Nina Engels
Gilmore Girls
ER LIEBT MICH,
ER LIEBT MICH NICHT
Roman
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Bibliografische Information Der Deut...
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Nina Engels
Gilmore Girls
ER LIEBT MICH,
ER LIEBT MICH NICHT
Roman
-1-
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Roman »Gilmore Girls — Er liebt mich, er liebt mich nicht«
von Nina Engels entstand auf Basis der gleichnamigen
Fernsehserie von Amy Sherman-Palladino, produziert von Warner Bros.,
ausgestrahlt bei VOX.
Copyright © 2006 Warner Bros. Entertainment Inc.
GILMORE GIRLS and all related
characters and elements are trademarks of and
©Warner Bros. Entertainment Inc.
WB SHIELD:TM ©Warner Bros. Entertainment Inc.
(s()6)
VGSC 4241
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2006
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Sabine Arenz
Lektorat:Verena Ludorff
Produktion: Susanne Beeh
Titelfoto: © 2006 Warner Bros.
Satz: Hans Winkens,Wegberg
Printed in Germany
ISBN 3-8025-3529-4
Ab 01.01.2007:
ISBN 978-3-8025-3529-1
www.vgs.de
Scanner: crazy2001
K-Leser: klr
Dieses E-Book ist nicht für den Verkauf bestimmt
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Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. So lautet ein ziemlich bekanntes Sprichwort. Aber mal ehrlich: Stimmt das denn überhaupt? Ich, Rory Gilmore, glaube nicht daran. Okay, zumindest nicht in jedem Fall. Denn manchmal gibt es Situationen, in denen Reden das einzig Wahre ist. Reden, reden und nochmals reden. Zumindest für mich. Und ich rede am liebsten mit meiner Mom. Mit Lorelai Gilmore. Mit der besten Mom, die Stars Hollow — ach, was sag ich? —, die die Welt je gesehen hat! Mit ihr ist Reden wunderbar. Sie ist lustig, sie ist klug, sie ist schlagfertig, sie ist verständnisvoll — und sie kann auch zuhören. Wenn sie Zeit hat. Denn in den letzten Wochen hatten wir genau damit ein Problem. Obwohl wir im Zeitalter der Mobiltelefone angekommen sind und in diesem Kommunikationszeitalter eigentlich immer und jederzeit erreichbar sein sollten, sieht die Realität oft anders aus. Die Realität heißt Mailbox. Und so schön es auch ist, nicht unterbrochen zu werden und seinen Senf ungestört in ein geduldiges Vakuum verzapfen zu können, so anstrengend wird es auch, wenn nur noch die Mailbox anspringt. Genauso war das bei meiner Mom und mir. Und das, obwohl wir so dringend jemanden zum Reden hätten gebrauchen können. Denn bei uns lief plötzlich einiges schief. Nein, natürlich nicht zwischen meiner Mom und mir, sondern bei mir in Yale und bei Mom in Stars Hollow. Doch dazu später. Zurück zum Sprichwort. Dass das Sprichwort einfach nicht stimmt, sieht man auch bei meiner besten Freundin Lane. Ich glaube, dass es wesentlich besser wäre, wenn -3-
sie sich mit ihrer Mom, Mrs Kim, aussprechen -würde, als vorzugeben, alles sei in bester Ordnung. Denn das ist es ganz und gar nicht. Schließlich hat Mrs Kim Lane mit Pauken und Trompeten vor die Tür gesetzt, als deren Schlagzeug ans Licht kam oder besser gesagt Lanes Doppelleben als Schlagzeugerin. Hätte Lane mit ihrer Mom geredet, bevor diese die raffinierten CD-Verstecke, heimlichen Rocker-Klamotten und verbotenen Bücher bei ihrer Tochter fand, wäre es wahrscheinlich besser gewesen. Nachdem sie es nämlich herausgefunden hatte, wollte Mrs Kim gar nicht mehr reden. Seitdem wohnt Lane bei mir in Yale und macht sich dort nützlich, wo sie kann — macht Kaffee, hält die Wohnung in Schuss und hört meinen Mitbewohnerinnen zu. Was nicht immer einfach ist, denn die wiederum reden ziemlich viel. Besonders eine. Paris. Und na ja: Bei Paris würde ich bezüglich des Sprichworts eine Ausnahme machen ... Reden, Kommunikation, Sprache — das hört sich erst mal langweilig an, ist aber das ganz große Thema, wo man auch hinsieht. Das meinte auch der ältere Herr am Rednerpult, der bei der großen Gala zum Erhalt alter Handschriften die Eröffnungsansprache hielt. Leider war die Rede nicht gut. Genau genommen war sie kreuzlangweilig. Aber das ist ja nichts Ungewöhnliches bei den Galas von meiner Grandma. Den meisten Gästen ist das egal. Sie sind ja gar nicht wegen der Rede da und auch nicht wegen des Themas. Ob das nun den Erhalt alter Handschriften, des Regenwalds oder der guten Sitten betrifft — das Einzige, worum es bei diesen Galas wirklich geht, ist das gesellschaftliche Ereignis. Wer redet mit wem was wie lange? Die Gala als Selbstzweck sozusagen, oder, buddhistisch gesprochen: Der Weg ist das Ziel. -4-
Mom und ich verstanden nie so richtig, was daran so fürchterlich wichtig war. Für uns war jede Gala nichts im Vergleich zu einem großen Kaffee bei Luke mit einem Stück Kuchen dabei. Das war das Größte, aber wir wuss ten: Wenn wir es wagten, bei solch einer Gala nicht zu erscheinen oder vorzeitig zu verschwinden, würde das ernste Konsequenzen nach sich ziehen. Meine Grandma war schließlich berühmt und berüchtigt dafür, der Drachen unter Hartfords ehrbaren Gattinnen zu sein. Davon konnten die vielen gekündigten Hausmädchen ein Lied singen. Und Mom auch. Ich allerdings nicht, denn aus unerfindlichen Gründen war meine Grandma zu mir die Güte in Person. Und mein Grandpa auch. Jetzt bin ich allerdings weit, sehr weit von meinem Thema abgekommen. Das hieß, glaube ich, Kommunikation. Reden und so weiter. Leider wissen Grandma und Grandpa anscheinend auch nicht, dass das doofe Sprichwort gar nicht stimmt. Das mit dem Reden und dem Schweigen, meine ich. Denn wenn sie es wüssten, würde Grandma sicher weniger powershop-pen und sich dafür mal mit meinem Grandpa unterhalten. Zum Beispiel zum Thema häufige Dienstreisen. Oder zum Thema Pennilyn Lott, seiner Jugendliebe, mit der er heimlich einmal im Jahr essen gegangen ist. Oder auch zum Thema neuer Style. Denn mal ehrlich: Grandpa ist in letzter Zeit wirklich etwas verändert. Er hat sich einen Schnurrbart wachsen lassen, mit dem er laut Emily eher wie ein Kokaindealer aussieht als wie ein ehrbarer Geschäftsmann. Und: Er ist ziemlich oft unterwegs. Gerne über Nacht und gerne mit Jason, seinem Kompagnon und dem — Lover? Freund? Partner? — ach, dem Was-weiß-ich-nicht-was meiner Mom. Aber nichts gegen Jason, er ist okay. -5-
Emily allerdings gibt ihm die Schuld, dass sich Richard verändert hat, sie fühlt sich vernachlässigt, hintergangen und einsam — aber statt mit Grandpa Tacheles zu reden, geht sie lieber shoppen, brüllt die ganze Mall zusammen und fächert sich mit der Kreditkarte Luft zu. Der goldenen, versteht sich. Goldene Kreditkarten sind, zugegeben, auch nicht zu verachten. Und so ein amtlicher Kaufrausch ist dann manchmal fast so gut wie reden. Manchmal vielleicht sogar besser. Das wissen wir alle, oder? Hüte, Schuhe, Röcke, Mäntel - jede neue Saison ein Ereignis! Wenn man das nötige Kleingeld hat. Und genau das ist das nächste Problem: Geld, das man hat oder eben nicht ... Es war an einem Samstagmorgen, ich schlief noch tief und fest in meinem Bett, Lane tief und fest auf der Couch im Wohnzimmer — nur Mom war wach. Wach vor Kälte. Ein Fenster im Wohnzimmer war kaputtgegangen, draußen war Frost, und drinnen war es ungefähr so warm wie im Kühlraum eines Iglus. Wenn es so was überhaupt gibt. Mom hatte noch keine Handwerker gerufen, denn das Geld war knapp und Luke hilfsbereit. »Wieso ist es denn hier so kalt?«, wollte ich wissen, als ich schließlich aufgewacht war, ins Wohnzimmer ging und meine Mom auf Lane sitzen sah, die sie ganz offensichtlich für mich gehalten hatte. Als Mom erschrocken aufschrie, konnte ich ihren Atem in der Luft stehen sehen. Ich glaube, so muss es in der Tundra sein. Oder in Sibirien. Oder ist Sibirien etwa in der Tundra? Zum Glück studiere ich nicht Geografie. »Aber ich hab auf dir gesessen«, meinte Mom entgeistert, starrte erst mich an und dann das eingemummelte Ding auf der Wohnzimmercouch. »Aber wenn du dort stehst, wer ist dann das?« -6-
»Keine Ahnung«, meinte ich und rieb mir so fest es ging die Arme, damit ich nicht auf der Stelle Gefrierbrand bekam. »Wir haben einen Fremden in unserem Haus!«, stellte Mom fest, und ich schlug Robert Downey, Junior vor. Doch Mom war das wohl nicht aufregend genug. Sie vermutete eher einen Mörder unter der Decke. »Der noch 'n Nickerchen hält, bevor er ein paar Leute umlegt?«, hakte ich nach und konnte Mom damit überzeugen, dass ihre Mörder-Theorie auf ziemlich wackeligen Füßen stand. Sie zählte eins und eins zusammen. »Also gehört das wohl zu dir.« Sie deutete wieder auf die rote Rolle auf der Couch. Dann bückte sie sich und zog vorsichtig die Decke ein wenig herunter, sodass Lanes Gesicht zum Vorschein kam. Ich bemerkte erst jetzt, was für eine lustige Mütze Mom trug. Es handelte sich um so eine schwarze Hip Hop-Strickmütze, und auf der Stirn räkelte sich ein Pin up-Girl. Wieder einmal fragte ich mich, ob ich jemals so modemutig werden würde. Oder bliebe ich immer diejenige von uns beiden, die klamottenmäßig nie ein Risiko eingehen, zur Strafe allerdings optisch in eine Bankfiliale passen würde? Da ich das jetzt sowieso nicht beantworten konnte, blickte ich zu Lane und tat so, als wüsste ich von nichts. »Sie muss mir von Yale hierher gefolgt sein. Ich hab gesagt, sie kann das Wochenende über dableiben.« »Warum sollte sie, wenn sie auch hier schlafen kann, wo selbst die Pinguine erfrieren?« Da waren wir wieder bei meiner Ausgangsfrage, warum es eigentlich so kalt war, und Mom erzählte mir von dem Fenster, das kaputtgegangen war, als sie es -7-
schließen wollte, und dass sie Luke bereits gebeten hätte, es zu reparieren. Dann führte sie mich in eine Decke gehüllt in die Küche, stellte den Backofen auf 200 Grad, öffnete die Klappe und platzierte zwei Stühle davor. »Ruf doch jemand anderen an, wenn Luke jetzt nicht sofort kommen kann. Beispielsweise 'n Glaser!«, schlug ich vor. Ich hatte keine Lust, das Wochenende bibbernd vor Kälte zu verbringen. Ich wollte es kuschelig warm haben bei meiner Mom. Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein«, meinte sie. »Luke wird immer böse, wenn ich jemanden für Dinge bezahle, die er umsonst macht. Und dann hält er jedes Mal einen Vortrag darüber, wenn wir uns sehen. Das ist ätzend!« Sie griff die Tasse Kaffee, die ich ihr reichte, nahm einen Schluck und begann, Luke nachzumachen: »Ach, wie viel hast du noch mal für die Fensterreparatur bezahlt? Was denn, hast du etwa keinen gefunden, der dir deine Geldbörse klaut? Hey, weißt du was? Ich hab 'ne Idee! Geh zum Geldautomaten einer fremden Bank und bezahl fünf Mäuse dafür, dass du Geld von deinem Konto abhebst, oder kauf per Telefon Karten für ein Konzert. Dann ist die Vorverkaufsgebühr nämlich doppelt so teuer wie die Karten selbst. Oh, und du hast noch die 50 Dollar teure Flasche Wein an der Tankstelle übersehen, die im Supermarkt vielleicht gerade mal zehn Dollar kosten würde.« »Oh, mein Gott«, meinte ich seufzend und — zugegebenermaßen — etwas abwesend. »Luke ist ja echt ätzend.« »Hm. Und?« Mom sah mich an. Mit diesem Röntgenblick, den ich nur allzu gut von ihr kenne. Ich
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beschloss, so zu tun, als würde ich nicht verstehen, worauf sie hinauswollte. »Was?«, meinte ich und widmete mich wieder meinem Kaffee. »Ich frag mich, wo du mit deinen Gedanken bist.« »Ich, ahm, denk im Moment an nichts.« »Und dieses Nichts trägt nicht zufällig 'ne Lederjacke?« Sie ließ nicht locker. Auch dieses Verhalten war mir nicht neu. »Nein, absolut nicht.« »Hm.« Meine Antwort stellte sie ganz offensichtlich nicht zufrieden. Und sie hatte Recht. Meine Mom kannte mich oft besser als ich mich selbst. Und während ich mir selbst ganz gut was vormachen konnte, zum Beispiel, dass ich über Jess und die ganze verkorkste Geschichte schon längst hinweg war, funktionierte das bei Mom nicht so einfach. Sie fragte so lange nach und sah mich immer weiter mit diesem Blick an, bis mir nichts anderes übrig blieb, als mir einzugestehen, dass Jess mir seit unserer letzten Begegnung im Kopf herumspukte und ein bisschen auch im Herzen. »Denkst du, dass er erfroren ist?«, wollte ich wissen. »Nein. Er hat doch nicht bei uns geschlafen«, grinste Mom. »Luke hat ihn sicher reingelassen.« Wir kamen nicht dazu, das Thema noch weiter zu erörtern, denn Lane kam in die Küche gewankt. Bibbernd vor Kälte. Es kam mir ganz gelegen, dass unser Gespräch fürs Erste beendet war, denn ich wusste doch selbst noch nicht, was ich von alldem halten sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht wollte, dass Jess im Wagen vor Lukes Cafe erfroren war — aber deshalb muss man doch nicht gleich verliebt sein, oder?
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»Hey, hat eben irgendwer auf mir gesessen?«, fragte Lane und griff sich eine Tasse. »Meine Hüfte tut weh.« »Oh«, meinte Mom. »Du wirst alt.« Und sie selbst wirkte so unglaublich jung, während sie das sagte! Viel jünger als so manche Kommilitonin von mir. Okay, das kam bestimmt daher, dass Mom zarte sechzehn gewesen war, als sie mit mir schwanger wurde, und eben deshalb auch noch tatsächlich ziemlich jung war. Sechzehn plus achtzehn ist vierunddreißig. Das kam aber auch daher, dass Mom eben ein ziemlich verrücktes Ding war, bombig aussah und auch in allem anderen so ganz anders war als die Mütter meiner Freundinnen. Besser. Viel besser. Nach unserem Kaffee zogen wir uns so schnell es ging an — schließlich konnten wir nicht den ganzen Tag vor dem geöffneten Backofen sitzen. Dann machte sich Mom mit Lanes Hilfe daran, das Fenster zu verarzten. In Ermangelung anderer Hilfsmittel ganz fachmännisch mit Heftpflaster und Frischhaltefolie. »Okay, und festhalten!« Mom konnte kaum sprechen, so kalt war ihr, aber das Fenster war geflickt. »Na, wie sieht es aus?« Sie ging einen Schritt zurück und musterte ihr Werk mit Kennerblick. Lane betrachtete die vielen lustigen BarbieKinderpflaster, die das Fenster aus Frischhaltefolie notdürftig zusammenhielten und ein bisschen an das Versace-Kleid erinnerten, mit dem Hugh Grants Ex auf einer Oscar-Verleihung zu Ruhm und Ehre gelangt war. Die Robe mit den Riesen-Sicherheitsnadeln ... »Festlich und feminin!« Lane tat ganz begeistert, während ein leichtes Frösteln ihren Körper schüttelte. Lorelai sah skeptisch aus. »Ja, und es hat überhaupt keinen Effekt.« - 10 -
»Vielleicht müssen wir noch 'ne Schicht drüberkleben«, schlug Lane vor. »Ja, aber aus Glas!« Moms Stirn legte sich in Sorgenfalten — was ziemlich selten vorkam. Dann sah sie mich die Treppe herunterkommen. »Komm schon her und hilf uns!« »Ich werde doch nicht dabei helfen, das Fenster mit Barbie-Pflastern zu verarzten. Ich werd dir aber immer helfen, einen der vielen unglaublich qualifizierten Glaser anzurufen, die ich im Telefonbuch angestrichen hab.« »Hey, wenn wir das Fenster von jemand anderem als Luke reparieren lassen, dann ist er mit Sicherheit traurig und verletzt. Willst du das?« »Das Telefonbuch liegt in der Küche, Mom«, rief ich und zog mir meine Jacke an, meinen Schal, und meine Handschuhe trug ich bereits. »Ich mach einen kleinen Spaziergang, geh Kuchen essen und bin im Buchladen. Zum Mittagessen bin ich wieder da. Ach übrigens ...« Ich war schon an der Tür, als ich mich noch mal umdrehte. »Da fahren grad ein paar Glaser vorbei, die zeigen auf unser Haus und lachen. Ich wollt's dir nur sagen.« Dann machte ich, dass ich rauskam, während Mom und Lane den Isolier-Trick mit der Frischhaltefolie zu perfektionieren versuchten. Als die beiden alleine -waren, forschte Mom nach, ob es bei Lane und Mrs Kim irgendwelche Fortschritte gab. »Lane«, begann sie und tat ganz beiläufig. »Ich muss nachher 'n paar Besorgungen machen. Brauchst du irgendwas? »Nein, ich hab alles.« Lane tat sich sichtlich schwer mit den vielen Barbie-Pflastern. »Gut. Ich geh vermutlich noch kurz in die Elm.« Moms Tonfall war immer noch ganz beiläufig — dabei war die - 11 -
Katze jetzt, wie man so schön sagt, aus dem Sack. In der Elm Street wohnte Mrs Kim. Und Mom war in diesem Fall ganz Mutter. Sie wollte, dass sich Mrs Kim und Lane genauso gut verstanden wie wir beide. Leider übersah sie dabei, dass Mrs Kim so ganz anders war als sie. Während Mom mir nie Vorschriften gemacht hatte und ich immer das Gefühl gehabt hatte, das tun zu können, was zu mir passte, war Lanes Zuhause gepflastert mit Verbotsschildern. Und dummerweise richteten sich diese Verbote gegen alles, was Lane Spaß machte. Ihre Musik, ihre Band, ihre Freunde, ihr Leben. Mir tat Lane Leid, und wenn es mir nicht schon längst klar gewesen wäre, was für eine fantastische Mom ich hatte, dann wäre es mir spätestens bei Lanes Rauswurf klar geworden. Denn eines hätte meine Mom nie getan: mich an die frische Luft gesetzt. Lane war zwar traurig über die Situation, aber wie das oft bei Menschen asiatischer Herkunft der Fall ist: Sie tragen ihre Gefühle nicht auf ihrem Gesicht spazieren. Lane tat deshalb mindestens so unbeteiligt wie Mom. »Ja, die Elm, das ist 'ne schöne Straße.« Das war alles, was sie dazu sagte. »Da hast du Recht«, meinte Mom. Dann betrachtete sie Lane prüfend von der Seite. »Wenn es irgendwas gibt, was ich in der Elm für dich machen soll, oder wenn ich irgendwen besuchen soll, könnte ich das tun.« »Nicht nötig. Hat sie irgendwas zu Ihnen gesagt?« »Nein, aber sie wollte«, antwortete Mom. »Wie kommen Sie darauf?« Eine Sekunde lang hätte man Lane anmerken können, dass sie die momentane Situation doch ganz schön mitnahm. »Sagen wir einfach, es ist Mutterinstinkt.«
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Lane lachte auf. »Ja. Klar.« Sie wandte sich wieder den Barbie-Pflastern zu und signalisierte, dass das Thema für sie — zumindest fürs Erste — beendet war. Kurz darauf läutete Moms Telefon. Es war Grandma Emily. Sie war wieder einmal völlig außer sich. »Es ist eine Katastrophe!«, schrie sie ins Telefon, kaum, dass Mom abgenommen hatte. »Dass ich existiere?« Emilys Stimme wurde streng, wie immer, wenn Mom einen Witz machte. »Nicht immer geht es nur um dich, Lorelai.« »Oh, Entschuldigung.« »Heute Abend findet die Spendengala für den Erwerb alter Handschriften statt, und für unseren Tisch fehlen mir immer noch vier Gäste.« Aus dem Hintergrund meldete sich nun auch Grandpa Richard zu Wort. »Die Burreis fahren lieber zu ihrer Tochter nach New Hampshire!« »Wenn das so ist, können sie sich auch gleich zum Teufel scheren!« Mom zuckte leicht zusammen. Sie hatte nicht geahnt, wie viel an dieser Gala hing. Das ganze ewige Leben anscheinend. Sie bemühte sich, ganz ruhig zu klingen und nicht loszuprusten. Als sie den ersten Anruf bezüglich der Gala erhalten hatte, war Jason bei ihr gewesen, der ebenfalls gefragt worden war. Die Sache mit Jason und ihr war immer noch geheim; sie hatte noch keine passende Gelegenheit gefunden, Emily und Richard die neue Situation zu erläutern — aber die Vorstellung, einen Abend lang mit Jason an einem Tisch zu sitzen und so zu tun, als könne sie ihn nicht leiden, fand sie einigermaßen absurd. Sie war also ganz sicher nicht erpicht darauf, zu der Gala zu gehen — aber sie - 13 -
hatte schon zugesagt. Als sie Emily das erklärte, war diese trotzdem nicht zufrieden. »Aber unser Tisch ist trotzdem noch halb leer«, klagte sie. »Wie schön, dann gibt es hinterher mal keinen Zoff um den Blumenschmuck in der Mitte.« »Hör auf. Das ist nicht witzig.« In Emilys Stimme schlich sich ein Anflug von Panik, als sie weiter sprach. »Die Letzte, die mit zu wenigen Gästen am Tisch saß, war Loretta Bobbins. Erinnerst du dich an Loretta Bobbins?« »Nein«, antwortete Mom. Sie hatte den Namen noch nie gehört. »Da hast du's!«, rief Grandma so laut in den Hörer, dass Moms Trommelfell schmerzte. »Wer nur ein einziges Mal nicht genug Gäste hat, kriegt nie wieder einen Tisch. Der ist erledigt!« »Mom, so weit kommt es bei dir doch nicht.« Mom versuchte weiterhin, ruhig und gelassen zu klingen - aber es war zwecklos. Emily war ganz aus dem Häuschen. »Du hast gesagt, du würdest kommen!«, rief sie nun, und dann bestand sie darauf, dass Mom »in Begleitung« käme. »Davon ist aber nie die Rede gewesen!«, entgegnete Mom. »Dann reden wir eben jetzt davon.« Die Panik in Emilys Stimme hatte sich noch gesteigert. Das alles nahm sie furchtbar mit. »Ich sage dir noch einmal«, fuhr sie in militärischem Befehlston fort, »bring jemanden mit, Lorelai!« Und als sich Mom immer noch nicht bereit erklärte, rief Emily nur einen einzigen Namen: »Loretta Bobbins!«
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Die arme Loretta Bobbins. Wenn sie gewusst hätte, dass ihr Name fast schon ein geflügeltes Wort geworden war und so etwas wie den gesellschaftlichen Untergang bedeutete ... »Na schön.« Emilys Stimme klang etwas ruhiger, sie hatte sich offensichtlich ausgetobt. »Dann sehen wir uns nachher um sechs. Sei pünktlich, und zieh ja nicht wieder diese eine Strumpfhose an. Damit siehst du aus wie eine Hure.« War sie nicht lieb, meine Gran? Sie wartete eine Antwort gar nicht mehr ab, sondern legte auf und bestellte bei Grandpa Richard einen Gimlet. Als Mom das Tuten in der Leitung hörte, starrte sie noch eine Weile lang nachdenklich auf den Hörer. Zum wiederholten Male sagte sie sich, dass ihre Mom schon eine reichlich merkwürdige Frau war ... In Lukes Cafe war wie jeden Samstagvormittag mächtig viel los. Fast alle Tische waren besetzt, und die üblichen Verdächtigen, wie Miss Patty oder Kirk, waren ebenfalls versammelt. Kirk war schwer beschäftigt. Er betrachtete das für den Abend geplante Freudenfeuerfest als ein bedeutendes gesellschaftliches Ereignis, sah sich als den organisatorischen Kopf desselben und nahm seine Aufgabe sehr, sehr ernst. Während er Miss Patty — obwohl diese kein gesteigertes Interesse daran zeigte — detailliert den Ablauf der Festivitäten erläuterte, stand Lukes Schwester Liz mit ihrer Freundin Carrie an der Theke und fachsimpelte über ein Paar Ohrringe. Dabei beugten sie sich über den Ohrringständer, den Liz in Lukes Laden aufgebaut hatte. Gerade ging es in der Unterhaltung darüber, ob Türkise in Mode waren oder nur noch bei Althippiebräuten Anklang fänden. Carrie, die überzeugt war, selbst wahnsinnig gut und gepflegt - 15 -
auszusehen und die Stil-Ikone von Stars Hollow zu sein, erklärte gerade, dass Türkise niemals out seien, als sich Luke zu ihnen stellte. »Was soll denn das?«, fragte er und betrachtete kritisch den Ohrringständer. »Hey, Luke. Du erinnerst dich doch an meine Freundin Carrie, oder?« Liz tat so, als hätte sie Lukes mürrischen Ton gar nicht wahrgenommen. Vielleicht war sie sein mürrisches Verhalten aber auch einfach gewohnt. Schließlich war er immer ein Muffel. Aber besonders muffelig war er bei Carrie. »Ach, ja. Hey, Carrie«, antwortete er so kurz und knapp, dass es gerade noch nicht unhöflich war. Er wollte sich gleich wieder wegdrehen - aber Carrie hatte nun mal vor ungefähr zwanzig Jahren großes Gefallen an Luke gefunden, setzte nun ihr charmantestes Lächeln auf und legte einen Hauch von Erotik in ihre Stimme. »Hi, Butch. Nett, dich zu sehen. Mal wieder im Footballstadion gewesen?« »Ah, nein, war ich nicht«, antwortete er, ohne weiter darauf einzugehen. Carrie spielte wie üblich auf ein Ereignis an, dass irgendwann einmal im Footballstadium stattgefunden haben sollte. Und an das sich Luke einfach nicht mehr erinnern konnte. Das mochte daran liegen, dass es schon lange, lange zurücklag. Ungefähr zwanzig Jahre. Es mochte aber auch daran liegen, dass er sturzbetrunken gewesen sein musste. Schöntrinken nennt man so was im Volksmund. Anders konnte er sich jedenfalls nicht erklären, dass er damals für einen kurzen Moment Interesse an Carrie bekundet haben musste. Was Carrie nie vergessen hatte. Immer, wenn sie Luke sah, machte sie vieldeutige Anspielungen.
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Genervt wandte sich Luke ab und blickte zu Liz. »Was ist das?«, fragte er und deutete auf den Ständer. »Das ist ein Ohrringständer.« Liz sah ihn verständnislos an. »Und was hat er hier zu suchen?« »Naja, ich will 'n paar Ohrringe hier ausstellen. Vielleicht kaufen ja die braven Bürger von Stars Hollow welche.« »Nein.« Lukes Haltung war eindeutig. »Das hier ist ein Restaurant. Meine Gäste wollen essen, nicht einkaufen.« »Aber jetzt können sie beides tun!« Liz war von ihrer Idee überzeugt. Mindestens so überzeugt wie Luke, dass der Ohrringständer ihr nächster Flop werden würde. Außerdem fühlte er sich in Carries Gegenwart immer unwohler. Sie zog ihn mit ihren Blicken regelrecht aus — und darauf stand Luke nun mal ganz und gar nicht. Zumindest nicht bei Carrie. »Hör zu, Liz«, meinte er deshalb, »kann ich dich ganz kurz mal sprechen?« »Klar, liebster Bruder.« Widerwillig folgte Liz ihm. Als Luke am anderen Ende des Lokals stehen blieb, blickte sie ihn vorwurfsvoll an. »Wieso veranstaltest du so einen Zirkus deswegen?« »Liz«, begann Luke im Tonfall eines Therapeuten, der gerade einen ganz besonders schwierigen Fall auf der Couch liegen hat. »Weißt du noch, damals, als du diese Keramiktöpfe gemacht hast?« Liz senkte den Kopf. Sie konnte sich noch gut an das Desaster erinnern. »Ja.« »Ohne Brennofen?« Wieder nickte Liz. »Richtig.« »Und wie ist das gelaufen?« »Verdammt schlecht.«
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Luke nickte bestätigend mit dem Kopf. »Du warst einen Monat lang deprimiert, hast dir die Haare abgeschnitten und deine Sachen weggeworfen ... So, und wenn du deine Ohrringe hier bei mir ausstellst und kein Mensch sie kaufen will, dann ...« »Ich erinnere mich an diese furchtbare Zeit«, fiel ihm Liz ins Wort. »Aber die Ohrringe - sie verkaufen sich gut auf den Märkten!« »Das glaub ich dir gern. Aber das hier ist doch kein Mittelaltermarkt. Guck dir die Leute an, die haben alle was Besseres zu tun. Niemand wird dir was abkaufen. Bitte, tu ...« Ein Tumult am Ohrringständer unterbrach Lukes Rede. Miss Patty und Kirk hatten den Ständer entdeckt und sich zu Carrie gesellt. Sie waren schlichtweg begeistert. »Oh, was ist denn das? Die sind ja ganz entzückend! Luke, verkaufst du die?« Bei Miss Patty hatten die Ohrringe mit den vielen Türkisen sofort Anklang gefunden. »Ja, sicher«, antwortete Liz an Lukes Stelle. Ein Strahlen ging über ihr Gesicht. Endlich konnte sie ihrem Bruder beweisen, dass nicht alles in ihrem Leben schieflief. »Gut, die nehm ich!« Miss Patty wollte schon ihr Portmonee suchen, da meldete sich Kirk zu Wort. »Augenblick, die wollte ich kaufen«, rief er und drängte sich neben Miss Patty, um möglichst nah an den Ohrringen zu stehen. Miss Patty musterte ihn abschätzig von oben bis unten. »Türkise? Bei deinem Teint, Kirk?« Kirk war wie immer ironieresistent. »Die sind für Lulu. Sie ist ein wahrer Schatz.«
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»Ja, klar«, höhnte Miss Patty. »Hat sie überhaupt Ohrlöcher?« »Das krieg ich raus.« Sofort zückte Kirk sein WalkieTalkie. »Joe, kannst du mir die Ohrläppchen von meiner Freundin beschreiben?« Luke war sich sicher, dass hier gerade eine Komödie mit dem Titel »Wir helfen Liz und schützen sie vor ihrem bösen Bruder Luke« geprobt wurde, und machte mit den Armen eine Geste, die so viel hieß wie »Genug! Schluss! Aus! Danke der Vorstellung!«. »Okay!«, rief er dann. »Ich danke euch beiden sehr für euren Beistand. Das ist echt nett, aber absolut nicht nötig.« Miss Patty begriff nicht. »Was?«, wollte sie wissen. »Zu behaupten, dass sie euch gefallen, nur weil Liz sie gemacht hat.« »Wer behauptet das denn?«, meinte Miss Patty und warf den Ohrringen begehrliche Blicke zu. Und auch Kirk ließ es sich nicht nehmen, die Ohrringe als »verschärft« zu bezeichnen — was sich aus seinem Mund allerdings ziemlich schräg anhörte. Luke verstand die Welt nicht mehr. Zumindest die Welt der Ohrringe. »Die gehen sofort kaputt!«, rief er aus. »Die Leute kriegen bestimmt grüne Ohren davon und müssen dann zum Arzt.« »Krieg dich wieder ein, Bruderherz!« Liz war wieder ganz die Alte. »Ich bin cool, die sind cool, und alle finden's gut.« Wenn die Hippiebraut in ihr erwachte, dann hatte Luke keine Chance mehr. Das wusste er, atmete tief durch und ließ seine Schwester gewähren. Liz ging grinsend auf Miss Patty, Carrie und Kirk zu und wedelte beschwichtigend mit den Armen. »Schon gut, kein Grund zur Aufregung, Leute. Ich mach euch alles, was ihr wollt!« - 19 -
Während ich mir wenig später die Zeit mit einem Stück Kirschkuchen von der Bäckerei Weston's vertreiben wollte und dabei dummerweise Jess begegnete, machte sich Mom auf, um ihre Besorgungen zu erledigen. Als sie Lukes Wagen sah, rannte sie rasch zu ihm hinüber, um ihm noch mal die Dringlichkeit der Fensterreparatur klar zu machen. »Hey, Luke! Hey! Luke, warte doch! Bitte! Ich weiß, du schuldest uns nichts, aber sonst verfolgen dich noch mal unsere gefrorenen Skelette.« Als Mom im Inneren des Wagens gar nicht Luke, sondern eine blonde Frau sitzen sah, stockte sie. Hatte sie etwas Wichtiges verpasst? »Entschuldigung. Ich dachte, Sie wären Luke.« »Ich hätte mehr Lippenstift auflegen sollen.« Die lachende blonde Frau im Wageninnern schien Spaß zu verstehen. »Nein, ich hab nur den Track gesehen.« »Oh, den hab ich mir nur geliehen«, antwortete die Frau und stellte sich dann vor. »Ich bin Liz, Lukes Schwester.« Mom hatte schon viel von ihr gehört - allerdings wenig Gutes. Luke hatte seit Liz' Ankunft kaum eine Gelegenheit versäumt, sich über seine Schwester zu beschweren. Das konnte Mom ihr allerdings schlecht sagen ... »Oh, Lukes Schwester«, antwortete sie deshalb erfreut und kam etwas ins Schleudern. »Da-da-dass du da bist, wusste ich. Hi, ich bin Lorelai. Sag mal, ist Luke im Laden?« »Nein, er ist kurz mal weggegangen. Willst du irgendwas von ihm? Soll ich ihm vielleicht was ausrichten?«
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»Ja, gern! Sag ihm, Lorelai wollte ihn noch mal ganz freundlich an das Fenster erinnern. Ich erwarte ihn um halb sechs völlig verfroren zu Hause.« »Oh, du bist seine Frau?« Für Liz schien die Sache klar zu sein. »Ich weiß, er ist verheiratet, aber ich hab noch kein Bild gesehen, und ... oh, wow!« Liz schüttelte wild den Kopf und vergrub lachend ihr Gesicht in den Händen. Sie schien sich wirklich zu freuen. »Schön, dass wir uns mal kennen lernen!« Durch Moms Körper war bei Liz' Worten ein Ruck gegangen. »Nein, nein, nein«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich, ahm, ich bin nicht seine Frau. Ich bin«, sie lachte etwas verlegen auf, »eine ... Freundin und eine Stammkundin, aber nicht seine Frau.« »Oh, entschuldige. Irgendwie bist du sein Typ. Deshalb ...« »Nein, nein, nein, ich bin nicht sein Typ. Und nicht seine Frau. Nur eine Freundin und eine Stammkundin.« Liz lachte wieder auf: »Dennoch schön, dass wir uns kennen lernen.« Die beiden fanden sich wirklich sympathisch. Sie plauderten noch ein bisschen über Luke, und Mom konnte heraushören, dass Liz mächtig stolz auf ihren großen Bruder war. Sie schwärmte regelrecht von ihm — Luke hatte ihr anscheinend immer wieder aus der Patsche geholfen. Als sie ohne Wohnung dastand, hatte er ihr eine besorgt, bei Liebeskummer hatte er ihr zugehört, und bei Problemen mit ihrem Sohn Jess hatte sich Luke um ihn gekümmert. Mom fand zwar, dass Luke bei Jess versagt hatte, dennoch musste sie Liz Recht geben: Luke half immer wieder anderen Leuten aus der Patsche. In dieser Hinsicht — aber nicht nur in dieser — war er eben ein Gewohnheitstier. - 21 -
»Er ist auf jeden Fall einer von den Guten«, nickte Mom abschließend. »Vielleicht sogar der Beste.« Mit einem Mal wurde sie fast wehmütig. Das passierte manchmal, wenn sie an Luke dachte. Natürlich nicht immer — aber eben manchmal. In solchen Momenten fragte sie sich dann auch, warum sie — um es mit Liz' Worten zu sagen — Lukes Typ war und auch er ihr gefiel, sie aber noch nie etwas anderes gewesen waren als Wirt und Stammkundin, bester Freund und beste Freundin. Die ganze Unterhaltung hatte ihr heute wieder einmal vor Augen geführt, dass das nicht zwingend so sein musste ... Doch dann wischte sie diese Gedanken rasch beiseite. Erstens hatte sie einen Freund: Jason. Zweitens war sie sehr froh, einen besten Freund zu haben: Luke. Und drittens war ihr diese Freundschaft so wichtig, dass sie sie niemals leichtfertig aufs Spiel setzen würde. Ach, und viertens: Für Gedankenspiele dieser Art war es definitiv viel zu kalt. So kalt, dass Mom und ich, als wir uns zu Hause wieder trafen, beschlossen, Babette einen Besuch abzustatten. Babette besaß heile Fenster und einen netten Kamin — das waren in Zeiten wie diesen nicht von der Hand zu weisende Argumente. Und außerdem war es auch so etwas wie ein gutes Werk, sich für Babette als Gesprächspartner zur Verfügung zu stellen. Wenn Gott uns sehen konnte, würde er sicher schnell Luke bei uns vorbeischicken ... Sobald wir bei Babette eingetreten waren, wussten wir, dass der Besuch eine fantastische Idee gewesen war. Es war wohlig warm, und Babette schien sich riesig zu freuen. »Also, Kinder, es ist mir echt 'ne große Freude, dass ihr zwei so ganz spontan in meiner bescheidenen Hütte - 22 -
vorbeischneit. Womit hab ich denn so viel Glück verdient?« Babette drückte uns jedem einen heißen Kakao in die Hand. »Uns ist aufgefallen, dass wir dich ewig nicht gesehen haben, und da dachten wir: Heute ist der beste Tag für einen Besuch bei Babette«, erklärte Mom, während sie Babettes rote Katze kraulte, die sich auf ihrem Schoß eingerollt hatte. Wir hatten es uns in den gemütlichen Ohrensesseln vor dem Kamin bequem gemacht und ergriffen dankbar die warmen Tassen. »Also, ich freu mich wirklich!«, wiederholte Babette, und dann wollte sie wissen, ob wir auch zum großen Freudenfeuerfest gehen würden. »Es wird bestimmt richtig was los sein«, erklärte sie voller Vorfreude. »Schon Kirk bei den Vorbereitungen zuzusehen wäre das Eintrittsgeld mehr als wert. Er wollte allen unbedingt zeigen, wie man die Sterne richtig befestigt, und ist dabei irgendwie hängen geblieben. Wir mussten die Feuerwehr rufen und ihn mit zwei Dosen Thunfisch vom Baum locken.« Babette lachte kurz auf. »Außerdem reden alle in der Stadt bloß noch davon, dass Jess plötzlich wieder da ist. Der blöde, kleine Pinscher hat gedacht, er kann einfach so abhauen, ohne dass es einer mitkriegt. In dieser Stadt? Das ist ja lachhaft!« Bei dem Wort »Jess« hatte ich einen kleinen Stromschlag verspürt, und ich musste daran denken, dass ich ihn nun innerhalb kürzester Zeit schon zweimal wieder gesehen hatte. Weil sein Auto kaputtgegangen war, hatte Jess Stars Hollow entgegen seinen Plänen nicht verlassen können. Da er bei Luke nicht übernachten wollte, denn die beiden waren sich im Augenblick nicht grün, hatte er in seinem Wagen geschlafen. Dieser dann doch etwas rührende Anblick war mir leider nicht erspart - 23 -
geblieben. Und dann war ich ihm zu allem Überfluss ja auch heute noch mal über den Weg gelaufen ... Auch Mom war bei der Erwähnung von Jess' Namen unruhig geworden. Ich hatte ihren prüfenden Blick in meine Richtung genau mitbekommen. In diesem Punkt war sie eine richtige Löwin, die ihr Junges — in diesem Falle mich - mit allen Mitteln bereit war zu verteidigen. Jess war bei ihr jedenfalls unten durch. Richtig unten durch. Ein Mensch, der ihrer Rory wehtat, bekam es mit ihr zu tun! Das alles konnte ich aus Monas Blicken lesen, und ich liebte sie dafür. Als Babette unsere Blicke bemerkte, stockte sie. Sie hatte begriffen. »Oh, es tut mir ganz schrecklich Leid, Schätzchen!«, rief sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich sitz da und plappere die ganze Zeit über Jess ...« »Nicht weiter schlimm, Babette. Das macht nichts.« Ich tat sehr selbstbewusst und stark und blickte dann von Babette zu Mom. »Ich hab ihn gesehen. Heute. Bei Weston's.« »Er war echt bei Weston's?«, fragte Mom schockiert, und Babette konnte kaum an sich halten. »Der kleine Mistkerl!«, schimpfte sie. Fast synchron wollten beide wissen, was gelaufen sei — und ich erzählte das Wenige, das sich ereignet hatte. »Ich bin reingegangen, er hat mich gesehen, und "weg war er.« »Hat er nichts gesagt?«, fragte Mom. »Doch, er hat was gesagt«, nickte ich. »Er sagte: >Ich bin schon weg.<« Und plötzlich war es vorbei mit meiner Stärke und meiner Souveränität. Plötzlich entluden sich meine ganzen Gefühle, und es sprudelte nur so aus mir heraus. »Es war total verrückt. Ich meine, er ist doch - 24 -
wohl abgehauen. Er hat auch nicht angerufen, und jetzt steht er auf und geht, als wäre er wütend. Ich hab Grund, wütend zu sein! Das ist meine Stadt! Ich müsste beleidigt sein und ihn einfach stehen lassen.« Vor Wut waren Tränen in meine Augen getreten. »Süße, du hängst noch an ihm, was?« Babette sah mich mitfühlend an. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass das der Grund für meine Tränen war. Vielleicht hing ich tatsächlich noch an ihm, aber viel wahrscheinlicher war, dass ich weiter an dem Traum hing, den ich damals geträumt hatte. Und vielleicht war's auch einfach nur gekränkte Eitelkeit darüber, dass ein Kerl es sich erlaubt hatte, mich, Rory Gilmore, einfach so abzuservieren. Ich war verwirrt. Und als Mom mich damit tröstete, dass er sicher bald wieder weg war, tat sie das einzig Richtige. Ich nickte. Hoffentlich war er bald wieder weg — denn solange er in Stars HoUow wäre, würde ich ihn nicht vergessen können ...
