Ich lass mich nicht verführen
Jo Ann Algermissen
Tiffany 343 24-1/89
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von vampirL ...
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Ich lass mich nicht verführen
Jo Ann Algermissen
Tiffany 343 24-1/89
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von vampirL
1. KAPITEL
„Mene Mem schcmpft met mer, wenn ech ehne Stefel derch den nessen Schnee leufe", sagte Christy Harvey und rutschte unruhig auf Patty Mallorys Schoss hin und her. Meine Mom schimpft mit mir, wenn ich ohne Stiefel durch den nassen Schnee laufe, übersetzte Patty im stillen, während sie sich bemühte, einen Gummiüberschuh der Größe dreißig über einen Slipper der Größe einunddreißig zu stülpen. „Und jetzt drücke Zehen und Ferse gleichzeitig kräftig nach unten", befahl sie, entschlossen, den Gummistiefel mit aller Kraft zu dehnen, damit Christys Füße nicht naß wurden. Normalerweise hätte sich Patty darüber gefreut, wie geschickt ihre Schülerin alle Vokale durch ein „e" ersetzte, zählte doch dieses Vokalspiel zu ihren bevorzugten Unterrichtsmethoden. Unter den gegebenen Umständen allerdings vermochte sie Christys Eifer nicht gebührend zu würdigen, sondern hätte statt dessen lieber gern einige ihrer Berufstricks gegen einen passenden Gummistiefel eingetauscht. Heute war einer dieser Tage, an denen alles schief zu gehen schien, und wenn Patty Pech hatte, konnte sie wegen Christys Überschuhen noch eine Menge Ärger mit dem Schulleiter bekommen. Vor fünf Minuten waren Christys Mitschüler beim Ertönen der Schulglocke wie ein wilder Haufen aus dem Klassenzimmer gestürmt und lärmend den Korridor entlanggelaufen. Bereits zum zweitenmal an diesem Tag, dachte Patty missmutig und zog aus Leibeskräften an dem Stiefel. Schon am Morgen hatte Phillip Wadsworth, der neue Rektor, sie gerügt, weil sie vor Schulbeginn nicht an der Tür ihres Klassenzimmers gestanden hatte. Doch was konnte sie dafür, dass ihr Wagen nicht angesprungen war? Und nun erwiesen sich Christys Üb erschuhe als zu klein. Auch daran trug sie, Patty, keine Schuld. Phillip aber ließ keine mildernden Umstände gelten. „Die Beaufsichtigung der Kinder auf den Fluren durch ihre Lehrer ist notwendig, um die Disziplin im Haus zu wahren." Mit diesen Worten hatte er ihre Entschuldigung abgetan. Patty zerrte noch immer an dem Stiefel und warf einen Blick zur Wanduhr. Mittlerweile war mit Sicherheit auch Christys Schulbus abge fahren, und nun musste sie wohl oder übel den Rektor bitten, das kleine Mädchen heimzubringen. An diesem Tag blieb ihr aber auch nichts erspart. „Diesmal schaffen wir es." Patty biss sich vor Anspannung in die Unterlippe, und tatsächlich gelang es ihr, den Slipper in den Stiefel zu zwängen. „Na endlich?" Christy sprang vom Schoss ihrer Lehrerin und begutachtete die Stiefel. „Des send necht mene", sagte sie entschuldigend. „Nicht deine?" Patty traute ihren Ohren nicht. „Es müssen deine sein." „Nen." Kopfschüttelnd betrachtete Christy die Stiefel an ihren Füßen. „Also gut." Patty seufzte resigniert. Sie blickte zu der sich auf der Rückseite des Raums befindlichen Garderobe und entdeckte ein einsames Paar Stiefel, das denen an Christys Füßen zum Verwechseln ähnelte. Nur bei genauerem Hinsehen bemerkte man den geringfügigen Größenunterschied. Patty atmete tief durch. „Setz dich auf diesen Stuhl, und ich werde versuchen, dir die Überschuhe auf Cowboyart auszuziehen." Die Aufforderung schien Christy etwas zu verwirren, doch sie setzte sich gehorsam auf den Stuhl und streckte Patty einen Fuß entgegen. Patty kehrte Christy den Rücken, zu und klemmte sich den Stiefel zwischen die Knie. „Es dürfte nicht allzu schwer sein, ihn wieder herunterzubekommen." „Aber Miss Mallory ..." Christy zupfte ihre Lehrerin am Hosenbein. „Miss Mallory.. ." „Halt still, Liebling. Ich weiß, du willst nach Hause und im Schnee spielen. Nur noch ein klein wenig Geduld." Gleich darauf hielt Patty den Stiefel in der Hand, in dem nun auch der Slipper steckte. „Miss Mallory, es sind nicht meine Stiefel, sondern die meines älteren Bruders. Das hab'
ich die ganze Zeit versucht, Ihnen zu erklären. Meine Stiefel musste: ich meiner jüngeren Schwester geben." Patty richtete sich auf. Es kostete sie ziemliche Beherrschung, ruhig zu bleiben. Zugleich fühlte sie sich an ihre eigene Kindheit erinnert, in der sie ebenfalls die Kleidung ihrer älteren Geschwister auftragen musste und ihre eigenen Sachen die jüngeren bekamen. Die ganze Situation ent behrte nicht einer gewissen Komik und war typisch für die ABC-Schützen, die sie unterrichtete. Patty musste plötzlich lachen. „Gehören diese Stiefel nun dir oder nicht?" „Nicht wirklich, nur irgendwie." Christy kicherte. Dann leuchteten ihre blauen Augen plötzlich auf. „Onkel Christopher!" rief sie überrascht und humpelte - an einem Fuß einen Stiefel, an dem anderen nur Strümpfe -quer durch das Zimmer. „Was tust du hier? Mom sagte, du sonnst dich in Florida." „Ich bin extra gekommen, um dir beim Schneemannbauen zu helfen." Der Mann an der Tür kniff das kleine Mädchen liebevoll in die Stupsnase 'und zwinkerte der attraktiven Lehrerin verschwörerisch zu. Pattys Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Sie spürte, wie ein elektrischer Funke von diesem Mann auf sie überzuspringen schien, und ihre heftige Reaktion erschreckte sie. Allerdings konnte sie nun Christys Begeisterung für ihren Onkel nachempfinden. Er war für Patty kein Unbekannter mehr, denn sie hatte ihr wiederholt in höchsten Tönen von ihrem Lieblingsonkel vorgeschwärmt. Nun lernte Patty ihn erstmals persönlich kennen. Sie beobachtete, wie er Christy hochhob und durch die Luft wirbelte, ehe er sie zärtlich an sich drückte. Hände weg von gutaussehenden Männern, ermahnte sich Patty. Christopher übte eine ungeheuere Anziehungskraft auf sie aus, doch hatte sie die Erfahrung gelehrt, Sunnyboys wie ihm generell zu misstrauen. Es lohnte sich nicht, wegen einer kurzen Affäre ihr ruhiges und beschauliches Leben aufs Spiel zu setzen. Wegen breiten Schultern, sonnengebleichtem blondem Haar und einem gewinnenden Lächeln verliere ich noch lange nicht den Kopf, versuchte sie sich einzureden. Der Mann stellte Christy sanft auf den Böden, und das kleine Mädchen wandte sich an seine Lehrerin. „Miss Mallory, dies ist mein Lieblingsonkel, weil er alle seine Versprechen hält. Er ist auch der Lieblingsbruder meiner Mom. " „Freut mich, Sie kennenzulernen." Patty reichte ihm die Hand. „Christopher Turner. Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite." Ihre schmale Hand schien zwischen seinen langen, schlanken Fingern zu verschwinden. Er bedachte Patty mit einem anerkennenden Blick. „Bei einer solchen Lehrerin hätte es mir nichts ausgemacht, die erste Klasse zu wiederholen." Patty überging sein Kompliment und musterte ihn leicht bestürzt. Es geschah höchst selten, dass Kinder bereits in der ersten Klasse sitzenbleiben. Dann sah sie, wie es in seinen braunen Augen belustigt aufblitzte. Hastig entzog sie ihm ihre Hand. Sicher war er als Kind der Schrecken aller Lehrerinnen gewesen. „Onkel Christopher war Lusttechniker und musste deshalb die erste Klasse wiederholen", erklärte Christy altklug. „Lusttechniker?" Christopher lachte über die Angewohnheit seiner Nichte, ihr unverständliche Fremdwörter einfach umzumodeln. „Du hast wohl wieder heimlich Erwachsenengespräche belauscht?" Christy nickte, ohne die geringste Reue zu zeigen. „Moms Stimme klang echt traurig, als sie darüber sprach." Patty konnte sich unter einem „Lusttechniker" beim besten Willen nichts vorstellen. Während sie insgeheim rätselte, was Christy mit diesem Ausdruck meinte, ruhte ihr Blick unbewußt auf Christophers Lippen. Er bemerkte, wie sie überlegte. „Legastheniker." „Oh", machte Patty, die fand, dass „Lusttechniker" wesentlich besser zu ihm passte, auch wenn es sich dabei um ein Phantasiewort handelte. Christophers sinnliche Lippen weckten
recht lustvolle Gefühle in ihr. Ohne sich wegen der Enthüllung seiner ehemaligen Schwäche verle gen zu zeigen, griff er nun nach Christys Stiefel. „Dafür war ich sehr begabt darin, kleinen Mädchen die Stiefel anzuziehen", sagte er verschwörerisch. „Mal sehen, ob ich diese Fähigkeit nicht verlernt habe." Kichernd ließ sich Christy von ihrem Onkel auf ein Schulpult setzen. „In dem Stiefel steckt mein Schuh." „Hm." Christopher blickte in den Stiefel. „Ein Slipper. Wir lassen ihn am besten im Stiefel, und du schlüpfst mit deinem Fuß hinein. Verstanden?" Patty fragte sich, wieso sie nicht selbst auf diese einfache Lösung verfallen war. Sie begann ihren Schreibtisch aufzuräumen, während die beiden sich mit dem Stiefel beschäftigten. Es ging aber auch alles schief. Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen, um sich ins Bett zu verkriechen. Leider hatte sie jedoch noch eine Pflicht zu erfüllen. „Miss Mallory braucht eine Mitfahrgelegenheit“, verkündete Christy und umklammerte Christophers Schultern, um nicht nach hinten zu kippen. Ihr Fuß schlüpfte in den Slipper. „Ihr Auto ist kaputt." Patty stöhnte innerlich über Christys Redseligkeit, obwohl sie sonst kindliche Hilfebereitschaft und Großmut für recht liebenswerte Eigenschaften hielt. Es widerstrebte ihr, andere um einen Gefallen zu bitten, obwohl sie anderen gern half. „Ich muss erst noch zu Ted", sagte sie, bevor Christopher antworten konnte. „Ted hat sich das Bein gebrochen", erläuterte Christy ihrem Onkel. „Miss Mallory gibt ihm Beihilfe." „Nachhilfe", verbesserte Patty lächelnd. Christopher richtete sich auf und erwiderte ihr Lächeln. „Kein Problem. Wir bringen zuerst Christy und ihre Brüder nach Hause, und hinterher fahre ich Sie zu Ihrem Schüler. Wie lange dauert der Nachhilfeunterricht?" „Eine halbe Stunde, aber . . ." „Gut. Das reicht, um mit den Kindern einen Schneemann zu bauen. Danach hole ich Sie ab und fahre Sie heim." Ein verlockendes Angebot. Es bestand kaum Aussicht, bei diesem Schneesturm ein Taxi aufzutreiben, noch dazu an einem Freitagnachmittag. Patty graute es davor, erst durch den Schnee zu Teds Haus zu stapfen und dann noch zwei Kilometer nach Hause zu marschieren. Christopher fasste ihr Schweigen als Zustimmung auf und streckte die Hand nach den Büchern aus, die sie wie einen Schutzschild gegen die Brust presste. Dabei streifte er versehentlich ihren Arm. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und schämte sich gleich darauf dieser heftigen Reaktion. Sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Zugleich nahm sie ihre Überreaktion als Warnsignal und entschied, Christophers Einladung abzulehnen. „Danke, aber ich laufe gern durch den Schnee." „Unsinn." Durch ihre leicht geröteten Wangen wurden die wenigen Sommersprossen auf ihrer Nase betont, und Christopher fand, dass Patty bezaubernd aussah. Aus ihm unerfindlichen Gründen ärgerte ihn ihre ablehnende Haltung. „Unter dem Neuschnee ist es spiegelglatt. Falls Sie keine Spikes an den Schuhen tragen, rutschen Sie mit Sicherheit aus." „Ich komme schon zurecht", entgegnete Patty in schulmeisterlichem Tön, der keine Widerrede duldete. Dann wurde sie sich ihrer Unhöflichkeit bewusst und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. „Trotzdem vielen Dank für Ihr liebenswürdiges Angebot." Sie konnte es sich nicht leisten, den Angehörigen einer Schülerin zu vergraulen. Schließlich unterrichtete sie in einer teuren Privatschule, und eine Beschwerde über ihr Betragen hätte ihr einen weiteren Minuspunkt des Rektors eingetragen. „Sie sollten Ihr weibliches Unabhängigkeitsstreben nicht übertreiben, sonst handeln Sie sich eventuell erfrorene Zehen ein", spottete Christopher. Patty ignorierte seine Ironie. Sie ging in die Hocke, knöpfte Christys Mantel zu und umarmte das kleine Mädchen. „Ich wünsche dir ein schönes Wochenende. Bis Montag." Die herzliche Zuneigung, die Lehrerin und Schülerin verband, entging Christopher nicht.
Natürlich konnte er die Frau schlecht zwingen, in sein Auto zu steigen. Gleichzeitig widerstrebte es ihm, sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Er zog einen Zettel aus der Tasche und schrieb zwei Telefonnummern darauf. „Nun mach schon, Onkel Christopher." Christy nahm seine Hand. „Wenn du mit Miss Mallory streitest, krieg ich Ärger." Er lächelte aufreizend und stopfte das Stück Papier zwischen die Seiten eines der Bücher, die Patty noch immer an ihre Brust gedrückt hielt. „Rufen Sie mich an, wenn Sie einen Fahrer benötigen." „Es war nett, Sie kennenzulernen, Mr. Turner", entgegnete sie höflich. „Bis bald." Ihre Blicke begegneten sich. Eine erotische Spannung knisterte zwischen ihnen, was seinem Abschiedsgruß eine besondere Bedeutung verlieh. Patty schüttelte abwehrend den Kopf, um sich aus dem Bann seiner braunen Augen zu lösen. Abrupt drehte sie sich um und ging hinter ihren Schreibtisch. Nachdem die beiden gegangen waren, kostete es Patty einige Mühe, sich zu beruhigen. Du benimmst dich mit deinen sechsundzwanzig Jahren wie ein alberner Teenager, schalt sie sich und räumte weiter auf. Als sie gerade den Stundenplan dekorativ über die leere Schreibtischplatte breitete, hörte sie draußen näher kommende Schritte. Abwartend blickte sie zur Tür. Ob es ihr gelang, einer weiteren Dosis von Christopher Turners gefährlichem Charme standzuhalten? Sie hegte erhebliche Zweifel. Doch diesmal betrat Trudy Lane das Klassenzimmer, und Patty war sich nicht schlüssig, ob sie das Auftauchen ihrer Freundin erleichterte oder enttäuschte. „War das Christys Vater?" fragte Trudy neugierig. „Nein, ihr Onkel." Trudy schüttelte die Finger, als hätte sie sich verbrannt, was Patty veranlasste, in gespielter Verzweiflung die Augen zu verdrehen. Meistens amüsierten sie die Possen ihrer Freundin. Trudy hatte eine Schwäche für gutaussehende Männer und machte daraus kein Hehl. Ihr vorrangiges Lebensziel bestand in der Suche nach einem Ehemann und der Grün dung einer Familie. Mit ihrer Tätigkeit als Grundschullehrerin gedachte sie nur die Zeit zwischen College und Heirat zu überbrücken. „Hast du mit Richard schon Pläne für das Wochenende geschmiedet?" erkundigte sich Patty in dem Versuch, das Gespräch von Christopher Turner abzulenken. „Richard? Welchem Richard?" mokierte sich Trudy. „Ist er verheiratet?" wollte sie wissen und bezog sich damit offensichtlich auf Christopher. Patty zuckte mit den Schultern. „Danach habe ich ihn nicht gefragt." „Du hast schließlich Augen im Kopf. Trägt er einen Ring?" „Keine Ahnung." Trudy setzte sich auf Pattys Schreibtischstuhl und schüttelte fassungslos den Kopf. „Da verirrt sich wie durch ein Wunder ein blendend aussehender Mann in dein Klassenzimmer, und du bemerkst nicht einmal, ob er einen Ehering trägt. Wahrscheinlich würdest du in der Wüste sogar an einer Oase vorbeilaufen, weil du sie für eine Fata Morgana hältst. Was soll ich nur mit dir anfangen?" „Am besten lässt du mich in Frieden verdursten", antwortete Patty schmunzelnd. Trudys Manie, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Freundin einen Mann suchen zu wollen, belustigte sie. „Was gibt es da zu lachen? Du verschweigst mir doch nichts? Hat er dich etwa eingeladen?" „Weder lache ich, noch verheimliche ich dir was. Nein, er hat mich nicht eingeladen." Trudy stöhnte. „Du bist ein hoffnungsloser Fall." „Gestern nanntest du mich eine Närrin, heute bin ich ein hoffnungsloser Fall. Du solltest mehr auf deine Sprache achten, Trudy. In letzter Zeit verfällst du mehr und mehr in den Jargon deiner Zöglinge."
„N ur eine gutmütige Närrin wie du übernimmt freiwillig die Verantwortung für das Schwarze Brett, obwohl in diesem Monat eigentlich Priscilla an der Reihe wäre." Trudys verträumter Blick ließ darauf schließen, dass Pattys Ablenkungsversuch fehlgeschlagen war. „Er ist so schön braun", schwärmte sie. „Es muss herrlich sein, irgendwo im Süden zu überwintern. Weißt du, wo er war?" „In Florida." „Florida! Soweit ich weiß, lebt man dort unten entspannter und lässiger als hier. Ganz nach dem Motto, ,Sonne, Spaß und Faulenzen'." „Leider wird man vom Faulenzen nicht satt", bemerkte Patty nüchtern, während sie sich unwillkürlich schüttelte, als sie durch das Fenster auf das Schneetreiben blickte. Wie die meisten Bewohner von St. Louis sehnte sie sich manchmal nach eine m wärmeren Klima. Trudy richtete sich auf. „Dann würde ich eben als Gammlerin am Strand wohnen." Sie lächelte verschmitzt. „Oder mir einen reichen Liebhaber suchen, der sich das Überwintern in Florida leisten kann. Du hast dir nicht zufällig Name, Adresse und Telefonnummer dieses blonden Traummannes von vorhin notiert?" „Trudy, spiel nicht den männermordenden Vamp. Falls ich diese Angaben hätte, würdest du sicher keinen Gebrauch davon machen." „Da täuschst du dich möglicherweise. Allmählich solltest du den Tatsachen ins Auge schauen, Patty. Wir werden beide nicht jünger. Ich sehe uns schon als alte Jungfern unseren Lebensabend beschließen." Patty lachte laut auf. „So schlimm steht es um uns? Am besten lernen wir schon mal Patience zu legen, wie es sich für alte Jungfern geziemt." „So komisch finde ich das gar nicht. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Ich jedenfalls gerate langsam in Torschlusspanik. Gestern ertappte ich mich während der Flurkontrolle dabei, wie ich hinter unserem Rektor hersah und ihn gar nicht übel fand." „Warum auch nicht." „Jetzt übertreibe es aber nicht, Patty. Phillip ist ein langweiliger, steifer Bursche." „Klingt, als wäret ihr das perfekte Paar. Der steife Schulrektor und die klapprige alte Jungfer." „Siehst du, nun findest du ihn schon gut aussehend." „Zumindest ist er zuverlässig." „Das ist eine Wärmflasche auch. Trotzdem möchte ich nicht lebenslang mein Bett damit wärmen." „Er ist sesshaft." „Als hätte er Wurzeln geschlagen", stimmte Trudy zu und tat, als müsste sie gähnen. „Zuverlässig und sesshaft ", wiederholte sie angewidert und sprang auf. „Phillip Wadsworth ist eintönige Hausmannskost. Dein Besucher von vorhin hingegen wirkt wie Champagner und Kaviar, prickelnd und delikat. Nur Leute über Neunzig sollten sich an Haus mannskost halten." „Zuviel Champagner und Kaviar hinterlassen oft einen bitteren Nachgeschmack", erwiderte Patty, die Trudy nicht das letzte Wort lassen wollte. Sie ging zu ihrem Garderobenschrank, denn ihr war plötzlich eingefallen, dass Ted sicher schon sehnsüchtig auf sie wartete. Trudy beobachtete, wie ihre Freundin in einen weiten, wattierten Mantel schlüpfte und ihre flachen Schuhe mit kniehohen Stiefeln vertauschte. Dann stülpte Patty eine Wollmütze über ihr kastanienbraunes Haar und zog sie über die Ohren. Trudy musterte sie missbilligend. „Deine Eßgewohnheiten passen zu deiner Kleidung, praktisch, aber langweilig." „Das betrachte ich als Kompliment", konterte Patty und lächelte frech. „So war es keineswegs gemeint", sagte Trudy. „Vermutlich befindest du dich auf dem Weg zu Ted." „Ja." Bei dem Gedanken an Ted wurde sie schlagartig ernst. Er war Legastheniker und
dringend auf ihre Hilfe angewiesen. „Ich möchte nicht, dass er noch weiter zurückbleibt. Er ist wegen seiner Lernschwäche sowieso schon ziemlich frustriert." „Gutmütige Närrin." Patty wickelte sich den zur Mütze passenden Schal um und zog die ebenfalls passenden Handschuhe an. Auf dem Weg zur Tür rückte sie automatisch die Schreibpulte in eine gerade Reihe. „Ich liebe meinen Beruf." „Teds Eltern könnten sich leicht einen Privatlehrer leisten. Sie nutzen dich nur aus." „Das stört mich nicht", entgegnete Patty wahrheitsgemäß. Für sie bedeutete Ted eine Herausforderung. Nichts konnte sie daran hindern, ihm Lesen und Schreiben beizubringen und, ihm zu helfen, seine Leseschwäche zu überwinden. Jäh fiel ihr Christopher Turner ein, der ebenfalls Legastheniker gewesen war. Sofort verdrängte sie jeden weiteren Gedanken an ihn. „Gibst du mir das braune Kuvert, das in der obersten Schreibtischschublade steckt?" Trudy nickte, öffnete die Schublade und zog einen dicken Umschlag hervor. „Soll ich dich mitnehmen?" „Du fährst in die entgegengesetzte Richtung." Nichts hasste Patty mehr, als anderen zur Last zu fallen. Da es eine Art Unglückstag für sie war, stand außerdem zu befürchten, dass sie am Ende noch beide in einer Schneewehe stecken blieben. „Ich hätte wissen müssen, wie sinnlos eine solche Frage bei dir ist", stöhnte Trudy. „Du sagst nein, wenn du ja sagen solltest, und ja, wenn ein Nein angebracht wäre. Keine Widerrede. Wir treffen uns in fünf Minuten an der Stechuhr im Büro." Sie ging zur Tür. Patty verzog ihr Gesicht. Sicher wartete Phillip Wadsworth draußen schon auf sie, um sie über ihre Pflichten zu belehren. Ganz bestimmt war ihm nicht entgangen, wie ihre Schützlinge bei Schulschluss wie eine wilde Meute durch den Hur tobten. Patty unterdrückte den dringenden Impuls, Trudy zu bitten, für sie an der Stechuhr mitzustempeln. Falls Phillip sie dabei erwischte, konnte das für Trudy und sie recht unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. „Oder", schlug Trudy vor, wobei sie Pattys düstere Miene missdeutete, „du stempelst gleich für mich mit, weil du in Eile bist. Wir treffen uns dann an meinem Auto." „Gute Idee. Leider verstößt sie gegen die Vorschriften. Da ich heute sowieso schon bei unserem gestrengen Direktor in Ungnade gefallen bin, kann ich mir keine weitere Übertretung der Schulordnung leisten." Trudy legte die rechte Hand auf die Klinke. „Wadsworth sollte froh sein, jemanden wie dich in seinem Lehrkörper zu haben. In jeder Grundschule braucht man einen gutmütigen Dummkopf wie dich, auf den man seine lästigen Pflichten abwälzt. Sag Phillip, er soll sich zum Teufel scheren, wenn er deine Hilfsbereitschaft nicht zu schätzen weiß." Ehe Patty dazu eine schlagfertige Antwort einfiel, hatte Trudy bereits das Klassenzimmer verlassen. Nachdenklich klemmte sich Patty einen Stoß Schulhefte unter den Arm, die sie während des Wochenendes korrigieren musste. Nur einmal möchte ich den Nerv aufbringen, jemanden zu sagen, er möge sich zum Teufel scheren, dachte sie aufsässig. Sicher würde Phillip der Schlag treffen. Sie öffnete die Tür und spähte in beide Richtungen. Beim Anblick des leeren Korridors atmete sie erleichtert auf und schlug den Weg zum Büro ein. Nach Gesprächen mit Trudy fühlte sich Patty oft versucht, ihr stets auf Ausgleich bedachtes Verhalten im Umgang mit anderen neu zu überdenken. Trudy ließ sich weder von anderen vereinnahmen noch abkanzeln. Wenn jemand sie angriff, wehrte sie sich heftig. Sie, Patty, hingegen hatte sich jahrelang in Selbstdisziplin geübt, um ihr hitziges Temperament zu zügeln. Nur selten ließ sie sich ihren Brüdern gegenüber zu einer sarkastischen Bemerkung hinreißen, was von ihnen jeweils als „typischer Temperamentsausbruch einer Rothaarigen" bezeichnet wurde und bei ihr Schuldgefühle hervorrief. Beim Tod ihrer Mutter war Patty noch ein Teenager gewesen. Da der Vater tagsüber arbeitete, waren sie und ihre Geschwister meist sich selbst überlassen. Oft kam es zwischen den drei älteren Brüdern und den drei jüngeren Schwestern zu heftigen Streitereien, die das Familienleben stark beeinträchtigten. Binnen kurzem wurde Patty als ältestes weibliches
Familienmitglied in eine Art Vermittlerrolle gedrängt. Sie bemühte sich, auftretende Reibereien bereits im Keim zu ersticken und die Kampfhähne zu beschwichtigen. Mittlerweile waren ihre Geschwister mit Ausnahme ihres ältesten Bruders Tom alle glücklich verheiratet und benötigten sie nicht mehr als familiäre Friedensstifterin. Wie kommt Trudy nur dazu, mich einen gutmütigen Dummkopf zu nennen, weil ich mich diplomatisch und hilfsbereit verhalte? überlegte Patty. Friedensstifter und Diplomaten genießen in der Gesellschaft gemeinhin großes Ansehen. Ist es nicht positiv zu bewerten, wenn jemand einmal nicht so egoistisch ist wie andere? Patty beschloss, Trudys Anschuldigungen als ungerechtfertigt abzutun. Zudem hatte sie im Moment andere Sorgen. Je näher sie dem Büro kam, desto dringlicher wurde die Frage, womit sie Phillip besänftigen konnte. Trotz Trudys gege nteiliger Behauptung war er kein Unmensch, sondern tat nur seine Pflicht. Als sie um die Ecke bog, sah sie ihn am anderen Ende des Flurs. Er unterhielt sich mit Priscilla. Das ist der Lohn für meine gute Tat, folgerte Patty schmunzelnd. Mit ein bisschen Glück schaffe ich es, unbemerkt ins Büro zu schlüpfen und es ebenso wieder zu verlassen. Lautlos huschte sie hinein, nahm ihre Stempelkarte vom Wandbrett und steckte sie in die Stechuhr. Der laute Klick, mit dem die Zeit aufgedruckt wurde, ließ Patty unwillkürlich zusammenzucken. Sie warf einen Blick auf das Brett, widerstand jedoch der Versuchung, für ihre Freundin gleich mitzustempeln. Unruhig ging sie zum Fenster und hielt nach ihr Ausschau. Hoffentlich beeilte sich Trudy. Schließlich konnte jeden Augenblick Phillip das Büro betreten.
2. KAPITEL
Die Stimmen auf dem Korridor näherten sich dem Büro, und Patty wandte sich vom Fenster ab. Während sie vorgab, ganz in das Studium des an der Wand hängenden Terminkalenders vertieft zu sein, überlegte sie fieberhaft, womit sie den Direktor versöhnen konnte. „Dezember", murmelte sie und heftete den Blick auf ein rotumrandetes Datum. „Weihnachten." Ihr kam eine Idee. Alle Lehrer drückten sich davor, für die anstehende Weihnachtsfeier mit den Kindern ein Programm einzustudieren. Letztes Jahr hatte sie diese undankbare Aufgabe übernommen und sich hinterher geschworen, künftig die Finger davon zu lassen. Patty hörte hinter sich das rhythmische Klappern von Priscillas Absätzen. Sie drehte sich um und schenkte Phillip Wadsworth ein strahlendes Lächeln. „Nur noch ein knapper Monat bis zur Weihnachtsfeier. Wer kümmert sich diesmal um das Programm?" Phillip öffnete den Mund, doch Priscilla kam ihm zuvor. „Im Vorjahr hat Patty diese Aufgabe hervorragend gemeistert. Die Eltern haben vor Begeisterung geradezu getobt." Getobt habe ich auch, erinnerte sich Patty insgeheim ironisch, aber nicht vor Begeisterung. Denn obwohl die Kinder bei der Weihnachtsfeier allesamt unschuldigen Engeln glichen, hatten sie sie während der zahlreichen Proben oft genug zur Verzweiflung gebracht. Im übrigen war es das erste Mal, dass Priscilla Pattys Bemühungen im Vorjahr lobend erwähnte. Ob es daran lag, dass einem ungeschriebenen Gesetz zufolge in diesem Jahr eine Lehrerin der oberen Klassen die Weihnachtsfeier auszurichten hatte? Priscilla lehrte in den oberen Klassen. Pattys strahlendes Lächeln bekam etwas leicht Gequältes, da ihr aufging, welch selbstsüchtige Motive hinter dem Kompliment ihrer Kollegin steckten. „Danke, Priscilla", sagte sie höflich, entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. In diesem Moment stürmte Trudy ins Büro und bahnte sich ungeniert einen Weg zwischen Priscilla und dem Direktor. Offensichtlich hatte sie Priscillas Bemerkung gehört, denn sie warf Patty einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ist es nicht herrlich, dass in diesem Jahr die Lehrer der oberen Klassen für die Weihnachtsfeier verantwortlich sind? Wer kümmert sich darum? Sie, Priscilla?" „Oh, dazu fehlt mir die Zeit", antwortete Priscilla. „Mir schwirrt der Kopf bei dem Gedanken, ein aufwendiges Programm einzustudieren." „Mir hat es Spaß ..." Patty verstummte mitten im Satz, da Trudy ihr äußerst unsanft auf die Zehen getreten hatte. Trudy funkelte sie vorwurfsvoll an. „Bist du fertig, Patty?" „Wollen Sie schon gehen?" Phillip schaute missbilligend auf die Uhr. Er maß den Arbeitseifer seiner Untergebenen an der Zeit, die sie im Schulgebäude verbrachten. „Freitags erteilt Patty einem ihrer Schüler, der sich das Bein gebrochen hat, zu Hause Nachhilfeunterricht", klärte Trudy ihn auf. „Und da ihr Auto kaputt ist, fahre ich sie bei dem schlechten Wetter hin." Trudys Widerspruchsgeist war geweckt. Patty konnte dem Ton ihrer Stimme entnehmen, dass sie Wadsworth zum Teufel wünschte. Priscilla zeigte sich darüber schockiert. Phillips ungläubige Miene hingegen verriet, dass er Trudys Entschuldigung für eine faule Ausrede hielt. „Ich biete gern auch in diesem Jahr meine Unterstützung bei der Einstudierung des Weihnachtsprogramms an", mischte Patty sich beschwichtigend ein und blockierte Phillips Sicht auf Trudy, die ihn feindselig anstarrte. „Für mich ist es eine nette Abwechslung, auch mal mit älteren Kindern zu arbeiten", fügte sie hinzu und schob Trudy zur Tür. „Ja, das macht wahnsinnig Spaß", flötete Priscilla, offenkundig froh, von dieser Last befreit zu sein.
„Ja, wahnsinnig", wiederholte Trudy zweideutig und schüttelte resigniert den Kopf. Wieder einmal war sie mit ihren Bemühungen, Patty vor ihrer eigenen Gutmütigkeit zu schützen, gescheitert. „Komm endlich, Patty, ehe du hoch anbietest, übers Wochenende freiwillig das Schulge bäude zu putzen." Patty riskierte einen letzten Blick in Phillips Richtung. Er lächelte nicht, schien aber auch nicht böse zu sein. Zum Glück war es ihr gelungen, die brenzlige Situation zu retten. „Schönes Wochenende. Wir sehen uns dann am Montag in alter Frische", verabschiedete sie sich. „Hauptsache, Sie sind pünktlich", erwiderte Wadsworth spitz. Auf dem Flur hatte Patty Mühe, mit Trudys langen Schritten mitzuhalten. Sie erreichten beide gleichze itig den Ausgang. „Erlaubst du?" fragte Trudy gereizt und riss die Tür auf. „Du hast sowieso keinen Arm frei." Ein eisiger Wind wehte Patty entgegen. Sie fröstelte. „Pass auf, die Stufen sind ziemlich glatt", warnte sie und vergrub ihr Gesicht im Mantelkragen, so dass nur noch ihre Augen zu sehen waren. Natürlich war Trudy über ihr freiwilliges Angebot hinsichtlich der Weihnachtsfeier verärgert, aber immerhin hatte sie, Patty, damit geschickt Phillips Tadel umgangen und zugleich Trudy vor einem unüberlegten Zusammenstoß mit dem Direktor bewahrt. Patty versuchte es mit einem Friedensangebot. „Hast du Lust, heute abend bei mir zu essen?" „Nein, danke. Als du mich letztes Mal einludst, hast du Schulhefte korrigiert, und ich hab' mich vor dem Fernseher gelangweilt. Das entspricht nicht meiner Vorstellung eines unterhaltsamen Freitagabends." „Es gibt Scampi", lockte Patty, die sich vorsichtig von Stufe zu Stufe tastete. „Und Artischocken mit einer Spezialsauce." „Damit kannst du mich nicht bestechen." „Und hinterher selbstgebackenen Käsekuchen." Eine Schneeflocke benetzte Pattys Wimpern. „Oder Vanilleeis mit heißen Kirschen." „Das erlöst dich nicht von deinen Schuldgefühlen, Patty Mallory. Außer dir den Mund zuzuhalten, habe ich alles versucht, dich davon abzuhalten, freiwillig die Organisation der Weihnachtsfeier zu übernehmen. Allmählich hege ich die Vermutung, dass du einen Hang zum Masochismus hast." Patty wischte mit ihrer behandschuhten Rechten den Schnee von Trudys Windschutzscheibe. „Gib mir den Eiskratzer." „Den Teufel werde ich, Patty. Du bist bepackt wie ein Esel und willst nun auch noch meine Windschutzscheibe abkratzen. Setz dich in den Wagen." Patty ließ sich gehorsam auf dem Beifahrersitz nieder und überdachte nochmals das Geschehen im Büro. Trudy täuscht sich, wenn sie mich für masochistisch hält, dachte sie und lehnte sich in dem steifen Kunstledersitz zurück. Masochisten empfinden Pein als lustvoll. Ich hingegen wollte nur Phillips Unmut beschwichtigen. Patty war von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt, mochte Trudy auch gegenteiliger Meinung sein. Immerhin war es ihr gelungen, Phillip und Priscilla eine Freude zu bereiten. Die Erfahrung mit ihren Geschwistern hatte sie gelehrt, dass man es selten allen recht machte. Man musste froh sein, die Mehrheit zufrieden zu stellen. Und das war ihr diesmal geglückt. „Ich verspreche dir, heute abend keine Hefte zu korrigieren", gelobte Patty, als Trudy sich neben sie setzte. „Nun gib deinem Herzen einen Stoß und verzeih mir." Trudy musterte ihre Freundin sekundenlang, dann startete sie den Motor und fuhr los. „Du machst es einem schwer, dir böse zu sein." Sie stieß einen Seufzer aus. „Na gut. Es steht mir nicht zu, dich zu belehren." Ihr Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. „Obwohl du das sehr nötig hättest."
