Christian Schwarz
Höllische Visionen Professor Zamorra Hardcover Band 24
Zaubermond Verlag
Eine Frau bekommt ein ne...
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Christian Schwarz
Höllische Visionen Professor Zamorra Hardcover Band 24
Zaubermond Verlag
Eine Frau bekommt ein neues Herz transplantiert und wird schon kurze Zeit später von höllischen Visionen geplagt. Ist ihre Spenderin tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen? Oder wurde sie in Wirklichkeit von einem Dämon ermordet? Gibt es tatsächlich ein Zellgedächtnis? Oder spielen noch ganz andere Dinge eine Rolle? Die verzweifelte Frau sucht Hilfe bei Professor Zamorra und Nicole. Die beiden machen bei ihren Recherchen Bekanntschaft mit einer Mädchenfußballmannschaft, deren Spielerinnen mit einem unheimlichen Fluch belegt zu sein scheinen, und stoßen schließlich auf ein tödliches Geheimnis aus tiefster Vergangenheit, das in Afrika seinen Anfang nahm …
1. Sportgelände Rosna, Baden-Württemberg, März 2007 Klara klammerte sich so fest an die Stange, dass ihre Hände verkrampften. Weiß traten die Knöchel hervor. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, die Arme zitterten leicht. Die Anfeuerungsrufe ihrer Mitspielerinnen drangen nicht bis zu ihr durch. Dabei stand sie mitten unter ihnen. Doch im Moment war die Sechzehnjährige nur körperlich auf dem wunderschönen Waldsportplatz in Rosna anwesend. Ihr Geist raste im Zickzack durch dichten, grünen Dschungel, gejagt von etwas unfassbar Grauenhaftem. Das schwarze, wabernde Ding war ihr dicht auf den Fersen, ließ sich weder in den Baumkronen noch im bodennahen Wurzelgewirr abschütteln. Es hechelte und geiferte, es brüllte und knurrte. Affen fielen tot von den Ästen, als das Ding sie berührte. Andere suchten kreischend das Weite. Ein palisadenbewehrtes Dorf auf einer Lichtung tauchte auf. Hunde bellten plötzlich wie irr, fletschten die Zähne, zogen dann den Schwanz ein und flüchteten winselnd. Sie sah ebenholzschwarze Menschen in bunten Tüchern, die kreuz und quer durcheinander liefen und etwas schrieen, das sie nicht verstand. Einige strauchelten und fielen, manche hielten abwehrend die Hände vors Gesicht. Ein alter Mann, der von oben bis unten mit roter Farbe bemalt war, streckte ihr einen einfachen Holzstab entgegen. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Klara spürte instinktiv, dass dieser Zauber nicht ihr galt, sondern dem Ding, das sie jagte. Ein weißer Blitz zuckte. Er schlug direkt in den Stab. Von dort floss die Energie in das Haupt des Alten und zerriss es in tausend Fetzen. Lautlos sackte der kopflose Torso zusammen, während der Stab in Flammen aufging und verkohlte. Das schwarze Etwas
änderte seinen Kurs. Es fing den gelblich leuchtenden Nebel ein, der sich von dem Getöteten löste und nach oben strebte. Das Zucken und Zappeln nützte ihm nichts. Es gab kein Entkommen. Klaras Bewusstsein, das von einer Pein geplagt wurde, die weit über normale Todesangst hinausging, sah seine Chance. Es stieg steil nach oben und floh im nächsten Moment viele hundert Kilometer nach Westen. Weite Grassavannen mit Millionen von Tieren flogen vorbei und wichen erneut dichtem Dschungel, der bis an den Horizont reichte. Hohe Berge tauchten auf. Klaras Ich ließ sich aus einer Baumkrone nach unten sacken. Der menschliche Geist durchdrang die mächtigen Äste, das Laub und den Stamm, verschwand im Boden, huschte durch steil abfallende, schroffe Schluchten und verharrte schließlich in einer Felsenhöhle, deren Eingang von einem Gewirr aus Lianen verdeckt wurde. Ruhe. Klara entspannte sich etwas. Hatte sie die furchtbare Präsenz tatsächlich ausgetrickst? Nein! Schon der nächste Moment brachte ernüchternde Klarheit. Das Etwas tauchte direkt vor ihr auf und nagelte sie nun fest. Gegen die Angst machenden Energien kam sie nicht an. Sie saß endgültig in der Falle. Das Mädchen erkannte nun, dass die Wesenheit sie jederzeit hätte töten können und bisher nur ein wenig mit ihr gespielt hatte. Das grausamste aller Spiele: Katz und Maus … Nun sah sie das Ding zum ersten Mal genauer. Es war viel schwärzer, als Nacht jemals sein konnte. In seinem Innern waberte es. Strukturen, die wie Nebel aussahen, verdrehten sich ineinander, nahmen Formen an, die menschlichen Geist zum Wahnsinn treiben konnten und lösten sich blitzschnell wieder auf. Ganz weit hinten in diesem Wabern entstand ein Punkt. Er dehnte sich explosionsartig nach vorne aus. Eine grausam aussehende Fratze bildete sich, ein ausgestreckter Arm, der auf das Mädchen zeigte. Blitzschnell wurde er länger, legte sich auf ihre Schulter. Etwas begann an ihr zu zerren. Klara wusste genau, dass es nun so weit war. Der Tod streckte seine Klauen nach ihr aus. Sie schrie und schrie und schrie!
»Aua!« »Was …?« Schlagartig fand das Mädchen in die Wirklichkeit zurück. Ihr Schreien, das nur in ihrer inneren Welt stattgefunden hatte, verstummte und das Bild der tödlichen Schwärze wich dem des Sportplatzes, auf dem eine bereits kräftige Frühlingssonne den letzten Schnee weg schmolz. Erwin Lindemann stand direkt neben ihr. Seine Pratze lag auf ihrer Schulter. Und sie schlug wie eine Geistesgestörte darauf ein! Der Trainer fing ihre Hand ab. Mit eisernem Griff umklammerte er ihr Gelenk. »Sag mal, hast du sie noch alle?« Klara sackte zusammen. »Ich … ich … Entschuldigung«, stammelte sie. »Ich war gerade in Gedanken.« Die anderen Ersatzspielerinnen starrten sie an. Auch der Trainer sah ihr besorgt ins Gesicht. »Stimmt was nicht, Klara? Ist dir nicht gut? Soll ich lieber eine Andere spielen lassen?« »Nein … nein, es geht schon wieder. Nochmals Entschuldigung.« Sie versuchte zu lächeln. Es misslang gründlich. Noch immer wirkte die seltsame Vision nach. Aber sie verblasste allmählich. »Natürlich will ich spielen, Erwin. Du kannst mich einwechseln.« »Ganz sicher?« »Ja, klar.« »Also gut. Ich hoffe, dass du keinen Sonnenstich erwischt hast. Du kommst zur zweiten Halbzeit für Soffl. Wärm dich jetzt auf und trink noch mal was.« Klara nickte. Sie ließ Isogetränk in ihre Kehle laufen. Es schmeckte so brakig wie an einer ostafrikanischen Wasserstelle. Dieser Vergleich, der einfach so in ihr Gedächtnis gekommen war, erschreckte sie über alle Maßen. Nicht schon wieder … Was war nur mit ihr los? Bisher hatten sich ihre diffusen Kenntnisse von Afrika darauf beschränkt, dass es sich um einen mit Dschungel bewachsenen Kontinent handelte, auf dem Giraffen und Elefanten wohnten. Wieso wusste sie nun aber plötzlich so genau, wie es dort aussah? Und warum wurde sie von diesem Ding gejagt, das sie vor Angst fast sterben ließ? Das Mädchen schüttelte unwillig den Kopf. Wahrscheinlich waren es die Nachwirkungen der Freddy-Krüger-
Filme, die sie sich vor zwei Tagen rein gezogen hatte. Und ziemlich müde war sie ja auch. Ja, das musste es sein. Das war die Erklärung für diese fürchterliche Vision! Klara atmete auf. Wenn sich Dinge erklären ließen, verloren sie im Allgemeinen ihre Schrecken. Brav trabte sie hinter der Ersatzbank auf und ab. Dabei versuchte sie sich wieder aufs Spiel zu konzentrieren. Die Mädchen in den blaugelben Trikots griffen an. Ihre Kameradinnen. Die in den rotweißen stemmten sich verzweifelt dagegen. Die gegnerische Torhüterin konnte Denises Spannschuss gerade noch zur Ecke abwehren. »Was ein Geschoss!«, rief Leo Kugel und sprang hoch. Der Erste Vorsitzende des FV Weithart klatschte begeistert in die Hände, schaute sich um und grinste. Seit »seine Mädle« alles wegputzten, was des Weges kam, schaute er sich jedes Heimspiel an. Dabei war er die letzten Jahre nicht in Verdacht geraten, Fan des Mädchenfußballs zu sein. »Wenn die Weiber kicken, sieht's aus, als wenn Seekühe Ball spielen«, war immer sein Standardspruch gewesen. Und mehr als die Hälfte der einhundert Zuschauer, die sich jetzt auf den Bänkchen am leicht ansteigenden Hang sonnten oder ein kleines Stück dahinter im Schatten des Waldrandes standen, hatten ähnliche Ansichten gehabt. Jenny brachte die Ecke herein. Butterweich flog der Ball auf den langen Pfosten. Kathrin stieg hoch, übersprang ihre um einen halben Kopf größere Gegnerin und rammte den Ball mit der Stirn unter die Latte. Die Rotweißen ließen die Köpfe hängen. Ihr Übungsleiter trat vor Wut gegen eine Werbetafel. Bei den Blau-Gelben bildete sich hingegen eine Jubeltraube. Auch Trainer Lindemann reckte beide Fäuste in die Höhe. Dann klatschte er die Ersatzspielerinnen ab. »Das hat sonst nur die Maria so perfekt gekonnt«, murmelte er. Einen Moment lang wurden seine Augen feucht. Klara spürte kaum Begeisterung. Dafür wieder das beklemmende Gefühl diffuser Todesahnungen, die sie schon seit dem Aufwachen heute Morgen verfolgte. Erneut drängten sich Bilder in ihren Geist, die sie nicht wollte. Ihre Ahnungen verwandelten sich plötzlich in sehr real wirkende, fast greifbare Szenen. Verzweifelt versuchte sie
sie zu unterdrücken. Es klappte zum zweiten Mal nicht. Sie sah sich, wie sie vor dem heutigen Spiel das Haus verließ und ihre Mutter noch einmal ganz fest umarmte. Tränen flossen. Irgendwie ahnte sie, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Der Friedhof tauchte auf. Ein ewig langer Trauerzug folgte ihrem Sarg. Ihre Eltern gingen darin, ihr Bruder, die Fußballmädchen. Alle hatten sie rot verweinte Gesichter. Sie sah sich selbst im Sarg liegen. Auf dunkelrotem Samt. Friedlich, bleich, mit gefalteten Händen. Und über allem lag das melancholische Gefühl, nie mehr das erste Tor zu schießen, das sie sich so sehr wünschte. Immerhin verblassten die Bilder, nachdem sie sie hatte mit ansehen müssen. So war es auch bei der ersten Vision gewesen. Der Halbzeitpfiff ertönte. Die schwitzenden Weithart-Spielerinnen sammelten sich um die Trainerbank, schlüpften in ihre Trainingsanzüge und stemmten sich die Mineralwasserflaschen ins Gesicht. »Große Klasse, Mädels«, sagte Lindemann und klatschte in die Hände. »Wir spielen genauso konzentriert weiter. Denise und Jule, ihr geht noch öfters auf die Flügel als in der ersten Halbzeit und zieht von dort die Bälle rein. Und Kathrin hält den Schädel hin. Klar? Hat ja eben wunderbar geklappt. Bei Flanken verhalten die sich wie ein Hühnerhaufen, das habt ihr sicher auch gemerkt. Null Zuordnung. Klara geht ab jetzt ins Mittelfeld und verteilt die Bälle. Wenn wir weiter so Druck machen, sollten wir zumindest nicht mehr verlieren.« Die Mädels grinsten breit. »Kommt, die hauen wir jetzt zweistellig weg«, sagte Denise. »Die machen wir alle. Klar? Keine Gnade.« »Logisch«, erwiderte Kathrin. Denise war der unumstrittene Kapitän, seit Maria nicht mehr da war. Klara schluckte. Sie trat neben Uta. »Wie steht's denn eigentlich?«, flüsterte sie ihr ins Ohr. Uta grinste breit. »Ich komm mit dem Zählen auch kaum nach. Fünf oder sechs zu null. Laura, wie viel?« »Sechs.« Klara nickte. Ein älterer Mann kam heran. Er schwenkte eine Bierflasche und roch, als habe er heute Nachmittag schon
mindestens fünf davon geleert. Dann klopfte er Lindemann, der angewidert das Gesicht verzog, auf die Schulter. »Super Leistung, Erwin. Vor einem Jahr war das noch ein richtiger Sauhaufen. Aber die hast du grandios hinbekommen. Da müssen eben nur die richtigen Leute ran. Ich schlag dich demnächst als Bundestrainer vor. Ach so, geht ja nicht. Dein Opa war ja mal in der Waffen-SS.« Der Kerl lachte schmutzig. Ein Zug aufkeimenden Ärgers erschien um Lindemanns Mundwinkel. Er packte den Mann blitzschnell am Kragen und zog ihn zu sich her. »Halt bloß dein ungewaschenes Maul, Franz. Wenn du noch mal was in diese Richtung sagst, polier ich dir deine dreckige Fresse. Klar?« Er stieß ihn unsanft weg. Franz Weiß taumelte und fiel hin. Dann putzte er sich den Mund ab, stand auf und ging wortlos weg. »Was glotzt ihr, Mädels? Alles im grünen Bereich. Ich mag's nun mal nicht, wenn man meine Familie beleidigt.« Der Schiedsrichter pfiff zur zweiten Halbzeit. Die WeithartMädchen fassten sich an den Schultern, bildeten einen Kreis und beugten sich nach unten. Denise gab vor. »Wir sind ein Team!«, brüllten sie ihr drei Mal nach. Dann lief das Spiel wieder. Klara fand nicht richtig hinein. Sie war nicht bei der Sache. Mehrere leichte Bälle versprangen ihr. »Jetzt konzentrier dich endlich mal, verdammt«, fuhr Kathrin sie an. »Du spielst wie die letzte Kuh.« Die so Gescholtene schluckte. Unwillkürlich schaute sie zu Lindemann hinüber. Würde Erwin sie wieder runterholen? Bloß nicht. Das wäre die größte Blamage überhaupt. Reiß dich jetzt bloß zusammen, motivierte sie sich selber. Plötzlich erstarrte sie. »Was … ist das?«, flüsterte sie und fröstelte trotz der Hitze. Kam jetzt die dritte Vision? Klara blieb stehen. Sie starrte so intensiv zum Waldrand hinüber, dass sie die Welt um sich herum vergaß. Es war, als blicke sie plötzlich durch einen engen Korridor, der direkt auf das Ziel zu führte und alles Störende ausblendete. Zwischen zwei Bäumen stand ein riesiger schwarzer Mann. Klara spürte instinktiv, dass die brutalen, grausam wirkenden Gesichtszüge sein wahres Wesen widerspiegelten. Eine
Maske aus weißer Farbe bedeckte den oberen Teil seines Gesichts. Er trug ein orangegelbes Leinengewand, das die mächtigen Arme aussparte. Muskeln, die Arnold Schwarzenegger wie einen Waisenknaben hätten aussehen lassen, spielten an ihnen. Der Unheimliche bewegte sich kurz. Er hob den Speer in seiner Linken etwas an. Dadurch bemerkte Klara, dass die Waffe mit Tierfellen umwickelt und mit bunten Federn geschmückt war. Auch die Kette aus mächtigen Tierklauen, die um seinen Hals hing, geriet dadurch in Bewegung. Das weitaus Schlimmste aber waren die orange-gelben Augen, in denen düsterrote Pupillen glosten. Höllenaugen! Klara hielt dem stechenden Blick des Unheimlichen nicht stand. Er schien sie bis auf den Grund ihrer Seele zu sezieren. Sie kam sich nackt und bloß und unendlich klein vor im Angesicht dieser Gestalt, die wie ein afrikanischer Medizinmann aussah. Am liebsten hätte sie sich vor ihm auf den Boden geworfen und zertreten lassen, so unwürdig fühlte sie sich ihm gegenüber. Von einem Moment zum anderen wuchsen die Augen aufs Dreifache an und begannen wie Scheibenräder zu rotieren. Klara zitterte erbärmlich. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib. Ihr Magen zog sich zu einem Klumpen zusammen, während sie sich gleichzeitig nass machte. In diesem Moment begriff sie es endgültig. Eher instinktiv, als dass sie noch klar hätte denken können. Das hier war kein Trugbild! Der Unheimliche dort drüben war echt! Mit diesen furchtbaren Visionen hatte er sich bei ihr angekündigt. Sie stand einem leibhaftigen Höllenwesen gegenüber! Und wenn es wahr machte, was es ihr gezeigt hatte, würde es schlimm für sie enden. Sehr schlimm. Plötzlich ertönte ein Rauschen und Summen, das schnell lauter wurde. Schwarze Punkte erschienen in den rotierenden Augen. Die Punkte wurden größer, verdichteten sich – und schossen aus dem jetzt grell leuchtenden Rot hervor! Von einem Moment zum anderen war die Luft schwarz von Fliegen. Es mussten Millionen sein, die den Dämon und das Mädchen umschwirrten. Klara spürte sie im
Gesicht, an Armen und Beinen und auf dem Trikot. Sie krochen unter die Hosen, in die Ärmel und in den Ausschnitt. »Neiiiiin! Weg, weg!« Das Mädchen drehte sich im Kreis, schlug nach den Insekten und versuchte sie mit panischen Bewegungen aus ihrer Kleidung zu wischen. Vergeblich. Für eines der getöteten Biester rückten fünf andere nach. Nun krochen sie ihr in Nase und Mund. Und arbeiteten sich auch in die Körperöffnungen ihres Intimbereichs vor. Chitin knackte und knirschte, als sie einige der Biester zerbiss. Das dröhnende Lachen des Dämons raubte ihr den letzten noch verbliebenen Rest klaren Verstandes. Sie fiel auf die Knie und wimmerte. Rasend schnell verschwand sie unter einem Berg von Fliegen, die sie alle äußerst anziehend fanden. Der Dämon hob den Speer und richtete ihn auf das Mädchen. Ein greller Blitz löste sich aus der Spitze. Er schlug direkt in Klaras Brust. Dann sog er die Insektenbrut bis aufs letzte Exemplar wieder ein. Lange s-förmige Fahnen entstanden, die sich an der Speerspitze vereinigten. Innerhalb von ein paar Augenblicken waren die Tiere darin verschwunden. Der Unheimliche fasste den Speer mit beiden Armen und hob ihn über den Kopf. Er brüllte seinen Triumph hinaus. Gleichzeitig wurde sein Gesicht seltsam unscharf. Wellen liefen darüber und ließen es verschwimmen. Für einen Moment veränderten sich seine Gesichtszüge. Sie wurden maskenhaft starr. Die Grausamkeit darin verstärkte sich noch. Dann stürzte er sich gierig auf das gelb leuchtende Schemen, das Klaras toten Körper verließ. Ihre Seele kam keinen Meter weit auf ihrer Reise ins Hohe Leuchten. Sie sah es nicht einmal. Ihr Schicksal war grässlicher als alles, was Menschengeist sich ausmalen konnte.
2. Château Montage, Frankreich, September 2007 Professor Zamorra drehte ein paar Runden im Pool von Château Montagne, um sich abzukühlen. Dann zog er sich elegant am Beckenrand hoch, trocknete sich ausgiebig ab und lümmelte sich in den Liegestuhl, um die nächsten Stunden nichts weiter zu tun, als sich von der sengenden Augustsonne braten zu lassen und über das weite Loiretal zu schauen, das sich tief unten erstreckte. Die Tage der Ruhe waren für den Meister des Übersinnlichen rar gesät und damit doppelt und dreifach kostbar. Zamorra seufzte behaglich und nahm einen Schluck eiskalten Biers zu sich. Er hatte seinen Liegestuhl extra so gestellt, dass er Nicole nicht beim Training im gleich dahinter befindlichen Fitnesscenter zusehen musste, was durch die großen Scheiben möglich war. Ansonsten beobachtete er sie gerne beim Training verschiedener Kampfsportarten, weil er die Geschmeidigkeit und Eleganz ihrer Bewegungen bewunderte. Auch wenn seine Lebensgefährtin und Pro-forma-Sekretärin immer behauptete, er würde sie nie richtig ansehen und ihr schon gar nicht zuhören. Heute allerdings traf das tatsächlich zu. Hätte er ihr zugeschaut, hätte ihn sofort das schlechte Gewissen gepackt, hier seine Zeit mit Müßiggang zu vergeuden und nicht ebenfalls zu trainieren. Das wollte er unbedingt vermeiden. Es reichte, wenn er sie brüllen und laute Kampfschreie ausstoßen hörte. »Ki-Aiiiiiii!« Zamorra zuckte zusammen. Er war bereits so sehr in Gedanken, dass sie ihn nun doch erwischt hatte. Irgendetwas schepperte. »Zack, bumm, crash«, murmelte er. Und schob ein lautes »Nici, ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du die Einrichtung ganz lassen würdest!« hinterher.
»Keine Panik, Chéri, das war nur der Eiskübel, der sich mit mir anlegen wollte«, kam es durch die offene Tür zurück. »Ist alles noch dran. Bloß der Henkel ist ein wenig verbogen. Ki-Aiiiiii!« Der Professor verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ginge es vielleicht eine Spur leiser, du Eiskübel-Mörderin? Du weißt doch, dass alternde Männer ziemlich sensibel auf Lärm jeglicher Art reagieren.« Ein paar Sekunden war es still. Zamorra grinste und streckte das Gesicht in die Sonne. Plötzlich schob sich ein Schatten vor ihn. Er öffnete irritiert die Augen. Nici stand vor ihm, völlig nackt und ohne ein Haar auf der schweißglänzenden Haut. Dafür hatte sie umso mehr auf dem Kopf. Knallrot. Mit grünen Strähnchen, die linksseitig ins Gesicht hingen und ihr eine freche Note verliehen. Sie starrte ihn lüstern grinsend an. »Ich weiß, dass alte Männer zunehmend lärmempfindlich sind«, flötete sie. »Aber ich weiß auch, wie man das problemlos kurieren kann.« »Äh ja. Wie denn?« Zamorra blinzelte. »Na, wie wohl?« Sie setzte sich auf seinen Bauch und begann mit beiden Händen, seine Brust zu kneten. »Ältere Männer stehen bekanntlich auf junge Mädchen.« Der Professor stöhnte. Er starrte auf ihre fest werdenden Brustwarzen und merkte, wie sich direkt hinter Nicole etwas zu regen begann. Trotzdem hätte er momentan den Müßiggang vorgezogen. »Äh, könnten wir das vielleicht verschieben? Ich meine …« »Nix da.« Nicole beugte sich nach vorne und küsste ihn. »Altere Männer müssen unbedingt trainiert werden«, keuchte sie, während sie ihre Lippen wieder vom Mund ihres Geliebten löste, »sonst werden sie ganz schnell alt.« »Hülfäh, Vergewohltätigung«, wehrte sich Zamorra halbherzig und zerschnitt mit einer Handbewegung die beiden Speichelfäden, die ihn mit Nici verbanden. Er erhielt unerwartete Hilfe, als er sie schon gar nicht mehr wollte. Lady Patricia trat, mit einem knappen Bikini ausgestattet, auf die Terrasse, die sich im ersten von insgesamt vier Stockwerken des Châteaus befand.
»Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht …« Sie lief rot an und drehte sich schnell wieder um. »Huch«, sagte Nicole und lächelte. »Da hast du uns aber erwischt. Aber bleib ruhig da, Patricia, wir können das später nachholen. Der ältere Herr hier hatte sowieso keine richtige Lust.« Sie stieg von Zamorra herunter. Lady Patricia starrte auf des Professors Lenden. Diesen Eindruck habe ich aber ganz und gar nicht, stand in ihren Blicken zu lesen. »Sag mal, spinnst du?«, beschwerte sich der Meister des Übersinnlichen und legte schnell ein Handtuch über seine langsam abflauende Erregung. »Du kannst mich doch nicht vor wildfremden Leuten so bloß stellen.« »Seit wann bin ich denn wildfremd?«, erwiderte Lady Patricia, die das freizügige Liebesleben der beiden Franzosen durchaus kannte, der diese Szene aber trotzdem etwas peinlich war. »Und du darfst mir glauben, Zamorra, ich habe schon den einen oder anderen nackten Mann gesehen.« »Mag sein. Aber ich bin weder der eine noch der andere nackte Mann. Ich bin Zamorra, Vorname Professor.« »Jetzt zick hier nicht rum wie ein junges Mädchen«, sagte Nicole in gespielter Strenge. »Manchmal bist du schlimmer als eine Frau. Patricia hat dir schon nichts weg geguckt. Obwohl, eben war tatsächlich noch mehr da.« Die beiden Frauen lachten laut. Der Meister des Übersinnlichen drehte sich beleidigt zur Seite, während Nicole, die nackt blieb, den zweiten und Lady Patricia den dritten Liegestuhl besetzte. »Und, was gibt's Neues?«, fragte Nicole, die mit Zamorra dank zahlreicher Außeneinsätze nur selten im Château weilte und somit zwangsläufig Einiges verpasste. Patricia hatte ein schattiges Eckchen vorgezogen. »Tja, was gibt's Neues? Fooly hat sich in den Kopf gesetzt, unbedingt ein Drachenfest in Deutschland oder Holland besuchen zu wollen. Rhett ist im Internet darauf gestoßen und jetzt meint unser kleiner Drache, dass er da garantiert die absolute Starbesetzung wäre.« »Mon dieu«, seufzte Zamorras bessere Hälfte. »Hat die Feuer
speiende Mozartkugel auch mal was anderes als Unsinn im Kopf?« »Sei nicht so hart mit ihm, Nicole. Er ist einfach süß. Ich mag den Tollpatsch. Und Rhett würde sterben, wenn er Fooly nicht mehr hätte. Die Beiden sind unzertrennliche Freunde geworden.« Als ob er nur auf das Signal gewartet hätte, stürmte »Lord Zwerg«, wie Patricias Sohn Rhett von Nicole ausschließlich genannt wurde, lärmend auf die Terrasse. Er hielt ein Seil in der Hand. Daran hing am Halse ein grünlich schimmernder, kleiner, fetter Drache, der in ungefähr einem Meter Höhe flügelschlagend in der Luft herum torkelte und Hände, Arme und den Kopf in seltsam zuckenden Bewegungen verrenkte. »Was soll denn das werden, wenn's fertig ist«, meldete sich Zamorra wieder, der es nicht mehr in seiner Schmollecke aushielt. »Na, wie findet ihr das? Wir üben fürs Drachenfest in Holland«, antwortete Rhett übereifrig. »Ich werde Fooly dort steigen lassen.« »Ja«, bestätigte der aus seiner luftigen Position. »Ich übe schon mal, weil wir in der Kategorie der Gelenkdrachen antreten werden.« »Ach daher die Verrenkungen.« Zamorra grinste, während Rhett immer wieder einen Blick auf Nicoles nackten Körper riskierte. Die ignorierte Lady Patricias verstohlene und zunehmend verzweifelter werdende Zeichen, sich doch bitte züchtig bedecken zu wollen. »Das heißt Lenkdrachen, nicht Gelenkdrachen, klar? Gelenkdrachen gibt's nicht.« »Ach so«, protestierte Fooly. »Dann gibt's mich also gar nicht, was? Dann bin ich nur eine Fata Montana oder wie das heißt, was? Komm, Rhett, wir üben woanders. Diese Ignoranzen können uns mal, gelle. Rhett? Rhett, was ist?« »Hä, was? Ach so.« Dem Jungen fiel es sichtlich schwer, sich von bestimmten nackten Tatsachen zu trennen, die rein gar nichts mit irgendwelchen Drachenfesten zu tun hatten. Nur widerwillig zog er mit Fooly von dannen. Dafür erschien Butler William, trotz der Hitze so korrekt wie steif gekleidet, mit einem Tablett voller eisgekühlter Cocktails. »Monsieur, ich habe zudem eine Lady aus Deutschland in der Warteschleife, deren Wunsch es ist, Sie unbedingt zu sprechen. Da
sie sich auf einen Kommissar Lutz Eiserstorf beruft, mit dem Sie ja, wie ich mich genau erinnere, schon mal zu tun hatten, wage ich es, Sie damit belästigen zu wollen, Monsieur. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, die Lady klingt, als habe sie ein ziemlich dringliches Anliegen.« »Und Sie klingen mal wieder, als müssten Sie die Sprache völlig neu erfinden, William«, gab der Professor grinsend zurück. »Wenn ich's richtig herausgehört habe, will mich jemand sprechen?« »Exakt, Monsieur.« »Also, her damit.« Zamorra hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Auch Nicole runzelte ganz leicht die Stirn. Kriminalhauptkommissar Lutz Eiserstorf von der Polizeidirektion Stralsund hatte sie bei ihrer ersten Auseinandersetzung mit Svantevit unterstützt. War der Superdämon, der ihnen so schwer im Magen lag, wieder irgendwo aktiv geworden? Das roch nach Ärger. Der Meister des Übersinnlichen nahm den Hörer und meldete sich. »Guten Tag. Mein Name ist Petra Cerny. Spreche ich … nun … mit Professor Zamorra?«, fragte eine leise, stockende, nicht unangenehme Stimme. »Ja, Frau Cerny. Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie atmete sichtlich auf, als er ihr in akzentfreiem Deutsch antwortete. »Wenn es Ihnen Recht ist, Herr Professor, würde ich … nun … mich gerne mit Ihnen unterhalten. Ich habe da ein großes Problem. Herr Hauptkommissar Eiserstorf, den ich gut kenne, meinte, nun … dass Sie mir da vielleicht helfen könnten.« »Geht es um Svantevit?« »Wie bitte? Nein … ich weiß nicht. Wer ist das?« »Schon gut, Frau Cerny. Welcherart ist Ihr Problem?« Die Frau zögerte einen Moment. »Seien Sie mir nicht böse, Herr Professor. Aber ich würde das gerne … nun, persönlich mit Ihnen besprechen. Nicht am Telefon, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ja, gerne, kein Problem. Das heißt: Wo sind Sie denn gerade?« »Zu Hause in Stralsund. Ich, nun … ich könnte aber morgen
Nachmittag bei Ihnen sein, Herr Professor. Ich fliege von Düsseldorf nach Lyon und nehme dort ein Taxi. Würde Ihnen das passen?« »Ja, sicher. Sparen Sie sich das Taxi getrost, Frau Cerny. Ich hole Sie ab. Wann kommen Sie denn an?« »Um vierzehn Uhr vierzig. Das … das würden Sie wirklich tun, Herr Professor?« Er tat es wirklich. Petra Cerny entpuppte sich als etwas verhärmt aussehende Frau um die fünfzig mit schmalem, bleichem Gesicht und streng nach hinten gekämmten, grauen Haaren. Der Dutt am Hinterkopf verlieh ihr etwas Omahaftes. Sie steckte zudem in schlecht abgestimmter, dunkler Kleidung und senkte den Blick, als sie Zamorra die Hand schüttelte. Ein unsicheres Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Der Professor fand sie auf Anhieb sympathisch. »Wie geht es Herr Eiserstorf?«, fragte er, nachdem sie in seinen silbermetallicfarbenen BMW 750i einstiegen waren. »Gut, danke. Er lässt Ihnen nun … schöne Grüße ausrichten, Herr Professor.« Zamorra lenkte den BMW in Richtung Feurs. Er plauderte locker mit seinem Gast, um ihm die deutlich sichtbare Verkrampfung zu nehmen. Nach einigen Minuten entspannte sich Petra Cerny tatsächlich. Sie erzählte ihm, dass ihr Mann vor einigen Jahren gestorben sei, sie nun ganz alleine in einem großen Haus lebe und viele Jahre schwer herzkrank gewesen sei. Vor einem dreiviertel Jahr habe sie nun aber das Spenderherz erhalten, auf das sie mehrere Jahre warten musste. »Und Sie, Professor? Sie jagen nun … tatsächlich Geister und Teufel?« Er lächelte. »Glauben Sie denn an Geister und Dämonen, Frau Cerny?« »Wie bitte?« Sie schaute ihn verwirrt an, während er langsam an eine Ampel heran fuhr. Ihre Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. »Nun ja, Herr Professor, wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für ignorant und naiv. Aber ich … ich meine, ich habe bisher weder an das Eine noch an das Andere geglaubt …« Sie starrte zum
Frontfenster hinaus. »Aber jetzt ist irgendetwas passiert, das Ihr Weltbild ins Wanken gebracht hat, stimmt's?« Zamorra lächelte. »Keine Angst, Frau Cerny, ich halte Sie weder für ignorant noch naiv. Im Gegenteil. Wer bereit ist, umzudenken und sein Weltbild aufgrund bestimmter Vorkommnisse zu korrigieren, ist in meinen Augen sehr gescheit.« »Danke.« Sie gab sich einen Ruck. »Hören Sie, Herr Professor, ich wollte Sie, nun … erst einmal kennen lernen, um zu sehen, ob ich Vertrauen zu Ihnen haben kann. Herr Eiserstorf sagte das zwar, aber man weiß ja nie … Auf jeden Fall denke ich, dass ich Ihnen tatsächlich … nun, vertrauen kann. Sie sind ein netter Mann.« »Danke ebenfalls. Das freut mich sehr.« Ein paar Momente lang herrschte Schweigen. »Es hat mit meiner Herztransplantation zu tun, Herr Professor.« Zamorra schaute sie erstaunt an. »Ja. Wissen Sie, Herr Professor, ich war immer eine gute und begeisterte Sportlerin. Ich bin gerne zum Segeln gegangen und habe verschiedene Kampfsportarten betrieben. Im Karate habe ich sogar den ersten braunen Gürtel gemacht. Aber dann habe ich Atembeschwerden bekommen, die immer schlimmer wurden. Bei der Untersuchung hat man festgestellt, dass mein Herz sehr leistungsgeschwächt war und nun … dadurch fortlaufend an Größe zunahm. Der wachsende Herzmuskel drückte dann auf meine Lungenflügel. Deswegen die ständig wiederkehrende Atemnot. Nun, als dann auch meine anderen Organe zu versagen begannen, das nennt man Multiorganversagen, wissen Sie, und ich auch noch eine Lungenentzündung bekam, hat man mich … nun ins Herzzentrum nach Berlin geflogen.« Petra Cerny starrte vor sich hin. Ihre Hände zitterten jetzt leicht. »Sie wissen sicher, was in so einem Fall passiert, Herr Professor, nicht wahr?« »Hm. Ich bin kein Mediziner, Frau Cerny. Aber ich denke mal, dass man Sie an ein künstliches Herz angeschlossen hat.« »Ja, genau, an ein Herz-Kreislauf-Unterstützungssystem. Sieben Wochen hing ich daran. Die Schmerzen waren nun … so schlimm,
dass ich sie nur noch mit Hilfe von Morphium ertragen konnte. Und ich hatte so furchtbare Angst. Dann bekam ich mein neues Herz. Und jetzt … jetzt habe ich noch viel größere Angst.« »Hoppla. Warum denn das?« »Nun, ich muss etwas ausholen. Bei uns in Deutschland erfährt man nicht, von wem man das Spenderorgan erhalten hat. Das bleibt anonym. Immerhin hat mir der Chirurg gesagt, dass mein neues Herz von einem noch jungen Unfallopfer stammt, das von einem Auto überfahren wurde. Seit ich aber mein neues Herz habe, plagen mich … nun, wie soll ich das sagen …« »Schmerzen irgendwelcher Art?« »Nein. Eher so Bilder …« »Visionen vielleicht?« »Ja, danke, Herr Professor, das ist ein gutes Wort dafür. Ich habe nun … immer wieder Visionen, vor denen ich grauenhafte Angst habe. Dabei habe ich aber das Gefühl, dass es nur zum Teil meine eigene Angst ist …« Zamorra nickte. »Hm. Ich verstehe, Frau Cerny. Sie glauben, dass Sie zum größeren Teil die Angst des Menschen spüren, dem das Herz gehört hat.« Sie atmete tief durch. Dann wurde sie unvermittelt von einem Weinkrampf geschüttelt. Der Professor fuhr an den Straßenrand. Er gab ihr ein Taschentuch und legte seine Hand auf die ihre. Kurze Zeit später beruhigte sich Petra Cerny wieder. »Entschuldigen Sie, aber es musste einfach raus. Herr Professor, irgendetwas Unheimliches geht mit mir vor. Ich habe seit der Operation nun … ständig Lust auf Hamburger und all dieses Zeug …« »Fastfood?« »Ja, genau, so heißt das. Vorher habe ich es gehasst. Das ist doch kein Essen. Und nun, nun kaufe ich mir ständig welches. Und ich habe … oh Gott, wie soll ich das sagen, plötzlich Lust auf … auf … Sex«, flüsterte sie fast unhörbar und lief puterrot an. »Ist nicht wahr«, erwiderte Zamorra. Er hätte lachen können, wenn die Situation nicht so Ernst gewesen wäre.
»Ja, doch, wenn ich's Ihnen sage. Ich würde am liebsten alle Positionen … nein … ich, ich bin so froh, dass das mein Josef selig nicht mehr erleben muss.« Dem hätte das vielleicht besser gefallen, als du glaubst, dachte Zamorra. »Und was sind das nun für Visionen, die Sie plagen, Frau Cerny?« »Nun, ich sehe immer einen riesigen Neger mit einem furchtbar verzerrten Gesicht und mächtigen Muskeln. Er hat irgendeinen Stab oder Speer in der Hand.« Petra Cernys Stimme wurde plötzlich lauter, drängender. »Herr Professor, ich … ich weiß ganz genau, dass das ein Teufel ist, obwohl ich doch zuvor nicht an solche Dinge geglaubt habe. Vor dieser Gestalt hat mein Herzspender diese kaum zu ertragende Angst. Und dann löst sich plötzlich ein greller Blitz aus dem Speer und rast auf mich zu. Er trifft mich und ich sterbe. Verstehen Sie, Herr Professor. Mein Organspender wurde nicht von einem Auto überfahren. Dieses furchtbare Wesen hat ihn ermordet.« Zamorra starrte sie an.
3. Nördliches Nigeria / Königreich Dahomey, Benin, 1728 Murtala kauerte hinter einem Felsen und beobachtete seinen älteren Bruder Shehu, der bereits das Mannesalter erreicht hatte, beim Schminken. Der vierzehnjährige Bororo-Junge hätte eigentlich die großhörnigen Zebu-Rinder seiner Familie hüten sollen. Aber die grasten ganz friedlich auf den kargen Wiesen zwischen den hohen, Schatten spendenden Palmen. Sie würden schon nicht weg laufen. Jetzt, nachdem sie die Salzkur in der nahen Salzoase hinter sich gebracht hatten, sowieso nicht. Sobald sie Salz aufgenommen hatten, waren sie für eine Weile friedlich. Shehu kniete am Fluss und betrachtete sich andächtig in der spiegelglatten Wasseroberfläche, während die Sonne heiß von einem wolkenlosen Himmel brannte. Mit einem Pinsel, der aus der Schwanzquaste eines Zeburindes gefertigt war, trug er gelben Puder auf, der die Haut aufhellte. Danach zog er mit gelber Kreide sorgfältig einen kräftigen Strich vom Haaransatz bis zum Kinn, der das Gesicht in zwei gleiche Hälften teilte. Schließlich bemalte er seine Lippen mit einer aus Pflanzensud gewonnenen Farbe in einem grellen Rot und verbreiterte sie dabei noch. Erst wenn der Mund wie eine große, offene Wunde aussah und scharfe Konturen aufwies, würde Shehu zufrieden sein, das wusste Murtala ganz genau. Und wenn er auch die Augen durch Umrandung mit der roten Farbe perfekt geschminkt hatte. Denn Liebe wird durch die Kraft der Augen gestiftet, das wusste jedes Bororo-Kind. Murtala, der nichts als einen Lendenschurz und ein wenig rote Alltagsfarbe im frechen Lausbubengesicht trug, war neidisch. Er seufzte leise und freute sich trotzdem über die kleine Eidechse, die ihm, ein Stück entfernt auf dem Felsen liegend, Gesellschaft leistete.
Wie gerne wäre er jetzt schon an Shehus Stelle gewesen, um beim anstehenden Gerewol zu tanzen. Nur dann hätte er nämlich die wunderschöne Ife, in die er sich unsterblich verliebt hatte, heiraten dürfen. Ife war auch in ihn verliebt. Das wusste er ganz genau. Er hätte sich beim Tanzen also nicht einmal besonders anstrengen müssen, um ihre Gunst zu erringen. Sie hätte ihn auch so gewählt. Doch leider durften erst die jungen Männer beim Gerewol tanzen, viele Stunden lang, anmutig herausgeputzt, um das Herz einer jungen, unverheirateten Frau zu gewinnen. Er würde mindestens noch zwei Jahre warten müssen. »Lege Geduld und Seelenstärke an den Tag, übe Zurückhaltung und Bescheidenheit«, lehrte ihn sein Vater Sani fast täglich den Verhaltenskodex der Bororo. Also würde er es tun, auch wenn es ihm in diesem Fall äußerst schwer fiel. Denn Sani, der als Schamane ihres Stammes der mächtigste Mann war, mächtiger noch als der Häuptling, widersprach man nicht. Als Shehu fertig war, ging der schlanke, junge Mann ins Lager zurück, um sich dort die weiße, mit großen Straußenfedern besetzte Kappe aufzusetzen, das rot-blaugelbe Band darum zu binden und die prachtvolle, bunte Kleidung überzuwerfen. Auch Murtala verließ seinen Beobachtungsposten wieder. Er ging hinüber zu den Rindern und nahm seine Arbeit als Hirte wieder auf. Das tat er, indem er sitzend an einen Palmenstamm lehnte, die Blicke über die weite Ebene schweifen ließ und immerzu an Ife dachte. Ife, die zu einer anderen Familie gehörte, musste ebenfalls Rinder hüten. Auf einer Weide weiter südlich. Garantiert saß sie wie er jetzt im Schatten und dachte an ihn. Das Leben war schön. Murtala war glücklich aufgewachsen, mit einer liebenden Mutter, vielen Geschwistern und einem Vater, der stolz auf ihn war. Er liebte es, mit seinem Stamm durch die unendlichen Weiten des Landes zu ziehen. Der Lebensrhythmus der Menschen orientierte sich an den Bedürfnissen der Zebus und das war gut so. Denn die Rinder waren in jeder Beziehung die Lebensgrundlage des Stammes. Murtala würde allerdings kein Hirte sein. Denn sein Vater hatte ihn auserwählt, einst dessen Nachfolge anzutreten, weil er, im Gegensatz zu seinem Bruder Shehu, das
»Geistige Auge« besaß. Bereits vor drei Jahren hatte Sani angefangen, ihn in den richtigen, ausschließlich den Schamanen vorbehaltenen Umgang mit den Geistern, Göttern, Dämonen und Erdkräften einzuweihen. Nur die Schamanen mit ihren besonderen Kräften, die aber ausgebildet und gelenkt werden mussten, konnten das. Gegen Abend kamen einige ältere Hirten und halfen Murtala, die Rinder zusammen zu treiben. Um sie vor wilden Tieren zu schützen, kamen sie in einen großen Pferch, der von den Kriegern und Jägern bewacht wurde. Heute Abend, nach Sonnenuntergang, begann das Gerewol-Fest. Ich werde die ganze Zeit über zuschauen und mir vieles abschauen, dachte Murtala. Und wenn ich kann, treffe ich Ife und rede mit ihr. Das aber konnte sich unter Umständen schwierig gestalten. Ifes große, verheiratete Schwester saß in der Jury, die aus drei Frauen bestand und die Aufgabe hatte, nach dreitägigem Wettbewerb den schönsten Tänzer zu küren. Und Ife war als »Kleine Dienerin« auserwählt worden, die für das Wohlergehen der Preisrichterinnen zu sorgen hatte. Murtala trank Rindermilch und aß Pflanzenkost. Danach traf sich der ganze Stamm auf dem großen Platz zwischen den Lehmhütten. Es dunkelte bereits. Ein großes Feuer brannte in der Mitte. Junge Frauen und prächtig geschmückte Tänzer liefen aufgeregt hin und her, es galt, noch das Eine oder Andere zu erledigen. Ältere Männer saßen derweil auf Steinen und sangen laut die alten Hymnen an die Götter, mit denen sie den sich anbahnenden Heiraten Glück wünschten. Und glücklich würden die meisten sein, da die Bororo keine Einehe kannten. Männer durften mehrere Frauen haben, die sich wiederum Liebhaber nach Lust und Laune halten konnten. So wurden Konflikte weitgehend vermieden. Sani, ein großer, muskulöser Mann mit Glatze, hatte einen Strohhut mit breitem Rand aufgesetzt. Straußenfedern hingen daran. Über Stirn und Wangen trug er den sorgfältig mit weißer Farbe aufgemalten Gesichtsspiegel, der ausschließlich dem Schamanen der Bororo zustand. Das kleine rote Dreieck darin
symbolisierte den Eingang für die Geister und Dämonen in die dahinter befindliche Gedankenwelt. Nur wer es trug, durfte mit diesen Geistern und Dämonen kommunizieren. Um die Hüfte hatte Sani ein Leopardenfell geschlungen, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. Er trat soeben an den Opferaltar, einem großen, viereckig behauenen Stein, auf dem einige bauchige Behältnisse standen. Mit einem Messer schnitt er dem mitgebrachten Huhn die Kehle durch und ließ das Blut auf den Altar tropfen. Ohne dass er es irgendwie bewegte, bildeten die Blutstropfen ein bestimmtes Muster. Es sah aus wie ein Affenkopf und diente der Abwehr böser Geister. »Denn die wollen auch immer an unseren Festen teilnehmen, um uns zu verderben«, erklärte Sani seinem hinzutretenden Sohn. »Merke es dir gut, Murtala. Weißt du übrigens noch, wie dieser Hühnerblutzauber geht, den ich dich neulich gelehrt habe?« »Natürlich, Vater.« Murtala nickte eifrig. »Ich übe jeden Tag. Schließlich will ich auch einmal ein so guter Schamane wie du werden. Mindestens.« Eigentlich konnte er es kaum noch erwarten, selbst einmal den weißen Gesichtsspiegel zu tragen. Ife würde mächtig stolz sein, die Frau eines Zauberers zu sein. Sani lächelte. »So ist es gut, mein Sohn. Ich bin sicher, dass du mich einst an Weisheit und Kraft weit übertreffen wirst. Du wirst der größte und mächtigste Zauberer, den die Bororo je gesehen haben. Alles wirst du können. Vor allem die Kunst des Abwehrzaubers, die nicht viele Medizinmänner beherrschen.« Murtala grinste. Er mochte es, wenn sein Vater so von ihm redete. Doch dann konzentrierte er sich ganz aufs Fest. Der Häuptling eröffnete es. Die Tänzer stellten sich in einer langen Reihe auf, legten sich die Hände gegenseitig auf die Schultern und begannen sogleich mit ihrem Brautwerbungsritual. Sie tanzten sanft und vornehm zum dumpfen Schlag der Trommeln. Hin und wieder warfen sie den jungen Frauen, die einen großen Kreis bildeten, verführerische Blicke zu und lockten sie mit leisen Rufen. »Nimm mich, Schöne.« – »Ich werde gewinnen und der Held dieses Gerewols sein.« – »Wähle mich und du wählst die Liebe.« Sie tanzten die ganze Nacht. Gegen Morgen fielen sie erschöpft in
einen oberflächlichen Schlaf. Auch die Frauen und Kinder schliefen bereits. Selbst die Wächter kämpften mit der Müdigkeit. Sie hatten vom Hakka, dem berauschenden Getränk, das während des Gerewols gereicht wurde, auch ihren Teil abbekommen. Murtala lag in einer Lehmhütte, eng an seine Mutter geschmiegt. Er träumte glücklich und zufrieden, denn er hatte im Laufe des Abends einige Male mit Ife sprechen können. Sie hatte es extra möglich gemacht und bei ihren Botengängen kleine Umwege eingeplant, die direkt zu ihm geführt hatten. Und ihm versichert, dass sie nur auf ihn schauen würde, wenn er einst tanzte.
Ketu gehörte zu den Wächtern. Er hatte Posten oben auf den Felsen, saß auf einem Stein und ließ den Kopf hängen. Wahrscheinlich hatte er etwas zu viel Hakka erwischt. Nun rauschte das Blut in seinem Kopf, sein Geist wollte nicht mehr bei ihm bleiben. Ein kurzes Schläfchen werde ich mir leisten können, dachte er. Hinter ihm tauchte ein riesiger Schatten auf. Weiße Linien zogen sich kreuz und quer über den fast nackten Körper, große, weiße Zähne schimmerten im Mondlicht. Mit einigen schnellen Schritten huschte der Mann näher. Eine mächtige Pranke legte sich auf Ketus Mund. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen. Bevor er richtig realisierte, was geschah, fuhr bereits ein Messer über seine frei liegende Kehle. Tief schnitt es hinein. Gurgelnd sank Ketu zu Boden. Sein Mörder sah mitleidlos zu, wie er zuckte und schließlich starb. Er hob die Hand. Über hundert bis an die Zähne bewaffnete Krieger arbeiteten sich durch die Felsen nach unten. Ein zweiter Bororo-Wächter, der auf einem Felsvorsprung stand und über die weite Ebene hinweg den allmählich rot werdenden Horizont beobachtete, starb durch einen gezielten Speerwurf. Die Waffe wurde mit solcher Wucht geschleudert, dass sie am Rücken ein- und an der Brust wieder austrat. Ohne Begreifen blickte der Wächter auf die blutige Speerspitze, während das Blut nun auch aus seinem Mund quoll. Er war auf die Knie gesunken und kippte ganz
langsam seitlich um. Wie Raubtiere kamen die Krieger über das kleine Nomadendorf, das im Schutz der Felsen lag. Sie drangen in die Lehmhütten ein, töteten alle älteren Männer und fesselten die jungen, die Frauen und die Kinder. Es kam zu ersten Widerständen. Eine Frau schrie laut. Ein Kind schloss sich an. Tumult entstand. Murtala wurde jäh aus dem Schlaf gerissen. Er sprang hoch und hastete aus der Hütte. Was war da los? Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Fremde Krieger waren im Dorf! Sie sahen furchtbar aus und erinnerten ihn an Dämonen. Und so gebärdeten sie sich auch. Der alte Mewangor, der aus seiner Hütte taumelte und den Murtala wegen seiner Freundlichkeit immer so gerne gemocht hatte, starb durch den Schlag einer Keule. Den zertrümmerten Schädel, das spritzende Blut, würde Murtala nie in seinem Leben wieder vergessen. Er schrie vor Entsetzen und sein Schrei mischte sich bereits mit dem vieler Anderer. Der Mörder fuhr herum. Er rannte auf ihn zu. Murtala warf sich herum und wieselte um die Hütte. Weg, nur weg! Er war schnell, war es schon immer gewesen. Der Junge schlug Haken wie ein Hase, rannte zwischen den Hütten hindurch und zum Dorfplatz hin. Dort waren erste Gefechte im Gange. Einzelne Bororo-Krieger stellten sich den Fremden entgegen. Noch trunken vom Hakka hatten sie keine Chance gegen die kampferprobten Aggressoren, die die Bororos zudem immer in Überzahl angriffen. Krieger und andere Waffenträger wurden von den Angreifern nicht verschont und allesamt getötet. Murtala, der das alles nicht begreifen konnte und sich vorkam wie im schlimmsten Albtraum, lief einem der stinkenden Fremden direkt in die Arme. Der Kerl mit dem blaugrün bemalten, fratzenhaften Gesicht und den weißen Linien auf dem Leib drückte ihn so fest an sich, dass ihm die Luft weg blieb. Murtala schlug um sich, kratzte und biss. Es nützte ihm nichts. Der Kerl fesselte ihn mit einer Lianenschnur äußerst gekonnt an Armen und Beinen und ließ ihn liegen.