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Luke war eigentlich ein gutmütiger Kerl, aber als er an diesem Samstagmittag in sein Cafe zurückkehrte und Liz dabei erwischte, wie sie mit einigen rohen Steaks auf dem Arm aus der Küche spazierte, wurde er fuchsig. »Liz. Was tust du da?«, wollte er wissen. »Ich hol nur 'n paar Sachen«, antwortete sie ohne jeden Anflug von schlechtem Gewissen. »Steaks?«, wiederholte Luke ungläubig. »Du holst dir Steaks?« Liz nickte. »Ja, ich will in deiner Wohnung was kochen, und du hast nichts da.« »Dann geh doch zu Doose's«, schlug Luke vor. Als er merkte, dass seine Schwester ihn partout nicht verstand, erklärte er im Ton eines Sozialarbeiters: »Ich hab ein Lokal. Ich serviere Steaks. So verdiene ich mein Geld, und nur so kann ich mir das alles leisten.« Liz winkte ab, schnappte sich eine Packung Brot und inspizierte dann den Kuchen, der auf der Theke stand. »Ach, Luke, 'n paar Sachen kannst du doch wohl rausrücken!« »Woher weißt du, was ich rausrücken kann? Einen Kuchen bestimmt nicht.« »Ach, Pfirsich«, antwortete Liz und legte sich den Kuchen auf die Steaks, »niemand will Pfirsich.« Sie war jetzt so voll beladen, dass sie Schwierigkeiten hatte, nichts davon fallen zu lassen. »Morgen bekommst du einen neuen Kuchen. Heute gibt's 'n Festessen für meine Jungs.«
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Luke sah sie skeptisch an. Er ahnte Böses. »Deine Jungs?«, wiederholte er. »Wer sind denn >deine Jungs« »Du und T.J.!« Liz strahlte über das ganze Gesicht. »Du wirst ihn sicher mögen«, prophezeite sie. »Er ist oben und wartet schon auf uns. Er ...« »Oben, sagst du?«, fiel ihr Luke ins Wort. Er schnappte nach Luft. »In meiner Wohnung? Du lässt einen Typen namens T. J. allein in meiner Wohnung? Aaah, Liz.« Theatralisch schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Er kannte Liz' Freunde zur Genüge! Alles Typen, die man vergessen konnte! Typen, die meistens irgendwann die gesamte Einrichtung seiner gutgläubigen Schwester hatten mitgehen lassen, wenn sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwanden! Liz winkte ab und machte sich auf den Weg nach oben. »Ich war doch nur zwanzig Sekunden weg! Denkst du, er klaut deinen zweistimmig singenden Barsch?« »Ich hoffe sehr, dass der noch oben ist! Einschließlich Batterien!« Luke war Liz die Treppe hoch gefolgt und öffnete die Wohnungstür. T.J., der mit dem Rücken zur Tür stand und eine Dose Tomaten in den Topf gab, drehte sich um, sah Luke an und sagte: »Hey, du bist nicht Liz.« »Du bist zumindest klüger als der Letzte«, entgegnete Luke. Was nicht gerade nett war. Und was nicht unbedingt zu einem entspannten Verhältnis beitrug. Doch T.J. nahm es gelassen und ließ sich bereitwillig von Liz an den Schultern packen und um den Tisch zu Luke führen. »Das ist mein Schatz«, erklärte sie voller Wärme und strahlte abwechselnd Luke und T. J. an. »Das ist T. J.« Sie schien sich wirklich zu freuen, die beiden einander - 27 -
vorstellen zu können. T. J. schien sich auch zu freuen — nur Luke war so wie immer. Muffelig, mürrisch, wortkarg. T. J. streckte Luke die Hand entgegen. »Also, ich heiße T. J.«, meinte er. »Rate, wofür das steht.« »Keine Ahnung.« Lustlos schüttelte Luke T. J. kurz die Hand, nachdem er ihn abschätzig gemustert hatte. »Los, rate.« »Ich kann nicht.« »Komm schon.« Das Gespräch machte T. J. definitiv mehr Freude als Luke, und damit er endlich aufhörte zu nerven, schlug Luke schlussendlich »Thomas Jefferson« vor. »Nein! Thomas Jefferson? Mann, das ist ja 'ne verrückte Idee.«T.J. war beeindruckt — und Luke hatte genug gehört. Er verabschiedete sich und wollte sich schon zum Gehen wenden, aber er kam nicht weit. Liz hielt ihn zurück. Sie wollte aus Luke und T.J. unbedingt beste Freunde machen und konnte einfach nicht glauben, dass das nicht funktionieren sollte, obwohl natürlich schon in den ersten Sätzen zwischen den beiden einiges schief gelaufen war. Luke ließ sich schließlich breitschlagen, sich noch einmal zurück an den Tisch zu setzen, und T. J. bot ihm ein Bier an. »Hey, du meinst mein Bier aus meinem Kühlschrank«, stellte Luke klar, nahm dann aber doch eines und blickte Liz mürrisch an, die weiterhin ganz aus dem Häuschen war. »Oh, ich find das ja so schön!« Sie klatschte vor Rührung in die Hände. »Meine zwei Lieblinge sind hier bei mir, trinken und reden.« Als sich auf einmal die Tür öffnete und Jess eintrat, war ihr Glück perfekt. »Oh, mein - 28 -
Gott! Ist ja Wahnsinn. Ich glaube, das ist Schicksal!« Sie blickte ganz aufgeregt von einem zum anderen. Zu Geburtstag und Weihnachten war jetzt noch Ostern gekommen. »Jess hat nicht gewusst, dass wir hier sind«, meinte sie, und ihre Stimme nahm einen bedeutungsschwangeren Ton an. »Ich hatte keine Ahnung, dass er vorbeikommt. Und jetzt seht euch das an: Alle vereint. Alle Männer in meinem Leben werden zu mir hingezogen, wie durch Magie! Das ist wunderbar. Das bedeutet irgendwas. Und? Spürt ihr's auch?« Während T.J. nickte und auch irgendetwas spürte, sahen sich Luke und Jess viel sagend an. Es war einer der wenigen Momente, in dem sie einer Meinung waren. Dennoch: So richtig wollte die Stimmung einfach nicht steigen. Was vielleicht auch daran lag, dass sich Luke und Jess vor nicht allzu langer Zeit mächtig in die Wolle bekommen hatten. Alles hatte damit geendet, dass Jess seinen Wagen zur Reparatur gebracht beziehungsweise geschoben hatte und nur darauf wartete, dass dieser fertig wurde, damit er Stars Hollow den Rücken kehren konnte. Er war nur noch einmal in Lukes Wohnung zurückgekehrt, um die letzten Sachen zusammenzupacken. Liz hatte von dem Streit gar nichts mitbekommen. Sie wusste auch nichts von Jess' Plänen — und als Jess ziemlich schnell wieder gehen wollte, versuchte sie ihn zum Bleiben zu überreden. »Och, bitte, geh noch nicht sofort!«, bat sie. »Ich schätze, ihr drei versteht euch ganz großartig!« Sie überlegte kurz, dann hatte sie auch schon neuen Gesprächsstoff gefunden. »T. J. findet's toll hier in Stars Hollow, nicht wahr, Baby?« »Oh, ja«, nickte T. J. »Ich fmd's echt schön. Erinnert mich 'n bisschen an New York.« - 29 -
Luke verdrehte die Augen und nickte Jess komplizenhaft zu. »Beide liegen nicht im Weltall!« »Nein, daran liegt's nicht«, antwortete T. J. und blickte Liz grübelnd an. »Es ist diese Energie, oder?« Liz gab ihm Recht. »Genau, ich spür sie auch. Eine sehr ähnliche Energie.« Jess und Luke schienen dem erneut kritisch gegenüberzustehen — und T. J. bemühte sich, die Unterhaltung in unverfängliche Bahnen zu lenken. Bahnen, von denen er dachte, dass sie Luke mehr Spaß machen würden. »Liz hat mir euer altes Haus gezeigt und die Schule. Tolles Foto von dir in Turnhosen.« Er nickte anerkennend — während Luke weiterhin keine Miene verzog. »Mein Bruder war damals 'n wirklich guter Athlet, sag ich dir!«, schaltete sich Liz ein. »Und die Mädels haben dich geliebt. Frag Carrie. Sie waren ein Paar.« Das war zu viel für Luke. »Ich hatte noch nie was mit der irren Carrie laufen!«, versuchte er schnell richtig zu stellen. »Er ist ihr ziemlich nachgelaufen«, erklärte Liz mitfühlend und blickte T. J. an, als ob sie sagen wollte: »Es ist immer noch ein heikles Thema für ihn.« »Ich bin ihr nicht nachgelaufen, und sie ist mir nicht nachgelaufen. Wir hatten nie was miteinander laufen.« Luke klang äußerst genervt, und als T. J. nun auch noch meinte, dass er offensichtlich noch nicht darüber hinweg wäre, erhob sich Luke. Es kam ihm gerade Recht, dass Jess ebenfalls aufgestanden war und sich verabschiedete. Er machte Liz ein Zeichen, dass er mit ihrem Sohn noch etwas besprechen wollte, und folgte Jess nach draußen.
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»Hey, Jess, äh, warte mal kurz«, rief Luke, nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war. »Also, wow! Wenn ich mir für meine Schwester einen Lover aussuchen dürfte, dann wäre dieser Typ aber höchstens sein Chauffeur.« »Ich weiß nicht, er hat irgendwie was«, antwortete Jess zu Lukes Erstaunen. »Ja, ein großes Vakuum im Hirn!« Luke konnte nicht glauben, dass Jess den neuen Lover seiner Mutter tatsächlich okay fand. Er wollte dringend etwas unternehmen und die nächste Enttäuschung für Liz so kurz und so schmerzlos wie möglich halten. Eindringlich blickte er Jess an und fragte ihn, was sie nun tun sollten. »Äh, weswegen?« Jess hatte ihm kaum zugehört. Er hatte weder Lust, sich Gedanken über seine Mom zu machen noch über deren neuen Lover. Und auch nicht über Luke. Aber Luke ließ nicht locker. »Deswegen!«, rief er aufgebracht und deutete auf die Tür. »Wegen der beiden, wegen ihm! Wir müssen irgendwas machen. Ein erwachsener Mann, der so einen Esoterikquatsch von magisch hergezogenen Männern glaubt!« »Kannst ihn ja mal schütteln«, schlug Jess vor. »Womöglich verschwindet er dann.« »Komm schon, findest du ihn etwa gut?« »Ach, Blödsinn. Natürlich nicht. Ich mag keinen von diesen Typen. Aber sie tut ohnehin, wozu sie Lust hat. Ihr ist doch scheißegal, was wir denken. Jedenfalls ist ihr egal, was ich denke. Dafür hab ich neunzehn Jahre lang Beweise gesammelt.« »Nein, es ist ihr nicht egal! Du musst nur den richtigen Ansatz finden.« Luke begriff nicht, dass er auf taube Ohren stieß, und er merkte auch nicht, dass Jess immer - 31 -
weniger Lust zeigte, weiter mit ihm zu reden. Als Jess endgültig gehen wollte und Luke weiterhin nicht lockerließ, kam es zur Explosion. Jess sah rot. »Siehst du, genau das ist dein Problem!«, rief er und funkelte den erstaunten Luke wütend an. »Du willst immer jedem helfen, egal, ob die Leute selbst das auch wollen oder nicht. Du musst für jeden einfach alles regeln! Du musst immer allen zu Hilfe eilen. Du denkst, du bist einer von den Guten, aber eigentlich bist du einfach eine Nervensäge!« Luke wusste nicht, wie ihm geschah. Er stand mit offenem Mund da und hörte seinem Neffen zu, der sich immer mehr in Rage redete. »Du schaffst es, dazustehen wie ein Märtyrer, nur weil jemand deine Hoffnungen nicht erfüllt! Und die anderen haben dann nicht nur das Gefühl, versagt, sondern auch noch, dich enttäuscht zu haben! Ständig mischst du dich ein und machst alles schlimmer als vorher. Keiner verlangt, dass du ihm hilfst. Kein Mensch will, dass du ihm hilfst. Vielleicht solltest du dich mal um deinen eigenen Scheiß kümmern und die anderen in Ruhe lassen.« Mit diesen Worten drehte sich Jess um und ließ den völlig verdutzten Luke im Treppenhaus stehen. Mom staunte nicht schlecht, als sie nach Hause kam und von einer laut fluchenden Stimme begrüßt wurde — schließlich hatte sie die Haustür abgeschlossen. Als sie dem Geräusch folgte, entdeckte sie Luke, der gerade das lustige Barbie-Frischhaltefolie-Fenster inspizierte, und fragte ihn, wie er reingekommen war. »Das Fenster in deinem Schlafzimmer war offen«, antwortete er. Auf den ersten Blick sah er aus wie sonst auch. Er trug seinen olivgrünen Parka, und wie immer hatte er seine dunkelblaue Baseballkappe umgekehrt aufgesetzt, was außer ihm kein Mensch mehr so machte. - 32 -
Auch sein Fünftagebart war nichts Neues. Auf den zweiten Blick allerdings wirkte er ziemlich fertig. Irgendwie blasser als sonst. Mom trat zu ihm und sah ihn prüfend an. »Mein Schlafzimmer ist oben im ersten Stock«, meinte sie. »Was ist denn mit dir los?« »Tja, ich hab doch versprochen, dir das Fenster zu reparieren, und genau das will ich jetzt tun.« Luke wirkte fahrig und sprach undeutlicher als sonst. Deutlich undeutlicher. Und dann sah Mom die Blutflecken auf seinem karierten Hemd. »Oh, mein Gott, du hast dich geschnitten!« Vorsichtig nahm sie seine Hand und warf einen kurzen Blick darauf. Der genügte, um sie zusammenzucken zu lassen. »Das Glas ist zerbrochen«, nuschelte Luke. Mom nickte. »Richtig, deshalb die Reparatur.« Und dann roch sie es. Lukes Fahne. Sie machte einen Ausfallschritt nach hinten und stemmte in gespielter Entrüstung die Hände in die Hüften. »Entschuldige bitte. Hast du etwa getrunken?« Luke schüttelte den Kopf behäbig von einer Seite zur anderen. »Ich hab nicht getrunken. Ich würde nie zu viel trinken.« Er hatte sichtlich Probleme mit der Artikulation, und Mom lachte ihn aus. »Na gut, ein Bier. Ah, Biere. Mehr als eins. Ein paar. Und danach bin ich hergefahren und auf den Baum geklettert.« »Ja, eine tolle Idee!« »Und dann bin ich da runtergefallen. Und ich bin voll auf den Rücken gefallen, genau wie Kirk.« Luke war wirklich süß, so leicht betrunken - aber Mom kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es nicht seine Art war, tagsüber zu viel zu trinken. Irgendetwas musste - 33 -
vorgefallen sein, und dem wollte sie auf den Grund gehen. Sie packte Luke sanft an der Schulter und bugsierte ihn auf das Sofa. »Setz dich und halt schön deine Hand hoch«, meinte sie und drückte ihn in die Kissen. Luke tat wie ihm geheißen und fuhr fort, den Tathergang zu schildern. »Und dann bin ich noch mal hochgeklettert. Diesmal hab ich's geschafft. Ich bin reingekommen. Tut mir Leid wegen der Lampe.« »Hör mal, du hättest dir auch das Genick brechen können!« In Moms Stimme lag ein leiser Vorwurf. Sie hatte Luke den Rücken zugedreht und suchte in einer Schublade nach einem übrig gebliebenen Heftpflaster. Was gar nicht so einfach war, denn die meisten Barbies waren gerade damit beschäftigt, das Fenster zu kleben. »Ach, das wäre nicht schlimm gewesen!«, antwortete Luke und verzog das Gesicht. »Ich hätte mir schon zu helfen gewusst. Das kann ich besonders gut! Ich helfe allen, auch wenn sie meine Hilfe nicht wollen.« »Zeig mal deine Hand.« Mom hatte sich an ihm vorbei auf die Couch gequetscht und neben ihm Platz genommen. Selbst an so einem belanglosen Samstagvormittag sah sie unglaublich aus. Sie trug ihren pinkfarbenen, engen Pullover, um ihren Hals war immer noch der extralange, schwarz-weiß geringelte Schal geschlungen, und an den Beinen hatte sie diese Jeans, die — ich sag's, wie es ist — so einen unglaublich knackigen Hintern machen. Auch Luke schien schon viel zufriedener, als sie neben ihm saß, und grinste behaglich — nur die Aufregung um seine Hand wollte er nicht verstehen. »Warum?«, nuschelte er gedehnt.
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»Weil die Wunde blutet und ich sie verarzten will.« Mom zückte ein Tuch, mit dem sie das Blut erst einmal abtupfen wollte, und nahm seine Hand. Als sie einen Blick darauf warf, lief ein Schauder durch ihren Körper, wie es bei anderen Leuten geschieht, wenn Kreide über eine Tafel kratzt. Schnell schloss sie die Augen. »Eklig!« »Halb so wild«, beruhigte Luke sie. »Lass es einfach.« »Du hast dich verletzt. Halt still.« Mom war ganz in ihrem Element. Sie hatte sich vorgenommen, dem verletzten Luke zu helfen, also tat sie es auch. Auch wenn es nicht ganz einfach war ... So fest sie konnte, kniff sie die Augen zusammen und tupfte, was das Taschentuch hergab. Leider an der verkehrten Stelle. »Das ist mein Handgelenk«, meldete sich Luke zu Wort. »Oh, 'tschuldige.« Für eine Millisekunde lugte Mom auf die Hand. Luke konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Du machst das ja richtig gut.« »Ich kann kein Blut sehen, klar?« »Dann lass es einfach sein.« »Nein, ich werde dich verarzten!« Mom hatte fertig getupft, nahm ein Barbie-Pflaster zur Hand und klebte es mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Wunde. »So, erzählst du mir jetzt, was passiert ist?« »Gar nichts!« Luke stand auf und trat zum Fenster. »Was hast du vor?« »Ich will das Fenster reparieren.« Betrunkene sagen bekanntlich nicht nur die Wahrheit, sie können obendrein auch sehr störrisch sein. So ein Fall war Luke. »Vergiss das Fenster!« »Nein, ich repariere das Fenster! Ich hab's dir versprochen, und ich bin absolut zuverlässig. Ich helfe - 35 -
nämlich immer allen, ob sie es nun wollen oder nicht!«, rief Luke plötzlich, und dann brach der angestaute Frust und die ganze Enttäuschung aus ihm heraus. »So bin ich. Und ich kann nichts dagegen machen. Ja, so bin ich eben. Das ist mein schlimmstes Problem!« Er lachte bitter auf. »Ich hab es zwar bis heute nicht gewusst, aber jetzt ist alles sonnenklar.« Sein Blick fiel auf seine Hand. »Hier, die Hand ist voller Barbies!« »Luke, was ist bloß geschehen?« Mom hatte ihm mit offenem Mund zugehört, aber noch konnte sie sich aus alldem keinen Reim machen. »Gerade hab ich erfahren, was für ein beschissener, dämlicher Vollidiot ich doch bin, ein eingebildeter und rechthaberischer Klugscheißer, der immer nur nörgelt, Leute anschreit, meckert und mit Vorliebe allen anderen das Leben versaut«, klärte Luke sie auf. »Ich bin dumm, alles klar? Nicht so wie Jess. Der ist 'n cleverer Junge. Ihn hat es noch nie gekümmert, was mit anderen Leuten ist. Er interessiert sich nur für sich selbst.« »Hattest du heute Zoff mit Jess?« »Er hat mich darüber informiert, dass ich bloß eine unliebsame Bürde für alle meine Mitmenschen bin.« »Luke, das ist nicht wahr.« Luke brach plötzlich in Lachen aus. Aber das Lachen klang traurig und bitter und enttäuscht. »Doch, ist es!« Mom sprang auf. »Luke, hör auf, ja? Liz hat vorhin erst gesagt, wie dankbar sie ist, einen Bruder wie dich zu haben, und wie sehr sie dich bewundert.« Sie ging um das Sofa herum auf Luke zu. »Du hast mit ihr geredet? Wieso?« Argwohn sprach aus Lukes Stimme. Schließlich fühlte er sich von seiner Schwester schon verraten und ausgenutzt, weil sie hinter seinem Rücken Kontakt zu Jess gepflegt hatte. - 36 -
»Ich hab sie für dich gehalten«, erklärte Mom. »Aber ich bin ein Mann.« Luke war dicht an Mom herangetreten — und wenn es hätte sein sollen, wäre jetzt nicht der schlechteste Zeitpunkt für einen Kuss gewesen. Aber es sollte wohl seltsamerweise nicht sein. Was, hatte Mom doch Liz noch mal erklärt, war sie für Luke? Stammkundin und Freundin — nicht Ehefrau. »Sie hat in deinem Wagen gesessen«, erklärte Mom rasch. »Aber auch wenn ich im Wagen sitze, bin ich noch ein Mann.« »Ich hab nicht gesehen, wer am Steuer saß, klar? Ich bin rübergelaufen, und wir haben uns begrüßt und kurz geredet. Hör mal, sie vergöttert dich.« Mom zögerte einen Augenblick, weil sie nicht wusste, ob sie Luke von Liz' Plänen erzählen sollte. Dann aber überlegte sie, dass Luke ganz dringend Streicheleinheiten für sein Ego brauchen konnte. »Sie will vielleicht sogar wieder nach Stars Hollow ziehen, um in deiner Nähe zu sein.« »Nein, das hat sie nicht gesagt!« »Doch, das hat sie.« Mom machte eine kurze Pause, dann fuhr sie mit sanfter Stimme fort. »Jess ist ein unzufriedener Junge, Luke. Er ist wütend. Er meint doch nicht ernst, was er sagt.« Sie trat nah an Luke heran, nahm ihn mit beiden Händen an den Schultern und dirigierte ihn wieder aufs Sofa. »Hör zu! Willst du dich nicht auf die Couch setzen und dich einen Augenblick ausruhen? Ich hol dir gleich noch ein richtiges Männerpflaster.« »Ich find die mit den Barbies schön. Und nachher komm ich noch mal wieder wegen deines Fensters.« »Ja, Schätzchen, aber die anderen Jungs werden dich verhauen, wenn sie dich mit den Barbies an der Hand - 37 -
sehen. Ich komm gleich wieder.« Mit diesen Worten schnappte sich Mom ihre Tasche, nahm ihre Jacke und machte sich auf die Suche nach ein paar neuen Heftpflastern - und nach Jess. Jess hatte sich, nachdem er Luke die Meinung gegeigt hatte, unverzüglich auf den Weg zu Gypsy gemacht. Er wollte so schnell wie möglich weg aus Stars Hollow. Aus diesem psychologischen Versuchslabor, wie er Gypsy gegenüber erklärt hatte. Gypsy lag auf einem Rollwagen unter dem Auto und war noch dabei, diverse Kabel und Ventile zu überprüfen, als Jess auftauchte — nachdem sie ihm vor einer Stunde erklärt hatte, dass er erst abends wiederkommen sollte ... »Kann ich dir wirklich nicht helfen? Kann ich dir nicht irgendwas reichen? Hör zu, er soll nicht unbedingt wie neu werden, er soll nur fahren.« Gypsy atmete genervt aus und kam unter dem Wagen hervorgerollt. »Ich muss dich mal was fragen«, begann sie und schlug mit ihren Werkzeugen gegeneinander. »Ist dir schon aufgefallen, dass die Geräusche, dieses Geklacker, nachgelassen haben, seit du da stehst? Und diese Geräusche kommen von den Werkzeugen, wenn ich Autos repariere.« »Du bist damit schon ewig zugange«, nervte Jess weiter. »Und es wird noch länger dauern, also verschwinde.« Bevor Jess antworten konnte, rief Mom seinen Namen. Sie hatte ihn schon von weitem bei Gypsy gesehen und kam angerauscht wie ein Racheengel. »Du bist noch keine vierundzwanzig Stunden wieder da, und schon will ich dir den Hals umdrehen!«, schrie sie ihn an. Dass eine Lorelai Gilmore explodierte, kam - 38 -
wirklich selten vor. Ich weiß, wovon ich spreche. Wenn sie allerdings explodierte, dann richtig. Jess wusste nicht, was los war. Oder vielleicht ahnte er es ein bisschen, aber er hatte keine Lust auf eine Standpauke. »Was hab ich Ihnen denn getan?« »Warum erzählst du Luke so einen Mist?«, rief Mom stinksauer. »Einem Mann, der versucht hat, für dich da zu sein, der dir geholfen hat ...« »Was für 'n Mist?«, fragte Jess. »Ich hab keine Ahnung, wovon Sie sprechen!« »Du weißt genau, wovon ich spreche! Stell dich nicht so blöd. Warum machst du so was? Du bist ein unsensibler, gemeiner ...« »Ach, hören Sie auf]«, fiel ihr Jess ins Wort. »Das hat doch gar nichts mit Luke zu tun, es geht um Rory!« »Nein, es geht nicht um Rory, sondern nur um Luke. Hast du nicht einen Funken Empfindsamkeit und Takt in dir? Hast du eine solche Wut auf die ganze Welt, dass es dir egal ist, wen du verletzt?« »Ich schätze mal, wir reden auch jetzt nicht über Rory.« »Zweimal Rory, in nur zehn Sekunden! Du hast wohl nur Rory im Kopf. Ich wüsste gern, wieso.« Mom schaubte vor Wut. »Bist du deshalb hier aufgekreuzt? Kommst du nicht von ihr los, Jess? Bist du deshalb wieder da?« »Nein!« »Gut.Weißt du, sie hat dich längst vergessen. Sie ist drüber hinweg. Sie ist glücklich und zufrieden!« »Beeil dich doch, Gypsy. Ich halt's hier nicht länger aus.« Jess war bei Moms Worten blass geworden. Sie hatten ihn ganz offensichtlich mehr getroffen, als er zugeben - 39 -
wollte. Aber das registrierte Mom schon nicht mehr. Sie bestätigte Gypsy, dass sie sich ja ranhalten sollte, drehte sich um und ließ Jess stehen.