„Danke." Patty lächelte ebenfalls. „Ich wusste, du würdest mich verstehen." „Verstehen ja. Trotzdem billige ich dein Verhalten nicht." Trudy legte den Gang ein und lenkte den Wagen um einen Schneehaufen herum. „Ich werde in der nächsten Woche auf deine Dinnereinladung zurückkommen. Heute abend wollte ich mit George ein Konzert besuchen. Wie ich ihn kenne, wird er den Schneesturm als Ausrede gebrauchen, den Konzertbesuch abzusagen und es sich stattdessen in meiner Wohnung gemütlich machen. Vermutlich mit Popcorn und Cola. Warum fühlen sich stets nur Langweiler zu mir hingezogen? Warum keine braunge brannten Sunnyboys aus Florida?" Trudys Seufzer kam aus tiefstem Herzen. Der Wagen geriet leicht ins Schleudern, als sie auf die Straße bogen, und Patty fasste nach dem Türgriff. „Gegensätze ziehen sich bekanntlich an." Durch geschicktes Gegenlenken brachte Trudy das Auto wieder unter Kontrolle. „Wahrscheinlich hast du recht." „Wieso verabredest du dich mit George, wenn du nicht gern mit ihm zusammen bist?" wollte Patty wissen. „Weil ich eine romantische Optimistin bin. Ich gebe mich der trügerischen Hoffnung hin, eines Tages würde sich einer der Frösche, mit denen ich ausgehe, beim Küssen in einen Prinzen verwandeln." Trudy umfasste energisch das Lenkrad. Unwillkürlich musste Patty lachen. „Biege bei der nächsten Kreuzung rechts ab. Die dritte Seitenstraße links führt zu Teds Haus." Die Villa mit dem Säulenportal lag auf einem Hügel, weshalb Patty vorsorglich hinzufügte: „Am besten lässt du mich unten aussteigen." Trudy ignorierte diesen Vorschlag und fuhr den steilen Pfad hinauf. Auf halbem Weg fanden die Räder keinen Halt mehr, und der Wagen kam schlitternd zum Stehen. „Lass die Hefte in meinem Auto. Ich bringe sie dir vorbei." „Macht dir das wirklich nichts aus?" Zwar lag Trudys Wohnung nicht weit von dem kleinen Haus entfernt, das Patty gemietet hatte, doch wollte sie ihrer Freundin keine weiteren Umstände bereiten. Sie hatte ihretwegen sowieso schon einen Umweg in Kauf genommen. „Kein Problem. Ruf mich an, falls ich dich abholen soll", bot Trudy an. Ohne darauf zu reagieren, öffnete Patty die Autotür. Vorsichtig setzte sie beide Füße auf die vereiste Fahrbahn und erhob sich langsam. Schwankend und um ihr Gleichgewicht kämpfend, winkte sie Trudy, die vorsichtig wendete, kurz zu. Ein eisiger Wind umwehte Patty, während sie erleichtert beobachtete, wie Trudy mit dem Wagen unbeschadet die Hauptstraße erreichte. Die Freundschaft mit Trudy bedeutete Patty sehr viel, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren. Patty entschied sich, lieber durch den hohen Schnee zu stapfen, als auf dem glatten Bürgersteig mehr oder weniger dahinzurutschen. Schließlich erreichte sie zitternd vor Kälte das Haus. „Miss Mallory!" Bevor sie klingeln konnte, riss Ted die Tür auf. „Ich wusste, dass Sie mich nicht vergessen würden." Auf seine Krücken gestützt, strahlte er sie an. Lächelnd betrat Patty die Eingangshalle. Die aufrichtige Freude des Jungen entschädigte sie für alle Unannehmlichkeiten und Mühen ihres Berufs. Eine Stunde später erinnerte sich Patty mit leichter Ironie der euphorischen Gedanken, die sie bei ihrer Ankunft gehabt hatte. Teds Vater war mit dem Auto im Schnee steckengeblieben, und sie hatte vergeblich versucht, telefonisch ein Taxi aufzutreiben. Natürlich hatte Teds Mutter angeboten, sie heimzufahren. Doch hatte die Haushälterin übers Wochenende frei, und Patty wusste, wie ungern Teds Mutter ihren Sohn allein in dem großen Haus zurückließ. Andererseits wäre es aber auch ziemlich umständlich gewesen, Ted mit seinem Gipsbein in ein Auto zu verfrachten. Zu guter Letzt hatte Patty Mutter und Sohn davon überzeugt, dass sie nichts lieber tat, als an einem kalten Winterabend durch den Schnee zu spazieren. Allerdings hatte sie da noch nicht gewusst, was ihr bevorstand. Bei ihrem ersten Besuch vor zwei Wochen hatte Ted ihr die sechs Wochen alten Welpen
seiner Hündin gezeigt und sie gebeten, ihm einen abzunehmen, um ihn vor dem Tierheim zu bewahren. Widerstrebend hatte sie versprochen, sich bei ihren Bekannten umzuhören und gegebenenfalls das Hundebaby selbst aufzunehmen, falls sie es nirgendwo anders unterbringen konnte. Diese Zusage hatte Patty mittlerweile völlig vergessen - ganz im Gegensatz zu Ted. Beim Abschied schleppte er einen Karton an, in dem, in eine alte Decke gehüllt, ein kleiner Hund kauerte. Entsetzt versuchte Patty im stillen Teds Reaktion auf einen etwaigen Bruch ihres Versprechens abzuschätzen. Dann entdeckte sie eine erste Träne in seinen blauen Augen und kapitulierte. Sie wusste, wie tragisch Kinder einen derartigen Vertrauensbruch nahmen, und das wollte sie Ted ersparen. Schicksalsergeben nahm sie den Karton mit Mr. Wiggles, wie der Hund ulkigerweise hieß, in Empfang. Bald darauf arbeitete sie sich schrittweise den Hügel hinunter, den Karton fest an sich gepresst. Sie bereute bereits, dass sie sich zu einer so unvernünftigen Entscheidung hatte hinreißen lassen. Warum war sie nicht auf die Idee gekommen, den Hund ein andermal mitzunehmen? „Warum habe ich nicht gewartet, bis mein Auto wieder funktionsfähig ist?" murmelte sie, ungehalten über sich selbst. „Vielleicht bin ich tatsächlich eine hoffnungslose Närrin.* Beim Klang ihrer Stimme begann der Hund leise zu winseln, und der Karton bewegte sich leicht. „Was denkst du, Mr. Wiggles?" Mr. Wiggles schien ihr beizupflichten, falls sein Schweigen als Zustimmung zu werten war. Patty blickte vom Hügel zur Schule hinunter. Ihr Weg führte sie dort vorbei und sie hoffte, auf einen Kollegen zu stoßen, der sie mitnahm. Doch wer würde bei einem solchen Wetter länger bleiben? Der Parkplatz war leer. Ihr Blick wanderte weiter zum Schulgebäude. Dadurch wurde ihre Aufmerksamkeit einen Moment vom Weg abgelenkt. Sie rutschte mit dem rechten Fuß auf einer zugefrorenen Pfütze aus, verlor auch mit dem linken Bein den Halt und lag gleich darauf der Länge nach im Schnee. Mr. Wiggles jaulte ängstlich und kratzte am Karton, der ihr beinahe entglitten wäre. Hauptsache, dem Hund war nichts passiert. Ted hätte ihr das nie verziehen. „Verdammter Mist!" fluchte Patty und setzte sich auf. Allmählich reichte ihr dieser schwarze Freitag. Am liebsten hätte sie wie ein zorniges Kind mit dem Fuß aufgestampft. Mittlerweile war es Mr. Wiggles gelungen, aus dem Karton zu kriechen. Er beschnupperte mit seiner schwarzen Nase Pattys Gesicht und leckte es mit seiner feuchten Zunge ab. Patty hob die schneebedeckten Brauen. „Anscheinend magst du mich." Mr. Wiggles wedelte begeistert mit seinem kurzen Schwanz, auf den der Ausdruck Stummel besser passte. Der Hund freute sich, seinem engen Gefängnis entronnen zu sein. Anscheinend wollte er spielen, denn er zerrte an Pattys Schal. Sie musste laut lachen, als er die Hinterbeine in den Schnee stemmte und zu knurren anfing. Sie zog ebenfalls an dem Schal. „Aus! Das Spielchen verschieben wir besser auf später." Er wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass sein ganzes Hinterteil rotierte. Dann ließ er den Schal los, legte den Kopf schief und sah Patty an. Schließlich verlor er das Interesse an dem Schal und hüpfte wie ein Hase durch den Neuschnee. „O nein, komm sofort zurück!" Patty rappelte sich hoch. „Mr. Wiggles, hierher! Ich habe keine Lust, hinter dir herzujagen. Noch dazu so nah an der Schule. Nun komm schön, mein Junge." Der kleine Hund begann leicht zu zittern, als spürte er zürn ersten Mal die Kälte. Trotzdem tobte er weiter durch den Schnee: Er rutschte unfreiwillig einige Meter den Hügel hinunter, fing sich wieder und rannte zu Patty zurück. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, doch er duckte sich und wich ihr geschickt aus. „Nun komm schon, du Halunke", lockte sie ihn. „Wir werden daheim weiterspielen. Dort ist es mollig warm. Was hältst du von einem Topf Milch?"
Mr. Wiggles umkreiste sie bellend. Jedes Mal, wenn sie glaubte, ihn eingefangen zu haben, entwischte er ihr blitzschnell. Ungeduldig schnippte sie mit den Fingern und befahl ihm mit strenger Lehrerinnenstimme: „Mr. Wiggles, du kommst jetzt sofort hierher!" Er stutzte einen Augenblick, dann lief er schnurstracks auf die Fahr bahn. Ehe Patty ihm folgte, blickte sie automatisch in beide Richtungen. Von der Spitze des Hügels leuchteten ihr die Scheinwerfer eines Autos entgegen. Mr. Wiggles blieb mitten auf der Straße verunsichert stehen. „Mr. Wiggles!" Patty sprang ihm mit einem Satz hinterher. Der Wagen war nur noch wenige Meter entfernt, als sie den Hund zu fassen bekam und sich mit ihm zum Straßenrand rollte. Zitternd vor Schreck presste sie ihn an ihre Brust. Sie hörte weder das Kreischen der Bremsen noch das Öffnen der Autotür. „Sind Sie etwa lebensmüde?" Diese männliche Stimme war ihr leider nicht unbekannt. Sie gehörte eindeutig Christopher Turner. Bevor sie sich versah, zog er Patty auf die Beine und rüttelte sie unsanft an den Schultern. „Sind Sie verletzt?" „Nein." Ihre Zähne klapperten. „Aber Sie hätten beinahe Mr. Wiggles überfahren." „Ich hätte Sie beinahe beide überfahren." Christopher war in seiner Jugend unzählige Male in brenzlige Situationen geraten, doch konnte er sich nicht erinnern, jemals gleichzeitig so wütend und erschrocken gewesen zu sein wie in diesem Moment. „Haben Sie nicht bemerkt, dass ich beinahe die Kontrolle über den Wagen verloren hatte? Wie leicht hätten Sie unter die Räder kommen können." Christophers sarkastischer Ton schmerzte sie mehr als der feste Griff, mit dem er ihre Oberarme umspannte. Wie konnte er es nur wage n, sie derart anzubrüllen! Dabei wollte sie doch nur ihren Hund retten. Zugegeben, sie hatte impulsiv und unüberlegt gehandelt, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, sie so abzukanzeln. Sie hatte schon genug Ärger gehabt. „Scheren Sie sich zum Teufel!" „Wie bitte?" Patty sah ihm trotzig in die Augen und wiederholte dann laut und deutlich: „Scheren Sie sich zum Teufel!" „Ich habe mich also tatsächlich nicht verhört. Bringen Sie dieses Vokabular auch Ihren Schülern bei? Ich hätte nicht übel Lust, Sie übers Knie zu legen." Pattys Wangen röteten sich vor Zorn. Arroganter Fatzke, hätte sie ihn am liebsten beschimpft, beherrschte sich aber zähneknirschend. Sie' schob das zitternde Hundebaby unter ihren Mantel. Patty hatte sich schon mehr als lächerlich gemacht, indem sie Christopher direkt vor das Auto rollte und hinterher die Nerven verlor, Nun wollte sie die peinliche Situation nicht noch verschlimmern und sich mitten auf der spiegelglatten Straße auf ein Wortgefecht mit ihm einlassen. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen", sagte sie, schüttelte seine Arme ab und machte auf dem Absatz kehrt. Ein Frösteln überlief sie, denn mittlerweile begann der Schnee an Mr. Wiggles Pfoten zu schmelzen und durchnässte ihre Bluse. Schon wollte Patty hoheitsvoll davonstolzieren, da fühlte sie sich plötzlich hochgehoben. Ihre Wange wurde gegen Christophers Anorak gedrückt. „Lassen Sie mich sofort herunter!" schrie sie erbost. „Warum? Damit Sie und ihr Hund weiterhin den Verkehr gefährden?" Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. „Ich fühle mich mitten auf der Straße wesentlich sicherer als im Auto eines Mannes, der die Kontrolle über seinen Wagen verliert", widersprach sie. Mr. Wiggles steckte seine Nase aus ihrem Mantel und knurrte halbherzig. „Sei still, Hund." „Sie haben meinem Hund nichts zu befehlen." „Na gut. Dann halten eben Sie den Mund." Mit diesen Worten öffnete Christopher die Beifahrertür und ließ Patty unsanft auf den Sitz fallen. Ziemlich verwirrt verfolgte sie durch
die Windschutzscheibe, wie er um den Wagen ging. Sekundenlang erwog sie, ihm einen kleinen Schrecken einzujagen und den Motor anzulassen. Mal sehen, ob er nicht auch die Nerven verliert, wenn er sich unvermutet vor einem fahrenden Auto wieder findet, dachte sie rachsüchtig. Gleich darauf verspürte sie den spontanen Wunsch, sich durch einen Sprung aus dem Wagen von Christophers Gegenwart zu befreien. Lieber laufe ich noch zwei Kilometer zu Fuß durch den Schnee, als neben einem Mann zu sitzen, der mich für eine Selbstmörderin hält, ging es ihr durch den Kopf. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus. „Davon würde ich Ihnen abraten", warnte Christopher und setzte sich neben sie. „Sobald Sie die Tür öffnen, stürze ich mich auf Sie." „Sie haben wirklich reizende Manieren", bemerkte sie mit kühler Ironie. Normalerweise galten Kinder als gute Menschenkenner, doch Christy Harvey schien die berühmte Ausnahme zu sein, die die Regel bestätigt. Nur wer an Geschmacksverirrung litt, konnte einen Mann wie Christopher Turner zum Lieblingsonkel erwählen. „Na schön, ich akzep tiere Ihr Angebot, aber nur wegen des Hundes", gab Patty endlich nach. Christopher umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknö chel weiß hervortraten. Saß neben ihm wirklich die Frau, zu der er sich wenige Stunden zuvor so heftig hingezogen fühlte? Die Frau mit dem warmen Lachen, die Christy so liebevoll an sich gedrückt hatte? Die Frau, die ihn so sehr beeindruckte, dass er ihretwegen das gemütliche, warme Wohnzimmer seiner Schwester verließ, um sich auf die Suche nach ihr zu machen? Momentan fühlte er sich wie ein kompletter Narr. „Und wo wohnt diese Promenadenmischung?" fragte ex, bemüht, seine Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen. Wo wohnt diese Promenadenmischung, äffte Patty ihn in Gedanken nach. Anscheinend war dieser Mann unfähig, sich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Irgendwie erinnerte er Patty an ihren älteren Bruder Tom. Er war ebenso widersprüchlich wie Christopher Turner. Je nach Stimmungslage konnte er ausgesprochen charmant sein oder besonders ekelhaft. Natürlich flogen die Frauen auf Tom, was er weidlich ausnutzte. Andererseits gelang es ihm als einzigem ihrer Geschwister, sie zur Weißglut zu bringen. Trotzdem hing sie an ihm mehr als an den anderen. Patty drückte Mr. Wiggles fester an sich. Zwischen Tom und Christopher Turner bestand ein gewaltiger Unterschied. Christopher gehörte nicht zu ihrer Familie, und deshalb wollte sie auf seine Sticheleien nicht weiter eingehen. „Biegen Sie an der zweiten Kreuzung links ab. Mr. Wiggles wohnt im fünften Haus rechts." Christopher nickte nur, weil er sich zu einer höflichen Entgegnung außerstande fühlte. Schließlich raffte er sich zu der Bemerkung auf: „Vermutlich wartet auf Struppy daheim ein gefüllter Futternapf." „Eine Schüssel warme Milch tut es auch. Sehr aufmerksam von Ihnen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen", erwiderte sie mit zuckersüßer Stimme. „Falls es mein Hundebaby wäre ..." Er hielt mitten im Satz inne und warf einen Seitenblick auf die sich unter ihrem Mantel abzeichnende Ausbuchtung. Der Klang der Stimme verriet Patty, dass er seinem Hund keine warme Milch geben würde. „Wieso keine warme Milch? Die ist doch sehr nahrhaft", verteidigte sie sich. „Das stimmt- Außerdem sind Sie diejenige, die hinter ihm herwischen muss." „Er ist bereits stubenrein. Meiner Meinung nach ist warme Milch genau das richtige für ihn." Christopher zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. Deine Schuld, wenn du zu halsstarrig bist, um auf mich zu hören, schien diese Geste zu besagen. „Es ist mein erster Hund", gestand Patty widerwillig. Bei den Mallorys galt es stets, genug andere Münder satt zu bekommen. „Sie haben wahrscheinlich schon viele Hunde großgezogen?" „Dutzende."
„Also keine warme Milch?" „Falls Sie Ihren Welpen nicht zu einer seltsamen Kreuzung von Hund und Kuh heranzüchten wollen, würde ich davon abraten." Christopher bog um die Ecke und begann die Häuser zu zählen. „Eins, zwei, drei. . ." Der nächste Supermarkt befindet sich sechs Blocks weiter, überlegte Patty. „Vier..." Obwohl sie nichts so sehr hasste, wie jemanden um einen Gefallen zu bitten, schien ihr diesmal keine andere Wahl zu bleiben. Schließlich konnte sie nicht verantworten, dass Mr. Wiggles hungerte oder aufgrund falscher Ernährung erkrankte. Sie öffnete den Mund. „Fünf." Christopher fuhr an ihrer Einfahrt vorbei. „War das hier das neue Zuhause dieses Rackers?" „Ja." „Soweit ich weiß, gibt es am Olive Boulevard einen Supermarkt." „Ja, aber . . ." Christopher bremste an der nächsten Kreuzung. „Was aber?" „Es ist mir unangenehm, Ihnen noch mehr Umstände zu machen", antwortete sie aufrichtig. Christopher sah zuerst nach rechts und dann nach links, um festzustellen, ob die Straße frei war. Dabei blieb sein Bück kurz an der zierlichen Frau hängen, die sich gegen die Beifahrertür quetschte. Eigentlich hätte er sie vor ihrem Haus absetzen sollen, denn sie dankte es ihm schlecht, dass er sie vor dem Kältetod bewahrt hatte. Ihr Verhalten ihm gegenüber grenzte beinahe an Feindseligkeit. „Wieso?" Warum bemühte er sich, nett zu einer Frau zu sein, die ihn aus ihm unerfindlichen Gründen zu verabscheuen schien? Warum spielte er sich als großer Beschützer auf und bestand darauf, sie sicher nach Hause zu bringen? Weil sie Christys Lehrerin ist, versuchte er sich einzureden, wusste aber gleichzeitig, wie wenig das stimmte. Er hatte alles andere als ein Faible für Lehrerinnen und erinnerte sich höchst unge rn seiner Schulzeit. Sein damaliges Verhältnis zu den meisten seiner Lehrerinnen konnte man bestenfalls mit „gegenseitige Abneigung" umschreiben. Strenge ich mich deshalb an, Christys Lehrerin zu beeindrucken? fragte er sich. Hängt dieser eigenartige Druck im Magen, den ich jedes Mal in Pattys Gegenwart verspüre, mit meinen schlimmen Erfahrungen in den ersten Schuljahren zusammen? Durchaus möglich. Immerhin hatte ihn heute Nachmittag beim Betreten des Schulgebäudes ein beklemmendes Gefühl beschlichen. Offenbar konnten seine späteren Erfolge die Erinnerung an seine alptraumhaften Erlebnisse in der ersten Klasse nicht auslöschen. Lieber Himmel, dachte Christopher, bin ich Patty etwa aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus gefolgt, in dem Bemühen, noch im nachhinein einer Grundschullehrerin zu imponieren? Für einen Zweiunddreißigjährigen ein reichlich unreifes Gebaren. Patty hatte nicht erwartet, dass er eine Erklärung verlangte, und sich ihre Antwort lange überlegt. „Wahrscheinlich, weil ich Eigenständigkeit bevorzuge." Christopher steuerte den Wagen langsam über die Kreuzung. Erziehen Sie ihre Schüler ebenfalls zur Selbständigkeit?" fragte er, um ihr bewusst eine Falle zu stellen. „Selbstverständlich." „Selbstverständlich", wiederholte er voller Genugtuung. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, ihr recht zu geben und gleichzeitig zu wissen, dass ihre Behauptung nicht der Wahrheit entsprach. Falls Patty sich an ihren eigenen Grundsatz hielt, hätte sie Christy nicht beim Stiefelanziehen geholfen. Patty entging sein Schmunzeln nicht. „Was ist daran so komisch?" erkundigte sie sich. Christopher lachte leise. „Ihre Worte und Ihr Ton erinnern mich stark an eine meiner
Grundschullehrerinnen. Genauso fragte sie auch, als sie von hinten eine Papierkugel traf, während sie etwas an die Tafel schrieb." Zweifellos warst du der Übeltäter, mutmaßte Patty. Dann wurde ihr jäh klar, wie ungerecht sie Christopher behandelte, und sie errötete schuldbewusst. Auch Christopher quälte ein schlechtes Gewissen. Er hatte Patty absichtlich in eine Falle tappen lassen, um ihr später vorzuhalten, sie würde Christy zur Unselbständigkeit erziehen. Im nachhinein fand er sein Vorhaben ziemlich niederträchtig. „Vergessen Sie es." Er schaltete den Entfroster ein, weil die Windschutzscheibe leicht beschlagen war. Vorsichtig, um nicht erneut ins Schlittern zu geraten, lenkte er den Wagen auf den Parkplatz des Supermarktes. Damit Patty nicht fror, ließ Christopher die Heizung laufen. „Passen Sie gut auf Ihren Tiger auf. Ich besorge inzwischen etwas Futter für ihn." Bevor Patty protestieren konnte, war Christopher ausgestiegen. Da hat er mich nun schon aus Gefälligkeit hierher gefahren, und jetzt riskiert er auf dem Parkplatz meinetwegen auch noch seine Knochen, dachte sie zerknirscht. Nicht einmal um Geld hatte er gebeten. Sie streifte den Riemen ihrer Handtasche von der Schultet. Mr. Wiggles kuschelte sich wärmesuchend an ihre Brust. „Schon gut, Mr. Wiggles", redete sie besänftigend auf ihn ein, obwohl sie gegenteiliger Ansicht war und die gegenwärtige Situation höchst beunruhigend fand. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was eine Dose Hundefutter kostete. Fünf Dollar? Zehn? Lieber erstatte ich ihm zuviel als zuwenig, entschied sie und öffnete ihre Geldbörse. Das Fach mit den Scheinen war leer. Schon erfasste sie Panik, da fiel ihr noch rechtzeitig ein, dass sie einen Scheck eingelöst hatte und das Geld im Küchenschrank aufbewahrte. Zwar misstraute sie ihren Schülern nicht, wollte sie aber nicht in Versuchung führen und nahm deshalb keine größeren Geldscheine mit zur Schule. Patty öffnete das Münzfach. Leider fand sie nur einen Vierteldollar und ein Zehncentstück. In der Hoffnung, dass vielleicht in den Falten der Geldbörse noch eine größere Münze steckte, leerte sie den Inhalt auf ihren Schoss - nichts. Mr. Wiggles fühlte sich durch die Bewegung gestört und jaulte leise. „Wie sollen wir uns nun aus der Affäre ziehen, Mr. Wiggles? Entweder muss ich Mr. Turner das Geld schuldig bleiben oder ihn zu mir hereinbitten." Der Hund leckte liebevoll Pattys Gesicht und wedelte. „Willst du mir damit zu verstehen geben, ich soll dein Futter mit einem Kuss bezahlen?" fragte Patty belustigt. Ob Christopher geschockt wäre, wenn ihn die Lehrerin seiner Nichte mit einem Kuss für seine Ausgabe entschädigte? Patty sah seinen sinnlichen Mund deutlich vor sich und verspürte ein wohliges Prickeln auf der Haut bei dem Gedanken, ihn zu küssen. Gleich darauf schalt sie sich eine romantische Träumerin. Männer wie Christopher Turner waren viel zu gefährlich, um sich näher mit ihnen einzulassen. „Nein Mr. Wiggles, wir regeln die Angelegenheit sachlich und nüchtern. Ich bitte Christopher, im Auto zu warten, dann trage ich dich und das Futter ins Haus und hole das Geld." Während Patty sich phantasievoll ausmalte, wie sie sich bei Christopher angemessen bedankte, lud er fünf Dosen Hundefutter, einen Kaukno chen und ein Halsband, das Flöhe abwehrte, in einen Einkaufskorb. Dabei fragte er sich zum x-ten Mal, wieso er das alles tat und was ihn an Patty so faszinierte. Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte es ihm einen Stich versetzt, als er heimlich Zeuge wurde, wie sie Christys Stiefelproblem voller Humor hingenommen hatte. Seine eigenen Lehrerinnen hätten sich in einer solchen Situation viel weniger nachsichtig gezeigt. Pattys fröhliches Lachen hatte ihn sonderbar berührt, und nachdem er erfahren hatte, dass sie einem kranken Schüler Nachhilfeunterricht erteilte, erfüllte ihn tiefe Bewunderung für sie. Die meisten Lehrer, die er kannte, waren am Freitagnachmittag nur von dem einen Wunsch beseelt, die Schule zu vergessen und sich ins Wochenende zu stürzen. Er empfand tiefen Respekt für eine Lehrerin, die ihre Freizeit einem kranken Kind opferte. Mitgefühl, Liebe zum Beruf und Humor sind zwar durchaus schätzens werte
Eigenschaften bei Geschäftspartnern, doch beurteilte ich Frauen, mit denen ich mich verabredete, bisher nach anderen Kriterien, gestand Christopher sich ehrlich ein und warf eine Packung Hundekekse in den Korb. Er verzog seine Lippen zu einem ironischen Lächeln. Wer sagte etwas von verabreden? Bei dem Umgangston, in dem er und Patty derzeit miteinander verkehrten, durfte er froh sein, wenn sie ihn überhaupt eines weiteren Wortes würdigte. Allerdings zählte Ausdauer zu seinen Stärken. Schon in jungen Jahren hatte er gelernt, dass mit genügend Ausdauer jedes Hindernis zu überwinden war, unter anderem auch seine anfängliche Lernschwäche. Im Laufe der Zeit gelangte er dann zu der Erkenntnis, dass nicht andere Menschen ihm Grenzen setzten, sondern er selbst sich zuwenig zutraute. Diese Einsicht bestimmte von da ab sein Leben und der Wunsch, sich selbst zu verwirklichen. Nur einmal, im Alter von fünfundzwanzig, hatte er vorübergehend von diesem Vorsatz abgelassen und die vermeintlichen Interessen seiner Eltern über seine eigenen gestellt. Ein Experiment, mit dem er Schiffbruch erlitten hatte. Mittlerweile genoss er schon lange vollständige Unabhängigkeit. Be ruflich spezialisierte er sich darauf, ausländische Erfindungen für den amerikanischen Markt zu entdecken und sich durch Verträge mit den Patentinhabern die Exklusivrechte für die Vereinigten Staaten zu sichern. Konservative Unternehmer hielten solche Geschäfte für zu riskant. Er jedoch empfand seine Arbeit eher als Herausforderung. Die Vorstellung, sein Dasein als Gehaltsempfänger mit einem regelmäßigen Monatseinkommen zu fristen, fand er grauenhaft. Und sollte er bei einer seiner riskanten Unternehmungen sein gesamtes Vermögen verlieren, würde er sich eben etwas anderes einfallen lassen, um erneut zu Geld zu gelangen. Das war immer noch besser, als hinter einem Schreibtisch zu versauern. Seine berufliche Unabhängigkeit hatte es ihm auch ermöglicht, sofort abzureisen, als er erfahren hatte, dass seine Schwester Shannon in Kürze ihr fünftes Kind erwartete. Eilends hatte er die wichtigsten Akten zusammengepackt und war unverzüglich nach St. Louis geflogen, um gemeinsam mit seinem Schwager während Shannons Krankenhausaufenthalt die Kinder zu versorgen. So spontan hätte er als Angestellter nie handeln können. Bei dem Gedanken, dass er seiner beruflichen Flexibilität auch Miss Mallorys Bekanntschaft verdankte, erhellte ein jähes Lächeln Christophers Gesicht. Er räumte seine Einkäufe auf den Kassentisch und legte noch einige Tafeln Schokolade dazu. Und während er die Kassiererin freundlich anlächelte, heckte er in Gedanken einen Plan aus, mit dem er Patty aus ihrer Reserviertheit zu locken gedachte. Wenige Minuten später öffnete Christopher gutgelaunt die Autotür. Er bemerkte, wie Patty ihn fragend ansah, als er zwei große Tüten mit den Einkäufen auf dem Rücksitz verstaute, und verkniff sich mühsam ein Lächeln. Miss Marlory standen an diesem Abend noch allerlei Überraschungen bevor. Mal sehen, wie sich die Dinge entwickelten.
3. KAPITEL
„Danke für das Heimbringen und auch dafür, dass Sie sich um das Hundefutter gekümmert haben", sagte Patty höflich, sobald die Vorderräder des Wagens ihre Hauseinfahrt berührten. Christopher ließ den Wagen langsam durch die Einfahrt rollen und streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus. „Lassen Sie den Motor ruhig laufen", sagte Patty schnell. „Ich bin gleich wieder zurück und werde Ihnen dann Ihre Auslagen erstatten. Sie sollten sich meinetwegen nicht nochmals dem schlechten Wetter aussetzen." Ach du liebe Zeit, warum rede ich nur so geschraubt daher? dachte sie entsetzt. „Ich bin außerordentlich wetterfest", entgegnete Christopher und stellte den Motor ab. „Sie glauben doch nicht etwa, ich würde Sie bis vor die Haustür fahren, um durch die Windschutzscheibe zu beobachten, wie Sie erneut eine Bauchlandung im Schnee machen. Warten Sie, ich bringe zuerst Sie ins Haus und hole hinterher die Tüten." „Nein, Sie warten hier, bis ich zurück bin. Ich bestehe darauf." Patty war fest entschlossen, ihn nicht ins Haus zu lassen. „Unsinn. Ich würde bei Christy beträchtlich an Ansehen verlieren, wenn ich mich ihrer Lieblingslehrerin gegenüber nicht wie ein Kavalier benähme. Können Sie das verantworten?" „Natürlich nic ht, aber..." Beinahe hätte sie ihm versprochen, ihn bei Christy nicht zu verpetzen, obwohl sie wusste, dass er nur scherzte. „Ich komme recht gut allein zurecht", versicherte sie schwach. „Daran zweifle ich nicht. Betrachten Sie meinen Beistand einfach als Gegenleistung dafür, dass Sie meiner Nichte beim Stiefelanziehen behilflich waren." „So etwas gehört zu meinem Beruf." Pattys Protest erreichte Christopher nicht mehr. Er war bereits ausgestiegen und ging um den Wagen herum. „Allein deinetwegen bin ich in diesen Schlamassel geraten, Mr. Wiggles", sagte sie. Sobald er seinen Namen hörte, schälte sich der Hund aus seiner warmen Hülle. Er spitzte die Ohren, legte den Kopf leicht schief und wedelte. Die Hinterpfoten gegen Pattys Brüste gestemmt, versuchte er, sich aus dem Mantel zu befreien. „O nein, mein Freund. Du bleibst, wo du bist. Bald gibt es etwas zu fressen." Pattys Ermahnungen nutzten wenig. Kaum hatte Christopher die Tür geöffnet, sprang Mr. Wiggles mit einem kühnen Satz nach draußen. Er landete weich in einer Schneewehe und schüttelte sein nasses Fell. Ehe er erneut entwischen konnte, packte Christopher ihn mit einer Hand und hob ihn hoch. „Komm her, du Nervensäge", sagte er, öffnete seinen Anorak und steckte den Hund hinein. Mit seinen kalten Pfoten klammerte er sich an sein Hemd. Unwillkürlich fröstelte Christopher. Er reichte Patty eine Hand und half ihr aus dem Auto. Trotz ihrer Wollhandschuhe glaubte sie die Wärme seiner Finger auf ihrer Haut zu spüren. „Stützen Sie sich auf mich", sagte Christopher und legte ihr einen Arm um die Schultern. Da ihre Stiefelsohlen ziemlich rutschig waren, blieb ihr nichts anderes übrig, als seine Taille zu umschlingen. Durch ihre dicke Winterkleidung hindurch fühlte sie, wie sein starker Arm sie fester umfasste und sich seine sehnigen Schenkel gegen ihre Hüfte drückten. Sie war sich seines Körpers so sehr bewusst, als wandelten sie beide nur spärlich bekleidet unter Floridas Sonne. Patty hob den Kopf. Nein, das warme Florida war weit weg, und in Christophers blondem Haar glitzerten Schneeflocken. Sein gebräuntes Gesicht erinnerte sie daran, dass er wärmere Breiten bevorzugte und sich nur zu einem vorübergehenden Besuch in St. Louis aufhielt. „Schlüssel?" fragte er knapp. Patty war es peinlich, von ihm bei ihrer Musterung ertappt worden zu sein. Nervös kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Als sie ihn endlich gefunden hatte, verfehlte sie mit ihrer zitternden Hand das Schlüsselloch. Wütend über ihr kindisches
Benehmen, umklammerte sie den Schlüssel fester, aber es gelang ihr auch beim zweiten Anlauf nicht, ihn ins Schloss zu stecken. „Ist das Schlüsselloch vereist?" Christopher beugte sich über ihre Schulter. Ein ungewöhnlicher Duft stieg Patty in die Nase. Sie schnüffelte. Sonne, dachte sie. Er riecht eindeutig nach Sonne. Spielte ihre Phantasie nun vollends verrückt? Anders konnte sie sich den seltsamen Duft nicht erklären. „Sie zittern ja vor Kälte." Christopher umfasste mit seiner Hand ihre Finger und entwand ihr den Schlüssel. Er unterdrückte ein Lächeln, als er entdeckte, dass sie den Schlüssel verkehrt herum gehalten hatte. Nett zu wissen, dass die selbstsichere Miss Mallory meine körperliche Nähe als verwirrend empfindet, triumphierte er heimlich. Mühelos schloss er die Tür auf. Beim Betreten der Wohnung drückte Patty alle drei Lichtschalter im Flur. Christopher blickte sich interessiert um. Was er sah, gefiel ihm. In Pattys Wohnzimmer herrschten nicht dezente Pastelltöne vor, sondern helle, leuchtende Farben, die geschmackvoll aufeinander abgestimmt waren. Ein Hinweis auf Pattys Sinnlichkeit, die er trotz ihres kühlen Verhaltens deutlich spürte. Christopher unterzog ihr Heim einer genaueren Musterung. An den ziegelrot gestrichenen Wänden des Wohnzimmers hingen abstrakte Gemälde. Den Boden bedeckte ein flauschiger Teppich, von dem sich das bequeme weiße Ledersofa wirkungsvoll abhob. Die mit Büchern vollgestopfen Regale, viele Blumentöpfe und ein Gemisch aus alten und supermodernen Möbeln verliehen dem Raum eine besondere Atmo sphäre. Christopher setzte Mr. Wiggles auf den Boden. „So, Hund, jetzt mach einen ersten Rundgang durch dein neues Heim. Ich hole inzwischen dein Fressen", sagte er und drehte sich zu Patty um. „Bin sofort zurück." „Genau das befürchte ich", murmelte sie, nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte. „Wie werde ich ihn nur wieder los?" Mr. Wiggles, der Patty gefolgt war, nieste zweimal, schüttelte sich und tippelte ins Wohnzimmer. Patty ging hinter ihm her und bemerkte, wie er stehen blieb und sich unter ihm auf dem Teppich eine kleine Pfütze bildete. „Mr. Wiggles! Nicht!" Hatte Ted nicht behauptet, der Hund würde nur auf Papier machen? Nun aber war weit und breit kein Papier zu sehen. Mit Unschuldiger Miene ließ sich Mr. Wiggles neben dem nassen Fleck nieder. Patty zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Manteltasche und rieb an dem feuchten Teppich herum. „Weißt du denn nicht, dass Hunde dazu nach draußen gehen und sich an Bäumen, Sträuchern oder Litfasssäulen verewigen?" Mr. Wiggles blickte sie verständnislos an. „Ach so, dir ist es im Freien zu kalt." Sie stöhnte, als ihr klar wurde, dass sie nicht nur dem Hund Fragen stellte, sondern sie auch gleich selbst beantwortete. „An einem Tag wie heute ist es kein Wunder, wenn ich allmählich durchdrehe", versuchte sie sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Sie ging in die Küche, nahm aus einem Schrank einen Packen alter Zeitungen und trug ihn in die kleine Kammer, in der die Waschmaschine stand. „So, das wird vorerst deine Toilette. Jetzt müssen wir dich nur noch an feste Zeiten gewöhnen." Schmunzelnd breitete sie auf dem Boden die Zeitungen aus. „Mein Pädagogikstudium nutzt mir in deinem Fall recht wenig", sagte sie zu Mr. Wiggles, der ihr gefolgt war. Misstrauisch beschnüffelte er das Papier. „Ich verlange von dir ja nicht, dass du die Zeitungen liest." Patty legte Mantel und Schal ab und hängte beides über die Waschmaschine. Dann setzte sie sich neben Mr. Wiggles auf die Zeitungen. Mit seitlich geneigtem Kopf und hängender Zunge blickte er sie treuherzig an. Er verkörperte den Typ des echten amerikanischen Straßenköters, der alle möglichen Hunderassen in sich vereinte, weshalb Patty ihn sofort ins Herz geschlossen hätte. Die großen Schlappohren passten nicht zu der kleinen Schnauze, die kurzen, stämmigen Beine nicht zu dem langen Körper. Besonders niedlich fand Patty die drei schwarzen Punkte auf
seinem Rücken, die sein sonst weißes Fell zierten. Am besten jedoch gefielen ihr seine großen dunklen Augen. Bei Mr. Wiggles handelte es sich um eine astreine Promenadenmischung, und das einzig Vornehme an ihm war sein Name. Jener Name, den auszusprechen Christopher bisher vermieden hatte. „Patty?" rief Christopher vom Flur her. Wenigstens ist ihm mein Name geläufig, dachte sie. „Ich bin in der Kammer hinter der Küche. Mr. Wiggles' hat ein kleines Problem." Christopher folgte dem Klang ihrer Stimme, stellte in der Küche die beiden Einkaufstaschen ab, zog seinen Anorak aus und ging zu dem kleinen Raum. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" erkundigte er sich und lehnte sich an den Türrahmen. „Haben Sie eine Ahnung, wie man Hunde an den Topf gewöhnt?" Ihre Frage amüsierte ihn. „Soweit mir bekannt ist, gewöhnt man nur kleine Kinder an den Topf. Hunde lässt man ins Freie." „Sparen Sie sich ihre schlauen Kommentare. Sie wissen genau, was ich meine." Patty gab Mr. Wiggles einen aufmunternden Klaps und erhob sich, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. Christopher entdeckte die dunklen Spuren, die Mr. Wiggles Pfoten auf Pattys Bluse hinterlassen hatten, und er unterdrückte mühsam ein Lächeln. Seine braunen Augen funkelten belustigt. Hund müsste man sein, ging es ihm durch den Sinn. Nur durch wenige Zentimeter von Christopher getrennt, empfand Patty seine Gegenwart in dem kleinen Raum plötzlich als beklemmend. „Und was raten Sie mir?" Christopher mangelte es nicht an Vorschlägen, doch behielt er seine Ideen vorsichtshalber für sich und räusperte sich stattdessen umständ lich. Er hegte berechtigte Zweifel, dass Patty seine Anregung, die Bluse auszuziehen, ebenso milde hinnehmen würde wie Mr. Wiggles kleines Malheur auf dem Teppich. „Zuerst einmal braucht der Hund ein Lager", schlug er mit etwas heiserer Stimme vor. „Irgendein Kleidungsstück, dem Ihr Geruch anhaftet, damit er sich geborgen fühlt. Am besten geben wir ihm etwas aus diesem Wäschekorb." „Klingt vernünftig." Pattys Blick schweifte zu dem Korb. Eine schwache Röte überzog ihre Wangen. Seidenhöschen, Spitzenbüstenhalter und hauchdünne Teddys bedeckten den Wäscheberg. „Ziemlich eng hier drinnen", bemerkte sie verlegen. Christopher konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie ein wenig zu hänseln. Er angelte sich einen hautfarbenen Teddy mit Spitzenbesatz. „Ich war stets der Meinung, Lehrerinnen trügen praktische Baumwollwäsche und gestärkte Unterröcke, keinesfalls aber so aufreizende Sachen." Verliere jetzt nur nicht die Nerven, ermahnte sich Patty und atmete tief durch. „Vielleicht sollten Sie Ihre antiquierten Vorstellungen revidieren. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, und Lehrerinnen unterliegen genauso wenig einer speziellen Kleiderordnung wie andere Menschen", sagte sie so gelassen wie möglich. Sie zwang sich, den Blick von dem Teddy in Christophers Hand abzuwenden, wühlte in dem Wäschekorb und zog ein altmodisches Nachthemd hervor. „Versuchen wir es damit." „Nachts züchtiger Flanell und tagsüber Reizwäsche." In Christophers Augen blitzte ein teuflischer Funke. „Ist das nicht ein Fall für den Schulpsychologen?" Pattys Finger spielten nervös mit dem weichen Flanellstoff. Sie bekämpfte den momentanen Impuls, das Nachthemd um Christophers Hals zu schlingen und ihn zu erdrosseln. „Wahrscheinlich wäre er ebenso ungerührt wie damals, als ich ihn einige Farbstiftzeichnungen einer Schülerin analysieren ließ." Patty kniete sich auf die Zeitungen, faltete das Nachthemd zusammen und setzte Mr. Wiggles auf sein neues Lager. „Das Mädchen benahm sich völlig normal, war fröhlich und intelligent. Nur ihre Bilder unterschieden sich von denen ihrer Altersgenossen, denn sie benutzte stets düstere Farben wie Braun, Violett, Grau und Schwarz." „Und was meinte der Psychologe dazu?"