Der Junge stöhnte und wand sich verzweifelt. Er musste diese schrecklichen Fesseln wieder loswerden! Dabei bemerkte er, dass sich die Fremden nun über die Tänzer her machten. Nur drei oder vier von ihnen leisteten heftigen Widerstand, darunter auch Shehu. Murtala sah, wie sein Bruder unter einem Keulenhieb weg tauchte und den Gegner angriff. Shehu war schon immer flink und stark gewesen. Er prallte mit Wucht gegen den Bauch des Angreifers. Der kam aus dem Gleichgewicht und taumelte. Als ihm Shehu mit einer Beinsichel gegen die Wade schlug, fiel er um. Die Keule rutschte aus seiner Hand. Shehu nahm sie und schlug ihm den Kehlkopf ein. Als er sich gerade umdrehen wollte, traf ihn ein Speer in den Bauch. »Shehu – Neiiiiiiiin!« Tränen rannen aus Murtalas Augen, er zitterte am ganzen Leib. Dann sackte er in sich zusammen. In seinem Körper war keinerlei Kraft mehr, er fühlte sich so schwach wie ein neu geborenes Zebu-Kälbchen. Abgehackte, schluchzende Laute kamen plötzlich aus seinem Mund. Murtala wäre am liebsten mit seinem großen Bruder gestorben. Eine Stunde später war es vorbei. Die fremden Krieger trieben die Zebu-Rinder aus dem Pferch und veranstalteten eine widerwärtige Jagd auf sie. Sie grölten und brüllten, wenn sie wieder eines abgeschlachtet hatten. Danach trieben sie die überlebenden Bororo, die das Töten der Rinder mit lauten Entsetzensschreien und Tränen in den Augen begleiteten, in den Pferch und zählten sie. Murtala, noch immer wie in einem Albtraum gefangen, war froh, dass er seinen Vater und seine anderen Geschwister sah. Sani hatte eine kleine Wunde in der Schulter, aber er lebte. Nur seine Mutter bemerkte er nirgends. Überhaupt war sein Vater der einzige von den älteren Leuten, der sich hier aufhielt. Hatten sie die Anderen alle getötet? Auch seine Mutter? Neuerlicher Schmerz durchzuckte Murtala. Er suchte Trost bei seinem Vater, doch er fand keinen. »Sei stark und räche uns alle, wenn du kannst«, forderte Sani leise. »Das sind Menschenhändler. Sie werden uns in die Sklaverei verschleppen. Ich habe von diesen grausamen Bestien gehört. Aber dass sie so weit in den Norden kommen, hätte ich nicht gedacht. Hasse sie bis an dein Lebensende,
mein Sohn. Sie haben deine Mutter umgebracht. Und alle älteren Leute, weil sie sie nicht mehr verkaufen können. Die Dämonen sollen sie alle fressen.« »Warum lebst du noch, Vater?« Sanis Hände zuckten unkontrolliert. »Ich weiß es nicht. Ich nehme an, weil ich der Schamane bin. Vielleicht brauchen sie mich noch.«
Nachdem die Fon zahlreiche Rinder gebraten und gegessen hatten, wurden die Bororo an den Händen gefesselt. Sie mussten sich, einhundertdreiundvierzig Personen stark, in zehn Reihen aufstellen, Männer und Frauen und Kinder. Die Sklavenjäger duldeten keine Ausnahme. Lediglich die Babys durften auf den Armen ihrer Mütter bleiben. Dann wurden den Gefangenen lange Seile um den Hals geschlungen, die sie miteinander verbanden. Auch um deren Fesseln kamen Seile. So geschnürt, dass sie sich gerade mit normalen Schritten bewegen konnten. Viele weinten, einige sanken vor Schwäche und Verzweiflung auf die Knie. Ein junger Tänzer, der sich gegen sein Schicksal auflehnen wollte und einen der Sklaventreiber angriff, wurde erbarmungslos nieder geprügelt. Danach wagte niemand mehr, sich aufzulehnen. Wer kniete, stand schnell wieder auf. In einem Gewaltmarsch von vielen Wochen wurde der Sklavenzug durch Nigeria getrieben. Südwärts, ins Königreich Dahomey, das direkt an der Sklavenküste lag. Vierzehn Stunden mussten die Bororo marschieren, bevor sie eine Zeitlang ruhen durften. Murtala konnte vor Erschöpfung oft nicht einschlafen, aber er war zäh und biss die Zähne zusammen. Stoisch ertrug er die Peitschenhiebe, die jeden Tag mehrere Male auf ihn einprasselten. Andere schafften das nicht. Wer liegen blieb oder sich verletzte, wurde von den Fon kurzerhand erschlagen. Immerhin bekamen die Sklaven so reichlich zu essen und zu trinken, dass sie, wenn sie einigermaßen bei Gesundheit blieben, die Strapazen durchhalten konnten. Murtala hätte zu gerne mit seinem Vater geredet, aber der musste
in einer anderen Reihe marschieren. Es tat ihm in der Seele weh, den einst so stolzen Mann in diesem Zustand zu sehen. Immerhin war Sanis Wille nicht gebrochen und er erhielt sogar eine Vorzugsbehandlung. In gewissen Grenzen, versteht sich. Auch mit Ife wäre Murtala gerne zusammen gekommen, aber auch das war nicht möglich. Immerhin konnte er ihr von Zeit zu Zeit Blicke zuwerfen, sie betrachten, während sich seine Füße automatisch bewegten und er das eigene Keuchen dumpf und hohl hörte. Es tat ihm noch viel weher als das Marschieren, wenn er in ihre stumpfen Augen sah. Augen, die an ihm vorbei in unendliche Fernen starrten. Niemand hatte sie je zuvor geschlagen. Jetzt wurde sie immer wieder misshandelt und floh deswegen immer öfters und länger aus der Wirklichkeit. Halt durch, Ife, bitte, bitte. Dann finden wir schon einen Weg zur Flucht … Nach vielen Tagen und Nächten, nachdem sie durch dichten Dschungel marschiert waren und zwei Fluchtversuche blutig geendet hatten, erreichten sie das Meer. Die Bororo staunten über den »riesigen See« mit dem wunderbar feinen weißen Sand am Ufer. So etwas hatten sie trotz ihrer weiten Wanderschaften noch nie gesehen. Ein Stück im Hinterland erhob sich eine mächtige Stadt. Sie hieß Abomey und war die Heimat der Fon. Drei- und vierstöckige Lehmbauten, zum Teil ineinander verschachtelt, waren an einen Berg gebaut und erstreckten sich, so weit das Auge reichte, sogar noch bis weit in die Ebene hinein. Zehntausende von bunt gekleideten Menschen waren zwischen den Häusern unterwegs. Sie warfen den neu angekommenen Sklaven eher gleichgültige denn neugierige Blicke zu. So, als seien sie diesen Anblick gewohnt. Murtala schämte sich trotzdem zutiefst und wäre am liebsten im Boden versunken. Er hätte nie für möglich gehalten, dass es so viele Menschen auf einem Haufen geben konnte. Beim Sklavenmarkt, der sich unter schattigen Palmen erstreckte und aus mehreren großen Häusern bestand, war die Reise zu Ende.
Die Bororo wurden zu vielen anderen Bedauernswerten in eines der Häuser gestoßen. Dort sanken sie auf stinkendes Stroh nieder und dankten den Göttern, dass sie es überstanden hatten. Vorerst. Manche schliefen auf der Stelle ein. Obwohl es eng war, gab es keine Streitereien. Die bereits Anwesenden machten den Neuen sogar bereitwillig Platz und rückten zusammen. Auch Murtala schlief sofort ein. Alles tat ihm weh. Er schaffte es nicht einmal mehr, sich zu seinem Vater durchzukämpfen, zu dem er erstmals seit vielen Wochen wieder Kontakt haben konnte. Einige Stunden später wurde er unsanft geweckt. Schwer bewaffnete Sklaventreiber schrieen, gingen zwischen den Sklaven durch, ließen Peitschen knallen und traten die Schlafenden. Was sie riefen, verstand Murtala nicht. Es war sicher nichts Vorteilhaftes. Mühsam rappelte er sich hoch und trat ins Freie. Etwas abseits, auf einem freien Platz, stand ein mächtiger Baum. Unter diesem hatten sich die Sklaven zu versammeln. Ein paar Minuten später ertönten Trommeln, die immer lauter wurden. Irgendetwas näherte sich. Murtala stockte der Atem, als der Zug zwischen den Häusern erschien und direkten Kurs auf den Sklavenbaum nahm. Der König! Ja, es musste der König sein. Ein fetter Mann mit Hängebrüsten und einer roten Federkrone auf dem Kopf saß auf einem reich mit Muscheln und Gold verzierten riesigen Thron, der auf einer hölzernen Plattform stand. Diese wurde von dreißig Sklaven getragen. Fellbehängte Männer gingen voraus. Sie führten vier zahme Leoparden an der Leine. Die verstörten Tiere duckten sich und fauchten nach allen Seiten. Dahinter schritten Männer in kostbaren, bunten Gewändern. Tänzerinnen bewegten sich dazwischen und allerlei andere Hofschranzen. König Agadja verstand es, seine Auftritte zu inszenieren. Doch das war längst nicht das Erstaunlichste für Murtala. Wie hypnotisiert starrte er auf die vier Männer in absolut fremdartiger Kleidung, mit den längsten Messern an der Seite, die er je gesehen hatte. Zuerst glaubte er, sie hätten ihre Haut weiß angemalt, so
ähnlich wie der Gesichtsspiegel der Bororo-Zauberer. Dann aber bemerkte er, dass sie tatsächlich weiß waren. Menschen mit weißer Haut! So etwas gab es doch gar nicht. Waren es also Götter? Die Träger stellten den Thron ab. Dann schritten die Weißen die Reihen der Sklaven ab, taxierten sie, schauten in ihre Münder, fassten an ihre Geschlechtsteile, lamentierten laut und lachten dabei. Auch Murtala musste diese entwürdigende Zeremonie über sich ergehen lassen. Und Ife. Das tat ihm noch viel mehr weh. Vor allem, weil sie auch dies mit stumpfem Blick über sich ergehen ließ. Ihre Kampfeslust, ihr betörendes Lächeln waren wohl für immer verloren. Dann deuteten die Weißen auf die ersten Bororo. Diese wurden mit Schlägen nach vorne getrieben. Murtalas Herz klopfte plötzlich wie rasend. Würde er auch dabei sein? Und sein Vater? Ife etwa? Er wusste nicht, welches Schicksal sie alle erwartete, aber er wollte nicht von seinem Stamm getrennt werden. Der Kelch ging an ihm vorbei. Die ausgewählten Sklaven wurden Richtung Strand getrieben. Plötzlich deutete der riesige Fon, der die Sklavenjäger angeführt hatte, auf Sani und sagte etwas. Der König begann schrill zu lachen. Ein Zeichen für seinen Hofstaat, es ihm gleich zu tun. Dann winkte er mit der Hand. Die Fon schleppten Sani vor den König und ließen ihn niederknien. Dann nahm der riesige Sklavenjäger eines der großen Messer, wie sie auch die Weißen hatten. Er setzte an, die Klinge sauste waagrecht durch die Luft – und köpfte Sani mit einem Schlag. Warum? Murtala starrte auf den Kopf seines Vaters, der über den Boden rollte. Aus dem enthaupteten Rumpf schoss eine Blutfontäne, während er langsam umkippte. Der Junge gurgelte. Es wurde ihm schwarz vor Augen. Dann fiel er einfach um.
4. Château Montagne / Traunstein, Bayern, September 2007 Petra Cerny lag längst zu Bett, da sie total übermüdet war. Zamorra hatte ihr ein Zimmer im Gästeflügel des Châteaus herrichten lassen. Die Frau hatte das Angebot dankbar angenommen. Denn auch zu Nicole hatte sie von Anfang an Zutrauen gefasst. Ein Check mit Merlins Stern hatte nichts ergeben. Ein Fall von Besessenheit, wie auch immer geartet, konnte Zamorra also ausschließen. Als zweite Absicherung diente der weißmagische M-Schirm um das Château. Kein dämonisches Wesen konnte ihn passieren. Es war tiefe Nacht. Die beiden Dämonenjäger befanden sich gerade in Zamorras Arbeitszimmer im zweiten Stock des Nordturms. Nicole saß hinter dem hufeisenförmig geschwungenen Schreibtisch und hantierte am hochleistungsfähigen Computersystem. Zamorra hatte die Beine überkreuzt auf den Schreibtisch gelegt und sah ihr schmunzelnd zu. »Für das horrende Gehalt, das ich dir jeden Monat bezahle, kann ich ja wohl ein bisschen ein flotteres Arbeitstempo erwarten. Soeben hat dich eine Schnecke überholt.« »Sei brav, mach sitz«, erwiderte Nicole, ohne sich weiter stören zu lassen. Sie hackte etwas in die Tastatur. »Ja, es gibt tatsächlich Literatur zum Thema Organtransplantation und Seelenwanderung. Hm, interessant. Da wird ein amerikanischer Kardiologe namens Paul Pearsall zitiert. Er hat mehr als einhundert Herzempfänger interviewt, die geglaubt haben, eine Verbindung zu ihrem verstorbenen Spender zu spüren. Dann hat er die Angaben bei nahen Verwandten der Spender überprüft. Und siehe, bei über zehn Prozent der Herz-Empfänger sind nach der Operation zwei bis fünf frappierende Parallelen zum Spender aufgetreten.«
»Das steht da tatsächlich?« »Ja glaubst du, ich saug mir das einfach aus den Fingern? Du bist ja goldig, Chéri. Ja. Pearsall hat das im ›Journal of Near-DeathStudies‹ veröffentlicht. Und eine österreichische Psychologin namens Brigitte Bunzel, Vorname Professor …« »Ha, genau wie bei mir.« Sie sah ihn an, als brauche er gerade besonders viel Liebe und Zuwendung. »Frau Bunzel also berichtet von einer anderen Frau, die sich danach fühlte, als teile sie ihren Körper mit einer zweiten Person. Und da: Ein Junge, dem das Herz eines ertrunkenen Kleinkindes implantiert wurde, empfand urplötzlich eine irrationale Furcht vor Wasser. Hmhm … hmhm … Ja, da haben wir noch einen Fall: Willst du hören?« »Ist das von Belang? Du wirst ihn mir auf jeden Fall zu Gehör bringen.« Nicole grinste wölfisch hinter dem Computer hervor. »Stimmt. Also, hier ist die Rede von einer gewissen Catherine aus Boston, die das Spenderherz eines vierzehnjährigen Jungen bekommen hat, der vor ein Auto gelaufen ist. Sie empfand viele Wochen lang Schmerzen an genau der Stelle, wo der Junge getroffen wurde.« »Meines Wissens können Organempfänger in den USA die Namen ihrer Spender problemlos erfahren.« »Ja, und?« »Sie könnten sich also vorher kundig gemacht haben, bevor sie derartige Storys auf den Tisch bringen.« Nicole klatschte angedeutet. »Für einen Mann ist das eine bemerkenswerte Gedächtnisleistung. Aber die Fälle wurden wohl alle als echt eingestuft. Selbst Wissenschaftler halten es für möglich, dass bei Organtransplantationen ein Teil der Seele mit übertragen wird. Schau mal, hier steht was von einem Versuch. Einer Versuchsgruppe wurden weiße Blutzellen entnommen und in ein Reagenzglas gefüllt. Dann wurden den Spendern in einem anderen Raum Videos mit Gewaltszenen vorgeführt. Was glaubst du, ist passiert?« »Ich bin nicht Doktor Allwissend.«
»Die Blutzellen im Glas hatten plötzlich erhöhte Erregungszustände.« »Ja. Die habe ich auch gleich, wenn du dich nicht wieder sittsam auf deinen Stuhl setzt.« Zamorra starrte auf ihr hoch gezogenes, angewinkeltes Bein. Oder vielmehr knapp daran vorbei. Auf der Innenseite. »Also gut. Es scheint also eine Art Zellgedächtnis zu geben. Es kann also durchaus sein, dass der Vorbesitzer von einem Schwarzmagier oder Dämon umgebracht und das Ganze als Unfall getarnt wurde. Wir müssen uns auf alle Fälle darum kümmern und Klarheit schaffen.« »Ja, das denke ich auch, Chéri. Aber momentan müssen wir uns vordringlich um deinen erhöhten Erregungszustand kümmern. Es wäre schrecklich, wenn du den Fall nicht mit klarem Verstand bearbeiten könntest.« »In der Tat.« Zamorra grinste. Und vernaschte Nicole noch auf dem Schreibtisch. Am späten Vormittag frühstückten die beiden Dämonenjäger mit Petra Cerny. Sie hatte deutlich mehr Farbe als gestern und war wiederum korrekt frisiert. »Ich habe wunderbar geschlafen«, sagte sie und ließ sich Baguette mit Hähnchenleberpastete schmecken. »Ganz tief. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich nachts keine Visionen gehabt ha…« Sie unterbrach sich und starrte zum Fenster hinaus. »Oh Gott«, flüsterte sie und schlug das Kreuz, »dafür habe ich sie jetzt am Tag. Was … was ist das?« Soeben torkelte ein kleiner fetter Drache am Fenster vorbei, der eine Leine um den Hals hängen hatte. »Äh ja«, erwiderte Nicole, die heute Morgen mit metallicblauen, bis über die Brüste fallenden Haaren glänzte und lächelte zuckersüß. »Wir haben das deutsche Fernsehen im Haus. Die drehen gerade eine neue Folge von Tabaluga.« Petra Cerny atmete durch. »Ach so. Und ich dachte schon, nun, dass ich … naja. Ich meine, darf ich da vielleicht mal zuschauen?« »Geht leider nicht«, log Nicole, ohne rot zu werden. »Selbst wir dürfen nicht zusehen. Produktionsgeheimnis. Na ja, Sie wissen ja, wie die Fernsehleute sind. Totale Wichtigtuer.«
Petra Cerny bestätigte, dass sie das ganz genau wüsste. Besonders die vom deutschen Fernsehen seien schlimm. Danach rief der Meister des Übersinnlichen Hauptkommissar Lutz Eiserstorf an. Der freute sich, ihn mal wieder zu hören. »Wie geht's Ihnen, Zamorra? Schön, dass Sie noch leben. Haben Sie bereits mit Frau Cerny gesprochen?« »Sie ist hier bei uns auf Château Montagne und lässt Sie schön grüßen.« »Danke. Und, was meinen Sie? Ist was dran an der Geschichte?« »Das wissen wir noch nicht, Herr Eiserstorf. Ich denke aber, dass wir uns um jeden Fall darum kümmern sollten. Dazu wäre es wichtig zu wissen, von wem das neue Herz von Frau Cerny stammt.« »Das sehe ich ebenso. Deswegen habe ich bereits ein wenig Vorarbeit geleistet.« »Das heißt, Sie wissen es bereits?« »Ja. Es war nicht sehr schwierig, das herauszufinden.« »Also, sagen Sie mir den Namen.« »Das Herz stammt von der sechzehnjährigen Maria Wegener. Sie hat im Süddeutschen gewohnt, in einer kleinen Stadt namens Pfullendorf. Dort ist sie nachts irgendwo auf freier Strecke vor ein Auto gelaufen und war sofort tot. Aber die Mutter ist zwischenzeitlich umgezogen. Sie wohnt jetzt im Bayrischen.« Zamorra bekam die genaue Adresse und eine Telefonnummer. Als er dort anrief, nahm niemand ab. Auch bei den nächsten fünf Versuchen nicht. So rief er erneut Lutz Eiserstorf an und bat um die Telefonnummern der Nachbarn. Der Hauptkommissar besorgte sie ihm nicht nur, er rief in seiner Eigenschaft als Polizist höchst selbst dort an. Von einer direkten Nachbarin erfuhr er, dass Frau Wegener nicht im Urlaub war, sondern sehr viel arbeitete. »Na gut«, beschloss Zamorra, »dann fahren wir eben auf Verdacht nach Traunstein. Irgendwie werden wir schon an Frau Wegener rankommen.«
Sie brachen am frühen Nachmittag auf. Petra Cerny nahmen sie mit. »Sie haben aber einen flotten Fahrstil, Herr Professor«, sagte sie schüchtern vom Rücksitz, als Zamorra den BMW mit quietschenden Reifen in eine Kurve legte. »Flotter Fahrstil?« Nicole, die auf dem Vordersitz saß, drehte den Oberkörper halb nach hinten. »So fahren ältere Männer. Wenn ich nachher lenke, zeige ich Ihnen mal, was ein wirklich flotter Fahrstil ist. Der Herr Professor hat seinen Führerschein nämlich in Ägypten gemacht, müssen Sie wissen. Er musste lediglich zwei Mal rückwärts um ein paar Slalomstangen fahren. Und schon hatte er den Deckel.« »Tatsächlich?« »Ja«, gab Zamorra grinsend zurück. »Ich habe immer Glück im Leben. Nur ein Mal nicht. Da habe ich die Dame auf dem Nebensitz beim Pokern gewonnen. Aber was heißt gewonnen. Eigentlich hatte ich verloren. Hören Sie also nicht auf sie.« Petra Cerny, die ihren Kopf ein wenig zwischen den Vordersitzen hindurchgestreckt hatte, zog ihn wieder zurück. Sie sah nun deutlich verunsichert aus. »Muss man so sein, wenn man Teufel jagt?«, rutschte es ihr heraus. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund. »Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen.« »Machen Sie sich nichts draus«, tröstete Nicole sie lächelnd. »Man muss sicher nicht so sein. Aber jeder verarbeitet das Grauen, mit dem er in diesem Job konfrontiert wird, auf andere Weise. Na ja, Sie werden schon noch merken, dass wir durchaus auch ernsthaft arbeiten können.« »Ach. Können wir das wirklich?« Zamorra und Nicole schafften die Strecke von Château Montagne bis ins bayrische Traunstein in knapp acht Stunden. Es war noch hell, als sie durch die Schaumburger Straße mit ihren hübschen, pastellfarbenen Stadthäusern in Lindgrün, Korngelb, Herbstbraun und Himmellichtblau gingen. Die angegebene Adresse gehörte zu einem hellblauen Haus schräg gegenüber dem Brothausturm. Heike Wegener wohnte im zweiten Stock. Durch ein enges Treppenhaus stiegen die drei nach oben. Als Nicole klingelte, machte niemand
auf. Dafür schob sich die Nachbarin auf den Flur. Die dicke Frau mit den roten Backen und der Kochschürze beäugte die Fremden misstrauisch. »Die Frau Wegener is net da. Was wollen's denn von ihr?« Der Professor setzte sein charmantestes Lächeln auf. »Seien Sie mir nicht böse, Gnädigste, aber das wollen wir ihr lieber selber sagen. Haben Sie eine Ahnung, wo wir Frau Wegener finden?« Die Nachbarin seufzte. »Sie sind aber a'moi a gut aussehender Mann, wenn ich des sagen darf. Da möchte man glatt vierzg Johr jünger sei. Da die Frau Wegener heut Frühschicht g'habt hot, sitzt sie jetzt wahrscheinlich noch ›Beim Hansl‹. Des is net weit von hier, ein paar Schritt bloß. Do geht sie öfters hin und hält sich am Weinglaserl fest, wenn Sie verstehen, was ich mein.« Tatsächlich trafen sie Heike Wegener ›Beim Hansl‹. Sie saß einsam und zusammengesunken an einem Ecktisch und starrte in ein Glas Rotwein. Ein paar Touristen drei Tische weiter zogen gerade über die »Saufgurgel« her. »Die arme Frau«, flüsterte Petra Cerny. »Sie kann den Tod ihrer Tochter nicht überwinden.« Entschlossen ging sie den Dämonenjägern voraus. »Frau Wegener?« Die Frau mit den strähnigen, blonden Haaren hob den Kopf. Müde, leicht glasige Augen blickten Petra Cerny an. »Ja, bitte?« »Wir haben Sie gesucht, Frau Wegener. Wir möchten mit Ihnen reden.« »Mit mir? Wer sind Sie denn? Um was geht es?« Petra Cerny verließ in diesem Moment aller Mut. Nicole übernahm die Gesprächsführung. »Das ist Frau Cerny, meine Tante. Ich bin Nicole und das ist Herr Zamorra, ein Bekannter. Dürfen wir uns ein bisschen zu Ihnen setzen? Dann redet es sich leichter.« »Bitte.« Sehr einladend klang es nicht. »Also, um was geht es nun bitte? Sind Sie von den Stadtwerken? Die haben gesagt, dass Sie jemanden schicken wegen dem Stromanbieterwechsel.« »Nein, sind wir nicht, Frau Wegener. Bitte, erschrecken Sie jetzt
nicht. Aber wir sind wegen Ihrer Tochter hier.« Heike Wegener riss die Augen weit auf. Sie schluckte ein paar Mal schwer. »Wegen … wegen Maria? Warum denn? Klappt die Überführung doch nicht?« »Davon wissen wir nichts. Aber sehen Sie, meine Tante hier hat das Spenderherz Ihrer Tochter bekommen. Deswegen darf sie weiter leben. Und nun möchte sie alles über den Menschen wissen, dem sie ihr Leben verdankt. Und wir möchten Ihnen dafür danken, dass Sie Marias Organe zur Transplantation freigegeben haben.« Heike Wegener starrte wie hypnotisiert auf Petra Cernys Brust, dorthin, wo das Herz ihrer Tochter schlug. Ihr Oberkörper begann zu zittern. Lautlos bewegte sie ihre Lippen. Dann sank sie wieder in sich zusammen und begann leise zu schluchzen. Petra Cerny rückte nahe an sie heran und nahm sie in den Arm. Auch sie weinte jetzt. Zamorra und Nicole ließen die Frauen in Ruhe. Auch die Touristen verstummten schlagartig und schauten betroffen. Die tiefe Trauer der Beiden erfüllte den ganzen Raum. Eine viertel Stunde später saßen sie alle in Heike Wegeners Wohnung. Die dreiundvierzigjährige Frau hatte sich wieder etwas gefangen. Es sah unordentlich aus. In der Küche türmte sich das Geschirr. Nur die zahlreichen Bilder auf der Kommode wirkten aufgeräumt. Sie zeigten eine hübsche Sechzehnjährige mit schulterlangen schwarzen Haaren. Beim Reiten, beim Fußballspielen, auf einem Mofa, als Ministrantin, irgendwo am Strand. Über dem Porträtbild hing ein Rosenkranz. Fast immer schaute Maria fröhlich drein und lachte. Halb heruntergebrannte Kerzen standen im Halbkreis um die Bilder herum. Heike Wegener zündete sie an. Die Kommode wirkte wie ein Altar. Mit keinem Wort fragte die Frau danach, wie Petra Cerny von Marias Identität erfahren hatte. »Meine kleine Maria war ein liebes Mädchen«, sagte sie, fast wie im Selbstgespräch, und starrte vor sich hin. »Eine wirklich ganz Liebe, wissen Sie. Natürlich hatte sie ihre Phasen, wo sie herumzickte. Sie war ja schließlich in der Pubertät. Da ist da ganz normal. Sie mochte Tiere sehr gern, Hunde vor allem.
Und sie hat immer Mitleid mit den Notleidenden gehabt. Immer wollte sie helfen. Einmal, da hat sie eine Sendung über Organtransplantationen gesehen und gesagt: Mama, wenn ich mal sterbe, will ich, dass meine Organe andere Leben retten.« Heike Wegener begann erneut zu schluchzen. Zamorra reichte ihr ein Taschentuch. Sie nahm es und sah hoch. Es sah aus, als finde sie gerade aus einem Traum in die Wirklichkeit zurück. »Entschuldigen Sie. Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Gerne«, erwiderte Nicole. »Einen Kaffee vielleicht? Nein, bleiben Sie sitzen, ich mache ihn, wenn Sie mir sagen, wo die Sachen stehen.« »Also deswegen haben Sie das Herz zur Transplantation freigegeben«, stellte der Professor fest, während Nicole in der Küche hantierte. »Wie bitte?« Sie sah ihn verwirrt an. »Ach so, ja. Ich habe das als Marias letzten Willen angesehen.« »Was ist denn damals genau passiert, Frau Wegener? Können Sie darüber reden?« »Ja … ja, langsam geht es wieder. Wissen Sie, was damals genau passiert ist, weiß ich bis heute nicht. Es war an einem Mittwochabend. Maria kam wie immer vom Fußballtraining. Das war ihr liebstes Hobby, Fußballspielen, darin war sie richtig gut. Beim FV Weithart hat sie gespielt. Ja, sie duschte, schaute noch ein wenig fern und ging dann ins Bett. Es … ich war mir sicher, dass sie dort auch tatsächlich war. Aber … aber …« Heike Wegener schüttelte verzweifelt den Kopf. Petra Cerny legte die Hand auf die ihre. »Wenn Sie nicht sprechen können, müssen Sie es nicht.« »Doch … doch, es geht schon wieder, danke. Wissen Sie, so kurz nach elf Uhr, als ich noch vor dem Fernseher saß, klingelte es plötzlich und zwei Polizisten standen draußen. Sie sagten, dass sie eine schlimme Nachricht hätten. Meine Maria sei in ein Auto gelaufen und sofort tot gewesen. Ich habe sie … nun, zuerst ausgelacht. Aber dann habe ich nachgeschaut und bemerkt, dass sie tatsächlich weg war.«
»Konnte sie ungesehen aus dem Haus? Einfach so?« »Ja, sie hätte durchs Fenster gekonnt. Vor unserem Haus stand ein Baum, auf den hätte sie klettern können. Aber so kann es nicht gewesen sein. Denn das Fenster war von innen geschlossen.« »Hm. Dann ist sie also zur Haustüre raus?« »Nein. Die war nämlich ebenfalls von innen verschlossen. Ich erinnere mich noch genau, dass ich den Schlüssel umgedreht habe, als die beiden Polizisten klingelten. Außerdem hätte ich sie wohl bemerkt. Wer von oben zur Haustür wollte, musste durch den Flur und hinter dem Fernseher vorbei.« »Haben Sie das Haus deswegen verlassen?« »Ja, Herr Zamorra. Ich konnte es einfach nicht mehr darin aushalten. Wir waren einmal alle drei glücklich in diesem Haus. Eine Familie, wie man sie nicht so schnell findet. Aber als mein Mann vor fünf Jahren tödlich verunglückte, war es schon schwierig. Jetzt wollte ich nicht mehr darin wohnen. Ich bin in meine alte Heimat zurück. Und Maria, die in Pfullendorf beerdigt ist, hole ich nach. Ich habe eine Ausnahmegenehmigung bekommen, sie hierher nach Traunstein überführen zu dürfen. Damit ich wenigstens ihr Grab pflegen kann. Oh Gott, ich dachte schon, es klappt nicht, als sie vorhin an den Tisch kamen. Ich muss morgen nach Pfullendorf fahren, weil sie am Samstag ausgegraben und hierher gefahren wird. Wissen Sie, ich habe ihr hier ein wunderschönes Grab gekauft. An einem lauschigen Platz wird sie beerdigt, das hat mir die Friedhofsverwaltung zugesichert.« Sie nickte wehmütig. »Aber das ist alles eigentlich nicht mehr so wichtig. Ich warte jetzt darauf, dass mich der Liebe Gott ebenfalls so schnell wie möglich zu sich holt und ich meinen Paul und meine Maria wieder sehe.« »So dürfen Sie nicht denken, Frau Wegener«, erwiderte Petra Cerny. »Nein? Welchen Sinn hat das Leben für mich noch? Verstehen Sie, ich lebe nicht mehr, ich vegetiere höchstens noch. Und ich bin froh, wenn es vorbei ist.« Petra Cerny klopfte sich auf ihre linke Brust. »Da sehen Sie, Frau Wegener. So lange dieses Herz hier drinnen schlägt, lebt Maria in
mir weiter. Ich bin sicher, dass sie nicht gewollt hätte, Sie so mutlos zu sehen.« Die beiden Frauen starrten sich an. Nicole kam mit dem Kaffee. »Sollen wir Sie vielleicht mit nach Pfullendorf nehmen, Frau Wegener?«, bot ihr Zamorra an. »Wir fahren auch dorthin.« »Danke, das ist nett, aber es ist bereits alles geregelt.« »Na denn. Sagen Sie, gab es in der betreffenden Nacht eigentlich ein Gewitter? Hat es geblitzt?« »Wie?« Heike Wegener drehte den Kopf. »Gewitter? Wie kommen Sie darauf?« »Ach, nur so. Ich versuche mir vorzustellen, wieso Ihre Tochter vor das Auto gelaufen ist. Vielleicht waren ja die Sichtverhältnisse schlecht?« »Ach so. Nein, es war eine klare Herbstnacht. Das weiß ich noch genau.« »Natürlich, Frau Wegener. Sie sagen, dass Ihre Tochter an sehr vielen Dingen interessiert war. Vielleicht auch an Afrika? Oder kannte sie einen Afrikaner?« Heike Wegener sah plötzlich misstrauisch drein. »Was sind das für seltsame Fragen, Herr Zamorra? Gibt es etwas, das ich nicht weiß?« »Nein, nein, entschuldigen Sie bitte. Es ist nur so, dass Tante Petra hin und wieder von einem Afrikaner träumt, seit sie das neue Herz hat. Von einem Medizinmann mit einem Speer oder so was in der Art. Aber die beiden Dinge müssen nichts miteinander zu tun haben.« »Das … hat ganz sicher nichts miteinander zu tun. Nein, Maria kannte keinen Afrikaner. Ich hätte das sonst gewusst. Sie hat mir immer alles gesagt, was sie gemacht hat und mit wem sie befreundet war.« »Wer waren denn ihre besten Freundinnen?« »Das war die Rebecca. Die hab ich aber nicht so gemocht. Ja und die Isi. Isabell heißt sie eigentlich. Und die Denise und die Kathrin. Aber auch mit Julia und Sophia ist sie gut klar gekommen. Mit denen hat sie sich immer mal wieder getroffen.« »Alle aus der Fußballmannschaft?«
»Ja, ich glaube schon.« Sie plauderten noch eine Weile weiter. Heike Wegener war es ein Bedürfnis, mit jemandem über ihre Tochter reden zu können. Erst kurz vor Mitternacht verabschiedeten sich ihre drei Gäste wieder und checkten in einem kleinen Hotel ein. »Ein sechzehnjähriges Mädchen, das seiner Mutter alles erzählt, ha!«, sagte Nicole, als sie im Bett lagen. »Vorher lernt ein Amboss schwimmen. Ich muss es wissen, ich war selber mal eines.« »Was schlägst du also vor?« »Wie ist das eigentlich, Mann zu sein und ständig auf der Leitung zu sitzen, Chéri?« Sie spielte ein wenig mit seinen Brusthaaren. »Maria hat Fußball gespielt. Und sie hatte ihre Freundinnen in der Mannschaft. Freundinnen wissen immer eine ganze Menge mehr von einem als Mütter. Also sollten wir mal mit der Fußballfrauschaft reden.« »Gute Idee. Darauf bin ich allerdings schon gekommen, als noch die letzten Saurier über die Erde wandelten«, behauptete Zamorra. »Und ob du's glaubst oder nicht, ich habe ebenfalls eine Idee.«
5. Königreich Dahomey, Benin, 1730 Seit zwei Jahren diente Murtala jetzt als Leibsklave König Agadjas. Er war als königlicher Thronträger auserwählt worden und besetzte die Stange links hinten. Das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Denn so blickte Murtala täglich auf das abgeschlagene Haupt seines Vaters Sani. Denn der Thron hatte, so war es seit langem Sitte bei den mächtigen Königen von Dahomey, auf vier abgeschlagenen Menschenköpfen zu stehen. Agadja, ein besonders grausamer Herrscher, hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf den Schädeln von vier Zauberern zu thronen. Das, so glaubte er, mache ihn unbesiegbar. Und nur deswegen hatten sie Sani zuerst verschont und ihn bevorzugt behandelt. Anfangs hatte Murtala entsetzt weggesehen. Nun starrte er den Schädel seines Vaters, der längst mumifiziert war, täglich an und sprach in Gedanken mit ihm. Das war gut, denn es hielt seinen Hass auf dieses Untier am Leben, das sich König schimpfte und andere Menschen wie den letzten Zebu-Dung behandelte. Aber was sollte man auch von einem erwarten, der ständig ein grünes Tuch vor der Nase trug, damit er nicht dieselbe Luft atmen musste wie seine Untertanen. Ife hatte Murtala schon lange nicht mehr gesehen. Er wusste nicht, an wen sie verkauft worden war. Auch der Gedanke an sie hielt seinen Hass am Brennen. Täglich schleppten sie König Agadja, der immer fetter wurde, zum Sklavenmarkt. Sie sahen immer neue Kolonnen von Sklaven eintreffen. Die Sklavenjäger Dahomeys machten reiche Beute. Murtala schätzte, dass der König alleine im vergangenen Jahr mehr als zwanzigtausend Sklaven an die Weißen verkauft hatte. Sie
hießen Portugiesen, Spanier und Engländer. Murtala hasste sie mindestens ebenso wie den König. Menschenleben waren nichts wert für sie. Heute standen Portugiesen auf dem Markt. Wie immer taxierten sie die neu angekommenen Sklaven und suchten welche aus. Aber erst, nachdem der König seinen persönlichen Bedarf gestillt hatte. Agadja brauchte sehr viele Sklaven. Noch immer spukte Murtala der bedauernswerte Le im Kopf herum, mit dem er sich ein wenig angefreundet hatte. Weil der König neuen Schmuck für seine Pferde und den prächtigen Palast brauchte, war Le mit über vierhundert Anderen geköpft worden. Denn Agadjas bevorzugter Schmuck waren menschliche Schädel, am liebsten mit vor Angst und Grauen verzerrten Zügen. Aber auch bei religiösen Opferzeremonien starben regelmäßig Sklaven. Und wenn wichtiger Besuch kam, ebenso. Die Portugiesen, mit Feuerstöcken bewaffnet, ließen die Sklaven zum Strand treiben, der ungefähr einen Kilometer entfernt von Abomey lag. Ein Stück weit draußen schaukelte eines ihrer mächtigen Schiffe mit den riesigen Segeln in der Brandung. Sehr weit draußen, wie Murtala fand, denn er erlebte diese Szenen fast täglich mit. Agadja ließ sich das Schauspiel am Strand so gut wie nie entgehen. Die Sklaven wurden gefesselt in die Brandung getrieben. Portugiesen peitschten auf sie ein. Andere ruderten in kleinen Booten nebenher. Bald reichte den Gefesselten das Wasser bis zur Brust. Eine Frau und zwei Kinder wurden von einer Welle umgerissen. Verzweifelt versuchten sie wieder auf die Beine zu kommen. Sie tauchten kurz auf, schnappten nach Luft und tauchten sofort wieder unter. Sie wälzten sich im Wasser und strampelten, weil sie freie Hände gebraucht hätten, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Nur der Junge schaffte es. Die Frau und das Mädchen ertranken elend wie die Ratten. Niemanden kümmerte es. Die toten Sklaven waren ganz einfach »Transportverluste« in den Büchern der Weißen. O ja, Murtala wusste dies alles, denn er hatte längst die Sprache
der Fon erlernt und konnte sich so mit Vielen unterhalten. Jeder wusste irgendetwas. Vor allem die Elitesoldaten von Agadjas Leibwache. Die unterhielten sich durchaus gerne mit den königlichen Leibsklaven, da sie mit ihnen länger und öfters zusammen waren als selbst mit ihren Familien. Der König duldete es, dass kleine Freundschaften entstanden. Die meisten hielten sowieso nicht lange, weil irgendwann jeder der Sklaven mit seinem Kopf herhalten musste. Murtala verstand sich glänzend mit dem Hauptmann der Garde. Odudu wusste, dass er ein angehender Zauberer war, denn er hatte dessen Tochter mit allerlei Zaubersprüchen und vor allem mit einem Kräutersud nach dem Rezept seines Vaters vom schweren, todbringenden Fieber befreien können. Etwas, das Glele, der mächtige Hauptschamane der Fon, nicht geschafft hatte. Seither beschützte Odudu den Sklaven Murtala und schaute, dass die Wahl nicht auf ihn fiel, wenn wieder Opfer gebraucht wurden. Das lag durchaus in seiner Macht. Am Strand lag bereits die Bezahlung für den König bereit. Die Portugiesen hatten sich dabei immer etwas großzügiger als die Engländer und Spanier erwiesen. Doch heute lagerten nur vier Feuerstöcke, etwas Schießpulver, Blei, Tabak und Branntwein dort. Kein Gold, keine Muscheln und auch keine Kanone. »Was soll das?«, rief der König. »Seid ihr von Sinnen? Das ist nicht die Bezahlung, die ich gewöhnt bin. Ich habe mindestens das Doppelte zu bekommen.« Der Häuptling der Portugiesen, ein stämmiger, kleiner Mann mit schwarzem Vollbart und einem Eisenhelm auf dem Kopf, lachte laut. »Die Zeiten ändern sich, König«, sagte er im Dialekt der Fon. »Das Königreich Oyo liefert uns nicht nur mehr Sklaven als dein Land, sie sind auch in wesentlich besserem Zustand. Wir können und werden dir für diese minderwertige Ware nicht mehr bezahlen. Schaff wieder besseres Material an, dann können wir auch wieder über besseres Entgelt reden.« Agadja, der die Portugiesen am liebsten an den Füßen hätte
aufhängen lassen, sich aber wegen der Kanonen des Schiffes nicht traute, wählte eine andere Lösung. Er erklärte dem mächtigen Nachbarn den Krieg, um das Königreich Oyo ein- für allemal als lästigen Konkurrenten los zu werden. Glele, der große Zauberer, hatte aus dem Gekröse einer toten Möwe geweissagt, dass der Feldzug gegen König Oranyan ein triumphaler Erfolg werden würde. Die Armeen Dahomeys, zum Teil mit Feuerstöcken und Kanonen bewaffnet, drangen weit auf das Territorium des Königreichs Oyo vor. Erste Gefechte mit schlecht organisierten und überraschten Oyo-Truppen gewannen sie spielend. Aber dann trafen sie auf einem unübersichtlichen Hügelgelände auf Oranyans Hauptstreitmacht. Da die Fon hier weder Kanonen noch Feuerwaffen wirksam einsetzen konnten, entschied die zahlenmäßig äußerst starke Kavallerie der Oyo das Gefecht. Die Fon mussten fliehen. Die Oyo setzten nach. Und überfielen nun ihrerseits den verhassten Feind und Konkurrenten. Als Agadja von der Niederlage erfuhr, brüllte er wie ein Irrer. Er ließ Glele, dem Zauberer, umgehend den Kopf abschlagen und zur Abschreckung an die Palastmauer hängen. Versager duldete Agadja nicht um sich. Noch in der Nacht ließ Hauptmann Odudu den Sklaven Murtala aus dem Sklavenhaus holen. Murtala wurde, was noch niemals vorgekommen war, von zwei stämmigen Leibgardisten, die an ihren gelben Straußenfedern zu erkennen waren, in Odudus Haus geführt. Der Hauptmann bot ihm Kokosmilch an. »Höre mir nun gut zu, Murtala«, sagte er. »Der König, er möge lange leben, will die drohende Niederlage gegen Oyo noch abwenden. Agadja ist sicher, dass die Oyo nicht die besseren Soldaten, sondern nur die besseren Zauberer haben. Nun sucht er selbst einen mächtigen Zauberer, der zwei Bedingungen erfüllen muss. Zum ersten muss er den König vor der Rache von Gleles Geist schützen. Und er muss die Macht haben, den Dämon des Verbotenen Hains zu beschwören und ihn gegen unsere Feinde einzusetzen. Bist du solch ein mächtiger Zauberer?«
»Ich bin es«, erwiderte Murtala. Unverhofft war sie da, die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Die Gelegenheit, furchtbare Rache zu nehmen. »Und ich freue mich, wenn ich dem König helfen kann.«
Noch in der Nacht musste Murtala vor den König treten. Und zwar im prächtigen Thronsaal mit seinen bunten Reliefs, die die Wände von oben bis unten bedeckten und Szenen aus dem Leben der ruhmreichen Dahomey-Herrscher zeigten. In den Säulen und an den Wänden hingen Fackeln in Gold verzierten Halterungen und tauchten den Saal in warmes, flackerndes, geheimnisvolles Licht. Murtala warf sich vor dem Schreckensherrscher auf den Bauch, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, so wie es Sitte war. Erst als es ihm Agadja befahl, kam er wieder hoch. Der König trug zu dieser frühen Stunde keine Krone. Kurze, gekräuselte Haare bedeckten seinen Kopf. Auf dem Thron sitzend, fixierte er Murtala aus schmalen Warzenschweinaugen, die fast vollständig unter Fettbergen verschwanden. »Du willst mich also vor dem Geist von Glele beschützen und mir gegen Oranyan beistehen.« Respekt schwang in Agadjas Stimme mit. Schließlich wusste er nicht, was er von Murtala zu erwarten hatte und wie mächtig dieser tatsächlich war. »Ja, mein König, das will ich.« »So, so. Du bist seit über zwei Jahren mein Sklave, hat man mir berichtet. Seltsam, ich habe dich noch niemals gesehen.« Murtala war sicher, dass sich Agadja noch niemals das Gesicht eines Sklaven gemerkt hatte. »Ich diene dir treu.« »Ja, ja. Wenn du so mächtig bist, Sklave, warum hast du diese Macht nicht genutzt, um zu fliehen? Oder um mich zu töten?« Murtala erfasste instinktiv, dass dies die alles entscheidende Frage war. Von seiner Antwort hing es nun ab, ob ihn der König Ernst nahm oder ihn auf der Stelle köpfen ließ. Der Töter mit dem Schwert stand bereits neben dem Thron. Murtalas Gedanken rasten. Er
schaute kurz in die Runde, um Zeit zu gewinnen. Dann deutete er auf den Schrumpfkopf Sanis. »Er hier war mein Vater, ebenfalls ein mächtiger Zauberer. Kurz vor seinem Tod hat er mir befohlen, in seiner Nähe zu bleiben, wann immer es möglich ist. Das habe ich getan.« Agadja beugte sich nach unten, um den Schrumpfkopf mit den hervorstehenden Zähnen zu sehen. Es gelang ihm nicht. Seine Fettmassen waren ihm im Weg. Keuchend kam er wieder hoch. Vier seiner Frauen, die ihn umstanden, halfen ihm dabei. »Nun … gut. Und warum … hat er … das … von dir … verlangt, Sklave?« Er schnaufte wie eines der Flusspferde, die er sich in einem großen Tiergehege hielt. »Weil … weil er mich selbst als Geist noch weiter in der Kunst der Zauberei ausbilden wollte. Das hat er getan. Und tut es immer noch.« Agadja bekam große Augen. Er stieß einen Schreckensruf aus. »Dann war sein Geist also die ganze Zeit um mich? Er hätte mich töten können. Glele war ein noch größerer Versager, als ich es für möglich gehalten hätte. Er hatte die Aufgabe, mich vor allen bösen und rachsüchtigen Geistern zu beschützen.« »Meines Vaters Geist ist weder das eine noch das andere. Aber sei versichert, wenn er dich hätte töten wollen, hätte ihn Glele nicht aufhalten können. Mein Vater kannte immer einen Zauber mehr. Und ich tue es ebenfalls.« Der König ließ sich zurück sinken. Er zitterte leicht. Eine seiner Frauen fächelte ihm Luft mit einem mächtigen Palmwedel zu. Murtala sah kurz zu Hauptmann Odudu hinüber. Ein kurzes, aufmunterndes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Gut gemacht, hieß das wohl. Dann schaute der Elitesoldat wieder so teilnahmslos wie zuvor. »Beweise mir, dass du Gleles Geist für alle Zeiten unschädlich machen kannst«, ächzte Agadja schließlich. »Wenn dir das gelingt und du mir zudem zum Sieg über die Oyo verhilfst, überhäufe ich dich mit Gold und …« Er hielt einen Moment lang inne. »… schenke dir die Freiheit. Versagst du allerdings, werde ich dich nicht köpfen,
sondern lebendig von den Leoparden zerreißen lassen.« Diese Aufgabe hatte Murtala vorausgesehen und sich dementsprechend vorbereitet. Die höchste Hürde war genommen, ab nun war es ganz einfach. »Ich werde es tun. Im Morgengrauen, kurz bevor die Sonne aufgeht. Besorgt mir inzwischen folgende Zutaten …« Kurz vor Sonnenaufgang versammelten sich rund zwanzig Leute an einer Stelle im Palastgarten, die nach Osten hin offen war. Murtala, der das verlangte gelbe Zeremoniengewand trug und sich wie ein Bororo-Tänzer geschminkt hatte, verbeugte sich in Richtung Sonne. Dann spannte er ein Stück Leguanhaut über den Baumstumpf, den kurz zuvor vier Männer keuchend angeschleppt hatten. »Das Stück Kupfer ist nicht so auf Hochglanz geputzt, wie es nötig ist«, stellte Murtala fest und wollte eigentlich nur einen Showeffekt daraus machen. Voller Schrecken musste er mit ansehen, wie der König den Verantwortlichen umgehend töten ließ. Aber er durfte sich nun nicht mehr aufhalten lassen. Der Bororo hauchte das Kupfer an, putzte es blitzblank und legte es dann auf die Leguanhaut. Gerade noch rechtzeitig. Die ersten Sonnenstrahlen fielen über den Horizont, trafen das Kupfer und wurden nach allen Seiten reflektiert. Daneben legte Murtala einen Totemfetisch aus der Schwanzquaste eines Löwen, ein Messer sowie eine Geode, also eine halb offene, mit Kristallen gefüllte Hohlkugel aus Stein, in der verschiedene Kräuter genau nach seiner Anweisung in Wasser gekocht worden waren. Schließlich fügte er noch eine Stechwinde dazu und verteilte sorgfältig rote Papageienfedern, die zerschnittenen Sprungbeine eines frisch geschlachteten Zickleins und eine Pfeife nach dem uralten, vorgeschriebenen Ritual um das Kupferstück. Zu guter Letzt legte Murtala ein Auge des toten Zauberers Glele direkt auf das Kupfer. Man hatte das Auge aus dem an der Palastmauer hängenden Kopf gerissen, weil es die Vögel noch nicht gefressen hatten. Es hätte aber genauso gut ein anderes Körperstück Gleles sein können. Dann nahm Murtala den schwarzen Hahn, der am schwierigsten
aufzutreiben gewesen war, packte ihn am Hals, schwang ihn von links nach rechts und von rechts nach links und ließ ihn anschließend so schnell über dem Kopf kreisen, dass sich der Kopf des Hahns vom Rumpf löste. Der zuckende Tierkörper wurde zunächst weit weg geschleudert und lief dann noch einige Schritte. Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Murtala beobachtete genau die Richtung, in die der kopflose Hahn lief. Das war sehr wichtig. Als der Körper zusammenbrach, nahm ihn der Bororo und benetzte das Kupfer und das darauf liegende Auge mit dem sprudelnden Blut. Dabei murmelte er unablässig Zaubersprüche. Urplötzlich erhellte sich das Kupfer. Murtala nahm es vorsichtig hoch. Die Umgebung spiegelte sich darin. Der Bororo ging zum König hin und zeigte ihm die spiegelnde Fläche. Plötzlich verschwamm sie in milchigem Weiß. Schlieren bildeten sich darin. Sie drehten sich ineinander, nahmen Konturen und schließlich richtige Formen an. Gleichzeitig wurden sie schwarz. Ein Gesicht manifestierte sich. Gleles Gesicht! Agadja stieß einen schrillen Schrei aus. Er prallte zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Kupfer und streckte die Arme aus. Seine Finger schnippelten magische Abwehrzeichen in die Luft. »Keine Angst, mein König«, sagte Murtala. »Ich habe Gleles Geist auf alle Zeiten in diesem Kupfer gefangen. Er kann dir nie wieder etwas tun. Da, sieh.« Gleles Gesicht mit der breiten Lippenscheibe verzog sich, als leide es große Schmerzen. Immer wieder riss er den Mund auf, als wolle er etwas sagen. Das ging sehr langsam, als hinge er in zähem Sumpf fest, der seine Normalgeschwindigkeit behinderte. »Mächtige Zauberer sollten ihre Geheimnisse niemals verraten, aber für dich mache ich eine Ausnahme, mein König«, sagte der Bororo plötzlich. »Das rituelle Blutopfer des Hahns hat die guten Geister gütig gestimmt, mir zu helfen. Das tun sie aber nur, wenn die uralten, heiligen Abläufe genau eingehalten werden. Sie haben Gleles Geist, der in der Nähe weilte, herbei geholt, obwohl er sich
gewehrt hat. Ich habe ihnen das Messer zur Verfügung gestellt, damit sie Glele zusätzlich zwingen können.« »Und? Haben sie es gebraucht?« Die Stimme des Königs überschlug sich fast, so hoch war sie auf einmal. Murtala schloss die Augen und lauschte in sich hinein. »Ja, sie haben es tatsächlich benutzt. Sie sagen es mir. Glele war besonders widerspenstig und stark. Aber mit dem Messer konnten sie ihn schließlich zwingen.« »Und was bedeuten die anderen Dinge?« Murtala sah, dass die Lippen Agadjas leicht bebten. »Nun, mein König, die Dornen der Stechwinde halten den Geist Gleles in diesem Stück Kupfer fest. Du darfst die Pflanze also niemals mehr als einen halben Fuß von dem Kupferstück entfernen. Sonst kann es sein, dass der Geist wieder entkommt und dich frisst.« Erneut prallte Agadja zurück. »Ich werde jemanden bestimmen, der mir mit seinem Leben dafür haftet, dass die Stechwinde niemals entfernt wird.« »Das ist sehr weise, mein König. Genau das wollte ich dir eben vorschlagen.« Fast hätte Murtala gelächelt. Er verbiss es sich im letzten Moment. Es hätte trotz seines Erfolges tödlich ausgehen können, sich mit dem König auf eine Stufe stellen zu wollen. Niemand, der unter ihm stand, durfte den Fon-Herrscher anlachen. Der Bororo nahm den Fetisch hoch. »Der, mein König, dient dazu, mich selbst vor Gleles Geist zu schützen. Denn auch ich bin nun sein Feind, da ich ihn dir ausgeliefert habe.« »Ja, das ist richtig. Glele ist rachsüchtig, das war er zu Lebzeiten schon immer.« »Er wird uns nun nichts mehr tun können. Zumal ich noch eine Sicherung eingebaut habe, falls die Stechwinde doch einmal abhanden kommt. Dann werden ihn die zerschnittenen Sprungbeine des Zickleins eine Zeitlang am Entkommen hindern. Mit den roten Papageienfedern hingegen besänftige ich Gleles Geist etwas, denn so gestehe ich ihm den Status eines Königs zu.« »Sehr gut. Du hast an alles gedacht, Sklave. Du bist wahrhaft ein großer Zauberer.« Der König grunzte halbwegs zufrieden. »Soll er
ruhig glauben, ein König zu sein und wie ein solcher behandelt zu werden. Das könnte seine Rachegelüste in der Tat ein wenig eindämmen.« »Ja. Aber mein Listenreichtum ist unerschöpflich, mein König. Denn mit den gekochten Kräutern in dem hohlen Kristallstein werde ich ihn langsam aber sicher vergiften. In spätestens drei Jahren wird Gleles Geist vollkommen gestorben sein. So lange musst du also noch darauf achten, dass die Stechwinde bleibt.« Agadja klatschte in die Hände wie ein kleines Kind. Er strahlte. Murtala, der Sklave, hatte soeben das volle Vertrauen des mächtigen Königs der Fon gewonnen.
