinkommen
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4. Kinderbezogene Ausgaben Die im vorigen Beispiel angenommen Kosten pro Kind (etwa 9.000 € p.a. oder 750 € p.m.) sind grob geschätzte, „individuelle“, familienbezogenen Kosten für die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnraum, Kleider, Erziehung, Transport usw. Für die Zeit der höheren Ausbildung wurden in dem Beispiel etwas mehr (10.000 € p.a. oder 830 € p.m.) angenommen. In diesen Kalkulationen sind auch keine Diskontierungen (Zinseszinsberechnungen für Kostenvalorisierung) berücksichtigt, da diese einerseits schwer abschätzbar sind und die genannten Beträge entsprechend erhöhen würden. Dazu kommt noch ein Kostenanteil, der durch die Allgemeinheit, Bund, Länder, Gemeinden, aufgebracht wird und der sich direkt auf Sozial-, Gesundheits-, Bildungsausgaben bzw. indirekt auf anteilige, nicht primär Kind bezogene Ausgaben, für Verkehr, Sicherheit, Bildungswesen usw. bezieht. Die Bundeskosten sind mit etwa 1/3 des Staatshaushalts für Soziales 34 Mrd. €, davon etwa 6 Mrd. € für Kinder und Familien oder 3000 € pro Familie p.a. gar nicht so gering. Dazu kommen noch die Bundesausgaben für Erziehung und Unterricht von 9,36% des Staatshaushalts und die Beiträge der Länder und Gemeinden. Insgesamt ergeben sich familienrelevante öffentliche Beiträge von 16 Mrd. € bzw. 8000 € pro Familie und Jahr. Beim zitierten Modell wird davon ausgegangen, dass Krankenfürsorge als ausgeglichenes selbstfinanziertes Solidarsystem funktioniert. Bei den zitierten Summen sollte man eigentlich davon ausgehen, dass von Seiten der Öffentlichkeit für jedermann genug geleistet wird. Dass trotzdem etwa 1 Million Menschen in Österreich - und großteils Kinder - in Armut oder an der Armutsgrenze leben (Definition 50% des Durchschnittseinkommens), ist natürlich erstaunlich. Dafür verantwortlich sind: 1. Verteilungsprobleme 2. ein hoher (teilweise nicht extra budgetierter) Bürokratieanteil (wie er von den Friedmannisten immer wieder betont wird) 3. zusätzliche Kosten, die in der einfachen Rechnung nicht aufscheinen Zu 1. Verteilungsprobleme Tatsächlich werden die öffentlichen Ausgaben für Kinder und Familien nicht bedarfsgerecht, sondern großteils als „Wahlkampfmunition“ (Beispiel „Familiengeld“) nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Ganz schlimm ist die Situation für Studenten, für die seit der letzten Uni-Reform nicht nur die Studiengebühren, sondern auch schikanöse Bestimmungen für den Bezug von Studienbeihilfen das Studium für sozial Schwache wesentlich erschwert hat. Wozu auch noch die „Verschulung“ der Universitäten und die im Vergleich zu früher deutlich verringerten Zuverdienstmöglichkeiten kommen.
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Zu 2. Bürokratieanteil Dieser ist schwer abschätzbar, dürfte aber in der Größenordnung von 40-70 % liegen.
Zu 3. Zusätzliche Kosten Diese dürften vor allem in der Finanzierung zusätzlich notwendiger, aber nicht öffentlich finanzierter gesundheitsbezogener Ausgaben wie Psycho- oder Ergotherapie bzw. in familiären Umschichtungen (d.h. nicht kindgemäß verwendete Ausgaben) liegen. Aus diesen Berechnungen geht klar hervor, dass jede langfristige erwerbsmindernde Beeinträchtigung vor allem durch chronische somatische oder psychische Erkrankungen unabhängig von den persönlichen Nachteilen einen substanziellen volkswirtschaftlichen Schaden verursacht, der die Allgemeinheit belastet und daher in der Kostenrechnung für frühe und präventive Maßnahmen berücksichtigt werden muss. Umso weniger verständlich erscheint es dass notwendige Maßnahmen wie Psycho- und Ergotherapie nicht selbstverständlich von den Sozialversicherungen finanziert werden sondern mit einem hohen Selbstbehalt belastet werden, der Kinder aus sozial schwachen Familien klar benachteiligt und ihnen so lebenslangen Schaden zufügt. Fazit: Lebenswertschöpfungsberechnungen sprechen eindeutig für zielgerichtete sozialpädiatrische bzw. -pädopsychiatrische Interventionen. Die bestehenden Förderungen erreichen aber offenbar die Zielpopulation nicht im erforderlichen Ausmaß, da sie vorwiegend nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden. Es gibt drei Möglichkeiten der Verbesserung des bestehenden Systems ohne Erhöhung der öffentlichen Ausgaben: 1. bedarfsgerechte Verteilung der Fördermittel, insbesondere des „Kindergeldes“ 2. Verringerung des Bürokratieanteils durch Einführung einer Grundsicherung für Familien 3. Ausbau der Direktförderung und umfassende, kostenlose Gesundheitsvorsorge für alle Kinder. Dies inkludiert gemäß UNO Definition physische und psychische Erkrankungen und Entwicklungsprobleme gleichermaßen.
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5. Pädiatrie - Sozialfürsorge - Ethik Natürlich sind primär die Familien für alle Belange ihrer Kinder zuständig und verantwortlich. Die Öffentlichkeit (je nach Kompetenz Bund, Länder und Gemeinden) kann sich im Prinzip auf „Feuerwehrmaßnahmen“ zurückziehen. Dies ist auch so lange in Ordnung als das Wohl der Kinder nicht gefährdet wird. Gesundheitliche Probleme sind durch den Solidaritätspakt der (öffentlich unterstützten) Krankenversicherungen gedeckt. Soweit erscheint offenbar alles in Ordnung. Wäre da nicht das Problem der Eltern, die die ihnen übertragenen Pflichten und Probleme aus finanziellen oder persönlichen Problemen nicht selbst lösen können. Weil z.B. eine alleinerziehende Mutter mit den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht zurecht kommt. Wer ist dann zuständig? Wer unterstützt, wer kontrolliert die Eltern bei der Erfüllung ihrer Pflichten? Es gibt seit den Zeiten Julius Tandlers in Wien (und natürlich äquivalent in den Bundesländern) das Amt für Jugend und Familie, früher „Fürsorge“ genannt, mit neuem Image - kameradschaftlich, dienstbereit „MAGELF“. Mit hoheitlichen Aufgaben und einem 100 Millionen € Budget, einem aufwändigen „Apparat“ an Dienststellen und speziell ausgebildeten MitarbeiterInnen, zum Wohle der Jugend und der Familien. Weil man ja weiß, dass Kinder (und ihre Probleme) immer das Produkt ihrer Familien sind. Dieses Amt hat in den letzten Jahren - nicht zuletzt unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse - seine Aufgaben neu definiert: nicht mehr Prävention, sondern nur mehr Feuerwehraufgaben, Krisenintervention, Abhilfe wo es droht, ein öffentliches Problem zu werden. Die ökonomischen Gründe dahinter sind ein zum Teil gedeckeltes Budget, d.h. ein realer BudgetInterventionsspielraumverlust von 9 (11-2) % in den letzten 6 Jahren (2001-2006, s. 11). „Alles in Ordnung“, versichern die Verantwortlichen, „weniger Staat, mehr privat!“, mehr Selbstverantwortung, Umstrukturierung, dezentrale Budgetverwaltung, im Notfall gibt es eine Budgetüberschreitung - alles wunderbar? Nur dass es inzwischen sehr schwer bis unmöglich geworden ist, im Bedarfsfall die notwendigen präventiven Maßnahmen zu verwirklichen. Es gibt zwar alles im Angebot, von der Erziehungsberatung über Familienintensivbetreuung bis zur Heimunterbringung. Nur werden diese Maßnahmen immer schwerer zugänglich. Es ist mühsam, ständig darüber zu streiten, wer für die „schlimmen Kinder“ zuständig ist, das Jugendamt oder die Spitäler, und wer die fehlenden Kapazitäten ausfüllen soll (allein in Wien fehlen mindestens 10 niedergelassene Kinder-/ Jugendpsychiater mit Krankenkassenvertrag, eine ganze Klinik für Kinder- und Jugendpsychi-
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Budget der Stadt Wien, http://www.wien.gv.at/ finanzen/budget/
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atrie und eine dringend notwendige kinder-/jugend-psychiatrische Langzeitbetreuungs- und -therapieeinrichtung2). Was geschieht mit Kindern, die nicht die notwendige Betreuung erhalten, deren Eltern z.B. nicht im Säuglingsalter die notwendige personelle Unterstützung bekommen, die z.B. mit 3 Jahren trotz nachgewiesenen Bedarfs aus Kapazitätsund Finanzierungsgründen nicht die notwendige Ergotherapie erhalten, die im Schulalter wegen finanzieller Probleme nicht das notwendige Teilleistungstraining bekommen, die von Suspendierung zu Suspendierung, von Schule zu Schule abgeschoben werden? Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit Außenseiter, die schließlich nicht die ihren geistigen Fähigekeiten entsprechenden Berufschancen verwirklichen können, die als Lanzeitarbeitslose, Ausgesteuerte, Sozialhilfeempfänger ein Vielfaches an finanziellen Mitteln beanspruchen werden, die keinen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten können und die in der nächsten Generation Kinder mit den gleichen Problemen haben werden. Aber warum ist die Allgemeinheit für diese Probleme zuständig? Weil es eine verfassungsmäßig garantierte Garantie auf Chancengleichheit gibt, weil der Einzelne mit der Lösung seiner Probleme überfordert sein kann, weil bei Kindern transgenerationale Probleme nicht wieder gut zu machende Folgen einer gestörten frühkindlichen Entwicklung hinterlassen und letztlich, weil das öffentliche Interesse, auch wegen der Folgekosten und -risken (Delinquenz, Persönlichkeitsstörung, Integrationsunfähigkeit des Einzelnen) für ein öffentliches Engagement spricht. Dies wird auch eindringlich durch die gerade in den letzten Jahren deutlich gestiegene Zahl gewalttätiger jugendlicher Straftäter belegt3. Zwei Beispiele aus der täglichen Praxis sollen das Problem verdeutlichen: Als erstes Beispiel ein Mädchen mit emotional instabiler Persönlichkeitsentwicklungsstörung, das mit 14 Jahren zum ersten Mal schwanger wird und keine familiäre Unterstützung hat: - Ohne entsprechende sozialfürsorgerische Intervention bestehen für das Kind Risken der Verwahrlosung, frühkindlicher Bindungsstörung, Störung des Sozialverhaltens, der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung, Delinquenz und weiterer transgenerationaler Belastung. Kosten: „lebenslang“, derzeit etwa 10.000-20.000 € pro Jahr, ohne Berücksichtigung der weiteren transgenerationalen Probleme. Das Kind wird spezielle Betreuung in Kindergarten und Schule, ambulante und stationäre kinder-/ jugendpsychiatrische Behandlung benötigen, es 2 3
s. „Weggelegt“ von F. Waldhauser et al., Czernin, 2003 2005-2006: insgesamt Abnahme der Gesamtkriminalität um 2.2%, Zunahme in der Altersgruppe unter 10 Jahre +55.0%, 10-14 Jahre +40.0%, 14-18 Jahre +3.6%. Quelle: Kriminalstatistik des Bundesministeriums für Inneres (http://www.bmi.gv.at downloadarea/krimstat/). Frühere Daten sind auf dieser Seite nicht verfügbar.
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wird voraussichtlich arbeitslos und auf öffentliche Unterstützung angewiesen sein. Das Delinquenzrisiko ist hoch. - Mit entsprechender sozialfürsorgerischer Intervention (Betreuung im Mutter-Kind-Heim, frühzeitiger Familienintensivbetreuung oder der Unterbringung bei Pflege- bzw. Adoptiveltern) ist es möglich, Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen und notwenige Interventionen und Therapien einzuleiten. Die Folgen sind normale psychische Entwicklung, normale Integration und normales Erwerbs- und Familienleben. Die so aufgefangenen Probleme treten nur kurzfristig in Erscheinung und können die weitere positive Entwicklung nicht gefährden. Kosten: die anteiligen Systemkosten, die Therapie- und ev. Unterbringungskosten, 10.000-20.000 € pro Jahr bis zum 15. oder 18. Lebensjahr, dann aber winken ein normales Arbeitsleben, das diese Kosten wieder hereinbringt, und deutlich geringere transgenerationale Kosten. Als zweites Beispiel: ein dreijähriges Kind mit Störung des Sozialverhaltens, das im Kindergarten durch aggressives, unangepasstes Verhalten auffällt. Im Hintergrund eine allein erziehende Mutter, die ganztags beschäftigt ist und keine weitere Unterstützung hat. - Ohne Frühintervention: mehrfacher Kindergartenwechsel, ev. Betreuung als Integrationskind mit besonderen Bedürfnissen. Die Außenseiterkarriere auch in der Schule ist vorgeplant, es wird nach Schulabschluss keine weitere Berufsausbildung möglich sein. Arbeit als gelegentlicher Hilfsarbeiter, ein „Sozialfall“ mit weiteren transgenerationalen Problemen. Kosten: „lebenslang“ ab 15-18 Jahren (10.000-20.000 € pro Jahr, spezielle Betreuung in Kindergarten und Schule wird erforderlich sein. - Mit Frühintervention: zunächst Diagnostik: Störung der sensorischen Integraton, spezielle Kindergartenbetreuung und Ergotherapie, ev. zeitlich begrenzte Familienintensivbetreuung. Die Folgen: normale weitere Entwicklung, normale Integration als Erwachsener. Kosten: für Diagnostik, Ergotherapie, spezielle Kindergartenbetreuung, kurzfristige Familienintensivbetreuung. Wie aus diesen einfachen Beispielen ersichtlich ist, sind die Kosten der Frühintervention (abgesehen von den Unterschieden in der Lebensqualität) um ein Vielfaches geringer als die später notwendigen Investitionen! Sozialpädiatrie mit vernetzter Sozialhilfe rechnet sich, wenn die Kosten nicht nur kurzfristig, sondern als Lebenskosten oder gar als transgenerationale Kosten gesehen werden. Ein großes gesamtösterreichisches Problem stellt der allgegenwärtige Mangel an Sozialpädiatern und Kinder- und Jugendpsychiatern dar. Die Ursache dafür ist einerseits in der Vernachlässigung der Sozialpädiatrie im Rahmen des Fachs Kinder- und Jugendheilkunde, andererseits in der „Jugend“ und Komplexität des
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Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie4 und im österreichweit bestehenden Mangel an spezialisierten Abteilungen, Ambulanzen und niedergelassenen Fachärzten. Ein weiterer Grund mag auch darin liegen, dass das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie finanziell extrem unattraktiv ist, da der notwendige hohe persönliche und zeitliche Aufwand bisher weder von den Sozialversicherungsträgern noch von den Ärztekammern berücksichtigt wurde5. Fazit: Auch sozialethische Überlegungen sprechen vor allem bei Entwicklungsproblemen der sensorischen und der sozialen Integration für möglichst früh ansetzende sozialpädiatrische Interventionen. Da die privaten Mittel im Allgemeinen nicht für die erforderlichen Maßnahmen reichen, sind primär öffentliche Mittel (aus dem Sozial- oder Krankenversicherungstopf) heranzuziehen. Diese Kosten der Frühintervention rechnen sich, weil sie langfristig vielfach hereingebracht werden. Die folgenden Beispielthemen aus der Sozialmedizin sollen die bisherigen vorwiegend theoretischen Überlegungen ergänzen und unterstreichen.
III.
Ausgewählte Beispiele und Kommentare 1. Mutter-Kind-Pass und pränatale Diagnostik
Ein besonders gutes Beispiel der Wirtschaftlichkeit sozialpädiatrischer Maßnahmen ist der 1974 eingeführte Mutter-Kind-Pass (MKP), dessen Kosten zu 1/3 von den Sozialversicherungsträgern und zu 2/3 aus dem Familienlastenausleichsfonds finanziert werden. Im Zeitraum 1974-1992 ist die perinatale Mortalität von 23,5 auf 7,4 Promille und somit auf 1/3 zurückgegangen. Natürlich ist dies nicht allein der verbesserten prä- und postnatalen Kontrolle zuzuschreiben. Es sind (auch) die Fortschritte der Perinatalmedizin, der pränatalen (Ultraschall-) Diagnostik und der Neonatologie, die diesen Fortschritt auch in Ländern ohne MKP ermöglicht haben. Ein zusätzlicher Faktor ist sicher auch die Tatsache, dass Schwangerschaften mit erkennbaren schweren Fehlbildungen im Allgemeinen nicht ausgetragen werden, was eine Reihe ethischer Probleme mit sich bringt, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Aus sozialpädiatrischer Sicht besteht der wesentliche Beitrag des MKP neben der kompakten Information im frühzeitigen Erkennen von Gesundheits-, Ernährungsund Entwicklungsproblemen und in der aus impfpolitischer Sicht wichtigen 4
die erste Universitätsklinik f ür Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde 1975 in Wien gegründet 5 Ein viel versprechender Anfang in die richtige Richtung wurde vor kurzem in Niederösterreich gemacht, wo 2 Fachärztinnen erstmals einen „vernünftigen“ Sondervertrag mit der Gebietskrankenkasse erhielten.
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regelmäßigen kinderärztlichen Kontrolle. Besonders positiv ist die 1998 im Kampf gegen die Impfmüdigkeit eingeführte und laufend ausgebaute Gratisimpfaktion für alle Kinder zu sehen. Problematisch am MKP sind aus gesundheitspolitischer Sicht 2 Problemkreise: 1. die Notwendigkeit finanzieller Anreize für die Inanspruchnahme der MKP Untersuchungen (die bei Auflassen des MKP-assoziierten „Kindergeldes“ im Jahr 2000 deutlich rückgängig war und erst mit der Koppelung an die Familienbeihilfe wieder anstieg) 2. dass eindeutige Auffälligkeiten von manchen Kinderärzten aus Nachlässigkeit nicht erkannt und auch im MKP nicht als „auffällig“ beurteilt bzw. angekreuzt werden. Die Lösung dieser Probleme erscheint wohl nur im Zusammenhang mit einer Generationen übergreifenden allgemeinen Gesundheitserziehung und der Bildung eines kollektiven Gesundheitsbewusstseins sowie einer verbesserten Ausbildung und einer leistungsgerechten Honorierung der Leistungen der niedergelassenen Kinderärzte und einer konsequenten Verfolgung „schwarzer Schafe“ möglich.
2. Impfungen Für die Kosten-Nutzen-Abschätzung impfpolitischer Maßnahmen gibt es sehr gut dokumentierte Berechnungen wie z.B. für die Pneumokokkenkonjugatimpfung6. Da die Inanspruchnahme von nicht öffentlich finanzierten Impfungen nur sehr gering und daher nicht nur nicht effizient (Impfschutz bedeutet auch eine Durchimpfung von wenigstens 70 % der Bevölkerung) sondern auch sozial ungerecht ist7, sollten zumindest die wichtigsten Impfungen m Kindesalter - wie es großteils (mit Ausnahme der Pneumokokkenimpfung und der FSME-Impfung, die nur teilweise von den Krankenkassen finanziell unterstützt werden) geschieht kostenlos an alle Kinder verabreicht werden. Das Umdenken sollte den Krankenkassen umso leichter fallen, als Kosten-Nutzen-Analysen eindeutig für die Gratisimpfung sprechen.
3. Adipositas Adipositas, krankhaftes Übergewicht, betrifft mittlerweile mehr als 1/4 der Kinder mit hohem Morbiditäts-, Invaliditäts-, Mortalitäts- und sozialem Benachteiligungsrisiko. Die Prävalenz hat sich in den letzten Jahren verdoppelt, adipöse 6
z.B. Black S, Shinefield H, Fireman B et al. Pediatr Infect Dis 2000; 19:187-95, Claes C, von der Schulenburg M. Pharmacoeconomics 2003; 21:587-600, Lieu TA, Ray GT, Black SB et al. JAMA 2000; 283: 1460-8, Salo H, Sintonen H, Pekka-Nuorti J et al. Scand J Infect Dis 2005; 37:821-32 7 Morgenroth H, Hellenbrand W, Dreja I et al. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. Gesundheitswesen 2005; 67:788-94
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Adoleszente haben eine 70-80% Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene adipös zu sein8. Die Folgekosten werden weltweit auf 60 Mrd. € pro Jahr geschätzt. Die Ursachen sind komplex: es gibt genetische, individuelle, psychologische, familiäre, soziale und wirtschaftliche Faktoren. Hauptfaktoren sind aber Bewegungsmangel schon in früher Kindheit, bedingt durch geringeres Bewegungsangebot und vermehrten Medienkonsum9 und ungesunde Ernährung (insbesondere vermehrter Konsum zuckerhaltiger Getränke und hochkalorisches Essen). Hilfe schafft nur langfristige multimodale Therapie, die beim Kind (Änderung der Ernährungsgewohnheiten, vermehrte körperliche Betätigung, Psychotherapie), bei der Famile (Änderung des Lebensstils und der Ernährungsgewohnheiten) und der Peer Group (gegen Mobbing und Ausgrenzung) ansetzen muss. Vereinzelte überfüllte „Spezialambulanzen“ entsprechen mit ihrem Therapieangebot nicht dem Bedarf. Auch hier würden sich konsequenter, umfassender therapeutischer Aufwand und breite Aufklärung lohnen! Kritisch zu sehen ist es, wenn (aus welcher Motivation auch immer) medizinische Naheverhältnisse prominenter “Adipositasspezialisten“ zu Fast Food Produzenten bestehen10.
4. Sensorische Integrations-, Aufmerksamkeitsdefizit(AD-HD) und Teilleistungsstörungen Diese sehr häufigen (sensorische Integrationsstörungen 10-30%, schwere Formen 3-9%11; ADHD 6%, TL-Störungen ca. 35%) und einfach zu diagnostizierenden Probleme sind im Prinzip gut mittels Erziehungsberatung, Ergotherapie, Medikamenten, logopädischer Therapie, Teilleistungstraining und pädagogischer Förderung behandelbar12. Unbehandelt muss mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Erziehung, der Integration in die Peer Group, mit schlechten schulischen Leistungen und erheblichen Minderungen der Zukunftschancen gerechnet werden. Es gibt aber auch sehr positive Aspekte: bei entsprechender Behandlung sind normale Integration, gute schulische Leistungen und normale Zukunftschancen zu erwarten. Zusätzlich zeichnen sich ADHD-Kinder und Erwachsene oft durch besonderes und vielseitiges Interesse, Kreativität, hohe Energiereserven und einen ungebrochenen Optimismus aus. Belastungen und Kosten für die Familien sind auch bei Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe groß und für ärmere oder kinderreiche Familien kaum leistbar, da die Therapie nur teilweise von den 8
http://www.surgeongeneral.gov/topics/obesity/callto/action/fact/adolescents.htm das typische amerikanische Kind verbringt 44.5 Stunden pro Woche mit Medienkonsum außerhalb der Schule; Generation M: Media in the lives of 8-year olds. Menlo Park, CA: Kaiser Family Foundation (2005) 10 Mc Donalds Werbung mit dem “Adipositasspezialisten“ der Wiener Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde 11 http://www.sensorysensitivechild.com/ 12 Jensen PS, Garcia JA, Glied S et al. Am J Psychiatry 2005; 162:1628-36 9
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Sozialversicherungen übernommen wird. Bei der Verfügbarkeit von Ergotherapie gibt es große Engpässe, Teilleistungstraining wird überhaupt nicht finanziell unterstützt, da ADHD und Teilleistungsstörungen noch immer fälschlich als Erziehungsprobleme gesehen werden. Bei diesen langfristigen Belastungen ist es unverständlich, dass Krankenversicherungen Eltern mit schikanösen Genehmigungsritualen für Medikamente und Therapien quälen, und die österreichischen Schulen trotz besseren Wissens weder die notwendigen pädagogischen Maßnahmen ausreichend und kostenlos zur Verfügung stellen, noch z.B. Legasthenie oder Dyskalkulie als unbedingten Grund für eine individuelle Leistungsbeurteilung sehen, obwohl sie dazu von Gesetzes wegen ermächtigt wären. Im Nachbarland Bayern ist die schulische Förderung und Rücksichtnahme bei Legasthenieproblemen - mit gutem Erfolg – verpflichtend. Warum nicht auch bei uns? Zu fordern ist seitens der Sozialkversicherungen die kostenlose und unbürokratische Bereitstellung der notwendigen Therapien für alle betroffenen Kinder, und seitens der Schule kostenloses Teilleistungsraining sowie pädagogische Rücksichtnahme im Unterricht, bei der Leistungsbeurteilung und bei der Integration in die Peer Group.
5. Störung des Sozialverhaltens, Delinquenz Störungen des Sozialverhaltens haben verschiedene Ursachen, oft persönliche (s. ADHD und Teilleistungsstörungen), praktisch aber auch immer einen familiären bzw. sozialen Hintergrund, insbesondere Erziehungsfehler und wenig positive persönliche und soziale Erfahrungen. Wo Einfühlsamkeit und Verständnis, Vorbildfunktionen, Lob und Ermutigung, erzieherische Klarheit, Konsequenz und positive soziale Erfahrungen nicht in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung stehen, ist auch die Integration in die Peer Group deutlich erschwert. Erziehungsberatung, sozialkinder-/jugendpsychiatrische, sonder- und sozialpädagogische, rehabilitative bzw. psychotherapeutische Maßnahmen sind notwendig. Je früher, desto Erfolg versprechender. Auch hier ist unklar, warum die meist (transgenerational) sozial benachteiligten Kinder und Eltern auch dann, wenn sie Hilfe suchen, von der Allgemeinheit vor allem bei den notwendigen therapeutischen Maßnahmen nicht nur finanziell allein gelassen werden. Warum Hilfsmaßnahmen nicht bereits im Kindergartenalter, sondern erst dann einsetzen, wenn das Verhalten bereits unerträglich geworden ist und schwerwiegende negative Erfahrungen und „fixierte“ Teufelskreise den Interventionserfolg dramatisch erschweren, bleibt unverstänlich. Über 90 % der inhaftierten Jugendlichen haben zumindest eine schwerwiegende, behandlungsbedürftige psychiatrische Diagnose. Mehr als 40 % werden als Wiederholungstäter neuerlich inhaftiert. Nicht nur, dass Frühinterventionen diese Karriere in vielen Fällen hätte verhindern können, nicht nur, dass rehabilitative
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Maßnahmen postpubertär wesentlich aufwändiger und weniger Erfolg versprechend sind. Ein großes Problem besteht auch darin, dass kinder- und jugendpsychiatrische Betreuung im Gefängnis und danach derzeit nur unzureichend und nur auf „Projektbasis“ zur Verfügung gestellt wird (und das ist schon ein Fortschritt!). Gerade in diesem Bereich ist der eklatante Mangel an (niedergelassenen) Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie besonders spürbar. Diese Beispielliste ließe sich noch erheblich weiter führen, insbesondere gibt es noch große Probleme bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Hier ist in den letzten Jahren dank der Hilfe gemeinnütziger Vereine und auch politisch viel Positives geschehen. Trotzdem sind viele Eltern und vor allem die häufig allein gelassenen und oft überforderten Mütter von Kindern mit besonderen Bedürfnissen mit ihren intrafamiliären und Partnerschaftsproblemen und mit den Problemen ihrer Kinder allein. Hilfsangebote sind teilweise unübersichtlich, teilweise nicht vorhanden (insbesondere z.B. strukturierte Therapieprogramme für autistische Kinder) oder so zeitaufwändig, dass berufliche Chancen von diesen Müttern praktisch nicht wahrgenommen werden können. Auch hier ist noch viel Pionierarbeit und Solidaritätsbewusstsein gefordert.