Patty schmunzelte. „Er riet mir, sie weiter nach vom zu setzen." „Damit ihr mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde?" „Nein, damit sie eine größere Auswahl hatte, wenn ich die Schachtel mit den Farbstiften herumreichte. Solange sie hinten saß, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit den Stiften zu malen, die andere ihr übrig ließen." Patty strich über den Flanell. „Dieses Nachthemd habe ich im Ausverkauf erstanden. Es war ein Gelegenheitskauf." Leise lachend streckte Christopher ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. „Welche Art von Nachthemden bevorzugen Sie denn für gewöhnlich?" „Solche, die mein Geldbeutel verkraftet", antwortete Patty, die einen Themawechsel für dringend angebracht hielt. „Da wir gerade vom Geld sprechen, wieviel schulde ich Ihnen für das Hundefutter?" Schon glaubte sie, diesmal das Wortgefecht für sich entschieden zu haben, da umschloss er mit seinen Fingern ihr Handgelenk. Ohne erkennbare Anstrengung zog er sie hoch und direkt in seine Arme. „Nichte", flüsterte er. „Sie sollen mir nur verraten, ob Sie ein aufreizendes Neglige anziehen würden, wenn Geld keine Rolle spielte." So eng an Christopher gepresst, brachte Patty keinen Ton heraus, und schon gar nicht wollte sie sich darüber auslassen, was sie im Bett trug. Die Wärme seines Körpers und der Duft nach Sonnenschein, den er verströmte, machten sie ganz benommen. Sie hatte auf einmal das Gefühl, sich aufzulösen. Ging es ihr nicht wie Ikarus, der abstürzte, weil er der Sonne zu nahe kam und deshalb seine Wachsflügel zu schmelzen bega nnen? Patty atmete schwer, ihr Puls raste. Nur der ihr verbliebene Rest an Vernunft hielt sie davon ab, dies als erste Anzeichen eines Sonnenstichs zu werten. Immerhin befand sie sich im novemberkalten St. Louis, und draußen schneite es. Christopher hatte mit Pattys Widerstand gerechnet. Umso mehr verwirrte ihn ihre Nachgiebigkeit. Er spürte, wie er allmählich die Kontrolle über sich verlor. Unvermutet hatten sie die Rollen vertauscht, und ihm wurde angst vor den Empfindungen, die Pattys körperliche Nähe in ihm auslösten. Sein Plan war es gewesen, sie zu becircen, nun aber lief er Gefahr, sich völlig zum Narren zu machen. . Unsicher, wie er sich verhalten sollte, falls sie auf seine provokative Frage einging, befreite er sich von Patty, drehte sich um und schlenderte in die Küche. Patty lehnte sich schweratmend an die Waschmaschine, da ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten. Sie musste keine Chemikerin sein, um ihre Reaktion auf Christophers männliche Ausstrahlung treffend zu beschreiben: Leicht entflammbar. Während sie ihren Herzschlag zu normalisieren versuchte, rätselte sie über die Gründe von Christophers jähem Rückzug. Das Verlangen in seinen Augen war unübersehbar gewesen, und Patty hatte deutlich gespürt, dass er sie küssen wollte. Ganz sicher war ihm nicht entgangen, dass sie in seinen Armen förmlich dahinschmolz. Wieso hatte er sich dann so abrupt von ihr abgewandt? Widerwillig gestand sie sich ein, selbst dazu nicht imstande gewesen zu sein. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihm die Arme um den Hals gelegt und sein Gesicht zu sich herabgezogen, um ihn zu küssen. Statt in Panik auszubrechen, empfand sie in seinen Armen ein Gefühl der Geborgenheit. Sie verstand sich auf einmal selbst nicht mehr. Wie hatte sie sieh von ihm nur so mitreißen lassen können? Ausge rechnet sie, die körperliche Anziehungskraft für eine rein biochemische Funktion hielt, auf der keine stabile Beziehung aufzubauen war? Wo blieb die kühle Logik, die sonst ihr Denken bestimmte? Pattys Blick streifte Mr. Wiggles, der auf ihrem Nachthemd den Schlaf des Gerechten schlief, völlig verausgabt von seinen beiden Ausbruchs versuchen in den Schnee. Du bist mir ein schöner Beschützer, dächte Patty. Jeder andere Hund hätte bei einem Angriff auf sein Frauchen zumindest anstandshalber geknurrt. Sie hob lauschend den Köpf, als aus der Küche klappernde Geräusche drangen. Sie stieß sich von der Waschmaschine ab und spähte um die Ecke. Wieso machte sich Christopher an ihrem Herd zu schaffen?
Wärmte er das Hundefutter auf? Zwar hatte sie schon von reichen Exzentrikern gehört, die ihre Hunde mit kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnten, doch erweckte Christopher nicht den Eindruck, ein besonders begabter Koch zu sein. „Was haben Sie gerade in den Ofen gestellt?" fragte sie, während sie am Türrahmen stehen blieb. „Pizza. Sie können wählen zwischen Peperoni und Schinken." „Tatsächlich? Nehmen wir denn zusammen das Abendessen ein?" wollte sie wissen. „Irgendwelche Einwände?" „Hunderte", fauchte sie. „Zum Beispiel?" „Grenzt es nicht an Unverschämtheit, sich einfach selbst einzuladen?" „Keineswegs. Außerdem ist eine Frau, die ihren Hund durch den kniehohen Schnee schleppt, viel zu weichherzig, um den Mann, der sie vor dem Erfrieren gerettet hat, mit leerem Magen aus dem Haus zu schicken. Vor allem dann nicht, wenn er selbst das Dinner zubereitet." Er hielt kurz inne und schenkte ihr ein siegesgewisses Lächeln. „Habe ich Recht?" Patty rieb sich die Stirn. Das sind ja wahre Holzhammermethoden, dachte sie. „Sie kennen nicht zufällig meinen Bruder Tom Mallory?" „Nein. Weshalb? Erwarten Sie ihn zum Abendessen?" „Das nicht, aber Sie beide haben einiges gemeinsam." Christopher nahm das als gutes Zeichen. „Ist er Ihr Lieblingsbruder?" erkundigte er sich hoffnungsvoll. „Kaum. Als wir noch Kinder waren, drohte Dad oft, uns so lange zusammen in einen Schrank zu sperren, bis wir uns besser vertrügen. Von meinen drei älteren Brüdern und zwei Schwestern war Tom derjenige, mit dem ich mich ständig stritt." „Also das berüchtigte schwarze Schaf der Familie", folgerte Christopher, dessen Optimismus einen leichten Dämpfer erhalten hatte. „Kohlrabenschwarz", bekräftigte Patty. „Doch scheine ich die einzige Frau zu sein, die nicht farbenblind ist. Meine Geschlechtsgenossinnen finden ihn unwiderstehlich und verzeihen ihm, dass er sich wie ein moderner Casanova gebärdet." „Dann muss er sicher auch einige Vorzüge besitzen." „Nein. Er lässt nur bei jeder Gelegenheit seinen Charme spielen." Patty sah Christopher direkt in die Augen. Genau wie du, drückte ihr vielsagender Blick aus. Christopher überlegte kurz, ob seine Schwester ihn ebenfalls als schwarzes Schaf betrachtete. Nein, denn zwischen Shannon und ihm bestand eine tiefe Verbundenheit. „Wie verstehen sich denn Ihre Brüder mit Tom?" Christophers Interesse an dem schwarzen Schaf der Mallorys, das ihm angeblich ähnelte, war geweckt. „Prima." Patty musste unfreiwillig lachen. „Pete und Greg würden liebend gern mit ihm tauschen. Tom sieht nämlich nicht nur blendend aus und ist charmant, sondern er ist obendrein noch ein Glückspilz." Sie ging auf den Küchentisch zu und setzte sich auf einen Stuhl. „Vor drei Jahren beispielsweise verbrachten er, seine damalige Freundin, deren Bruder und ich einen gemeinsamen Nachmittag auf der Pferderennbahn in East St. Louis. Bereits beim dritten Rennen hatte Tom bis auf einen Dollar sein ganzes Geld verloren." „Und das nennen Sie Glück?" „Nur ein kleines Versehen des Schicksals", antwortete sie trocken. „Allerdings muss ich Tom zugute halten, dass er sich weigerte, von seinen Begleitern Geld anzunehmen. Seine zerknirschte Miene rührte sogar mich, doch er wollte sich auch von mir nichts leihen. Schließlich kaufte er von seinem letzten Dollar ein Lotterielos und ..." „Gewann", warf Christopher ein. „Richtig. Er gewann hundert Dollar, die er sofort zum nächsten Wettschalter trug. Zwei Stunden später verließ er mit einem dicken Bündel Geldscheine den Rennplatz." Patty strich ihre Hose über dem Knie glatt und fuhr fort: „Und ich hege den Verdacht, dass Sie ein ähnlicher Typ sind,"
Christopher hätte diese Unterstellung gern von sich gewiesen, wollte Patty aber nicht anlügen. Bisher war ihm das Glück immer hold gewesen, obwohl er sein Vermögen hauptsächlich seinem kaufmännischen Spür sinn und seinem Verhandlungsgeschick verdankte. Und verdankte er seine Bekanntschaft mit Patty nicht ebenfalls einem glücklichen Zufall? „Nun ja", gab er zögernd zu und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Sicher kann man Christy, den Schneesturm und einen kleinen Hund als Werkzeuge des Schicksals ansehen. Ohne sie würde ich jetzt im Haus meiner Schwester am Kamin sitzen und über das kalte Wetter schimpfen, statt mit der aufregendsten Lehrerin von St. Louis zu flirten." Sein Geständnis entlockte Patty ein schwaches Lächeln. Genau wie Tom war Christopher der geborene Gewinner. Er verband Glück und Ausdauer mit Charme, und gegen eine solche Verbindung fühlte sie sich machtlos. Die Ofenuhr klingelte. „Fänden Sie es anmaßend, wenn ich jetzt die Pizzas aus dem Ofen holen und Sie bitten würde, mit mir zu Abend zu essen?" fragte Christophe r. „Sehr." Pattys Lächeln wurde breiter, als sie das Glitzern in seinen Augen entdeckte, „Aber mein Nein wird Sie kaum davon abhalten." Augenzwinkernd stimmte Christopher ihr zu, ging zum Ofen und stellte die Uhr ab. „Wissen Sie eigentlich, dass Glück auch auf andere abfärbt? Ich würde Ihnen von meiner Glückssträhne gern ein Quäntchen abgeben. Vielleicht tilgt es die schwarzen Spuren auf Ihrer Bluse, die anscheinend von Hundepfoten stammen." Patty, die sich halb erhoben hatte, um etwas zu trinken zu besorge n, ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Erstmals nahm sie die schwarzen Flecken wahr, die ihre Bluse in Brusthöhe zierten. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen bei dem Gedanken, dass Christopher ihre Brüste betrachtet hatte. Ihre Verlegenheit schien ihn köstlich zu amüsieren. Patty sprang auf. Mühsam unterdrückte sie den Impuls, ins Schlafzimmer zu eilen und die Tür hinter sich zuzuknallen. Nein, diesen Triumph gönnte sie ihm nicht. Mal sehen, wie leicht er aus der Fassung zu bringen war. In gekonnter Marlene-Dietrich-Manier fuhr Patty sich mit gespreizten Fingern über die Taille und Hüften. „Warte einen Augenblick, mein Kleiner. Ich bin gleich wieder zurück, und dann werden wir uns gemeinsam den Hausaufgaben widmen", sagte sie mit rauchiger Stimme. Christophers Verblüffung erfüllte sie mit großer Genugtuung, und sie lächelte süffisant. Dann drehte sie sich um und tänzelte in Richtung Schlafzimmer. „Eins zu null für Sie", murmelte Christopher, ehe sie verschwand. Sobald Patty die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hatte, hielt sie sich die Hand vor den Mund. Wieder einmal hatte er das letzte Wort behalten, aber wenigstens war es diesmal ein Kompliment gewesen. Sie zog die Bluse aus und wühlte in ihrem Kleiderschrank. Ganz im Hochgefühl ihres soeben errungenen Sieges erwog sie, Christophers männlicher Überheblichkeit einen weiteren Schlag zu versetzen. Wie mochte er reagieren, wenn sie in einem hautengen Pullover, unter dem sie keinen BH trug, in der Küche erschien? Gleich darauf schalt sie sich eine he illose Träumerin, die sich immer mehr von der Wirklichkeit entfernte. Ernüchtert griff sie nach einem weiten fliederfarbenen Pullover und schlüpfte hinein. Ganz cool bleiben, ermahnte sie sich, auch wenn dieser Typ eine gegenteilige Wirkung bei dir erzielt. Sie schob die Ärmel hoch, stellte sich vor den Spiegel und kämmte ihr zerzaustes Haar. Plötzlich hörte sie aus der Küche Christophers Stimme. Christopher blickte auf seine Armbanduhr. Es hatte ihn einige Minuten gekostet, sich von Pattys außergewöhnliche m Abgang zu erholen. Ihre zweideutigen Worte und die schwingenden Hüften hatten sein Blut in Wallung gebracht, und er musste sich erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht spritzen. Unglaublich, wie perfekt sie die Rolle des männermor
denden Vamps gespielt und damit seine Phantasie angeheizt hatte. Natürlich mimte Patty nur die Verführerin, dessen war er sicher. Er hob lauschend den Kopf. Aus dem geschlossenen Schlafzimmer drang kein Laut. Hatte seine unschuldige Nymphe etwa plötzlich Angst vor der eigenen Cour age bekommen und sich im Schlafzimmer verbarrikadiert? „Patty?" „Bin sofort zurück." Christopher atmete erleichtert auf und zog aus einer Einkaufstüte eine gelbe Seidenrose. Als Patty endlich in der Küche erschien, musterte er sie von Kopf bis Fuß und war bezaubert von ihrer Anmut. Mit einer galanten Verbeugung überreichte er ihr die Rose und küsste Patty liebevoll auf die Wange. „Ich glaube, heute ist nicht nur mein, sondern auch dein Glückstag."
4. KAPITEL
„Eine Rose und einen Kuss?" Patty freute sich über Christophers Aufmerksamkeiten, obwohl sie nicht wusste, womit sie die verdient hatte. Wie lange war es her, dass jemand sie verwöhnte, gar für sie das Essen zubereitete? Seit dem frühen Tod ihrer Mutter war immer sie, Patty, es gewesen, die sich um das Wohl anderer kümmerte. Und wenn sie jemanden zu sich zum Essen einlud, dann meist aus einem Schuldgefühl heraus. Wollte Christopher sich mit der Rose für sein schlechtes Benehmen auf der Straße entschuldigen, wo er sie so unbeherrscht angeschrieen hatte? Sie beobachtete, wie er geschickt die Pizza mit dem Messer zerteilte und fragte sich, ob sie ihn vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Einen Mann wegen seiner in Florida erworbenen Bräune als Nichtstuer abzustempeln, war reichlich ungerecht. Schließlich wurde auch in Florida gearbeitet. Sie beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen. „Nun, wie stellt man es an, in Florida zu überwintern, ohne dabei zu verhungern?" wollte Patty wissen. Christopher war über diese Frage alles andere als glücklich. Nun will sie mich also irgendeiner Kategorie zuordnen, ging es ihm durch den Kopf. Oder ist sie auf der Suche nach einer guten Partie? Warum bewerten Frauen einen Mann immer nach seinem beruflichen Erfolg? Männer verhielten sich untereinander zwar ähnlich, doch bei ihnen stört es mich nicht. Diese verschleierten Fragen von Frauen hingegen widern mich an. Dienen sie doch nur der Absicherung ihrer finanziellen Interessen. Patty schien zu glauben, er führte ein Vagabundenleben, und er beschloss, diesen Eindruck nicht zu korrigieren. Er hatte in seinem Leben schon genug geldgierige Frauen kennen gelernt und hasste es, wenn man ihn nach seinem Vermögen taxierte. Zwar hielt er Patty nicht für berechnend, doch störte ihn ihre weibliche Neugierde. „Ach, ich schlage mich so durch", antwortete er ausweichend, wobei er genau wusste, dass er sie mit dieser vagen Auskunft in ihrer Meinung bestärkte. „Was heißt das?" Christopher grinste jungenhaft. „Ich beschäftige mich nur mit Dingen, die mir Spaß machen." Seine verschwommenen Formulierungen irritierten Patty ebenso wie die Käsefäden, mit denen ihre Pizza an dem Pappteller festklebte. Ungeduldig riss sie die Fäden mit dem Finger ab, nahm sich ein Stück Pizza und biss hinein. Anscheinend arbeitete Christopher nur, wenn es ihm Spaß machte. Versuchte nicht auch sie, den Unterricht möglichst unterhaltsam zu gestalten? Wieso verstimmte sie dann Christophers Antwort? Nüchtern betrachtet konnte sie es ihm nicht verübeln, dass er nur tat, was ihm gefiel. „Macht dir dein Beruf Spaß?" erkundigte sich Christopher, als hätte er ihre Gedanken lesen können. Offensichtlich hatte er beschlossen, sie ab sofort zu duzen. „Meistens .schon." „Und was magst du am liebsten?" „Die Freude, die sich in den Gesichtern der Kinder ausdrückt, wenn sie etwas Neue s entdecken." „Und am wenigsten?" Patty überlegte kurz. „Mich als Kassiererin zu betätigen und für alle möglichen Zwecke Geld einzusammeln." Sie sah ihn lächelnd an. „Ziehst du etwa in Erwägung, dich als Lehrer zu versuchen?" Christopher lachte und wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab. „Das fehlte mir gerade noch. Schule und Ehe sind Institutionen, um die ich einen weiten Bogen mache. Doch wie steht es mit dir? Warum bist du noch nicht verheiratet?" Patty verspürte einen unangenehmen Stich im Magen. Christopher berührte mit seiner Frage ein heikles Thema, über das sie ungern sprach. Sie wischte einen nicht vorhandenen Krümel von ihrem Schoss und überlegte, wie sie seiner Frage ausweichen konnte.
Schließlich rang sie sich dann doch zur Wahrheit durch. Allerdings war sie entschlossen, ihm bei der ersten anzüglichen Bemerkung über altjüngferliche Lehrerinnen hinauszuwerfen. „Mich hat noch nie jemand gebeten, ihn zu heiraten." Christopher lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sie eingehend. „Warum nicht?" „Laut Umfragen diverser Frauenzeitschriften gibt es dafür eine Reihe von Gründen. Frauen sind in der Überzahl. Außerdem sind sie zu wählerisch, zu gebildet und zu unabhängig. Ein schier endloses Thema." Um seinem prüfenden Blick zu entgehen, sprang Patty auf, nahm ihren Papierteller und warf ihn in den Abfalleimer. Christopher folgte ihrem Beispiel und begann den Tisch abzuräumen. „Ich lese keine Frauenzeitschriften. Allerdings muss ich mich fragen, ob die Männer von St. Louis mit Blindheit geschlagen sind." Ein nettes Kompliment, fand Patty und lächelte amüsiert. „Mir ist nicht bekannt, dass die Blindenrate in St. Louis überdurchschnittlich hoch ist. Übrigens stand in einer Frauenzeitschrift, in südlicheren Zonen wäre das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen wesentlich ausgeglichener. Anscheinend gibt es viele Männer, die wie du das süße Leben an sonnigen Stränden bevorzugen." Sie nahm einen Eisportionierer aus der Schublade und öffnete den Gefrierschrank. „Um das Gleichgewicht zu wahren, sorge ich für den Nachtisch. Vanilleeis oder Nougateis?" „Nougateis." Christopher deutete auf den Schrank neben der Spüle. „Sind die Schüsseln hier drin?" Patty nickte. Seine missmutige Miene legte die Vermutung nahe, dass weder Vanilleeis noch Nougat seinem Geschmack entsprachen. Sie schluckte die ihr auf der Zunge liegende Entschuldigung hinunter. Pizza gehörte ebenfalls nicht zu ihren Lieblingsgerichten, trotzdem hatte sie alles aufgegessen. „Manchmal muss man eben mit dem vorlieb nehmen, was man bekommt und das Beste daraus machen", sagte sie und gab eine Eiskugel in die Schüssel, die Christopher ihr entgegenhielt. Er lächelte spöttisch. „Und wenn man so selbstlos wie du ist, riskiert man für einen Hund das Leben, den man nicht haben wollte und bescheidet sich mit Flanell, obwohl man Seide bevorzugt." Er wandte ihr den Rücken zu und schlenderte zum Tisch. „Würdest du auch den Antrag eines Mannes akzeptieren, den du nicht liebst und so tun, als wäre das Gegenteil der Fall?" Patty, die gerade eine Kugel Vanilleeis in ihre Schüssel legte, verspürte den unwiderstehlichen Drang, Christopher die Schüssel samt Inhalt über den Kopf zu stülpen. Doch wieder einmal beherrschte sie sich, stellte die angebrochene Eispackung in den Tiefkühlschrank und spülte den Portionierer mit warmem Wasser ab. Unwillkürlich musste sie an Phillip Wadsworth denken. Hatte sie nicht Trudy zu überzeugen versucht, er wäre der richtige Mann für sie? Allein bei dem Gedanken an Phillip lief Patty ein kalter Schauer über den Rücken. Konnte sie sich tatsächlich mit einem Mann begnügen, den sie nicht liebte? Bedächtig drehte sie den Wasserhahn zu, trocknete sich die Hände ab und setzte sich mit ihrem Eis Christopher gegenüber. Sein unverschämtes Grinsen reizte sie, ihrem Impuls von vorhin nachzugeben. Aber wie stets siegte die Vernunft. „Nein", entgegnete sie so gelassen, als hätten sie sich über irgendwelche Belanglosigkeiten unterhalten. „Gut. An einer solchen Beziehung liegt mir nämlich nichts." „Willst du damit andeuten, dass es zwischen uns beiden zu einer Beziehung kommen könnte?" erkundigte sich Patty schnippisch. „Ich bin sogar davon überzeugt", versicherte Christopher und löffelte genüsslich sein Eis. Patty brachte keinen Bissen hinunter. „Deine Arroganz übersteigt meine Selbstlosigkeit bei weitem", bemerkte sie sarkastisch. Allmählich bezweifelte sie, diesen Abend heil zu
überstehen. . „Das ist unmöglich. Dir ist deine Selbstlosigkeit angeboren, ich hingegen musste mir meine Selbstsicherheit schwer erkämpfen." Mit Genugtuung regis trierte Christopher die Unsicherheit, die in Pattys Stimme mitschwang. Erfreut stellte er fest, dass er noch immer die Gabe besaß, eine Lehrerin mit seiner Dreistigkeit aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich ist es bisher noch keinem Mann gelungen, die reizende Miss Mallory derart zu verwirren, dachte er ein wenig selbstgefällig und setzte forsch hinzu: „Ich bin fest entschlossen, etwas mehr Farbe in dein Leben zu bringen, Frau Lehrerin." Mit diesen Worten erhob er sich, stellte die leere Schüssel in das Spülbecken, holte seinen Anorak und begab sich eiligen Schrittes zur Haustür. „Warte einen Moment!" Patty sprang auf und rannte hinter ihm her. „Willst du schon gehen?" „Ist das eine Einladung, die Nacht hier zu verbringen?" erkundigte er sich unverfroren und knöpfte seinen Anorak zu. „Natürlich nicht, aber „Schade." Er seufzte in gespielter Enttäuschung und zeichnete mit dem Finger Pattys Wangenlinie nach. „Eine gemeinsame Liebesnacht würde gut in mein Konzept passen." Zornig riss Patty die Haustür auf. „Leider passt du nicht in mein Konzept. Für eine gemeinsame Liebesnacht fehlen dir sämtliche Voraus setzungen, Christopher Turner. Gute Nacht!" Ihre mangelnde Gastfreundschaft schien Christopher nicht weiter zu bedrücken. Er wandte sich mit einem fröhlichen „Gute Nacht" zum Gehen, zögerte kurz und drehte sich dann um. Blitzschnell zog er Patty in seine Arme und küsste sie leicht auf den geöffneten Mund. „Bis bald." Sanft schloss er die Tür, um Patty keine Gelegenheit zu geben, sie hinter ihm zuzuknallen. Er lachte leise, als gleich darauf die Eingangsbeleuchtung aufflammte. Obwohl Patty vor Wut kochte, hatte sie es nicht fertig gebracht, ihn im Dunklen zu seinem Wagen tappen zu lassen. Sie ist nicht so leicht zu provozieren, folgerte er. Außerdem ist sie schlagfertig, ^gutmütig und sehr hilfsbereit. Und sie hat gern das letzte Wort. „Diesmal allerdings nicht, Patty Mallory", murmelte Christopher und begutachtete die Schneeschaufel, die an der Hausmauer lehnte. Taten sind beredter als Worte, fand er und begann die Stufen vor Pattys Haustür freizuschaufeln. Patty presste ihr Ohr gegen die Tür, als sie von draußen kratzende Geräusche vernahm. Räumte dieser Mensch etwa den Schnee vor ihrem Haus beiseite, in der Absicht, sie mit seiner guten Tat zu beschämen? Immerhin hatte sie ihn gerade mehr oder weniger hinausgeschmissen. „Warum benimmt er sich nicht wie ein normaler Mensch, setzt sich beleidigt in sein Auto und verschwindet aus meinem Leben?" stöhnte sie. Ständig brachte er sie in die Lage, ihm für etwas dankbar sein zu müssen. Am liebsten hätte sie die Tür aufgerissen und ihm klipp und klar erklärt, dass sie durchaus fähig war, ihre Einfährt allein freizuschaufeln. Doch schon quälte sie wieder ihr berüchtigtes schlechtes Gewissen. Es war unfair, einen Mann zu beschimpfen, der ihr einen Gefallen erwies. Unfair? Einen Mann, der sich über sämtliche Grundregeln eines fairen Kampfes hinwegsetzte, konnte man kaum unfair behandeln. Ihre Geschwister hatten sich bei ihren häuslichen Streitereien an diese Regeln gehalten. Jeder Auseinandersetzung war ein zermürbendes Schweigen gefolgt, und ihre - Pattys Aufgabe bestand darin, die zerstrittenen Parteien wieder zu versöhnen. Sie hatte offene Konfrontationen stets vermieden. Umso mehr erstaunte sie ihre ungewöhnlich heftigen Reaktionen auf Christophers Herausforderungen. Seinen Überraschungsangriffen fühlte sie sich einfach nicht gewachsen. Patty berührte mit dem Finger ihren Mund. Ziemlich schmutziger Trick, eine wütende Frau zu küssen, fand sie. Nachdenklich fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die
Unterlippe und hatte plötzlich den Geschmack von Sonne im Mund. Lächerliche Einbildung, schalt sie sich. Sonne kann man fühlen, sehen und in gewisser Weise auch riechen, aber keinesfalls schmecken. Allmählich bin ich reif für das Irrenhaus. Sie ging zu dem großen Panoramafenster in ihrem Wohnzimmer und zerrte den Vorhang beiseite. Der smarte Christopher Turner sollte nur nicht glauben, sie würde ihn heimlich hinter dem Vorhang beobachten. Beine gespreizt, Hände in die Hüften gestemmt, stellte sie sich ans Fenster und verfolgte wie er zügig den Schnee aus ihrer Einfahrt räumte. Seine Bewegungen waren kraftvoll und harmonisch. Mühelos schwang er die Schaufel und türmte den Schnee zu beiden Seiten der Zufahrt auf. Patty hätte für diese Schwerstarbeit sicher Stunden ge braucht. Mit Bestürzung stellte sie fest, dass Christopher ohne Handschuhe arbeitete. Und obwohl sie ihn kurz zuvor noch zum Teufel gewünscht hatte, wollte sie nicht schuld daran sein, dass er sich Frostbeulen holte. Sie winkte mit beiden Armen, um sich bei ihm bemerkbar zu machen. Christopher, der während des Schaufelns Fenster und Haustür im Auge behielt, entgingen Pattys Bemühungen nicht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er hob den Kopf. Patty zeigte auf ihre Hand und bedeutete ihm mit einer Geste, ins Haus zu kommen. Lachend schüttelte er den Kopf und wandte sich mit vermehrtem Eifer seiner Beschäftigung zu. Er erhoffte sich von der körperlichen Betätigung in der kalten Nachtluft einen ähnlichen Effekt, wie man ihn gemeinhin kalten Duschen nachsagte. Wenn Patty nur wüsste, wie gern er ihrer Aufforderung gefolgt wäre. Im fielen auf Anhieb Dutzende von Möglichkeiten ein, sich bei ihr die Hände aufzuwärmen. Leider bestand die Gefahr, dass sich dann auch andere Teile seines Körpers erhitzen würden. Seine Phantasie entzündete sich an der Vorstellung, Patty langsam auszuziehen und zu lieben. Seit ihrer ersten Begegnung am Nachmittag hatte er diesen Gedanken zu verdrängen versucht - vergeblich. Er gestand sich ein, dass er Patty Mallory mehr begehrte als jede andere Frau zuvor. Christopher umklammerte den Griff der Schaufel fester und schippte wie ein Besessener. Bereits als er im Klassenzimmer versehentlich Pattys Arm gestreift hatte, durchzuckte es ihn, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Und als er sie vorhin einen Augenblick in den Armen gehalten und geküsst hatte, war es ihm sehr schwer gefallen, sie wieder loszulassen. Dabei wollte er mit diesem Kuss nur herausfinden, welche Taktik am geeignetsten war, ihre Verteidigungslinien zu durchbrechen. Würde es ihm gelingen, Patty zu erobern? Sie so weit zu bringen, dass sie sich an ihn schmiegte und ihn anflehte, sie zu küssen? Ich muss mich in Geduld üben, dachte er. Immerhin war es ihm geglückt, Patty einigermaßen zu verwirren. Mit diesem kleinen Sieg musste er sich vorerst zufrieden geben. Aber nicht lange, schwor er sich und warf einen verstohlenen Blick zum Fenster. Er war fest entschlossen, diese Lehrerin für sich zu gewinnen und ihre ungeteilte Zuneigung zu erringen. Am Montagmorgen fuhr Patty pünktlich eine Viertelstunde vor Schulbeginn auf den Schulhof und parkte ihr Auto auf dem ihr zugeteilten Platz neben Trudys Wagen. Nachdem sie den Motor ausgeschaltet hatte, klemmte sie sich die auf dem Beifahrersitz liegenden Schulhefte unter den Arm und nahm die ebenfalls dort deponierten Slipper in die Hand. Dann zog sie sich die Mütze tief ins Gesicht. St. Louis litt noch immer unter den Ausläufern eines arktischen Tiefs. Patty betrachtete durch die Windschutzscheibe die tiefhängenden Schneewolken und sandte ein Stoßgebet zum Himmel. „Gönne uns wenigstens ein bisschen Sonne", flehte sie halblaut. Im selben Augenblick hörte sie ein rhythmisches Klopfen an der Fahrertür. Sie drehte sich um und zuckte zusammen. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Draußen stand der Sonnengott persönlich und schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. War das die Antwort auf ihr Stoßgebet? Christopher öffnete die Tür. „Guten Morgen", begrüßte er Patty gutgelaunt. „Darf ich dir die Hefte abnehmen?"