Murtala, der sechzehnjährige Bororo-Junge, wälzte sich ungläubig auf dem Bett aus weichen Tierfellen. So bequem hatte er schon eine Ewigkeit nicht mehr geschlafen. Wohlriechende Öle standen an seinem Lager, gleich würden zwei Mädchen kommen und ihm den von Peitschenhieben vernarbten Rücken einreiben. Schon den ganzen Tag über hatte er erfahren, wie wunderbar es war, wenn man in Agadjas Sonne stand. Er ließ sich von diesen Vorzügen aber nicht blenden. Sein Hass auf den König und die Adligen war ungebrochen. Er musste sich nur kurz das mumifizierte Gesicht seines Vaters vorstellen, das noch immer den Thron trug. Morgen würde er den König bitten, den Kopf auszutauschen und Sani würdig zu bestatten. Agadja war sicher nicht dumm. Aber er war auf einen billigen Zaubertrick hereingefallen. Was ihm Murtala vorgeführt hatte, war lediglich die Weihe eines Zauberspiegels gewesen, wie sie die Bororo-Zauberer seit Urzeiten vornahmen. Ein Ritual, das ihm sein Vater frühzeitig gezeigt und das er nie wieder vergessen hatte. Das Stück Kupfer, das er als Zauberspiegel initiiert hatte, hatte zwar Gleles gequälten, hasserfüllten Geist gezeigt, der sich tatsächlich hier irgendwo aufhalten musste. Aber ein Zauberspiegel besaß nur die Macht, Dinge zu zeigen, nicht, sie einzusperren. Agadja hätte ihn am liebsten gleich auf den Dämon gehetzt, um
diesen dienstbar zu machen. Aber Murtala hatte behauptet, er müsse sich einen Tag lang auf diese sehr schwierige Mission vorbereiten, indem er seine Gedanken reinigte. Das stimmte durchaus, wenn auch sicher in einem ganz anderen Sinn, als der König ihn dahinter vermutete. Murtala hatte Angst. Er wollte Zeit zum Nachdenken haben. Vielleicht kam ihm die richtige Idee ja doch noch. Am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang wurde Murtala in den Verbotenen Hain geführt. Mehr Zeit hatte ihm der Herrscher nicht mehr zugestanden. Drei niederer gestellte Schamanen mit buntem Federschmuck auf den Köpfen und allerlei am Körper hängenden magischen Gegenständen wiesen ihm den Weg. Im Gegensatz zum König erwiesen sie ihm aber kaum Respekt. Sie spürten wohl, dass er die Macht, die er vorgaukelte, nicht in diesem Umfang besaß. Aber sie konnten sich nicht offen gegen den Willen Agadjas auflehnen. Schweigend gingen sie voran. Sie befanden sich bereits in dichtem Dschungel. Immer wieder erschrak Murtala ob der vielfältigen Geräusche, ob das nun kreischende Papageien oder schnatternde Affen waren. Aber das war wohl eher seiner Angespanntheit zuzuschreiben. Was würde ihn erwarten? Auch wenn er früh reif geworden war, auch wenn er bereits wie ein richtiger Mann aussah, war er doch noch ein sechzehnjähriger Junge, der sich lieber angelehnt hätte, als bereits so hohe Verantwortung zu tragen. Daran änderte all der Hass nichts, den er in sich trug. Trotzdem war er wild entschlossen, Rache zu nehmen, wenn das Schicksal es ihm gestattete. Als sie sich durch ein Lianengestrüpp gekämpft hatten, blickten sie direkt durch zwei eng beieinander stehende Bäume auf einen mächtigen, uralten Baum, der wesentlich größer und dicker als die anderen hier war. Die Angst der drei Zauberer war nun unübersehbar. »Bis hierher geleiten wir dich, weiter nicht«, eröffnete ihm der Älteste von ihnen, der aus dem Reich der Songhai stammte. »Dort vorne ist der Baum, in dem seit alters her ein furchtbarer Dämon haust. Es ist Hausakoy,
der Blitzeschleuderer. Aber das spürst du sicher selbst.« Er lachte höhnisch. Murtala fühlte sich verunsichert. Er spürte gar nichts. Und von Hausakoy hatte er noch nie etwas gehört. »Natürlich spüre ich es«, sagte er. »Es ist nicht gut, diesen Dämon aus dem Baum zu lassen, in den er einst gebannt wurde. Wir glauben nicht, dass selbst der stärkste Zauberer ihn wirklich beherrschen kann. Nicht umsonst ist es selbst uns Zauberern seit sehr langer Zeit verboten, die Grenze, die hier beginnt, zu überschreiten. Wir würden es übrigens auch freiwillig nicht tun. Das wollen wir dir sagen, Sklave. Lässt du ihn frei, wird er nicht nur großes Unglück über die Fon bringen, er wird auch deinen Verstand und deine Seele fressen, auf dass sie allzeit in den schrecklichen Feuern brennen. Deswegen mache ich dir einen Vorschlag: Rette wenigstens deine Seele, indem du dich von uns töten lässt. Wir kennen Methoden, die dich keinen Schmerz spüren lassen.« Der Zauberer starrte ihn intensiv an. Murtala bemerkte, dass sich einer der beiden Anderen in seinem Rücken bewegte. Instinktiv ahnte er, dass sie ihm, entgegen ihrer Worte, keine Wahl lassen würden. Bevor sich ein Dolch in seinen Rücken bohrte, sprang er blitzschnell über die magische Grenze und drehte sich. Schreckensschreie wurden laut. Der Zauberer hatte tatsächlich einen Dolch in der Hand. Die Spitze glänzte feucht. Wahrscheinlich von Gift. Der Bororo war darauf gefasst, dass sie ihm trotz ihrer Angst nachsetzen würden. Sie taten es nicht. Stattdessen wurden sie plötzlich von Speeren durchbohrt. Gurgelnd sanken sie nieder. Zwischen den Bäumen trat Odudu hervor. Drei seiner Soldaten begleiteten ihn. »Ich wusste längst, was sie vorhatten«, rief er und hob die Hand. »Du warst nie in Gefahr.« Dann verschwanden sie so lautlos wieder im Dschungel, wie sie gekommen waren. Murtala seufzte. So fähig der Hauptmann auch sein mochte, das war eine glatte Fehleinschätzung. Hätte er nicht von selbst reagiert, läge er jetzt hier mit den Zauberern. Der Bororo-Junge wandte sich dem Baum zu. Er wirkte in der Tat unheimlich, düster, böse. Kein
Tier turnte darauf herum, auch in den Kronen der benachbarten Bäume nicht. Halt, das war nicht ganz richtig. Jetzt erst bemerkte er die Schwärme von Fliegen, die am Stamm und auf den Ästen saßen und ganze Trauben bildeten. Murtala hatte das Gefühl, ein leises Raunen zu vernehmen, das ihm schmeichelte und ihn lockte. Gleichzeitig spürte er das unbegreiflich Böse, Widerwärtige, das in diesem Schmeicheln und Locken steckte. Trotz der angenehmen Temperaturen fror er plötzlich. Mit großen Augen schaute er am Stamm hoch. Und hatte plötzlich das Verlangen, einfach zu fliehen, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Doch der Schrumpfkopf seines Vaters, der in diesem Moment klar und deutlich vor seinem geistigen Auge auftauchte, verdrängte alle Gedanken an Flucht. Er hatte die Möglichkeit, alle Bororo zu rächen, also würde er es tun. Damit gab er nicht nur seinem Hass nach, er erfüllte zugleich Sanis Vermächtnis. Denn dieser hatte die Rache von ihm verlangt. Ja, räche die Deinen. Rache ist eine starke Triebfeder. Wir helfen dir dabei, wisperte es in ihm. Langsam ging Murtala um den Baum herum. Auf der Rückseite machte er eine seltsame Entdeckung. Etwas über Kopfhöhe war die Rinde so seltsam verwachsen, dass sie ein Gesicht im Baumstamm bildete. Deutlich sah er die Augen, die Andeutung einer Nase, zwei wulstige Lippen. Sogar eine Art Kopfbedeckung glaubte er erkennen zu können. Murtala betrachtete das Gesicht fasziniert. Es wirkte nicht böse. Einfach nur – ernst. Rund um das Gesicht waren magische Zeichen in die Rinde geritzt. Ganz ähnliche, wie sie auch Sani für seine Magie verwendet hatte. In ihnen wurde die Kraft der Erde und der Tiere lebendig. Und äußerst stark, wenn man sie in den richtigen Gruppierungen anwandte. Der Bororo-Junge erfasste instinktiv, dass dieses Gesicht mit den Zeichen zusammen den Dämon in den Baum bannte. Vielleicht war es sogar das Gesicht des Magiers, der Hausakoy einst besiegt hatte. Hatte er sich etwa geopfert? Hauste er selbst für alle Zeiten im Baum, um den Dämon am Entkommen zu hindern? Murtala bekam es nun richtig mit der Angst zu tun. Zum ersten
Mal wurde ihm tatsächlich bewusst, worauf er sich hier unter Umständen einließ. Er hatte es in seinem Leben noch niemals mit Dämonen zu tun bekommen und konnte ihre Fähigkeiten daher höchstens abstrakt erfassen. Aber wenn sich große Zauberer auf diese Weise opferten, was musste der Dämon dann für ein Wesen sein? Und trotzdem: Mit der Dreistigkeit des sechzehnjährigen Zauberlehrlings glaubte Murtala, eine schlichtweg geniale Lösung parat zu haben. Ja, so würde es gehen. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen.
6. Bad Saulgau / Pfullendorf, Baden-Württemberg, September 2007 Am nächsten Tag reisten die beiden Dämonenjäger mit Petra Cerny ins Schwäbische. Als sie an einem bekannten Fast-Food-Restaurant vorbei kamen, bat die ältere Dame Zamorra, eine kleine Pause einzulegen. »Seine Sie mir bitte nicht böse, Herr Professor, aber ich habe große Lust auf einen Burger. Sie wissen schon …« Gleich darauf verschlang sie mit wahrem Heißhunger ein ganzes Menü und goss eine große Cola hinterher. Nicole konnte nur noch staunen. Zamorra setzte derweil den ersten Teil seiner Idee um und rief erneut Hauptkommissar Lutz Eiserstorf an. Er bat ihn, den Namen des Unfallfahrers in Erfahrung zu bringen. Zehn Minuten später hatte er ihn. Mitsamt der Adresse und der Arbeitsstelle. »Guido Kraus. Bad Saulgau. Na, da bin ich ja mal gespannt, was er uns erzählt«, sagte der Meister des Übersinnlichen. »Vielleicht kommen ja noch ein paar Ungereimtheiten mehr ans Tageslicht.« »Ob Marias Verschwinden aus dem angeblich von innen abgeschlossenen Haus tatsächlich eine Ungereimtheit ist, wissen wir nicht«, erwiderte Nicole, die heute hüftlanges, hellgelbes Haar trug. »Ich weiß aber, dass man viele Dinge einfach nicht bemerkt, wenn man in Gedanken ist oder intensiv Fernsehen schaut. Wahrscheinlich hat's die Mutter einfach nicht registriert, als ihre Tochter an ihr vorbei gehuscht ist.« »Man wird sehen.« Sie fuhren in das beschauliche Städtchen Bad Saulgau. Guido Kraus arbeitete als Verkäufer in einem Autohaus, das mehrere Marken vertrieb, darunter eine französische. »Sehr sympathisch«,
kommentierte der Professor. »Eine Aufgabe wie geschaffen für mich«, behauptete Nicole. Sie schlenderte in den Ausstellungsraum, ging interessiert zwischen den Modellen hindurch und dann an den Verkaufsbüros vorbei. Die Angestellten sahen ihr längst alle hinterher, mehr oder weniger heimlich, auch die Frauen am Tresen. Guido Kraus, ein stämmiger, mittelgroßer Mittzwanziger, saß in seinem Büro. Er war gerade frei. Dünne, blonde Haare hingen bis auf seine Schultern herab. Eine kühn geschwungene, modische Locke verdeckte seine linke Gesichtshälfte fast ganz. Nicole lächelte ihn an. Sofort erhob er sich und kam heraus. »Grüß Gott. Kann ich Ihnen behilflich sein?« Nicole heuchelte Interesse an einem französischen Modell. Kraus zeigte es ihr und hielt ihr einen Vortrag, in dem es von Zahlen nur so wimmelte. Dabei hatte er die Hände in den Hosentaschen. Wie zufällig zog er die Hose immer wieder so nach hinten, dass die Konturen seiner Männlichkeit abgebildet wurden. Außerdem bedachte er Nicole mit Blicken, die nichts mehr mit reinen Verkaufsabsichten zu tun hatten. Er war ein Macho übelster Sorte. »Vielleicht sollten wir in ein Café gehen und unser nettes Verkaufsgespräch dort fortsetzen«, schlug Nicole vor. »Sie sind ein interessanter Mann, Herr Kraus.« Dem fielen fast die Augen aus den Höhlen. »Äh ja, natürlich, gerne. Sie sind nämlich ebenfalls eine tolle Lady, Frau Duval.« Er sagte tatsächlich Lady. »Ich sage kurz meinem Chef Bescheid. Bin sofort wieder da.« Als er zurückkam, musterte er sie mit unverhohlener Gier. Er grinste breit. »Kommen Sie, nicht weit von hier ist ein super Café. Da bin ich Stammgast. Ist auch abends ganz toll, wenn es Sie interessiert. Und tanzen kann man da auch ganz toll. Super Musik. Einfach toll.« »Ist ja toll«, erwiderte Nicole. »Na, mal sehen, vielleicht könnte das tatsächlich was werden. Ich bin noch bis morgen hier in Bad Saulgau und habe noch keine Übernachtungsgelegenheit.« »Ist nicht wahr. Die könnte ich Ihnen besorgen, wenn Sie wollen.
Guido besorgt alles.« Er lachte überlegen. »Was könnten Sie mir noch besorgen?« »Wie gesagt, was immer Sie wollen.« »Toll.« Er schaute sie irritiert an. Sie setzten sich in das kleine Café. »Wissen Sie, Guido, ich darf doch Guido zu Ihnen sagen, ja?« Er nickte geschmeichelt. »Natürlich. Und wie darf ich Sie nennen?« »Nicole. Wissen Sie, Guido, ich brauche ein neues Auto, weil ich mit meinem alten einen Unfall hatte. Da ist mir nachts ein Reh rein gelaufen. Ich hab's voll erwischt, Totalschaden. Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Schock war. Rehe können so furchtbar schreien. Ist Ihnen das auch schon mal passiert?« Sie sah ihn erwartungsvoll schmachtend an. Guido konnte gar nicht mehr anders, als ihre Geschichte zu toppen. Schließlich wollte er möglichst schnell an die Fleischtöpfe. »Ob Sie's glauben oder nicht, Nicole, mir ist vor einigen Monaten noch was viel Tolleres passiert.« Er lehnte sich nach hinten, die Arme links und rechts auf die Rückenlehne gelegt und machte ein düsteres, wie er wohl fand geheimnisvolles Gesicht. »Tatsächlich?«, hauchte sie und sah ihn aus großen Augen an. Nun schieß schon los, du Idiot … »Ja, es … es war noch viel schrecklicher als Ihr Reh, Nicole. Ich hab ein Mädchen überfahren. Es war sofort mausetot.« »Wie bitte?« »Ja, Sie haben richtig gehört. Es war ein schrecklicher Unfall. Aber ich konnte nichts dafür. Ich hab mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten. Ausnahmsweise mal.« Er lachte pointiert. »Sonst bin ich immer flotter unterwegs. Man hat ja seine Zeit nicht gestohlen. Na ja, und da lag sie plötzlich im Volllicht. Mitten auf der Fahrbahn. Einfach so. Und schon hat's rumms gemacht. Ich bin volle Kanne in sie reingerammelt. Finito. Aus.« Nicole hätte ihm am liebsten eine gescheuert. »Sie lag da? Sie kam nicht gelaufen?«
»Nein, sag ich doch. Sie lag schon auf der Straße.« Er redete so großspurig laut, dass es auch die Gäste an den anderen Tischen mitbekamen. »Das ist ja tatsächlich noch schrecklicher als mein Reh. Ist das Mädchen vielleicht aus dem Wald gekommen?« Kraus schüttelte den Kopf. »Da war kein Wald. Freie Strecke, Wiesen links und rechts. Ich bin ein super Autofahrer. Ich sehe genau, wenn sich links und rechts der Scheinwerfer was tut. Ich hab den Blick dafür. Mein Vater war nämlich ein Adler. Gut, was? Na ja, auf jeden Fall kam sie nicht von der Seite. Sie dürfen's mir ruhig glauben, die lag bereits auf der Straße. So auf dem Bauch. Mit dem Kopf zum Auto. Die hat noch mit aufgerissenen Augen geschaut. Und schon hat's gehoppelt.« Nicole schaffte es tatsächlich, Gänsehaut auf ihren Armen entstehen zu lassen. Sie schüttelte sich. »Puh, das hört sich wirklich furchtbar an. Das arme Mädchen. Und Sie Ärmster erst.« Sie nahm einen Schluck Cappuccino. »Sie sagten doch, Sie hatten aufgeblendet.« »Volllicht, ja.« »Da hätten Sie sie aber bei angepasster Geschwindigkeit ein ganzes Stück vorher sehen und zumindest eine Ausweichbewegung machen müssen.« Kraus stutzte. »Ja, stimmt wohl. Aber das Seltsame ist, ich habe sie nicht gesehen. Obwohl ich nach vorne geschaut habe. Sie war plötzlich da. Einfach so.« Nicole beendete das Gespräch mit dem Hinweis, dass sie es sich mit dem Auto überlegen werde und dass demnächst ihr Freund hier eintreffen werde. Sie ließ einen zutiefst enttäuschten Autoverkäufer zurück, dem zudem deutlicher Ärger ins Gesicht geschrieben stand, als er die beiden Cappus ohne reelle Gegenleistung bezahlen musste. »Seltsame Geschichte, Chéri«, sagte Nicole zu ihrem Lebensgefährten und Chef. »Wenn ich das Ganze mal ins Magische übersetze, hört es sich an, als sei diese Maria aus dem Nichts aufgetaucht.«
»Du meinst, eine Art Materialisation?« »Ja, so ungefähr. Auf was sind wir da nun wieder gestoßen?« Am frühen Abend fuhren die drei weiter nach Rosna. Das Sportgelände des FV Weithart lag etwas außerhalb des kleinen Ortes, in einer Senke vor dem direkt dahinter beginnenden Wald. Kuhwiesen säumten die Zufahrt. Auf dem Hauptplatz trainierte eine Männermannschaft. Vom Wirt des Vereinsheims, das zwischen den beiden Plätzen in leichter Hanglage errichtet worden war, erfuhren sie, dass die Mädchen am nächsten Tag ein Heimspiel hatten, Trainer Lindemann aber momentan für den Verein zwecks Sponsorensuche unterwegs sei. »Kommen Sie doch einfach morgen vorbei und schauen sich das Spiel an«, schlug Leo Kugel, gleichzeitig auch noch Vereinsvorstand, vor. »Das wird ein Kracherspiel gegen den Erzrivalen und Tabellenführer aus Denkingen. Bisher hat immer Denkingen gewonnen. Aber unsere Mädels sind so gut drauf, die hauen die dieses Mal weg.« »Keine schlechte Idee«, meinte Nicole. »Schauen wir uns also ein Mädchenfußballspiel an. Ich wollte nämlich früher auch gerne kicken, aber die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Außerdem haben wir sie dann gleich alle beieinander.« Leo Kugel lachte laut. »Ja, gut Ding will eben Weile haben. Auch bei unseren Mädels hat's eine Zeitlang gedauert, bis sie ins Laufen gekommen sind.«
Es war alles vorbereitet. Am Samstagmorgen, kurz nach Sonnenaufgang, war noch niemand auf dem Friedhof in Pfullendorf unterwegs. Eine gute Zeit also, um jemanden auszugraben und zu überführen. Heike Wegener, ganz in Schwarz gekleidet, zog ihren Gesichtsschleier vor. Niemand sollte sehen, dass sie weinte. Ihr Bekannter, der sie stützte, merkte es allerdings am leichten Zucken ihres Körpers. Nicht weit von ihr stand der Herr von der Friedhofsverwaltung, der den ganzen Vorgang überwachte.
Auf Marias Grab lagen noch immer Berge von Blumen. Zwei Totengräber räumten sie gerade beiseite. Ein kleiner Bagger und eine mechanische Seilwinde standen bereit. Und der Leichenwagen des örtlichen Bestattungsunternehmens, der Marias sterbliche Überreste samt Sarg nach Traunstein überführen würde. Nachdem die Blumen kein Hindernis mehr darstellten, stieg einer der Totengräber in den Bagger. Der Motor ging an und kaum einer der Beteiligten empfand dies nicht als Störung der Totenruhe. Die Schaufel fraß sich in den Boden. Das Loch wurde immer größer, während der Erdhaufen daneben in gleichem Maße wuchs. In etwa einsachtzig Tiefe wurde der Baggerführer vorsichtiger. Jetzt würde er gleich auf den Sargdeckel kommen. Den wollte er schließlich nicht beschädigen. Schließlich war der Sarg so weit von der krumigen Erde befreit, dass er mit der Seilwinde hochgehoben werden konnte. Dann schwebte er knapp über der Graböffnung. Heike Wegener wandte den Blick ab. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Die plötzliche Frage des Verwaltungsangestellten, in der deutliches Entsetzen mitschwang, zerriss die morgendliche Stille wie ein Peitschenhieb. »Um Gottes Willen, was ist das?«
7. Königreich Dahomey, Benin, 1730 Murtala stand mit einem Baumeister, der ihn auf Agadjas Geheiß begleitete, vor dem Dämonenbaum. Der Baumeister, der nicht unwesentlich am Ausbau des Königspalastes vor einigen Jahren beteiligt gewesen war, vermaß die genauen Abstände zwischen den magischen Zeichen und rechnete sie maßstabsgetreu herunter. Auch die Maße des Baumgesichts erfasste er auf diese Art. Schließlich fertigte er eine genaue Zeichnung auf einem Pergament an, das die Fon von den Weißen in rauen Mengen bekamen. Noch am selben Tag machten sich die beiden besten Maskenschnitzer der Fon daran, aus dem Ast eines Afzelia-Baums eine maßstabsgetreue Maske des Baumgesichts anzufertigen. Agadja saß ihnen im Nacken und drohte mit einem grausamen Tod, wenn sie sich nicht beeilten. Die Oyo erzielten einen Sieg nach dem anderen und waren von den Fon nicht mehr aufzuhalten. Wie diese benutzten sie Kanonen und Feuerstöcke der Weißen. Nur, dass die Modelle der Oyo etwas weiter entwickelt zu sein schienen. Agadja war klar, dass ihn nur noch die Macht Hausakoys retten konnte. Trotz des Drucks arbeiteten die Maskenschnitzer, die sich abwechselten, äußerst präzise. Sie setzten die Angaben des Baumeisters auf den Millimeter genau um. Am Abend war die Maske fertig. Sie zeigte ein exaktes Abbild des Baumgesichts mit den magischen Zeichen drum herum. Murtala war begeistert. Wenn Baumgesicht und magische Zeichen in genau dieser Konstellation stehen müssen, um den Dämon zu bannen, werden sie auch mich schützen, sagte er sich. Und setzte sich die Maske auf. Sie war innen so gearbeitet, dass sie genau auf sein Gesicht passte. Auch das war von dem Baumeister vermessen worden.
Nachdem sich der Bororo zufrieden äußerte, belohnte der König den Ingenieur und die Maskenschnitzer reichlich. Jeder durfte sich zehn Sklaven für den Privatgebrauch aussuchen. Murtala stöhnte innerlich. Bald, bald … Nach Einbruch der Dunkelheit ging er zum Dämonenbaum zurück. Mit aufgesetzter Maske und rasendem Herzschlag machte er sich daran, im flackernden Schein einer Fackel die bannenden Zeichen zu bearbeiten. Er benutzte ein scharfes Messer dazu. Indem er neue Kerben in die Rinde zog und verschiedene Zeichen miteinander verband, löste er ihre Wirkung vollkommen auf. Zunächst passierte nichts. Erst, als er ein bestimmtes Zeichen links des Gesichtes bearbeitete, ging plötzlich eine Art Seufzen durch den Baum. Murtala verharrte. Die Schwäche in seinen Beinen war plötzlich so groß, dass er sich auf den Boden sinken ließ. Mit einer Hand stützte er sich am Baum ab. Dabei hatte er das Gefühl, als zittere der alte Riese leicht, als krümme er sich unter Schmerzen. Das Baumgesicht über ihm pulsierte plötzlich! Fasziniert erhob sich der Bororo. Die Schwäche war wie weggeblasen. Er starrte auf die Züge, die sich in verzweifelter Qual zu verzerren schienen. So, als kämpfe das Baumgesicht gegen etwas, das immer stärker wurde und gegen das es sich in wachsender Ohnmacht stemmen musste. Weit hinter dem Gesicht, tief im Baum drinnen, bildete sich ein orangerotes Glosen. Es pulsierte und bestimmte den Rhythmus des Baumgesichts. Murtala konnte es sehen, obwohl das Baumgesicht nach wie vor massiv war. Magie machte es möglich. Er blickte in eine fremde Welt hinein, deren Grenzen zu seiner nicht mehr bestanden. Und er selbst hatte das Tor zu diesem anderen Universum aufgestoßen! Das Glosen breitete sich rasend schnell aus, wurde dabei immer stärker. Dann explodierte es in einer grellen Lichtflut. Trotzdem blendete sie Murtala nicht. Der Bororo sah, wie sich ein unbegreifliches schwarzes Schemen aus dem Zentrum der Explosion löste und das Baumgesicht durchbrach. Wie eine Wand stand die schwarze Kraft plötzlich vor ihm – und drang in seinen Geist ein!
Murtalas Augen leuchteten plötzlich in einem grellen Orange. Er schrie wie am Spieß. Unglaublich fremde Bilder und Eindrücke überschwemmten ihn in schneller Abfolge. Er sah brennende Höllenfeuer, die sich bis zum Horizont erstreckten. Arme Seelen wimmerten in ewiger Qual darin. Dämonen, die wie aufrecht gehende Tiere aussahen, stolzierten dazwischen herum und kicherten höhnisch. Er sah tiefsten Dschungel, angstvoll auf den Knien liegende Menschen und grelle Blitze, die sie töteten. Und er verspürte eine derart machtvolle Gier nach ihren Seelen, dass er sie kaum ertragen konnte. Die Seelen landeten direkt in Hausakoys persönlichem Teil der Hölle, wo sie ihm als nie versiegender Energiespeicher zur Verfügung standen. Das ernste Gesicht eines wirklich mächtigen Zauberers zog an ihm vorbei, er spürte die unendliche Qual, als ihn das persönliche Opfer des Magiers in den Baum bannte. Murtala konnte nicht verhindern, dass der fremde, bösartige Geist ihn überschwemmte, sich ausbreitete und voller Triumph brüllte. Doch nun, da die schwarze Macht anbrandete, schlug die Maske endlich zu. Allerdings nicht so, wie der Bororo es sich ausgemalt hatte. Denn es gehörte sehr viel mehr als die genauen Abstände der verwendeten Zeichen dazu, um einen magischen Bann wirksam werden zu lassen. Die Maske, die der sich selbst überschätzende Zauberlehrling in seinem Hass geschaffen hatte, war durchaus mächtig. Sie besaß zwar tatsächlich einige Elemente eines Bannfluchs. Durch Murtalas Unterlassungen »wusste« sie aber nicht genau, was sie nun eigentlich bewirken sollte. So schuf sie einen Sog und bannte den Dämon in sich selbst. Noch während sie dies tat, vermischte sie ihre magischen Strukturen mit denen des Schwarzblütigen, aber auch mit denen des Bororos. Die äußerlich sichtbare Folge war, dass die Maske zu flimmern begann und in Murtalas Kopf sank. Das besiegelte die Verbindung endgültig. Hausakoys magische Kraft wurde dadurch nicht schwächer. Der Dämon war nun aber in alle Ewigkeit an die Maske gebunden. Ebenso wie Murtalas Geist. Nichts würde die magische Verbindung
je wieder auflösen können. Ansonsten bedeutete es den Tod. Hausakoy brüllte vor Angst und hilfloser Wut. Ihm war sofort bewusst, dass er sich nie wieder frei bewegen konnte. Deswegen würde er für immer und ewig auf jemanden angewiesen sein, der die Maske trug. Egal, ob es nun ein Mensch oder ein niederer Dämon war. Immerhin besaß er das Sagen in dieser seltsamen »Dreieinigkeit«. Der Bororo, dessen Augen noch immer in einem schwachen Orangerot glühten, ging nach Abomey zurück. Schwärme von Fliegen begleiteten ihn, denn Hausakoy hatte schon immer eine besondere Beziehung zu ihnen gehabt. Er hatte seinen Geist in Millionen Einzelteile zersplittern und jeden Teil in eine Fliege transferieren können, ohne dass sein Bewusstsein dadurch beeinträchtigt wurde. So hatte er mit ihnen fliegen und an Millionen Orten gleichzeitig sein können. Jetzt nicht mehr. Die Fliegen wiederum erkannten ihn als ihren Herrn an. War er irgendwo in der Nähe, wurden sie magisch von ihm angezogen. Langsam wandelte er durch die nächtlichen Straßen, hinauf zum Königspalast. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, schrieen entsetzt, als sie seine Augen sahen. Sie wichen zur Seite oder flohen ganz vor ihm. Auch Agadja, von siebzehn Zauberern umgeben, wurde bleich, als er der leuchtenden Augen ansichtig wurde. »Bist du es noch, Sklave? Hast du tatsächlich Macht über den Dämon? Oder hat er längst Macht über dich? Du trägst deine Maske nicht mehr.« »Doch, ich trage sie noch. Sie ist jetzt allerdings unsichtbar. Und ich trage den Dämon in mir und gebiete ihm, ganz so, wie ich es dir versprochen habe, mein König«, antwortete Hausakoy mit Murtalas Stimme. »Es wird mir ein Leichtes sein, seine schwarzen Kräfte für das Wohl Dahomeys einzusetzen. Mit ihm werden wir die Oyo zurückschlagen und ihr verdammtes Königreich in Schutt und Asche legen.« Das Orange der Augen explodierte kurz. »Gut, sehr gut«, flüsterte Agadja, dem der kalte Schweiß auf der Stirn stand. »Ich möchte, dass du mir eine Kostprobe deiner Macht gibst.«
»Morgen, mein König, werde ich es tun.«
Hilflos musste Murtala mit ansehen, wie der Dämon noch in dieser Nacht seinen Hunger nach Seelen im Sklavenhaus stillte, den König und seinen Hofstaat aber in Ruhe ließ. Denn Hausakoy wollte ebenfalls Rache. Ich werde alle Zauberer dieser Welt erbittert bekämpfen und sie ausrotten, damit sie mir niemals wieder so etwas antun können wie das Gefängnis im Baum, dachte er und es hallte machtvoll in Murtalas Geist wider. Mit denen Dahomeys fange ich an. Allerdings muss ich erst einmal ihre Stärke erkunden. Dazu ist es nötig, dass ich mich als Gefolgsmann des Königs ausgebe, um sie in Ruhe studieren zu können. Ich werde nie mehr wieder den Fehler machen, meine Gegner zu unterschätzen. Nach Anbruch des Tages bat der König Murtala, mit ihm an den Strand zu kommen. Im Morgengrauen waren zwei englische Sklavenschiffe eingetroffen und hatten Anker geworfen. Sie dümpelten nun draußen in der Brandung. Vierzehn Engländer, mit Säbeln und Pistolen bewaffnet, standen am Strand und wollten neue Ware beschauen. »Ihr kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt«, sagte Agadja. »Wie ihr wisst, führe ich gerade Krieg mit den verdammten Oyo. Da brauche ich jeden Mann zum Kämpfen. Es gibt also momentan keinen Sklavennachschub. Kommt wieder, wenn ich die Oyo besiegt habe.« »Du hast uns Sklaven versprochen, wann immer wir hier anlegen, König«, antwortete der englische Offizier und sah ihn aus harten Augen an. »Wir brauchen die Ware dringend für unsere Auftraggeber, die nicht warten werden. Und wir haben uns auf dein Wort verlassen. Das Wort eines Königs.« Er machte eine kurze Pause. »Du wirst mir also bis morgen vierhundert Sklaven besorgen, Agadja, haben wir uns verstanden? Es ist mir völlig egal, wo du die her nimmst. Und ich werde dich reich dafür belohnen. Sollte ich sie allerdings nicht bekommen, werde ich meine Schiffskanonen sprechen lassen.« Agadja reagierte auf jede Art von Drohung äußerst allergisch.
»Tötet sie«, befahl er seiner Leibgarde. Blitzschnell hatten die dreißig Soldaten ihre Bögen in der Hand und legten Pfeile darauf. Die Augen der Engländer wurden groß. Sie versuchten noch, ihre Pistolen zu ziehen, als bereits ein Pfeilhagel auf sie hernieder prasselte. Sechs von ihnen brachen auf der Stelle zusammen. Die Pfeile hatten ihre Hälse durchschlagen. Ein siebter tanzte brüllend umher und versuchte, den Pfeil aus seinen Wangen zu ziehen. Er hatte sie beide durchschlagen. Dem Offizier und zweien seiner Männer gelang es, je einen Schuss abzufeuern. Ein Leibwächter sank nieder. Die anderen waren blitzschnell heran und massakrierten die Engländer mit Dolchen. Agadja lachte schrill. »Schneidet ihnen die Köpfe ab. Ich will sie an meinen Pferdehalftern sehen!« Bei den Fregatten, die mit der Breitseite zum Strand lagen, gingen die Geschützluken hoch. Kanonen wurden in Position geschoben. »Zeig mir deine Macht, Sklave«, befahl Agadja. Murtala trat an den Strand. Seine orangeroten Augen glühten auf. Ein kleiner Feuerball löste sich daraus. Während ihn Hausakoy mit seiner Magie zum Schiff hinüber schleuderte, wurde er rasend schnell größer. Und schlug mittschiffs ein. Eine mächtige Explosion zerriss die Fregatte in zwei Hälften. Masten knickten, Tauwerk und Segel kamen herab. Matrosen schrieen und sprangen ins Wasser. Zu spät. Das magische Feuer, das sich durchs Schiff fraß, erfasste auch sie. Sie starben einen grausamen Tod. Während die beiden Schiffshälften kippten und sich auf die Seite legten, legte Hausakoy auch die zweite Fregatte in Schutt und Asche. »Wir werden noch heute aufbrechen und die Oyo stellen«, befahl der König. »Du wirst sie alle vernichten, Sklave. Danach wirst du ein freier Mann sein.« Die Worte klangen wie Hohn in Murtalas Ohren, dessen Geist für alle Zeiten in der Maske gefangen war.
In der Ebene von Sakete hatten die Fon ihr dezimiertes Heer zusammengezogen, um sich den Oyo zur Entscheidungsschlacht zu
stellen. Nicht weniger als dreiundsechzig Zauberer begleiteten es. Das war so gut wie alles, was die Fon in dieser Beziehung aufzubieten hatten. Hausakoy, der inzwischen einen Speer besaß, den er magisch behandelt hatte, triumphierte. Hier konnte er beginnen, seine Rache zu stillen. Die Fon-Magier waren zu sehr damit beschäftigt, die Soldaten mit Schutz- und Glückszaubern zu belegen, als dass sie sich groß um ihn hätten kümmern können. In der Nacht vor der Schlacht ging der Dämon durchs Feldlager und hielt blutige Ernte. Grelle Blitze zuckten aus seinem Speer. Ein Zauberer nach dem anderen sank entseelt nieder, ohne dass sie zunächst begriffen, was hier vorging. Panik brach im Lager aus. Soldaten rannten nach allen Seiten und versuchten, dem Unheimlichen mit den orange leuchtenden Augen zu entkommen. Hausakoy gelang es, mehr als die Hälfte der Zauberer zu vernichten und ihre Seelen zu fressen. Dann musste er fliehen, weil sich die anderen gegen ihn organisierten. Hätte er noch seine Freiheit gehabt, hätte er seinen Geist auf die Fliegen verteilt und die restlichen Zauberer einfach erstickt. Alle auf einmal, bevor sie den richtigen Gegenzauber gefunden hätten. Aber das ging nun nicht mehr. Die Fon erholten sich nicht mehr rechtzeitig von diesem Chaos. Die anrückenden Oyo hatten leichtes Spiel. Es gab nur wenige Tote bei der Schlacht. Dahomey war geschlagen und wurde tributpflichtig gemacht, ohne dass Agadja abgesetzt oder sonst wie in seiner Macht beschnitten wurde. Der Dämon hatte den Krieg tatsächlich entschieden.
8. Sportgelände Rosna, Baden-Württemberg, September 2007 Am Samstagnachmittag fanden sich die beiden Dämonenjäger und Petra Cerny wieder auf dem Waldsportplatz ein. Eine strahlende Sonne begrüßte sie. Trainer Erwin Lindemann, ein mittelgroßer, schlanker, drahtiger Mann mit dichten, braunen Naturlocken, ließ seine Spielerinnen in den blaugelben Trikots Aufwärmübungen mit dem Ball machen. Die Mädchen aus Denkingen reisten in fünf Autos an. Sie schleppten ihre Sporttaschen in die Kabine und beobachteten interessiert ihre Gegnerinnen. Einige scheue Blicke trafen Zamorra. »Mann, sieht der aber topp aus«, flüsterte die größte der Denkinger Spielerinnen. »Wie James Bond. Ein absoluter Wahnsinnstyp. Kann mir einer stecken, wer das ist?« Die Denkinger Akteurinnen betraten den Platz in weißen Trikots. Einige umarmten Weitharter Spielerinnen. »Die kennen sich zum Teil aus der Schule«, erklärte Leo Kugel, der sich zu ihnen gesellt hatte. »Einige gehen in dieselbe Klasse.« Die große Denkingerin, ein hübsches, schlankes Mädchen mit weißblondem Kurzhaarschnitt, stand etwas abseits. »Genug jetzt, Mädels«, rief sie. »Liebe machen könnt ihr später wieder. Erst mal hauen wir die weg. So wie immer halt. Alles klar?« »Wer ist das?«, fragte Nicole. »Rebecca Schaller. Total ehrgeizig. Fast fanatisch. Denkingen ist alles, Weithart nur Dreck. Das hat ihr Vater ihr eingetrichtert. Die könnte alles verkraften, nur keine Niederlage gegen uns.« Leo Kugel grinste. »Heute wird sie's zum ersten Mal verkraften müssen. Ich hab's im Urin, dass die Unseren gewinnen. Zwei zu eins sag ich.« Die Mädels aus Denkingen hatten Anspiel. Mit einem Pass auf den Flügel, einer präzisen Flanke und einem genau getimten Kopfball
von Rebecca überraschten sie die Weitharterinnen. Nach gerade mal zehn Sekunden hatte es bereits eingeschlagen. Rebecca jubelte, als wäre sie soeben Weltmeisterin geworden. Eine weiße Spielertraube bildete sich. Doch die Blau-Gelben blieben ruhig und starteten nun ihrerseits die ersten Angriffe. Dabei ließen sie sich auch von den zahlreichen Fliegen, die plötzlich auf dem Platz waren und sie aggressiv umsummten, nicht irritieren. Sie kombinierten so schnell und sicher, dass die Gegnerinnen schon bald überfordert waren. Als der Schiedsrichter zur Halbzeit pfiff, führten sie mit 5:2. Rebecca fluchte wie ein Kesselflicker und trat voller Wut gegen das Geländer. »Seid ihr alle bescheuert?«, machte sie ihre Mitspielerinnen an. »Wenn sich in der zweiten Halbzeit auch nur eine Einzige nicht so den Arsch aufreißt, dass sie auf dem Zahnfleisch daherkommt, hat sie Krieg mit mir. Ich will nicht gegen das blaugelbe Pack dort verlieren. Verstanden?« Es half nichts. Am Willen fehlte es beileibe nicht. Aber die Denkingerinnen durften froh sein, am Ende mit einem 4:8 nicht zweistellig unter die Räder gekommen zu sein. Rebecca war nicht zu beruhigen. Sie verweigerte das Shakehands. Stattdessen machte sie obszöne Gesten in Richtung der Blau-Gelben und schrie über den Platz: »Das war einfach bloß Glück, ihr blöden Schnepfen. Euch soll alle der Teufel holen. Wartet's bloß ab. Im Rückspiel gibt's Krieg.« Die Denkinger Trainerin schaffte es nicht, ihre Spielführerin zu beruhigen. Der Schiedsrichter machte sich bereits Notizen. Und die beiden größten Weitharter Spielerinnen gingen drohend auf Rebecca zu. »Isi, Denise. Lasst das!«, rief Erwin Lindemann und stürmte auf den Platz, um dazwischen zu gehen. Die Beiden hielten ein und drehten wieder ab. Auch Zamorra und Nicole gingen auf den Rasen. Lindemann wandte sich an Rebecca. Er schüttelte sie an den Schultern. »Sag mal, drehst du jetzt ganz durch? Was soll der Scheiß? Ihr habt verloren, na und? Aber du hast doch ein super Spiel gemacht. Drei Tore, tolle Pässe, der Einsatz hat auch gestimmt. Was willst du also?«
»Leck mich neun und neunzig Mal im Arsch«, erwiderte Rebecca, starrte Lindemann an und drehte sich um. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie in der Kabine. Zamorra kreuzte wie unabsichtlich ihren Weg. Währenddessen sprach Nicole Lindemann an. »Verzeihen Sie, wenn wir Sie stören. Aber wir sind Verwandte von Maria Wegener und würden uns gerne ein bisschen mit Ihnen über sie unterhalten.« Lindemann starrte sie an. »Maria«, flüsterte er und wirkte für einen Moment fast schwermütig. »Ja, natürlich, kommen Sie, wir hauen uns oben in der Gaststätte hin und trinken was. Da kann ich Ihnen Ihre Fragen beantworten.« Sie setzten sich an einen freien Tisch am Panoramafenster. Über die kleine Terrasse hinweg sahen sie direkt auf den Platz. Im Fernsehen lief die Sportschau. Lindemann bestellte sich ein Bier und einen Schweizer Wurstsalat. Zamorra, Nicole und Petra Cerny begnügten sich mit Isogetränken und Kaffee. »Hier habt ihr wenigstens keine Fliegen. Das war ja zu Beginn des Spiels echt schlimm«, stellte der Professor fest. »Kommen die von den zahlreichen Misthaufen hier in der Gegend?« »Keine Ahnung«, erwiderte Lindemann, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte. »Das war heute zum ersten Mal. Oder nein, warten Sie. Ich erinnere mich, dass es an dem Tag, als Klara tot zusammengebrochen ist, auch so war. Sie haben sich förmlich auf die Tote gestürzt. Ich konnte sie kaum reanimieren, weil überall diese Biester waren. Total aggressiv. Das war unheimlich. Aber als der Notarzt kam, waren sie alle wieder weg.« Dann kamen sie auf Maria zu sprechen. »Ich könnte noch immer heulen, wenn ich an das Unglück denke«, erzählte Lindemann. »Sie war unsere weitaus beste Spielerin. Total ehrgeizig. Sie hat es geschafft, die Anderen immer wieder mitzureißen und zu motivieren. Ich sag's als Trainer nicht gerne. Aber ohne sie hätte ich die faulen Hühner bis heute nicht zum Laufen gebracht. Maria hat großen Anteil daran, dass wir heute so gut sind.« Er nickte. Ein verbitterter Zug lag um seinen Mund. »Soll ich Ihnen was verraten? Nach Marias Tod haben alle Mädels einen
Schwur geleistet, für Maria immer ihr Bestes zu geben und für sie zu spielen. Das tun sie tatsächlich, deswegen sind wir jetzt so gut. Und soll ich Ihnen noch was verraten? Maria war die beste Freundin von Rebecca. Rebecca wollte sie unbedingt in die Denkinger Mannschaft holen. Aber Maria wollte bei uns bleiben, mit den Mädels hier was aufbauen. Und eins ist auch klar: Rebecca hätte sich niemals so aufgeführt, wenn Maria meine Mannschaft zum Sieg geführt hätte. Das hätte sie akzeptieren können, weil sie Maria als gleichwertige Spielerin angesehen hat. Es ist ein Drama, das sage ich Ihnen. Maria war das tollste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe. Ein bisschen verrückt, aber total diszipliniert und zielstrebig.« »Stimmt«, sagte Leo Kugel, der daneben stand und alles mitgehört hatte. »Aber das ist nicht das einzige Drama. In der Zwischenzeit haben wir zwei weitere Spielerinnen verloren.« Zamorra und Nicole horchten auf. »Ach«, fragte Letztere, »was ist denn passiert?« »Lea hatte einen Badeunfall und Klara ist auf dem Platz umgefallen. Einfach so. Herzschlag.« »Das ist wirklich tragisch.« »Menschlich ja«, sagte Kugel und es wirkte leicht gefühllos, »aber sportlich eher weniger. Die Beiden waren lediglich Ersatzspielerinnen, Mitläuferinnen, ziemlich trainingsfaul. Wir bewahren ihnen trotzdem ein ehrendes Andenken.« »Vielleicht sind Klara und Lea ja auch durch Blitze aus dem Speer umgekommen«, murmelte Petra Cerny völlig unvermutet, aber so laut, dass jeder es verstehen konnte. Lindemann starrte sie an. »Was haben Sie da eben gesagt?« »Ach, nichts, ich habe wohl bloß laut gedacht.« Die ältere Dame war sichtlich verwirrt. »Sie haben was von Blitzen aus einem Speer gesagt«, ließ der Trainer nicht locker. »Ich hab's genau gehört. Was soll der Blödsinn?« »Entschuldigen Sie bitte, Herr Lindemann, ich wollte Sie nicht aufregen. Ich habe manchmal eine blühende Fantasie, müssen Sie wissen.«
Er starrte verbissen auf den Fernseher. »Schon gut, schon gut. Aber wie man im Zusammenhang mit Fußball auf Blitze aus einem Speer kommen kann, verstehe ich nicht.« »Wie gesagt, es war eben nur so dahergeplappert. Bitte seien Sie nicht böse.« »Bin ich doch gar nicht.« Stattdessen war Erwin Lindemann von diesem Moment an abweisend und verschlossen.
Ein paar Weithart-Spielerinnen kamen in die Wirtschaft. Frisch geduscht und bester Laune. Sie setzten sich an einen Tisch und bestellten Pommes und Cola. »So hat Denkingen noch nie eins vor den Latz gekriegt«, sagte Isi grinsend und strich sich durch ihr schulterlanges schwarzes Haar. Mit einsfünfundsiebzig war sie die größte Weitharter Spielerin und konnte Rebecca von der Körpergröße her fast das Wasser reichen. »Genau«, pflichtete ihr die blonde Denise bei. Die Spielführerin war kleiner und stämmiger als Isi und die beste Technikerin in der Mannschaft. »Geschieht den blöden Hühnern ganz Recht. Aus denen haben wir Hackfleisch gemacht. Hühnerhack. Mädels, wir sind die Größten.« Alle lachten. »Klar sind wir die Größten«, sagte Sophia, allgemein nur Soffl genannt. »Du nicht«, gab Anja zurück. Für einen kurzen Augenblick legte sich so etwas wie ein Lächeln auf ihr mürrisches Gesicht. »Dafür musst du erst noch ein bisschen wachsen.« Das Lachen wurde lauter. »Du kannst mich mal«, erwiderte Soffl, die noch immer sehr viel kleiner und schmaler als alle ihre Mitspielerinnen war. »Will ich aber gar nicht.« Anja, nicht ganz so klein, dafür aber wesentlich kompakter, hatte heute wieder die Hälfte der Weitharter Tore gemacht. Wenn Zamorra sie nicht auf dem Platz gesehen hätte, wären ihm ernste Zweifel gekommen, dass sie überhaupt Fußball spielen konnte. Aber laut ihrem Trainer besaß sie das Torjäger-Gen. Und ging überdies zum Lachen in den Keller.
Simone, das Mädchen mit dem niedlichen braunen Pony, saß daneben und starrte zum Fenster hinaus. Denise stieß ihr unsanft den Ellenbogen in die Rippen. »He, was ist denn mit dir los? Warum lachst du nicht? Sonst immer reißt du die Klappe mit am weitesten auf. Wir haben gewonnen. Gewonnen! Gegen Denkingen.« »Was?« Simones Blick klärte sich. Sie schien aus weiter Ferne zurückgefunden zu haben. »Ach so, ja klar.« »Hat dich irgendwas gestreift? Du siehst so bleich aus.« Simone schüttelte den Kopf. »Mir ist nur ein bisschen schlecht, o.k.?« »Vor Überanstrengung kann's ja wohl nicht sein«, mischte sich Soffl ein. »Aber immerhin hast du heute ja schon fünf Minuten gespielt.« Simone galt als Mitläuferin, die weder im Spiel noch im Training gerne schwitzte. Deswegen waren ihre Spielzeiten immer ziemlich knapp bemessen – wenn sie überhaupt zum Einsatz kam. »Lass mich bloß in Ruhe, ja«, fauchte die Angegriffene zurück. »Ich hab eben meine Tage.« »Mein Gott, sonst bist du doch auch nicht so zickig. Irgendwie warst du echt schon mal besser drauf.« Kathrin und Julia kamen herein. Miss Blond und Miss Schwarz waren seit ihrer frühesten Jugend unzertrennliche Freundinnen. »Serv«, grüßte die schmale, hagere Kathrin cool und hob kurz den Arm. Julia hinkte leicht. Wie immer nach einem Spiel tat ihr das Sprunggelenk weh, das nach einem Sturz vom Pferd mehrere Male gebrochen gewesen war. Nach und nach trafen auch die anderen Spielerinnen ein. Nach einem Sieg spendierte der Trainer immer was zu trinken. Der Professor stand auf. »Darf ich mich zu euch an den Tisch setzen?« »Klaro«, erwiderte Denise. »Wir haben leider nicht so viele schöne Jungs im Verein. Da kommt uns ein gut aussehender Mann gerade Recht. Was, Mädels?« »Logisch«, sagte Isi und rückte einen Stuhl weiter. »Setzen Sie sich ruhig zu mir. Ich beiße nicht.« Zamorra lächelte. Er stellte sich als entfernter Verwandter Marias
vor. Auf einen Schlag war es ziemlich still am Tisch. »Sie war unsere Beste«, sagte Isi schließlich und starrte dabei trübsinnig in ihr Glas. »Wenn sie uns nicht gezeigt hätte, wo's lang geht, würden wir noch heute wie lahme Ackergäule über den Platz stampfen und alle Spiele verlieren. Es ist sehr schade.« »Es freut mich, dass ihr sie in so guter Erinnerung behaltet.« Zamorra nickte. »Weiß eine von euch, warum Maria in ihrer Todesnacht unterwegs war?« »Keine Ahnung«, murmelte Denise. »Hat sie niemandem was gesagt? Ich meine, so unter Freundinnen verrät man doch schon mal das eine oder andere kleine Geheimnis.« »Ja, schon«, erwiderte Soffl. »Aber da müssten Sie eher Rebecca fragen. Die war Marias allerbeste Freundin. Wir haben uns zwar auch öfters mal getroffen, aber außerhalb des Fußballs nicht ganz so viel mit ihr zu tun gehabt.« »Schade. Dann könnt ihr mir wahrscheinlich auch nicht sagen, ob sich Maria hin und wieder mit okkulten Dingen beschäftigt hat. Ich meine, Seancen, Hexenrituale oder so was.« Denise kniff die Augen zusammen. »Wie kommen Sie jetzt auf so einen Mist?« Zamorra fixierte sie aus seinen grauen Augen. »Wieso Mist? Ich weiß doch, dass sich viele Mädchen in eurem Alter mit übersinnlichen Dingen beschäftigen. Ouija-Board, spiritistische Sitzungen, Geisterbeschwörungen, diese Dinge.« »Wir nicht«, sagte Kathrin. »Da hätten wir alle viel zu viel Angst davor. Stimmt's, Mädels?« Die Mädchen redeten jetzt leise durcheinander. Nur ein paar nickten zögerlich. »Keine Ahnung, ob Maria so was gemacht hat«, fuhr Kathrin fort. »Ich habe auf jeden Fall nie was gepeilt. Ihr etwa, Mädels?« »Nein, wir auch nicht«, antwortete Denise für alle. »Aber in diesen Dingen ist sowieso eher Rebecca die Spezialistin. Die redet ständig von Hexenbeschwörungen und wen sie wieder durch Voodoo-Zauber foltern will und so Zeug halt.« »Nun sieh mal einer an«, sagte Zamorra. »Warum überrascht mich
das absolut nicht?« Die Mädchen starrten ihn an.
