Sterneck Wolfgang (Hrsg.) Cybertribe -Visionen – Rhythmus und Widerstand, Liebe und Bewusstsein -1-
Cybertribe-Visionen von Wolfgang Sterneck Sondereinband Nachtschatten Verlag Erscheinungsdatum: 1999 ISBN: 3907080459
-2-
Inhalt • KULTUR UND WIDERSTAND • Günter Eich - Seid Sand im Getriebe der Welt Subcomandante Marcos - Die Welt neu erschaffen The Five - Es ist Zeit ... Anti-WTO-Gruppe - Globalisierung Hans A. Pestalozzi - Aufruf zur Rebellion Wolfgang Sterneck - Der Kampf um die Träume Rolf Schwendter - Utopie und soziale Innovation Hakim Bey - Die Temporäre Autonome Zone Autonomia - Keimzellen Kamla - Laßt alle Frauen Hexen sein Sisters - Schwesterlichkeit Paul Parin - Der Knopf an der Uniform ... Genesis P. Orridge - Der Einsturz des Kontrollsystems Critical Art Ensemble - Elektronischer ziviler Ungehorsam • NATUR UND ERNÄHRUNG • KosmA - Station an Erde Murray Bookchin - Politische Ökologie Tibo Leone - Das Scheitern der Biosphere 2 Michael Friedrich -Zerstörung des Regenwalds Treibsand - Die Politik mit dem Hunger Regenbogen - Fleisch ist Mord Seed - Die innere Balance Anstoß - Konsum-Anstöße • TECHNOLOGIE UND ENTWICKLUNG Cystar - Virtuelle Realitäten Bruce Sterling - Die ungeschriebene Zukunft VNS Matrix - Cyberfeminist Manifesto Sadie Plant - Netze Francesca da Rimini - Dollspace The Mentor - Das Hacker-Manifest Spiral Tribe - Die Codes der Stahltüren Stelarc - Fraktales Fleisch Deep Blue - Kasparov - Maschine besiegt Mensch Dead Media Project - Ausgestorbene Personal-Computer
-3-
• EROTIK UND PHANTASIE • Wolfgang Sterneck - Freie Liebe Lovechild - Wollen wir miteinander schlafen? High-Fish-Kommune - Berührungen Ma Deva Pyari - Die Liebe hat gesiegt WeAre -Wir lieben W. - Wahrnehmen Erotika - W/W-21.3 • RITUAL UND ERFAHRUNG • Luisa Francia - Das eigene Lied finden Zaigon - Stille David Cooper - Meditation und Befreiung Meri Franco-Lao - Hexen-Musik NW. - Magische Rituale Nora-Annette Römer - Der Zyklus als Kraftquelle Hans Cousto - Musik, Mantra und Trance Sinan - Trance - Der innere Fluß Pavan & Ananta - Der kosmische Orgasmus Psychick Warriors Ov Gaia - Elektronische Voodoo-Rituale Hans Cousto - Die Orpheus-Brain-Box Marcus Stiglegger - Modern Primitives • RHYTHMUS UND KONSEQUENZ • Graswurzelrevolution - Musik im Widerstand John Sinlair - Kick out the Jams Penny Rimbaud - Der Traum Crass - Keine Autorität außer Dir selbst The Ex - Das Medium ist die Massage Missing Foundation - Missing Foundation Mumia Abu-Jamal - Eine verlorene Generation? P16.D4 - Slave to the Rhythm Wolfgang Sterneck - Techno-Inseln Underground Resistance -Lang lebe der Underground Spiral Tribe - Freie Parties - Freie Menschen Praxis Störsignale -Techno subversiv Lava 303 - Hey Venus Playground - Life is a Playground
-4-
• RAUSCH UND BEWUSSTSEIN • Lewis Carroll - Alice im Wunderland Aldous Huxley - Die andere Welt Moksha - Für eine Psychoaktive Kultur Christian Rätsch - Der innere Raum Terence McKenna - Psychedelische Erfahrungen Teo Nanacatl - Das Fleisch der Götter Christian Rätsch - Die Krötenmutter Timothy Leary - LSD-Kultur Nicholas Saunders - Ecstasy Inad - Cannabia Günter Amendt - War on Drugs Wolfgang Sterneck - Drogenmündigkeit und Druff-Sein • VISION UND WIRKLICHKEIT • Moksha - Psychoaktive Visionen Albert Hofmann - Das Bild der Wirklichkeit Andreas Ruft - Quiet Dangerous Zone William S. Burroughs - Ein Schritt Hadayatullah Hübsch - Auf dem Weg W. - Fließend Simon de la Luna - Ich atme Universen Douglas Rushkoff - Cyberia • Wolfgang Sterneck - Die Konsequenz erkennen •
-5-
• WOLFGANG STERNECK • DER CYBERTRIBE Der Cybertribe ist ferne Utopie und gelebte Praxis zugleich. Er ist ein Fantasiegebilde und dennoch ist er konkrete Realität. Spürbar als pulsierender Rhythmus, erlebbar als verändernde Kraft, die unzählige kleine, oftmals lose Gemeinschaften, Gruppen und Projekte verbindet. Der Cybertribe kennt als moderner Stamm keine Grenzen. Seine Heimat ist der gesamte Erdball. Er ist überall und nirgendwo zu Hause. An manchen Orten entsteht er völlig unerwartet, um genauso schnell wieder zu verschwinden. An Anderen wächst er kontinuierlich Schritt für Schritt und an einigen Orten besteht er schon seit einer kleinen Ewigkeit. Wer die Augen öffnet wird die Spuren finden, wird die Zeichen erkennen, wird die Sprachen verstehen. Der Cybertribe verbindet das Wissen alter Kulturen mit dem Verständnis der Entwicklungen der Gegenwart. Er verknüpft die Erfahrungen und Erkenntnisse von Hexen und Schamanen, von Widerstandskämpferinnen und Revolutionären, von Hippies und Kommunardinnen, von Hackern und Cybernautinnen, um sie in der Gegenwart zu nutzen und für die Zukunft weiterzuentwickeln. Persönliche und gesellschaftliche Veränderung, innere und äußere Entwicklung werden dabei zu einer neuen Einheit. Der Cybertribe entsteht überall dort, wo der Manipulation ein neues Bewußtsein und der Eingeschränktheit neue Dimensionen gegenübergestellt werden. Überall dort, wo dem Prinzip der Konkurrenz das Prinzip der Solidarität, dem Prozeß der Zerstörung ein Prozeß der Heilung und der Politik der Unterdrückung eine Politik des Widerstandes entgegengesetzt wird. Der Cybertribe kennt keine Zugehörigkeit im herkömmlichen Sinne. Es ist vielfach nicht möglich und auch gar nicht notwendig ihm in irgendeiner Weise formal beizutreten. Es bedarf nicht einmal der Kenntnis des Begriffs oder der damit verbundenen Ideen, um dem Cybertribe anzugehören. Die Zugehörigkeit ergibt sich von alleine, manifestiert in den Energien und Handlungen der entsprechenden Person. Der Cybertribe in seinen vielfältigen Ausprägungen ist ein Aufschrei und ein Aufbäumen gegen die allgegenwärtige Zerstörung.
-6-
Er ist ein Versuch, ein Ansatz diesen Prozeß aufzuhalten und zu überwinden, um auf den Trümmern des alten Systems eine neue Kultur aufzubauen. Die Sterne sind erreichbar, wenn wir es wirklich wollen. Wolfgang Sterneck
-7-
• KULTUR UND WIDERSTAND •
-8-
• GÜNTHER EICH • SEID SAND IM GETRIEBE DER WELT ! Ich beneide sie alle, die vergessen können, die sich beruhigt schlafen legen und keine Träume haben. Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit: erreichtes Urlaubsziel, Nordseebad, Notre Dame, roter Burgunder im Glas und der Tag des Gehaltsempfangs. Im Grunde aber meine ich, daß auch das gute Gewissen nicht ausreicht, und ich zweifle an der Güte des Schlafes, in dem wir uns alle wiegen. Es gibt kein reines Glück mehr (- gab es das jemals -), und ich möchte den einen oder andern Schläfer aufwecken können und ihm sagen, es ist gut so. Fuhrest auch du einmal aus den Armen der Liebe auf, weil ein Schrei dein Ohr traf, jener Schrei, den unaufhörlich die Erde ausschreit und den du sonst für das Geräusch des Regens halten magst oder für das Rauschen des Winds. Sieh, was es gibt: Gefängnis und Folterung, Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint. Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde, und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die Bestürzung. Alles, was geschieht, geht dich an. Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht! Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt. Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird, auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf, worin du ungern gestört wirst. Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen, aber sei gewiß.
-9-
"Oh, angenehmer Schlaf auf den Kissen mit roten Blumen, einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat, oh, angenehmer Schlaf, wenn der Braten fett war und das Gemüse zart. Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau von gestern abend: Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden, Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, das genügt, das Gehirn zu beschäftigen. Oh, dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl! Auf ihm vergißt man das Ärgerlic he der Welt, jene Nachricht zum Beispiel: Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung: Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling, für den sie keine Windeln hatte und der in Zeitungspapier gewickelt war. Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre. Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andere. Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten." "Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund! Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt." Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt! Günther Eich
- 10 -
• SUBCOMANDANTE MARCOS • DIE WELT NEU ERSCHAFFEN In den letzten Jahren hat sich die Macht des Geldes eine neue Maske über ihr Gesicht gezogen. Über Grenzen hinweg, ohne Einschränkung auf Kulturenund Hautfarben erniedrigt sie noch immer die menschliche Würde, zerstört die Ehrlichkeit und mordet die Hoffnung. Doch das historischeVerbrechen der Privilegien, Reichtümer und Straffreiheiten hat sich nun umbenannt, mit dem Bergriff des Neoliberalismus versucht es mit neuer Stärke Elend und Hoffnungslosigkeit zu verschleiern. Erneut wird ein Weltkrieg ausgetragen, aber in diesem Falle richtet er sich nicht gegen einzelne Staaten, sondern gegen die gesamte Menschheit. Unter dem Namen der "Globalisierung" rufen sie zu diesem modernen Krieg auf, der viele verschiedene Wege kennt um zu töten. Wie in allen Weltkriegen zuvor geht es um die Verteilung der Welt mit dem Ziel die Macht in der Macht zu konzentrieren und das Elend im Elend. Die Verteilung der Welt schließt die sogenannten "Minderheiten" aus. Indigene, Jugendliche, Frauen, Schwule, Lesben, Farbige, ImmigrantInnen, ArbeiterInnen, Campesinos. Also all die Mehrheiten, die für die Macht nur solange interessant sind wie sich verwerten lassen. Das Heer des Finanzkapitals und der korrupten Regierungen schreitet voran und erobert in der einzigen Art und Weise, in der es erobern kann: durch Zerstörung. Die Neuverteilung der Welt hat nur Platz für das Geld und seine Diener. Die Neuverteilung der Welt setzt Männer und Frauen mit Maschinen in ihrer Knechtschaft und ihrer Entbehrlichkeit auf eine Stufe. Die Neuverteilung der Welt zerstört die Menschen. Die Lüge herrscht und sie wird durch die Medien weitergetragen und verfielfältigt. Eine neue Lüge wird uns nun als Geschichte verkauft. Es ist die Lüge der Niederlage der Hoffnung, die Lüge der Niederlage der Würde, die Lüge der Niederlage der Menschlichkeit. Zum Ausgleich bietet uns der Spiegel der Macht die Lüge vom Sieg des Zynismus, die Lüge vom Sieg der Unterwürfigkeit, die Lüge vom Sieg des Neoliberalismus. Statt Menschlichkeit bieten sie uns Börsenkurse, statt Würde bieten sie uns die Globalisierung des
- 11 -
Elends, statt Hoffnung bieten sie uns die Leere, statt Leben bieten sie uns die Internationale des Schreckens. Gegen diese Internationale des Schreckens müssen wir gemeinsam die Internationale der Hoffnung erheben. Die Einheit jenseits der Grenzen, Sprachen, Hautfarben, Kulturen, Geschlechter, Strategien und Gedanken, die Einheit all derer, die an der lebendigen Entwicklung der Menschheit interessiert sind und dafür eintreten. Es geht um die Internationale der Hoffnung. Nicht die Bürokratie der Hoffnung, nicht die Kehrseite, die dadurch dem so ähnlich ist, das uns zerstört. Nicht die Macht mit neuen Symbolen, in neuen Kostümen. Es geht um einen Atemzug - ja, es geht um den Atemzug der Würde. Es geht um eine Blume - ja, um eine Blume der Hoffnung. Es geht um ein Lied - ja, um ein Lied des Lebens. Die Würde ist jenes Land ohne Nationalität, jener Regenbogen, der gleichzeitig eine Brücke ist, jenes Pulsieren des Herzens, egal wessen Blut durch die Adern fließt, jene rebellische Ehrfurchtslosigkeit, die Grenzen, Zölle und Kriege verhöhnt. Die Hoffnung ist jene Aufsäßigkeit, die sich der Anpassung verweigert, sich der Niederlage widersetzt. Das Leben von dem wir sprechen ist das Leben in einer Gesellschaft der Freiheit, die nicht auf Ausbeutung basiert, in der die Gerechtigkeit der Maßstab ist für das, was wir geben und bekommen. Das Leben ist das, was sie uns schulden: das Recht selbstbestimmt zu entscheiden, zu denken und handeln. Aus all diesen Gründen gehen wir den Weg des Widerstandes. Gemeinsam mit denen, die mit uns gegen die Zerstörung kämpfen, mit uns den Atemzug der Würde und die Blume der Hoffnung teilen, mit uns das Lied des Lebens singen. Wir alle tragen die Menschlichkeit in unseren Herzen. Es liegt an uns sie zu erwecken. Dabei ist es nicht notwendig, die Welt zu erobern. Es geht vielmehr darum, sie neu zu schaffen. Durch uns. Heute. Aus den Bergen des mexikanischen Südostens Subcomandante Marcos
- 12 -
• VANCOUVER FIVE • ES IST ZEIT ... Seit Jahrhunderten hat sich das europäische imperialistische System ausgebreitet und seine Herrschaft über die ganze westliche Welt bzw. inzwischen über den ganzen Globus ausgedehnt. Seine wirtschaftliche Basis hat der moderne Imperialismus in multinationalen Konzernen, deren Büros und Fabrikhallen sic h in allen Teilen der Erde befinden. Durch ihre monopolartige Stellung und den damit verbundenen Einfluß auf die Verteilung von Arbeit und Geld in den einzelnen Regionen haben sich auch eine großen Einfluß auf die Regierungen und die staatlichen Institutionen. Die Auswirkungen des imperialistischen Systems beschränkt sich nicht nur auf die Situation der Menschen im Arbeitsbereich, es zwingt ihnen in allen Lebensaspekten Werte und Prinzipien auf. Durch den Besitz und die Kontrolle von Produktionstätten, Verwaltungsapparaten, Forschungszentren und den Massenmedien durchdringen diese Werte die Gesellschaft so gründlich, daß der daraus resultierende Lebensstil von der Bevölkerung nicht hinterfragt wird. Die Beziehungen in der Wirtschaftswelt, die durch den erbarmungslosen Wettbewerb und durch hierarchische Strukturen charakterisiert sind, reflektieren unsere persönlichen Beziehungsmuster, in denen Männer über Frauen und Kinder herrschen. Die Vielfältigkeit und die Tiefe des menschlichen Potentials wird durch die Regeln an den Schulen, Arbeitsplätzen und Institutionen von Geburt an vernebelt. Die Möglichkeit zu einer vielseitigen, innerlich starken Persönlichkeit zu werden ist unter diesen Bedingungen kaum möglich. In den westlichen Systemen wird der Wert des Lebens in seinem Verhältnis zum Profit beurteilt. Der Wert und die Identität einer Person werden über den Arbeitsplatz definiert, so daß Menschen ohne Arbeitsplatz als Last für die Gesellschaft angesehen werden und sich selbst als nutzlos empfinden. Die multinationalen Konzerne sehen die Menschen der sogenannten Dritten Welt ausschließlich als billige Arbeitskräfte.