6. Zusammenfassung Zusammenfassend ist zu sagen, dass Frühinterventionen sich im Bereich der Sozialpädiatrie und Sozialkinder- und -jugendpsychiatrie sowohl aus der Erfolgsals auch aus finanzieller Sicht rechnen. Früherkennung psychischer und sozialer Probleme13 und notwendige Frühinterventionen müssen für alle Kinder im erforderlichen Ausmaß flächendeckend und kostenfrei zur Verfügung stehen, um das (Über-)Leben vor allem der Problemkinder der nächsten Generationen zum Wohle aller zu verbessern. Zum Vorteil aller dürfen kurzsichtige wirtschaftliche und sozialdarwinistische Überlegungen nicht das Schicksal der ärmsten und schützenswertesten Mitglieder unserer Gesellschaft bestimmen.
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in diesem Zusammenhang ist auch das rezente „verunglückte“ Statement von Vizekanzler Molterer über „Leistungstests für Dreijährige“ zu sehen, das nicht als Leistungstest, sondern als durchaus sinnvolle Früherfassungsinitiative im Rahmen ernst genommener MKP-Untersuchungen und im Rahmen der Früherkennung von (Verhaltens-) Problemen verstanden werden muss.
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Tabelle 1 Budgetentwicklung 2001-2006: Amt für Jugend und Familie
Voranschlag
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Die Kindermedizin braucht spezifische Ressourcen und Strukturen – Eine Darstellung am Beispiel der Kinder- und Jugendpsychiatrie Georg Spiel, Ernst Berger, Joachim Petscharnig Dieser Artikel soll der Frage nachgehen, inwieweit die Kindermedizin – und hier speziell die Kinder- und Jugendpsychiatrie – spezifische auf die Lebenswelt von Kindern in deren sozialen Kontext ausgerichtete Ressourcen sowie Strukturen benötigt. Einleitend werden europäische Initiativen mit dem Ziel der Förderung der psychischen Gesundheit dargestellt, dann die entsprechende Entwicklung, die in den letzten Jahren in Österreich stattgefunden hat. Leider muss festgestellt werden, dass trotz idealer konzeptioneller Umfeldbedingungen auf europäischer und österreichischer Ebene die Realität der Versorgung im kinder- und jugendneurologischen und –psychiatrischen Bereich in Österreich viel zu wünschen übrig lässt. Es konnten sich die Verantwortlichen nicht dazu entschließen, die inhaltlich diskutierten und vereinbarten Qualitätskriterien in den Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) als verbindlich aufzunehmen und es zeigen sich Entwicklungen, die Betriebsorganisation von Krankenhäusern derart zu verändern, dass negative Auswirkungen auf die Verwirklichung interdisziplinärer Arbeit zu befürchten sind. Abschließend werden Forderungen für eine nachhaltigen Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie in Österreich gestellt, wobei nicht nur die Ressourcenproblematik gelöst werden muss, sondern auch für das medizinische Fach adäquate Strukturen vorgehalten werden müssen. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass viele versorgungsrelevante Argumente, die am Beispiel der Kinder- und Jugendpsychiatrie dargestellt wurden, auch für andere Teile der Kindermedizin gelten sollten.
I. EU-Initiativen zur Förderung der psychischen Gesundheit Öffentliche Gesundheit im Kontext der EU Mit dem Vertrag von Maastricht nahm sich die EU 1993 erstmalig der Aufgaben im Bereich der Gesundheit an. Der Vertrag von Amsterdam, und insbesondere der Artikel 152 schufen 1999 die Grundlage für EU-Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention. Das erste Public-Health Programm auf
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EU-Ebene erstreckte sich von 1994 – 2002, gefolgt von einem neuem PublicHealth Programm für den Zeitraum von 2003-2008 (www.europa.eu). Zukunftsweisend ist das im Oktober 2007 angenommene Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit“ („Together for health KOM 2007 630), in dem die EU eine Gesundheitsstrategie für 2008 – 2013 umreißt und konkrete Maßnahmen den Mitgliedsstaaten nahe legt.
Psychische Gesundheit im Kontext der EU Seit Beginn der 1990er Jahre hat die Europäische Union ihr Augenmerk verstärkt auf die psychische Gesundheit in den Mitgliedsstaaten gelegt. In einer Entschließung des Rates vom 2. Juni 1994 (1994/C165) wird festgestellt, dass psychische Erkrankungen einen sehr großen Anteil der Gesamtmorbidität ausmachen und auf diesen Bereich ein großer Teil der gesamten Gesundheitsausgaben entfallen. Daher sind auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen zu entwickeln, welche die Bemühungen der Mitgliedsstaaten im Bereich der psychischen Gesundheit unterstützen. 1998 wurde in einer weiteren Schlussfolgerung des Rates (1998/C390) festgestellt, dass eine optimale Entwicklung von Aktionsprogrammen der EU auf die Gesundheit der Bürger nur dann zu erwarten ist, wenn sich diese auch auf die allgemeinen Lebensbedingungen und psychischen Aspekte konzentrieren. Die programmatischen Vorgaben des Rates fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Projekten, die im Rahmen von Public Health Programmen durch die EU mitfinanziert wurden (European Communities & STAKES, 2004). Mit einer Entschließung des Rates 1999 (2000/C86) wurde besonders auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Blick für den Wert der psychischen Gesundheit zu schärfen und eine gute psychische Gesundheit zu fördern, insbesondere bei Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen. Im April 1999 kam es schließlich zu einem gemeinsamen Treffen der WHO und EU-Kommission, in dessen Rahmen FachexpertInnen aus Europa das Verhältnis von Mental Health Promotion und Mental Health Care klärten. „There is no health without mental health“ – dieser Grundsatz ist eine zentrale Schlussfolgerung aus diesem Treffen gewesen (WHO & EU-Commission, 1999).
Die Helsinki-Deklaration Ein vorläufiger Höhepunkt im europäischen Diskurs um Mental Health wurde im Jänner 2005 in Helsinki erreicht. Die Gesundheitsminister der europäischen Mitgliedsstaaten der WHO verabschiedeten die sogenannte Mental Health Declaration for Europe (WHO European Ministerial Conference 2005). Die Deklaration von Helsinki sieht Mental Health und mental well-being als grundlegend für die Lebensqualität der Menschen. Ein vorrangiges Ziel in diesem Sinne ist die Verbesserung des Wohlbefindens durch eine Fokussierung auf Stärken und Ressourcen, sowie eine Stärkung von Resilienz und externer Schutzfaktoren. Mental Health ist nach Ansicht der Konferenz eine zentrale Größe des humanen, sozialen und wirtschaftlichen Kapitals der Staaten und sollte daher als integraler
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und wesentlicher Aspekt in allen anderen Politikfeldern Berücksichtigung finden, respektive sollen Entscheidungen in anderen Politikfeldern auf ihre Auswirkungen im Bereich der psychischen Gesundheit hin bedacht werden.
Das Grünbuch der EU-Kommission Die europäische, ministerielle WHO Konferenz in Helsinki hat einen Rahmen für weiterreichende Maßnahmen vorgegeben. Die Europäische Kommission wurde in Folge aufgefordert, zur Umsetzung dieses Aktionsrahmens beizutragen und legte im Oktober 2005 ein Grünbuch vor (Kom2005/484). Wie alle Grünbücher beabsichtigte auch dieses, eine gemeinschaftsweite Diskussion über den Stellenwert der psychischen Gesundheit in Gang zu bringen und insgesamt Vorarbeiten für eine EU-Strategie und die Priorisierung einzelner Ziele darin zu leisten. Nach der Vorstellung der Kommission könnte eine EU-Strategie folgende Schwerpunkte setzen: • generelle Förderung der psychischen Gesundheit • Prävention psychischer Erkrankungen • Verbesserung der Lebensqualität psychisch kranker und geistig behinderter Menschen durch soziale Integration sowie den Schutz ihrer Rechte und ihrer Menschenwürde • Entwicklung eines einschlägigen Informations-, Forschungs- und Wissenssystems für die EU In seiner Stellungnahme zum Grünbuch fordert das Europäische Parlament die Kommission auf, dem Grünbuch eine Richtlinie über die psychische Gesundheit in Europa und den Schutz und die Achtung der Bürger- und Grundrechte von Menschen mit psychischen Störungen folgen zu lassen. In seiner Erwägung weist das EU-Parlament auch darauf hin, dass „der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der gesamten Europäischen Union nicht genügend Aufmerksamkeit und Finanzmittel zugekommen sind, obwohl psychische Erkrankungen bei Jugendlichen ständig zunehmen“ (Bericht des EU-Parlamentes vom 18.7.2006). Siehe dazu auch den nächsten Abschnitt.
II. Berücksichtigung der Anliegen der Kinder und Jugendlichen/Familien im Rahmen der EU Health Policy 1. Premeeting zur Helsinki Konferenz Am 20. und 21. September 2004 fand in Luxemburg eine 2-tägige Tagung von ExpertInnen statt, die vorrangig auf den Aspekt der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fokussierte. Das Treffen in Luxemburg wurde von der EU-Kommission gemeinsam mit den europäischen Gesundheitsministern der WHO organisiert und sollte als Vorbereitung der bereits erwähnten Helsinki-
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Konferenz im Jänner 2005 dienen (European Commission, WHO Regional Office for Europe and the Ministry of Health of Luxembourg, 2004). In der Präambel des Schlussdokumentes dieser Vorkonferenz wird die Relevanz des Themas der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit epidemiologischen Argumenten unterstrichen: 20% der Kinder Jugendlichen leiden an Entwicklungsstörungen bzw. an emotionalen oder Verhaltensstörungen. Eine Investition in die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wird in diesem Kontext als kosteneffizienteste Vorgangsweise beschrieben, um einen weiteren Anstieg psychischer Gesundheitsprobleme in allen Altersgruppen vorzubeugen. In der Präambel wird ebenfalls hervor gestrichen, dass zu treffende Maßnahmen in diesem Bereich auf die unterschiedlichen Altersgruppen, sowie die sozialen und ethnischen Besonderheiten in den einzelnen Mitgliedsstaaten abzustimmen sind. Insgesamt erfordere die Definition von Maßnahmen die vorhergehende Konsultation der Endverbraucher, also der betroffenen Kinder und Jugendlichen, respektive ihrer Vertreter. Im zweiten Teil gibt die Luxemburg-Konferenz allgemeine Empfehlungen und konkrete Gestaltungshinweise für kinder- und jugendgerechte Unterstützungsformen. Allgemein sollen die Mitgliedsstaaten der psychischen Gesundheit von (Klein-)Kindern und Jugendlichen höhere Priorität einräumen, und vor allem auch ausreichende Gelder zur Verfügung stellen. Strategien zur Förderung der psychischen Gesundheit sollen auch evidenzbasiert sein, also auf epidemiologische Daten und Analysen zur kindlichen bzw. jugendlichen Bedarfslage aufbauen. Hinsichtlich der Qualität von Initiativen fordert das Dokument die regelmäßige Evaluation von Angeboten und eine stärkere Rückbindung der Konzeptentwicklung an Forschungsergebnisse. Die Vermeidung eindimensionaler Zugangsweisen zur Zielgruppe, sowie die Forderung nach intersektoraler und interdisziplinärer Veranlagung von Projekten sind weitere, zentrale Forderungen des Dokumentes. Neben den politischen Zugängen zum Thema der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind vor allem auch die facheinschlägigen Aktivitäten auf europäischer Ebene erwähnenswert, so vor allem die Aktivitäten der europäischen Fachärztevereinigung, Sektion für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Union Européenne des Médicines Spécialistes, Section for Child and Adolescent Psychiatry - UEMS/CAP) sowie der European Society for Child and Adolescent Psychiatry (ESCAP), die im folgenden kurz dargestellt werden sollen.
2. Der Beitrag der UEMS/CAP Während die Luxemburg-Konferenz eine Vorbereitung auf Helsinki darstellte, hat die UEMS/CAP es übernommen, im Anschluss an Helsinki und auf Grundlage des daraus hervor gegangenen Grünbuchs der Kommission, die Diskussion nochmals aus Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu akzentuieren. Bei grundsätzlicher Unterstützung der Initiative wurde insbesondere auf die Notwendigkeit der Maßschneiderung der zu treffenden Maßnahmen für bestimmte Altersabschnitte hingewiesen. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch auf die
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Gesundheitsförderung und Prävention in Schwangerschaft und nach der Geburt gelegt werden, ebenso auf die häufig vernachlässigte Übergangsphase zwischen der Adoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter. Bei aller Konzentration auf differenzierte Interventionsformen soll aber auch nicht übersehen werden, die klinische Forschung zu intensivieren und den Transfer der Ergebnisse in die Handlungspraxis zu fördern. Die Etablierung von Interventionsleitlinien und laufender Evaluation der Programme sollte zudem dazu beitragen, eine hohe Qualität der Leistungen und die intendierten Ziele sicherzustellen.
3. Die ESCAP-Deklaration von Florenz Im Rahmen der XIII. ESCAP-Konferenz in Florenz wurde im August 2007 ausgehend von einer Bestandsaufnahme der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie - eine richtungsweisende Deklaration verfasst. Unter dem Titel „Mental well-being of children in Europe“ (ESCAP, 2007) wurde ein Positionspapier erstellt, welches über eine Problembeschreibung hinausgehend künftige Entwicklungslinien im Zusammenhang mit der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit kinder- und jugendpsychiatrischen Leistungen skizziert. Die in der Deklaration von Florenz beschriebene Ausgangssituation ist weitgehend kompatibel mit dem Schlussdokument der Luxemburg-Konferenz. Zusätzlich wird jedoch auf den bestehenden „treatment gap“ in der Versorgung mit kinderund jugendspezifischen Diensten hingewiesen, wobei es europaweit zwar sehr unterschiedliche Versorgungssituationen gibt, jedoch die zugewendeten Geldmittel insgesamt unverhältnismäßig gering sind. Sehr ausführlich geht die Florenz-Deklaration auf konkret zu treffende Maßnahmen ein: Im Bereich der Gesundheitsversorgung wird eine stärkere Diffundierung der Angebote in die Regionen angestrebt und vor allem der gemeindenahe Ausbau von Dienstleistungen gefordert. Darin wird ein wichtiger Beitrag gesehen, um Kinder, Jugendliche und Familien lebensweltnah zu erreichen und zu betreuen. Regionalisierung darf jedoch nicht auf Kosten der Professionalität gehen, sondern es ist besonders auf gut ausgebildete, interdisziplinär agierende Teams zu achten. Interventionen, gleich ob präventiv oder therapeutisch, sollen auf reliablen Forschungsgrundlagen aufgebaut werden und im Sinne von Mehr-EbenenZugängen kombiniert zum Einsatz gebracht werden. Prävention ist der wichtigste erste Schritt zum Aufbau von psychischer Gesundheit. Entsprechende Strategien sollten auf die Individuen in ihrem familiären und kommunalen Umfeld abzielen und soziale Determinanten der psychischen Gesundheit berücksichtigen. Die Schule ist ein wichtiger Ansatzort für Präventionsarbeit, verbringen die Kinder und Jugendlichen doch dort einen großen Teil ihrer Zeit.
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Versorgungsdienste, Interventionen, wie auch Präventionsarbeit stehen insgesamt im Rahmen einer Politik, welche den Menschenrechten und insbesondere den Rechten von Kindern und Jugendlichen besonderen Stellenwert einräumt. Im Hinblick auf die Forderung nach einer evidence based practice und im Bemühen um einen Abbau des festgestellten treatment-gaps innerhalb Europas konstatiert die ESCAP-Konferenz von Florenz auch Entwicklungsbedarf hinsichtlich der Profession der Kinder- und Jugendpsychiatrie. So soll die Ausbildung inhaltlich wie methodisch europaweit auf hohem Qualitätsniveau vereinheitlicht werden. Eine laufende Weiterbildung soll die Implementierung neuerster wissenschaftlicher Erkenntnisse in die berufliche Praxis unterstützen. Weiterbildung soll auch multidisziplinär angelegt werden, d.h. für die unterschiedlichen Professionen im Dienste der Kinder und Jugendlichen gemeinsam entwickelt und abgehalten werden. Die Forschung als solches bedarf einer Harmonisierung, insbesondere im Hinblick auf nationale und internationale Indikatorensysteme bezüglich der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
III. 1ste vorläufige Zusammenfassung Zahlreiche Initiativen auf europäischer Ebene seit Beginn der 1990er Jahre belegen die zunehmende Bedeutung der psychischen Aspekte von Gesundheit. Die Relevanz wird dabei vor allem durch zwei Argumentationslinien gestützt: Einerseits ist die Förderung der psychischen Gesundheit ein Investment in das europäische Humankapital, mithin in die zukünftige wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der europäischen Gemeinschaft und den langfristigen Wohlstand der europäischen Gesellschaft. Andererseits – und dies scheint aus Sicht der Humanund Sozialwissenschaften die naheliegendere Absicht – ist die psychische Gesundheit ein konstitutives Element von Gesundheit insgesamt, insbesondere auch ein wichtiger Parameter von Lebensqualität und Wohlbefinden der Menschen. Ein altersspezifischer Fokus ist in der Diskussion erst recht spät erkennbar. Beginnend mit der Luxemburg-Konferenz 2004 rückten erstmals kinder- und jugendspezifische Fragestellungen in den Mittelpunkt der Analyse. Zwar endete die Luxemburg-Konferenz mit einem eigenen Schlussdokument, die darin zum Ausdruck gebrachten Überlegungen sind jedoch in die Helsinki-Deklaration kaum rezipiert worden. Das Grünbuch der EU-Kommission stellt eine direkte Reaktion auf die Helsinki-Deklaration dar. Auch dieses Dokument lässt eine ausreichende Berücksichtung von kinder- und jugendspezifischen Anliegen vermissen. So war es in weiterer Folge vor allem die UEMS/CAP sowie die ESCAP, die in ihren Kommentaren zum Grünbuch bzw. mit der FlorenzDeklaration das Augenmerk wiederum auf die spezifischen Erfordernisse im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen lenkte.
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IV. Die aktuelle österreichische Entwicklung Mit der Etablierung des Sonderfachs Kinder- und Jugendpsychiatrie im Februar 2007 wurde für die Betreuung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen sowie solchen mit Entwicklungsstörungen ein Durchbruch geschafft (ÄAO 2006). Dieses Sonderfach löst das seit 1975 bestehende Additivfach ab. Wie die Geschichte zeigte, bot dieses keine ausreichende Grundlage für die Schaffung von Strukturen einer fachlich ausreichenden Versorgung, wie sie in den meisten anderen europäischen Ländern zwischenzeitlich entwickelt wurden. Aus diesem Grund hatte die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie im Jahre 1998 beschlossen, die Einrichtung eines Sonderfaches zu erwirken. Parallel zur Etablierung des Sonderfaches fanden in den letzten Jahren unter Berücksichtigung allgemeiner Versorgungsmaxime der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wie ganzheitliche Sicht des Kindes, seiner Familie und seines Umfelds, Entwicklungs-, Familien-, Beziehungsorientierung, gleichgewichtige Beachtung von patho- und salutogenetischen Aspekten, multiinterdisziplinäre Teamarbeit, Diskussionen im Rahmen der Etablierung der leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung sowie im Rahmen der Planungsaufgaben des ÖBIG statt, die zu einer weiteren Konsolidierung der Versorgung führten. Durch die Festschreibung von fachspezifischen Abrechnungspositionen im System der leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung (LKF) im Jahre 1997 (Olensky, 2004) wurden Strukturkriterien für kinder- und jugendpsychiatrische Krankenhauseinheiten implizit formuliert, in deren Zentrum das multidisziplinäre Team mit leistungsdifferenzierter und leistungsadäquater Personalausstattung steht. In Weiterführung dieser Diskussion im Jahre 2004 wurden gemeinsam mit dem Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen Strukturqualitätskriterien verabschiedet. Die Strukturen der Versorgungsangebote für psychisch kranke Kinder und Jugendliche in Österreich sollen sich an folgenden Prinzipien orientierten: - Integrativ: unter weitgehender Vermeidung von Prozessen der Diskriminierung und des sozialen Ausschlusses und nahe dem Lebensumfeld; psychisch kranke Kinder und Jugendliche benötigen oft langfristig die Hilfe der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP), aber keineswegs immer unter dem Dach der KJP. - Niederschwellig: leicht zugänglich bzw. unabhängig von der sozialen Lage - Kooperativ: in Zusammenarbeit mit benachbarten Institutionen - ambulant vor stationär, Freiwilligkeit vor Zwang Die Einrichtung des Sonderfaches Kinder- und Jugendpsychiatrie bietet nunmehr die Chance, eine grundlegende Verbesserung der Versorgungsstrukturen in die Wege zu leiten. Historisch gewachsene Strukturen sollen Ausgangspunkte einer Verbesserung der Versorgung sein. Dies ist umso wichtiger, als sich das neue Sonderfach aus drei „Mutterfächern“ und ihren Versorgungsstrukturen heraus
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entwickelt hat und den Aspekten der Verknüpfung bzw. Grenzziehung bei der Entstehung von Neuem besonderes Augenmerk zu schenken ist. Folgende Strukturelemente sind Bausteine der Versorgung und müssen bundesweit in ausreichendem Umfang (Bundes- und Regionalplanung) entwickelt werden: Krankenhausabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die das volle Spektrum des Faches – Versorgung aller Altersgruppen und aller Intensitätsgrade psychischer Störungen – anbieten. Die Personalplanung derartiger KJP-Stationen hat einerseits den Standards, die im LKF-System festgeschrieben sind (interdisziplinäres Team, Betreuungsintensität), und andererseits den Richtzahlen der Psych-PV zu entsprechen. Je Bundesland ist zumindest eine Vollabteilung, die das gesamte Spektrum der KJP abdeckt (intensive Behandlung nach LKF einschließlich Aufnahme bzw. Behandlung ohne Verlangen – UbG sowie rehabilitative Behandlung), erforderlich. Konsiliar- und Liaisondienste der KJP, die Betreuungs- und Behandlungsteams in den (medizinischen und nicht-medizinischen) Nachbarbereichen der KJP unterstützen, PatientInnen mit Störungen niedriger Intensitätsgrade außerhalb der KJP zu betreuen. Teilstationäre Einheiten der KJP, insbesondere Tageskliniken, die als Teile des Krankenhauses oder außerhalb desselben organisiert sein können. Ambulante und mobile Einheiten der KJP, die – unabhängig von Krankenhausambulanzen – eine wohnortnahe Betreuung ermöglichen. Niedergelassene FachärztInnen (KJP) und PsychotherapeutInnen, die über eine spezifische fachliche Ausbildung und entsprechende Verträge mit den Krankenversicherungsträgern verfügen. Dezentrale, gemeindenahe, interdisziplinäre Netzwerke. Die Entscheidung für die Nutzung einer der Strukturen des Betreuungsangebotes wird im allgemeinen eher aufgrund der Beurteilung der Störungsintensität (anhand fachlicher Beurteilungsinstrumente wie z.B. Achse 6 der MAS oder CBCL etc.) und der vorhandenen Ressourcen des Patienten und seines sozialen Umfeldes – und weniger aufgrund der Diagnose – getroffen. Die Qualität der fachspezifischen Versorgung ist – neben der Ausbildungsqualität der MitarbeiterInnen – vor allem durch die Strukturqualität der Einrichtungen definiert. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt der Personalplanung aufgrund der beziehungsorientierten Arbeitsweise besondere Bedeutung zu. Eine Vernachlässigung dieses Aspekts führt zu einer kustodialen Orientierung. Gemeinsam mit dem ÖBIG wurden daher im Jahre 2004 Strukturqualitätskriterien für die verschiedenen Versorgungsbausteine definiert, die in den „Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG)“ Eingang finden sollten (ÖSG 2006). Positiv anzumerken ist die Tatsache, dass einige Aspekte der Kindermedizin im ÖSG 2006 Eingang gefunden haben: die intensivmedizinische Versorgung im Kinderbereich wird im Detail ausgeführt (im Abschn. 3.2.) und die psychosoma-
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tische Versorgung von Kindern und Jugendlichen wird als Planungsbereich erwähnt (im Abschn. 3.1.3). Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung, die im Entwurf des ÖSG (Abschn. 2.4.1.3. und 3.4.1.3.)LIT) noch enthalten war, wurde hingegen nicht in die Endversion übernommen. Das gleiche Schicksal erfuhr auch die Versorgungsplanung im Bereich Psychosomatik für Säuglinge, Kinder und Jugendliche (PSO-S-KJ, Abschn. 3.2.1. des ÖSG-Entwurfs).
V. 2te vorläufige Zusammenfassung Die in der neuen Ärzteausbildungsordnung enthaltene Schaffung des neuen Sonderfaches „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ ist ein Meilenstein in der etwa 50jährigen Entwicklungsgeschichte dieses Faches. Die Voraussetzungen, diese Zäsur auch für den Aufbau eines hochwertigen bundesweiten Versorgungsangebotes zu nützen, sind gut: wir verfügen über ein fundiertes und wissenschaftlich begründetes Lehrgebäude und über erprobte und evaluierte Behandlungsformen; überdies wurden die Standards der fachärztlichen Ausbildung in Kooperation mit der UEMS auf europäischem Niveau definiert und die Standards der Versorgungsstrukturen gemeinsam mit dem ÖBIG festgelegt. Wichtig wäre es noch, die universitäre Basis des Faches, die sich derzeit nur auf die Wiener Universitätsklinik stützt, zu verbreitern.
VI. Die österreichische Realität Sowohl die europäische als auch die im vorigen Kapitel zusammengefasste österreichische Entwicklung machen deutlich, dass dem Thema „psychische Aspekte der Gesundheit“ mehr und mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und dass es gelungen ist, den spezifischen Bedürfnisse von psychisch erkrankten und entwicklungsgestörten Kindern und Jugendlichen in deren sozialen Kontext Gehör zu verschaffen. Insofern können alle diese aktuellen Entwicklungen als durchaus positiv gesehen werden. Was nun die österreichische Realität betreffend die Umsetzung des Versorgungsvorhabens anlangt, so sind kritische Bemerkungen angebracht. Geht man von den allgemeinen Ingredienzien effektiver und effizienter Versorgungspolitik aus, so sind verschiedene Komponenten notwendig. Auf den Punkt gebracht - erfordert alles medizinische Tun eine humanistische Wertebasis, eine evidenzbasierte Wissensbasis, ausreichend viele Mitarbeiter (wobei in der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie auf einen adäquaten Mix der verschiedenen Berufsgruppen zu achten ist) - bauliche Ressourcen sowie last but not least eine für die Aufgabe spezifische Organisationsstruktur. Betrachtet man die dargestellten Entwicklungen, so scheint sich durchgesetzt zu haben, dass nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen (siehe die Begründungen
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warum psychische Gesundheit von Seiten der EU als erstrebenswertes Entwicklungsziel formuliert wurde), sondern auch aus humanitären Gründen die Förderung der und das Investment in die psychische Gesundheit von Kindern und jugendlichen in deren sozialem Kontext akzeptiert zu sein. Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang - wie so oft in der öffentlichen Diskussion - die Frage, ob Gesundheit ein Recht oder eine Ware ist in noch pointierterer Form als allgemein. Finden sich schon allgemein mit Bezug auf den erwerbstätigen Bürger gute Argumente die neoliberale Auffassung „Gesundheit ist eine Ware“ abzulehnen, so stellt sich diese Problematik bei alten Menschen, bei solchen die nicht vermögend und mit geringem Einkommen ausgestattet sind, und speziell bei Kindern da vor allem bei Kindern aus sozial benachteiligten Schichten - diese Grundsatzfrage in noch wesentlich deutlicherer Form. Gesundheit kann ja nicht zu einer Ware werden, die sich nur mehr ein privilegiertes Segment der Bevölkerung leisten kann. Im Übrigen sei festgehalten, dass über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern die Bevölkerung insgesamt die „Ware“ Gesundheit jedoch solidarisch bezahlt. Es geht daher eigentlich nicht um das begriffliche Gegensatzpaar „Recht“ versus „Ware“, sondern um die Haltung „solidarisch“ versus „nichtsolidarisch“. Was nun die Wissensbasis anlangt sowie ihre Vermittlung, konnte gleichfalls viel erreicht werden. Die Wissensbasis sowohl der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch der Kinderneurologie, speziell hier der Entwicklungsneurologie, nimmt stetig zu und ist im modernen Zeitalter des WorldWideWeb leicht verfügbar. In diesem Zusammenhang sei auf die entsprechenden Standardentwicklungen publiziert auf der Homepage des Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichmedizinischen Fachgesellschaften /AWMF (http://www.awmf.org/) - und auf die Standards die in der Cochrane Library (http://www.theCochraneLibrary.com) sowie Campbell Library (http://www.campbellcollaboration.org/index.asp) publiziert sind, sowie auf Beispiele aus der fachspezifischen Forschung in Österreich (Elstner et al. 2006, Spiel et al. 2006) hingewiesen. Diese Wissensbasis wurde konsequent in die Ausbildung des Sonder- und Zusatzfaches eingeführt. Durch die Einführung einer Facharztprüfung für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde ein weiterer Schritt im Sinne der Qualitätssicherung geleistet. In modellhafter Form konnten auch einzelne Bausteine einer künftigen Versorgungsstruktur entwickelt werden (Spiel, Petscharnig 2006; Berger, Steinberger, Huber 2006). Soweit zu den positiven Entwicklungen. Was nun die weiteren Bausteine effektiver und effizienter Gesundheits- und Versorgungspolitik, nämlich die zur Verfügungstellung quantitativ ausreichender Mitarbeiterressourcen sowie die Betriebsorganisation anlangt, so lassen Umsetzungen noch auf sich warten, respektive sind Entwicklungen absehbar, die gravierende negative Einflüsse auf die kinder- und jugendpsychiatrische und entwicklungsneurologische Praxis haben werden.