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Am Abend war es soweit. Das große gesellschaftliche Ereignis stand an. Die Spendengala für den Erwerb und Erhalt wertvoller Handschriften! Das hörte sich nicht nur spannend an, das war es auch. Zumindest für Grandma Emily. Doch auch Mom und ich machten erst einmal große Augen, als wir den festlich geschmückten Saal betraten, denn man konnte dagegen sagen, was man wollte, es war auf jeden Fall ziemlich nobel, was wir hier zu sehen bekamen. Riesige Kronleuchter hingen an den hohen Decken, prächtige Stillleben und detailverliebte Kriegsdarstellungen schmückten die Wände, und auf jedem der üppig gedeckten, runden Tische waren aufwändige Blumenarrangements mit weißen und rosafarbenen Rosen drapiert. »Wow, ob Demi und Ashton wohl auch da sind?«, fragte Mom und blieb am Saaleingang stehen, um alles genau zu inspizieren. »Wir kommen zu spät! Grandma sagte, es fängt um sechs an«, drängelte ich und stupste sie von hinten an — doch Mom hatte die Ruhe weg. »Und das bedeutet, um sieben«, stellte sie klar und erklärte mir, dass sie einen um sechs einluden, in dem Wissen, dass vor sieben keiner kam und dass es dann um acht das Essen gab. »Also sind wir eine Stunde zu früh«, schloss sie und ließ ihre Blicke wandern, bis sie an Emily und Richard hängen blieben. »Oh, da sind sie ja«, raunte sie mir zu und winkte dann hinüber. Als Emily uns erblickte, verfinsterte sich ihre Miene. Sie stand auf und kam im Stechschritt auf uns zu. - 41 -
Mom erkannte schnell, dass ihre Mutter äußerst gereizt wirkte, und setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf — sie wusste, dass das mit Abstand die beste Reaktion auf Emilys Launen war. Jahrelange empirische Feldstudien hatten dies bewiesen. »Ich sag ja, wir sind spät dran«, sagte ich noch, und dann war Grandma auch schon bei uns. »Was hat denn Rory hier verloren? Du solltest doch nicht Rory mitbringen! Kennst du nicht einen Mann, der bereit ist, den Abend mit dir zu verbringen?« Grandma war in Fahrt. Sie hatte das alles gesagt, ohne uns zu begrüßen. Und das tat sie unter normalen Umständen schon. Anscheinend lagen ihre Nerven so blank wie schon lange nicht mehr. »Hast du Rory denn nicht gern?«, fragte Mom amüsiert. »Natürlich haben wir Rory gern, aber uns fehlen noch Männer!« »Tja, so geht's mir auch«, grinste Mom — und heimste sich damit direkt den nächsten Rüffel von Emily ein. »Ehrlich, Lorelai, nicht dein Aussehen wirkt abschreckend! Denk mal darüber nach!« Emily war außer sich. Und ich sah den Zeitpunkt gekommen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, um weitere Boshaftigkeiten abzuwenden. »Sag mal, soll ich jetzt gehen oder ...« Ich blickte Emily mit großen Augen an und trat unsicher von einem Bein aufs andere. »Natürlich gehst du nicht! Wir können es ohnehin nicht mehr ändern. Kommt jetzt!« Zielstrebig ging Emily vor und führte uns an den Tisch, an dem jetzt nur noch Grandpa Richard saß und zwei Frauen. Sie sahen aus wie bestellt und nicht abgeholt. - 42 -
»Ach, Rory, was machst du denn hier?«, fragte Grandpa mich erstaunt, und so langsam aber sicher fragte ich mich, ob jetzt alle verrückt geworden waren. Vielleicht lauerte in den Blumenarrangements ja ein fieser Virus, der alle ansprang, die sich an die Tische setzten. Die Blumen als Metapher des Bösen sozusagen, schließlich studiere ich unter anderem Literatur. Statt meiner antwortete Emily, aber nicht ohne vorher die Augen gen Himmel zu schicken. »Lorelai hat keinen Mann gefunden.« »Du hättest mir sagen müssen, dass ich einen Mann mitbringen soll.« »Und selbst wenn, hättest du dann wirklich einen gefunden?« Emily setzte sich, wies uns unsere Plätze zu und stellte uns dann den beiden Tischnachbarinnen vor. »Marjorie, Shauna, das sind meine Tochter Lorelai und ihre Tochter Rory. Das sind Marjorie und Shauna.« Auch Mom kannte die Frauen nicht und wollte leise von Grandma wissen, um wen es sich bei den beiden handelte. »Richards und Jasons Sekretärinnen«, kam es zurück. »Langweilige Frauen, anregend wie Schlaftabletten! Aber was sollten wir tun? Wir waren verzweifelt.« Emily war zugegebenermaßen über Gebühr streng und manchmal auch eine falsche Schlange — in diesem Punkt schien sie allerdings Recht zu haben. Besonders anregend wirkten die beiden tatsächlich nicht. Also, falls Mom sich jemals darüber Sorgen gemacht hatte, ob Jason ein zu inniges Verhältnis zu seiner Sekretärin haben könnte — jetzt konnte sie diesen Gedanken ganz sicher abhaken. Bevor eine peinliche Stille entstehen konnte, trat Jason an den Tisch. Endlich war also noch ein Mann - 43 -
aufgetaucht! Er hatte sich, ebenso wie Grandpa, in Schale geworfen, trug einen Frack samt Fliege und deutete eine Verbeugung an. »Hallo, Emily. Richard.« Dann entschuldigte er sich für sein spätes Erscheinen und steuerte den freien Platz neben mir an. Ich war ziemlich neugierig, wie Mom und Jason mit der Situation umgehen würden. Schließlich war Mom bis jetzt noch nicht bereit gewesen, die Sache mit ihm öffentlich zu machen und ihren Eltern davon zu erzählen. Sie musste also so tun, als würde sie ihn kaum kennen und nicht mögen. Schon das war eine einigermaßen absurde Situation, aber dann wurde alles noch viel verrückter, als Grandma Emily plötzlich eine Idee hatte. Sie befahl, dass ich einen Platz weiterrutschen und Jason sich zwischen meine Mom und mich setzen sollte. »Ihr zwei müsst so tun, als wärt ihr zusammen«, befahl sie und deutete auf Mom und Jason. »Was?« Mom guckte ganz ungläubig, während es Jason zu freuen schien. Und auch Grandpa fand den Einfall klasse und nickte lebhaft. Bestärkt durch so viel Zustimmung pfiff Grandma gleich noch Shauna und Marjorie zusammen und befahl ihnen, wenigstens so zu tun, als ob sie dazugehörten. Als die beiden unsicher lächelten, rollte Emily einmal mehr genervt die Augen. »Ja, schon viel besser!«, lobte sie und beobachtete mich dann bei unserer Reise nach Jerusalem. Obwohl, das stimmte so nicht. Denn während bei der Reise nach Jerusalem ja bekanntlich immer ein Platz zu wenig da war, gab es bei uns einen unbesetzten Stuhl zu viel. Oder doch nicht? Ein Jackett hing über der Lehne, Rotwein war im Glas. »Wen erwartet ihr sonst noch?«, wollte ich wissen. - 44 -
»Niemanden. Wir haben einfach eins von Richards Sakkos über den Stuhl gehängt!«, flüsterte Emily aufgeregt, und Grandpa nickte ganz nervös. »Wir sagen, dass Marjories Mann dort sitzt.« Auch er flüsterte. »Er macht gerade die Runde, aber gegen acht wird er krank und muss schnell weg«, erklärte Emily, und Richard beugte sich vor und wollte in verschwörerischem Tonfall wissen, ob wir die Geschichte auch alle verstanden hätten. Nicht nur ich hatte so langsam das Gefühl, dass wir mitten in einem Irrenhaus gelandet waren — Mom offenbar auch, denn sie nickte heftig. »Ich glaub schon«, sagte sie verschwörerisch und sah Emily und Richard treuherzig an. »Aber dann müssen wir um acht die Jacke verstecken! Also schlag ich vor, ich stopf sie mir unters Kleid und tu einfach so, als war ich schwanger. Jason gibt sich als Arzt aus, Rory gräbt einen Tunnel, und dann ...« »Ich hab geahnt, dass du darüber wieder deine Witze reißen würdest, Lorelai.« Grandma hatte wieder ihren besonders strengen Tonfall angeschlagen, und deshalb beschloss ich, meiner Mom zu Hilfe zu eilen. »Nein, ich will aber die Ärztin sein!«, rief ich aus und brachte Grandma damit ihrem Nervenzusammenbruch ein weiteres Stück näher. »Grundgütiger! Jason, rücken Sie bitte etwas näher zu Lorelai. Um Himmels willen, tut doch wenigstens so, als würdet ihr euch mögen!« Jason grinste, rückte seinen Stuhl noch dichter an Mom heran und nahm ihre Hand. »Hey, deine Mom will es so«, raunte er ihr ins Ohr. - 45 -
Ich war sehr froh, als es im Saal endlich still wurde und die Gala mit einer Rede eröffnet wurde. Ein älterer Herr hatte die Bühne erklommen, sich hinter dem Rednerpult aufgestellt und begann zu reden. Aber meine Freude währte nicht lange, denn seine Ansprache war reichlich langatmig. Ich wurde müde, außerdem hatte ich Hunger. Erst als der Mann eine kleine Kunstpause einlegte und andeutete, dass er bald zum Ende kommen würde, strömte wieder Leben in mich, und ich richtete mich auf meinem Stuhl auf. »Die Bedeutung kann gar nicht genug betont werden«, erklärte er abschließend. »Die Sprache ist die Lebensader der Menschheit! Und deshalb danke ich jedem Einzelnen von Ihnen für seine treue Unterstützung der Ephram Wordus-Stiftung für den Erwerb und die Pflege alter Handschriften. Denn gäbe es sie nicht, würden wir wohl immer noch ziellos in der Erde von Nag Hammadi herumstochern.« Großes Gelächter brandete auf. Ich glaube, die beiden einzigen Gäste im Saal, die die allgemeine Heiterkeit nicht teilten, waren Mom und ich. »Psst.« Mom beugte sich vor und sah mich irritiert an. »Ich schnall das nicht.« »Ich auch nicht.« »Du studierst doch.« Ich zuckte die Schultern. »Ich hab den Grundkurs >Humor bezüglich Handschriften< geschwänzt.« Da von mir keine Erklärung zu erwarten war, beugte sich Mom zu Jason, der besonders ausgiebig gelacht und sogar Applaus angedeutet hatte. »Hey, was war denn so witzig?« »Kann ich dir nicht sagen.« »Aber du hast doch eben gelacht.« - 46 -
»Starte mal eine Umfrage. Kein Mensch in diesem Raum hat eine Ahnung, wovon der verrückte Alte da oben faselt.« Der verrückte Alte tat mir irgendwie Leid. Ahnte er, dass alle Anwesenden nur darauf warteten, dass er endlich mit seiner Rede abschloss und die hungrige Meute mit dem Menü beginnen konnte? Ahnte er, dass es niemanden interessierte, ob für Handschriften gesammelt wurde oder für eine wohltätige Tombola? »Einige hundert literarische Artefakte wären wohl sonst für immer verloren gewesen!«, meinte er gerade. »Doch dank Ihrer großzügigen Mithilfe konnten sie gerettet und für die Nachwelt erhalten werden. Ich möchte Ihnen allen noch einmal danken. Ich hoffe, Sie verbringen hier einen wundervollen Abend!« Ich klatschte irgendwie gerührt in die Hände, während Jason und Mom heftig am Tuscheln waren. »Wie weit können wir gehen? Tanzen?« Jason grinste Mom an. »Möglicherweise.« »Auf die Terrasse gehen?« Mom nickte zustimmend. »Vertretbar.« »Wildes Geknutsche in der Garderobe?« »Oh, das könnte schwierig werden!« Sie wandte sich in gespielter Qual an Emily, die zusammen mit Richard gerade aufgestanden war, um ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen und wichtige Menschen zu begrüßen. »Mom, wie lange sollen Jason und ich noch vorgeben, ein Paar zu sein?« »Lorelai, jetzt hör doch auf, ich bitte dich!«, schimpfte Emily. »Natürlich seid ihr den ganzen Abend zusammen, und damit Ende der Diskussion!«
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»Verstanden«, meinte Mom und zwinkerte Jason zu. »So, alles klar mit der Garderobe.« Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. »Dann los!«, rief er und erhob sich. Mom beugte sich über den Tisch. »Ich werde mit Jason in der Garderobe knutschen. Iss nicht mein Hühnchen.« Ich grinste und fing gerade an, darüber zu grübeln, über was um alles in der Welt ich nun mit Marjorie und Shauna reden könnte, als ein älterer Mann an unseren Tisch trat. Er würdigte uns Damen keines Blickes, sondern stellte sich direkt neben Jason. »Jason.« Als Jason aufblickte und den Mann sah, stand er sofort auf. »Oh, hallo. Ich wusste nicht, dass du auch hier bist.« »Siehst gut aus.« »Danke.« Jason steckte die Hände in die Tasche seines Jacketts und wippte auf den Füßen. »Wie gehen die Geschäfte?« »Ausgezeichnet.« »Freut mich sehr zu hören.« »Wie ist dein Handicap?« Der ältere Herr hatte ebenfalls die Hände in den Taschen vergraben. Allerdings wirkte er irgendwie selbstsicherer als Jason. »Mit dir kann ich noch nicht mithalten, aber ich werde besser.« »Gut. Wenn es so weit ist...« Jason deutete mit dem Zeigefinger auf den Herrn, und dieser wiederholte die Geste. »... dann ruf ich dich an.« »Mach das. Schön, dich wiederzusehen.« »Gleichfalls.« Der ältere Herr entfernte sich, und Jason setzte sich wieder zu Mom. - 48 -
»Und? Wer war das?«, wollte sie wissen. Und ich auch, ehrlich gesagt. So eine Unterhaltung hatte ich bis jetzt zumindest selten gehört. Vielleicht sogar noch nie. Alles hatte so auswendig gelernt gewirkt. Aber gleichzeitig so eingespielt - als ob die beiden diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal geführt hätten. »Mein Vater«, antwortete Jason und tat ganz normal. »Ihr Vater?«, fragte ich entgeistert, und Mom wollte wissen, ob er und sein Vater sich schon mal begegnet seien. »Ja, aber bloß kurz«, antwortete Jason. »Das war auf 'ner Aquaman-Party, glaub ich.« »Oh, Mann. Er nimmt dir übel, dass du nicht mehr bei ihm arbeitest, was?« Mitfühlend legte Mom Jason die Hand auf die Schulter, und auch mir tat Jason furchtbar Leid. »Ihr beide wart so kühl zueinander, als würdet ihr euch kaum kennen.« »Oh, nein, nein. Zwischen uns war das noch nie anders«, widersprach Jason. »Die Frage nach dem Golf war für meinen Geschmack schon viel zu gefühlvoll.« Mom sah ihn ungläubig an. »Wow, dass ich im Vergleich zu jemand anderem meine Mutter als >nett< bezeichne, heißt schon was.« Sie schüttelte noch den Kopf, als Grandpa und Grandma alarmiert hinter uns auftauchten. »Jason, ich hab gehört, Ihr Vater war hier.« Grandpa sah äußerst ernst aus. »Was hat Floyd gesagt?« Noch bevor Jason antworten konnte, schaltete Grandma sich ein. »Er war bei euch am Tisch? Was für eine Frechheit!« Mom blickte Emily an und meinte, dass es wirklich eine ungeheuerliche Frechheit von Floyd war, mit seinem
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Sohn zu reden. Das brachte ihr allerdings nur die nächste Ermahnung ein. »Wenn er hier ist, hat er bestimmt auch ein Motiv.« Grandpa legte die Stirn in Falten. »Ganz recht«, meinte Emily. »Er hatte nämlich noch nie was für alte Handschriften übrig.« »Hm. Er will an Informationen ran!« Richard schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Jason versuchte ihn zwar zu beruhigen - aber er hatte wenig Erfolg. »Wie würden Sie seine Körperhaltung einschätzen?«, forschte Richard nach. Mom verdrehte die Augen. »Na ja, er hat geatmet und aufrecht gestanden. Ich denke, das ist wohl ein Hinweis darauf, dass er lebt.« Ich lächelte Mom an. Mit ihrem Humor schaffte sie es immer wieder, den irrwitzigen Gedanken ihrer Eltern den Spiegel vorzuhalten. Dumm nur, dass weder Grandpa noch Grandma dafür empfänglich waren. Während sie sich sonst in letzter Zeit ja bekanntlich nicht so gut verstanden, waren sie jetzt ein Herz und eine Seele. »Was hat er Sie alles gefragt?« Richard klopfte nervös mit den Fingern auf der Stuhllehne herum. »Er hat nach meinem Handicap gefragt.« »Nichts Geschäftliches?« Richard guckte erst ungläubig und dann so, als wüsste er genau, wo der Hase langliefe ... »Oh-ho-ho«, lachte er. »Er ist gerissen!« Mom nickte. »Er wollte also absichtlich keine Informationen? Dieser Fiesling!« So langsam war selbst ihre Geduld zu Ende. »Er plant doch irgendwas!«, rief Richard. »Jason, entwerfen wir eine Strategie! Ich mache das schon sehr viel länger als Sie, mein lieber Junge. Wenn ein Mann wie Floyd Stiles zu einem an den Tisch kommt und nicht - 50 -
nach den Geschäften fragt, kann man davon ausgehen, dass er was ganz Übles im Schilde führt.« Er blieb stehen und blickte Jason auffordernd an. So lange, bis dieser verstand. Er erhob sich, blickte erst Mom an und dann in die Runde. »Oh, ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Also entschuldigen Sie mich, Ladys.« »Bitte!« Emily machte eine wegwischende Handbewegung. »Ihr wart als Paar sowieso in keiner Weise überzeugend!« Mom und ich sahen uns an und machten lange Gesichter. Wir wussten, dass uns jetzt in Gesellschaft von Emily, Marjorie und Shauna ein wirklich zauberhafter Abend bevorstand. Und zumindest bis zum Nachtisch mussten wir bleiben. Während Mom und ich also viel Spaß hatten, musste Luke noch arbeiten. Draußen auf der Straße und auf dem Platz rund um den Pavillon war das Freudenfeuerfest in vollem Gang — und vielleicht war das auch der Grund, weshalb Luke noch so dringend im Laden zu tun hatte. Als ausgemachter Muffel hatte er nicht die geringste Lust auf dieses Fest. Schon gar nicht mit T.J. und Liz. Er war gerade dabei, Rechnungen zu sortieren, als sich die Ladentür öffnete. »Ach, hier steckst du!« T. J. kam herein und blieb vor Luke stehen. »Ja, ganz recht, an meinem Arbeitsplatz«, antwortete Luke. »Ab und zu geschehen noch Wunder.« »Mann, die Party da ist Spitzenklasse. Du solltest hingehen.« T. J. ließ sich durch Lukes abweisendes Verhalten nicht einschüchtern. »Wahnsinnsfeier, und der Punsch ist auch nicht schlecht. Ehrlich, Mann, du musst dir das ansehen. Du wirst es kaum glauben.« - 51 -
»Doch. T.J.«, stöhnte Luke auf. »Natürlich werde ich es glauben, denn, weißt du, ich lebe hier. Ich hab das alles schon sehr oft gesehen. Ahm, sagen wir, so an die fünftausend Mal.« »Ja, klar. Schon kapiert.« T. J. machte eine kleine Pause und kratzte sich dann nachdenklich am Kopf. »Hör zu, Liz und ich wollen gleich nach dem Fest die Fliege machen. Vielleicht kommst du ja dann noch mal raus und sagst Sayonara.« Eigentlich war das ja nett von T. J. — aber warum um alles in der Welt musste er »Sayonara« sagen? Kein Wunder, dass Luke reserviert blieb. »Ich komm zu euch, so schnell ich kann«, meinte er und tat weiterhin sehr beschäftigt. »Klasse. Also, wie lange noch?« »Ich versteh nicht. Wie lange noch was?« »Wie lange hast du noch im Laden zu tun? Sieht nämlich aus, als wärst du fast fertig.« »Hör zu, ich komme bald zu euch raus, okay?« T. J. nickte, sah Luke noch mal mit festem Blick an und ging dann wieder in die kühle Nacht hinaus. Einen Augenblick lang war Luke irritiert. Konnte es etwa sein, dass T. J. doch nicht der Supertrottel war, für den er ihn zuerst gehalten hatte? Dass er zu ihm in den Laden kam, um Liz eine Freude zu machen, war zumindest sehr nett. Und war es nicht egal, ob er sich vorstellen konnte, mit T. J. befreundet zu sein? Ging es nicht viel mehr einfach nur darum, dass der Typ nett zu Liz war ... ? Lukes Stirn legte sich in Falten, und wenig später schob er die Belege in die Schublade, zog sich seinen Parka an und ging hinaus in Richtung Freudenfeuerfest. Allerdings bereute er seinen Entschluss schon kurz darauf, denn sofort lief er Carrie und ihren beiden Freundinnen Anna und Jill in - 52 -
die Arme. Alle drei hatten sich mächtig aufgebrezelt, mit viel Schmuck, Haarspray und Eyeliner, und kaum hatte Carrie Luke erblickt, ging auf ihrem Gesicht die Sonne auf. »Hey! Sieh an, wer kommt denn da aus seiner Höhle?«, rief sie Luke zu und boxte ihren Freundinnen in die Seite. »Ah, Carrie. Na, was für ein Zufall!«, rief Luke gequält und blieb wohl oder übel stehen. »Du kennst bestimmt noch Anna und Jill.« Carrie deutete auf ihre Freundinnen. »Wir kommen grad von einem Klassentreffen, und wir sind alle beschwipst.« Sie kicherte anzüglich. »Wisst ihr«, meinte Luke, ganz geborener Diplomat, »dann solltet ihr Wasser trinken und eine Aspirin nehmen, bevor ihr schlafen geht.« Er wollte schnell weiter — doch so leicht kam er Carrie nicht davon. »Ich hab den beiden gesagt, du tust immer so, als würdest du dich an den Abend nicht erinnern.« Carrie kaute lasziv auf ihrem Kaugummi herum, und ihre beiden Freundinnen musterten Luke von oben bis unten. »Ich erinnere mich wirklich nicht daran.« »Ich weiß es noch wie heute«, mischte sich nun Jill, die dunkelhaarige der beiden, ein. Und Anna ergänzte, dass alle auf dem Klassentreffen es noch gewusst hätten. »Wir haben lange darüber geredet«, erklärte Jill dann kichernd, und Luke wurde es zunehmend unwohl. Diese verrückten Weiber waren nichts für ihn — aber gegen die drei hatte er nicht den Hauch einer Chance. »Aber auf der Highschool waren wir doch alle in Butch Danes verknallt!« Anna senkte die Augen auf Halbmast. »Ach, er war so ein ernsthafter, leidenschaftlicher Junge!«, schwärmte auch Jill — und Carrie brachte die Sache auf den Punkt: - 53 -
»Und so sexy in seinen engen Turnhosen!« Alle drei fingen hysterisch an zu kichern. Luke wand sich wie unter Höllenqualen. »Okay, ich mach mich auf die Suche nach Liz.« »Oh, ich helf dir liebend gern«, bot sich Carrie sogleich an. »Ach, nein«, winkte Luke dankend ab. »Ich will eure Party doch nicht sprengen.« »Och, ein flotter Vierer ist immer drin!« Anna hakte sich bei ihren Freundinnen unter, und erneut brandete Gelächter auf. »Wie, seid ihr etwa alle nicht verheiratet?«, fragte Luke, doch Carrie winkte ab. »Oh, nein, wir sind alle verheiratet!« »So, hört mal, ich sollte jetzt besser gehen.« Luke nickte den dreien zu und machte zum zweiten Mal Anstalten, das Weite zu suchen, doch Carrie blieb zäher als jeder Kaugummi. Schnell lief sie hinter ihm her, kaute, wenn das überhaupt möglich war, noch lasziver auf ihrem Kaugummi und hatte einen Schlafzimmerblick aufgelegt, der sich gewaschen hatte. »Warte!«, hauchte sie und zog sich den Ausschnitt ihres Oberteils über die Schulter. »Ahm, wir gehen nächste Woche auf ein Konzert von Styx, REO Speedwagon und Journey. Und wir hätten für dich sogar noch 'ne Karte, falls du interessiert bist.« »Ach, weißt du, ich glaub nicht«, dankte Luke verbindlich. »Würden da nur Styx und REO Speedwagon spielen, dann war ich dabei, doch Journey mag ich überhaupt nicht, leider. Also, noch viel Spaß!« Er machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete wie der Teufel vor dem Weihwasser. Anna, Jill und Carrie sahen ihm enttäuscht nach, wie er auf Liz zusteuerte. - 54 -
Luke hörte gerade noch, wie Liz und T. J. von dem Erfolg auf den Mittelaltermärkten erzählten, und davon, dass dieser bestimmt noch größer werden würde, da T. J. für seine Liz nun sogar eine Bude gebaut hatte, die nächsten Monat in Minnesota eingeweiht werden sollte. »Man sollte schon 'ne richtige Bude haben, weil das die Leute immer zuerst sehen. Ohrringe sind winzig. Man sieht sie erst, wenn man direkt davorsteht, stimmt's? Aber 'ne Bude und ein schönes Schild, das bringt's!«, erklärte T.J. der staunenden Miss Patty. »Man steht so da, guckt sich die Ritterspiele an, dreht sich zur Seite, sieht die Bude mit dem schönen Schild und geht rüber. Man sieht, dass die Sachen da liegen, und man hängt am Haken.« Luke fand das alles zwar nicht sonderlich schlau — aber immerhin doch irgendwie nett. Das musste er T. J. lassen. Und als er Liz ansah und merkte, wie glücklich sie war, entschied er sich, T. J. eine Chance zu geben. Liz musste seinen Blick gespürt haben, denn sie drehte sich um und winkte ihm zu. »Hey, Luke. Ich hab dich gar nicht gesehen!« »Tja.« Luke steckte die Hände tief in seine Parkataschen, wie es so seine Art war. »Ich hab gehört, dass ihr gleich nach dem Fest losfahren wollt, also ...« »Ich bin froh, dass du hergekommen bist!« Liz hakte sich bei ihrem Bruder unter, machte T.J. und Miss Patty ein Zeichen, dass sie mit Luke eine Runde über den Platz spazieren wollte, und dann stapften sie zusammen los. »Echt«, begann sie, »ich fass das einfach nicht! Seit unserer Kindheit hat sich wirklich nichts verändert.« Luke nickte. »Immer noch derselbe Irrsinn, zu dem uns Mom damals mitgeschleift hat.« »Und dann Dad, nach ihrem Tod.«
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»Und er fand es noch schrecklicher als wir. Er ist nur hingegangen, weil es Mom gefallen hat.« »Ja.« Liz lachte auf bei den Erinnerungen, die plötzlich in ihr hochkamen. »Allerdings der Gründerväter-Punsch ...« »Tödlich.« Luke konnte sich ebenfalls noch gut an die rasenden Kopfschmerzen erinnern, die ihn nach dem betreffenden Freudenfeuerfest gequält hatten. »Ich weiß noch, meinen ersten schlimmen Kater hatte ich vom Gründerväter-Punsch!« Liz, die eben noch gelacht hatte, wurde mit einem Mal ernst. Sie blieb stehen und baute sich vor Luke auf. »Hey, hör zu«, begann sie zögerlich, »tut mir Leid, das mit Jess. Tut mir Leid, dass ich gesagt hab, ich hätte keinen Kontakt zu ihm. Er hat mich in den letzten sechs Monaten des Öfteren angerufen und gebeten, dass ich's dir nicht sage. Wahrscheinlich wollte ich Punkte bei ihm machen. Dass der Wagen bei dir stand, hab ich nur am Rande erwähnt. Ich wusste nicht, dass er herkommt und ihn sich holt.« Luke war überrascht. Dass Liz so offen mit ihm reden würde und auch das eine oder andere anscheinend verstanden hatte, hätte er nicht erwartet. »Schon okay«, meinte er. »Das ist sein Wagen. Er soll ihn haben.« »Ich versuch nur, mich ihm wieder anzunähern«, erklärte sie, dann sah sie Luke zuversichtlich an. »Ich hab irgendwie das Gefühl, dass er seinen Weg schon geht. Er ähnelt Dad, findest du nicht?« »Ah, nein, ich weiß nicht«, antwortete Luke. »Ich schon. Ich finde, er ähnelt Dad«, wiederholte Liz. »Ich möchte dir für alles danken, was du für ihn getan hast. Es gibt Leute, die brauchen 'ne Weile, bevor sie's geschnallt haben. So war es bei mir.« Für einen Moment lang sahen sich die beiden in die Augen. Zwischen ihnen - 56 -
war plötzlich wieder eine Verbundenheit und Nähe, wie es sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gegeben hatte. Verlegen wischte sich Liz eine Träne aus dem Augenwinkel. »Entschuldige, ich bin heute einfach langweilig. Ich hab nur ein Glas Punsch abgekriegt. Und dann hat Gary angeordnet, dass wir nur noch Wasser trinken!« »Du bist nicht langweilig«, antwortete Luke. Dann stutzte er. »Wer ist Gary?« »So heißt T.J. eigentlich.« »Sein richtiger Name ist Gary?« Luke konnte es nicht glauben. Wer hieß bitte schön Gary? Und wer um alles in der Welt gab sich dann den Spitznamen T.J.? Er fragte noch mal nach. »Gary?« »Ja!« »Ist auch egal«, meinte Luke. Er entschloss sich, genauso ehrlich zu sein wie Liz. »Ich hab gehört, was er eben von deiner Bude erzählt hat, dein Gary. Klingt so, als liefe es sehr gut«, begann er vorsichtig. »Genau. Es läuft ganz toll!« »Gut.« Luke war zufrieden, und Liz sah ihn gerührt an. »So, ich pack jetzt meinen Kram zusammen. Wir wollen dann fahren! Sag Gary, ich bin in deiner Wohnung.« Sie wollte schon gehen, als ihr noch etwas einfiel. Sie kramte in ihrer Tasche und hielt Luke dann ein Paar Ohrringe hin. »Die hab ich gestern hergestellt. Schenk sie einfach deiner Frau oder Lorelai. Wie du willst.« Luke bedankte sich bei Liz, sie umarmten sich noch einmal, dann hielt er die Augen auf nach T. J. oder besser gesagt nach Gary. Nachdem er schon mit seiner Schwester so weit gekommen war, wollte Luke nun auch mit Gary das eine oder andere klären — schließlich - 57 -
wusste er genau, dass er sich ihm gegenüber nicht nett verhalten hatte. »T. J.«, begann er, als er ihn sah. »Liz ist noch mal kurz bei mir und holt ihr Zeug. Das sollte ich dir ausrichten.« Er zögerte nicht lange, sondern trat etwas näher an T.J./Gary heran. »Hör zu, äh, ich, ich hab euch vorhin reden gehört, und ... anscheinend läuft es im Moment ganz gut für Liz. Das war nicht immer so. Und deshalb freut es mich sehr.« Er machte eine kurze Pause, fasste sich dann ein Herz und erklärte, dass es für ihn sogar okay wäre, wenn T. J. und Liz nach Stars Hollow ziehen würden. Zum ersten Mal veränderte sich T. J.s Gesichtsausdruck in Richtung Luke von neutral zu ironisch. »Ach so«, antwortete er. »Ich wusste nicht, dass wir von dir eine Erlaubnis brauchen.« »Oh, nein. Na-na-na-natürlich nicht. Da hast du mich missverstanden.« Luke merkte, dass er gerade ziemlich dummes Zeug geredet hatte. »Ich ... äh, ich wollte nur sagen, weil meine Schwester mit Männern bisher immer Pech hatte, dachte ich eben, dass du auch so wärst wie die anderen. Tja, du scheinst aber 'n netter Kerl zu sein.« »Danke«, meinte T. J. »Und du bist ein Arsch.« Mit diesen Worten ließ er Luke stehen. Luke konnte einem wirklich Leid tun! Heute bekam er es von allen Seiten. Er starrte Liz' Freund noch mit offenem Mund hinterher, als Mom zu ihm trat. Wir waren kurz vorher, nachdem die unsägliche Gala es erlaubt hatte, auf dem Freudenfeuerfest aufgetaucht. Ich hatte den Auftrag, Burger und Süßkram zu besorgen. Mom wollte Pizza organisieren, und gemeinsam wollten wir unserer Sucht nach ungesundem, fettigem und süßem Kram freien Lauf lassen. - 58 -
»Ich hab nur das Ende eures Gesprächs gehört. Und es hatte wohl nichts damit zu tun, dass du jetzt unter die Proktologen gegangen bist?« Sie strahlte Luke an und stellte sich vor ihn. Luke winkte ab. »Das ist 'ne lange Geschichte, die erzähl ich dir noch.« Dann musterte er Mom mit unverhohlener Anerkennung. Er bemerkte sofort, dass sie heute noch besser aussah als sonst. »Du hast dich so schick gemacht!«, meinte er — und so ein Satz aus Lukes Mund war ein handfestes Kompliment. »Nur für dich«, meinte Mom mit kokettem Dauergrinsen und erzählte Luke mit kurzen Worten von der Spendengala. Allerdings erwähnte sie dabei Jason mit keinem Wort ... Während Mom also Luke traf, der ihr und wohlgemerkt nicht seiner Frau die Ohrringe schenkte, stellte ich mich brav in die Burgerschlange. Ich stand dort keine zwei Minuten allein, da tauchte auf einmal Jess auf. Es musste etwas Magnetisches sein, denn sobald er irgendwo auftauchte, bekam ich das mit. Immer. Und umgekehrt auch. Er musste mich nur eine Sekunde lang von der Seite ansehen, und ich spürte seinen Blick. Auch an diesem Abend war es nicht anders. Davon abgesehen weiß ich nicht, ob es die Tatsache war, dass die Gala so öde gewesen war oder dass ich so einen Hunger hatte. Sehr wahrscheinlich war es wohl eher die Tatsache, dass Jess bei unseren letzten beiden Begegnungen jeweils abgehauen war, ohne ein vernünftiges Wort zu sagen ... Jedenfalls: Kaum hatten sich unsere Blicke getroffen, fuhr ich ihn an. »Ich geh zuerst weg!« Mit diesen Worten rannte ich fort — und Jess hinter mir her. »Rory, warte! Stopp!« - 59 -
»Nein, du hast kein Recht wegzugehen«, schrie ich und schlug ein paar Haken, um ihn abzuhängen. »Warte doch!« »Das ist meine Stadt. Ich lass dich stehen!« Ich rannte so schnell es ging, und meine Stimme überschlug sich vor Anstrengung. »Ich möchte nur ... Wo willst du hin?« »Das geht dich überhaupt nichts an!« »Das ist doch Schwachsinn«, rief er mir nach. »Wir sehen aus wie Idioten!« Das konnte schon sein — aber es war mir egal. Ich tat so, als würde ich die Blicke der Leute nicht mitbekommen. »Lauf mir nicht nach!«, schrie ich deshalb erneut. »Lass mich in Ruhe. Ich verschwinde.« »Rory, stopp!« Er hatte mich eingeholt und hielt mich am Ärmel fest. »Wieso?« »Weil ich mit dir reden will.« »Worüber willst du denn mit mir reden?«, fuhr ich ihn an, aber ich wartete eine Antwort nicht ab, sondern schleuderte ihm meine ganze Enttäuschung ins Gesicht. »Weißt du, ich hab schon oft über diesen Augenblick nachgedacht. Was wird Jess wohl sagen, wenn wir uns wiedersehen? Damals ist er einfach verschwunden. Kein Zettel, kein Anruf, gar nichts. Kann er das irgendwie erklären? Und dann vergeht ein Jahr, kein Wort, immer noch nichts. Und dafür gibt's ja wohl kaum eine gute Entschuldigung, oder? Ich hab mir an die hundert Varianten vorgestellt und wahrscheinlich ebenso viele großartige Abschiedsworte. Und ich bin wahnsinnig neugierig, in welche Richtung das jetzt wohl geht!« »Können wir uns setzen?«
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»Nein! Du wolltest doch reden, also rede. Was hast du mir noch mitzuteilen?« Ich stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn kampflustig an. Einen Moment lang sagte Jess gar nichts. Er sah mich nur an mit einem Blick, den ich gut kannte, den ich einmal geliebt hatte — und den ich jetzt nicht an mich herankommen lassen wollte. »Ich liebe dich«, antwortete er. Dann drehte er sich um, ging zu seinem Wagen und fuhr davon. Und ich? Ich, die gerade noch geredet hatte wie ein Wasserfall? Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich stand da und blickte dem Wagen nach — und ich wusste nicht, was ich von alldem zu halten hatte.
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Nach diesem verrückten Samstagabend fuhr ich am nächsten Tag gemeinsam mit Lane schon etwas eher nach Yale zurück, um mich auf die kommende Woche vorzubereiten und mich von der ganzen Aufregung etwas zu erholen. Es war schon komisch: Eigentlich war Stars Hollow ein völlig verschlafenes Nest, aber manchmal war dort dann doch die Hölle los! Und das war schon fast untertrieben. Jess und alles, was mit ihm zusammenhing, zerrten ganz schön an meinen Nerven. Und als es endlich Montagmorgen war, war ich sehr froh, dass ich mich nun wieder auf die wirklich wichtigen Fragen des Lebens konzentrieren musste. Zum Beispiel, was für Parallelen zwischen der klassischen Wirtschaftstheorie und der Spieltheorie bestanden ... Während ich mich mit so viel Elan wie möglich in die neue Woche schmiss, war Mom mit Sookie und Michel auf der Baustelle des Dragonfly, um die Fortschritte der Arbeiter zu begutachten. Davor hatten sie sich die Pferde angesehen, die sie für die Gäste und sich selbst in den Ställen des Dragonfly halten wollten. Mom war völlig verliebt in die beiden, und sie zückte sogleich ihr Handy, um mich anzurufen — allerdings ohne Erfolg. Ich hatte mein Telefon abgestellt. »Hi, Rory. Ich bin's«, meldete sie sich auf meiner Mailbox. »Wie läuft's in Yale? Lernst du was? Hör zu, wir haben jetzt die Pferde, Desdemona und Cletus! Und ich will den ersten Ausritt zusammen mit dir machen. Hast du das Erlebnis mit dem Ponyreiten damals überwunden? Das Pferd war alt, und deswegen hat es sich plötzlich hingelegt, und du bist in den Graben - 62 -
gekullert. Doch das wird ganz sicher nie mehr passieren! Ich versprech's dir. Also, ruf an! Ruf an!« Sie legte auf und drehte sich um zu Tom, dem Bauleiter, der gerade auf sie zukam. »Hey, Tom, wie finden Sie unsere neuen Freunde?« »Sie duften nach Pferd!«, antwortete Tom. Er war ein ausgemachter alter Brummbär, aber ansonsten ein ziemlich netter Kerl. »Kommen Sie mit«, meinte er dann und führte Sookie, Mom und Michel ins Innere des Hauses an einen Tisch, auf dem eine Menge Papiere lagen. Pläne, Bauzeichnungen, Auftragstermine. Er blätterte kurz darin herum und blickte dann in die Runde. »So, wir kriegen die Gerätschaften fürs Erdgeschoss Mittwochvormittag.« »Jippie!« Sookie flippte regelrecht aus — aber das war an ihr ja nichts Neues. Ihre Stimme nahm eine ziemlich hohe Tonlage an, um sich schließlich zu überschlagen, während ihre Augen blitzten und ihre Hände aufgeregt in der Luft herumfuchtelten. »Ja, ich bin auch ganz aufgeregt«, antwortete Tom sachlich. »Und es war noch aufregender, wenn einer von Ihnen hier war, um zu sagen, ob das Richtige geliefert wird, sonst können wir hier nämlich nicht weitermachen.« Er blickte von einem zum anderen. »Oh, Mann, ich hab am Mittwoch einen Termin nach dem anderen, einen davon in Hartford. Sook?« Mom blickte Sookie an. Die war erst einverstanden damit, die Termine zu übernehmen, machte aber zwei Sekunden später doch einen Rückzieher, da ihr wieder eingefallen war, dass sie mit Klein Davey einen Arzttermin hatte. »Kannst du den Termin verschieben?«, fragte Mom.