- 13 -
Alle die sich der Industrialisierung und der zwangsweisen kulturellen Integration widersetzen, stellen eine ernsthafte Gefahr für den Imperialismus dar und werden deshalb durch Umsiedlungen, Hunger und Terror zum Ziel heimtückischer Unterdrückungsprogramme. Für die Menschen der westlichen Welt ist die Natur ein Rohstofflager das dem industriellen Fortschritt dient. Alle lebenden Dinge werden zu Objekten degradiert als wären sie Konsumwaren, die von der göttlichen Fabrik im Himmel hergestellt werden. Robben sind Felle, Kühe sind Fleisch, Wild ist Jagdvergnügen, Hunde sind Haustiere und ausgestoßene Haustiere sind Versuchtiere. Diese eindimensionale Betrachtungsweise wird seit der Geburt anerzogen. Kaum jemand hinterfragt das Konzept des wirtschaftlichen Fortschritts und der dahinterstehenden Auffassungen. Wir sind zu KonsumentInnen geworden, die nicht in der Lage sind, die Erde zu respektieren und sich selbst zu entfalten. Wir haben unsere Verbindung und unseren Respekt vor dem Leben verloren. Weltweit besitzt der Imperialismus zu seinem Schutz nukleare Waffen, die schon in "Friedenszeiten" durch ihre Herstellung und Erprobung Gebiete verseuchen und Leben zerstören. Unermeßliche Summen werden ständig ausgegeben um immer zerstörerischere Waffen zu erschaffen. Der militärisch-industrielle Komplex ist eine ständige Bedrohung für Mensch und Natur. Wie lange noch werden wir passive ZuschauerInnen der Vergewaltigung der Erde sein? Wie lange werden wir die Herrschaft der Männer tolerieren? Wie lange werden wir es erlauben, daß die Regierungen den nuklearen Terror weiterführen? Wie lange werden wir es zulassen, daß die Konzerne unsere Körper und Seelen ausbeuten? Wie lange werden wir uns noch dem Glauben an den wirtschaftlichen Fortschritt unterordnen? Es ist Zeit, daß wir unser Bewußtsein von ihren Fesseln befreien und unsere Fähigkeit zu kämpfen entfalten. Dann werden wir in der Lage sein, die wunderbare Aufgabe zu erfüllen, eine starke Widerstandsbewegung aufzubauen, um die Menschen zu befreien und die Natur zu schützen! Vancouver Five (1982)
- 14 -
• ANTI-WTO GRUPPE ZÜRICH • GLOBALISIERUNG Globalisierung bedeutet die weltumspannende Ausdehnung kapitalistischer Wirtschaft, die auf Wettbewerb und Profitmaximierung gründet, und die Ausdehnung der Macht grosser Konzerne über staatliche Strukturen hinweg. Staatliche Strukturen und deren Regelungen werden entmächtigt zugunsten internationaler Regelungen wie zB. derjenigen der WTO. Staaten und Regionen werden über Standortwettbewerb erpresst, Regulierungen vorzunehmen, die den Unternehmen möglichst grossen Profit verschaffen. Dies hat die direkte Ausbeutung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Lebensqualität der BewohnerInnen der jeweilige Region zur Folge: schlanker Staat (Abbau der Einkommens- und Erbschaftssteuer zugunsten der Mehrwertsteuer und Verkauf staatlicher Unternehmen, Verarmung des Staates, was den Abbau der Leistungen im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitsbereich zur Folgehat). Standortwettbewerb bedeutet Lohndumping im internationalen Konkurrenzkampf, aber auch den gigantischen Ausbau von Flughäfen, von Bahnhöfen (Eurogate) und von Autobahnen. Globalisierung bedeutet nicht die Vernetzung der ganzen Welt auf gleicher Ebene, sondern Neokolonialismus: vernetzte Machtzentren mit ihren Hinterhöfe wie zB. USA mit Zentralamerika, die EU mit Süd-Osteuropa. Neoliberale Globalisierung ist der Versuch des Kapitals aus den Ländern des Nordens, der multinationale n Konzerne und ihrer Lobbys, aus der Akkumulationskrise der 60er und 70er Jahre (soziale Kämpfe, staatliche Regulierungen, Marktsättigung etc.) herauszukommen durch die Erschliessung neuer Märkte, durch Deregulierung und Privatisierung, neokoloniale Abhängigkeitsstrukturen, internationale Arbeitsteilung und geschickt regulierte Migration, um damit die Profitraten wieder nach oben zu korrigieren. Globalisierung bedeutet ein weltumspannendes Netz sog. Global Cities. 95% der weltweit wichtigsten transnationale Konzerne haben ihren Sitz in den Ländern der OECD, hierhin fliessen die Gewinne zurück. Von den Headquartern dieser Unternehmen, Banken, Versicherungen und internationalen Organisationen aus, die sich in
- 15 -
einigen wenigen 'Global Cities' konzentrieren, wird die weltweite Produktion von Waren und Dienstleistungen gesteuert, hier geschieht die Kontrolle der internationalen Finanzkreisläufe. Diese empfindlichen und hochqualifizierten Bereiche der Weltwirtschaft sind auf eine spezifische städtische Infrastruktur angewiesen. Urbane Lebensqualität zur Reproduktion der Eliten und ein komplexes Netz von Dienstleistungen werden zu einer wichtigen Kapitalanlage im globalen Wettbewerb um Wachstumspotentiale. BewohnerInnen und Struktur der Städte werden dem Diktat des Standortvorteils unterworfen: auf der einen Seite die Global Players und die lokale Prominenz, in sicherheitsmässig immer abgeschotteteren Vierteln (Zitadellen, Gated Communities, gentrifizierte Innenstädte, Zero Tolerance) wohnend, auf der anderen Seite die "Ghettos" derjenigen, die das Funktionieren der Global Cities durch immer flexibilisiertere, präkarisiertere Arbeitsverhältnisse gewährleisten: die Angestellten in den Büros, die KulturarbeiterInnen für das geeignete Reproduktionsumfeld und die MigrantInnen in Restaurants, Strassenreinigung, Haushalt und Prostitution. Globalisierung funktioniert nicht nur aufgrund einer wettbewerbsund gewinnorientierten Oekonomie, sondern auch auf den ihr einwohnenden heterosexistischen und rassistischen Strukturen. Sie baut auf diesen Strukturen auf, benutzt diese und strukturiert sie gemäss der Gesetzlichkeit der Globalisierung. Globalisierung produziert Migration im weltweitem Massstab und benutzt Rassismus, indem er Menschen entlang ihrer Hautfarbe und ihres Herkunftsortes hierarchisiert und als Sündenböcke gebraucht. MigrantInnen werden im Produktions- und Reproduktionsbereich ausgebeutet, nach Bedarf verschoben, abgeschoben oder interniert. Die globale Migration ist die Kehrseite der Globalisierung, denn sie ist eng mit den transnationalen Firmen verknüpft. Für ehemalige Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, die ihr Land an die Agrokonzerne verloren und dann in den exportorientierten Plantagen als - saisonale - LohnarbeiterInnen arbeiteten, ist der Schritt zur Arbeit in die, ebenfalls westlichen Konzernen gehörenden, Fabrikationsbetriebe und Maquilas nicht weit. Sich dann zu entscheiden, selbst in ein Industrieland zu migrieren, ist nur noch ein weiterer Schritt. Während aber für Waren- und Geldströme keine Grenzen mehr gelten sollen, gilt dasselbe nicht für den Personenverkehr. Dort gibt nationale Politik sich zwar immer noch den Anschein, als ob sie
- 16 -
allein über die Migration bestimmen könnte, doch dies wird bereits in zwei Richtungen unterlaufen. Erstens über die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit, wie zB. die Abkommen der EU mit den Ländern Nordafrikas und Mittelosteuropas zur Schaffung eines Sicherheitskordons gegen Asylsuchende und über die laufende Anpassung der entsprechenden Gesetze an einen gemeinsamen, sic h immer verschärfenden Standard. Die Schweiz, obwohl nicht Miglied der EU, passt sich dort, wo sie nicht bereits eine Vorreiterunrolle hat, diesen Standards an. Zweitens zeichnet sich eine 'Privatisierung' derjenigen Migrationsbereiche ab, die regulierbar und profitverheissend sind. Abgesichert durch supranationale Handelsabkommen wie zB. GATT; WTO-GATS, übt die Wirtschaft Druck auf den Staat aus, Sonderaufenthaltsregelungen für 'erwünschte' Migranten (in der Mehrzahl Männer) zu schaffen. Davon zeugen die Diskussionen um die sog. 'greencards' in Deutschland und in der Schweiz in letzter Zeit. Damit erfolgt eine Zweiteilung und entsprechende Selektion der MigrantInnen in erwünschte, hochausgebildete und hohen Profit abwerfende Spezialisten einerseits und alle anderen andererseits: legale und illegale FacharbeiterInnen und nichtqualifizierte BilligarbeiterInnen. Erstere werden inzwischen schon nicht mehr zu den MigrantInnen gezählt und für letztere - als 'Problembereich' definiert - ist dann der Staat mit Klassifizierungen, Selektion und Abschiebung zuständig. In den Stellungnahmen des Arbeitgeberverbandes und des Bundesrates zur 18% Initiative einerseits und der anstehenden weiteren Verschärfung der Aylgesetze andererseits drückt sich diese neue Situation aus. Neu ergibt sich auch ein internationales Imageproblem: allzu offensichtlicher Rassismus produziert Standortnachteil. Globalisierung benutzt die bestehenden Geschlechterverhältnisse ohne den dahinterliegenden Geschlechterdualismus in Frage zu stellen: die meisten Gesellschaften ordnen eine gewisse Produktion von Dingen oder von Dienstleistungen den Männern, bzw. den Frauen zu. Was wem zugeordnet wird, kann sich von Gesellschaft zu Gesellschaft und je nach geschichtlicher Phase ändern. Frauen werden mittels ausgeübter oder angedrohter und mit struktureller Gewalt dazu gebracht, diese Zuordnungen zu akzeptieren. Die herrschende Oekonomie baut auf dieser Dualisierung auf und reproduziert sie gemäss neoliberaler Verwertungslogik.
- 17 -
Globalisierung greift direkt in bestehende soziale Strukturen von Frauen (zB. Familie, Beziehungen, etc) ein. Sie ermöglicht einigen aus der patriarchalen Familie zu entkommen und ökonomisch unabhängig zu werden, setzt sie dafür der flexibilisierten und schlecht bezahlten Arbeit, Doppelbelastung durch Familien- und Erwerbsarbeit und der Sexualisierung ihres Körpers am Arbeitsplatz aus oder zwingt sie zusätzlich zur Migration. Sie ermöglicht "weissen" Frauen, Karriere zu machen in einer widersprüchlichen Firmenwelt, solange sie keine Kinder haben oder aber andere Frauen für die Reproduktionsarbeit anstellen. Sie verurteilt ungezählte Frauen und ihre Kinder zu Armut, Hunger und prekärem Ueberleben. Globalisierung ist ein Angriff "von oben". Zu diesem "oben" gehören die Global Players, die sic h anlässlich des WEF in Davos treffen. Selber Mächtige repräsentieren sie als Konzernvorsteher zugleich die Macht der Eigentümer, der shareholders, des Kapitals und als Staatschefs die Macht über die gesetzliche Reglementierung der Strukturanpassungen und die Macht über den Repressionsapparat der Armee und der Polizei. .Der Kampf "von oben" funktioniert darüber, dass breite Bevölkerungskreise in den Ländern des Nordens und die 'Elite' in denjenigen des Südens, alle tendenziell eher männlich, über partielle Teilnahme und Privilegien in diese Machtverhältnisse verstrickt und involviert sind. Sie profitieren bezüglich ihres Lebensstandards und sie haben Macht über andere: unter ihnen Arbeitende, MigrantInnen, Frauen. Unfreiwillig und ungefragt nehmen die meisten Menschen in der Schweiz zB. über ihre Pensionskassenbeiträge an dieser Profitmaximierung teil. Globalisierung ist der gleichzeitig soziale, ideologische und ökonomische Angriff "von Oben" auf Strukturen und Errungenschaften aus einem jahrhundertelangen Kampf gegen Kapitalismus, gegen Abschöpfung von Mehrwert und Akkumulation von Kapital, gegen Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus und gegen patriarchale Geschlechterverhältnisse. Globalisierung zerstört übriggebliebene oder erkämpfte soziale und ökonomische Strukturen, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten. Globalisierung verkörpert sich in den Beschlüssen und Regelwerken von supranationalen Institutionen und Gremien wie zB. WTO, IWF, Weltbank, G8, aber ebenfalls in inf ormellen "Austauschtreffen", wie zB. dem WEF in Davos.
- 18 -
NEOLIBERALISMUS Neoliberalismus ist die Ideologie des globalisierten Kapitalismus. Danach regulieren weltweite freie Märkte, freies Unternehmertum, Angebot und Nachfrage, keine staatlichen, sozialen oder anderen Grenzen, alles zur Zufriedenheit aller. Das Menschenbild dieser Ideologie entspricht demjenigen des westlichen weissen Mannes. Auf sich selbst gestellte, bindungslose Individuen erobern Märkte, Frauen, Natur und Weltraum. Sie wetteifern untereinander, wobei der bessere sich gegenüber seinen Rivalen und Konkurrenten durchsetzen wird. Sie definieren sich als die Unabhängigen. Die Verleugnung ihrer Abhängigkeit von anderen ist ein Grund für deren Hierarchisierung und Unterordnung entlang den sich überschneidenden Linien von Mann/Frau, Weisse/Nicht-Weisse, Reich/Arm, Behindert/Nichtbehindert. Soziale Verantwortung wird individualisiert und privatisert nach dem Prinzip der wohltätigen Spenden (reicher Männer) und der 'ehrenamtlichen' Freiwilligenarbeit für die Gemeinschaft (von vorwiegend Frauen). Die Ideologie des Neoliberalismus führt zu umwälzenden Veränderungen des sozialen Gefüges und zum Abbau von Solidarität sowohl was den gemeinsamen Widerstand betrifft, als auch gegenüber denjenigen, die den Anforderungen dieser Wettbewerbsökonomie nicht genügend entsprechen können (zB. Frauen mit Kindern, alte Menschen, MigrantInnen, Menschen im Süden, Behinderte, schlecht Ausgebildete). In der Regel verfügen gewachsene Gemeinschaften über Formen der Integration der Schächeren. Auch wenn dies weder gewaltfreie Strukturen sind (Familie) und oft solche repressiver Toleranz, regulieren sie doch die ökonomische Existenz der Schwächeren, dh. diese werden eben gerade nicht als "unnötige Geldverschwendung" betrachtet, sondern haben ihren Platz im sozialen Gefüge. Die Verwertungslogik des Neoliberalismus ist diesen Strukturen gegenüber gleichgültig. Wer nicht brauchbar ist, braucht nichts zu Essen. Die Ideologie des Neoliberalismus täuscht vor, dass Oekonomie neoliberaler Prägung (freier Markt, etc.) quasi naturgegeben alle anderen Strukturen bestimme und diese Art von Oekonomie ebenso naturgegeben die einzig mögliche sei. Es hat eine Oekonomisierung des Denkens stattgefunden. Jede Handlung, zB. Flexibilisierung der
- 19 -
Arbeit, Dumping-Löhne oder Abbau der direkten Steuern, wird ökonomisch begründet ('Sparen', Standortvorteil). Diese Logik wird akzeptiert, weil sie schon voll internalisiert worden ist und jede andere Logik der Zensurschere zum Opfer gefallen ist. Wer sie in Frage stellt, wird als AnhängerIn vergangener und gescheiterter Utopien lächerlich gemacht, gesellschaftlich geächtet und verfolgt. Was die Ideologie des Neoliberalismus bewirkt hat, ist ein Bruch im historischen Bewusstsein. Die Niederlage der Linken wird nicht analysiert, sondern die verschiedenen Kämpfe für Gerechtigkeit, seien es Klassenkämpfe, feministische Kämpfe, Befreiungskämpfe, werden als Gesamtes auf den Müllhaufen geworfen. Es scheint keine Geschichte mehr zu geben, an der Kritik und Widerstand anknüpfen könnte, sondern nur noch das Regime des "freien Marktes und seiner Gesetze". WIDERSTAND Die Mobilisierung gegen das WEF ist wichtig. Damit lassen wir den Global Players keine Ruhe. Gleichzeitig sind sie ein Symbol dafür, dass es einen wachsenden und sich zunehmend international verständigenden Widerstand gibt. Sie symbolisieren unsere Wut, unseren Protest und unseren Widerstand. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die überall täglich auf der Welt stattfindenden lokalen Kämpfe mit ihren konkreten Inhalten nicht nicht wahrgenommen werden. Wir verstehen die Bewegung gegen das WEF in Davos als eine von Menschen, die auch sonst in Alltagskämpfen stehen. Wir sehen uns nicht als eine neue Bewegung, deren Hauptinhalt das "Hüpfen" von einem Gipfel zum nächsten ist, von Seattle über Washington, Melbourne, Prag nach Davos. Wir beziehen uns konkret auf die Kämpfe in unseren Ländern, auf die Anti-RassismusBewegung, auf die Kämpfe im Gesundheitswesen und gegen die Strukturanpassungen, auf die feministischen Kämpfe gegen heterosexistische Strukturen und gegen Gewalt von Männern, auf die Kämpfe im den Ländern des Südens, zB. gegen die Arbeitsbedingungen in den Maquilas, um eigenes Land, Kämpfe gegen Strukturanpassung, gegen die Zerstörung der Lebensräume (Abholzen, Staudämme), etc. Nur wenn hinter den GipfelMobilisierungen lokale Kämpfe stehen und nur in der Verbindung der internationalen Mobilisierungen mit diesen lokalen und täglichen
- 20 -
Kämpfen, wo immer auf der Welt sie gerade stattfinden, sind wir wirklich stark. Anti-WTO-Gruppe Zürich "Die WTO, der IWF, die Weltbank und andere Institutionen, die die Globalisierung und Liberalisierung vorantreiben, wollen uns glauben machen, daß globale Konkurrenz segensreiche Auswirkungen für alle besitzt. Angesicht der breiten Palette von Forderungen, die in unseren vielfältigen Kämpfen erhoben werden, antworten sie auf eine immer gleiche Art und Weise: 'Fahrt fort, eure menschlichen Bedürfnisse den Bedürfnissen des globalen Marktes unterzuordnen.' Die Konkurrenz zwischen Ländern, Industriezweigen, Regionen und Städten spielt jedoch nur die Menschen gegeneinander aus. Wir haben genug gesehen von dieser inhumanen Philosophie. Wir sagen: 'Es reicht!' Wir sind es, die die Folgen erleiden müssen. Wir verweigern uns den Prinzipien der Konkurrenz und der Wettbewerbsfähigkeit als vermeintliche Lösungen für die Probleme der Menschheit. Statt dessen unterstützen wir die Prinzipien gegenseitiger Solidarität im Rahmen von Würde, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit." Aus der Erklärung der 1. Konferenz der Globalen Aktion gegen "Frei-Handel" und Welthandelsorganisation. (Februar 1998).
- 21 -
• HANS A. PESTALOZZI • AUFRUF ZUR REBELLION Sie behaupten, sie wollten den Frieden - und bereiten den Krieg vor. Sie behaupten, sie müßten den Krieg vorbereiten, um den Frieden zu schützen, und verschweigen, daß diese Formel noch immer zu Krieg geführt hat. Sie behaupten, sie wollten unsere Souveränität schützen, und machen uns vom Ausland abhängig. Sie behaupten, sie wollten das Volk schützen, und provozieren seine Vernichtung. Sie behaupten, vor dem Regime in Moskau auf der Hut sein zu müssen, und liefern uns dem Regime in Washington aus. Sie behaupten heute, gegen die kommunistische Weltrevolution kämpfen zu müssen, und behaupten morgen, das Sowjetsystem sei am Ende. Sie behaupten, mit dem Bundesgrenzschutz die Grenzen der Republik verteidigen zu müssen, und setzen ihn gegen die eigenen Bürger ein. Sie behaupten, uns vor totalitären Staaten schützen zu müssen, und arbeiten mit faschistischen Regimes zusammen. Sie werfen uns »Zerstörung des politischen Friedens« vor, und meinen Polizeieinsatz gegen Andersdenkende. Sie predigen Dialog, und drohen mit dem Rücktritt. Sie geben sich demokratisch, und verbieten die Teilnahme an Demonstrationen. Sie loben den Schutz der Minderheiten, und berufen sich auf eine angebliche schweigende Mehrheit. Sie pochen auf die Ganzheit der Demokratie, und schließen die Randgruppen aus. Sie werfen uns vor, kritiklos irgendwelchen Drahtziehern zu folgen, und knieten zwölf Jahre vor dem »Führer«. Sie nennen uns Chaoten, Kriminelle, Asoziale, und machen aus der Polizei brutale Schlägerbanden. Sie geben vor, den Rechtsstaat schützen zu müssen, und verhaften unsere Nachkommen gleich massenhaft.