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Arbeiten zum Bedarf nach kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsangeboten wurden schon in den 1970er Jahren vorgelegt (Poustka et al. 1977, Berger u. Friedrich 1977). Parallel zu den Planungen der Etablierung des Sonderfaches Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden gemeinsam mit dem österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen Strukturqualitätskriterien für die Kinderund Jugendpsychiatrie erarbeitet, die die Grundprinzipien des Arbeitens in diesem medizinischen Feld berücksichtigten. Entsprechende quantitative und qualitative Kriterien für die Struktur- und Personalplanung wurden vereinbart, und zwar so, dass nach dem state of the art stationäre, tagesklinische und ambulante sowie konsiliarische Versorgung gewährleistet werden kann (Bednar, Danzer, ÖBIG 2004). Es ist bekannt, dass bei Unterschreitung dieser Anhaltzahlen die Gefahr einer custodialen Orientierung speziell der stationären Versorgung besteht. Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung, die im Entwurf des ÖSG (Abschn. 2.4.1.3. und 3.4.1.3., Bednar, Danzer, ÖBIG 2004) noch enthalten war, wurde nicht in die Endversion übernommen. Das gleiche Schicksal erfuhr auch die Versorgungsplanung im Bereich Psychosomatik für Säuglinge, Kinder und Jugendliche (PSO-S-KJ, Abschn. 3.2.1. des ÖSG-Entwurfs). Dies ist umso unverständlicher, als für andere Fachdisziplinen diese qualitätssichernden Strukturkriterien bereits erfolgt sind, womit sich die Frage erhebt, von wem und warum die Kinder- und Jugendpsychiatrie hier diskriminiert wird. Es gelang den Funktionsträgern der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie trotz eifrigen Bemühens nicht, direkt mit den Verantwortlichen für diese Entscheidung in Kontakt zu kommen und zu diskutieren( z.B. Stufenpläne für die Entwicklung etc.). Abschließend sei auf einen weiteren Problembereich bei der notwendigen Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie hingewiesen. Im Rahmen neoliberaler ausschließlich betriebswirtschaftlich ausgerichteter Managementstrategien werden zunehmend betriebsorganisatorische Rahmenbedingungen geschaffen, die die wesentlichen Arbeitsprinzipien der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie konterkarieren. Unter der Vorstellung, betriebswirtschaftliche Effizienz zu steigern, werden mehr und mehr Mitarbeiter/Mitarbeitergruppen krankenhauszentralen Organisationseinheiten zugeordnet und damit aus den Teams an den Abteilungen herausgelöst. Dieser Vorgang wird üblicherweise mit dem Begriff „Poolen“ bezeichnet. Inhaltliche Begründungen für dieses Vorgehen werden kaum diskutiert, häufig wird mit einer erwarteten Effizienzsteigerung sowie einer leichteren Handhabung bei Notwendigkeit von Vertretungen argumentiert. Was dies für die Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie bedeutet, kann man sich leicht ableiten, wenn man berücksichtigt, dass in Kinder- und Jugendpsychiatrien/Entwicklungsneurologien bis zu 9 verschiedenen Mitarbeitergruppen aufeinander bezogen handeln müssen, die nunmehr jeweils unterschiedlichen Organisationseinheiten angehören. Anschaulich soll die hier eingefügte Skizze den Vergleich der beiden Organisationsstatuten darstellen. Das Organisationschaos wird damit offensichtlich.
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Es sei hier ausdrücklich festgehalten, dass es keine rechtliche Notwendigkeit gibt, wie oft behauptet, ein Organisationsstatut in dieser Form aufzusetzen, noch dass es Belege dafür gibt, dass dieses Managementprinzip inhaltlich und/oder betriebswirtschaftlich überhaupt effektiv ist. Auch hier fehlt wie so oft bei Strukturveränderungen eine begleitende antizipatorische Evaluation, um zumindest nach einer Probezeit Ineffektives wieder zu revidieren. Aus den zwei genannten Gründen, nämlich der Ressourcenbeschränkung im Mitarbeiterbereich und der verfehlten Entwicklung bezüglich der Betriebsorganisation, hat die europäische Fachärztevereinigung Sektion Kinder- und Jugendpsychiatrie (UEMS Sektion CAP) und die Gruppe der European National Advisor for Child Neurology in etwa gleichlautende Feststellungen getroffen, die in ihrer Essenz folgendes aussagen: “It was already stressed that CAP/ PN is devoted towards mental health and therefore should act in close cooperation with other partners in the mental health system. For a Department of CAP in a General Medical Hospital it is essential to have not only close cooperation with other medical fields, but also with the youth and family welfare system, the educational system and the justice system to give the most important examples. The administration of the hospital should value these kinds of cooperation and should foster them.
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A second specific aspect of CAP which has an impact on the organisation is interdisciplinarity, that means that different professions work hand in hand with one another and generate joint responsibility for quality assurance/management regarding assessment, diagnostics, treatment and outcome. This model of cooperation goes far beyond a system which is characterized by delegation of specific duties to different professions. The role of the Child and Adolescent Psychiatrists is not to arrange duties to different professions, but to cooperatively combine different professional approaches to achieve together a synergetic effect for the wellbeing of patients and their families. Therefore psychologists, physiotherapists, speech therapists, occupational therapists, educationists and teachers play a prominent role as cooperative partners in the field CAP. A holistic approach to children and adolescents with psychiatric problems has proven to be best for their future development in society. Thus, the child and adolescent psychiatrist is the only professional who can overview and handle, delegate und coordinate multilevel healthcare needed for the psychiatrically disturbed child and adolescent. Administrative authorities of a hospital should value this concept and should foster interdisciplinary work in this vein. Organisation and management principals which contradict the specific working attitude of CAP should be avoided for the sake of the children and adolescents and their families which are in need of child and adolescent psychiatric support. This statement addresses administrative and political authorities with the request to make available the appropriate working background for CAP.”
VII. Forderungen zur nachhaltigen Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie Ziel muss die umgehende Verankerung der Strukturqualitätskriterien für das Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie und das Additivfach Neuropädiatrie (Neurologie des Kindes- und Jugendalters) im ÖSG sein. Ebenso dringend ist der Aufbau einer ausreichenden ambulanten Versorgung durch dezentrale Ambulanzen und niedergelassene Fachärzte im Vertragsverhältnis zu Krankenkassen. Dies muss die altersspezifische psychotherapeutische Versorgung inkludieren. Die Vernetzung dieser fachspezifischen Strukturen mit den benachbarten Bereichen der psychosozialen Versorgung (Jugendwohlfahrt, Schule etc.) ist als integrales Strukturelement zu sehen. Denkbar ist die Erarbeitung von Stufenplänen im Sinne eines Entwicklungsplans. Die Einbindung der Fachgesellschaften (ÖGKJP, ÖGKJN) in die Planungsprozesse auf Bundes- und Länderebene sichert die Nutzung der fachspezifischen Expertise.
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Ziel muss es weiters bleiben, dass inhaltlich versorgungspolitische Argumente vorrangig vor unbewiesenen betriebswirtschaftlichen gelten. Weiters, dass die Spezifika der Kindermedizin, hier speziell der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie, Berücksichtigung finden und dass damit die Heterogenität der Gesundheitslandschaft Berücksichtigung findet. Die Versorgungsplanung für den Gesundheitsbereich generell nach dem „Gießkannenprinzip“ durchzuführen, geht an den Bedürfnissen der Patienten und ihrer Angehörigen vorbei. Medizinische Fächer brauchen nun einmal für sie spezifische Strukturen, Kinder und Jugendliche und deren Angehörige im speziellen. Falls das aktuelle System diese Bedürfnisse und Notwendigkeiten nicht abdecken kann, sollten gesetzliche Änderungen im Sinne der Novellierung des Bundeskrankenanstaltengesetzes respektive auch Ausgliederung der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Entwicklungsneurologie aus allgemeinen Krankenhäusern diskutiert werden.
Literatur und Dokumente ÄAO – Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordung 2006. Verordnung der Bundesministerin für Gesundheit und Frauen über die Ausbildung zur Ärztin für Allgemeinmedizin/zum Arzt für Allgemeinmedizin und zur Fachärztin/zumFacharzt. BGBl. II Nr. 286/2006 Bednar W, Danzer D (2004) Planung Psychiatrie 2004 Versorgungstruktur Kinder- und Jugendpsychiatrie. Österr. Bundesinstitut f. Gesundheitswesen, Wien Berger E, Friedrich MH (1977) Bedarfsschätzung für den stationären Bereich der Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters. Mitteilungen der österr. Sanitätsverw. 78: 300-09 Berger E, Aichhorn W, Friedrich HM, Fiala-Preinspreger S, Leinering W, Mangold B, Spiel G, Tatzer E, Thun-Hohenstein L (2006) Kinder- und Jugendpsychiatrische Versorgung in Österreich. Neuropsychiatrie, Band 20, Nr. 2: 86-90 Berger E, Steinberger K, Huber N (2006) Jugendpsychiatrische Tagesklinik – Aufbau und Erfahrungen. Neuropsychiatrie, Band 20, Nr. 2: 127-130 Bundesministerium für Gesundheit und Frauen (2005) Leistungsorientierte Krankenhausfinanzierung. www.bmgf.gv.at/cms/site/attachments/4/6/6/CH0036/CMS1039004330660/m odell_2005.pdf Counsil of the European Union. Resolution of 18th November, 1999 on the Promotion of Mental Health, 2000/C86/01
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Elstner T, Fiala-Preinsperger S, Berger E (2006) Entwicklungsbegleitung von Kindern substanzabhängiger Mütter das Wiener Comprehensive Care Modell. Neuropsychiatrie, Band 20, Nr. 2: 109-117 Entschließung des Artes vom 2. Juni 1994 zum Aktionsrahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, ABl. C 165 vom 17.06.1994: 1 ESCAP – European Society for Child and Adolescent Psychiatry. Bidging the Gaps. 13th International Congress of the European Society for Child and Adolescent Psychiatry, Florence, August, 2007: www.escap-net.org European Commission & Finnish National Research and Development Centre for Welfare and Health (STAKES). Action for Mental Health, Activities co funded from European Community. Public Health Programmes 1997-2004 European Commission, WHO Regional Office for Europe and the Ministry of health of Luxembourg. Conclusion of Pre-Conference “The Mental Health of Children and Adolescents”, Luxemburg, September 2004 European Commission (2005) Green Paper. Improving the mental health of the population: Towards a strategy on mental health for the European Union, Brussels, COM(2005)484 EU-Parlament. Bericht über das Grünbuch: Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union. Plenarsitzungsdokument A6-0249/2006 Olensky E (2004) Die Funktionsweise des österreichischen LKF-Systems. Bundesministerium für Gesundheit und Frauen, Wien Österreichischer Strukturplan Gesundheit (ÖSG) 2006 – Entwurf. Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen, Wien 2005 Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheit (ÖBIG) Österreichischer Strukturplan Gesundheit, 2006, Wien Poustka F, Friedrich MH, Berger E, Spiel W (1977) Versuch einer Erhebung der kinderpsychiatrischen Versorgung in der Praxis des Nervenarztes. In: H Gross, W Solms-Rödelsheim (Hrsg.): 2. Steinhofer Symposium, Facultas Wien Remschmidt H, Engeland H (1999) Child and Adolsecent Psychiatry in Europe, Springer, New York Schlussfolgerung des Rates vom 26.November 1998 über den künftigen gemeinschaftlichen Aktionsrahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Abl. C 390 vom 15.12.1998: 1 Spiel G, Petscharnig J (2006) Rehabilitation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Beispiel der beruflichen Integration von Jugendlichen. Neuropsychiatrie, Band 20, Nr. 2: 118-126 Spiel G, von Korff C, Sange G (2006) Zur Differentialdiagnostik der Störungen des Sozialverhaltens unter Verwendung eines personenorientierten Ansatzes. Neuropsychiatrie, Band 20, Nr. 2: 96-101
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Kinder, Jugendliche und Familien am Rand - na und? Ernst Tatzer
Armut, psychische bzw. intellektuelle Beeinträchtigung der Eltern , „broken home“ Situation und Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen selbst sind wesentliche, einander verstärkende Faktoren, die diese mit oft lebenslangen Folgen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschränken. Um dem vorzubeugen braucht es ein gut vernetztes belastbares Versorgungssystem mit regional gut erreichbaren und für diese Familien finanziell und energiemäßig leistbaren Diagnose- und Therapieplätzen, sowie engagierte und zugewandte professionelle Helfer. Das NÖ Heilpädagogische Zentrum Hinterbrühl ist eine Einrichtung der Jugendwohlfahrt und Behindertenhilfe zur stationären und teilstationären Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen. Die Einrichtung ist angesiedelt an der Schnittstelle unterschiedlicher öffentlicher Versorgungssysteme für Kinder, Jugendliche und ihre Familien, wie Kinder- und Jugendpsychiatrie, -heilkunde, -psychologie und -psychotherapie, Jugendwohlfahrt, Behindertenhilfe sowie Schul- und Kindergartenwesen. Auf Grund des wachsenden Bedarfs haben wir einen Schwerpunkt in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens entwickelt. Unser Konzept sieht eine möglichst rasche Reintegration in ein „normales“ Umfeld vor. Notgedrungen setzen wir uns mit Analysen und Überlegungen zu den einzelnen Fallgeschichten und ihren Verläufen auseinander. Aus der Position des letzten Gliedes - für viele dieser Kinder und Jugendliche sind wir sozusagen eine „letzte Chance“ - einer oft langen Kette von bisherigen Versuchen, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, sehen wir gar nicht so selten Verläufe, wo große Anstrengungen vieler Beteiligter wenig bewirkt, manchmal sogar die Symptomatik noch verstärkt haben (Tatzer 2003). Wenngleich uns klar ist, dass solche Verläufe nie ganz verhindert werden können, meinen wir aus unserer Erfahrung Faktoren nennen zu können, deren Beachtung (Bewältigung, Verhinderung) solche Entwicklungen vermeiden helfen könnten und die im Rahmen eines kindermedizinischen Versorgungsnetzes beachtet werden sollten. Die Klientel der Sozialpädagogischen Abteilung des HPZ In der Sozialpädagogischen Abteilung, als eine der drei Abteilungen des NÖ HPZ Hinterbrühl, werden Kinder und Jugendliche aufgenommen, die mit ihrem
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sozialen Umfeld in Konflikt geraten sind und deren Familien nicht in der Lage sind trotz aller möglichen ambulanten Hilfen ein entwicklungsförderndes Umfeld zu bieten. Sie sind ganz augenscheinlich an den Rand der Gesellschaft geraten. Welche Risikofaktoren dazu beigetragen haben, dass diese Maßnahme notwendig geworden ist, soll eine Beschreibung der dort zum Stichtag 25. September 2007 aufgenommenen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien veranschaulichen. Es waren 53 Kinder und Jugendliche – 9 Mädchen, 44 Buben im Alter zwischen 7,0 und 16,0 Jahren, Durchschnittsalter 11,8 Jahre. Darunter befanden sich 2 Geschwisterreihen mit 2 Kindern und eine Geschwisterreihe mit 5 Kindern sowie ein Flüchtlingskind aus Afghanistan ohne jeglichen familiären Hintergrund. 47 der Kinder zeigten zum Zeitpunkt der Aufnahme deutliche Auffälligkeiten in Richtung Persönlichkeitsentwicklungsstörung. Nur bei 12 der Kinder war dem Aufenthalt bei uns keine deutliche bzw. längere Betreuungssituation durch andere Institutionen vorangegangen. 16 der Kinder waren zuvor zumindest vorübergehend in kinderpsychiatrischen oder ähnlichen Einrichtungen aufgenommen. Die Analyse der familiären Situation ergibt folgendes Bild: 27 der Kinder kommen aus Familien mit massiven finanziellen Schwierigkeiten, die zumindest als armutsgefährdet einzustufen sind. Bei 17 der Kinder ist ein Elternteil psychisch bzw. intellektuell beeinträchtigt, bei 6 der Kinder sind beide Eltern betroffen. Eine diagnostisch verifizierte psychische Erkrankung liegt bei 9 Personen vor. 28 der Kinder kommen aus schon äußerlich identifizierbaren „broken home“Situationen, mehr als die Hälfte davon haben alleinerziehende Mütter. Bei 12 Kindern ergaben sich Belastungen in allen 3 familiären Bereichen – Armut, psychische/intellektuelle Belastung der Eltern und „broken home“–Situation, bei 9 Kindern in 2 Bereichen und bei 12 Kindern in nur einem Bereich. Lediglich 8 der Familien zeigten keine offensichtliche Beeinträchtigung auf der familiären Ebene. Risikofaktoren und ihr Zusammenwirken Die Zahlen spiegeln bekannte Verhältnisse aus der Literatur wider. Klar ist auch eine gegenseitige Bedingtheit der Verhältnisse. So hängt die Dauerhaftigkeit von Kinderarmut in seinen sozialen Folgen stark vom Umgang mit der Armutslage im Elternhaus ab (Beisenherz 2002). Einige Forscher gehen davon aus, dass Armut in der Kindheit, im Sinne einer „Kultur der Armut“ mit „erlernter Hilflosigkeit“ Armut auch im Erwachsenenalter bedingt. Gut dokumentiert ist die unmittelbare Auswirkung von Armutslagen auf Kinder im Sinne der sozialen Ausgrenzung. So bedingt ein häufiger Wohnungswechsel (durch Mietschulden etc.) den ständigen Abbruch von Sozialkontakten und verhindert eine befriedigende Integration in ein konstantes Umfeld, was für junge Menschen besonders wichtig ist. Offenkundig ist die Benachteiligung von Kindern aus sozialen Unterschichten im Bildungswesen (Beisenherz 2002, Butterwegge et al. 2005). In Österreich besuchen Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten deutlich häufiger die Hauptschule (nämlich zu 70 %) als Kinder in nicht armutsgefährdeten Haushalten (57 %). Umgekehrt besuchen 43 % der 10- bis 14-jährigen aus Haushalten ohne Armuts-
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risiko eine AHS, aber nur 30 % aller armutsgefährdeten Kinder (Statistik Austria 2007). Nach Studien in Deutschland haben Kinder, die unter Armutsbedingungen aufwachsen, vergleichsweise hohe Gesundheitsrisiken (Horstkotte 2007): •
eine höhere Morbidität und Häufung gesundheitlicher Risikofaktoren, vor allem Übergewicht
•
geringere Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen und relativ geringe Durchimpfungsrate
•
motorische Schwächen, Verhaltensauffälligkeiten und Defizite in der Sprachentwicklung (bei der Schuleintrittsuntersuchung)
•
ein wesentlich häufigeres Vorkommen tödlicher Unfälle und eine relativ hohe Sterblichkeitsrate
In Österreich machen Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren über ein Viertel (27%) aller Armutsgefährdeten aus. 140.000 Buben und 130.000 Mädchen lebten 2005 in Haushalten mit einem Äquivalenzeinkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle, das ist gleichzusetzen mit einem Armutsrisiko für 15 % (Statistik Austria 2007). In Deutschland ist der Anteil armutsgefährdeter Personen im Alter bis 15 Jahren von 12,3 % im Jahre 1998 auf 17,1% im Jahre 2005 gestiegen (Meyer-Timpe 2007). Nun leuchtet wohl ein, dass eine psychische bzw. intellektuelle Beeinträchtigung die Eltern nicht nur daran hindert, die Auswirkung der Armutserfahrungen zu bewältigen, sondern einen zusätzlichen Risikofaktor darstellt. Die direkten Risiken, die sich aus der Beeinträchtigung der Eltern ergeben, werden noch dadurch verstärkt, dass sie sich schwer tun, Zugang zu medizinischer bzw. therapeutischer Hilfe zu finden und aufrechtzuerhalten (James 2004). Diese „limited health literacy“ findet sich ebenso bei Menschen mit niederem sozioökonomischen Status (Porr 2006). Die verstärkende Wirkung des Risikofaktors „broken families“ ergibt sich nicht nur aus der finanziellen Belastung – 28 % aller armutsgefährdeten Kinder leben in einem Alleinerzieherhaushalt – sondern auch aus der fehlenden emotionalen Unterstützung, die eben zur Erziehung eines auffälligen Kindes nötig ist. Kinder und Jugendliche, die durch verschiedene, meist sich verstärkende Faktoren so an den Rand unserer Gesellschaft kommen, haben darüber hinaus ein hohes Risiko, eine bleibende Persönlichkeitsstörung zu entwickeln. Menschen mit diesem Störungsbild in seiner Extremausbildung haben eine Lebenserwartung von nur 40 Jahren (Kjelsberg et al. 1999).
Was tut not? Ein Gutteil der Kinder fällt frühzeitig – meist schon im Kindesalter oder frühen Schulalter - auf. Es braucht daher eine frühzeitige und profunde Diagnostik,
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die auch das Umfeld im Sinne der Identifizierung der genannten Risikofaktoren mit einschließt. Schon zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass manche Familien eine besondere Stützung brauchen, um die Notwendigkeiten der Betreuung zu erkennen, sie annehmen und auch durchhalten zu können. Es braucht Therapieplätze, insbesondere solche, die für die entsprechenden Familien erreichbar und leistbar sind – Voraussetzungen, die weitgehend nicht erfüllt werden. So betragen beispielsweise in den sozialpädiatrischen Ambulatorien in Ostösterreich die Wartezeiten auf einen Ersttermin mehrere Monate und für einen Therapieplatz bis zu 1½ Jahre (Vavrik 2007). Zur Zeit besteht in manchen dieser Einrichtungen sogar ein Aufnahmestopp, das heißt die Kinder werden nicht einmal mehr begutachtet. Andererseits sind Kassenplätze in Wien und Niederösterreich de facto nicht vorhanden (Tabelle 1). Noch dramatischer ist die Situation unter dem Gesichtspunkt der Leistbarkeit. Die Tabelle 2 (Püspök 2006) zeigt die extremen außerordentlichen finanziellen Belastungen, die sich durch die Therapien für Familien ergeben. Wenn wir nun wissen, dass gerade außergewöhnliche und unerwartete Ausgaben von Familien an der Armutsgrenze nicht zu tätigen sind (Statistik Austria 2007), ist es klar, dass hier die Schwelle sehr hoch ist.
Wien Therapieart
Niederösterreich
gesamt
Kasse
gesamt
Kasse
Physiotherapie
71
4
54
1
Logopädie
109
44
60
26
Ergotherapie
55
0
42
0
Psychotherapie
182
(10%)
67
0
Tabelle 1 Niedergelassene Kindertherapeuten (Püspök 2006)
Therapieart
Kosten in Euro
Physiotherapie Logopädie Ergotherapie Psychotherapie
50 - 70
Zuschuss in Euro 24 -30
Verbleiben Eltern 20 -46
Mindestens 60
37 -39
21 -23
65
22 -33
32 -43
61 -123
22
39 -101
Tabelle 2 Kosten diverser Therapien (Püspök 2006)
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Wir brauchen deshalb ein Betreuungssystem, das sicherstellt, dass begonnene Therapien nicht abgebrochen werden. Und es bedarf der empathischen Zugewandtheit und eines langen Atems jeder einzelnen Person im Helfersystem. Kinder, Jugendliche und Familien, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, machen es uns durch ihre Art oft nicht leicht. Sie sind häufig unverlässlich, halten Termine nicht ein, reagieren mit Unverständnis und gelegentlich auch mit Aggression. Sehr schnell kommen einem da Gedanken wie „ja wenn sie nicht wollen“, „die sind ja selber schuld“, „warum soll ich mir das antun“. Gibt es dann kein Netz, das Helfer und Familie auffängt, kommt es schnell zum Abbruch bis ein neuerliches Ereignis - meist eine neuerliche Auffälligkeit des Kindes - uns wieder zwingt hinzuschauen und der Kreislauf von neuem beginnt. Daher ist ein vernetzendes Arbeiten zwischen Gesundheitsdiensten, Schule und Kindergarten – als ein zweites haltgebendes System neben der Familie - und Sozialarbeit (Jugendwohlfahrt) unbedingt notwendig (Jungmann 2006). Es bedarf der strukturellen Absicherung, denn die Betreuung dieser Klientel darf nicht dem Zufall und dem übermäßigen Engagement einzelner „Helden“ des Sozialsystems überlassen bleiben. Es liegt in der Verantwortung eines Versorgungssystems, Zugänge so zu gestalten, dass es auch diejenigen nützen können, die es offensichtlich am meisten brauchen, aber es schlecht von sich aus schaffen. Dies ist nicht nur eine Frage der Humanität, sondern auch eine Frage der zu verhindernden Folgekosten. Ein Weg dazu wäre, wenn sich der Staat entschließen könnte dafür zu sorgen, dass alle Therapien für Kinder prinzipiell kostenfrei und ohne jeglichen Selbstbehalt zu erhalten sind (Jürgenssen et al 2003). Damit fiele zumindest die finanzielle Barriere und machte die Kinder unabhängig von der Entscheidung der Eltern, ob ihnen die Therapie des Kindes mehr wert ist als andere Ausgaben. Die zweite Möglichkeit, zu der sich auch die Bundesrepublik Deutschland entschlossen hat, sind von der Bundesregierung gestützte und wissenschaftlich begleitete, regionale Projekte zur „Frühen Hilfe für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ (BM für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2006). Meiner Meinung nach können regionale sozialpädiatrische Netzwerke - bestehend aus Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern und Pädagogen diese Anforderungen am besten leisten. Der Sozialpädiater (oder Kinder- und Jugendpsychiater) hat dabei die Aufgabe eines Lotsen, der alle diagnostischen und therapeutischen Anstrengungen überblickt, koordiniert und Kind und Familie in diesem Prozess begleitet. Eine gemeinsame Form der Dokumentation und Vereinbarungen zur kontinuierlichen Kommunikation sind weitere Voraussetzungen zu effizientem Handeln. Dass selbst noch spät investierte Mittel einen auch in finanzieller Hinsicht positiven Effekt haben, zeigt eine Kosten-Nutzen-Analyse für Jugendhilfsmaßnahmen in Deutschland (Zinkl K et al. 2004). Aufbauend auf den empirischen Untersuchungsergebnissen einer großen Evaluierungsstudie (Schmidt M. et al. 2002) wurden für den Bereich der Heimerziehung exemplarisch volkwirtschaftli-
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che Auswirkungen in den Bereichen Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, gesundheitsbezogenes Verhalten und Delinquenz geschätzt. Bei Männern ergibt sich eine Nutzen-Kosten-Relation von +2,32. Dies bedeutet, dass sich ein in Heimerziehung eingesetzter € im weiteren Lebensverlauf gesamtwirtschaftlich mit 3,32 € zu Buche schlägt, also einem Gewinn von € 2,32 entspricht. Bei Frauen beträgt die Nutzen-Kosten-Relation +2,79.