Das schwarzblütige Wesen verließ sein Versteck in dem uralten Gemäuer, als das Spiel bereits lief. Er mischte sich unter die Zuschauer – und verspürte plötzlich Furcht. Eine unglaublich mächtige Entität war gekommen. Mit etwas zusammen, das er weit weg gewähnt hatte. Was war schief gegangen? Das Wesen floh in wilder Panik vom Sportplatz in Rosna. Gerade noch rechtzeitig, bevor die fremde Macht reagierte. Die Spielerin, die es hatte holen wollen, bekam dadurch eine Frist. Doch sie trug das Mal des Todes bereits auf der Stirn. Entkommen würde sie ihm nicht.
9. Pfullendorf / Denkingen, Baden-Württemberg September 2007 Zamorra, Nicole und Petra Cerny hatten sich Zimmer im Hotel Adler in Pfullendorf genommen. Abends saßen sie noch an der Bar zusammen. Die ältere Dame trank Tee und nahm dabei ihre Medikamente ein. Sie verhinderten, dass der Körper Abstoßungsreaktionen zeigte. Das Gesicht der Frau wirkte grau und eingefallen, ihre Bewegungen noch lahmer als sonst. »Es geht gerade nicht so gut, Frau Cerny, was?«, fragte Nicole mitfühlend. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Oder wollen Sie vielleicht ins Bett? Es war sicher ein anstrengender Tag für Sie.« »O ja, Frau Duval, das war es.« Sie lächelte krampfhaft. »Das heißt, heute Morgen eigentlich noch nicht so. Da habe ich mich gut gefühlt, wie schon die ganzen letzten Tage. Aber bei dem Fußballspiel, da hat es plötzlich wieder angefangen.« »Was denn? Hatten Sie etwa wieder diese Visionen?« »Nein, da haben Sie mich falsch verstanden, Herr Professor. Ich habe mich einfach plötzlich schlapp gefühlt. Und das Herz hat deutlich mehr geschmerzt als sonst. Ich gehe demnächst ins Bett. Aber ein bisschen halte ich es schon noch aus.« »Gut.« Nicole lächelte sie an. »Und jetzt will ich wissen, Chéri, warum du vorhin die Mädchen nach okkulten Praktiken gefragt hast.« Zamorra, elegant in Jeans und schwarzen Rollkragenpullover gekleidet, schlürfte an seinem Whisky. »Ich hab mich schon gewundert, dass du so lange still hältst«, erwiderte er grinsend. »Ich wollte dich eben schmoren lassen.«
»Ach so. Muss ich jetzt mit dieser Logik zu Recht kommen? Na egal. Bevor ich's euch erzähle, möchte ich Frau Cerny noch kurz etwas fragen. Können Sie sich erinnern, wann genau sich Ihr Zustand bei dem Spiel verschlechterte?« Nicole horchte auf. Sie beugte sich ein wenig nach vorne. Ein Zeichen, wie angespannt sie lauschte. Doch zuerst einmal gähnte Petra Cerny dezent hinter vorgehaltener Hand. »Entschuldigung«, sagte sie dann leise und kaum wahrnehmbar. »Nun … ich … ich weiß nicht mehr so richtig. Ich glaube, es muss ziemlich am Anfang gewesen sein. Ich habe von dem ganzen Spiel wenig mitbekommen, weil ich eher mit mir beschäftigt war.« Sie drehte ein paar Mal sinnend den Kopf hin und her. »Wissen Sie, was ich mir überlegt habe? Vielleicht ist es ja so, dass … ich meine, dass sich Maria freudig aufgeregt hat, als sie das Fußballspiel mitbekommen hat. Ich meine, ich glaube, dass ein Teil von Maria in mir lebt, das ist unheimlich, nicht wahr? Vor allem für mich.« Sie begann, sich zu verhaspeln. »Und das hat das Herz dann eben nicht ausgehalten.« »Ja, da könnte was dran sein«, bestätigte Zamorra. »Aber Sie sollten nun wirklich ins Bett gehen, Frau Cerny. Ruhen Sie sich aus. Und morgen sieht die Welt schon wieder besser aus. Dann erzählen wir Ihnen alles Wichtige, was Sie wissen müssen. Einverstanden?« »Ja, Herr Professor. Einverstanden.« Nicole begleitete die Frau in ihr Zimmer. Nach zehn Minuten kam sie zurück. Mit einer völlig anderen Perücke, Typ blondes Pony. Der Barkeeper schaute irritiert. »Sie liegt jetzt im Bett, Chéri. Das mit dem freudig erregten Herzen vorhin könnte zwar durchaus möglich sein. Aber das war sicher nicht der wahre Grund, warum du sie gefragt hast. Also, ich höre.« Sie nippte an ihrem Cocktail und kickte ihm aufmunternd ihre Schuhspitze in die Wade. »Aua, nicht so fest, Nici.« Zamorra verzog das Gesicht, als leide er große Schmerzen. »Es ist ziemlich seltsam. Ungefähr zu der Zeit, als Frau Cerny ihre Herzprobleme bekam, begann sich Merlins Stern plötzlich leicht zu erwärmen. Nur für einen Moment.« Instinktiv fasste der Meister des Übersinnlichen nach seinem Amulett, das er an einer Kette um den Hals hängen und unter dem Pullover
versteckt hatte. »Weißt du, ich hatte das Gefühl, dass die olle Blechscheibe irgendetwas angreifen will. Aber dann muss das Zielobjekt blitzschnell wieder verschwunden sein. Wahrscheinlich hat es Lunte gerochen.« »Ein Dämon?« »Hm, vielleicht. Vielleicht auch nur ein Schwarzmagier. Auf jeden Fall stinkt hier etwas gewaltig zum Himmel. Was, das werden wir herauskriegen müssen.« »Deswegen hast du die Mädchen aber sicher nicht nach dem okkulten Krimskrams gefragt, Chéri. Was verschweigst du mir bis dato noch?« »Hätte ich geschwiegen, wäre ich weiterhin als intelligent betrachtet worden«, seufzte Zamorra. »Du kennst doch mein Lebensmotto.« »Nie gehört. Das hast du gerade eben erfunden.« »Tatsächlich? Wie auch immer, für dich kann ich ja mal eine Ausnahme machen. Leck mich neun und neunzig Mal im Arsch.« »Wie bitte?« Nicole stemmte empört die Fäuste in die Hüften. »Ich hab schon immer gesagt, dass du unersättlich bist.« »Bin ich in der Tat. Aber im Ernst: Diesen Spruch hat Rebecca heute nach dem Spiel abgelassen, als Trainer Lindemann sie gelobt hat. Erinnerst du dich nicht mehr?« »Doch. Eine gute Kinderstube ist eben nicht jedem gegeben. Und?« »Würdest du nicht immer nur in den Modezeitschriften blättern, meine liebe Nici, sondern auch hin und wieder mal einen Blick in die Fachbücher für Okkultes werfen, wüsstest du, dass es sich bei diesem Spruch um einen altdeutschen Abwehrzauber gegen das Behexen durch zu viel Loben handelt. Es ist ein sehr seltener Zauberspruch, den eigentlich nur Eingeweihte kennen. So wie ich eben.« Er grinste unverschämt. »Hm. Das heißt also, dass sich diese Rebecca bereits ziemlich tief in die Materie eingearbeitet haben muss.« »So sehe ich das auch. Die anderen Mädchen haben es uns ja bestätigt. Aber schwarzmagisch angehaucht ist Rebecca nicht. Ich habe es mit Merlins Stern getestet.«
Nicole klatschte angedeutet in die Hände. »Na bravo. Jetzt sind wir endlich so weit, dass auch eine kleine, dumme Sekretärin versteht, worum es geht. Da Rebecca und Maria gute Freundinnen waren, könnten sie sich zusammen mit okkulten Dingen beschäftigt haben.« »Eben. Vielleicht haben wir hier unseren ersten Ansatzpunkt. Die Beiden haben bei einer Seance einen afrikanischen Dämon oder Magier beschworen und der hat sich Maria geholt. Dummerweise befindet sich jetzt Marias Herz in Frau Cernys Körper und versorgt diese über das Zellgedächtnis mit den grauenvollen Details von Marias Ableben.« »Klingt logisch. Dann müssen wir zumindest damit rechnen, dass sich der Schwarzblütige demnächst auch Rebecca holt.« »Durchaus, Nici. Und wie passen die beiden anderen toten Mädchen ins Bild?« »Keine Ahnung. Vielleicht waren sie ja bei der Seance dabei. Wir müssen nachfragen, ob Klara und … und … wie hieß die Andere noch mal?« »Lea.« »Ja, ob also Klara und Lea mit den beiden Anderen befreundet waren.« Der Professor nickte. »Vielleicht ist deren Tod aber auch nur Zufall und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«
Rebecca wohnte in einem Reihenhaus in Denkingen. Auch heute wieder war ihre Mutter beim Arbeiten, als sie abends nach Hause kam. Es war hart für sie, sie beide durchzubringen. Aber sie hatte sich noch niemals beklagt. Wo ihr Vater sich aufhielt, wusste das Mädchen nicht. Rebecca hatte noch viele liebevolle Erinnerungen an ihn, obwohl er die Familie schon vor mehr als zehn Jahren verlassen hatte. Sie vermisste ihn schmerzlich und hätte gerne Kontakt zu ihm gehabt. Er hatte sich aber nie wieder gemeldet. Von Mama wusste Rebecca, dass ihr Vater einige Affären gehabt hatte und mit seiner angeblichen großen Liebe durchgebrannt war.
Vor einigen Jahren hatte Rebecca hart an sich gearbeitet, um Fußballprofi zu werden. Sie wollte viel Geld verdienen und ihrer Mutter alles tausendfach zurückgeben. Doch schon bald hatte sie schmerzlich erfahren müssen, dass es nicht annähernd reichte für ihren großen Traum. Da ihre Mutter nicht da gewesen war, um die Verzweifelte zu trösten, hatte sie begonnen, übersinnliche Mächte anzurufen und sich eingehender mit diesen zu beschäftigen. Vor allem Hexen fand Rebecca ungeheuer faszinierend. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Mach dir bitte was zu essen. Ich hab dich lieb, Mama, stand darauf. »Ach Scheiße, Mama.« Rebecca zerknüllte den Zettel. Sie hatte keinen Hunger. Noch immer wütend über die unverhoffte Niederlage, ging sie in ihr Zimmer. Nur hier konnte sie wirklich Trost finden. In ihrem Hexenreich. Geheimnisvolles Zwielicht empfing das Mädchen. Es kam hauptsächlich von den schwarzen Vorhängen, die das Fenster fast ganz bedeckten. Überall standen halb heruntergebrannte schwarze Kerzen. Über dem Bett hing der Nachdruck eines Bildes, das 1577 gemalt worden war. Es zeigte eine nackte Frau mit großen, verzweifelten Augen und vor dem Bauch gefesselten Händen. In der Rechten hielt sie eine brennende Stabkerze, während ein eiförmiger, Mitraähnlicher Hut auf ihrem Kahlkopf saß. Darauf prangte die Silhouette einer geflügelten, geschwänzten Teufelsgestalt, die mit einem Dreizack hantierte. Das Bild hieß »Das Martyrium der Barbara Doree« und Rebecca fand, dass es ihre eigene Situation ganz gut widerspiegelte. Auf den dunkelblauen Teppich hatte sie mit Kreide einen magischen Doppelkreis gemalt. Im äußeren Segment reihten sich die Tierkreiszeichen aneinander, während der innere Kreis Platz für sie selbst ließ. Hier holte sich Rebecca ihre verlorene Kraft zurück. Sie musste so in ihn sitzen, dass ihr Herz dem jeweils gültigen Monatszeichen zugewandt war. Das tat sie. Dazu trank sie einen Schluck selbst hergestelltes Lustralwasser, um sich innerlich von allen bösen Gedanken zu
reinigen. Denn nur so kehrten Ruhe und Frieden wieder in sie zurück. Rebecca seufzte. Nach der inneren Reinigung erfolgte nun die äußere. Sie zog sich aus und stand unter die Dusche. Als das warme Wasser wohlig auf ihrer Haut prickelte, begannen ihre Hände, auf Wanderschaft zu gehen. Sie stellte sich vor, jetzt ihren Schatz bei sich zu haben, während sie leise zu stöhnen begann … Als Rebecca aus der Dusche stieg, fühlte sie sich wunderbar entspannt. Ihr Herz klopfte noch immer wie verrückt. Kurz darauf klingelte das Telefon. »Hallo?« »Bist du's, Becky?« »Ja, wer sonst? Ich freu mich, dass du anrufst, Schatz. Gerade eben hab ich ganz fest an dich gedacht. Es war wunderwunderschön.« Sie lächelte glücklich vor sich hin. »Ich finde es so schade, dass du nicht bei mir vorbei kommen kannst. Ich habe solche Sehnsucht nach dir.« »Und ich erst nach dir, meine süße, kleine Becky. Ich will dich heute Nacht treffen. Unbedingt. Geht das?« »Natürlich. Gerne. Ich will dich auch treffen. Ich freu mich schon so. Wann und wo?« »Um Mitternacht an unserem geheimen Platz.« Eine Viertelstunde vor der Tageswende verließ Rebecca das Haus. Sie stieg auf ihr Fahrrad und radelte über grüne Planwege zum nahe gelegenen Wald hinüber. Der Vollmond hing in seiner vollen Pracht und Herrlichkeit am wolkenlosen Himmel und tauchte die Landschaft in geheimnisvolles, silbernes Licht. Hexenlicht, wie Rebecca zu sagen pflegte. Ein Licht zum Wohlfühlen … Sie stellte ihr Mountain Bike an einem Baum am Waldrand ab und ging über den von Beerenranken bedeckten Waldboden tiefer in das Unterholz hinein. Das Mondlicht fiel an bestimmten Stellen durch die Kronen der Laubbäume bis auf den Boden hinab und schuf wunderbare, silbrig glänzende Strahlenbahnen. Es sah aus, als würde sie sich in einem verwunschenen Reich bewegen. Überall
wisperte es geheimnisvoll. Äste knackten, irgendwo schrie ein Tier. Rebecca blieb kurz stehen und schüttelte sich leicht. Nicht vor Angst allerdings, sondern vor Wohlbehagen. Nach kurzer Zeit erreichte sie eine kleine Lichtung. An deren Rand stand eine alte, windschiefe Hütte, die der Jäger dieses Reviers längst aufgegeben hatte. Vorsichtig zog sie die Holztür auf. Sie quietschte leise in den Angeln. »Schatz?«, flüsterte sie. »Bist du da?« Am Baum neben ihr bewegte sich etwas in den Schatten. Sie fuhr herum. »Ach, da bist du ja«, seufzte sie erleichtert und fiel ihm um den Hals. »Du hast mich ganz schön erschreckt«, flüsterte sie zwischen zwei Küssen. »Mein Herz schlägt noch immer wie verrückt. Da, fühl mal.« Sie nahm seine rechte Hand und legte sie auf ihren Busen. Der Mann stöhnte und begann, ihre Brust zärtlich zu streicheln und zu kneten. Dann wanderten seine Hände weiter, animierten die ihren, das Gleiche bei ihm zu tun. Seine Lippen suchten die ihren, tasteten sich zu ihren Brustwarzen und weiter den Bauch hinunter. Er entlockte dem Mädchen leise, spitze Schreie, wenn immer er es berührte. Als er es nicht mehr länger aushielt, zwang er Rebecca auf alle Viere und kniete sich hinter sie. Beide entluden sich fast gleichzeitig. Dann lagen sie schlaff und erschöpft nebeneinander auf dem kühlen Waldboden. »Ich liebe dich so sehr«, flüsterte Rebecca ihm ins Ohr und knabberte daran. »Du bist so wunderbar.« Der Mann richtete urplötzlich den Oberkörper auf und zerstörte damit den Zauber des Augenblicks. »Ich muss dich was fragen«, sagte er fast schroff. »Muss das jetzt sein?«, protestierte sie. »Küss mich lieber.« »Ich muss wissen, ob du irgendwas Dummes gemacht hast.« Sie betrachtete die Silhouette seines Oberkörpers und seines Kopfes gegen den hellen Hintergrund des Nachthimmels, der sich zwischen zwei Baumwipfeln öffnete. »Was Dummes? Was meinst du damit?« »Na, was wohl. Du weißt genau, was ich meine.«
»Ach so, das.« Rebecca richtete sich nun ebenfalls auf. »Nein, ich hab nichts gemacht, ich schwör's dir. Wenn ich sage, dass ich nichts mache, dann mache ich auch nichts. O.k.?« »Also gut. War ja bloß 'ne Frage.« Der Mann lenkte ein, als er leichten Zorn in ihrer Stimme bemerkte. »Ich wollte dich nicht beleidigen. Komm, lass es uns lieber noch mal machen.« Bevor das Mädchen etwas erwidern konnte, verschloss er ihren Mund mit seinem. Sie kämpfte sich frei. »Lass das jetzt bitte. Ich muss noch was erledigen.« Sie stand auf und zog ihre Kleider zurecht. Dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort im Wald. »Verdammte Zicke«, murmelte der Mann.
Petra Cerny war dankbar, dass Nicole sie ins Bett brachte. Sie fühlte sich so unendlich müde und war kaum noch in der Lage, etwas selbst zu tun. Kaum, dass sie sich auf die Seite gedreht hatte, war sie auch schon hinüber geglitten. Eine Stunde lang schlief sie völlig ruhig und entspannt. Dann begann sie plötzlich zu stöhnen und sich unruhig hin und her zu werfen. Josef, ihr verstorbener Mann, tauchte in ihrem Traum auf. Glücklich lächelnd saß er auf dem Bettrand, während sie einen heißen Strip hinlegte. Sie liebte es, sich für ihn auszuziehen. Es war wunderschön, erregend, Erotik pur. Sie war Maria. Sie liebte Sex über alles. Sie spürte, wie sich ihr Unterleib langsam zusammenzog, löste, zusammenzog … Josefs lächelndes Gesicht verschwamm, wurde seltsam unwirklich. Wie durch eine bewegte Wasserfläche sah die Frau plötzlich Zerrbilder von Bäumen, Sträuchern, dichtem Unterholz, Farnen und Ähnlichem. Trotzdem erkannte sie ohne große Mühe, dass sie in einen Dschungel blickte. Affen turnten kreischend auf einem riesigen, viele hundert Jahre alten Baum herum, der in etwa zehn Metern Höhe eine Art Baumgesicht besaß. Zwei Augen, eine Nase, ein angedeuteter Mund … Dieses gütig aussehende Baumgesicht verwandelte sich nun langsam in eine schwarze, dämonische Fratze mit weißem Gesichtsschild, in dem tückische Augen orangerot
glühten. Sie verhießen einen grausamen Tod. Die muskulöse Gestalt bewegte sich plötzlich unter Soldaten und schnappte sich einen Ast, weitaus dicker als seine Oberarme. Er bog ihn sich gerade. Dabei nahm der Ast die Identität eines von Fellen und Federn geschmückten Speers an. Die Spitze zeigte direkt auf sie. Ein Blitz löste sich daraus und schlug, unter dem höhnischen Kichern des Dämons, in ihre Brust. Grelles Licht überflutete sie. Die Welt explodierte vor ihren Augen. Sie war Petra Cerny. Und noch mehr Maria. Sie spürte Marias kreatürliche Angst vor dem Verlust ihrer Seele, eine Furcht, die bloße Todesangst wie ein Allerweltsgefühl daherkommen ließ. Dann umfing sie plötzlich der pestilenzartig stinkende Atem des Unheimlichen, trug sie durch die Lüfte und in das Universum hinein. Milliarden von Fliegen begleiteten sie, während die Schöpfung in seiner allmächtigen Pracht an ihr vorbei zog. Sie sah afrikanische Männer mit grotesk angemalten Gesichtern, die vor allem die Lippen und die Augen betonten und sie an Clowns erinnerten. Die Männer trugen Sombrero-ähnliche Hüte und hatten sich in einer langen Reihe aufgestellt. Sie schienen zu tanzen. Dann bildeten sie einen Kreis. Schwarz und schwärzer wurde er, dichter, kompakter. Ein Muster erschien darin. Entsetzt sah Maria, wie zwei Autoreifen direkt vor ihr auftauchten, sie trafen, überrollten … Mit einem Schrei fuhr Petra Cerny hoch. Sie schluchzte leise, während sie sich wieder zurück in die Kissen sinken ließ. Ihr Herz klopfte nicht nur wie verrückt, es tat auch furchtbar weh. Sie presste ihre Hand darauf. Noch immer fühlte sie sich seltsam zerrissen, so, als müsse sie ihren Körper mit einer anderen Person teilen. Mit Maria … »Lieber Gott, warum tust du mir das an«, flüsterte sie verzweifelt. »Lass mich wieder Petra sein. Hätte ich gewusst, was da auf mich zukommt, wäre ich viel lieber gestorben …« Das mit dem Sterben sagte sich leicht dahin. Nur ein paar Augenblicke später kämpfte Petra Cerny verzweifelt um ihr Leben, das sie noch kurz zuvor verbal weggeworfen hatte.
Der Unheimliche aus Afrika hatte sich in die alten Mauern zurückgezogen, in denen er sich so wohl fühlte. Sein Körper, den tausende von Fliegen bedeckten, lag in eiskalter Starre, weil er ihn momentan nicht benötigte. So konnte er alle Energie auf seinen Geist konzentrieren. Das Wesen überlegte auf neun Ebenen gleichzeitig. Erste Ebene: Was kann ich gegen die fremde magische Entität tun? Sie bekämpfen? Das kommt einem Selbstmord gleich und ist daher keine gute Option. Zweite Ebene: Soll ich einfach warten? Es kann Zufall sein, dass sie sich hier befindet. Dann wird sie irgendwann auch wieder weg sein, wenn ich mich nicht rühre und gut versteckt halte. Dritte Ebene: Dass die machtvolle Entität allerdings gleichzeitig mit der neuen Trägerin von Marias Herz hier aufgetaucht ist, lässt meinen Glauben an einen Zufall fast schon wieder lächerlich erscheinen. Vierte Ebene: Ist es überhaupt von Belang für mich, dass das noch lebende Herz wieder den Weg zurück gefunden hat? Fünfte Ebene: Wahrscheinlich nein. Die Chance, dass die magische Entität wegen mir hier ist, schätze ich als sehr gering ein. Denn sie kann keine Kenntnis von meiner Existenz haben. Sechste Ebene: Wahrscheinlich ja. Durch ihre unglaubliche magische Macht ist der Entität durchaus zuzutrauen, Kenntnis von meiner Existenz erlangt zu haben. Siebte Ebene: Sollte die magische Entität bisher keine Kenntnis von meiner Existenz gehabt haben, hat sie sie nun ganz bestimmt. Ich habe die kurze Berührung mit ihr als äußerst schmerzhaft empfunden. Achte Ebene: Ich interessiere die magische Entität gar nicht. Sie hätte mich bei der Berührung töten können. Neunte Ebene: Die magische Entität ist sehr wohl an meinem Tod interessiert. Sie war bei der Berührung lediglich überrascht und wird das Versäumte beim nächsten Kontakt nachholen. In einer Schnelligkeit, die menschlicher Geist nicht nachvollziehen konnte, wog der Unheimliche seine Gedanken gegeneinander ab und zog Schlüsse daraus. Diese mündeten in diesem Entschluss: Ich
weiß zu wenig über die Gegenseite und muss mein Wissen unbedingt erweitern, bevor ich zielgerichtet handeln kann. Die magische Entität kann ich nicht angreifen. Also muss ich mich an die neue Trägerin des Herzens halten. Wenn ich mich wenigstens zeitweilig in ihren Geist begebe, erfahre ich, was die magische Entität plant. Ich bin nicht ohne weiteres in der Lage, den Geist von Menschen zu erforschen. Doch über das Herz vermag ich jederzeit in die Frau zu gelangen, da ich durch das Unsichtbare Band mit ihm verbunden bin. Ich werde es also tun.
Das Mädchen schlich sich durch schmale Gassen und finstere Hinterhöfe. Wie die gesamte Altstadt Pfullendorfs war auch das Gebäude des heutigen Hotels Adler irgendwann im Mittelalter an den steilen Berg hingebaut worden. Große, alte Bäume umstanden es. Hinter einigen Fenstern brannte Licht. Flink wie ein Eichhörnchen erklomm das Mädchen den untersten Ast einer Eiche und kletterte höher. Die Gäste, die nicht weit davon vor dem Felsenkeller saßen, einer der beiden Gastronomien des Hotels, kümmerten es nicht. Sie konnten es nicht sehen. Ihre Blicke glitten blitzschnell über die Fassade, verfingen sich in diesem und jenem Fenster. Maria nickte zufrieden. Ein paar Sekunden später verschwand sie erneut in den finsteren Gassen.
Ein älterer Afrikaner im eleganten grauen Anzug betrat die Bar, ließ kurz seine Blicke schweifen und ging dann wieder nach draußen. »Ich bin sicher …« Zamorra unterbrach sich mitten im Satz und sah sich aufmerksam um. Unwillkürlich griff er sich an die Brust. »Merlins Stern?«, fragte Nicole leise. Der Professor nickte kurz, sprang vom Barhocker und eilte durch die Tür in die Hotellobby. Außer der älteren Frau an der Rezeption sah er niemanden. »Nanu, wo ist er denn hin?«, fragte er laut. »Suchen Sie jemanden?« »Ja, den afrikanischen Herrn, der gerade in die Bar geschaut hat und gleich wieder gegangen ist.«
»Tut mir Leid, mein Herr, ich konnte ihn nicht sehen, weil ich gerade etwas unter dem Tresen gesucht habe.« Sie lächelte ein wenig verlegen. Zamorra rannte zum Ausgang und hinaus auf die Straße. Niemand zu sehen. Nur ein Auto fuhr soeben vorbei. »Das gibt's nicht«, murmelte er. Die schmale Straße zog sich durch geschlossene Fachwerkhausfassaden hoch in die Altstadt. Die nächste Quergasse kam erst in weiterer Entfernung. Auch nach unten, in Richtung Felsenkeller, hätte der Mann noch nicht verschwinden können. Zamorra machte ein paar hastige Schritte nach beiden Seiten. Vergeblich. Enttäuscht ging er ins Hotel zurück. Die Rezeptionistin sah ihn erwartungsvoll an. »Darf ich fragen, warum Sie den Herrn suchen?« »Er hat einen Schlüssel verloren«, antwortete der Meister des Übersinnlichen und der zielgerichteten Notlüge. Kurzerhand zog er seinen eigenen aus der Tasche. »Den würde ich ihm gerne wiedergeben. Sagen Sie, haben Sie vielleicht einen afrikanischen Gast?« »Momentan nicht, so weit ich weiß, mein Herr. Aber ich frage mal bei der Frühschicht nach.« Die Frau telefonierte kurz. Dann legte sie wieder auf und lächelte verbindlich. »Nein, zurzeit haben wir tatsächlich keinen farbigen Gast. Wahrscheinlich hat der Herr lediglich jemanden gesucht. Wenn Sie wollen, kann ich den Schlüssel hier an der Rezeption hinterlegen. Vielleicht kommt er ja zurück, wenn er dessen Fehlen bemerkt.« »Ich würde es vorziehen, ihm den Schlüssel persönlich zurückzugeben«, antwortete Zamorra und lächelte sie an. »Ich bitte Sie also, dem Mann meine Kontaktdaten zu geben, wenn er tatsächlich wieder auftauchen sollte.« Die Frau lächelte zurück. »Aber natürlich, Herr Zamorra, kein Problem.« Der Professor ging in die Bar zurück, in der nur noch zwei unentwegte ältere Herren becherten und lautstark über Witze lachten, die schon den alten Griechen ein herzhaftes Gähnen entlockt hatten. Nicole blickte ihrem Geliebten und Kampfgefährten
erwartungsvoll entgegen. Zamorra hob die Schultern. »Weg. Und zwar ziemlich fix. Merlins Stern hat sich ja auch nur ganz kurz erwärmt. Wahrscheinlich ist der Kerl durch die Dimensionen geflüchtet. Wir werden's gleich wissen.« Der Professor nahm das Amulett unter dem Pullover hervor. Ganz kurz betrachtete er die Silberscheibe, in der der legendäre Zauberer Merlin vor rund tausend Jahren die Kraft einer entarteten Sonne konzentriert hatte. Die Mitte bildete ein stilisierter Drudenfuß, um den sich ein Ring aus den zwölf Tierkreiszeichen zog. Um diesen gab es einen weiteren Ring aus erhaben gearbeiteten, bis heute unbekannten Hieroglyphen. Immerhin wusste Zamorra, dass sie, wahrscheinlich unter anderem, der Amulettsteuerung dienten. Man konnte sie nämlich per Fingerdruck verschieben. Wenn er das tat, ließen sich damit verschiedene magische Effekte erzeugen. Dem Meister des Übersinnlichen war indes sonnenklar, dass er bisher nur einen verschwindend geringen Teil der Amulettfunktionen kannte. Eine, die er immer wieder gerne anwandte, war die Zeitschau. Mit ihr konnte man erkunden, was während der letzten vierundzwanzig Stunden in der näheren Umgebung des Amuletts passiert war. Zamorra drehte sich von den beiden Zechern weg. Sie mussten nicht unbedingt mitbekommen, was er da tat. Er verschob per Daumendruck die entsprechende Hieroglyphe. Dass dies auch auf diese einfache Art und Weise funktionierte, wusste er erst seit kurzem. Bisher hatte er sich dafür immer erst in eine Art Halbtrance versetzen müssen. Die »Kollateralschäden« blieben sich bei der einen wie der anderen Methode allerdings gleich. Das Amulett holte sich einen Teil der benötigten Energie direkt aus Zamorras Lebenskraft. Deswegen stellten die vierundzwanzig Stunden, die er in der Zeit zurückgehen konnte, auch eher eine physische Grenze dar. Wer Merlins Stern genügend Energie zur Verfügung stellte, konnte notfalls bis in die Steinzeit zurückgehen. Warum das machtvolle Amulett sich ausgerechnet bei der Zeitschau auch am Initiator bediente, war bisher eines der vielen Geheimnisse, die es irgendwann zu lösen galt. Die verschobene Hieroglyphe sprang sofort wieder in ihre
Ausgangsposition zurück. Gleichzeitig erschienen im Amulettzentrum bewegte Bilder. Sie zeigten die Bar im Jetztzustand. Zamorra und Nicole saßen auf ihren Hockern. Sie konnten sich deutlich erkennen. Plötzlich stand der Professor auf und ging rückwärts durch die Tür und in den Empfangsraum. Denn die Zeitschau funktionierte wie ein rückwärts laufender Film. Damit der Kontakt nicht abriss, begaben sich Zamorra und Nicole nun in die Lobby. Die Rezeptionistin war zwar neugierig, aber auch sie bekam nicht viel zu sehen. Die beiden Dämonenjäger drehten ihr einfach den Rücken zu. Sie sahen sie mit dem Professor reden. Plötzlich tauchte der Afrikaner auf. »Jetzt wird's spannend«, murmelte Nicole. Sie waren es gewohnt, die rückwärts laufenden Bilder sofort in die Realereignisse zu übersetzen. Und die hatten sich so abgespielt: Der Afrikaner war urplötzlich an der Eingangstür erschienen. »Aus dem Nichts«, wie Nicole feststellte. Er hatte sich kurz in der Bar umgeschaut und war dann eiligen Schrittes wieder in den Empfangsraum zurückgegangen. Dort hatte er mit dem linken Bein eine Sessellehne durchdrungen und sich erneut in Luft aufgelöst. »Mist«, fluchte Zamorra. »Sofort nach oben, Nici. Kann sein, dass da einer versucht, uns reinzulegen.«
Durch das Unsichtbare Band gelang es dem Schwarzblütigen spielend, Marias Herz und damit den Geist der neuen Trägerin zu erreichen. Sie schlief gerade. Er erwischte sie beim Träumen. Und was sie träumte, erschreckte ihn zutiefst. Der Unheimliche sah das Baumgesicht, aus dem er einst erneut in diese Welt geboren worden war. Er sah sich selbst. Er spürte Marias furchtbare Angst und sah ihren Tod. Den Tod, den er ihr gebracht hatte. Niemand konnte das wissen. Nur Maria selbst. Das bedeutete, dass im Herzen Marias ein Teil ihres Bewusstseins weiterlebte. Und sich bei der neuen Trägerin bemerkbar machte. Noch waren die Botschaften unvollständig und unscharf, das bemerkte der Eindringling sofort. Die neue Trägerin deutete sie zudem teilweise falsch. Und das würde auch so bleiben.
Denn sie musste sterben. Sofort! Erschrecken verwandelte sich in jähes Entsetzen, als der Schwarzblütige begriff, dass die fremde magische Entität tatsächlich wegen ihm gekommen war. Und bereits um Dinge wusste, die besser für immer im Dunkeln geblieben wären, um seine Kreise nicht zu stören. Das dämonische Bewusstsein schlug zu, um die Sache jetzt und hier zu beenden. Es formte eine Kugel aus schwarzer Energie, die das warme, zuckende Herz einschloss. Langsam zog sie sich zusammen.
Petra Cerny starrte noch immer in das Zimmer hinein. Durch die geschlossenen Vorhänge fiel das Licht der Straßenlaterne. Sie verwandelte die Dunkelheit in dämmriges Grau, das die Konturen der wenigen Möbel erahnen ließ. Dafür hatte die leise schluchzende Frau jedoch keinen Blick. Sie verstärkte den Druck ihrer Hand auf die linke Brustseite, als könne sie auf diese Art und Weise die fürchterlichen Schmerzen aus dem fremden Organ herauspressen. Mit einem Mal überschwemmte sie das Gefühl, noch eine dritte Persönlichkeit in sich zu haben. Etwas unendlich Böses, Gemeines und Perverses. Bevor sie dieses Gefühl näher greifen konnte, griff etwas sie an. Es war ihr, als lege sich plötzlich eine eiserne Klammer um ihr Herz und drücke langsam zu! Die Frau stöhnte laut. Nun presste sei beide Hände auf die Brust. Ihr Kopf lag plötzlich hinten im Nacken, mit weit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen starrte sie an die Decke. Kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn. Das Stöhnen ging in panisches Wimmern über, als der Druck beständig zunahm. Petra Cerny spürte, dass es zu Ende ging, dass sie nicht mehr lange standhalten würde. Sie sah bereits den schwarzen Engel des Todes vor sich. Langsam hob er seine Schwingen, um sie damit zu umschlingen. Ich will noch nicht sterben, o du mein Gott, lass mich bitte, bitte leben … Szenen ihres Lebens zogen in rascher Abfolge an ihrem geistigen
Auge vorbei. Gleichzeitig spürte sie, wie jemand mit ihr gegen das Grauen ankämpfte. Sich wie eine Löwin dagegen stemmte und versuchte, neben ihrem Leben auch ihre unsterbliche Seele zu retten. Maria …? Die Tür flog auf. Eine Hand tastete zum Schalter. Licht ging an. Zamorra und Nicole stürmten ins Zimmer. Merlins Stern, den der Meister des Übersinnlichen in der Hand hielt, flammte grellgrün auf – und erlosch wieder. Petra Cerny sank in sich zusammen. Zamorra bettete sie auf den Rücken und legte ihr Merlins Stern auf die Brust. Daraufhin begann sie, ruhig und entspannt zu atmen. Ein friedlicher Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Ich glaube, dass das Amulett ihr hilft.« Zamorra war ehrlich verblüfft. Er hängte es ihr um den Hals. »Das dämonische Wesen, das hier am Werk sein muss, arbeitet mit billigen Taschenspielertricks«, stellte Zamorra fest, als er mit Nicole im Bett lag. »Der Afrikaner in der Rezeption war ein Trugbild, um uns abzulenken. Wir sollten ihm hinterher jagen, damit er dann in aller Ruhe Frau Cerny töten kann. Ich bin mir sicher, dass er Merlins Stern dabei möglichst weit weg haben wollte.« »So sehe ich das auch, Chéri. Ist allerdings ein bisschen dumm für ihn gelaufen. Dass wir ihm über die Zeitschau so schnell auf die Schliche kommen, damit hat er nicht gerechnet. Ich hab's übrigens auch sofort bemerkt, dass der Afrikaner nichts als eine Illusion war. Geht einfach mit seinem Bein durch den Sessel. Ha. Das war nicht nur ein billiger Trick, sondern auch noch überaus schlampig ausgeführt.« »Was heißt schlampig. Er weiß ja nichts von der Zeitschau. Ohne die hätte er wahrscheinlich sogar Erfolg gehabt. Wir hätten den Mann draußen gesucht, er hätte ihn noch ein-, zwei Mal auftauchen lassen und wir wären weit weg vom Hotel gewesen. Die Frage ist doch, warum er Frau Cerny unbedingt töten will.« Nicole hüpfte aus dem Bett und holte noch zwei Whisky aus der Zimmerbar. »So redet sich's leichter, Chéri. Dass er Frau Cerny an den Kragen will, muss mit diesen Visionen zu tun haben, die ihr
Marias Herz vermittelt. Die scheint er als sehr gefährlich einzustufen. Wenn ich das richtig sehe, sind wir hier einer ziemlich großen Schweinerei auf der Spur.« »Ja. Und deswegen wird Frau Cerny Merlins Stern bis auf weiteres um den Hals tragen.« »Ich fürchte, das Schmuckstück wird ihr nicht gefallen«, seufzte Nicole. »Sie wird es als zu … progressiv empfinden, zu aufdringlich.« »Meinst du? Na ja, sie wird sich schon dran gewöhnen.«
Der Schwarzblütige hatte sich wieder in sein Versteck zurückgezogen. Nur mühsam gelang es ihm, seiner Furcht Herr zu werden. Dieses Mal dachte er auf drei Ebenen gleichzeitig nach. Ebene eins: Die fremde Entität hätte mich schon wieder mühelos töten können. Warum hat sie es nicht getan? Ebene zwei: Warum konnte die fremde Entität mein Ablenkungsmanöver so schnell durchschauen? Sie muss noch viel mächtiger sein, als ich angenommen habe. Ebene drei: Ich habe meine Gegner erneut unterschätzt. Das wird mir nicht mehr passieren.
10. Eimühle Rosna / Pfullendorf, Baden-Württemberg, September 2007 Als Petra Cerny am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wunderbar gekräftigt. Das Herz machte ihr keine Probleme mehr. Sie konnte allerdings nicht mehr richtig unterscheiden, was in der vergangenen Nacht Realität und was Traum gewesen war, obwohl sie sich an die meisten Details erinnerte. Das alles erschien ihr so unwirklich. Beim Sonntagmorgen-Brunch im Spiegelsaal erzählte sie Zamorra und Nicole, was passiert war. »Es geht also tatsächlich um Marias Herz«, stellte der Parapsychologe zwischen zwei kräftigen Bissen in ein Wurstbrötchen fest. Er spülte mit Kaffee nach. »Hm. Was wissen wir bisher? Wir haben eine Mädchenfußballmannschaft, eine Spielerin, die okkult angehaucht ist, ein Mädchen, das anscheinend auf völlig andere Weise umgekommen ist, als alle glauben, ein Spenderherz und einen Schwarzmagier, der wie ein afrikanischer Medizinmann aussieht. Das ist eine ziemlich heiße Mischung.« »Das kannst du laut sagen«, gab Nicole lächelnd zurück. »Bisher schaffen wir's allerdings noch nicht so richtig, die Dinge in Zusammenhang zu bringen. Wenn wir aber das nehmen, was wir haben, dreht sich ziemlich vieles um Maria.« »Ja, sieht tatsächlich so aus, als würde sie im Zentrum des Geschehens stehen. Deswegen müssen wir diese Freundschaft zwischen Rebecca und ihr dringend etwas näher beleuchten«, sagte der Professor. »Wir sollten uns mal ausführlich mit Rebecca unterhalten. Sie ist momentan die Einzige, bei der wir einen Ansatzpunkt in Sachen Magie haben.«
»Weil mir das gestern schon klar war, habe ich mir über das TIAlpha ihre Handynummer besorgt«, sagte Nicole. »Ich rufe sie an.«
Strahlende Sonne und ein tiefblauer Himmel prägten diesen herbstlichen Sonntagnachmittag. Das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad an. Denise rief bei Simone auf dem Handy an. »Und, was ist? Gehst du mit zum Baden? Die Clique trifft sich am Baggersee. Das gute Wetter muss man nutzen.« »Also gut. Ich komm mit dem Fahrrad bei dir vorbei und hol dich ab.« Eine halbe Stunde später klingelte sie bei Denise an der Haustür. »Hai Simone. Mensch, wie siehst denn du aus. Total übernächtigt. Hast du nicht geschlafen?« »Wenig.« »Du hast Liebeskummer, stimmt's.« Simone schüttelte den Kopf. Von der Empörung in der Stimme, mit der sie solche Fragen normalerweise abschmetterte, war nichts zu hören. »Nein, hab ich garantiert nicht.« »Also, was dann?« »Vielleicht erzähl ich's dir später.« »Da bin ich aber mal gespannt.« Sie mussten auch noch Hannah im Nachbarort abholen. Zu dritt strampelten sie Richtung Baggersee, die Badesachen auf den Gepäckträgern. Ein Stück hinter Habsthal kam die langsam verfallende Eimühle in Sicht, die einsam und verlassen in den Wiesen lag. Ein paar riesige, uralte Bäume umstanden den in der Barockzeit erbauten Gebäudekomplex aus Mühle, Stallungen und Wohnhaus. Hannah bog in den schmalen, geteerten Fahrweg ein, der schnurgerade durch die Mühlenanlage hindurch nach Einhart führte. »Halt!«, schrie Denise, die direkt hinter Hannah fuhr. Sie bremste so stark ab, dass es quietschte und ihr Fahrrad leicht ins Schlingern geriet. Simone, die den Schluss bildete, wäre fast in sie hinein gefahren. Sie nahm es schweigend hin. Das war ungewöhnlich und
sagte einiges über ihren momentanen Gemütszustand aus. Normalerweise pflegte sie sich über solche Situationen fürchterlich aufzuregen. Auch Hannah bremste und wendete ihr Rad. »Was ist los? Hast du 'ne Panne?« »Nein. Wo willst du hin, Hannah?« Das Mädchen mit den beiden Zöpfen verzog das Gesicht. »Na wo schon? Zum Baggersee. Und das da ist der Weg.« »Äh ja.« Denise blickte kurz zur Mühle hinüber. »Heute ist so super Wetter, ich hätte Lust, noch ein bisschen länger zu strampeln. Ihr nicht?« »Pff«, gab Hannah zurück. Simone sagte gar nichts. Sie starrte in Richtung Rosna, dessen erste Häuser in ungefähr einem Kilometer Entfernung hinter Obstbaumwiesen auszumachen waren. »Ach komm, sei nicht so. Wir fahren über Rosna zum Baggersee. Das ist höchstens zwei Kilometer weiter.« »Wieso hast du plötzlich Gänsehaut?«, wunderte sich Hannah. Denise sah an ihren Armen hinunter. »Wahrscheinlich wegen dem Fahrtwind? Mir ist irgendwie kalt.« Hannah fügte sich. Wenn Denise Wünsche äußerte, war das eine Art Gesetz. Die wiederum atmete sichtlich erleichtert auf, als sie geradeaus weiter fuhren. Als sie den gut besuchten Baggersee erreichten, kamen auch Kathrin und Jule gerade auf ihren Rollern angedüst. Zusammen gingen sie zu den Anderen, die sich einen Platz direkt am Wasser auf der leicht abfallenden Liegewiese ausgesucht hatten. Ein großer Sonnenschirm spendete Schatten. Die Mädchen begrüßten sich mit großem Hallo. In knappen Bikinis legten sie sich in die Sonne. Obwohl die Jungs heute nicht dabei waren weil sie ein Auswärtsspiel hatten, waren sie Thema Nummer eins. Dicht gefolgt vom grandiosen Sieg gegen Denkingen. Simone beteiligte sich so gut wie nicht an den Unterhaltungen. Sie ging auch kaum ins Wasser. »Mann, du bist ja noch schlechter drauf als gestern«, stellte sie Denise schließlich direkt zur Rede. »Das ist ja zum Kotzen. Jetzt sag
uns endlich, was mit dir los ist. Vielleicht können wir dir helfen.« »Du bist schwanger«, spekulierte Hannah. »Und weißt nicht, wie du's deinen Eltern beibringen sollst.« »Jetzt halt die Klappe und lass Simone was sagen«, intervenierte Denise. Simone zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie setzte sich auf ihr buntes Handtuch und umschlang die angezogenen Beine mit ihren Armen. »Also gut, Mädels. Haltet ihr mich für einen Psycho?« »Nie im Leben«, sagte Isi. »Ich würde sogar sagen, dass du verstandesmäßig ganz gut sortiert bist. Warum fragst du das?« »Weil ich … weil … nun, weil ich mir selbst nicht mehr sicher bin.« Sie schaute die Anderen kurz an und senkte den Blick. Mit einem Schlag war es ruhig unter dem Schirm geworden. Es war, als werde auch der Lärmpegel der anderen Badegäste durch einen unsichtbaren Schild ausgeschlossen. »Du bist dir nicht sicher, ob du psycho bist?« Denise starrte sie ungläubig an. »Was soll denn das nun wieder heißen.« Simones Körper war plötzlich komplett mit Gänsehaut überzogen. Sie zitterte leicht, ihre Augen tränten. »Gestern beim Spiel, da … da habe ich für einen Moment Maria gesehen.« Die Mädchen starrten sie an. »Was war das eben?«, fragte Isi leise. »Jetzt hat sie tatsächlich einen an der Klatsche«, sagte Soffl. »Sei still«, wies Kathrin sie zurecht. »Das musst du uns näher erklären, Simone.« »Klaro, jetzt wo ich's schon mal gesagt habe. Also, es war ganz am Anfang vom Spiel, als die Denkinger Weiber das eins zu null gemacht haben. Da hab ich zu den Denkinger Zuschauern rüber gesehen. Und da stand sie plötzlich. Direkt zwischen ihnen, auf das Geländer gelehnt. Ich sag's euch, das war Maria. Sie lebt noch. Oder sie ist wieder aus ihrem Grab gestiegen. Ich hab einen echten Schock gekriegt, das kann ich euch sagen.« »Du erzählst uns gerade 'ne Gruselgeschichte, nicht wahr?« Jule liebte Gruselgeschichten. »Du verscheißerst uns.« »Ich verscheißere euch nicht, Mädels, Ehrenwort.« Simone hob die
drei Finger der Rechten zum Schwur. »Das hat sich alles genau so abgespielt. Dann hat sie zu mir rübergeschaut. Und als sie bemerkt hat, dass ich sie gesehen habe, ist sie plötzlich wieder verschwunden.« »Das war 'ne astreine Hallu«, sagte Kathrin. »Das kann nicht anders gewesen sein. Wahrscheinlich war's die Hitze. Die muss dir irgendwie aufs Gehirn geschlagen sein.« Simones Empörung kam langsam wieder zurück. »Spinnst du? Ich vertrag Sonne besser als du. Und außerdem hab ich nie Hallus, ich seh immer alles ganz real.« Kathrin gab noch nicht klein bei. »Dann war das eben deine erste Hallu. Meine Sister war auch immer hallufrei und dann hat sie doch mal eine erwischt. Das kann mit deinen Tagen zusammenhängen. Oder überhaupt ganz allgemein mit den Hormonen.« »Und wenn ihr mich jetzt alle für 'nen Psycho haltet, ich weiß, was ich gesehen hab«, sagte Simone. »Und ich sag euch, dass ich Angst hab. Was will die Maria wieder hier, wo sie doch längst im Himmel sein müsste?« Sie schüttelte den Kopf und trank ihr Iso auf einen Schlag leer.
Rebecca hatte nichts dagegen, mit Zamorra und Nicole zu reden. Sie trafen das Mädchen in einem Eiscafé in Pfullendorf. Wie auch Nicole war sie ein Typ, dem die Männer hinterher schauten. Die drei saßen draußen an einem etwas abgelegenen Tisch, damit sie in Ruhe reden konnten. Sie hatten große Schwarzwaldbecher vor sich stehen. Zamorra hatte sich überreden lassen, die Köstlichkeiten zu spendieren, aber erst, nachdem bestellt war. »Sonst wäre ich nachher ein armer Mann gewesen«, behauptete er. Rebecca löffelte das Eis geradezu in sich hinein. »Ich liebe Eis«, sagte sie. »Und wenn Sie mir noch mal eins spendieren, Herr Zamorra, tue ich wirklich alles für Sie.« »Jetzt wollen wir mal nicht übertreiben, junge Frau«, sagte Nicole. »Der gehört mir. Außerdem wäre er viel zu alt für dich. Er könnte ja dein Vater sein.«
»Ja und? Was wäre daran so schlimm?« Rebecca sah aufsässig unter ihren weißblonden, kurzen Haaren hervor. »Ich mag ältere Männer. Die haben viel mehr Erfahrung und wissen, wie man eine Frau behandeln muss.« »Soll ich vielleicht mal einen kurzen Spaziergang machen? Dann könnt ihr euch weiter über mich unterhalten«, protestierte der Professor. »Schon gut. Was wollen Sie also von mir wissen? Sie sind Verwandte von Maria, wenn ich das richtig gepeilt habe. Oder?« »Stimmt«, erwiderte Zamorra. »Wir haben Maria sehr selten gesehen und wollen uns jetzt einfach ein Bild von ihr machen, indem wir die Orte besuchen, an denen sie gelebt hat und mit Menschen reden, die sie gekannt haben.« »Das ist doch krank«, behauptete Rebecca. »Irgendwie hört sich das für mich nach Wallfahrt an.« »Nein. Wir haben nur ein … etwas schlechtes Gewissen, das ist alles.« Nicole lächelte zuckersüß. Es dauert nicht mehr lange, dann drehe ich dem Herrchen die Gurgel um, sollte das heißen. »Entschuldige, wenn ich dich das so direkt frage: Die WeithartMädchen behaupten, dass du mit Okkultismus zu tun hast.« Ein verächtlicher Zug erschien um Rebeccas Mundwinkel. »In diesem Fall stimmt es tatsächlich mal, was die kleinen Schlampen sagen. Ich bin eine Hexe und ich bin stolz darauf. Man kann sagen, dass ich ein Kind der magischen Welten bin.« »So so«, brummte Zamorra. »Das ist ja äußerst interessant. Über Hexen habe ich auch schon mal was gelesen. Da ging es, glaube ich, um Schadenszauber.« Er kratzte sich im Genick. »Wie war das noch mal? Für Schadenszauber verwendet die Hexe das Quadrat der Venus. Und irgendwie gab's da noch eine Planetenzahl dazu. War irgendwas mit sechzehn. Ja, sechzehn, da bin ich mir ziemlich sicher.« »Knapp daneben ist auch vorbei.« Rebecca lachte hämisch. »Sie glänzen ja richtiggehend mit Halbwissen. Wir Hexen verwenden für Schadenszauber das Quadrat des Saturns. Das ist mal das eine. Und die Planetenzahl dazu ist fünfzehn, nicht sechzehn.«
»Oha. Da hab ich mich ja schön blamiert. Heißt das, dass du auch Schadenszauber betreibst?« »Nur zur Abwehr. Ich bin schließlich eine weiße Hexe.« Sie lächelte selbstgefällig. Zamorra fragte weiter in diesem Stil. Er gab den Halbgebildeten und Rebecca damit die Möglichkeit, ihre Überlegenheit zu beweisen. Sie genoss es sichtlich. »Dann könntest du mich jetzt und hier auf der Stelle verzaubern?« Sie lächelte böse in Nicoles Richtung. »Natürlich. Ich könnte zum Beispiel einen kleinen Liebeszauber machen, dann wären Sie mir auf der Stelle verfallen. Und Sie, Frau Duval, könnten gar nichts dagegen machen.« »Na, da sind wir doch alle froh, dass du das nicht tun wirst«, gab Nicole zurück. »Ich würde mir womöglich vor Angst in die Hosen machen.« »Sie nehmen mich nicht Ernst.« »Hast du das Gefühl? Aber doch, ich nehme dich Ernst, sehr Ernst sogar. Sag, war Maria auch eine Hexe? Hat sie sich auch mit Okkultismus und Magie beschäftigt?« »Maria? Nein. Die hatte viel zu viel Angst vor dem Übersinnlichen. Sie wollte damit nichts zu tun haben. Und sie hat immer zu mir gesagt, ich soll es ebenfalls lassen. Ich würde damit irgendwelche fürchterlichen Teufel beschwören, die uns alle auffressen.« Rebecca lachte. »Ja, sie hat auffressen gesagt. Als ob die Teufel und Dämonen einen auffressen würden. Das sind doch keine Kannibalen, die einen irgendwo in der Hölle in einen Topf stecken. So ein Unsinn.« »Interessant, dass ihr trotzdem Freundinnen sein konntet.« »Das war kein Problem. Wir haben uns ja trotzdem gut verstanden. Über die Magie haben wir nur ziemlich selten geredet, es gab ja auch noch andere Themen. Meistens haben wir uns über Fußball unterhalten. Da war sie genauso ehrgeizig wie ich. Dummerweise hat sie bei diesen Weithart-Schnepfen gespielt und nicht bei uns. Wir beide in einer Mannschaft, da hätten wir echt was reißen können. Andererseits war es auch wieder cool, wenn wir
gegeneinander gespielt haben. Da gab's achtzig Minuten keine Freundschaft mehr, da haben wir uns bis aufs Blut bekämpft.« Rebecca blickte träumerisch die steile Fußgängerzone hinunter, die kaum bevölkert war. »Das waren echt geniale Duelle. Wir haben immer gewonnen, weil ich die besseren Mitspielerinnen hatte. Die Weithart-Schnepfen waren faul wie die Hölle und haben nichts gerissen. Erst als Maria zu denen in die Mannschaft kam, ging's für die bergauf. Sie hat die Schlampen angetrieben, das können Sie glauben. Wenn sie was gehasst hat, dann war es Faulheit im Fußball. Ansonsten konnte sie schon auch mal chillen und den Lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Tja, und jetzt, wo ihre Antreiberei endlich belohnt wird, darf sie's nicht mehr miterleben. Manchmal ist diese beschissene Welt doch wirklich total ungerecht.« »Du hast ja noch deine magische, in die du flüchten kannst«, sagte Nicole mit spitzem Unterton. »Weißt du vielleicht, warum Maria in ihrer Todesnacht draußen war? Niemand kann sich das bis heute erklären«, übernahm Zamorra schnell das Gespräch, um sich die beiden Frauen nicht weiter beharken zu lassen. »Keine blasse Ahnung. Unter der Woche hat sie so was so gut wie nie gemacht. Sie hat mir auch nichts gesteckt.« »Hältst du es für möglich, dass Marias Tod irgendwas mit magischen Vorgängen zu tun hat?« Rebecca starrte Zamorra an. »Was soll die Frage?« Plötzlich lag Aggressivität in ihrer Stimme. »Wollen Sie damit etwa andeuten, ich hätte etwas damit zu tun?« »Natürlich nicht. Es ist nur eine Frage.« »Ja, ich weiß schon, was so gemunkelt wird. Maria sei durch einen Blitz aus einem Speer umgekommen. So ein Blödsinn. Sie ist vor ein Auto gelaufen und Schluss. Es war ein beschissener Unfall. Das hat nichts mit irgendwelchen übersinnlichen Vorgängen zu tun. Ich glaube, ich muss jetzt gehen. Ich hab noch was zu tun. Danke für den Eisbecher.« Sie erhob sich und ging grußlos weg. Nicole schickte ihr ein »Schweinezicke« hinterher. »Mann, du kennst Wörter, da könnte man neidisch werden«, sagte
Zamorra grinsend. »Ich weiß gar nicht, warum du dich aufregst. Immer cool und souverän bleiben heißt die Devise.« Nicole funkelte ihn wütend an. »Ja natürlich. Mit seinem typisch männlichen Stumpfsinn haben Herr Professor mal wieder nicht mitbekommen, was wir da gerade für eine Giftspritze am Tisch hatten. Am liebsten hätte ich dieser kleinen arroganten Schweinezicke die Eierstöcke verknotet, so hat die mich aufgeregt.« »Und die Verknotung welchen Körperteils habe ich zu befürchten, wenn ich dich mal wieder aufrege? Aber im Ernst: Eine Hexe ist Rebecca nie und nimmer. Sie hat sich zwar viel angelesen, aber wenn die sich schon mal praktisch mit Okkultismus gleich in welcher Ausprägung beschäftigt hat, fresse ich den Besen, auf dem sie noch nie geritten ist. Schade. Ich hatte darauf gehofft, dass auch Maria irgendwas mit Magie zu tun hatte.« »Ich auch, ich auch. Aber kannst du mir mal sagen, Chéri, woher diese Zicke weiß, wie Maria tatsächlich gestorben sein soll? Das haben wir nur diesem Lindemann gesagt. Und meines Wissens war da niemand so nahe, dass er es hätte hören können.« »Stimmt. Du hast absolut Recht, Nici. Entweder muss es Lindemann einer seiner Spielerinnen erzählt haben und die hat es an Rebecca weiter getratscht. Was ich mir allerdings bei Rebeccas nun … äh Vorbehalten gegen die Weitharterinnen absolut nicht vorstellen kann. Dann bliebe die Möglichkeit, dass Rebecca es über eine neutrale Person erfahren hat.« »Oder Lindemann hat direkten Kontakt zu der Zicke. Wäre ja auch möglich, oder? Auf jeden Fall bin ich verblüfft, wie schnell diese Nachricht die Runde gemacht hat. Schließlich ist das noch keinen Tag her.« »Wir sollten dem Herrn Trainer vielleicht mal ein wenig auf die Finger schauen«, sagte Zamorra und holte sich die Reste von Nicoles zwischenzeitlich verflüssigtem Eis mit Löffel und Zunge.