Der Blick, den Patty ihm zuwarf, war noch um einiges frostiger als die derzeit in St. Louis herrschenden Temperaturen. Ohne ihn eines Wortes zu würdigen, schlängelte sich Patty aus dem Auto, warf die Tür zu und steuerte eiligen Schrittes auf das Schulgebäude zu. Mein kühles Benehmen ist durchaus gerechtfertigt, versuchte sie sich einzureden. Da hatte sie sich stundenlang schlagfertige Bemerkungen zurechtgelegt, um gewappnet zu sein, falls Christopher unerwartet bei ihr aufkreuzte, und er zog es vor, sich während des gesamten Wochenendes in Schweigen zu hüllen. Sein Verhalten kränkte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Wäre es nicht ein Gebot der Höflichkeit gewesen, sich bei ihr wenigstens telefonisch nach Mr. Wiggles' Befinden zu erkundigen? Doch Christopher schien es nicht zu kümmern, ob sie den Hund aus Unerfahrenheit falsch ernährte oder gar vergiftete. Nachdem sie bis Samstag Abend nichts von Christopher gehört hatte, hatte sie die im Schlafzimmer aufgestellte gelbe Seidenrose in die Abstellkammer verbannt und war wütend ins Bett gegangen. Erbost hatte sie ihr Kopfkissen zerknüllt und sich geschworen, künftig keine Wäsche mehr in der Sonne zu trocknen, weil sie gegen diesen Duft mittlerweile allergisch war. Den Sonntag hatte sie dann mit dem Korrigieren von Schulheften und dem Vorbereiten von Unterrichtsstunden verbracht. Und jedes Mal, wenn ihr Christopher in den Sinn gekommen war, hatte sie versucht, sich mit Pralinen zu „betäuben". Am Sonntagabend schließlich war sie zu der Überzeugung gekommen, Chr istophers Komplimenten zu viel Bedeutung beigemessen zu haben. Sie war auf einen notorischen Casanova und sein Süßholzgeraspel hereingefallen. Dabei hatte alles so aufrichtig geklungen, was er sagte. Nun, das bewies umso mehr, dass er ein erfahrener Charme ur war und sie eine ziemlich naive Lehrerin . . . „Ich habe Christy heute Morgen zur Schule gefahren." Christopher war es zwischenzeitlich gelungen, Patty einzuholen. „Wie reizend von dir", flötete sie, obwohl ihr ein „Verschwinde, Sonnyboy'' auf der Zunge lag. In ihrem Zorn vergaß sie sogar, sich nach Shannons Befinden zu erkundigen. Den Blick unverwandt auf das Schulgebäude gerichtet, eilte sie hocherhobenen Hauptes auf die Eingangstür zu. Christopher hielt mit ihr Schritt, und wieder einmal stieg ihr der verhasste zarte Sonnenduft in die Nase, der so typisch für ihn war. Auch Christopher kochte innerlich vor Wut. Patty fertigte ihn ebenso herzlos ab wie fünfundzwanzig Jahre zuvor seine Grundschullehrerin. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er morgens im Eiltempo zur Schule gelaufen war, begierig darauf, vor Unterrichtsbeginn ein wenig mit ihr zu plaudern. Sie jedoch hatte ihn mit einem gelangweilten „Setz dich, Christopher, ich muss mich um die Anwesenheitsliste kümmern", abge wimmelt. Natürlich war Pattys Abwehrhaltung auf andere Gründe zurückzuführen. Sie benutzte ihren Beruf als eine Art Schutzschild, damit ihr niemand zu nahe kam. Das spornte ihn allerdings noch mehr an, die Mauer niederzureißen, die sie um sich errichtet hatte. Während er neben ihr herging, bemerkte er ihr Frösteln. Das brachte ihn spontan auf eine Idee. „Übrigens habe ich für unseren gemeinsamen Honda-Aufenthalt während der Thanksgiving-Ferien bereits alle Vorbereitungen getroffen", teilte er ihr so ganz nebenbei mit. Das veranlasste Patty, abrupt stehenzubleiben. Sie wirbelte herum und blitzte ihn mit ihren blauen Augen an. „Du hast was?" Christopher grinste jungenhaft. Es hat also gewirkt, frohlockte er innerlich. „Prima Idee, findest du nicht?" Er legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte sie kurz an sich. Hastig befreite sich Patty aus seinem Griff. „Mit dir reise ich weder nach Florida noch sonst wohin. Ich kenne dich ja kaum." „Richtig. Deshalb finde ich ja meinen Vorschlag so großartig. Gibt es eine bessere Gelegenheit, einander näher kennen zu lernen?" Damit meint er wohl das Erkennen im biblischen Sinn, dachte Patty sarkastisch. Sie blickte ihn von der Seite an, um festzustellen, ob er seine Lippen wieder zu diesem
überlegenen männlichen Lächeln verzogen hatte, das sie stets auf die Palme brachte. Doch diesmal war sein Lächeln freundlich, wenngleich auch recht selbstzufrieden. Seine Einladung schien spontan zu sein, ohne jeglichen Hintergedanken. Seine Unschuldsmiene erinnerte sie ein wenig an einige Lausejungen ihrer Klasse, die sie gerade wegen ihrer Frechheit besonders liebenswert fand. Aber Christopher ist kein Kind, ermahnte sie sich. Er ist ein attraktiver Frauenheld, der glaubt, mit dir ein leichtes Spiel zu haben. Christopher war sich unschlüssig, ob er ihren Blick und das darauf folgende Schweigen als gutes oder schlechtes Zeichen werten durfte. Zumindest hatte er es geschafft, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln. Er beugte sich zu ihr hinunter und raunte ihr ins Ohr: „In den vergangenen Tagen musste ich ständig an dich denken." „Wetten, nicht?" schnauzte sie ihn gereizt an. „Diese Wette würdest du haushoch verlieren." Er packte sie am Ellbogen und zwang sie zum Stehen bleiben. „Du gingst mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich sehnte mich nach dir, doch jedes Mal, wenn ich zum Telefonhörer griff, sah ich mich einer mittleren häuslichen Katastrophe gegenüber. Shannons Kinder sind wahre Meister darin, mich rund um die Uhr in Atem zu halten." Unfreiwillig musste Patty lachen. „Wenn dir schon Shannons vier Kinder Schwierigkeiten bereiten, würdest du bei meinen vierundzwanzig sicher völlig ausrasten." „Und das bringt uns erneut zu dem geplanten Ausflug nach Florida. Solange ich die Kinder meiner Schwester hüten muss und du tagsüber unterrichtest, mangelt es uns beiden an der nötigen Ruhe. Nun sag schon ja, Patty. Stell dir vor, wie wir beide unter Palmen faulenzen, im Meer baden, Ananassaft schlürfen ..." „Jetzt wird mir klar, wo du arbeitest", unterbrach sie seine Schwärme reien. „Beim Fremdenverkehrsamt von Florida." Es fiel ihr zusehends schwerer, seiner Überredungskunst zu widerstehen. Lachend schüttelte Christopher den Kopf. „Mein Vorschlag ist lediglich das Ereignis tiefsinniger Überlegungen während des Wochenendes. Christopher, dachte ich mir, das Alltagsleben dieser Frau ist strengen Regeln unterworfen. Du musst sie also an einen Ort bringen, wo sie sich dieser Fesseln entledigt und sich so frei fühlt wie wilde Kaninchen im März." Zufällig wusste Patty, was wilde Kaninchen im März trieben. Es war ihre Paarungszeit. Die Dreistigkeit dieses Kerls kannte keine Grenzen. Ihr fester Entschluss, sich von ihm nicht mehr herausfordern zu lassen, wurde auf eine harte Probe gestellt. Langsam zählte sie bis zehn, dann weiter bis zwanzig. Als sie schließlich bei achtunddreißig angelangt war, antwortete sie mit zuckersüßer Stimme: „Danke für dein freundliches Angebot. Leider bin ich zu beschäftigt, es anzunehmen." „Womit beschäftigt?" „Mit allem Möglichen", antwortete sie vage. Sicher würde der eine oder andere aus ihrer Familie während der bevorstehenden Feiertage ihre Dienste beanspruchen. „Ich habe gewisse Verpflichtungen. Beispielsweise muss ich für Mr. Wiggles sorgen und das Haus hüten", erklärte sie und fügte spitz hinzu: „Vielleicht solltest du ebenfalls weniger in den Tag hineinleben, sondern künftig etwas mehr Verantwortung übernehmen." „Und was rätst du mir?" „Suche dir eine regelmäßige Beschäftigung. Sicher ist dir bekannt, dass die meisten Leute acht Stunden täglich einen Beruf ausüben." Christopher kommentierte ihre bissige Bemerkung mit einem Schmunzeln und hielt Patty die Eingangstür auf. „Was ist daran so komisch?" „Die Vorstellung, wie du mit dem Strickstrumpf am Kamin sitzt und das Haus hütest." Patty fand das überhaupt nicht witzig, denn er hatte genau ihren wunden Punkt getroffen. In ihren Alpträumen sah sie sich nämlich schon des öfteren als alte Jungfer mit Strickzeug
am Kamin. Beim Betreten des Korridors entging Patty nicht, dass die vor ihren Klassenzimmern Wache stehenden Kollegen sie und ihren blonden, braungebrannten Begleiter neugierig musterten. Patty blickte auf den Fußabstreifer und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit der Aufgabe, ihre Schuhe vom Schnee zu reinigen. Sie stellte die mitgebrachten Slipper auf den Boden und versuchte mit dem rechten Fuß den linken Stiefel abzustreifen. Zu ihrem nicht gelinden Entsetzen kniete Christopher vor ihr nieder, um ihr dabei behilflich zu sein. Falls sie sich nicht unsterblich blamieren wollte, musste sie ihn wohl oder übel gewähren lassen. - Patty überspielte die peinliche Situation mit einem Lächeln und hob gehorsam den linken Fuß. Christopher zog ihr den Stiefel aus und strich mit einer Hand leicht über ihre Fußsohle, um etwaige Fusseln abzustreifen. Patty verspürte ein wohliges Kribbeln in den Zehen und schwankte leicht. Hilfesuchend stützte sie sich auf Christophers Schulter. Das war immer noch besser, als sich durch einen Sturz zum Gespött des gesamten Lehrkörpers zu machen. Als sie dann auch noch hinter sich Trudys Stimme vernahm, hätte sie sich am liebsten irgendwohin verkrochen. „Meine Gratulation, Patty. Endlich hast du eine starke Schulter zum Anlehnen gefunden." Patty unterdrückte den Impuls, Trudy den Mund zuzuhalten. Christophers leises Lachen irritierte sie ebenso wie die lustvollen Gefühle, die seine warmen Hände in ihr wachriefen. Sanft fuhr er mit seinen Fingern über ihre Ferse, umfasste ihre Wade und streichelte mit dem Daumen ihre Kniekehle. Stell mich vor, besagte Trudys unmissverständlicher Blick. Patty, die ihre Schüler jeweils zu Beginn des Schuljahrs mit den gängigen Vorstellungspraktiken vertraut machte, fühlte sich plötzlich unfähig, diese alltägliche Zeremonie zu vollziehen. Zudem schien sie unter akutem Gedächtnisschwund zu leiden und konnte sich nicht mehr an Trudys Familiennamen erinnern. Christophers sanft kreisender Daumen an ihrer Wade brachte sie völlig aus dem Konzept. „Hallo." Lässig erhob er sich. „Ich bin Christopher Turner, Christys Onkel." „Ach ja, ich sah Sie bereits am Freitag zusammen mit Ihrer Nichte." Trudy klimperte mit ihren langen Wimpern und reichte ihm die Hand. „Ich sprach mit Patty über Ihre ..." „Bräune", fiel diese ihr schnell ins Wort. Trudys Verstand schaltete sich automatisch aus, sobald ein gutaussehender Mann in ihre Nähe kam, und sie verzapfte dann meist allerlei Blödsinn. Patty schlüpfte aus ihrem zweiten Stiefel. „Entschuldigt mich bitte, ich muss noch stempeln", sagte sie und hastete davon, ohne sich umzusehen. Sollte sich doch zur Abwechslung einmal Trudy Christophers charmante Lügen anhören. Trudy konnte er damit nicht so leicht einwickeln wie sie, das wusste Patty aus vielen vertraulichen Gesprächen mit ihrer langjährigen Freundin. Denn Trudy hielt nach einem Ehekandidaten Ausschau, Christopher hingegen wollte nur seinen Spaß haben. Trotzdem hatte sie einen Stich verspürt, weil Trudy so lange Christophers Hand festhielt. Bin ich etwa eifersüchtig? überlegte Patty bestürzt. Unsinn. Sicher gab es dafür eine vernünftigere Erklärung. Patty bog um die Ecke und verfehlte nur um Zentimeter Priscilla und Phillip, die vor der offenen Bürotür turtelten. „Morgen", grüßte Patty und schlängelte sich an ihnen vorbei ins Büro. „Heute bin ich aber nicht zu spät." Sie hatte zwar kein herzliches Schulterklopfen erwartet, aber zumindest hätte sich Phillip über ihre Pünktlichkeit wohlwollend äußern können. Dabei hielt er seinen Untergebenen bei jeder passenden Gelegenheit einen Vortrag über den pädagogischen Wert eines Lobes bei Kindern. Erwachsene scheint er davon auszuschließen, dachte Patty ungnädig. Sie holte ihre Karte und stempelte sie. Der Rektor und Priscilla überhörten das laute Klick des Automaten, so sehr waren sie in ihre leise Unterhaltung vertieft. Hoffentlich
können sie sich bald voneinander losreißen, überlegte Patty, sonst muss ich mich nochmals an ihnen vorbeizwängen. Sie beobachtete die beiden unter gesenkten Lidern hervor. Kein Wunder, dass Priscilla so hervorragende Beurteilungen erhält, ging es Patty durch den Kopf. Mit diesem anbetenden Blick, dem atemlosen Lachen und dem koketten Augenaufschlag könnte sie auf jeder Bühne auftreten. Dabei passten die flatterhafte Priscilla und der schwerfällige Phillip nicht zueinander, obwohl Phillip sich größte Mühe gab, seine Gesprächspartnerin zu becircen. Patty fühlte fast Mitleid für die beiden. Sie hatte bei ihren Geschwistern erlebt, wie leicht eine Liebesbeziehung in die Brüche ging, wenn ein Paar zu unterschiedlich war. Meist endete es mit einem gebrochenen Herzen. Und aus diesem Grund solltest du dich künftig von Christopher Turner fernhalten, ermahnte sie sich. Körperliche Anziehungskraft allein reicht für eine langfristige Beziehung nicht aus. Außerdem legt er es ständig darauf an, mich zur Weißglut zu bringen. Der Flur füllte sich mit Schülern. Patty räusperte sich umständlich. „Da kommen sie ja." Der Rektor strich seine Krawatte glatt und mischte sich unter die hereinströmenden Schüler. Priscilla warf Patty einen wissenden Blick zu, schüttelte ihre lange Mähne und schlenderte davon. Im selben Augenblick entdeckte Patty Christopher, der auf Phillip zuging und sich vorstellte. Sobald er sie im Hintergrund bemerkte, zwinkerte er ihr vertraulich zu, als wären sie innige Freunde. Wütend hastete Patty davon.
5. KAPITEL
Warum bin ich nicht gleich Bankkassiererin geworden, dachte Patty und schnitt eine Grimasse. Auf ihrem Schreibtisch lag das Lunchgeld für die drei Schultage dieser Woche, das die Kinder bei ihr abgeliefert hatten. Während sie Jimmy Matthews zuhörte, der begeistert von seiner am Wochenende erbauten Schneeburg erzählte, sortierte sie die Geldmünzen und stapelte sie fein säuberlich vor sich auf. Mochte Jimmys Bericht auch fesselnd sein, so schweiften Pattys Gedanken doch von der Schneeburg ab, und sie träumte von wehenden Palmen, einer sanften Meerbrise, Sonne, weißem Sandstrand und einem Mann, der es mit Leichtigkeit schaffte, sie gleichzeitig zu erregen und in rasenden Zorn zu versetzen. Christophers Einladung spukte ihr im Kopf herum. Natürlich werde ich ablehnen, dachte sie. Vermutlich rechnete er sogar damit. Auf keinen Fall wollte sie nach dem Unterricht einen Einkaufsbummel unternehmen, um sich einen aufreizenden Bikini zu kaufen. Möglicherweise hatte Christopher sie mit seinem überraschenden Vorschlag nur davon ablenken wollen, dass er sich während des Wochenendes nicht gemeldet hatte. Trotzig streckte sie das Kinn vor. Ob ernst gemeint oder nicht, sie konnte seine Einladung keinesfalls akzeptieren. Sie war keine leichtfertige Abenteuerin, die sich mit einem fast unbekannten Mann in eine Affäre stürzte. Was wusste sie denn schon über Christopher? Abwesend kritzelte sie seinen Namen auf den Notizblock und malte daneben einige Palmen. Jimmy, der gerade zu seinem Platz zurückging, wurde von einem jähen Hustenanfall geschüttelt, der Patty aus ihren Gedanken riss. „Jimmy, du bist doch nicht etwa krank?" erkundigte sie sich mitfühlend. „Nein, Madam. Mom sagte, ich hätte kein Fieber." Patty musterte sein Gesicht und suchte nach den üblichen Anzeichen beginnender Grippe, wie wässrigen Augen, geröteten Wangen und tropfender Nase. Doch abgesehen von seinem Husten schien der Junge gesund zu sein. „Miss Mallory, darf ich jetzt über mein Wochenende erzählen?" meldete sich Christy. „Na schön, Christy. Erzähl uns, was du alles erlebt hast", entgegnete Patty, unschlüssig, ob sie das wirklich hören wollte. Wahrscheinlich würde Christy bis ins kleinste Detail den Besucher beschreiben, der sich momentan bei ihr zu Hause aufhielt. In ihrer Unschuld berichteten Kinder im Unterricht oft Dinge, die ihren Eltern die Schamröte in Gesicht treiben würden, falls sie je davon erführen. Es gab Gelegenheiten, bei denen Patty durchaus versucht war, einem Kind nähere Einzelheiten über das Elternhaus zu entlocken, doch widerstand sie solchen Anfechtungen stets. Auch im Moment musste sie gegen diese Versuchung ankämpfen, wie sie sich widerwillig eingestand. Gewiss würde ihr Christy arglos alle gezielten Fragen über Christopher beantworten und ihr damit eine genauere Einschätzung seiner Person ermöglichen. Eine schmutzige Taktik, die Patty strikt ablehnte. Christy strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht und marschierte zu dem Platz vor Pattys Schreibtisch. Sie wippte auf den Fußspitzen auf und ab und wartete, bis ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Klassenkameraden zuteil wurde. „Am Samstagmorgen fuhr meine Mom ins Krankenhaus, und jetzt habe ich einen kleinen Bruder." „Dummkopf, rief ein Junge aus der hintersten Reihe. „Mütter können doch keine Jungs bekommen." „Sei still, Michael!" mischte sich Patty ein, der dämmerte, warum Christopher sich nicht gemeldet hatte: Sie fühlte sich wegen ihres ruppigen Verhaltens ihm gegenüber ein wenig beschämt. Christy stemmte die Hände in die Hüften und stampfte mit dem Fuß auf. „Du bist ein elender Lügner, Michael Simmons. Mein Vater hat gesagt, dass ich einen kleinen Bruder zum Spielen bekommen habe."
„Nun ist es aber genug." Patty hob eine Hand, um die Kinder zum Schweigen zu bringen. Sie stand auf und stellte sich neben Christy. „Wir nennen einander nicht Dummkopf und Lügner." „Jeder weiß, dass Michael dauernd irgendwelche Geschichten erfindet", ereiferte sich Christy. „Einmal erzählte er uns sogar, sein Vater wäre in Wahrheit der verkleidete Superman." „Und ich sah deine Unterhose, als du einen Handstand im Schulhof machtest", hielt der Junge dagegen. „Still, ihr beiden!" Ohne ihre Stimme zu heben, verschaffte sich Patty Ruhe. „Michael, bitte komm hierher zu mir!" Sie ging in die Hocke und schlang einen Arm um Christys Taille. Mit dem anderen zog sie Michael an sich. Von allen Kindern ihrer Klasse benötigte Michael am meisten ihre Zuneigung. Offensichtlich hatte er die vor einem Jahr erfolgte Scheidung seiner Eltern noch nicht verwunden. Patty wandte sich an Christy. „Wie heißt dein kleiner Bruder?" „Wir haben ihn Jason genannt", antwortete Christy stolz und ließ durchblicken, dass sie an der Auswahl des Namens beteiligt war. „Weißt du schon, wann deine Mommy und er nach Hause kommen?" „Morgen", verkündete Christy mit strahlender Miene. „Dad hat versprochen, dass ich Jason halten darf. Ich übe schon immer mit meiner großen Babypuppe." Michael lehnte sich enger an Patty. „Meine neue Mutter bekommt ebenfalls bald ein Baby", flüsterte er ihr ins Ohr. Sie drückte ihn fest an sich. „Ich habe auch ein neues Baby. Nun ja, kein wirkliches Baby, sondern einen kleinen Hund, den mir Ted schenkte. Sein Name ist Mr. Wiggles." „Und sein Vorname?" erkundigte sich Michael. Patty musste lächeln. „Ach er hat noch gar keine Vornamen. Vielleicht gehorchte er deshalb so schlecht, wenn ich ihn rufe." Etliche Finger schnellten in die Höhe. „Shelly?" „Lassen Sie uns zusammen nach einem Vornamen suchen, Miss Mallory." „Ja", schrieen die Kinder im Chor. „Ein guter Vorschlag." Patty drückte Christy und Michael kurz an sich und entließ sie mit einem liebevollen Klaps. „Wie sieht er aus?" wollte ein Kind wissen. „Wir können einen Pudel schlecht Tiger taufen." „Er ist schwer zu beschreiben", sagte Pattys und erhob sich. „Ich könnte ihn fotografieren und sein Bild mitbringen." „Wäre es nicht einfacher, wenn ich ihn schnell holen würde?" Weder Patty noch die Kinder hatten bisher den Mann bemerkt, der schon seit einer geraumen Weile an der Tür stand. Seine Anregung wurde von Pattys Schützlingen mit begeisterter Zustimmung aufgenommen. Patty fand den Vorschlag ebenfalls nicht schlecht, doch störte es sie, dass er ausgerechnet von Christopher kam, außerdem musste sie erst einmal Phillips Erlaubnis einholen. Verwundert fragte sie sich, was Christopher hier zu suchen hatte und wie lange er sie schon beobachtete. Wie war er überhaupt hereingekommen? Normalerweise mussten Fremde bei Beginn des Unterrichts das Schulgebäude verlassen, um Störungen auszuschließen. „Kann er den Hund jetzt gleich holen?" fragte Alice, eine Schülerin, die sich sonst höchst selten zu Wort meldete. „Zuerst einmal benötigen wir das Einverständnis des Rektors. Da hilft kein Murren", fügte Patty hinzu, als einige laut stöhnten. Christy setzte eine gewichtige Miene auf. „Er ist mein Onkel. Darf ich ihn vorstellen?" Patty nickte.
Christy ging zu Christopher und zog ihn an der Hand in die Mitte des Zimmers. „Das ist mein Onkel Christopher, Mr. Turner." Sie bedachte Michael mit einem triumphierenden Blick. „Er ist der Bruder meiner Mutter und damit mein Onkel. Das kannst auch du nicht abstreiten, Michael." „Will ich auch gar nicht." Um einen erneuten Streit zwischen den beiden zu verhindern, wechselte Patty schnell das Thema. „Wer hat Lust, einen Zettel ins Büro zu bringen? Du, Alice?" Patty griff nach ihrem Notizblock und fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. So unauffällig wie möglich entfernte sie das oberste Blatt mit Christophers Namen und den Palmen. Sie streckte es in ihre Hosentasche. Um Christophers Mund spielte ein amüsiertes Lächeln. Er schien einen Röntgenblick zu besitzen. Während Patty hastig einige Zeilen auf das Papier kritzelte, meinte Alice, die wartend vor dem Schreibtisch stand: „Er sagt bestimmt nein." „Wer, Liebes?" „Der Rektor, Mr. Wadsworth. Eine Freundin von mir aus der Parallelklasse wollte ebenfalls ihren Hund zur Schule mitnehmen, doch Mr. Wadsworth meinte, die Schule sei kein Bauernhof, es könne nicht jeder sein Haustier mitbringen." Patty befürchtete, dass Alice Recht hatte. Solange Phillip den pädagogischen Wert eines praxisnahen Unterrichts nicht anerkannte, bestand wenig Aussicht auf Erfolg. Es tat ihr leid, die Kinder enttäuschen zu müssen. Warum soll nicht der Urheber dieser brillanten Idee selbst Phillip um Erlaubnis bitten, überlegte sie in einem Anflug von Boshaftigkeit. Dann muss er den Kindern die schlechte Nachricht vermitteln und nicht ich. „Mr. Turner, würde es Ihnen etwas ausmachen, Alice zu begleiten?" erkundigte Patty sich mit übertriebener Liebenswürdigkeit. Sie warf einen Blick auf den Unterrichtsplan und wandte sich an die Klasse. „Bis die beiden zurück sind, vertreiben wir uns die Zeit mit dem Lesespiel. Tiger, holt euren Buchstabenkasten." Acht Kinder stürmten nach hinten zu den Schränken. „Und nun die Elefanten." Eine weitere Gruppe schwärmte nach hinten aus. Patty wartete einen Moment, dann rief sie: „Eichhörnchen, jetzt seid ihr dran." Die restlichen Kinder schnappten sich ebenfalls ihren gemeinsamen Buchstabenkasten. Patty begleitete Alice und Christopher zur Tür. „Das ist eine Gelegenheit, einmal sämtliche Register deines Charmes zu ziehen", zog sie Christopher leise auf. „Ich werde mein Möglichstes tun", erwiderte er gelassen und dachte daran, wie einfach es gewesen war, vom Rektor einen Besucherausweis zu erhalten. Ganz im Gegensatz zu Patty zeigte sich ihr Chef recht empfänglich für Schmeicheleien. Und als er, Christopher, auch noch gesprächsweise einfließen ließ, dass er einen Fonds zur Unterstützung von Legasthenikern gründen wollte, hatte der Rektor ihm sofort angeboten, sich auf eigene Faust im Schulgebäude umzusehen. „Viel Glück." „Am besten gibst du mir gleich deinen Hausschlüssel", sagte er zuversichtlich. „Das würde die Sache erheblich beschleunigen." Hochmut kommt vor dem Fall, hätte Patty ihm am liebsten entgegnet, da sie Phillips Prinzipienreiterei zur Genüge kannte. Doch sie beherrschte sich. „Warum nicht", sagte sie, nahm ihre Handtasche aus dem Schrank und kramte darin nach dem Schlüsselbund. Sie reichte Christopher den Schlüssel .und konnte es sich nicht verkneifen, ihn mit einer seiner eigenen Lieblingsphrasen zu verabschieden. „Bis bald." Alice schüttelte niedergeschlagen den Kopf. „Mr. Wadsworth wird nie erlauben, dass Sie den Hund hierher bringen." Christopher fasste das kleine Mädchen an der Hand und trat mit ihm auf den Flur hinaus. Patty hörte noch, dass er sie mit einer Geschichte aufzumuntern versuchte, die er „Die Geschichte von der kleinen Maschine, die alles konnte" nannte. Patty fühlte sich von seinem feinen Gespür für die Nöte des kleinen Mädchens sonderbar
berührt und schloss lächelnd die Tür. Sie holte sich einen niedrigen Schemel und setzte sich in die Mitte des zwischenzeitlich von den Kindern gebildeten Kreises. Fünf Minuten später schlüpfte eine verklärt lächelnde Alice in den Klassenraum und setzte sich zu ihrer Lesegruppe. Patty, die sich ganz auf das Lesespiel konzentrierte, bemerkte ihre Ankunft nicht. Sie hielt ein Bild und zeigte es den Kindern. „Was seht ihr auf diesem Bild?" „Einen Bauernhof, tönte es im Chor. Eifrig begannen die Kinder gruppenweise die für dieses Wort erforderlichen Buchstaben auszuwählen und sie in Gemeinschaftsarbeit in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen. , Währenddessen blickte Patty beunruhigt erst zur Tür und dann auf ihre Armbanduhr. Egal, wie die Entscheidung des Rektors ausgefallen war, Alice hätte längst zurück sein müssen. „Wir sind fertig", riefen die „Elefanten", und gleich darauf auch die „Eichhörnchen" und die „Tiger". Patty begutachtete die Werke ihrer Schützlinge, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Dann überzog ein Lächeln ihr Gesicht. „Kinder, wir haben Gesellschaft bekommen." Alle Augen wandten sich zur Tür, die Christopher hinter sich schloss. Im nächsten Moment stürmten die Kinder auf ihn zu. „Setzt euch im Kreis auf den Boden", rief Christopher. In seiner Stimme schwang ein Unterton von Panik mit, obwohl er sich dem Ansturm mutig entgegenstellte. Auf seinen Armen hielt er Mr. Wiggles, der leicht verängstigt auf die lärmende Meute hinabsah. Nur Patty verlor nicht die Ruhe. Sie schaltete das Licht aus. Sofort verstummte das Geschrei. Die Kinder ließen sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, legten den Zeigefinger auf den Mund und zischelten „Pst". Es klang wie das Pfeifen eines kochenden Wasserkessels. Dann wurde es still, Patty drehte das Licht wieder an. „Alles weitere überlasse ich dem erfahrenen Profi", sagte Christopher und überreichte ihr den Hund mit einer Geste, als handelte es sich bei ihm um eine lebendige Trophäe. „Ich spiele ab jetzt den Zuschauer." „Du hast doch nicht etwa Angst?" zog Patty ihn leise auf. „Schreckliche", flüsterte er mit einem jungenhaften Grinsen. Er setzte sich auf den harten Eichenstuhl hint er dem Lehrerschreib tisch. Den Kopf auf seine gefalteten Hände gestützt, beobachtete er, was nun folgte. In den kommenden zehn Minuten lernte er Patty Mallory besser kennen als sämtliche Frauen, mit denen er in den vergangenen Jahren ausgegangen war. Pattys Schützlinge fühlten sich zu ihr ebenso hingezogen wie er und suchten ihre körperliche Nähe. Kinder haben es da wesentlich leichter, dachte Christopher sehnsüchtig. Vielleicht liegt es an ihrer sanften Stimme und ihrem warmen Blick, rätselte er, dass man sich in ihrer Nähe so wohl fühlt. Statt einen Vortrag über den richtigen Umgang mit Haustieren zu halten, ermutigte Patty die Kinder, über eigene Erfahrungen mit Tieren zu berichten. Mr. Wiggles hatte mittlerweile seine Scheu verloren und schien sich im siebten Himmel zu befinden. Er raste ausgelassen in dem von den Kindern gebildeten Kreis herum, ließ sich streicheln, leckte zärtlich Gesichter und Hände seiner jungen Bewunderer und wedelte dabei unablässig mit dem Stummelschwanz. Fasziniert verfolgte Christopher, wie zwei Kinder ein dreifüßiges Gestell mit einer großen Tafel an den Rand des Kreises schleppten. Jedes Kind schrieb mit bunter Kreise ein Wort oder einen kürzen Satz auf die Tafel, der mit Haustieren und deren Pflege im Zusammenhang stand. Keiner der Schüler zögerte, keiner schien zu befürchten, sich vor seinen Mitschülern zu blamieren. Und Patty bestärkte die Kinder, einander zu helfen. Ein schlaksiger blonder Junge trat an die Tafel und nahm ein Stück rote Kreide. Offensichtlich bereitete ihm das Schreiben Schwierigkeiten, denn er malte die einzelnen Buchstaben mit beinahe quälender Langsamkeit an die Tafel. Der Junge erinnerte
Christopher an seine eigene Kindheit und rief ihm schmerzhafte Erfahrungen ins Gedächtnis, die er lieber für immer vergessen hätte. Damals hatte er ebenfalls vor einer Tafel gestanden und sich als völliger Versager gefühlt. Er war an der einfachen Aufgabe gescheitert, die auf der großen Haupttafel stehenden Sätze auf eine kleinere Wandtafel zu übertragen. Trotz größter Anstrengung war es ihm nicht gelungen, die einzelnen Buchstaben voneinander zu unterscheiden. Seine Hände waren feucht geworden, und er fühlte sich in einer ausweglosen Falle. Schließlich hatte er die Kreide in Stücke zerbrochen, um seine Unfähigkeit hinter Aufsässigkeit zu verbergen. Alles konnte er eher verkraften, als von seinen Klassenkameraden als Dummkopf abgestempelt zu werden. Er begann mit den Kreidestücken zu jonglieren und erntete mit diesem Spielchen großen Beifall bei seinen Mitschülern. Damit spornten sie ihn nur an, auch künftig den Klassenclown zu spielen, eine Aufgabe, die er mangels guter schulischer Leistungen besonders eifrig erfüllte. Christopher spürte, wie ihm nach fünfundzwanzig Jahren erneut der kalte Schweiß ausbrach. Sein Herz klopfte wie verrückt, und er fuhr so jäh hoch, dass der Stuhl lärmend zu Boden polterte. Das laute Geräusch ernüchterte ihn. Er zwang sich zur Ruhe, hob bedächtig den Stuhl auf und entschuldigte sich mit einem Lächeln für die Störung, wobei er sich wie ein kompletter Idiot vorkam. Dann verließ er eilends das Klassenzimmer. Patty richtete sich auf und blickte Christopher überrascht nach. Was war geschehen? Was bedeuteten sein unechtes Lächeln und die hastig gestammelte Entschuldigung? Missfiel ihm die Art ihres Unterrichts? - Nein, korrigierte sie sich. In seinen Augen habe ich nicht Missfallen gelesen, sondern tiefe Qual. Und seine sonst so harmonischen Bewegungen waren ungewohnt eckig gewesen, als er mit steifen Schritten zur Tür stakste. Irgendetwas schien ihn in Panik versetzt zu haben. Pattys Gedanken wurden von Michael unterbrochen, der ihr aufs Knie klopfte. Fragend drehte sie sich zu ihm um. „Mr. Wiggles läuft so komisch im Kreis. Wissen Sie, was das heißt?" „Nein", antwortete Patty wahrheitsgemäß. Michael klärte sie unverzüglich auf und regte an, was in einem solchen Fall zu tun war. „Es ist wohl besser, wenn du ihn nach draußen bringst", stimmte Patty seinem Vorschlag zu. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und klatschte m die Hände. „Zeit für die Malstunde. Jeder auf seinen Platz." Christopher stützte sich mit gekreuzten Armen auf das Steuerrad und atmete tief durch. „Feigling", murmelte er. Er hatte sich wie ein unreifes Kind benommen. Wie das Kind, das er vor vielen Jahren einmal gewesen war. Bisher erfolgreich verdrängte Gefühle hatten erneut von ihm Besitz ergriffen. Er spürte, wie ihm die Erinnerung an erlittene Kränkungen fast die Kehle zuschnürte. „Ich hasse die Schule", hörte er sich zu seinem Vater sagen. „Nie mehr gehe ich dorthin zurück." „Jedes Kind muss zur Schule gehen." Vor Christophers geschlossenen Augen erstand das Bild seines Vaters, wie er neben seinem Bett stand und ihn zum Aufstehen zu bewegen suchte. „Ich bin krank." „Schulkrank?" hatte der Vater ihn gefragt. „Ja." Christopher hatte sich verzweifelt bemüht, seine Tränen zurückzuhalten. „Ich verspreche dir, meine Junge, ab der vierten Klasse …." „Ab der vierten Klasse? Ich bin ja bereits in der ersten sitzen geblieben. In meiner Klasse bin ich der Längste und der Dümmste." „Du bist nicht dumm." „Warum können dann alle außer mir lesen und schreiben?" „Ich hatte in deinem Alter dieselben Probleme." Sein Vater zog die Bettdecke zurück. „Trotzdem bin ich nicht dumm, oder?"
„Nein, aber ich bin es. Ich werde nie so sein wie du, Dad." Christopher erinnerte sich, wie er sich zuerst gegen die Umarmung seines Vaters gesträubt hatte, der ihn jedoch fest an sich drückte. „Nie wird es mir wie dir gelingen, Rechtsanwalt zu werden." „Wenn das dein Wunsch ist, wirst du der beste Rechtsanwalt von St. Louis, das verspreche" ich dir." Manchmal hatte ihm die Liebe und Geduld seines Vaters geholfen, seinen Widerwillen gegen die Schule zu überwinden. An anderen Tagen wiederum konnte er seine Eltern davon überzeugen, dass er wirklich krank war. Ob Kopfschmerzen, Magenkrämpfe oder Atembeschwerden, stets erfand er neue Ausreden, um der Schule fernzubleiben. Einige Jahre später hatte sich die Prophezeiung seines Vaters bewahr heitet. Christopher gelang es tatsächlich, seine anfängliche Leseschwäche zu überwinden. Er lernte Lesen und Schreiben und verbesserte innerhalb kürzester Zeit seinen Notendurchschnitt erheblich. Später gehörte er sogar zu den Klassenbesten. Dann erst klärte ihn ein Arzt darüber auf, dass die frühere Leseschwäche rein biologische Gründe hatte. Es handelte sich um eine wachstumsbedingte Störung, die sich verlor und auf eine zu dünne Gewebeschicht zwischen Schädel und Gehirn zurückzuführen war, was eine vorüberge hende Einschränkung des Gesichtsfeldes zur Folge hatte. In den kommenden Jahren war er bemüht gewesen, das Vertrauen seines Vaters zu rechtfertigen. Er absolvierte High-School und College und schaffte den Sprung zur Universität, wo er Jura studierte. Beim erfolgreichen Abschluss seines Studiums hatte die Familie sein früheres Schultrauma längst vergessen. Christopher jedoch nicht. Trotz der zur Schau getragenen Selbstsicherheit gab es immer wieder Zeiten, in denen die alten Ängste erwachten und er ein Gefühl der Unzulänglichkeit verspürte. Erst nach dem Tod seines Vaters war ihm bewus st geworden, dass er sich zu schnell nach der Meinung anderer richtete. Seine Mutter sagte damals, auf seinen Vater bezogen: „Er wollte vor allem, dass du dich eigenständig entwickelst. Deshalb war er über deine Entscheidung, in seine Fußstapfen zu treten, nicht sehr glücklich. Er befürchtete nämlich, du wolltest ihm damit nur etwas beweisen, was er gar nicht verlangte. Jemanden wirklich zu lieben, heißt, ihn so zu akzeptieren, wie er ist. Im Grunde genommen wünschte er sich, du würdest genug Selbstvertrauen entfalten, deinen eigenen Weg zu ge hen." Daraufhin hatte er sich nach langen inneren Kämpfen dazu durchge rungen, aus der Kanzlei seines Vaters auszuscheiden und künftig wirklich nur noch zu tun, was ihm Spaß machte. Dass er mit seinen Unternehmungen bald ein Vermögen anhäufte, berührte ihn nicht besonders, auch wenn es andere zu beeindrucken schien. Christopher rieb sich die Stirn. „Jemanden wirklich zu lieben, heißt, ihn so zu akzeptieren, wie, er ist", murmelte er. Stand dieser unerwartete Anfall von Schulangst, den er erlitten hatte, in irgendeinem Zusammenhang mit seinem Bestreben, Patty zu erobern? War er etwa gar in seinen alten Fehler verfallen und hatte versucht, vor Patty zu brillieren und ihr zu imponieren? Und wenn ja, warum? Er betrachtete sich eingehend im Rückspiegel und konnte die Wahr heit in seinem Gesicht lesen. Abwehrend schloss er die Augen, was jedoch nicht verhinderte, dass sich ihm Pattys Bild aufdrängte. Er sah vor sich leuchtendblaue Augen, kastanienbraunes Haar und ein herzförmig geschnittenes Gesicht. Sah ihren Körper, der einen Mann zum Wahnsinn treiben konnte. „Patty Mallory", flüsterte er heiser. „Dem Klassenclown ist etwas Unvorstellbares passiert. Er hat sich in eine Lehrerin verliebt."