- 22 -
Sie berufen sich auf internationale Abmachungen, und knallen uns mit chemischen Waffen nieder, die im Kriegsfall verboten sind. Sie warnen uns vor der Militarisierung der Jugend im Osten, und führen bei uns den Wehrkundeunterricht ein. »Der Mensch ist böse.« So lautete die richtige Antwort auf die Frage im Religionsunterricht, ob der Mensch gut oder böse sei. Sie war Anlaß zu meiner ersten tiefgreifenden Rebellion. Ich befand mich mitten in einer unerhört positiven Aufbruchstimmung, trotz oder vielleicht gerade wegen der Pubertätsprobleme, die alles Bisherige in Frage stellten. Ich glaubte an meine Zukunft, das Kriegsende öffnete die Welt; Kameradschaften und Freundschaften schufen Beziehungen, die endlich die Elternbindung zu lösen erlaubten; die fordernde Sexualität versprach bisher Unvorstellbares. Und nun die Ohrfeige von »höchster Instanz«, denn der Religionslehrer, der Pfarrer verkörperte doch- so war uns beigebracht worden - die höchste Autorität, das A und O unseres Lebens: »Du bist böse, deine Freundinnen und Freunde sind böse, deine Mitmenschen sind böse!« Ich begann mich zum erstenmal grundsätzlich zu verweigern. Vom Verstand her konnte ich es wohl noch kaum erfassen. Das Gefühl sagte mir: Auf dieser Basis wirst du nie ein eigenes Leben gestalten können. Wenn diese Voraussetzung stimmt, ist es unmöglich, gemeinsam mit deinen Mitmenschen eine Zukunft aufzubauen. Du wirst immer von der Autorität abhängig sein, die darüber befindet, wie du dich zu verhalten hast, um »gut« zu werden. Ein Leben in Angst, böse zu bleiben? Ein Leben unter dem Zwang, den Anforderungen der »Autorität« gerecht werden zu müssen? Ein Leben in Schuldgefühlen, zu wenig zu leisten, nicht zu genügen, immer wieder zu versagen? Angst und Schuld als Basis meines Lebens? Was ich intuitiv nicht erfassen konnte: Schuldgefühle und Angst sind in dieser unserer Gesellschaft nötig; ihre Prinzipien, Strukturen und Abhängigkeiten wären sonst nicht möglich. Angst ist nötig, um »freiwillig« zu gehorchen. Angst ist Voraussetzung der »freiwilligen« Unterordnung. Schuldgefühle bringen mir bei, daß Eltern und Lehrer mich erziehen müssen. Schuldgefühle lassen mich Strafe akzeptieren. Schuldgefühle machen mich abhängig von der »Autorität«. »Du willst nicht mehr böse sein? Komm, wir sagen dir, wie du
- 23 -
dich zu verhalten hast!« Es ist so. Es gibt Leute, die daran interessiert sind, daß ich Angst habe. Es gibt Leute, die ohne meine Schuldgefühle nicht sein könnten. Es sind die Leute, die an der Macht sind. Es dauerte lange, sehr lange, bis ich merkte, daß dieses Prinzip, wogegen ich mich im Bereich der Religion erfolgreich zur Wehr gesetzt hatte, unser ganzes Leben beherrscht. »Du bist krank! Du bist unzufrieden! Du vernachlässigst deine Kinder! Du bist unfähig, deine Freizeit zu gestalten! Glaube nicht, du könntest einfach so gesund und zufrieden sein. Wir, die Wirtschaft, sagen dir, was du zu schlucken, zu schlürfen, anzuschaffen, den Kindern zu kaufen hast.« Eine Gesellschaft, die ihren »Erfolg« einzig und allein daran mißt, wieviel Ware in einem Jahr hergestellt und wieviele Dienstleistungen erbracht wurden, ohne nach dem Sinn zu fragen, muß von einem negativen Lebensprinzip ausgehen. Zufrieden sein, glücklich sein, gesund sein sind in einer solchen Gesellschaft wertlos: Positive Zustände erhöhen das Bruttosozialprodukt nicht. Unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft können in ihrer heutigen Konzeption nur überleben, wenn wir unglücklich, unzufrieden, krank, unfähig sind. Wenn Wirtschaft darin besteht, negative Zustände zu beseitigen, und wenn die gleiche Wirtschaft behauptet, ständig weiter wachsen zu müssen, dann kann sie nur ein Interesse haben: die negativen Zustände zu verstärken. Und dies tut sie mit Erfolg. Gleichzeitig gibt sie uns aber vor, die Menschen glücklich zu machen. »Es geht euch ja so gut wie noch nie!« Damit hat sie uns bei der Angst: »Paßt auf! Wenn ihr euch nicht so verhaltet. wie wir es sagen, verliert ihr euren Wohlstand das, was euer Glück ausmacht!« Auf die Politik übertragen: Jede Politik, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren betrieben wurde, hat das Gegenteil dessen erreicht, was sie anstrebte. Die Verkehrspolitik hat dazu geführt, daß der Stau auf unseren Straßen noch nie so groß und das Defizit der Bundesbahn noch nie so hoch war. Die Landwirtschaftspolitik hat dazu geführt, daß Hunderttausende von Bauern liquidiert wurden, wir in unserer Nahrungsmittelversorgung völlig vom Ausland abhängig geworden sind und unsere Böden zerstört werden.
- 24 -
Entwicklungspolitik hat dazu geführt, daß die armen Länder immer ärmer wurden und die reichen Länder immer reicher. Die Mittelstandspolitik hat das Geschäft der Großen gemacht. Die Großen wurden immer größer, die Kleinen wurden liquidiert. Friedenspolitik hat dazu geführt, daß wir dem Krieg so nahe sind wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Anders ausgedrückt: Kein einziges Problem, welches vor zehn oder zwanzig Jahren bestanden hat, ist einer Lösung auch nur einen Schritt näher gebracht worden. Im Gegenteil: Die Probleme haben sich verschärft. Aber alle Politiker und alle Regierungen haben nur das eine Ziel: genauso weiterzumachen wie bisher oder die bisherigen Trends sogar nach Möglichkeit noch zu verstärken. Und auch dafür brauchen sie unsere Angst. Angst vor dem Neuen, das nötig wäre - keine Experimente! Also Angst vor der Zukunft. Wie soll in einer solchen Gesellschaft Frieden etwas anderes sein können als Abwesenheit von Krieg? Ist da nicht eine derartig perverse Einstellung selbstverständlich, die behauptet, je mehr man rüste, desto mehr sichere man den Frieden? Wenn für die Herren dieser Gesellschaft positive Zustände nicht nur nicht denkbar, sondern die negativen Zustände für die Aufrechterhaltung der eigenen Macht notwendig sind, wie sollten sie da zugeben können, daß Frieden eben nicht Abwehr des Krieges durch Militär ist, sondern Kriegsbereitschaft und Militär den Frieden gefährden und verhindern? »Wir brauchen wieder einen Krieg, damit unsere Wirtschaft wieder einen Auftrag hat; sie muß von vorne beginnen können«, sagte mir kürzlich ein Exponent des deutschen Managements. Es ist so: In einer friedlichen Gesellschaft kann diese Wirtschaft nicht so weitermachen. Wir brauchen die Drohung mit dem Krieg. Eine friedliche Gesellschaft macht keine Geschäfte mit Waffen. Wir brauchen die Angst vor dem Krieg. Eine friedliche Gesellschaft braucht keine »Autoritäten«. Wir brauchen die Angst vor dem Feind. Eine friedliche Gesellschaft kann auf Machtstrukturen verzichten. Wir brauchen die Angst, unseren Lebensstandard verlieren zu können. Eine friedliche Gesellschaft braucht keine Ausbeutung der
- 25 -
Natur, der Dritten Welt, der kommenden Generationen. »Wir brauchen deine Angst. Denn nur so können wir dir einreden, es müsse so sein, wie es heute ist!« Die Antwort jenes Pfarrers bleibt mir unvergeßlich, dem die Frage gestellt wurde, was er vom Motto »lieber rot als tot« halte. Er stellte die Gegenfrage: »Was wäre Ihnen lieber: Wenn Ihre Tochter zerfetzt in einem Bombentrichter bei Bonn liegen oder friedlich in ihrer Wohnstube in Leipzig sitzen würde?« Was ist denn das eigentlich, das mehr wert sein soll als unser Leben? Mehr wert als das Leben unserer Kinder? Mehr wert als Leben auf diesem Planeten überhaupt? Oder nach Haig: Mehr wert als der Frieden? Was ist denn das eigentlich, das wir verteidigen wollen oder sollen? Was ist dieser Wert, der mehr wert sein soll als alles übrige? Sie sagen: Die Freiheit. Freiheit auf der Basis von Angst und Schuldgefühlen? Wessen Freiheit? Welche Freiheit? Ist es die Freiheit, für die unsere Väter, deren wir in Ehrfurcht zu gedenken haben, gefallen sind - wie es ein Spitzenpolitiker kürzlich formulierte? Oder ist es die Freiheit, nach der Pfeife Washingtons tanzen zu müssen? Die Freiheit, aufrüsten zu müssen, Waffen herstellen zu müssen, Waffen expor tieren zu müssen? Oder ist es die Freiheit des Konsumenten, zwischen dem Einkaufszentrum Ost und dem Einkaufszentrum West wäh len zu dürfen; zwischen Waschmitteln mit und ohne blaue Kügelchen wählen zu dürfen; zwischen Fertigmahlzeiten von Maggi und solchen von Knorr wählen zu dürfen? Oder die Freiheit des Arbeiters, zwischen einem Fließband bei Opel und einem solchen bei VW wählen zu können; der Kassiererin, zwischen einer Supermarktkasse bei Coop und einer solchen bei Edeka wählen zu können? des Computerfachmanns, zwischen IBM und Siemens wählen zu können? Oder die Freiheit des Lehrers, sich kritiklos unterzuordnen oder entlassen zu werden? Die Freiheit des Journalisten, auf die Inserenten Rücksicht zu nehmen oder entlassen zu werden? Die Freiheit des Pfarrers, dem Bischof zu gehorchen oder entlassen zu werden?
- 26 -
Die Freiheit des Staatsangestellten, die eigene politische Überzeugung zu ver heimlichen oder entlassen zu werden? Die Freiheit des Politikers, sich dem Fraktionszwang zu fugen oder ausgeschlossen zu werden? Die Freiheit, am Wochenende mit dem Wagen möglichst weit wegfahren zu können, weil man es an seinem Wohnort nicht mehr aushält? Die Freiheit, im Urlaub vom Hochhaus im Vorort von Frankfurt in ein Hochhaus an der Costa Brava übersiedeln zu können? Die Freiheit, eine Zweitwohnung haben zu können, weil die Verhältnisse in der Erstwohnung unerträglich sind? Die Freiheit, ohne Geschwindigkeitsbegrenzung über die Autobahn rasen zu können, keine Sicherheitsgurte tragen zu müssen? tausend Kinder im Jahr umzubringen, um mobil zu sein? Ist es diese Freiheit, für die wir unser Leben hergeben sollen? Eine Freiheit, die gar keime echten Alternativen offenläßt? »Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht paßt«, als Inhalt unserer Freiheit? Oder eine Freiheit, die in Rücksichtslosigkeit, Schrankenlosigkeit, Bindungslosgkeit besteht - also eine rein negative Freiheit? Wäre echte, positive Freiheit, die nicht nach dem »frei wovon«, sondern »frei wofür« fragt, nicht etwas ganz anderes? Eine Freiheit, die die Möglichkeit gibt, gestalten zu können? Und ist es nicht genau diese positive Freiheit, die uns in unserer Gesellschaft verwehrt wird? Weil die alles dominierende Freiheit die negative Freiheit der Wirtschaft ist; die negative Freiheit des Kapitals, sich dorthin begeben zu können, wo es am meisten rentiert? Ohne Rücksicht auf den Menschen? Ohne Rücksicht auf die Möglichkeit, Zukunft gestalten zu können? Wenn es unseren Politikern und Militärs ernst wäre mit der Behauptung, es gehe in der weltweiten Auseinandersetzung um die Wahrung unserer Freiheit, weshalb tun dann gerade sie ihr möglichstes, um die echte positive Freiheit immer weiter abzubauen: Überwachung, Computerkontrolle, Radikalenerlasse, Berufsverbote, Verstärkung der Polizei, Schließung von Freiräumen, die Diffamierung all jener, die Neues zu schaffen versuchen? Würde nicht die wichtigste Verteidigungsmaßnahme darin bestehen, endlich jene Freiheit zu schaffen, die mich erst fähig macht, mich einem äußeren Feind zu widersetzen, d. h., innerlich autonom zu werden?
- 27 -
Sie sagen: Die Demokratie! Welche Demokratie? Wo haben wir denn überhaupt Demokratie? Demokratie in der Schule, in der Kirche, in der Wissenschaft, an der Universität, in der Familie, im Sport, in der Wirtschaft, in der Bundeswehr? Wo in all diesen Bereichen haben wir wenigstens das demokratische Bekenntnis? Beschränkt sich denn unsere Demokratie nicht einzig und allein auf einen Teilbereich der staatlichen Entscheidungsfindung? Und besteht die Möglichkeit des einzelnen Bürgers nicht nur darin, alle vier Jahre zwischen einigen Damen und Herren wählen zu können? Und wenn ich da - weil es keine echten Alternativen gibt - nur noch zwischen Pest und Cholera wählen kann, will ich dann nicht lieber gesund bleiben? Wäre Demokratie nicht etwas völlig anderes als das Ablaufen von bestimmten staatlichen Institutionen? Eine Demokratie, die auch durch einen »Feind«, eine »Besetzung« nicht zu zerstören ist? Weil sie in meiner inneren Einstellung und meinem Verhalten den Mitmenschen gegenüber bestehen würde? Aber weshalb werden nun ausgerechnet jene, die es ernst meinen mit dieser echten Demokratie und die versuchen, demokratische Prinzipien auf andere Lebensbereiche wie Schule, Wirtschaft, Kirche zu übertragen, als Feinde unserer Demokratie bezeichnet? Geht es also gar nicht um Demokratie, sondern um die autoritären Machtstrukturen, die sich so leicht unter dem Mäntelchen Demokratie verbergen lassen? Sind es nicht eben diese Strukturen, die uns für einen totalitären Feind anfällig machen? Er muß ja lediglich die »führenden Persönlichkeiten« auswechseln. Wäre dann nicht die wichtigste Verteidigungsmaßnahme die Veränderung der heutigen Strukturen, die Verwirklichung echter Demokratie? Dies ist aber nicht möglich, solange das Prinzip Militär unsere Gesellschaft beherrscht. Sie sagen: Unseren Wohlstand. Das Leben hergeben für zwei statt einem Kotelett pro Woche; für einen Wagen' der 250 statt nur 120 Sachen fährt; für den Urlaub an der Costa Brava, statt in den Bayerischen Alpen; für frisches Gemüse aus der Sahel-Zone im Winter, statt der eigenen Kartoffeln; für das geheizte Chlor-Schwimmbad im Keller, statt des sauberen Freibades im Sommer? Das Leben hergeben für einen Wohlstand, der die Natur ausbeutet,
- 28 -
die Dritte Welt ausbeutet, die kommenden Generationen ausbeutet? Und welches ist das größere Versagen, das größere Verbrechen einer Gesellschaft: Von Zeit zu Zeit nicht all jene Waren zu haben, die wir angeblich in sinnloser Überfülle haben müssen, oder jedes Jahr Tausende von Tonnen Nahrungsmittel zu vernichten, während Millionen Menschen verhungern? Sie sagen: Die soziale Marktwirtschaft. Das Leben hergeben für ein wirtschaftliches Instrument? Um die Marktwirtschaft auszuschalten; braucht es die Russen nicht. Die Unternehmer mit ihren Kartellen, Fusionen, Verflechtungen, Bankabhängigkeiten sorgen selbst dafür. Sie sagen: Unsere Kultur. Micky Maus, Frankfurter Skyline, Hamburger, Autobahnen, Konservendosen, Konservenmusik, zwanzig Fernsehprogramme, Bild-Zeitung, Ketch-up, Musicals, Cowboy-Filme, Peep-Shows, Blue-Jeans, Miss World, Mr. Universum. Mein Leben wert? Sie sagen: Das Staatsgebiet. Die Konsequenz ist die Neutronenbombe. Alles intakt; das Volk versaftet. Sie sagen: Das Volk, uns selbst. Wieviel Prozent: 90%, 50%, 25% Überlebende? Oder reichen die 5%, die uns in Aussicht gestellt werden? Wäre es für uns - wenn Demokratie, Freiheit, Kultur usw. uns ausmachen - nicht viel wichtiger, an deren Verwirklichung zu arbeiten und diese Begriffe mit echtem Inhalt, mit Leben zu erfüllen, statt, wie das Kaninchen, gebannt auf die imaginäre Schlange zu starren, die all diese unsere angeblichen Errungenschaften verschlingen will? Ist es nicht ein alter Trick der Mächtigen, einen äußeren Feind aufzubauen, um die eigenen Konflikte unterdrücken und die eigene Unfähigkeit verbergen zu können? Sollten die Fragen nicht ganz anders lauten: Was ist das, was ich erhalten will? Was macht mich aus? Was würde machen, daß ich ich sein kann, wir wir sein können? Was wollen wir mit unserer Gesellschaft? Was wäre Gemeinschaft, in der ich mich wohl fühle? Was ist meine, unsere Eigenart, die ich schütz en will? Wodurch ist all dies 'bedroht? Ist es vielleicht die Gefahr
- 29 -
eines ökologischen Kollapses? Weshalb kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen all jene Manager, Gewerkschaftsführer und Politiker, für die das Bruttosozialprodukt noch immer wichtiger ist als unsere Umwelt? Ist es vielleicht die Verschärfung des Nord-SüdKonflikts? Warum kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen jene, die behaupten, wir müßten weiter wachsen - womöglich, um der Dritten Welt helfen zu können -, während dieses Wachstum zu Lasten der Dritten Welt geht? Ist es vielleicht die Groß-Technologie, die uns immer abhängiger vom Ausland macht? Die immer weniger Leuten immer mehr Macht über immer mehr Menschen verleiht? Die unsere Gesellschaft für Störungen immer noch anfälliger macht? Warum kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen AKWs, Autobahnen, Großindustrien? Ist es vielleicht der Anspruch der multinationalen Unternehmen, die Nationalstaaten zu überwinden und die menschliche Gesellschaft der Zukunft zu gestalten? Weshalb kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen jene, für die der Profit der alleinige Steuerungsfaktor für unsere Zukunft sein soll? Ist es vielleicht die Entwicklung unserer Wirtschaft, die mit ihrer Konzentration, ihrer Zentralisation, ihren Großstrukturen, ihren Verflechtungen, ihren Abhängigkeiten Demokratie unmöglich macht? Weshalb kämpfen wir nicht in erster Linie gegen jene, die uns - nach ihren eigenen Aussagen - immer mehr von sogenannten Sach-- und Systemzwängen abhängig machen? Ist es vielleicht die Vermassung durch Standardisierung, Normierung, Massenproduktion, Massenkommunikation? Weshalb kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen jene, die behaupten, Sozialismus sei die Unterdrückung des Individuums, während sie selber einerseits den genormten Menschen verlangen, andererseits durch das Konkurrenz-Prinzip Egoisten, Egozentriker, Narzißten züchten? Oder ist all das, was unsere Eigenart ausmacht, das wir schützen wollen, einzig und allein, oder doch vordringlich, durch die russischen Atomraketen und Panzerarmeen bedroht? Wer setzt denn diese kuriosen Prioritäten? Was wäre ein Problemen gelöst, wenn die Sowjetunion kapitalistisch würde? Was will eigentlich die Friedensbewegung?