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»Der Arzt ist total ausgebucht«, antwortete Sookie erst. Als sich aber niemand anders meldete, fügte sie hinzu: »Ich kann's versuchen.« Mom winkte ab. Sie wollte schließlich nicht daran schuld sein, dass Davey nicht zum Kinderarzt kam. Außerdem waren sie ja zu dritt. »Nein, schon gut«, meinte sie und wandte sich an Michel. »Michel?« Michel schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin im Tallyrand. Irgendwo muss ich ja mein Geld verdienen, wenn ich mich nicht an einer Autobahnausfahrt aufstellen will, um Kirschen zu verkaufen.« »Okay, dann muss ich wohl einige von meinen Terminen verschieben«, meinte Mom verstimmt. »Ich weiß zwar noch nicht wie, aber ...« Ein Klingeln wie das eines Telefons ließ sie aufhorchen. Und tatsächlich, sie hatten sich nicht getäuscht. Es war das Telefon! »Heute Morgen angeschlossen!«, erklärte Tom. »Sie wollten doch ein Telefon haben, oder? Für die Reservierungen.« »Oooh, mein Gott!«, schrie Sookie überschwänglich und fiel Tom um den Hals. Auch Mom war begeistert. »Unsere erste Reservierung!«, rief sie und blickte aufgeregt von einem zum anderen. »Schnell, schnell, gehen Sie ran, bevor aufgelegt wird!«, feuerte Michel sie an, und als Mom den Hörer abnahm, spitzten alle gespannt die Ohren. »Hallo?«, meldete sie sich vorsichtig — was allerdings für ein Hotel eine etwas unorthodoxe Gesprächsannahme war. »Dragonfly, Dragonfly«, flüsterte Sookie, und auch Michel reagierte sofort. »Sagen Sie Dragonfly Inn1.«
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»Ich meine, Dragonfly Innl«, verbesserte sich Mom rasch. »Hallo ... Aber ja, wir, wir nehmen sehr gern Reservierungen an ... Die Eröffnung findet am 6. Mai statt ... Äh, für den 8. bis zum 10.? Okay, gut. Ahm, ich, ich seh mal nach, ich seh mal nach, ich seh mal nach ...« Sie blätterte geräuschvoll mit den Blättern, die auf dem Tisch verteilt lagen. »Ahm, okay ... Alles klar. Und Sie kriegen unser bestes Zimmer. Ich will mir nur Ihren Namen schnell notieren.« Sie suchte nach einem Stück unbeschriebenem Papier. Das Einzige, was ihr in die Finger kam, war ein Kaugummipapier, und Michel verdrehte die Augen. »Ahm ... ja ... okay. Und, äh, Ihre Nummer? ... Mm-hm. Ja, okay, 7-8-7-3 ... Also, ich hab Ihren Namen, Ihre Nummer und trage Sie für den 8. bis zum 10. ein. Danke, Mr Turner. Also dann.« Sie legte auf und blickte mit hochroten Wangen in die Runde. »Wir sind im Rennen!« »Wir sind im Rennen!«, schrie Sookie. Sie schrie an diesem Vormittag so oft und so laut, dass man für den nächsten Tag um ihre Stimme fürchten musste. Aber auch von Michels Gesicht wollte das Strahlen gar nicht mehr weichen — wenngleich er fand, dass das mit dem Kaugummipapier einen Schönheitsfehler darstellte. »Das ist doch peinlich«, meinte er mit seinem französischen Akzent. »Das ist ein historisches Dokument.« »Wen interessiert es, worauf sie das notiert hat?«, fragte Sookie. Zwischen ihr und Michel lagen Welten. Sookie war pragmatisch und handfest, während Michel sich als Ästhet begriff. »Aber Kaugummipapier?«, wiederholte er und betrachtete unzufrieden die Reservierung. - 65 -
»War Bonbonpapier besser gewesen?« Als ich Moms Nachricht hörte, kam ich gerade aus einem Seminar und war auf dem Rückweg in unsere Wohnung. Ich rief sofort zurück, schließlich wollte ich bezüglich der Pferde dringend etwas klarstellen. Leider ohne Erfolg. Auch bei ihr sprang jetzt nur die Mailbox an. »Mom, ich bin's!«, meinte ich. »Schön, dass ihr jetzt die Pferde kauft. Und was das Ponyreiten vor Jahren angeht ... da hast du wohl 'ne Kleinigkeit vergessen. Das Pony hat sich nicht nur hingelegt, es ist verendet. Alles klar? Und als es tot war, haben sie es einfach an den Beinen weggeschleift. Immer wenn ich beim Metzger bin, denke ich daran. Aber ich sehe gern zu, wenn du reitest. Ruf mich an. Bis dann!« Als ich auflegte, trat Lane gerade aus unserer Wohnung. Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was willst du denn hier?«, fragte sie erstaunt. »Ich wohne hier.« »Dein Spieltheorie-Seminar fängt in fünfzehn Minuten an!« Meine Freundin Lane! Sie war ein Terminkalender auf zwei Beinen, und ich glaube, sie hatte auch die Termine und Seminare von Paris, Tanna und Janet im Kopf. Vielleicht kam das daher, dass sie über Jahre hinweg ein Doppelleben geführt hatte. Schließlich musste sie immer wissen, wann ihre Mom und ihr Dad weg waren, wann sie in ihrem Zimmer ungestört ihre Musik hören konnte, wann sie in Lorelais Garage Bandproben abhalten konnte, was sie ihrer Mom wiederum stattdessen erzählen musste und so weiter und so fort. Jede von Lanes verbotenen Beschäftigungen hatte einen Rattenschwanz an vorgetäuschten Terminen hinter sich - 66 -
hergezogen — und egal, ob vorgetäuscht oder nicht: Sie hatte sie alle im Kopf behalten müssen. Und da sie jetzt eigentlich keine eigenen Termine mehr hatte oder zumindest deutlich weniger als früher, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, uns zu umsorgen und sich um die Einhaltung unseres Stundenplans zu kümmern. »Ich kann jetzt ganz gut etwas Ruhe gebrauchen«, erklärte ich ihr, doch Lane blieb streng. »Du warst gestern Abend zu lange auf. Ich hätte was dagegen tun sollen«, meinte sie und sah mich unnachgiebig an. »Ich musste eine Arbeit fertig schreiben!« »Aber dein Hirn sollte schlafen.« »Es kann jetzt schlafen, da ich fertig bin, Lane.« Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte mich so ernst wie möglich an. Dann hatte sie endlich Erbarmen mit mir: »Okay, leg dich hin!« »Ja, Ma'am.« »Und keine Drogen!« Kaum hatte Lane das Wort »Drogen« erwähnt, bemerkte ich den penetranten Geruch, der aus der Wohnung herausdrang. Es roch irgendwie verbrannt und ziemlich eklig. So eklig, dass ich mein Vorhaben, mich ins Bett zu legen, erst einmal verschob und versuchte, dem Gestank auf den Grund zu gehen. Er führte mich in unser Wohnzimmer, wo ich Tanna vor einem seltsamen Gebilde vorfand. Auf dem Kopf trug sie eine Schutzbrille, in der Hand hielt sie einen Lötkolben. Als sie mich bemerkte, blickte sie wie in Trance auf. »Was stinkt hier so?«, wollte ich wissen und hielt mir schnell die Hand vor die Nase. »Der Rauch von meinem Lötkolben riecht so!«, antwortete Tanna verträumt. »Ich find's toll. Ich liebe es, - 67 -
rumzukokeln. Ich liebe es, wenn der Lötkolben ganz heiß wird, wenn er Metall verflüssigt und Drähte verschmilzt. Und deshalb ...« »Hey, seit wann machst du das schon?«, wollte ich wissen. »Ah, seit drei Stunden.« »Leg 'ne Pause ein!« »Oh.« Sie verstand und zog enttäuscht den Stecker des Lötkolbens raus. Eigentlich war es ja nicht meine Art, so unfreundlich zu sein, aber ich kannte Tanna. Drunter verstand sie es nicht. Bei ihr musste man sehr deutlich werden, sie war eben ein wenig eigen. Aber eigentlich ganz nett. Ein wenig eigen und nicht ganz so nett war Paris, die, als sie uns hörte, wie eine Furie ins Zimmer geschossen kam. Mit spitzen Fingern trug sie ein schwarz-weißes Footballtrikot vor sich her. Auf dem Rücken stand eine große »27« und darüber »Kleebold« ... »Ah, gut. Ihr seid alle da, dann kann das ja geklärt werden!«, rief sie und sah uns der Reihe nach an, denn auch Janet war inzwischen durch den Lärm angelockt ins Wohnzimmer gekommen. »Das hier hab ich gefunden!« Paris deutete mit einem angeekelten Blick auf das Shirt in ihrer Hand und schüttelte es pikiert. Wir alle, inklusive Paris, wussten sofort, dass das Trikot Janets Freund gehörte. Wie wussten aber natürlich auch, dass Paris und Janet einander nicht leiden konnten ... »Dieses Trikot gehört bestimmt einer von euch, denn wessen Klamotten sollten sonst hier herumliegen? Das frage ich euch!«, fuhr Paris theatralisch fort. »Also wem? Na los doch!« Ich weiß nicht, ob alle Menschen sich ab und an für einen anderen Menschen schämen. Ich tat es seit meiner - 68 -
Zeit in Yale ganz regelmäßig. Aber es nützte nichts. Paris waren manche zwischenmenschlichen Regungen gänzlich fremd. Sensibilität zum Beispiel. Oder Einfühlungsvermögen. Oder auch Toleranz. »Paris ...«, stöhnte Janet auf und wollte das T-Shirt an sich nehmen. Aber Paris fuchtelte weiter wie eine Furie damit in der Luft herum. »Also wem?« Sie blickte in die Runde, und als sie unsere Gesichter sah, fühlte sie sich anscheinend bemüßigt, noch eins draufzusetzen. »Na schön«, lenkte sie ein, »vielleicht hab ich mich falsch ausgedrückt. Das ist wohl überhaupt kein Trikot. Vermisst eine ihre Autoplane? Sagt schon, wer? Na los, wer?« »Hör doch auf!«, versuchte Janet sie zu stoppen — aber ohne Erfolg. Paris war von ihrer persönlichen Erzfeindin nicht aufzuhalten. »Ich wollte dir nur auf nette Art verklickern, dass sich dieses Ungetüm von deinem Freund ein bisschen zu wohl bei uns fühlt. Und ich spreche für alle von uns.« Triumphierend blickte sie in die Runde. »Halt mich da raus«, stellte ich schnell klar, und auch Tanna distanzierte sich. Nicht ganz so schnell, aber Tanna war ja bekanntlich nicht ganz so schnell. »Ich will nicht in unser Bad kommen und ihn auf dem Klo sitzend vorfinden, wo er sich mit Steroiden voll pumpt!«, ereiferte sich Paris und sah ihre Rivalin kampfeslustig an. »Er nimmt keine Steroide!« Paris lachte höhnisch auf. »Du meinst, diese unansehnliche Figur ist naturgegeben? Der muss Gott ja täglich verfluchen! Und dann dieses Shirt. Steck 'n Besen rein, und das Ding kann sogar im Zirkus auftreten!« Sie schnappte hektisch nach Luft — aber nur, um sofort - 69 -
weiter in die Kerbe zu hauen. »Und wieso steht sein Name hinten auf dem Rücken? Damit er schnell nachsehen kann, falls er ihn mal vergisst? Aber wenn er das Trikot anhat, muss er in einen Spiegel gucken, und dann denkt er nachher noch, er heißt >Dlobeelk<. Und dann ist er bestimmt richtig verwirrt. Wenn er auch weiterhin ein unwillkommener Gast in unseren Räumen sein will, und ich betone das Wort >unseren< ... dann sperr ihn gefälligst in dein Zimmer!« Janet stand auf und riss Paris das Shirt aus der Hand. »Armes frustriertes Mädchen.« Sie musterte Paris in gespieltem Bedauern von oben nach unten. »Eifersucht steht dir überhaupt nicht, Paris. So wenig wie Make-up oder eine Frisur. Du hast mit Erfolg deinen Freund vergrault, und jetzt bist du sauer auf alle, die einen haben. Vielleicht solltest du dich jetzt mal ganz allein in dein Zimmer setzen, dann kriegst du einen Eindruck davon, wie dein restliches Leben aussehen wird!« Ich grinste in mich hinein. Diese Retourkutsche hatte Paris schon längst verdient — und ich war ja immer zu nett für so etwas. Naja, fast immer. »Ich bin nicht allein!«, zischte Paris. »Ach, wirklich? Wen hast du denn, abgesehen von deinem Poster von Noam Chomsky?« Paris schnaufte vor Wut wie ein 800-Meter-Läufer auf der Zielgeraden, drehte sich dann um und ging in unser Zimmer. Ich ging ihr nach, denn ich wollte mich jetzt endlich schlafen legen — ahnte aber schon, dass das nicht ganz einfach werden würde. »Ich werd dieser Barbie den Hals umdrehen und zudrücken, bis ihr die falschen Haare ausfallen. Dann ist sie tot, tot, tot!« Paris durchmaß im Stechschritt das
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Zimmer und machte Handbewegungen, wie man sie aus der Badewannenszene von Psycho kennt. »Gehst du wieder?«, bat ich sie. »Ich würde jetzt gern kurz mal die Augen zumachen.« Ich glaube, ich war schon ganz blass um die Nase, und unter meinen Augen waren dunkle Ringe. Aber eine weitere Eigenschaft, die Paris nicht besaß, war Rücksichtnahme. Sie blickte mich gar nicht an, sondern fuhr mit ihrer Hasstirade ungerührt fort. »Ich sollte ihr erzählen, dass ich mit Asher Flemming zusammen bin! Dann kann sie ihn ja gern mit ihrem idiotischen Hulk-Double vergleichen!« »Dann sag's ihr, damit das ein Ende hat«, schlug ich vor. .;, Ich hoffte immer noch tapfer, sie endlich loszuwerden. »Nein, wir wollen das noch nicht so raushängen lassen. So ist es einfacher. Du bist die Einzige, die es weiß.« »Dann solltest du dich von solchen Dingen einfach nicht irritieren lassen.« Ich schluckte, denn es war ein zweifelhaftes Kompliment, Paris' Vertraute zu sein. Ich schloss die Augen und zog die Decke über mich — aber Paris gab einfach keine Ruhe. »Der Typ stinkt. Dieses dummdreiste Riesenbaby stinkt!« Dann unterbrach sie für einen Moment ihren Stechschritt und sah mich an. »Weißt du, vielleicht ist es nicht nur Janets Freund, den ich nicht mehr ertrage. Vielleicht ertrag ich einfach keine Jungs mehr, denn ich hab einen Mann!« »Ja, genau«, stöhnte ich. »Ich schlaf jetzt!« Ich glaube, es war der nächste Tag, als ich meinen neuen Job antrat. Verzweifelt versuchte ich, Mom noch schnell Bescheid zu geben, weil ich die nächsten Stunden eigentlich nicht ans Handy gehen konnte. Aber wie so oft - 71 -
in letzter Zeit nahm sie nicht ab, dafür kam ich in den Genuss, ihre neue Ansage zu hören. »Moment! Hey, mir fällt keine süße Ansage ein. Doch: Welpen! Das war süß. So, ihr seid dran.« »Hallo. Geh ran, geh ran, geh ran!«, rief ich. »Ich muss mich beeilen, damit ich an meinem ersten Tag als vollwertige Cafeteriakarten-Durchzieherin nicht zu spät komme. Richtig gehört! Ich bin kein Lehrling mehr. Nach anderthalb Stunden härtester Ausbildung kann ich selbstständig arbeiten und brauch keine Aufsicht mehr. Wups, 'tschuldigung. Hab grad jemanden umgerannt. Er ging zu Boden. Du bist wahrscheinlich sehr stolz auf mich. Bis später.« Ich legte auf, nicht ahnend, dass Mom beim Versuch, noch rechtzeitig ans Telefon zu kommen, fast die Treppe herunterfiel und ungefähr eine Hundertstelsekunde, nachdem ich aufgelegt hatte, den Hörer abnahm. Als sie merkte, dass sie zu spät dran war, wählte sie meine Nummer — doch bei mir sprang nur die Mailbox an. »Ah, ja, klar bin ich stolz. Verantwortungsvolle Aufgabe!«, lobte sie mich. »Wer hätte gedacht, dass du das kannst? Ich nicht. Tut mir Leid, dass ich diesen Augenblick nicht miterleben kann. Das ist bestimmt so wichtig wie dein erster Schritt als Baby oder dein erster Sturz aufs Gesicht. Beides ist dicht aufeinander gefolgt. Hoffentlich macht jemand viele schöne Fotos. Ruf mich auf dem Handy oder bei Jason an. Wir müssen mal wieder miteinander reden, Schatz. Bis dann.« Als ich die Nachricht später abhörte, wurde mir ganz warm ums Herz — und auch ein bisschen wehmütig. Mom hatte Recht! Wir hatten uns definitiv schon viel zu lange nicht mehr gesprochen. Und sie fehlte mir. Als das
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Telefon plötzlich klingelte, war ich mir sicher, dass sie es war. Wurde aber auch langsam Zeit! »Ja! ... Hallo?«, meldete ich mich. »Rory, hi. Hier ist Dean.« Ich glaube, meine eben noch freudig erregte Stimmlage senkte sich um einige Oktaven. Nein, nicht, dass ich Dean nicht mochte. Es war nur einfach so, dass ich mich auf meine Mom gefreut hatte. Er merkte sofort, dass ich nicht begeistert war, ihn zu hören, und wollte wissen, ob es gerade ungünstig sei. Ich erklärte ihm, was los war, und wurde gleichzeitig etwas neugierig, was um alles in der Welt der Grund für seinen Anruf war. Schließlich war ich eine Zeit lang nicht besonders nett zu ihm gewesen. In unserer Beziehung, die schon etwas zurücklag, war definitiv er derjenige gewesen, der mehr geliebt hatte. Mittlerweile war er aber verheiratet, und Mom und ich waren trotz Einladung nicht bei der Hochzeit erschienen - ach, es gab einige Gründe, weshalb er eigentlich nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen sein müsste. Seltsamerweise war er es dennoch. »Also«, erklärte er nach kurzem Zögern. »Ich wollte dich nur nach deiner Meinung zu einer Sache befragen. Du kennst doch den Bauunternehmer Tom.« »Den ewigen Grummler?«, vergewisserte ich mich. »Ja, den. Er hat mir einen Job angeboten, in seiner Crew. Sehr gute Bezahlung, flexible Arbeitszeiten ... In 'nem Hotel, dem von deiner Mutter. Ist das okay? Wenn es nicht okay ist, dann mach ich's nicht.« »Wieso sollte es ein Problem sein?« »Na, dann würden wir beide uns öfter über den Weg laufen, und ich weiß nicht, ob dir das unangenehm wäre.«
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»Nein, Dean, alles bestens. Das wäre völlig in Ordnung. Tom hat ein Auge für gute Leute, also sag zu.« Ich war leicht irritiert. Er schien sich immer noch deutlich mehr Gedanken über mich zu machen als ich mir über ihn. »Gut«, meinte er dann. »Ich wusste nicht, wo wir stehen, nach meiner Hochzeit und so. Ihr wart beide nicht da. Aber es war ja auch sehr kurzfristig.« »Und wir hatten ziemlich viel zu tun«, ergänzte ich schnell. Ich wusste noch genau, dass ich einfach keine Lust gehabt hatte, zur Hochzeit meines Exfreundes zu gehen. Obwohl ich der Beziehung auch damals nicht mehr hinterhergetrauert hatte, wollte ich nicht mit ansehen müssen, wie eine andere ihn bekam. Hört sich das seltsam an? Hmmm, ich denke, es ist wohl eher eine weitere Form von gekränkter Eitelkeit. »Aber das Geschenk habt ihr gekriegt?«, fragte ich rasch. »Ja, jeden Abend schleudert Lindsay den Salat darin!« »Sehr merkwürdig. Wir haben euch doch einen Toaster geschenkt.« »Quatsch«, meinte er rasch - aber ich hörte ihm an, dass ich ihn verunsichert hatte. Das konnte ich weiterhin also ziemlich gut. Ihn verunsichern, meine ich. »Ich will dich nur ärgern«, lachte ich ihn aus. Dann kam ich mir irgendwie fies vor und wollte es wieder gutmachen, indem ich ihn fragte, ob er trotz Heirat und Job weiterstudierte. »Nebenher«, meinte er. »Aber es läuft alles gut. Ich hab 'n Fünfjahresplan.« »Fünf Jahre! Cool! Ich hab etwa die nächsten zweieinhalb Stunden geplant, und danach herrscht Dunkelheit, wo wahrscheinlich schon ein paar Drachen lauern.« Ich tat sehr cool, aber eigentlich war das für - 74 -
mich gar nicht so einfach. Nicht zu wissen, wohin die Reise bei mir wohl ging. Ein Fünfjahresplan und eine Frau namens Lindsay, die jeden Abend Salat schleuderte — wow, es gab wahrscheinlich Aufregenderes. Und trotzdem beneidete ich ihn irgendwie um die Sicherheit, die all das vermittelte. »Und hey, äh, ich hab's gewagt!«, meinte er dann ganz aufgeregt. »Ich hab jetzt ein Mobiltelefon! Lindsay und ihre Mom haben einen sehr günstigen Familienvertrag gekriegt. Es lohnt sich auch für mich.« Er machte eine kleine Pause, aber von mir kam nichts mehr. Ich glaube, ich hatte genug gehört, und mit einem Mal war ich doch wieder ganz froh, keinen Fünfjahresplan zu haben und keine männliche Entsprechung zu Lindsay. Ich hatte zwar nicht so viel Sicherheit, aber dafür hatte ich auch keinen günstigen Familienvertrag! Dass Lindsay langweilig und irgendwie spießig war, war mir nicht neu. Jetzt musste Dean anscheinend die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hatte. Als könne er Gedanken lesen, beendete Dean jetzt auch das Gespräch. »Gut«, meinte er zögerlich. »Dann lass ich dich wieder in Ruhe. Und, äh, wir sehen uns bestimmt bald.« »Das ist unvermeidlich.« »Bis dann!« »Bis dann!« Als ich auflegte, starrte ich noch eine Weile vor mich hin und dachte an Dean. Er war definitiv viel netter zu mir gewesen als Jess. Aber seltsamerweise war ich in Jess viel verliebter gewesen als in ihn. Musste es denn immer so kompliziert sein? Wäre es nicht wunderbar gewesen, wenn ich damals den guten Dean nicht verlassen hätte und jetzt mit ihm verheiratet wäre? Aber nein, ich musste mich ja von ihm trennen! Wegen - 75 -
Jess! Ach, vielleicht wäre es ja auch gar nicht so wunderbar, versuchte ich mir einzureden. Sicherer und einfacher, ja, das wäre es ganz bestimmt. Aber es wäre doch schrecklich, wenn das Leben so einfach wäre! Während ich mir also in Yale den Kopf über die großen Fragen des Lebens zermarterte und trotzdem keine Antworten bekam, die mich zufrieden stellten, ging es bei meiner Mom viel profaner zu. Sie war bei Jason zu Hause, und die beiden hatten sich gerade im Bett vergnügt, als ihre Handys losgingen. Statt sich also noch romantisch und zärtlich in den Armen zu liegen, schritten beide seit einigen Minuten neben dem Bett auf und ab, Mom auf der einen Seite in ihrem sexy blau-seidenen Negligee mit pinkfarbener Spitze, Jason im schwarzen Morgenmantel auf der anderen Seite. Bei Mom ging es um das faszinierende Thema Fliesen und ihre Farbgebung. Während des Gesprächs erfuhr sie zum Beispiel, dass das Fliesengeschäft bis zu zweihundert verschiedene Weißtöne voneinander unterschied, was die ganze Angelegenheit natürlich furchtbar kompliziert machte. Bei Jason ging es wie immer um Geld. Als beide endlich aufgelegt hatten, guckte Jason übers Bett. »Okay, ich bin fertig«, meinte er. »Ah, zweite Runde?« »Also, das ist wahnsinnig romantisch. Ich streite mich am Telefon wegen irgendwelcher Fliesen ... du debattierst mit sonst wem über William Safire. Was ist mit der berühmten Zigarette nach dem Sex? Wir sind eben ein echtes Unternehmer-Pärchen!« »Für den Erfolg tun wir alles!«, gab ihr Jason Recht und machte es sich wieder mit Mom im Bett bequem. Er hatte ihr gerade einen Kuss gegeben, da klingelte das - 76 -
Telefon. In dem Glauben, dass ich es wäre, ging sie trotz großer Proteste von Jason ran. Sie hätte besser auf ihn gehört oder wenigstens vorher auf das Display geguckt, denn statt meiner war Grandma Emily am anderen Ende. »Nun rate mal, wer verlangt, dass wir alle zum Mittagessen antreten«, begann sie ohne Umschweife und verlor auch keine Zeit damit, Moms Antwort abzuwarten. »Deine Großmutter kommt aus Palm Beach! Dein Vater muss zu ihrem Haus rüberfahren und es für sie vorbereiten. Und heute Abend kommt sie dann zu uns, mäkelt stundenlang an mir herum und sagt mir, dass unsere Couch komisch riecht.« »Och, das klingt doch amüsant«, antwortete Mom und verdrehte die Augen. Es war ein Fehler gewesen, das Gespräch anzunehmen. Und so, wie sie die Beziehung zwischen Emily und Trix kannte, ahnte sie, dass noch irgendetwas diesem Monolog folgen würde. Eigentlich hatte sie kein Mitleid mit Emily, denn was Grandma mit ihr machte, also ständig an ihr herumzunörgeln, irgendetwas mutwillig misszuverstehen und alles in allem schlechte Laune zu verbreiten — das machte ihre Schwiegermutter Trix mit ihr. Und ebenso wie Grandma Emily zu mir in der Regel ein völlig anderer Mensch war als zu meiner Mom, nun, genauso verändert wirkte Trix, wenn es um ihre Enkelin — meine Mom — ging. »Sie wünscht ein Essen — entschuldige — ein Dejeuner, übermorgen. Du, ich und dein Vater und dazu offenbar auch Jason. Fehlt nur noch dieser widerliche Eminem, dann ist das ein gelungener Tag für mich!« »Gut, ich versuch ihn zu kriegen, Mom, aber vielleicht tourt er im Augenblick«, gab Mom zu bedenken und zwinkerte Jason zu. Emily schien die Intensität des
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Verhältnisses zwischen Eminem und meinem Großvater deutlich zu überschätzen. Wie so oft in letzter Zeit war sie völlig von der Rolle. »Komm einfach, sei pünktlich, und bitte, lass dir die Haare schneiden!«, kam sie so langsam zum Ende des Gesprächs. »Als du das letzte Mal hier warst, sahst du aus wie die Vogelfrau in Mary Poppins.« »Weißt du, Mom, ich hab unglaublich viel zu tun.« »Es ist egal, wie beschäftigt du bist, Lorelai! Wenn du aussiehst wie eine Vogelscheuche, bin ich wieder schuld daran, und diesen Schuh will ich mir nicht anziehen. So, wir sehen uns um zwölf Uhr.« Mom hörte ein Knacken in der Leitung und schaute noch einen Moment lang das Telefon an. Natürlich würde sie zu dem Dejeuner gehen, aber Lust hatte sie dazu wirklich keine. Noch ein wenig in Gedanken streifte sie sich ihr Wickelkleid wieder von den Schultern, das sie während des Telefonats umständlich angezogen hatte. »Was tust du da?«, fragte Jason, der sie vom Bett aus beobachtete. »Ich zieh mich nur aus.« »Du warst doch schon ausgezogen.« Mom verdrehte die Augen. »Meine Mutter hat angerufen! Ich konnte doch nicht nackt mit ihr reden!« »Was denn, hat sie Superkräfte oder so? Kann sie hören, wenn jemand nackt ist?« »Ja, ganz recht«, nickte Mom. »Sie kann die Sünde hören, die Verderbtheit und alles, was lasterhaft und lustvoll ist.«
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Etwas später befand sich Mom wie so oft bereits wieder im Dragonfly, um die Arbeiter zu beaufsichtigen. Neben ihr stand Sookie, die leider nicht ganz so oft auf der Baustelle anzutreffen war. Mom hatte sich bisher aber immer bemüht, Verständnis aufzubringen, denn Sookie hatte schließlich ein Baby. Aber so langsam merkte Mom, dass sie überfordert war. Emily hatte es vielleicht etwas drastisch ausgedrückt — aber im Kern hatte sie ausnahmsweise Recht. Mom konnte sich an ihren letzten Friseurbesuch nicht mehr erinnern. Auch nicht an ihren letzten Beautyabend mit Kurpackung auf dem Haar und Gurkenscheiben im Gesicht. Und schon gar nicht an ihre letzte Shoppingtour. Und dafür gab es exakt zwei Gründe: Sie hatte weder Zeit noch Geld. Das war die bittere Realität. Dafür hatte sie einen riesengroßen Haufen Verantwortung zu tragen, und den ganz alleine. Sookie hatte sich in der letzten Zeit noch mehr zurückgezogen und kümmerte sich eigentlich nur noch um Klein Davey. Wenn aber auch schon anderen — und sei es auch nur Emily — auffiel, dass die Schönheitspflege bei ihr zu kurz kam, dann musste dringend Abhilfe geschaffen werden. Es war höchste Zeit, und Mom ließ nichts unversucht, auf die Schnelle noch einen Friseurtermin zu ergattern. »Bitte, bitte, schieben Sie mich noch dazwischen! Meine Haare sind lang und nicht mehr zu bändigen, und dann hätte ich gern Cindys Kopfhautmassage, nachdem sie mir die Haare gewaschen hat. Dann kann ich mir
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vorstellen, ich war in Tahiti!«, rief sie in den Hörer und ging aufgeregt auf und ab. »Hey, sie bauen im Moment Rohre in der Küche ein. Wir haben bald schon fließendes Wasser!« Sookie versetzte der Anblick der Rohre derart in Euphorie, dass sie die Tatsache, dass Mom telefonierte, geflissentlich ignorierte. »Ahm, Sookie, Augenblick, Sekunde, ja?« Mom hatte den Hörer zugehalten und sich kurz zu Sookie umgedreht, dann konzentrierte sie sich wieder auf das Telefonat. Es gab Probleme. »Ist denn Cindy da? Sie hat eigentlich immer Zeit für mich ... Nein, ich will Sie nicht übergehen. Es ist nur so: Cindy und ich sind alte Freundinnen und ...« »Die Rohre sind einfach traumhaft schön!«, schrie Sookie, lachte dann laut los und klopfte Mom vor Freude so fest auf die Schulter, dass diese fast den Hörer fallen ließ. »Und wie sie glitzern und blinken!« »Sie sind bestimmt auch noch in zwei Minuten da. Okay?«, zischte Mom. »Klar.« Wieder lachte Sookie aus vollem Hals. »Hören Sie, es wird nicht lange dauern«, beschwor Mom dann wieder die Friseurin. »Es ist 'n einfacher Schnitt. Ich verlange wirklich nicht viel. Sie glauben es vielleicht nicht, aber es ist die reinste Freude, mich zu bedienen. Und ich trockne mir die Haare selbst. Ich würde sogar meinen Föhn mitbringen. Ja? Morgen? Ja, gern! Um elf Uhr. Ich werde da sein. Danke, danke, danke!« Als sie sich umblickte, entdeckte sie Dean. »Hey, Dean. Ach, du arbeitest hier?« »Ja, äh, ich hab gedacht, vielleicht hat Rory es Ihnen erzählt.«
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»Nein«, meinte Mom bedauernd. »Rory und ich verpassen uns dauernd.« »Tja, ich bin hier. Und ich finde Ihre Frisur gut.« »Oh, danke. Du bist wirklich süß.« Mom lächelte ihn an. Sie hatte Dean immer gemocht, schließlich war er immer nett zu mir gewesen. Sie sah ihm noch nach, wie er sich wieder an die Arbeit machte, als Tom zu ihr trat. »Ah, Lorelai, kann ich Sie und Sookie einen Augenblick sprechen?« Mom nickte und rief sogleich nach Sookie. Wenig später kam ihre Freundin auch schon um die Ecke gerannt. »Tom, ich sag Ihnen, diese Rohre sind einfach Spitze!«, rief sie und machte Anstalten, Tom um den Hals zu fallen. »Sie ist von den Rohren völlig begeistert«, erklärte Mom entschuldigend. »Ja, die sind wirklich wunderbar. Und dann wird morgen Vormittag Ihre schicke Spüle geliefert«, fuhr Tom fort. »Haben Sie auch gesagt, dass ich sie erst noch sehen will, bevor sie eingebaut wird? Ich bin heikel, was das angeht.« Sookie und die Spüle waren ein Kapitel für sich. Sie wollte eine ganz bestimmte, und Mom und sie hatten sie extra aus Kanada geordert. »Die werden sie ohne Ihre Zustimmung nicht mal hierlassen«, schwor Tom. Dann wandte er sich an die Arbeiter. »Leute, lasst ihr uns mal einen Augenblick allein?« »Alles okay, Tom?«, wollte Mom wissen. Aber tief in ihrem Innern ahnte sie bereits, was jetzt kam. Was jetzt kommen musste. Sie ignorierte Sookies fragenden Blick
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so gut es ging und sah Tom an, dem es sehr schwer fiel, weiterzusprechen. »Ah, das ist etwas schwierig«, begann er. »Sie wissen, ich finde Sie nett, nicht? Ich hab's oft mit Idioten in meinem Beruf zu tun. Die schreien einen an, auch wenn man keine Schuld hat, und werden sauer, wenn was teurer wird, obwohl man nichts dafür kann. Sie sind anders. Sie duften auch immer sehr gut. Ein großes Plus.« Er trat unruhig von einem Bein auf das andere, kratzte sich am Hinterkopf und ließ dann nach dem ganzen Vorgeplänkel die Katze aus dem Sack. »Also, ich nehme mal an, dass die Schecks in der Post, äh, verloren gegangen sind, so was in der Art.« »Die Schecks?«, schrie Sookie entgeistert. »Welche Schecks? Unsere Schecks?« »Es ist so: In den letzten paar Wochen hatten wir Probleme mit den Finanzen«, wand sich Tom. Dann stampfte er mit dem Fuß auf den Boden. »Ach, ich hasse das!« Sein Verhalten war nicht gespielt. Alles, was er gesagt hatte, war ernst gemeint — das spürte Mom, und es tat ihr schrecklich Leid, dass sie mit den Zahlungen im Rückstand war. »Ich wollte schon früher mit Ihnen darüber reden, Tom«, meinte Mom kleinlaut. Sookie sah sie völlig schockiert an. »Haben wir ihn nicht bezahlt?« Die gute Sookie fiel aus allen Wolken — was eigentlich seltsam war. Sie hätte mitbekommen müssen, wie die Kosten explodiert waren. Und sie wusste auch um Moms Rücklagen. Dass die so langsam aufgebraucht sein mussten, hätte für sie keine Überraschung sein dürfen. Die Tatsache, dass sie so erstaunt war, zeigte Mom allerdings sehr deutlich, dass sie mit der Verantwortung beim Umbau tatsächlich - 82 -
ziemlich alleine dastand. Und nicht nur das: Jetzt musste sie auch noch Sookie beruhigen. »Doch, doch, wir bezahlen ihn, aber nicht so, wie wir ihn wohl bezahlen müssten«, erklärte sie ihr. Dann sah sie Tom mit verzweifeltem Blick an. »Das alles ist wie eine Lawine!« »Ja, klar, hier ist richtig viel zu tun, und alles geschieht gleichzeitig.« Tom erlebte diese Situation nicht zum ersten Mal. Gerade am Ende explodierten noch mal die Kosten -zu einem Zeitpunkt, wo oft das Geld schon aufgebraucht war. Sookie sah entgeistert von einem zum anderen und knetete verzweifelt ihre kleinen, runden, dicken Hände. »Ich werde jetzt total nervös, als hätte ich gerade Bitter-.] Schokolade gegessen und dann einen Espresso getrunken.« Sie war ganz blass geworden, und Mom erkannte mit einem Blick, dass es das Beste war, Sookie aus der Sache rauszuhalten. »Hör zu«, meinte sie und beugte sich zu ihrer Freundin hinunter. »Ich werde jetzt kurz mit Tom reden, Süße. Wir — wir klären das bestimmt. Ehrlich. Los, geh schon!« Sie schenkte Sookie ein aufmunterndes Lächeln und gab ihr einen leichten Klaps. Als sie weg war, holte sie Luft und versuchte zusammen mit Tom eine Lösung zu finden. »M-Mann, es tut mir wirklich Leid, Tom. Es ist wie — wie eine Sintflut. Ich, äh, ich hab gerade bei der Bank wegen eines Kredits nachgefragt. Aber die haben abgelehnt.« Moms Augen waren leicht gerötet. Es ging ihr nicht gut. Und sie fühlte sich verdammt alleine. »Banken sind das Letzte«, meinte Tom. »Aber es ist so: Wenn Sie mich nicht bezahlen, hab ich kein Geld für die Jungs, und dann erscheinen die nicht mehr zur Arbeit.« »Also, äh, werden Sie hier aufhören?« - 83 -
»Eine Zeit lang wird's wohl noch gehen. Bei vielen anderen hätte ich längst gestreikt. Bei Ihnen nicht.« »Ich danke Ihnen. Danke, Tom.« Mom sah ihn an und hätte am liebsten vor lauter Erleichterung losgeheult. Aber sie riss sich zusammen und breitete stattdessen die Arme aus. »Und jetzt, drücken oder nicht?« »Ah, ich bin jetzt etwas dreckig, aber Sie könnten mir ja hinterherpfeifen, wenn ich nachher an Ihnen vorbeigehe. Das macht die Jungs wahnsinnig.« Tom nickte ihr noch mal zu, dann holte er die Männer wieder rein, und sie machten sich wieder an die Arbeit. Mom blickte sich ebenfalls um und hielt Ausschau nach Sookie. Als sie sie erblickte, stand diese händeknetend im Nebenraum und blickte Mom panisch an. »Sind wir jetzt pleite?« Mom nickte. »So gut wie.« »Na schön, dann schränken wir uns ein!«, schlug Sookie vor und machte auch gleich den Anfang. »Ich brauchte nicht so'n superschicken Herd aus Frankreich. Wir kaufen eben was anderes. Er ist doch viel zu teuer, und ich will ihn nicht so unbedingt.« Doch Mom schüttelte entschieden den Kopf. »Sookie, du hast vier Fotos in deiner Brieftasche: eins von Jackson, eins von dem Baby und zwei von dem Herd. Und du wirst diesen Herd kriegen.« Dann überlegte sie kurz und schlug vor, stattdessen auf die Pferde zu verzichten. Doch nun war Sookie entschieden anderer Meinung. »Desdi und Cletus?«, fragte sie entrüstet. »Nur über meine Leiche!« Da sie also mit Sparen nicht weiterkamen, überlegten beide fieberhaft, wer ihnen Geld leihen könnte. Jackson, Sookies Mann, schied aus, weil er sich jede Menge - 84 -
Farmgeräte angeschafft hatte und selbst pleite war. Stattdessen klopfte Sookie bei Mom an und wollte wissen, ob sie vielleicht gerade ein super Verhältnis zu ihren Eltern hatte. »Ahm, wenn du damit fragen wolltest, ob wir uns so nahe stehen wie die einarmige Surferin und der Hai, dann ja«, entgegnete Mom, was die Sache ziemlich eindeutig beantwortete. »Und was ist mit Luke?«, wollte Sookie wissen. »Er hat's dir schon mal angeboten. Und er ist ein Eremit. Wir wissen, dass er viel Geld hat. Und wenn er's dir nicht leihen will, sagt er's dir ins Gesicht.« »Das wäre furchtbar peinlich!«, wand sich Mom. »Peinlicher als die Tatsache, dass Tom fast geweint hätte, weil wir ihn nicht bezahlen?« »Nein, wohl nicht.« Mom musste Sookie Recht geben — gleichzeitig fand sie die Vorstellung, Luke um so viel Geld anzupumpen, unerträglich. Natürlich konnte man sich nun die Frage stellen, warum sie nicht an Jason dachte ... Ich meine, das zwischen den beiden lief nun schon eine ganze Zeit lang. Jason musste für Mom also eindeutig mehr sein als ein One-Night-Stand. Aber dass sie ihn in solch einer Situation weder erwähnte noch überhaupt an ihn dachte, zeigte wiederum, dass er nicht wesentlich mehr war als ein One-Night-Stand, oder? Mom machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, und Sookie versprach ihr, noch einmal ihre Denkkappe aufzusetzen. Beide wussten: Hätten sie nicht ganz schnell eine bessere Idee, dann würde kein Weg an Luke vorbeifuhren. Über Finanzierungsprobleme musste ich mir in Yale glücklicherweise keine Gedanken machen, schließlich zahlten meine Großeltern großzügig alles, was rund um - 85 -
das Studium so anfiel, und bekanntlich hatten sie ja jede Menge Geld. Wer aber jetzt denkt, ich hätte ein sorgenfreies Leben, der irrt gewaltig. Probleme gab es zum Beispiel weiterhin in unserer Wohnung zwischen meinen Mitbewohnerinnen, um genau zu sein zwischen Paris und Janet. Es war nichts Neues, dass es zwischen den beiden in regelmäßigen Abständen krachte — nun aber drohte der Streit zu eskalieren, denn Paris hatte sich in den Kopf gesetzt, systematisch immer weiter auf Janets Freund Kleebold rumzuhacken. Die beiden stritten sich immer öfter und immer heftiger, und ich konnte froh sein, dass ich nicht alle Auseinandersetzungen live mitbekam ... Während ich unterwegs zu meinem neuen Job war, klingelte Kleebold, so berichtete mir später Lane, an unserer Wohnungstür. Er und Janet waren verabredet, aber als er in unserem Wohnzimmer auf sie warten wollte, versperrte ihm Paris den Zutritt. »Er soll in deinem Zimmer warten!«, rief sie in Richtung Janet und hampelte vor Kleebold herum. »Ich muss mich aber fertig machen!«, antwortete Janet gereizt. Doch Paris blieb hart. »Dann soll er im Flur warten«, schlug sie ungerührt vor. Wobei »vorschlagen« das völlig falsche Wort ist. Paris schlägt nichts vor, sie bestimmt oder legt fest. »Wo ist dein Problem?« So langsam reichte es sogar einem so gutmütigen Charakter wie Kleebold, und er baute sich vor Paris auf. Er war sicher nicht der Hellste, aber so langsam kapierte auch er, dass das hier unfair war. »Ich sag dir, was mein Problem ist«, begann Paris in ihrer unnachahmlichen Art. »Neulich hat dein mesomor
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pher Körper einen riesigen Krater auf dem Sofa hinterlassen. Ich dachte, ich säße in 'nem Eimer!« »Du redest so einen Schwachsinn, Paris.« Wenn Janets Blicke hätten töten können, dann wäre Paris jetzt mindestens gevierteilt — aber Paris waren Janets Blicke so egal wie Graf Wallenstein das Leben eines Bauern. »Kinder sind darin Skateboard gefahren!«, stichelte sie weiter. »Gandolf der Graue fällt immer noch weiter, so groß ist das Loch.« »Was bedeutet denn mesomorph?«, fragte Kleebold. Paris verdrehte die Augen. »Es bedeutet, du hast 'nen breiten Arsch.« »Achte nicht auf sie. Setz dich, Klee.« »Nein, setz dich nicht, Klee.« »Du meinst also, meine Freunde müssen deinen kindischen Vorstellungen genügen?« Die Situation war kurz davor, völlig außer Kontrolle zu geraten, aber Paris achtete nicht auf solche Nebensächlichkeiten. Sie tat das, was sie am allerbesten konnte: Sie nervte weiter. »Nein, sie sollen bloß durch die Tür gehen, ohne sie kaputtzumachen.« »Ach, vergiss es!« Janet hatte keine Lust mehr, ihre Zeit weiter mit der Zimtzicke zu vergeuden. »Komm mit in mein Zimmer, Klee.« Bevor sie gingen, blickte sie noch mal in Paris siegesgewisses Lächeln. »Verbringst du wieder einen heißen Abend in der Bibliothek, Paris?« Sie hakte sich bei Kleebold unter und grinste ihn verschwörerisch an. »Schon traurig, die Bitterkeit dieser alten Jungfer.« »Ja«, antwortete Kleebold. »Hey, Shrek, toller Beitrag!«, schrie ihnen Paris nach, dann stapfte sie wütend in unser Schlafzimmer, wo Lane
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sich gerade aufhielt. »Ich muss hier weg. Oder Janet. Eine von uns sollte ausziehen.« »Ich find's schrecklich, wenn ihr euch fetzt«, antwortete Lane. Sie war tatsächlich schon ganz blass geworden, denn Ausbrüche dieser Art konnte sie nur ganz schwer ertragen. Lane war die geborene Vermittlerin und Diplomatin, und fast immer hatte sie dabei auch Erfolg. Fast immer deshalb, weil sie just bei ihrer Mutter auf Granit gestoßen war. Trotz aller Erklärungsversuche und Friedensangebote war Mrs Kim hart geblieben und hatte Lane vor die Tür gesetzt. Jetzt sah sie sich vor der nächsten großen Herausforderung, denn wenn Mrs Kim hart wie Granit war, dann war Paris mindestens so hart wie Stahl. »Ich sollte ihr einen langen Speer in den Kopf jagen!«, schimpfte sie weiter, als ob sie Lanes Einwand nicht gehört hätte. Und wahrscheinlich hatte sie ihn auch nicht gehört. »Erzähl ihr doch von dem Professor. Dann hält sie vielleicht den Mund«, riet Lane. »Bist du nicht mit Asher Flemming zusammen?« Schon während sie das sagte, wurde ihr klar, dass sie gerade einen schweren Fehler beging. Aber es war zu spät. Die verhängnisvollen Worte hatten ihren Mund verlassen. »Was? Was hast du gesagt?« Paris, die gerade dabei gewesen war, sich etwas zu beruhigen, war wieder auf hundertachtzig. Sie schnappte sich ohne eine Antwort abzuwarten ihre Jacke, schlug krachend die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und machte sich schnaufend vor Wut auf den Weg in die Cafeteria, wo ich meiner neuen, unglaublich verantwortungsvollen Aufgabe nachging und Karte für Karte durch die dafür vorgesehene Maschine zog. Als Paris kam, sprach ich meiner Mom gerade - 88 -