Nachdem Erwin Lindemann seine Geliebte im nächtlichen Wald so unschön abhanden gekommen war, wäre er am liebsten gleich zur
alten Mühle gefahren, um nachzuschauen. Denn er traute Rebecca nicht über den Weg. Das Mädchen, mit dem er seit mehr als einem Jahr heimlich zusammen war, hatte ihn schon öfters belogen. »Soll ich oder soll ich nicht?«, murmelte er, wusste aber schon in diesem Moment, wie er sich entscheiden würde. Er hatte viel zu viel Angst, die Mühle bei Nacht aufzusuchen. Schließlich war er kein Selbstmörder. Auch bei Tag hätte er sich unter normalen Umständen dem verfluchten Gebäude nicht weiter als bis auf einen Kilometer genähert. Aber er brauchte unbedingt Gewissheit. So würde er in den sauren Apfel beißen müssen, ob er nun wollte oder nicht. Was wusste Frau Cerny? Ihre Bemerkung, Maria sei durch Blitze aus einem Speer umgekommen, ließ ihn nicht mehr los. Niemand anderer hätte diese orakelhaften Worte mit einer Bedeutung hinterlegen können. Er schon. Wenn man eingeweiht war, machten sie nämlich Sinn. Furchtbaren Sinn. Und Rebecca mit ihrem Okkultismus-Wahn traute er durchaus zu, dass sie der Verlockung nicht hatte widerstehen können. Wie hatte er nur so dumm sein können, ihr davon zu erzählen? Weil ich sie unbedingt im Bett haben wollte. Und wieder mal nur zwischen den Beinen gedacht habe. Ich Blödmann musste mich ja sooo interessant vor ihr machen … Erwin Lindemann hatte den Sonntagmorgen mit einem ausgiebigen Frühstück genießen wollen. Nun bekam er kaum einen Bissen hinunter. Sein Magen zog sich beim bloßen Gedanken, die Eimühle betreten zu müssen, schmerzhaft zusammen. Er agierte so fahrig, dass er sogar einen Teller fallen ließ. Schließlich begnügte er sich mit zwei Tassen Kaffee. Danach ging er in die Heilige Messe. Dort ließ er sich nicht oft sehen, aber heute war es ihm ein Bedürfnis, Gott ein wenig näher zu sein. Dann schnappte er sich ein geweihtes Kreuz und eine Weihwasserphiole. Beides stammte noch von seiner Mutter. Den größten Schutz versprach er sich aber von dem Fetisch. Er holte ihn aus einer Schublade, in der er viele Jahre unbeachtet geschlummert hatte. Es handelte sich lediglich um den Schrumpfkopf eines
Pavians, der an einem Lederriemen hing. Lindemann stieg in seinen schwarzen Mercedes SL. Bereits, als er auf die Mühle zu fuhr, spürte er, wie sich seine Haare im Nacken aufrichteten. Gleichzeitig verspürte er den starken Drang, einfach wieder umzukehren. Doch er biss auf die Zähne und lenkte den Sportwagen auf den Hof. Das zweistöckige Mühlengebäude mit der typischen Barockfassade strahlte das Böse geradezu aus. Um nicht gleich hinein gehen zu müssen, umrundete es Lindemann erst einmal. Ein breiter Bach floss direkt an der Mühle vorbei. Das alte, hölzerne Mühlrad knarrte leise, weil es das Wasser noch immer bewegte. Im Schaum, den das Wasser am Wehrrechen erzeugte, trieben zahlreiche tote Fische. Ein Anblick, der Lindemann auch nicht ganz neu war. Entweder entsorgte der Bauhof die Fischkadaver oder die Reiher. Je nachdem, wer schneller war. Der Mann ging über die Straße zu den Stallungen. Ein paar aussortierte landwirtschaftliche Maschinen standen darin und rosteten vor sich hin. Dann warf er auch noch einen Blick ins ehemalige Wohnhaus, das gleich daneben stand. Ein paar zerdepperte Schnaps- und Bierflaschen lagen im Flur. Entweder hatten es sich Obdachlose hier gemütlich gemacht oder Jugendliche ein Saufgelage abgehalten. Es stank nach Moder, Alkohol und Erbrochenem. Schließlich gab sich Lindemann einen Ruck. »Hilft alles nichts«, flüsterte er und versuchte, sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Es gelang ihm nicht. Er hängte sich den Fetisch um und schaute, dass er frei vor der Brust lag. Daneben hängte er das geweihte Kreuz. Es war sicherer, alle möglichen Waffen bei sich zu haben, in denen sich das Gute manifestierte. Oder wie immer man es nennen wollte. Auf jeden Fall mussten sie in der Lage sein, ihn vor dem Grauen zu schützen. Lindemann schob vorsichtig die Tür zum alten Mühlengebäude auf. Die große Halle, in der das Meiste aus Holz war, erstreckte sich vor ihm. Sie war dank der Kornschütten, der Mahlsteine und des riesigen Räderwerks sehr unübersichtlich. Überall gab es Ecken und
Winkel, in denen jemand lauern konnte. Sie würden ewig düster bleiben. Daran änderten auch die Lichtbahnen nichts, die seitlich durch die schmalen Fenster einfielen und in denen deutlich sichtbar der Staub tanzte. Sie beleuchteten lediglich einen Teil des Inventars. Das mächtige Dachgebälk lag sogar ganz in diffusem Grau. Die Konturen der kreuz und quer ineinander verschachtelten Balken waren lediglich zu erahnen. Trotzdem kannte Lindemann jeden einzelnen von ihnen, wusste sogar, wie die kleinen Querstreben zueinander lagen. Das würde er nie wieder vergessen. Trotzdem leuchtete er das Dachgebälk ab. Ruhiger war er danach trotzdem nicht. Keine einzige Spinnenwebe hing in den Winkeln zwischen den Balken, wo normalerweise hunderte hätten sein müssen. Das hieß, dass das Böse nach wie vor präsent war. Deswegen würde er auch keine einzige Ratte hier finden, keine Maus, keine Assel, nicht mal einen Holzwurm. Die Tiere konnten in dieser Nachbarschaft nicht existieren. Lindemann pfiff betont lässig ein Liedchen vor sich hin, um seine Angst zu überspielen. Dann ging er los, weil er zur hinteren Wand musste und schaute dabei, dass er immer irgendwie im Licht blieb. Das gelang weitgehend. Lediglich um eine Kornschütte, die direkt an der Wand stand, musste er herumkurven. Die dunkle Zone dahinter leuchtete er zuerst aus, bevor er sie mit drei schnellen Schritten durchquerte. Und atmete innerlich auf, dass alles gut gegangen war. Hätte er jemandem erzählt, dass Finsternis die Menschen fressen konnte, wäre er garantiert ausgelacht worden. Er aber wusste, dass es so war. An der hinteren Wand bückte er sich und fasste in einen schmalen Spalt zwischen zwei der breiten Bodendielen. Es gelang ihm problemlos, die Diele hochzuheben und beiseite zu legen. Er richtete sich wieder auf, ließ kurz die Blicke schweifen – und zuckte zusammen. Einen Moment lag stand er starr und steif da. Über ihm, im dunklen Gebälk, hatte er da nicht gerade eine Bewegung wahrgenommen? Ein schnell dahin huschendes Schemen? Etwas, das lautlos in den Balken herum kletterte wie zum Beispiel Affen in Dschungelbäumen? Die Schwäche in Lindemanns Beinen ließ sie
zittern. Am liebsten hätte er sich hingesetzt. Ihm war schlecht vor Angst. Trotzdem leuchtete er erneut die Balken ab. Mit der anderen Hand umklammerte er den Fetisch. Lieber Gott, lass mich bitte wieder heil hier rauskommen, betete er dabei. Aber da oben war nichts. Wahrscheinlich hatten ihm seine überreizten Sinne einen Streich gespielt. Lindemann wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Spalt im Boden zu. Die drei oberen Stufen einer schmalen, grob gezimmerten, frei schwebenden Holztreppe wurden sichtbar. Sie führte tief hinunter in die weitläufigen, gut ausgebauten Kellerräume. Lindemann leuchtete die Treppe hinunter. Dann machte er sich an den Abstieg in die Hölle. Bereits als er die zweite Stufe erreichte, setzte es ein, dieses geheimnisvolle Wispern, das ihm so fürchterliche Angst machte. Es wurde mit jedem Schritt ein wenig lauter und erinnerte ihn irgendwie an die Geräusche des Dschungels, in denen zugleich furchtbare Schreie mitschwangen. Schreie von Menschen, die ihn daran glauben ließen, dass es das ewige Leben in immerwährender Qual gab. Auch du wirst bald zu uns gehören, raunte es von überall her. Es ist schön bei uns, das versichern wir dir. Es lohnt sich, sein Leben gleich zu beenden, um länger zu uns gehören zu können … Zumindest glaubte er, dass ihn das Raunen mit diesen Gedanken lockte. Es kostete ihn Mühe, es zu ignorieren. Aber da er bereits Übung darin hatte, gelang es ihm ganz gut. Die aus kleinen Ziegeln errichtete Kelleranlage, die oben in sanften Bögen gemauert war, bestand aus insgesamt sieben Räumen. Sie erstreckten sich weit über die oberirdischen Grenzen der Mühlenanlage hinaus und waren durch Laufgänge miteinander verbunden. Lindemann glaubte, dass dieser Teil weitaus älter war als die Mühlengebäude. Ob diese bewusst oder zufällig über den Kellern errichtet worden waren, vermochte heute kein Mensch mehr zu sagen. Auf jeden Fall waren die Räume über viele Jahrhunderte weg als Ersatzteil- und Abstellkammern benutzt worden. Viele der alten Dinge moderten noch heute vor sich hin. Es roch ziemlich unangenehm hier unten. Lindemann leuchtete den ersten Raum ab. Eine Palette mit
Jutesäcken lag hier. Und einige eiserne Querstreben für das Mühlrad. Damit waren die hölzernen Wasserteller befestigt worden. Sogar das Poster von Uwe Seeler, das er früher hier an die Wand geklebt hatte, hing noch. Allerdings so vergilbt, dass er den Mann nicht mehr erkannt hätte, hätte er nicht gewusst, um wen es sich handelte. Lindemann ging durch die breiten Laufgänge in den vierten Raum. Der lag am weitesten abseits und war der kleinste. Hier war das Wispern und Raunen am stärksten. Von hier ging es aus. Ein alter, kunstvoll gedrechselter Holztisch und drei Stühle standen in der Ecke. In die gegenüberliegende war ein Bücherschrank mit kleinen Glasfenstern geschoben worden. Der Eindringling leuchtete ihn kurz ab. Noch immer befanden sich die seltsamen Schriften und Bücher darin, die er früher so interessant gefunden hatte. An der Wand prangte noch immer das Bild Adolf Hitlers, das einst sein Großvater hier hereingehängt hatte. Und auch das Plakat mit dem blonden deutschen Arier, über dessen nackten, muskulösen Oberkörper die doppelte S-Rune und der Schriftzug »Ahnenerbe« gezogen waren, hatte dem Zahn der Zeit bisher widerstanden. Dann wanderte der Taschenlampenstrahl zum Tisch zurück. Lindemann runzelte die Stirn. Täuschte er sich? Nein. Die Stühle standen nicht so, wie er es in Erinnerung hatte. Jemand war also hier gewesen! Er hatte es gleich gewusst … Der Lichtkegel riss eine schwere Truhe aus grob behauenen Brettern aus der Finsternis. Sie war ungefähr einen Meter lang, sechzig Zentimeter hoch und genauso breit. Geheimnisvolle Zeichen waren in das Holz geritzt. Sie bedeckten die komplette Oberfläche und waren in Gruppen angeordnet. Lindemann glaubte, in einigen der Zeichen Affenköpfe zu erkennen. Aber das konnte durchaus auch seiner Fantasie entspringen. Lindemann hob den Deckel der Kiste hoch. Er war auf den Anblick vorbereitet gewesen – und erschrak doch fast zu Tode. In der Kiste lag – nichts. Der Schreck mischte sich mit Wut. »Mit welchem Engelsgesicht
mich das kleine Biest belogen hat«, murmelte er, während er den Weg zurückging. »Der werde ich die Hölle heiß machen. So geht's ja nun auch nicht.« Weil er zu sehr in Gedanken war, stolperte er über eine alte Kiste und schlug der Länge nach hin. Dabei schürfte seine Hand an der rauen Wandoberfläche entlang. Die Haut riss auf, es blutete leicht. Ein paar Tropfen fielen auf den Boden. Ihm war, als ginge ein kollektives Stöhnen durch das Wispern. Gierig, wohlig … »Mist«, fluchte Lindemann. Er langte nach der Taschenlampe, die ihm aus der Hand gefallen war. Danach saugte er das Blut von der Handkante. Als er wieder ins Freie trat, musste er geblendet die Augen schließen. Ihm war, als sei er gerade aus einem langen, bösen Traum wieder in die reale Welt zurückgekommen.
Im Gebälk der alten Mühle turnte eine Gestalt herum. Flink wie ein Affe bewegte sie sich zwischen den Balken, verharrte, beobachtete. Dann ging sie wieder in die Knie, stieß sich ab, bekam den nächst höheren Balken zu fassen und zog sich daran hoch. Glühende Augen fixierten den Besucher mit der künstlichen Lampe. Als der Lichtstrahl nach oben kam und den Giebel bestrich, wich ihm die Gestalt mühelos aus. Sie drückte sich so in die toten Winkel, dass das Licht sie nicht erreichte. Was wollte der Mann, der den Fetisch trug? Am liebsten hätte die Gestalt ihn angegriffen und getötet, aber der Fetisch hielt sie davon ab.
Lindemann rief Rebecca an. Sie freute sich und wollte sich kurz mit ihm treffen. Am frühen Abend fuhr er nach Denkingen. Rebecca joggte um diese Zeit immer. Er traf sie auf einem verschwiegenen Waldweg. »Hallo Schatz.« Sie strahlte, als er auf sie zukam. Ihr Lachen gefror jedoch sofort, als sie sein Gesicht sah. »Ist was?« Lindemann packte sie an den Schultern. Er drückte so fest, dass es ihr wehtat. Ein Ausdruck seiner Wut. »Sie ist weg. Ich hab
nachgeschaut. Was hast du damit gemacht?« Sie schlug seine Hände beiseite und funkelte ihn an. Ihre Gesichter lagen dicht an dicht. »Bist du verrückt geworden? Lass mich bloß los.« Sie trat zwei Schritte zurück. »Verstehst du denn nicht? Das Ding ist unglaublich gefährlich. Wer damit rumhantiert, wird grausam sterben. Du darfst es nicht tun. Du darfst es nicht.« Seine Stimme wurde immer eindringlicher, fast schon beschwörend. »Wir müssen es wieder zurück in die Kiste tun. Nur dort ist es einigermaßen sicher verwahrt.« »Jetzt – hör – mir – gut – zu, Schatz.« Sie betonte das Schatz ziemlich verächtlich. »Ich sag's dir nochmals. Ich hab das blöde Ding nicht genommen. Es interessiert mich nicht. Kapiert? Und außerdem übertreibst du mal wieder kolossal. So schlimm wird's schon nicht sein. Übrigens, wenn du bloß gekommen bist, um Ärger zu machen, dann kannst du mich mal kreuzweise. Lass mich jetzt einfach in Ruhe, ja?« Sie kickte einen Stein zielsicher gegen einen Baum. Dann joggte sie los. Nach einigen Schritten drehte sich Rebecca nochmals um. »Ach ja, was ich noch sagen wollte, ich bin in nächster Zeit ziemlich beschäftigt. Ich glaube nicht, dass wir uns da sehen können.«
Am späten Abend fuhren Zamorra und Nicole ins Vereinsheim des FV Weithart nach Rosna. Sie wollten Leo Kugel ein wenig über Erwin Lindemann ausfragen. Momentan wussten sie niemand Anderen. Zu ihrer Überraschung fuhr auch Lindemann gerade vor. Er parkte seinen SL vor den Umkleidekabinen, direkt neben Zamorras 750er. »Abend«, sagte er kurz angebunden. Er gab sich erst gar keine Mühe, zu verbergen, dass ihm irgendeine Laus über die Leber gelaufen war. In der halb vollen Wirtschaft setzte er sich zu den Altaktiven, die mit ihren damaligen Heldentaten prahlten und kein gutes Haar an der heutigen Mannschaft ließen. Leo Kugel stand an der Theke und polierte Gläser. Das Radio lief. Er lächelte freundlich, als er die beiden Franzosen sah. »Na, das
freut mich aber, dass Sie wieder den Weg zu uns heraus gefunden haben. Scheint Ihnen zu gefallen hier, was?« »Aber natürlich«, flunkerte Nicole. »Wissen Sie, ich mag einfach die Atmosphäre von Fußballclubs, die vielen toll aussehenden Jungs, den Geruch von Männerschweiß. Doch, das war schon immer meine Welt. Und wenn man so ein hässliches Exemplar wie ich zu Hause hat, gefällt's einem natürlich doppelt so gut.« Kugel wieherte. »Der und hässlich. Was bin ich dann? Aber ich kann's nachvollziehen, mir geht's ja genau so. Ein Geheimnis kann ich Ihnen aber verraten, Frau Duval. Einen toll aussehenden Mann hab ich hier im Verein noch nie gesehen und ich bin jetzt auch schon zwölf Jahre hier.« Zamorra konnte nur noch den Kopf schütteln, während Nicole und Kugel zusammen kicherten. Die beiden Dämonenjäger bestellten sich je ein Bier und aßen ein paar Brezeln dazu. Kurz vor neun drehte Kugel plötzlich das Radio lauter. »Seid mal alle still. Gleich kommen die Nachrichten. Ich will hören, ob sie was Neues bringen.« »Ist irgendwas passiert?«, fragte der Professor. »Haben Sie's noch nicht gehört?« »Anscheinend. Sonst hätte ich wohl nicht so dumm gefragt.« »Richtig.« Kugel grinste. »War 'ne saublöde Frage meinerseits, soll nicht wieder vorkommen.« Da gerade die Nachrichten begannen, wurde der Vereinsvorsitzende einer Antwort, was denn nun passiert war, enthoben. Zamorra und Nicole lauschten wie elektrisiert. Die Toppmeldung beschäftigte sich mit einem Fall von Leichenschändung auf dem Pfullendorfer Friedhof. Erwin Lindemann schien ebenfalls noch nichts davon gehört zu haben. Er stand auf und stellte sich neben Nicole ganz nahe an das Radio. Dabei neigte er den Kopf ein wenig. So, als wolle er ja kein Wort verpassen. »Im Fall der verschwundenen Leiche von Maria Wegener gibt es momentan nichts Neues. Wie wir aus gut unterrichteten Kreisen erfahren haben, wollte die Mutter des vor einem dreiviertel Jahr
tödlich verunglückten Mädchens den Sarg nach Traunstein überführen lassen, wo sie jetzt wohnt. Dabei machten die Anwesenden eine schreckliche Entdeckung. In der Seitenwand des Sarges befand sich ein großes Loch. Als der Sarg daraufhin geöffnet wurde, war er leer. Bisher konnten wir weder von der Polizei noch von der Friedhofsverwaltung eine Stellungnahme erhalten. Einer der Beteiligten des Vorfalls, der sich bereits gestern Morgen abgespielt hat, schwört aber Stein und Bein, dass die Holzsplitter nach außen gezeigt hätten. Das würde bedeuten, dass das Loch von innen gemacht worden ist. Wir bleiben für Sie am Ball und werden weiter berichten.« »Wow«, sagte Zamorra. »Das glaub ich jetzt nicht. Die arme Frau Wegener. Das war sicher ein weiterer riesiger Schock für sie.« »Ja.« Kugel drehte das Radio wieder leiser. »Ich kenne sie gut. Eine feine Frau. Das hat sie nicht verdient. Mann, mir wird ganz schlecht, wenn ich dran denke, dass sich so ein Leichenschänder bei uns in der Gegend rum treibt. Wer weiß, was der noch alles auf dem Kerbholz hat. Meine Eltern liegen ebenfalls auf dem Pfullendorfer Friedhof. Hoffe ich jedenfalls.« »Seltsame Geschichte«, sagte Lindemann. Er war plötzlich seltsam nervös. Nicole konnte es fast mit Händen greifen. »Ich meine, das mit dem Loch im Sarg. Von innen durchgeschlagen und so. Hört sich nach einer Räuberpistole an. Niemand kann mit bloßer Faust einen Sarg durchschlagen. Kein Toter und kein Lebender. Das Loch ist ganz sicher von außen entstanden. Zombies gibt es ja schließlich nicht. Oder?« Er sah Nicole an. »Nur in Romanen und Filmen«, gab sie zurück und grinste innerlich. »Da wär ich mir gar nicht so sicher«, kam es vom Stammtisch her. Alle verstummten und sahen Reinhold Flickhammer an. Der genoss die plötzliche ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ich meine, das ist eine wirklich seltsame Geschichte, wenn ich's mir so überlege. Jetzt passt plötzlich alles zusammen.« Er nickte und machte eine Pause. »Was passt zusammen? Herrgott, Reinhold, jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.« Leo Kugel konnte ganz
schön aufbrausend werden, wenn ihm was nicht passte. Flickhammer nahm einen tiefen Schluck und putzte sich mit einem gedehnten »Ah« den Mund per Hemdsärmel ab. »Heute Mittag waren die Mädchen am Baggersee beim Baden. Und da hat Simone wohl zum Besten gegeben, dass sie gestern beim Spiel gegen Denkingen für einen Moment die Maria gesehen hat. Meine Jule hat's beim Abendessen erzählt.« Alle starrten ihn an. »Du spinnst«, stellte Leo respektlos fest. »Was ist denn das für eine Geschichte? Die Toten sind tot, basta. Und auf dem Sportplatz hier treibt sich schon gar keiner rum.« »Halt dich zurück, Leo«, konterte Flickhammer. »Ich hab die Geschichte schließlich nicht erfunden. Ich erzähle sie nur. Da, dort drüben am Geländer hinter der Werbebande, da hat sie gestanden. Simone ist nicht von ihrer Geschichte weggegangen, auch wenn sie die Anderen verarscht haben, versteht ihr? Die war sich so was von sicher. Und jetzt? Jetzt hören wir, dass die Maria aus ihrem Sarg verschwunden ist. Wie das zusammenpasst, kann sich jeder selber zusammenreimen.« »Wann war denn Abendessen bei Ihnen, Herr Flickhammer?«, wollte Zamorra wissen. »So gegen viertel nach sechs. Warum?« »Gleich. Wie lange braucht Julia vom Baggersee nach Hause?« »Zwanzig, fünfundzwanzig Minuten vielleicht. Ich verstehe noch immer nicht …« »Gut. Und wann haben die Nachrichten zum ersten Mal von dem Fall berichtet?« »Um sieben Uhr«, half Leo Kugel aus. »Das weiß ich ganz genau, weil ich schon den ganzen Nachmittag hier bin und höre. Jetzt ist das dritte Mal.« Zamorra nickte. »Dann ist sowieso alles klar. Ich dachte einen Moment, Simone hätte davon in den Nachrichten gehört und anschließend eine Gruselgeschichte daraus gemacht. Aber das kann ja wohl nicht sein.« »Auf die Idee wäre ich jetzt gar nicht gekommen«, erwiderte Lindemann verblüfft. »Ich glaub, dass Sie ganz schön helle im
Oberstübchen sind, Herr Zamorra.« »Geht so«, erwiderte Nicole und kassierte einen Tritt gegen den Knöchel. »Aua! Auf jeden Fall ist es eine äußerst seltsame Geschichte.« »Es macht mir Angst«, flüsterte Lindemann. »Was geht hier bloß vor?« Und laut sagte er: »Zahlen, Leo. Ich hab genug für heute, ich geh in die Falle.« Lindemann fasste in die Innentasche seiner Jacke, tastete hin und her und klopfte sich plötzlich hektisch am Körper herum. Dann ließ er die Schultern hängen. »Mist. Du musst mir anschreiben, Leo. Ich hab anscheinend den Geldbeutel verloren. Keine Ahnung. Vielleicht liegt er im Auto. Ich schau mal kurz nach.« Er ging nach draußen und kam wenig später zurück. »Nichts. Also doch verloren. Ich könnt mich sonst wohin beißen. Da sind meine ganzen Kreditkarten drin. Gute Nacht zusammen. Und nicht vergessen, Leo: Informier mich sofort, wenn die neuen Spielerpässe da sind.« Zwischenzeitlich hatte auch Zamorra schon bezahlt. Sie gingen kurz nach Lindemann. Nicole fuhr. Sie startete den Motor, als das scharf gebündelte Scheinwerferlicht des SL gerade die Zufahrtsstraße beleuchtete. Nicole folgte den roten Rücklichtern. »Der war so nervös vorhin«, sagte sie. »Das macht mir Angst, hat er am Tresen gesagt. Wortwörtlich. Ich hab's genau gehört. Angst muss er aber nur haben, wenn er direkt darin verwickelt ist oder zumindest was Näheres weiß. Sonst hätte er gesagt, dass das erschreckend ist. Oder seltsam. Was weiß ich. Vielleicht sollten wir ihn ein wenig verfolgen und schauen, wo er hinfährt.« »Wie, ich denke, du bist schon längst dabei? Dann gib mal ordentlich Stoff, dass er uns mit seinem SL nicht abhängt.« »Den hol ich noch auf einem Zylinder«, behauptete Nicole.
Erwin Lindemann fuhr zur alten Mühle zurück. Er konnte sich nur vorstellen, den Geldbeutel heute Nachmittag beim Sturz in den Kellergewölben verloren zu haben. Normalerweise hätten ihn keine zehn Pferde bei Nacht dorthin gebracht. Aber jetzt, da das Ding weg
war und damit wohl auch das Böse, erschien es ihm weniger gefährlich. Trotzdem klopfte sein Herz wie rasend, als er durch die Mühle ging. Er hatte das Gefühl, nicht alleine in der Finsternis zu sein. Aber er sah niemanden, auch wenn er die Taschenlampe ein paar Mal nervös schwenkte und mit der anderen den Fetisch in die Luft hielt. Als er den geheimen Zugang öffnete, empfing ihn wieder das Raunen und Wispern. Täuschte er sich oder klang es tatsächlich nervöser und hektischer als noch am Nachmittag? Er suchte den Boden um die Sturzstelle ab, fand aber nichts. Also inspizierte er auch die anderen Plätze, an denen er gewesen war. Ebenfalls nichts. Dabei warf er nochmals einen Blick in die seltsame Truhe, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich leer war. Sie war es nach wie vor. Erwin Lindemann verbiss sich einen Fluch und sah zu, dass er so rasch wie möglich verschwand. Das Schemen, das durch die Dachbalken turnte, hielt mit einem leisen, höhnischen Kichern einen schwarzen Geldbeutel hoch und steckte ihn dann wieder in die Tasche seiner Hose.
»Jetzt biegt er auf einen Feldweg ab«, sagte Nicole. »Ich nehm mal an, ein Promilleweg. Schließlich hat Lindemann vorhin mindestens zwei Bier gehabt. Was machen wir, Chéri? Ihn weiter verfolgen? Er könnte misstrauisch werden.« »Ja und? Schließlich können wir denselben Weg haben wie er. Er weiß ja nicht, wo wir … Was tut er denn jetzt?« Zamorra langte soeben an der Stelle an, an der das schmale Sträßchen in die Wiesen abbog. Das auf- und abwippende Scheinwerferlicht von Lindemanns SL, das den leichten Bodenwellen geschuldet war, riss Teile eines Gebäudes aus der Dunkelheit – und machte plötzlich einen Bogen. Der Wagen stand. Die Scheinwerfer erloschen jedoch nicht. Sie strahlten eine Hauswand an. In ihrem Licht sahen sie Lindemann zur Tür gehen. Der Professor fuhr ebenfalls langsam, ein Stück an der
Abzweigung vorbei. Dann lenkte er den BMW am Ortseingang von Habsthal unter eine alte Eiche und hielt an. »Seltsam«, sagte Nicole. »Er parkt bei der alten Mühle. Was will er dort bloß?« Sie kannten sie vom Vorbeifahren. »Keine Ahnung.« »Woher auch. Du bist ja ein Mann.« Zamorra lächelte. Dann nickte er und spielte mit seinen Fingern einen imaginären Takt auf dem Steuerrad. »Schauen wir also nach. Ich hoffe bloß, dass das nicht die ganze Nacht dauert.« Tat es nicht. Nach einigen Minuten stieg Lindemann wieder ein. Ganz leise hörten sie den startenden Motor. Dann entfernte sich der SL in die andere Richtung. Sie konnten die Scheinwerfer noch eine ganze Weile verfolgen, weil sich die Wiesen bis hinüber nach Einhart topfeben erstreckten. »Also, dann mal los.« Kurze Zeit später parkten die beiden Franzosen vor der Mühle. Als sie ausstiegen, wehte ein kühler Wind, der sie frösteln ließ. Nicole kniff leicht die Augen zusammen. Sie sah sich misstrauisch um. »Hier stimmt was nicht, Chéri«, sagte sie leise. »Meine Nackenhärchen stellen sich auf. Ich fress einen Besen mitsamt der dazugehörigen Hexe, wenn hier nicht ein Dämon am Werk ist.« Vor langer Zeit war Nicole mit schwarzem Blut infiziert worden. Seither konnte sie dunkelmagische Kräfte spüren. Der Professor nickte bedächtig. »Wenn du's sagst. Komm, wir gehen rein.« »Getrennt marschieren, vereint schlagen?« Zamorra sah über die Silhouette des Hausdachs hinweg in den etwas helleren Himmel hinein. Er war bedeckt. Kein Stern funkelte am Himmel. »Nein«, erwiderte er. »Solange wir nicht wissen, was hier vorgeht, bleiben wir mal lieber zusammen. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, dass wir uns trennen.« »Mein kleiner Angsthase«, neckte Nicole ihn. »Also gut, bleiben wir zusammen. Wo fangen wir an?« »Am Besten in dem Gebäude, in dem Lindemann war. Ich nehme mal an, das ist die Mühle an sich.«
Der Schwarzblütige erschrak. Die Helfer der fremden Macht waren hier! Was wollten sie? Hatten sie ihn bereits gefunden? Oder war es nichts als Zufall, weil sie dem Mann, der heute bereits zum zweiten Mal da gewesen war, nachgefahren waren? Er spürte, dass die Entität selbst nicht dabei war. Das beruhigte ihn allerdings nicht. Wieder dachte er auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Und kam blitzschnell zu dem Entschluss, dass er die Helfer töten würde. Damit konnte er die fremde Macht vielleicht sogar entscheidend in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Denn er hatte festgestellt, dass sie sich von den Helfern transportieren lassen musste. So mächtig die Entität auch war, genau das konnte ihre Schwachstelle sein. Das Risiko, dass die Entität eigentlich gar nichts von ihm wollte und dass er sie durch sein Handeln erst recht gegen sich aufbrachte, musste er eingehen.
Zamorra und Nicole betraten die Mühle. Es ging ohne Probleme, die Tür war nicht verschlossen. Ein muffiger, modriger Geruch schlug ihnen entgegen. Zamorra, der immer eine Taschenlampe im Auto hatte, leuchtete in den Raum, der eher einer Halle glich. Zamorra ließ den Lichtkegel an zwei mächtigen, trichterförmigen Kornschütten entlang gleiten. Dann leuchtete er in verschiedene Winkel. »Keine Spinne, nichts«, murmelte er. »Hier drinnen haust tatsächlich das Böse.« »Nicht mehr lange«, erwiderte Nicole. »Jetzt sind ja die Guten da und machen ihm den Garaus.« Sie gingen ein Stück in die Mühle hinein. »Wir sind absolut richtig«, stellte Nicole fest. »Ich spüre es hier drinnen noch deutlicher als draußen.« Unwillkürlich fuhr ihre Hand zum EBlaster. Sie hatte die Laserwaffe, die aus der Produktion der Ewigen stammte, aus dem Handschuhfach geholt und sie sich an die dafür vorgesehene Magnetplatte an ihrem Gürtel geheftet. Zamorra wollte weiter gehen. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie
ihn zurück. »Was ist?«, flüsterte er. Sie hob den Kopf. »Dort oben in der Finsternis … Irgendetwas … lauert dort«, murmelte sie. »Ich empfange verschwommene Gedanken. Hass, Furcht, Angriff …« Angriff? Nicole schrie auf. Sie warf sich gegen Zamorra. Beide krachten zu Boden. Im selben Moment entstand ein greller Blitz im Giebelgebälk. Er zuckte nach unten. Knapp neben Nicole schlug er in den Boden. Die Französin warf sich herum. Während Zamorra hinter einen alten Mehlkasten in Deckung hechtete, löste Nicole den E-Blaster aus. Er stand auf Lasermodus. Ein nadelfeiner, roter Strahl spannte sich durch die Finsternis. Sie wusste ungefähr, wo sie hinzielen musste. Noch immer hatte sie Kontakt zu diesen verworrenem Gedankengebilde, auch wenn sie jetzt hoch konzentriert war. Das hieß, dass sich nichts zwischen ihr und ihrem Gegner befand. Sonst hätte sie es nicht wahrnehmen können. Sie standen sich also Auge in Auge gegenüber, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Der Laserstrahl durchschlug ein paar Balken und das Dach. Weil das Holz uralt und steinhart war, fing es kein Feuer. Instinktiv erfasste Nicole, dass sie nicht getroffen hatte. Und rollte sich zur Seite. Keine Sekunde zu früh. Ein zweiter Blitz attackierte sie – aus der entgegengesetzten Richtung. Ihr unsichtbarer Gegner hatte sich unglaublich schnell bewegt. Und sie um mindestens einen Meter verfehlt. Nicole schoss erneut. Wieder vergeblich. Zamorra konzentrierte sich inzwischen. Und rief das Amulett. Wenn es sich in dieser Welt befand, folgte es dem Ruf egal, wo es war. Lediglich Dimensionsgrenzen hielten es auf. Ohne Zeitverlust erschien Merlins Stern in seiner Hand. »Überraschung«, sagte Zamorra. Im selben Moment baute sich grünlich wabernde Energie um den Professor auf. Eng umfloss sie seine Konturen. »Nici!«, rief er. Sie rollte sich zu ihm. »Schon kapiert«, keuchte sie. Sobald sie Körperkontakt hatte, umfloss der grüne Schutzschirm auch sie. In diesem Moment löste sich ein dritter Blitz. Wieder aus einer anderen Ecke. Dieses Mal hätte er Zamorra getroffen, verfing sich aber im
Energieschirm und wurde von Merlins Stern vollständig absorbiert. Das Amulett musste sich nicht einmal anstrengen, um die fremde Magie zu vernichten. Attacke, befahl Zamorra gedanklich. Auf diesen Befehl reagierte Merlins Stern mit silbernen Angriffsblitzen, die meist eine verheerende Wirkung zeigten. Dieses Mal verweigerte die Silberscheibe den Befehl. Statt Angriffsblitzen flammte das gespenstische grünliche Leuchten plötzlich grell auf, floss auseinander und füllte mit einem Schlag die gesamte Mühle aus. Zamorra fühlte sich an ein gigantisches Röntgengerät erinnert, das den Raum ausleuchtete. Die Einrichtungsgegenstände waren nur noch als schwarze Schatten wahrzunehmen. Das Balkengewirr im Giebel wirkte wie die Gliedmaßen durcheinander krabbelnder, gigantischer Spinnen. Und da sahen sie ihn. Zum ersten Mal. Er stand hoch aufgerichtet, mit ausgestrecktem Arm auf einem Hauptträger und hielt einen Speer in der Hand. Die Spitze zeigte direkt auf sie. Der Dämon, denn er war ein astreiner, wie Nicole aus den Gedankenmustern ersehen hatte, war ebenfalls nur als schwarze Silhouette wahrzunehmen. Was sie sahen, stimmte aber genau mit dem überein, was Petra Cerny über ihn berichtet hatte: extrem muskulös. Der Dämon begann zu schreien und wie wild zu zucken. Die Amulettenergie schien ihm mächtig zuzusetzen. Bevor Nicole erneut schießen konnte, flüchtete er Hals über Kopf. Flink wie ein Affe verschwand er zwischen den Balken, turnte nach oben, quetschte sich selbst durch schmälste Durchgänge. Es wäre Merlins Stern ein Leichtes gewesen, den Unbekannten zu vernichten. Warum tat er es dann nicht? Zumal ihn Zamorra dazu aufgefordert hatte? Warum ließ er den Kerl entkommen? Ein lautes Kreischen ertönte. Dann setzte Stille ein. Der Dämon war weg.
Besagter Dämon saß hoch oben auf einem Baum und leckte seine Wunden. Fürchterliche Schmerzen flossen seine Nervenbahnen
entlang. Es brannte wie die Feuer im siebten Kreis der Hölle. Hätte er sich länger in dem magischen Wabern aufgehalten, wäre er langsam zersetzt worden. Er war im wirklich allerletzten Moment entkommen. Wieder hatte er seine Gegner unterschätzt. Von einer Sekunde zur anderen war die fremde Entität aufgetaucht. Sie verfügte also über die Fähigkeit der Teleportation und musste sich keineswegs transportieren lassen. Und sie erzeugte eine derart starke Magie, wie sie dem Dämon bisher noch nicht untergekommen war. Immerhin hatte er es geschafft, der fremden Entität zu entfliehen. Sie war also auch nicht allmächtig. Dass sie ihn absichtlich hatte entkommen lassen, obwohl er ihre Träger angegriffen hatte, das konnte er sich nicht vorstellen.