- 30 -
Selbstverständlich geht es in erster Linie einmal um den Kampf gegen die Mittelstrecken-Raketen. Dieser Kampf allein ist schon ein wichtiger Teil der Bewegung. Wenn er erfolgreich sein sollte: Ist Abbau von Angst nicht allein schon wichtig? Ist die Verhinderung einer weiteren Eskalation nicht bereits etwas Entscheidendes? Ist die Geste des Verzichts nicht ein wichtiger Schritt? Und doch die Vorbehalte: Wenn der Erfolg der Friedensbewegung einzig und allein in diesem Schritt bestehen würde, könnte sie sogar das Gegenteil dessen bewirken, was sie anstrebt. Entspannungsgefühle müssen noch keine Entspannung sein. Eine Entspannung, die darin besteht, daß wir nur - wie bisher - x-mal umgebracht werden können, statt wie geplant - y- mal, ist kein Schritt in die Zukunft. Eine solche Entspannung kann uns einlullen, indem sie uns einen Frieden im Sinne der Militärs und Politiker vorgaukelt: Es besteht keine unmittelbare Kriegsgefahr. Sind wir dadurch einem echten Frieden näher gekommen? Einem Frieden, der nicht in der Kriegsabwehr besteht? Ist der nächste Schritt schon wesentlich mehr: Der Verzicht auf Atomwaffen in Europa? Oder gar der Aufbau einer rein defensiven Territorial-Truppe in der Bundesrepublik, z. B. ohne Panzer? Ist nicht erst der Verzicht auf Militär ganz allgemein das Entscheidende? Wäre nicht erst der Verzicht auf Militär die einzige realistische Lösung, während alle anderen, d.h. die militärischen Lösungen reine Spekulation bleiben? Hat sich nicht - wenn wir endlich aus der Geschichte lernen wollten - militärische Spekulation noch immer als falsch erwiesen? Führt diese Spekulation nicht immer entweder zur Niederlage oder zu noch mehr Kriegen oder zur Übernahme der Mentalität des Besiegten durch den Sieger und damit schließlich zum Sieg des Besiegten? Also Entmilitarisierung, Blockfreiheit, Neutralität als das Entscheidende der Friedensbewegung? Haben wir dann Frieden? Können wir friedlich sein in einer Gesellschaft, die auf dem Konkurrenz-Prinzip beruht? Konkurrenz heißt Kampf. Konkurrenz hat zwar immer einen Gewinner, den man groß vorzeigt. Sie hat aber immer auch einen Verlierer, einen Besiegten, einen Versager; die Karriere schon dem jungen Menschen als Lebensziel vorgibt?
- 31 -
Karriere heißt ebenfalls Kampf. Kampf gegen den Mitmenschen. Ich muß ihn übertrumpfen, unterdrücken wollen; die Hierarchie als selbstverständliches Ordnungsprinzip befürwortet? Hierarchie heißt, daß es Mächtige gibt und Ohnmächtige, daß es Leute gibt, die befehlen dürfen, und solche, die gehorchen müssen. Friedensbewegung muß viel mehr sein und ist viel, viel mehr als Bekämpfen der Mittelstrecken- Raketen, Blockfreiheit und Neutralität, als Entmilitarisierung. Die Friedensbewegung kann zur entscheidenden Bewegung dieses Jahrhunderts werden. Sie kann Anfang einer Revolution - einer Umwälzung - sein, die an die Französische Revolution anschließt. In der Friedensbewegung haben sich all jene Kreise zusammengefunden, die mit dem Bekenntnis unserer Gesellschaft zu Demokratie, Christentum, Humanität, Gerechtigkeit endlich ernst machen wollen. Es sind unzählige Kreise, Vereinigungen, Gruppen, Grüppchen, die sich in Bonn versammelt hatten. Sie lassen sich inhaltlich nicht erfassen. Vor allem lassen sie sich nicht organisieren, nicht strukturieren. Es wäre ein Widerspruch in sich, denn das Neue besteht u. a. in der Nicht- Organisation, der Nicht-Strukturierung. Das Wesentliche ist, daß all diesen Gruppen, die wir insgesamt als Alternativ-Bewegung bezeichnen können, eine gemeinsame Grundhaltung zu eigen ist: Rücksichtnahme statt Eigennutz Liebe statt Ablehnung Solidarität statt Konkurrenz Eingeordnetsein statt Überwindung Hoffnung statt Angst Sein statt Haben. Die Friedensbewegung versucht, all jenes zu verwirklichen, das erst Frieden echt machen würde. Wir probieren Gemeinschaften aus, die nicht denjenigen prämieren, der den anderen unterdrückt, sondern wo jeder den anderen als Partner akzeptiert; in denen nicht derjenige Gewinner ist, der den anderen fertigmacht, sondern wo jeder mit jedem für jeden leben will; die nicht von Starken beherrscht werden, sondern in denen Menschen leben, die sich nach dem Schwachen richten; die nicht rational sein wollen, sondern in denen man Gefühle haben und zeigen darf.
- 32 -
Friedensbewegung ist der Aufstand der Bürger gegen die Experten; der Aufstand von Menschen mit Zukunft gegen die alten kranken Männer, die uns regieren; der Aufstand der Optimisten gegen die Pessimisten; der Aufstand der autonomen Menschen gegen die Autoritäten; der Aufstand der realistischen Träumer gegen die defaitistischen Spekulanten. »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Friedensbewegung macht bewußt; löst Betroffenheit aus; macht fähig, sich zu verweigern; macht fähig, an eine Zukunft zu glauben. Frieden ist nicht passiv sein; nicht nachgeben; nicht Ruhe; nicht Anpassung. Frieden ist Konfrontation: Wie soll ich sonst den anderen erkennen können? Frieden ist Konflikte suchen: Wie soll ich sonst wissen, wo die Probleme liegen? Frieden ist Polarisation. Oder gibt es nur den einen Pol, den Pol der Mächtigen? Frieden ist Auseinandersetzung. Oder will ich den anderen überwältigen? Frieden ist Einvernehmen. Oder will ich der Minderheit diktieren? Anpasser, Angepaßte, aufgepaßt: Ihr wollt überleben? Mit Rüstung? Mit Atomwaffen? Mit der Neutronenbombe? Mit Militär? Ihr wollt überleben? Indem sie euch zu Tode rüsten? Indem sie aus unserem Europa ihr Schlachtfeld machen?
- 33 -
Überleben werdet ihr nur ohne Waffen. Überleben wird aber nur, wer Widerstand leisten kann. Widerstand leisten können nur jene, die schon vorher Widerstand geleistet haben. Widerstandsfähig war nie die schweigende Mehrheit. Widerstandsfähig sind nur die Rebellen. Die schweigende Mehrheit - die Angepaßten – passen sich unverzüglich auch einem neuen Herrscher an. Rebellen bleiben Rebellen. Wollt ihr überleben? Dann rebelliert! Hier und jetzt! Hans A. Pestalozzi (1982).
- 34 -
• WOLFGANG STERNECK • DER KAMPF UM DIE TRÄUME Die Grundlage einer freien Gesellschaftsordnung bildet der Traum eines Lebens, das auf zwischenmenschlicher Wärme und Liebe basiert, auf der Möglichkeit einer unabhängigen Entwicklung und auf Werten wie Solidarität, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Die Verwirklichung dieses Traumes setzt den Widerstand gegen den vorherrschenden Prozeß der Zerstörung von Mensch und Natur voraus. Ein Weg, in den unterschiedlichste Einflüsse eingehen können, ist die Entwicklung gemeinschaftlicher Strukturen im Rahmen gegenkultureller Freiräume, die im Idealfall eine Verbindung von innerer und äußerer Veränderung ermöglichen. Der Kampf um die Träume bzw. der Kampf um die Bedürfnisse und das Bewußtsein der Menschen ist allgegenwärtig. Er wird auf der gesellschaftlichen Ebene genauso geführt wie im Innern jeder und jedes Einzelnen. Die Struktur der bestehenden westlichen Gesellschaftssysteme basiert auf verschiedenen Herrschafts- und Manipulationsmechanismen, die wechselwirkend ineinander übergreifen und gleichermaßen den zwischenmenschlichen privaten Bereich wie auch den öffentlichen Bereich bestimmen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist subjektiv in das bestehende System integriert, übernimmt weitgehend die vorgegebenen Denkund Handlungsmuster und ist zumeist gleichzeitig überzeugt, frei und unabhängig zu sein. Gegenwärtig kommt es vor allem über die Massenmedien bzw. über die Bewußtseinsindustrie zu einer Kontrolle der Willensbildung und der Wahrnehmung, die sich im Zuge der technischen Entwicklungen und der politischen Gleichschaltung noch weiter verschärfen wird. Gerade der scheinbar unpolitische Unterhaltungsbereich nimmt eine herausragende Funktion ein. Durch ihn werden in einer zumeist äußerst subtilen Weise systemtragende Einstellungen weitertragen, wie zum Beispiel der Konsumzwang, das Leistungsprinzip oder sexistische Haltungen, auch wenn dies vielfach von den Beteiligten nicht beabsichtigt wird und die Erwirtschaftung von Profit im Vordergrund steht. Deutlich wird dabei, daß es keine kulturellen Erzeugnisse ohne gesellschaftliche Funktion, ohne politische Tendenz gibt. Am einflußreichsten sind vielfach gerade die Filme, Fernsehshows und Musikstücke, die vorgeben keine tiefere
- 35 -
Aussage zu besitzen. Unterdrückte und unbefriedigte Bedürfnisse, sei es nach zwischenmenschlicher Wärme, nach einer freien Sexualität, nach selbstbestimmter Entfaltung oder nach einem gewissen Wohlstand, werden in die Traumwelten der Medienstars projiziert, in denen es scheinbar möglich ist, alle Wünsche zu verwirklichen. Unterschwellig wird vermittelt, daß es möglich ist, durch den Besitz eines bestimmten Produktes den Träumen näher zu kommen, während es dabei tatsächlich zu einer Ablenkung von den eigentlichen Problemen und deren Ursachen kommt. Dementsprechend ist auch der Geschmack keineswegs ein Ergebnis einer unabhängigen Entscheidung, sondern vielmehr in einem wesentlichen Ausmaße die Folge gezielter künstlicher Beeinflussungen. Selbst Menschen, die in weit von den Metropolen entfernten Gebieten leben, können über das Fernsehen erreicht und beeinflußt werden. Die weltweit ausgestrahlten us-amerikanischen TV-Serien werden dabei genauso wie die internationalen Musikhits aus den Vermarktungsabteilungen der multinationalen Konzerne zu Symbolen eines modernen Imperialismus. Dieser nutzt verstärkt die populäre Kultur und die Medien zur Erhaltung bzw. zur Ausweitung seiner Macht und trägt über den Prozeß der weltweiten Gleichschaltung zur Zerstörung eigenständiger Kulturformen bei. Gleichzeit ig werden aber auch rebellische Grundhaltungen, wie sie in der Musik insbesondere im Zusammenhang mit Jugendbewegungen immer wieder auftreten, in ihrer Hauptströmung durch den riesigen Verwertungsapparat der Konzerne entschärft und kommerziell verwertet. Die Geschichte der populären Musik ist von solchen Entwicklungen geprägt, sie lassen sich im Zusammenhang mit dem Rock-'n'Roll genauso aufzeigen wie am Beispiel der Punk-Musik oder der Techno-Kultur. Der Personenkult um die Medienstars, deren Einfluß insbesondere auf Jugendliche teilweise größer ist als der von Eltern, LehrerInnen oder PolitikerInnen, läßt sich auf autoritäre Charakterstrukturen zurückführen. Die Wurzeln liegen in einer Erziehung, die von frühester Kindheit an eine freie Entfaltung verhindert und auf der Unterordnung gegenüber Autoritäten in fast allen Lebensbereichen basiert. Aus dieser Entwicklung heraus entsteht eine Persönlichkeitsstruktur, welche eine Orientierung an Führern, imaginären Göttern oder Stars sucht, die bis zur völligen
- 36 -
Unterwerfung reichen kann. Die eigenen unterdrückten Bedürfnisse werden auf die Leitfiguren übertragen und deren Werteordnung übernommen. Doch so sehr auch die Mechanismen der Manipulation bzw. die Verinnerlichung der Unterdrückung fortgeschritten sind, ein le tztes Stück innerer Lebendigkeit, das Bedürfnis nach freier Entfaltung und Selbstbestimmung, wird immer gegeben sein. Ob sich dieses Bedürfnis entwickeln kann und zu einer bewußten Haltung wird, liegt im wesentlichen an jeder Person selbst. Der zerstörende Charakter der gegenwärtigen Entwicklungen, denen gleichermaßen Mensch und Natur zum Opfer fallen, ist trotz der vielfältigen Ebenen der Verschleierung dermaßen offensichtlich, daß niemand behaupten kann, er oder sie habe nichts gewußt. Entsprechend kann sich der Verantwortung bzw. gegebenfalls der aus der Passivität und der Teilnahme folgenden Mitschuld niemand entziehen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, also keine wirklich befreite Form der Existenz unter den Bedingungen eines zerstörenden Systems, stellte Adorno einmal fest. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Annäherung aber besteht. Wolfgang Sterneck
- 37 -
• ROLF SCHWENDTER •
VON DER UTOPIE ZUR SOZIALEN INNOVATION Wie Ernst Bloch bislang unwiderlegterweise ausgeführt hat, scheint Utopie zu den anthropologischen Grundausstattungen zu zählen: Als mehr oder weniger hilfreiches Herbeiwünschen besser (oder doch als besser wahrgenommener) gesellschaftlicher Verhältnisse, welches schon beim „schäbigsten Tagtraum" (Bloch) beginnt. Die Utopie hat hierbei die verschiedensten Formen angenommen, von der Religion zum Märchen, vom Staatstraum (etwa der namensgebenden „Utopia" des Thomas Morus um 1520) bis zum Gedicht, von der Wandzeitung der utopischen Phase einer Zukunftswerkstatt bis zu einer ad hoc zusammengetragenen Spruchsammlung. Hierbei markiert Utopie jedenfalls stets zwei Momente: die Negativfolie des jeweiligen schlechten Bestehenden (sage mir, was für Utopien geschrieben werden, und ich sage Dir, in was für eine Gesellschaft diese abgefaßt worden sind), und ein überschießendes Bewußtsein (so der frühere Rudolf Bahro in „Die Alternative"), aus welchem die kreativen Aspekte zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen entspringen. Utopie ist nicht notwendigerweise mit bestimmten politischen Richtungen verbunden - wenn man selbst die düstersten Aspekte des Realsozialismus in dem zentralistischen Utopien etwa von Cabet oder Bellamy vorweggenommen worden sind. Auch Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie, heute ideelle Säulen des Establishments, haben als Utopien begonnen (als sie nämlich die Negativfolie der Herrschaft der Grundbesitzenden bildeten), wie auch Technokratie, Konzertierte Aktion oder Sozialpartnerschaft (all dies findet sich, wenn auch mit anderen Bezeichnungen, in den Utopien des Claude-Henri Saint-Simon). Schließlich gibt es ebenso rechtsextreme Utopien (Hitlers Gespräche mit Rauschming oder Picker sind nicht eben frei davon). Wie andere Erscheinungsformen des Lebens auch, bilden sich Utopien aus den Interessen der Klassen, Klassenströmungen, Stände, Schichten, Stile (oder wie auch sonst immer) heraus, vermischen sich, flachen sich (und einander) ab. Wie in der Philosophie auch, galt lange Zeit (etwa 1520 - 1930) in den Utopien das Streben nach er systematischen geschlossenen Form als der Königsweg. Der große Teil der utopischen Sozialismen,
- 38 -