6. KAPITEL
Patty schloss die Tür des Lehrerzimmers und nickte Trudy lächelnd zu, die ebenfalls eine Freistunde hatte. Sie nahm gegenüber ihrer Freundin an dem großen, in der Mitte des Raums stehenden Tisch Platz und begann, mit einem Rotstift den mitgebrachten Stapel Hausaufgabenblätter zu korrigieren. „Hat dein verträumtes Lächeln mit dem gutaussehenden Burschen zu tun, den ich mit einem Hund auf dem Arm dein Klassenzimmer betreten sah?" erkundigte sich Trudy. „Bist du am Wochenende mit ihm ausge gangen?" „Ja und nein", antwortete Patty in der Reihenfolge der Fragen. „Wie ist dein Rendezvous mit George verlaufen?" „So lala." Trudy nahm ihrer Freundin den Rotstift aus der Hand. „Also keine Verabredung?" „Nein. Allerdings erzählte Christy heute, das ihre Mom am Samstagmorgen ein Baby bekomme n hat. Christopher enthielt sich jeder Erklärung über sein Schweigen am Wochenende, doch . . ." Patty schnappte sich ihren Rotstift und malte ein lachendes Gesicht auf das oberste Blatt Papier. „Sicher musste er auf Christy und ihre Geschwister aufpassen, während sein Schwager bei Shannon im Krankenhaus war." „Klingt einleuchtend. Was, zum Teufel, wollte er aber mit dem Hund in deinem Klassenzimmer? Für mich grenzt es an ein Wunder, dass er offensichtlich mit Leichtigkeit zwei von Phillips eisernen Gesetze n durchbrochen hat." Patty nickte. Sie hielt Christopher durchaus für fähig, Wunder zu vollbringen. Allerdings dachte sie dabei an andere Wunder als die von Trudy angeführten. Mittlerweile fand sie sogar seine Einladung nach Florida erwägenswert. „Würdest du deiner langjährigen Freundin erklären, was hinter deinem versonnenen Lächeln steckt?" „Sonne, Meer und Palmen." Patty gab das Korrigieren auf und legte den Rotstift beiseite. „Florida." Trudy musterte sie argwöhnisch. „Nun sag schon, was los ist, spanne mich nicht länger auf die Folter." Patty lächelte amüsiert. „Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir erzählte, dass Christopher Turner mich nach Florida . . ." Hastig beugte sich Trudy über den Tisch und hielt Patty den Mund zu. Sie wies mit dem Kopf auf die einen winzigen Spalt offen stehende Verbindungstür zum Büro. „Phillip", flüsterte sie. Patty lehnte sich vor und senkte ihre Stimme ebenfalls zu einem Flüstern. „Mich eingeladen hat, mit ihm nach Florida zu reisen." „Diese Einladung kannst du unmöglich annehmen." „Natürlich kann ich das." Trudy ließ sich gegen die Lehne ihres Stuhls fallen, als hätte sie einen Schlag gegen die Brust erhalten. „Nein, du bist nicht der Typ für eine kurze Affäre. Für dich kommt nur ein Mann in Frage, der es ernst meint." „Und das aus deinem Mund", protestierte Patty, die sich köstlich über Trudys entrüstete Miene amüsierte. „Dabei hast du mir noch am Freitag weiszumachen versucht, du zögest Kaviar und Champagner langweiliger Hausmannskost vor", stichelte sie. „Für dich ist Hausmannskost besser", wurde sie von Trudy belehrt. „Sei ehrlich, Trudy. Würdest du Christopher Turners Einladung ablehnen?" „Du meine Güte." Trudy fuhr sieh mit den Fingern durch das kurze Haar. „Vergiss, was ich je zuvor gesagt habe." „Warum?" „Weil dieser Kerl dir das Herz brechen wird." „Das ist biologisch unmöglich", erwiderte Patty, die den Wortwechsel außerordentlich genoss, spöttisch. „Herzen können nicht brechen."
Trudy stöhnte. „Diese Diskussion kommt mir völlig unsinnig vor." „Mir auch." „Du willst mich nur auf den Arm nehmen, habe ich recht? Du erwägst doch nicht ernsthaft, dich kopfüber in ein solches Abenteuer zu stürzen?" Patty warf einen Blick auf die Armbanduhr und sammelte ihre Blätter ein. „Ich muss zurück zu meinen lieben Kleinen." „Du wirst dieses Zimmer nicht eher verlassen, bis du meine Frage beantwortet hast." Trudy versperrte ihrer Freundin den Weg zur Tür. Patty wich ihr geschmeidig aus und öffnete die Tür. Als sie wenig später den Flur entlangging, summte sie fröhlich „Moon over Miami." „Wo habe ich sie nur hingetan?" murmelte Patty und durchsuchte erst ihre Handtasche und dann ihren Schreibtisch nach den Schlüsseln. Lächelnd sah sie zu Mr. Wiggles hinunter, der zusammengerollt auf dem Boden schlief, völlig ermattet von seinem ersten Schultag. „Du bist mir ja eine großartige Hilfe", sagte sie. Der Anblick des Hundes erinnerte sie schlagartig daran, dass sie Christopher ihren Schlüsselbund gegeben hatte. Und der hatte bei seinem überstürzten Aufbruch vergessen, ihn ihr zurückzugeben. „Prima. Am Freitag hatte ich Schlüssel, aber kein Auto. Heute ist es genau umgekehrt." Nun blieb ihr nur die Wahl, nach Hause zu laufen oder Christopher im Haus seiner Schwester anzurufen. Dann schon lieber letzteres. Sie öffnete das Klassenbuch und schlug das Namenverzeichnis der Schüler auf, das auch deren Adresse und Telefonnummer enthielt. Hastig schrieb sie Christys Nummer auf einen Zettel. Noch immer rätselte Patty, warum Christopher wie von Furien gehetzt das Klassenzimmer verlassen hatte. Dass er dabei nicht einmal mehr an ihre Schlüssel dachte, bestätigte ihre Vermutung, irgendetwas hätte ihn in eine Art Panik versetzt. Die Qual, die sie in seinen Augen zu lesen glaubte, war echt gewesen. Seine unerwartete Verletzlichkeit berührte Patty zutiefst, und sie empfand für ihn unwillkürlich das gleiche Mitge fühl, das sie sich sonst für besonders problematische Schüler aufsparte. Patty faltete den Zettel, vergewisserte sich, dass Mr. Wiggles noch selig schlummerte, und verließ das Klassenzimmer. Als sie das Büro betrat, legte Phillip gerade den Hörer auf. Er riss ein Blatt von dem rosafarbenen Notizblock und reichte es Patty. „Soeben rief Mr. Turner an. Er setzt sich jetzt ins Auto und bringt Ihnen den Schlüsselbund zurück." „Danke für die Erlaubnis, den Kindern meinen Hund zeigen zu dürfen." Phillips merkwürdiger Blick irritierte sie. Im Gegensatz zu sonst betrachtete er sie diesmal nicht so, als gehörte sie zum Schulinventar. Er lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und faltete die Hände vor der Brust. „Pädagogisch gesehen . . ." begann sie. „Was machen Sie an Thanksgiving?" unterbrach er sie. „An Thanksgiving?" Phillip lächelte sie an, was höchst selten geschah. „Am Truthahntag." Fieberhaft überlegte Patty, ob er von Christophers Einladung erfahren hatte. Kaum. Wieso musterte er sie dann mit diesem Blick, der gewöhnlich Priscilla vorbehalten war? „Ach, Thanksgiving." Verstohlen wischte sie ihre feuchte Handfläche an der Hose ab. Ich verbringe diesen Tag bei meiner Familie, hätte sie am liebsten geantwortet. Doch konnte man Christopher trotz seiner Ähnlichkeit mit Tom schwerlich als Familienmitglied bezeichnen. Sie schluckte die Lüge hinunter. „Ich habe noch keine festen Pläne." „Gut." Phillip beugte sich vor, und der Drehstuhl quietschte unter seinem Gewic ht. „Unverheiratete Mitglieder des Lehrkörpers fühlen sich an Feiertagen wie Thanksgiving oft sehr einsam." Sollte das vielleicht eine versteckte Einladung sein, diesen Tag mit ihm zu verbringen? Unbewusst trat Patty einen Schritt zurück. Und was ist mit Priscilla? hätte sie gern gefragt. „Ursprünglich lud mich Priscilla zum Thanksgivingdinner ein, doch sie musste kurzfristig
ihre Pläne ändern. Als einziges Kind durfte sie die Bitte ihrer Eltern nicht zurückweisen, die Ferien bei ihnen in Georgia zu verbringen." Und ich soll nun die Rolle der Lückenbüßerin spielen, dachte Patty grimmig. Seine Auserwählte hat ihn im Stich gelassen, deshalb sieht er sich nach einer anderen Köchin um. In ihrer ersten Wut wollte Patty behaupten, in ihren Herd würde kein Truthahn passen. Aber natürlich beherrschte sie sich wie immer und stammelte nur ein ziemlich schwachsinniges „Oh." Es war Phillip anzusehen, dass er mit einer solchen Antwort nicht gerechnet hatte. Verzweifelt blickte Patty zur Tür, in der Hoffnung, Christopher würde dort auf wundersame Weise erscheinen und verhindern, dass Phillip noch deutlicher wurde. Leider blieb die Tür geschlossen. Was hast du erwartet? schalt Patty sich insgeheim. Dass dein blonder Held zur Tür hereinreitet, dich auf sein Pferd hebt und aus Phillips Klauen rettet? Wahrscheinlich hast du in letzter Zeit zu viele alte Filme gesehen. „Ich weiß nicht, wie man einen Truthahn zubereitet", gestand ihr Phillip. „Ihre Truthähne sehen bestimmt ebenso lecker aus wie die in Feinschmeckermagazinen abgebildeten Fotos." Patty schmunzelte über die jähe Änderung seiner Taktik. „Sie gleichen eher den Fotos auf jenen Tiefkühlkostpackungen, die für unerfahrene Köche bestimmt sind." „Und wenn schon. Jeder des Lesens Kundige ist in der Lage, nach einem Rezept zu kochen." Er schien sie unbedingt festnageln zu wollen. Was nun? Sie konnte ihrem Vorgesetzten schlecht von ihren Plänen erzählen, eventuell ge meinsam mit Christopher Turner nach Florida zu fliegen. Sie entschied sich, es einmal mit Christophers Unverfrorenheit zu versuchen. „Dann dürfte es Ihnen doch nicht schwer fallen, ein exzellentes Dinner zu organisieren. An unserer Schule gibt es zahlreiche Singles. Ich denke dabei an Trudy, Claire ..." „Miss Tucker", warf Phillip mit grimmiger Miene ein. Ihr Vorschlag schien ihn wenig zu begeistern. „Richtig. Lizzy Tucker." Pattys blaue Augen funkelten. Miss Tucker war eine typische alte Jungfer. „Erinnern Sie sich noch an die köstlichen Schokoladenplätzchen, die sie zum diesjährigen Frühlingsfest gebacken hat? Sie ist eine hervorragende Köchin und könnte den Truthahn übernehmen, während die anderen sich um die Beilagen kümmern. Ich finde die Idee großartig. Die unverheirateten Lehrer unserer Schule feiern gemeinsam Thanksgiving." „Sie scheinen mich missverstanden zu haben, Patty." „Ja?" Sie sah ihn unschuldig an. „Aber Sie sagten doch, Sie würden Thanksgiving gern zusammen mit anderen einsamen Lehrern feiern. Was genau meinten Sie damit?" Sein Lächeln verriet, was ihm vorschwebte. Vergangene Woche hätte Patty seine Einladung wahrscheinlich noch angenommen. Nun konnte sie sich nichts Langweiligeres vorstellen als ein trautes Dinner mit Phillip. Hingegen würden einige gemeinsame Tage mit Christopher zweifellos ziemlich aufregend verlaufen. Davon war Patty fest überzeugt. Um sich Mut zu machen, holte sie tief Luft und sagte dann mit fester Stimme: „Danke für Ihr gut gemeintes Angebot. Leider muss ich es ablehnen." „Ablehnen?" Phillip zeigte sich regelrecht schockiert von ihrer Antwort. Hielt er sich etwa für unwiderstehlich? Er erhob sich und blickte auf sie hinunter. Patty wich vor ihm nicht zurück. Wusste sie doch genau, dass er sie gegen ihren Willen nicht einschüchtern konnte. Er trat einen Schritt näher, blieb dann aber stehen, als hätte er es sich anders überlegt. Er schien aus ihr nicht klug zu werden, wie sein Gesichtsausdruck deutlich machte. Unversehens drehte er sich um und setzte sich erneut hinter seinen Schreibtisch. Angesichts seiner Enttäuschung regte sich Pattys Mitleid, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Noch war es nicht zu spät, ihre Absage zu widerrufen. Nichts band sie an Christophers Einladung, die sie ebenfalls abgelehnt hatte. Möglicherweise bereute Christopher bereits sein Angebot und war deshalb so panikartig aus ihrem Klassenzimmer
geflüchtet. Mir egal, dachte Patty trotzig. Dann verbringe ich eben Thanksgiving allein. Unter gesenkten Lidern beobachtete sie, wie Phillip eine der auf seinem Schreibtisch liegenden Anwesenheitslisten überflog. „Momentan ist eine Grippewelle im Anzug", stellte er in gewohnt sachlichem Ton fest. Er schien nicht nachtragend zu sein, sondern war anscheinend mühe los wieder in seine Rolle als strenger aber gerechter Vorgesetzter geschlüpft. Bürokraten wie er unterschieden streng zwischen Privatleben und Beruf. Zu ersterem gehörte die Einladung zum Thanksgivingdinner, zum zweiten die Anwesenheitsliste. „Ja, Sir.« Ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Vergessen Sie nicht zu stempeln, Miss Mallory." Patty betrachtete sich als entlassen. „Bis morgen", sagte sie. Auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer lächelte sie vergnügt vor sich hin. Endlich einmal war es ihr gelungen, sich gegen Phillip zu behaupten. Übermütig stellte sie sich neben den ausgestopften Alligator, an dem sie sonst die Wachstumsfortschritte ihrer Zöglinge maß. Sie streifte die Slipper ab, fuhr mit der Hand über ihr Haar und presste die Finger gegen die Maßtabelle an der Wand. Einen Meter zweiundsechzig, las sie. „Selbstbewusstsein hat nichts mit Körpergröße zu tun", sägte sie halblaut. Momentan fühlte sie sich stark genug, die ganze Welt zu erobern. Schwungvoll betrat sie das Klassenzimmer, und Mr. Wiggles lief ihr schwanzwedelnd entgegen. „Tja, Mr. Wiggles." Sie hob den Hund hoch. „Ich habe mich nicht dazu missbrauchen lassen, für Philipp die Köchin zu spielen. Du solltest stolz auf dein Frauchen sein." Mr. Wiggles leckte ihr mit seiner Zunge die Wange. „Willst du zur Feier des Tages ein rohes Steak zum Abendessen?" fragte Patty lachend. Sie klemmte sich den Hund unter den Arm, zog ihre Stiefel an, na hm Mantel und Handtasche und verließ den Raum. „Nicht? Ach so, du willst lieber was Leckeres aus der Dose. Na gut, für dich gibt es Dosenfutter und für mich Kaviar und Champagner. Einverstanden?" Auf dem Gang durch den Flur zog Patty ihren Mantel an. Als sie am Portal stand, sah sie Christophers Wagen durch die Einfahrt fahren. Noch immer in Hochstimmung, rannte sie die mit Kies bestreuten Stufen hinunter. Während sie auf den Wagen zueilte, bemerkte sie, wie sich Christophers düstere Miene bei ihrem Anblick sofort aufhellte. Patty fühlte sich von seinem herzlichen Lächeln wie verzaubert und verlangsamte ihren Schritt. „Hallo! Danke, dass du mir den Schlüssel gebracht hast." „Gleichfalls hallo. Wie war dein Tag?" „Wundervoll", antwortete sie fröhlich. „Ich bin derzeit Chefkoch und Oberabwäscher in einem, da mein Schwager die meiste Zeit in der Klinik bei Shannon und dem Baby verbringt." Christopher ließ Pattys Schlüsselbund an seinem Zeigefinger baumeln. „Wir werden jetzt erst einmal dein Auto zu dir fahren", sagte er. „Und was machen wir hinterher?" Patty streckte die Hand nach dem Schlüsselbund aus. Obwohl schwere Schneewolken den Himmel verdunkelten, glaubte sie wieder Sonnenduft wahrzunehmen. „Hinterher beglücke ich dich mit einer meiner Spezialitäten." Er platzierte den Schlüssel auf der Innenfläche ihrer Hand und schaute Patty unverwandt an. Das Versprechen, das sie in seinen Augen las, regte ihre Vorstellungskraft in bezug auf seine Spezialitäten zu wilden Phantasien an. „Womit?" brachte sie mühsam hervor. Christopher hielt Pattys Hand fest und schloss ihre Finger nacheinander um den Schlüsselbund. Die Berührung mit seiner warmen Haut verursachte auf Pattys Haut ein angenehmes Prickeln.
„Mit Chili dogs." „Chili dogs?" wiederholte sie und ließ es zu, dass er sie an der Hand näher zu sich hinzog. „Wiener Würstchen, Chilisauce und Brötchen. Dazu gibt es Cola." In Pattys Ohren klang das wie Kaviar und Champagner. Sie wurden beide jäh aus ihrer Versunkenheit gerissen, als Mr. Wiggles mit einem kühnen Satz vo n Pattys Arm sprang. Christopher ließ ihre Hand los, schnellte geistesgegenwärtig nach vorn und fing den Hund auf. Mit einem Anflug von Neid beobachtete Patty, wie Mr. Wiggles ungeniert seine feuchte Schnauze an Christophers Wange presste. „Für dich Racker gibt es keine Chili dogs. Dich übergeben wir Christy." Patty lachte. „Sie wird ihn zerquetschen." „Nicht, nachdem sie heute Vormittag von dir alles Wissenswerte über den Umgang mit Haustieren erfahren hat." Christopher legte Patty seinen freien Arm um die Schulter und drückte sie leicht an sich. „Verschwinden wir lieber, bevor ich vergesse, wo wir uns befinden und wie kalt es hier draußen ist", flüsterte er. Eine Stunde später trank Patty genüsslich Kaffee, dessen Zubereitung ebenfalls zu Christophers Spezialitäten zählte. Er schmeckte nach Zimt, Zucker und Sahne und war mit einem Schuss Alkohol verfeinert, den sie nicht näher zu identifizieren vermochte. Das Getränk verursachte in ihrem Körper eine wohlige Wärme, die bis in die Zehenspitzen vordrang. Die vier Kinder hatten mit Appetit ihre Würstchen verzehrt und sich mittlerweile gemeinsam mit Mr. Wiggles ins Kinderzimmer verzogen. Vorher allerdings wurden die beiden Jungs von Christopher angehalten, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, was sie murrend taten. Patty nahm diese erzieherische Maßnahme wohlwollend zur Kenntnis, denn in ihrer Familie galt es als selbstverständlich, dass die weiblichen Familienangehörigen die Hausarbeit erledigten. Doch genoss Patty, die sich vor dem Kamin ausgestreckt hatte, momentan nicht nur den Kaffee, sondern vor allem Christophers Nähe. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag er mit geschlossenen Augen dicht neben ihr. Ein zufriedenes Lächeln huschte um seine Lippen. Sie drehte sich zu ihm um und betrachtete sein Gesicht. „Wann hast du dir das Nasenbein gebrochen?" „Mit zehn." „Beim Raufen?" „Nein. Ich bin mit dem Skateboard umgekippt." Er öffnete träge die Augen, nahm Pattys Hand und legte sie auf seine Brust. „Ich wollte vor meiner Lehrerin protzen." Patty fand sein selbstironisches Lächeln liebenswert. „Warst du in sie verknallt?" „Vielleicht." Christopher betrachtete das Spiel der Flammen in ihrem Haar. Sanft strich er ihr eine Locke aus dem Gesicht und rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Weich wie Seide, dachte er und ließ die kastanienbraune Locke durch seine Finger gleiten. „Dein Haar hat den gleichen rötlichen Schimmer wie das Kaminfeuer." Patty unterdrückte ihr Verlangen nicht länger, ihn zu berühren. Langsam fuhr sie mit dem Finger über den Höcker auf seiner Nase. Christopher stöhnte. „Seit ich dir zusah, wie du dich mit Christys Stiefel abmühtest, sehne ich mich danach, dich zu küssen. Richtig zu küssen, meine ich." Er zog mit dem Daumen erregende Kreise hinter ihrem Ohr. „Mit den Stiefeln von Christys Bruder", verbesserte Patty ihn automatisch. Das Atmen fiel ihr schwer, was anscheinend die Sauerstoffzufuhr in ihrem Hirn drosselte. Anders konnte sie sich ihr unverantwortliches Handeln nicht erklären. Jeden Moment konnte eines der Kinder ins Wohnzimmer stürmen, und ihr war das völlig egal. Erstmals in ihrem Leben ließ sie sich von ihren Gefühlen leiten. Sie wusste nicht genau, wie es geschehen war, aber plötzlich fand sie sich auf dem Rücken liegend wieder und spürte Christophers Mund auf ihren Lippen.
Christopher küsste sie wie ein erfahrener Genießer. Er ließ sich Zeit, obwohl es ihm schwer fiel. Spielerisch biss er Patty in die Unterlippe und strich mit der Zungenspitze darüber. Patty reagierte auf diese Herausforderung sofort und öffnete den Mund. Durch sein dünnes Baumwollhemd spürte Christopher, wie sich ihre Brustspitzen aufrichteten. Ein wenig zögernd ließ Patty ihre Zunge in seinen Mund gleiten. Sie schloss die Augen und erforschte mit den Fingern Christophers Gesicht, zog die Linie seiner Brauen nach und berührte die langen Wimpern. „Patty", flüsterte er rau. Ihre sanften Finger drohten seine guten Vorsätze zum Scheitern zu bringen. Vorsichtshalber rückte er mit dem Unterkörper von ihr ab. Sie erregte ihn so sehr, wie noch keine Frau zuvor. „Hm?" murmelte sie und erkundete mit ihren Händen seine Schultern, ertastete die harten Muskeln unter der straffen Haut. Christopher rollte sich mit Patty im Arm auf den Rücken. Die jähe Bewegung erschreckte sie, und sie öffnete die Augen. Erstaunt bemerkte sie sein belustigtes Lächeln. „Falls wir nicht aufpassen, hat Christy morgen in der Klasse interessante Neuigkeiten zu berichten", warnte er. Patty schien das nicht weiter zu erschüttern. „Zu Anfang des Schuljahres schließe ich mit den Eltern jeweils eine Art Pakt. Ich verspreche ihnen, nur die Hälfte dessen zu glauben, was mir ihre Kinder über sie erzählen. Dafür verlange ich, dass sie es mit den Schulberichten ihrer Kinder ebenso halten." Tapfere Worte, fand Christopher, doch war ihm nicht entga ngen, dass Patty ein wenig von ihm abgerückt war. Sein Blick heftete sich auf ihre Brüste, die sich unter dem Pulli abzeichneten. Christopher glitt mit seinen Händen unter den Pullover und strich mit den Fingern zart über Pattys erhitzte Haut. Sofort ließ sie die Arme sinken. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und streichelte mit der Hand über den blonden Flaum auf Christophers Unterarm. „Hör auf, oder ich kann für nichts mehr garantieren", stöhnte er heiser. Obwohl Patty aus Vernunftgründen hätte nicken müssen, schüttelte sie den Kopf. Sie genoss mit geschlossenen Augen, wie er mit kreisendem Daumen ihre Brustknospen rieb. Eine nie gekannte Lust erfasste sie, und sie zitterte am ganzen Körper vor Verlangen. „Öffne deine Lider, Liebes." „Um die Tür im Auge zu behalten?" fragte sie in einem letzten Anflug von Vernunft. „Nein. Lange bevor die Kinder hier aufkreuzen, höre ich ihre Schritte auf der Treppe. Aber ich möchte sehen, was du fühlst." „Dann schließe ich meine Augen besser wieder. Du treibst mich zum Wahnsinn." „Ich liebe deine Aufrichtigkeit." Er massierte fordernd ihre Brüste und hörte, wie sie einen sehnsuchtsvollen Laut ausstieß. „Du bist einfach perfekt", flüsterte er. „Soll das eine Beschwerde sein?" „Nein, nicht mal eine Schmeichelei, sondern eine schlichte Feststellung. Deine Brust passt genau in meine Hand." Der Verschluss ihres Büstenhalters bereitete Christopher wenig Mühe. Patty klammerte sich an seine Schulter, als sie seine Finger auf der nackten Brust spürte. Christopher rutschte nach hinten, bis er sich gegen das Sofa lehnen konnte. Dann zog er Patty rittlings auf sich und legte ihre Beine um seine Hüften. Er drückte sie fest an sich. „So", flüsterte er, „nun kommen wir einander schon etwas näher." Wilde Leidenschaft flammte in Patty auf, und sie presste den Mund auf seine Lippen, um die Begierde zu befriedigen, die sie schon seit Tagen quälte. Christopher erwiderte ihren Kuss voller Hingabe. Er spürte ihren heißen Atem und stieß mit der Zungenspitze in ihren Mund vor. Seine Zunge umschmeichelte ihre, lockte, forderte. Patty stöhnte vor Lust laut auf, und jäh wurde Christopher klar, dass er aufhören musste, wenn er sie nicht hier im Wohnzimmer auf dem Teppich lieben wollte. Er löste sich von ihr
und überschüttete ihr gerötetes Gesicht mit zärtlichen Küssen. „Nie hätte ich gedacht, dass mir so etwas passieren könnte", sagte er rau. „Ich benehme mich wie ein unerfahrener Teenager." „Normalerweise passiert es auch nicht auf diese Weise", entgegnete Patty spontan. Christopher nagte verspielt an ihrem Ohrläppchen und drückte einen Kuss darauf. Nur widerstrebend nahm er die Hand von ihrer nackten Brust und legte sie ihr um die Hüfte. „Es?" Erst da wurde Patty bewusst, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. Sie öffnete die Augen und blinzelte verwirrt. „Es." Liebe oder wie immer man das nannte, was sie gerade erlebte. „Ein vielseitig verwendbares Wort, dieses ,Es'. SF-Autoren bezeichnen so ihre Monster, Erfinder das, woran sie gerade arbeiten." Christopher lachte leise. „Und ungezogene Jungs prahlen damit. Hattest du ein bestimmtes ,Es' im Sinn?" „Du nimmst aber auch nichts ernst." „Ernst? Seit ich dich geküsst habe, bin ich total der Lust verfallen", zog er sie auf. Da es Patty unangenehm war, über die vielen Anwendungsmöglichkeiten von „Es" zu diskutieren, ging sie auf seinen Scherz ein. „Stimmt, du bist ja ein Lusttechniker. Oder gar ein Lustmolch?" „Keines von beiden." Christopher rappelte sich hoch und streckte Patty eine Hand entgegen. „Ich bin vor allem ein Faulpelz, was mich wieder an meine augenblicklichen Pflichten als Babysitter erinnert. Es wird Zeit, die Kinder ins Bett zu bringen. Darf ich dabei mit deiner professionellen Unterstützung rechnen?"
7. KAPITEL
Später, als Patty allein in ihrem Bett lag, zog sie die Daunendecke bis ans Kinn und starrte die Wand an. Dort findest du bestimmt keine Antwort auf deine Fragen, dachte sie und legte sich auf den Rücken. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, kurz vor einem Tobsuchtsanfall zu stehen? Warum verspürte sie den übermächtigen Wunsch, irgendetwas zu Bruch zu schlagen? Sie rollte sich auf den Bauch und schlug mit der Faust auf das Kopfkissen. „Was ist nur mit mir los?" murmelte sie. Genau das hatte sie sich bereits gefragt, als Christopher sie vor ihrer Haustür brav auf die Stirn geküsst hatte und dann schnell in sein Auto gestiegen war. Statt ihm dankbar zu sein, weil er sie zu nichts drängte, war sie tief enttäuscht gewesen. Dabei hatte sie doch immer von einer sich langsam entwickelnden Romanze geträumt. Bin ich frustriert? überle gte sie. Es war die einzig vernünftige Erklärung für ihr beinahe hysterisches Verhalten. Ganz sicher rührte das sonderbare Ziehen in ihrem Magen nicht von einer bevorstehenden Grippe her. War sie gar ein Opfer ihrer sexuellen Triebe geworden? Nie zuvor hatte sie sich den körperlichen Reizen eines Mannes gegenüber so empfänglich gezeigt. Ausgerechnet bei Christopher musste ihr das passieren. Bei einem verantwortungslosen Sunnyboy, der nur in den Tag hineinlebte. Dabei war sie bisher immer nur mit zuverlässigen Männern ausgegangen, die ihre Pflichten innerhalb der Gesellschaft ernst nahmen. Ausgegangen? Patty stellte überrascht fest, dass Christopher sich noch nie mit ihr verabredet hatte. Das Treffen am Freitag konnte man kaum als Verabredung bezeichnen. Vielmehr hatte er sie buchstäblich auf der Straße aufgelesen und heimgebracht. Am Wochenende hatte er sie ebenfalls um kein Rendezvous gebeten, und auch das heutige Zusammensein konnte man schwerlich ein Stelldichein nennen. Abgesehen von dem leider allzu kurzen Zwischenspiel am Kamin hatte er sie eigentlich stets mehr wie eine Schwester behandelt. Zornesröte überzog ihre Wangen, und sie schlug hitzig die Bettdecke zurück. Gleich darauf überlief Patty eine Gänsehaut, und sie begann vor Kälte zu zittern. Sogar meine Körpertemperatur spielt verrückt, dachte sie und wickelte sich wieder in die Decke. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich friere oder schwitze. Nur eines wusste sie mit Sicherheit: Sie sehnte sich nach Christopher, wünschte sich, in seinen Armen einzuschlafen. Da er es vorgezogen hat, heimzufahren, musst du eben ohne ihn einschlafen, ermahnte sie sich und schloss die Augen. Sofort sah sie vor sich das Bild eines blonden, braungebrannten Mannes, der sie betörend anlächelte und nach Sonne roch. . Bei dem Gedanken an seine gewissermaßen aus dem Ärmel geschüttelte Einladung nach Florida stöhnte sie erneut auf. Falls sie akzeptierte, schleppte er sie womöglich nach Disney World. Hieß es nicht immer, dass man dort auf seine Kosten kam, wenn man Spaß haben wo llte? Sie sah sich bereits schreiend in der Achterbahn sitzen, denn natürlich würde Christopher sich nicht mit einer Fahrt in der Bimmelbahn begnügen. Als sie vor vielen Jahren mit ihrer Familie in Disney World gewesen war, hatten ihre Geschwister sie überredet, mit ihnen in der abgedunkelten Geisterbahn zu fahren. Sie erinnerte sich, wie damals ihr Herz zu rasen anfing und sich gleichzeitig ihr Magen zusammenzog. Erzielte Christopher nicht denselben Effekt bei ihr? Es war nicht auszuschließen, dass ihr Trip nach Florida auf der Krankenstation endete. Eine keineswegs erfreuliche Vorstellung. Patty setzte sich auf und stützte den Kopf in beide Hände. Dank Christopher Turner war ihr wohlgeordnetes Leben innerhalb weniger Tage völlig aus den Fugen geraten. Wie sollte sie auch seinem jungenhaften Charme, seiner Beharrlichkeit und seiner sinnlichen Ausstrahlung widerstehen? Ganz zu schweigen von seinen Verführungskünsten und seinen
erfahrenen Liebkosungen. Sie hatte es satt, dauernd gegen ihre Gefühle anzukämpfen. „Lass dich treiben", murmelte sie. Damit zitierte sie einen ihrer Schützlinge. Er hatte diesen Rat einem Mitschüler erteilt, der gegen den Strom der hinausstürmenden Kinder noch einmal zurück ins Klassenzimmer drängte. Das Klingeln des Telefons schreckte Patty aus ihren Betrachtungen hoch. Sie blickte auf die roten Ziffern des Digitalweckers. So spät abends riefen ihre Freunde und Bekannten nur in dringenden Fällen an. „Hallo?" „Hallo, Patty. Habe ich dich etwa aus süßen Träumen mit niedlichen Abc-Schützen gerissen, die artig ihre Hausaufgaben lernen?" „Nein, Tom. Ich habe noch nicht geschlafen", sagte Patty. Sie hatte die Stimme ihres Bruders sofort erkannt. Sie machte sich nicht die Mühe, nach dem Grund seines späten Anrufs zu fragen. Tom benötigte keine Gründe, sondern handelte stets impulsiv. „Wie ist das Wetter in St. Louis?" „Eiskalt." Sein schadenfrohes Lachen klang in Pattys Ohren wie quietschende Tafelkreide. „Bevor ich nicht mein Flugticket nach Florida in Händen habe, ist das Thema Wetter für mich indiskutabel." „Um ehrlich zu sein, ich bin momentan nicht in Florida, sondern halte mich geschäftlich in North Dakota auf. Und deshalb rufe ich auch an. Ich habe eine Bitte an dich." Patty wappnete sich innerlich gegen das, was nun kommen würde. Ihr klapperten die Zähne, wenn sie an das Schneeloch North Dakota dachte. „Deine Bitten kenne ich zur Genüge. Deshalb sage ich im Voraus nein." „Nun warte doch erst mal ab, was ich von dir will." „Dass du ausgerechnet jetzt eine Bitte an mich hast, gibt mir Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen. Ich weigere mich, die Thanksgivings-Ferien in North Dakota zu verbringen, falls das der Grund deines Anrufs ist." „Du würdest eine tolle Gelegenheit verpassen, und das täte mir leid für dich." Patty schwieg. Sie fragte sich, was Tom damit meinte. „Bist du noch da?" erkundigte er sich, nachdem einige Sekunden verstrichen waren. „Ja, ich bin noch hier, und da bleibe ich auch." „Mittwoch ist dein letzter Schultag, richtig?" „Nein. Wieso? Habe ich etwas Wichtiges versäumt?" „Wegen Truthahnknappheit fällt in diesem jähr das Thanksgivings-Fest in St. Louis aus. Die großen Truthähne sind alle nach North Dakota abgewandert." Tom lachte leise. „Typisch Patty. Immer einen Scherz auf den Lippen. Du hast zwar eine scharfe Zunge, aber in Notzeiten kann man auf dich zählen." „Diesmal nicht. Ich bleibe bei meinem Nein." „Und wenn ich dir sage, dass ich deinen Traummann getroffen habe?" Nun musste Patty lauthals lachen. Ihren Traummann hatte sie bereits gefunden, allerdings nicht in North Dakota. „Tatsächlich?" „Er sieht wie ein echter Cowboy aus, groß und überaus männlich. Es handelt sich um einen einsamen Witwer, einen Viehzüchter." „Einen Witwer mit zehn Kindern. Habe ich recht?" Tom schien von der Idee besessen zu sein, dass sie ihr Lehrerinnendasein als Vorbereitung für ihre spätere Aufgabe als Mutter einer großen Kinderschar auffasste. „Nein, mit zwei." „Danke, dass du so sehr auf mein Wohl bedacht bist, Tom, doch ich bin nicht interessiert." „Na gut. Wie wäre es dann mit einem untersetzten Kaufhausbesitzer mittleren Altes ohne Kinder?" . „Liebes Bruderherz, wann begreifst du endlich, dass ich durchaus in der Lage bin, mir selbst einen Mann zu suchen. Ich bin nicht auf die Kupplerdienste meines großen Bruders angewiesen."
„Ich bemühe mich doch nur, einen Mann zu finden, der wirklich zu dir passt", erwiderte Tom. Er schien über ihr mangelndes Interesse an seinen gut gemeinten Vorschlägen leicht gekränkt zu sein. „Schließlich möchte ich dich nicht als alte Jungfer enden sehen." Das klang, als würde er Mitleid mit ihr empfinden. Pattys Selbstbewusstsein begann zu schrumpfen. „Lass das nur meine Sorge sein." „Nun sei nicht gleich eingeschnappt." „Wer ist hier eingeschnappt?" fragte sie spitz. „Ich finde den Richtigen auch ohne deine Hilfe?" , „Wie gut, das zu wissen." „Um ehrlich zu sein, Tom, ich habe jemanden kennen gelernt, den ich sehr mag." Patty machte eine kleine Pause und fuhr vergnügt fort: „Übrigens ist er dir ziemlich ähnlich, wesensmäßig meine ich. Er könnte dein blonder Zwillingsbruder sein." Eine Weile blieb es still. Anscheinend hatte es Tom die Sprache verschlagen, was Patty schmunzelnd zur Kenntnis nahm. „Tja, großer Bruder, nun weißt du also, weshalb ich Thanksgiving nicht mit dir feiern will. Er und ich fliegen für ein paar Tage nach Florida." „Nun mal langsam, Patty. Du solltest mit diesem Mann nirgendwohin verreisen, bevor nicht einer von uns ihn - ihn . . ." „Ja?" fragte sie zuckersüß. „Verdammt, Patty. Ich finde es zwar schmeichelhaft, dass meine kleine Schwester sich in jemanden verliebt hat, der sie an mich erinnert. Trotzdem solltest du vorsichtig sein und nichts überstürzen." „Keine Sorge, Tom, ich kann auf mich selbst aufpassen." „Ich könnte dir verbieten, mit ihm zu verreisen", knurrte Tom. Anscheinend war er wirklich beunruhigt. Patty quittierte seine Drohung mit einem lauten Lachen. „Deine plötzliche Halsstarrigkeit versetzt mich in Erstaunen", spottete er. *Was ist mit der sanftmütigen, stets auf Ausgleich bedachten Patty Mallory geschehen?" Unwillkürlich verspürte Patty heftige Schuldgefühle. Sie hatte an diesem Tag schon zwei Leute vor den Kopf gestoßen. Sogar drei, wenn sie Phillip dazurechnete. Jäh hörte sie zu lachen auf. Vier Leute, verbesserte sie sich, denn sie hatte sich selbst vergessen. Wer hätte je geglaubt, dass Patty Mallory es fertig brachte, am laufenden Band Leute zu schockieren. „Irgendwann wird jeder einmal erwachsen und entzieht sich dem Einfluss seiner Familie", rechtfertigte sie sich. „Bei manchen dauert es eben etwas länger." „Heißt das, dass du künftig nicht mehr bereit bist, dich für deine Brüder und Schwestern aufzuopfern?" fragte Tom sarkastisch. Einen Augenblick war Patty wie vom Donner gerührt. Sie, das Opferlamm in der Familie? War das die Rolle, in der sie ihre Geschwister sahen? Rasende Wut erfasste sie. „Ich - ich . . ." stammelte sie und suchte nach Worten. „Ich nehme alles zurück, Patty", entschuldigte sich Tom hastig. „Mach, was du für richtig hältst. Die Halsstarrigkeit, von der ich vorhin sprach, beweist nur, dass du Rückgrat hast. Ich bin überzeugt, dass du am besten weißt, welcher Mann zu dir passt." Was für ein überraschender Rückzieher. Patty glaubte sogar, aus Toms Stimme einen respektvollen Unterton herauszuhören. Das stimmte sie sofort milder. „Du bist doch nicht sauer, weil ich dir zuliebe nicht meine Pläne geändert habe?" „Sauer?" wiederholte er verwundert. „Keineswegs. Ich dachte nur, es würde dir vielleicht Spaß machen, ein paar Tage hierher zu kommen." „Spaß", wiederholte Patty und fragte sich, ob die ganze Welt sie für einen tödlichen Langweiler hielt. „Da möchte jemand anrufen. Gilt das dir oder mir?" erkundigte sich Tom unvermittelt.' „Mir." „Mach's gut. Ich liebe dich." „Ich dich auch."