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Die Versorgungssituation psychisch auffälliger und kranker Kinder und Jugendlicher in Österreich Leonhard Thun-Hohenstein Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter beträgt zwischen 5 und 8 %, die Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten ohne eine Krankheitskategorie zu erfüllen zwischen 10 und 15 %, zusammen also 15-23%. Je älter die Betroffenen, umso höher die Rate. Die Versorgung dieser Menschen liegt in Österreich weit unter dem erforderlichen Niveau. Sowohl die Zahl der Kinderpsychiater pro Einwohner (1:28.600) liegt deutlich unter internationalen Zahlen (Schweiz 1:3022). Die stationäre Akutversorgung liegt mit 392 Plätzen unter den Richtwerten von 640 – 800 Plätzen (0,08-0,1 Bett pro 1000 EW), es fehlen 200 - 400 stationäre und teilstationäre Behandlungsplätze. Dies ist insbesondere auch wegen des Fehlens einer ambulanten Versorgung bzw. der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater besonders dramatisch. Zur Zeit werden nur die akutest und schwerkranken Menschen versorgt, eine Regelversorgung im Sinne tertiärer oder quartärer Prävention erfolgt praktisch nicht. Aus diesen Tatsachen ergeben sich - auch anhand der Empfehlungen der WHO und anderer Fachgesellschaften - dringend nötige Veränderungsaufträge. Das heißt konkret, eine Versorgung aufzubauen, die von gemeindenaher, dezentraler und niedrigschwelliger ambulanter Versorgung bis zur akut-stationären Versorgung und der Spezialversorgung der Kliniken reichen muss. Ein wichtiger Teil dieser Gesundheitsplanung muss es sein, fächerübergreifend (KJP+Kinderheilkunde und Psychiatrie) sowie ressortübergreifend (Gesundheit, Soziales, Schule, Familie) zu planen.
Einleitung Weltweit leiden bis zu 20% der Kinder und Jugendlichen an beeinträchtigenden seelischen Gesundheitsproblemen (WHO, 2004). In einer Studie der Bundesrepublik Deutschland wurden 21,9% als psychisch auffällig eingestuft, davon 9,7% als manifest psychisch erkrankt und 12,2% mit Hinweisen auf eine psychische Erkrankung (Barkmann and Schulte-Markwort, 2005; Ravens-Sieberer et al., 2007). Für Österreich gibt es nur wenige Daten, auf jeden Fall keine bundesweiten Daten zur seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Mit Hilfe eines Screening-Fragebogens (Pediatric Symptom Checklist) haben wir die Rate psychischer Erkrankungen bei Vorschulkindern in Salzburg erhoben, sie beträgt hier 8,3%. Die Rate auffälliger Kinder betrug in dieser Studie 12,3%, insgesamt
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also 20,6% (Thun-Hohenstein and Herzog, in press). In einer weiteren Studie mittels Selbstbefragung (Strengths and Difficulties Questionnaire) von jugendlichen Schülern in Salzburg schätzten sich 16,5% der Jugendlichen als auffällig ein und 9,6% als pathologisch (Altendorfer-Kling et al., 2007), insgesamt also 26,1%. Dies entspricht einerseits den deutschen und andererseits internationalen Zahlen, die darauf hinweisen, daß die Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Jugendund Jungen-Erwachsenen-Alter am höchsten ist, nämlich bis zu 27% (Rickwood et al., 2007). Die häufigsten Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen sind Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung, Depression, Pubertätskrisen mit und ohne Suizidalität, Suchtproblematik, Gewalt und Misshandlung, posttraumatische Störungen etc. Symptome von Gewalt- und Suchterkrankungen sind nach verschiedenen Angaben in den letzten Jahren im Zunehmen bzw. bereiten sie mehr Schwierigkeiten, weil sie von der Öffentlichkeit deutlicher wahrgenommen werden. Insgesamt ist die Häufigkeit psychischer Erkrankungen seit Jahrzehnten stabil, allerdings gibt es verschiedene neuere Erkrankungen, es gibt eine Verschiebung der Geschlechterrelation, einige Krankheiten wie Essstörungen nehmen auch an Zahl zu, und es gibt auch neue Formen von Essstörungen. Die erwachsenentypischen psychiatrischen Erkrankungen wie z.B. Schizophrenie treten in zunehmenden Maße deutlich früher im Leben auf. Aber nicht nur das Kindes- und Jugendalter, sondern auch das Säuglingsalter ist von psychischen Erkrankungen in zunehmendem Maße betroffen bzw. werden diese Schwierigkeiten auch besser wahrgenommen. Dies hat dazu geführt, daß hochspezialisierte Diagnose- und Therapieverfahren entwickelt wurden und in speziellen Einrichtungen („Schreiambulanzen“, „Baby-Sprechstunden“ etc.) angeboten werden.
Versorgungssituation Die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher wird in Österreich wie überall von mehreren Professionen geleistet. Einerseits von der Medizin bzw. deren Subspezialitäten und der Psychotherapie, und andererseits von der Jugendwohlfahrt, wo die sozialen Versorgungs- und pädagogischen Maßnahmen gesteuert und gelenkt werden. Die Pädiatrie ist - wie in anderen Ländern auch - gemeinsam mit den Praktischen Ärzten in der Regel der erste Ansprechpartner für Eltern und Betroffene, da es kaum niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater gibt. Allerdings umfasst die Ausbildung zum Kinder- und Jugendfacharzt in der Regel keine profunde Ausbildung zur Diagnostik und Betreuung psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) ist in Österreich ein sehr junges Fachgebiet, betreff eines historischen Abrisses und einer prinzipiellen Darstellung des Fachgebietes darf ich auf das Buch „Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich“ (Thun-Hohenstein, 2007) verweisen. Die KJP wurde 1975 als Zusatzfach zu den Hauptfächern Neurologie/Psychiatrie und Kinder- und Jugendheilkunde eingeführt. Im Jahr 2007 erlangte sie endlich als eigenes Sonderfach eine Gleichstel-
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lung mit den Mutterfächern. Auch aus diesem Grund ist die Versorgungsstruktur in Österreich daher bisher nicht mit internationalen Zahlen und insbesondere nicht mit ökonomisch ähnlich strukturierten Ländern wie Schweiz und Deutschland vergleichbar. „Bürokratie und ein Kompetenzwirrwarr, verfehlte Sparmaßnahmen, Verantwortungsscheu, Mangel an Übersicht und reflektierender Kontrolle sind schuld daran, dass eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen und sozialen oder familiären Traumata nur schwer in eine geordnete Lebensbahn zurückfinden können“ (Tatzer, 2003). Dieses Zitat ist die zwar subjektive Einschätzung eines renommierten Kinder- und Jugendpsychiaters als Einleitung zu einem Artikel, der in dem engagierten Buch „Weggelegt“ die Situation psychisch kranker Kinder und Jugendlicher (Waldhauser et al., 2003) beschreibt. Aber nicht nur engagierte Einzelpersonen sehen die Situation wie beschrieben, auch die vom Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie publizierte Leitlinie (Berger et al., 2006) stellt fest „….ist es bisher nicht gelungen ein ausreichendes und für das gesamte Bundesgebiet gleichmäßiges Versorgungsangebot zu schaffen“. Diese Leitlinie beinhaltet auch eine Empfehlung, welche Strukturelemente der Versorgung in ausreichendem Umfang entwickelt werden und durch die KJP abgedeckt werden sollten:
Krankenhausabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie Konsiliar- und Liäsondienste im medizinischen und nichtmedizinischen Bereich Teilstationäre Einheiten der Kinder-Jugendpsychiatrie (sowohl intra– wie auch extramural) Ambulante und mobile Einheiten Niedergelassene FachärztInnen für KJP und gleichzeitig ausreichend PsychotherapeutInnen Dezentrale, gemeindenahe, interdisziplinäre Netzwerke
In Abbildung 1 sind diese Versorgungsebenen schematisch anhand ihrer Ereichbarkeitsschwelle dargestellt. Diese Empfehlung deckt sich mit den Empfehlungen der WHO, die in ihrem World Health Report einen detaillierten Überblick zur Mental Health Versorgung gibt und genaue Empfehlungen für die Struktur- und Prozessqualtität der (kinder- und jugend-) psychiatrischen Versorgung beschreibt (Murthy, 2001). In diesem Bericht werden „principles of care“ und „ingredients of care“ beschrieben (auf die weiter unten noch eingegangen wird), welche die Grundlagen der medizinischen, sozialen und politischen Gesundheitsplanung sein sollten.
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Abb.1 Versorgungsstruktur der kinder- und jugendpsychiatrtischen Versorgung
Untersuchungsdesign Um die österreichische Situation zu beschreiben wurde Anfang 2007 an alle Landesvertreter (n=8, für das Burgenland gibt es keinen Vertreter) der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Fragebogen versandt, der die stationäre, tagesklinische und ambulante Versorgung dokumentieren sollte. Der Rücklauf betrug 100%. Die Fragestruktur war auf die in den Leitlinien empfohlenen Versorgungsebenen abgestimmt.
Ergebnisse Stationäre Strukturen In Tabelle 1 ist die stationäre Versorgung nach Bundesländern dargestellt und im Vergleich dazu die jeweilige Soll-Zahl, berechnet nach den Vorgaben des Österreichischen Strukturplanes Gesundheit 2006 (Bundesministerium für Gesundheit, 2007). In Österreich gibt es eine Universitätsklinik, drei KJP-Stationen an Universitätskliniken, sieben Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie an Landeskrankenanstalten, und zwei weitere jugendpsychiatrische Stationen an Landeskrankenhäusern. Tagesklinische Behandlungsplätze stehen in Österreich an den meisten Abteilungen zur Verfügung, eine ausgewiesene extra strukturierte Tagesklinik gibt es nur in Wien und Tulln, demnächst auch in Salzburg. Insgesamt stehen somit an 9 Tageskliniken 60 Behandlungsplätze zur Verfügung. In Summe sind das insgesamt 392 (stationäre und teilstationäre) Behandlungsplätze.
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Nach Empfehlungen der WHO, welche das ÖBIG im ÖSG 2006 übernommen hat, beträgt das Soll an stationären und teilstationären Behandlungsplätzen 0.080.1 Betten auf 100.000 Einwohner. Bei ca. 8 Mio Einwohnern sind das zwischen 640 und 800 Plätzen, daher ergibt sich ein Minus von zumindest 248 stationären und tagesklinischen Behandlungsplätzen. Die Umsetzung dieser Empfehlung von Seiten des ÖBIG wird zur Zeit vor allem von den Gesundheitsreferenten der Länder blockiert, insbesondere wegen der im ÖSG formulierten Strukturqualitätskriterien. Im extramuralen Bereich gibt es noch 3 weitere stationäre Einrichtungen mit insgesamt 64 Behandlungsplätzen, die von Kinder- und Jugendpsychiatern geleitet werden, deren Träger aber entweder die Sozialreferate oder die Jugendwohlfahrt sind (z.B. Heilpädagogische Station des Landes Salzburg). Ein wichtiges Teilgebiet ist die Psychosomatik, die aber schon traditionellerweise eng mit der Pädiatrie verbunden ist. An einigen österreichischen Kinderspitälern sind in Anwendung der ÖBIG-Kriterien in den letzten Jahren psychosomatische Schwerpunkte und an einer Universitätsklinik neuerdings ein eigenes Department
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entstanden. Die Psychosomatik wurde für die Kinderspitäler vor allem wegen der längeren Liegedauer der Patientinnen und der damit verbesserten Auslastung der Abteilungen auch wirtschaftlich höchst interessant. Die vom ÖBIG und Vertretern der Fachgesellschaften erarbeiteten Strukturqualitätskriterien für die Kinder- und Jugendpsychosomatik sind auch bei diesem Teil der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung nur ansatzweise umgesetzt, wie z.B. die Vorgabe der Leitung oder zumindest Co-Leitung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater. An einer bis vor einigen Jahren international sehr renommierten Kinderpsychosomatik (Univ.Kinderklinik Innsbruck) wurde nach pensionsbedingtem Abgang des Leiters eine nicht fachspezifische Leitung eingesetzt. Dadurch wurden weder das Primat des Kinderarztes noch des Kinderpsychiaters noch in irgendeiner Weise die übrigen Vorgaben der ÖBIG-Strukturquaktätskriterien berücksichtigt.
Ambulanzen Intramural Nahezu alle Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie verfügen über eine allgemeine kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz (n=11), die zumindest die Nachsorge nach dem stationären Aufenthalt erfüllt. Nur wenige verfügen über sogenannte Spezialambulanzen, die aber zumindest ab dem Niveau einer tertiären Versorgungseinheit als Standard anzusehen sind. Extramural Dezentrale Ambulanzen sind in allen Bundesländern unterschiedlich organisiert und strukturiert, in manchen Bundesländern wie Kärnten und Salzburg wird versucht, durch eine eigene Organisation ein flächendeckendes System von Ambulanzen aufzubauen, wie dies im Vorarlberger Arbeitskreis für Vorsorgemedizin bereits seit Jahrzehnten besteht. Insgesamt gibt es 14 extramurale Ambulanzen, allerdings sehr unterschiedlicher Ausstattung. Das Soll extramuraler Ambulanzen beträgt laut WHO 1 Ambulanz auf 250.000 Einwohner, das wären für ganz Österreich 32 Ambulanzen, es besteht also ein Defizit von 18 Ambulanzen. Die Strukturqualitätskriterien der WHO gehen von 2 KJP, 2 PsychologInnen und 1 SozialarbeiterIn pro Ambulanz aus. Diesen Standard erfüllt kaum eine extramurale Ambulanz. In Niederösterreich wird nun ein Versuch gestartet, dezentrale Ambulanzen an eine zentrale Abteilung für KJP anzusschließen, ein Modell, das am besten gleichzeitig eine hochwertige Versorgung garantiert und dennoch auch wohnortnahe Angebote macht.
Niedergelassenen Bereich Die Situation der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatrie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt äußerst prekär. Die befragten Ländervertreter konnten dazu allerdings keine verlässlichen Angaben machen. Kinder- und JugendpsychiaterInnen, die auch über einen finanziell sinnvollen Kassenvertrag verfügen, gibt es nach Angaben der Ärztekammer vierzehn, wobei dabei festzuhalten ist, dass nur eine Handvoll über einen Kassenvertrag im Fach KJP verfügt. Daneben gibt es
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einige Kinder- und Jugendpsychiater, die entweder im Rahmen einer kinderärztlichen Praxis oder als Wahlärzte haupt- oder nebenberuflich kinder- und jugendpsychiatrisch tätig sind. Das Soll an niedergelassenen Kollegen beträgt für Östereich nach Berechnungen der WHO 26 (0,8 / 250.000 EW).
Bereich der im gemeinsamen Feld tätigen TherapeutInnen Versucht man die Versorgung im Bereich von Logopädie, Ergotherapie, sowie Psychotherapie und verwandten Therapieformen (Musiktherapie, assoziierte Psychotherapie, therapeutisches Klettern etc.) zu betrachten, findet sich eine schier unübersehbare Vielfalt an verschiedensten Angeboten. Hinsichtlich der Zugänglichkeit und der Finanzierung zu diesen Therapien sind jedoch massive Defizite zu vermerken. In keinem österreichischen Bundesland wird die Psychotherapie für Kinder von der Gebietskrankenkasse vollständig bezahlt, überall gilt es für die Eltern Restleistungen zu erbringen. Dasselbe gilt für die Ergotherapie, die bei manchen Diagnosen doch einen sehr wesentlichen Beitrag zur Gesundung psychisch kranker Kinder leisten kann. Zusätzlich gibt es auch in Österreich zu wenig spezifisch ausgebildete Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, was die Suche nach geeigneten Therapeuten noch zusätzlich erschwert.
Diskussion Insgesamt ist also festzuhalten, dass die Versorgungssituation in Österreich für psychisch kranke Kinder und Jugendliche im engeren medizinischen Bereich sowohl im stationären als auch im außerstationären und niedergelassenen Bereich als nicht ausreichend zu bezeichnen ist. Infolge der Schaffung des Sonderfaches ist mittlerweile etwas Bewegung ins System gekommen, und es sind derzeit einige Einrichtungen in Planung (3. Wiener Kinder- und Jugendpsychiatrie Abteilung) oder Aufbau (neue KJP-Abteilung in Tulln; Tagesklinik in Salzburg etc.). In einem der reichsten Länder der Erde ist die Tatsache einer derartig defizitären Versorgung unser Kinder und Jugendlichen angesichts der massiven Not dieser Menschen (und ihrer Familien) und der epidemiologischen Fakten ein veritabler Skandal.
Anregungen, Empfehlungen und Forderungen Die WHO hat im Kapitel 3 des World Health Report zur Mental Health (WHO, 2001) einige Grundsätze festgehalten. Die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher ist keine alleinige Aufgabe der Medizin, sondern verlangt nach weitergreifenden Aktivitäten. Die WHO geht davon aus, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen eine Versorgung innerhalb ihres Wohnortes und möglichst niederschwellig angeboten werden sollte. Dabei sollen neben den diagnostischen und therapeutischen Belangen die vielfältigen Bedürfnisse dieser Menschen berücksichtigt werden.
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Im weitesten Sinne geht es um das „Empowerment“ dieser Menschen, die möglichst optimale Ermöglichung weitgehend selbständiger Lebensweisen. Die moderne Psychiatrie, Soziologie und Hirnforschung ermöglichen heute den Entwurf eines recht genauen Bildes der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen und der daran beteiligten Faktoren. Insbesondere die gegenseitige Beeinflussung sozialer, persönlicher und genetischer Faktoren zeigen eine Menge möglicher Präventions- und Interventionsansätze auf. Als wesentliche Grundprinzipien der Betreuung („principles of care“) werden empfohlen: standardisierte und quallitätsgesicherte Diagnostik und Erstellung möglichst individueller Behandlungspläne auf Basis möglichst gesicherten Wissens (evidenzbasiert). Gesichert sein sollte eine kontinuierliche Betreuung, ein breites Angebot an Leistungen sowie eine basale Zusammenarbeit mit Familien und Betroffenen-Organisationen im Sinne der Bedarfsanalysen und Qualitätssicherung. Weiters wird die intensive Zusammenarbeit mit den Wohngemeinden empfohlen, um Stigmatisierungen zu vermeiden bzw. die (Re-) Integration zu verbessern. Hierbei geht es auch um die Integration der Entdeckung und Betreuung psychisch kranker Menschen in den Bereich der medizinischen Primärversorgung (praktische Ärzte, Kinder- und Jugendärzte, Familienberatungsstellen, Mutterberatung etc.). Als wesentliche Grundprinzipien der Betreuung („principles of care“) werden empfohlen: standardisierte und quallitätsgesicherte Diagnostik und Erstellung möglichst individueller Behandlungspläne auf Basis möglichst gesicherten Wissens (Evidenzbasiert). Gesichert sein sollte eine kontinuierliche Betreuung, eine breites Angebot an Leistungen sowie eine basale Zusammenarbeit mit Familien und Betroffenen-Organisationen im Sinne der Bedarfsanalysen und Qualitätssicherung. Weiters wird die intensive Zusammenarbeit mit den Wohngemeinden empfohlen um Stigmatisierungen zu vermeiden bzw. die (Re-) Integration zu verbessern. Hierbei geht es auch um die Integration der Entdeckung und Betreuung psychisch kranker Menschen in den Bereich der medizinischen Primärversorgung (praktische Ärzte, Kinder+Jugendärzte, Familienberatungsstellen, Mutterberatung etc.). Die direkte Betreuung psychisch kranker Menschen („ingredients of care“) soll das breite Spektrum von Bedürfnisanalyse und Diagnostik, Medikation, Psychotherapie und psychosozialer Rehabilitation (Schule, Arbeit, Wohnen, Freizeit) umfassen, jeweils individualisiert an den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert. Für die Menschen mit spezifischen Krankheiten wie Suchterkrankungen, Essstörungen oder Schizophrenie sollten auf allen Versorgungsebenen Spezialeinheiten zur Verfügung stehen. Aus der Versorgungslage in Österreich und den von der WHO und auch der österreichischen Fachgesellschaft empfohlenen Qualitätsmerkmalen ergeben sich folgende Anregungen zur Verbesserung der Situation und Forderungen an die Politik: Schaffung einer Mental Health Kompetenzstelle in der Gesundheitspolitik Grundvoraussetzung dafür ist die Akzeptanz, dass die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Zukunftsperspektive für
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jeden Staat oder jede Gemeinschaft sein muss und gleichzeitig aufgrund des multifaktoriellen Verständnisses der Krankheitsgenese auch eine interdisziplinäre und kooperative Versorgung über Fach- und Ressortgrenzen hinaus notwendig ist (Patel et al., 2007; Wilkinson, 2000). Ausbau der stationären Versorgung: Berücksichtigung evidenzbasierter Grundlagen; Vermehrung der Ausbildungsstellen für KJP Ausbau der ambulanten Versorgung: Nutzung der vorhandenen Expertise und Ressourcen für den Aufbau einer flächendeckenden ambulanten und interdisziplinär-kooperativen Versorgung (pädiatrisch/sozialpädiatrisch/ sozialpsychiatrisch/psychiatrisch) insbesondere für das Säuglingsalter, Jugendund Junge-Erwachsenen-Alter. (z.B. Targeted Child Psychiatry Services) (Connor et al., 2006) Aus- und Aufbau von intra- (Tertiärniveau) und extramuralen (Sekundärniveau) Tageskliniken Aufbau niederschwelliger Versorgungsstrukturen für suchtkranke und gewaltbereite Jugendliche Aufbau rehabilitativer Einrichtungen und therapeutisch-sozialpädagogischer Wohnmöglichkeiten inkl. sozialpsychiatrischer Notfallteams: Hierfür besteht die dringende Notwendigkeit, das Österreich-typische Ressortdenken zu verlassen und entsprechende ressortübergreifende Aktivitäten zu setzen. Damit verbunden wäre eine bessere Überschaubarkeit und Übersichtlichkeit der Helfersysteme, wie sie schon seit Jahren gefordert wird (Tatzer, 2003) Ausbau, Vollfinanzierung und zielgerichteter Einsatz der therapeutischen Angebote wie Ergotherapie und Psychotherapie Schaffung ausreichender Kassenstellen für niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater Ausbau der Jugendwohlfahrt und ihrer Einrichtungen: Präventive Massnahmen im Säuglings- und Kleinkindalter; Therapeutisch ambulante Familientherapie, Multisystemtherapie, sozialpädagogische Familienbetreuung, Einzelbetreuersysteme, Wohngemeinschaften etc. Aufbau eines Mental Health Präventionsbereiches a. Primärprävention i. Ausbau der Well Baby Clinics, Elternschulen ii. Verbesserung der vorschulischen und schulischen Angebote hinsichtlich Sozialem (Baby-Watching etc.) + Beziehungslernen, Gruppendynamik, Bewegung, kreative Möglichkeiten etc. b. Sekundärprävention i. Screening nach Risikogruppen (psychisch kranke Eltern, Alleinerziehende, arme/sozio-ökonomisch Benachteiligte, Familien mit kriminellem Hintergrund) ii. Angebot entsprechender Unterstützungsmassnahmen (z.B. headstart, ProKind etc.)
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c.
d.
iii. Erweiterung der MKP-Untersuchung mit 5 (PSC) und 14 Jahren (SDQ) hinsichtlich psychischer Auffälligkeiten (Thun-Hohenstein and Herzog, in press) iv. Schaffung von Anlaufstellen für Jugendliche in seelischer Not: Internetplattformen, spezielle Partizipationsprogramme, um Jugendliche rechtzeitig für seelische Probleme zu sensibilisieren (z.B. „headspace“ in Australien (James, 2007) v. Suizidprävention Tertiärprävention i. Schaffung von Spezialambulanzen bzw. Zentren f. bestimmte Erkrankungen: Sucht, Schizophrenie, Essstörungen etc. ii. Rehab-Einrichtungen i.S. mittelfristiger Rehabilitation von Alltags- und Berufsfähigkeit sowie sozialer Integration iii. Aufbau bzw. Ausbau entsprechender evidenzbasierter Therapieangebote wie z.B. die Multi-SystemTherapie f. Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens oder der Interpersonalen Psychotherapie zur Behandlung von Depressionen (Weissman, 2007) Quartärprävention i. Langzeiteinrichtungen, Wohnen/Arbeiten ii. Ausbau des Familienersatzes i.S. therapeutischer WGs etc.
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Versorgungssituation psychisch auffälliger und kranker Kinder und Jugendlicher
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Die Würde des Kindes in der Medizin Alfred Dilch Im ersten Teil dieses Artikels wird die Entwicklung des Würdebegriffs im Wandel der europäischen Moralphilosophie dargestellt. Der zweite Teil bietet praktikable medizinethische Ansätze, wie und auf welche Weise vor allem im medizinischen Grenzbereich die Würde von Patienten, im Besonderen von Kindern mit schweren Beeinträchtigungen, in Diagnostik und therapeutischem Vorgehen adäquat geachtet werden kann. Die Achtung vor der Würde des Menschen berührt letztlich menschliches Selbstverständnis, Sinn und Inhalt menschlichen Lebens. Dass der Begriff der „Würde“ innerhalb der menschlichen Gesellschaft nicht immer in ein- und derselben Weise interpretiert wird, zeigen teils heftig geführte moralethische Diskussionen um das Recht auf Leben, als auch Sterben in Würde. Im Zentrum stehen also Beginn und Ende des Lebens, aber auch jene Bereiche, wo schwere Behinderung das Leben bzw. dessen Qualität beeinträchtigt. Die moralphilosophische europäische Geschichte ist über die ersten 15 Jahrhunderte nach Christi Geburt im Wesentlichen durch die jüdisch-christliche Tradition geprägt. Die herausragende Stellung, die dem Menschen unter den anderen Lebewesen zukommt, wird in der Herkunft des Menschen als Geschöpf Gottes begründet. Im Buch Genesis, Kapitel 1,26 des alten Testaments heißt es: „Dann sprach Gott: Lasset uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.“ Vor allem zwei Eigenschaften sind es, die den Menschen zu einem „göttlichen“ Wesen machen, die ihm „Würde“ verleihen. Der freie Wille, der ihn befähigt, sein Leben in Freiheit und nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und die Liebe, die ihn als Gemeinschaftswesen definiert und ihn befähigt, seine eigene Freiheit zum Wohle seiner Mitmenschen zu beschränken. Der Mensch des europäischen Mittelalters definiert sich hauptsächlich über Religion und Glaube. Noch sieht er sich als „Kind“, als „Geschöpf“ eines - wenn auch überirdischen und allmächtigen - Gottes. Mit Beginn der Renaissance im späten 15. und 16. Jahrhundert erleidet die römisch katholische Kirche einen drastischen Gesichts- und Machtverlust, ausgelöst durch eine anhaltende Krise des Papsttums und die Kirchenspaltung im Rahmen der Reformation. Zeitgleich werden die ersten Ansätze des modernen
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wissenschaftlichen Denkens entwickelt. Francis Bacon (1561 – 1626), englischer Philosoph, Jurist und Politiker fordert eine strikte Trennung von Theologie und Philosophie (dazu gehörte auch die empirische Wissenschaft) und spricht von einer „doppelten Wahrheit“, der Wahrheit der Offenbarung (Glaube) und der Wahrheit der Vernunft (Wissen). Zur vollen Entfaltung kommt dieses Denken im Zeitalter der Aufklärung. Im 17. und 18. Jahrhundert ist die Säkularisierung der europäischen Gesellschaft weit fortgeschritten, Ratio und Vernunft bestimmen Leben und Denken des aufstrebenden Bürgertums. Als Ausdruck eines zunehmenden Freiheits- und Selbstverständnisses des Menschen wird die menschliche Würde erstmals unabhängig von Religion, Glaube und Gott definiert. Der bedeutendste Philosoph der Aufklärung im deutschen Sprachraum, Immanuel Kant (1724-1804), artikuliert in der so genannten Selbstzweckformel dieses Denken seiner Zeit: „Als vernünftige, rationale Lebewesen können wir gar nicht anders, als auch anderen Vernunftwesen Würde und damit Selbstzweck zuzuerkennen“ Der Mensch ist als vernunftbegabtes Wesen dazu befähigt, in freier Entscheidung bewusst zu handeln, Entscheidungen zu treffen, sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Somit kann aber auch nur der Mensch gut oder schlecht, falsch oder richtig handeln. Tierisches Agieren entbehrt dieser Grundlage und erfolgt rein instinktgeleitet. Nur der Mensch ist fähig seine Handlungen moralisch zu bewerten – damit wird er für sein Handeln verantwortlich und ist dafür seiner Umwelt gegenüber Rechenschaft schuldig. Die Fähigkeit zur freien Willensentscheidung macht den Menschen für seine Entscheidungen und den daraus folgenden Taten verantwortlich. Gerade in Grenzbereichen der Medizin ist es manchmal nötig Entscheidungen zu treffen, die mehr ein moralisch-ethisches und weniger ein medizinischwissenschaftliches Problem darstellen. Solche Entscheidungen müssen immer offen gegenüber Einwänden und Kritik - egal von welcher Seite her (Eltern, Mediziner, Pflege, Psychologen etc) - diskutiert werden. Menschen, die auf moralisch richtiges Handeln bedacht sind, nehmen freiwillig die Bürde von Verantwortung und Rechtfertigung auf sich. „Sie werden ihre Handlungsstrukturen so durchsichtig wie möglich machen, um Irrtümern und Schuld möglichst wenig Raum zu geben.“ (zitiert nach Annemarie Pieper – Einführung in die Ethik). Menschliche Willens- und Handlungsfreiheit ist nicht unbegrenzt, sie hat ihr Maß an den berechtigten Ansprüchen der Mitmenschen. Meine persönliche Freiheit endet dort, wo die Freiheit meines Nächsten beginnt. Somit muss es Ziel einer humanen Lebenspraxis sein, dass jeder Mensch den größtmöglichen Freiraum erhält, sein individuelles Menschsein entfalten zu können. Mit dem Ausdruck der menschlichen „Würde“ wird der persönliche Respekt, der jedem Menschen gebührt, bezeichnet. Die Würde des Mitmenschen zu respektieren bedeutet, ihn in seiner Einzigartigkeit, seiner Einmaligkeit, seinen Stärken, aber auch seinen Schwächen zu achten, zu fördern und ihn dort, wo und wann immer es nötig ist, zu unterstützen, ihm Hilfestellung zu leisten.