schon der Staatsromane der Aufklärung, noch die Entwürfe eines Rudolf Steiner oder Herbert George Wells haben solche Formen zu entwickeln versucht. Sicht ist die Utopie als „Staatsroma" zu einem eher am Rande liegendem Sonderfall geworden (etwa in Ursula le Guins „Planet der Habenichtse" oder in P.M.s „Weltgeist Superstar", bzw. „Olten - alles aussteigen! Ideen für eine Welte ohne Schweiz" nicht in seiner bekanntesten Arbeit „Bolo Bolo"). Die allermeisten utopischen Äußerungen sind zwischenzeitlich fragmentarische, prozeßual, antwortvielfältig, durch Verfahren (etwa den Zukunftswerkstätten) reproduzierbar, als Motivation ganz anders focussierender Schriften zu erkennen. So entstammen zwei der meines Erarchtens größten utopischen Versatzstücke des 20. Jahrhunderts der Feder (oder Schreibmaschine) von Autoren, die sich stets von de Utopie distanziert haben: die „offene Gesellschaft" Karl Raimund Poppers (nun bin ich 58 geworden, und habe noch nie eine solche erlebt, uns Mauern, Mauern, Mauern...) und die „herrschaftsfreie Kommunikation" Jürgen Habermas'. Die Utopie als Negativfolie betreffend, fällt auf, daß die „Ordnungsutopien" (wie sie Ernst Bloch nennt), welche mit den „Freiheitsutopien" in etwa sich die Waage gehalten hatten, zugunsten der letzteren so gut wie verschwunden sind. Die bislang letzten drei mir bekanntgewordenen sin ca. 20 Jahre alt, sie sind von Gruhl, Heilbroner und Harich, und entwerfen allesamt, zur Bändigung des befürchteten ökologischen Chaos, weltweite Ökodiktaturen. Demgegenüber wird die dezentralistischen Traditionslinie von Charles Fourier, William Morris, Peter Kropotkin, mehr oder weniger fragmentarisch, in eine Fülle von Arbeiten weiterentwickelt, so etwa bei Aldons Huxley (Eiland), George Orwell (Katalonien), Paul Goodmann, Erich Fromm, Johann Galtung, Ernst Kahr, Robert Jungk, Ernest Callenbach, P.M., Walter Neuamnn, Bernd Leßmann, Emilio Modena, sowie in so gut wie sämtlichen feministischen Utopien. Das sagt etwas über die bestehende Gesamtgesellschaft aus, die wohl wahrscheinlich sehr zentralistisch, agglomerierend, megalomanisch, vereinheitlichend, verregelnd sein muß. Soviel zur raschen Wiederholung meiner Ausgangsposition (sie ist im Buch „Utopie" bei der Edition ID-Archiv ausführlich dargelegt). Denn vom Utopien selber, im entfalteten Sinne ihres Wortes, soll es bei dieser Tagung nicht wiederum gehen. Die entscheidende Frage dieser Tagung scheint mir zu sein, was aus der Utopie folgt, was je
- 39 -
nach der Utopie kommt, wie diese im Laufe ihrer möglichen fragmentarischen Realisierung sich verändert, wie die „Mühen" der Ebenen" (Bertolt Brecht) sich gestalten. In der Struktur der Zukunftswerkstatt folgt auf die utopisch Phase die strategische Phase: jene, in der sich bestimmt, wieviel Wasser des Realitätsprinzips in dem utopischen Wein des „Prinzp Hoffnung" hineingetan werden muß, um noch zu irgend einen „wirklichen" Ergebnis zu kommen, welches mehr Wirkungen haben könnte, als angenehm zu lesen zu sein. Dies ist dann die Soziale Innovation. Nicht zufällig ist auch in Robert Jungk / Norbert R. Müllerts Standardwerk übe Zukunftswerkstätten von Sozialen Innovationen als deren Ergebnis die Rede, und zwar , bevor noch die Autoren darangehen, die Einzelheiten dieser Verfahren zu beschreiben. Sinngemäß (und letztlich an Stuart Conger orientiert, der die entsprechende Monographie zu Sozialen Innovationen geschrieben hat) definieren sie Soziale Innovationen als Institutionen, Rechtsnormen oder Prozesse, die gesellschaftlich verändernd wirken, und zwar im Sinne einer intendierten Humanisierung der Welt. Hierbei wird in der Literatur zwischen sozialer Erfindung und Sozialer Innovation unterschieden (diese Unterscheidung haben Conger und Jungk jenem Zweig der Zukunftsforschung entnommen, der sich auf technische Trends bezieht - etwa Erich Jantsch „Technological Forecasting in Perspective"): die Soziale Erfindung schafft gleichsam das Modell, in der Sozialen Innovation wird es auf Seite gelegt (wir wissen, daß die Frist zwischen beiden gelegentlich 100 Jahre dauern kann). Jungk und Müllert führen eine ganze Reihe von Sozialen Erfindungen der vergangenen beiden Jahrhunderte an: vom Grundrechtskatalog der Menschen- und Bürgerrechte (1776/1789) bis hin zum (allmählich wiederum einschlafenden) Netzwerk Selbsthilfe (1978 - dieses entstand ja auch aus einer Serie von Berliner Zukunftswerkstätten). Strukturell sind Soziale Innovationen zumeist im Schnittpunkt des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses situiert. Marx hat (im „Kapital 5") ausgeführt, wie etwa der Normalarbeitstag (fraglos eine bedeutende Soziale Innovation, auch wenn sie heute auf dem Wege der „Arbeitgeber" zurück ins 19. Jahrhundert zusehends durchlöchert wird) zustande zukommen begonnen hat: als Interesse des Proletariats (fraglos geleitet von der Utopie, weniger arbeiten zu müssen, die sich auch von Paul Lafargue bis Andre Gorz immer
- 40 -
wieder findet), verbunden mit dem Interesse des Gesamtkapitals (vermittelt durch den Staat) an einem nicht allzu ausgebluteten Proletariat (das dann z.B. keinen Wehrdienst leisten kann). Das mit dem Namen Bismarcks verbundene Sozialversicherungssystem nimmt die Mitte zwischen den (revolutionär intendierten) Forderung an der deutschen Arbeiterbewegung und der staatlich beherrschten Fremdbestimmung ein. Mag sein, daß eines Tages die Grundsicherung auf ähnliche Weise zustandekommt: schon habe ich auf einer Tagung erlebt, daß Firmendirektoren den Eindruck erweckten, einem Tausch Grundsicherung - Lohnnebenkosten durchaus etwa an Perspektive abgewinnen zu können. Sicherlich sind die genannten drei Beispiel nicht repräsentativ - es gibt auch Soziale Innovationen, die mit Alternativer Ökonomie nichts zu tun haben. Doch ist ihre Häufung in dieser Sphäre kein Zufall. In einer Befragung des Forschungsprojektes Soziale Innovationen 1988, bei welcher auf die Frage nach den 20 (je subjektiv) bedeutendsten Sozialen Innovationen immerhin über 30 Antworten eintrafen, entstammte der Großteil der Meistgenannten diesem Gegenstandsbereich: Wohngemeinschaften, Genossenschaften, Selbsthilfe, Grundsicherung, Netzwerk Selbsthilfe, Ökobank, taz, Wissenschaftsläden, Jugendzentren, soziale Bewegungen, Partei Die Grünen (die damals noch Hoffnungen weckte, eine „Partei anderen Typs" zu werden, wovon bekanntlich wenig übriggeblieben ist( - um nur einiges zu nennen. Nur vereinzelte Nennungen bezogen sich auf die Legislative (z.B. Ökosteuern), auf etablierte Freizeiteinrichtungen (z.B. Diskos) oder auf subkulturenübergreifende Verfahren (z.B. Metaplan, Psychodrama). Nicht nur wäre nachweisbar, daß Soziale Innovationen nicht ohne dahinterliegende Utopien zustandekommen (deren TrägerInnen wiederum häufig subkulturelle Personen oder Gruppen darstellen), sondern auch, daß keine Reform, die den Namen verdient, ohne Soziale Innovationen, folglich ohne Utopien, auskommt. Rolf Schwendter
- 41 -
• HAKIM BEY • DIE TEMPORÄRE AUTONOME ZONE Die Seeräuber und Korsare des 18. Jahrhunderts schufen ein "Informationsnetzwerk", das den Globus umspannte: primitiv und primär dem harten Business gewidmet, funktionierte das Netz dennoch auf bewundernswerte Weise. Das Netz bestand aus versprengten Inseln, entlegenen Verstecken, wo Schiffe vor Anker gehen und mit Proviant beladen, Raubgut und Beute gegen Luxusgüter und Notwendigkeiten getauscht werden konnten. Einige dieser Inseln unterstützten "intentionale Gemeinschaften", ganze Mini-Gesellschaften, die bewußt außerhalb des Gesetzes lebten und entschlossen waren durchzuhalten, und sei es auch nur für eine kurze aber glückliche Zeit. Vor einigen Jahren schaute ic h die Sekundärliteratur zum Piratentum durch in der Hoffnung, eine Studie über diese Enklaven zu finden - aber bislang scheint kein Historiker dies einer Analyse für wert befunden zu haben. (William Burroughs und der britische Anarchist Larry Law haben die Enklaven erwähnt.) Ich griff auf Primärquellen zurück und schuf meine eigene Theorie. Ich nenne die Siedlungen "Piratenutopias". Bruce Sterling, einer der führenden Vertreter der CyberpunkScience-Fiction, veröffentlichte einen Zukunftsroman, der auf der Annahme basiert, daß der Zerfall politischer Systeme zu einer Zunahme von dezentralisierten Lebensexperimenten führen wird: riesige Unternehmen in Produzentenhand, unabhängige Enklaven, die sich der "Datenpiraterie" widmen, anarchistische befreite Zonen usw. Die Informationsökonomie, die diese Vielfalt trägt, wird das Netz genannt; die Enklaven sind "Inseln im Netz" (wie auch der Buchtitel lautet). Die Assassinen des Mittelalters gründeten einen "Staat", der aus einem Netzwerk abgelegener Bergtäler und Festungen bestand, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt, nicht einnehmbar und über die Informationsweitergabe durch Geheimagenten miteinander verbunden waren. Sie befanden sich im Kriegszustand mit allen Regierungen, und es ging ihnen ausschließlic h um Erkenntnis. Die moderne Technologie, kulminierend in Spionagesatelliten, läßt diese Art von Autonomie zu einem
- 42 -
romantischen Traum werden. Es gibt keine Pirateninseln mehr! Zukünftig könnte die gleiche Technologie befreit von jeglicher politischen Kontrolle - eine Welt von autonomen Zonen möglich machen. Einstweilen bleibt ein solches Konzept allerdings Science Fiction - pure Spekulation. Werden wir, die wir in der Gegenwart leben, denn niemals Autonomie erleben, niemals einen Moment lang auf einem Stückchen Land stehen können, das nur von Freiheit regiert ist? Sind wir denn auf die Verklärung von Vergangenheit und Zukunft reduziert? Müssen wir warten, bis die ganze Welt von politischer Kontrolle befreit ist, bevor nur ein einziger von uns behaupten kann zu wissen, was Freiheit bedeutet. Logik und Emotion verbinden sich, um eine solche Annahme zu verwerfen. Die Vernunft behauptet, man könne nicht für etwas kämpfen, das man nicht kennt. Und das Herz empört sich über ein Universum, das grausamerweise einzig unserer Generation solche Ungerechtigkeiten widerfahren läßt. Zu sagen "Ich werde nicht frei sein, bis alle Menschen (oder alle fühlenden Wesen) frei sind", heißt, sich in einen Zustand der Regungslosigkeit zurückziehen, Menschlichkeit zu verneinen. Wir definieren uns so als Verlierer. Ich glaube hingegen, daß sich aus Zukunftsvisionen und dem Wissen um die Vergangenheit der "Inseln im Netz" Beweise zusammentragen lassen, die deutlich machen, daß gewisse "freie Enktaven" heutzutage nicht nur möglich, sondern auch existent sind. Meine Studien und Spekulationen kristallisieren sich in dem Konzept der Temporären Autonomen Zone (in der Folge abgekürzt: TAZ). Doch trotz der synthetisierenden Kraft für mein eigenes Denken möchte ich die TAZ mehr als einen Essay ("Versuch"), als Vorschlag, als poetische Spielerei verstanden wissen. Ich habe es bewußt vermieden, eine Definition der TAZ zu liefern. Letztendlich erklärt sich die TAZ fast von selbst. Würde der Terminus gebräuchlich werden, würde er ohne Schwierigkeiten verstanden... begriffen in der Aktion. Die TAZ ist wie ein Aufstand, der nicht zur direkten Konfrontation mit dem Staat führt, wie eine Operation einer Guerilla, die ein Gebiet (Land, Zeit, Imagination) befreit und sich dann auflöst, um sich irgendwo / irgendwann zu reformieren, bevor der Staat sie zerschlagen kann. Da dem Staat primär an Simulation denn
- 43 -
an Substanz gelegen ist, kann die TAZ diese Gebiete heimlich "besetzen" und eine ganze Weile in Ruhe ihren freudigen Zwecken nachgehen. Bestimmte kleine TAZen haben ewig existiert, da sie unbemerkt blieben, wie etwa Hillbilly-Enklaven, da sie sich nie mit dem Spektakel kreuzten, niemals jenseits jenes realen Lebens erschienen, das den Agenten der Simulation unsichtbar ist. Babylon hält seine Abstraktionen für Realitäten; genau in diesem Bereich des Irrtums kann die TAZ existent werden. Die TAZ lebendig werden lassen, kann Taktiken der Gewalt und Verteidigung beinhalten, ihre größte Stärke aber ist ihre Unsichtbarkeit - der Staat kann sie nicht wahrnehmen, da die Geschichte keine Definition davon kennt. Sobald die TAZ benannt (repräsentiert, mediatisiert) ist, muß sie verschwinden, wird sie verschwinden und ein leere Hülse zurücklassen, nur um anderswo wieder zu enstehen, erneut unsichtbar, weil in Begriffen des Spektakels nicht faßbar. Die TAZ ist daher eine perfekte Taktik in einer Zeit, da der Staat omnipräsent und allmächtig ist und dennoch zugleich Risse und Leerstellen zeigt. Und da die TAZ ein Mikrokosmos dieses "anarchistischen Traumes" einer freien Kultur ist, kann ich mir keine bessere Taktik vorstellen, mit der auf dieses Ziel hingearbeitet werden könnte, während gleichzeitig einiger ihrer Vorzüge schon hier und jetzt erfahrbar sind. Die TAZ ist der Ort von Guerilla -Ontologen: zuschlagen und abhauen. Haltet den ganzen Stamm in Bewegung, selbst wenn er nur im Spinnengewebe existiert. Die TAZ muß zur Verteidigung in der Lage sein; aber sowohl der "Angriff" wie auch die "Verteidigung" sollten, wenn möglich, der Gewalt des Staates ausweichen, die längst bedeutungslos ist. Die Attacke gilt den Strukturen der Kontrolle, im wesentlichen den Ideologien. Die Verteidigung ist "Unsichtbarkeit", eine Kampfsportart, und "Unverwundbarkeit" eine "okkulte" Kunst innerhalb der Kampfsportarten. Die "nomadische Kriegsmaschinerie" erobert, ohne bemerkt zu werden, und zieht weiter, bevor die Karten neu gezeichnet sind. Was die Zukunft betrifft - nur Autonome können Autonomie denken, sie organisieren, schaffen. Der erste Schritt ist Satori ähnlich - die Realisierung, daß die TAZ mit einem einfachen Akt des Realisierens beginnt. Wir verfügen über ein ganzes Spektrum an Verweigerungshaltungen - und über eine vielfältige Festkultur, die der Aufmerksamkeit der Möchtegernmanager unserer Muse entzogen und verborgen bleibt. "Fight for the right to party" ist in der Tat
- 44 -
keine Parodie auf den radikalen Kampf, sondern eine neue Manifestation dessen. Angemessen einer Zeit, die TVs und Telephone als Möglichkeiten offeriert, andere Menschen "zu erreichen und zu berühren". Die "Stammeszusammenkünfte" der sechziger Jahre, die Waldkonklaven von Öko-Saboteuren, das idyllische keltische Maifest Beltane der Neuen Heiden, anarchistische Konferenzen, schwule Märchenzirkel.... Harlem Rent Parties der zwanziger Jahre, Nachtclubs, Bankette, libertäre Picknicks der alten Zeit - wir sollten verstehen, daß all diese in gewisser Weise bereits "befreite Zonen" waren, zumindest potentielle TAZen sind. Ob nun offen für ein paar Freunde, wie im Falle einer Dinner Party, oder für tausende von Feiernden, wie bei einem Be-In, die Party ist immer "offen"; sie mag geplant sein, wenn sie sich aber nicht "ereignet", ist sie ein Fehlschlag. Das Element der Spontanität ist entscheident. Das Wesentliche der Party: von Angesicht zu Angesicht, eine Gruppe von Menschen agie rt synergetisch, um die Wünsche des Einzelnen zu befriedigen, entweder die nach gutem Essen oder Vergnügen, Tanz, Konversation, Lebenskunst, vielleicht sogar die nach erotischem Vergnügen oder nach Vollendung eines gemeinsamen Kunstwerkes oder auch nach Seligkeit, kurz, eine "Union von Egoisten" (laut Stirner) in ihrer einfachsten Form oder aber, im Sinne Kropotkins, eine grundlegende Triebkraft in Richtung "gegenseitiger Hilfe"... Wir sprechen vom Netz, das als die Gesamtheit aller Informationsund Kommunikationstransfers definiert werden kann. Die Informationsübertragung ist in vielen Fällen privilegiert und bestimmten Eliten vorbehalten, was dem Netz eine hierarchische Dimension verleiht. Andere Transaktionen hinegen sind für alle offen - das Netz hat also auch einen horizontalen oder nichthierarchischen Aspekt. Daten des Militärs und der Geheimdienste unterliegen der Geheimhaltung ebenso wie die der Banken und Währungsinformationen und ähnliches. Aber Telefon, Postsystem, öffentliche Datenbanken etc. sind weitgehend für alle zugänglich. Daher ist innerhalb des Netzes allmählich eine Art Gegen-Netz entstanden, das wir Spinnengewebe nennen werden (so als sei das Netz eine Art Fischernetz und bestünde das Spinnengewebe aus Weben, die in die Zwischenräume und Lücken des Netzes gewebt wurden).