Patty drückte auf die Gabel und sah auf die Uhr. Zwei Anrufe so spät abends? Ihr Leben wurde ja richtiggehend aufregend. „Hallo?" „Hallo hier ist Christopher. Hoffentlich hast du noch nicht geschlafen." Er lag in seinem Bett in Shannons Gästezimmer, und ihm war klar geworden, dass er unmöglich einschlafen konnte, ohne nochmals mit Patty gesprochen zu haben. Sein Mund schmeckte nach ihren Lippen, und er sehnte sich danach, sie im Arm zu halten. Hoffentlich war sie ebenso ruhelos wie er. Patty sah durch die geöffnete Schlafzimmertür. Christophers Stimme klang so nah, als hätte er sich nebenan im Wohnzimmer befunden. Ob ihm die Ohren geklungen haben? dächte Patty, während sie sich des Gesprächs mit Tom erinnerte. „Nein. Ich telefonierte gerade mit dem schwarzen Schaf der Familie Mallory." „Jenem, das mir ähnelt?" „Ja, mit Tom." „Und wie ist eure Unterhaltung verlaufen? Erfreulich oder unange nehm?" „Ausnahmsweise einmal erfreulich. Er steckt momentan in North Dokota und bat mich, dort Thanksgiving mit ihm zu feiern." „Und das nennst du erfreulich?" Ihn überkam eine tiefe Enttäuschung. Am nächsten Tag kehrte seine Schwester aus dem Krankenhaus zurück, und damit war seine vorübergehende Tätigkeit als Babysitter beendet. Er musste nur noch einige geschäftliche Dinge erledigen und wollte hinterher seine ganze Energie darauf verwenden, Patty für sich zu gewinnen. Patty war seine Bestürzung nicht entgangen. Offensichtlich benagte ihm Toms Einladung nicht. Patty lächelte glücklich, rollte sich auf die Seite und klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter. „Ich habe abgelehnt." „Genau das wollte ich hören", erklärte Christopher begeistert. „Wirklich?" Pattys Herz schlug schneller. Nun bot sich Christopher eine gute Gelegenheit, seine Einladung nach Florida zu wiederholen. Würde er sie nutzen? Hoffentlich stand er noch zu seiner früher geäußerten Behauptung, generell ein Nein als Antwort nicht zu akzeptieren. „Meine Schwester bat mich, dich an Thanksgiving zu ihr einzuladen." Wütend auf sich selbst schnitt Patty eine Grimasse. Christopher hatte also beschlossen, Florida nicht mehr zu erwähnen. Was für eine Närrin war sie gewesen, sein Angebot so barsch abzulehnen. „Aber ich ziehe ein Truthahnpicknick am Strand einer Feier im trauten Familienkreis vor", fuhr Christopher fort. Patty wurde leicht schwindlig. „Ja, ich fliege nach Florida", sagte sie, ohne seine Frage abzuwarten. „Mit mir?" Er schien entzückt zu sein. „Natürlich", rief Patty und hätte am liebsten die ganze Welt umarmt. „Ausgezeichnet." Christopher wollte ihr keine Zeit für einen eventuellen Rückzieher geben und überschüttete sie mit einem Wortschwall. „Ich . bereite alles vor, damit wir am Mittwochabend fliegen können. Du brauchst dich um nichts zu kümmern." Schnell wechselte er das Thema. „Übrigens benötige ich deinen fachmännischen Rat. Christy bat mich, morgen wegen der Ankunft des Babys zu Hause bleiben zu dürfen. Die Schule ist zwar wichtig, aber . . ." „Shannon wäre es vielleicht ganz lieb, wenn sie nicht gleich von allen vier Kindern an der Tür empfangen würde. Falls Christy die Schule schwänzt, wollen es die anderen sicher auch. Erinnere sie doch daran, dass morgen der Wettbewerb beginnt", empfahl ihm Patty und hoffte, dass er mit diesem Hinweis Christy für den Schulbesuch motivieren konnte. „Mache ich. Da ist noch was. Sie hat eine lange Liste mit Namensvorschlägen für Mr. Wiggles zusammengestellt. Sie findet Benno am schönsten und warf mir ein Kissen an den Kopf, als ich Promy empfahl, eine Abkürzung für Promenadenmischung." „Richte ihr meinen Dank aus. Ich käme mir ziemlich albern vor, wenn ich vor meiner
Haustür stände und, Hierher, Promy' riefe." „Nun ja, vielleicht wäre für einen Lehrerinnenhund ein geschichtsträchtiger Name passender", räumte Christopher ein. „Was hältst du von Cicero oder Cäsar." Er lehnte sich entspannt gegen das Kopfkissen und berauschte sich an Pattys melodischem Lachen. Wenn ich das Gefühl in Flaschen abfüllen könnte, das ich allein beim Zuhören verspüre, würde ich ein Vermögen verdienen, ging es ihm durch den Kopf. Erschloss die Augen und entwarf in seiner Phantasie den für ein solches Produkt werbenden Fernsehspot. Angetan mit einem cremefarbenen Spitzennachthemd räkelte sich Patty auf einem weißen Satinlaken, das kastanienbraune Haar auf dem hellen Stoff ausgebreitet. Man sollte nur ihr sinnliches Lachen und den Namen des Produkts hören. Christopher blinzelte, und das Bild verschwand. Nie hätte er die Zustimmung zu einem solchen Spot gegeben, denn er wollte Pattys Schönheit nicht mit anderen teilen. „Trägst du dein hochgeschlossenes Flanellnachthemd mit den zarten Stickereien?" erkundigte er sich. „Nein, das hat Mr. Wiggels sich zu seiner Lagerstatt erkoren." Patty erinnerte sich plötzlich ihrer Pflichten. „O nein. Soeben fällt mir Mr. Wiggles ein. Hunde können sich schlecht allein verpflegen, soweit ich weiß. Wohin mit ihm während des Floridatrips?" Christopher, der sich gerade ausgemalt hatte, wie er seinen Kopf an Pattys Nachthemd schmiegte, fühlte sich leicht ernüchtert. „Ich kümmere mich um alles." Um Mr. Wiggles, Tom, sogar um den gesamten Lehrkörper, wenn es notwendig ist, fügte er im Stillen hinzu. Wichtig ist nur, dass Patty mit mir nach Florida reist. Daran, dass ihr jemand die Verantwortung abnahm, war Patty nicht gewöhnt. Ihre Geschwister, Freunde und Bekannten verließen sich bei auftretenden Problemen stets auf sie. Es war ein wunderbares Gefühl, sich einmal von anderen verwöhnen zu lassen. Sie musste nur aufpassen, dass es ihr nicht zur Gewohnheit wurde. Zufrieden kuschelte sie sich in ihr Kissen und unterdrückte mit der Hand ein Gähnen. „Tauchst du morgen auch wieder unvermutet aus dem Nichts auf?" fragte sie versonnen und glaubte Christopher antworten zu hören: „Ich werde immer dort sein, wo du mich benötigst." Doch sie war sich nicht sicher, ob sie sich seine Worte nur einbildete, denn er gähnte ebenfalls. „Gute Nacht, Darling", sagte er. „Gute Nacht." Glücklich lächelnd legte Patty den Hörer auf.
8. KAPITEL
„Wir zwei gehen heute Nachmittag einkaufen", verkündete Trudy im Lehrerzimmer. Um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, nahm sie Patty die Schulhefte aus den Händen und stopfte sie in das Fach ihrer Freundin. „Keine Widerrede." Patty nahm die Hefte wieder heraus. Dabei fiel ein rosa Zettel zu Boden. „Zwar habe ich auch einen Einkaufsbummel geplant, doch vernachlässige ich deswegen nicht meine Arbeit." „Ich werde die Hefte für dich korrigieren", sagte Trudy und bückte sich, um den Zettel aufzuheben. Ohne die geringsten Skrupel las sie die zwei Zeilen, die Phillip mit einem roten Markierungsstift umrandet hatte. „Dein blonder Freund legt vielleicht ein Tempo vor", murmelte sie und reichte Patty den Zettel, wobei sie mit dem Daumen auf eine kleine Zahl in der oberen Ecke wies. „Sieh mal, Phillip zählt unsere privaten Anrufe mit. Er hätte Statistiker statt Lehrer werden sollen." Patty beunruhigte viel mehr, dass Phillip Christophers Nachricht gelesen hatte. Mochte der Rektor auch ein nüchterner Bürokrat sein, so fühlte er sich möglicherweise doch in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt, weil Patty seine Einladung zugunsten eines anderen Mannes abgelehnt hatte, und ließ sie das bei nächstbester Gelegenheit spüren. Die Botschaft war kurz und bündig: Die Floridareise ist gebucht. Bitte ruf mich an. Schon am Morgen hatte Patty nicht verhindern können, dass Christy vor versammelter Klasse stolz verkündete, während der Floridareise ihrer Lehrerin den Hund hüten zu dürfen. Gottlob kamen ihre Schüler nicht auf die Idee, zwischen Christophers Bräune und Florida einen Zusammenhang herzustellen. Phillip hingegen würde nicht so naiv sein, dessen war sie sicher. Patty faltete den Zettel und steckte ihn in die Tasche. „Was hast du?" wollte Trudy wissen, als sie Pattys Stirnrunzeln bemerkte. „Es müsste erlaubt sein, einigen Leuten Maulkörbe anzulegen. Jetzt verstehe ich auch, warum ich heute beim Mittagessen so viele neugierige Blicke erntete. Vom Hausmeister angefangen bis hinauf zum Rektor scheint jeder über meinen Floridatrip Bescheid zu wissen." „Na und?" „Meine Abc-Schützen mögen zu klein sein, eins und eins zusammenzuzählen, nicht aber die Erwachsenen. Kennst du nicht das Kleingedruckte auf der Rückseite unserer Anstellungsverträge? Unter anderem steht dort etwas von .moralischer Diskretion'." Trudy machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist wie mit der so genannten Insubordinationsklausel. Wenn du Phillip im Beisein anderer eine Ohrfeige gibst, verhältst du dich aufsässig. Versetzt du ihm hingegen unter vier Augen einen Tritt gegen das Schienbein, steht sein Wort gegen deines. Solange du nicht im Aufklärungsunterricht Pornofilme vorführst, wird man dir kaum vertragswidriges Verhalten zur Last legen." Patty lachte über den Vergleich ihrer Freundin. „Dein loses Mundwerk wird dich noch mal in Schwierigkeiten bringen", prophezeite sie. „Am besten schenke ich dir zu Weihnachten einen Maulkorb." „Einen rosafarbenen, wenn ich bitten darf", scherzte Trudy und fügte dann mit einem frechen Lächeln hinzu: „Da wir gerade bei rosa sind. Ich habe bei Saks in der Auslage einen tollen pinkfarbenen Badeanzug gesehen. Fangen wir mit unserem Einkaufsbummel also gleich bei Saks an." „Ich muss vorher noch zu Ted." Trudy verzog das Gesicht zu einer Grimasse und stöhnte. „Falls ich mit dreißig graue Haare habe, ist es allein deine Schuld, Patty. Ruf Ted an und verschiebe deinen Besuch auf morgen." „Ted braucht mich. Ich kann nicht. . ." „Ja, ja, ich weiß, du empfindest deinen Job als Berufung. Diese Leier kenne ich bereits
auswendig." Trudy abriete tief durch. „Die Läden schließen um neun. Wann treffen wir uns?" „Um sieben." „Da bleiben uns nur noch zwei Stunden." „Das sind eineinhalb Stunden zuviel für mein schmales Budget." Patty lachte. „Ich dachte, wir veranstalten eine Kauforgie." „Daran erkennt man das Einzelkind. Weihnachten steht vor der Tür. Wenn man wie ich eine große Familie hat, geht das immer ganz schön ins Geld." „Dafür bringt dir der Weihnachtsmann auch jede Menge Geschenke", erwiderte Trudy nicht ganz ohne Neid. „Von wegen. Außer Tom leben meine Geschwister in ähnlichen finanziellen Verhältnissen wie ich. Deshalb habe ich ihnen strikt untersagt, mir etwas zu schenken." Trudy nannte sie zwar diesmal keine gutmütige Närrin, aber ihre Miene sprach Bände. Sie packte Patty am Arm und zog sie zur Tür. Während sie gemeinsam den Flur entlanggingen, sagte sie: „Ich weiß, du sparst das Wenige, das dir bleibt, für schlechte Zeiten. Trotzdem solltest du dir hin und wieder eine kleine Freude gönnen. Und heute fangen wir damit an." Schon öffnete Patty den Mund zum Widerspruch, dann besann sie sich eines Besseren. Sie beschloss, mit Trudy wie mit ihren Geschwistern zu verfahren, wenn sie zu diktatorisch wurden. Schweigend zuhören, gelegentlich nicken und letztendlich doch tun, was sie, Patty, für richtig hielt. Nicht nur Ted erwartete sie, sondern auch Mr. Wiggles, der hungrig war und sich auf einen kleinen Spaziergang mit ihr freute. Hinterher wollte sie noch einen Happen essen und dabei einige Hefte korrigieren. Die Freundinnen überquerten den Parkplatz und gingen zu ihren nebeneinander stehenden Autos. „Wir treffen uns um halb sechs bei Saks, hast du verstanden?" befahl Trudy mit einer Stimme, die jedem Feldwebel auf einem Kasernenhof zur Ehre gereicht hätte. Patty kommentierte es mit einem Lächeln und stieg in ihren Wagen. Sie ließ den Motor an und hupte kurz. Als Trudy zu ihr hinblickte, hob Patty sieben Finger und lenkte dann ihr Auto in Richtung Ausfahrt. Sofort hupte Trudy wie wild und zeigte ihr fünf Finger. Patty schüttelte den Kopf und fuhr davon. Vor Teds Haus angekommen, wurde Patty plötzlich bewusst, dass sie diesmal nicht das übliche schlechte Gewissen quälte, obwohl sie sich Trudys Wünschen hartnäckig widersetzt hatte. Sie kam sich beinahe heldenmütig vor. Irgendwie war mit ihr in den letzten Tagen eine Veränderung vorgegangen, und sie scheute nicht wie früher vor Auseinandersetzungen generell zurück. Kein Wunder, dass Trudy vor Überraschung den Motor abge würgt hatte. Beschwingten Schrittes eilte Patty die Stufen der georgianischen Villa hinauf und klingelte forsch an der Tür. Christopher wählte nun zum zehnten Mal innerhalb kurzer Zeit Pattys Telefonnummer. Er ließ es achtmal klingeln und legte resigniert auf. Wo steckte sie nur? Die Schule endete bereits um halb vier, und sie benötigte mit dem Auto höchstens zehn Minuten nach Hause. Wieso meldete sie sich dann nicht? Patty musste doch wissen, wie sehr er auf ihren Anruf wartete. Oder hatte sie seine Nachricht gar nicht erhalten? Während er mit langen Schritten das Wohnzimmer durchquerte, klingelte es an der Tür. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Wie schön. Statt anzurufen war sie persönlich gekommen. Mit strahlendem Gesicht eilte er zur Tür und riss sie auf. Sein Lächeln war wie weggewischt. „Hallo, Onkel Christopher. Ist Mom schon daheim?" Ohne seine Antwort abzuwarten, entledigte sich Christy in Windeseile ihres Schulranzens und raste die Treppe hinauf, bevor Christopher sich von seiner Enttäuschung erholen konnte.
Obwohl er Christys augenblickliches Desinteresse an ihrem Lieblingsonkel durchaus verstand, vermisste er die herzliche Umarmung, mit der sie ihn sonst stets begrüßte. „Deine Mom ist oben, gemeinsam mit einigen Besucherinnen", sagte er, als sie ihn längst nicht mehr hören konnte und schloss die Haustür. Mit Christophers Laune stand es nicht zum besten. Seit seine Schwester mit dem Baby das Haus betreten hatte, sah er sich unfreiwillig in die Rolle des Familienbutlers gedrängt. Shannons zahlreiche Besuche rinnen schenkten ihm ein huldvolles Lächeln, wenn er ihnen auf ihr Klingeln öffnete, und ließen sich dann von ihm eilends in den ersten Stock führen, um Mutter und Kind ihre Aufwartung zu machen. Geraume Zeit später kehrten sie dann mit einem gerührten Lächeln zurück, und er durfte sie hinausbegleiten. Jede Frau lächelte so selig, als handelte es sich bei ihr um die junge Mutter. Eine ältere Dame hatte sogar die Frechheit besessen, ihm die Wange zu tätscheln und zu behaupten, das Baby sähe ihm ähnlich. Daraufhin unterzog Christoph bei seiner nächsten Besucherinnenführung den kleinen Jason einer genaueren Musterung. Er fand nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen ihm und sich. Den seiner Meinung nach etwas eierförmigen Kopf des Babys bedeckte ein gelber Flaum, und als es heftig zu schreien anfing, färbte sich sein Gesicht knallrot. Weder verstand Christopher, was die anwesenden Damen so sehr an dem Kind entzückte, noch betrachtete er die Bemerkung der älteren Dame als Kompliment. Wenigstens findet Christy ohne meine Hilfe den Weg nach oben, dachte Christopher und rieb sich die Oberschenkel. Mindestens vierzigmal, wenn nicht mehr, war er schon diese Treppe hinaufgestiegen. Einmal, als er infolge eines beinahe hordenmäßig einfallenden Besucherstroms atemlos zwischen Shannons Zimmer und der Haustür hin und her hetzte, erwog er sogar, den Weg nach oben mit gelben Wegweisern zu kennzeichnen. Christopher lugte vorsichtig durchs Fenster, ob neue Gratulanten ins Haus standen. Da der Vorgarten leer war, eilte er in die Küche und wählte erneut Pattys Nummer, die er mittlerweile auswendig kannte. „Nimm ab", flüsterte er ungeduldig. Nach dem neunten Klingeln legte er verärgert auf. Er hörte Christy mit schlürfenden Schritten die Treppe herunterkommen und ging ihr entgegen. „Wenn du ein so langes Gesicht machst, kann es passieren, dass du dir versehentlich auf die Unterlippe trittst", scherzte er, umarmte sie und hob sie hoch. „Eine von Moms Besucherinnen sagte, ich hätte Bazillen, und sie scheuchte mich aus dem Zimmer." Christy zeigte ihm ihre nicht ganz sauberen Handflächen. „Die müssen aber ganz winzig sein, weil ich sie nicht sehe." Christopher machte ein todernstes Gesicht. „Lass mich deine Hände mal mit meinen Röntgenaugen untersuchen." Er heftete den Blick auf ihre Hände. „Hm." „Viele?" Christy schnitt eine Grimasse. „Unmengen." „Und was machen wir dagegen, Herr Doktor?" fragte Christy, die Spaß an dem Spiel fand. „Wir warten, bis alle Besucher gegangen sind. Ich glaube, sobald sie weg sind, sind wir auch die Bazillen los." „Meinst du wirklich?" erkundigte sich Christy mit aufrichtiger Besorgnis. Christopher drückte das kleine Mädchen fest an sich. „Wir waschen deine Hände gründlich und spülen alle Bazillen ab. Einverstanden?" „Du bist der beste Onkel der Welt." Christy strahlte ihn an und gab ihm einen feuchten Kuss. „Ich mag dich schrecklich gern." Die Prozedur des Händewaschens lockerte Christopher mit clownesken Einlagen auf, um seine Nichte aufzuheitern, was ihm auch gelang. Ihm war klar, dass in dieser Situation, wo jeder von dem Baby schwärmte, Christy und ihre Geschwister besonders viel Liebe benötigten. „Was hältst du davon, wenn wir uns beide jetzt ein Eis genehmigen?' fragte er und ging zur Tiefkühltruhe.
„Vor dem Abendessen?" „Wieso? Mag dein Magen nur zu bestimmter Zeit Eis?" „Nein. Eis mag er immer", versicherte sie ihm eifrig. „Glaubst du, deine Eltern halten gefrorene Milch, Eier und Zucker für ungesund?" Lächelnd zog Christy sich einen Stuhl heran und kletterte darauf, um einen besseren Überblick über die Küche zu gewinnen. „Sieh mal, Onkel Christopher, dort steht ein Schokoladenkuchen, den eine Frau mitge bracht hat. Sicher besteht er ebenfalls aus sehr nahrhaften Zutaten." „Aus Mehl, Eiern und Milch." Und Schokolade und noch mehr Zucker, fügte Christopher in Gedanken hinzu. Shannon hätte ihm eine ausgiebige Strafpredigt gehalten, wenn sie ihn hätte hören können. „Gut. Du schneidest den Kuchen, und ich kümmere mich um das Eis. Schneide auch für deine Geschwister ein Stück ab. Sie werden bald kommen." Er streifte mit seinem Blick das Telefon und schüttelte den Kopf. Es war wohl besser, die Reservierung bei Tony abzusagen. Also kein exklusives Dinner mit Patty an diesem Abend. Er musste sich notgedrungen um seine Schützlinge kümmern und dafür sorgen, dass sie sich nicht vernachlässigt fühlten. Patty hielt Trudy ein winziges Stück Stoff unter die Nase, an dem einige dünne Bänder hingen. „Tragen Frauen so etwas tatsächlich in der Öffentlichkeit?" fragte sie. „Dieser hier ist viel zu groß für dich." „Größe zweiundvierzig", sagte Patty nach einem Blick auf das Schild. „Könntest du mal schauen, ob du den gleichen Badeanzug in achtund dreißig findest?" „Die Farbe steht dir nicht", behauptete Trudy. „Wer sagt denn, dass ich ihn kaufe. Der Designer dieses zarten Gebildes scheint dem Motto .weniger ist mehr' zu huldigen." „Diese Minibikinis sind momentan bei Gymnasiastinnen und Collegestudentinnen der letzte Schrei", klärte Trudy ihre Freundin auf. Sie ging zu einem anderen Ständer mit Einteilern und sah ihn durch. „Aha. Hier hängt etwas für dich. Fischnetzbadeanzüge sind dieses Jahr groß in Mode." „Fischnetz nennst du das? Durch diese Löcher kann sogar ein Hai mühelos entwischen", witzelte Patty. „Probier ihn doch erst einmal an, bevor du herummoserst." Patty wählte einen buntbedruckten Einteiler mit hohem Beinaus schnitt aus. „Den finde ich ganz hübsch." „So ähnliche Modelle habe ich schon öfter in alten Wochenschauen aus den vierziger Jahren gesehen", spottete Trudy. „Willst du etwa auch in Florida die sittsame Lehrerin spielen?" Ohne darauf zu antworten schlenderte Patty in Richtung Umkleidekabine. Was sollte sie Trudy schon entgegnen? Dass sie gerne sexy aussehende Seidenunterwäsche trug, aber sich ungern fast nackt an einem öffentlichen Badestrand präsentierte? „Du behauptest immer, ich sei prüde", erwiderte sie schließlich spöttisch. „Nächstens wirst du mich noch bezichtigen, aus Schamhaftigkeit im Finstern zu duschen." Trudy schnippte mit den Fingern, als hätte Patty ein Rätsel gelöst, das sie schon lange quälte. „Jetzt verstehe ich endlich, warum deine Stromrechnung immer viel niedriger als meine ist. Nun bin ich deinem Geheimnis auf die Spur gekommen." „Sehr witzig, Trudy. Warte hier, ich ziehe mich schnell um." Patty schlüpfte in die enge Umkleidekabine und entkleidete sich hastig. Sie musterte sich kurz im Spiegel und bedauerte, dass ihre sommerliche Bräune völlig verschwunden war. Vorsichtig, um mit ihren Fingernägeln nicht an dem feinen Material hängenzubleiben, zog sie den Badeanzug an. Der Einteiler brachte ihre schlanken Beine und die schmale Taille gut zur Geltung, obwohl er ihrer Meinung nach an den Hüften zu weit ausgeschnitten war. Patty öffnete den Vorhang und ging zu dem großen, dreiteiligen Spiegel. „Was hältst du davon, Trudy?" „Nicht übel", antwortete Trudy und begutachtete Patty von allen Seiten. „Du versteckst
deine tolle Figur hinter viel zu weiten Kleidern und Pullovern. Der hohe Beinausschnitt scheint extra für dich entworfen worden zu sein." „Danke, falls das ein Kompliment ist", sagte Patty. Sie war daran gewöhnt, dass Trudys Komplimente stets zweischneidig waren. „Hat dir der Fischnetzbadeanzug nicht gefallen?" „Hast du einen Blick auf den Preis geworfen?" Trudy ließ ein gereiztes Stöhnen hören und warf einen Blick auf das Preisschild. Ihre Augen weiteten sich. „So viel verdienen wir beide gerade in einer Woche." Patty lächelte. „Eben. Ich befürchtete schon, du würdest das Schild abreißen und mich belehren, wie unamerikanisch Barzahlung ist. Ein Kreditkartenfan wie du zahlt natürlich die letzte Bankrate für seine Weihnachtseinkäufe im darauf folgenden August." Trudy prüfte ungeniert einige weitere Badeanzüge und deren Preisschilder. „Wegen eines solch winzigen Stofffetzens überziehe ich mein Konto nicht. Mich wundert, dass man bei diesen Preisen hier noch umsonst probieren darf." Patty musterte sich ein letztes Mal in dem Spiegel und entschloss sich zum Kauf. Der Badeanzug war sowohl ihrer Figur als auch ihrem Einkommen angemessen. Sie bemerkte im Spiegel Trudys nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Denkst du noch immer, ich sollte nicht verreisen?" Trudy schüttelte den Kopf. „Falls du hier bleibst, wird eine gewisse Kollegin, die du für deine beste Freundin hältst, nie mehr mit dir Lehrpläne ausarbeiten." Ihre Blicke begegne ten sich im Spiegel. „Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?" wollte Patty wissen. „Ich war nicht ganz ehrlich", antwortete Trudy und senkte schuldbewusst den Blick. „Inwiefern?" „Wir beide sind seit langem befreundet", sagte Trudy. Sie fuhr sich unsicher durch das kurz geschnittene Haar. „Und Freundinnen sollten aufeinander nicht eifersüchtig oder gar neidisch sein." Patty drehte sich um und starrte Trudy ungläubig an. „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Allein in diesem Monat hattest du weit mehr Verabredungen als ich in einem ganzen Jahr." „Das stimmt. Aber mich hat noch nie ein traumhaft aussehender Mann nach Florida eingeladen. Du wirst wahrscheinlich einen Lachanfall bekommen, wenn ich dir gestehe, mit wem ich Thanksgiving feiere." Patty wagte eine wohlbegründete Vermutung. „Mit Phillip?" „Vom wem weißt du das?" „Von niemandem." „Nun gestehe schon. Da ich bisher in deiner Gegenwart stets über Phillip gelästert habe, hättest du eher auf Richard oder George oder meinetwegen auch auf das Rumpelstilzchen tippen müssen als auf ihn. Wurde darüber im Lehrerzimmer gesprochen?" Patty folgte Trudy zur Umkleidekabine. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Stirn. „Eine gute Lehrerin ist allwissend. Sozusagen ein wandelndes Lexikon", scherzte sie. „Und was hältst du von der Sache?" „Du weißt, wie ich über Phillip denke." Patty blieb an einem runden Ständer mit weiten T-Shirts stehen und drehte ihn. Sie fand ein türkisfarbenes, das farblich gut zu ihrem neuen Badeanzug passte, und suchte nach dem Preisschild. Zu teuer, dachte sie. Für diesen Preis kann ich meine sämtlichen Nichten einkleiden. Außerdem hatte ihre jüngste Schwester Kathryn erst kürzlich ihr erstes Baby bekommen, einen Jungen. War es da nicht selbstsüchtig, so viel Geld für ein T-Shirt auszugeben, statt ein hübsches Taufgeschenk für das Baby zu kaufen? Seufzend ließ Patty das Preisschild sinken und ging weiter. Diesmal wollte sich Trudy mit ihr gemeinsam in die Umkleidekabine zwängen, doch Patty wehrte ab. Trudy respektierte den Wunsch ihrer Freundin und lehnte sich draußen an die Wand.
„Lass mich nochmals deine Meinung über Phillip hören. Vielleicht überzeugst du mich diesmal", sagte Trudy durch den Vorhang. „Er ist ein netter Mann, siehst auch nicht schlecht aus und hat zudem einen guten Job. Was willst du mehr?" Patty öffnete den Vorhang einen Spalt und sah hinaus. „Ich habe meine Ansicht über ihn nicht geändert. Möglicherweise verhält Phillip sich privat völlig anders als in der Schule." „Schwer vorstellbar. Sicher trägt er unter seinem dreiteiligen Nadelstreifenanzug Boxershorts als Unterhosen." Trudy hörte ihre Freundin lachen. „Beruflich verstehen wir uns eigentlich ganz gut", fuhr sie fort, wie um sich selbst zu überzeugen. „Ach, was soll's. Wenn er sich zu steif benimmt, werde ich ihn mit Wein auftauen und ihm einheizen, dass ihm Hören und Sehen vergeht." Patty lachte laut und versuchte, sich einen weinseligen und erhitzten Phillip vorzustellen. Es gelang, ihr nicht/Dagegen schien das, was Christopher unter seinen Designerjeans trug, ihre Phantasie regelrecht zu beflügeln. Sie sah ihn nur mit einem Bikinislip bekleidet vor sich, und sofort beschleunigte sich ihr Pulsschlag. „Da wir gerade Tabus berühren", sagte Trudy. „Ich weiß, es geht mich nichts an, aber hast du dir schon überlegt, wie ihr während eurer Reise die Zimmerfrage regelt?" „Um solche Einzelheiten kümmert sich Christopher", antwortete Patty nach kurzem Zögern. Die Direktheit, mit der Trudy dieses heikle Thema ansprach, machte sie verlegen. „Klingt interessant, aber was genau heißt das?" Trudy ließ nicht locker. „Das weiß ich nicht", erwiderte Patty unsicher. „Vielleicht plant er ebenfalls, mich mit Wein aufzutauen und mir dann gehörig einzuheizen." „Vergleichst du dich etwa mit Phillip? Vergiss es. So steif wie er bist du noch lange nicht." „Ein äußerst zweifelhaftes Kompliment", bemerkte Patty ironisch. Trudys Worte hatten sie verletzt. „So war es nicht gemeint. Steif ist ein hässliches Wort. Ich wollte nur. . ." „Erkläre es mir lieber nicht", unterbrach Patty barsch ihre Freundin und schob den Vorhang zurück. Sie hatte sich mittlerweile ganz angezogen und marschierte in Richtung Kasse, ohne sich nach Trudy umzusehen. So kurz vor ihrer Reise musste sie noch tausend Dinge erledigen und hatte keine Lust, sich auf eine weitere fruchtlose Diskussion mit Trudy einzulassen. „Aber ich mache mir um dich Sorgen", protestierte Trudy, die ihr gefolgt war. Völlig frustriert, weil Patty ihr einfach davonlief, statt auf ihren weisen Rat zu hören, sprudelte sie heraus, was ihr gerade in den Sinn kam. „Du kannst unmöglich diese Reise antreten, ohne vorher einige Details zu klären, Patty. Ich weiß, wie leicht verwundbar du bist, auch wenn dich die übrige Welt für perfekt hält und nur noch darauf wartet, dass dir ein Heiligenschein wächst." Mechanisch erwiderte Patty den freundlichen Gruß der Kassiererin und reichte ihr den Badeanzug und das Geld. In ihrem Kopf dröhnten zwei Worte: perfekt und Heiligenschein. Sie bedachte Trudy mit einem eisigen Blick, obwohl sie innerlich vor Wut kochte. „Du klingst, als hätte ich eine Art Mutter-Theresa-Komplex. Da irrst du dich gewaltig." „Beweise es", forderte Trudy. „Wie?" „Indem du mir eine Frage beantwortest." Patty nickte. „Schieß los." „Hast du vor, mit Christopher zu schlafen?" „Ich werde tun, was mir beliebt", antwortete Patty ungnädig und rannte zum Ausgang und von dort schnurstracks zu ihrem Wagen. Sie hatte endgültig genug von Trudys Fragen. Erst als sie dem Parkwächter ihren Parkschein reichte, wurde sie sich der aufsteigenden Tränen bewusst. Die Diskussion mit Trudy bedrückte sie. Warum hatte sie nur so schnell die Beherrschung verloren? Trotz ihrer rüden Fragen und herzlosen Bemerkungen meinte Trudy es doch gut mit ihr. Um ihrer beider Freundschaft
willen hätte sie sich Trudys Ausführungen in Ruhe anhören sollen, ohne sich gleich gekränkt zu fühlen. Als erwachsener Mensch müsste ich genügend Reife besitzen, auf konstruktive Kritik nicht beleidigt zu reagieren, überlegte sie. Patty bemühte sich, den Dingen auf den Grund zu gehen. Hatte sie bereits vor ihren Gesprächen mit Tom und Trudy den Entschluss gefasst, Christophers Einladung anzunehmen? Leider verhielt es sich eher entgegengesetzt. Hatte sie etwa unbewusst erst die Zustimmung der beiden abwarten wollen? „Nein, das stimmt nicht", murmelte sie. „Ich wollte mit Christopher verreisen, egal ob mit oder ohne Trudys und Toms Einverständnis." Was aber erwartete sie sich von Christopher? Sie wusste es nicht, wusste nur, dass sie sich seit ihrer ersten Begegnung verändert hatte. In ihrem Innern herrschte seitdem ein unentwirrbares Gefühlschaos. Patty lenkte den Wagen an den Straßenrand und schaltete den Motor ab. Dann legte sie beide Arme auf das Lenkrad und lehnte ihre heiße Stirn dagegen.1 Die Tränen, die sie vorher mühsam zurückgehalten hatte, rannen über ihre Wangen. Jäh fiel ihr ein, was sie zu Trudy gesagt hatte: Ich werde tun, was mir beliebt. Mittlerweile hegte Patty starke Zweifel, dass sie überhaupt wusste, was ihr beliebte. Vor allem aber brannten ihr Trudys Behauptungen auf der Seele. Hielten die anderen Lehrer sie - Patty - tatsächlich für perfekt, für eine wandelnde Heilige, der nur noch der Heiligenschein fehlte? Sie hatte bisher den Lehrkörper immer als eine Art große Familie betrachtet. Dachten ihre Kollegen anders als ihre Geschwister, die es stets zu schätzen wussten, wenn sie ihnen Unangenehmes vom Hals schaffte? Trudys Andeutung war zu entnehmen, dass manche glaubten, sie wollte sich mit ihrer Hilfsbereitschaft hervortun. Während Patty nur danach trachtete, mit allen gut auszukommen, war sie in den Augen ihrer Kollegen und Kolleginnen eine nach Vollkommenheit strebende Wichtigtuerin. Ein entsetzliches Missverständnis. Sie sehnte sich nicht nach einem Heiligenschein, sondern nach der Zuneigung der anderen. Ein Gefühl großer Einsamkeit überkam Patty. Sie ließ den Motor wieder an und fuhr heim. Erst Tom und jetzt Trudy, dachte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Beide hatten Patty wegen ihrer Gutherzigkeit gescholten. Gleichzeitig versuchten sie anfänglich, ihr die Floridareise auszureden, statt sich wie erwartet mit ihr zu freuen. Einige Minuten später passierte Patty ihre Einfahrt und parkte vor dem Haus. Sie putzte sich die Nase und ermahnte sich, mit dem Weinen aufzuhören. Niedergeschlagen griff sie nach der auf dem Beifahrersitz liegenden Einkaufstüte und fasste nach dem Türknopf. Noch bevor sie ihn berührte, sprang die Tür auf. - Patty schnappte nach Luft und blickte erschrocken hoch. Schwacher Sonnenduft stieg ihr in die Nase und verriet ihr, wer an einem kalten Winterabend auf sie wartete: Christopher. „Wo warst du die ganze Zeit? Seit Stunden versuche ich dich zu erreichen, aber ..." Die Lampe vor dem Haus schien auf Pattys bleiches Gesicht. Obwohl sie sich zuvor die Wangen getrocknet hatte, bemerkte er sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihre offenkundige Traurigkeit schnitt ihm ins Herz, und er zog Patty in seine Arme. „Du hast geweint. Was ist geschehen?" „Nichts." Alles, dachte sie. In Christophers Armen fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie unterdrückte den Wunsch, sich an seiner breiten Brust auszuweinen. „Was es auch ist, wir werden drinnen darüber sprechen. Gib mir deine Schlüssel." Widerstandslos folgte sie der Aufforderung. Christopher küsste sie auf das weiche Haar, legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte sie sanft an sich. Diese zärtliche Geste brachte Pattys Tränen erneut zum Fließen. Christopher geleitete sie zur Haustür und sperrte die Tür auf. Er schaltete das Licht an und beobachtete, wie Mr. Wiggles sein Frauchen stürmisch begrüßte. Patty kniete sich zu dem Hund nieder. „Gib Acht, dass er deine Strümpfe nicht zerreißt", warnte Christopher.