wieder einmal auf die Mailbox und erzählte ihr was von einer Automatenhand, die ich bekäme und die noch viel schlimmer sei als ein Tennisarm — und dass ich inständig hoffte, dass Jerry Lewis eine Spendengala für mich organisierte. »Rory!«, hörte ich plötzlich Paris' gellende Stimme. »Komm mit!« Wie aus dem Nichts war sie neben mir aufgetaucht und sah aus wie die personifizierte Rache. Dann drehte sie sich zu den Leuten um, die in einer langen Schlange darauf warteten, von mir ihr Kärtchen durchgezogen zu bekommen. »Zieht mal die Karten selbst durch, Freunde.« Als ich aufgestanden war und sie mich im Polizeigriff mit sich fortschleifte, verlor sie keine Sekunde, um zum Grund ihres Auftritts zu kommen. »Du hast Lane von mir und Asher erzählt? Außer dir weiß es niemand. Das war ein Geheimnis zwischen uns!« Ich wusste zwar nicht, was vorgefallen war, aber ich hatte das Gefühl, dass es schwer werden würde, sie zu beruhigen. »Ich hab's nur Lane gesagt«, versuchte ich mich zu verteidigen. »Und sie hat's dann überall rumerzählt. Sie hat's mir erzählt und bestimmt auch anderen. Wo hast du dich noch verquatscht?« »Red kein Blech. Ich hab's nur Lane erzählt.« »Also nicht dichtgehalten.« »Ich hab's ihr erzählt, bevor sie nach Yale kam.« Ich hoffte inständig, Paris würde ihre Szene beenden — aber -weit gefehlt. Sie sollte erst noch richtig aufdrehen ... »Sie muss hier wieder weggehen. Sie weiß zu viel.« Paris sah fest entschlossen aus, ihrer Idee Taten folgen zu lassen — und mir wurde mit einem Male ganz flau im Magen. Ich hatte mich so daran gewöhnt, dass Lane in - 89 -
Yale war, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen konnte, auf sie zu verzichten. Wir waren nun mal seit ewigen Zeiten Freundinnen, und seit sie in Yale war, fühlte ich mich hier viel heimischer. So, als war ein Stück Stars Hollow mit Lane zusammen nach Yale gezogen. »Was denn, willst du sie umbringen?« Völlig entgeistert sah ich Paris an. »Sie hat hier nichts verloren, Rory«, meinte sie. Knallhart und streng wie immer. »Es ist bei uns schon so eng genug, mit uns vieren, dem großen grünen Riesen und wer da sonst noch so rumhängt. Sie sollte ausziehen. Janet und Tanna denken auch so. Wir sind uns einig. Es ist zu eng. Frag sie.« Ich schnappte hörbar nach Luft. Das war ja wohl das Allerletzte! Jetzt, wo es ihr in den Kram passte, berief sie sich plötzlich auf Janet und Tanna, an denen sie sonst kein einziges gutes Haar ließ. Das war doch alles nicht wahr. Am liebsten hätte ich losgeheult, weil ich das Gefühl nicht loswurde, dass hier ein Bauernopfer - in diesem Fall Lane — gesucht wurde, und weil ich gleichzeitig wusste, dass die besseren Argumente auf Paris' Seite lagen. Recht und Ordnung und die Studienbescheinigung. Paris bekam offenbar tatsächlich mit, dass ich mit ihrer Meinung ein Problem hatte. »Hör zu, ich weiß, dass du sie gern um dich hast«, sagte sie, doch das letzte Fünkchen Hoffnung, dass ich bei diesen Worten spürte, wurde sofort im Keim erstickt. »Ja, sie weckt vielleicht Erinnerungen an die schöne Zeit in Stars Hollow, als ihr glücklich über sonnenbeschienene Wiesen gehüpft seid und Carpenters-Songs gesungen habt, aber sie gehört eben nicht hierher. Sie muss wieder zurück.« Bevor sie ging und mich völlig verstört meiner Arbeit überließ, sah - 90 -
sie mich noch einmal eindringlich an. »Und tu mir einen Gefallen und hör auf mit diesem Getratsche.« Sobald ich Feierabend hatte, stürmte ich in unsere Wohnung, um Janet und Tanna zur Rede zu stellen. Angenommen Paris hatte gelogen — was ihr durchaus zuzutrauen war — und Janet und Tanna hätten nichts gegen Lanes Aufenthalt, dann bestünde noch eine reelle Chance, Lane hier behalten zu können ... Als ich eintrat, machte Janet gerade ihre Bauchmuskelübungen. Wie üblich, wenn sie nicht gerade ihre Pomuskeln, Armmuskeln, Beinmuskeln oder ihre Ausdauer trainierte. Tanna saß wie üblich einfach so rum und sah fern. »Hi«, meinte ich und lächelte so einnehmend wie möglich. »Janet, könntest du mal kurz 'ne Pause einlegen?« »Ich bin fertig«, antwortete sie, wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und setzte sich neben Tanna auf die Couch. »Was gibt's?« »Tja, Paris ... Sie hat was ziemlich Dummes gesagt.« »Das muss ja ein gewaltiger Schock gewesen sein!« »Ja, und ich bin ziemlich sauer, dass sie euch da mit reingezogen hat. Sie hat gesagt, ihr seid nicht gerade glücklich darüber, dass Lane auch hier wohnt. Das find ich merkwürdig, weil Lane doch praktisch unsichtbar ist ... das heißt, wenn sie nicht gerade das Bad putzt oder hier aufräumt oder uns Kaffee bringt und so weiter und so fort. Es ist doch nicht wahr, dass ihr sie unbedingt loswerden wollt, oder? So denkt doch nur Paris.« Tanna, die bis jetzt nichts gesagt hatte, druckste ein wenig herum, dann meinte sie: »Na ja, es ist schon komisch. Sie studiert hier nicht.«
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»Und es ist einfach auch sehr eng hier«, ergänzte Janet. »Es ist komisch.« »Also habt ihr schon darüber geredet.« Ich schluckte. Mit dieser Reaktion hatte ich wirklich nicht gerechnet. »Ja, ganz kurz. Ich persönlich würde ja auch Paris gern rausschmeißen, aber Paris studiert hier.« »Verstehe«, meinte ich bitter. »Bist du böse?«, wollte Tanna wissen. »Nein, nein. Also dann.« Ich ging schnell in mein Zimmer. Denn wenn ich noch einen Augenblick länger bei Janet und Tanna stehen geblieben wäre, hätte ich vermutlich losgeheult. Und das wollte ich nicht. »Hey. Wie war die Arbeit?«, wollte Lane wissen, die im Zimmer saß. Ich antwortete belangloses Zeug, und sie merkte sehr schnell, dass irgendetwas nicht stimmte. Natürlich konnte sie sich sofort zusammenreimen, was passiert war. »Du wirkst irgendwie so ernst«, meinte sie. »Hat Paris mit dir geredet?« Ich sagte nichts und nickte bloß. »Ich muss ausziehen, stimmt's?« Wieder nickte ich. Angesichts dessen, dass das für Lane nichts anderes bedeutete, als dass sie jetzt erst mal kein Dach über dem Kopf hatte, blieb sie selbst für eine Asiatin erstaunlich ruhig. »Schon okay. Es konnte ja nicht ewig so weitergehen. Ich studiere doch gar nicht hier.« »Ja, und — der Hausmeister studiert auch nicht hier«, meinte ich. »Er arbeitet hier.« »Dann such dir n Job, Lane!« »Die Jobs hier kriegen nur Studenten.« »Dann schreib dich ein. Oder werd Hausmeisterin. Das eine oder das andere, in hundert Jahren sind wir tot, dann schert's keinen mehr.« Ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich wusste, ich würde mich ohne sie wieder sehr oft sehr - 92 -
verloren hier fühlen. Aber es half alles nichts. Und das konnte Lane besser akzeptieren als ich. »Nein.« Sie schüttelte tapfer den Kopf. »Ich sollte ausziehen. Ich verschwinde morgen Früh.« »Wir wollten doch immer zusammenziehen, weißt du nicht mehr?« Ich erinnerte mich ganz deutlich daran. »Als wir Kinder waren. Unser Haus sollte unbedingt aus Käse sein.« Lane lächelte. »Wir haben oft darüber diskutiert. Unsere Favoriten waren Schokolade, Käse und Topfreiniger.« »Du bist ein Stück Stars Hollow!« Mir traten die Tränen in die Augen, und Lane versuchte, mich zu trösten. Was verrückt war, denn ihre Lage war weitaus schlimmer als meine. »Ich werde dich ganz oft besuchen«, versprach sie. »Und vielleicht wohnen wir wirklich irgendwann in 'nem Haus aus Käse.« In Stars Hollow erwartete Mom am nächsten Tag endlich ihr ersehnter Friseurtermin. Es war allerhöchste Zeit, denn die letzten Wochen waren wirklich eine Aneinanderreihung von Bad-hair-days gewesen. Und das, obwohl meine Mom eigentlich wunderschönes Haar hatte. Meine Haare waren auch nicht schlecht — aber Moms Haare spielten einfach in einer anderen Liga. Sie waren lang und dunkel und dick und wellig. Allerdings waren die Spitzen ausgedünnt und gesplisst. Aber genau daran sollte etwas gemacht werden. Mom lehnte sich glücklich zurück und genoss den angenehm warmen Wässerstrahl auf ihrem Kopf in vollen Zügen. »Oh, Haarwaschbecken sind einfach toll. So 'ne Art Whirlpool für den Kopf«, seufzte sie verzückt, und als LeAnne begann, ihre Kopfhaut zu massieren, - 93 -
schloss sie die Augen. »Hören Sie, LeAnne, sagen Sie's Cindy nicht, aber Sie sind besser, viel besser. Ihre Hände ...« Das Klingeln ihres Handys unterbrach die wohlige Stimmung. »Oh, nein! Nein, nicht jetzt, nicht jetzt.« LeAnne gab ihr den guten Rat, das Klingeln einfach zu ignorieren — aber Mom hoffte, dass ich es sei, und ging wieder einmal schnell ran. Sie hätte besser daran getan, auf LeAnne zu hören, denn statt meiner war es Tom, der Mom berichtete, dass die Spüle aus Kanada eingetroffen sei, dass aber von Sookie weit und breit jede Spur fehlte. Mit der Entspannung war es vorbei. Die Spüle aus Kanada kostete eine Menge Geld, und da Sookie darauf bestanden hatte, sie zu sehen, musste sie sie erreichen. Wenn nicht, würde die lange Reise der Spüle ganz umsonst gewesen sein, und das gute Stück wäre bald wieder in Kanada. Hektisch wählte sie Sookies Nummer — doch es ging nur der Anrufbeantworter an. »Hi, hier sind Sookie und Jackson und Davey. Der kleine Davey will auch Hallo sagen. Na los doch, Davey. Sag Hallo! Sag Hallo! Komm schon, sag Hi! Sag Hi!« Es sprachen abwechselnd Sookie und Jackson — aber Sookie gewann langsam die Führung. »Oh, jetzt leckt er den Hörer ab!«, rief sie begeistert. »Nein, nicht den Hörer ablecken. Kleiner Liebling. Kleiner Liebling, schmeckt dir der Hörer gut? Oh, schmeckt das wie Schokolade? Du willst sagen, es schmeckt wie Schokolade, ja? Oh, oh, er hat gewinkt. Okay, und jetzt kommt der Piep.« »Ansage kürzen, nicht so süß, ruf mich an.« Mom legte genervt auf und wählte Michels Nummer. Sie hatte Glück — er ging wenigstens ran.
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»Tallyrand Hotel. Kann ich Ihnen helfen?«, meldete er sich mit seiner nasalen Stimme. »Michel, gut. Hören Sie, ein Notfall. Können Sie ...« »Ich erzähl Ihnen jetzt was Unglaubliches«, unterbrach er sie. »Celine Dion ist hier! Ich bin kaum anderthalb Meter von ihr entfernt.« Er war ganz aus dem Häuschen. »Cool, Spitze«, meinte Mom. »Hören Sie, könnten Sie vielleicht ...« Sie kam wieder nicht weiter. »Hach, mir schlägt das Herz wirklich bis zum Hals. Sie ist ja so unglaublich schön. In Wirklichkeit sieht sie noch besser aus als im Fernsehen, und so nett.« Michels Stimme überschlug sich fast, obwohl er sich redlich bemühte, die Fassung zu bewahren. Oder, um es mit seinen Worten zu sagen: die Contenance. »Ja, klar, ich hab nur Gutes über sie gehört. Also, können Sie bitte ...« Mom hatte genau mitgezählt. Es war der dritte Anlauf, den sie nahm, um endlich diesen einen Satz auszusprechen. Aber wieder wurde sie von Michel unterbrochen, der ihr erzählte, dass er ausgerechnet heute einen Pickel hätte. Jetzt war es Mom, die ihm ins Wort fiel. »Michel, hören Sie, können Sie nicht zum Hotel fahren? Es ist wichtig. Sookie ist nicht da. Ich bin verzweifelt.« »Ich kann hier nicht weg!«, rief Michel. »Und ich hab nasse Haare.« Mom war den Tränen nah. »Sie hat geniest. Ich geb ihr mein Taschentuch.« »Vergessen Sie's. Wir sehen uns irgendwann.« Mom legte auf, sprang aus dem Friseurstuhl und fuhr zum Dra gonfly. Innerlich kochte sie vor Wut und Enttäuschung. Sie hatte sich so auf den Friseurtermin gefreut — und noch nicht mal das klappte.
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Als sie ankam und die Spüle schon weg war, fuhr sie mit ihren nassen Haaren und wütend wie schon lange nicht mehr auf direktem Weg weiter zu Sookie. Als auf ihr Klingeln niemand öffnete, klopfte sie mit der Faust so fest sie konnte gegen die Tür. Kurz daraufhörte sie Sookie. »Sofort. Oh. Schon gut, ich komm ja!« Als sie die Tür öffnete, trat Mom mit versteinertem Gesicht ein. »Heute wurde die Spüle geliefert. Du wolltest da sein«, begann sie unverzüglich und gefährlich ruhig. Aber Sookie merkte überhaupt nicht, wie ernst die Situation war. »Ehrlich?«, fragte sie und gähnte. Sie war frisch aus dem Bett gestiegen, das war nicht zu übersehen. Ihre Haare waren noch ganz zerzaust, und der Kopfkissenabdruck auf der Wange war überdeutlich. »Ja, Sookie, du hast gesagt, du willst überprüfen, ob es die richtige Spüle ist, und dann unterschreibst du.« Moms Stimme hatte leicht an Lautstärke zugenommen. Sie war blass vor Zorn — aber Sookie wollte nicht verstehen, wo das Problem war. »Oh, Tom hätte das machen können«, meinte sie und raufte sich die Haare. »Nein, Sookie, Tom hätte das nicht machen können. Du hast ausdrücklich verlangt, dass du die Spüle sehen willst, bevor sie eingebaut werden kann.« »Ach ja? Oh, ja, natürlich, klar. Oh nein, oh nein, oh nein, verflixt! Gut, dann ruf einfach an und sag, die sollen die Spüle morgen liefern.« »Nein, nein, Sookie, sie können die Spüle nicht morgen liefern. Weil sie schon wieder auf dem Rückweg nach Kanada ist.« »Warum das denn?« - 96 -
»Weil dort die Mutter deiner Spüle auf sie wartet.« Dieses Mal war sie für Mom einen Schritt zu weit gegangen. »Sookie, ich hab mich auf dich verlassen. Und jetzt müssen wir die Spüle noch mal liefern lassen, das bedeutet, wir müssen doppelte Frachtgebühren zahlen! Sookie, ich war in den vergangenen sechs Wochen bei jedem Termin. Rund um die Uhr war ich im Hotel. Ich hab keine Sekunde für mich gehabt, und ... und-und-und und alles, was ich heute wollte, war nur eine Stunde, um zum Friseur zu gehen. Aber kaum hab ich das Shampoo auf dem Kopf, ruft Tom an und erzählt mir, ich soll zum Hotel fahren und Ja oder Nein sagen. Ich weiß doch gar nicht, worauf ich achten muss, um zu sagen, ob die Spüle okay ist, aber du weißt es, und deswegen hast du gesagt, du würdest hingehen, um festzustellen, ob sie okay ist!« »Ich sagte doch, das mit dem Termin tut mir Leid, aber ich hab ein Baby hier«, antwortete Sookie. Doch Mom hatte diese Entschuldigung genau einmal zu oft gehört. Heute brach alles aus ihr heraus. »Das weiß ich. Ich hab ja in letzter Zeit nichts anderes von dir gehört!« »Oh, entschuldige, dass mein Kind auf der Welt ist.« Sookies Stimme wurde ebenfalls spitz. Klein Davey war schließlich ihr Ein und Alles. »Wir haben aber ein Hotel, das eröffnet werden soll! Es nützt nichts, wenn es dir Leid tut. Ich brauch dich da.« Mom sah Sookie flehend an. »Sookie, wir könnten untergehen«, erklärte sie. »Es war nicht geplant, dass ich alles allein mache. Aus diesem Grund hab ich doch 'ne Partnerin.« »Ich wusste nicht, dass ich schwanger werde, als wir uns entschieden haben, das Hotel zu eröffnen.« »Und wenn ja, wären wir dann keine Partnerinnen?« - 97 -
»Doch, ich meine ... Hör zu, das sind alles Dinge, bei denen ich dir sowieso nicht helfen kann. Die Planung, die Entscheidungen. So was konnte ich noch nie sehr gut. Mein Teil kommt danach, wenn das Hotel erst mal offen ist.« »Ich brauch dich aber jetzt.« Mom war schockiert, von Sookie so eine Absage zu bekommen. Übersetzt hieß das alles nämlich nichts anderes, als dass sich an der Situation nichts ändern würde. »Aber ich tu doch, was ich kann«, sagte Sookie nun zu allem Überfluss — und das war auch etwas, was Mom nicht mehr hören konnte. »Verstehe«, meinte sie daher nur und drehte sich rasch um. »So, ich muss gehen.« Sie wusste, wenn sie noch länger hier bliebe, dann würde sie ausflippen. Und das wollte sie nicht. Sie wollte die Freundschaft nicht aufs Spiel setzen. Sookie rief ihr noch nach, was jetzt mit der Spüle sei, doch Mom antwortete nicht mehr, sondern rannte zu ihrem Wagen. Tränen liefen über ihre Wangen.
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Lane bewies einmal mehr, dass sie ein richtiges Stehaufmännchen war, das heißt, ich meine natürlich ein Stehaufmädchen. Kaum hatte sie am nächsten Tag ihre Sachen gepackt und war zurück nach Stars Hollow gefahren, war sie auch schon bei Luke vorbeigegangen und hatte ihn gebeten, ihr den Job in seinem Cafe wiederzugeben, den sie vor dem Rauswurf bei ihren Eltern voller Elan ausgefüllt hatte. Erst stellte er sich stur — was Luke bekanntlich ziemlich gut kann —, aber Lane gab einfach nicht auf und setzte ihre ganze Überredungskunst ein. Kurz und gut: Sie bekam den Job. Natürlich bekam sie den Job. Und damit meine Freundin auch ein Dach über dem Kopf hatte, hatte ich Mom Bescheid gesagt, dass sie erst einmal bei ihr einziehen würde. Gut, Mom hatte sich dazu noch nicht geäußert, denn natürlich hatte ich sie nicht persönlich erreicht, sondern nur auf den Anrufbeantworter gesprochen. Aber ich wusste, dass sie nichts dagegen haben würde. Schließlich war sie doch die beste Mom der Welt. Als Mom an diesem Tag bei Luke vorbeischaute, fiel ihr Lane, kaum dass sie sie erblickt hatte, freudestrahlend um den Hals. »Lorelai! Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken!« Lanes Augen waren riesengroß und blitzten und blinkten mit ihrem Lächeln um die Wette. »Schon gut, wirklich sehr gern geschehen. Wofür?« Mom hatte nicht den leisesten Schimmer, was eigentlich los war — sie wunderte sich nur ein wenig, Lane in Lukes Cafe anzutreffen, wo sie doch eigentlich bei mir in Yale sein sollte. - 99 -
»Dass Sie mich bei sich wohnen lassen.« »Ach, du wohnst bei mir? Und wusste ich das?« Lane nickte. »Ja, klar, von Rory.« Jetzt legte sich ein leichter Schatten auf ihr Gesicht. »Sie hat Ihnen doch Bescheid gesagt, oder? Sie hat mir gesagt, sie wollte Sie anrufen.« Mom zückte ihr Handy und hörte die Mailbox ab. Es war nur ein Anruf drauf, und der war von mir. »Hey, Mom, Lane muss für 'ne Weile bei dir wohnen. Ist das okay?« Mom grinste, während sie die Nachricht hörte. Als sie das Handy wieder wegsteckte, nickte sie Lane zu. »Ah, anscheinend wohnst du jetzt bei mir.« »Ist es Ihnen recht?« »Ja, natürlich«, antwortete Mom. Dann setzte sie ein möglichst strenges Gesicht auf. »Aber sag deiner Mom Bescheid.« »Ja, klar, das mach ich!«, rief Lane überglücklich. »Wir sehen uns zu Hause.« Kaum war Lane draußen, lief sie Mrs Kim in die Arme. Ganz bildlich gesprochen. Dass es Lanes Mom mit ihrer harten Entscheidung nicht gut ging, war unschwer zu erkennen. Jedenfalls sah sie sehr traurig aus, und ihre Augen waren gerötet, als hätte sie eben noch geweint. Mutter und Tochter grüßten sich und blieben voreinander stehen. Schließlich fasste sich Lane ein Herz und erzählte ihrer Mom in knappen Worten, dass sie jetzt bei Lorelai wohnen würde. Mrs Kim nickte, ermahnte sie, dicke Strümpfe zu tragen, und ging davon. Lane blickte ihr noch einen Augenblick nach, dann machte sie sich auf den Weg zu unserem Haus. Ich bin mir sicher: Ich hätte so eine Situation nicht ertragen. Ich bewunderte Lane für ihre Stärke und dafür, dass sie dazu stand, wie sie war, und dass sie nicht länger - 100 -
bereit war, ihre Eltern über sich, ihre Ansichten und Interessen um des lieben Friedens willen anzulügen. Was allerdings auch gar nicht mehr möglich gewesen wäre, denn es war ja schon alles ans Licht gekommen ... Ihre Eltern waren bereit, ihr zu verzeihen — allerdings waren die Bedingungen, die sie daran knüpften, nicht zu erfüllen. Lane hätte allem, was ihr wichtig war, abschwören müssen. Ihrer Band, ihren Freunden, ihrer Musik, eben allem. Stattdessen hätte sie wieder die Collegebank der Adventisten drücken und sich mit anderen Menschen nur treffen sollen, um über Bibelstellen zu diskutieren. Mich wundert es jedenfalls nicht, dass sich Lane mit diesen Bedingungen nicht anfreunden konnte. Eigentlich bin ich sonst wirklich ein Mensch der Kompromisse und der gemeinsamen Lösungen. In diesem Fall aber war das nicht möglich. Die einzige Möglichkeit bestand darin, dass Mr und Mrs Kim umdachten und ihre Tochter so liebten und akzeptierten, wie sie nun einmal war. Mir tat Lane Leid, und ich wünschte ihr, dass ihre Eltern bald zur Vernunft kommen würden. Und bis dahin wollte ich ihr helfen, so gut es ging! Als Lane draußen war, steuerte Mom auf Luke zu. Aufgrund ihrer Frisur hatte sie sich entschieden, besser eine Baseballkappe aufzusetzen — allerdings hatte sie sie richtig herum auf. Nicht so wie Luke. Damit es trotzdem ziemlich schräg aussah, hatte sie ein besonders schönes Exemplar gewählt: Ein riesiger Bow-Schriftzug prangte darauf. Mom kam sich zugegebenermaßen etwas albern vor, aber sie hatte schließlich vor der Alternative Kappe, Kopftuch oder Isolationshaft gestanden. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, als sie auf Luke zuging und ihm vorschlug, heute Abend zusammen essen zu gehen. - 101 -
Nachdem sie fieberhaft hin und her überlegt hatte, war sie zwar zu dem Entschluss gekommen, dass kein Weg an Lukes Kohle vorbeiging -aber wohl war ihr dabei deshalb noch lange nicht ... »Wie war's dann mit Silmno's? So gegen acht?«, schlug sie ihm vor, nachdem sie angekündigt hatte, dass sie was Wichtiges mit ihm zu besprechen hätte. »Willst du nicht herkommen? Ich mach uns was.« Luke war nicht scharf darauf, ins Silvano's zugehen. Der Laden war ihm eigentlich zu fein und protzig, und zu allem Überfluss herrschte dort Krawattenzwang. »Nein, das ist nichts fürs Diner«, lehnte Mom rasch ab. »Es ist was Offizielles.« »Ach, hat man dich eingezogen?« »Ja, ganz recht.« Mom versicherte ihm, dass das mit dem Krawattenzwang nicht stimmte, sondern nur ein Jackett erwünscht war, dessen man sich aber, sobald man saß, schnell entledigen konnte, und dann verabredeten sie sich für acht Uhr. »Okay, wir sehen uns!« »Die Mütze ist toll!«, rief ihr Luke noch nach - dann machte er sich wieder hinter der Theke an die Arbeit. Mom hatte ihn zwar ziemlich neugierig gemacht, aber er würde ja heute Abend erfahren, was los war. Während Mom nach Hause fuhr und überlegte, welches von ihren Kleidern für das »Dejeuner« mit ihrer Grandma Trix am geeignetsten wäre, machte ich mich am späten Vormittag auf den Weg zum Büro meines Professors. Die letzte Hausarbeit lag schon eine Weile zurück, und ich wollte endlich wissen, wie ich abgeschnitten hatte. Von unterwegs versuchte ich es wieder mal bei Mom. Allerdings hatte ich kaum noch Hoffnung, sie zu erreichen — das hätte den Erfahrungswerten der letzten Zeit einfach nicht - 102 -
entsprochen. Und so war es auch. Kaum hatte es dreimal geklingelt, sprang der Anrufbeantworter an. »So, ich bin jetzt auf dem Weg zu meinem Professor. Ich will ihm eine Frage zur Vorlesung letzte Woche stellen, weil mein Stift plötzlich den Geist aufgegeben hat. Das ist natürlich alles nicht 'wahr, aber so geb ich ihm ...«, ich bog um eine Ecke und rannte fast einen Kommilitonen über den Haufen, »... die Möglichkeit, mit mir über die letzte Arbeit zu sprechen. Denn ich bin mir sicher, dass er sie schon benotet hat, und vermutlich wird er mir so was sagen wie: Sehr gute Leistung, Miss Gilmore. Wie war's mit einer Eins? Ruf an!« Ich legte auf, steckte das Handy weg, atmete noch einmal tief durch und klopfte dann an die Tür. Kurz darauf hörte ich eine männliche Stimme von drinnen ein »Herein« rufen und öffnete die Tür. »Professor Gilbert?« Vorsichtig streckte ich meinen Kopf ins Zimmer. »Hi, ich bin Rory Gilmore. Ich habe Ihr Dienstagsseminar zur Spieltheorie belegt. Ich hoffe, ich störe nicht.« Professor Gilbert saß mit einem Buch in der Hand an seinem Schreibtisch, blickte jetzt hoch und lächelte mich freundlich an. »Kommen Sie rein.« Ich tat wie geheißen, und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ging es wieder mit mir durch. Anders als alle anderen einigermaßen vernünftigen Lebewesen fragte ich ihn nicht einfach, ob er meine Arbeit schon bewertet hatte, nein: Ich begann stammelnd den größtmöglichen Unsinn vor mich hin zu plappern. Und ritt mich dabei immer weiter in das tiefe, dunkle Dickicht meiner assoziativen Gedankenkraft, die jeden Freud-Schüler wahrscheinlich irrsinnig glücklich gemacht hätte.
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»Danke«, begann ich noch recht normal. »Ich würde ganz gern mit Ihnen ein paar Punkte aus der letzten Vorlesung durchgehen.« Auch das war noch recht normal. Aber alles, was nun folgte, geschah ohne mein Zutun, und ich sage dazu nur zwei Worte: »Tourette« und »Syndrom«. »Okay, also, ich hab zwar alles notiert, aber jetzt kann ich beim besten Willen meine Handschrift nicht mehr entziffern. Würde ich sie mal analysieren lassen, könnte Charlize Theron mich in einem Spielfilm darstellen. Ja, richtig, ich wäre ein Serienkiller. Und hübsche Frauen werden gern fett und spielen Serienkiller, denn dann kriegen sie den Oscar, und ... ahm ... Verzeihung, soll ich weiterreden oder ...« Mein Redefluss versiegte, und verunsichert sah ich Professor Gilbert an, der mir den Rücken zugekehrt hatte und irgendetwas zu suchen schien. »Warten Sie, bis ich Ihre Arbeit gefunden habe, und wir reden darüber, wieso Sie wirklich hier sind«, antwortete er und suchte weiter. Ich glaube, meine Wangen leuchteten in diesem Moment feuerrot. Es war mir schrecklich peinlich. »Oh. Ja, okay«, meinte ich und kicherte dämlich. Dann beobachtete ich, wie er sich mit einer Mappe aufrichtete, hinter seinen Schreibtisch ging und Platz nahm. »Rory Gilmore. So, da haben wir sie.« Er blätterte kurz in meiner Arbeit herum und räusperte sich. »Ja, schön, okay. Gut, dass Sie da sind.« Er deutete auf den Stuhl ihm gegenüber, und ich nahm mit mulmigem Gefühl Platz. »Also«, begann er, »in dieser Arbeit sollte man ein reales Beispiel wählen, um daran die klassische Wirtschaftstheorie mit der Spieltheorie zu vergleichen, richtig?« - 104 -
Ich nickte und fragte mich fieberhaft, warum ich nur so eine verdammt miese Vermutung nicht loswurde. Die Vermutung, dass dieses Gespräch nicht so positiv verlaufen würde wie erhofft und dass ich von einem »Sehr gut« weit, weit entfernt war. »Okay. Sie haben die Aufgabe gut gelöst, was die Spieltheorie anbelangt« fuhr er fort. »Aber dann sind Sie vom Thema abgewichen und haben die Umweltprobleme in Mexico City erörtert. Mir schien es, als ob Sie die Arbeit mit Ihrem Wissen aus anderen Seminaren aufpeppen wollten, um jedwede Recherchen für diese zu vermeiden.« Oh, Mist! Ich fühlte mich so was von ertappt! Und ich wünschte mir inständig, dass sich unter mir ein Riesenkrater auftun würde, in den ich dankbar abtauchen konnte. Aber natürlich geschah das nicht. Kein Krater, kein gar nichts. Noch nicht mal eine Sekretärin, die die Tür aufriss, oder ein Telefon, das klingelte. »Oh. Ah, nein, ich wollte nur ...«, stammelte ich und blickte verzweifelt im Raum herum in der Hoffnung, dass mir jetzt schnell eine gute Erklärung einfallen würde — aber Professor Gilbert winkte ab. »Ich hab das schon öfter erlebt«, begann er. »Bei unseren Neuzugängen besonders. Und für gewöhnlich bedeutet das, dass sie sich zu viel zumuten, dass sie die Anforderungen des Lehrplans in Yale ganz gewaltig unterschätzen.« Er blickte mich über den Schreibtisch hinweg an. »Ich hab mir Ihren Stundenplan daraufhin mal angesehen. Und ich glaube, das trifft auf Sie zu.« »Oh, nein, nein, ich schaff das, wirklich!«, rief ich aufgeregt. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. »Ich hab nur 'n paar kleine Probleme mit der Spieltheorie. Ich glaub, meine Mutter ist schuld daran! Sie hat immer - 105 -
Spiele erfunden, als ich noch klein war. Ich wollte ja Monopoly spielen, aber sie hat mich gezwungen, die Tiere aus ihren Lieblingssendungen zu imitieren.« Ich kicherte erneut hysterisch, denn mir war klar, dass ich wieder mal nur dummes Zeug geredet hatte, mit dem ich niemanden überzeugen konnte. Ausnahmsweise hatte ich sogar Recht. Ich konnte Professor Gilbert nicht überzeugen - und wenn ich gehofft hatte, dass es jetzt schlimmer nicht mehr kommen konnte und es nun bergauf gehen würde, dann hatte ich mich geschnitten. Das Gespräch wurde immer schlimmer und schlimmer und schlimmer. »Ich hab mit Ihrer Studienberaterin geredet, und sie teilt meine Sorge.« Professor Gilbert klappte meine Mappe zu. »Was denn für eine Sorge?« Meine eben noch feuerroten Wangen waren kreidebleich geworden. »Dass Sie in diesem Semester zu viele Kurse belegen. Sie verlangen zu viel von sich. Sie sollten diesen Kurs weglassen. Belegen Sie den Kurs noch mal, wenn Sie mehr Zeit haben.« Er erhob sich und deutete an, dass das Gespräch dem Ende zuging. Das Gespräch! Ha! Das ich nicht lache! Die öffentliche Verbrennung auf dem Scheiterhaufen für Versager doch wohl eher! Ich sprang auf. »Aber mein Großvater hat genauso viele Kurse belegt, als er hier studiert hat.« »Tja, jeder Mensch hat sein eigenes Tempo, Rory. Sie sollten sich nicht mit anderen vergleichen. Sie arbeiten eben langsamer.« Ich wollte etwas dagegen sagen und fuchtelte wild mit den Händen herum, doch Professor Gilbert ließ mich nicht zu Wort kommen. »Die Entscheidung kann ich Ihnen selbstverständlich nicht abnehmen. Machen Sie weiter, aber das ist eine Vierer - 106 -
Arbeit. Das ist nicht weiter schlimm. Vielen Studenten geht es ähnlich.« »Okay«, antwortete ich und gab auf. Mit einem Anflug von Galgenhumor meinte ich, dass ich dann ja prima hier reinpassen würde, und verließ völlig paralysiert das Büro. Nachdem sich Mom für ein dunkelbraunes Kleid mit ziemlich raffinierten Ärmeln entschieden und akzeptiert hatte, dass an ihrer Frisur nichts zu machen war, hatte sie sich auf den Weg zu Emilys und Richards Anwesen gemacht. Anscheinend hatte Emily wieder ein Dienstmädchen entlassen, denn eine Unbekannte öffnete Mom die Tür und sah sie fragend an. Mom begann gerade damit, sich als Lorelai Gilmore und somit Tochter des Hauses vorzustellen, als Emily angerauscht kam und Mom am Arm packte. »Komm bloß schnell rein!«, rief sie aus und zerrte an Mom so stark herum, dass dieser ein Schmerzensschrei entfuhr. Dann herrschte sie Jersey, so hieß das neue Dienstmädchen, an, die Tür zu schließen und endlich Nüsse zu bringen. »Ich bin jetzt mit dieser Frau seit über zwei Stunden ganz allein!«, beschwerte sie sich. Hektische rote Flecken brannten auf ihren Wangen. »Dein Vater und du, ihr seid spät dran. Gehen wir ins Wohnzimmer!« »Ach, dann sind wir ja noch vor den Nüssen da«, versuchte Mom einen kleinen Witz zu machen, doch Emily funkelte sie mit einem Blick an, der nichts Gutes verhieß. »Leg dich nicht mit mir an«, warnte sie, während sie Mom mit eiserner Hand in den Salon führte. Dort angekommen setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf. »Hier ist Lorelai, Mom. Die Party wird immer größer!«
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»Hi, Gran. Wie geht's dir?«, sagte Mom und beugte sich zu Trix herab, um ihr zwei Küsse auf die Wangen zu hauchen. »Du siehst ja toll aus.« Das stimmte. Dafür, dass Trix die achtzig mittlerweile weit überschritten hatte, sah sie blendend aus. Schlank, gepflegt, perfekt frisiert — und unglaublich streng. Sie trug ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen, aus dem zu allem Überfluss auch noch weiße, gestärkte Spitze ragte. Trix ihrerseits taxierte Mom mit den Augen des Kenners: Schuhe, Strümpfe, Kleid, Make-up - nichts blieb ihrem Blick verborgen. Als sie an Moms Haaren angelangt war, machte sie ein angewidertes Gesicht. »Emily, was ist denn mit ihren Haaren los?« Vorwurfsvoll sah sie ihre Schwiegertochter an. »Ich kenne meine Enkeltochter! Hätte sie frühzeitig von meiner Ankunft erfahren, dann hätte sie sicher etwas dagegen gemacht.« »Ich hab es ihr früh genug gesagt, Mom«, verteidigte sich Grandma, und Lorelai pflichtete ihr rasch bei. Es tat ihr Leid, dass Emily nun das abbekam, was eigentlich Sookies Schuld war. »Ich finde es äußerst bewundernswert, wie du deine Mutter verteidigst. Loyalität innerhalb einer Familie kann wirklich nicht hoch genug bewertet werden!« Dann lächelte Trix Mom nachsichtig an. »Setz dich, Kind. Du siehst gut aus, nur deine Haare nicht. Geht es dir gut? Emily, vielleicht möchte das Kind auch etwas trinken.« »Ja, mir geht's hervorragend«, antwortete das vierund dreißigjährige Kind. »Gut. Und wie geht's Rory?« »Sie ist genauso gesund wie ich«, antwortete Mom, und Emily, die an die Bar getreten war, um dem Kind einen
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Drink zu mixen, ergänzte spitz, dass meine Haare perfekt säßen. Es war eigentlich klar, welche Frage als Nächstes kommen würde. Die Frage, wie es mir in Yale gefiele, war noch nicht gestellt worden, und die Chancen standen hundert zu null, dass sie jetzt an der Reihe war. »Und wie gefällt es ihr in Yale?«, fragte Trix. »Ganz ausgezeichnet«, antwortete Mom. »Sie lernt wie verrückt.« »Oh, sehr erfreulich zu hören, dass sie so gut zurechtkommt. Sie ist eine Gilmore, und alle Gilmores haben sich in Yale hervorgetan. Das Kind tritt wirklich ein schweres Erbe an.« Sie wusste ja gar nicht, wie Recht sie hatte ... »Mom, da sind ja die Nüsse!«, schrie Emily plötzlich auf, als das Dienstmädchen mit den Nüssen eintrat. Zugegeben, ihre Stimme war etwas laut — aber das hätte man auch ignorieren können ... Für Trix allerdings war es ein gefundenes Fressen, um ihre Schwiegertochter weiter zu demütigen. »Ich danke dir herzlich für diese Information, Emily. Es ist doch einfach wunderbar, dass du nicht mal ein Mikrophon brauchst, um sicherzustellen, dass auch wirklich die ganze Nachbarschaft von der Ankunft der Nüsse erfährt.« Sie rollte die Augen zur Decke und machte mit ihrem Zeigefinger Drehbewegungen an ihrem Kopf. »Eine seltsame Frau. So aufgeregt wegen der Nüsse.« Zum Glück trat jetzt Gran dpa Richard ein, gefolgt von Jason, und Mom hoffte inständig, dass die Situation entschärft werden würde. »Ich rieche Jasmin!«, flötete Grandpa und küsste Trix von hinten auf die Wange. - 109 -
»Was du riechst, ist meine kaum bezähmbare Ungeduld!«, lächelte Trix. »Wo warst du bloß?« »Du weißt doch ganz genau, wo ich war. Ich hatte noch viel Arbeit zu erledigen, damit ich jetzt ganz für dich da sein kann. Du siehst wunderbar aus. Florida bekommt dir gut.« Trix winkte ab. »Florida ist etwas für diese muskelbepackten Männer, die sich kleiden wie Frauen. Ich bin viel glücklicher hier, wo ich hingehöre. Möchtest du eine Nuss? Die sind offenbar lebenswichtig für deine Frau.« »Ich dachte, du isst gern Nüsse, Mom.« Emily rang um Fassung. Sie war schon lange nicht mehr so bekämpft worden. Genau genommen, seit Trix' letztem Besuch. Jetzt rang sie mit den Tränen, und auch wenn Grandma Emily zu meiner Mom oftmals ein wahres Miststück war — jetzt tat sie Mom wirklich Leid, und sie sah Trix zunehmend verstimmt an. »Ich möchte nichts, Trix. Und nun würde ich dir gern jemanden vorstellen!«, lehnte Richard dankend ab, dann erst entdeckte er Mom. »Lorelai?«, fragte er. »Bist du schon die ganze Zeit hier? Ich hab dich gar nicht gesehen.« »Meine Tarnkappe war aktiviert, deswegen ...« »Ah.« Grandpa nickte verständnisvoll, dann deutete er auf Jason. »Trix, das ist mein Partner, Jason Stiles. Jason, das ist meine Mutter.« »Sie sind aber jung!«, konstatierte Trix abschätzig und musterte Jason von Kopf bis Fuß. »Oh nein, so jung nun auch wieder nicht ...« Jason sagte das im Tonfall eines lockeren, unverbindlichen Smalltalks, aber er kam nicht weit. Smalltalk auf diesem Niveau war meiner Urgroßmutter Sache nicht. Schroff - 110 -
fuhr sie ihn an, dass sie durchaus in der Lage sei zu erkennen, ob jemand jung war oder nicht. »Herrgott, Jason, seien Sie einfach jung«, stöhnte Emily — doch Trix hörte die Spitze nicht, sie war schon mit etwas Neuem beschäftigt. »Richard Gilmore!«, rief sie aus und sah ihren Sohn prüfend an. »Du lässt dir einen Schnurrbart stehen.« »Ganz recht!«, rief Emily griesgrämig dazwischen. »Und den Ferrari liefern sie am Dienstag.« Trix tat so, als hörte sie das nicht, sondern machte stattdessen Richard Komplimente. »Das sieht gut aus. Du siehst aus wie Adolphe Menjou.« »Eher wie Adolphe Menjous Kokaindealer«, ließ sich Emily erneut vernehmen, und Mom tätschelte ihr beruhigend den Unterarm — was sonst sehr, sehr selten vorkam. Da lenkte plötzlich Jason alle Aufmerksamkeit auf sich, indem er hinter seinem Rücken einen Geschenkkarton hervorzauberte und ihn Trix unter die Nase hielt. »Was ist das?«, fuhr sie ihn an und betrachtete das Päckchen, als enthielte es vermutlich Ungeziefer. Jason war irritiert. Mit so viel Unfreundlichkeit hatte er nicht gerechnet. »Ah, nun ja, das ist eine kleine Aufmerksamkeit für Sie.« »Für mich?« Pikiert schüttelte Trix den Kopf. »Warum sollten Sie mir etwas schenken? Ich habe nicht Geburtstag, es ist nicht Weihnachten. Sie kennen mich nicht mal.« Dann stockte sie und sah Jason, der sich sichtlich unwohl fühlte, argwöhnisch an. »Was soll das für ein Geschenk sein, das Sie einer alten Frau machen, der Sie nie begegnet sind?« »Es ist ein Buch.« - 111 -
»Was für ein Buch?« Trix weigerte sich regelrecht, das Päckchen anzufassen, geschweige denn, es auszupacken. »Da geht es um französische Antiquitäten. Ich hörte, dass Sie sich dafür sehr interessieren.« »Ja, da haben Sie richtig gehört.« Jason merkte, dass hier alle Mühe vergebens war und dass er mit seinem Charme bei einem Eisblock mehr hätte ausrichten können als bei diesem Superdrachen von einer Frau. Gegen sie war Emily ein Bambi! »Sie können es sich auch später ansehen«, meinte er deshalb rasch, legte das Päckchen auf den Tisch und setzte sich möglichst geräuschlos zu den anderen auf die Couch. In diesem Moment klingelte Moms Telefon, aber Trix verbot ihr, ranzugehen — was für mich sehr, sehr schade war. Ich hätte mir in diesem Moment nichts mehr gewünscht, als endlich meine Mom an den Apparat zu bekommen! Als Mom das Telefon folgsam weglegte, lächelte Trix liebenswürdig in die Runde. »Also, ich schlage vor, wir raten jetzt alle, wie lange es dauert, bis das Essen serviert wird. Ich würde sagen, eine Stunde. Richard?« »Du bist gemein, Trix!«, antwortete Richard — aber es klang nicht richtig böse. Grandpa nahm seiner Mutter so schnell nichts übel. Unter dem Vorwand, sich kurz frisch machen zu wollen, ging Mom nach draußen und hörte die Mailbox ab. Ohne Erfolg. Ich hatte ja nicht draufgesprochen, sondern mir meine Jacke und die Autoschlüssel geschnappt und mich kurz entschlossen auf den Weg gemacht. »Irgendwas Wichtiges?«, fragte Jason, der Mom möglichst unauffällig gefolgt war. - 112 -
»Nein, da hat einer aufgelegt«, erwiderte Mom, dann grinste sie Jason an. »Du versteckst dich vor meiner Großmutter, oder?« Jason nickte. »Sie ist gruseliger als 'n Fahndungsfoto von Nick Nolte.« Mom lächelte. Er hatte zwar Recht, aber wie hieß das doch gleich in dem Märchen der Gebrüder Grimm? Das mit der bösen Hexe? Wer A sagt, muss auch B sagen. Sie hakte sich bei Jason unter und zog ihn mit sich nach drinnen. Aber Jason sträubte sich. »Nein, sie wird doch nur wieder fragen, wieso ich ihr was schenken wollte!« Als die beiden kurz darauf im Salon auftauchten, konnten sie sich Richard, Emily und Trix anschließen, die in Richtung Esszimmer unterwegs waren. »Wir haben beschlossen, dass wir uns jetzt an den Tisch setzen werden. Vielleicht kommt das Essen ja doch noch, wenn wir es uns nur stark genug wünschen.« »Ich geh in die Küche und seh nach, Mom«, antwortete Emily schnell, in der Hoffnung, Trix' Gegenwart wenigstens für ein paar Sekunden entfliehen zu können. Aber Trix blieb hart. »Oh, bitte nicht!«, meinte sie. »Du darfst jetzt auf keinen Fall deine Köchin stören. Sie ist vermutlich mit einem Kreuzworträtsel beschäftigt. Sag mal, Lorelai, wo warst du denn gerade?« »Entschuldige, Gran. Ich wollte meine Mailbox abhören. Die Bauarbeiten im Hotel sind in vollem Gange.« Mom wollte nichts Verfängliches sagen, und es war ihr nicht im Geringsten bewusst, dass sie mit dieser Äußerung eine regelrechte Lawine ins Rollen gebracht hatte. Doch das änderte sich umgehend.