Zamorra wandte erneut die Zeitschau an, um Lindemanns Tun nach verfolgen zu können. Es sah so aus, als suche er etwas. Das Amulett zeigte ihnen auch, dass er dabei die ganze Zeit von dem Dämon beobachtet wurde, der sich blitzschnell im Giebelgebälk hin und her bewegte. Es leuchtete dabei die Szenerie, die ja großteils dunkel gewesen war, perfekt aus. Nun bekamen sie zum ersten Mal Details des Schwarzblütigen zu sehen. Auch sie stimmten nahezu perfekt mit dem überein, was Petra Cerny darüber berichtet hatte: brutale, ja grausame Züge, die von dem weißen, aufgemalten Gesichtsspiegel noch verstärkt wurden, Glatze, grell leuchtende Augen, einfaches Leinengewand, Krallenkette um den Hals, Gelenk- und Oberarmbänder aus bunten Fellstreifen. Den Blitze schleudernden Speer hatte er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht getragen. »Sieht nicht so aus, als hätten Lindemann und der Dämon etwas miteinander zu tun«, murmelte Nicole, während sie den von ihm genommenen Weg abgingen. »Der Schwarzblütige belauert den Mann eher. Aber Lindemann schaut sich immer wieder ängstlich um. Er scheint zu wissen, dass hier irgendetwas Unheimliches ist. Ja sieh mal einer an …« Lindemann hob am hinteren Ende des Raumes ein Bodenbrett an
und schob es beiseite. Dann verschwand er auf einer Treppe. Die beiden Dämonenjäger standen direkt darauf. Zamorra fror das Bild im Amulettzentrum ein. Dann legten sie den Abgang ebenfalls frei. Kurz darauf gingen sie durch die Katakomben. Absolute Stille herrschte. Sie hörten lediglich ihre Schritte und ihr Atmen. Das Wispern und Raunen, das Erwin Lindemann noch wahrgenommen hatte, war mit der Flucht des Dämons erloschen. Sie betraten den Keller mit der Truhe. »Was ist denn das?«, fragte Nicole verblüfft. »Da hängt ja der Führer an der Wand. Leider nicht am Hals.« Zamorra, der die Amulettbilder erneut eingefroren hatte, grinste und betrachtete das daneben hängende Plakat. »Das SS-Ahnenerbe, so, so. Wir sind hier wohl auf das Versteck eines Nazis gestoßen.« »Lindemann?« »Keine Ahnung. Zumindest kennt er den Raum. Hm.« Zamorra trat an den Bücherschrank und öffnete ihn. Bücher mit Hakenkreuzen auf den Buchrücken standen oder lagen darin. In einer Schatulle prangte auf blauem Samt ein Totenkopfring der SS. Der Professor nahm ein Buch heraus und blätterte kurz darin. »Ich glaub's ja nicht. Das ist eine Originalausgabe von Otto Rahns ›Luzifers Hofgesind, eine Reise zu den guten Geistern Europas‹. Mit Widmung drin. Für einen gewissen, hm, wie heißt das? Eine Handschrift in Sütterlin ist selbst für mich schwierig. Ich denke mal, Kurt Kugel.« Nicole bestätigte es, nachdem sie ihm über die Schulter geschaut hatte. »Kugel. So heißt doch auch der Vorsitzende vom Fußballverein.« »Ja, stimmt.« Zamorra stellte das Buch wieder zurück und nahm ein anderes. »Was haben wir da noch? Rahns zweites Buch ›Kreuzzug gegen den Gral. Die Geschichte der Albigenser‹. Interessant, äußerst interessant. Und hier, das mit den schwarzen Buchdeckeln, das ist ein Porträt über Karl Maria Wiligut. Ich hab mal an der Sorbonne die Vorlesung eines Kollegen zum Thema gehört.« »Freut mich für dich. Wenn du mir in deiner unendlichen Güte
nun ebenfalls sagen könntest, um was es hier eigentlich geht, wäre ich dir sehr verbunden.« »Natürlich. Das alles hier hängt mit dem so genannten Ahnenerbe der SS zusammen. Wie du weißt, war Heinrich Himmler, seines Zeichens Reichsführer SS, extrem okkult angehaucht. Er gründete das Ahnenerbe, eine Art Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte, die praktisch für die gesamte Altertumsforschung in Deutschland zuständig war. Viele Forschungsprojekte des Ahnenerbes beschäftigten sich allerdings mit den abstrusen Ideen Himmlers und Wiliguts, der ebenfalls ein hoher SS-Mann war. So sollte das Ahnenerbe eine seit vielen Jahrtausenden existierende arisch-germanische Religion nachweisen, um damit die geistige Weltherrschaft des arischen Germanentums zu beweisen.« Zamorra nickte. »So war das damals. Wenn ich mich recht erinnere, hat das Ahnenerbe weltweit Projekte zu diesem Zweck finanziert. Da gab's zum Beispiel Schäfers Tibet-Expedition. Er sollte im Auftrag Himmlers nach Spuren dieser arischen Urreligion in den buddhistisch-tibetischen Schriften suchen. Himmler war nämlich fest überzeugt, dass eine Gruppe arisch geprägter Menschen den Untergang von Atlantis überstanden hat und seither vom Himalaya aus die Geschicke der Welt lenkt.« »Und sich vor allem in den Germanen fortgepflanzt haben.« »So unsinnig sich das anhört, ja. Es wird sogar noch irrsinniger, wenn man weiß, dass Himmler in den Hexen die wahren Trägerinnen dieser germanischen Urreligion sah. Logischerweise war das Ahnenerbe also auch auf dem Gebiet der Hexenforschung sehr aktiv. Ich glaube mich zu erinnern, dass Himmler eine Sonderabteilung einrichtete, den so genannten HexenSonderauftrag. Die sollte beweisen, dass die großen mittelalterlichen Hexenjagden auf Geheiß von Christen und Juden nur deswegen stattgefunden hatten, um der arischen-germanischen Religion den Garaus zu machen, um damit die natürliche geistige Weltherrschaft der germanischen Rasse für alle Zeiten in den Gully zu treten.« »Da gab's wohl mehr als eine Synapsenblockade im
Oberstübchen.« »Kannst du laut sagen. Otto Rann, der Zeit seines Lebens den Heiligen Gral suchte, arbeitete übrigens auch eine Zeitlang für das Ahnenerbe. Und ich denke mal, dass derjenige, der den Raum hier eingerichtet hat, ebenfalls irgendwas damit zu tun hatte.« »Den Führer haben diese Forschungen ganz sicher gefreut. Mich allerdings weniger.« Nicole ging in Richtung der Truhe. »Du wirst lachen, nein. Hitler fand das Ahnenerbe schrecklich. Er war der Ansicht, dass man die Welt nicht auch noch mit der Nase darauf stoßen muss, dass Germanen noch in Lehmhütten hausten, während Griechen und Römer schon auf höchster Kulturstufe standen und herrliche Bauten errichteten.« »Danke für die kostenlose Geschichtsvorlesung, Herr Professor. Aber sieh dir mal die Kiste hier an. Kannst du mit den eingeritzten Zeichen was anfangen?« Zamorra trat neben Nicole und ging in die Knie. »Absolut fremdartig, hab ich noch nie zuvor gesehen. Instinktiv würde ich aber sagen, dass es sich um magische Bannzeichen handelt.« »Ja, nicht wahr? Dieses Gefühl hatte ich auch gleich.« Nicole hob vorsichtig den schweren Deckel hoch. Die Kiste war leer. Lediglich ein bisschen Stroh lag darin. »Merlins Stern hat gezeigt, dass Lindemann in die Kiste geschaut hat, so wie wir gerade«, sagte Zamorra. »So, wie er sich hier bewegt, kennt er die Örtlichkeiten bestens. Und auch die Kiste. Er wird sie nicht jedes Mal aufmachen, wenn er hier unten ist. Warum schaut er also ausgerechnet jetzt rein?« »Na ja, wie oft er hier unten ist, wissen wir nicht. Aber wenn wir davon ausgehen, dass das da tatsächlich Bannzeichen sind, muss irgendwas in der Kiste gelegen haben, das sie bannen. Logisch?« »Logisch.« »Und da momentan nichts mehr in der Kiste ist, könnte genau das der Grund für Lindemanns Kontrollblick gewesen sein.« Nicole lächelte triumphierend. »Möglich. Und da auch ich geistig sehr rege bin, bringe ich jetzt einfach mal die Kiste und den afrikanischen Dämon in
Zusammenhang. Zumal mich diese seltsamen Zeichen irgendwie an Affenköpfe erinnern.« »Ja, da könntest du Recht haben. Ich seh auch noch einen Elefanten- und einen Löwenkopf. Hier und hier.« Sie deutete auf die entsprechenden Zeichen. »Dazu braucht man aber schon eine gehörige Portion Fantasie.« Zamorra nahm das Amulett, vertiefte sich darin und wollte versuchen, der magischen Struktur der Zeichen auf die Schliche zu kommen. Doch Merlins Stern reagierte nicht. »Blöde Blechscheibe«, grummelte der Professor und ließ sie vor seinem Gesicht pendeln. »Du bist nichts als ein Haufen Schrott. Verstehst du? Fasse das durchaus als Beleidigung auf. Erst leistest du dir einen klassischen Fall von Befehlsverweigerung und lässt den Dämon entkommen und jetzt zeigst du mir schon wieder die kalte Schulter. Zu was füttere ich dich eigentlich durch? Kannst du mir das sagen, hm?« »Lass gut sein«, seufzte Nicole. »Auch Amulette, die aus entarteten Sonnen geschaffen wurden, haben ihre Tage.« Seit Taran, das zeitweilig aushäusige Amulettbewusstsein, in Merlins Stern zurückgekehrt war, verhielt der sich wieder so unberechenbar wie zuvor. Tatsächlich schien das »Wollen« oder »Nichtwollen« des Amuletts von Tarans Launen abhängig zu sein. Eine äußerst gefährliche Angelegenheit, da eine plötzliche Verweigerung im Kampfeinsatz den schnellen Tod zur Folge haben konnte. Während Tarans Abwesenheit hatte es hingegen meist reibungslos funktioniert. Sie verließen den Raum und inspizierten die anderen. Sie enthielten ausschließlich Gerümpel. Außer einem. Da standen ein Tisch in der Mitte und sechs Stühle drum herum. Auf dem Tisch befanden sich halb heruntergebrannte Wachskerzen, die den Grundriss eines Drudenfußes bildeten. Neben einem der Stühle lag ein Ouija- oder Hexenbrett auf dem Boden. Es zeigte in einem hellbraunen, von einem dunkleren Braun umrandeten Feld in kunstvoll verschnörkelten Buchstaben das Alphabet, die Zahlen von 1 bis 9 und die Worte Ja und Nein. Dazwischen waren Totenköpfe und Drudenfüße gemalt. Der Zeiger bestand aus einem ausgesägten
Holzherzen mit Loch in der Mitte und lag neben dem Brett. Über derartige Bretter konnte man angeblich Kontakt mit Verstorbenen und anderen Geistwesen aufnehmen, die dann antworteten, indem sie den Zeiger über Wörter, Zahlen und Buchstaben gleiten ließen. Zamorra wusste, dass das Unsinn war. In den allermeisten Fällen kamen sinnvolle Antworten durch den so genannten »Carpenter-Effekt« zustande. Der besagte, dass das menschliche Gehirn die Tendenz zeigt, das ausführen zu wollen, an was es denkt. Wenn also Bediener von Ouija-Brettern gewisse Antworten erwarteten, kamen die dann in der Regel auch. Die Bretter waren also eher nutzlos. Trotzdem konnte es bei derartigen »Sitzungen« zum Kontakt mit spirituellen Wesen kommen. Daran war aber der geistige Zusammenschluss der Teilnehmer schuld. Und wenn die spirituellen Wesen antworteten, dann sicher nicht über das Brett. Sondern direkt im Gehirn der Betreffenden. »Bingo«, sagte Nicole. »Wir hatten also Recht mit unserer Annahme, dass eine Seance stattgefunden hat. Dabei haben die Mädchen um Rebecca diesen Dämon beschworen. Möglicherweise hat das, was in der Kiste war, diesen Kontakt erst möglich gemacht.«
Erst weit nach Mitternacht kamen Zamorra und Nicole ins Hotel Adler zurück. Erschöpft waren sie dennoch nicht. Das Wasser aus der Quelle des Lebens, das sie einst getrunken hatten, sorgte für nahezu ungebrochene Vitalität über viele Tage hinweg. Petra Cerny schlief bereits. Sie schlummerte friedlich in ihrem Bett. Der Dämon hatte nicht versucht, sie in Abwesenheit von Merlins Stern zu attackieren. Es wäre ihm auch schlecht bekommen. Zamorra hatte in weiser Voraussicht, falls er das Amulett rufen musste oder der Dämon sie wieder mit magischen Illusionen auszutricksen versuchte, einen weißmagischen Abwehrschirm um das Zimmer der Frau errichtet und ein Zeichen eingebaut, das einen erfolgten Angriff anzeigte, indem es sich schwarz verfärbte. Gryf ap
Llandrysgryf, sein alter Kampfgefährte, hätte es ihm einmal gezeigt. Es war jedoch nach wie vor weiß. Petra Cerny hatte nicht das Geringste zu befürchten gehabt. Die beiden Dämonenjäger stiegen in die Dusche und genehmigten sich danach noch einen kleinen Rotwein zum Absacken. Sie brauchten zwar nicht unbedingt Schlaf, empfanden ihn aber trotzdem als wohltuend. Schon deswegen, weil er neben der Kräfteregeneration auch psychische Aufgaben wahrnahm. Träume waren absolut überlebensnotwendig, um geistigen Stress abzubauen. »So. Wir haben nun weitere Ansatzpunkte in dem seltsamen Geschehen«, stellte Nicole fest. »Das ist schon mal gut. Trotzdem reicht es noch immer nicht, um ein wirklich abgerundetes Bild des Geschehens zu bekommen.« Sie seufzte. »Macht ja nichts. Wenn wir wirklich was in unserem langen Leben gelernt haben, dann ist das Geduld. Lass uns trotzdem ein bisschen spekulieren, Chéri. Wir wissen, dass Maria Wegener aus ihrem Grab verschwunden ist. Im Gegensatz zu Anderen wissen wir auch, dass sie das durchaus von innen bewerkstelligt haben kann. Nehmen wir also mal an, dass Maria tatsächlich ihrem Grab entstiegen ist und hier herumgeistert, dann stellt sich uns erstmal die Frage: Warum, zum Teufel?« Zamorra legte sich aufs Bett und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ja, warum? Und wir müssen die Frage klären, wo und wie sie mit der Magie in Berührung gekommen ist, die ihr das ermöglicht. Auch dieser Aspekt muss irgendetwas mit dieser alten Mühle und diesem Dämon zu tun haben, darauf lege ich mich schon mal fest. Die Mühle ist doch richtiggehend schwarzmagisch verseucht. Laut Rebecca hatte Maria aber Angst vor dem Übersinnlichen. Das könnte bedeuten, dass Maria nicht aktiv am Geschehen teilgenommen hat, sondern lediglich ein Opfer ist.« »Wenn wir davon ausgehen, dass die Schweinezicke uns die Wahrheit gesagt hat, ja. Aber das ist noch keineswegs raus.« »Stimmt. Auch das müssen wir im Blickfeld behalten. Kann ja möglich sein, dass sie uns ganz gezielt angelogen hat, weil sie etwas
verbergen will. Vielleicht hat sie ja nur Angst, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, die sie eigentlich gar nicht wollte und jetzt nicht mehr kontrollieren kann.« »Darauf würde ich nicht wetten«, erwiderte Nicole boshaft. »Wie wäre es mit folgender Annahme: Rebecca sieht, dass durch Maria die Weitharter Spielerinnen immer besser werden. Weil sie nicht irgendwann gegen die verlieren will, beschwört sie den Dämon, um Maria aus dem Weg zu räumen.« »Warum habe ich nur das Gefühl, dass du Rebecca nicht leiden kannst? Aber, hübsche Theorie. Danach bekommt sie den Dämon, der ab jetzt in der alten Mühle haust, nicht mehr in den Griff – wobei wir übrigens wieder bei meiner Annahme von vorhin wären – und der holt sich nach und nach weitere Spielerinnen. Hm, wäre zumindest ein Ansatzpunkt, der schlüssig klingt. Wäre da nicht mein Gefühl, das mir sagt, dass Rebecca nie und nimmer in der Lage ist, gezielt einen Dämon zu beschwören.« Nicole schenkte sich etwas Wein nach. »Männer und Gefühle. Zwei Welten prallen aufeinander. Bleiben wir trotzdem noch ein wenig bei dieser Theorie, mein armer Chéri. Wir haben in der Mühle festgestellt, dass es sich um ein eher schwaches dämonisches Wesen handelt, das da am Werk ist. Wenig selbstbewusst und nicht von seiner Stärke überzeugt. Das würde erklären, warum es seine Morde als Unfälle tarnt. Es will nicht, dass man ihm auf die Schliche kommt. Ein starker Dämon würde eher versuchen, eine Duftmarke zu setzen. So nach dem Motto ›Seht her, ihr kleinen Scheißerchen, hier bin ich‹. Wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass der Kerl auch für die anderen toten Spielerinnen verantwortlich ist. Die Fliegen an Klaras Leiche sind ein ziemlich klares Indiz dafür. Dann wird er höchstwahrscheinlich auch Lea beseitigt haben.« »Tiefgründige, sprachgewaltige Ausführungen eines überragenden weiblichen Intellekts«, kommentierte Zamorra und grinste. »So einfach und klar strukturiert. Aber was willst du mir nun damit sagen?« »Ich hätt's wissen müssen, dass du von alleine nicht drauf kommst. Vielleicht hat ja Rebecca, deine Gefühle in allen Ehren,
absichtlich einen schwachen Dämon beschworen, einen, den sie im Griff behalten kann. Dass sie sich dabei trotzdem übernommen hat, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt.« »Also gut. Lassen wir das einfach mal so stehen. Noch weitaus dringlicher scheint mir aber die Frage zu sein, warum Maria plötzlich wieder unter den Lebenden weilt. Ich sag das jetzt einfach mal so, obwohl gerade dieser Terminus höchstwahrscheinlich falsch ist. Gibt's da Wortmeldungen? Hat einer eine Idee?« Nicole kicherte. »Hab ich, Monsieur le professeur, hab ich. Maria hat sich doch immer für die Mannschaft verantwortlich gefühlt. Und nun ist sie zurückgekommen, um den Dämon an weiteren Morden zu hindern, um die Spielerinnen ihres Teams zu beschützen, was auch immer. Bliebe nur noch zu klären, welche Macht ihr das ermöglicht. Wie du bereits sagtest.« »Eben. Und jetzt sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Es gäbe auch die Möglichkeit, dass Maria zurückgekommen ist, um sich an dem Dämon zu rächen. Vielleicht hat sie ja umgekehrt auch der Dämon aus ihrem Grab geholt, um sie zu benutzen. Allerdings wohl kaum als Killer, denn das pflegt der Herr Dämon höchst selbst zu erledigen. Vielleicht als Lockmittel? Das ist alles müßig, so lange wir nicht wissen, welche Macht wirklich hinter Maria steht.« »Dann kriegen wir's doch einfach raus. Wir sind schließlich die Spezialisten für diese Dinge.« »Stimmt. Ich hatte es fast schon vergessen.« Zamorra seufzte. »Aber es ist immer wieder schön, zusammen mit dir Brainstorming zu machen, meine liebe Nici.« »Ja, weiß ich. Aber da gibt's was, was noch viel schöner mit mir ist.« »Ach was, hilf mir doch bitte mal auf die Sprünge. Ich komm absolut nicht drauf.« Nicole glitt ins Bett und knabberte an Zamorras Ohrläppchen. »Ach das meinst du.« Er massierte ihre Hinterbacken. »Gestatte mir noch einen weiteren Gedanken, bevor wir körperlich kollidieren: Was hältst du von der Idee, dass Maria zurückgekommen ist, weil sie ihr Herz wiederhaben will?«
11. Pfullendorf / Bachhaupten, Baden-Württemberg September 2007 Wieder träumte Petra Cerny. Sie hatte fürchterliche Angst, sträubte sich mit allem, was sie hatte, gegen den Zwang, unter den der Unheimliche sie setzte. Doch sie kam nicht dagegen an. Mit Schweiß auf der Stirn stieg aus ihrem Bett, zog sich an und ging zur Haustür hinaus. Ihre Mutter, die Fernsehen schaute, erhob sich aus ihrem Sessel und kam hinterher. »Spinnst du, Maria? Wo willst du hin?«, fragte sie, unter der Haustür stehend. »Ich muss gehen«, keuchte sie. »Es ist so stark.« »Kind, bist du krank? Was ist mit dir? Soll ich einen Arzt rufen?« Sie kam näher, einen Schritt, zwei, drei. Jetzt stand ihre Mutter neben ihr, voller Sorge, und berührte sie. Darauf hatte sie nur gewartet. Der Unheimliche in ihr hatte es befohlen. Plötzlich entspannte sich ihre Mutter. Ohne ein Wort ging sie ins Haus zurück und schloss die Tür wieder hinter sich ab. Schon jetzt würde sie keine Erinnerung an den Vorfall mehr haben. Der Unheimliche hatte sie ihr genommen. Sie stieg auf ihr Fahrrad und fuhr durch die Nacht. Abseits der Straßen, auf dunklen, schmalen Feldwegen. Obwohl es finster wie in einem Kuhhintern war, sah sie auf seltsame Weise und konnte jedem Hindernis ausweichen. Ein paar alte Gebäude tauchten auf. Die Eimühle bei Rosna. Offiziell war sie seit vielen Jahren verlassen. Doch das stimmte nicht. Der Unheimliche hauste seit langer, langer Zeit hier. Sie wusste es nun … Petra Cerny hatte momentan nicht einen Gedanken an ihre eigene Existenz. Mehr denn je fühlte sie, dass sie Maria war, mit Haut und Haaren, Leib und Seele. Langsam stieg sie in die Kellergewölbe unter der Mühle. Das Raunen und Wispern war ihr unerträglich. Es
hieß sie Willkommen. Nein, nein! Lasst mich! Ich will nichts mit euch zu tun haben! Höhnisches Kichern durchsetzte das Wispern. Als ob du eine Wahl hättest … Was sie dann tat, blieb seltsam verschwommen. Sie hatte das Gefühl, in tiefes Wasser zu sehen, Konturen zu erkennen, diese aber dann doch nicht greifen zu können. Verzweifelt versuchte sie zu sehen. Aber außer ihrer Angst war da nichts mehr Greifbares. Plötzlich war das Böse in ihr. Sie wehrte sich mit aller Macht dagegen. Ein greller Blitz zuckte auf. Mit lautem Keuchen fuhr sie aus dem Schlaf. Zitternd lag Petra Cerny in ihrem Bett. Und begann leise zu weinen.
Hausakoy saß in seinem Versteck. Angreifen konnte er die Frau mit Marias Herz nicht. Die fremde Entität hatte sie mit einem machtvollen, weißmagischen Zauber abgesichert. Doch das Unsichtbare Band erlaubte ihm nach wie vor, in ihre Träume einzudringen. Davon wusste die fremde Entität nichts und hätte es wohl auch bei entsprechendem Wissen nicht verhindern können. Der Dämon träumte mit. Was er befürchtet hatte, bestätigte sich mit dieser Vision. Marias Bewusstsein, das in ihrem Herz verblieben war, verschmolz immer mehr mit dem der anderen Frau. Und je mehr sie eins wurden, desto mehr gelang es Maria, der anderen Frau ihr Wissen zu vermitteln. Irgendwann würden die beiden Bewusstseine so perfekt harmonieren, dass Maria der anderen Frau all das mitteilen konnte, was sie wusste. Und dann würde es automatisch die fremde Entität erfahren. Das durfte niemals passieren. Denn Maria hatte seinen Namen gewusst. Erfuhr die fremde Entität ihn, war er nirgendwo mehr sicher. Selbst im siebten Kreis der Hölle nicht. Denn die Entität würde ihn über die Kenntnis seines Namens beschwören können, wo immer er sich auch aufhielt. Wenn sie den Zwang entsprechend stark machte, musste er ihm folgen. Ohne die geringste Möglichkeit, sich dagegen wehren zu können. Das würde er nicht mehr
überleben. Er musste die Trägerin von Marias Herz vernichten. Und zwar demnächst. Viel deutlicher durften ihre Visionen nicht mehr werden. Schon jetzt begannen sie äußerst gefährlich zu werden.
Isabell war müde. Sie hatte ihre Hausaufgaben erledigt und danach noch etwas im ICQ gechattet. Doch weil nicht die richtigen Leute online waren, war es langweilig gewesen. Niemand hatte mit ihr über Fußball reden wollen und über das bevorstehende Spiel am Mittwochabend. Über den Chor, in dem sie sang, ja. Aber darauf hatte sie heute keine Lust gehabt. So hatte sie bald wieder Schluss gemacht. »Was soll's«, murmelte sie. »Geh ich eben mal wieder etwas früher ins Bett. Ich fühl mich eh wie dreimal ausgekotzt.« Sie legte sich lang und las noch ein bisschen in einer Jugendzeitschrift. Mäßig interessiert betrachtete sie die Bilder nackter Jungen und Mädchen und schmökerte die dazugehörigen Leserbriefe samt Antworten von Dr. Sommer durch. Dann machte sie das Licht aus und drehte sich mit dem Rücken zur Wand. Für einige Momente starrte sie noch auf das offene Fenster. Ein sanfter Wind bauschte die Gardinen ein wenig. Bachhaupten war normalerweise ruhig. Heute bellte irgendwo ein Hund. Ein anderer antwortete. Dann hörte sie ein vorbei fahrendes Auto. Isabell gähnte und schloss die Augen. Der Schlaf kam nur langsam. Sie konnte höchstens ein paar Minuten vor sich hingedämmert haben. Ein leises Geräusch weckte sie. Isabell fuhr aus dem Niemandsland zwischen Wachen und Träumen hoch, in dem die Gedanken besonders schwer und Furcht erregend sind. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Was war das eben gewesen? Es hatte sich wie ein Kratzen auf Holz angehört. »Mama? Bist du da?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein. Niemand antwortete. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse. Aus Schwarz wurde ein diffuses Grau, in dem jetzt die Konturen ihrer Zimmereinrichtung erkennbar wurden. War etwa die Katze durchs Fenster gesprungen? Das konnte eigentlich
nicht sein. Es lag im zweiten Stock und weit und breit gab es nichts, das sie als Sprungbrett hätte benutzen können. Wieder ertönte das Kratzen. Isabell zuckte regelrecht zusammen. Sie ließ die Blicke angestrengt schweifen. Da! Ganz hinten im Zimmer, zwischen Kleiderschrank und Kommode, bewegte sich da nicht etwas? Das Herz des Mädchens pochte jetzt wie verrückt. Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter. Tatsächlich! Dort … war etwas. Ein Schemen trat aus der Dunkelheit, kam näher, wurde deutlicher. Ein Mensch! Isabell sah die Umrisse des Körpers, den Kopf. Sie wollte schreien, bekam aber nur ein würgendes Krächzen heraus. Der Eindringling ging an ihrem Bett vorbei und stellte sich vor die hellere Fläche des Fensters. Isi glaubte, sterben zu müssen. Sie sah den Rücken, die Kurven, schulterlange, dunkle Haare. Ein Mädchen? Irgendwie kam ihr die Gestalt vertraut vor. Langsam drehte sie sich um. »Guten Abend, Isi«, sagte sie mit leiser Stimme. Isabell hatte das Mädchen bereits erkannt, als sie ihr Profil gegen das hellere Fenster gesehen hatte. »Ma … Ma … ria«, antwortete sie und ihre Zähne klapperten laut aufeinander. »Du bist ein Geist …« »Nein, Isi, bin ich nicht.« »Aber, aber du … bist doch tot. Was willst du von mir? Lass mich bloß in Ruhe.« »Sehen so Tote aus?« Maria machte eine kurze Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. »Ich kann mir gut vorstellen, dass du Angst hast, Isi. Hätt ich auch, wenn plötzlich eine Totgeglaubte vor mir steht. Aber keine Sorge, ich tu dir nichts. Im Gegenteil. Ich habe ein großes Problem und brauche deine Hilfe.« Isabells Hand tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Sie hoffte, dass sich dieser Albtraum im aufflammenden Licht wie eine Kerzenflamme im Wind verflüchtigen würde. Das tat er nicht. Maria blieb auch im Licht. Sie setzte sich auf die Bettkante und legte ihre Fingerspitzen an Isis Schläfe.
12. Universität Paderborn / Wewelsburg, Nordrhein-Westfalen, Dezember 1938 SS-Hauptsturmführer Kurt Kugel schaute zum Fenster hinaus. Es war Anfang Dezember und der Schnee rieselte leise auf den Innenhof der Paderborner Universität. Dass sich seine ansonsten sprichwörtlich gute Laune in den letzten Tagen arg in Grenzen hielt, hatte nur zum Teil mit dem Sauwetter zu tun, denn Kugel hasste Schnee. Vielmehr nervte ihn der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, fast täglich mit Nachfragen. Es schien, als könne es der Alte gar nicht erwarten, endlich Ergebnisse präsentiert zu bekommen. Aber das war gar nicht so einfach. Kugel seufzte und wandte sich wieder den alten Akten und Schriften zu, die er zuhauf auf dem Tisch liegen hatte. Himmler persönlich hatte ihm aufgetragen, alles über Friedrich Spee von Langenfeld herauszufinden. Der deutsche Jesuit, 1635 in Trier gestorben, hatte eine Zeitlang an der Uni Paderborn gelehrt und war als »Hexentheoretiker« bekannt geworden. Denn Langenfeld hatte die mittelalterlichen Hexenprozesse in seiner Cautio criminalis scharf kritisiert. Verdammte Pfaffen, dachte der SS-Mann erbittert. Er hasste alles zutiefst, was nur annähernd nach Kirche roch. Wer einen schwarzen Rock trug, hatte gefälligst bei der SS zu sein, sagte er immer. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er keinen einzigen Gedanken an diesen beschissenen Jesuiten verschwendet. Aber neuerdings hatte sich Himmler in den Kopf gesetzt, dass die Hexen Trägerinnen einer Jahrtausende alten arisch-germanischen Religion gewesen sein könnten. Der Alte war davon überzeugt, dass die Hexenprozesse von Juden, Bolschewiken und anderem Gesindel initiiert worden
waren, um die geistig-religiöse Führerschaft des Germanentums ein für alle Mal aus der Welt zu tilgen. Blöderweise hatte irgend so ein Holzkopf nachgewiesen, dass auch eine Ahnin Himmlers als Hexe auf dem Scheiterhaufen gelandet war. Seither ritt der Reichsführer SS noch fanatischer auf diesem Thema herum. Und er, Kurt Kugel, hatte nun, wie viele andere Mitglieder des Hexen-Sonderauftrags, in verstaubten Archiven in noch verstaubteren Akten nach Belegen für diese These zu suchen. Auch Himmler hasste die von Grund auf verlogenen Pfaffen. Aber wenn es um seine Hexen ging, war er plötzlich bereit, einen von ihnen Ernst zu nehmen. Dummerweise hatte Kugel für weitere Akten über Langenfeld auch noch beim Erzbistum Paderborn anfragen müssen, das er vor acht Jahren, als es vom Bistum zum Erzbistum erhoben worden war, öffentlich verteufelt hatte. Aber mit ein bisschen Druck ging alles. Nicht umsonst waren die SS-Männer die heimlichen Herren Deutschlands. Verrückte Welt. Es wird Zeit, dass der Führer endlich den Krieg beginnt. Dann kommt Himmler auch wieder auf andere Gedanken. Und ich kann dem deutschen Volk sowieso besser an der Front dienen als hinter uralten Mauern … Das Telefon klingelte. Lothar Domakowski war dran. Er kannte den Standartenjunker schon von klein auf. Sie waren zusammen im Süddeutschen aufgewachsen. »Morgen, Kurt. Du wälzst mal wieder Akten, hab ich gehört.« »Morgen, Lollo. Ich werd noch verrückt mit dem Zeug. Wird Zeit, dass ich mal wieder raus komm. Meine Muskeln sind schon ziemlich schlaff. Ich komm kaum noch zum Sport machen. Da ist nicht mehr viel ›Hart wie Kruppstahl‹ und ›Zäh wie Leder‹ übrig.« Domakowski lachte. »Mach dir nichts draus. Ich kann dir vielleicht etwas Abwechslung verschaffen. Weisthor will dich sehen. Und zwar umgehend. Du sollst auf die Wewelsburg hoch kommen.« »Weisthor? Das ist ja eine ganz besondere Ehre. Was will der denn von mir?« »Komm einfach, dann wirst du's erfahren.«
»Bin schon unterwegs.« Kurt Kugel schloss die Akten ein, zog seine Uniform zu Recht, ging nach unten und stieg in seinen spiegelblank geputzten Horch. Dann fuhr er nach Büren hinüber. Langsam und gemächlich, denn der Schnee behinderte ihn stark. Normalerweise fuhr er gerne flott. Der vor einem Jahr tödlich verunglückte deutsche Weltklasse-Rennfahrer Bernd Rosemeyer – ein Jammer, dass dieser Vorzeigedeutsche so jung hatte sterben müssen – war immer ein Idol gewesen. Aber alles zu seiner Zeit. Kugel fuhr durchs Almetal. Hoch oben, auf einem Felsen, momentan im Schneegestöber nur unzureichend zu sehen, lag die sagenumwobene Wewelsburg. Himmler hatte sie 1934 vom Landkreis Büren gepachtet, um sie zur SS-Ordensburg umzufunktionieren und 1935 ein Berichtsverbot über die dort geplanten Umbaumaßnahmen verhängt. Das hatte er erst vor ein paar Wochen nochmals verschärft. Denn Himmler wollte die Wewelsburg, die angeblich aus der Zeit Heinrichs I., des deutschen Reichsgründers, stammte, zur repräsentativen und ideologischen Zentrale des SS-Ordens ausbauen lassen. Zudem sollte sie Mittelpunkt einer artgemäßen Religion werden. Womit wir wieder bei den Hexen wären. Würde mich nicht wundern, wenn der Alte die Hexenreligion nach dem Endsieg zur offiziellen Reichsreligion erhebt. Aber ohne mich. Meine Religion sind die Totenkopf-Spiegel … Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, um seine Kragenspiegel zu betrachten. Denn Kugel war ein Mitglied der berüchtigten Totenkopf-SS. Diese ganzen Details über das neue Ordenszentrum wusste Kugel von Domakowski, der im Stab Weisthors auf der Wewelsburg Dienst tat. Nachdem er zwei Kontrollen auf der Zufahrt zur Burg passiert hatte, fuhr er über die Zugangsbrücke des Nordflügels in die Burganlage, die als einzige in Deutschland dreieckig angelegt war. Trotz des Schnees arbeiteten Leute im Hof und an den Fassaden. Zwei SS-Männer salutierten stramm und geleiteten Kugel zum Nordturm. Er liebte es, mal wieder Treppen steigen zu können. Das belebte Geist und Körper. Kurze Zeit später stand er im Obergruppenführersaal. Da ihn Weisthor warten ließ, betrachtete er
das großflächige runde Ornament, das in den Marmorfußboden eingelassen worden war. Im Mittelpunkt des Mosaiks befand sich eine goldene Scheibe. »Schön, nicht?« Weisthor war unbemerkt in den Raum getreten. Kugel nahm Haltung an und salutierte. »Ja, ein wunderbares Mosaik. Guten Morgen, Gruppenführer. Heil Hitler. Sie wollten mich sprechen?« Weisthor, der eigentlich Karl Maria Wiligut hieß und seinen Decknamen von der SS-Führungsspitze bekommen hatte, lächelte. Er hatte an Leibesumfang zugelegt und richtige Hamsterbacken bekommen. Sein Haar war schütter und seine Augen konnten nicht still stehen. Unstetig wanderten sie hin und her. Die Alkoholfahne roch Kugel bis hierher. Vor einem Jahr, als er Weisthor bei einer Gruppenführertagung in Berlin begegnet war, hatte dieser noch entschieden besser ausgesehen. »Ja, Kugel, dieses Sonnenrad, das ich selbst entworfen habe, wird zum Symbol unserer neuen, germanischen Religion«, grantelte er in seinem unverkennbaren Wiener Dialekt. »Der Nordturm ist übrigens der Mittelpunkt der Welt, wussten Sie das schon?« »Nein, Gruppenführer, wusste ich bisher noch nicht.« »Dann wissen Sie's jetzt.« Weisthor kicherte albern. »Kommen Sie, Kugel, setzen wir uns. Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten? Vielleicht einen Schnaps oder einen Rotwein?« Der Hauptsturmführer lehnte höflich aber bestimmt ab. Ich diene dir doch nicht als Alibi zum Mitsaufen, dachte er boshaft, entschied sich dann aber doch für einen Kaffee. Er empfand keinerlei Respekt vor Weisthor, obwohl dieser die Wewelsburg für Himmler »entdeckt« und die SS-Totenkopfringe entworfen hatte. Wenn es um Okkultes, Esoterisches und Mythologisches ging, war Weisthor kaum noch zu bremsen. Dann redete er mitunter derart wirres Zeug daher, dass sich Kugel ernsthaft fragte, wie die SS-Führungsspitze bloß auf diesen Decknamen im Sinne von weis gleich eingeweiht und Thor gleich unbesiegbarer nordischer Donnergott gekommen war. Zudem beriet Weisthor seinen persönlichen Freund Himmler in Fragen der Astrologie und brüstete sich gerne damit,
hellseherische Fähigkeiten zu haben. Das war aber nur eines in einer langen Reihe von wunderlichen Dingen, die er über sich behauptete. So wollte er auch der König der Zigeuner sein. Wahrscheinlich hatte er ein wenig zu lange in der österreichischungarischen Armee gedient und zu viele Berührungspunkte mit dem Gesindel gehabt. Kugel freute sich schon auf das, was Weisthor behaupten würde, wenn der Führer anfing, die Zigeuner als lebensunwertes Leben ausrotten zu lassen. »Was also kann ich für Sie tun, Gruppenführer?« Kugel war mehr als gespannt, was der Leiter der Abteilung Vor- und Frühgeschichte des Rasse- und Siedlungshauptamtes von ihm wollte. Höchstwahrscheinlich ging es wieder um diese verdammte Hexenforschung, denn auch Weisthor mischte beim SS-Ahnenerbe kräftig mit. »Es schneit, es schneit«, sagte Weisthor und ging mit auf dem Rücken verschränkten Händen zum Fenster. Dort blieb er breitbeinig stehen. In Herrenpose, arisch-überlegen, so wie es sich für die Elite des deutschen Volkes geziemte. Dumm nur, dass Kugel den Österreicher nicht wirklich dazu zählte. Dazu hatte Weisthor einfach einen zu schwachen Charakter. Die Gerüchte um Alkoholexzesse und Medikamentenmissbrauch seinerseits wurden immer stärker. Wenn man es richtig betrachtete, war Weisthor eine Schande für die SS. Aber darüber mussten Andere richten. »Ja, es schneit, Gruppenführer«, erwiderte Kugel lahm. Weisthor drehte sich und kam näher. Dabei schwankte er leicht. Er setzte sich Kugel gegenüber in einen breiten, bequemen Sessel. Wieder wanderten seine Blicke kreuz und quer, so, als würde er irgendwelche Muster abfahren. »Sie mögen Schnee nicht, Kugel, stimmt's?« Worauf wollte Weisthor hinaus? »Nein, nicht besonders, Gruppenführer, das stimmt. Sonne ist mir bedeutend lieber. Aber ich nehme das Wetter, wie's kommt. Einem SS-Mann macht auch Schnee nichts aus.« »Brave Einstellung, brave Einstellung. Sehr gut, Kugel.« Wieder
kicherte Weisthor. »Ich selbst liebe Schnee über alles. Aber das ist irgendwie kein Wunder, finde ich, denn schließlich stammt meine Familie in direkter Blutlinie von den Asen ab.« »Natürlich, Gruppenführer«, erwiderte Kugel höflich. Er hatte bereits gehört, dass Weisthor behauptete, Nachfahr des nordischgermanischen Göttergeschlechts zu sein, dem auch der Donnergott und Blitzeschleuderer Thor angehört hatte. Möglich, dass das Thor in seinem Decknamen von diesem Asenwahn herrührte. »Könnten Sie sich vorstellen, ein paar Monate lang in der Sonne zu verbringen, Kugel?« »Nichts wäre mir lieber als das, Gruppenführer.« Davon abgesehen, dass SS-Angehörige ohnehin keine Wahl hatten, sondern lediglich Befehle ausführten, stimmte diese Aussage genau. »Sie haben eine Aufgabe für mich?« »Ja, Kugel, in der Tat, die habe ich.« Weisthor schielte nach der mächtigen Eichenholzvitrine, hinter deren Glasscheiben allerlei Schnapsflaschen standen. Er traute sich aber wohl nicht, aufzustehen und sich einen einzuschenken. Kugel empfand zunehmende Verachtung für dieses Subjekt, das seinen Aufstieg in der SS lediglich seiner Freundschaft zu Himmler verdankte. »Es ist eine erhebende Aufgabe, eine, die das germanische Weltbild zwar nicht aus den Angeln heben, aber doch neu zementieren kann.« Schwätzer. Komm endlich zur Sache … »Aha.« »Ja. Sehen Sie, Kugel, ich habe von meinen Gewährsleuten in Afrika, die unsere faschistischen italienischen Waffenbrüder in Lybien unterstützen, erfahren, dass es in einem afrikanischen Dorf in Nigeria einen Medizinmann gibt, der eine Maske mit wundersamen Kräften besitzt. Die Nigger behaupten, dass in dieser Maske ein Dämon wohnt, der Blitze schleudern kann. Aber Sie wissen ja, wie der Nigger an sich ist, Kugel: abergläubisch bis zum Gehtnichtmehr.« Kugel nickte. Ja, er wisse sehr genau, wie diese schwarzen Untermenschen dort seien. »Natürlich ist das kein Dämon, der in dieser Maske haust. Das ist alles völliger Quatsch.« Seine Augen nahmen plötzlich einen
fanatischen Glanz an. »Vielmehr ist diese Maske einst von Thor selbst geschaffen worden, als Waffe für die arische Rasse gegen all ihre Feinde. Deswegen schleudert sie Blitze. Und nicht, weil irgendein Dämon darin sitzt.« Weisthor lachte laut. O Gott, dachte Kugel, ohne zu merken, dass er jemanden anrief, dessen Bodenpersonal er bis aufs Blut hasste. »Hören Sie, Kugel, diese Maske will ich unbedingt haben und Sie werden sie mir besorgen. Suchen Sie sich einige Vertrauensmänner aus und fliegen Sie mit ihnen nach Afrika. In Zivil, versteht sich. Dieses germanische Erbe muss unbedingt heim ins Reich. Keine Ahnung, wie es überhaupt seinen Weg nach Afrika gefunden hat. Zumal uns die Maske im kommenden Krieg gegen die Bolschewiken und Juden gute Dienste leisten könnte. Die Nigger erzählen sich, dass sie ganze Kriege entschieden hat, indem der Dämon darin Blitze auf die Feinde schleuderte. Die Oyo haben sie einst als Geheimwaffe gegen die Fon eingesetzt und so das legendäre und mächtige Königreich Dahomey besiegen können. Und nur so. Verstehen Sie, Kugel? Ohne die Maske wäre das niemals möglich gewesen.« »Hm. Und diese Informationen sind verbürgt, Gruppenführer?« »Natürlich. Ich habe es in einem meiner hellsichtigen Träume gesehen, dass alles stimmt. Und ich habe gesehen, dass wir diese Maske besitzen und damit das deutsche Volk zum großen Endsieg führen werden. Wir werden mit ihr die Bolschewiken mit Stumpf und Stil ausrotten. Thors Erbe, ohnehin nur für uns bestimmt, wird uns zu den Herren der Welt machen.« Sauber … »Nun gut, auf in die Welt«, sagte Kugel. »Ich besorge Ihnen die Maske also, Gruppenführer. Wer ist der Gewährsmann in Afrika, an den ich mich wenden kann?«
Casablanca / Faggo, Afrika, 1939:
Vier Tage nach seinem Gespräch mit Weisthor flog Kurt Kugel mit einer Junkers Ju 52, im Volksmunde »Tante Ju« genannt, nach Marokko. Vier Kameraden begleiteten ihn. In Casablanca trafen sie den deutschen Arzt Armin Kaltenbrunner, der seit vielen Jahren in Nordafrika lebte, um für das Amt III des Sicherheitsdienstes Reichsführer SS staatsfeindliche Umtriebe im Ausland zu erkennen und zu bekämpfen. Das war bitter nötig, schließlich war Nordafrika eine bedeutende Bastion der Briten. Kaltenbrunner, ein kleiner, drahtiger Mann mit Brille freute sich, SS-Kameraden bei sich begrüßen zu können. Sie saßen auf der Terrasse seines Stadthauses unter Palmen, erfrischten sich mit kühlen Getränken und genossen die fantastische Aussicht über die Altstadt mit ihrem orientalischen Gewühl. »Ja, die Maske«, sagte Kaltenbrunner, »um die ranken sich viele Legenden. Einer meiner Neger-Boys hat mir davon erzählt. Er stammt aus dem nigerianischen Kaff Faggo und ist als Schiffsjunge hierher nach Casablanca gekommen. Und geblieben. Gutes Arbeitstier, ganz im Gegensatz zu den sonstigen faulen Niggern. Ich möchte ihn nicht unbedingt hergeben.« Kaltenbrunner prostete seinen Gästen zu. »Na ja, ich habe eigentlich nur so einem Freund in Berlin von der Maske erzählt. Als wir vor einigen Monaten telefoniert haben, wissen Sie. Nun bin ich etwas überrascht, dass höchste SS-Führungsstellen plötzlich so ein Tamtam um die Maske veranstalten. Ich hoffe, ich darf so offen sprechen.« Kugel grinste. »Dürfen Sie, Kaltenbrunner. Solange Sie uns noch mehr von diesen tollen Getränken auftischen. Sie haben ja auch schon mit Weisthor zusammen gearbeitet, wie ich Ihrer Akte entnommen habe. Sie kennen daher sein Weltbild. So gesehen überrascht es mich, dass Sie überrascht sind.« Kaltenbrunner lächelte. »Ach, Weisthor steckt dahinter. Das wusste ich bisher nicht. Im zunehmenden nun … Kompetenzgerangel unseres glorreichen Ordens ist nie so ganz klar, wer nun für was gerade zuständig ist. Wenn Sie wüssten, wie oft man in der Wilhelmstraße weiter verbunden wird, wenn man nur
eine einfache Anfrage hat.« Kaltenbrunner spielte auf den Sicherheitsdienst Reichsführer SS an, der seinen Hauptsitz im PrinzAlbrecht-Palais in der Wilhelmstraße in Berlin hatte. »Wissen wir«, erwiderte Kugel. »Aber das ist belanglos. Ich habe Weisthors Befehl und werde ihn ausführen, egal, was Sie oder ich darüber denken mögen.« »Natürlich, Hauptsturmführer. Wissen Sie, die Maske selbst ist eine Legende, über deren dämonische Kräfte in vielen Ländern Westafrikas hinter vorgehaltener Hand geflüstert wird. Ich war schon öfters dort und habe es selbst erlebt. Die Nigger dort vermeiden dieses Thema allerdings lieber. Und wenn Sie doch was dazu sagen müssen, machen sie magische Abwehrzeichen und die Augen fallen ihnen dabei fast aus dem Kopf.« Die Männer grinsten. »Ja. Die eigentliche Sensation an der Sache ist, dass bisher niemand wusste, wo diese Maske ist. Und nun kommt mein NegerBoy daher und behauptet genau das. Wie gesagt, eine echte Sensation also. Vorausgesetzt, man will ihm Glauben schenken und tut seine Worte nicht als großspurige Fantastereien ab, mit denen sich einer bloß wichtig machen will.« »Wie schätzen Sie ihn denn ein, Kaltenbrunner?« »Schwer zu sagen. Zuverlässig, fleißig wie gesagt, eher wortkarg. Kengala ist keiner, der sich ständig in den Vordergrund spielt. Er hat die Sache mit der Maske auch nur erwähnt, weil ich ihn mit dem elenden Kuhkaff aufgezogen habe, aus dem er kommt.« »Also vielleicht doch Wichtigtuerei.« Kaltenbrunner zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ich kann's schwer einschätzen. Aber wenn man Ihren Heimatort mit einem elenden Kuhkaff vergleicht, würde Ihnen als Konter ausgerechnet eine legendäre magische Maske einfallen, wenn es sie dort nicht gäbe? Zumal, wenn Ihr Gegenüber nicht an einen solchen Unfug glaubt?« Kurt Kugel dachte kurz an seinen Heimatort Rosna, der ebenfalls ein elendes Kuhkaff war. Aber eben seine Heimat. Nach dieser Mission würde er Urlaub einreichen und seine Lieben einige Tage
dort besuchen, das nahm er sich in diesem Moment fest vor. »Das kann man ja wohl kaum vergleichen, Kaltenbrunner, oder?«, erwiderte er. »Für die Nigger hat die Geister- und Dämonenwelt eine wesentlich höhere Bedeutung als für uns. Vorausgesetzt, man ist nicht Reichsführer SS oder Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt.« Die Männer lachten. In Deutschland hätten sie sich solche despektierlichen Bemerkungen sicher nicht erlaubt. Trotzdem änderten sie nichts an ihrer unverbrüchlichen Treue zum Orden und zum Führer. Kaltenbrunner ließ Kengala kommen und ihn selbst erzählen. Er tat es in einem leidlich guten Deutsch. Was er nach zögerlichem Beginn sagte, beeindruckte den Hauptsturmführer schwer. Kurt Kugel »lieh« sich Kaltenbrunners Neger-Boy Kengala und nahm ihn mit auf ihre Mission. Kengala, ein siebzehnjähriger, tief schwarzer Nigerianer mit wulstigen Lippen und großen Augen, hatte Angst, als er das erfuhr. Nur widerwillig stieg er in die Ju. Der Flug nach Westafrika dauerte viele Tage. Der Pilot flog über WestSahara und den Senegal und hielt sich dabei grob an die Küstenlinie. Bei einer Zwischenlandung in Dakar verschwand Kengala plötzlich. Kugel fluchte wie wild, konnte aber auch nichts mehr daran ändern. Es musste auch so gehen. Im nigerianischen Kano, dem letzten erreichbaren Flugplatz vor Faggo, rüstete der Hauptsturmführer eine Kamel-Expedition in die Wüste aus. Drei Tage brauchten sie bis ans Ziel. Sie trafen Muwango, einen alten, zahnlosen Schamanen, in einer ärmlichen Hütte, einsam gelegen, weit außerhalb des Ortes. Er hatte den Schrumpfkopf eines Pavians umhängen, saß im Schatten eines überhängenden Felsens und schaute den Ankömmlingen entgegen. Schwärme von Fliegen klebten auf der Hütte und an den Felsen. Die vier Deutschen hatten einen Dolmetscher dabei. Sie stellten sich als Archäologen und Kunsthistoriker vor, die Ausgrabungen im alten Oyo-Reich machten und baten den Schamanen, ihnen doch die Maske zu zeigen, die er hütete. Denn sie seien sehr an der Kunst der Oyo interessiert.
Der Schamane bestritt, je etwas von der Maske gehört zu haben, geschweige denn sie zu hüten. Als sie sagten, sie hätten diese Information von Kengala, beschimpfte er diesen als Taugenichts und Lügner. Er blieb allerdings bei seiner Version, nichts von der Maske zu wissen. Die Männer verabschiedeten sich wieder. Einer ihrer Kameraden hatte sich währenddessen mit einem Fernglas auf einem Felsen in der Nähe postiert und überwachte die Szenerie. Er musste gar nicht mal so lange warten. Nach etwa einer halben Stunde erhob sich der alte Mann und verschwand zwischen zwei Felsen. Erst nach einer Viertelstunde tauchte er wieder auf. Mitten in der Nacht kehrten die SS-Männer zurück. Sie fesselten und knebelten den alten Schamanen und drangen dann mit Taschenlampen zwischen die ausgekundschafteten Felsen vor. Es brauchte eine Zeitlang, bis sie den gut getarnten Eingang in eine Höhle fanden. Dort stießen sie auf eine grob behauene Kiste, die von seltsamen, in Gruppen angeordneten Zeichen überzogen war. Als Kugel sie öffnete, stockte ihm der Atem. Da lag sie tatsächlich vor ihm. Die Maske, die einst der Ase Thor für die Germanen geschaffen haben sollte. Unsinn! Nicht sehr beeindruckend auf den ersten Blick, fand Kugel, einfach geschnitzt, ein angedeutetes Allerweltsgesicht. Die Maske, die so nach hinten gebogen war, dass sie auf ein Gesicht passte, setzte sich über die normalen Konturen hinaus noch rund zwanzig Zentimeter fort. Sie besaß also eine Art Rand, in den die gleichen Figuren wie auf der Kiste eingeritzt waren. Kugel glaubte plötzlich, ein seltsames Raunen und Wispern zu vernehmen. Und je länger er die Maske anschaute, desto unheimlicher wurde es ihm. Irgendetwas ging von ihr aus, das heiliges Grauen in ihm verursachte. Schnell schloss er den Deckel wieder und ließ die Kiste in die Hütte des Schamanen transportieren. Der Alte bekam riesige Augen. Angstvoll zerrte er an seinen Fesseln. Dumpfe Laute kamen unter dem Knebel hervor. Kugel zerrte ihn aus seinem Mund. Muwango keuchte und atmete schwer. »Nein, nicht«, sagte er mit zitternder Stimme und der Dolmetscher
übersetzte Wort für Wort. »Ihr … ihr dürft die Maske nicht mitnehmen. Das würde furchtbares Unglück über euch bringen. Ein schlimmer Dämon wohnt darin.« »Ja, ja«, erwiderte Kugel. Muwango begann schlimme Drohungen auszustoßen, dass er sie alle verhexen und töten würde, wenn sie die Maske nicht sofort wieder zurückgaben. »Ja, ja«, erwiderte Kugel. »Frag ihn, was es mit der Maske auf sich hat.« Muwango begann wie ein Wasserfall zu reden. Da seine Drohungen nicht fruchteten, sah er nur noch eine Chance, das Unglück abzuwenden, wenn er nämlich den Dieben die ganze Geschichte erzählte. Vielleicht schreckte sie die ja ab. »Es begann mit einer Dämonenbeschwörung«, sagte er leise und stockend. »Sie wurde von einem Oyo-Zauberer vorgenommen, um mit Hilfe des mächtigen Dämons Hausakoy den Angriff des benachbarten Königreichs Dahomey abzuwehren. Der Dämon half ihnen auch zunächst, die Fon zu besiegen. Dann aber konnte er die Oyo überlisten und begann, sowohl unter den Fon als auch den Oyo furchtbare Ernte zu halten.« Muwango atmete schwer und streckte den Männern bittend die gefesselten Hände entgegen. Kugel durchschnitt sie mit seinem SSDolch. »Damit sich's leichter redet«, sagte er grinsend. Der Alte nickte dankbar. »Ja, der Dämon holte sich die Seelen von tausenden Oyo und Fon, indem er sie durch magische Blitze tötete. Er war unersättlich. Doch dann konnten einige mächtige Zauberer, die extra von den Songhai geholt wurden, den furchtbaren Geist in diese Maske bannen. Denn von alters her haben die Songhai die besten und mächtigsten Schamanen. Eines Tages waren sie allerdings verschwunden. Und mit ihnen die Maske. Das war der Anfang einer Jahrhunderte langen Reise der schrecklichen Maske durch Westafrika. Immer wieder wurde die Macht des Dämons von Zauberern und Herrschern mit finsteren Absichten missbraucht. Denn wer sie besaß, gewann Kriege und Königreiche. Doch wer die Kraft des Dämons nicht beherrschte, musste furchtbare
Konsequenzen erleiden. Dann wurden tausende von Seelen vernichtet. Das kam einige Male vor, aber irgendwie gelang es doch immer wieder, den Dämon in seine Grenzen zu weisen.« Der alte Muwango zitterte jetzt leicht. »Schon als junger Mann hat die Maske den Weg zu mir gefunden. Seitdem hüte ich sie, so, wie es schon mein Vater, Großvater und Urgroßvater getan haben. Mein Urgroßvater, der ein mächtiger Zauberer war und sehr viel Verantwortungsgefühl besaß, entzog die Maske den Herrschern, die mit ihrer Macht nie richtig umgehen konnten. Zur zusätzlichen Absicherung schuf er noch die magische Kiste. Und diesen machtvollen Fetisch.« Er hob den Pavianschrumpfkopf hoch. »Und nun bin ich der Letzte. Kengala hätte mein Nachfolger werden sollen, ich wollte ihn zum Schamanen ausbilden, denn er zeigte gute Ansätze. Aber dann hat er mich im Stich gelassen und ist einfach geflohen. Ich hatte den Fehler begangen, ihm zu früh von der Maske zu erzählen. Da war er noch ein Lehrling und konnte kaum etwas. Er fühlte sich der Verantwortung nicht gewachsen.« Muwango atmete schwer. »Lasst die Maske hier, ich bitte euch. Ich habe von Anfang an gewusst, dass ihr keine Archäologen seid. Ihr wollt die Maske als Machtmittel nutzen. Aber ihr seid dem Dämon nicht gewachsen.« »Wer die Maske hat, gewinnt den Krieg. Damit ist alles gesagt. Wir wollen nämlich in nächster Zeit auch ein wenig Krieg führen. Deswegen können wir deinen Wunsch leider nicht erfüllen, Alter.« Kugel zog die Pistole und tötete den Schamanen mit einem aufgesetzten Schuss auf die Stirn. Der Dolmetscher schrie entsetzt auf. Und starb ebenfalls mit einem Schuss in die Schläfe.
Marokko, Afrika, 1939 Auf dem Rückflug kam es zu ersten seltsamen Erscheinungen. Die Motoren der sonst so zuverlässigen Ju stotterten immer wieder. Der
Pilot hatte Angst, dass sie ausfallen würden. Zudem attackierten Schwärme von Fliegen das Flugzeug. »Verdammte Biester«, fluchte der Pilot, »wo kommen die denn her? Das gibt's doch nicht. In so einer Höhe fliegen die normalerweise nicht. Und schon gar nicht in solchen Schwärmen. Das ist … unheimlich.« Der Hauptsturmführer sagte nichts. Er war müde und hätte am liebsten ein Schläfchen gemacht. Aber er traute sich nicht. Sobald er die Augen zu machte, kamen die Bilder, gegen die er sich nicht wehren konnte. Sie verwirrten ihn. Er träumte – zumindest glaubte er, dass es so eine Art Traum war – dass er über afrikanische Landschaften flog. Aber nicht in einem Flugzeug. Sondern als … Fliege? Denn er sah ein- und dieselbe Szenerie viele hundert Mal nebeneinander, stark verkleinert, verkrümmt. Ja, er war wohl eine Fliege. Oder vielmehr Millionen von ihnen gleichzeitig. Er fühlte sich dabei seltsam zerrissen und doch wieder als eins. Es war ein Empfinden, das nicht für Menschengeist geschaffen war und ihn fast zum Wahnsinn trieb. Er flog über grüne Hügel und weite, von riesigen Tierherden bevölkerte Ebenen, durch Dschungel und über Negerdörfer hinweg. Tiere und Menschen flüchteten vor ihm, denn er besaß Macht. Große Macht. Und genoss sie. Allerdings hörte er nicht das geringste Geräusch. Alles spielte sich völlig lautlos ab. Und verlangsamt. Die großen Augen der Neger, die gequält aufgerissenen Münder, alles wie in einem verlangsamten Film. Er wollte, dass es schneller ging. Schneller. Schneller! Aber er konnte es nicht beschleunigen. Und brüllte den beginnenden Wahnsinn schrill hinaus! »Hauptsturmführer? Was ist?« Jemand rüttelte ihn an der Schulter. Kugel fuhr hoch. »Was?« Verwirrt sah er sich um. Und atmete erleichtert aus. Er saß im Flugzeug. Und war gegen seinen Willen wohl doch wieder weggenickt. »Schlecht geträumt«, murmelte er. »Kann vorkommen.« Der Kamerad, der hinter ihm saß und sich über die Lehne zu ihm gebeugt hatte, sank wieder auf seinen Sitz zurück.
Über dem marokkanischen Rifgebirge setzten die Motoren endgültig aus. Der Pilot konnte die Ju in einem waghalsigen Manöver gerade noch auf einer Hochebene landen. Dabei ging das Flugzeug zu Bruch. Doch außer ein paar größeren Schrammen bekamen die Männer nichts ab. Das Funkgerät hatte allerdings nur noch Schrottwert. So wanderten sie mit der Kiste durch das Gebirge. Sie schleppten sie abwechselnd, immer zu viert. Einer der SS-Männer, der mit dem Tragen an der Reihe war, brabbelte seit einiger Zeit wirres Zeug vor sich hin. Immer wieder brach ihm der kalte Schweiß aus. »Geht schon, geht schon«, lallte er mit dem letzten Rest von Selbstbeherrschung, den er noch aufbringen konnte, als ihn Kugel ansprach. Dabei zuckte es um seine Augen. Es schien zudem, als könne er seine Pupillen nicht mehr gerade halten. Sie bewegten sich ruckartig. Gerade, als Kugel ihn ablösen wollte, ließ er plötzlich die Kiste los. Die anderen Träger waren überrascht und konnten sie nicht mehr halten. Sie knallte auf den Boden. Der Mann stöhnte, presste beide Fäuste an die Schläfen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein!«, schrie er und stolperte davon. Kugel war so erstarrt, dass er einen Moment zu spät reagierte. Sie gingen auf einem schmalen Felsgrat. Rechts fiel eine Steilwand mehrere hundert Meter in die Tiefe ab. Der Mann taumelte über den Abgrund hinaus. Mit einem schrillen Schrei stürzte er in die Tiefe. Er überschlug sich ein paar Mal, wirbelte mit Armen und Beinen, prallte gegen die Felsen und blieb auf einem Vorsprung liegen. Zum allerersten Mal fixierte Hauptsturmführer Kugel die Kiste mit einem angstvollen Blick. Als einer der Männer den Versuch machte, den Deckel zu heben, brüllte er ihn an. Nach vier Tagen stießen sie auf Rifkabylen. So bekamen sie wieder Kontakt zu menschlichen Wesen. Kaltenbrunner in Casablanca war nicht schlecht erstaunt, die Expeditionsteilnehmer wieder zu sehen. Weil aber ausgerechnet in seinem Haus ein Bediensteter die Kiste stahl, um sie als Antiquität auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, kamen die Männer erst wieder Anfang März in Deutschland an. Die
Kiste hatten sie nach einer irren Jagd wohlbehalten wieder gefunden.
13. Pfullendorf, Baden-Württemberg, September 2007 Zamorra und Nicole schliefen bis in den frühen Nachmittag hinein. Petra Cerny war schon wesentlich früher auf. Wieder hatte sie diese seltsamen Visionen gehabt, im Wesentlichen aber so wie vergangene Nacht. Neue Details waren nicht dazu gekommen. Die Frau richtete sich, schaute, dass ihr Dutt richtig saß und ging dann zum Frühstücken. Viel aß sie ohnehin nicht. Danach machte sie es sich in ihrem Zimmer gemütlich und las. Das Amulett hing um ihren Hals, ganz so, wie der Professor es von ihr verlangte. Da sie sich heute etwas matt fühlte, hatte sie ohnehin nur wenig Lust auf Bewegung. Immer wieder schlief sie während des Lesens ein. Sie freute sich, als Geräusche aus dem Nebenzimmer ertönten. Petra Cerny fühlte sich wohl bei den beiden Franzosen, sie hatte sie längst ins Herz geschlossen. Vor allem den Professor, einen wirklich entzückenden Menschen. Sie wollte den Beiden allerdings noch etwas Zeit geben, bevor sie sich meldete. Zamorra und Nicole liebten sich hin und wieder nach dem Aufwachen, wie sie schon festgestellt hatte. Während Petra Cerny dieses beschloss, gähnte der entzückende Professor derweil herzhaft. Nicole half ihm auf die Sprünge, indem sie ihre Zunge dort wandern ließ, wo er es am liebsten hatte. Das war eigentlich überall. Hin und wieder behauptete er, sein ganzer Körper sei eine einzige erogene Zone. Danach gingen sie unter die Dusche und zogen sich an. Plötzlich klopfte es an der Zimmertür. »Wer stört um diese frühe Morgenstunde?«, rief der Professor. »Zimmerservice.« Die Stimme kam ihm bekannt vor. »Sie können rein kommen. Die Tür ist seit ein paar Minuten offen.