„Wahre Liebe ist mehr wert als ein Paar Strümpfe." Patty hob den Hund hoch und ließ sich von ihm die nassen Wangen lecken. Nach Christophers Umarmung und Mr. Wiggles' begeistertem Empfang fühlte sie sich schon wesentlich besser. „Egal, wie spät ich komme oder in welcher Stimmung ich bin, Mr. Wiggles freut sich stets, mich zu sehen. Nicht wahr, du Racker. Du liebst mich trotz meiner Fehler." Christopher lächelte wehmütig. Mr. Wiggles war ein gewöhnlicher Straßenköter ohne Stammbaum oder sonstige Papiere. Trotzdem hatte Patty ihn in der kurzen Zeit lieb gewonnen. Sie erwartete sich von ihm keine Vorteile, sondern behielt ihn bei sich, weil sie ihn mochte und weil er an ihr hing. Wären das nicht auch ideale Bedingungen für eine Liebe zwischen Mann und Frau? ging es ihm durch den Kopf. Würde Patty ihn jemals auf diese Weise lieben? Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Er musste sie weiterhin in dem Glauben lassen, nur ein charmanter Nichtstuer zu sein. Falls sie ihn unter solchen Umständen liebte, galt ihre Liebe wirklich ihm selbst und nicht dem vermögenden Geschäftsmann Christopher Turner. Nicht einmal Pattys wegen war er bereit, von seiner Devise abzugehen, auf die Meinung seiner Mitmenschen keine Rücksicht zu nehmen. „Samt seinen Fehlern geliebt zu werden, wünscht sich wohl jeder", antwortete Christopher wahrheitsgemäß. Der raue Unterton in seiner Stimme und sein Lächeln verfehlten ihre Wirkung auf Patty nicht. Eine sonderbare Erregung ergriff von ihr Besitz. „Ich bezweifle, ob bedingungslose Liebe zwischen Menschen überhaupt möglich ist", erwiderte sie. „Sogar wenn man sich redlich bemüht, die Liebe anderer zu erringen, ist man gegen Fehlschläge nicht gefeit." Christopher spürte ihre Qual beinahe körperlich. „Hast du deshalb geweint?" Patty nickte. Sie setzte Mr. Wiggles am Boden ab und ging Christopher ins Wohnzimmer voran, dicht gefolgt von Mr. Wiggles. Sie wies einladend auf das Sofa. Christopher nahm Platz und zog Patty auf seinen Schoss. Der Hund gähnte und ließ sich zu ihren Füßen nieder. Wie wohltuend es ist, in seinen Armen zu liegen und mit ihm über das, was mich bedrückt, zu sprechen, dachte Patty. „Ich bin heute zu der Erkenntnis gelangt, dass man Liebe nicht durch Wohlverhalten erkaufen kann", gestand sie. „Ich habe alles versucht, meine Familie und meine Freunde zufrieden zu stellen und bin kläglich gescheitert." „Es gibt da ein Lied, in dem es sinngemäß heißt, wenn du andere nicht zufrieden stellen kannst, dann fange erst einmal bei dir selbst an." Der warme Schein der neben der Couch stehenden Stehlampe zauberte rötliche Lichter in Pattys kastanienbraunes Haar. Christopher ließ eine seidige Strähne durch seine Finger gleiten. „Damit triffst du genau den Kern meines Problems." Mit geschlossenen Augen genoss Patty seine zärtliche Berührung „Ich richte mich schon so lange nach anderen, dass ich mittlerweile ihre und meine Wünsche nicht mehr unterscheiden kann." „Möglicherweise kann ich dir hier weiterhelfen", sagte Christopher nach längerem Schweigen. Langsam berichtete er von seiner früheren Lernbehinderung. Aus mancherlei Gründen hatte er dieses Thema bisher vermieden, und auch diesmal fiel ihm das Sprechen schwer. Es kostete ihn große Überwindung, Patty, die schließlich Lehrerin war, seine Schwächen einzugestehen. Noch immer hegte er die geheime Furcht, sie könnte sich von ihm zurückziehen, oder - was noch schlimmer wäre - ihn bemitleiden. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er durch sein Geständnis zur Lösung ihrer derzeitigen Probleme beitragen konnte. „Wie die meisten kleinen Kinder wollte ich, dass meine Eltern stolz auf mich sind. Da ich meinen diesbezüglichen Ehrgeiz nicht durch gute Schulleistungen befriedigen konnte, versuchte ich mich durch besondere Streiche hervorzutun. Ich war der einzige Erstkläßler, der zehn Tage hintereinander vom Unterricht suspendiert wurde." „Was hattest du angestellt?" erkundigte sich Patty verwundert.
„Ich erzählte meinen Mitschülern, ich hätte Tollwut und jagte sie in der Pause zähnefletschend über den Schulhof. Einen Jungen, der mich wegen meiner Lernschwäche ständig hänselte, biss ich sogar." Christopher war gewillt, jede Einzelheit seiner Tat vor Patty offen zu legen. „Bis er blutete." Pattys Herz flog dem kleinen Jungen zu, der sich in seiner Verzweiflung körperlich bei dem Kind rächte, das ihn auf andere Art quälte. Sicher heilte die Bisswunde wesentlich schneller als die seelischen Wunden, die der Junge Christopher zugefügt hatte. „Jedenfalls", fuhr Christopher fort, „begann ich meine mangelnden schulischen Leistungen dadurch wettzumachen, dass ich den Klassenclown spielte. Ich konnte nicht lesen, also unterhielt ich meine Mitschüler mit Tierimitationen oder Nachahmung der Lehrer. Niemand war vor mir sicher. Ich hasste die Schule - die Schule hasste mich. Schon beim Betreten des Schulgebäudes fühlte ich mich jeden Morgen elend." „Bist du deshalb gestern so unvermutet aus meinem Klassenzimmer verschwunden?" Christopher nickte und presste seine Lippen in ihr Haar. Mit Patty im Arm fiel es ihm schwer, sich weiter mit seinem Kindheitstrauma zu befassen. Sie lenkte seine Gedanken auf andere Dinge, und er musste sich zwingen, mit seinem Bericht fortzufahren. „Als ich gestern sah, wie mühsam der blonde Junge ein Wort an die Tafel schrieb, wurden meine Erfahrungen als Abc-Schütze wieder in mir lebendig, und ich fühlte mich in diese schreckliche Zeit zurückversetzt. Plötzlich hielt ich es in dem Klassenzimmer nicht mehr aus. Der Klassendümmste zu sein, war übrigens nicht das Schlimmste. Noch qualvoller war meine ständige Angst, die Liebe meiner Eltern zu verlieren. Ich bewunderte meinen Vater sehr und bildete mir ein, er war bitterböse auf mich, weil er dauernd zur Schulleitung zitiert wurde und sich Beschwerden über mich anhören musste." „Und wie hat er es aufgenommen?" „Wir sind alle nur Menschen, Patty. Manchmal wurde es ihm schon zuviel, mindestens einmal pro Woche einen Anruf des Rektors zu erhalten. Dad war Strafverteidiger", erläuterte Christopher. „Als Kind träumte ich oft, plötzlich erwachsen zu sein und als Ange klagter vor Gericht zu stehen. Ich bat meinen Vater, mich zu verteidigen, und mein Traum verwandelte sich stets in einen Alptraum, wenn Dad meine Verteidigung mit den Worten ablehnte ,Christopher war schon als Kind ein Dummkopf und ich wusste, dass er auch als Erwachsener ein Versager würde'. Oder Dad sagte: ,Sperrt ihn ins Gefängnis und werft den Schlüssel weg.' Manchmal allerdings endete ich in meinen Träumen auch als berühmter Anwalt, auf den Dad stolz war." Christopher machte eine Pause. Nun wäre der ideale Zeitpunkt, Patty mehr über meinen weiteren Lebensweg zu erzählen, überlegte er. Darüber, dass er zunächst tatsächlich Anwalt geworden war und sich später zu einem Berufswechsel entschloss. Doch würde er einen seiner eisernen Grundsätze brechen, wenn er Patty davon berichtete. Außerdem erfuhr sie dann von seinem zwischenzeitlich erworbenen Reichtum. Er begann die Vor- und Nachteile eines solchen Geständnisses gegeneinander abzuwägen und entschied sich, vorerst nichts zu sagen. Natürlich war er sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst. Sicher würde Patty einen anderen Eindruck von ihm gewinnen, wenn sie von seinen beruflichen Erfolgen erfuhr. Aber wenn sie die ihm gegenüber hegenden Vorurteile nur angesichts seines Ansehens in der Geschäftswelt und wegen seines hohen Bankkontos revidierte, konnte er darauf verzichten. So überging Christopher wichtige Einzelheiten und kam schließlich zu der Folgerung: „Im Grunde genommen enttäuschte ich meine Eltern nur durch mein beinahe krankhaftes Bestreben, sie zu beeindrucken und meinem Vater nachzueifern. Als mein Vater starb, erzählte mir meine Mutter, wie sehr er sich immer wünschte, ich würde mich weniger nach anderen richten, sondern tun, was ich für richtig hielt. Und so kam ich zur Einsicht, künftig mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten und mich nicht mehr von der
Meinung anderer abhängig zu machen." Christopher hob mit dem Zeigefinger Pattys Kinn an, damit sie ihn anschaute. „Ein guter Rat, findest du nicht?" „Vielleicht", antwortete Patty nachdenklich. Er hatte ihr wichtige Einzelheiten verschwiegen, das spürte sie. „Du hast mir nur die eine Hälfte der Geschichte erzählt, nicht wahr?" „Ich habe viel kostbare Zeit damit vergeudet, meinen Seelenfrieden von der Anerkennung anderer abhängig zu machen, ob es sich nun dabei um meine ehemaligen Mitschüler, meine Eltern oder — in wenigen Ausnahmen - um Frauen handelte. Das ist endgültig vorbei. Solche Fragespiele lehne ich grundsätzlich ab, Patty. Ich fordere von dir nur, was da Mr. Wiggles freiwillig zugestehst: bedingungslose Liebe." Bei Erwähnung seines Namens spitzte Mr. Wiggles die Ohren, legte den Kopf schief und jaulte. Doch Patty und Christopher waren zu sehr miteinander beschäftigt, um ihn zu hören. Als Christopher seine Lippen auf Pattys Mund senkte, gähnte Mr. Wiggles gelangweilt, streckte sich und trottete davon, um sich einen bequemen Platz für ein Nickerchen zu suchen. Patty gab sich ganz den lustvollen Gefühlen hin, die Christophers Kuss in ihr weckten. Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich verlangend an ihn. Er küsste sie zuerst behutsam, dann mit wachsender Begierde, bis Patty nach Luft rang. Schließlich hob er den Kopf, und sie las in seinen Augen heftiges Begehren und ungestillte Sehnsucht. Küsse allein reichten ihnen beiden nicht mehr. Mit den Händen umfing Christopher ihr Gesicht. „Ich hatte nicht die Absicht, mich in dich zu verlieben", flüsterte er mit rauer Stimme. „Ich dachte, wir könnten drei oder vier unterhaltsame Abende miteinander verbringen, sonst nichts. Wie dumm ich doch war." Er spürte unter seinen Fingern ihren pochenden Puls. „In meiner Überheblichkeit hielt ich es für einen netten Spaß, wenn sich zur Abwechslung mal die Lehrerin in den Klassenclown verliebte, statt umgekehrt." Er seufzte. „Darauf bin ich nicht gerade stolz." „Und ich wusste bereits bei unserer ersten Begegnung, als du mir über Christys Kopf hinweg so vertraulich zuzwinkertest, dass du mir gefährlich werden könntest", gestand Patty. „Ich hielt dich für einen charmanten Schwerenöter und nahm mir vor, dir tunlichst aus dem Weg zu gehen." Ihr freimütiges Geständnis entlockte Christopher ein Lächeln. „So leicht lasse ich mich nicht abwimmeln. Hätte Shannon nicht in die Klinik ge musst, so hätte ich mir in deinem Vorgarten einen Iglu gebaut und wäre dort eingezogen. Ich kann sehr beharrlich sein." „Und ich hatte von jeher eine Schwäche für sitzen gebliebene Lusttechniker", scherzte Patty und knabberte spielerisch an seinem Hals. Ihre Hand ruhte auf seiner Brust, und sie spürte den gleichmäßigen Schlag seines Herzens. „Du bist schwer zu durchschauen." „Wieso?" „Nach außen spielst du den Clown, doch tief im Innern bist du äußerst sensibel." „Niemand außer meiner Schwester kennt diese Seite me ines Wesens. Normalerweise hält man mich für einen unbeschwerten Sunnyboy." „Bei mir ist es genau umgekehrt. Alle - ob Trudy, Tom oder meine übrige Familie glauben, ich sei auf dem besten Weg, eine zickige alte Jungfer zu werden." „Sie haben dich eben noch nie geküsst." Er küsste sie auf die Wange. „So küssen gemeinhin brave Lehrerinnen." „Schmeichler", wehrte Patty sein Kompliment ab, obwohl sie sich darüber freute. Christopher liebkoste mit seinen Lippen ihren Hals. „Ich liebe deine Küsse. Sie sind voll scheuer Süße und zugleich leidenschaftlich und feurig. Eine brisante Mischung, die einem Mann zu Kopf steigt." Darauf wusste Patty keine Antwort. Sie hätte ihm höchstens gestehen können, dass er der einzige Mann war, der dieses Feuer in ihr zu wecken vermochte. Dass sie seinetwegen nachts wach lag und sich nach ihm sehnte.
Sie öffnete die obersten Knöpfe seines Hemds und legte ihre Hand fläche auf seine nackte Brust. Christopher drückte ihre Hand an sein Herz. „Ja, Patty, berühre mich", sagte er und knöpfte sein Hemd bis zur Taille auf. „Bitte." Sie fuhr mit den Fingerspitzen über den weichen, sonnengebleichten Flaum auf seiner Brust, durch den die gebräunte Haut hindurchschimmerte. Mit tastenden Fingern erkundete sie seine harten Muskeln, strich über seinen Hals und schob ihm das Hemd von den Schultern. Sein Körper war so schön, wie sie es sich immer erträumt hatte. „Patty, süße Patty, küss mich." Ihre Lippen verschmolzen ineinander, und ihre Zungen trafen sich zu einem erotischen Spiel. Christopher ließ seine Hände unter Pattys Pullover gleiten und streichelte ihre erhitzte Haut. Und als Patty leise aufstöhnte, umfasste er ihre Brüste. Patty merkte, wie er ihren BH öffnete, zog hastig den Pullover über den Kopf und warf ihn neben sich auf das Sofa. Dann befreite sie sich mit einer Bewegung der Schultern von ihrem BH. Fordernd zog Christopher Patty an sich. Was für ein aufregendes Gefühl, dachte er, als ihre rosigen Brustspitzen sich gegen seine Haut drängten. Er bewegte seiften Oberkörper hin und her und genoss mit geschlossenen Augen die Erregung, die die Reibung in ihm auslöste. Eine Welle der Lust durchflutete ihn, und er spürte den sich verstärkenden Druck in seinen Lenden. Er war nahe daran, die Kontrolle über sich zu verlieren. „Patty", stöhnte er. „Wir sollten besser aufhören." „Warum? Mache ich etwas falsch?" fragte sie unsicher. „Falsch? Nein, du bist perfekt, zu perfekt." Betroffen presste sie die Lippen zusammen und rückte von ihm ab. Hatte Trudy sie nicht ebenfalls bezichtigt, zu perfekt zu sein? Und nun wies Christopher sie aus denselben Gründen zurück. Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung laut geschrieen. Christopher öffnete die Augen und sah ihre bestürzte Miene. „Darling, ich will dich", versicherte er. „Jetzt gleich, auf dem Sofa, auf dem Teppich oder wo auch immer. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach dir verzehre." Er umschlang ihre Hüften und drückte sie an sich, um Patty seine Erregung fühlen zu lassen. Patty fand, er sollte ruhig wissen, wie weit sie davon entfernt war, perfekt zu sein. „Dann zeige mir, was du möchtest", flüsterte sie. „Sei mein Lehrer und lass es uns so lange üben, bis ich wirklich perfekt bin." Sie legte ihm die Arme um den Hals. Er umfasste mit einem Arm ihre Taille und schob den anderen unter ihre Knie. „Lektion eins: Was dir gefällt, gefällt auch mir." Er lächelte Patty liebevoll zu, stand auf und trug sie ins Schlafzimmer. Seine Schritte waren langsam, denn er brauchte Zeit, um sich ein wenig abzukühlen. Gehorsam wiederholte sie seine Worte: „Was dir gefällt, gefällt auch mir." „Das ist nicht genau, was ich meinte. Lass es mich noch deutlicher sagen: was Patty gefällt, gefällt auch Christopher", verbesserte er sich. „Klingt viel versprechend. Und wie geht es weiter?" „Mit Lektion zwei: In der Liebe gibt es keine Tabus." Patty biss ihn spielerisch in den Nacken. „Ich kann also mit dir anfangen, was ich will?" „Richtig. Und damit sind wir bereits bei Lektion drei: Vergiss alle Regeln und richte dich nur nach deinen Gefühlen." Christopher stieß die Schlafzimmertür weit auf. „Doch die letzte und vierte Lektion ist die wichtigste." Er legte Patty behutsam auf das Bett und ließ sich neben ihr nieder. „Am schönsten ist es, mit jemandem zu schlafen, den man sehr gern hat. Erst dann erreicht man einen Leib und Seele gleichermaßen befriedigenden Glückszustand." Er lächelte sie an, und dann küsste er sie. "Patty wusste, dass sie diesen Kuss nie vergessen würde. Er war zärtlich, leidenschaftlich und ehrfürchtig zugleich. Bisher hatte Christopher ihr seine Liebe noch nicht gestanden. Doch hoffte er, dass jede seiner Liebkosungen, jede Berührung seiner Hände Patty mehr verrieten als Worte.
Instinktiv spürte er ihre Schüchternheit und schaltete statt des Deckenlichts nur die kleine Nachttischlampe ein. Und obwohl ihm seine Erregung fast schmerzhaft bewusst war, bot er seine ganze Willenskraft auf, nichts zu überstürzen. Am liebsten hätte er Patty immer wieder versichert, wie sehr er sie liebte, doch befürchtete er, sie mit seinen heftigen Gefühlen zu erschrecken. Immerhin kannten sie sich erst seit fünf Tagen. Oh, wie sehr ich ihn liebe, dachte Patty. Es drängte sie, ihn am ganzen Körper mit Liebkosungen zu überschütten, doch ihre Unerfahrenheit hemmte sie. Es drängte sie, Christopher zu sagen, wie sehr sie ihn liebte, doch sie schwieg, da sie ihn nicht unter Druck setzen wollte. Pattys restliche Kleidung verschwand auf beinahe wundersame Weise. Ehe sie es sich versah, hatte Christopher ihr geschickt Hose, Strumpfho se und Slip abgestreift. Sie folgte seinem Beispiel und begann ihn ebenfalls auszuziehen. Endlich lagen sie sich nackt gegenüber, und während Christopher ihr zärtliche Worte zuflüsterte, versetzte er Patty mit seinen Fingern in einen Zustand nie gekannter sinnlicher Lust. Seine anfänglich spielerischen Küsse wurden drängender und von ihr mit gleicher Leidenschaft erwidert. Er erforschte mit den Händen die zartesten und empfindsamsten Stellen ihres Körpers, und Patty verlor den letzten Rest ihrer Schüchternheit. Sie umkreiste mit ihren Lippen seine Brustspitzen und spürte vo ller Erregung, wie sie steif wurden. Sie genoss es, als sein straffer, männlicher Körper sich an ihren weiblichen Rundungen rieb und fühlte, dass sie beide füreinander bestimmt waren. Patty war eine gelehrige Schülerin. Ihr leises Stöhnen schürte Christophers Begehren, und er spürte nicht einmal, dass sie ihre Nägel in seinen Rücken presste. Als sie endlich eins wurden, stieß Patty einen wollüstigen Laut aus und schlang ihre Beine um seine Hüften. Sie konnte kaum glauben, was mit ihr geschah. Instinktiv passte sie sich Christophers rhythmischen Bewegungen an und verglich sich mit dem das Licht der Sonne reflektierenden Mond. Plötzlich schien etwas in ihr zu explodieren. Plötzlich löste sich die erotische Spannung, und ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie. Für einige Sekunden wusste Patty nicht, was mit ihr geschehen war. „Ich liebe dich, Miss Mallory", raunte Christopher, und sie lächelte ihn unter Tränen an. Christopher hatte Recht behalten mit Lektion vier. Noch nie in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick.
9. KAPITEL
Das schrille Klingeln des Telefons riss Patty aus süßen Träumen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch das zerwühlte Haar und blickte bestürzt auf das leere Kissen neben sich. Hatte sie sich die Liebesszene mit Christophe? nur eingebildet? Nein, bei einem so überwältigenden Erlebnis konnte es sich unmöglich um einen Traum handeln. Wohlige Mattigkeit breitete sich in Pattys Körper aus, als sie nach dem Hörer griff. „Haus Mallory", meldete sie sich übermütig. „Guten Morgen, Miss Mallory." Christophers tiefe Stimme klang leise und so nah, als hätte er neben Patty gelegen. „Hatten Sie angenehme Träume?" „Wundervolle." „Es fiel mir schwer, mich stillschweigend davonzuschleichen, doch bin ich dafür verantwortlich, dass die Kinder pünktlich zur Schule kommen." Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. .Außerdem sollten meine Schützlinge kein leeres Gästezimmer vorfinden und mich mit peinlichen Fragen bestürmen. Im übrigen habe ich Mr. Wiggles entführt, da du heute Nachmittag bestimmt unter Zeitdruck stehst." Seine fürsorgliche Art gegenüber den Kindern rührte Patty ebenso wie seine Sorge um ihren guten Ruf und um Mr. Wiggles. „Danke", sagte sie weich. „Warum hast du mich nicht geweckt, sondern bist mit leerem Magen davonge fahren?" „Zu meinen derzeitigen Pflichten als Shannons Chefkoch und Oberabwäscher gehört unter anderem auch die Zubereitung des Frühstücks. Warum sollte ich dich da unnötig wecken?" Christopher zögerte kurz. „Nach Unterrichtsschluss machen wir uns sofort auf die Reise", sagte er schließlich. „Ich zähle bis dahin bereits die Minuten." Ein kurzer Blick auf den Wecker riss Patty aus ihrer verträumten Stimmung. „Ach du meine Güte, ich komme zu spät", stöhnte sie. „Phillip wird mir die Leviten lesen." „Tut mir leid, aber ich wusste nicht, wie man deinen Wecker stellt. Nun, ich lasse dich jetzt in Ruhe, vorerst zumindest." Christopher war noch immer nicht sicher, ob sie tatsächlich mit ihm nach Florida fliegen würde. „Wir fliegen um 16.30 Uhr. Soll ich dich von der Schule abholen?' „Meine Koffer sind noch nicht gepackt." Patty sprang aus dem Bett. Leider reichte die Telefonschnur nicht bis zu ihrem Kleiderschrank. „Christopher, ich muss jetzt auflegen." Fieberhaft überlegte sie, wie viel Zeit sie für das Packen und die Fahrt zum Flughafen benötigte. „Wir treffen uns am Airport." „Nein, ich möchte vorher . . ." „Christopher, mir fehlt jetzt die Zeit für eine längere Diskussion. Welcher Flugsteig?" „Genau das wollte ich mit dir während der Fahrt zum Flughafen besprechen." Sie wollten keinen Linienflug nehmen, sondern sein eigenes Flugzeug benutzen. Er hatte letzte Nacht beschlossen, Patty über seine Geschäfte nicht mehr länger im Unklaren zu lassen. Es bestand kein Grund für eine weitere Geheimniskrämerei. Patty zog an der Telefonschnur und befürchtete, sie aus der Wand zu reißen, „Christopher, so gerne ich dir sonst auch zuhöre, momentan bin ich in Eile. Sag mir bitte, wo wir uns treffen." „Vor dem Haupteingang." „Dann sehe ich dich also dort um 16.00 Uhr, falls ich nicht gefeuert wurde. Bye." Patty knallte den Hörer auf die Gabel und rannte ins Bad. Nun hieß es handeln, nicht denken. Sie schaffte es, innerhalb von zehn Minuten zu duschen, sich die Zähne zu putzen und sich anzuziehen. Auf der Fahrt zur Schule nutzte sie jeden Halt an einer roten Ampel zur Vervollständigung ihrer Toilette und kämmte und schminkte sich im Rückspiegel. Sie wusste, dass ihr ein harter Tag bevorstand, denn vor Ferienbeginn waren die Kinder meist sehr schwer zu bändigen. Nachdem sie ihren Wage n geparkt hatte, legte sie die kurze Strecke zur Eingangstür in
neuer Rekordzeit zurück. Zum Stempeln blieb ihr keine Zeit, und sie entschied, erst einmal Wache vor ihrer Klassentür zu beziehen. Vor dem Klassenzimmer erwartete sie bereits Phillip. Sein Blick klebte förmlich auf dem Zeiger seiner Armbanduhr. „Guten Morgen, Phillip", begrüßte Patty ihn keuchend und schloss die Tür auf. „Ich habe es gerade noch rechtzeitig geschafft", verkündete sie mit triumphierender Stimme, als das erste Glockenzeichen ertönte. „Ich bin nur hergekommen, um sie zu bitten, heute jeden Unruhestifter unverzüglich in mein Büro zu schicken. Sie wissen ja, wie aufgeregt die Kinder an einem solchen Tag sind und wie wichtig es ist, im Gebäude die Ruhe zu bewahren." Patty nickte. Einige Schüler bogen soeben schwungvoll um die Ecke und verlangsamten bei Phillips Anblick ihr Tempo erheblich. Sie scheuen einen Zusammenstoß mit dem Rektor ebenso wie ihre Lehrerin, dachte Patty mit heimlicher Belustigung. „Ich wünsche Ihnen erholsame Ferien, Miss Mallory." „Danke, das wünsche ich Ihnen auch." Sie atmete erleichtert auf, als er sich umdrehte und auf Trudys Klassenzimmer zusteuerte. Wie üblich stand ihre Freundin nicht vor der Tür. Patty wusste, dass sie hinter ihrem Schreibtisch saß und letzte Vorbereitungen für den Unterricht traf. Oft genug hatte Trudy sie über ihre Ansicht hinsichtlich der Flurkontrolle belehrt. „Lehrer sind zum Unterricht da und sollten ihre Energie nicht durch morgendliches Wachestehen auf den Korridoren vergeuden", pflegte sie zu sagen. Mit einiger Verblüffung beobachtete Patty, wie Phillip wenig später allein aus Trudys Klassenzimmer kam. Offensichtlich war es ihm nicht gelungen, Trudy zur Erfüllung ihrer Pflichten zu bewegen. Trotzdem sah man Phillip keine Verärgerung an, obwohl er auch nicht direkt lächelte. Während der folgenden Unterrichtsstunden geriet Patty allmählich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Die Schüler waren zappelig, und die Lehrerin war es auch. Sie musste ihr ganzes pädagogisches Geschick aufwenden, um ihre Zöglinge einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Gemessen an dem üblichen Verhalten hätte sie die gesamte Klasse geschlossen in Phillips Büro schicken müssen. Nicht einmal die Namensuche für Mr. Wiggles verlief erfolgreich, weil jedes Kind seinen Vorschlag für den besten hielt. Nur der Gedanke an Christopher gab Patty die Kraft zum Durchhalten. Immer wieder tauchte sein vertrautes Gesicht vor ihr auf. Sie sah sich mit ihm Hand in Hand am Meer entlangwandern und im Mondschein schwimmen. Sie hörte sein Lachen und seine zärtliche Stimme. In jedem der seltenen ruhigen Augenblicke, die ihr die Kinder gönnten, erstand sein Bild vor ihr. Um ein Zusammentreffen mit Trudy zu vermeiden, verbrachte Patty ihre Freistunde im eigenen Klassenzimmer. Während vorn eine Kollegin Musikunterricht erteilte, korrigierte sie im hintersten Teil des Raums Schulhefte. Patty fand es besser, wenn sie und Trudy von dem Streit im Kaufhaus etwas Abstand gewannen und sich erst nach den Ferien wieder sahen. Als schließlich die Klingel das Ende der letzten Unterrichtsstunde ankündigte, herrschte im Klassenzimmer ein einziges Chaos. Jeder wollte zuerst durch die Tür, und selbst sonst eher brave Kinder drängten rücksichtslos auf den Flur. Von einem geordneten Marsch in Zweierreihen, wie Phillip es schätzte, konnte keine Rede sein. Bezeichnenderweise ließ sich der Rektor diesmal nirgendwo blicken. Hatte er etwa ebenfalls vor dem Bienenschwarmgebaren seiner Zöglinge kapituliert? Was für ein ketzerischer Gedanke. . Patty verfiel in hektische Betriebsamkeit. Bald würde sie gemeinsam mit Christopher im Flugzeug nach Florida sitzen und alles hinter sich lassen. Sie stopfte einige Hefte in ihren Schreibtisch, die sie nach ihrer Rückkehr zu korrigieren gedachte. Auf keinen Fall wollte sie sich in den Ferien mit Arbeit belasten. Sie nahm ihren Blazer aus dem Schrank sperrte das Klassenzimmer ab und eilte in Richtung Büro, um zu stempeln.