- 45 -
Im allgemeinen gebrauchen wir den Terminus Spinnengewebe, wenn wir uns auf die alternierende horizontale offene Struktur des Infoaustausches, das nicht-hierarchische Netzwerk beziehen und uns den Begriff Gegen-Netz für die klandestine illegale aufrührerische Nutzung des Spinnengewebes, einschließlich Datenpiraterie und anderer Formen im Netz selber zu fischen, vorbehalten. Netz, Spinnengewebe und Gegen-Netz sind Teile des gleichen Komplexes - sie verschwimmen an unzähligen Punkten ineinander. Die Begriffe sollen keine Gebiete, sondern lediglich Tendenzen benennen. Die gegenwärtigen Formen des Spinnengewebes sind, so muß man vermuten, immer noch recht primitiv: das marginale Zine-Netzwerk, die BBS-Netzwerke, geklaute Software, Hacking, TelefonPhreaking, ein wenig Einfluß in den Printmedien und in Radiosendern und fast keinen in den anderen großen Medien - nicht in Fernsehstationen, keine Satelliten, keine Fiberoptik, kein Kabel etc. etc. Das Netz selber zeigt jedoch ein Muster sich verändernder / entstehender Beziehungen zwischen Subjekten ("users") und Objekten ("data"). Die Natur dieser Beziehungen ist ausführlich erforscht worden, von McLuhan bis zu Virilio. Die TAZ hat einen temporären wie wirklichen Ort in der Zeit und einen temporären wie wirklichen Ort im Raum. Aber sie muß natürlich auch ihren "Ort" im Spinnengewebe haben, und dieser Ort ist von anderer Natur, nicht wirklich, sondern virtuell. Das Spinnengewebe bietet nicht nur logistische Unterstützung für die TAZ, es hilft auch, sie zu schaffen; grob gesprochen könnte man sagen, daß die TAZ im Informations-Raum wie in der "wirklichen Welt" existiert. Wir haben bemerkt, daß es der TAZ, da sie temporär ist, notwendigerweise an einigen Vorteilen der Freiheit fehlt, die aus der Erfahrung von Dauer und mehr-oder-weniger festem Ort erst entsteht. Aber das Spinnengewebe kann einiges von Dauer und Ort substituieren, die TAZ von Anfang an informieren, ihr jede Menge an verdichteter Zeit und verdichtetem Raum liefern, die zu Daten "verflüchtigt" wurden. Beim derzeitigen Stand der Entwicklung des Spinnengewebes und unter Berücksichtigung unseres Verlangens nach dem "von Angesicht-zu-Angesicht" und nach dem Sensuellen müssen wir im Spinnengewebe primär ein Unterstützungssystem sehen, das Informationen von einer TAZ an eine andere liefert, die TAZ verteidigen, sie "unsichtbar" machen oder ihr Zähne verleihen kann,
- 46 -
je nachdem, was die Situation erfordert. Aber mehr noch: Wenn die TAZ ein Nomadencamp ist, dann hilft das Spinnengewebe, die tribalen Epen, Lieder und Legenden zur Verfügung zu stellen; es verrät die geheimen Karawanenrouten und Raubpfade, auf denen die Stammesökonomie basiert; es enthält sogar einige der Wege, denen sie folgen werden, einige der Träume, die sie als Zeichen und Omen erfahren werden. Das Spinnengewebe bedarf keiner Computertechnologie, um zu existieren. Mündliche Botschaften, Post, das marginale ZineNetzwerk, "Telefonketten" und ähnliches reichen, ein InformationsSpinnengewebe zu schaffen. Das Entscheidende sind nicht die Marke oder das Level der verwendeten Technik, sondern die Offenheit und Horizontalität der Struktur... Breite eine Landkarte aus, darüber eine Karte der politischen Veränderung; darüber eine Karte des Netzes, besonders des GegenNetzes mit der Hervorhebung klandestiner Informationsströme und Logistik - und breite zum Schluß dann, über alles, die Karte der kreativen Imagination, Ästhetik und Werte im Maßstab 1:1. Das entstehende Gitter wird lebendig, animiert von unerwarteten Energiewirbeln und -strömen, Lichteruptionen, geheimen Tunneln, Überraschungen. Hakim Bey
- 47 -
• AUTONOMIA • KEIMZELLEN Dies soll der Versuch sein, ein Modell zu entwerfen. Ein Modell nach dem für uns ein anderes Leben und die Entwicklung einer autonomen Kultur vorstellbar wäre und anzustreben ist. Modell kann einerseits heißen: abstraktes, kaltes Muster, idealisiert und ohne Bezug zur Realität. Modell kann aber auch heißen: ein gewisses Maß an Abstraktion und Idealisierung, jedoch mit Ansätzen bei den eigenen Erfahrungen und Möglichkeiten. In der Umsetzung soll dies bedeuten: konsequente Weiterentwicklung von bestehenden Strukturen, die zum Teil schon stärker waren, von denen Keime aber immer noch existieren bzw. immer wieder neu entstehen. Wir wollen ein solches Modell formulieren, weil wir immer wieder an uns selbst erleben, daß zähe Diskussionsprozesse, Einzelinitiativen und mühsame Kleinarbeit ohne Zusammenhang erscheinen. Eine Perspektive, die darin liegt, wird oft so winzig, daß mensch der Resignation nahe kommt. Wenn es dann mal wieder nicht sichtbar weitergeht, werden Gruppen aufgegeben. Dem "das bringt doch alles nichts" zu verfallen liegt Einzelnen oft näher als jedesmal neu bzw. erneut damit anzufangen Gruppenzusammenhänge aufzubauen. Ein Modell kann dieses Problem natürlich nicht lösen. Es kann keine Auseinandersetzungen um unser Scheitern und Weiterkommen ersetzen. Es kann aber helfen, gemessen an unseren Ansprüchen und Utopien, eine Orientierung an einer möglichen Perspektive neu oder wieder neu zu benennen. Bedingung für das Funktionieren organisierter Strukturen sind die einzelnen Menschen. Menschen, die in kollektiven Zusammenhängen politische Identität und solidarisches menschliches Verhalten als untrennbar miteinander verbunden sehen, sowie darüber hinaus Menschen, die diese Vorbedingungen (kollektive Zusammenhänge - politische Identität - solidarisches Verhalten) als Basis für eine mögliche soziale Ausweitung autonomer Politik begreifen. Tatsache ist, daß abweichende und ungleichzeitige Sozialisation uns zu verschiedenen Individuen mit jeweils eigenem Charakter gemacht hat; mit Verhaltensweisen, die
- 48 -
von dieser Gesellschaft geprägt sind. Die Vielfalt und Verschiedenheit ist auf der einen Seite Quelle der Auseinandersetzung, von gesellschaftlicher Bewegung, von Leben überhaupt. Auf der anderen Seite verhindern kapitalistischindustrielle Normen wie Konkurrenz- und Hierarchiedenken, die uns auch anerzogen und aufgezwungen worden sind, ein solidarisches Miteinander. Lern-, Wissens- und Erfahrungsunterschiede sind immer vorhanden, sie sind aber keine unveränderbare Bedingung, die zwangsläufig zu Ansätzen von Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen führen müssen. Deshalb muß es uns immer darum gehen, die Grenzen zwischen den "Dominanten und Dominierten" einzureißen. Dabei sind beide Seiten gefordert; beide müssen sich in diesem Prozeß ernst nehmen und Verantwortlichkeit entwickeln. Grundstruktur für diesen langwierigen Prozeß sind Gruppen, deren Mitglieder sich gut kennen, aufeinander eingehen können und sich gemeinsam organisieren: Kämpfende Kollektive als Keimzellen der neuen Gesellschaft. Kampf findet aber nicht nur auf der Ebene von Massenmilitanz oder nächtlichen Aktionen statt, Alltagsorganisierung muß genauso wesentlicher Bestandteil autonomer Organisierung und Gegenmacht sein. Auch wenn wir in diesem Text eine Aufteilung zwischen Alltagsorganisierung als existenzieller Voraussetzung und politischer Organisierung machen, so geht es uns im Grunde darum, die Trennung zwischen kollektiven Lebens- und Widerstandsformen aufzuheben. ALLTAGSGEMEINSCHAFTEN Wir müssen alle in dieser kapitalistischen Gesellschaft in irgendeiner Form unsere Existenz sichern, unseren Alltag organisieren. Dabei unterliegen wir alle mehr oder weniger bestimmten Zwängen: Schule, Lehre oder Uni, Sozial- und Arbeitsamt, befristete oder Teilzeitjobs vom Sklavenhändler bis hin zur "garantierten" Arbeit im Achtstundentag. Auch selbstverwaltete Betriebe, die in ihren Ansätzen sicherlich richtig sind, unterliegen in dieser Gesellschaft Marktzwängen und laufen von daher Gefahr, nur in der Illusion selbstverwaltet zu sein. Kollektive Alltagsorganisierung im Reproduktionsbereich begreifen wir
- 49 -
dagegen als Milderung des täglichen Zwangs zur Arbeit durch verschiedene Formen von Wiederaneignung, gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit. Unsere eigenen Erfahrungen in den letzten zehn Jahren haben uns allerdings deutlich gemacht, daß auch wir immer mehr von gesellschaftlichen Zwängen eingeholt werden von denen wir uns gerade lösen wollten. Frühere Ansätze von gemeinsamen Lebensund Wohnformen, sowie die damit verbundenen Ansprüche sind in einigen Fällen entweder von der Realität eingeholt oder immer weiter eingeschränkt und letztlich aufgegeben worden. Das Persönliche politisch, das Politische persönlich machen war und ist ein Kernstück autonomer Identität. Organisierung muß entsprechend darauf abzielen, den täglichen Kampf besser zu bestehen, was gleichzeitig bessere Ausgangsmöglichkeiten für die politische Arbeit schafft. Für uns müßte das heißen: Anstrengungen zur Organisierung des Alltags nicht als wenig lohnende Kraftakte anzusehen, sondern zur Verbesserung unserer eigenen Lebenssituation, wie auch als wichtigen Bestandteil autonomer Gegenmacht. Mit den drastischen Kürzungen bzw. Streichungen der Soziallöhne hat sich der Zwang zur Arbeit ziemlich verschärft. Diese Arbeit, mit mehr oder meist weniger Identifikation ausgeführt, nimmt einen wesentlichen Teil unserer Zeit in Anspruch. Unser Alltag, unser Bewußtsein ist davon geprägt, Kraft und Energie werden abgezogen und nicht selten werden wir darüber in die Zwangsjacken gesellschaftlicher Abläufe gedrückt. Abendliches Abhängen vor dem Fernseher, "notwendige" häufig individualisierte Wochenenderholung und Konsumkompensation sind nur beispielhaft Ausdrücke eines Entfremdungs- und Isolationsprozesses. Von diesem sind wir vielfach selbst betroffen, was unsere Möglichkeiten von vornherein erstickt, zumindest stark begrenzt, was ja auch das Ziel dieser Zerstörungsstruktur ist. Es fällt auf, daß die Verschärfung dieses Problems meistens privatisiert, individualisiert angegangen wird. JedeR versucht für sich oder höchstens noch mit den BeziehungspartnerInnen so gut es geht damit klar zu kommen. Es scheint auch erstmal bequemer. Intakte Wohngemeinschaften oder ähnliche Bezüge bestehen kaum noch, politische Gruppenzusammenhänge werden mit solchen
- 50 -
Problemen nicht "belastet" und auch in engeren Freundschaften sind Entfremdungsprozeße meist kein Thema. Es ist notwendig Zusammenhänge neu zu schaffen oder wiederzubeleben, die gerade diese uns täglich betreffende Problematik aufgreifen und miteinbeziehen. Objektiv gesehen, sind die Möglichkeiten entsprechenden Wohnraum für kollektive Wohnformen zu finden, total eingeschränkt. Subjektiv gesehen gibt es schon im Vorfeld Ängste vor unklaren Entwicklungen, zum Teil bestehen auch Unsicherheiten auf Grund von schlechten Erfahrungen. Eigene Widersprüche im Zusammenleben waren oft so groß geworden, daß sie als nicht lösbare Probleme angesehen wurden. Trotz alledem spüren die meisten von uns, daß es eigentlich nicht anders geht, daß Alltagsgemeinschaften, Wohngemeinschaften und intensive Gruppenzusammenhänge, die über das herkömmliche Maß hinausgehen, unverzichtbare Bestandteile einer Perspektive für ein anderes Lesen darstellen. Persönliche Ängste, Psychos, Beziehungsprobleme, Mann-Frau-Strukturen sind zwar auch in engen Gemeinschaften nicht unbedingt auf die Gruppe übertragbar, können aber zumindest als allgemeine und nicht nur individuelle Probleme erkannt und von daher auch anders gelöst werden. Der Arbeitszwang und finanzielle Probleme lassen sich mindern, indem sozialstaatliche Einrichtungen gemeinsam genutzt werden, aber auch indem Aneignungsaktionen verschiedenster Art (Schwarzfahren, Klauen, Wohnungs- und Hausbesetzungen, ...) zusammen entwickelt bzw. verbessert werden. Dabei muß eine gemeinsame Kinderversorgung ermöglicht werden, welche die Eltern von ihrer traditionellen Rolle zumindest entlastet und dadurch versucht eine gemeinschaftliche Verantwortung zu schaffen. Auch um den zwangsweisen Rückzug der Eltern ins "Private" aufzuheben. Natürlich wäre dies noch an unzähligen Beispielen zu vertiefen. Vom gemeinsamen Lebensmitteleinkauf bis hin zum Anbau im gepachteten Garten, vom Workshop zur Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten bis hin zum Auto-Pool. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
- 51 -
KLEINGRUPPE, PLENUM UND ZENTRUM Ein weiterer Punkt wäre die Existenz von Räumen, die gemeinsam getragen und genutzt werden, ein Kommunikationsund Kulturzentrum oder wie auch immer mensch das nennen mag. Gemeint ist ein offener, nicht kommerzieller Freiraum als lokale Möglichkeit vielfältiger persönlicher, kultureller, politischer Initiativen. Es wird darauf ankommen, unter uns ein Bewußtsein zu schaffen (Verantwortlichkeit, Kontinuität, Identifikation), das es ermöglicht vorhandene Bedürfnisse zu äußern bzw. umsetzen zu können. Um letztendlich diesen Freiraum für Gruppen, Initiativen, Veranstaltungen, Filme, Parties, Konzerte, Feste, Sport, Kindergruppe, Volksküche, Öffentlichkeitsarbeit, Archiv, Kopierund Druckgeräte etc. etc. nutzen zu können und als Kommunikationszentrum zu verankern. Als Anlaufpunkt für "neue" oder interessierte Leute kann dieses Zentrum wieder zurück auf die gesamte Struktur wirken. Von einer stabilen Grundlage ausgehend steckt darin eine wirkliche Möglichkeit zur sozialen Ausweitung. Eng verbunden, aber nicht notwendigerweise identisch mit bestehenden Alltagsgemeinschaften bilden Kleingruppen die Kernstruktur für eine politische Organisierung. Über längere gemeinsame Erfahrungen und Diskussionsprozesse entsteht in den Kleingruppen eine weitgehende Vertrauensbasis. In diesem Rahmen von wenigen, vielleicht drei bis acht Leuten kann der Anspruch, ein politisches Kollektiv selbstbewußter, verantwortlicher und gleichberechtigter Individuen zu entwickeln, am ehesten umgesetzt werden. Indem sich jedeR offen einbringen kann, ermöglicht die Intensität der Auseinandersetzung inhaltliche und praktische Prozesse. Ein Nebeneffekt ist dabei, daß Spitzel hier keine Chance haben. Im Idealfall wären lokale Plenen erst die nächste Stufe einer politischen Organisationsstruktur. In den Plenen müßte die Arbeit der Kleingruppen zusammenfließen, danneben ermöglicht es einen Informationsaustausch und die Koordination von Aktivitäten und bildet einen Diskussionsrahmen für allgemeine und weiterführende Einschätzungen. Allerdings kann nur in seltenen Fällen davon ausgegangen werden, daß sich solche Kleingruppen irgendwie finden. Eine stärkere
- 52 -
politische Sozialisation beginnt meistens über bestimmte Themen und Aktionen, also gerade in diesen vorbereitenden Treffen und Plenen. Entsprechend arbeiten in den Plenen, soweit solche regelmäßig bestehen, viele Einzelpersonen mit, die nicht in kleineren Gruppen organisiert sind. Wir glauben allerdings, daß ab einer Gruppenstärke von zehn bis fünfzehn Leuten bestimmte Auseinandersetzungen kaum oder nur schwierig stattfinden können. Unsicherheiten können in kleinen vertrauteren Gruppen wesentlich besser abgebaut werden, Gespräche sind eingehender und offener. Gerade "stillere" Leute lernen sich mehr zuzutrauen und offener ihre Meinung darzulegen wenn die Gruppe kleiner ist. Angesichts einer mehr oder weniger "natürlichen" Fluktuation, einem Kommen und Gehen, mit dem ein offenes Plenum bis zu einem gewissen Maß leben muß, kann auch die inhaltliche Diskussionsarbeit nicht in der Kontinuität und Genauigkeit laufen, wie das in kleinen Gruppen möglich ist. Bei praktischen Überlegungen wird diese Problematik noch deutlicher. Eine Zwischenlösung hin zu den nötigen stabilen Kleingruppenstrukturen wären bestimmte Arbeitsgruppen, die sich auch ohne weiteren kontinuierlichen Anspruch zu spezifischen Themen einarbeiten, daran genauer diskutieren, Flugblätter oder Veranstaltungen vorbereiten. Ähnlich einer Kleingruppe könnte hier an bestimmten Themen intensiv gearbeitet und dies dann ins Plenum eingebracht werden. Über die Bearbeitung verschiedener inhaltlicher Themenfelder im Plenum kommen wir dem Ziel, eine gesamtgesellschaftliche Einschätzung, Widerstandsmöglichkeiten und gemeinsame Perspektiven zu erarbeiten, Stück für Stück näher. Öffentliche Veranstaltungsreihen, eigene Flugblätter und Zeitungen könnten darauf aufbauen und versuchen Inhalt und Praxis unserer Arbeit zu vermitteln. Erst diese einigermaßen stabilen theoretischen Grundlagen und halbwegs klaren praktischen Vorstellungen eröffnen uns einen inhaltlichen Einfluß und eine praktische Mobilisierung, also die Möglichkeit der politischen Ausweitung mit der allein wir überhaupt erst zu einem politischen Faktor werden. Wir halten diese beschriebene Grundstruktur, also Alltagsgemeinschaften und politische Kleingruppen, Zentrum und Plenum, in ihrer lokalen / örtlichen Vernetzung für eine von uns vorrangig anzugehende
- 53 -
Aufgabe. Der Weg dahin ist kein linearer und es wäre falsch einen Schritt zur absoluten Voraussetzung für einen anderen zu machen. Vielmehr stehen diese Elemente in Wechselwirkung zueinander und es eröffnen sich aus jedem kollektiven Schritt neue Möglichkeiten, so kann das Eine auf dem Anderen aufbauen. Die Struktur lebt gleichzeitig unabhängig jeglicher politischer Konjunktur als gegenkulturelles Netzgeflecht mit stabilen Zusammenhängen und handlungsfähigen Kernen, sowohl für die Einzelnen als auch für den gemeinsamen Kampf. Das wir die lokale Struktur als vorrangig bezeichnen hat absolut nichts mit Lokalpatriotismus zu tun. Uns geht es um stabile Zusammenhänge als Fundament für eine weitere regionale / überregionale / landesweite / … Organisierung. Die Funktion überregionaler Treffen, zum Informationsaustausch, als Impulsgeber und Diskussionsplattform oder für die Zusammenfassung bestehender Kräfte zu aktuellen Kampagnen, ist damit keineswegs bestritten. Eine Umsetzung und Ausweitung der Ergebnisse hängt aber wiederum von den lokalen Strukturen ab. Autonomia
- 54 -
• KAMLA • LASST ALLE FRAUEN HEXEN SEIN Fortschritt ist ein viel gebrauchter und mißbrauchter Begriff, denn er wird zumeist auf seine wirtschaftlichen und materiellen Seiten reduziert: höhere Produktionsraten, höhere Gewinnspannen, höheres Einkommen. Der alleinige Maßstab dieses Fortschritts ist der Profit. In diesem Sinne steht Fortschritt für Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Dieser Fortschritt führt jedoch nicht nur zu einemKonkurrenzkampf unter den Menschen. Er hat auch dazu geführt, daß auch die Natur wird als Ware angesehen wird, die hemmungslos ausgebeutet werden kann. Wenn beispielsweise ein Landgebiet nicht auf irgendeine Weise profitabel genutzt werden kann, wird es als wertlos bezeichnet. Gleichzeitig werden ganze Waldgebie te abgeholzt, wodurch das Öko-System schwerwiegend geschädigt wird. Der sogenannte Fortschritt hat die Produktion von Autos, die unsere Luft verseuchen, vervielfacht. Er hat dazu geführt, daß unsere Seen, Flüsse und Meere durch Chemikalien vergiftet werden. Er hat unsere Nahrung mit Düngemitteln und Pestiziden vergiftet. Der Fortschrittswahn ist besessen von Gigantismus, der immer größere Fabriken, höhere Staudämme und fettere Profite fordert. Dieser Fortschritt hat auch zu einer starken Ausbreitung von elenden Slums geführt. 20 bis 25% aller Familien in Städten wie Bangkok, Manila, Kalkutta und Jakarta leben in Slums. Die Mächtigen haben häufig wiederholt, daß das größte globale Problem die wachsende Bevölkerung in den armen Ländern sei. Dies ist zweifellos ein Problem, aber Überbevölkerung ist nicht der Grund für die Armut. Die Armen sind für die Fehlentwicklung nicht verantwortlich. Die Wahrheit ist, daß die größte Bedrohung für die Menschen überall der übermäßige Konsum der reichen Welt ist. Eine Person in den USA verbraucht durchschnittlich hundert bis zweihundert mal mehr Ressourcen als eine Person in Indien. Es gab eine Zeit, in der für den Verbrauch produziert wurde. Jetzt aber müssen die Menschen in den westlichen Staaten widersinniger Weise immer mehr verbrauchen, um die Produktion in Gang zu halten. Zudem vernichtet dieser Fortschritt die Vielfalt, zerstört lokale
- 55 -