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»Ja, dein Hotel«, begann Trix und fragte Emily und Richard, ob sie sich das Hotel schon angesehen hätten. Als die beiden verneinten und Mom erklärte, dass dort noch das Chaos herrsche, die Eröffnung aber nicht mehr lange auf sich warten ließe, wollte Trix wissen, wann es denn so weit sei. »Bald«, antwortete Mom ausweichend. Sie wollte nicht über das Hotel reden. Nicht, nachdem sie zum einen Tom nicht hatte bezahlen können und zum anderen Ärger mit Sookie hatte. An allen Tagen, aber nicht heute! Doch Trix ließ das natürlich nicht gelten. »Ach so, du misst die Zeit genau wie deine Mutter!« Sie lachte kurz und trocken auf, beugte sich dann vor und stierte Mom in die Augen. »Dann lass mal hören, Lorelai. Was für Summen hast du in dieses Hotel investiert?« »Oh, riesige Summen.« Mom versuchte ein Lachen. »Und ich nehme an, du hast einen Zeitplan, aus dem hervorgeht, wann du diese riesigen Summen wieder drin hast.« »Wenn es läuft wie geplant, können wir im ersten Jahr die Ertragsschwelle erreichen und im zweiten die Gewinne einfahren.« »Das ist sehr optimistisch, nicht wahr?« »Ja, aber die Touristen kommen in Scharen in diese Gegend. Wir haben auch schon unsere erste Reservierung.« »Für wann habt ihr die Reservierung?«, meldete sich nun zu allem Überfluss Emily zu Wort — und Mom verwünschte zum hunderttausendsten Mal das Timing ihrer Mutter. »Für den 8. Mai«, antwortete sie.
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»Seid ihr denn bis dahin fertig?«, wollte Richard erstaunt wissen, und Mom begann unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. »Das werden wir wohl müssen. Wir haben zusätzliche Arbeiter angestellt, und wir müssen unsere Spüle noch aus Kanada zurückholen, aber wir werden's schaffen.« Sie lachte übertrieben zuversichtlich auf. Trix hatte Lunte gerochen. Jetzt wollte sie ans Eingemachte. »Und werdet ihr mit dem Geld zurechtkommen?« Als Mom tat, als würde sie nicht verstehen, wurde sie deutlicher. »Die Finanzen. Ich weiß in etwa, wie sie aussahen, bevor du mit dem Umbau des Hotels angefangen hast. Wie viel Geld hast du noch?« »'ne Menge. Genug, um fertig zu werden.« »Du hast Probleme!«, stellte Trix fest. »Nein.« »Das Geld rinnt wie Sand durch deine Finger. Ich seh's doch in deinen Augen. Es muss ein Vermögen kosten, den Bauunternehmer dazu zu kriegen, den Termin der Fertigstellung einzuhalten. Zurzeit verdienst du kein Geld. Wenn dein Partner nicht ein Rockefeller ist, dann hast du ernsthafte finanzielle Probleme.« »Mom, dies ist kein guter Zeitpunkt, über solche Dinge zu reden.« Dies war einer der wenigen Momente, wo Emily sich schützend vor ihre Tochter stellte — aber auch sie kam gegen Trix nicht an. »Nun, wäre das Essen da, hätten wir etwas anderes zu tun. Da dem aber nicht so ist ...«Trix machte eine kurze Pause und sah dann ihren Sohn erbost an. »Richard, wie konntest du nur so etwas zulassen?«, wollte sie wissen. »Sie ist deine Tochter! Es liegt in deiner Verantwortung, wenn sie ernsthafte finanzielle Probleme hat.«
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»Ich hab keine ernsthaften finanziellen Probleme!«, verteidigte sich Mom schwach — und Richard warf ein, dass Lorelai schließlich eine erwachsene Frau sei. Trix machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, lächerlich. Das hier ist eine Familie. Und die Familie trägt die Verantwortung dafür, dass so etwas nicht passiert. Wir haben einen Ruf zu bewahren. Wie würde es aussehen, wenn eine Gilmore in der Geschäftswelt jämmerlich versagen würde?« »Ich glaube nicht, dass sie versagt, Mom.« Emily stellte sich ein zweites Mal schützend vor ihre Tochter! So etwas hatte es noch nie gegeben. »Tja, in meinen Augen sieht es aber schwer danach aus. Und ich muss sagen«, Trix deutete auf Richard, »du überraschst mich. Immerhin habe ich dir damals geholfen, als du diese Probleme hattest. Du musstest ja unbedingt in diese fürchterliche Dubliners Paper Corporation investieren, als ihr frisch verheiratet wart. Ich hatte dir abgeraten — aber du wolltest nicht hören. Und natürlich hab ich dann eingegriffen und dich gerettet. Dieses Haus hättest du verloren, wenn ich nicht gewesen wäre.« »Das ist doch nicht wahr!«, schrie Richard erbost. Er konnte diese Geschichte nicht mehr hören. »Stimmt es denn nicht, dass du aus purem Eigensinn eine Menge Geld verloren hast?« »Ich war siebenundzwanzig Jahre alt. In dem Alter kann man ja wohl mal ein Risiko eingehen! Du tust so, als war ich ein unfähiges Kind!« Grandpa war hochrot angelaufen und wurde mit jedem Satz lauter, während sich auf Grandmas Gesicht langsam, aber sicher ein zufriedenes Lächeln legte. Endlich war auch ihr Gatte auf ihrer Seite! »Ich war am Aufbau zweier sehr - 116 -
erfolgreicher Firmen beteiligt, Mutter, und in beiden Fällen ohne deine Hilfe. Und ich schätze es gar nicht, dass du mir jetzt noch vorhältst, dass du mir ein einziges Mal finanziell unter die Arme gegriffen hast.« Trix hatte schmerzverzerrt das Gesicht verzogen und hielt sich theatralisch die Hände an die Ohren. »Red nicht in diesem Ton mit mir!« Aber Richard ließ sich nicht beeindrucken. »Ich rede so mit dir, wie es die Situation erfordert!« Er schrie, wenn das überhaupt möglich war, noch lauter. Seine Mutter hatte es tatsächlich geschafft, ihn bis aufs Blut zu reizen — und als ausgerechnet in diesem Moment das Mädchen mit der Vorspeise hereinkam, nutzte Grandma die Gunst der Stunde, süße Rache zu nehmen, und schickte sie wieder weg. »Oh, nein, jetzt nicht!«, meinte sie schon deutlich besser gelaunt und feuerte anschließend Richard an. »Nach zwei Monaten waren deine Schulden damals beglichen!« »Ganz recht!«, schrie Grandpa daraufhin. »Zwei Monate! Wie schlimm muss mein finanzieller Ruin gewesen sein, wenn ich schon nach zwei Monaten meine Schulden begleichen konnte?« »Ich werde jetzt aufstehen«, antwortete Trix und erhob sich. »Ich helfe dir sehr gern dabei!« Nach diesem doch recht unerwarteten Ausgang des Dejeuners blieb Mom erst einmal eine Weile kreidebleich am Tisch sitzen. Wenig später allerdings verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg nach Hause. Das, was sie jetzt dringend brauchte, war Ruhe und Frieden! Nachdem ich Mom am Abend zu Hause nicht antraf, hoffte ich inständig, sie im Dragonfly zu finden. Dort - 117 -
angekommen, fragte ich Tom, ob meine Mom da sei aber er war sich nicht ganz sicher. »Vielleicht ist sie drinnen. Es kommt schon mal vor, dass sie sich heimlich reinschleicht. Und dann überrascht sie meine Jungs zum Beispiel mit einer Nagelkanone.« Ich nickte tapfer und stolperte ins Innere des Hauses. Während ich verzweifelt nach meiner Mom rief, lief ich Dean in die Arme, der sich anscheinend richtig freute, mich zu sehen. »Rory. Hey.« Ich begrüßte ihn gar nicht erst, sondern fragte ihn bloß, ob er meine Mom gesehen hatte. Ich muss dabei ziemlich verzweifelt ausgesehen haben, denn er beugte sich vor, sah mich prüfend an und fragte mich, ob alles okay sei. »Ja. Alles bestens«, antwortete ich tapfer mit meinem aschfahlen Gesicht und den verdächtig schwimmenden Augen. »Ich, ich kann sie nur nicht finden.« »Rory, was ist los?« Dean trat einen Schritt auf mich zu. »Gar nichts. Nichts ist los. Alles bestens. Mir geht's gut«, stammelte ich. Dann fuchtelte ich wie irre mit meinem Handy in der Gegend rum, mit dem ich die ganze Zeit versuchte, meine Mom zu erreichen. »Ich hab nur ein paar technische Schwierigkeiten. Kapiert? Technische Schwierigkeiten. Sehr witzig, oder? Genau, ich bin ein Witzbold! Und ich werde immer witziger. Yale hat diese Wirkung. Dort wird Humor sehr gefördert. Wo gehen wir hin?« »Nach draußen!« Dean hatte mich am Arm genommen und mich auf die Veranda geführt. Er bugsierte mich auf einen Treppenabsatz und setzte sich neben mich. »Was ist los?«
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»Gar nichts«, antwortete ich — und schon fing ich an zu heulen. Ich weiß nicht, was es war, aber Deans Gegenwart tat mir plötzlich sehr gut. Ich fühlte mich aufgehoben und ließ meiner Verzweiflung freien Lauf. »Alles um mich rum geht in die Brüche!«, schniefte ich. »Ich dachte, ich hätte es unter Kontrolle, aber das stimmt nicht! Alle kommen mit ihren Kursen zurecht, aber ich nicht. Dabei müsste ich es schaffen! Ich müsste in fünf Kurse gehen. Und viele ... Ach was, alle tun das. Und mein Großvater hat's auch getan. Gott, wie erkläre ich mein Versagen bloß meinem Großvater?« »Du hast versagt?«, fragte Dean ungläubig und legte vorsichtig den Arm um mich. »Nein, ich hatte nicht mal die Gelegenheit, zu versagen!« Ich schniefte und wischte mir ein paar Tränen von den Wangen. »Ich musste heute einen Kurs abwählen. Der Prof hat's mir unmissverständlich nahe gelegt.« Dean sah mich ganz mitfühlend an und streichelte meinen Rücken. »Das ist kein Weltuntergang!«, versuchte er mich zu trösten, aber ich war völlig verzweifelt. »Doch, es ist ein Weltuntergang! Ich darf kein Seminar abgeben. Ich bin einfach kein Mensch, der so was tut. Ich, ich kriege gute Noten. Ich ... ich schaff doch alles. Und Lane ...«, ich schniefte erneut, »sie ist seit kurzem weg, und ich ... so ging's nicht weiter, aber ich vermisse sie! Es war so schön, dass sie da war, und ... ich erreiche meine Mom nicht, und ich würde so gern mit ihr reden, und sie ist einfach nicht da! Und ich hab versagt! Ich versage in allem, was ich tue. Ich kann's nicht, ich krieg's nicht hin. Ich bau nur Mist, auf der ganzen Linie!« Abrupt machte ich mich von ihm los und sah ihm in die - 119 -
Augen. »Oh Gott, jetzt sieh dir das an. Du musst nett zu mir sein und mich trösten. Ich meine, das kann doch niemand von dir verlangen! Ich war so gemein zu dir, und jetzt, jetzt bist du mit 'ner netten Frau verheiratet, die nicht so ist wie ich, und keine Versagerin ...« Dean nahm mich erneut in die Arme. »Nein, du bist doch keine Versagerin.« »Doch, das bin ich. Ich kann nicht, ich schaff das nicht. Ich will jetzt mit meiner — mit meiner Mom reden. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich ...« Er wiegte mich sanft hin und her, wie man es mit einem Kind tut. »Ist ja gut«, sagte er leise und ganz sanft. »Ist ja gut.« Ich weiß nicht, wie lange wir so auf der Treppe saßen. Ziemlich lange. Und danach ging es mir auf jeden Fall besser — und ich fragte mich, ob es damals wirklich so eine tolle Idee gewesen war, Dean den Laufpass zu geben ... Während ich also Trost bei Dean fand, hatte sich Mom auf den Weg gemacht zu ihrer Verabredung mit Luke. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich zusammenzureißen, hatte sich noch ihr hübsches, rosa Kostüm angezogen — aber dann hatte sie gemerkt, dass sie die Verabredung nicht einhalten konnte. Ohne dass wir voneinander wussten, befanden also Mom und ich uns in exakt der gleichen Gemütslage: Wir waren beide verzweifelt. »Luke!« Mom lachte verlegen auf und winkte ihm zu. Luke sah ganz verändert aus. Er hatte zur Feier des Tages sogar seine Baseballkappe abgenommen. Und das passierte ungefähr einmal im Jahr. »Hey«, meinte er, »ich wollte gerade losfahren.«
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»Ich weiß, ahm, ich ...« Mom knetete unbeholfen ihre Hände und blickte ihn mit ihren geröteten Augen Hilfe suchend an. »Können wir, ahm ... also, tut mir Leid, ich kann heute nicht mit dir essen gehen.« Wieder lachte sie unsicher auf und erklärte, dass sie einfach viel zu kaputt sei und dass es ihr schrecklich Leid täte, dass Luke sich nun umsonst fein gemacht hatte. Luke waren ihre geröteten Augen und ihr seltsames Verhalten nicht entgangen. Er sah Mom genau an. »Schon okay. Ich bin froh, dass ich das noch mal gemacht hab. Jetzt weiß ich wieder umso mehr zu schätzen, dass ich nicht jeden Tag so rumlaufen muss.« Er machte eine kurze Pause und sah dann Mom genau ins Gesicht. »Ist alles in Ordnung? Geht's dir gut?« »Wieso?«, wollte Mom wissen und musste schniefen. »Weil du gar nicht gut aussiehst.« »Mann, Klasse. So was hört eine Frau doch gern«, versuchte Mom einen Witz, aber so recht wollte ihr das heute nicht gelingen. Luke ging gar nicht darauf ein, sondern teilte ihr mit, dass sie ganz verstört aussehen würde, und wollte wissen, was eigentlich passiert sei. »Ich, verstört?«, fragte Mom nach. »Nein. Vielleicht. Möglicherweise, ja. Verstört, na klar. Sicher. Ich bin ziemlich verstört, ja.« Sie blickte Luke an, Tränen rollten ihr über die Wangen, und als Luke ihr seine Hilfe anbot, zögerte sie nicht länger. »Weißt du, es gibt nur sehr wenige Augenblicke in meinem Leben, in denen ich mich dabei erwische, dass ich denke: Ach, wäre ich doch bloß verheiratet. Aber heute ...« Sie zückte ein Taschentuch und wischte sich die Tränen ab. »Ich meine, ich ... ich bin zufrieden, ehrlich. Ich finde mein Leben toll und meine Freunde und auch den ganzen Kram, ahm, diese Zeit, meine Bude und auch meinen Fernseher.« Sie nickte, als - 121 -
wolle sie sich selbst bestätigen, dass sie eigentlich nicht so schlecht dran war. »Aber ab und zu«, meinte sie, »und dann auch nur für einen kurzen Moment, da wünsche ich mir einen Partner. Jemanden, der auch mal die Zügel in die Hand nimmt und auf den Fernsehmenschen wartet, der mir morgens Kaffee macht und die blöde Spüle abholt, bevor sie zurückgeschickt wird, nach Kanada.« »Was ist passiert?«, wollte Luke wissen und zog Mom auf eine Bank, die in der Nähe stand. »Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle, aber das ist nicht wahr. Und im Hotel ...«, wieder musste Mom kurz unterbrechen, um sich die Nase zu schnauzen, »geht's drunter und drüber. Das war immer mein Traum, mein Leben lang, und ich hab ihn verwirklicht, doch jetzt hab ich ... versagt, und ich krieg nichts geregelt! Ich verbring jeden Tag damit, durch die Gegend zu hetzen, zu schuften, alles zu organisieren, und ich dachte, ich hab Hilfe! Doch Sookie hat Davey, Michel hat Celine. Und ich, ich kann doch nicht alles allein machen! Und ich hab nicht mal mehr Zeit, meine Tochter zu sehen. Was heißt hier sehen? Ich schaff's nicht mal, sie anzurufen. Sie fehlt mir so, und ...«, wieder stoppte ein Schluchzen die Unterhaltung, »... dann sitz ich heute bei meinen Eltern zu Hause und muss mir anhören, wie meine Großmutter mich praktisch einen Sozialfall nennt, und, und weißt du, ich konnte ihr noch nicht mal widersprechen!« Moms ganzer Körper wurde von Tränen regelrecht durchgeschüttelt, und Luke nahm sie tröstend in die Arme. »Ich konnte nichts sagen! Weil das stimmt. Mir geht das Geld allmählich aus. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich wollte dich, ich wollte dich heute bei diesem Essen um dreißigtausend Dollar bitten. So weit ist es mit mir gekommen.« - 122 -
»Dreißigtausend. Wow« Luke atmete tief durch. »Gut, in Ordnung. Ich meine, wenn du ...« »Wir müssen jetzt nicht darüber reden. Ich will auch nicht mehr darüber nachdenken. Ich ... ich schaff das nicht!« Sie vergrub ihren Kopf tief in Lukes Schulter und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz. »Ich ... ich bin eine Versagerin!« »Nein, du bist keine Versagerin.« Luke küsste Mom sanft auf ihr Haar, streichelte ihren Rücken und wiegte sie hin und her wie ein Kind. »Was soll ich jetzt nur tun?«, jammerte sie vor sich hin. »Was soll ich jetzt nur tun? Was soll ich nur tun?«
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7
Nach meinem schrecklichen Zusammenbruch in Deans Armen ging es mir zwar erst besser, wie nach einem reinigenden Gewitter — dann allerdings zog ich mir eine fiese Erkältung zu, und vorbei war der ganze WohlfühlEffekt. Mir war ganz jämmerlich zumute, und ich hütete brav mein Bett in Yale. Das allerdings konsequent, was zur Folge hatte, dass ich schon bald wieder annähernd gesund war. Im Gegensatz zu Paris. Allerdings war ich mir sicher, dass sie gar nicht mitbekam, wie irre sie war. Jedenfalls, was ich eigentlich berichten wollte, war, dass ich mir etwas zu trinken holen wollte und Paris auf mich zugeschossen kam. »Was tust du da?« »Ich hol was zu trinken«, antwortete ich irritiert und fragte mich, ob sie gleich ein Notizbuch zücken würde, um Datum und Uhrzeit meiner Tätigkeit zu notieren. Aber ich täuschte mich. Paris hatte gar keinen Kontrollzwang, sie hatte offensichtlich eine Keimphobie entwickelt. »Als du aus dem Zimmer kamst, hast du da den Türknauf berührt?« »Oder hab ich mich dematerialisiert, durch die Wand gebeamt und hier wieder materialisiert?« Ich blickte zur Decke. »Nein, ich hab den Türknauf berührt.« »Herrgott noch mal!«, fuhr sie auf. »Ich hab dich gebeten, nichts anzufassen!« Sie stürmte aus der Küche und kam kurz darauf mit einer Spraydose zurück, mit der sie den
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Türknauf und den darumliegenden Quadratmeter großzügig bearbeitete. »Ich bin jetzt nicht mehr ansteckend. Paris, hör auf!« Ich bekam eine Ahnung davon, wie sich die Aussätzigen früher gefühlt haben mussten. »Ich will nicht krank werden!« Paris war in Panik und sprühte immer weiter und immer größere Kreise. Als ich ihr sagte, dass es ihr Deodorant sei, was sie da an die Tür sprühte, hielt sie für einen Augenblick inne. »Was hab ich mir dann unter die Arme gesprüht?« Ich war sehr froh, die Unterhaltung beenden zu können, denn mein Telefon klingelte wie gerufen. Zwar hatte ich die leise Hoffnung, dass es Mom war, die mich da anrief - als aber Lane dran war, freute ich mich auch. Sie fehlte mir schrecklich. »Rate mal, wo ich grad stehe?«, forderte sie mich aufgeregt auf. Sie klang so glücklich wie schon lange nicht mehr. »Ich bin gerade im Wohnzimmer meiner ersten eigenen Wohnung.« »Ist nicht dein Ernst!« Ich war beeindruckt, das muss ich sagen. »Ich warte auf den Gasmann! Ist das nicht toll? Ich hab Gas!« Als ihr bewusst wurde, dass die wenigsten Menschen sich so sehr über einen Gasmann freuen, erklärte sie: »Achte nicht auf das, was ich sage, sondern nur auf den Enthusiasmus!« »Und wie finanzierst du das?« Soweit ich wusste, hatte Lane nur das kleine Gehalt von Luke. »Außer mir ziehen noch Zack und Brian ein.« »Du wohnst mit den Jungs zusammen?« Ich musste mich anhören wie eine Gouvernante, denn Lane fühlte sich daraufhin bemüßigt, mir rasch zu erklären, dass sie ihr eigenes Zimmer hätte und die Jungs im Wohnzimmer - 125 -
schliefen. »Das ist ja echt cool«, meinte ich und war, wenn das möglich war, noch beeindruckter. Davon, dass Lane sich ganz offensichtlich befreit hatte und nun endlich das tat, was sie wollte. Allerdings: Dass ein Zusammenleben mit Zack und Brian so ganz reibungslos funktionieren würde — davon konnte man nicht ausgehen. Ich fragte sie, wann sie ihren Kram in die Wohnung schaffen wolle, und sie erklärte, dass der Einzug schon am nächsten Tag über die Bühne gehen sollte. »Das heißt, wenn meine Mom noch nicht alles verscheuert hat!« Sie lachte kurz auf und meinte dann, dass ich mich irgendwie verschnupft anhörte. »Ich war richtig krank«, erklärte ich. »Aber im Augenblick reizt eigentlich eher der Duft eines Deos meine Schleimhäute.« Doch Lane war zu euphorisch, als dass sie mehr dazu wissen wollte. Eine Karte von einem China-Imbiss, die durch den Briefschlitz in der Tür eingeworfen wurde, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. »Oh, mein Gott! Meine erste Post ist da.« »Rahm sie ein oder so!«, schlug ich ihr vor. »Alles klar. Ich muss auflegen. Wir hören uns.« »Bis dann«, meinte ich, und als ich mich umwandte, sah ich Paris mit einem Feuerzeug am Türknauf zündeln. »Das ist gar nicht gefährlich«, ließ ich mich kopfschüttelnd vernehmen, doch Paris war das egal. »Feuer tötet Keime ab!«, erklärte sie hysterisch. »Und ich schlaf heut Nacht bei den anderen.« »Hier geht's ja zu wie auf Lesbos!« Es war wohl eine gute Idee, erst mal frische Luft zu schnappen, und so verließ ich die Wohnung.
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In Yale war also der ganz normale Wahnsinn ausgebrochen — während in Stars Hollow die Welt wieder in geordneteren Bahnen verlief. Zumindest Moms Welt. Denn auch ihr hatte es einmal gut getan, sich den Kummer von der Seele zu reden. Jedenfalls war es ihr, seit sie sich an Lukes Schulter ausgeweint hatte, deutlich leichter ums Herz. Und das sah man ihr auch an. Vorbei die Bad-hair-days! Sie hatte sich endlich wieder einmal Zeit für sich selbst genommen und für ihre Haare, und als sie bei Luke vorbeiguckte, erstrahlte bei ihrem Eintreten förmlich das ganze Cafe. Sie sah toll aus, die Haare hatte sie offensichtlich vorher eingedreht gehabt, sodass sie nun in dicken Locken über ihre Schultern fielen. Außerdem trug sie wieder eine dieser knackigen Jeans, über die sich die männlichen Einwohner von Stars Hollow immer ganz besonders freuten. Auch Luke freute sich ganz offensichtlich über ihren Anblick und lächelte sie so bewundernd an, wie es bei einem Muffel wie ihm ziemlich selten vorkam. »Hey!«, rief er und kam mit zwei Tellern in der Hand auf sie zu. »Alles okay?« »Ach, du spielst auf meinen Zusammenbruch im Park an«, antwortete Mom, der die ganze Sache doch etwas unangenehm war, aber Luke war ganz Gentleman und beruhigte sie rasch, dass man das nun wirklich nicht als Zusammenbruch bezeichnen könne. »Natürlich, und wie!«, widersprach ihm Mom. »Die verfilmen das demnächst: Zusammenbruch im Park<. Keine Angst, das ist nur der Arbeitstitel. Baz Luhrman führt Regie, und der Film-Luke trägt Strumpfhosen und singt.« »Aber es geht dir gut?« Luke hatte sich wirklich Sorgen gemacht — und die Tatsache, dass Mom ihm ihre - 127 -
schwache Seite gezeigt hatte, berührte ihn doch mehr, als er sich anmerken ließ. »Dank meinem Ritter in strahlender Rüstung.« Moms Augen blitzten schon wieder wie früher. »Ich hoffe nur, Alec Baldwin erfasst dein wahres Wesen.« »Und er muss für die Rolle 'n paar Kilo loswerden.« Luke nickte Mom zu und erklärte, dass er sich wieder um die Gäste kümmern müsse, woraufhin Mom den Platz an der Bar ansteuerte. »Kann ich meinen Laptop hier anwerfen?« »Ah, gibt der Laute von sich?« Luke hielt nicht besonders viel von modernen Kommunikationsmitteln und Arbeitsgeräten. Mom schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich tu das manchmal.« »Du kannst nicht anders.« Luke grinste sie noch mal an, dann machte er sich daran, seine hungrigen Gäste zu bewirten. Das Cafe war wie üblich ziemlich voll, fast jeder Tisch war besetzt, und an einem hatte auch Kirk Platz genommen. Er hatte sich einer neuen Aufgabe angenommen: Er war jetzt Hundesitter, und diese verantwortungsvolle Tätigkeit schien ihm große Freude zu bereiten. Als Luke alle Bestellungen aufgenommen hatte und in die Küche wollte, stolperte er fast über das Kabel, das Mom brauchte, um ihre Mails abrufen zu können. »Was ist das?« »Ein Telefonkabel.« Mom sah kaum auf und tat sehr beschäftigt. »So geht das aber nicht.« In solchen Angelegenheiten war Luke sehr streng, und dann konnte es auch manchmal passieren, dass er mit meiner Mom aneinander rasselte, die bekanntlich etwas chaotisch sein konnte. Nur - 128 -
manchmal deshalb, weil Luke meiner Mom eigentlich nicht viel krumm nehmen konnte — und weil sich Mom ihrerseits auch redlich bemühte, Lukes Regelwerk so gut es ging zu beachten. Und wenn sie es unterwanderte, dann tat sie es außerordentlich charmant. »Keine Panik«, erklärte sie ihm nun. »Das ist nicht der Telefonanschluss, sondern die Faxleitung, die du vor 'nem Jahr hast legen lassen und nie benutzt.« »Du meinst, die Faxleitung, zu der du mich überredet hast, für die gefaxten Bestellungen?« Luke machte eine kurze Pause, und als Mom nichts erwiderte, erklärte er ihr, dass niemals jemand auf die Idee gekommen sei, per Fax zu bestellen. Dass er auch nie ein Faxgerät besorgt hatte und dass er ihr von Anfang an gesagt hatte, dass er nie ein Faxgerät kaufen würde. Und, dass damit die ganze Faxleitung überflüssig sei. »Sekunde«, Mom tippte wie wild in die Tasten, »ich geh mal auf die Webseite vom Guinness-Buch der Rekorde.« Dann sah sie auf und strahlte Luke an. »Ja, so oft hat bisher noch niemand das Wort >Fax< in einem einzigen Satz gesagt.« Luke gab auf. »Gut, aber beeil dich 'n bisschen, ja?« Mom nickte eifrig und erklärte ihm, wie gut sie fände, dass es E-Mails gäbe. »Rory und ich schreiben uns jeden Tag, und zwar mehrmals. Das ist toll.« Das stimmte. Nachdem wir uns am Telefon einfach nicht mehr erreichten, waren wir dazu übergegangen, uns zu mailen. Das war zwar immer noch viel schlechter, als miteinander zu reden, aber deutlich besser, als immer nur auf eine doofe Mailbox zu sprechen, die einen manchmal mitten im Satz rausschmiss. Als Luke das nächste Mal wieder hinter die Theke wollte, hatte Mom das Kabel auf Halshöhe gespannt. Sie - 129 -
war ganz stolz auf ihre Idee und erklärte Luke, dass sie es ihm nun wirklich bequem machen wollte. Dabei hatte sie nur leider übersehen, dass Luke ein ganzes Stück größer war als sie. »Das hier ist mein Laden, und ich will hier nicht Limbo tanzen«, beschwerte er sich muffelig und ging in die Küche. Als er etwas später herauskam, waren aber die Mails gelesen und geschrieben, der große Kaffee ausgetrunken und das Limbo-Seil schon abgehängt. »Endlich fertig?«, wollte er wissen. »Oh, ja«, nickte Mom. »Als Limbotänzer hast du ausgedient, mein Freund. Danke für deine Geduld mit mir.« Sie zog sich die Jacke an und wollte sich gerade den Laptop unter den Arm packen, als Luke sie zurückhielt. »Moment, Sekunde noch, warte.« Er blickte sich nach allen Seiten um, und als er merkte, dass niemand der Gäste ihnen Beachtung schenkte, zog er einen Briefumschlag aus seiner Hemdtasche. »Hier, für dich«, meinte er, legte ihn auf den Tresen und schob ihn rasch zu Mom hinüber. »Nimm.« »Was ist das?«, wollte sie wissen, und als Luke ihr keine Auskunft gab, sondern lediglich meinte, dass sie das Kuvert später öffnen solle, siegte ihre Neugierde, und sie riss es auf. »Ein Scheck für mich, über dreißigtausend Dollar.« Mom war so verblüfft, dass ihre Stimme lauter geworden war. »Schhhhh!« Luke guckte sie streng an und legte den Zeigefinger an die Lippen. Dann vergewisserte er sich, dass keiner der Gäste mitgehört hatte. Ich bin mir sicher, dass Luke noch viel mehr Geld hatte, da hatte ihn Sookie sicher richtig eingeschätzt. Er verdiente ganz gut in seinem Laden und gab nie was aus. - 130 -
Wohin also mit dem ganzen Geld, wenn nicht in den Sparstrumpf? Allerdings darf man jetzt nicht denken, Luke sei geizig. Das stimmte nicht. Er hielt nur die Kohle, wie man so schön sagt, beisammen und leistete sich wenig. Alle fünf Jahre eine neue Baseballkappe zum Beispiel, ab und an einen Schinken mit Honigglasur. Dass er aber Mom, ohne lange zu überlegen, derart viel Geld lieh, zeugte davon, dass ihm eine ganze Menge an ihr lag. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass er das bei niemandem sonst getan hätte. »Luke, das ist genau der Betrag, den ich brauche«, flüsterte Mom fassungslos. »Ja, eben.« Luke war ganz ruhig und bestimmt. »Aber wir haben doch noch gar nicht besprochen, wie das mit der Rückzahlung ist oder den Zinsen und Sicherheiten. Ich wollte dir Grafiken und Prognosen zeigen, und vorher wollt ich dich zum Essen einladen!« »Dann schick mir'n Schinken mit Honigglasur«, meinte Luke. Er war sowieso nicht scharf auf den Restaurantbesuch gewesen, doch Mom war damit nicht zufrieden. »Aber das ist nicht richtig!«, erwiderte sie störrisch. »Solche Dinge werden anders geregelt.« »Ich weiß nicht, wie das geregelt wird. Und jetzt los, nimm den Scheck!« »Tut mir Leid, aber ein paar Sachen sollten wir doch wenigstens klären.« Mom bestand darauf, die Zinsen und den Beginn samt Höhe der Rückzahlung festzulegen. Dann wollte sie wissen, was mit seiner Frau sei. »Ich wüsste zu gern, wie Nicole dazu steht.« »Das geht sie nichts an.« Lukes Stimme war anzumerken, dass er über das Thema Nicole nicht sprechen wollte. Mom wollte sich damit nicht zufrieden - 131 -
geben. Man konnte zwar auch nicht behaupten, dass sie ausgerechnet Nicole in ihr großes Herz geschlossen hatte, aber andererseits ging es um eine Menge Geld, und Nicole war immerhin Lukes Ehefrau. »Hör zu, Luke, wenn das Geld euch beiden gehört, sollte ich das wissen. Dann könnt ich mich auch bei ihr bedanken, wenn ich sie mal wieder sehe ...« »Du wirst sie nicht sehen«, antwortete Luke schroff. »Können wir jetzt aufhören, darüber zu reden?« Mom merkte, dass sie sich daran besser halten sollte. Zwar war ihre Neugierde nun endgültig geweckt, und sie wollte wissen, was eigentlich zwischen Luke und Nicole los war und ob überhaupt noch etwas los war, aber jetzt war ganz offensichtlich nicht der richtige Zeitpunkt, Luke auf den Zahn zu fühlen. »Na gut«, meinte sie deshalb. »Aber wir sollten eine rechtlich bindende Vereinbarung für dieses Darlehen aufsetzen.« »Okay, schon gut, ich will jetzt kein Wort mehr über diese Sache verlieren.« »Na schön. Wir klären die Einzelheiten dann ein andermal.« Mom war aufgestanden, nahm jetzt aber noch mal den Stift. »Ich schreib aber noch schnell was auf.« »Was? Was denn jetzt noch?« Luke griff den Zettel, den Mom ihm reichte, las und lächelte sie dann an. »Gern geschehen.« Auf dem Zettel stand ein großes »Danke!« mit einem dicken Herzen. Es war Freitagabend, und wie an einem Freitagabend üblich stand ein Besuch bei meinen Großeltern an. Ich hatte wegen meiner Erkältung abgesagt, Mom allerdings ging gut gelaunt hin. Sie wusste nicht, dass ich gar nicht kommen würde, und freute sich, mich endlich mal wieder zu sehen. Das Hausmädchen öffnete, und sie trat ein, aber Grandma nahm überhaupt keine Notiz von ihr. - 132 -
Emily ging voll und ganz darin auf, am Telefon einen armen Kellner herunterzuputzen. »Gilmore. Richard und Emily Gilmore«, keifte sie gerade genervt in den Apparat. »Hören Sie, wir haben Ihr Restaurant erst salonfähig gemacht, als wir bei der Taufe von Eunice Pierpont-Penningtons Enkelin die Krebspastete gelobt haben.« Mom unternahm einen neuen Anlauf, von Emily begrüßt zu werden, doch ohne Erfolg. Emily machte Handzeichen, die den Schluss nahe legten, dass sie nicht gestört werden wollte, und konzentrierte sich dann wieder ganz auf den Kellner. »Ach, wirklich, Sie sind neu, ja? Naja, Ihre Gesprächsführung deutet auch nicht gerade auf einen erfahrenen Mitarbeiter hin ... Ja, gut, holen Sie Trey. Das ist eine brillante Idee.« Emily hielt mit der freien Hand den Hörer zu und stöhnte: »Einfach grauenvoll!« »Was ist denn los?«, wollte Mom wissen. »Hast du den Rauch nicht schon von weitem gesehen? Unser Braten ist angebrannt.« Emily schien zwar wirklich Pech mit ihrem Dienstpersonal zu haben, doch Mom kannte auch ihre Mutter. Sie übertrieb gern. »Ich bin nicht wählerisch«, sagte Mom und schnüffelte in der Luft, ob sie etwas Verbranntes wahrnähme, doch Emily winkte entschieden ab. »Oh, nein, so eine Lende biete ich noch nicht mal dir an!« »Du hattest also brennende Lenden?« Grandma ignorierte den Witz. »Und jetzt kämpf ich um einen Tisch in einem Restaurant, das halbwegs annehmbar ist.« Als sie sah, welches Kleid unter Moms Mantel zum Vorschein kam, sah sie noch gestresster aus.