Seither passiert nichts Jugendgefährdendes mehr.« Die Tür öffnete sich tatsächlich. Ein blondes, hageres Mädchen trat herein und strahlte übers ganze Gesicht. »Serv«, sagte sie und hob cool die Hand. »Sieh einer an«, sagte Nicole verblüfft. »Du bist doch eine von den Weitharter Fußballmädchen. In Zivil hätte ich dich fast nicht erkannt.« »Du bist die Kathrin«, stellte Zamorra fest. »Hübsch siehst du aus.« »O danke.« Sie blieb stehen und strahlte weiter. Vor allem in Richtung des Professors. »Und?«, fragte Nicole. »Ich meine, was können wir für dich tun?« »Ach so, ja. Wissen Sie, meine große Schwester arbeitet hier im Hotel und ich besuch sie manchmal über die Mittagszeit. So wie heute. Dann gehen wir zusammen was essen oder kurz shoppen oder so was halt. Aber da Sie ja hier wohnen, dachte ich, ich schau mal vorbei und sag Grüß Gott.« »Ebenfalls Grüß Gott«, erwiderte Nicole. Kathrin kicherte. »Wissen Sie, wir haben morgen Abend wieder ein Spiel. Wieder zu Hause …« »Wie, ihr spielt zu Hause? Bei wem denn? Etwa bei dir? Oder bei Isabell? Im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer? Haben eure Eltern da nichts dagegen?« Kathrin schaute Nicole verwirrt an. »Wie bitte?« »Mach dir nichts draus«, eilte ihr Zamorra grinsend zu Hilfe. »Frau Duval macht immer solche schrägen Witze. Ihr spielt also morgen wieder in Rosna, ja?« »Ach so, ein Scherz. Ha!« Kathrin lachte. »Jetzt hab ich's gepeilt. Lustig. Ja, wir spielen gegen Hohentengen. Mit denen haben wir auch noch eine Rechnung vom letzten Jahr offen. Die haben uns sechsnull massakriert. Wenn Sie Interesse haben, uns nochmals zuzuschauen, sind Sie herzlich willkommen. Ich denke, Sie werden's nicht bereuen.« »Ja, klar, danke für die Einladung.« Zamorra war gerührt. »Das ist aber nett, dass du an uns denkst. Wenn's irgendwie geht, sind wir
wieder dabei. Habt ihr eigentlich einen Fanschal, den ich mir umlegen könnte?« »Äh, leider nicht.« »Gut. Dann muss es eine einfache Tröte tun.« Der Professor lächelte. »Wenn's nicht läuft bei euch, blase ich euch zum Sieg.« »Das kann ich mir gut vorstellen. Sehr gut sogar«, murmelte Nicole. »Wie bitte?« »Ach nichts, Kind. Diese Worte waren nicht für minderjährige Ohren gedacht. Aber du stehst plötzlich so x-beinig da. Musst du mal?« »Äh, ja, tatsächlich. Wenn ich mal bei Ihnen aufs Klo dürfte …« »Tu dir keinen Zwang an«, sagte Zamorra. Kathrin verschwand im Badezimmer. Nach einigen Minuten kam sie wieder heraus und verabschiedete sich. »Also, bis morgen dann. Ich freu mich.« Jetzt ging Nicole ins Badezimmer. »Hm«, sagte sie. »Was hmst du da rum?«, wollte Zamorra wissen. »Hat sie den Badezimmerspiegel geklaut?« »Nein, alles da. Komm doch mal, Chéri.« Der Professor seufzte. »Und ewig ruft das Weib. Ich komm ja schon.« »Und?«, fragte Nicole, als er neben ihr stand. »Was, und.« »Riechst du was?« Zamorra drehte sich im Kreis und schnupperte. »Ich rieche dich. Und ich kann dir sagen, dass mich das schon wieder scharf macht.« »Bleib mal kurz Ernst, Herr Professor. Wenn wir beide nichts Außergewöhnliches riechen, dann stellen wir uns welche Frage?« »Äh, ob vielleicht ein Schnupfen im Anzug ist?« »Quatschkopf. Wir stellen uns natürlich die Frage, was Kathrin hier drin gemacht hat. Groß war sie ja wohl nicht. Der Riechtest hat's ergeben. Und für klein war sie entschieden zu lange im Bad. Die Binden liegen auch noch alle dort.« »Frauen«, erwiderte Zamorra und schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich glaub's einfach nicht. Wollt ihr eigentlich alles überwachen?
Aber ich werde den Teufel tun, mich in Kathrins Intimleben einzumischen.« »Sollst du auch nicht. Mir reicht's völlig, wenn du dich in meines einmischt. Aber ich möchte ernsthaft wissen, was sie hier gemacht hat.« Nicole hob die Hand. Im selben Moment erschien Merlins Stern darin. Sie hatte ihn gerufen. »Da, nimm«, sagte sie zum Professor. »Und mach mal die Zeitschau. Dann können wir das Rätsel umgehend lösen.« Zamorra stellte sich quer. »Nein, das mach ich nicht«, sagte er, schon leicht verärgert. »Ich weiß ja nicht, was du dir vorstellst, aber ich spionier keinen jungen Mädchen nach, die im Badezimmer verschwinden. Völlig unmöglich.« »Jetzt hab dich nicht so, du Brummbär. Deine Motive sind ja durchaus ehrenhaft. Aber ich hab's einfach im Gefühl, dass hier was nicht stimmt. Nenn es weibliche Intuition oder sonst wie. Vertrau mir einfach, bitte.« »Es bleibt dabei, nein. Du hörst die Flöhe husten, wo nicht mal welche sind. Aus, basta, fertig.« Es klopfte erneut. Frau Cerny stand an der Tür. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Ich meine, äh nun … weil plötzlich das Amulett verschwunden ist. Ich weiß jetzt ja, wie Sie das machen, Herr Professor.« »Nichts ist in Ordnung«, erwiderte Nicole wütend. »Professoren können manchmal so verdammt begriffsstutzig sein, das glauben Sie gar nicht. Vor allem französische, die in großen Schlössern wohnen.« Frau Cerny schaute mit großen Augen hin und her. »Oh, Sie streiten sich. Das … das, ich meine, ich wollte mich nicht einmischen. Entschuldigen Sie bitte. Ich hätte auch nur eine ganz kurze Frage, dann bin ich schon wieder weg.« »Fragen Sie ruhig.« »Äh, ja. Ich meine, Sie halten das Amulett in der Hand, Frau Duval. Ist es wieder abgekühlt?« Nicole starrte sie mit offenem Mund an. »Merlins Stern war warm? Wann denn, Frau Cerny?«
»Nun, kurz bevor es verschwand, erwärmte er sich plötzlich ein wenig. Ganz seltsam. Wie so eine neuartige Ceran-Kochplatte.« Nicole trug einen betont gleichgültigen Gesichtsausdruck zur Schau. Sie hielt Zamorra das Amulett wortlos vor die Nase, ohne ihn anzusehen. Der Professor wäre am liebsten im Erdboden versunken. Es war ihm mehr als peinlich. Er nahm ihr Merlins Stern ab. »Entschuldige bitte«, sagte er leise. »Es tut mir ehrlich Leid.«
Zamorra und Nicole standen im Bad. »Das wird ja langsam inflationär«, sagte er. »So schnell können sich meine Energiespeicher gar nicht wieder auffüllen, wie wir sie leeren.« Dann aktivierte der Professor erneut die Zeitschau. Sie sahen, in Realbilder übersetzt, dass Kathrin vorsichtig Zamorras Hemd herunter nahm, das an der Badezimmertür hing. Sie untersuchte den Kragen direkt unter der Lampe, zupfte etwas ab und nickte dann zufrieden. Dann steckte sie es in eine kleine Plastiktüte. Danach nahm sie Nicoles Haarbürste und bediente sich dort. »Siehst du, mein Lieber, das hat sie gemacht. Haare von uns genommen. Und nun frage ich dich: Zu was braucht ein sechzehnjähriges Mädchen unsere Haare?« »Voodoo«, erwiderte der Professor. »Das Mädchen muss irgendwie von dem Dämon beeinflusst sein. Verdammt, ich … entschuldige nochmals, Nici. Ich hab mich wie ein Vollidiot benommen.« »Längst vergessen, Chéri.« Sie küsste ihn. »Wenn du was draus gelernt hast, soll's mir Recht sein. Ich erwarte natürlich, dass du mir die nächsten zwanzig Jahre immer Recht gibst und mir niemals wieder widersprichst. Schwörst du's?« »Höchstens für zwei Tage. Aber eins ist klar. Wir müssen dem Mädchen dringend auf die Finger schauen.« »Ja. Wobei ich weniger zu befürchten hätte als du, mein Lieber.« »Wie meinst du das?« »Weil meine Haare, die das Mädchen gemopst hat, aus einer Perücke stammen.«
14. Rosna, Baden-Württemberg, 1939 bis 1973 Zurück in Paderborn, hatten sich die für Hauptsturmführer Kurt Kugel relevanten Dinge entscheidend geändert. Standartenjunker Lothar Domakowski informierte ihn im Detail. Karl Maria Wiligut alias Weisthor hatte die SS verlassen müssen, da er zunehmend als Scharlatan entlarvt worden war. Auch sein Alkohol- und Medikamentenmissbrauch hatte eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. »Und stell dir das mal vor«, sagte Domakowski, »Weisthor war von neunzehnhundertvierundzwanzig bis siebenundzwanzig in einer Nervenheilanstalt. Da ist er abgehauen. Schon interessant, wer es so alles zum Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt bringen kann. Aber was soll's. Er war ein guter Vorgesetzter. Ich hatte nie Probleme mit ihm.« Hauptsturmführer Kurt Kugel hingegen sehr wohl. Nun stand er mit einer Maske in einer Kiste da, die niemand mehr haben wollte. Keiner im gesamten Bereich des Ahnenerbes fühlte sich zuständig. Alle winkten ab. Wahrscheinlich auch deswegen, weil die pikante Situation mit Weisthor offiziell noch nicht geklärt war. Keiner wusste, ob er nicht doch wieder zurückkam und wollte es sich nicht mit ihm verscherzen. »Leck mich am Arsch«, sagte Hauptsturmführer Kugel wenig vornehm. »Dann nehme ich das Ding eben erstmal mit zu mir. Irgendeinen Abnehmer werde ich dann schon noch finden.« So kam es, dass Kurt Kugel seinen Heimaturlaub in der alten Eimühle zwischen Rosna und Habsthal mit einer geheimnisvollen Kiste voller Zeichen antrat. Seine Familie wohnte seit Generationen in der Mühle. Auch er hatte ursprünglich Müller gelernt, bevor er
zur SS gegangen war, um die Welt zu erobern und all das Geschmeiß auszurotten, das da nicht hineingehörte. Kugel brachte die Kiste in seinem Studierzimmer in den Katakomben unter, wie er die Kellergewölbe scherzhaft nannte. Dort, so glaubte er, sei sie aus dem Weg. Doch bereits in der ersten Nacht begannen die Kühe, die die Kugels im Stall nebenan hielten, unruhig zu werden. Sie zerrten an ihren Ketten und brüllten die ganze Nacht. Als die Magd morgens zum Melken in den Stall kam, hing eine Kuh tot in ihrer Halskette. Sie hatte sich, wohl aus Panik, erwürgt. Peter Kugel, der Müller, schaffte das tote Tier mit Hilfe einiger Männer und Tränen in den Augen aus dem Stall. Der nächste Schock folgte eine halbe Stunde später. Eine der Kühe gab Blut statt Milch. Mit einem schrillen Schrei kippte die Magd vom Schemel und rannte, so schnell sie konnte, aus dem Stall. Danach passierte drei Wochen lang nichts mehr. Hauptsturmführer Kurt Kugel war sicher, dass sie alle irgendwelchen Massenhalluzinationen erlegen waren. Er glaubte nicht an das Übersinnliche, auch wenn seine Vorgesetzten geradezu darin badeten. Er glaubte eher an das naturgegebene Recht aller Deutschen, sich die ganze Welt Untertan machen zu dürfen. So widmete er sich ausgiebig seiner Jugendliebe Ingrid. Und verließ Rosna wieder in Richtung Paderborn, ohne die Kiste mitzunehmen. In den Katakomben stand sie gut und würde niemandem im Weg herum gehen. Und wenn sie jemand brauchte, würde er sie abholen lassen. Am 1. September überfiel Hitler Polen und Deutschland war im Krieg. Auch Peter Kugel glaubte, dass dieser längst überfällig gewesen war, dass man es nun den Franzosen, Engländern und Bolschewiken zeigen würde. Dass sein Sohn Kurt ebenfalls mitmarschierte, gefiel ihm hingegen weniger. In dieser Zeit fingen auch die unheimlichen Ereignisse wieder an. Aus den Hühnereiern schlüpften seltsam aussehende Fehlgeburten, tiefschwarz, als seien sie noch im Ei verbrannt worden, mit rötlichen Augen und äußerst aggressiv. Entsetzt erschlug sie der Müller. Und er war erstaunt, dass sich plötzlich Kunden über verdorbenes Mehl
beschwerten, wo er ihnen doch absolut einwandfreies geliefert hatte. Mein lieber Sohn, verfasste er einen Brief voller Schreibfehler, die fürchterlichen Ereignisse mehren sich. Wir haben Angst und bekommen langsam auch existentielle Probleme. Die Kunden bleiben aus, weil die heute tuscheln, dass unsere Mühle verflucht sei. Vielleicht ist sie das auch!!!!!!! Deine Mutter und ich sind überzeugt, dass diese Dinge mit der seltsamen Kiste zu tun haben, die du da angeschleppt hast. Sie träumt immer wieder von ihr. Ganz seltsame Sachen und auch vom Dschungel und so was. Elsa, unsere neue Magd sagt, da wohne sicher ein böser Geist drin. Petra, die alte, hat uns deswegen verlassen. Und der Knecht hat sich das Bein so kompliziert gebrochen, dass er nie wieder richtig gehen kann. Und weißt du wo? Als er auf die Treppe zu den Kellergewölben gestiegen ist. Er schwört Stein und Bein, dass ihn da irgendwas geschubst hat. Und er ist sicher, dass da nichts war. Bitte, Sohn, hol die Kiste so schnell wie möglich ab oder lass sie wenigstens abholen. Wir rühren das Ding nicht an. Es eilt!!!!! Übrigens, wir dürfen dir noch gratulieren. Ingrid ist in guter Hoffnung. Sie sagt, von dir. Da sie ihr Vermieter deswegen rausgeworfen hat, haben wir sie zu uns auf den Hof genommen. In Liebe, dein Vater. Kurt Kugel bekam den Brief nicht mehr. Ungefähr zu der Zeit, als sein Vater ihn schrieb, fiel der Hauptsturmführer bei einem Angriff der polnischen Kavallerie, die mit Lanzen auf die deutschen Panzer losgegangen waren. Außer Kugel, den eine verirrte Lanze unglücklich in den Hals getroffen hatte, hatte es keine Toten auf deutscher Seite gegeben.
Kurt Kugels Tochter Jolanthe wuchs in der alten Mühle auf. Ihren Opa hatte sie, wie ihren Vater, nie kennen gelernt. Er hatte sich, kurz nachdem er die Nachricht von Kurts Tod erhalten hatte, im Gebälk der Mühle erhängt. Was sich niemand erklären konnte, war, warum er den Pavianschrumpfkopf um den Hals hängen hatte, den Kurt mit der Kiste zusammen angeschleppt hatte. Hatte er etwa versucht, die Kiste zu entsorgen? Jolanthe hatte bald heraus, wo es besonders interessant war. Oft spielte sie heimlich in den Katakomben und betrachtete all die Dinge, die ihr Vater zurückgelassen hatte. Die Kiste rührte sie
jedoch niemals an. Eine instinktive Scheu hinderte sie daran. So passierte ihr in all den Jahren nicht das Geringste. 1957 heiratete sie, selber Müllerin, den schmucken Edgar Lindemann, einen Müller aus Nordrhein-Westfalen. In den Nachkriegswirren hatte sich die Mühle wieder erholt und warf so viel ab, dass es zum Leben reichte. Kaum noch jemand sprach von einem Fluch, zumal auch nicht mehr viel in diese Richtung passierte. Ein Jahr nach der Heirat schenkte Jolanthe einem Jungen das Leben. Sie tauften ihn Erwin. Als er vier Jahre alt war, spielte Erwin, wie schon seine Mutter, leidenschaftlich gerne in den Katakomben. Sie erwischte ihn, als er gerade den Kistendeckel einen Spaltbreit geöffnet hatte. Mit einem Schrei riss sie ihn weg. Als in der darauf folgenden Nacht die unheimlichen Ereignisse wieder einsetzten und im furchtbaren Unfalltod Edgar Lindemanns gipfelten, der im Laufwerk des großen Wasserrads zerquetscht wurde, beschloss Jolanthe, die Mühle aufzugeben. Sie bekam Arbeit beim neu angesiedelten Küchenhersteller in Pfullendorf und wohnte auch dort.
Ein guter Freund Edgar Lindemanns, der um die unheimlichen Vorkommnisse in der Mühle wusste, versuchte, sie anzuzünden und vollständig abbrennen zu lassen. Doch weil er mit dem Benzin nicht vorsichtig war und überdies ein brennendes Streichholz auf sein benzingetränktes Hosenbein fallen ließ, stand er gleich darauf selbst in Flammen. Die lebende Fackel war in der Nacht kilometerweit zu sehen. Ihre grässlichen Schreie drangen nicht ganz so weit. Rainer Schaller war das vorerst letzte Opfer der unheimlichen Maske.
Erwin Lindemann kam später immer wieder in die Mühle zurück. Die Katakomben faszinierten ihn ungemein. Im Bücherschrank seines Großvaters fand er auch dessen Tagebuch, das von seiner Mutter eine Zeitlang fortgeführt worden war. Dort erfuhr er mehr über die seltsame Kiste und deren Inhalt. Große Angst packte ihn. Seit diesem Zeitpunkt mied er das verfluchte Anwesen.
15. Brunnhausen / Rosna, Baden-Württemberg, September 2007 Kathrin schwang sich auf ihren Motorroller, setzte den Helm auf und fuhr nach Habsthal. Direkt neben dem uralten Benediktinerinnen-Kloster kam die Straße den Berg herunter und verengte sich zu einer Hohlgasse. Während sich links die flache Klostermauer erstreckte, zog sich rechts ein fast senkrechter Hang hoch, der oben bewaldet war. Zwei schwere, verriegelte Holztürhälften waren in ihn eingelassen. Sie verschlossen einen ehemaligen Kartoffelkeller des Klosters. Kathrin bremste. Sie stellte den Roller auf dem schmalen Grünstreifen zwischen Straße und Klostermauer ab. Dann nahm sie den Beutel mit den Haaren und steckte ihn in den schmalen Spalt zwischen Türe und Boden. Orangerot glühende Augen beobachteten sie dabei.
Hausakoy war zufrieden. Er hatte sich im ehemaligen Kartoffelkeller sein neues Versteck eingerichtet. In die Mühle, die höchstens zwei Steinwürfe entfernt war, traute er sich momentan nicht mehr zurück. Am liebsten wäre er geflohen, um der fremden Entität so weit wie möglich auszuweichen. Das ging aber nicht. Der Pakt verhinderte es. Also musste er schauen, dass er sich so gut wie möglich aus der Affäre zog. Der Dämon nahm das Päckchen mit den Haaren, das das Mädchen ihm gebracht hatte. Sie waren die letzten und wichtigsten Zutaten gewesen, um einen Zauberspiegel auf die beiden Helfer der fremden Entität zu weihen. Sie würden es nach Murtalas Methode machen, der nach wie vor die Maske mit ihm teilte, obwohl auch er
selbst wusste, wie ein Zauberspiegel initiiert wurde. Murtalas Zauber hatte aber den großen Vorteil, fast nur weiße, auf jeden Fall aber keine schwarze Magie zu benutzen. So würde es der fremden Entität kaum auffallen, wenn Hausakoy ihre Helfer beobachtete, um jederzeit zu wissen, was sie gerade vorhatten.
Über sein TI-Alpha bekam Zamorra ohne Probleme auch Kathrins Handynummer heraus. Die TI-Alpha-Handys, die eine Tochterfirma der Tendyke Industries namens Satronics herstellte, waren absolute Alleskönner. Der Professor rief das Mädchen an und verabredete sich mit ihr für den späten Abend im Reitstall. Mit Jule zusammen nahm Kathrin regelmäßig Reitstunden, wie er erfuhr. »Um was geht es denn, Herr Zamorra?« »Nichts Besonderes. Wir hätten nur noch ein paar Fragen an dich. Wegen Maria.« »Ach so. Ja also, dann bis später.« Vier Stunden nach diesem Telefonat fuhren Zamorra und Nicole nach Brunnhausen, einem kleinen Weiler bei Pfullendorf. Über eine schmale Allee erreichten sie den Reitstall, der inmitten weiter Wiesen lag. Die Mädchen waren noch in der Reithalle beschäftigt. Kathrin ritt einen Schimmel und winkte fröhlich. Jule auf ihrem Braunen schien heute eher schlecht gelaunt zu sein. »Bin mal gespannt, ob du nachher auch noch lachst«, murmelte der Professor. Kathrin und Jule führten die Pferde zu den Boxen und striegelten sie ab. Danach kamen sie zu Zamorra und Nicole, die ihren BMW zwischen Reitstall und Reitplatz geparkt hatten. Lässig lehnte der Professor an seinem Gefährt, während Nicole auf dem Beifahrersitz saß. Petra Cerny hatte es sich derweil hinten bequem gemacht. Sie war gar nicht ausgestiegen, weil sie ihr Herz schonen wollte. »Absolut geiles Gefährt«, sagte Kathrin und strich bewundernd über den Lack der Kühlerhaube. »Aber mein Roller ist auch cool.« »Klar. Wäre es möglich, dass wir mit dir alleine reden können?« Sie schaute den Meister des Übersinnlichen aus großen Augen an.
»Klingt ja ziemlich geheimnisvoll. Aber Jule kann alles hören. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, wir machen sowieso fast alles zusammen.« Julia nickte. Sie wirkte etwas abwesend. Zamorra schaute, dass gerade niemand in der Nähe war. »Also gut, wie ihr wollt.« Er schaute das blonde Mädchen ernst an. »Kathrin, wir wissen, was du bei uns im Bad gemacht hast.« Sie wurde merklich unruhig. »Was soll ich da wohl gemacht haben?« »Du hast Haare von uns gesucht und genommen.« »Das ist nicht wahr«, brauste sie auf. »Was soll der Scheiß«, sagte Jule. »Komm, Kathrin, wir gehen.« Die Mädchen drehten sich um. »Ihr bleibt«, befahl Zamorra scharf. Sie blieben tatsächlich stehen. Der Professor rief Merlins Stern. Er erschien sofort in seiner Hand. »Cooler Zaubertrick«, sagte Kathrin. »Wie haben Sie das gemacht?« »Verrate ich dir nicht. Aber die Silberscheibe kann noch viel mehr. Schau mal.« Der Professor aktivierte die Zeitschau. Allerdings ließ er dieses Mal die Szenen aus dem Bad ablaufen, die er, analog einer DVD, gespeichert hatte. Die Mädchen starrten fassungslos auf den kleinen Film im Amulettzentrum, dessen Bilder gleichzeitig lebensgroß in ihre Köpfe projiziert wurden. Kathrin stand wie erstarrt. »Schau mal, die Silberscheibe hat sich ein bisschen erwärmt. Das ist immer ein Zeichen, dass irgendwelche dämonischen Dinge in nächster Umgebung passieren. Also mit dir. Wer hat dich beeinflusst, die Haare zu nehmen, Fräulein?« Nicole stieg aus. »Warte mal, kurz, Chéri. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mit Julia ein Stück spazieren gehe.« Sie kam um das Auto herum. »Nicht wahr, Jule?« Die Mädchen waren so eingeschüchtert, dass Julia ohne Protest einwilligte. Stumm ging sie mit Nicole entlang des Reitplatzes in Richtung eines kleinen Baches, der direkt dahinter durch die Wiesen floss.
»Also, Kathrin, heraus mit der Sprache. Haare braucht man zum Beispiel für Voodoo-Zauber. Voodoo stammt ursprünglich aus Afrika. Und wir haben gerade … nun, wie soll ich sagen, etwas Ärger mit einem Herrn aus Afrika. Passt irgendwie ganz gut zusammen, findest du nicht auch? Hm, du weißt doch, was Voodoo ist?« Kathrins Knie zitterten. Sie ließ sich auf den Boden sinken. Zamorra setzte sich neben sie. »Also? Ich höre.« Das Mädchen senkte den Kopf. »Voodoo, das ist doch so was mit einer Nadel, die man in eine Puppe sticht«, sagte sie mit leiser, zitternder Stimme. »Ja, genau. Und wenn in der Puppe auch nur ein einziges Haar eines Menschen steckt, kann der dadurch furchtbare Schmerzen bekommen und sogar daran sterben. Möchtest du daran schuldig sein, dass Frau Duval und ich sterben müssen?« »Nein, ich … ich …« Kathrin hob den Kopf wieder. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Sie müssen mir glauben, dass ich … dass ich das gar nicht wollte, Herr Zamorra. Er hat mich gezwungen. Ich konnte mich absolut nicht dagegen wehren.« Zamorra nickte. »Ich weiß. Der Dämon, der dich gezwungen hat, sieht aus wie ein afrikanischer Medizinmann. Er hat riesige Muskelberge, eine Glatze und eine Art weiße Maske im Gesicht.« »Ja, eine Blesse, so ähnlich wie Jules Pferd.« Sie lächelte einen Moment lang verloren. »Aber, aber … ich meine, woher wissen Sie das? Kennen sie den schrecklichen Kerl etwa?« »Nur vom Sehen. Ich wüsste allerdings gar zu gerne, wie er heißt.« »Weiß ich doch auch nicht, keine Ahnung.« Kathrin schluckte schwer. »Er … war plötzlich da. In meinem dunklen Zimmer, kurz bevor ich eingeschlafen bin, verstehen Sie? Keine Ahnung, wie der da rein gekommen ist. Ich …« Ihre Stimme wurde plötzlich schrill und hoch. »Seine Augen haben so grell in der Dunkelheit geleuchtet, noch viel stärker als die von einer Katze. Das war so furchtbar, ich bin vor Angst fast gestorben. Am liebsten hätte ich laut losgebrüllt, aber ich konnte nicht. Es war, als wenn mir einer den Mund zu hält. Und dann hat
er mir gesagt, was ich tun soll …« Sie legte die Stirn auf ihre angezogenen Knie. »O Gott. Ich wollte mich doch dagegen wehren, aber es ging nicht. Er hat nicht wirklich mit mir gesprochen, seine Worte waren einfach in meinem Gehirn. Das war auch so tierisch unheimlich.« »Telepathie.« »Kann sein. Was ist das?« »Gedankenübertragung. Er hat dir also aufgetragen, die Haare zu stehlen. Gut. Oder besser, nicht gut. Wo hast du sie denn hin gebracht?« »In so 'nen alten Bunker direkt neben dem Kloster Habsthal. Da wohnt er jetzt wohl.« Zamorra horchte auf. »Jetzt?« »Wie bitte?« »Du sagtest gerade, da wohnt er jetzt. Also weißt du, dass er zuvor woanders gewohnt hat.« Zamorra rückte näher und legte ihr väterlich den Arm um die Schultern. »Der Kerl hat dich übel missbraucht. Du bist nur sein Opfer. Kathrin, du musst mir alles sagen, was du weißt. Es könnte jede Kleinigkeit wichtig sein. Denn ich möchte den Kerl jagen und unschädlich machen. Er soll dir nie wieder was antun können.« Das Mädchen gab sich einen Ruck. »Er … er hat zuvor in der alten Mühle gewohnt, Herr Zamorra. Ich weiß es genau, weil … weil …« »Weil du schon mal dort warst, stimmt's?« »Ja. Und diese Aura, die wir damals dort gespürt haben, das war genau die gleiche, wie sie in meinem Zimmer war, als er da plötzlich stand. Da hab ich gleich gewusst, dass das der aus der Mühle sein muss.« »Ihr habt in der Mühle eine Seance abgehalten. Unten in den alten Kellerräumen. Wir haben die Überreste davon gefunden.« Kathrin bekam große Augen. »Was denn, Sie waren dort auch?« »Wie du siehst. Wer war denn damals alles dabei?« »Das … das waren Jule, Denise, Soffl, Laura und ich.« »Was ist mit Klara und Lea? Waren die auch dabei?« »Nein. Die waren nicht in unserer Clique.«
»Und Maria Wegener und Rebecca Schaller?« »Nein. Aber Rebecca hat Maria erzählt, dass in der Mühle ein Geist haust. Und Maria hat es uns gesteckt. Da hat Denise gesagt, dass wir jetzt den Geist beschwören gehen.« Kathrin schüttelte sich. Gänsehaut lief über ihren Körper. »Warum wollte sie das tun?« »Na ja, weil Denises Freund Philipp sie damals gerade verlassen hatte. Sie wollte den Geist zwingen, mal nachts bei Philipp vorbei zu spuken und ihm voll die Angst einzujagen. Und dann wollte sie den Geist noch fragen, ob sie je wieder mit Philipp zusammen kommt. Oder wenn nicht, wer sie sonst noch liebt.« »Und ihr habt einfach so mitgemacht?« Kathrin erhob sich, weil es ihr allmählich kühl wurde. So stand auch der Professor wieder auf. »Das war doch bloß ein Spaß, Herr Zamorra. Eigentlich hat keine so richtig geglaubt, dass es den Geist wirklich gibt. Wir waren ja zuvor auch schon in der Mühle und da haben wir nie einen gesehen. Bloß Maria, die hatte tierische Muffe. Die wollte absolut nicht mit und hat alles versucht, um uns abzuhalten.« »Was ist dann passiert?« »Wir haben uns tierisch auf das Abenteuer gefreut und uns schon im Vorhinein gegruselt. Denise hat alles besorgt, was man für eine Seance eben so braucht. Kerzen und ein Hexenbrett und so was. Ach ja, ich hab noch gar nicht erzählt, dass Rebecca auch gesagt hat, der Geist würde in den geheimen Kellerräumen hausen und wie man da hinein kommt. Von diesen Räumen hatten wir bis dahin noch null Ahnung gehabt. Uns hat's schon gegruselt, als wir die Treppe hinunter gestiegen sind. Soffl hat sogar so Angst gehabt, dass sie am liebsten gleich wieder abgehauen wäre. Aber ich hab sie als Feigling beschimpft. Und da ist sie eben dabei geblieben.« »Wie viele Kellerräume habt ihr da unten gesehen?« »Drei, vier, ich weiß nicht mehr so genau.« »Wart ihr auch in einem, in dem eine große Holzkiste mit magischen Zeichen stand? Und ein Bücherschrank mit einem Bild von Hitler an der Wand?«
Kathrin machte große Augen. »Hitler? Was soll das denn jetzt wieder?« »Ihr wart also nicht dort?« »Nö. Sagt mir jetzt gar nichts. Wir haben nur Räume mit Gerümpel drin gesehen. Da gab's auch einen Tisch und ein paar Stühle. Die haben wir genommen. Und dann eine Beschwörung gemacht.« »Hatte sie Erfolg?« »Erfolg? Mann, als wir den magischen Kreis gebildet und uns konzentriert hatten, ist es plötzlich ganz kalt geworden, eiskalt. Ich hab so was von gezittert. Und dann …« Kathrins Gänsehaut verdichtete sich noch. »Dann haben plötzlich die Kerzen angefangen zu flackern. Ganz stark, verstehen Sie. Die Flammen waren fast waagrecht. Und die Tür ist ein paar Mal auf- und zugegangen. Von ganz alleine. Und dann … dann war da plötzlich diese Aura. Irgendwas total Böses. Wir haben alle geschrieen wie am Spieß. Und dann sind wir ganz schnell abgehauen.« »Hm. Das war sicher dieser Dämon. Irgendwas muss er euch aber angeheftet haben. Vielleicht etwas von dieser Aura, wie du sie nennst. Es ist also kein Zufall, dass er ausgerechnet dich ausgesucht hat, ihm die Haare zu besorgen. Zufall nur in dem Rahmen, als dass es auch eine andere von euch fünfen hätte treffen können. Durch die Seance ist eine Art geistige Verbindung zu ihm entstanden, die bis heute existiert. So findet er euch immer und überall.« Kathrin starrte vor sich hin. »Ich hab Angst, Herr Zamorra«, flüsterte sie. »So furchtbare Angst. Was geht hier bloß vor?« »Ich weiß es auch nicht genau. Noch nicht.« »Da ist noch was, Herr Zamorra.« »Ja? Was denn?« »Dieser Dämon, er … er hat mir den Auftrag gegeben, die Frau zu töten.« »Welche Frau?« »Die da auf dem Rücksitz. Wie heißt sie noch mal?« »Frau Cerny.« Zamorra nahm Kathrin am Arm und ging ein paar Schritte mit ihr vom Auto weg. »Nicht so laut. Sie braucht es nicht
zu hören, ihr Herz ist sowieso schon angegriffen genug. Warum sollst du sie töten?« »Keine Ahnung.« »Und wo?« »Wenn sich gerade die Gelegenheit bietet.«
Nicole kam mit Julia zurück. Sie hatte den Arm um das Mädchen gelegt. Julia hatte den Kopf gesenkt und weinte. »Auch Julia ist vom Dämon beeinflusst worden«, sagte Nicole. »Er hat ihr befohlen, Frau Cerny zu töten. Jule hat mir alles erzählt.« Kathrin starrte ihre Freundin an. »Was, du auch?« Gleich darauf umarmten sie sich und schluchzten gemeinsam. Sie hatten nicht gewusst, dass auch die jeweils andere beeinflusst worden war. Zamorra gab ihnen magische Abwehramulette aus seinem Zauberkoffer, bevor er sie entließ. »Hängt das um, dann kann er euch nicht mehr belästigen«, bat er eindringlich. »Die Amulette haben eine große Kraft.« Sie fuhren ins Hotel zurück. Frau Cerny ging früh ins Bett. Sie fühlte sich nicht wohl, selbst nachdem sie ihre Medikamente zur Immunsuppression eingenommen hatte. »Die Narben tun weh«, klagte sie. »Aber wenn ich ausgeschlafen habe, wird es morgen sicher wieder besser sein.« Zamorra und Nicole gingen noch ein bisschen in den Felsenkeller. Das Restaurant verzweigte sich unter dem Hotel in alten, halbrunden Gewölben, ähnlich denen unter der Mühle. Die beiden Dämonenjäger bekamen einen Tisch in einer gemütlichen Nische unter einem Rundbogen und bestellten sich etwas zu essen. Brennende Kerzen standen auf dem Tisch. Es war sehr romantisch. »Gut, dass es mir aufgefallen ist«, sagte Nicole, während sie an ihrem Aperitif nippte. Sie schien sich absolut nicht von der Atmosphäre anstecken lassen zu wollen. »Gut, dass dir was aufgefallen ist.« Zamorra war in Gedanken irgendwo anders. »Die Sache mit den gestohlenen Haaren natürlich. Sonst wären wir
der Beeinflussung der Mädchen wohl nicht so schnell auf die Spur gekommen. Dann hätten sie Frau Cerny vielleicht tatsächlich getötet.« Der Professor lächelte säuerlich. »Wahrscheinlich wirst du mir die Geschichte noch in tausend Jahren nachtragen, meine liebe Nici. Du hattest in diesem Fall eben den besseren Riecher.« »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie kicherte. »Nächstes Mal bin ich dann wieder dran. Aber du hast völlig Recht. Es hätte böse enden können. Der Dämon kommt magisch nicht mehr an Frau Cerny heran. Jetzt versucht er's eben auf die herkömmliche Art. Er kann die Mädchen allerdings nur äußerst schwach magisch beeinflusst haben. Allein die Anwesenheit vom Merlins Stern hat genügt, dass sich der hypnotische Block bei den Mädchen sofort wieder gelöst hat. Pech für den Dämon.« »Ja. Er scheint tatsächlich nicht sehr stark zu sein. Umso ärgerlicher, dass es uns nicht gelingen will, ihn unschädlich zu machen. Und nun müssen wir auch noch auf Denise, Soffl und Laura aufpassen. Wenn er Kathrin und Julia beeinflusst hat, hat er es womöglich auch mit diesen dreien gemacht. Sie waren schließlich auch bei der Seance dabei.« »Richtig. Daran habe ich eben schon gedacht. Wir müssen sie ebenfalls mit Merlins Stern prüfen. Zu blöd, dass die Blechscheibe den Dämon nicht killen will.« »Vielleicht deswegen, weil sie dann gleichzeitig jemand Unschuldigen erwischen würde? Diese Fälle hatten wir ja auch schon.« Zamorra sah sie verblüfft an. »Tatsächlich. Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber selbst wenn es stimmen sollte, ist das eine Information, die wir noch nicht mit den anderen verknüpfen können. Oder übersehe ich da gerade was?« »Nein, tust du nicht«, seufzte Nicole. »Es war ja auch bloß so eine Idee.« Während sich Nicole mit einem Truthahnstreifen-Salat begnügte, säbelte Zamorra an einem saftigen Pariser Pfeffersteak herum. Zurück im Hotelzimmer, rief er mit dem TI-Alpha auf Château
Montagne an. »William, Sie müssen mir herausfinden, ob wir irgendwelche afrikanischen Dämonen in unserem Fundus haben, die Blitze schleudern und irgendwie irgendwas mit Fliegen zu tun haben.« »Ich tue wie immer mein Bestes, Sir. Und wenn Sie diesen Dämon treffen sollten, bitten Sie ihn doch, gleich noch einen Blitz auf Mister McFool zu schleudern. Das kleine grüne Ungeheuer hat nichts als Unfug im Kopf.« Damit legte er auf. »William hat mich Sir genannt«, stellte Zamorra fest und starrte das Handy an. »Er möchte Fooly ermorden und hat das Gespräch von sich aus beendet. Ich habe das dumpfe Gefühl, wir sollten die Sache hier so schnell wie möglich beenden. Sonst ist unser schönes Château ein Trümmerhaufen, wenn wir zurückkommen.« »So schlimm wird's schon nicht werden, Chéri. Und jetzt werden wir frisch gestärkt den Dämon in seinem neuen Versteck heimsuchen«, schlug Nicole vor. »Mal sehen, ob wir ihn nicht doch überraschen können.«
Der Dämon schaute in den magischen Spiegel. Die Bilder wirkten etwas verschwommen. Trotzdem sah er genau, was er sehen wollte. Die fremde Entität bewachte nach wie vor die Frau mit dem neuen Herzen. Die beiden Helfer der Entität näherten sich hingegen seinem Versteck.
»Verflixt, das gibt's doch nicht«, sagte Nicole, als sie sich in den offen stehenden, aber leeren Kartoffelkeller gedrückt hatten. Enttäuscht heftete sie den E-Blaster an die Magnethalterung. »Der Kerl ist uns immer einen Schritt voraus. Er scheint zu ahnen, was wir als Nächstes tun. Beobachtet der uns etwa?« »Wie sollte er?« Zamorra schloss die leise quietschende Doppeltür wieder. Plötzlich verharrte er und ließ den ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand auf und ab wippen. »Oder warte mal. Vielleicht benutzt der Kerl ja einen Zauberspiegel. Schamanen, die
was drauf haben, können so ein Ding ohne weiteres weihen. Das funktioniert dann so ähnlich wie Vassagos Spiegel, wenn auch nicht annähernd so perfekt. Aber das muss es auch nicht. Dem Kerl wird's reichen, wenn er jederzeit informiert ist, was wir gerade machen.« »Ja. Aber wie schafft er es, dass er gerade uns …« Nicole schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ist doch klar. Die Haare aus dem Badezimmer. Damit kann er den Zauberspiegel auf uns justieren.« Zamorra nickte. »Dieser Gedanke kam mir auch gerade. He, Nici, unsere Chancen steigen wieder, doch noch lebend davon zu kommen. Wenn unsere Theorie stimmt, wird er wohl kaum seinen schrecklichen Voodoo-Zauber gegen uns einsetzen.« Er grinste breit. Voodoo war kein Thema. Selbst stärkere Zauber dieser Art konnte der Professor in der Zwischenzeit spielend abwehren. Auch ohne Merlins Stern. Der Beobachtung durch den Zauberspiegel, so sie denn tatsächlich erfolgte, stand er im Moment allerdings etwas ratlos gegenüber. Auch Nicole hatte kein geeignetes Mittel parat, um »die Tür zuzumachen«, wie sie sich ausdrückte. »Irgendwas fällt uns noch ein, Chéri. Vielleicht können wir ihn ja gerade dadurch angreifen. William soll auch in dieser Richtung recherchieren.« Vassago, den Prinzen der Finsternis, riefen sie erst gar nicht an. Der Herrscher über sechsundzwanzig höllische Legionen wollte schon seit Äonen erlöst werden und stellte deshalb seine Fähigkeit, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sehen zu können, auch in den Dienst des Guten. Vassago, der über eine spiegelnde Wasserfläche zu beschwören war und in dieser zeigte, was der Rufende sehen wollte, hatte ihnen so in der Vergangenheit schon öfters aus der Bredouille geholfen. Vielleicht ein paar Mal zu oft. Denn bei der letzten Beschwörung hatte sich der Dämon zum ersten Mal geweigert, dem Professor zu Diensten zu sein. Sein »Zamorra, nicht du schon wieder. Du hättest dir die Mühe sparen können«, klang dem Meister des Übersinnlichen noch immer in den Ohren. Hätte nicht ein geheimnisvolles Überwesen namens Maneki Neko
eingegriffen und Vassago »überredet«, Zamorra hätte den Dämon nicht zwingen können. Diese Hilfe fehlte ihm jetzt. »Alles muss man langsam alleine machen«, seufzte er. Sie kontrollierten, ob sich der Dämon vielleicht in die Mühle geflüchtet hatte. Aber da war er auch nicht. So fuhren sie wieder ins Hotel zurück. Während der kurzen Fahrt klingelte Zamorras Handy. William war dran. »Steht das Château noch?«, wollte Zamorra wissen. »Wie belieben, Sir? Natürlich steht Château Montagne noch. Oder sind irgendwelche Ereignisse im Gange, die befürchten lassen müssten, dass dieser Zustand in nächster Zeit negiert werden könnte?« Der Professor seufzte. »Nichts dergleichen, William, nichts dergleichen. Also, Sie haben sicher was raus gefunden.« »In der Tat, Sir. Nach Eingabe der Suchbegriffe Dämon, Blitze und Fliegen zeigte der Computer tatsächlich einen Treffer an.« »Ist nicht wahr.« »Es ist wahr, Sir. Dieser Dämon wird mit der Mythologie des westafrikanischen Volkes der Songhai in Verbindung gebracht. Die Songhai nennen ihn den Gott des Donners und des Blitzes. Sein Name ist Hausakoy.« »Was für ein Haus?« »Hausakoy, Sir. Das Programm verweist gleichzeitig auf die Goetia. Dort wird Hausakoy den dreißig Legionen des höllischen Präsidenten Ose, der gewöhnlich in der Gestalt eines Leoparden aufzutreten pflegt, zugeordnet. Hausakoys Gestalt ist dort allerdings nicht vermerkt, Sir. Er soll aber eine besondere Affinität zu Fliegen haben, weil er sein Bewusstsein auf Millionen von ihnen verteilen kann.« »Na, wenn das nicht schon mal ein Anfang ist. Danke, William. Hat Hausakoy zufällig ein Sigill, mit dem wir ihn beschwören könnten?« William musste verneinen. Er habe nirgendwo ein magisches Sigill Hausakoys gefunden. »Über den Namen alleine werden wir ihn nicht beschwören
können«, meinte Zamorra. »Es wird nicht sein richtiger sein. Wahrscheinlich kennen ihn lediglich die Songhai als Hausakoy, während er bei anderen Völkern, bei denen er sicher ebenfalls präsent ist, wieder ganz anders heißt. Wir bräuchten seinen höllischen Namen.«
Es war bereits spät. Im Hotel legten sich die Beiden erstmal aufs Ohr. Normalerweise schliefen sie am Tag und arbeiteten bei Nacht, weil sie sich notgedrungen ihrer Klientel anpassen mussten. Dämonen und anderes schwarzblütiges Gezücht waren eben nun mal hauptsächlich im Dunkeln aktiv. Zamorra und Nicole konnten sich aber problemlos umstellen, wenn andere »Arbeitszeiten« gefordert waren. Das Wasser aus der Quelle des Lebens, das sie einst getrunken hatten, sorgte auch dafür. Petra Cerny träumte. Unruhig warf sie sich im Bett hin und her. Die Augen unter den geschlossenen Lidern rollten ununterbrochen. Sie sah die Szenen seltsam verzerrt und gerundet, ähnlich wie durch das Fischauge einer Kamera. Dazu hin spielten sie sich in völliger Lautlosigkeit ab. Fünf Mädchen stellten ihre Fahrräder an eine Hauswand. Weite Wiesen rings umher. Es dämmerte. Die Sonne sank gerade, aber noch war genügend Licht da. Eines der Mädchen, es war wohl Denise, bewegte die Lippen. Wie durch dicke Watte glaubte Frau Cerny ein paar Wortfetzen des Gesagten mitzubekommen. Die Anderen lachten. Auch sie spürte den Drang zur Heiterkeit. Lachte sie selber auch? Sie konnte es nicht sagen. Sie sah die Mädchen nicht mehr. Die Tür der alten Mühle öffnete sich. Samtige Dämmerung. Das letzte Tageslicht fiel durch die Fenster, ließ die Konturen der Einrichtungsgegenstände geheimnisvoll erscheinen. Petra Cerny wusste nicht, wie die Dinge hier im Einzelnen hießen. Es interessierte sie auch nicht. Sie ging. Sie spürte Anspannung. Die Mädchen waren plötzlich wieder um sie. Ein Bodenbrett, eine Treppe darunter, Taschenlampenlicht. Gewölbeartige Kellerräume aus Ziegeln, Gerumpel, ein kleiner Raum. Auf einem Tisch standen Kartons. In der Ecke waren
Gartenstühle ineinander gestellt. Jule und Soffl nahmen sechs und stellten sie um den Tisch. Denise kramte derweil Kerzen aus der Tasche, die sie die ganze Zeit mitgetragen hatte. Kathrin malte sorgfältig einen Drudenfuß auf den Tisch. Die Bilder wurden schlechter, verschwammen zu flächigen Formen und bunten Schlieren. Ein anderer Raum bildete sich plötzlich daraus. Hitlers Bild, ein Bücherschrank, eine Kiste. Nur undeutlich zu sehen. Das Gefühl unerträglicher Angst, ein furchtbarer Druck, grelle Lichtflut, die alles fraß. Aus! Petra Cerny fuhr hoch. Nur langsam beruhigte sich ihr rasendes Herz wieder. Sie stand Todesängste aus. Merlins Stern, den sie umklammerte, half ihr dabei. Er gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Die Frau lag ruhig in ihren Kissen und starrte an die Decke. So seltsam und verschwommen die Bilder der neuerlichen Vision gewesen waren, so deutlich standen sie vor ihrem geistigen Auge. Immer wieder zogen sie daran vorbei, wie ein Endlosfilm. Und irgendwo, ganz weit hinten in Petra Cernys Gedächtnis, machte sich das unangenehme Gefühl breit, dass etwas nicht stimmte. Aber was? Sie konnte es nicht greifen, obwohl sie glaubte, dicht dran zu sein. Was immer sie auch versuchte, es ging einfach nicht. Petra Cerny sehnte den Morgen herbei. Sie musste sich unbedingt mit Herr Zamorra und Frau Duval unterhalten. Die Beiden würden sicher sehr an den neuen Details interessiert sein, die ihr ihre jüngste Vision gezeigt hatte. Da die beiden Franzosen noch schliefen und sie nicht so lange warten wollte, beschloss sie, sie zu wecken. Korrekt angezogen natürlich. Mit äußerst schlechtem Gewissen klopfte sie an deren Tür. »Herr Zamorra, Frau Duval, ich bin's«, sagte sie in diskreter Tonlage. Die anderen Gäste auf der Etage mussten es ja nicht unbedingt mitbekommen. Was die bloß wieder gedacht hätten … So schnell hatte sie noch nie jemanden an die Tür kommen hören. Der Riegel drehte sich, Nicole starrte sie an. Hellwach. »Ist was passiert, Frau Cerny?« »Nun, ich … ich, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so früh störe.
Ich hatte heute Nacht wieder … nun, einen Traum.« »Eine neue Vision? Kommen Sie doch erst mal rein, Frau Cerny. Setzen Sie sich. Soll ich Ihnen einen Tee bestellen?« »Oh, das wäre äußerst lieb, danke.« Nicole griff zum Zimmertelefon. »Und du bleibst schön unter der Bettdecke«, befahl sie Zamorra, bevor sie telefonierte. »Wissen Sie, er pflegt nämlich beim Schlafen nur Mann zu tragen und sonst gar nichts.« Frau Cerny wurde rot. Sie kämpfte den Gedanken an einen flotten Dreier mühsam nieder. Ja, wenn sie auch körperlich Maria gewesen wäre, jung, knackig, da hätten die Beiden sicher nichts dagegen gehabt. Aber so. Sie war schließlich viel älter als der Professor und Frau Duval … Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass es sich eher umgekehrt verhielt und sie es mit zwei potentiell Unsterblichen zu tun hatte. Bei einem Glas Kamillentee und ein paar Toasts mit Marmelade und Honig erzählte Petra Cerny ihre Vision. »Wissen Sie, ich … es war dieses Mal seltsam, anders als sonst. Ich hatte gar nicht mehr so das Gefühl, nun, wie soll ich sagen, das Gefühl, dass Maria in mir ist. Es war, wie wenn wir, nun … ein bisschen mehr verwachsen wären, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ja, ich denke, dass ich weiß, was Sie meinen«, sagte Zamorra. »Hm, was stört mich jetzt so kolossal an Ihrer Erzählung?« »Kann ich dir sagen«, erwiderte Nicole. »Frau Cerny sagte, dass sie fünf Mädchen gesehen hätte. Von fünf hat uns auch Kathrin erzählt. Da Frau Cerny in den Visionen aber durch Marias Augen sieht, heißt das, dass sie ebenfalls dabei gewesen sein muss. Es waren also sechs Mädchen! Und Maria war doch dabei. Unglaublich. Warum hat Kathrin das unterschlagen?« »Ja, warum?«, brummelte der Professor. »Absichtlich? Oder war es vielmehr so, dass die fünf Mädchen Maria gar nicht sehen konnten?« Nicole und Frau Cerny sahen ihn verblüfft an. »Du meinst, dass Maria zwar dabei war, aber unsichtbar? Als Geist oder so was?« »Zum Beispiel, Nici. Es wäre allerdings auch möglich, dass sie aus
Fleisch und Blut bestand und sich unsichtbar gemacht hat. Manche Dämonen beherrschen das. Ich kann's ja auch. Obwohl ich keiner bin.« Zamorra lächelte. »Mist, einfältiger. Hätte diese Vision nicht ein wenig deutlicher ausfallen können?« »Was willst du, Chéri? Obwohl Frau Cernys Erzählung schon ein paar Minuten her ist, erinnerst du dich vielleicht noch, dass sie von dem Raum mit dem Hitlerbild und der Kiste sprach. Das heißt, dass Maria dieses Gewölbe gekannt hat. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen. Vielleicht hat sie ja das genommen, was in der Kiste war?« »Auch wenn es Sie belastet, Frau Cerny, so warte ich doch ganz dringend auf die nächsten Visionen von Ihnen«, sagte Zamorra. »Ich bin extrem gespannt, was da noch so alles raus kommt.« »Die Wahrheit, was sonst?«, erwiderte Nicole. »Und das weiß auch der Dämon. Weil er unbedingt verhindern will, dass diese Wahrheit ans Licht kommt, geht er wohl davon aus, dass sie ihm schädlich sein könnte.« Nach diesem Gespräch fühlte sich Petra Cerny erleichtert. Sie hatte einmal mehr gesehen, dass sie bei den beiden Franzosen in guten Händen war. Trotzdem wollte dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, einfach nicht weichen.
Hausakoy befand sich wieder in der alten Mühle. Sie war ihm am vertrautesten. Gespannt starrte er in den Zauberspiegel.