Kulturen und tötet die selbstständige Kreativität. Hollywood und seine nationalen Entsprechungen entscheiden was Kultur ist und wer unsere Helden sind. McDonalds, Coca-Cola, Sony, Superman - sie alle sind universell geworden, sie zerstören die regionale Ernährung, die regionale Ausdrucksformen, die regionalen Werte. Die Zeitungen und Fernsehanstalten haben angefangen für uns zu denken. Die Menschen sind immer weniger selbstbestimmt, immer weniger menschlich. Ebenso können kleine Gemeinden, kleine Nationen immer weniger über sich selbst bestimmen. Sie sind eingezwängt und stranguliert von Weltmarkt und Weltbank, von den Machtspielen der reichen Nationen. Die Möglichkeiten Entscheidungen zu fällen, konzentrieren sich auf immer weniger Menschen. Wirtschaftliche Entscheidungen werden in riesigen Konzernen, politische Entscheidungen von kleine Gruppen in den Machtzentren getroffen. Dieser Fortschritt wurde von Männern erzwungen und verwaltet, er ist durch und durch patriarchal aufgebaut. Die Atombomben symbolisieren die männliche Macht genauso wie der Autowahn oder das Recht des Stärkeren. Es gibt keinen Platz für Gefühl und Stille. Es gibt keine Balance zwischen der industriellen Produktion und der Natur. Wir haben verlernt die Schönheit der natürlichen Umwelt zu erfahren. Dieser Fortschritt unterdrückt uns Frauen in einer besonderen Weise. Noch immer entscheiden in vielen Ländern die Regierungen, welche Ausbildung unsere Kinder erhalten, wieviele Kinder wir haben dürfen, ob wir abtreiben können oder nicht. Beispielhaft für die Unterdrückung der Frau in vielen gesellschaftlichen Bereichen ist die Verleugnung ihrer Rolle in der Landwirtschaft. Frauen waren diejenigen, die vor tausenden Jahren als erste das Land bebauten. Noch heute produzieren in den meisten Ländern die Frauen über die Hälfte der Lebensmittel und bearbeiten das Land. Dennoch ist in fast allen Sprachen die allgemeine Bezeichnung für Bauern und Bäuerinnen männlich. Der Fortschritt des patriarchalen System hat eine Gesellschaft geschaffen, in der alles zu einer Ware reduziert wird. Unsere Beziehungen sind von wirtschaftlichen Werten bestimmt. Die Einschätzung eines Menschen orientiert sich meist nicht an seinem Charakter, sondern an seiner ökonomischen Rolle, daß heißt an seinem Arbeitsplatz und seinen finanziellen Möglichkeiten. Durch die perverse Verbindung der weiblichen Sexualität mit
- 56 -
Konsumwaren werden die Profitraten gesteigert, während gleichzeitig den Frauen eingeredet wird, sie müßten alle möglichen Produkte kaufen, um attraktiv zu sein. Die leichtbekleidete Frau, die in einem Werbespot auf der Motorhaube eines Autos sitzt, wird zum Objekt. Ihr wird ihre Identität geraubt. Können wir so etwas Fortschritt nennen? Wir sagen: Nein! So eine Entwicklung ist nicht tragbar. Er führt in vielerlei Hinsicht zu nichts anderem als Zerstörung. Deshalb müssen wir uns widersetzen und nach einer neuen Vision suchen, nach neuen Wegen des Fortschritts, neuen Formen des Zusammenlebens damit wir unser Wissen für die Gesellschaft und die Natur einsetzen können. Der Feminismus hilft uns hierbei ein Stück weiter. Er versucht die Schranken niederzureißen, welche eigentlich miteinander verbundene Bereiche künstlich voneinander trennen, den persönlichen vom politischen, den emotionalen vom rationalen, den geistigen vom körperlichen. Die feministische Bewegung beschäftigt sich nicht nur mit den Angelegenheiten einiger weniger Frauen, auch wendet sich der Feminismus nicht generell gegen Männer, sondern vielmehr gegen jegliche unterdrückende Struktur. Er bringt den Prozeß des Infragestellens in jede Wohnung und in jede Beziehung. Er wendet sich gegen Hierarchien, sei es innerhalb oder außerhalb der Familie. Er wendet sich gegen das Patriarchat, gegen den Kapitalismus, gegen sozialistische Diktaturen, fundamentalistische Religionen - und gegen die Tyrannei der Ehemänner. Der Feminismus wendet sich auch gegen Frauen, die unterdrücken, und er wendet sich gegen die Unterdrückung in uns selbst. Auch ein Mann kann ein Feminist sein, genauso wie eine Frau eine Patriarchin sein kann. Für uns sind die Überzeugungen und das Verhalten der Menschen das wesentliche und nicht ihre Biologie. Wir Frauen entdecken endlich unsere eigenen Stimmen, unsere Bedürfnisse, unsere Stellung. Wir widersetzen uns den männlichen Machtprinzipien, der männlichen Wissenschaft und dem männlichen Fortschritt. Wir gewinnen langsam das Selbstvertrauen, darauf zu bestehen, daß wir eine veränderte Rolle einnehmen. Wir haben keine Angst mehr vor Verfolgungen und den Flüchen, die auf die Feministinnen niedergehen. Wenn Stärke und Selbstbestimmung bedeutet eine Hexe zu sein, dann laßt alle Frauen Hexen sein. Es ist nicht möglich in dieser Gesellschaft unabhängig und
- 57 -
selbstbestimmt zu leben, ohne sich ständig in einem Zustand des Konfliktes und des Kampfes zu befinden. Wenn dieser Kampf jedoch nicht von einem sich entwickelnden Bewußtsein der Wurzeln dieser Probleme begleitet wird, dann wird unser Einsatz vergeblich sein. Wir merken, daß der Feminismus uns die Möglichkeiten zeigt, unsere Wurzeln zu erkennen, neue Arten von Freiräumen zu finden, nach neuen Rhythmen zu suchen und neue Träume zu träumen. Er versucht ein radikal verändertes Konzept von Fortschritt und Entwicklung in alle Aspekte unseres Lebens zu integrieren. Wir wollen einen Fortschritt, in der nicht nur die Fragen, sondern auch die Antworten von den betroffenen Menschen kommen, basierend auf den Erfahrungen des Alltags. Einen Fortschritt, der an den grundlegenden Bedürfnissen und an der Erhaltung des Lebens orientiert ist. Kamla
- 58 -
• SISTERS • SCHWESTERLICHKEIT Wir fuhren die Autobahn entlang als wir von Polizeibeamten, die als Straßenarbeiter verkleidet waren, von der Straße gewunken wurden. Sofort nachdem wir das Fahrzeug angehalten hatten, stürmten etwa dreißig bis an die Zähne bewaffnete Männer in Tarnanzügen auf uns zu. Ein Scheibe wurde zerstört und Tränengas in unser Auto geworfen. Dann wurden die Türen aufgerissen und wir wurden von den Polizisten auf den Boden geworfen. Sie preßten uns ihren Pistolen an den Kopf und schrieen, daß wir uns nicht bewegen sollten, ansonsten würden sie schießen. Es war purer Horror diesen Männern in ihrem Wahn wehrlos ausgeliefert zu sein. Wir konnten in diesem Moment nachempfinden, wie Frauen fühlen, die zum Teil täglich fürchten müssen in derartige Situationen zu geraten und zumeist unbewaffnet in Anbetracht militärischer Angriffe um ihr Leben kämpfen. Das Gefühl ist zu extrem, als daß es möglich wäre, es angemessen in Worte zu fassen. Plötzlich wird in aller Direktheit klar, daß diese Männer bereit sind, dich zu töten. Die kleinste Bewegung kann sie dazu bringen am Abzug zu drücken. Du hast keine Chance. All dies geschah als Antwort auf eine Sabotageaktion gegen eine militärische Einrichtung und einen Brandanschlag gegen ein Geschäft, daß auf den Verkauf äußerst brutaler, frauenverachtender Pornofilme spezialisiert war. Die Männer aller Machtstrukturen auf der Welt haben panische Angst, daß die Menschen hinter die Fassade blicken und gegen ihre Unterdrücker rebellieren. Die letzte Möglichkeit sich zu wehren war immer der militante Widerstand. Deshalb bauen alle Staaten ihre Repressionsapparate kontinuierlich aus, damit die bestehenden Verhältnisse nicht ins Wanken geraten. Wir haben das patriarchale System herausgefordert, dessen Gier zur andauernden Vergewaltigung der Mutter Erde und zur Unterdrückung der Menschen führt. Sie bezeichnen uns als Terroristinnen, in Wahrheit sind sie, die für diesen Zustand verantwortlich sind, die eigentlichen Terroristen. Seit Jahrhunderten schlagen die Herrschenden gewaltsam zurück,
- 59 -
wenn Frauen Widerstand leisten. Früher haben sie uns als Hexen verbrannt. Heute nennen sie uns Terroristen und wollen uns in ihren Hochsicherheitsgefängnissen einmauern. Aber wir wissen, daß wir nicht alleine sind und unzählige Schwestern auf der ganzen Welt unsere Auffassungen teilen und sich auf ihre Weise ebenso widersetzen. Der Staat und seine Medien stellen uns als wahnhafte Fanatikerinnen dar, um zu verhindern, daß sich die Menschen mit unseren Überzeugungen auseinandersetzen und Gemeinsamkeiten erkennen können. Seit Jahrhunderten hat das Patriarchat die Schwestern von den Brüdern getrennt und diese zu ihren Beherrschern gemacht. Wir sind ständig mit ihrer Gewalt konfrontiert. In den Wohnungen, auf der Straße, am Arbeitsplatz. Manchmal ist sie subtil, manchmal ist es direkte körperliche Gewalt. Es wird alles getan damit sie hinter der patriarchalen Moral und ihren Institutionen, Gesetzen und Lügen verborgen wird. Die moderne industrielle Gesellschaft ist durch und durch patriarchal aufgebaut. Die Atombomben symbolisieren die männliche Macht genauso wie der Autowahn oder das Recht des Stärkeren. Es gibt keinen Platz für Gefühl und Ruhe. Es gibt keine Balance zwischen der industriellen Produktion und der Natur. Wir haben verlernt die Schönheit der natürlichen Umwelt zu erfahren. Allerdings, so stark dieses weltweite System auch erscheint, überall hat es Risse. Die Aufstände in allen Teilen der Erde und die ökologische Zerstörung werden zu weitreichenden Erschütterungen führen. Das patriarchale System hat eine Gesellschaft geschaffen, in der alles zu einer Ware reduziert wird. Unsere Beziehungen sind von wirtschaftlichen Werten bestimmt. Die Einschätzung eines Menschen orientiert sich meist nicht an seinem Charakter, sondern an seiner ökonomischen Rolle, daß heißt an seinem Arbeitsplatz und seinen finanziellen Möglichkeiten. Auch die Natur wird als Ware angesehen, die hemmungslos ausgebeutet werden kann. Wenn ein Landgebiet nicht auf irgendeine Weise profitabel genutzt werden kann, wird es als wertlos bezeichnet. Durch die perverse Verbindung der weiblichen Sexualität mit Konsumwaren werden die Profitraten gesteigert, während
- 60 -
gleichzeitig den Frauen eingeredet wird, sie müßten alle möglichen Produkte kaufen, um attraktiv zu sein. Die leichtbekleidete Frau, die in einem Werbespot auf der Motorhaube eines Autos sitzt, wird zum Objekt. Ihr wird ihre Identität geraubt. Es ist nicht möglich in dieser Gesellschaft unabhängig und selbstbestimmt zu leben, ohne sich ständig in einem Zustand des Konfliktes und des Kampfes zu befinden. Wenn dieser Kampf jedoch nicht von einem sich entwickelnden Bewußtsein der Wurzeln dieser Probleme begleitet wird, dann wird unser Einsatz vergeblich sein. Wir treten nicht für die formelle Gleichberechtigung innerhalb des patriarchalen Systems ein. Wir wollen keine gleiche Bezahlung, keine gleichen Aufstiegsmöglichkeiten unter diesen Bedingungen. Wir wollen nicht die aggressiven, machthungrigen Entsprechungen der Männer werden, die diese Gesellschaft bestimmen. Wir fühlen eine tiefe Verbundenheit mit allen Frauen, die sich und die Gesellschaft hinterfragen und bereit sind aus ihrer Sensibilität und ihrem Bewußtsein heraus mit ihren Mitteln für die Befreiung zu kämpfen. Wir sind Schwestern, was immer auch geschieht. Sisters
- 61 -
• PAUL PARIN • DER KNOPF AN DER UNIFORM DES GENOSSEN Ein ethnopsychoanalytischer Exkurs über die Veränderbarkeit des Menschen Ein sonniger Vormittag spät im März 1945. Ich arbeite im septischen Operationssaal des Zentralspitals des II. SturmArmeekorps der Tito-Partisanen, der jugoslawischen Befreiungsarmee, in Meljine an der montenegrischen Küste. Wie an jedem Vormittag werden Wunden gereinigt, Verbände gewechselt, Abszesse drainiert. Es stinkt nach Eiter, Kot und Äther, es wird gestöhnt, geflucht und gelacht. Alltag des Chirurgen im Krieg. Da kommt G. herein. Sie ist wütend und verstört. Ich vermute, daß ihr drüben einer gestorben ist. Sie sagt, nein, aber: Es ist alles aus, wir müssen fort, ich zieh meine Uniform noch heute aus. - Was ist geschehen? Auf der Wiese zwischen der Baracke und dem Operationstrakt war ein Zug der Spitalwache beim Exerzieren, wie gewöhnlich ohne einen Offizier, nur um sich Bewegung zu machen. Als sie vorbeigeht, brüllt plötzlich ein junger Partisan einen anderen an: Mach die Knopfe zu, wie läufst du daher, wir sind nicht im Stall. Der Genosse wird rot, steht stramm, sagt keinen Ton und schließt den obersten Knopf seiner Uniform, die zerrissen ist. Denn unsere Wache ist nur zur Erholung ins befreite Gebiet abkommandiert, nach ungezählten Monaten an der Front "im Wald". Seit dem letzten Sommer sind wir mit den Partisanen. Es ist Krieg, es gibt Befehle, aber die Disziplin ist Sache der politischen Konferenz. Unser Kommissar muß erst lange mit den Genossen diskutieren, bis jeder überzeugt ist, damit man ihm folgt. Es gilt keine Währung, kein Geld. Was da ist, wird verteilt. Jeder ist für die gute Sache, für das Volk, gegen den grausamen Feind und Usurpator. Wir sind Genossinnen und Genossen geworden, einer dem andern gleich. Jeder denkt für sich und ist für die anderen da. Niemand läßt sich anbrüllen, den Ton von Herr und Knecht haben wir vergessen. Woher hat er das mit dem Knopf? So etwas Unsinniges. Aber das Schlimme ist nicht der Brüller, das ist der andere, der folgt. Ich hoffe, man versteht, warum G. fort will. Wir haben mit Brüdern gelebt. Ein Volk von Partisanen im Kampf um Überleben
- 62 -
und Freiheit hat uns trotz Hunger, Eiter und Tod eingelullt. Und jetzt, bevor noch Befehle vom Oberkommando durchkommen, bevor eine Staatsgewalt da ist, die eingreifen könnte, hat der Genosse, der seinen Knopf zumacht, uns die Illusion zerstört. Aus der Praxis der Kampfgemeinschaft ist der Neue Mensch nicht entstanden. Wir hatten doch mit ihm gelebt. Jetzt hat er sich von innen aufgelöst. Die ihren Knopf innen haben, werden nie eine kommunistische Gesellschaft gründen. Was Heinrich Heine 1 1844 über seine Preußen sagte, gilt auch für unseren montenegrinischen Genossen: "Als hätten sie verschluckt den Stock, Womit man sie einst geprügelt." Fragen wir die Wissenschaft, wo das Ärgernis herkommt, warum der Neue Mensch nicht entstehen mag. Das Überich ist schuld. Sigmund Freud 2 schrieb 1933, im Jahr, in dem Hitler die Macht ergriff: "... In der Regel folgen die Eltern und die ihnen analogen Autoritäten in der Erziehung des Kindes den Vorschriften des eigenen Überichs. Wie immer sich ihr Ich mit ihrem Überich auseinandergesetzt haben mag, in der Erziehung des Kindes sind sie streng und anspruchsvoll. Sie haben die Schwierigkeiten ihrer eigenen Kindheit vergessen, sind zufrieden, sich nun voll mit den eigenen Eltern identifizieren zu können, die ihnen seinerzeit die schweren Einschränkungen auferlegt haben. So wird das Überich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Überichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf dem Wege über Generationen fortgepflanzt haben. Sie erraten leicht, welch wichtige Hilfen für das Verständnis des sozialen Verhaltens der Menschen... sich aus der Berücksichtigung des Überichs ergeben. Wahrscheinlich sündigen die sogenannt materialistischen Geschichtsauffassungen darin, daß sie diesen Faktor unterschätzen. Sie tun ihn mit der Bemerkung ab, daß die "Ideologien" der Menschen nichts anderes sind als Ergebnis und Überbau ihrer ökonomischen Verhältnisse. Das ist die Wahrheit, aber sehr wahrsche inlich nicht die ganze Wahrheit ..." Die Suche nach dieser "ganzen Wahrheit" mag man nicht so leicht aufgeben. Gerade wenn man weiß, daß eine "ganze" nicht zu haben 1
Heine, Heinrich: "Deutschland ein Wintermärchen". Kaput III. Freud, Sigmund: "Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse". (1933). GW XV, S. 73. 2
- 63 -
ist, kann man sich seine utopische Illusion, ohne die man wohl die Uniform ausziehen und weglaufen wurde, nur retten, wenn man weiter probiert, dahinter zu kommen. Machen wir also wieder und wieder Revolution, und sehen wir, ob da der Neue Mensch, den wir brauchen, nicht doch einmal entsteht. Sehr einfach, aber nicht sehr ergiebig. An Revolutionen ist in der Geschichte kein Mangel; um neue brauchen wir uns nicht zu sorgen, Ausbeutung und Unterdrückung sind groß genug. Aber wissen wir darum mehr über die Veränderung des Menschen, ist die richtige irgendwo eingetreten? Es gibt natürlich noch andere Wege, den Menschen zu verändern. Seit dreißig Jahren ist das mein Beruf: ich bin Psychoanalytiker. Und die Psychoanalyse behauptet doch, sie könne den Menschen verändern. Dann muß sie auch wissen, wie. Zu Beginn waren die Psychoanalytiker bescheidener, wollten lediglich heilen, die Neurotiker wieder "arbeitsfähig, liebesfähig und genußfähig machen". Später sollte, wie die Formel lautet, "Ich werden, wo Es war". Das heißt, die Vernunft sollte die Führung übernehmen, die eigenen Bedürfnisse sollten besser wahrgenommen, das Wünschen und Handeln besser mit den eigenen Bedürfnissen und denen der Mitmenschen in Übereinstimmung gebracht werden. Schließlich haben wir eingesehen, daß wir den Menschen wirklich verändern, weiter und weniger weit, als wir anfangs dachten: die Abwehr des Ich kann nicht aufgegeben werden, aber sie kann sich neu organisieren. Wir können zwar nichts weganalysieren, nichts heilen, nicht viel erweitern; aber wir können jemanden so weit bringen, daß seine Abhängigkeit vom Überich, das mit seinen Ideologien als Vergangenheit in ihm lebt, geringer wird, daß er überhaupt seiner Vergangenheit nicht mehr so sehr verhaftet ist, frei für Neues, emanzipiert. Der erste Schritt zum Neuen Menschen wäre getan. Die Psychoanalyse vermittelt also die Überzeugung, daß im Prinzip emanzipatorische Veränderungen möglich sind - der Wunsch dazu scheint in jedem Menschen irgendwo zu schlummern. Das sind Tatsachen, die ich hier nicht beweisen kann. Man kann mir Glauben schenken oder nicht. Niemand muß fürchten, daß ich statt einer revolutionären Änderung der Gesellschaft ein psychologisches Verfahren empfehlen wurde. Nicht nur weil ich mir nicht vorstellen kann, wie so etwas praktisch vor sich gehen konnte. Der innere Knoten, dessen Verschlingungen wir heute recht gut kennen und
- 64 -
mitunter zu lösen wissen, hängt nicht in der Luft; die Schnüre, die ihn bilden, gehen durch, hinaus, verbinden den Menschen zäh mit anderen Menschen, mit der gesellschaftlichen Umwelt. Vor ein paar Jahren schrieb ich in einem Artikel über Fortschritte der psychoanalytischen Behandlungstechnik 3 : "Wenn Sie mich fragen sollten, ob meine Analysanden durch die Analyse zu Revolutionären werden, müßte ich "nein" sagen. Es sind letztlich doch die massiven Vor- und Nachteile einer gesellschaftlichen Position, die für das soziale Verhalten einer Person, sei sie analysiert oder nicht, den Ausschlag geben." Darauf haben nicht wenige analytische Zunftkollegen und einige Genossen enttäuscht und wütend reagiert. Die einen fragten, was ich denn überhaupt Emanzipatorisch-Umstürzlerisches von der Analyse erwarte, das liege da gar nicht drin, sie habe der besseren Anpassung des Einzelnen an "die" Gesellschaft, einer Freiheit von Konflikten und größerer individueller Autonomie zu dienen. Die anderen fanden, man sollte das ganze Psycho-Zeug endlich sein lassen, wenn es doch nichts nutzt. Ich hörte meine Utopie -Glocke läuten. Ich meine, sie haben beide nicht recht. Der Widerspruch liegt in der untersuchten Sache selbst, im Alten und im Weg zum Neuen Menschen. Um ihn zu verfolgen, eignen sich einseitige Verfahren nicht. Als Haile Selassie als allmächtiger Kaiser über Äthiopien herrschte, war er jahrzehntelang sein eigener Unterrichtsminister. Persönlich überwachte er ein sorgfältig ausgebautes Schulsystem, um gute, modern ausgebildete Untertanen heranzuziehen, die künftigen Stützen seines Reiches. Als an der kaiserlichen Universität von Adis Abeba die ersten Studentenunruhen ausbrachen m- sie wurden brutal niedergeschlagen -, legte seine Majestät das Schulministeramt nieder und schrieb eigenhändig einen Zeitungsartikel mit der Überschrift: "Trees we have planted not always bring the desired fruit" (Bäume, die wir gepflanzt haben, bringen nicht immer die Früchte, die wir uns wünschten). Gründlichere Unternehmungen, die näher bei uns liegen, den Menschen so zu erziehen, damit er ein anderer wird, will ich nur kurz 3
Parin, Paul: "Gesellschaftskritik im Deutungsprozeß". Psyche, Jg. 29 (1975), S. 116.