Während sie gerade ihre morgendliche Ankunftszeit auf die Stempelkarte schrieb, kam Lydia Sestric, die Schulsekretärin, auf sie zu und reichte ihr einen rosa Zettel. „Tut mir leid, wenn sich die Nachricht etwas konfus liest, doch Ihre Schwester Kathryn war am Telefon ziemlich aufgeregt", entschuldigte sich Lydia. „Zudem täuschte ich ein Gespräch mit einer Mutter vor, damit Phillip den Anruf nicht als privat identifizierte. Sie wissen ja, dass er neuerdings alle privaten Telefonate zählt." „Vielen Dank, Lydia." Patty überflog den Zettel und las ihn dann nochmals Zeile für Zeile. Komm schnell. Arzt hat mir und 'Charles wegen Nachgeburtsdepressionen sofortigen Urlaub verordnet. Teenager aus der Nachbarschaft kümmert sich um Baby, aber nur bis 16.00 Uhr. Bitte entschuldige, dass ich mich so kurzfristig an dich wende, aber ich weiß, dass ich auf dich zählen kann. Kathryn Nein, hätte Patty am liebsten laut geschrieen. Warum wandte sich Kathryn nicht an jemand anders? Und wie konnten sie und Charles so unverantwortlich sein, einfach zu verreisen, ohne ihr Baby in festen Händen zu wissen? Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Hilfe erwarteten, ärgerte Patty. Nein! Nein! Nein! Patty bot ihre ganze Willenskraft auf, um vor Wut und Enttäuschung nicht in Tränen auszubrechen. Das Schulbüro war kaum der geeignete Ort, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie blickte zum Telefon hin. Sämtliche Leitungen waren besetzt. Da ihre Schwester in Chesterfield wohnte, musste Patty sofort losfahren, um rechtzeitig dort zu sein. Keinesfalls durfte sie das unschuldige Baby für die verantwortungslose Haltung seiner Eltern büßen lassen. Ihr blieb kaum Zeit, Christopher anzurufen, denn der Babysitter war nur noch eine Stunde bei dem kleinen Jungen. Patty ging zum Schreibtisch. Verdammt, warum müsst ihr alle auf einmal telefonieren? fluchte sie innerlich. Niemand legte auf. Nach einigem Warten verließ sie schließlich resigniert das Büro und setzte sich in ihr Auto. Auf der Fahrt legte sie sich zurecht, wie sie Christopher die schlechte Nachricht am besten beibrachte. Bestimmt würde er sich nicht freuen, seine Pläne so jäh durchkreuzt zu sehen. Vielleicht konnte sie das Baby bei ihrer Schwester Pauline unterbringen, was sicher ihrer ganzen Überredungskunst bedurfte. Aber warum sollte Pauline nicht auch einmal familiäre Pflichten übernehmen. Falls Pauline wider Erwarten zustimmte, konnten sie und Christopher einen späteren Flug buchen. Falls nicht, mussten sie sich eine andere Lösung einfallen lassen. Patty war jedenfalls fest entschlossen, die Ferientage mit Christopher zu verbringen, ob in Florida oder sonst wo, ob mit oder Baby. „Ich werde ihn erst einmal bitten, zu mir zu kommen", murmelte sie. „Dann wollen wir zu zweit überlegen, was zu tun ist." Patty hielt bei einer Tankstelle und eilte zur Telefonzelle. Sie musste Christopher noch vor seiner Fahrt zum Flughafen erwischen. „Hallo", meldete sich eine Kinderstimme. „Christy?" „Moment. . ." „Nein. Gib mir bitte deine Mutter." Zu spät. Patty hörte einen lauten Knall an ihrem Ohr. Höchstwahrscheinlich war das Telefon auf den Boden gefallen. Nervös blickte Patty auf die Uhr und fuhr sich ungeduldig mit der Hand durch das Haar. Durch die Scheibe der Telefonzelle blickte sie auf den allmählich einsetzenden Berufsverkehr. Sie konnte sich nicht erlauben, noch länger zu warten. „Christy! Shannon!" rief sie in den Hörer. „Hallo! Hallo, bitte meldet euch doch!" Sie schlug mit dem Schlüssel gegen das Mundstück und blies hinein, um durch die Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Nichts. Im Hintergrund hörte sie den Fernseher
laufen. Ein Zeichentrickfilm. Keiner rief nach Christy. Keine Schritte näherten sich dem Telefon. Patty wusste genau, was passiert war. Christys jüngere Schwester hatte abgenommen und sich dann vom Fernsehprogramm ablenken lassen. Weiteres Warten war sinnlos. Patty hängte auf und setzte sich wieder ins Auto. Hoffentlich entdeckte man im Hause Harvey möglichst bald das am Boden liegende Telefon und legte den Hörer auf. Wenn nicht, bestand für Patty keine Möglichkeit mehr, sich mit Christopher in Verbindung zu setzen. Am Flughafen konnte sie ihn nicht erreichen, da er vor dem Eingang warten würde und deshalb die Lautsprecherdurchsagen nicht hören konnte. Und auch wenn sie sich noch so beeilte, schaffte sie es zeitlich nicht mehr, das Baby in ihren Wagen zu packen und Christopher zum Flughafen nachzufahren. Bis sie dort ankam, war das Flugzeug längst abgeflogen. Wahrscheinlich würde Christopher glauben, sie hätte in letzter Minute einen Rückzieher gemacht. Bei diesem Gedanken verzog Patty das Gesicht zu einer Grimasse. Möglicherweise hielt er sie für einen Feigling, der nicht genügend Mut besaß, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Falls Patty ihn nicht erreichte, hatte sie keine Chance, sich zu verteidigen und ihn über ihre missliche Lage aufzuklären. Patty stoppte noch bei zwei weiteren Telefonzellen, doch vergeblich. Shannons Tele fon blieb besetzt. Anscheinend hatte man immer noch nicht bemerkt, was geschehen war. Sie zermarterte sich das Gehirn nach einem Ausweg. Irgendwie musste sie Christopher Bescheid geben. Aber wie? Durch Trudy. Ja, Patty wollte sofort nach ihrer Ankunft in Kathryns Haus ihre Freundin anrufen. Die Auseinandersetzung tags zuvor würde Trudy nicht abhalten, ihr zu helfen. Davon war Patty überzeugt. Unwillkürlich wurde ihr bewusst, dass sie diesmal nicht davor zurückscheute, Trudy um einen Riesengefallen zu bitten. Pattys ganzes Denken war nur noch von dem Gedanken beherrscht, sich mit Christopher in Verbindung zu setzen. Sie hatte sich erstaunlich verändert, was sie hauptsächlich Christopher verdankte. Pattys Ansichten über echte Freundschaft hatten sich in den letzten Tagen radikal gewandelt. Sie war zu dem überraschenden Schluss gekommen, dass eine Freundschaft ähnlichen Regeln unterworfen war wie das Verhältnis von Lehrern und Schülern. Sie funktionierte nur in einer Art Wechselbeziehung, in der auf persönliche Eigenheiten jedes Partners gleichermaßen Rücksicht genommen wurde und spontane Reaktionen erlaubt, ja sogar notwendig waren. Patty war klar geworden, wie einseitig sie die Beziehung zu ihrer Familie bisher gestaltet hatte. Sie drängte ihre Hilfsbereitscha ft ihren Geschwistern und Freunden förmlich auf, verzichtete aber auf jedes Hilfsangebot von deren Seite. Dadurch hatte sie anderen ihre eigenen Vorstellungen von Freundschaft aufgezwungen und jede Spontaneität bereits im Keim erstickt. Nie reagierte sie situationsbedingt, sondern immer berechenbar, ihren eigenen Gesetzen folgend. Mit diesem Verhalten musste sie ihre Freunde und Bekannten tödlich gelangweilt haben. Höchste Zeit, einmal neue Töne anzuschlagen, dachte sie spöttisch. Warum jeder Auseinandersetzung ausweichen und immer nur auf Ausgleich bedacht zu sein? Nein, künftig wollte sie sich auch auf gefährliches Terrain wagen und sich nicht scheuen, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen. Das war bedeutend besser, als einfach übergangen zu werden. Patty, das gutmütige Schaf, hatte ausgedient. In Zukunft sollte niemand mehr darauf warten, dass ihr ein Heiligenschein wuchs. Natürlich wusste sie, dass sie ihr jahrelang praktiziertes Verhalten nicht schlagartig ändern konnte. Doch zumindest wollte sie sich bemühen, nicht mehr in den alten Trott zu verfallen. Immerhin hatte sie bereits erste Schritte in diese Richtung getan und bei mehreren Gelegenheiten ein klares Nein ausgesprochen, wo sie noch vor einer Woche mit einem Ja geantwortet hätte. Und sogar die sonst unvermeidlichen Gewissensbisse waren
ausgeblieben. Außerdem reagierten Trudy und Tom auf ihre plötzliche Aufsässigkeit zwar reichlich geschockt, bestraften sie aber keineswegs mit Liebesentzug. Und auch Phillip ließ sie für ihre Absage nicht büßen. Das bewies, wie unbegründet ihre derartigen Ängste gewesen waren. Den Menschen ihrer Umgebung war es einfach zur Gewohnheit geworden, sich in Notfällen an sie zu wenden. Gewohnheit! Kathryn, das Nesthäkchen der Familie, hatte sich angewöhnt, sich stets in letzter Minute an ihre große Schwester zu wenden. Und warum auch nicht. Sie, Patty, hatte sich seit jeher um Kathryn gekümmert und sie wahrscheinlich zu sehr verwöhnt. Sie vermutete, dass die Nachgeburtsdepressionen ihrer Schwester weniger auf hormo nelle Störungen, sondern auf ihren veränderten Familienstatus zurückzuführen waren. Kathryn musste erstmals in ihrem Leben die Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen, was ihr bestimmt einige Schwierigkeiten bereitete. Doch würde sie sich schnell in ihre neue Mutterrolle hineinfinden, dessen war Patty sicher. Eine Mallory gab nicht so schnell auf. Patty lenkte ihr Auto durch die Einfahrt ihrer Schwester und sprang aus dem Wagen. Sie hielt sich nicht lange mit dem Klingeln auf, sondern stieß die Haustür auf und stürmte in Richtung Küche, wo das Telefon stand. „Ich bin Kathryns Schwester", rief sie im Vorbeigehen einem Mädchen zu, das sie mit aufgerissenen Augen anstarrte und über das sie beinahe gestolpert wäre. „Ich muss dringend telefonieren. " Während sie Trudys Nummer wählte, sah sie auf die Uhr. Nur durch ein Wunder konnte es Trudy noch gelingen, rechtzeitig den Flughafen zu erreichen, um Christopher ihre Nachricht zu überbringen. Trotzdem wollte sie nichts unversucht lassen. „Wie heißt du? Wo ist das Baby?" fragte sie das Mädchen, das ihr in die Küche gefolgt war. Trudy, nun nimm schon ab, flehte sie in Gedanken. „Tina." Das Mädchen zog seine Jacke an und nahm die Schultasche. „Draußen im Hof." „Allein?" „Der Hof ist eingezäunt." Entsetzt über die grausame Gleichgültigkeit des Mädchens knallte Patty den Hörer auf die Gabel. „Wie konntest du nur so verantwortungslos handeln", schimpfte sie und eilte in Richtung Hof, um nach ihrem kleinen Neffen Ausschau zu halten. „Kathryn hat mir aufgetragen, ihn bis zu Ihrem Kommen dort zu lassen", verteidigte sich das Mädchen. Auf dem Weg nach draußen fragte sich Patty, wie eine Mutter nur so herzlos sein konnte, einfach zu verreisen und ihr Baby an einem kalten Winternachmittag auf dem Hof in der Obhut eines Teenagers zurückzulassen. Dafür verdiente Kathryn eine gehörige Tracht Prügel. Verzweifelt sah sich Patty auf dem Hof in alle Richtungen um. Weit und breit waren weder ein Kinderwagen noch ein Baby zu sehen. Dafür jagte ein ausgewachsener Bernhardiner, der mindestens zehnmal so groß wie Mr. Wiggles war, in großen Sprüngen und mit hechelnder Zunge auf sie zu. Patty wurde kreidebleich und fühlte sich einem Herzschlag nahe. „Wo ist er?" rief sie. „Sind Sie blind?" Tina deutete auf den Hund. „Babe steht doch direkt vor Ihnen." „Ich rede nicht vom Hund, sondern von Jonathan." „Jonathan? Den lieferten Kathryn und Charles bei Ihrer Schwester ab. Sie wollten den Hund in ein Tierheim geben, fanden aber so kurzfristig keinen freien Platz." „Heißt das . . ." Pattys Blick wanderte von dem zotteligen Hund zu dem Teenager. Sie begann laut zu lachen. Normalerweise passierten ihr derartige Missverständnisse nur mit ihren Abc-Schützen. „Dachten Sie etwa, ich hätte Jonathan nach draußen gesperrt?" erkundigte sich Tina ungnädig. Patty nickte und lachte noch immer. Kein Wunder, dass Tina sie so angesehen hatte, als
wäre sie einer Irrenanstalt entflohen. „Seit wann besitzen die beiden einen Hund?" „Seit ungefähr einem Monat. Charles findet es gut, wenn Jonathan und der Hund zusammen aufwachsen, ungefähr so wie Brüder. Ziemlich verrückte Idee." Tina schlang sich den Riemen ihrer Schultasche um die Schulter. „Der Hausschlüssel liegt auf dem Küchentisch. Das Hundefutter steht in der Abstellkammer. Bezahlt wurde ich bereits. Ich gehe jetzt." „Gut." Patty lächelte. „Bitte entschuldige das Missverständnis." „Schon gut." Das Mädchen nickte ihr kurz zu und ging. Allein gelassen mit dem Riesenhund, war Patty plötzlich keineswegs mehr zum Lachen zumute. Sie setzte sich auf die Treppenstufen und legte die Arme um den Hals des Bernhardiners. Wenigstens verhielt sich Babe friedlich. Für eine Nachricht an Christopher war es nun endgültig zu spät. Sein Flugzeug musste jeden Augenblick starten. „Wenn ich nur ein Quäntchen von Christophers oder Toms Glück besäße", murmelte Patty in Babes dickes Fell. Er drehte seinen großen Kopf zu ihr herum und winselte. Dann ließ er ein gefühlvolles Jaulen hören. „Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können." Wie lange sie so dasaß und ihr Unglück betrauerte, wusste Patty nicht. Sie empfand keine Wut auf Kathryn. Schließlich wusste diese nichts von ihrem geplanten Floridaurlaub. Wahrscheinlich war Kathryn wegen ihrer eigenen Reise am Telefon so aufgeregt gewesen, dass dieses Durcheinander zustande kam. Eine unglückselige Verkettung von Missverständnissen, an der Kathryn keine Schuld trug. „Komm, Babe. Fahren wir erst einmal zu mir nach Hause. Was hältst du davon, dir mit Mr. Wiggles an Thanksgiving eine Dose Truthahnfutter zu teilen?" Schweren Schrittes folgte sie dem Hund ins Haus. Sie vergewisserte sich, dass alle Stecker herausgezogen waren, überprüfte die Fenster und sperrte beide Haustüren ab. Als leistete er ihr wie ein aufmerksamer Gastgeber Gesellschaft, trottete Babe durch das Haus hinter Patty her. Den Hund in ihr zweitüriges kleines Auto zu verfrachten, erwies sich als körperliche Schwerstarbeit. Sie zerrte an seinen Beinen und dem Halsband, und schließlich gelang es ihr unter Aufbietung aller Kräfte, ihn zwischen Vorder- und Rücksitz zu schubsen. „Am besten wäre es, dich zu satteln und auf dir heimzureiten", stöhnte Patty. Babe schenkte ihr einen Blick, als hätte er diesen Vorschlag durchaus erwägenswert gefunden. Auf der Fahrt zu ihrem Haus dachte Patty fieberhaft über die Möglichkeit nach, ihre Urlaubspläne mit Christopher doch noch zu verwirklichen. Vielleicht fand sie jemanden, der auf den Hund aufpasste. Sie hatte in ihrer Nachbarschaft stets geholfen, wenn jemand Hilfe brauchte. Und falls sich kein gefälliger Nachbar um Babe kümmerte, dann eve ntuell Pauline oder Trudy. Angenommen, es gelang ihr, dieses Problem zu lösen. Wie kam sie dann nach Florida? Es würde bestimmt schwierig sein, ohne Vorausbuchung zu Beginn der Ferien einen Platz im Flugzeug zu bekommen. Sicher waren alle Flüge ausgebucht. „Vergiss nicht die Wartelisten", murmelte sie. Welche Alternativen gab es zum Flugzeug? Keine. Bei einer Fahrt mit dem Auto würde ihr gerade genügend Zeit bleiben, Christopher guten Tag zu sagen und sich dann wieder auf den Rückweg zu machen. Oder sie ve rsteifte sich nicht auf einen Flug nach Miami, sondern akzeptierte jeden Flughafen in Florida, den man ihr anbot. Von dort konnte sie dann mit einem gemieteten Wagen zu Christopher fahren. Das klang schon besser. Patty entschied, sich erst einmal für verschiedene Flüge auf die Warteliste setzen zu lassen und sich hinterher bei Shannon nach Christophers Adresse zu erkundigen. Ja, sie wollte Christopher mit ihrem Besuch überraschen. Ein riskantes Unterfangen, denn höchstwahrscheinlich schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Es war wohl vernünftiger, ihn vorher anzurufen. Aber wenn er sich weigerte, mit ihr zu
sprechen und einfach auflegte? „Dann werde ich ihn zwingen, mir zuzuhören", sagte Patty laut. Mutige Worte, denen erst noch Taten folgen mussten. Einer stets auf Ausgleich bedachten Friedensstifterin dürfte es außerordentlich schwer-- fallen, jemanden unter Druck zu setzen, überlegte sie selbstkritisch. Aber ich habe mich gewandelt. Zwar nicht total, aber doch unübersehbar. „Falls er nicht mit mir spreche n will, werde ich ohne Vorwarnung vor seiner Haustür aufkreuzen", murmelte sie in einer Art Selbstgespräch. Sie erinnerte sich an seine Behauptung, nur Shannons Klinikaufenthalt hätte ihn davon abgehalten, vor ihrem Haus ein Iglu zu bauen. „Sollte er mich nicht in sein Haus lassen, baue ich eben eine Sandburg in seinem Vorgarten und ziehe dort vorübergehend ein." Sobald sie ihm das Geschehene erklärte, würde er sicher seinen Ärger als ungerechtfertigt abtun und mit ihr über die ganze Angelegenheit lachen. Gerade seinen Sinn für Humor schätzte Patty besonders an ihm, und deshalb hoffte sie, dass ihn die unfreiwillige Komik ihrer Situation milde stimmte. Als Patty zu Hause ankam, schwirrte ihr der Kopf von Plänen und Ideen, wie ihre derzeitige Lage zu meistern wäre. Auf keinen Fall wollte sie kampflos aufgeben, und das war ein für ihr künftiges Leben nicht ohne Einfluss bleibender Entschluss. Außerdem versprach das alles recht aufregend zu werden.
10. KAPITEL
Dreimal legte Christopher die kurze Strecke zwischen Pattys Wohnzimmer und seinem in ihrer Einfahrt geparkten Wagen zurück. Und bei jedem Gang schleppte er einen der drei mit geschäftlichen Unterlagen angefüllten schweren Holzkästen hinein, die er bisher im Haus seiner Schwester aufbewahrt hatte. Um sich Zutritt zum Wohnzimmer zu verschaffen, hatte er zuvor ohne große Mühe das wenig stabile Schloss von Pattys Hintertür aufgebrochen. Natürlich wollte er es am nächsten Tag auf seine Kosten reparieren lassen. Rasend vor Zorn hatte Christopher beschlossen, Miss Mallory eine gründliche Lektion in Sachen Liebe und Vertrauen zu erteilen. Hinterher gedachte er sie dann ausführlich darüber zu belehren, wie ein Mann sich fühlte, der versetzt wurde. Nachdem er auf dem Flughafen vergeblich eine halbe Stunde nach Patty Ausschau gehalten hatte, wusste er, dass weiteres Warten zwecklos war. Bei jeder anderen Frau hätte er in einem solchen Fall aufgegeben, nicht jedoch bei Patty. Ihr wollte er beweisen, wie unrecht sie ihm mit ihrem Misstrauen tat und wie wenig sie ihn kannte. Sie unterschätzte seine Ausdauer bei weitem, sei es nun im Beruf oder im Privatleben. Und so packte er die im Keller seiner Schwester lagernden Kästen in sein Auto und fuhr damit zu Pattys Haus. Er wollte sie zwingen, Seite für Seite die von seinem Finanzberater erstellten Unterlagen zu lesen. Sie möchte wissen, ob ich ein tüchtiges Mitglied der Gesellschaft bin, dachte er grimmig. Jetzt kann sie sich während ihrer gesamten Ferien davon überzeugen, denn so lange benötigt sie zum Lesen sämtlicher Papiere. Er parkte seinen Wagen in einer Seitenstraße und kehrte in Pattys Wohnzimmer zurück. Dann schaltete er das Licht aus und wartete. „Vorwärts, Babe!" befahl Patty dem zwischen Vordersitz und Rücksitz eingezwängten Hund. Seine Hinterbeine drehten sich hilflos im Kreis, als sie ihn am Halsband packte und daran zog. Mit seinen großen braunen Augen sah er sie wie ein duldsamer Märtyrer an. „Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, dich in einem Pferdeanhänger zu transportieren'', stöhnte sie. Christopher spähte neugierig durch das Wohnzimmer und beobachtete Patty. Sein Ärger flaute etwas ab, denn sie stand dort draußen in fast der gleichen Position wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie an Christys , Stiefel zerrte. In gebückter Haltung zog sie an einem hinter dem Vordersitz verstauten Gegenstand, der ziemlich groß und schwer sein musste. Ebenso plötzlich wie ein knallender Champagnerkorken schoss Babe aus dem Auto und riss Patty mit sich, so dass sie gemeinsam in einer Schneewehe landeten. Liebevoll legte er ihr die Vorderpfoten auf die Schultern. „Lass mich los, du Riesenlümmel!" rief Patty. Babe leckte ihr das Gesicht und trottete zum nächstliegenden Strauch, um sein neues Territorium abzustecken. Patty rollte sich seitwärts, stand auf und klopfte sich mit beiden Händen den Schnee vom Mantel. Wenn Babe so weitermacht, setzt er die ganze Gegend unter Wasser, dachte sie und sah zu, wie der Hund bei jedem Strauch und Baum sein Bein hob. „Hinein mit dir!" befahl sie mit strenger Lehrerinnenstimme und deutete auf die Eingangsstufen. „Und hechle nicht dauernd so blutrünstig." Sie schlug die Autotür zu. Erstaunlicherweise folgte Babe. Patty schloss auf und ließ den Hund in den Flur. „Sieh dich in Ruhe um und mach es dir bequem. Ich muss erst einmal telefonieren." Begierig, ihre im Auto ge fassten Pläne zu verwirklichen, ging sie schnurstracks in die Küche. Sie beschloss, als erstes Trudy anzurufen. „Hallo, Trudy?" fragte sie, nachdem gleich beim ersten Klingeln abgenommen worden war. „Trudy ist momentan beschäftigt." Das war eine Männerstimme. „Mit wem spreche ich?" Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich. Ein Räuspern, das unverwechselbar war. „Phillip?"
Patty hörte gedämpftes Flüstern. Anscheinend hielt er den Hörer bedeckt. „Phillip, ich weiß, dass Sie es sind. Bitte geben Sie mir Trudy", rief sie. Aus dem Wohnzimmer drang lautes Knurren. Auch das noch, dachte Patty verzweifelt. Babe hat den von Mr. Wiggles verursachten Fleck auf dem Teppich entdeckt und weiß nun, dass hier ein Hund lebt. Hoffent lich fühlt er sich nicht bemüßigt, ebenfalls seine Spuren auf dem Teppich zu hinterlassen. „Halt den Mund, Babe, und benimm dich anständig, wie es sich für einen Gast geziemt." Christopher saß reglos auf der obersten der übereinander gestapelten Holzkästen. Nur weil ihn interessierte, was Patty ihrer besten Freundin zu berichten hatte, war er ihr nicht sofort in die Küche gefolgt. Er betrachtete die riesige Schnauze des Bernhardiners und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Da sein Opfer keinen Muskel bewegte, setzte sich Babe abwartend auf die Hinterbeine. Sein Knurren ging in ein Bellen über. „Guter Hund, braver Hund", flüsterte Christopher. Babe spitzte seine Schlappohren. „Trudy!" rief Patty erneut. „Hör auf zu schreien, Patty, bevor mir das Trommelfell platzt", meldete sich ihre Freundin. „Entschuldige bitte." Patty verkniff sich die Frage nach Phillip. Trotz ihrer in den letzten Tagen neu gewonnenen Erkenntnisse über wahre Freundschaft fand sie es besser, wenn Trudy von sich aus Phillip erwähnte. Außerdem gab es momentan Wichtigeres, als Trudy mit Fragen zu belästigen. „Was machst du hier in St. Louis? Ich dachte, du wärst bereits auf dem Flug in den sonnigen Süden?" fragte Trudy verwundert. „Ich habe meinen Flug verpasst, weil ich vorher noch dringend zum Haus meiner Schwester fahren musste." „Unverbesserliche Närrin", kommentierte Trudy kurz und bündig. Patty schluckte den Vorwurf ohne Widerrede hinunter und hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf. „Trudy, du musst mir einen großen Gefallen erweisen." „Lieber Himmel, es geschehen noch Zeichen und Wunder", spottete Trudy. „Nun stell dich nicht so an, weil ich dich einmal um etwas bitte." „Mir kannst du nichts vormachen, meine Liebe. Eher geht die Welt unter, als dass du jemanden um einen Gefallen bittest." Der Weltuntergang ist nicht mehr weit, dachte Patty in einem Anflug von Galgenhumor. Schon erzittert der Fußboden unter Babes Gewicht. „Ich benötige jemanden, der während der Ferien auf einen Hund aufpasst." „Sagtest du nicht, Christy würde sich um Mr. Wiggles kümmern?" „Es handelt sich nicht um Mr. Wiggles, sondern um den Hund meiner Schwester. Könntest du auf ihn aufpassen?" „Natürlich. Mein Pudel wird sich über Gesellschaft freuen." „Nun, er - hm . . ." Patty brachte es nicht fertig, ihrer Freundin Babes Größe zu verheimlichen, auch wenn die Gefahr bestand, dass Trudy ihr Angebot zurückzog. „Babe ist ein Bernhardiner." „Oh!" „Aber er ist sehr gutmütig." Diesen Eindruck hatte Christopher ganz und gar nicht. Die Vorderpfo ten gegen den untersten Holzkasten gestemmt, blickte der riesige Hund ihn drohend an, als wollte er ihn warnen, auch nur eine einzige falsche Bewegung zu machen. „Moment mal", sagte Trudy. Patty hörte sie mit Phillip flüstern. „Mein Freund ist bereit, ihn aufzunehmen. Er hat einen großen Garten." Trudy kicherte und senkte die Stimme. „Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass mein Hund ihm das Hosenbein zerrissen hat, verhält er sich sehr anständig." Patty fühlte sich versucht, noch weitere Zugeständnisse hinsichtlich der Weihnachtsfeier
zu machen, erinnerte sich aber rechtzeitig an ihre guten Vorsätze. Sie schuldete Phillip keine Gegenleistung. „Übermittle deinem Freund meinen herzlichen Dank für seine Hilfe." „Ich werde es ihm ausrichten. Übrigens, ich wollte dich noch wegen meines Einmischens in deine persönlichen Angelegenheiten um Verzeihung bitten." „Und mir tut es leid, dich so angefahren zu haben. Sind wir wieder Freunde?" „Darauf kannst du wetten. Bring Babe zu mir, bevor du fliegst." „Nochmals vielen Dank. Bye." Im selben Augenblick, als Patty den Telefonhörer auflegte, brach im Wohnzimmer ein Höllenlärm los. Patty hörte das Geräusch von splitterndem Holz und befürchtete, Babe hätte sich ihre Möbel zum Abendessen erwählt. „Babe, aus!" Sie rannte durch den Flur ins Wohnzimmer und schaltete das Licht an. Angesichts des sich ihr bietenden Chaos' hielt sie sich überrascht die Hand vor den Mund. Unzählige Papierblätter wirbelten durch die Luft, und auf dem Boden lagen drei seitwärts gekippte, geheimnisvolle Holzkästen. In der Mitte des Zimmers lag ausgestreckt ein anscheinend völlig erstarrter Christopher, auf dessen Brust Babe mit seinen mächtigen Vorderpfoten stand. „Ruf deinen Bluthund zurück!" rief Christopher, sichtlich um Gelassenheit bemüht. „Hierher, Babe! Lass diesen reizenden Mann los, er tut mir nichts." Der zornige Blick, mit dem Christopher Patty maß, veranlasste sie, sich seiner freundlichen Gefühle nochmals zu versichern. „Du tust mir doch nichts, oder?" „Nun..." - Babe fletschte die Zähne. Christopher zwang sich zu einem ruhigen Ton. „Ihr passiert nichts. Ich bin kein Anhänger der Prügelstrafe." „Hierher, Babe! Jetzt gibt es einen leckeren Hundekeks", lockte Patty den Hund. „Nun komm schon." Er nahm seine Pfoten von Christophers Brust und lief auf Patty zu. Langsam setzte sich Christopher auf und verfolgte, wie die zottelige Gestalt hinter Patty in Richtung Küche trottete. Er hörte Papierrascheln, dann ein dankbares „Wuff" und schließlich das Geräusch eines im Schloss umgedrehten Schlüssels. Schnell raffte Christopher einige der am Boden liegenden Verträge zusammen und sprang auf. Einzig und allein von dem Gedanken beseelt, Christopher endlich ihr Dilemma zu erklären, kam Patty ins papierübersäte Wohnzimmer zurück. „Christopher, ich hab' das Flugzeug verpasst wegen . . ." „Ich weiß, wieso du es versäumt hast." Es kränkte ihn noch mehr, dass sie Babe als Ausrede benutzte, obwohl der Grund auf der Hand lag. Sie hielt ihn für einen nichtswürdigen Taugenichts, ein unwürdiges Mitglied der Gesellschaft. Er streckte ihr den in der Hand haltenden Packen Papiere entgegen. „Lies das hier", sagte er eisig. „Christopher, du wirst dich totlachen, wenn du erfährst. . ." „Dies hier ist keineswegs zum Lachen. Nun lies endlich." „Aber…" „Du sollst das lesen, Lady." Unsanft drückte er ihr die Blätter in die Hand, wobei einige zu Boden fielen. „Diese Papiere enthalten einige Auskünfte über mich, die du wissen solltest." Kopfschüttelnd sank Patty aufs Sofa. „Aber . . ." „Lies!" Zwar hatte sie nicht die leiseste Ahnung, was das sollte, doch der unerbittliche Ton seiner Stimme veranlasste sie zum Nachgeben. Solange sie dieses Zeugs nicht gelesen hatte, würde Christopher sie nicht zu Wort kommen lassen. „Also gut", seufzte Patty und richtete ihr Augenmerk auf die Blätter. Handelsverträge, stellte sie verdrießlich fest. Sie überflog die Überschrift. „Übertragung von Patentrechten", stand da. Verstohlen betrachtete Patty den mit grimmiger Miene vor ihr auf und ab gehenden Christopher. Keine Chance, ihm etwas zu erklären, fand sie und wandte sich notgedrungen
dem Vertragstext zu. Er war in einer ihr ziemlich unverständlichen juristischen Fachsprache verfasst, so dass sie nur ein Zehntel dessen begriff, was sie las. Soweit sie erkennen konnte, ging aus dem Vertrag hervor, dass Christopher damit berechtigt wurde, ein europäisches Produkt mit dem schönen Namen „Sunshine" in den Vereinigten Staaten in Lizenz herzustellen und zu vertreiben. „Was ist Sunshine?" „Ein Eau de Toilette, für das ich die alleinigen Verkaufsrechte in den USA besitze." Ein Lächeln huschte über Pattys Gesicht. Ihre Nase hatte sie also nicht getrogen. Christopher duftete tatsächlich nach Sonne. „Nächstes Blatt", befahl er barsch. Ihr verschmitztes Lächeln drohte ihn von seinem Vorsatz abzubringen, sie Seite für Seite jedes Vertrages lesen zu lassen. Er fand Patty in der modischen Kombination zum Anbeißen. Nur sein noch nicht völlig verrauchter Zorn über ihr mangelndes Vertrauen hinderte ihn daran, sie in die Arme zu schließen und auf dem Teppich leidenschaftlich zu lieben. Dies und die Gewissheit, dass Babe die Tür der Kammer aus den Angeln heben würde, sobald er seltsame Geräusche aus dem Wohnzimmer vernahm. „Einige der Erzeugnisse habe ich schon oft in Supermärkten gesehen", sagte Patty, die gehorsam Seite für Seite studierte. „Richtig." Schlagartig dämmerte es ihr, welch hohe Summen Christopher durch seine Exklusivrechte bei dem Verkauf der einzelnen Produkte verdiente. Er musste bereits Millionär sein. Und er hatte viele Länder bereist, deren Namen sie nur aus dem Atlas kannte. Christopher hatte sozusagen im Alleingang einen Teil des amerikanischen Importmarktes erobert. Er blieb vor ihr stehen und sah auf sie hinunter. „Kannst du eigentlich ermessen, wie demütigend es für einen Mann ist, der Frau, die er liebt, erst beweisen zu müssen, dass er ihrer wert ist?" Ähnlich wie Kinder es zu tun pflegen, konzentrierte sich Patty nur auf das, was sie interessierte. „Du liebst mich?" „Glaubst du, ich hätte diese Kästen aus sportlichem Ehrgeiz in dein Wohnzimmer geschleppt? Es bedurfte zweier erwachsener Männer, sie in den Keller meiner Schwester zu schaffen. Heute verlieh mir der Gedanke an deine Zweifel die Kraft, sie allein hierher zubringen." Nachdem Christopher seinem Herzen Luft gemacht hatte, packte er seinen auf einem Sessel liegenden Anorak. „Ich fühle mich momentan nicht zu einer sachlichen Unterhaltung imstande. Mein Stolz ist zu sehr verletzt worden", sagte er. „Lies erst einmal die ganzen Papiere und rufe mich dann bei Shannon an." Irgendwie muss ich ihn zurückhalten, überlegte Patty fieberhaft. Er liebt mich. Dieser Gedanke ließ ihr Herz höher schlagen. Sie legte die Verträge beiseite und sprang auf. „Wage es nicht, durch diese Tür zu gehen, Christopher Turner. Babe könnte dich für einen Dieb halten, und ich werde mich hüten, ihm das auszureden", warnte sie. Er ignorierte ihre Drohung und schlüpfte ungerührt mit einem Ärmel in den Anorak. „Ich wollte mit dir nach Florida fliegen." Patty fasste Christopher am Ärmel, doch er schüttelte ihre Hand ab. „Hast du nicht gehört, dass ich mich nach einer Bleibe für Babe umsah?" „Deine Bemühungen, dieses Monster irgendwo unterzubringen, sind kein Beweis dafür, dass du mir nachkommen wolltest." Patty riss der Geduldsfaden. Erspielte absichtlich den Begriffsstutzigen und räumte ihr keine Möglichkeit zur Rechtfertigung ein. Und obendrein bezichtigte er sie, eine berechnende Frau zu sein, deren Liebe käuflich war. Zugegeben, sie hatte einige charakterliche Mängel, aber Geldgier gehörte nicht dazu. Tief gekränkt und zugleich wütend versetzte sie ihm unerwartet einen heftigen Stoß vor die Brust. Er verlor das Gleichgewicht und landete in dem Sessel, auf dem vorher sein
Anorak gelegen hatte. „Du bringst mir nicht das geringste Vertrauen entgegen, sondern willst alles schwarz auf weiß haben. Tut mir leid, aber diesmal musst du dich mit blau auf rosa begnügen." Bevor er sich von seiner Überraschung erholen konnte, war Patty in die Küche geeilt und hatte ihren Blazer geholt. Sie wühlte in der Tasche, bis sie den rosa Zettel fand, auf den die Schulsekretärin Kathryns Nachricht notiert hatte. Triumphierend hielt sie ihn Christopher unter die Nase. „Lies das, damit dir endlich klar wird, was geschehen ist." Patty betrachtete seinen gesenkten Kopf und widerstand nur knapp der Versuchung, ihm das sonnengebleichte Haar aus der Stirn zu streichen. Vorsichtshalber verschränkte sie die Arme vor der Brust. Christopher las die Notiz und reimte sich nach und nach alles zusammen. Patty hatte ihn nicht wegen das Hundes versetzt, sondern offenbar die etwas verworrene Mitteilung falsch verstanden und ange nommen, sie müsste auf das Baby ihrer Schwester aufpassen. Dafür konnte er sie nicht verurteilen, denn er hätte ebenso gehandelt. „Immerhin hättest du mich anrufen können", sagte er. „Das versuchte ich ja. Eine deiner Nichten hat sich gemeldet, jedoch vergessen, jemanden ans Telefon zu holen. Wahrscheinlich ist es sogar jetzt noch besetzt, weil der Hörer nicht aufgelegt wurde." Christophers dunkle Augen leuchteten. Ein verständnisvolles Lächeln spielte um seinen Mund. „Und am Flughafen konntest du mich ebenfalls nicht erreichen." „Richtig." Patty versetzte mit einem Fuß einigen der am Boden liegenden Blätter einen Stoß. „Ich frage mich, wie du dich in eine Frau verlieben konntest, von der du glaubtest, sie sei nur auf dein Geld aus." Christopher fühlte sich unsäglich froh und lachte erleichtert. Patty scherte sich keinen Deut um sein Einkommen. Seine Zweifel waren völlig unbegründet gewesen. „Untersteh dich ja nicht, mich auszulachen, du ... du Klassenclown." Sie drehte sich auf dem Absatz um und hastete in Richtung Küche. Die aufsteigenden Tränen machten sie fast blind. „Und jetzt verschwinde!" rief sie über die Schulter. Christopher sprang auf und eilte hinter ihr her. In seinen Augen blitzte ein Funke auf. „Du liebst mich, habe ic h recht? Nur deshalb bist du so aufgebracht." „Dir ist die Bedeutung des Wortes Liebe ja völlig fremd", entgegnete Patty und wechselte auf dem Flur die Richtung. Momentan fühlte sie sich im Schlafzimmer besser aufgehoben. Wollte Christopher vorhin nicht etwas Zeit zum Nachdenken haben? Kein Problem. Ihretwegen konnte er monatelang nachdenken. Jahrelang. Christopher packte sie an der Schulter und drehte sie zu sich herum. „Es hat lange genug gedauert, bis ich dich endlich fand. Jetzt wirst du mich nicht mehr los." Wenn er sich einbildet, er könne mich mit blumigen Worten besänftigen, täuscht er sich gewaltig, dachte Patty. Sie versteifte sich in seinen Armen. „Wie ich dir bereits damals erklärte, als du mich zwangsweise in deinen Wagen brachtest, bin ich selbständig und unabhängig. Du kannst dir dein Geld an den Hut stecken." „Das beantwortet meine Frage nicht. Du liebst mich, nicht wahr?" „Nein", antwortete Patty halsstarrig. Momentan glaubte sie sogar selbst, was sie sagte. Sie hasste ihn. „Sieh mich an. Sieh mich mit deinen wunderschönen blauen Augen ganz genau an." Trotzig hob Patty den Blick. Ihr stockte kurz der Atem. Christopher lächelte weder ironisch noch triumphierend, was sie möglicherweise zu einer Ohrfeige verleitet hätte. Wer sie so anschaute, musste sie wirklich lieben. Das begriff sie nun. „Ja", flüsterte sie. „Ich . . . ich liebe dich." „Auf ewig?" „Ja." Er lockerte seinen Griff, ohne den Blick von ihr zu wenden. „Bedingungslos? Durch einen einzigen geschäftlichen Fehlschlag könnte ich mein gesamtes Vermögen verlieren." Patty lächelte. „Ich empfände es als nette Abwechslung, wenn du eine Zeitlang auf mich
angewiesen wärest. Du weißt ja, wie sehr ich es genieße, gebraucht zu werden. So schnell wird sich das bei mir nicht ändern, auch wenn ich daran arbeite." „Ich liebe dich so, wie du bist", flüsterte er und senkte seinen Mund auf ihre Lippen. Der Kuss drückte aus, was sie beide füreinander empfanden. Sie hielten sich fest umschlungen und küssten sich voller Zärtlichkeit und Hingabe. „Heirate mich, Miss Mallory", sagte Christopher schließlich. „Wann?" „Sobald die dreitägige Wartefrist verstrichen ist." Patty dachte kurz an ihren Vater, der sich für seine älteste Tochter eine prunkvolle Hochzeitsfeier wünschte. Darauf konnte sie nun keine Rücksicht nehmen. Sie sehnte sich zu sehr danach, ganz zu Christopher zu gehören und mit ihm eine Familie zu gründen. „Schlägst du etwa vor, durchzubrennen? Wohin?" fragte sie. „Nach Florida, wohin sonst." „Es wird schwer sein, so kurzfristig einen Flug zu buchen. " Patty zwinkerte ihm vergnügt zu und wies mit einer Kopfbewegung auf das hinter ihm stehende zerwühlte Bett. „Ich würde gern erst einmal meine Erinnerung auffrischen." Christopher lächelte ebenfalls. Da er ein eigenes Flugzeug besaß, entfiel für ihn das Buchen. Er musste nur am Flughafen anrufen und einen neuen Abflugtermin vereinbaren. Doch das hatte Zeit bis später. Er nahm seine Krawatte ab und begann sein Hemd aufzuknöpfen. „Möglicherweise habe ich meinen Beruf verfehlt", scherzte er. „Denkst du, du hättest besser Lehrer werden sollen?" Patty öffnete den Rock und ließ ihn zu Boden fallen. Dann zog sie die Schuhe aus. „Du bist ja einer, allerdings hast du nur eine Schülerin - mich." Ihr Puls beschleunigte sich, als Christopher mit einer Hand über ihre Hüfte strich. „Sprichst du von Privatunterricht?" Er entledigte sich in Windeseile seiner übrigen Kleidung. „Genau." Christopher überbrückte die Entfernung zwischen ihnen und öffnete Pattys Büstenhalter. „Zu gewissen Zeiten solltest du deine Selbständigkeit vergessen und dir von mir beim Auskleiden helfen lassen." Er streifte ihr die zarte Spitzenwäsche ab, umfasste ihre bloßen Brüste und massierte mit dem Daumen die rosa Knospen, bis sie hart wurden. Patty fühlte, wie sie am ganzen Körper zu glühen begann. Als Christopher sich herabneigte und an ihren Brustspitzen saugte, sie mit Zähnen und Zunge liebkoste, warf Patty stöhnend den Kopf nach hinten und vergrub die Hände in seinem blonden Haar. „Sag mir, was du besonders magst." Langsam ließ er seine Lippen zu ihrem Bauch wandern. „Ich mag alles. Ja, das ist schön." Patty überließ sich ganz ihren sinnlichen Empfindungen. Ihre Knie wurden weich, als Christopher ihre Beine auseinanderdrängte und mit dem Mund eine brennende Spur von ihrem Bauch zu den Oberschenkeln zog. Er stützte sie mit den Händen und fuhr fort, sie mit den Lippen zu liebkosen. „Halt mich fest", flüsterte Patty mit vibrierender Stimme. Langsam ging sie in die Knie. Sie klammerte sich an Christophers Schultern und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Ohne ihren leidenschaftlichen Kuss zu unterbrechen, sanken sie engumschlungen auf den Boden. Patty erforschte mit den Händen Christophers Rücken und umfasste seinen festen Po. Er stöhnte lustvoll auf und stieß mit seiner Zunge herausfordernd in ihren Mund. Mund an Mund begannen sie ein wildes Spiel, bis ihr gegenseitiges Verlangen übermächtig wurde. Beide sehnten sie sich nach einer Vereinigung ihrer Körper zur Besiegelung ihrer Liebe. Patty führte Christopher zu sich und nahm ihn auf. Eine Weile lagen sie ganz still, um
diesen einzigartigen Moment zu genießen. Ein innerer Friede erfüllte Patty. Was sie mit Christopher verband, war eine besondere Form der Zusammengehörigkeit, die weit über körperliche Befriedigung hinausging. Erstaunt betrachtete sie Christophers verzücktes Gesicht. Sie bewegte leicht ihre Hüften, um ihn noch mehr zu erregen. Christopher wünschte sich, für immer in diesem Zustand zu verharren, doch Pattys aufreizende Bewegung brachte seine Kontrolle ins Wanken. Seine Stöße nahmen an Heftigkeit zu, bis er schließlich spürte, dass Patty , sich dem Höhepunkt näherte. Er sah, wie ihre Augen einen seltsamen Glanz annahmen, und hörte sie seinen Namen rufen. Noch einmal drang er tief in sie ein und sank nach einer Weile mit einem Stöhnen auf sie nieder. Mit Patty im Arm rollte sich Christopher auf den Rücken und drückte sie fest an sich, während er ihr mit heiserer Stimme Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterte. Patty genoss seine liebevollen Worte mit einem zufriedenen Lächeln. Mit Christophers Hilfe war es der Friedensstifterin letztendlich gelungen, ihren eigenen inneren Frieden zu finden. Sie verdankte es allein der Liebe zu ihm, endlich zu sich selbst gefunden und sich von ihren selbsterrichteten Zwängen befreit zu haben. Am sonnigen Strand von Florida hätte sie nicht glücklicher sein können, als sie sich hier auf dem weichen Schlafzimmerteppich fühlte. Patty blickte durch das Fenster in die hereinbrechende Winternacht hinaus. Draußen sanken die Temperaturen, doch solange sie sich Christophers Liebe gewiss war, konnte selbst die grimmigste Kälte ihr nichts mehr anhaben. -ENDE