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»Ist das dein Kleid?«, wollte sie wissen und musterte abschätzig Moms Garderobe. »Ist das 'ne Fangfrage?«, erwiderte Mom. Sie wusste nicht, was an dem Kleid nicht stimmte. Sie sah darin fabelhaft aus, es war körperbetont und irgendwie asiatisch mit seinem kleinen Stehkragen. Der einzige Fehler, den das Kleid in der Tat hatte, war, dass es nicht mehr ganz neu war. Mom hatte es schon oft getragen. »Du kannst in diesem Aufzug doch nicht ausgehen!«, stellte Emily bestimmt fest. »Ich wusste doch nichts von dem Feuer in deinen Lenden!« Mom grinste, sie hatte etwas gefunden, womit sie ihre Mutter ärgern konnte — und das machte ihr jetzt, wo Emily wie immer an ihr herumnörgelte, besonders viel Freude. »Sag nicht immer dieses Wort!« »Wann werde ich wohl wieder so 'ne Chance kriegen?« Emily musterte ihre Tochter erneut von Kopf bis Fuß. »Darin hab ich dich sicher schon ein Dutzend Mal gesehen!«, konstatierte sie. »Du solltest deine Garderobe erneuern. Die Sommerkollektion kommt jetzt raus. Geh doch einkaufen!« Das musste natürlich kommen. Ich kannte niemanden, der so hemmungslos einkaufen ging wie Grandma. Im Shopping war sie wirklich professionell. »Du musst jedenfalls nicht mehr einkaufen gehen, Emily, du hast genug für ein ganzes Leben eingekauft. Für Methusalems Leben. Hallo, Lorelai.« Grandpa war hinzugetreten, hatte noch die letzten Sätze der Unterhaltung mitbekommen und nutzte die Gelegenheit, um seiner Frau einen kleinen Seitenhieb zu verpassen.
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»Ich habe nur vorgeschlagen, dass deine Tochter ihre Garderobe auffrischt!«, verteidigte sich Emily mit hochgezogenen Augenbrauen. »Du solltest sie mit deiner Krankheit nicht auch infizieren!«, riet Richard, und Mom beschwichtigte ihn, indem sie ihm riet, den Rat ihrer Mutter einfach als das zu nehmen, was er war: ein weiterer Versuch, sie zu demütigen. Emily, die immer noch am Hörer hing und darauf wartete, dass sie einen Tisch bekam, guckte böse. »Ich sollte euch verhungern lassen!« »Wieso sollen wir verhungern?« Richard blickte sie irritiert an. »Was ist mit dem Essen?« »Ich hab dir vor kaum fünf Minuten gesagt, dass es ruiniert ist.« »Ach ja! Ich hab das Wort Lende gehört, aber ans Essen hab ich dabei nicht gedacht.« Also, wenn Mom so etwas sagte, dann war das okay. Wenn allerdings Grandpa so etwas sagte, dann hörte sich das, gelinde gesagt, unorthodox an. So empfand es auch Mom. »Oh, ich glaub, jetzt hab ich endgültig keinen Hunger mehr auf Lenden«, rief sie, wurde aber von Emily mit einem energischen Handzeichen zum Schweigen gebracht. Der Oberkellner war anscheinend am Apparat. »Ja, ich bin noch dran«, stöhnte Grandma in den Hörer, dann legte sich die Andeutung eines Lächelns auf ihre Lippen. »Sehr gut, fragen Sie ihn!« Wieder legte sie die freie Hand auf die Muschel. »Ich denke, wir haben eine Chance im Bastide« Sie blickte Lorelai und Richard erwartungsvoll an. »Ist es da nicht eher langweilig?«, fragte Grandpa nach, und auf die Antwort von Emily, dass sie doch gerne ins - 135 -
Bastide gingen, meinte er: »Nein, du gehst gern dahin. Versuchen wir doch das, wo Jason letzte Woche mit mir war. Dort sind immer viele Prominente. Er hat mir gezeigt, wer Moby ist: dieser glatzköpfige Musiker. Und später hat er mir was von ihm vorgespielt. Sehr nett.« »Wir gehen ins Bastidel«, schrie Emily, die bei der Nennung der Namen »Jason« und »Moby« in einem Satz regelrecht ausflippte. »Aber keine Bange«, fuhr sie dann spitz fort. »Vielleicht sind ja die Beatles heute da. Dann könntest du mit ihnen jammen.« »Zwei von den Beatles sind tot, Emily«, antwortete Richard pikiert. »Nur einer ist tot.« »Nein, ein zweiter Beatle ist erst kürzlich gestorben.« Zustimmung heischend blickte er Mom an. »Lorelai ...« »Könnt ihr mal kurz auf die Pausentaste drücken? Ich möchte gern, dass Rory das Ende der Unterhaltung hört«, schaltete sich Mom grinsend ein. »Wenn wir jetzt ins Bastide gehen, solltest du ein anderes Jackett anziehen«, meinte Emily mit kritischem Blick auf Grandpa. »Und bitte, rasier den Bart ab, ich flehe dich an!« Während Richard gegen ein anderes Jackett nichts einzuwenden hatte, ließ er in puncto Schnurrbart nicht mit sich reden. Im Gegenteil, er wurde sogar richtig sauer. »Ich will wissen, wie er als Vollbart aussieht, Emily. So war's doch abgemacht!« Emily stöhnte auf. »Jetzt sieht er aus wie eine Raupe. In zwei Wochen wird er einer fetten Raupe gleichen.« »Wirklich witzig.« »Das sollte kein Witz sein.« Plötzlich war der Oberkellner wieder dran und erklärte Grandma, dass wir einen Tisch bekämen, wenn wir in - 136 -
fünf Minuten dort seien und nicht zu lange überlegten, was wir essen wollten. Grandma piff Grandpa auf der Treppe zurück und zog sich selbst schon ihren eleganten Mantel über. »Und was ist mit meinem Jackett?«, wollte Richard wissen. »Nicht so wichtig! Man wird sowieso nur auf deinen Bart starren«, stichelte Emily. »Kommt jetzt, los. Und überlegt euch schon mal, was ihr essen wollt!« Während die beiden bereits Anstalten machten, das Haus zu verlassen, blieb Mom regungslos stehen. »Moment, da gibt's noch ein kleines Problem, Leute«, meinte sie und fragte, ob Emily und Richard denn nicht auf mich warten wollten. »Nein, heute kommt sie nicht«, erklärte Grandma meiner erstaunten Mom. »Sie war die ganze Woche krank. Ich hab ihr gesagt, sie soll sich lieber noch erholen. Hast du das nicht gewusst?« »Oh, doch, natürlich«, schluckte Mom und beeilte sich dann, ihre Jacke anzuziehen. Innerlich aber fragte sie sich, was eigentlich aus unserer Beziehung geworden sei. Aus unserer wunderbaren Beziehung, um die uns die ganze Welt beneidet hatte ... ... genau das fragte sie dann auch mich, als wir endlich! — am Montag miteinander telefonierten. Ich weiß nicht, wie lange es her war, dass wir uns das letzte Mal gesprochen hatten. Ziemlich lange auf jeden Fall. Und mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Als das Telefon klingelte, hatte ich schon gar keine Hoffnung mehr, dass es meine Mom sein könnte. »Ah, sie spricht! Sie hat es noch nicht verlernt«, rief dann aber eine mir bestens bekannte Stimme. »Geht es dir gut, bist du krank?« - 137 -
»Ich hab mit 'ner Erkältung flachgelegen. Das weißt du«, meinte ich. »Nein, ganz und gar nicht!«, rief Mom empört und sagte dann das von unserer wundervollen Beziehung, um die uns alle Welt beneidet hatte. »Unsere Beziehung, die viel intimer war als die des nackten Pärchens in den >Liebe ist<-Cartoons, ist zu einer schnöden, alltäglichen E-Mail-Freundschaft verkommen!« Ich war mir eigentlich sicher, dass ich Mom von meiner Erkältung in irgendeiner all meiner E-Mails gemailt hatte. »In all den E-Mails?«, wiederholte Mom. »Augenblick, du schreibst nicht so oft wie die Leute, die mir ein bestimmtes Körperteil vergrößern wollen, das ich nicht mal besitze! Ich hab grad noch mal deine E-Mails der vergangenen zehn Tage gecheckt: Eine Erkältung kam nicht vor, aber ich hab dieses Juwel gefunden: >Hey, was gibt's? Bei dir auch so kalt?< Und: >Wuh, völlig fertig. < Und dahinter steht eine von diesen komischen Hieroglyphen, aus denen ich nie schlau werde. Bedeutet das nun Lachen oder Lächeln oder Stirnrunzeln oder Ab kotzen? Ich weiß nicht, was ...« »Das ist ein Tippfehler. Ich hasse diese idiotischen Symbole«, meinte ich, musste ihr aber in dem Punkt Recht geben, dass meine Mails zumindest stilistisch verbesserungswürdig waren. »Und du benutzt auch nur selten Verben«, erklärte Mom anschließend. »Das kann doch nicht gut sein. Eine Beziehung braucht doch einfach Verben.« Dann beklagten wir uns beide beieinander, dass wir uns nie am Telefon erreichen würden — merkten dann aber gleichzeitig, dass wir jetzt immerhin miteinander
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telefonierten und dass das mit dem »nie« zum Glück ja gar nicht stimmte. »Wie siehst du denn jetzt aus, so wie immer?«, wollte Mom wissen — und auf diese Vorlage musste ich einfach reagieren. »Sekunde, mein Nasenring juckt«, antwortete ich und schnaufte ein bisschen in den Hörer. »Keine Scherze! Ich bin bedürftig und sauer, denn am Freitagabend musste ich ganz allein mit meinen Eltern essen gehen. Die haben sich darum gestritten, wer von den Beatles noch lebt und wer tot ist.« »Und wie haben sie sich geeinigt?«, fragte ich. Ich konnte mir die Unterhaltung lebhaft vorstellen ... »Keith und John sind tot, und Paul und Bingo sind noch am Leben.« Mom stöhnte auf - und dann hatte sie eine prima Idee. »Schwänz doch morgen«, schlug sie vor und erklärte, dass sie dasselbe im Hotel machen würde. Sie brauchte nicht lange, dann hatte sie mich überredet. »Mom sagt, die Sommerkollektionen sind jetzt da. Gehen wir shoppen? Das haben wir schon ewig nicht getan.« »Aber wir sind beide illiquide«, wandte ich ein. »Hä, wir sind was?« »Illiquide, blank, pleite. Kennst du das Wort nicht?« »Oh, Mann, dauernd lernst du Fremdwörter!«, stöhnte Mom theatralisch. »Irgendwann versteh ich dich nicht mehr, Schatz.« »Du weißt, was ich meine.« »Dann kaufen wir eben nichts. Wir machen einen Schaufensterbummel. Das wird dann so wie in 'nem alten Film, weißt du? Wir sehen uns die Auslagen in den Schaufenstern an, wie Roz Russell und Ava Gardner in der Fifth Avenue.« Ach, ich sah die beiden Leinwandhelden direkt vor mir. - 139 -
Elegant und gut gelaunt drückten sie sich die Nasen an den Schaufenstern platt und scherzten unentwegt. Ein Schaufensterbummel war eine prima Idee. Wie verabredeten uns für zehn Uhr im Dragonfly, und, damit wir uns nach so langer Zeit auch wiedererkannten, schlug Mom als Erkennungszeichen eine Rose im Knopfloch vor. »Nein, ich trag sie an meinem Nasenring«, antwortete ich, musste aber ein bisschen kichern, sodass Mom völlig unbeeindruckt blieb. Allerdings: ich und ein Nasenring? Das war in der Tat ziemlich unwahrscheinlich. »Also, morgen um zehn, Roz, Süße«, meinte Mom und gab mir einen Kuss durchs Telefon. »Ja, gut, bis dann, Ava, Schätzchen.«
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Am nächsten Morgen putzte ich mich für meine Verhältnisse richtig raus, mit Minirock und hübscher Strumpfhose und Lederjacke. Ich sah deutlich modischer aus als sonst und war auf jeden Fall schaufensterbummeltauglich. In meinem Knopfloch steckte natürlich eine rote Rose. Abgemacht war schließlich abgemacht. Als ich im Hotel ankam, stieß ich als Erstes auf Tom, der an der Außentreppe stand. »Hi, Rory«, grüßte er und wollte wissen, warum ich eine Rose im Knopfloch trug. »Daran soll mich meine Mom wiedererkennen.« Tom runzelte die Stirn. »Frauensache?« Ich nickte und grinste ihn an. »Davon hab ich sowieso keine Ahnung.« Er schüttelte bedauernd den Kopf und tippte sich zum Gruß leicht an seinen lustig-gelben Bauarbeiterhelm. »Klar, als Bauunternehmer«, antwortete ich und ging hinein. Der Erste, den ich dort sah, war Dean. Der gute Dean, den ich seit meinem Zusammenbruch weder gesehen noch gesprochen hatte und dem ich auf jeden Fall sagen wollte, dass er ziemlich nett zu mir gewesen war. »Verzeihung, würden Sie mir ein Autogramm geben?« Ich hatte mich an ihn herangeschlichen, und als er sich umdrehte und mich irritiert ansah, sprang ich erschrocken einen Schritt zurück. »Oh, tut mir Leid«, meinte ich. »Ich dachte, du bist einer von den Vittage People.« »Autsch«, antwortete er und stand auf. Er schien sich ziemlich zu freuen, dass ich da war, und mir war auch
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nicht entgangen, dass ihm meine Klamotten offenbar gefielen. »Was tust du denn hier?«, wollte er wissen. »Ich bin mit meiner Mom verabredet«, erklärte ich. »Wir schwänzen heute.« »Und die Rose ist ein privater Witz?« »Du kennst mich gut«, antwortete ich und grinste ihn an. Dean nickte. »Allerdings. Und, geht's dir wieder gut?« »Ach, das.« Ich tat so, als könnte ich mich kaum noch daran erinnern. »Oh, ja, mir geht's wieder gut. Ein kleiner Nervenzusammenbruch kann bei uns Frauen Wunder wirken.« Ich machte eine kurze Pause und blickte Dean schließlich ernst in die Augen. »Ich wollte das nicht bei dir abladen.« »Ach, schon gut«, meinte er und blickte mich fast ein bisschen liebevoll an. »Wozu hat man denn 'ne Schulter?« »Jedenfalls hast du 'ne sehr verständnisvolle Schulter«, antwortete ich. Plötzlich breitete sich der Anflug von einem peinlichen Schweigen aus, und in die aufkommende Leere fragte mich Dean, ob ich nicht Lust hätte, ein bisschen zu hämmern. Tom sei draußen und die Situation gerade günstig. Ich fand die Idee Masse, im Hotel meiner Mom einen Nagel zu versenken, und nahm Hammer und Nagel wagemutig entgegen. »Vielleicht sollte ich spucken oder mir die Ärmel hochkrempeln«, meinte ich, konzentrierte mich dann aber stattdessen einfach auf den Nagel und darauf, nicht Deans Finger zu treffen, die ihn hielten. »Wow! Ein Naturtalent«, rief Dean aus und betrachtete mein Werk.
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»Ich denke, in einem früheren Leben war ich Zimmermann. Oder jemand, der 'n Hass auf Nägel hatte«, meinte ich und lachte. Es war irgendwie sehr schön, mit Dean dummes Zeug zu reden, und wir hätten beide sicher noch länger rumgealbert, wenn nicht plötzlich Lindsay, Deans Frau, zusammen mit ihrer Mutter Theresa aufgetaucht "wäre. Wir grüßten uns, und ich beobachtete irritiert, dass Lindsay und ihre Mom schnurstracks einen Tisch ansteuerten und einen riesigen hässlichen Picknick-Korb darauf abstellten. Die beiden wirkten so, als würden sie sich bestens auskennen, woraus ich schloss, dass sie nicht zum ersten Mal hier aufkreuzten. »Sind wir zu früh dran?«, fragte Theresa, aber Dean war ganz der perfekte Schwiegersohn und antwortete, dass das Timing perfekt sei. »Mom und ich haben heute eine ganze Menge zu erledigen«, erklärte Lindsay viel sagend, und Theresa fiel ein und fragte Dean, ob ihm Lindsay schon von der tollen neuen Reinigung erzählt hätte. »Nein«, meinte Dean und lächelte mich unsicher an. Anscheinend war ihm dieses Zusammentreffen unangenehm. Seine Wangen waren gerötet, und er stand exakt auf halbem Weg zwischen Lindsay und mir. »Sag's ihm, Lindsay«, drängte Theresa, und ich muss sagen, dass auch ich wirklich darauf brannte, mehr von der tollen neuen Reinigung zu erfahren. »Die reduzieren die Lösungsmittel, das ist umweltfreundlicher«, erklärte Lindsay und blickte mich dann lächelnd an. »Ich bin sehr für Umweltschutz.« »Ja, bin ich auch«, beeilte ich mich zu sagen. Ich wollte nicht als Umweltschwein dastehen, und das war ich ja auch nicht — aber ich war gleichzeitig ziemlich froh, - 143 -
dass ich mich mit meiner Mom über andere Dinge unterhalten konnte als über die neue Reinigung in Stars Hollow. »Und, arbeitest du auch hier?«,, wollte Lindsay dann von mir wissen. »Nein, ich hab ganz illegal gehämmert, ohne Gewerkschaft und so«, erklärte ich schnell. »Und bei der nächsten Revolution werde ich erschossen.« Ich hoffte inständig, dass Mom endlich auftauchen würde. Theresa und Lindsay lachten irritiert auf, anscheinend hatten wir nicht denselben Humor. »Lass uns das Mittagessen auspacken, bevor alles kalt ist«, bestimmte Theresa schließlich und begann, den Tisch zu decken. »Keine Angst«, lächelte Lindsay ihren Dean an. »Mom hat heute gekocht. Du kannst gefahrlos essen.« »Lindsays Mom gibt ihr gerade Kochunterricht«, erklärte mir Dean verlegen. Er machte weiterhin nicht den glücklichsten Eindruck, die ganze Situation schien ihm peinlich zu sein, und irgendwie konnte ich verstehen, warum. Aber Theresa war offenbar wie geschaffen dafür, Situationen noch peinlicher werden zu lassen. »Ach, ich hätte mit dem Unterricht früher anfangen sollen«, rief sie munter. »Kind, mach nicht denselben Fehler bei eurem Nachwuchs!« Wie ein Blitz schnellte mein Blick in Deans Richtung. »Kriegt ihr ...«, begann ich, aber Dean schüttelte schnell den Kopf. Er war jetzt noch röter geworden und ging dann hinüber zu Lindsay, um zu sehen, was alles auf dem Tisch stand. »Wir haben noch den Salat, Liebling«, rief Theresa und während ich noch mit offenem Mund die Szene beobachtete und wusste, dass ich niemals so eine perfekte
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kleine Hausfrau werden würde wie die gute Lindsay, hörte ich auf einmal die Stimme meiner Mom. »Rory? Rory? Rory?«, schrie Mom erschreckt, während sie den grau melierten Vollbart von einem der Bauarbeiter musterte. »Rory, Rory, Rory! Du wirst auf keinen Fall 'n Mann abkriegen, wenn du so aussiehst! Und warum hast du keine Rose im Knopfloch?« »Hier bin ich, verrücktes Muttertier«, begrüßte ich sie, gab ihr einen Kuss und zog sie von dem verstört dreinblickenden Arbeiter fort. »Ach, du trägst ja 'ne Rose!«, strahlte Mom und begrüßte dann Lindsay und Theresa. »Hey, sind die zwei denn öfter hier?«, wollte ich leise wissen und hakte mich bei ihr unter. »Oh, ja. Die kochen jeden Tag was für Dean«, tuschelte sie zurück. »Und sie bringen auch immer was für die anderen mit. Gestern gab es Erdnusskrokant, den Lindsay gemacht hatte. Dabei gingen dann eine Krone und drei Zähne zu Bruch. Das Zeug wurde als Sondermüll entsorgt.« Wir machten, dass wir fortkamen, sprangen in Moms Wagen und fuhren zielstrebig zur Mall. Ich war so froh, meine Mom wieder um mich zu haben, denn irgendwie war das wirklich komisch gewesen. Sie so lange Zeit nicht zu sehen und zu hören, meine ich. Mom und ich, wir waren ja eigentlich unzertrennlich. Und die Tatsache, dass ich mir in Yale zum Beispiel ohne ihr Wissen meine Haare abgeschnitten hatte, war schon ein unglaublicher Akt der Entfremdung und Emanzipation gewesen — zumindest für unsere Verhältnisse. Dass wir aber ernsthafte Sorgen mit jemand anderem besprachen, war, seit ich mich erinnern kann, noch nie vorgekommen. Zum einen war es natürlich eine gute Erfahrung. Zu - 145 -
wissen, dass es noch andere Menschen gab außer Mom, die ein offenes Ohr hatten. Auf der anderen Seite machte mir die Erfahrung aber fast schon ein wenig Angst, denn die exklusive Beziehung zwischen meiner Mom und mir war auch immer etwas gewesen, das mir Sicherheit vermittelt hatte. Auf der einen Seite Mom, auf der anderen Seite die böse Welt. Dass da plötzlich auch noch andere Menschen auftauchten, sorgte bei mir für Irritationen. Zum Glück gelang es mir rasch, diese Gedanken zu vergessen, und stattdessen warf ich mich begeistert mit Mom ins Getümmel. Als Erstes kamen wir bei einem Stand vorbei, der zu Werbezwecken Brezelproben verteilte. »Brezeln gibt es neuerdings in vielen Variationen. Das find ich toll!«, rief Mom kauend und griff zum dritten Mal zu. Ich nickte begeistert und blickte dann auf das Namensschild des Brezelmannes. »Sie sind unser neuer bester Freund, Howard!« »Und das sagen wir längst nicht zu jedem Mann«, schwor Mom, und ich ergänzte treuherzig, dass wir das nur zu Männern sagen würden, die kostenloses Essen verteilten. Dann war Howard auch schon verschwunden, denn Mom hatte mich mit sich fortgezogen. »Na schön, dann mal los«, meinte sie unternehmungslustig. »Wo fangen wir an?« Mom zuckte die Schultern. »Wir machen einen Schaufensterbummel. Suchen wir uns 'n Schaufenster.« Dann grinste sie mich an. »Hey, ich finde, wir sollten uns mal unterhaken, so wie die Frauen in den Filmen es immer machen.«
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»Also gut«, meinte ich, hakte mich bei ihr ein und sah vor meinem inneren Auge sofort ein Schwarz-Weiß-Bild: zwei elegante Damen im Kostüm, untergehakt, in der jeweils freien behandschuhten Hand ein hübsches Täschchen und auf dem Kopf ein keckes Hütchen, die sich gegenseitig auf die exklusive Mode in den Schaufenstern aufmerksam machten. Während mein kleiner, innerer Film aber ein Stummfilm war, hatte Mom noch ganz andere Assoziationen. »Hätte ich doch bloß ein Xylophon mitgebracht!«, rief sie. »Es gibt immer beschwingte Xylophon-Musik, wenn Frauen an Schaufenstern entlang bummeln. Also, links oder rechts?« »Gehen wir nach rechts«, meinte ich, und kurz darauf standen wir vor unserem ersten Schaufenster. »Oh, cool. Ich liebe Blau.« Mom betrachtete sehnsüchtig einen Blazer, der an der Schaufensterpuppe wirklich toll aussah. »Ja, der würde dir sehr gut stehen. Merk ihn dir!«, meinte ich. »Den musst du dir kaufen, wenn du wieder mehr Geld hast.« Ich sah ein, dass das eine unbefriedigende Antwort war. Viel besser wäre gewesen: Lass uns reingehen, das Ding anprobieren und dann kaufen, kaufen, kaufen. »Wollen wir weiter?«, meinte ich daher nach kurzem Zögern. Mom schluckte tapfer und zwang sich, ihren Blick von dem Schaufenster abzuwenden. »Na, klar doch.« Während Mom und ich uns also auf Teufel komm raus einen vergnüglichen Tag machen wollten, stand bei Lane eine weitaus kompliziertere Übung an. Heute war der Tag, an dem sie ihre Sachen bei ihren Eltern abholen sollte. Natürlich freute sie sich darüber, eine eigene Wohnung zu haben und mit Zack und Brian eine WG zu - 147 -
gründen — gleichzeitig aber wusste sie, wie weh es ihr tun würde, in die verweinten, vorwurfsvollen Augen von Mrs Kim blicken zu müssen. Als sie vor der Haustür stand, atmete sie noch einmal ganz tief durch, dann erst drückte sie den Klingelknopf. »Lane.« Mrs Kim hatte die Tür geöffnet, musterte ihre Tochter und trat dann einen Schritt zurück. »Komm rein.« »Danke«, antwortete Lane und folgte ihrer Mutter ins Innere des Hauses. Wie immer lag die Wohnung fast im Dunkeln, die Lampen brannten nicht und Schwermut lag in der Luft. Mrs Kim war nicht alleine, sie hatte Unterstützung von Lanes Tante Jun erhalten, die am Wohnzimmertisch saß und Lane streng und unnachgiebig musterte. Schräg hinter ihr stand ihre Tochter Christine, Lanes Cousine. Christine war ein paar Jahre jünger als Lane und eine richtige Nervensäge. Ebenso wie Lane war sie von ihren Eltern in das Adventisten-College geschickt worden, und ebenso wie Lane entsprach sie nach außen hin allen Erwartungen, die an sie gestellt -wurden. Sie wirkte gläubig, brav und angepasst, aber ebenso wie bei Lane war das jedoch nur der äußere Schein. In ihrem Inneren loderte die Sehnsucht nach Freiheit, nach allem Verbotenen und nach Abenteuer. Als Christine von Lanes Auszug erfahren hatte, war sie begeistert gewesen, verwirklichte Lane schließlich das, wovon sie selbst bisher nur träumte. Lane war in allem ihr großes Vorbild — sehr zu Lanes Leidwesen, die von der Begeisterung ihrer Cousine jedes Mal schier erschlagen wurde. Als Mrs Kim nun erklärte, dass Christine da sei, um ihr beim Packen zu helfen, ahnte sie bereits, was auf sie zukommen würde. Eine von Christines Monster-Begeisterungswellen, denen man nur - 148 -
mit Gleichmut oder mit ganz klaren Ansagen begegnen konnte. »Jun und ich bleiben hier, während ihr packt«, erklärte Mrs Kim abschließend. »Du kannst so viele Kisten nehmen, wie du willst, dazu Papier und Klebeband. Nur schreib für die Inventur auf, was du mitgenommen hast.« »Ja, mach ich«, antwortete Lane. »Danke.« »Gern geschehen«, erwiderte Mrs Kim, und als sie sich wieder umgewandt hatte, schlug Lane den Weg nach oben in ihr Zimmer ein. Ihr dicht auf den Fersen Christine, die nur darauf wartete, dass Lane und sie außer Hörweite waren, um die erste Begeisterungswelle auf Lane einstürzen zu lassen. »Ich glaub's einfach nicht! Du ziehst aus! Was ist passiert? Erzähl mir alles! Habt ihr euch gefetzt? Noch nie ist bei den Kims 'ne unverheiratete Frau ausgezogen. Oder heiratest du etwa?« Lane hatte mittlerweile ihr Zimmer erreicht, das immer noch genauso aussah wie an dem Tag, als Mrs Kim alles entdeckt hatte. Die Dielen waren aufgeklappt und gaben ihren Inhalt den neugierigen Blicken preis, die geheimen Schränke standen sperrangelweit offen. Christine war begeistert, was sonst? »Der Trick mit den Dielen ist toll, wie in 'nem Knastfilm!«, rief sie aus. »Ich wüsste gern, ob das zu Hause bei mir auch geht. Hast du schon die Libertines gehört? Und was ist mit den White Stripes? Ist es vorbei mit denen? Und Led Zeppelin? Ich mag jetzt mehr die alten Sachen. Was ist gut von der Band? Two, Three? Auf Three ist doch >Stairway to Heaven<, oder? Mann, das ist wie 'ne Beerdigung da unten. Ich dachte immer, meine Mom wäre hart drauf, aber im Vergleich zu deiner wirkt der Sänger von Joy Division wie 'n Teletubby. Nimmst du alles von dem Zeug mit? Durchsucht sie die - 149 -
Kisten, bevor du gehst? Und die CD, wo die Schimpfwörter drauf sind? Hast du sie getarnt? Hast du schon mal ...« Lane hatte es mit Gleichmut probiert, aber als sie merkte, dass aller Gleichmut nichts nützte, drehte sie sich abrupt um und fiel Christine mit scharfer Stimmer ins Wort. »Hey, Kleine, seh ich irgendwie grün und faltig aus? Nein? Ganz recht, ich bin nicht Yoda! Also, wenn du 'n Guru brauchst, dann ruf den Dalai Lama an. Ich will hier bloß meinen Krempel holen und abhauen. Also bitte sei still. Und >Stairway to Heaven< ist auf Led Zeppelin Four. Wenn du meinst, du stehst auf guten alten Rock, dann solltest du dich mal richtig damit beschäftigen!« Mit diesen Worten griff sie nach einem Schwung noch nicht gefalteter Umzugskisten. »Du kannst die Kisten zusammenbauen.« Christine schluckte, tat dann aber wie geheißen und baute die Kisten zusammen. Ihr Mund hielt sich leider nicht an Lanes Anweisungen, und wenig später plapperte sie schon wieder ohne Unterlass auf Lane ein, die sich dazu entschloss, einfach nichts mehr zu sagen. Auch, als sie alles eingepackt hatten und die Treppe hinuntergingen, hörte Christine nicht auf zu plappern. »Hast du 'n Auto? Kriegst du 'n Auto? Hast du 'n Führerschein? Dürfen die Kims das eigentlich? Ich brenne darauf, Auto zu fahren.« Lane hätte nicht gedacht, dass sie aufatmen würde, wenn sie im dunklen Wohnzimmer mit einer Umzugskiste im Arm ihrer Mutter gegenüberstehen würde ... »Ich hab die Inventarliste oben gelassen«, sagte sie leise und sah ihre Mutter an, als hoffte sie, dass diese sie
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doch noch in die Arme nehmen würde — was natürlich nicht passierte. »Ja, sehr gut«, antwortete Mrs Kim beherrscht. »Vielen Dank.« Eine Weile lang standen sich Mutter und Tochter gegenüber und blickten sich an, dann wandte sich Mrs Kim ab und drehte Lane den Rücken zu. »Ich werd dann mal gehen«, meinte Lane, und Mrs Kim nickte. Dann meldete sich noch einmal Tante Jun zu Wort. »Komm schnell weg von Lane, Christine!«, befahl sie. Lane hatte genug gehört. Ohne ein weiteres Wort ging sie zur Tür und trat hinaus ins Freie. Ich hatte wirklich ein Riesenglück mit meiner Mom! Bei uns waren die Rollen ja eigentlich sogar vertauscht, war ich doch vernünftiger und braver, als meine Mom es jemals gewesen war oder sein würde. Ich meine, gibt es einen besseren Beweis für diese Behauptung als die Tatsache, dass unser ganzer Schaufensterbummel nur zu Stande gekommen war, weil mich meine Mom zum Schwänzen aufgefordert hatte? Sie war wirklich definitiv das komplette Gegenteil von Mrs Kim — war das vielleicht der Grund, warum ich so wenig ausgeflippt und so herrlich vernünftig war? Jedenfalls vergnügten wir uns, während bei Lane derart große Veränderungen vor sich gingen, weiterhin vor den Schaufenstern. Zumindest wollten wir uns vergnügen, denn das war gar nicht so einfach.Vielleicht fehlte uns die Xylophon-Musik — viel wahrscheinlicher aber war, dass uns schlicht das Geld fehlte. »Das ist ja schick.« Mom deutete auf ein Ensemble, aber da mehrere nebeneinander hingen, wusste ich nicht genau, welches sie meinte.