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Dieser Respekt, den wir jeden Menschen unabhängig von seinen Eigenschaften und Fähigkeiten schulden, ist Grundlage der Menschenrechte. Jeder Mensch hat ein natürliches Recht darauf, als Person in seinem Dasein (sein Leben, seinen Körper, seine Gesundheit betreffend) von anderen Personen geachtet und nicht verletzt zu werden. In derselben Weise ist er jeder anderen Person verpflichtet. Das Freiheitsverständnis des Menschen und das daraus jeweils resultierende Rechtssystem befindet sich in einem stetigen Entwicklungsprozess. In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776 wurden weltweit erstmals in einem offiziellen Dokument allgemeine Menschenrechte postuliert, auch wenn sie in der späteren Verfassungspraxis zunächst nur frei geborenen, weißen Männern in vollem Umfang zugestanden wurden, nicht aber Frauen, Kindern, Sklaven und freien Schwarzen. Am 26. August 1789 kommt es in Paris im Rahmen der Französischen Revolution zur ersten offiziellen „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ auf europäischen Boden. Die erste internationale Erklärung zu Menschenrechtsstandards wurde von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck gebracht. In der Präambel wird formuliert, dass allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft die Anerkennung der ihnen innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte gebührt. Im Artikel 1 wird nochmals unmissverständlich klargestellt, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Dieser Aufruf zur unbedingten Achtung der Menschenwürde ist seither zentraler Bestandteil aller europäischen Verfassungen. Historisch gesehen noch sehr „jung“, ist das erste nach Ratifizierung für die jeweiligen Staaten rechtsverbindliche internationale Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die so genannte Kinderrechtskonvention. Sie wurde von der UNGeneralversammlung 1989 verabschiedet und trat am 2.September 1990 in Kraft. Seither haben bis auf die USA und Somalia weltweit alle Länder (193 Ende 2006) diese Konvention ratifiziert. Österreich hat die Kinderrechtskonvention (KRK) 1992 mit „Erfüllungsvorbehalt“ ratifiziert, das bedeutet, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit der KRK vor Gerichten und Behörden juristisch noch nicht möglich ist (die diesbezüglich erlassenen Gesetze haben keinen Verfassungsrang). Kinder und Jugendliche unterliegen bis zur Volljährigkeit generell der Obsorge ihrer gesetzlichen Vertreter und verfügen daher nur über eine eingeschränkte rechtliche Autonomie. Laut KRK gelten sie aber grundsätzlich als eigenständige Persönlichkeiten, als gleichwertige Menschen mit demselben Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde wie Erwachsene und eigenständige Träger von Rechten. Im Wesentlichen basiert, wie ich bereits ausgeführt habe, die Einzigartigkeit des Menschen und die damit verbundene unantastbare Würde auf seinen Persönlichkeitsmerkmalen: seinem Selbstbewusstsein, seiner Fähigkeit zur Reflexivität, das heißt zu vernünftigem, rationalem und vorausplanendem Denken, weiters
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seiner Fähigkeit bewusste Entscheidungen treffen zu können, Wünsche und Präferenzen zu haben und diese zu äußern, seiner Empfindungsfähigkeit und seinen Kommunikationsmöglichkeiten. Was aber, wenn diese Persönlichkeitsmerkmale noch nicht oder nicht mehr vorhanden oder unwiderruflich durch schwere Krankheit verloren gegangen sind? Sind dann die Menschenrechte für betroffene Menschen nur eingeschränkt gültig, besitzen sie weniger an Würde? Diese Frage spaltet in der Medizinethik immer wieder die Geister. Sind z.B. schwer behinderte Menschen anders zu behandeln als nur vorübergehend schwer Erkrankte? Prinzipiell ist dazu zu sagen, dass jeder Mensch als ein personales Wesen - als Person im sozialen Kontext zu anderen Personen - als Tochter oder Sohn, als Bruder oder Schwester - in die Gemeinschaft von Menschen hineingeboren wird. Durch den rein biologischen Eintritt eines Menschen in das Leben wird der Mensch unabhängig von seinen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen zum „Weltbürger“ (Kant), er erlangt sozusagen Bürgerrecht auf Erden, das ihm bis zu seinem Tod niemand mehr nehmen kann. Auch Kindern steht daher die umfassende Achtung vor ihrer Würde und den damit verbundenen Rechten in vollem Umfang zu! Natürlich benötigen Kinder auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe gemäß Unterstützung von Erwachsenen und es müssen für sie mit bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen getroffen werden, die sie selbst noch nicht selbstständig treffen können. Im Besonderen sind Kinder mit eingeschränkten Persönlichkeitsmerkmalen in ihrer Einzigartigkeit, ihren individuellen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung und Entfaltung wahrzunehmen, zu achten und zu unterstützen. Das kann auch einen individuell angepassten Zugang in Diagnostik und Therapie beinhalten. Eine gleiche Vorgangsweise in Diagnostik und Therapie für alle - unabhängig von ihren individuellen Lebensbedingungen - wird ihrer Würde nicht immer gerecht. In der medizinischen Praxis ist es aber äußerst schwierig und problematisch diesen individuellen Ansprüchen gerecht zu werden. Immer wieder kommt es insbesondere in Bezug auf die lebenserhaltenden Möglichkeiten der Intensivmedizin zu einem moralethischen Dilemma zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Um hier verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können, wurden verschiedene medizinethische Konzepte entwickelt. Da aber moderne Gesellschaften durch eine ausgeprägte Wertepluralität gekennzeichnet sind, kann in vielen Fällen weder auf einen gesellschaftlichen, noch auf einen universalen moralphilosophischen Konsens zurückgegriffen werden. Aufgrund der Pluralität moralischer Überzeugungen ist oft auch nicht nur eine objektiv richtige Handlungsoption bestimmbar! Auf Basis der Menschenrechte, im speziellen der Patientenrechte, haben Tom L. Beauchamp und James F. Childress, in ihrem erstmals 1979 erschienen Buch, „Principles of Biomedical Ethics“ für Entscheidungsfindungen in der Medizin-
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ethik das Modell des sogenannten „Principlism“ entwickelt. Die Prinzipienorientierte Medizinethik versucht durch Formulierung „mittlerer“ weithin konsensfähiger Prinzipien der Problematik des Wertepluralismus der Gesellschaft zu entgehen. Es werden 4 Prinzipen 1. Ordnung definiert: Autonomie, Fürsorgepflicht, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit 1. 2. 3. 4.
Prinzip der Autonomie des Menschen („Voluntas aegroti suprema lex“) Prinzip der Fürsorge (“Salus aegroti suprema lex”, “Principle of Beneficence”) Prinzip des Nichtschadenwollens („Primum nihil nocere“, „Principle of Non-maleficence“) Prinzip der Gerechtigkeit („Justice“)
Sekundäre Prinzipien, wie das Prinzip der Wahrhaftigkeit, der Verschwiegenheit, Vertrauenswürdigkeit sind grundlegende Bestandteile berufsbezogener medizinischer Tugendethik. Hauptproblem des „Principlism“ ist es – sie bemerken es daran, dass bereits die ersten zwei Gesetze als suprema lex, als oberstes Gebot definiert sind – dass die Prinzipien erster Ordnung gleichberechtigt in ihrem Anspruch nebeneinander stehen. Trotzdem ist die Prinzipienethik vor allem für medizinisches Personal, das überwiegend keine fundierte Ausbildung in Medizinethik bzw. Moralphilosophie hat, gut geeignet, um verantwortungsvolle Entscheidungen im „besten Interesse“ des Patienten treffen zu können. Achten Sie z. B. auf das zweite und dritte Prinzip: das Fürsorgeprinzip und das Prinzip der Schadensvermeidung. So bedeutet das für unsere tägliche Praxis, dass vor Einsatz medikamentöser oder medizinisch technischer Maßnahmen eine kritische Abwägung des voraussichtlichen Heilerfolges der ins Auge gefassten Maßnahmen und deren potentieller Nebenwirkungen erfolgen muss. Vor allem bei Einsatz sehr aggressiver intensivtherapeutischer Verfahren sollten die potenziellen Belastungen und Nebenwirkungen in einem angemessenen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen stehen – man kann auch von einem Kriterium der Verhältnismäßigkeit sprechen (Enrique H. Prat – Wiener Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik – er lässt in den Begriff der Verhältnismäßigkeit auch noch zusätzliche Kriterien wie Lebensqualität, Lebenserwartung, Alter und sozioökonomische Faktoren einfließen). Nun noch einige klärende Worte zum obersten, bzw an die erste Stelle gereihten Prinzip der Autonomie des Menschen. Mit zunehmendem Freiheitsverständnis des Menschen hat sich auch das Arzt-Patienten-Verhältnis drastisch gewandelt. Die paternalistische Medizin des Altertums und Mittelalters wandelte sich zu einem partnerschaftlichen auf einem „Informed Consent“ basierenden Therapie-
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vertrag zwischen Arzt und Patient. Voraussetzung für einen solchen Vertrag ist aber ein mündiger, voll orientierter Patient. In der Kinderheilkunde und im Speziellen in der Intensivmedizin haben wir es aber zumeist mit Patienten zu tun, die passager oder dauerhaft nicht in der Lage sind, einer therapeutischen oder diagnostischen Intervention zuzustimmen oder diese abzulehnen. Speziell für solche Patienten, die keiner autonomen Willenskundgebung fähig sind, wurde in der Medizinethik das „Best Interests“ – Konzept entwickelt. Das Wesen dieses Konzeptes ist es, den mutmaßlichen Willen eines unmündigen und/oder bewusstlosen Patienten zu erkunden. Dazu ist es unumgänglich sich ein umfassendes Bild des Patienten zu machen. Dies ist aber nur auf Basis intensiver und wiederholter Kommunikation mit Angehörigen, vor allem den Eltern des betroffenen Kindes möglich. Dieses Konzept setzt eine vertiefte Empathie für die individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung und –entfaltung unserer Patienten voraus, da wir uns als Gesunde kaum vorstellen können, wie es ist, ein Leben mit Einschränkungen, mit Behinderungen zu führen, ja dieses sogar zu genießen. Gerade die Intensivmedizin macht es uns aber nicht leicht, eine empathische Grundhaltung zu unseren Patienten zu pflegen. Wollen wir erfolgreich sein, ist es in der Akutsituation oft unumgänglich nötig, in kürzester Zeit den Patienten Gefäßzugänge und Katheter zu legen, zu intubieren und den Patienten an lebenserhaltende Maschinen zu hängen, ohne dabei auf die Integrität des Körpers zu achten. Bei der komplexen Materie der Intensivmedizin, vor allem beim Multiorganversagen, bleibt uns gar nichts anderes übrig - wollen wir den Überblick bei Visiten bewahren - den Patienten nach Organsystemen wie Atmung-, HerzKreislaufsystem, Gastrointestinal-, Urogenitaltrakt und Nervensystem abzuhandeln. Diese funktionell zweifelsohne sehr effektive Methode bewirkt im Zwischenmenschlichen jedoch eine vorwiegend Subjekt–Objekt-orientierte Beziehung, die einer empathischen intersubjektiven Arzt-Patienten-Beziehung diametral entgegensteht. Gespräche mit Angehörigen, die nicht nur medizinische Auskunft beinhalten, sondern vor allem den betroffenen Menschen und sein Leben im Blick haben, können uns die Information geben, dass wir nicht nur medizinisch korrekt, sondern vor allem den individuellen Lebensumständen gerecht handeln.
In der medizinethischen Diskussion wird oft der Terminus der „Unverfügbarkeit“ menschlichen Lebens als Hauptargument gegen jegliche Form eines individuell ausgerichteten „Patienten–orientierten“ Therapieregimes, das in begründeten Fällen auch Therapieverzicht beinhaltet, verwendet. Therapeutische Maßnahmen des maschinellen Organersatzes, die drastische Eingriffe in die körperliche Integrität und Lebenssituation des Patienten erfordern, vor allem wenn sie aufgrund der Umstände ohne Einverständnis des Patienten durchgeführt werden müssen, bedeuten ebenso ein Verfügen über das Leben und die Art des Sterbens eines Menschen. Ich sehe es daher als unsere Pflicht an,
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sich gerade in der Intensivmedizin kontinuierlich Gedanken zu machen, ob das, was wir tun können, auch dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht. Es ist unsere moralische Verpflichtung, diesen durch die Umstände der Erkrankung und der damit verbundenen Beeinträchtigungen „stummen“ Patienten eine Stimme zu geben, auch wenn uns das viel Mühe und Zeit kostet. Es bleibt allerdings, auch bei größtem Bemühen, vor allem wenn eine Entscheidung zum Therapieverzicht ausgesprochen und durchgeführt wird, immer ein „Stachel“ des Zweifels. Wir haben es hier mit moralethischen Dilemmata zu tun es gibt keine wirklich optimalen Lösungen, sondern nur bestmögliche. Dieser Zweifel, dieses ständige sich Hinterfragen, seine Entscheidungen immer wieder zu überdenken und vor allem die Bereitschaft sich auch Kritik auszusetzen ist aber unumgänglich notwendig, um
1. den Patienten in seiner Einzigartigkeit, seiner Würde zu respektieren und seinen individuellen Ansprüchen gerecht zu werden 2. niemals vorschnell und leichtfertig mit vorgefasster Meinung weitreichende Entscheidungen zu treffen 3. das, was wir können, verantwortungsbewusst im besten Interesse unserer Patienten einzusetzen und nicht einfach weil wir es können Wenn wir bereit sind, unsere Patienten in ihrer Würde und in ihren individuellen Lebenssituationen wahrzunehmen, und versuchen, diesen in unserer medizinischen Betreuung gerecht zu werden, so wird das die Basis einer humanen, einer menschlichen Medizin für unsere Kinder sein.
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Imago Hominis - Quartalsschrift für Medizinische Anthropologie und Bioethik – Medieninhaber und Verleger: IMABE – Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik, Landstraßer Hauptstrasse 4/13, A – 1030 Wien, siehe auch www.imabe.org Band 3/Heft 2, 1996 – Lebensqualität – Behandlungsabbruch Band 9/Heft 1, 2002 - Ethische Herausforderungen in der Neonatologie Band 13/Heft 1, 2006 – Die Würde des Menschen Die Kinderrechtskonvention, siehe www.kinderrechte.gv.at Albin Eser, Markus von Lutterotti, Paul Sporken (Hg.) (1989) Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Verlag Herder Freiburg im Breisgau Hans-Martin Sass (1989) Medizin und Ethik, Philipp Reclam jun. GmbH Bertrand Russell (1999) Philosophie des Abendlandes (8. Auflage), Europa Verlag GesmbH Wien Tom L. Beauchamp, James F. Childress (1994) Principles of Biomedical Ethics (4. Edition), Oxford University Press
Die Implementierung der Rechte des Kindes in Österreich Irmela Steinert Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) wurde 1989 von den Vereinten Nationen verabschiedet und 1992 von Österreich ratifiziert, jedoch nur als einfaches, nicht als Verfassungsgesetz. Wie alle Vertragsstaaten der UNKRK ist Österreich verpflichtet, die notwendigigen Rahmenbedingungen zur Umsetzung der Kinderrechte durch Gesetzgebung und Bereitstellung von Budgetmitteln zu schaffen. Um Fortschritte in der Implementierung der Kinderrechte in der Gesellschaft zu erreichen, bedürfen staatliche Umsetzungsprozesse ergänzender Aktivitäten nationaler und internationaler Kinderrechte-Organisationen.
I. Wozu eigene Kinderrechte? Ein kurzer Rückblick Die Wahrnehmung von Kindern als eigenständige, in Entwicklung befindliche und mit besonderer Achtsamkeit zu behandelnde Persönlichkeiten, ist historisch gesehen eine junge Errungenschaft. Wie in dem Klassiker „Hört ihr die Kinder weinen“1 beschrieben, war der Umgang mit Kindern über Jahrtausende von Unverständnis, Ausbeutung und Brutalitäten geprägt. Kinderarmut, Kinderarbeit und Kindersoldaten sind allerdings bis heute traurige Realitäten. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert fand das Phänomen Kindheit breitere gesellschaftliche Beachtung2. Im 20. Jahrhundert, nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges, forderte „Save the Children“ erstmals eigene Kinderschutzgesetze. Auf Betreiben dieser zivilgesellschaftlichen (!) Organisation verabschiedete der Völkerbund 1924 die „Genfer Erklärung über die Rechte des Kindes“. Von dieser ersten Bausteinlegung an dauerte es – mit Zwischenschritten3 - weitere 65 Jahre bis zur Definitionsfindung der heute gültigen Kinderrechte. Nach zehnjähriger internationaler Diskussion wurde mit der höchsten Zustimmungsrate aller 1
Lloyd deMouse (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen – eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Suhrkamp 1977 2 Der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janus Korczak formulierte: „das Kind wird nicht erst Mensch, es ist Mensch.“ 3 1959 gab die UNO eine Erklärung über die Rechte des Kindes ab, die jedoch weiterhin hauptsächlich nur den Schutz von Kindern, nicht aber die partizipativen Rechte behandelte. 1978 brachte Polen einen umfassenden Entwurf ein.
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UN-Konventionen am 20.Nov.1989 das „UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ verabschiedet und ist am 2.Sept.1990 in Kraft getreten.4 Ziel der UN-KRK war und ist die Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern weltweit. Die Konvention beschreibt nicht nur die Rechte von Kindern und Jugendlichen, sondern verknüpft diese auch mit der Umsetzungsverpflichtung durch die Vertragsstaaten. Die Regierungen sind aufgefordert, die notwendigen Rahmenbedingungen durch Gesetzgebung und Bereitstellung von Budgetmitteln zu schaffen. Nicht erfüllte Verpflichtungen können allerdings bisher nicht rechtlich, sondern nur mittels politischem Druck sanktioniert werden. Die Konvention umfasst 54 Artikel. 40 Artikel beschreiben die Rechte von Kindern u. Jugendlichen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr in bürgerlichen, politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Belangen. Die Grundprinzipien und inhaltlichen Leitideen der Kinderrechte sind: -
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die Anerkennung des Kindes als eigenständige Rechtspersönlichkeit mit Menschen- und Grundrechten, im besonderen dem Vorrang des Kindeswohls bei allen Entscheidungen, sowie das Recht auf Selbstvertretung und Selbstbestimmung – soweit möglich (GRUNDRECHTSSUBJEKTIVITÄT) Die Gleichbehandlung aller Kinder unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität, Ethnie, Religion oder kultureller Herkunft (DISKRIMINIERUNGSVERBOT) Die Rechte auf Existenz- und Grundsicherung, Schutz vor Armut, sozialer Ausgrenzung, Ausbeutung und jeglichen Formen physischer oder psychischer Gewalt (ÜBERLEBEN und SCHUTZ) Förderung bestmöglicher Entwicklung, Bildung und Ausbildung, Schutz und Förderung der Gesundheit, Erziehung und Betreuung in und außerhalb der Familie (FÖRDERUNG) Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen und Ressourcen, landesüblichen Lebensstandards, privaten und öffentlichen Räumen, Freizeit-, Kultur- und Kunstangeboten (PARTIZIPATION)
Die Verantwortung für Versorgung und Erziehung (Obsorge) der Kinder trifft auch nach der UN-KRK primär die Eltern, stellt aber die subsidiäre Verantwor 4
Im Jahr 2000 wurden 2 Zusatzprotokolle verabschiedet, die 2002 in Kraft getreten sind: über Beteiligung von Kindern in bewaffneten Konflikten und über Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie
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tung des Staates zu Schutz und Betreuung klar, wenn Eltern nicht fähig oder willens sind, dieser Verantwortung nachzukommen, bzw. wenn Eltern nicht verfügbar sind. Die übrigen Artikel behandeln die Anwendung und Bekanntmachung der UNKRK durch den Vertragsstaat, Bestimmungen zu Ratifizierung und Inkrafttreten der Konvention, sowie die Prüfverfahren. Mit der Ratifizierung der UN-KRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, alle 5 Jahre einen „Staatenbericht“ über den Stand der jeweiligen Umsetzung der Kinderrechte in ihrem Land an den UNKinderrechte-Ausschuss abzuliefern. Dieser Ausschuss, ein Gremium von 18 unabhängigen ExpertInnen, tritt 3mal jährlich in Genf zusammen und begutachtet die jeweils eingebrachten Staatenberichte. Darüber hinaus gibt der Ausschuss grundsätzliche Stellungnahmen zur Interpretation der UN-KRK zu spezifischen Fragestellungen ab. Mit dem Inkrafttreten der UN-KRK 1990 wurde ein 1. Weltkindergipfel in New York5 abgehalten. Die damals 71 teilnehmenden Staaten versprachen bis zum Jahr 2000 erste Aktionspläne zu entwickeln. Etwas verspätet fand im Mai 2002 der 2. Weltkindergipfel statt, an dem bereits 170 Staaten und auch 600 Kinder aus 150 Ländern teilnahmen. Sein Ergebnis war das internationale Programm „A World fit for Children“ und der Auftrag an die Vertragsstaaten dazu Nationale Aktionspläne auszuarbeiten. Eine kleinere Überprüfungskonferenz ist im Dez. 2007 angesetzt. Soviel zur internationalen Struktur.
II. Die UN-KRK in Österreich Ihre Unterzeichnung erfolgte gleich Anfang 1990. Am 6. August 1992 wurde die UN-KRK von Österreich ratifiziert, aber nur mit Erfüllungsvorbehalt und nur als einfaches, nicht als Verfassungsgesetz, so dass eine Berufung auf die UN-KRK vor Behörden und Gerichten nicht möglich ist.6 Die fehlende Veranke 5
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unter dem Titel „Erklärung über das Überleben, den Schutz und die Entwicklung des Kindes“ Die Ratifizierung der UN-KRK durch Österreich erfolgte mit Vorbehalten zu den Artikeln 13 und 17 (Meinungs- und Informationsfreiheit) bzw. Artikel 15 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit). Sie wurde vom Nationalrat auch nur im Rang eines einfachen Gesetzes genehmigt, nicht als Verfassungsgesetz wie z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention. Damit wird den Kinderrechten i. S. der UN-KRK in Österreich die Bedeutung von Grundrechten abgesprochen; gleichzeitig erklärte der Nationalrat einen "Erfüllungsvorbehalt", wonach die Konvention "durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist" (Art. 50/2 des Bundes-Verfassungsgesetzes). Dies hat zur Folge, dass die Konvention in Österreich zwar formell in Kraft ist, jedoch von Gerichten oder Behörden in ihren Entscheidungen nicht unmittelbar angewendet werden kann, weil es dazu bestimmter Durchführungsgesetze bedürfte.