Zamorra hätte zu gerne auch Denise, Laura und Soffl auf dämonische Beeinflussung hin überprüft. Aber die Mädchen hatten Mittagsschule. Von dort würden sie unverzüglich auf den Sportplatz fahren. Heute Abend stand ja das Spiel gegen Hohentengen an. Dann erst würde sich die Gelegenheit ergeben, sie mit Merlins Stern zu konfrontieren. Gespräche zu führen, würde sicherlich extrem schwierig sein, da sie an diesem Abend Fußball im Kopf hatten, Fußball und sonst gar nichts. Vor dem Spiel ohnehin
nicht, das würde der Trainer unterbinden. Vielleicht ergab sich ja danach noch eine Gelegenheit. Hatte Zamorra bisher noch leise Zweifel gehabt, ob sie sich dieses Spiel anschauen würden, so waren diese nun restlos ausgeräumt. Gegen fünf Uhr abends fuhren sie aufs Sportgelände nach Rosna. Einige Zuschauer tranken Kaffee auf der Terrasse des Vereinsheims oder aßen bereits zu Abend. Leo Kugel und seine Frau Babs hatten alle Hände voll zu tun. Ein paar Halbwüchsige kickten neben dem Sportplatz herum und machten eine Menge Lärm dabei. Trainer Erwin Lindemann zog derweil mit dem Streuwagen die Linien nach. Zamorra, Nicole und Frau Cerny begrüßten Leo Kugel, der sich sichtlich freute und setzten sich ebenfalls auf die Sonnen beschienene Terrasse. Sie wollten noch ein wenig den milden Herbstabend genießen. Die ersten Mädchen trafen ein und zogen sich um. Zamorra kannte sie nicht. Wahrscheinlich waren es die aus Hohentengen. Nach und nach trudelten die Weitharterinnen ein. Laura, Soffl, Denise und Isi kamen so ziemlich als Letzte und verschwanden sofort in der Kabine. Zamorra ging nach unten auf den Platz. Vielleicht schaffte er es ja während der Mannschaftsbesprechung, kurz an die drei heran zu kommen. Weil er Merlins Stern dazu benötigte, bat er seine beiden Begleiterinnen, doch bitte mitzukommen. Er wollte Frau Cerny nicht unnötigerweise schutzlos lassen. Aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass Dämonen die allerkleinste Unachtsamkeit blitzschnell ausnutzen konnten. Die beiden Teams machten sich warm. Bälle flogen hin und her. Lindemann gab Anweisungen. Er beachtete Zamorra und die beiden Frauen gar nicht. »Simone, Vanessa, was ist los? Habt ihr mal wieder keine Lust, euch zu bewegen? Los, macht Action!« »Herr Professor«, sagte Frau Cerny plötzlich. »Das Amulett erwärmt sich.« Mit einem Schritt war Zamorra bei ihr. »Tatsächlich«, flüsterte er. »Das kommt nicht nur von der Sonne. Nici, da ist was Dämonisches auf dem Weg. Höchste Alarmstufe.«
Nicole nickte. Sie beobachtete Denise, Soffl und Laura, die auf der anderen Hälfte des Platzes waren und damit ziemlich weit weg. »Ich denke, dass das nichts mit den Mädchen zu tun hat«, murmelte sie. »Die waren vorhin schon näher an Merlins Stern dran, ohne dass er reagiert hätte.« »Sehe ich auch so, Nici.« Zamorra suchte mit seinen Blicken die Waldränder ab. Es war zehn vor sechs. Erwin Lindemann rief seine Spielerinnen zur Mannschaftsbesprechung. Zamorra, Nicole und Frau Cerny stellten sich dazu. Kathrin und Jule hielten die Köpfe gesenkt. Sie wagten nicht, Zamorra anzuschauen. Lindemann nannte die Aufstellung. »Och, schade«, sagte Simone. »Ich hatte gehofft, dass ich auch mal von Anfang an spielen darf.« »Darfst du, wenn du fleißiger im Training bist. Bisher reicht's eben nur zur Ersatzspielerin.« Lindemann gab noch einige taktische Anweisungen. Dann pfiff der Schiedsrichter. Die Mädchen versammelten sich hinter ihm, bildeten zwei Reihen. »Ich hatte gehofft, dass ihr eure Amulette tragt«, sagte Zamorra leise zu Kathrin. »Dürfen wir nicht. Schmuck ist beim Spielen verboten.« Die Spielerinnen liefen ein. Der Anpfiff ertönte. Das Spiel begann sehr gut für die Weitharterinnen. Vom Anspiel weg eröffnete Isi das Spiel mit einem Pass auf den linken Flügel. Kathrin ließ den Ball passieren, ging hinterher, spielte zwei Gegenspielerinnen aus und zog eine weite Flanke in den Strafraum. Die mitgelaufene Anja ging im richtigen Moment zwischen zwei Verteidigerinnen durch, hielt den Fuß hin und verwandelte Volley. Jubelnd rissen die Mädchen in Blau-Gelb die Arme hoch und rannten aufeinander zu. Während sie die Jubeltraube bildeten, saßen einige der Hohentengener Spielerinnen frustriert auf dem Boden. Von der Terrasse des Vereinsheims herunter schrie Leo Kugel am lautesten. Begeistert klatschte er. Die Trainerin aus Hohentengen schüttelte fassungslos den Kopf. »Das gibt's doch nicht«, sagte sie zum neben ihr stehenden Erwin
Lindemann. »Letzte Saison hat deine Anja kaum einen Ball getroffen. Und jetzt so eine Weltklasseabnahme. Was hast du bloß mit denen gemacht, Erwin? Bist du ein kleines Genie oder so was?« Lindemann, die Arme wieder unten, lächelte geschmeichelt. »Hartes Training und die richtige Ansprache.« In den nächsten Minuten spielten die Weithart-Mädchen ihre Gegnerinnen an die Wand, ohne allerdings ein weiteres Tor zu erzielen. Chancen gab es genug, aber das letzte Quentchen Glück fehlte. »Wie habt ihr denn letztes Jahr gegeneinander gespielt?«, fragte Zamorra die Trainerin aus Hohentengen. Die wandte kurz den Kopf, wollte ihn schon wieder dem Spielgeschehen zuwenden, sah dann aber genauer hin. Zamorra beeindruckte sie sichtlich. »Hallo. Sechs zu null hier und bei uns sogar dreizehn zu null. Die konnten nicht mal richtige Einwürfe machen.« Mitte der ersten Halbzeit fiel das zwei zu null. Isi versenkte einen Freistoß aus zwanzig Metern oben im Winkel. Lindemann rannte jubelnd aufs Feld. Seine Kollegin trat derweil voller Wut gegen den Eiskoffer. Zamorra stand neben Frau Cerny und Nicole am Geländer an der Seitenlinie. Immer wieder tastete er nach Merlins Stern. Das Amulett blieb nach wie vor leicht erwärmt. Voller Sorge kontrollierte der Professor das Sportgelände. Was würde der Dämon unternehmen? Dass etwas passieren würde, sah er als sicher an. Immerhin hielt sich der Schwarzblütige hier in der Nähe auf. Hätte Merlins Stern normal reagiert, hätte er ihm den Angriff befohlen. Die silbernen Blitze hätten sich den Dämon geholt, wenn dieser in Reichweite war, egal, wo er sich aufhielt. Die Hohentengener Spielerinnen eroberten den Ball in der Abwehr und starteten einen Entlastungsangriff. Ein schöner Pass kam auf den rechten Flügel. Isi und Jule liefen von zwei Seiten auf die Gegnerin zu, um sie zu doppeln. Plötzlich bremsten sie ab und blieben stehen. Die Stürmerin kam durch und erzielte den Anschlusstreffer.
Lindemann warf wütend seine Fahne gegen einen Geländerpfosten. »Habt ihr sie noch alle?«, schrie er. »Geht doch hin. Warum verfallt ihr plötzlich wieder in eure alten Fehler?« Im Gegensatz zum Trainer hatte Zamorra längst registriert, was los war. »Da«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung Vereinsheim. »Ich glaub's ja nicht«, erwiderte Nicole. Sie verengte unwillkürlich die Augen. Den Spielerinnen aus Hohentengen blieb der Jubel im Halse stecken. Was war plötzlich los? Alle Weitharterinnen hatten das Spielen eingestellt. Das Geschehen auf dem Platz schien sie plötzlich nicht mehr zu interessieren. Die Mädchen in Blau-Gelb starrten zum unteren Tor. »Was ist denn dort?«, fragte Frau Cerny. »Maria«, antwortete Nicole. »Das Mädchen, das da neben dem Tor steht, ist eindeutig Maria Wegener.« »Maria?«, flüsterte Frau Cerny. »Das … kann doch nicht …« Sie musste sich am Geländer festhalten. Nicole stützte sie. »Danke, es … geht schon, danke. Das Amulett, es … es ist plötzlich so heiß.« »Maria!«, schrie Kathrin nun. Es war wie eine Initialzündung. Langsam, vorsichtig, als bewegten sie sich auf unbekanntem Terrain, gingen einige der Weithart-Mädchen auf Maria zu. Und so ähnlich war es ja auch. Ein paar schauderten, zwei hatten Tränen in den Augen. Sara blieb im Tor, auch Isi blieb starr und steif am eigenen Sechzehnmeter stehen. Maria stand da und schaute nur. Düster sah sie aus in ihren dunkelblauen Jeans und dem schwarzen T-Shirt. Ihre schulterlangen schwarzen Haare unterstrichen diesen Eindruck noch, ebenso die dunklen Ringe unter ihren Augen. »Du bleibst bei Frau Cerny«, sagte der Professor zu Nicole. Schon spurtete er los. Mit langen Sätzen hetzte er über den Platz, vorbei an verdattert da stehenden Hohentengener Spielerinnen. Auch Erwin Lindemann hatte inzwischen registriert, was hier passierte. Entsetzt schlug er das Kreuzzeichen und murmelte ein Gebet. »Vater unser, der du bist im Himmel …«
In diesem Moment ertönte ein schriller Schrei. Simone hatte ihn ausgestoßen. Sie zeigte zum Dach des Vereinsheims. Zamorra stoppte unwillkürlich ab. Seine Blicke folgten Simones Fingern. Und sah ihn zum ersten Mal leibhaftig. Den Dämon. Ihren Gegner. Dort oben stand er. Breitbeinig, in Herrscherpose. Gut zwei Meter groß, von oben bis unten mit Muskeln bepackt. Er trug ein orangegelbes Gewand, das nur eine Schulter bedeckte und ihm bis zu den Knöcheln reichte. Der Kerl hielt einen Speer in der Hand. Er richtete die Spitze soeben auf Maria! Die drehte den Kopf, schaute nach oben, schrie laut und duckte sich ab. Dann rannte sie panisch auf den Platz. »Hausakoy!«, brüllte Zamorra. Der Dämon hielt ein. Er wandte den Kopf Zamorra zu, schien zu zögern. Dann verzerrte sich das Gesicht mit der weißen Maske höhnisch. Blitzschnell korrigierte er den Speer. Ein greller weißer Blitz zuckte daraus hervor. Und schlug knapp neben Maria in den Rasen! Jetzt brach das Chaos aus. Die Mädchen rannten schrill kreischend durcheinander. Sie versuchten, nach allen Seiten zu flüchten. Dabei rammten sie sich teilweise gegenseitig über den Haufen. Drei oder vier fielen hin. Zamorra spurtete zu Maria hinüber. Er hoffte, dass Nici reagierte.
Nicole sah den Dämon auf dem Dach stehen. »Merde«, murmelte sie. »Da ist ja unser Freund.« Sie checkte blitzschnell die Situation. Kathrin, Jule, Denise, Soffl und Laura standen alle in der gegnerischen Hälfte, weit genug weg von Frau Cerny. Eine Falle konnte es also nicht sein. Nicole zog den E-Blaster aus der Innentasche ihrer Lederjacke. In der Öffentlichkeit trug sie ihn nicht am Magnethalfter spazieren. Sie hörte Zamorra schreien. Soeben schlug der erste Blitz in den Rasen. Nicole legte den Schalter auf Lasermodus. Ein blassroter, bleistiftdünner Strahl spannte sich zum Dämon hinüber, traf ihn in
die Brust – und ging glatt durch ihn hindurch! Zamorra sah es ebenfalls. Unbeeindruckt schleuderte Hausakoy einen zweiten Blitz nach Maria. Wieder verfehlte er sie. Stattdessen schlug die weiß wabernde Energie knapp vor Soffl in den Boden. Sie schrie und fiel um, rappelte sich aber sofort wieder hoch. »Verdammt«, murmelte Zamorra.
Petra Cerny schaute dem Geschehen aus großen Augen zu. Hätte sie nicht beruhigende und belebende Impulse des Amuletts gespürt, ihr Herz wäre wahrscheinlich vor lauter Aufregung stehen geblieben. Ja, das war er. Der furchtbare Dämon, den sie in ihren Visionen immer deutlicher sah. Ein wahres Monstrum war das. Schrecklich. Und Maria, die dort über den Platz rannte, die es aber eigentlich nicht sein konnte. Maria war tot. Der Beweis dafür war ihr Herz, das jetzt in Petra Cernys Brust schlug. Niemand konnte leben, der kein Herz mehr besaß. Oder war alles ganz anders? Mit einem Mal, als sie vom ersten Blitz geblendet die Augen schloss, fiel ihr wieder ein, was ihr an ihrer letzten Vision so falsch vorgekommen war. Petra Cerny stockte der Atem.
Isabell beobachtete Marias Auftauchen mit starrem Blick. Es war ihr, als schaue das tote Mädchen direkt sie an. Mit einem Ruck drehte sie sich um und ging langsam zur Eckfahne. Sie zog die Fahne aus Leichtmetall aus dem Boden. Dann nahm sie den etwa einen Meter langen Spieß mit der spitz zulaufenden Unterseite und marschierte damit die Linie hinunter. Dicht vor Petra Cerny blieb sie plötzlich stehen. Die fremde Frau drehte ihr den Rücken zu. Sie feuerte soeben mit einer seltsam aussehenden Pistole auf den Dämon auf dem Dach. Die ältere Frau starrte sie an. Isabells Stirn glänzte vor Schweiß. Mit verzerrtem Gesicht hob sie die Fahne hoch, fasste sie mit der einen Hand in der Mitte, mit der anderen am Ende, wo die Fahne
hing – und stieß sie kraftvoll in Richtung von Petra Cernys Bauch.
Petra Cerny sah die Fahne kommen. Sie drehte sich flink zur Seite. Niemand hätte der Frau derart schnelle Bewegungen zugetraut. Die Fahnenstange stach an ihr vorbei. Isabell, durch ihren eigenen Schwung nach vorne geworfen, lief voll in den seitlich ausgestreckten Ellenbogen der Frau. Er knallte gegen ihr Kinn. Das Mädchen verdrehte die Augen und ging lautlos zu Boden. Nicole, die die verdächtigen Geräusche hinter sich im Eifer des Gefechts nicht gleich vernommen hatte, drehte sich um. Fassungslos starrte sie auf die Szene. Isi lag bewusstlos auf dem Rücken. Daneben stand Petra Cerny und rieb sich den Ellenbogen. »Was … ist denn passiert?«, fragte Nicole, die die Wahrheit längst ahnte. »Dem Herrn Professor habe ich es, glaube ich, schon gesagt, dass ich mal Kampfsport gemacht habe.« Frau Cerny brachte sogar ein Lächeln zustande. »Es gibt eben Dinge, die vergisst man nie mehr im Leben. Und wenn man sie noch so lange nicht mehr gemacht hat.« »Wem sagen Sie das«, erwiderte Nicole. Und beugte sich über Isi, die plötzlich blau anlief. Die Französin öffnete ihr den Mund. Isi hatte bei dem Schlag ihre Zunge verschluckt! Beherzt griff Nicole in ihren Rachen und holte die Zunge wieder herauf. Dann atmete sie erleichtert auf. Isi war nach wie vor bewusstlos. Aber sie atmete ruhig und regelmäßig. Kurze Zeit später kam Zamorra zu ihnen herüber. Er ließ sich die Lage kurz schildern. »Maria ist auch weg«, sagte er dann. »Keine Ahnung, wohin. Sie war im ganzen Getümmel plötzlich verschwunden. Was, zum Teufel, war denn das für eine Aktion?« Kurze Zeit später fuhren die ersten, von Leo Kugel alarmierten Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene auf den Platz. Zwei Polizeiautos folgten auf dem Fuße. Sanitäter und Beamte mussten sich um weinende, völlig verstörte Mädchen kümmern. Im Abschlussbericht der Polizei hieß es später, dass alle
Anwesenden einer rätselhaften Massenhalluzination erlegen seien. Höchstwahrscheinlich ausgelöst durch einen zu hohen Ozongehalt in der Luft. Als Zamorra das hörte, musste er grinsen. »Sehr originell«, kommentierte er, war aber froh, dass man sich auf eine einigermaßen logisch klingende Hypothese geeinigt hatte. Dass sie einer näheren Untersuchung nicht standgehalten hätte, interessierte keinen. Bis auf schwere Schockzustände bei einigen Mädchen und einem geprellten Kiefer bei Isi war ja nichts weiter passiert.
16. Eimühle Rosna / Pfullendorf, Baden-Württemberg, September 2007 »Als da der Blitz kam, ist mir … nun ja, ganz plötzlich wieder eingefallen, was mir an meiner letzten Vision so komisch vorgekommen ist.« Petra Cerny saß in ihrem Sessel und schlürfte eine Tasse Tee. Obwohl es spät und sie müde war, konnte sie nicht einschlafen. Die Aufregung hinderte sie daran. »Was war es denn?« »Nun, Frau Duval, ich habe ja durch Marias Augen die fünf Mädchen gesehen, die zu … zu dieser Beschwörung in den Keller gegangen sind. Wie Sie mir erzählt haben, hat diese nun … wie hieß sie nochmals?« »Kathrin?« »Ach ja, richtig, Kathrin. Diese Kathrin hatte Ihnen erzählt, dass sie mit fünf bestimmten Mädchen dort war, deren Namen ich mir alle nicht behalten habe, nur den von Denise.« »Denise, ja, Julia, Soffl und Laura.« »Ja, das wird sie wohl gesagt haben. Aber dann habe ich bemerkt, dass das nicht stimmt. Wissen Sie, Frau Duval, den Namen von zwei, drei Mädchen habe ich mir immerhin behalten. Auch den von Isabell, weil ich den so hübsch finde und sie so ein nettes Mädchen ist. Na ja, in meiner Vision habe ich gesehen, dass Isabell dabei war. Kathrin hatte aber fünf andere Namen erwähnt. Das ist mir leider nicht sofort bewusst geworden. Als ich dann Isabell mit dieser schrecklichen Eckfahne auf mich zu kommen sah, hab ich schon geahnt, dass ich jetzt aufpassen muss.« »Nicht nur. Sie haben die Situation gleichzeitig glänzend gelöst. Allen Respekt, Frau Cerny. Ich hätte mir ein Leben lang Vorwürfe
gemacht, wenn Isabell sie mit der Stange erwischt hätte. Und Sie ahnen ja nicht, was ein Leben lang bei mir bedeutet.«
Zamorra fuhr Isabell nach Hause nach Bachhaupten, nachdem sie von den Sanitätern verarztet worden war. Da niemand außer Nicole und Frau Cerny den Vorfall mitbekommen hatten, wurde er auch nicht protokolliert. Isi saß auf dem Beifahrersitz und schluchzte die ganze Zeit vor sich hin. »Ich weiß, es ist schwer«, sagte Zamorra einfühlsam. »Aber es ist vorbei. Der Dämon ist weg.« Er legte ihr ein Amulett auf den Schoß. »Und wenn du das ab jetzt um den Hals trägst, wird er dir nie wieder was tun können. Es wehrt ihn ab. Denn es besitzt sehr starke Kräfte.« Isi unterbrach ihr Schluchzen. Sie starrte den Professor an. Dann nahm sie zögernd das Amulett und hängte es sich um. »Verstehen Sie was von diesen … diesen Dingen?«, fragte sie leise. »Ja, sehr viel sogar. Ich jage dieses schwarzblütige Gezücht, wo immer ich es finde, weißt du. Und jetzt werde ich alles daran setzen, diesen Dämon, der hier sein Unwesen treibt, unschädlich zu machen. Wie hat er es geschafft, dich zu beeinflussen?« Isabell senkte den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Gestern Nacht, als ich in meinem Bett lag, da … stand plötzlich Maria in meinem Zimmer …« »Maria?« Der Professor schaute sie verblüfft an. »Das ist ja ein Ding.« »Ja. Ich hatte so furchtbare Angst vor ihr. Aber sie sagte, sie sei in Wirklichkeit gar nicht tot. Sie hätte ihren Tod nur vorgetäuscht, um diesem furchtbaren Dämon zu entkommen. Er solle glauben, dass sie tot sei, dann würde er sie in Ruhe lassen.« »Hm. Und weiter?« »Sie sagte, dass der Dämon manchmal in menschlicher Gestalt auftrete. Auch Frau Cerny sei eine dieser menschlichen Gestalten. Kein richtiger Mensch, wissen Sie, nur eben so eine Gestalt. Und ich könnte ihr sehr helfen, wenn ich Frau Cerny töten würde. Damit
würde ich ein gutes Werk tun und die Welt von etwas sehr Bösem befreien.« »Aber das glaubst du nun nicht mehr?« »Nein, Herr Zamorra. Seit Sie mir diese Silberscheibe an die Stirn gehalten haben, weiß ich plötzlich, dass … dass ich beinahe einen schweren Fehler gemacht und einen Menschen umgebracht hätte. O Gott …« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte erneut. Dann schüttelte ein Weinkrampf ihren Körper. Zamorra strich ihr beruhigend übers Haar. »Schon gut, Isi. Ist ja gerade noch mal gut gegangen. Wein dich ruhig aus. Danach ist dir garantiert leichter.« Zamorra wartete einen Moment. »Warum hat sich der Dämon ausgerechnet dich ausgesucht, Isi? Du warst auch bei der Seance in der alten Mühle dabei, stimmt's?« Das Mädchen sah ihn aus tränenverschleierten Augen an. »Sie wissen von dieser Beschwörung, Herr Zamorra?« »Wie du siehst. Du warst also dabei. Was ist denn damals tatsächlich passiert?« »Ich erzähle es Ihnen, Herr Zamorra. Aber das geht nicht so schnell.« »Kein Problem. Ich fahre irgendwo auf einen Parkplatz.« Zwei Minuten später hatte er einen Waldweg gefunden, in den er ein Stück hinein fuhr. Und Isabell begann zu erzählen.
»Das ist stinklangweilig hier.« Maria ließ ihre Blicke durch den halb vollen Gemeindesaal schweifen. Auf der Tanzfläche vergnügten sich einige Pärchen und Singles beim Tanzen. Ein paar Betrunkene gifteten sich über die Tische weg lautstark an. Statt der Charts spielte der DJ Songs, bei denen schon die Saurier gegähnt hatten. Zugegeben, Maria hatte das vorher gewusst. Wenn ein regionaler Radiosender eine Oldie-Night veranstaltete, konnte kein Schwein aktuelle Hits erwarten. Sie war vielmehr hierher gekommen, weil sie eine ganz bestimmte Gruppe von Jungs erwartet hatte. Die hatten es aber vorgezogen, zu einer privaten Fete zu gehen.
»Ja, du hast Recht. Absolut stinklangweilig, der Laden«, sagte Denise und starrte trübe in ihr Cola. Auch sie wäre über die Anwesenheit der Jungs mehr als froh gewesen. Vor allem über die eines ganz bestimmten. »Echt tote Hose«, sagte auch Soffl. »Wenn ich die Musik bloß hör, könnte ich schon reihern.« Kathrin, Jule und Isi nickten. »In diesem scheiß Kaff passiert doch nie was Richtiges«, stellte Kathrin fest. »Ich fänd's geil, wenn hier mal so richtig was Spannendes abginge. Ich mein, so neben dem Fußball her.« Maria nickte. »Ja, klar. Wir könnten da schon was Spannendes losmachen, wenn ihr Lust habt. Ich hätte da was Megageiles zu bieten.« »Was denn, so viel gleich?« Soffl beugte sich ein Stück zu ihr hinüber. Auch das Interesse der Anderen war geweckt. Maria verzog das Gesicht. »Dieses Gesülze geht mir so was von auf die Eier. Kommt, wir gehen raus, da kann man besser quatschen.« Die Mädchen verließen die Halle. Draußen empfing sie eine kühle, sternenklare Nacht. »Wenn ihr wollt, dann können wir noch ein bisschen zu mir«, bot Maria ihren Freundinnen an. »Meine Mam ist übers Wochenende zu ihrer Verwandtschaft nach Traunstein gefahren. Ich hab sturmfreie Bude.« Der Vorschlag wurde mit allgemeinem Gejohle angenommen. Eine halbe Stunde später saßen sie bei Maria im Zimmer. »Topp, so eine sturmfreie Bude«, sagte Denise. »Umso besser wär's gewesen, wenn die Jungs auch gekommen wären.« Die Anderen lachten. Sie tranken süßen Likör. »Meine Mam würde ausrasten, wenn sie das wüsste«, kicherte Maria. »Ich musste ihr versprechen, schön brav zu sein und nichts zu tun, was ich später mal bereuen würde.« Das Gelächter schwoll um ein paar Dezibel an. Es vermischte sich mit den momentan angesagtesten Rapsongs. »Was ist denn nun mit deinem megageilen Event«, fragte Jule nach. »Ich bin schon gespannt wie ein Hosengummi.«
»Ja, also«, begann Maria und schenkte sich erst mal Likör nach. »Trinkt, Mädels, es gibt noch mehr davon im Keller. Und zwar so viele Flaschen, dass es meine Mam nicht rafft, wenn eine oder zwei fehlen.« Maria legte sich bäuchlings aufs Bett, die Anderen saßen um sie herum. »Wisst ihr, Rebecca hat mir erzählt, dass es in der alten Eimühle spukt. Dort soll ein Geist umgehen. Und der wohnt in einer uralten Maske, die irgendwo in geheimen Kellergewölben liegt.« »Ist nicht wahr.« Kathrin gruselte sich sichtlich. »Wo bitte soll's in der Eimühle geheime Kellergewölbe geben? Und einen Geist gibt's da garantiert auch nicht«, behauptete sie vehement. »Wir waren doch alle schon drin. Und? Ist einer von euch je ein Geist begegnet, Mädels?« Alle verneinten unter großem Gelächter. »Ihr hört mir nicht zu. Ich hab gesagt, dass der Geist in den geheimen Kellergewölben umgeht. Und da war wohl noch keine von uns, oder?« »Hast du nicht gesagt«, konterte Soffl. »Du hast nur gesagt, dass er in einer Maske wohnt, die in den Kellergewölben liegt. Da kann er ja trotzdem auch woanders umgehen.« »Klugscheißer«, gab Maria zurück. Sie konnte es nicht leiden, wenn man ihr widersprach. Soffl schwieg eingeschüchtert. Aber Kathrin und Jule standen ihr bei. »Ist doch völlig egal, Mädels, was ich genau gesagt hab, oder? Auf jeden Fall bin ich dafür, dass wir in die Kellergewölbe gehen und den Geist beschwören.« Die Mädchen schauten sich verunsichert an. »Ich weiß nicht so recht …«, murmelte Isi. »Geisterbeschwörung, so was hab ich ja noch nie gemacht.« »Eben. Wahrscheinlich keine von uns. Und deshalb könnte die Sache ja so spannend werden. Ich bin sicher, dass das jede Gruselgeschichte in den Schatten stellt. Ich weiß doch, wie gerne ihr euch gruselt. Also?« »Wir wissen ja nicht mal, wo die geheimen Kellergewölbe sind«, sagte Kathrin. »Wie sollen wir dann da rein kommen?«
Maria grinste sie an. »Rebecca hat mir gesagt, wie man da rein kommt.« »Ach. Und woher weiß die das so genau?« Isi sah Maria triumphierend an. »Hm. Da ihr ja mit Rebecca nichts am Hut habt, kann ich es euch ja sagen. Sie hat momentan was am Laufen. Mit irgend so 'nem Typen, dessen Familie früher mal die Eimühle gehört hat.« »Ach. Und wer soll das sein, bitte?« »Keine Ahnung, Jule. Da hält sie dicht bis in den Tod. Nicht mal mir sagt sie's.« »Wahrscheinlich, weil der Kerl alt und hässlich ist wie Hölle.« Soffls Feststellung löste die nächste Lachsalve samt kurzer Diskussion, wie genau der Kerl denn aussehen könnte, aus. »Auf jeden Fall hat ihr der Typ alles genau erklärt, ich meine, wie man in die geheimen Gewölbe reinkommt und so.« »Warum gehst du dann nicht mit Rebecca zum Geisterbeschwören? Die sagt doch immer, dass sie 'ne Hexe oder so was ist und mit dem Übersinnlichen rumhantiert.« »Rebecca hat Angst, gerade weil sie 'ne Hexe ist. Super Fußballerin, aber wenn's um solche Dinge geht, absolut nicht zu gebrauchen. Nein, Mädels, da seid ihr anders, nicht wahr? Nicht so feige wie die aus Denkingen.« »Aber heo«, sagte Kathrin. Die Mädchen beschlossen, sich allesamt auf dieses Abenteuer einzulassen. Und zwar gleich am nächsten Samstagabend. Nicht zu spät, damit sie wieder rechtzeitig zu Hause waren, um unangenehme Nachfragen zu vermeiden. Die Woche über besorgten sie alle nötigen Sachen. Und dann ging's los – unter dem Vorwand, noch eine gemeinsame Fahrradtour zu machen. Mit klopfendem Herzen betraten sie die Mühle. Vor allem Soffl brach bei jedem kleinsten Geräusch der Schweiß aus. Absichtlich laut redend, um die drückende Stille zu beseitigen, gingen sie durch den Raum. »Ich hoffe, dass es diese Gewölbe gar nicht gibt«, flüsterte Soffl Kathrin ins Ohr. »Mir klappern jetzt schon die Zähne. Irgendwie ist es total unheimlich hier.«
»Ach was. Red dir nichts ein. Das ist doch bloß ein Spaß. Hast du das immer noch nicht gerafft? Hier gibt's garantiert keinen Geist. Wir machen ein bisschen Beschwörung und ein bisschen Fete und dann hauen wir wieder ab. So läuft's. Du wirst schon sehen.« Das besagte Bodenbrett ließ sich tatsächlich abnehmen. Soffl schluckte schwer und weigerte sich zuerst, in den dunklen Schlund hinunter zu steigen, beugte sich dann aber dem Gruppendruck. »Hoffentlich gibt's da unten keine Ratten und Spinnen«, sagte sie leise. Nachdem sie durch drei Räume gegangen waren, rissen die Taschenlampenkegel im vierten Tisch und Stühle aus der Finsternis. »Ideal. Hier bleiben wir«, sagte Maria. »Die Maske können wir später noch suchen.« Da sie das Kommando hatte, widersprach keine. Denise zündete die Kerze in der großen Sturmlampe an, die sie problemlos aufgetrieben hatte, da ihr Vater mit Antiquitäten handelte. Sie tauchte den Raum in geheimnisvoll flackerndes Licht. Immer wieder erschraken sich die Mädchen an den eigenen Schatten, die verzerrt an den Wänden auftauchten. Sie richteten alles für die Beschwörung her. Maria stellte das Hexenbrett in die Mitte des Drudenfußes, dessen Eckpunkte brennende Kerzen markierten. Sie wollte den Zeiger führen. Doch zuerst mussten sie den Geist rufen. Dazu fassten sie sich an den Händen und legten sie auf den Tisch. Dann konzentrierten sie sich auf das Hexenbrett. Energie floss und potenzierte sich in dem geschlossenen Kreis. Geheimnisvolle Kräfte wurden frei. »Hausakoy, Geist des Blitzes, ich rufe dich«, begann Maria mit beschwörender Stimme. »Komm in unsere Mitte. Und mach, dass unsere Fußballmannschaft ab jetzt unbesiegbar ist. Als Opfer kannst du dir gerne unsere Ersatzspielerinnen holen. Die sind sowieso stinkfaul und leiden kann ich sie auch nicht.« Isi hob den Kopf. Sie unterbrach den Kreis. »Sag mal, spinnst du? Was ist denn das für ein Scheiß?« »Ist doch bloß Spaß«, erwiderte Maria. »Glaubst du etwa, ich mein das im Ernst?«
»Und woher weißt du überhaupt den Namen von dem Geist?«, hakte Soffl nach. »Den hat mir Rebecca verraten. Die weiß es wiederum von dem Typ. Und der hat's von seinen Vorfahren, die haben den Namen von dem Geist alle gewusst.« »Ach so.« Mit einem Schlag wurde es eiskalt im Raum. Obwohl kein Lüftchen wehte, flackerten die Kerzen so stark, dass die Flammen fast waagrecht standen. Gänsehaut bildete sich auf den Körpern der Mädchen. Mit offenen Mündern und großen Augen starrten sie auf den gespenstischen Vorgang. »Mama, ich will hier raus«, sagte Soffl mit bebender Stimme. »Der … der Geist kommt«, schrie Jule. In diesem Moment ging plötzlich die Tür auf. Mit großer Wucht knallte sie an die Wand dahinter. Schlug sofort wieder zu, ging erneut auf. Die Mädchen brüllten vor Grauen und Angst. Als das Schlagen der Tür nachließ, rannten sie ohne Rücksicht auf Verluste nach draußen. Jede wollte als Erste weg sein. Maria, die sich die Sturmlampe geschnappt hatte, rannte voraus, Denise mit der Taschenlampe hintendrein. So fanden auch die Anderen den Weg. Sie traten wie die Wilden in die Pedale. Als sei der Teufel hinter ihnen her.
»So war das also«, murmelte der Professor. »Jetzt sehe ich klarer. Und was ist dann passiert?« Isi schüttelte den Kopf. Und stöhnte sogleich. Schmerzwellen rasten durch ihr malträtiertes Kinn. »Ich weiß nicht, Herr Zamorra. Wir haben nie wieder über diese Dummheit gesprochen und gehofft, dass sie ohne Folgen bleibt. Aber kurz darauf ist dann Maria gestorben.« »Waren Klara und Lea eigentlich Ersatzspielerinnen?« »Ja. Aber … aber Sie glauben doch nicht, dass sie … dass Marias Worte wahr geworden sind. Das war doch nur Spaß.« Zamorra beschloss, momentan nichts weiter zu dem Thema zu
sagen. Er setzte das Mädchen ab und fuhr nach Pfullendorf zurück. Nachdem er sich mit Nicole und Frau Cerny ausgetauscht hatte, meinte er: »Ich sehe jetzt um einiges klarer. Hausakoys Geist ist höchstwahrscheinlich mit einer Maske verbunden. Ich bin mir sicher, dass es diese Maske war, die in der leeren Kiste mit den Bannzeichen lag. Der Dämon war also gebannt. Ich bin mir ebenfalls sicher, dass die Beschwörung ihn nicht nur befreit hat, sondern dass gleichzeitig ein magischer Pakt zustande gekommen ist. Die Ereignisse sprechen für sich.« »Ja«, ergänzte Nicole. »Jetzt wissen wir, warum die WeithartMädchen plötzlich so gut geworden sind. Dank dämonischer Hilfe. Und im Gegenzug holt sich Hausakoy nach und nach die Ersatzspielerinnen. Zwei sind es bereits. Wie viele gibt es denn bei den Weitharterinnen überhaupt?« »Ich denke, so sieben, acht mindestens.« »Ja, könnte hin kommen.« Nicole zögerte. »Das heißt dann aber auch, dass Hausakoy so lange hier in der Gegend bleiben muss, bis er sich alle Ersatzspielerinnen geholt hat. Jeder magische Pakt verlangt, dass alles, was in seinem Namen besiegelt wurde, auch erfüllt wird. Sonst können sich die Kräfte, die im Pakt wirken, nur allzu leicht gegen den Paktbrecher wenden.« »Genau. Ich habe mich sowieso schon gefragt, warum Hausakoy nicht einfach abhaut, da er Merlins Stern hoffnungslos unterlegen ist.« »Weil er nicht kann, wie wir jetzt wissen. Stattdessen muss er schauen, dass wir nicht allzu viel über ihn in Erfahrung bringen. Und da ist Frau Cerny mit Marias Herz seine absolute Achillesferse.« Nicole nickte sinnend vor sich hin. »Wenn ich's richtig sehe, hat der Mistkerl erneut ein riesengroßes Täuschungsmanöver aufgezogen, um doch noch an Frau Cerny ranzukommen. Magisch ging es nicht mehr, nachdem Merlins Stern sie beschützte. Also hat er die Mädchen beeinflusst, die damals an der Seance teilgenommen haben. Wahrscheinlich ist die geistige Verbindung, die damals entstanden ist, nie abgerissen. So hat er sie ohne Probleme gefunden.
Aber Hausakoy wusste genau, dass wir wie die Schießhunde auf Frau Cerny aufpassen. So hat er uns einige potentielle Täter präsentiert, um den wahren zu verschleiern.« »Ja natürlich«, spann der Professor den Faden weiter. »Ich weiß, was du meinst. Er manipulierte das Gedächtnis der Mädchen so, dass sie glaubten, Laura hätte an der Seance teilgenommen. Dann schickte er Kathrin zu uns, um die Haare stehlen zu lassen. Er hoffte, dass wir dieses Manöver durchschauen und Kathrin befragen würden. Was wir ja auch taten.« »So wird meine gedankliche Leistung im Nachhinein zur Lachnummer«, murmelte Nicole. »Ich war's also, die dem Dämon auf den Leim gegangen ist. Sei's drum. So haben wir auf jeden Fall erfahren, dass auch Laura an der Seance teilgenommen hat und dass der Dämon plant, Frau Cerny durch die Mädchen ermorden zu lassen.« »Ja. Damit war unsere Aufmerksamkeit vollkommen von Isabell genommen. Während des Spiels veranstaltete der Dämon ein Ablenkungsmanöver. Er tauchte als Maria auf, deren Gestalt er annehmen kann. Warum das so ist, müssen wir noch klären. Auf jeden Fall war Maria der Dämon. Er ließ auf dem Hausdach ein Trugbild seines wahren Aussehens entstehen und zum Schein Maria angreifen. Auch die magischen Blitze waren in diesem Fall nur Trugbilder. Alles konzentrierte sich auf diese Ereignisse und unsere potentiellen Mörderinnen waren weit genug von Frau Cerny weg. Da konnte Isabell in aller Ruhe ihren Auftrag ausführen.« »Und was machen wir nun?« »Der Kerl glaubt, dass er uns hereinlegen kann. Aber so schlau wie der sind wir schon lange.«
Endlich im Bett hatte Petra Cerny die letzte und stärkste Vision. Sie warf sich stöhnend in den Kissen hin und her. Dabei begriff sie zuerst nicht, dass sie längst Maria war. Sie träumte schwer. Marias Träume. Der Dämon schickte sie. Seit Maria ihn bei seinem Namen beschworen hatte, gehörte sie ihm.
Hausakoy würde Maria nicht mehr los lassen. Längst war sie mit ihm eines Geistes, nahm seine Gedanken und Empfindungen wahr, so, wie er auch die ihren kannte. Sie musste ihm gehorchen, denn er war weitaus stärker. Dschungel war um sie. Endlich, nach vielen tausend Jahren, kam ein Mann namens Murtala und befreite ihn aus der Gefangenschaft dieses grässlichen Baumes. Dabei machte der unglückliche Zauberlehrling katastrophale Fehler. Er sperrte seinen Geist dadurch selbst zu Hausakoy in die Maske. Eine riesige Lehmstadt. Krieg zwischen Königreichen. Prachtvoll geschmückte, schwarze Krieger. Tod, Verderben. Der Dämon hielt grausige Ernte. Verlorene Seelen brüllten, brachten ihm Vergnügen und Kraft zugleich. Der Geist Murtalas war ebenso in der Maske gefangen wie der des Dämons und untrennbar mit dem Stück Holz verbunden. Wollte sich Hausakoy in dieser Welt bewegen, brauchte er künftig einen Körper, der die Maske trug. Murtalas Körper. Nicht lange. Mächtige Schamanen töteten Murtalas Körper und nahmen ihm die Maske ab. Sie wussten genau, dass er sie unsichtbar trug, dass sie in seinen Kopf gerutscht war. Wieder Fehler des Zauberlehrlings. Nun besaßen sie die Maske, kontrollierten den Dämon, nutzten seine schwarze Kraft. Über die Jahrhunderte hinweg diente er vielen Schamanen oder machte sie umgekehrt zu seinen Sklaven. Zwei Mal bekam er einen neuen Körper, indem jemand so unvorsichtig war, die Maske aufzusetzen. Sofort sank sie in den Kopf ein. Schließlich landet die Maske in der Eimühle in Rosna. Beschwörung bei seinem Namen, ein Pakt wird angeboten und gleichzeitig gültig, da er ihn annimmt. Das Mädchen Maria ist nun durch das Unsichtbare Band mit ihm verbunden. Er kommt in ihre Träume und zwingt sie, die Maske aufzusetzen. Sie setzt ihm vehementen Widerstand entgegen, wehrt sich bis zuletzt. Aber er ist stärker. Marias Hände zittern, als sie sich die Maske aufs Gesicht legt. Sofort verschmilzt sie mit ihrem Kopf, die Gedankenwelt des Dämons ist nun endgültig auch ihre. Der Schock über das Eindringen des Dybbuks ist so groß, dass Maria zu sterben droht. Sie sieht den Dämon vor sich, der Murtalas Gestalt, seine erste, über
all die Jahrhunderte weg behalten hat. Zeigt er sich jemandem, sieht er aus wie der junge Bororo: groß, muskulös, kahler Kopf, die weiße Maske der Bororo-Schamanen im Gesicht. Wieder wehrt sich Maria verzweifelt. Sie fürchtet sich fast zu Tode vor dem grausamen Dämon. Der beschließt ein Ende zu machen und ringt Maria mit aller Macht nieder. Die endgültige Übernahme erlebt sie als grellen Blitz, denn das ist die Struktur seiner Magie. Marias Widerstand ist noch immer nicht gebrochen. Und der Dämon hat wider Erwarten große Probleme, sie zu kontrollieren. Er hat seit mehr als einhundert Jahren keine Übung mehr darin gehabt. Die gegeneinander ringenden Kräfte haben unerwünschte Auswirkungen. Es kommt zur unkontrollierten Entmaterialisation. Marias Körper taucht direkt vor den Reifen eines fahrenden Autos wieder auf. Sie wird erfasst und ist sofort tot. Hausakoy kann sie nicht mehr retten. Ihr Geist, noch kein fester Bestandteil der Maske, kann in die Ewigkeit entfliehen. Doch es stört Hausakoy nicht weiter. Er kann auch den toten Körper beseelen und benutzen. Dass ihm das Herz herausgenommen wird, stört ihn ebenfalls nicht. Drei Tage nach der Beerdigung wühlt sich der Dämon aus der feuchten Erde. Die Spuren auf dem Friedhof verwischt er. Pech für Maria, dass ausgerechnet sie die Leistungsexplosion ihrer Mannschaft nun nicht mehr miterleben kann. Der Dämon beginnt, sich die Ersatzspielerinnen zu holen. Der ersten namens Lea zeigt er sich als Maria, da er ohnehin ihren Körper besitzt, bevor er sie tötet. Klara hingegen bekommt Murtalas Gestalt zu sehen. Dem Dämon gelingt es nicht nur, beide Gestalten beliebig anzunehmen, er kann auch sämtliche denkbaren Variationen zwischen beiden darstellen und so sein Aussehen beliebig verändern. Mann, Frau, völlig egal. Als dritte Ersatzspielerin will er sich Simone holen. Er zeigt sich ihr wieder als Maria, weil er sich an der Angst und der Unsicherheit seiner Opfer ergötzen will, bevor er sie frisst. Aber dann taucht die fremde Entität auf und mit ihr Marias verloren geglaubtes Herz …
»Äußerst seltsam«, sagte Zamorra am nächsten Morgen, nachdem er alles erfahren hatte. »Obwohl Maria längst tot ist, weiß ihr Herz Dinge, die weit über ihren Tod hinaus reichen. Das heißt, dass es tatsächlich noch immer mit dem Körper verbunden sein muss. Wahrscheinlich hat Hausakoy dafür gesorgt, dass ihr Körper trotz Tod nicht vollständig abgestorben ist. So blieben Teile des Zellgedächtnisses erhalten, die sich nun mit dem des Herzens austauschen. So gesehen ist Maria gar nicht tot.« »Vielleicht können wir diesen Umstand ja nutzen, um den Dämon dranzukriegen. Ich hätte da eine Idee. Das geht allerdings nur, wenn Sie mitmachen, Frau Cerny.« »Was, ich?« »Ja. Es könnte ein bisschen stressig werden. Aber gefährlich ist es nicht.«
Sie fuhren zur alten Mühle hinüber. Nicole und Frau Cerny warteten oben, während Zamorra in den Raum mit der Kiste hinab stieg. Dort befahl er seinem Dhyarra-Kristall achter Ordnung, die Struktur der bannenden Zeichen auf der Kiste zu ergründen und zu speichern. Der blaue Sternenstein, der seine Energien aus der Tiefe des Alls bezog, leuchtete kurz auf. Zamorra nickte zufrieden. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Dann ging der Professor wieder nach oben. Auf einem freien Platz des Mühlenbodens zeichnete er mit magischer Kreide aus seinem Einsatzkoffer sorgfältig einen dreifachen, ineinander liegenden Beschwörungskreis. Um das breite Zentrum zog sich ein noch breiterer zweiter Kreis. Zamorra befahl dem Dhyarra, das gespeicherte magische Muster in den zweiten Kreis zu kopieren. Das war gar nicht so einfach, da der Sternenstein nicht auf abstrakte Befehle, sondern nur auf gedankliche Bilder reagierte. Dhyarras konnten also nur von denjenigen genutzt werden, die eine besonders lebhafte bildliche Vorstellungskraft besaßen. Das schränkte den Kreis der ohnehin nur wenigen Geeigneten noch
weiter ein. Zamorra schaffte es. Wieder leuchtete der Dhyarra kurz auf. Wie von Geisterhand erschien das Zeichengeflecht in der originalen Anordnung im Kreis. Nicole nickte zufrieden. »Na, geht doch. Merlins Stern kann uns mal kreuzweise. Wenn er nicht will, dann helfen wir uns eben anders. Wir sind doch nicht auf das alte Blechding angewiesen.« »Wenn er das gehört hat, wird er schwer beleidigt sein«, erwiderte Zamorra grinsend. Sie wussten inzwischen, warum Merlins Stern den Dämon nicht mit voller Konsequenz angriff. Er nahm tatsächlich Rücksicht auf das nichtdämonische Bewusstsein Murtalas. Es war in der Vergangenheit schon häufiger vorgekommen, dass das Amulett aus der Kraft einer entarteten Sonne Unschuldige schützte, so gut es eben ging. Wobei man über die Schuldfrage von Murtala zumindest diskutieren konnte, wie Nicole fand. Nun musste Petra Cerny in den äußeren Kreis sitzen. Sie durfte es sich auf einem bequemen Stuhl, den Zamorra ebenfalls aus den Gewölben mitgebracht hatte. »Also, Frau Cerny, ich erklär's Ihnen jetzt im Detail«, sagte Nicole. »Dämonen sind über ihr Sigill zu beschwören, mit dem sie untrennbar verbunden sind. Wenn jemand ihr Sigill hat, müssen sie der Beschwörung folgen, ob sie wollen oder nicht. Wir haben nun zwar kein Sigill. Aber wir haben Marias Herz, das über unsichtbare Bande noch immer genauso untrennbar mit ihrem Körper verbunden ist. Und da in diesem Körper ein Dämon haust, unterliegt er ebenfalls magischen Zwängen. Der Körper, meine ich. Wenn ich nicht völlig daneben liege, müssten wir über Marias Herz, das sich ja jetzt im Beschwörungskreis befindet, den Körper beschwören können. Ihnen kann absolut nichts passieren, Frau Cerny. Bleiben Sie ruhig und haben Sie Vertrauen. Der zweite Kreis schützt sie vor dem Dämon. Also los.« Der Meister des Übersinnlichen sprach die Beschwörungsformeln. Er war hoch konzentriert. Nur ein kleiner Fehler und die ganze Beschwörung konnte sich gegen den Magier selbst richten. Zamorras seltsam anzuhörender Singsang wirkte. Im Zentrum des
Kreises begann es zu flimmern. Leichtes Gelb verwandelte sich in dunkles Rot und schließlich in tiefes Schwarz. Irgendwo weit hinten entstand ein Punkt, der schnell größer wurde. Hausakoys Gestalt erschien. Der Dämon wehrte sich verzweifelt gegen den Zwang. Sein Gesicht änderte sich dabei ständig. Es zeigte die Millionen Variationen zwischen Marias und Murtalas Zügen, die es annehmen konnte. Hausakoy hatte keine Chance. Mit einem wilden Schrei fiel er in den Zentrumskreis. Blitzschnell sprang er auf. Mit einem Satz sprang er Petra Cerny an. Die zuckte erschreckt zurück. Doch Hausakoy prallte an einer unsichtbaren Wand ab. Gleichzeitig schwirrten Millionen von Fliegen in die Mühle. Mochte der Teufel wissen, wo die plötzlich her kamen. Sie stürzten sich auf den magischen Kreis, wollten zu ihrem Herrn und Meister. Aber sie kamen nicht durch. Eine unsichtbare Barriere hielt sie ab. Zamorra und Nicole versuchten, sich die Biester vom Leib zu halten. Sie fuchtelten und schlugen wie wild um sich, wischten die Fliegen vom Gesicht oder zerquetschten sie an der Wange. Schließlich mussten sie ein Stück zurück weichen, sonst hätten sie die Insekten glatt erstickt. Das Summen war zudem schier unerträglich. Da Merlins Stern nicht reagieren würde, nahm Zamorra erneut den Dhyarra zu Hilfe. Er befahl dem Sternenstein, ausschließlich Hausakoys Bewusstsein zu töten und das von Murtala leben zu lassen. Der Dhyarra leuchtete so grell auf, dass der blaue Schimmer die komplette Mühle durchdrang. Leo Kugel, der gerade zufälligerweise an der Mühle vorbei fuhr, sah sie von außen in dem gespenstischen blauen Licht leuchten. Vor Schreck wäre er beinahe an einen Baum gefahren. Seit dieser Zeit glaubte er an Ufos. Das blaue Leuchten konzentrierte sich im Körper des Dämons. Der brüllte wie verrückt und drehte sich immer schneller im Kreis. Dabei wurde die Maske langsam aber sicher aus dem Kopf herausgeschleudert. Im röntgenartigen blauen Licht war sie bereits
zu sehen, als sie sich noch weit unterhalb der Gesichtsoberfläche befand. Immer weiter stieg sie nach oben, legte sich schließlich über das Gesicht. Mit einem Schlag erlosch das Leuchten. Der Körper brach zusammen. Die Maske kullerte ein Stück über den Boden. Darunter kam das friedlich lächelnde Gesicht Murtalas hervor. Der Glatzkopf mit der weißen Gesichtsmaske hatte nun nichts mehr Dämonisches an sich. Die Fliegen begannen wieder abzuziehen. Viele schwirrten wild und orientierungslos herum. Andere bildeten einen geschlossenen Pulk, der zur Decke strebte. »Merde!«, schrie Zamorra. In diesem Moment reagierte Merlins Stern. Silberne Angriffsblitze fuhren in das Fliegengeschwader und vernichteten es vollständig. Ein grässlicher, mentaler Schrei ertönte, als der Dämon starb. »Ab in den ORONTHOS«, sagte Zamorra. »Welcher Tod könnte schöner sein für einen, der sein Leben lang Blitze geschleudert hat?« Dann hob er Merlins Stern vor sein Gesicht. »He, Blechscheibe, man kann sich ja doch noch auf dich verlassen. Danke, dass du reagiert hast.« »Auf dich kann man sich hingegen weniger verlassen«, behauptete Nicole, die gerade Frau Cerny aus dem magischen Kreis half. »Wenn mich nicht alles täuscht, hast du nicht Hausakoys, sondern Murtalas Geist vernichtet. Und der Dämon wäre uns fast noch entkommen.« »Tut mir ehrlich Leid für den Jungen«, sagte Zamorra. »Aber er hat wahrscheinlich ohnehin nach Erlösung gegiert. Der Einsatz der Dhyarras wird immer eine Art Glücksspiel bleiben.«
Zamorra und Nicole waren schon wieder einige Wochen zurück auf Château Montagne. Der Professor saß gerade vor dem Computer in seinem Arbeitszimmer im Nordturm. »Ah, wenn ich schon dabei bin, schaue ich doch mal, wie die Weithart-Mädchen in den letzten Wochen gespielt haben.« Er rief die Internetadresse www.fussball.de auf und klickte sich über den Ergebnisdienst zu
der entsprechenden Staffel durch. »Aua«, sagte er gleich darauf. »Hast du Zahnweh, Chéri?« Nicole betrat soeben das Arbeitszimmer. »Wie man's nimmt, Nici. Die großen Glanzzeiten der WeithartMädchen sind vorbei. Eindeutig. Willst du die Ergebnisse der letzten Wochen hören?« »Du würdest sie mir ohnehin sagen.« »Null zu zwölf, eins zu vier, null zu acht, drei zu drei. Ich hoffe bloß, dass die uns nicht persönlich für diesen, äh, Leistungseinbruch verantwortlich machen. Das täte mir Leid. Das waren durch die Bank alles nette Mädels.« »Und was ist mit mir?«, fragte Nicole empört. »Zu alt.« Zamorra grinste unverschämt. »Was soll ich mit einer fast Sechzigjährigen anfangen? Ich bin gerade im dritten Frühling und steh eher auf junges Gemüse.« »Zu wenig Erfahrung. Komm, ich zeig dir mal, was ältere Ladies so alles können.« Sie setzte sich auf seinen Schoß und begann, sein Hemd aufzuknöpfen … ENDE
Vorschau Desaster von Volker Krämer, Christian Schwarz und Christian Montillon Zamorra steht vor den Trümmern seiner Existenz! Die Hölle holt zum endgültigen Schlag aus: Das Château Montagne geht in Flammen auf, das Zamorra-Team zerfällt … und dann verliert der Meister des Übersinnlichen auch noch Nicole, ohne die er sich ein Leben längst nicht mehr vorstellen kann …