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»Das da.« Mom verrenkte sich ein wenig, und ich folgte ihrem Blick. »Der Rock und die Bluse?«, wollte ich wissen. Mom nickte. »Ja, aber eher der Rock als die Bluse.« »Ich finde sie beide schön.« Dann erblickte ich weiter hinten noch einen Ständer mit Jacken, die mich magisch anzogen. Ich verrenkte mich noch weiter und stupste Mom an. »Die haben da ganz tolle Jacken.« »Wo?« »Na da, weiter hinten.« Auch Mom verrenkte sich nun den Hals, und ich hoffte, dass wir uns keinen steifen Nacken zuzogen. »Merken, okay?«, meinte ich, und Mom nickte tapfer. »Aber klar doch. Nächstes Schaufenster?« »Sicher.« Ich trottete neben ihr her und merkte, wie unsere Schritte langsamer und langsamer wurden, unsere vormals tolle Laune weiter und weiter in den Keller wanderte und sich unsere Mundwinkel langsam, aber sicher immer weiter Richtung Schultern zogen. »Das ist doch ätzend!«, brachte es Mom schließlich auf den Punkt und blieb stehen. »So wenig hab ich mich ja noch nie amüsiert, außer damals, als wir auf dem Kostümfest waren.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das hier ist noch viel schlimmer.« »Schaufensterbummel? Schwachsinnige Idee.« »Aber es klang nach Spaß. Es sollte Spaß machen.« »Nicht, wenn man drüber nachdenkt. So 'n Schaufensterbummel ist, als würden wir ins Museum gehen, nur dass uns das, was wir sehen, auch interessiert«, erklärte Mom. Dann sah sie sich missmutig um und beobachtete neidisch die vielen Frauen, die lachend in die Geschäfte gingen und mit jeder Menge - 152 -
Tüten wieder herauskamen. »Und alle können hemmungslos einkaufen, bloß wir nicht.« Auch ich fand die Situation mehr als grauenhaft. »Ich hab mir so viele Sachen gemerkt, die ich irgendwann kaufen will, dass ich fürchte, mein Kopf ist total angeschwollen«, jammerte ich, und Mom brachte die Sache auf den Punkt. »Was haben sich Roz Russell und Ava Gardner nur gedacht?« »In welchem Film haben sie noch mal diesen Schaufensterbummel gemacht?« »Ich hab das wohl nie gesehen«, gab Mom zu. »Ich hab nur zwei alte Filmstars genommen. Keine Ahnung, ob's einen Film gibt, in dem jemand einen Schaufensterbummel macht.« Sie guckte missmutig ihre Fußspitzen an, wippte hin und her und überlegte. Plötzlich erhellte sich ihre Miene. »Hey, wollen wir nicht in die Geschäfte gehen? Vielleicht wird's dann ja besser.« »Klingt auf jeden Fall besser, als sich hier von außen den Hals zu verrenken«, gab ich ihr Recht und ließ mich nur zu gern in das nächste Geschäft hineinziehen. Doch nach kurzer Zeit, ungefähr nach zehn Sekunden, standen wir wieder draußen. »Nein!«, rief Mom. »Schlimmer!« »Viel schlimmer«, korrigierte ich. Dann standen wir unschlüssig herum. »Es wird Zeit, das zu beenden, Süße.« Mom hatte genug vom Schaufensterbummel, und eigentlich hätten wir jetzt was essen gehen müssen — aber es war noch nicht Mittag. »Wir können in dem gläsernen Fahrstuhl rauf- und runterfahren«, schlug sie lustlos vor. Ich schüttelte den Kopf. »Das ist würdelos.« »Hier gibt's irgendwo 'n Karussell.« - 153 -
Ich schüttelte wieder den Kopf. »Sicher nicht umsonst.« »Ja, und wir sind illiquide.« »Wahrscheinlich saßen schmutzige Windeln auf den Sitzen.« »Vielleicht sollten wir doch irgendwohin gehen, wo nichts verkauft wird. Damit können wir der Versuchung ausweichen.« Das war sicher die beste Idee des Tages, und ich hielt schon angestrengt Ausschau nach Howard. So eine Gratisbrezel würde uns stärken und auf andere Gedanken bringen! Wir fuhren mit der Rolltreppe gerade Howard entgegen, und ich erzählte Mom gerade, wie sehr ich mich auf ihn freute, als sie plötzlich mit der linken Hand ihr Gesicht abschirmte. »Oh, nein! Oh ...« Sie hatte angefangen, nervös neben mir rumzuzappeln. »Emily.« »Emily wer?«, fragte ich, was zugegebenermaßen ziemlich einfältig war. Wahrscheinlich hatte ich mich schon ganz dumm gebummelt. »Emily die Seltsame mit der schwarzen Katze und den Springerstiefeln. Wer denn sonst?«, antwortete Mom und schirmte sich schnell wieder ab. »Grandma ist auch hier? Sicher?« Ich tat es Mom gleich und verdeckte mein Gesicht ebenfalls wie ein schlechter Detektiv, der nicht bemerkt werden will. Weil ich aber eigentlich gar nicht verstand, was dieses Versteckspiel bringen sollte, fragte ich Mom, was überhaupt los sei. »Mhm. Reflex.« »Wir müssen ihr doch Guten Tag sagen!«, meinte ich. »Wenn sie sieht, dass wir uns verstecken, wird sie 'ne Erklärung verlangen.« - 154 -
»Dann versteck dich gut!«, zischte mir Mom noch zu, aber es war zu spät. Emily hatte uns bereits entdeckt. Was auch nicht wirklich schwierig gewesen war. Die Rolltreppe, die nach oben führte, führte schließlich direkt an uns vorbei, und wir hatten uns so auffällig verhalten, dass wir uns der Aufmerksamkeit aller Rolltreppenfahrgäste sicher sein konnten. »Lorelai, Rory!«, rief Emily laut und streng. »Wir treffen uns da oben!« »Oh, wir fahren grad runter«, rief Mom und wollte sich schon abwenden, aber Emily ließ nicht mit sich reden. »Kommt rauf, aber schnell!«, befahl sie, und Mom und ich gaben uns geschlagen. Wir machten auf dem Absatz kehrt und begannen, die Rolltreppen nach oben zu gehen — was gar nicht so einfach war, da jede Menge Leute damit nach unten fahren wollten. »Fahrt runter und kommt dann wieder zu mir hoch!«, rief Grandma. Sie war bereits oben angekommen. »Schon gut, wir kommen ja«, rief Mom. Dann beugte sie sich zu mir. »Verstecken ist nicht unsere Stärke.« Als wir oben ankamen, wollte Grandma wissen, was wir eigentlich hier machen würden. Eine berechtigte Frage, schließlich berichteten wir immer davon, dass wir mit Arbeit nur so überhäuft waren. Wir stotterten ein wenig um den heißen Brei herum und gaben schließlich zu, zu schwänzen. »Wieso sagt ihr das denn nicht gleich?«, fragte Emily. »Seit wann seid ihr hier?« »Seit anderthalb Stunden«, erklärte Mom. »Wo habt ihr eure Tüten?« »Wir gucken uns nur die Schaufenster an«, sprang ich Mom bei — und Emily brachte unsere Erfahrungen auf den Punkt. - 155 -
»Ach, Schaufenster?«, fragte sie. »Was ist amüsant daran?« »Nichts ist amüsant daran«, gab ich ihr Recht. Und dann ging es los. Emily bestimmte, dass wir jetzt einkaufen gingen. »Kommt schon, hopp, hopp!«, rief sie und steuerte den nächsten Laden an. Ein sehr exquisites Geschäft, in das Mom und ich niemals reingegangen "wären, einfach deshalb, weil es eine Nummer zu teuer war für unser Budget. Mom und ich blickten uns an. Eigentlich hatten wir vorgehabt, heute einen Mutter-Tochter-Tag zu machen. Keinen Grandma-Tag. Aber alle unsere Einwände, dass wir eigentlich gerade gehen wollten und so weiter und so fort, blieben unerhört. »Nein, ihr geht noch nicht!«, bestimmte Emily. »Kommt jetzt.« »Sie ist ziemlich aggressiv, was?«, fragte ich Mom, und sie gab mir Recht. »Ich glaub, der sanfte Teil ihrer Persönlichkeit schwänzt heute.« Lane war von der Elm Street schnurstracks in ihre neue Wohnung gefahren und hatte dort damit begonnen, zusammen mit Zack und Brian die Kisten auszupacken. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass an ein paar ganz elementare Dinge nicht gedacht worden war. »Hey, habt ihr Bestecke oder Gläser oder sonst irgendwas für die Küche mitgebracht? Wir haben keine Töpfe, wir haben keine Tassen -« Lane schlug rasch den Küchenschrank zu. » ... Aber dafür haben 'wir sie ...« »Sie? Und wer ist das?«, wollten Zack und Brian wissen. »Eine Ex-Sie, um genau zu sein, denn sie ist mausetot. Sie ist 'n dickes fettes Mädchen, ein dickes mausetotes - 156 -
Mädchen!« Lane hörte sich leicht hysterisch an.Tote Mäuse waren ihre Sache nicht, und außerdem hatte sie die letzte Zeit unter einer enormen Anspannung gelebt. Dass diese sich irgendwann Luft machen würde, war abzusehen gewesen. »Wir haben drei Stereoanlagen und kein Besteck!« Lane lief aufgebracht durch die Wohnung und stellte sich dann vor Brian und Zack auf. »Und es gibt keine Gardinen an den Fenstern. Man kann uns in die Wohnung sehen. Und wieso ist in dieser Wohnung kein Kühlschrank? Ich hatte angenommen, dass hier einer ist.« »Klasse, dann leben wir wie im Mittelalter, Freunde. Legen wir doch gleich mal 'n bisschen Fleisch in Salz ein.« Zack war der Zyniker der Band, wusste gerne alles besser und hatte auch klare Vorstellungen davon, wie das Zusammenleben einer Band aussehen sollte. Als Brian ein verdächtiges Ding in die Steckdose steckte, wollte er sogleich wissen, was das sei. »Na, ein Nachtlicht«, meinte Brian ahnungslos. »Alter, als die Sex Pistols zusammengewohnt haben, da hatten sie auf keinen Fall 'n Nachtlicht.« »Das weißt du gar nicht.« »Ich hab Johnny Rottens Buch gelesen. Er erwähnt da kein Nachtlicht!« Während Lane feststellte, dass außer Tassen, Tellern, Besteck und Gardinen auch noch Handtücher fehlten, guckte Zack missmutig das Etagenbett an, das er sich mit Brian teilen musste. »Hey, als du sagtest, du hast 'n Bett für mich, da wusste ich nicht, dass du 'n Etagenbett meinst.« »Aber die sind cool. Unten fühlt man sich wie in 'nem Fort«, meinte Brian. »Aber wir spielen hier keinen Western!«, rief Zack genervt und schob dann unsanft die Futurama - 157 -
Comicfiguren beiseite, die Brian begonnen hatte aufzubauen. »Alter, hör zu. Das hier ist meine Seite des Regals. Du breitest dich viel zu sehr aus! Bender und Leela stehen auf meiner Seite. Du musst sie rüber zu dir stellen.« »Du redest Schwachsinn!«, fuhr Brian auf. Er war wirklich ein friedliebender Mensch — aber wenn es um seine Comicfiguren ging, verlor auch er die Nerven. »Das ist nicht Bender, sondern Nibbler. Bender ist 'n Roboter. Und sie stehen auf meiner Seite.« »Sie stehen auf meiner Seite, Alter! Weg damit.« Lane, die den Streit zunehmend verzweifelt mit angehört hatte, wollte schlichten. »Jungs, hört auf. Seht ihr, da unten ist noch ein ganzes Regalbrett, das ihr benutzen könnt. Streitet euch nicht.« »Aber das haben wir für dich reserviert«, erklärte Brian. »Was?« Lanes Augen füllten sich sofort mit Tränen der Rührung. »Für deine CDs und so weiter«, meinte Zack. »Das ist dein Regalbrett.« Lane konnte nicht länger an sich halten. Voller Begeisterung fiel sie den beiden Jungs um den Hals. »Es wird funktionieren«, rief sie immer wieder begeistert aus. »Es wird funktionieren! Immer einen Schritt nach dem anderen.« Brian machte sich rasch los und zupfte nervös an seinem Pulli. »Jetzt ist meine Brille verschmiert, Lane«, meinte er, und auch Zack war kein Fan von großen Emotionen. »Hör zu«, erklärte er rasch. »Im Bad haben wir dir auch noch 'n Brett freigehalten. Nicht nötig, dass du uns dafür drückst.« - 158 -
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Der erste Eindruck, dass Grandma heute außerordentlich aufgebracht war, noch viel geladener als sonst und deutlich neben der Spur, sollte sich zügig bewahrheiten. Kaum hatte sie uns dazu gebracht, mit ihr einkaufen zu gehen, legte sie auch schon den fünften Gang ein und brauste mit hundertachtzig Sachen drauflos. Direkt hinein in das Geschäft und dort zielstrebig den Mittelgang entlang zur Exklusivabteilung. Mom und ich kamen kaum nach, solch eine Geschwindigkeit legte Emily an den Tag. »Ahm, Mom, brennt's irgendwo?« Mom bemühte sich redlich, Schritt zu halten — aber das war kaum möglich. Grandma bremste weder ab noch drehte sie sich kurz um, sie schrie nur, dass wir viel zu erledigen hätten, und raste weiter. Wenig später schloss sich uns eine Verkäuferin an, die Grandma allem Anschein nach gut kannte. »Mrs Gilmore, hätte ich wissen sollen, dass Sie uns heute beehren?« Sie war die Liebenswürdigkeit in Person, rannte neben Grandma her und hielt in ihrer Hand einen Stift und einen Block. Anscheinend war sie es gewohnt, von meiner Grandma im Stechschritt Bestellungen entgegenzunehmen, und anscheinend waren das gerne so viele, dass man sie direkt notieren musste, um nicht alle zu vergessen. »Nein«, rief Grandma. »Nur wenn Sie hellsehen können.« »Und wofür interessieren wir uns heute?«, wollte die Verkäuferin wissen Emily schnaubte. »Besser gesagt: Wofür interessieren wir uns nicht?« Das war eine klare Ansage — und eine - 159 -
Ansage ganz nach dem Geschmack des Kaufhauses. Weiterhin im Stechschritt deutete Grandma kurz auf Mom und mich, machte uns mit der Verkäuferin bekannt und stellte dann ihre Lieblingsfrage: »Was haben Sie Neues? Ich will alles genau wissen!« »Ein Porzellanservice, gerade eingetroffen, alles noch in Kisten. Es schreit förmlich nach Emily Gilmore. Entworfen 1870 für den Schah von Persien. Handbemalt. Exquisit. Möchten Sie es sehen?« »Nicht nötig!«, rief Emily. »Ich nehme eins für zwölf Personen. Dazu Suppenterrine, Sauciere und so weiter. Was noch?« Die Verkäuferin Lisa rief nun ihre Kollegin Doreen herbei, die sofort angelaufen kam und Grandma rote Glasäpfel präsentierte. »Von Giorgio Baldi, einem venezianischen Designer. Es gibt nur eine limitierte Auflage von achtzehn Stück.« »Ganz entzückend«, konstatierte Emily, »ich nehm sie alle mit.« Plötzlich blieb sie abrupt stehen, und Mom krachte in sie hinein, was ihr einen vorwurfsvollen Blick einbrachte. Als Mom daraufhin entschuldigend die Schultern zuckte und erklärte, dass Emilys Bremslicht ausgefallen wäre, war Grandma allerdings schon beim nächsten Punkt. In der Herrenabteilung hatte sie einen Verkäufer stehen sehen. »Sie da!«, rief sie herrisch. »Sie haben die Maße von Richard Gilmore gespeichert. Packen Sie die neuesten Brionis in verschiedenen Farben ein und schreiben Sie's auf unsere Rechnung.« Brionis sagte mir rein gar nichts, und ich fragte Mom, was das wäre. »Sechs Monatsraten für mein Auto plus 'n Neuwagen«, erklärte Mom, dann lauschten wir weiter mit offenem Mund den Bestellungen meiner Grandma. - 160 -
»Dazu noch Accessoires und drei Paar Slipper, italienisches Leder, samtweich. Besser noch vier. Ach was, ich nehme sechs! Ach, und Schmuck. Legen Sie eine Auswahl an Schmuck dazu, passend für einen Mann mit Bärtchen. Was wäre das wohl? Armbänder, vielleicht ein Siegelring? Und einen Bartkamm. Nehmen Sie aber den teuersten, den Sie haben!« Emilys Stimme war im Laufe ihrer Bestellung lauter und lauter geworden - den letzten Satz schrie sie geradezu und japste nach Luft. Dann drehte sie sich zu uns um. »Kommt, weiter!« »Hat Dad gesagt, er will das alles haben?«, fragte Mom. »Er hat keine Ahnung, was er will, Lorelai. Also such ich etwas für ihn aus!« Das nächste Objekt, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein antik aussehender Globus, der zur Dekoration herumstand. »Entschuldigen Sie bitte!«, rief sie dem Verkäufer zu. »Ich will den hier.« »Tut mir Leid, Ma'am, der ist nicht verkäuflich. Das ist nur Deko.« Emily schnaubte nur verächtlich auf. »Alles ist verkäuflichjunger Mann.« Mom und ich blickten uns nur entgeistert an. Wir wussten, dass Grandpa schon sechs Globen besaß — was sollte er also mit dem siebten? Als wir Grandma unsere Zweifel anmeldeten, zuckte sie nur die Schultern. »Dann kriegt ihn eben Rory. Sie studiert. Da kann sie so was gebrauchen.« Ich betrachtete mein Geschenk mit gemischten Gefühlen. Erstens war der Globus viel zu groß und zu wuchtig für meinen sehr begrenzten Platz in Yale, und zweitens waren noch nicht mal richtige Länder darauf zu sehen. - 161 -
Aber das interessierte Grandma nicht. Ihr ging es lediglich darum, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld auszugeben. »Sucht euch was aus!«, rief sie uns nun schon zu. »Alles, was ihr wollt, ganz egal.« Sie durchstöberte bereits eine Schmuckauslage, auf der Suche nach einer passenden Diamantuhr für Mom. »Mom, wir haben kein Geld für so was!«, wandte Mom ein und wollte sie bremsen, doch Emily schnaubte nur, dass Grandpa das alles bezahlen würde, und nahm dann einen Tisch voller prächtiger Hüte in Augenschein. »Helfen Sie uns, bitte!«, rief sie einer Verkäuferin zu und wollte dann von mir wissen, ob ich gerne Hüte tragen würde. Ich stotterte ein wenig herum, denn eigentlich besaß ich nur Wintermützen, keine eleganten Hüte. Der Hut, den Grandma aber für mich im Visier hatte, war außerordentlich hübsch. Zart und elegant, klassisch und trotzdem mit französischem Chic. »Ich will sehen, wie ihr der steht«, meinte Grandma, setzte mir den Hut auf und betrachtete mich angetan. »Das sieht gut aus.« Ich gab ihr Recht und betrachtete mich verzaubert im Spiegel. Ich sah sofort aus wie eine richtige Lady, eine richtige mondäne Lady, die wahlweise auf dem Weg war zur Pferderennbahn oder zu ihrer Verabredung mit Roz Russell. Während ich mich noch im Spiegel betrachtete, als wäre ich Narziss' Schwester, kam schon Lisa, die nette Verkäuferin, angerauscht. »Hier, diese Halstücher passen dazu. Und Sie brauchen natürlich auch Handschuhe.« Emily machte eine Geste, als wolle sie die Welt besitzen. »Wir nehmen sie alle«, sagte sie im Ton eines Kolonialherrn. - 162 -
»Siehst du übrigens die Schrauben, die hier rumfliegen? Das sind Moms! Die hat sie nämlich alle locker.« Mom war zu mir getreten und sah mich streng an. »Lass dich nicht einwickeln. Das ist der reine Irrsinn.« »Aber dieser Hut gefällt mir. Und es ist nur ein Hut«, antwortete ich. »Er ist ein Symbol. Wir wissen nur nicht, was er symbolisiert. Widerstehe!« Mom konnte nicht länger auf mich einreden, denn Emily zitierte sie zu sich. »Lorelai«, rief sie. »Du brauchst eine Uhr.« »Ich trag aber keine Uhren«, erwiderte Mom, doch als Grandma wissen wollte, ob sie überhaupt eine besäße, und Mom zugeben musste, dass dem nicht so war, hatte sie verloren. Für Grandma stand fest, dass ihre Tochter dringend eine Uhr brauchte. Und nicht irgendeine, es sollte eine ganz besondere sein. »Diese haben keine Diamanten. Wo sind die mit den Diamanten?«, wollte sie von der Verkäuferin wissen. »Mom, ich kauf keine Uhr mit Diamanten.« »Du sollst sie annehmen und nicht kaufen, Lorelai.« »Ich nehme sie nicht an.« »Ich kaufe dir diese verdammte Uhr!« Grandma verlor die Fassung. Sie stand völlig neben sich. »Die da. Packen Sie sie mir ein!«, herrschte sie die Verkäuferin an und machte sich schon wieder auf zum nächsten Stand. Mom, die bei den Uhren zurückgeblieben war, beugte sich über die Theke zur Verkäuferin hinüber. »Nehmen Sie die verdammte Uhr zurück, wenn ich sie nicht will?«, fragte sie die Verkäuferin, die daraufhin nickte. »Danke.« Dann kam Mom zu mir und wollte wissen, ob ich mitgezählt hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Es ist zu viel.« - 163 -
Mom überlegte, was von den Einkäufen sie noch zusammenbrachte. »Sie hat mir vier Cocktailkleider gekauft, zwei Abendkleider, und wenn ich mich nicht irre, acht Paar Ohrringe.« »Übrigens hat sie dir ein Hochzeitskleid gekauft, als du abgelenkt warst«, erklärte ich ihr. »Vera Wang.« In diesem Moment kam Emily zu uns zurück ... »Kinder, kommt, nicht einschlafen! Hört auf zu trödeln und sucht euch ein paar Schuhe aus.« Sie bahnte uns den Weg in die Schuhabteilung, hielt dort ein Paar atemberaubende Stilettos wie eine Siegestrophäe in die Höhe und blickte Mom an. »Diese Manolo Blahniks würden dir sehr gut stehen.« Mit Moms Beherrschung und Zurückhaltung war es vorbei, sie war auch nur eine Frau, und bei Manolo Blahniks konnte auch sie nicht widerstehen. »Oh, die muss ich haben. Muss ich haben. Muss ich haben«, stöhnte sie und schnappte sich die Schuhe. »Du hast mir gesagt, ich soll widerstehen«, raunte ich ihr zu und sah sie vorwurfsvoll an. »Ja, aber das war, bevor ich die gesehen hatte! Das sind Kunstwerke. So was gehört in den Louvre.« Ein paar Sekunden später rauschte auch schon wieder Lisa an. In der Hand hielt sie die roten Glasäpfel, die — immer vorausgesetzt, man stand auf rote Glasäpfel — nett anzusehen waren und wohl tischdekorativen Zwecken dienen sollten. »Mrs Gilmore, tut mir Leid«, begann sie mit einem Ausdruck des größten Bedauerns. »Wir haben nur vier von den venezianischen Äpfeln da.Wenn Sie die anderen auch noch wollen, können wir sie bestellen.« »Geben Sie mir die vier jetzt. Die anderen lassen Sie per Eilkurier liefern, egal was es kostet.« Emily wollte - 164 -
schon zum nächsten Stand rennen, als Mom sie am Arm festhielt. »Hey, Mom, ganz kurz, bitte«, meinte sie und bemühte sich, ihre Stimme ganz, ganz ruhig klingen zu lassen. »Mom, wozu brauchst du denn so dringend diese albernen Glasäpfel?« »Die sind nicht albern, und ich will sie haben. Das ist der Grund.« »Ja, aber ich glaube, deine Kreditkarte glüht jetzt schon wegen irgendwelcher Sachen, die ganz überflüssig sind. Das ist doch verrückt.« »Verrückt? Das findest du also verrückt?« Emilys Stimme war so laut, dass man sie auf der ganzen Etage hören musste. Es schien, als hätte sie nur auf so ein Stichwort gewartet, denn es folgte eine Explosion, die es in sich hatte, ach, was sag ich? Es folgte der Supergau. »Das ist nicht verrückt!«, schrie sie los. »Dieses dumme Bärtchen ist verrückt, verstehst du? Und die Arbeit deines Vaters ist verrückt — das ist verrückt! Er müsste ein bisschen kürzer treten, doch er zieht mit Jason von einem Club zum anderen, trifft sich mit Moby, geht heimlich mit anderen Frauen essen und lügt mich deswegen an!« »Mom, krieg dich wieder ein.« Mom beobachtete aus den Augenwinkeln nervös die Menschen, die in immer größerer Zahl stehen geblieben waren und Grandma mit offenem Mund zuhörten. Aber alle Versuche, sie zu beruhigen, waren zwecklos. »Wieso sollte ich? Bist du etwa auf seiner Seite? Gefällt dir dieser Bart?« Emily schnappte nach Luft. »Ich sollte durch die Bars ziehen und mich mit Moby treffen! Da würde er Augen machen.«
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»Mom, ich hab doch nur gesagt, du sollst das mit dem Einkaufen nicht so übertreiben. Mach kein Drama draus.« »Wieso soll ich nicht einkaufen gehen? Richard zufolge tu ich ohnehin nichts anderes! Er hält sich ja auch nicht zurück. Er hat ein ganz neues Leben. Er hat Pennilyn Lott, er hat Jason, er hat sein Bärtchen! Ja, er hat alles, und was hab ich? Vielleicht sollte ich auch arbeiten gehen, dann hätte ich was vom Leben. Ich könnte hier auch Schuhe verkaufen, genauso gut wie Eduardo!« Emily blickte den verdutzen Schuhverkäufer an und wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch ein kleines bisschen lauter. »Ich sollte mich bewerben! Holen Sie mir ein Bewerbungsformular! Los! Ich hasse dieses Bärtchen! Er weigert sich, es abzurasieren.« »Mom, legen wir jetzt mal eine Pause ein?« Mom war zu ihr getreten und nahm sie am Arm wie ein kleines Kind. Doch das kleine Kind steckte grade mitten in einer Trotzphase. »Nein, ich will keine Pause!« »Aber ich, mir tun die Füße weh.« »Dann kauf dir eben neue Schuhe!« : »Komm mit.« Mom schob Grandma sanft, aber bestimmt in Richtung Rolltreppe, machte den in Reih und Glied stehenden Verkäufern und Verkäuferinnen Handzeichen, dass sie die Einkäufe später abholen käme, und verließ dann mit Grandma und mir im Schlepptau das Geschäft. Ich wusste gleich, wohin die Reise ging. Wir mussten nur die Rolltreppe Richtung KeUergeschoss betreten, da war mir klar, was das bedeutete: superviel, superleckeres, superungesundes Fastfood! Grandma hatte davon natürlich keine Ahnung.
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»Wo gehen wir denn hin?«, fragte sie verwirrt. »Wir hätten die Einkäufe mitnehmen sollen. Ich bin völlig durcheinander. Wo sind wir?« Sie blickte sich um, sah die Theke und die bunten Lichter und verstand die Welt nicht mehr. »Was ist das?« »Hier gibt's was zu essen«, erklärte ich, und Grandma wollte erstaunt wissen, seit wann es das alles schon hier in der Mall gäbe. »Du bist noch nie hier gewesen, Mom?« Emily schüttelte immer noch völlig verwirrt den Kopf. Sie war wie ausgewechselt. Eben noch laut und geradezu Furcht einflößend, nun leise, verwirrt und beinahe ängstlich. »Wo isst du denn nach deinen Einkaufstouren?«, wollte Mom wissen. »Ich gehe für gewöhnlich in ein Restaurant.« »Obwohl dieses Paradies der internationalen Küche so nah ist?« Emily guckte sich irritiert um. »Aber es sieht aus wie in einer Cafeteria.« Sie fuhr mit der Hand über eine Tischplatte und dann über eine Stuhllehne. »Alles Plastik.« »Plastik ist ein wichtiger Bestandteil unserer wunderbaren Zukunft«, erklärte ich rasch, und Mom ergänzte, dass wir irgendwann alle in Plastikhäusern auf dem Mond leben würden. »Was redet ihr da bloß?«, fragte Emily leise. Als ich ihr erklärte, dass wir sie nur auf den Arm nehmen würden, bat sie uns, das zu lassen. Mom und ich nickten uns zu, sie tat uns mit einem Mal schrecklich Leid. Emily fühlte sich anscheinend von Richard aufs Abstellgleis geschoben: abgelegt, vergessen und eingetauscht gegen Jason, Moby und Pennilyn Lott. Sie stand vor einem - 167 -
riesigen Scherbenhaufen, und all das, an was sie früher geglaubt und was ihr Sicherheit gegeben hatte, drohte wegzubrechen. Wir beschlossen, erst einmal das Essen zu organisieren, und schnell befanden wir, dass wir von allem etwas haben wollten. Marokkanisch, chinesisch, mexikanisch — beim Fastfood waren Mom und ich ungefähr so hemmungslos wie Grandma bei venezianischen Glasäpfeln. Wir wollten alles! Als Mom sich schon auf den Weg zur Theke machen wollte, zückte Grandma ihre Karte, doch Mom schüttelte den Kopf. »Oh, nein, in Mo's Moroccan Palace nehmen sie leider keine Kreditkarten. Und außerdem geht das auf uns!« Mom nahm mich beiseite, befahl mir, Grandma nicht aus den Augen zu lassen und aufzupassen, dass sie nicht abhaute, dann marschierte sie Richtung Theke. Als sie voll beladen zurückkam, klemmte zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter ihr Handy, in das sie mit energischer Stimme hineinsprach. »Die Anzeige darf nicht mit dieser Farbgebung geschaltet werden. Das Hotel hat ja 'nen Stich ins Purpurfarbene. Ja, ich weiß, aber ich bezahle nicht für 'ne misslungene Anzeige. Ist das klar?« Sie stellte das Tablett auf unseren Tisch und lächelte uns entschuldigend an. Dann wandte sie sich erneut ihrem Gesprächspartner zu, und sofort wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. »Das sieht grauenhaft aus! ... Verstehe ... Er soll mich möglichst bald anrufen. Dann können wir das klären, okay? Ja, danke. Bis dann.« Das Telefonat war beendet, und Mom setzte sich zu uns. »Was ist das alles?«, fragte Emily verwirrt. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« »Fang doch oben an und hör ers| auf, wenn du in den Tisch beißt«, schlug Mom lachend vor. Und als Emily - 168 -
wissen wollte, was in den ganzen Bechern wäre, erklärte sie den Inhalt. »Also, da hätten wir Soda, Eistee, Orangensaft, Limonade ...« Mom kam nicht weiter, denn Grandma deutete auf den Orangensaft. »Ich koste das hier.« Sie schnappte sich den Becher und trank wahrscheinlich das erste Mal mit einem Strohhalm. »Du meine Güte, der schmeckt ja gut!«, meinte sie dann und blickte Mom an. »Dein Vater und ich kennen den Mann, dem unter anderem ein paar Dutzend Stände gehören, an denen dieser Saft verkauft wird. Jetzt kann ich ehrlich sagen, dass mir sein Produkt schmeckt.« Mom und ich grinsten uns an. Wir hatten das Gefühl, dass das jetzt genau das Richtige war. Dann fiel mir auf, dass uns noch Servietten fehlten und Peperoni zum Nachwürzen. Ich stand auf und ließ Mom und Grandma alleine am Tisch. »Also, hau rein!«, munterte Mom Emily auf und deutete auf die verschiedenen Gerichte. »Es gibt Schweinefleisch süß-sauer, Pizza und Wraps. Ich hab vergessen, womit sie gefüllt sind, aber es ist bestimmt ungesund. Ach ja, und Eis gibt's da hinten auch.Wir können uns nachher welches holen, wenn du willst.« »Ist gut«, antwortete Emily leise. Dann blickte sie Mom traurig und betreten an. »Also, wie laut war ich gerade?« »Naja, du warst zu verstehen.« »Wenn ich sehen würde, dass sich jemand so aufführt, würde ich sofort den Sicherheitsdienst holen.« Mom legte tröstend ihre Hand auf Emilys Arm. »Es war nicht weiter schlimm, Mom. So laut war es auch wieder nicht. Das haben die doch schon vergessen.«
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Grandma nickte, aber man sah ihr an, dass ihr der Ausraster immer noch unglaublich peinlich war. Dann jedoch wollte sie wissen, was das für ein Telefongespräch gewesen sei, das Mom vorhin geführt hatte. »Ach, da ging's nur um eine Anzeige für das Hotel«, erklärte Mom. »Das Bild hatte einen Stich ins Purpurfarbene, wie 'ne Aubergine, als hätte Prince das ausgesucht. Furchtbar.« »Klingt ja grauenvoll«, pflichtete ihr Grandma bei, obwohl sie mit Prince bestimmt nicht »Purple Rain« verband. Mom nickte. »Ja, aber das ist deren Fehler — eine der vielen erfreulichen Kleinigkeiten, die mir jeden Tag versüßen.« »Du warst unglaublich bestimmt. Energisch. Mir hat es gefallen, wie du das geregelt hast«, meinte Emily, und Mom musste schlucken. Sie hatte noch nicht oft ein Kompliment von ihrer Mutter bekommen. »Naja, ich hab von der Besten gelernt.« Emily verstand nicht und wollte wissen, wer Mom das beigebracht hatte. Mom guckte Emily von der Seite genau an. »Von der Lady, die gerade ihren Hamburger mit Messer und Gabel isst.« Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Von dir.« »Ach, bitte. Ich scheuche Hausmädchen und Verkäufer herum«, winkte Emily traurig ab. »Das ist schon was anderes. Ich hab nie was Sinnvolles getan.« Mom wollte ihr widersprechen, doch Grandma ließ sich in ihrer Selbstanklage nicht unterbrechen. »Richard hat Recht«, meinte sie. »Ich kaufe ein, Dinge, die ich nicht haben will. Was anderes hab ich nicht.« - 170 -
»Nein, Mom!«, fuhr Mom jetzt auf. Grandma tat ihr unendlich Leid. »Du hast Freunde und 'ne Familie. Alle sind gern mit dir zusammen. Und, und du hast ein Haus, das du liebst. Du, du hast ein eigenes Leben. Du kannst dir'n Hund zulegen, wenn du willst. Hier gibt's eine ganz tolle Zoohandlung.« Sie streichelte über Emilys Arm. »Du hast die Fassung verloren, Mom. Du kannst gerade nicht klar denken.« »Würde er sich doch nur den Bart abrasieren!«, stöhnte Grandma. »Und dann ist alles wieder gut, wenn der Schnurrbart weg ist? Mom, rede doch einfach mit ihm. Du brauchst ein Gespräch. Zwing ihn dazu! Du musst richtig mit ihm reden. Streite nicht, mach keine schnippischen Bemerkungen, erwähne Moby nicht. Sag, was dich stört.« Sie nickte Grandma aufmunternd zu, die mit wachsendem Erstaunen den Rat ihrer Tochter angehört hatte. Grandma sah mit einem Mal meine Mom mit ganz anderen Augen. Mit einem Mal war sie nicht mehr nur die Tochter, die sich mit sechzehn Jahren hatte schwängern lassen und auch sonst nicht dem entsprach, was sie sich erhofft hatte — nein. Mit einem Mal sah sie Mom als das, was sie war. Eine tolle Frau, die trotz aller Steine, die ihr in den Weg gelegt wurden, ihre Träume nie aufgegeben hatte und dabei war, diese selbst-bewusst zu verwirklichen. In diesem Moment kam ich zurück an den Tisch. »Ich hab Peperoni, Servietten und Lous Telefonnummer. Er sagte, ich soll sie dir geben.« Ich reichte Mom den Zettel und blickte dann von ihr zu Grandma und umgekehrt. »Was hab ich verpasst?«
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»Ich hab bewundert, wie deine Mutter ihr Leben meistert«, antwortete Emily zu unserem großen Erstaunen. »Oh, das tu ich jeden Tag«, antwortete ich, und als ich Mom daraufhin ansah, merkte ich, dass sich ganz verstohlen eine kleine Träne aus ihrem Augenwinkel den Weg auf ihr lächelndes Gesicht bahnte. Als sich Grandma und Grandpa an diesem Abend im Esszimmer an dem riesigen Esstisch niederließen, wollte Grandma Moms Ratschlag beherzigen. Wieder und wieder hatte sie sich eingebläut, heute keine spitzen Bemerkungen zu machen und mit ihrem Mann, meinem Grandpa Richard, einen angenehmen Abend zu verbringen. Aber wie das oft so ist, kam alles ganz anders. »Hast du die Sache mit den Gärtnern schon geregelt?«, wollte Richard wissen und säbelte sich ein Stück von dem Braten ab. »Noch nicht«, antwortete Emily. Richard passte die Antwort nicht. »Hm. Wir müssen was tun. Die Kletterpflanzen wuchern wie verrückt.« Und wenn Grandpa in diesem Zusammenhang »wir« sagte, meinte er immer Grandma. Diese begriff, erinnerte sich eilig an ihr Vorhaben und nickte dann. »Ich regle das«, antwortete sie und aß eine kleine Gabel voll. »Es wäre schön, wenn das bei meiner Rückkehr erledigt wäre«, ließ sich daraufhin Richard vernehmen — und Grandma fiel es deutlich schwerer, weiterhin charmant zu bleiben. Aber sie riss sich zusammen. »Rückkehr?«, fragte sie erstaunt. »Wo willst du denn hin?«
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»Jason und ich treffen uns mit Klienten in Manhattan. Da gibt's wohl ein neues Restaurant, in Tribeca oder so. Die Gegend ist stark im Kommen. Ich übernachte in der Stadt und werde den Zug am nächsten Morgen nehmen. Ist das in Ordnung für dich?« »Sicher. Wieso nicht?«, erwiderte Grandma traurig. Und dann unternahm sie einen letzten Versuch, das Gespräch auf etwas Schönes zu lenken. Sie deutete lächelnd auf die neuen venezianischen Äpfel, die sie höchstpersönlich zur Tischdekoration arrangiert hatte. »Wie gefallen dir die?« »Hm?« Grandpa machte ein fragendes Gesicht. »Die Äpfel.« »Oh«, antwortete Grandpa abwesend. »Die fand ich schon immer sehr schön.« Und damit war auch dieser Abend zu Emilys vollkommener Enttäuschung verlaufen. Konnte man es ihr verübeln, dass sie sich in Kaufhäuser flüchtete und Einkaufstouren absolvierte, die einen Hochleistungssportler an seine Grenzen treiben würden? Konnte man es ihr verübeln, dass sie manchmal die Beherrschung verlor und ungerecht und garstig wurde? Eigentlich nicht. Denn Grandpa hatte sich zusammen mit seinem neuen Kompagnon und seinem neuen Schnauzbart offenbar auch ein neues Leben zugelegt. Ein Leben, in dem Emily keine Rolle mehr spielte ... Wie es nun mit den beiden weitergehen würde, das wussten weder Mom noch ich noch meine Großeltern, dass es so aber nicht mehr lange weitergehen konnte, war, glaube ich, uns allen klar. Liebesbeziehungen waren eben mit das Komplizierteste, was man sich vorstellen konnte, denn mal ehrlich: Begreift irgendwer, wie die Liebe funktionierte? Wann sie geht und wann sie kommt? Und vor allem: warum? - 173 -
Ich wusste es jedenfalls nicht. Aber was ich wusste, war, dass ich inständig hoffte, dass die Krise in der Ehe meiner Großeltern überwunden würde. Es musste doch wenigstens eine Beziehung im Hause Gilmore funktionieren! Wo blieben sonst die Vorbilder?
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