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rung in der Bundesverfassung führt dazu, dass gute Vorsätze oft Schall und Rauch bleiben. So heißt es etwa in der Kinderrechte-Regierungsbroschüre7: „Die UN-KRK stellt mit ihren Standards und Zielen einen guten Rahmen für unser aller Handeln dar, denn eine Kinder- und Jugendpolitik, die diesem anspruchsvollen Ansatz entspricht, rückt junge Menschen in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit.“ In der realen Politik der letzten Jahre finden sich allerdings einige Aufmerksamkeitslücken! Hier sei nur auf den Anstieg armutsgefährdeter und akut armer Kinder in Österreich verwiesen, auf zunehmende soziale Ausgrenzungsprozesse, auf die Schließung des Jugendgerichtshofs und auf fehlende Ressourcen in den Bereichen Jugendwohlfahrt, Gesundheit und Bildung. Die Gestaltung und Zuteilung öffentlicher Budgetmittel im Zeichen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik lassen die Bedachtnahme auf Kinder vermissen. Verschärfungen, etwa des Staatbürgerschaftsgesetzes oder der Asyl- und Fremdenrechtsgesetze, führen gar zu existentiellen Bedrohungen in Österreich lebender Kinder. Den leichtfertigen Umgang mit schönen Worten zeigt dieses Beispiel: ExBundeskanzler Schüssel erklärte 2003, dass Österreich bis 2010 das kinderfreundlichste Land der Welt werden solle. Schon bescheidener schrieben die ExBundesminister Haupt und Haubner im Vorwort der oben erwähnten Broschüre, dass Österreich das kinderfreundlichste Land in Europa werden soll. Und in der gleichen, von Bundesministerin Kdolsky 2007 neu aufgelegten Broschüre heißt es gar nur mehr: „Österreich soll noch kinderfreundlicher werden“. Kinderrechte sind eine Querschnittsmaterie. Sie betreffen zahlreiche Politikfelder, für die wiederum verschiedene institutionelle Ebenen – Bund, Länder, Gemeinden – zuständig sind. Wie sollen harmonisierte und koordinierte Maßnahmen getroffen werden, wenn die grundrechtliche Verankerung fehlt? Daher forderte bereits 1994 der Nationalrat in einer Entschließung die Bundesregierung auf, die verfassungsrechtliche Verankerung der UN-KRK zu prüfen. 1997/98 wurde schließlich das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte vom damaligen Bundesministerium für Umwelt, Jugend u. Familie und von der Kinder- u. Jugendanwaltschaft mit einer Studie zur Prüfung der verfassungsrechtlichen Umsetzung der UN-KRK in Österreich beauftragt. Die Studie brachte dann auch ganz konkrete Umsetzungsvorschläge.8 Seither sind weitere 10 Jahre vergangen, die Kinderrechte sind noch immer nicht in der Verfassung! Natürlich gibt es viele Erklärungen und „Entschuldigungen“: Regierungs- und Kurswechsel, das Vorhaben Österreich eine neue Verfassung zu geben, in deren Grundrechte-Katalog auch die UN-KRK hätte inkludiert sein 7
„Die Rechte von Kindern und Jugendlichen“, Bundesministerium für Soziales und Generationen (2004) S. 3 8 „Die verfassungsrechtliche Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Österreich“, Helmut Sax/Christian Hainzl, Studienreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte (BIM), Band 2, Verlag Österreich (1999)
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sollen. Doch hat der Österreich-Konvent seine Arbeit 2005 ohne Ergebnis beendet. In der Regierungsvereinbarung 2007 der aktuellen Bundesregierung wurde der Vorsatz, die UN-KRK in Verfassungsrang zu heben, neuerlich gefasst9. Wie laufen die Umsetzungsprozesse in Österreich tatsächlich? a) Auf der Schiene des Prüfverfahrens: Der Staat ist verpflichtet alle 5 Jahre über die zwischenzeitlichen Aktivitäten zur Umsetzung der Kinderrechte an den UN-Kinderrechte-Ausschuss zu berichten. Bisher wurden 2 Staatenberichte abgegeben - 1996 und 2002. Da Regierungen dazu tendieren, die Verhältnisse in ihren Ländern zu beschönigen, sind vom Ausschuss ergänzende Berichte von Seiten unabhängiger Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) erwünscht und vorgesehen. Diese so genannten „Schattenberichte“ beleuchten weit kritischer die Situation der Kinderrechte im Land und werden vom Ausschuss sehr ernst genommen. Zur Vorbereitung des 1. österreichischen Schattenberichts haben sich 1997/98 erstmals einige große Kinder- und Jugendorganisationen10 zusammen getan. Sie begründeten – ähnlich wie in anderen europäischen Staaten – die „National Coalition zur Umsetzung der Kinderrechte in Österreich“, aus dem das heutige „Netzwerk Kinderrechte Österreich“11 hervorging, dem mittlerweile 26 Mitgliedsorganisationen angehören. Im April dieses Jahres ist auch die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde dem Netzwerk beigetreten! Eine erfreuliche und beachtliche Stärkung. Der UN-Kinderrechte-Ausschuss studiert Staaten- und Schattenbericht und lädt anschließend eine Regierungs- und NGO-Delegation zum Hearing nach Genf ein.12 Danach verabschiedet der Ausschuss die so genannten „Concluding Observations“ (CO). Sie enthalten Lob und Tadel sowie Empfehlungen für die nächsten Schritte. Diese CO sollten allen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen befasst sind, sowie einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, um Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme zu richten und damit Betroffene sich darauf beziehen und die Lösung der Probleme einfordern können. Doch die Regierung kommt ihrer Verpflichtung zur Bekanntmachung der CO unzureichend nach. Die zuletzt im Jänner 2005 herausgegebenen CO erschienen nur auf der Kinderrechte-Homepage der Bundesregierung13, die Übersetzung ins 9
Eine ExpertInnenkommission zur Verfassungsreform wird Ende 2007 tätig Katholische Jungschar Österreich, die Pfadfinder und PfadfinderInnen Österreichs, die Österreichischen Kinderfreunde, das Österreichische Komitee der UNICEF und die Ständige Konferenz der Österr. Kinder- und JugendanwältInnen 11 www.kinderhabenrechte.at 12 nationale NGOs finden in Genf durch die „NGO Group for the CRC“ zusätzliche Unterstützung. 13 www.kinderrechte.gv.at 10
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Deutsche erfolgte erst auf Betreiben und auf eigene Kosten des Netzwerks Kinderrechte! Abgesehen von Presseaussendungen des Netzwerks und einigen Zeitungsartikeln, war wenig zu hören, obwohl wichtige Kritikpunkte sehr relevant für aktuelle politische Entscheidungen wären. Einige Beispiele solcher Empfehlungen des Kinderrechte-Ausschusses sind: Harmonisierung der Jugendwohlfahrtsregelungen der Länder auf hohem Standard, die Ausstattung der Jugendwohlfahrt mit verstärkten finanziellen Mitteln, Maßnahmen gegen Kinderarmut, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die Einrichtung einer bundesweiten Koordinierungsstelle für Kinderrechte, und natürlich die Verankerung der Kinderrechte in den Verfassungen auf Bundes- und Länderebene. b) Die zweite Umsetzungsschiene der Kinderrechte in Österreich ist der Auftrag vom Weltkindergipfel 2002, einen Nationalen Aktionsplan (NAP) für das Programm „A World fit for Children / Eine kindgerechte Welt“ in den nächsten fünf Jahren zu entwickeln. Dieser NAP soll konkrete, termingebundene und messbare Umsetzungsziele enthalten. Zu seiner Erstellung beauftragte die österreichische Bundesregierung das 2003 zuständige Bundesministerium für Soziales und Generationen (BMSG) mit der Koordinierung. Im März 2003 startete das BMSG unter dem Titel „Young Rights Action Plan“ (YAP) einen knapp einjährigen Konsultationsprozess und sandte rund 3500 Einladungen an Bundes- u. Ländereinrichtungen, Jugendwohlfahrt, Berufsverbände, NGOs etc. aus. Teilgenommen hat, wer von der Information erreicht wurde und sich die nötige Zeit nehmen konnte.14 Letztendlich haben sich etwa 120 Personen beteiligt. In 4 Arbeitskreisen – mit jeweils mehreren Subgruppen – wurde zu den Themen „Kinderrechtliche Grundsatzfragen“, „Kinderrecht auf Partizipation“, „Gewährleistung der Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen“, „Kinderrecht auf Schutz vor Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung“ gearbeitet und zu allen Teilbereichen wurden Ziele, Standards, Umsetzungsschritte und Evaluationskriterien definiert. Auch eine Kinder- und Jugendbefragung15 mit Beteiligung von rund 20.000 Kindern wurde durchgeführt. Die Ergebnisse wurden von einem wissenschaftlichen Team16 zusammengefasst. Heraus kam ein 540 Seiten umfassender „ExpertInnenbericht“ mit 150 Zielsetzungen und 600 Maßnahmenempfehlungen. Anschließend wurde der ExpertInnenbericht ministeriell bearbeitet, auf ca. 100 Seiten abgespeckt und aller allzu visionären Passagen entledigt. Unter dem Titel 14
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Die Gewinnung repräsentativer VertreterInnen des gesamten Themenkomplexes für die Mitarbeit bei einem solchen Konsultativprozess ist – trotz großer Bemühungen im gegebenen Fall - nicht frei von Zufallsfaktoren und bedürfte noch erweiterter Informationsstrukturen. „Nichts für uns – ohne uns!“ Ergebnisse einer Kinder- und Jugendbefragung 2003 im Auftrag des BMSG, durchgeführt von der Katholischen Jungschar Österreichs und den Österreichischen Kinderfreunden Renate Kränzl-Nagl, Liselotte Wilk (Europäisches Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung); Helmut Sax, Helmut Wintersberger (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte, Wien)
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„Ein kindgerechtes Österreich“ wurde dieses Ergebnis als NAP am 22. Nov. 2004 vom Ministerrat verabschiedet. Er enthält immerhin ca. 200 Maßnahmen und formuliert laut Vorwort erstmals Standards für eine eigenständige Kinder- u. Jugendpolitik mit konkreten Zielen und Maßnahmen „zur Verbesserung der Lebensbedingungen aller in Österreich lebenden Kinder“. Die Maßnahmen selbst lassen asylsuchende und Migrantenkinder allerdings wieder weitgehend aus. Seit nun bald drei Jahren wird an der Umsetzung des österreichischen NAP gearbeitet. Für das Monitoring dieser Umsetzung wurde eine Begleitarbeitsgruppe17 eingerichtet. Diese trifft sich einmal halbjährlich und besteht aus VertreterInnen nahezu aller Ministerien. Seitens der NGOs ist nur ein Sitz für das „Netzwerk Kinderrechte“ vorgesehen; sowie je einer für die Kinder- u. Jugendanwaltschaften und die Bundesjugendvertretung. Es fehlen Vertretungen der Basis aus den verschiedenen Tätigkeitsfeldern. Die bürokratische Abhandlung des NAP entledigt sich so teilweise seiner Inhalte. Der ExpertInnenbericht mitsamt seinen Empfehlungen für die Umsetzung und das Monitoring des NAP, das einer eigenen Budgetierung bedurft hätte, wurde in ministeriellen Laden abgelegt. Entgegen dem anfänglichen Plan wurde der ExpertInnenbericht nicht veröffentlicht18. So ist es der Öffentlichkeit auch nicht möglich zu vergleichen, welche Inhalte und Ziele die Regierung (2004) aufgegriffen und welche die ExpertInnen behandelt hatten. Dass eine Regierung aus umfänglichen Vorschlägen eine Auswahl trifft, ist pragmatisch. Aber langfristig könnte doch an den erstellten Vorschlägen weiter gearbeitet werden - in gewisser Weise eine Vergeudung intellektuellen Kapitals! Für die UN-Generalversammlung im September 2007 hat Österreich bereits im Dezember 2006 einen ersten Bericht über den bisherigen NAP-Prozess abgeliefert.19 Welche Informationen darüber drangen an die Öffentlichkeit? Die UN-KRK verpflichtet die Staaten zur Öffentlichkeitsarbeit mit der Absicht, der Umsetzung der Kinderrechte mehr Chancen zu geben. Das ernsthafte Interesse der Bundesregierung an einer effektiven Umsetzung des NAP ist zu hinterfragen.
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mit Unterarbeitsgruppen zur Bewusstseinsbildung (Helmut Sax/BIM), zu Gesundheit und Nachhaltigkeit (Silvia Baldinger/Lebensministerium) und Bildung und Ausbildung (Heinz Tichy/BMBWK, Mag. Weissenböck/BMWA), die letzteren wurden nicht aktiv. 18 Der ExpertInnenbericht „Young Rights Action Plan“ ist nur zu finden auf der Homepage des BIM: http://www.univie.ac.at/bim/php/bim/?level=1&id=59 > Downloads YAP Gesamtbericht 19 „Plus 5“ Review to the 2002 Special Session on Children and World fit for Children / Report of Austria. Der Bericht (Englisch) ist auf www.kinderrechte.gv.at einsehbar.
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III. Weitere nationale und internationale KinderrechteMonitoring-Aktivitäten Hier sei zunächst noch einmal das „Netzwerk Kinderrechte Österreich“ erwähnt, das neben den Schattenberichten auch zu aktuellen Themen oder Gesetzesentwürfen Stellungnahmen abgibt, Presseaussendungen tätigt, Parteienbefragung oder parlamentarischen Anfragen durchführt oder nach Brüssel berichtet. Alljährlich rund um den UN-Welttag der Kinderechte am 20. November werden gemeinsam, aber auch von den einzelnen Mitgliedsorganisationen, zahlreiche Events und Informationsveranstaltungen organisiert. Im Oktober 2007 fand erstmalig ein Vernetzungstreffen der National Coalitions aus Österreich, Deutschland und der Schweiz statt. Ziel dieser „1. Kinderrechte Bodenseekonferenz“ war der Erfahrungsaustausch über die Umsetzung der UN-KRK in den drei Ländern und die Methoden des nationalen und internationalen Monitorings. Ein Mittel zum Monitoring sind auch Studien. Österreichische Studien über Kinder und Jugendliche beziehen sich zumeist nur auf einzelne Aspekte oder Altersgruppen, wie der 1988 eingeführte und bisher viermal erschienene „Jugendradar“20, Auswertungen von schulärztlichen oder Stellungsuntersuchungen oder Daten des statistischen Zentralamts von Erhebungen i. R. von Bevölkerungszählungen oder Studien über einzelne psychosoziale Aspekte bzw. medizinische Studien über spezifische Krankheitskomplexe etc. Es gibt in Österreich bisher kein umfassendes fundiertes Monitoring der Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Lebensbereichen und schon gar nicht Verlaufsstudien. Mögliche Vorbilder wären Projekte wie der „Nationale Gesundheitssurvey für Kinder und Jugendliche 2003/06“ in Deutschland mit dem Modul „Kinder-Umwelt-Survey“. Einige Parameter werden durch Österreichs Einbindung in internationale Studien beleuchtet, wie etwa durch die PISA-Studie oder zuletzt die UNICEF-Studie21, in der Daten kinderrelevanter Aspekte aus vergleichbaren Studien (EU, WHO, OECD) von 21 Industriestaaten analysiert wurden und deren Ergebnis im Februar 2007 auch in Österreich für einige Aufregungen sorgte. 20
4. Bericht zur Lage der Jugend in Österreich, Teil A: Jugendradar 2003 im Auftrag des BMSG (Zielpersonen 14 – 30 Jährige) 21 Der UNICEF-Bericht (Report Card 7, Feb. 2007) gibt einen Überblick über das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in 21 OECD-Staaten. Anhand von sechs Dimensionen (materielle Lage, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, die Beziehungen zu Eltern und Freunden, Risikoverhalten im Alltag und das subjektive Wohlbefinden von Kindern) wurde eine Bewertung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen vorgenommen.
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Internationale Strukturen mit österreichischer Beteiligung Der Europarat hat 2005 das Programm „Ein Europa für und mit Kindern aufbauen“ beschlossen. Die 46 Mitgliedsstaaten wollen ihre Aktivitäten auf die Übereinstimmung mit Kinderrechten prüfen. Die gesellschaftlichen Veränderungen unter den Effekten einer neoliberalen globalen Marktwirtschaft sind auch in den Ländern Europas zu spüren. Wohl und Gesundheit der europäischen Kinder werden durch die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, Umweltbelastungen und steigende familiäre Stressfaktoren beeinträchtigt. Die EU-Kommission beschloss im Juli 2006 ein permanentes „European Forum on the Rights of the Child“ einzurichten. Ziel ist eine institutionalisierte Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten, Ombudspersonen von Kindern, UNICEF, dem EU-Rat und der Zivilgesellschaft - vertreten durch 10 NGO-Sitze zu ermöglichen. „Eine Arena des Austauschs“ soll geschaffen werden. Im Juni 2007 fand ein erstes Treffen in Berlin statt, die aktuellen Themen waren Jugendgerichtsbarkeit und sexuelle Ausbeutung von Kindern. Auch diese „Bewegungen“ auf EU-Ebene sind zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zu verdanken – wie alle bisherigen Entwicklungen der Kinderrechte! Um politische Fortschritte zu erreichen, ist der Zusammenschluss nationaler KinderrechteNGOs in Form internationaler Kooperationen von entscheidender Bedeutung. Einige Beispiele solcher internationalen Netzwerke mit österreichischer Beteiligung sind: „The European Children’s Network“ (EURONET), „European Network of Ombudsmen for Children“ (ENOC) oder das weltweite Informationssystem „Child Rights Information Network“ (CRIN).
IV. Stärkung der Kinderrechte in Österreich? Welche Möglichkeiten des bisherigen Lobbyings wären ausbaufähig? ¾
Auf der Schiene des UN-Prüfverfahrens
Die Schattenberichte an den Kinderrechte-Ausschuss könnten durch Einbeziehung aller im Kinder- und Jugendbereich tätigen Berufsfelder noch umfassender die Probleme darstellen, vor allem aber ihnen noch mehr Gewicht verleihen. Die öffentliche Wahrnehmung der Concluding Observations des UNKinderrechte-Ausschusses ist zu verbessern! Die Informationsverbreitung über alle nicht erfüllten Rechte bedarf einer stärkeren Beteiligung der Zivilgesellschaft. Neben den öffentlichen Medien können besonders Berufsverbände mit ihren eigenen Zeitschriften und Informationsorganen für ihre Klientel effiziente Multiplikatoren sein.
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In Verhandlungen mit Gesetz- oder Fördergebern sollte auf die UN-KRK konsequent hingewiesen und in der Argumentation auf spezifische Empfehlungen des Kinderrechte-Ausschusses Bezug genommen werden. ¾
Auf der Schiene zukünftiger Nationaler Aktionspläne
Für die Ausarbeitung eines NAP ist eine möglichst repräsentative Einbeziehung aller mit Kinder- und Jugendwelten befassten Institutionen vorzusehen. Expertisen und Monitoring der Umsetzungsprozesse eines NAP erfordern spezifische Organisationsstrukturen mit entsprechender Budgetierung. Eine NAP-Begleitgruppe ist personell mit umfassenden professionellen Kompetenzen auszustatten und zielorientiert zu organisieren. Eine verlässliche Brücke zwischen Bürokratie und aktueller Praxis muss gewährleistet sein. Klare Vereinbarungen über gewonnene Expertisen, v.a. deren Veröffentlichung und Zugänglichkeit, damit gesammelte Überlegungen auch genützt werden können. ¾
Ausbau unabhängiger Kooperations- und Monitoringstrukturen
Die Vernetzung nationaler und internationaler Interessensvertretungen inklusive der Kinder und Jugendlichen selbst muss von öffentlicher Hand unterstützt und mit ausreichenden Budgetmitteln ausgestattet werden - bei voller Gewährung der Unabhängigkeit. Effiziente Koordinierungseinrichtungen brauchen Organisationsstrukturen mit fundierter personeller Besetzung. Sie sollten auch die Kontinuität der Auseinandersetzung mit der Materie Kinderrechte gewährleisten - über Regierungs- und Politkurswechsel hinaus. Österreich braucht einen unabhängigen Kinderrechtsbeirat wie etwa den 1999 eingeführten Menschenrechtsbeirat. Auch die Abhaltung eines jährlichen Kinderrechteforums mit Schwerpunktthemen wäre zweckmäßig, ebenso die Herausgabe österreichischer Kinderrechte-Monitoring-Jahresberichte inklusive Falldokumentationen von Kinderrechtsverletzungen. ¾
Die Verankerung der UN-KRK in der österreichischen Bundesverfassung!
Nicht zuletzt, sondern möglichst bald ist diese lange bestehende Forderung und wiederholte Absichtserklärung in Regierungsprogrammen mit gebündelten politischen Kräften durchzusetzen!
Die Würde des Kindes mit einer Behinderung Karin Mosler Die Würde eines Menschen ist unabhängig von der Ausformung des einzelnen Individuums und seinen speziellen Fähigkeiten. Sie ist grundsätzlich unantastbar vom Beginn bis zum Ende eines menschlichen Lebensweges. Um bei einem Kind die angelegten Ressourcen bestmöglich zur Entwicklung der Persönlichkeit nutzen zu können, braucht es besonders in den ersten, prägenden Lebensjahren ein förderndes Umfeld. Durch die Interaktionen im Alltag und die Art der Kommunikation nehmen die Primärbezugspersonen wesentlichen Einfluss auf den Weg des jungen Menschen. Jedem Kind – ob behindert oder nicht – wird durch würdigenden, liebevollen Umgang sowie durch Achtsamkeit und Verständnis ein guter Start ins Leben ermöglicht.
I. Interaktion und Kommunikation als Ausdruck der Würdigung eines Menschen Ein Kind, das mit einer Behinderung leben muss, unterscheidet sich in seinem Mensch-Sein in keiner Weise von anderen Menschen, sondern es ist eher eine Frage für die anderen Menschen, wie sie mit diesem besonderen Kind umgehen können, wie sie es würdigen. Gesellschaftliche Spielregeln, kulturelle Normen und die eigene Werthaltung spielen dabei eine große Rolle. Die Würde jedes Menschen ist in seinem SELBST, seiner PERSÖNLICHKEIT immanent vorhanden und ist unteilbar, unantastbar und einzigartig. Wird Würde mit gesellschaftlichem Wert verwechselt, so reduziert man das Menschsein auf die materielle Ebene und nimmt ihm damit seine Individualität. Dieser Wert drückt sich aus in Rang, Ehre, Verdienst oder sozialem Ansehen. Würde ist ein eher abstrakter Begriff im sittlich moralischen Bereich und wird als ein menschliches Wesensmerkmal gesehen. Es reicht nicht aus, die Würde des Kindes nur abstrakt zu beschreiben, sie muss in den Alltagshandlungen sichtbar gemacht werden.
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Hans-Georg Wigge hat in diesem Sinne einen Text verfasst, nachdem ihm eine Frau mit Down-Syndrom gesagt hat „So bin ich halt “ – und sie hatte Recht. So ist jeder Mensch vor Gott, einmalig, unverwechselbar, wertvoll! Als „So bin ich“ geboren wurde, war sie so, wie Gott sie meinte. „So bin ich“ war ein Wunder, individuell wie alle Menschen. „So bin ich“ verstand manches nicht so schnell, wie ihre Brüder und Schwestern, manchmal verstand sie etwas auch gar nicht. Vieles aber verstand sie besser... mit dem Herzen! „So bin ich“ stellte sich den Aufgaben, die sie nicht überforderten. Sie erledigte sie nur langsamer, aber genauso sorgsam wie jede andere Sorgfältige. Ab und an war sie etwas unbeholfen, bei Taten und mit Worten, doch sie gab ihr Bestes. Was kann man mehr geben? Viele starrten „So bin ich“ an, weil sie fremd aussah, manche bemitleideten sie, manche machten sich über sie lustig, manche mieden sie. „So bin ich“ verunsicherte die Menschen. Sie erschütterte ihre Wertvorstellungen, nd deshalb übersah man sie oft oder wechselte lieber die Straßenseite. „So bin ich“ war verschiedener als andere, „Normale“. „So bin ich“ war normaler als verschiedene Andere. „So bin ich“ besaß alle Voraussetzungen für ein Leben unter ihren Schwestern und Brüdern, außer: Karrieredenken, Machtanspruch, Leistungsorientierung, Tanz um das goldene Kalb... Manche fanden es unmöglich, dass „So bin ich“ in der heutigen Zeit mit ihren Möglichkeiten überhaupt das Licht der Erde erblickt hatte. Einige schafften es sogar, per Gerichtsbeschluss „So bin ich“ als „Schadensfall“ mit Schmerzensgeldforderungen zu definieren, da der das Wachsen im Mutterleib begleitende Arzt die Schädigung nicht erkannte und das Töten durch Abtreibung nicht vorschlug.
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„So bin ich“ entsprach in keinster Weise der langweiligen Norm. Manchmal aber fand „So bin ich“ Verständnis bei „So wurde ich“. Vielleicht lag das oftmalige Ausgrenzen daran, dass die großen „So sind sie“ den kleinen „So werden sie“ immer weniger das wahre Menschsein lehren. Eines Tages wird eine kalte Welt den Namen von „So bin ich“ vergessen haben. Nur in Gottes Buch des Lebens, da steht er, unauslöschlich ... fettgedruckt!!
II. Ein Mensch, von Anfang an Wird ein Mensch geboren, so sieht man zuerst seinen materiellen Körper – dieses Wesen HAT vorerst einen Körper mit genetisch vorbestimmten, strukturellen Gegebenheiten, sehr ähnlich jedem anderen Menschen und doch niemals gleich! Aber er IST auch dieser Körper, durch die eigene Persönlichkeit, sein SELBST, das ihm bereits vorgegeben innewohnt und welches sich durch Umwelteinflüsse entwickelt, ihm „eingefleischt“ wird. Nach außen wird es Schritt für Schritt sichtbar gemacht, durch das individuelle Verhalten – frühzeitig eingeprägt, lebenslang wirksam und trotzdem immer neu formbar. „Use it or loose it“ – „Nutze oder verliere sie“ - damit sind die vorgegebenen Strukturen im Gehirn des Kindes gemeint – je mehr Möglichkeiten frühzeitig angeregt und genutzt werden, desto größer ist später das Handlungsspektrum (die synaptische Vernetzung). Diese auszufüllen macht lebenslanges Lernen möglich. Wer mit Neugeborenen zu tun hat, weiß, dass jedes dieser kleinen Wesen bereits seine eigene Persönlichkeit hat, die es ausdrückt, vorerst nonverbal, durch Schreien, Mimik und Gestik und durch die psychischen Kräfte, wie Antrieb, Wille, Interesse, Gefühl und seine vorhandenen Möglichkeiten zu lernen und zu handeln.
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Behinderungen beeinträchtigen selbstverständlich die Bandbreite dieser Ausdrucksmöglichkeiten. Sie erfordern demzufolge erhöhte Aufmerksamkeit und besonderes Verständnis, wobei Eltern leicht überfordert werden und professionelle Hilfe (zum Beispiel heilpädagogische „Frühförderung“ begleitend zu medizinischen Maßnahmen) hier von Anfang an selbstverständlich angeboten werden müsste.
III. Was ist nun dieses jedem Menschen innewohnende SELBST? Es ist der Wesenskern des Menschen und kann unter verschiedenen Aspekten gesehen und betrachtet werden. Das Selbstkonzept schließt viele Komponenten ein: - persönliche Erinnerungen (Episoden) - Annahmen über unsere Eigenschaften, Motive, Werte und Fähigkeiten - das Ich-Ideal - wie wir am liebsten sein würden - das eigene Bild von sich selbst, das durch Anlage und Umwelterfahrungen ausgeformt wird Die Selbstwirksamkeit - hängt außer von unseren tatsächlichen Leistungen von weiteren Faktoren ab: - von den Möglichkeiten selbst handeln zu können und zu dürfen - von unseren Beobachtungen der Leistungen anderer
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- von Überzeugungen, die wir von andern übernommen oder selbst aufgebaut haben - von der Beobachtung unserer emotionalen Zustände, während wir über eine Aufgabe nachdenken oder uns an eine Aufgabe heranwagen Dieses Gefühl einer Person beeinflusst ihre Wahrnehmung, ihre Motivation und ihre Leistung auf vielerlei Weise. Der Selbstwert oder das Selbstwertgefühl – ist eine verallgemeinernde Bewertung des eigenen Selbst und kann Gedanken, Stimmungen und das Verhalten stark beeinflussen. Es entsteht durch Selbstbeobachtung und die Rückmeldungen aus der Umwelt. Einige Schwerpunkte aus den Theorien von Daniel Stern zeigen auf, wie wichtig Interaktion und Kommunikation zur Ausformung dieses Selbst im Menschen sind. Die Umwelt hat bedeutsamen Einfluss darauf, ob sich ein Teufelskreis entwickelt, der durch Unwissen oder Missachtung zur Verschlechterung der gesamten Entwicklung eines Kindes führen kann, oder ob eine Engelsspirale durch ein gelungenes Miteinander auch bei sehr schwer behinderten Kindern ihre Würde und ihren inneren Wert erkennbar macht und seine vorhandenen Fähigkeiten nutzt. Es ist besonders zu erwähnen, wie wichtig bereits die frühe Kindheit für die gesamte Wesensentwicklung eines Menschen ist und welche Bedeutung dabei den ersten Bezugspersonen zukommt. Daniel Stern beschreibt 4 wesentliche Phasen der Selbstentwicklung des Säuglings bzw. des Kleinkindes, denen er stets ein Beziehungsfeld zuordnet.
Das auftauchende Selbst – bezogen auf den eigenen Körper (1.-2.Lbsmt.) Das Kind erlebt durch seinen Körper seine grundlegenden Bedürfnisse, äußert sie auf seine eigene Weise, und erfährt die Umwelt durch die Art, wie diese Bedürfnisse wahrgenommen und gestillt werden. Eine Hauptbezugsperson (die Mutter oder auch jemand anderer sein) ist hier wichtig und bald auch das Hinzukommen einer weiteren Vertrauensperson (z.B. Vater), oder auch mehrerer Personen, um dem Kind die Erfahrung zu ermöglichen, dass die Welt insgesamt freundlich gesinnt ist. Regelmäßigkeit, Promptheit und Konstanz bei der Bedürfnisbefriedigung sowie liebevolle Konsequenz werden dem Kind Urvertrauen geben. Widrigenfalls könnte sich Angst und Misstrauen entwickeln. Schwierig ist es für Eltern, die Bedürfnisse eines behinderten Kindes und deren Äußerung richtig zu erkennen und eine angemessene, prompte, entsprechende Antwort darauf zu finden. Das kann schon sehr früh zu Spannungen und Überlastungen führen – hier ist rechtzeitige, fachliche Unterstützung wirklich Not - wendig!
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Das Kern-Selbst – bezogen auf die Dinge in der Umwelt (3.-8. Lbsmt.) In diesem Lebensabschnitt orientiert sich das Kind in der Welt, in die es hineingeboren wurde. Es will alles kennen lernen, erfahren und ausprobieren. Es will handeln dürfen und die Konsequenzen erleben – be-greifen lernen! Hier entwickelt sich Erfolgszuversicht und Selbstvertrauen oder im negativen Fall Misserfolgsangst und daraus Untätigkeit! Dies ist eine schwierige Phase, wenn Kinder durch eine Behinderung ihre Selbstbeschränkung erfahren, doch sollen sie selbst ihre Grenzen gut ausloten können und nicht durch Überbehütung in die Abhängigkeit gedrängt werden. Gleichzeitig entwickelt sich in diesem Lebensabschnitt das Zusammenspiel von aktiven Handlungen mit entsprechenden Emotionen, was sich bei wiederholten, gleichen Handlungsabläufen zu sogenannten „Episoden“ im Gedächtnis des Kindes abspeichert und jedes Mal in ähnlichen Situationen (auch im späteren Leben) wieder abgerufen wird. Diese „Bausteine“ des künftigen Verhaltens sind die Basis für die Entwicklung des Bildes, das ein Kind von sich selbst bekommt – - ob es erwünscht ist oder nicht, - ob es etwas kann und darf oder ob es abhängig ist von anderen Menschen, - ob es seine Gefühle zeigen darf und diese wahrgenommen werden oder ob es in sich gekehrt auf Distanz gehen soll.
Das affektive Selbst – bezogen auf Personen in der nächsten Umwelt (6.-12.Lbsmt.) Hier erlebt sich das Kind bereits bewusst als ein fühlendes Wesen, das sich von seinen Hauptbezugspersonen gefühlsmäßig unterscheidet. Es lebt im eigenen Reich seiner Gefühle und erkennt, dass gleichzeitig andere Menschen auch andere Gefühle haben können. Trotzdem ist es bestrebt, diese Gefühle immer wieder aufeinander abzustimmen – das heißt, zur gleichen Zeit dasselbe zu empfinden. Diese „Affektabstimmung“ ist eine wichtige Voraussetzung für spätere Beziehungsfähigkeit. Das stellt eine sehr anstrengende Aufgabe für die Eltern dar. Häufig wird versucht, die eigene Präsenz durch interessante Materialien zu ersetzen, mit denen sich das Kind ausreichend vergnügen und beschäftigen kann – Erwachsene gewinnen dadurch etwas mehr eigenen Freiraum. Das führt oft zu Spannungen und hat weitreichende Wirkungen ins spätere Leben hinein. Angemessener Umgang mit Nähe und Distanz, sowie mit der Quantität und Qualität der Zeit soll hier wohlwollend erlernt werden – durch Achtsamkeit und ausgewogene Zuwendung als Basis für eine sichere Bindung.
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Das verbale Selbst – bezogen auf die personale und dingliche Umwelt (10.-21. Lbsmt.)) Nach dem Durchlaufen der vorangehenden Reifungsabschnitte hat das Kind einen umfangreichen passiven Wortschatz erworben und wird nun Schritt für Schritt fähig sich selbst auszudrücken – durch Worte, die als Symbole für die „innere Landschaft“ gelten. Wichtig ist, welche Wortwahl im Umgang mit dem Säugling getroffen wird, denn es kann durch Worte – die eine wirkungsvolle Waffe des Menschen sind – sehr viel Schaden angerichtet werden. Ein guter, einfühlsamer, sprachlicher Umgang ist Basis für den Aufbau abstrakter Begriffe und künftiger Wertvorstellungen. Ist ein Kind in seiner Sprachentwicklung verzögert oder so schwer beeinträchtigt, dass es sich verbal nicht ausdrücken kann, so sollte unbedingt darauf geachtet werden, eine andere Ausdrucksform zu finden. Menschen, die nicht verstanden werden, neigen dazu zu resignieren und ziehen sich gerne in ihre eigene, innere Welt zurück und gelten dann als „sonderbar“ – oder sie werden aggressiv, was dann oft als Begleiterscheinung ihrer Behinderung definiert wird! Dieser sehr verkürzte Einblick in die wesentlichen Entwicklungsphasen soll aufzeigen, wie wichtig die Interaktion und Kommunikation in der Erziehung und Entwicklungsbegleitung von Anfang an ist, besonders dann, wenn diese Entwicklung unter erschwerten Bedingungen erfolgt. Es soll auch zeigen, wie Kinder gewürdigt oder gedemütigt werden können – oft ohne böse Absicht, nur aus Unwissenheit!
IV. Wie kann durch Interaktion und Kommunikation die Würdigung für einen Menschen zum Ausdruck gebracht werden? Hier kommen drei gut bekannte Begriffe zur Anwendung: ZEIT, ZUWENDUNG, ZÄRTLICHKEIT Zeit: Die Zeit, die man jemandem schenkt oder für jemanden aufwendet, ist ein wesentlicher Maßstab für die Wertschätzung die man dieser Person entgegenbringt. Das gilt ganz besonders für das Kind mit einer Behinderung. Wir dürfen hier nicht mit unseren üblichen Zeitmaßen arbeiten, wir müssen die dem Kind angemessene Zeit finden und sie ihm auch in den Alltagshandlungen gewähren. Nur so kann es seinen eigenen Rhythmus entwickeln und sich als gewürdigt erleben. Zuwendung: Einem Menschen echtes Interesse für seine Person zeigen, sich ihm ehrlich „zuwenden“, nicht nur die notwendige, zweckdienliche „Pflicht“ erfüllen, heißt ihm Würde zu erweisen, ihn als Person ernst zu nehmen. Es schließt den
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angemessenen fördernden und pflegenden Umgang mit der Person mit ein. Die Innenwelt betreffend kann dies eine besondere Achtsamkeit sein für die Bedürfnisse, Wünsche und Befindlichkeiten dieses Menschen, auch wenn sie nicht der Norm entsprechen. In der äußeren Welt wird die Wertschätzung eher durch konkrete Dinge ausgedrückt – in unserer Zeit besonders durch Geld, in Form von Geschenken oder Entlohnung, durch Raumbereitstellung als entsprechend gestalteter Lebensbereich, durch gepflegtes Aussehen und durch die äußere Form des Umganges, die Anwendung von Ritualen wie Höflichkeits- und Respektsbezeugungen. Manchmal wird versucht, das Fehlen eines Bereiches durch ein Überangebot im anderen Bereich auszugleichen, was schließlich die Ursache vieler Konflikte ist. Die eigene Werthaltung dem betreffenden Menschen (bzw. dem Kind) gegenüber kommt hier ganz besonders zum Ausdruck! Zärtlichkeit: Das Betrachten des Menschen mit „einem freundlichen Blick“ heißt, ihn nicht ständig zu kritisieren, sondern seine Eigenart anzunehmen, ihn auf seine Weise schön und liebenswert zu finden, seine Stärken zu unterstützen und die Schwächen manchmal zu übersehen. Durch körperliche Nähe und direkten Hautkontakt die Zuneigung konkret spürbar zu machen. Eine ehrliche, stimmige Haltung wird hier besonders fühlbar, kann „Halt“ geben. Das Bedürfnis nach Nähe und Distanz gut aufeinander abzustimmen erleichtert das Zusammenleben und erfordert eine grundsätzlich empathische Haltung. Die Würdigung und Wertschätzung eines Menschen festigt seinen Selbstwert und bringt ihm Freude, Zufriedenheit und somit eine harmonische Lebensqualität. Diesen Handlungen muss ein Gefühl zugrunde liegen - das ist echte LIEBE. Ein Mensch der sich geliebt fühlt so wie er ist, wird seinen materiellen Körper mit dem spirituellen SEIN gut verbinden und insgesamt HEIL sein können – anderenfalls kann es zu Wechselwirkungen kommen, bei denen der Körper die Verletzungen des Selbst zum Ausdruck bringt und auf psycho-somatische Weise Entbehrungen aufzeigt. Spätestens dann sollte man genau hinhören, hinschauen und versuchen, mit LIEBE, Achtsamkeit und Kompetenz zu heilen – so gut man das kann!
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Bildnachweis Bild 1: www.inwakibo.de/bilder/gross/kinder-02.jpg Bild 3: www.smokefree-online.de/pix/Neugeborene.gif Bild 2, 4 und 5: privat
Literatur Speck Otto; Prof.Dr. phil.; System Heilpädagogik; Anthropologische Grundlagen der Heilpädagogik (168 – 217); 1991 Ernst Reinhardt Verlag, München Stern, D.N.; Prof.Dr. für Psychiatrie; Die Lebenserfahrungen des Säuglings; 1992 Klett-Cotta Verlag, Stuttgart (Original: The Interpersonal World of the Infant; 1985) Die Mutterschaftskonstellation; 1998 Klett-Cotta Verlag, Stuttgart (Original: The Motherhood Constellation; 1995) Mutter und Kind; Die erste Beziehung; 1994 Klett-Cotta, Stuttgart (Original: The first Relationship: Infant and Mother; 1977) Bernd Reimann; Im Dialog von Anfang an; 1993; Luchterhand Verlag Neuwied, Kriftel, Berlin Rousseau J.J.; Emil oder über die Erziehung; 1971; UTB Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn Ferrucci Pierro; Kinder weisen uns den Weg; 1999 Mosaik Verlang München (Original: I bambini insegnano; 1997 Arnoldo Mondadori; Milano) Karl Gebauer/Gerald Hüther (Hrsg.); Kinder brauchen Wurzeln; 2001 Patmos Verlag, Düsseldorf-Zürich Hüther Gerald; Prof.Dr. Neurobiologe; Die Macht der inneren Bilder; 2004 Vandenhoeck und Rupprecht, Göttingen Bauer Joachim; Prof.Dr. Internist, Psychiater, Psychoneuroimmunologe; Warum ich fühle was du fühlst; 2005, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
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Lobby4kids: Ziele und Tätigkeiten von Selbsthilfegruppen für Kinder Irene Promussas Der Verein Lobby4kids – Kinderlobby befasst sich mit den Rechten aller Kinder, speziell aber derer mit besonderen Bedürfnissen, sprich chronisch kranker und behinderter Kinder. Hauptanliegen ist demnach die Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen vor allem im Gesundheitssystem und in den Krankenhäusern, aber auch in der Gesellschaft allgemein. Gesundheit ist hier im Sinne der WHO definiert: Geistig, körperlich, seelisch und sozial. Es gilt, Defizite im System aufzuspüren, die Öffentlichkeit für die Anliegen von Kindern zu sensibilisieren und konkrete Lösungsvorschläge zu erarbeiten.
I. Gründung der Lobby4kids – Kinderlobby Kinder und Jugendliche haben in unserer heutigen Zeit noch immer nicht die Wichtigkeit, die ihnen zusteht. Sie sind nie an Verhandlungstischen zu finden, weil sie nicht selbst für sich sprechen können. Daher sind sie darauf angewiesen, dass andere, meistens die eigenen Eltern oder betreuende Personen, ihre Anliegen artikulieren und notfalls auch für sie kämpfen. Für chronisch kranke und behinderte Kinder sind die Bedingungen noch um einiges erschwert, da sie noch weniger Möglichkeiten haben, ihre Anliegen vorzubringen und noch mehr von anderen abhängig sind. Ihre Hauptfürsprecher, die Eltern, sind mit Pflege und Betreuung meist vollkommen ausgelastet, wenn nicht sogar überfordert und haben oft keine Kraft übrig, um für Verbesserungen zu kämpfen. Defizite im Gesundheitswesen sind besonders an diesen Kindern und Jugendlichen spürbar und müssen unbedingt eliminiert werden. Ziel muss es daher sein, die Situation aller Kinder und Jugendlichen zu verbessern, speziell aber die jener mit besonderne Bedürfnissen, und zwar in den Krankenhäusern, im Gesundheitssystem und und in der Gesellschaft ganz allgemein. Wir sprechen für alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig davon, ob sie krank oder gesund sind, denn sowohl könnten die Gesunden von heute morgen krank werden, als auch ist es denkbar, dass ein chronisch krankes oder behindertes Kind von heute in Zukunft dank entsprechenden medizinischen Fortschritts als geheilt und gesund gilt. Die Förderung der Gesundheit aller Kinder und Jugendlichen steht daher im Mittelpunkt, und zwar wie von der WHO definiert: Körperlich, geistig, seelisch und sozial.
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Ende 2003 gaben vier der geistigen Väter und Mütter der Kinderlobby, die Pädiater Waldhauser, Püspök, Tatzer und Jürgenssen, das Buch „Weggelegt“ heraus (Czernin Verlag), in dem sie Defizite in der österreichischen Pädiatrie aufzeigten. Zum ersten Mal, als Conclusio sozusagen, wurde auch der Ruf nach einer Kinderlobby laut. Dies entsprach vollkommen dem Bedürfnis betroffener Familien (die Obfrau und Autorin ist selbst Mutter eines chronisch kranken Kindes) und mehrerer Organisationen, die sich schon länger mit den Anliegen von Kindern beschäftigten. Kurz nach Erscheinen des Buches fanden sich Betroffene regelmäßig an einem runden Tisch zusammen, um Ideen darüber auszutauschen, wie eine solche Kinderlobby gestaltet werden könnte. Diese Phase des Brainstormings währte ungefähr ein Jahr. Anfang 2005 wurde offiziell der Verein Lobby4kids – Kinderlobby gegründet: Es war zuletzt allen Beteiligten klar, dass eine Plattform oder Initiative ohne Vereinsstruktur in Österreich wohl bald einen schweren Stand haben und kaum an Förderungen oder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen würde. Der Verein definiert sich als eine unparteiische und überkonfessionelle Gemeinschaft von Organisationen, Selbsthilfegruppen, betroffenen Familien und Ärzten.
Ihre Hauptaufgabe sah und sieht die Lobby4kids nach wie vor darin, bestehende Initiativen österreichweit durch gemeinsames Vorgehen zu bündeln und zu vernetzen. Enstsprechend den Bedürfnissen von Familien, die nach der Geburt eines chronisch kranken oder behinderten Kindes oft in ein tiefes Loch fallen, soll ein Netzwerk entstehen, um solche Familien aufzufangen, zu den richtigen Anlaufstellen weiterzuleiten oder Hilfestellung zu bieten.
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II. Aufgabenbereiche Lobby4kids – Kinderlobby sieht ihre Aufgaben in vier großen Bereichen:
1. Medizinischer Bereich Entwicklung eines nationalen Gesundheitsplanes für Kinder und Jugendliche – inzwischen gibt es diesen schon, seine Umsetzung in der Praxis erfordert aber nach wie vor Kontrolle. Einrichtung von Gesundheitsbeauftragten für Kinder und Jugendliche in allen Bundesländern Verbesserung der medizinischen Betreuung von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen Verbesserung der Betreuung in heilpädagogischen Stellen Durchsetzung von Veranstaltungen zum Thema „Kindergesundheit“ Verbesserung der genetischen Beratungen für seltene Erkrankungen, Aufbau von Abteilungen für klinische Genetik und Betreuungsnetzwerken für seltene Erkrankungen Kindernotarzttelefon / Kindernotarztteams in ganz Österreich Flächendeckende mobile Hauskrankenpflege in ganz Österreich mit Kinderkrankenpflegepersonal für Kinder und Jugendliche auch in Kindergärten und Schulen
2. Gesellschaftspolitik
Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Anliegen von kranken Kindern in Österreich Durchsetzung von speziellen Patientenrechten für Kinder und Jugendliche Etablierung eines Patientenanwaltes für Kinder und Jugendliche in allen Bundesländern Etablierung von Vertretern für Kinder und Jugendliche in politischen Gremien wie Fraktionssprecher, Bundeskommission etc.
3. Ethik Ein Kernstück des Anliegenpakets der Lobby4kids ist die EACH-Charta (European Association for Children in Hospital), die 1988 verfasst und in den Niederlanden verabschiedet wurde. Fast zwanzig Nationen weltweit haben seither die EACH-Charta unterschrieben, innerhalb unterschiedlicher Organisationsformen und Ausführungen in den einzelnen Ländern. Ziel ist die europaweite Umsetzung der EACH-Charta in den Krankenhäusern. Die von der UNO 1989 verabschiedete UN-Konvention für die Rechte des Kindes nimmt in verschiedenen Artikeln Bezug auf Kinderrechte und -anliegen, die auch in der EACH-Charta Thema sind. Leider sind bis heute die Rechte des Kindes noch immer nicht in die österreichische Verfassung aufgenommen worden.
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Da nach wie vor nicht vorausgesetzt werden kann, dass die EACH-Charta allgemein bekannt ist, sei dieser Platz genützt, um die einzelnen Punkte hier nochmals aufzuführen. Erläuterungen sind im Anhang im Literaturverzeichnis bei den entsprechenden Webadressen zu finden. 1. Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wenn die medizinische Behandlung, die sie benötigen, nicht ebenso gut zu Hause oder in einer Tagesklinik erfolgen kann. 2. Kinder im Krankenhaus haben das Recht, ihre Eltern oder eine Bezugsperson jederzeit bei sich zu haben. 3. Bei der Aufnahme eines Kindes ins Krankenhaus soll allen Eltern die Mitaufnahme angeboten werden, und ihnen soll geholfen und sie sollen ermutigt werden, zu bleiben. Eltern sollen daraus keine zusätzlichen Kosten oder Einkommenseinbußen enstehen. Um an der Pflege ihres Kindes teilnehmen zu können, sollen Eltern über die Grundpflege und den Stationsalltag informiert werden. Ihre aktive Teilnahme daran soll unterstützt werden. 4. Kinder und Eltern haben das Recht, in angemessener Art ihrem Alter und ihrem Verständnis entsprechend informiert zu werden. Es sollen Maßnahmen ergriffen werden, um körperlichen und seelischen Stress zu mildern. 5. Kinder und Eltern haben das Recht, in alle Entscheidungen, die ihre Gesundheitsfürsorge betreffen, einbezogen zu werden. Jedes Kind soll vor unnötigen medizinischen Behandlungen und Untersuchungen geschützt werden. 6. Kinder sollen gemeinsam mit Kindern betreut werden, die von ihrer Entwicklung her ähnliche Bedürfnisse haben. Kinder sollen nicht in Erwachsenenstationen aufgenommen werden. Es soll keine Altersbegrenzung für Besucher von Kindern im Krankenhaus geben. 7. Kinder haben das Recht auf eine Umgebung, die ihrem Alter und ihrem Zustand entspricht und die ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll für Kinder geplant, möbliert und mit Personal ausgestattet sein, das den Bedürfnissen von Kindern entspricht. 8. Kinder sollen von Personal betreut werden, das durch Ausbildung und Einfühlungsvermögen befähigt ist, auf die körperlichenn, seelischen und entwicklungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien einzugehen. 9. Die Kontinuität in der Pflege kranker Kinder soll durch ein Team sichergestellt sein. 10. Kinder sollen mit Takt und Verständnis behandelt werden, und ihre Intimsphäre soll jederzeit respektiert werden.
4. Soziales und Sozialversicherungsrecht
Keine Einhebung von Selbstbehalten (Rezeptgebühr, Fahrtkosten, Therapien) für Kinder und nicht erwerbsfähige Jugendliche Änderung der leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung (LKFPunkte) zur finanziellen Sicherstellung der notwendigen Ressourcen für Kinderkrankenhäuser, Ambulanzen und Tageskliniken
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Familienorientierte Rehabilitation chronisch kranker Kinder und Jugendlicher Begutachtung zur Pflegegeldeinstufung durch Fachärzte und diplomiertes Pflegepersonal für Kinder und Jugendheilkunde
III. Arbeitsweise und Mitglieder Innerhalb der letzten drei Jahre haben sich drei wesentliche Arbeitsbereiche in den Aktionsräumen von Lobby4kids herauskristallisiert:
a)
Öffentlichkeitsarbeit
Lobby4kids greift brisante Themen auf und verfasst Stellungnahmen, die häufig auch öffentlich gemacht werden, z. B. auf Pressekonferenzen. Es werden Rundmails an Politiker und Gesundheitsbeauftragte verfasst und Forderungen sowie Anliegen aus der Praxis und dem Alltag von betroffenen Familien formuliert. Ein Grundsatz dabei ist immer, nicht nur die Forderung im Raum stehen zu lassen, sondern auch gleich konkrete Lösungsvorschläge anzubieten. Wir wollen kooperieren und nicht nur konfrontieren. Wenn nötig, werden auch Volksanwalt oder Patientenanwaltschaft miteinbezogen. Dabei wird die Konversation für alle Beteiligten immer transparent gehalten. Weiters wird Lobby4kids häufig auf Kongressen vorgestellt, meist auf Pädiatrieoder Pflegesymposien. Die Öffentlichkeitsarbeit von Lobby4kids erstreckt sich aber immer öfter auch bis in interdisziplinäre Arbeitskreise und Gremien zu relevanten Themen, bei denen die Erfahrungen und Sichtweisen Betroffener in Lösungsmodelle miteingebracht werden können.
b) Internet: Schnellhilfe und Vernetzung Bei Anfragen von Betroffenen von außen oder aus den Mitgliedsreihen nach z. B. Therapiegeräten, Behördentipps oder bestimmten Spezialisten ergeht sofort eine Rundmail an alle Mitglieder unseres Netzwerkes. Im Normalfall sind kleinere Probleme mit dieser Methode innerhalb von 48 Stunden gelöst. Vernetzung, unser Hauptanliegen, kann im Internet besonders leicht erfolgen. Interessierte Organisationen, Einzelpersonen oder Berufsgruppen können mit Lobby4kids Banner tauschen oder sich direkt verlinken lassen, am besten aber direkt der Organisation beitreten. Das Auffangnetz für Familien mit chronisch kranken oder behinderten Kindern wird so immer dichter, wobei die gleichzeitige und echte Mitgliedschaft von sowohl Organisationen als auch betroffenen Familien am effizientesten ist. Der lückenlose Informationsfluss funktioniert nur, wenn immer alle die gleichen Ausschreibungen und Emails erhalten, sodass aus einem potenten Pool für betroffene Familien geschöpft werden kann.
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c) Einzelfallbetreuung Wird intensivere Begleitung und Betreuung einzelner Betroffener benötigt, so ist dies ebenfalls über das Diensttelefon der Kinderlobby oder per Email möglich, selbstverständlich auch mittels persönlichem Kontakt. Anliegen können Hilfestellung bei Behörden, Verweise zu den richtigen Stellen, Vermittlung zwischen Ärzten, Betroffenen oder Ämtern sein, aber auch Ermutigung, telefonische Begleitung und Aussprachemöglichkeit. Die Mitglieder von Lobby4kids - Kinderlobby setzen sich sowohl aus Privatpersonen als auch aus anderen Vereinen oder Gruppierungen zusammen. Unter letzteren sind große und namhafte Organisationen vertreten, die der Kinderlobby den Rücken stärken und für Betroffene das immer wieder erwähnte Netz bilden, das sie auffangen soll. Beispiele für Selbsthilfegruppen und Organisationen, die Mitglieder bei Lobby4kids sind, sind wie folgt: – – – – – – – – – – – – –
Mobile Kinderkrankenpflege Wien (MOKI Wien) Verein Kinder in Begleitung (KiB) Verein Elternanders Institut Keil Hilfswerk Aktive Diabetiker Austria (ADA) Österreichische Diabetiker Vereinigung ÖDV Rheumalis Vereinigung zugunsten körper- und mehrfachbehinderter Kinder und Jugendlicher (VKKJ) Dachorganisation aller Kriegsopfer- und Behindertenverbände Österreichs (KOBV) Help – Verein zur Unterstützung bedürftiger Behinderter Aktion Kinderherz Österreichische Morbus Crohn – Colitis ulcerosa Vereinigung (ÖMCCV)
IV. Bisher wichtigste Aktivitäten 2006
Jänner: Im Wiener Rathaus fand eine Podiumsdiskussion mit Pädiatern aus der Schweiz, aus Österreich und Deutschland zum Thema „Die Zukunft der Kindermedzin“ statt, die von der Gesundheitssprecherin der Grünen, Dr. Sigrid Pilz, moderiert wurde. Es zeigte sich, dass die Probleme, die in diesem Buch auch an anderer Stelle beschrieben werden, ähnlich sind, aber auch, dass es unterschiedliche Lösungsvisionen gibt.
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Lobby4kids war als Vertreter der Selbsthilfegruppen vertreten und konnte für die Patientenseite einige Argumente liefern. Februar: Die Autorin dieses Beitrags drehte mit dem ORF in ihrer Privatwohnung eine Volksanwaltsendung zum Thema Hortbetreuung chronisch kranker Kinder. Das Ausgangsproblem war und ist, dass medizinische Handgriffe in der Nachmittagsbetreuung sogar von Sonderpädagogen für Integrationskinder auf eigenen Plätzen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht vorgenommen werden dürfen, mangels rechtlicher Absicherung. Aufgrund einer Weisung des Magistrates 10, die mitten unter dem Schuljahr erging, wurde schon eingeschulten Betreuern sofort untersagt, diese Handlungen vorzunehmen, selbst wenn sie sich freiwillig dazu gemeldet hatten. Die Sendung schlug hohe Wellen, da es viele Betroffene gab, die die Öffentlichkeit aber bislang aus Angst vor persönlichen Repressalien scheuten. Nach eineinhalb Jahren intensiven Verhandelns mit der Stadt Wien wurde erwirkt, dass die Stadt ab sofort alle betroffenen Pädagogen haftpflichtzuversichern und Konsiliarärzte zur Einschulung vor Ort zu entsenden habe. Der Magistrat 10 zeigte sich dabei sehr kooperativ, es wurde seither jeder Fall tatsächlich individuell eingeschätzt und meist auch eine annehmbare Lösug gefunden. Es gilt nun, dieses Modell auch bekannt zu machen und andere Obrigkeiten von Tagesraumbetreuungen, wie z. B. die MA 56 in diversen Behindertenschulen, davon zu überzeugen. Wichtig war Lobby4kids, dass die betroffenen chronisch kranken und behinderten Kinder echte Integration erfahren und dass den ohnehin schon finanziell schwer belasteten betreuenden Eltern und Angehörigen keine Extrakosten wie z. b. durch die Finanzierung einer eigens dafür eingesetzten mobilen Kinderkrankenschwester entstehen. Dies würde in den meisten Familien das Pflegegeld zur Gänze auffressen, bzw. wertvolle Stunden mit der mobilen Schwester zu anderen Zeiten eliminieren. Gleichzeitig sollen pflegende Angehörige entlastet werden und ihr Kind nicht auch noch in Schule und Hort selbst betreuen müssen. März: Zum Thema „Kranke Kinder, bitte warten“ fand eine Pressekonferenz mit Dr. Sigrid Pilz von den Grünen statt. Es ging um die Ausdünnung der Spezialambulanzen an der Wiener Universitätskinderklinik. Tatsache ist, dass die Pädiatrie in Österreich, entgegen einem internationalen Trend, in Richtung weniger statt mehr Subspezialisierung geht, sodass aufgrund fehlender Spezialisten es zu monatelangen Wartezeiten für Kinder mit seltenen chronischen, oft genetisch bedingten Erkrankungen kommt. Diese Wartezeiten können mitunter lebensgefährlich sein. Lobby4kids zeigte in mehreren Statements die daraus entstehenden Probleme chronisch kranker Kinder aus der Sicht betroffener Familien auf. Teilnahme am universitären Arbeitskreis „Genetische Betreuung“: Vom Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Frauen wurde dieser Arbeitskreis in Auftrag gegeben, vom Verein Dialog Gentechnik moderiert. Der Kreis war interdisziplinär und multiprofessionell zusammengesetzt, Lobby4kids war als Vertreterin der Selbsthilfeseite zur Teilnahme
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eingeladen. Ziel war es, eine Handlungsanweisung für niedergelassene Ärzte zu erstellen, die Erstkontakt mit Familien mit genetisch bedingten Erkrankungen haben. Das Ergebnis präsentierte sich als Leitfaden für Genetische Betreuung mit einem Algorithmus als Übersicht, der auf einer Pressekonferenz im Herbst des Jahres vorgestellt wurde. Über die Ärztekammer wurde diese Handlungsanweisung verteilt, nach einer Pilotphase soll nun eine längere Testphase mit anschließender Evaluierung erfolgen.
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Interview im Kurier zum Thema „Wiedereinstieg in den Beruf bei Pflege eines chronisch kranken Kindes“: Lobby4kids wurde im Anschluss an einen von der Obfrau gehaltenen Vortrag im Institut Keil zum gleichen Thema vom Kurier zu einer Stellungnahme gebeten, gemeinsam mit zwei anderen betroffenen Müttern, eine davon die Obfrau von Elternanders. Schwierigkeiten mit Behörden, insbesondere mit dem Arbeitsmarktservice (AMS), wurden aufgezeigt. Das hatte positive Folgen: In den Tagen nach dem Erscheinen des Interviews meldeten sich Mitarbeiter des AMS, die bereit waren, zu helfen. Radiointerview zum Thema „Mobile Kinderkrankenpflege“: Gemeinsam mit MOKI wurde dieses Interiew, in dem diese Einrichtung vorgestellt wurde, im ersten Halbjahr in Ö1 ausgestrahlt. Teilnahme am interdisziplinären Arbeitskreis „Umgang mit Genetischen Daten“: Als Folgeveranstaltung zum ersten Arbeitskreis, der ebenso wie der zweite auf Geheiß der Bundesregierung von Dialog Gentechnik eingerichtet wurde, gestaltete sich dieser um vieles schwieriger. Die Teilnehmer kamen wieder aus allen Sparten, zusätzlich nahmen noch Vertreter des KAV teil, die die EDV-Organisation der Krankenhäuser innehatten und eng mit den Organisatoren der ELGA-Studie zusammenarbeiteten. Es wurde nach Lösungsmodellen gesucht, wie sensible genetische Daten gesondert behandelt und aufbewahrt werden könnten. Dabei sollten das schon bestehende Gentechnikgesetz und das Gesundheitstelematikgesetz berücksichtigt werden. Die Schwierigkeit lag und liegt darin, dass sich der gesamte Prozess gerade in einer Übergangsphase befindet, jedenfalls solange die Wiener Universitätsklinik nicht ganz dem KAV und einer allgemein gültigen EDV-Organisation, die eben erst erarbeitet wird, unterstellt ist. So gibt es in diesem Fall (noch) kein zu präsentierendes Endprodukt, die Stellungnahmen aller Beteiligten liegen dem Bundesministerium jedoch vor, es wird an einer Lösung gearbeitet. ExpertInnenforum am Tulbinger Kogel im Oktober: Im Zusammenhang mit o. g. Arbeitskreis wurde Lobby4kids als eine von zehn ExpertInnen zu einem Diskussionsforum geladen, bei dem mit Hilfe der Methode des Neosokratischen Dialogs (NSD) Lösungsvorschläge zu einer genetischen Frage aus der Praxis erarbeitet werden. Geleitet wird dieses Forum, das in ähnlicher Form auch schon in Deutschland und Japan stattfand, von
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zwei deutschen Philosophen. Das erleichtert die Erläuterung einer Fachfrage aus der Humangenetik, die an Ort und Stelle erst ausgewählt wird, ungemein, weil die Moderatoren alle Fachkonversationen erst auch für sich selbst so umformulieren müssen, dass sie für alle teilnehmenden Disziplinen verständlich werden. Der NSD soll dabei nicht nur helfen, Lösungsmodelle zu finden, sondern auch Sichtweisen zu verändern oder zu erweitern. Alle dabei vorgeschlagenen Lösungsmodelle sind dabei gleichwertig. Die bearbeitete Frage lautete in diesem Forum: „Was heißt es, in der Genetischen Betreuung Selbstbestimmung zu berücksichtigen?“ Erster Kongress der Politischen Kindermedizin in Salzburg: Von den Autoren und Herausgebern dieses Buches organisiert, wurde nach vielen interessanten Vorträgen aus den drei Bereichen „Die Realität der medizinischen Kinderversorgung Österreichs“, „Überleben versus Lebensqualität“ und „Die Würde des Kindes in der Medzin“ eine Resolution verfasst, die wichtige Forderungen für Kinder und Pädiatrie gleichermaßen enthält. Lobby4kids war im dritten Themenbereich vertreten, das Echo (von welcher Seite?) war ermutigend und erfreulich. Die Plattform wird weiter bestehen, dieses Buch ist ein Ergebnis der dort stattgefundenen spannenden Diskussionen und Dialoge. Interview im Kurier zum Thema „Schulgeld für behinderte Kinder – Extrakosten belasten Familien“: Wieder einmal wurden die Kosten für die medizinische Betreuung für chronisch kranke Kinder in den Nachmittagsbetreuungseinrichtungen thematisiert, diesmal vor allem die MA56 (Wien) betreffend, die auch für die Tagesräume in Behindertenschulen zuständig ist. Kurioserweise gestaltet sich eben dort momentan die Durchführung medizinischer und pflegerischer Handgriffe am schwierigsten. Das ist umso weniger verständlich, als in letzter Zeit betroffenen Eltern häufig nahegelegt wird, ihr Kind in eine solche Schule zu geben, womit sich ‚normale‘ Integrationsschulen der Verantwortung zu entziehen versuchen, aber auch, weil der aktuelle Trend leider in Richtung weg von Integrationsklassen und hin zu wenigen „Schulghettos“ für Behinderte geht. Auch dieses Interview mit einer unserer MOKISchwestern schlug hohe Wellen, es kam in der Folge durch Vermittlung von Lobby4kids zu wichtigen Gesprächen mit Verantwortlichen des Wiener Stadtschulrats, die nun auf die Problematik aufmerksam geworden sind. Der Stadtschulrat lud Lobby4kids zu seinen Sitzungen ein, in denen Integrationsthemen und Probleme betroffener Familien besprochen werden. Auch künftig wird Lobby4kids zu diesen Sitzungen eingeladen werden und mitarbeiten können, eine äußerst positive Entwicklung. Ebenso eingeladen wurde die Kinderlobby zu einem Arbeitskreis des KAV zur Mitgestaltung des neuen Krankenhauses Nord. Lobby4kids nahm am Gesundheitspreis der Stadt Wien teil, gewann zwar keinen Preis, ist aber nun in die Dokumentation miteinbezogen worden.
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Einzelfälle: 2007 war das Jahr der Einzelfallbetreuung. Tatsächlich finden, wie sehr erwünscht, immer mehr betroffene Familien den Weg zu Lobby4kids. Einige Bespiele: – Fall V.: Bosnische Alleinerzieherin mit neurologisch auffälligem Kind, das zusätzlich an einem angeborenen Herzfehler leidet. Nach monatelangem Ringen und Vermitteln zwischen Therapeuten und Patientin sowie mit Hilfe einiger Mitglieder konnten Termine mit Experten früher angesetzt und sogar eine Aufnahme in die Wiener Universitätskinderklinik erwirkt werden. Das Gefühl der Mutter, der Zustand ihres Kindes hätte sich in den letzten zwei Jahren verschlechtert, wurde nach anfänglicher Skepsis von Seiten der behandelnden Ärzte endlich ernst genommen und inzwischen durch Befunde bestätigt. Gleichzeitig konnte durch unseren Mitgliedsverein KiB Entlastung für die Mutter organisiert werden, auch MOKI steht bei Bedarf jederzeit zur Verfügung. – Fall N.: Geschiedene Mutter mit zwei Kindern verliert nach einem Nervenzusammenbruch und folgendem Spitalsaufenthalt nicht nur Wohnung und Arbeit, sondern das Jugendamt nimmt ihr auch noch die Kinder weg. Obwohl die Mutter sich nach Kräften bemühte und es innerhalb kürzester Zeit auch schaffte, wieder ein Zuhause und eine Arbeit zu bekommen, hat sie bis dato ihre Kinder nicht zurückbekommen. Ganz offensichtlich ist auf dem Jugendamt etwas schiefgelaufen, die Mutter ist aber mittlerweile nicht mehr erreichbar. In diesem Fall konnte Lobby4kids zwar nicht ihre Kompetenzen überschreiten und zu Terminen mitgehen, aber gemeinsam mit einer engagierten Kindergartenbetreuerin wurde die Betroffene beratend unterstützt und an die richtigen Stellen verwiesen, und es wurde die Kinder- und Jugendanwaltschaft eingeschaltet. Es bleibt zu hoffen, dass die für die Familie beste Lösung noch gefunden wird. – Fall B.: Herzkrankes Kind sucht idealen Schulplatz. Lobby4kids nahm Kontakt mit den Schulleitungen, dem Stadtschulrat und dem Elternvereinsdachverband auf. Der Vater entschied sich zuletzt für eine private Lösung. Die Diskussion bleibt aber aufrecht, da es offensichtlich noch immer genügend Schulleitungen gibt, von deren gutem Willen es abhängt, ob ein chronisch krankes Kind wirklich integriert werden kann oder nicht. In einer Schule ging es lediglich darum, den Klassenraum vom dritten in den ersten Stock zu verlegen. Das Angebot von freiwilligen Mitgliedern von Lobby4kids, die Klassenübersiedlung vorzunehmen, wurde nicht angenommen. Die Aussichten stehen gut, dass die Diskussion lebendig gehalten wird – mehr darüber weiter unten.
In beiden vergangenen Jahren nahm Lobby4kids überdies an Messen und Veranstaltungen wie „Jeder für jeden“ oder „Kindergesundheitstag der Stadt Wien“ teil.
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Perspektiven für 2008
KAV Arbeitskreis: Lobby4kids nimmt derzeit an oben erwähntem Arbeitskreis teil und wird weiterhin aktiv in die Planung des neu entstehenden Krankenhauses Nord miteinbezogen. GEN – AU: Die Abschlussveranstaltung zu oben erwähntem ExpertInnenforum findet gemeinsam mit den Teilnehmerstaaten Deutschland und Japan wieder am Tulbinger Kogel statt. Der Neosokratische Dialog wird wiederum als Methode eingesetzt werden, es wird breite Evaluierungen und möglicherweise ein gemeinsam erarbeitetes Papier oder einen Plan geben, in dem ein internationaler Konsens zu wichtigen genetischen Fragen gefunden werden könnte und sollte. Eine Fernsehsendung zum Thema „Alltag mit chronisch kranken Kindern“ ist geplant. Lobby4kids möchte größer werden und neue Mitglieder gewinnen, denn nur gemeinsam sind wir stark.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass jeder von uns in irgendeiner Weise ein Betroffener ist oder zumindest mit Betroffenen zu tun hat. Unser Ziel ist vor allem, auch die Nichtbetroffenen, das heißt, die gesamte gesellschaftliche Öffentlichkeit für eine Kinderlobby zu sensibilisieren, damit die Rechte von Kindern und Jugendlichen nicht länger unter den Tisch gekehrt werden, sondern endlich das Gewicht bekommen, das ihnen zusteht. Erste kleine und größere Erfolge bestätigen uns auf unserem Weg und ermutigen uns, weiterzumachen. Neue Mitglieder, Mitstreiter und Befürworter unserer Arbeit seien an deser Stelle schon jetzt herzlich willkommen!
Literatur Waldhauser F., Jürgenssen O., Püspök R., Tatzer E. (2003) Weggelegt – Kinder ohne Medizin? (Czernin Verlag) www.lobby4kids.at www.weggelegt.at www.kib.or.at/pdf/EACH_Web.pdf
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Amor perficiat scientiam Ronald Kurz Auf der Grundlage der Konvention der Rechte des Kindes wurden in den letzten 10 Jahren auch für die Forschung am und mit dem Kind und Jugendlichen internationale Richtlinien für Ethik und Gute Klinische Praxis entwickelt. Selbst bei angemessener Einhaltung dieser Richtlinien ist darüberhinaus die ethische Dimension der Kommunikation zwischen Arzt, Kind und Eltern zu beachten. Dies benötigt bewusste Selbstreflexion über unseren Respekt vor der Würde des Kindes, über unsere Empathie, Ehrlichkeit und Fähigkeit zu einer verständlichen und vertrauenserweckenden Sprache in unserer verbalen und nonverbalen Hinwendung.
1. Einleitung Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte es gebraucht, um seit den menschenverachtenden medizinischen Versuchen an Kindern und Erwachsenen in der nationalsozialistischen Ära nicht nur den Erwachsenen, sondern auch Kindern die fundamentalen Rechte eigenständiger Personen mit entwicklungsspezifischen Bedürfnissen zuzugestehen. Im Jahre 1989 hat die UNO-Vollversammlung die Konvention der Rechte des Kindes beschlossen, die im Jahre 1998 auch von Österreich anerkannt wurde (1). Für die pädiatrische Forschung haben vor allem folgende Inhalte entscheidende Bedeutung: Dem Kind ist das fundamentale Recht auf Leben und Menschenwürde zu zuerkennen. Das Kind hat das Recht auf Schutz seines Lebens und auf Achtung seiner Person, unabhängig von Alter, Geschlecht, Rasse, Nationalität, Religion und Gesundheitszustand. Das Kind hat das Recht auf Erhaltung seiner Gesundheit durch bestmögliche medizinische Versorgung in jeder Phase seiner Entwicklung. Das Kind hat das Recht auf eine altersgerechte Information und Beachtung seiner Meinung. Die Interessen des Kindes haben Priorität. Auf dieser Grundlage wurde im Jahre 1998 die Declaration of Ottawa on the Rights of the Child to Health Care der World Medical Association entwickelt und veröffentlicht (2).
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Zusätzlich wurden vor allem in den letzten 10 Jahren auch für die Forschung am und mit dem Kind internationale Richtlinien für Ethik und Gute Klinische Praxis (GCP) erarbeitet. Sie finden sich unter anderem mehr allgemein in der letzten Version der Helsinki-Deklaration (3) und kindspezifisch in den ICHEmpfehlungen (4), in der EU-Direktive für GCP (5) und in den Richtlinien der CESP (6), heute European Academy of Paediatrics (EAP) genannt.
2. Grundsätze für Ethik in der pädiatrischen Forschung Es besteht auch für das Kindesalter länderübergreifender Konsens über die ethische Forderung nach Erwerb von immer noch unbefriedigendem Wissen über biomedizinische Daten und Wirkungen medizinischer Produkte, der sich jedoch mit der ethischen Forderung nach individuellem Schutz und Achtung der Integrität und der persönlichen Würde im Gleichgewicht befinden muss (4). So bestehen heute verschiedene Gründe dafür, dass kindgerechte Forschung notwendig ist, diese aber unter der Kontrolle ethischer Grundsätze der „Guten Klinischen Praxis“ stehen muss. Die CESP bzw. EAP entwickelte ein Ethik-Dokument für die gesamte pädiatrische Forschung (6), an die auch österreichische Forscher und Ethikkommissionen an Hand des Grundsatzpapiers der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde gebunden sind (7). Über allen Maßnahmen steht als übergeordnetes ethisches Prinzip, alle medizinischen Tätigkeiten „im besten Interesse des Kindes“ durchzuführen (8). Die Schwierigkeit für Ärztinnen und Ärzten ist, dass sie zwar eine recht gute Ahnung davon haben, aber trotz klarer Richtlinien im Individualfall nicht vollkommen sicher sein können, was in einer individuellen Situation das beste Interesse des Kindes darstellt. Sie können nur versuchen, immer wieder aufs Neue zu verstehen und durch gewissenhafte Überprüfung unserer Erfahrung und unserer Beobachtungen ihre ganze Empathie auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes zu richten (9). Aber persönliche Erfahrung allein als das Maß aller Dinge anzusehen, birgt ein zu hohes Risiko für Fehlentscheidungen. Auch bei konsensuellen ethischen Grundsätzen, von denen wir Konstanz und Unveränderbarkeit fordern möchten, müssen wir erkennen, dass sie sich mit gesellschaftlichen Trends auch ändern können, und dass wir nicht auf alle Fragen valide Antworten finden. Ethik sollte jedoch frei sein von Opportunismus, Populismus, Utilitarismus und Ideologien (9). Aber die Anwender der Ethik sind nicht immer frei davon. Wenn Ethik nach der neuen Definition als das Wissen um das Richtige und das Gute definiert wird, ist es vermutlich fragwürdig, sich selbst apodiktisch im Zustand ethischer Rechtschaffenheit zu fühlen. Daher bedeutet ethisches Verhalten im Konsens mit Thomas Kenner und Erich Loewy (10) auch für die Pädiatrie eher, die richtigen Fragen zu stellen und in allen Entscheidungen ehrliche und kritische Selbstreflexion zu betreiben.
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Für alle Fälle sind GCP- Richtlinien für die pädiatrische Forschung (4,5,6,7) zu beachten, nämlich eine klare Definition des Ziels klinischer Studien Schutz der Integrität des Kindes kindspezifische Planung und Durchführung einer sauberen klinischen Studie Definition des Nutzen-Risiko-Verhältnisses Minimierung vorhersehbarer Risken und Belastungen kindgerechter Informed Consent bzw. Assent und Evaluierung jeder wissenschaftlichen Studie durch pädiatrisch kompetente Ethik -Kommissionen. Trotzdem machen Ärzte die Erfahrung, dass der ideelle Wert, aber auch die objektiven Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie nicht allein durch die nüchterne und akribische Beachtung der GCP-Richtlinien, sondern auch durch die Qualität der persönlichen Beziehung zwischen Arzt, Kind, Eltern und betreuendem Personal entscheidend beeinflusst werden (11).
3. Kommunikation und Würde des Kindes Offenbar hat Kommunikation mit Kind und Eltern eine hohe ethische Dimension (8). Die Bedeutung dieser Sichtweise spiegelt sich auch in der neueren Literatur wider. In seinem Enquete-Bericht „Arzt- Patientenbeziehung im Wandel – Stärkung des dialogischen Prinzips“ zeigt Linus Geisler (12), dass seit den 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Wandel vom ärztlichen Paternalismus zur Patienten-Autonomie stattgefunden hat. Paternalismus wird heute als Eingriff in die Freiheit der Person bezeichnet, wenn sie auch durch einen Appell an das Wohl der betreffenden Person ihre Rechtfertigung sucht. Die Auffassung von Autonomie als Selbstbestimmung wurzelt in der Aufklärung. Nach Emanuel Kant (13) ist die Autonomie der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur. Für das Kind ist diese Sicht in letzter Konsequenz nicht hilfreich, weil Würde heute als „die einem Lebewesen kraft seines inneren Wertes zukommende Bedeutung“ definiert wird. Damit sind nicht einzelne Eigenschaften, sondern der Wert des Menschseins an sich maßgeblich für den Anspruch der Menschenwürde (14). In dieser Hinsicht versucht das neue Kindschaftsrechtsänderungsgesetz (15) der Eigenständigkeit des Kindes soweit als sinnvoll Rechnung zu tragen. Ärzte machen auch die praktische Erfahrung, dass Compliance und Vertrauen des Kindes am ehesten erreicht werden, wenn es als Person in seiner Entwicklung entsprechend ernst genommen wird. Extreme und unvernünftige Autonomie führt jedoch zur Blockade ärztlichen Handelns und den Patienten in eine Situation der Isolation und Hilflosigkeit. Peter Kampits (16) hält das dialogische Prinzip der
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Philosophen des 20. Jahrhunderts, wie Martin Buber oder Viktor von Weizäcker, in Bezug auf die Arzt-Patienten-Beziehung als wirkungsvolles Mittel zur Überwindung der Alternative zwischen Paternalismus und Autonomie, wobei empathische Zuwendung und das Streben nach gegenseitigem Vertrauen als Voraussetzung für dialogisch motiviertes Handeln gelten. Diesbezüglich wird allerdings ein beträchtliches Defizit in der Ausbildung der Ärzte konstatiert. Es hat sich auch gezeigt, dass Patientenentscheidungen ihrerseits weniger auf rationalen Grundlagen beruhen, als allgemein angenommen wird.
4. Amor perficiat scientiam Daher sollten für das Kind die Erkenntnisse der dialogischen oder auch narrativen Medizin noch verstärkt werden durch die Forderung „amor perficiat scientiam“ (die Liebe möge die Wissenschaft vervollkommnen). In ihrem ursprünglichen Verständnis bedeutet Liebe nach Clemens Sedmak (17) die besondere Fähigkeit, Bindungen einzugehen, die die eigenen Grenzen erweitern und dem Leben Tiefe und Innerlichkeit verleihen. Gemäß der Auffassung über die Bedeutung des richtigen Fragestellens im Kontext ethischen Verhaltens erscheint es sinnvoll, das Wissen und die praktischen Fähigkeiten für eine fruchtbare Kommunikation in der triadischen Beziehung zwischen Arzt, Kind und Eltern besonders bei der Durchführung von Forschungsstudien am Kind immer bewusst zu hinterfragen. Dazu einige Beispiele: Ist der Respekt des Arztes für die Würde der Person des Kindes erkennbar und spürbar, wobei Menschenwürde als der Wert des Menschseins an sich von Alter oder Handicaps des Kindes nicht beeinflusst werden? Stehen die Bedürfnisse des Kindes primär im Zentrum der ärztlichen Aktivitäten und erst sekundär das ehrgeizige Ziel einer erfolgreichen Studie? Sind die Gespräche mit Kind und Eltern über die geplanten Maßnahmen ehrlich und umfassend und baut sich spürbar gegenseitiges Vertrauen auf? Ist es möglich ein emotional warmes Milieu zu schaffen, auch wenn es fallweise schwer fällt, schwierige Persönlichkeiten von Kindern und Eltern zu akzeptieren? Ist es möglich, Kinder und Eltern von der Sinnhaftigkeit einer Studie zu überzeugen, ohne ihnen mit apodiktischem Pragmatismus medizinische Weisheiten überzustülpen, weil jede Art von Zwang kontraproduktiv ist und Compliance verhindert? Sind sich Ärzte bewusst, – dass die empathische und verständliche Sprache, wozu auch die non-verbale Körpersprache gehört, das wichtigste „Emzym“ für das seelische Wohlbefinden des Gesprächspartners ist?
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dass mangelnde Einfühlsamkeit und Klarheit der Information und Verwendung einer vielleicht niveauvollen, aber der mentalen Kapazität des Kindes und dem sozialen Status der Familie nicht angepassten Sprache zu den stärksten destruktiven Hindernissen einer erfolgreichen Kommunikation gehören? dass Un- und Missverständlichkeit der Sprache Angst, Ärger und Ablehnung erzeugen? dass bei Übermittlung schwerwiegender und für das Leben des Kindes bedrohlicher Informationen die behutsame Begleitung der Familie durch die Phasen des Schocks, der Ablehnung, der Aggression und Depression hindurch zu einer neuen Identitätsfindung notwendig ist?
Ist Selbstreflexion des eigenen Verhaltens ein Teil der ärztlichen Fortbildung – als Mittel zur Selbsterkenntnis? – als Basis zur Verbesserung des Wissens und der Fähigkeiten zu einer vertrauenswürdigen Kommunikation? Die Liste dieser Vorschläge ist nicht vollständig und muss auf die Erfordernisse der individuellen Situation und die Befindlichkeit und Aufnahmebereitschaft der in die Forschung involvierten Personen abgestimmt werden (18,19,20). Allerdings muss hinzugefügt werden, dass diese Gedanken nicht neu sind. Als Beispiel dafür sollen einige Sätze aus dem hier nur in Ausschnitten wiedergegebenen Gebet des Rabbiners, Philosophen und Arztes Moses Ben Maimon dienen, besser bekannt unter dem Namen Maimonides, der von 1135 bis 1204 gelebt hatte (21): „Gott erfülle meine Seele mit der Liebe zur Kunst und allen Kreaturen, gib dass ich in dem der leidet nur den Menschen sehe, gib dass mein Geist unter allen Umständen klar bleibt: denn groß und erhaben ist die Wissenschaft, deren Ziel es ist, die Gesundheit und das Leben aller Kreaturen zu erhalten. Gib dass meine Kranken Vertrauen haben zu mir und zu meiner Kunst, gib dass ich in allem Maß halte, aber unersättlich bin in meiner Liebe zur Wissenschaft.“ Diese Ausführungen sind der Versuch, längst Bekanntes in ein zeitgemäßes Kleid zu hüllen und es den heutigen Bedürfnissen medizinischen Denkens und Handelns anzupassen. Der Schlusspunkt sei mit einem fast zweitausend Jahre alten Zitat aus dem ersten Korinther-Brief (1 Kor. 13, 2 ) gesetzt: „ ..... und wenn ich alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte … ….. und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts“.
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Literatur 1) United Nations Children´s Fund (1995) Convention on the Rights of the Child. UK Committee for UNICEF. London. http://www.unicef.org/crc/crc. htm 2) World Medical Association (1988) Declaration of Ottawa on the Right of the the Child to Health Care. http://www.wma.net/e/policy/c4.htm 3) World Medical Association (2000) Declaration of Helsinki. Recommendations guiding physicians in biomedical research involving human subjects. 52th General Assembly: Edinburgh, Scotland. http://www.wma.net/e/policy/ 17-c_e.html 4) International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use (ICH) (2000) ICH Topic E11: Note for Guidance on clinical investigations of medical products in the paediatric population (CPMP/ICH 135/95). London. http://www.ich.org 5) Directive 2001/20/EC of the European Parliament and the Council on the approximation of the law, regulations and administrative provisions of the member states relating to the implementation of good clinical practice in the conduct of clinical trials on the medicinal products for human use (4 April 2001) Luxembourg. http://www.oerct.be/ Services/Doc/clinical-EU-directive -04-April-01.pdf 6) Gill D (2004) Ethical principles and operational guidelines for the good clinical practice in paediatric research. Recommendations of the Ethics Working Group of the Confederation of European Specialists in Paediatrics (CESP). Eur J Pediatr 163:53-57 7) Kurz R (2001) Ethik in der pädiatrischen Forschung. Grundsatzpapier der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde. http://www. meduni- graz.at/ethikkommissionen/Forum/Download/ Files/Paediatr.pdf 8) Kurz R (2005) Im besten Interesse des Kindes. In: Kenner T, Plöchl E (eds) Medizinische Ethik im Brennpunkt. Macht und Ohnmacht der modernen Medizin. SPS – Publications Heilbronn, 44-49. 9) Kurz R (2002) Putting the child first: research as a part of paediatric care. Intern J Pharm Med 16: 11-13 10) Loewy EH. (1996) Textbook of health care ethics. Plenum Press, New York, London 207-235 11) Kurz R, Gill D, Mjönes S and the Ethics Working Group of the Confederation of European Specialists in Paediatrics (CESP) (2000) Ethical issues in the daily medical care of children. Eur J Pediatr 165: 83-86 12) Geisler L ( 2002) Arzt – Patient – Beziehung im Wandel. Stärkung des dialogischen Prinzips. Enquete-Abschlussbericht. http://www.linus-geisler. de/art2002/o514enquete-dialogisches.html 13) Kant I (2007) Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft. Akademie Textausgabe Bd 5. Walter de Gruyter, Bern
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14) Menschenwürde (2007) Definition. http://de.wikipedia.org/wiki/Menschenwürde 15) Kindschaftsrechtsänderungsgesetz 2001. http://www.austrianlaw.at/cms/ index. phys?id=2712-21k 16) Kampits P (1996) Das dialogische Prinzip in der Arzt–Patienten–Beziehung. Verlag Rothe, Bern 17) Sedmak C (2007) Liebe als gestaltende Kraft des öffentlichen Raums. Denken und Glauben 147: 4-6 18) Kurz R, Moser T (2006) Die Achtung der Würde in der Kommunikation mit behinderten Kindern und ihren Familien. Pädiatr Pädol 5: 22-25 19) Hermann K (1999) Arzt – Eltern Gespräche. Vom schwierigen Dialog mit Eltern kranker Kinder. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 20) Pichler E, Jürgenssen A, Richter R (1986) Die Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose. Reaktionen der Eltern. In: Biermann G (ed) Das kindliche Gespräch um Kinder und Jugendliche. Ernst Reinhardt, München, 108-123 21) Knessel J (1989) Medizinische Ethik aus heutiger Sicht. Birkhäuser-Verlag, 120