- 65 -
erwähnen. Wer wüßte nicht von den Versuchen, Kinder besser und vor allem anders aufzuziehen, damit sie sozialer werden, die Repression nicht in sich und von da in die Gesellschaft tragen. Und wer wüßte nicht, wie schwer oder vielmehr unmöglich es ist, eine Alternativerziehung als sauber angelegtes Experiment durchzuführen, um dann zu beurteilen, ob und warum und wie andere Menschen herausgekommen sind als bei der herkömmlichen Erziehung. Ganz abgesehen davon, daß niemand gerne zwanzig Jahre wartet, um etwas zu wissen, was er heute wissen mochte. Es ist natürlich ein fauler Trick oder, vornehmer ausgedrückt, ein fragwürdiger Kunstgriff, meiner Utopie mit dem zu Leibe zu rucken, was man Ethnopsychoanalyse genannt hat. Mit ihr wird der Einzelne in seiner Gesellschaft untersucht, psychische Entwicklung und geschichtliche Veränderung, konservatives Beharren und stürmische Umwälzungen, ökonomische Basis und Überbau, kurz, die "Beziehungen und Verhältnisse" des Menschen und er selber, den wir gerne anders hätten. Einseitig ist das Verfahren sicher nicht. Legitim und vernünftig kommt mir noch vor, lieber erst zu verstehen, was geschieht, wenn etwas trotz verschiedener Gelegenheiten und Bemühungen nicht zustande kommen will. Faul daran ist, vom Standpunkt einer höheren Moral, zu forschen, statt zu handeln, die Veränderung der Geschichte gegen die Entzifferung von Geschichten einzutauschen, in ferne Länder zu reisen, statt sich im eigenen daran zu machen. Offenbar opfert man seine utopischen Gelüste ebensowenig leicht der Moral "tu, was man von dir erwartet" wie der Vernunft "sieh" ein, es ist nun einmal so, auch du wirst nichts daran ändern; es ist die menschliche Natur". Mit schuldbewußter Feder, mit klammheimlicher Freude, dem Ziel, das unerreichbar bleiben muß, ein Zoll weit nähergeruckt zu sein, auf meinem Umweg, der länger ist, dafür aber in die gewünschte Richtung fuhrt, kann ich schreiben: Es ist nicht die Natur des Menschen. Die Gesellschaft macht beides, den Fortschritt und seine Hemmung. Die Widersprüche der Gesellschaft sind im Menschen drin. Darum muß er sich verändern, ob er will oder nicht. Sind das lauter Banalitäten, oder kann man es genauer sagen? Man kann. Aber einfach ist die Sache nicht. In den 68er Jahren haben sich viele viel zu gerade Wege ausphantasiert. Und wenn die Herren Konservativen singen, es bleibt alles beim alten, plus que ca change, plus c'est la meme chose, haben sie ebensowenig Recht wie viele
- 66 -
brave Genossen und Genossinnen, mit oder ohne Knopf, die hoffen, daß der Mensch - endlich - zu sich selber kommen wird, wenn man nur die Basis umstülpt und auf die Beine stellt. Der Mensch ist veränderbar, aber nicht so. Er folgt einer eigenen Dialektik, die wir so schwer zu fassen kriegen; wahrscheinlich weil wir mitten in ihrem Strudel schwimmen. Ich muß einen Irrtum korrigieren, den ich oben durch die allzu verkürzte Polemik gegen die neue Erziehung verschuldet habe. Die psychische Entwicklung des Kindes, von der Stunde seiner Geburt an, erweitert um alle Lernprozesse und sonstigen Einflüsse, kurz, die Sozialisation ist ungeheuer bestimmend. Ja, man hat gesagt, daß jedes Volk, jede Klasse, Kultur, Subkultur und Schicht ihre Kinder so sozialisiert, daß sie genau die psychische Eigenart entwickeln, die die jeweilige Gesellschaft bei ihren Trägern braucht. Familien, und besonders Mütter, sind außerordentlich schwer dazu zu kriegen, ihre Kinder anders zu erziehen, als sie selber erzogen worden sind. Die Atabaska-Indianer, ein Stamm der Apachen, die im unwirtlichen Binnenland von Alaska lebten, hatten die Gewohnheit, ihre Säuglinge auf ein Wickelbrett gebunden am höchsten Punkte ihrer Spitzzelte, etwa in Kopfhöhe eines stehenden Menschen aufzuhängen, weil es dort am wärmsten war. Vorbeigehende konnten die hängende Wiege schaukeln, das Kind konnte sie aber nicht sehen. Vor etwa 40 Jahren wurden diese Indianer "entdeckt". Man baute ihnen Hauser aus Zement und Ziegeln, versah sie mit einer guten Heizung und modernen Möbeln. Zu ihrer Verwunderung entdeckten die weißen Betreuer, daß Atabaska-Mütter fanden, der richtige Platz für ihre Säuglinge im Wickelbrett sei oben, auf dem Kleiderschrank. Sie ließen sich nicht davon abbringen: das sei für die Aufzucht ihrer Kinder nötig. Nicht nur Gesetz und Rechte erben sich wie eine ewige Krankheit fort. Auch andere Traditionen können sich, wie Freud erkannt hat, in der psychischen Instanz Überich trotz größerer äußerer Veränderungen ungeheuer lange fortpflanzen. Gerade die AtabaskaApachen scheinen noch genau die gleichen Überich-Forderungen in sich zu tragen wie die Mescalero-Apachen in Neu-Mexico. Die beiden Volksteile haben sich wahrscheinlich vor etwa 1000 Jahren getrennt. Die einen lebten als Nomaden in den büffelreic hen Steppen des Südens, bis zur Eroberung des Kontinents durch die Weißen, und dann seit vielen Generationen in elenden Reservaten von der
- 67 -
Fürsorge der Eroberer. Die anderen waren in ihren eisigen Steppen auf die spärliche Jagd und Fischerei angewiesen, dem Hunger und der Kälte ausgesetzt, und kamen, wie gesagt, erst vor etwa 40 Jahren in Kontakt mit den Weißen, lebten nie in einem Reservat. Wie konnte ein psychisches Gebilde, das wir uns unwillkürlich als bildsam und ephemer vorstellen, trotz so unterschie dlicher und massiver materieller Einflüsse unverändert bleiben? Die Umständlichkeit jeder solchen Schilderung verbietet es, an einem Beispiel nachzuweisen, wie sehr die frühkindlichen Erziehungsgewohnheiten und die gesellschaftlichen Institutionen, besonders die Familien und Sippen, die Eigenart des Menschen prägen. Das ist auch ganz bekannt und hat bedeutende Forscher dazu gebracht anzunehmen, daß die Aufzucht in der Familie der einzige gesellschaftliche Faktor sei, dem ein Einfluß auf das Innenleben, auf die psychische Struktur zukommt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß die Menschheit in so viele Pseudospezies, also scheinbar verschiedene Arten Mensch zerfällt, wie es Völker und andere entsprechende Gruppierungen gilt. Wo das genau zu stimmen scheint, könnte eine Veränderung des Menschen oder seiner Gesellschaft nur von außen erfolgen. Levi-Strauss hat solche (vorkapitalistischen) Sozietäten "kalte" Gesellschaften genannt, zum Unterschied von den "heillen", in denen es gleichsam brodelt, die sich von innen her verändern, in denen, so können wir vermuten, das Ergebnis der Sozialisation, der sozialisierte Mensch, den Erfordernissen der Gesellschaft nicht mehr entspricht. Doch hat da einer4 vier ostafrikanische Volker psychologisch untersucht, die man zu den "kalten<" Gesellschaften rechnen muß. Von den Gegebenheiten ihres Wohnraumes gezwungen, lebt je ein Teil jedes einzelnen Volkes überwiegend als Ackerbauer, ein anderer überwiegend als nomadisierende Viehzüchter. Die Sozialisation hat es zustande gebracht, daß die Angehörigen jedes Volkes nicht nur nach Sprache und Traditionen, sondern gerade auch nach ihrer psychologischen Eigenart einander ähnlich geblieben sind. Doch ließ sich ebenso eindeutig nachweisen, daß die Produktionsweise für sie charakteristische Muster mit sich gebracht hat. Die Ackerbauer haben Haltungen etwa zum Besitz, zu verschiedenen erwünschten 4
Edgerton, R. B.: "The Individual in Culture and Adaptation. A study of four East Afncan peoples". Berkeley (Univ. Calif. Press), 1971.
- 68 -
und unerwünschten Charaktereigenschaften und haben "natürliche" Emotionen, wie sie für Ackerbauer typisch sind, die sie mit Angehörigen anderer Ackerbauvolker teilen, während der Sektor ihres Volkes, der Viehzucht betreibt, psychologische Merkmale aufweist, welche bei den ackerbauenden Teilen des Volkes nicht anzutreffen sind, die sie aber mit anderen Hirtenvölkern gemeinsam haben. Am deutlichsten treten diese Verhältnisse bei den Sexualgewohnheiten und sexuellen Werten hervor, die doch die Psychoanalyse gerne bis ins einzelne von der frühkindlichen Entwicklung ableitet. Es kann kein Zweifel bestehen, daß bei diesen vier Volkern die Ökologie in ihrer Auswirkung auf die Produktionsverhältnisse den erworbenen psychischen Strukturen ihre Form gegeben hat. Solchen makrostrukturellen Kräften und den Widersprüchen, die sie im Sozialgefüge erzeugen, wurde schon lange ihre Rolle bei der Evolution menschlicher Gesellschaften zugeschrieben. Die Ethnopsychoanalyse muß damit rechnen, ihre Auswirkungen auch bei Individuen anzutreffen, die der Historiker als unbewußte Objekte der Schicksale ihrer Sozietät oder Klasse bezeichnen durfte. Diese Kräfte, ob sie nun auf die psychische Entwicklung oder auf bereits erwachsene Menschen einwirken, können wir als progressiven, verändernden Faktor ansehen. Um der Beantwortung unserer Fragen näher zu kommen, können wir bei allen Beobachtungen einerseits einen konservativen Faktor, die kulturspezifische Sozialisation, andererseits einen progressiven Faktor, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ich als "makrosozietäre" bezeichne, in Rechnung stellen. 5 Beide, die Sozialisation und das, was ich hier die "gesellschaftlichen Verhältnisse" nenne, sind gesellschaftliche Einflusse, denen jedes Individuum unterworfen ist. Diese Kräfte haben aber eine verschiedene und zwar gegensatzliehe Wirkung, wenn wir sie von der Psychologie und vom sozialen Verhalten der betroffenen Personen her betrachten. Die durch all die verschiedenen Erziehungspersonen und -instituttonen (Mutter, Familie, Schule etc.) vermittelten Einflusse (die Sozialisation) tendieren darauf hin, daß sich der Einzelne an die einmal bestehende Gesellschaftsordnung 5
Parin, Paul: "Das Mikroskop der vergleichenden Psychoanalyse und die Makrosozietät". Psyche, Jg. 30 (1976), S. I
- 69 -
anpaßt; die "makrosozietären, gesellschaftlichen Verhältnisse" bewirken im Prinzip, daß das Individuum sich, sein Verhalten in der Gesellschaft und damit diese selbst verändert. Darum nenne ich die ersteren "konservativ", die letzteren "progressiv". Bei den vier ostafrikanischen Volkern sehe ich natürlich die verschiedene Produktionsweise als "progressiven", zur Änderung drängenden Faktor an. Beide Faktoren kann man sich als Koordinaten in einem Koordinatensystem vorstellen, das für die Bestimmung jeder ethnopsychoanalytischen Beobachtung unerläßlich ist. Eine dritte Koordinate, also in der dritten Dimension, wäre der zeitliche Verlauf. Beide Faktoren, die Sozialisation und die gesellschaftlichen Verhältnisse, sind prinzipiell diachrone Phänomene, d. h. sie sind immer in Veränderung begriffen. Dieses Koordinatensystem, Sozialisation versus gesellschaftliche Verhältnisse, eignet sich vorzuglich, um Forschungsergebnisse, die mit den verschiedensten ethnologischen und psychologischen Methoden gewonnen worden sind, miteinander in Beziehung zu setzen oder zu vergleichen. Ich halte es gegenwärtig für das beste theoretische Instrument, um der Dialektik, die sich bei der ethnopsychoanalytischen Forschung ergibt, eine verständliche Gestalt zu geben. Das beschriebene Koordinatensystem enthält Widerspruche, die als Ausnahmen von der Regel imponieren, so daß der Sozialisation verändernde Funktionen, den "makrosozietären gesellschaftlichen Verhältnisse". konservative zukommen. Zum Beispiel kann das Überich, ein Ergebnis der Sozialisation, wegen seines besonderen Inhaltes zur Veränderung drängen. Vom Prozeß der Sozialisation, die grundsätzlich auf Anpassung hin angelegt ist, kann in einer relativ stabilen Sozietät ein mächtiger verändernder Impuls ausgehen: so hat die Erziehung in den Missionsschulen der afrikanischen Kolonialreiche bei zahlreichen Schülern dazu geführt, daß sie die Veränderung der traditionellen und der kolonialen Gesellschaftsstrukturen in Gang brachten. Soziale Institutionen, z. B. die Kirche, der Staat, können direkt oder indirekt einen stabilisierenden Einflug auf psychische Prozesse haben. Damit wirken sie auf erwachsene Individuen im Sinne der Anpassung, also "konservativ", obwohl sie zu den "makrosozietären" gesellschaftlichen Verhältnissen. zu rechnen sind. Verschiedene gesellschaftliche Institutionen, z. B. Rituale, sind geradezu als
- 70 -
kollektive Abwehrmechanismen beschrieben worden; als solche haben sie einen stabilisierenden Einflug auf die Ichfunktionen der Beteiligten. Trotz dieser Ausnahmen, bei denen die Sozialisation ein "progressives Ergebnis" zeitigt, also zu gesellschaftlichen Veränderungen drängt, und die makrosozietären Verhältnisse zur besseren Anpassung des Einzelnen an das Bestehende, zu einer "konservativen Haltung" führen, muß man am oben entworfenen Koordinatensystem festhalten. Diesen und anderen Ausnahmen muß und kann man durch eine vertiefte Analyse Rechnung tragen. Eine Umkehr des Systems wäre nur möglich, wenn man die materiellen Grundlagen gesellschaftlicher Verhältnisse leugnen wollte. Dann müßte die Gesellschaft bleiben, wie sie ist, bis ein Kind heranwächst, das mit prometheischem Geist begabt ist, der nach Veränderung drangt. Diese Anschauung ist idealistischen Weltanschauungen eigen, die das Seelische als die Quelle oder den Geist als den Schöpfer des Gesellschaftlichen begreifen. Sie kehren das Koordinatensystem als ganzes um: die bewahrende Funktion kommt den gesellschaftlichen Verhältnissen zu, insbesondere den bestehenden Produktionsverhältnissen, die verändernde der Sozialisation, die den menschlichen Geist ausbildet. Ich fürchte nicht, daß es zu mühsam wird, den Gang progressiver Veränderungen zu verfolgen; oft ergeben sich überraschende Einsichten. In einem Schwarzen-Ghetto im Westen von Chicago wurden vierjährige Kinder, ihre Mutter, Familien und Lebensverhältnisse dreizehn Jahre lang genau untersucht. Es zeigte sich, daß sich nur ein Viertel der Kinder normal entwickelt hatte; bei ihnen konnte man hoffen, daß sie Kindergarten und Schule mit Erfolg durchlaufen wurden. Ein weiteres Viertel der Kinder war durch die Sozialisation im Elend ihrer ersten Lebensjahre bereits so schwer geschädigt worden, daß man sie als lernunfähige, lebenslänglich psychisch Invalide einstufen mußte. Bei der restlichen Hälfte waren verschiedene mäßige Schäden vorhanden; die Voraussage für ihre Entwicklung blieb unsicher. Das Ergebnis der Untersuchung war nicht nur niederschmetternd, sondern auch überraschend. Denn man konnte trotz genauester Nachforschung weder im Verhalten der Mutter zu den Kindern noch in der Zusammensetzung und sozialen Lage der Familien irgendwelche genügend relevanten Unterschiede feststellen, die so unterschiedliche
- 71 -
Ergebnisse gleichartiger Sozialisation erklart hatten. Da bemerkte man, in den frühen sechziger Jahren, als die Zeichen von "black pride" - Afrolook-Frisuren, "afrikanische" Kleidung, "afrikanischer" Schmuck etc. - noch nicht Mode geworden waren, als diese Embleme nur von militant revoltierenden Schwarzen getragen wurden, daß alle Kinder, die sich gut entwickelt hatten, mindestens mit einem Zeichen von "black pride" geschmückt waren. Von der mittleren Gruppe trugen einige Kinder solche Zeichen; von den am schwersten Geschädigten trug kein einziges Kind ein solches Zeichen der Gesinnung seiner Eltern an sich. Die Vierjährigen brachten also den Beweis zur Untersuchung mit, daß ihre Eltern in ganz verschiedener Art zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt standen. Da, wo die Sozialisation im Säuglings- und Kleinkindesalter gelungen war, darf man in allen Fällen auf eine aktive Einstellung der Mutter oder der Familie zur nahezu unerträglichen sozialen Situation schließen, bei den mäßig geschädigten Kindern manchmal, bei den schwer geschädigten nie. Zur Aufzucht der Kinder brauchen Eltern offenbar eine begründete Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben ihrer Kinder. Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt etwas verändern können, ist jedenfalls die Möglichkeit gegeben, daß auch der Mensch sich anders. Die Frage, was zuerst kommen müßte und was danach, die Veränderung des Menschen oder die der Gesellschaft, ist sicherlich falsch gestellt. Ich habe mich oft gewundert, wieso Genossen so undialektisch denken können. Haben sie vielleicht im Klassenkampf den obersten Knopf ihrer Uniform auf Befehl geschlossen, oder von alleine, weil sie zur Ordnung erzogen worden sind, zuhause bei Muttern oder in der harten Schule der Industrieproduktion; oder haben sie den Knopf gar schon drin? Wie kann man Revolution machen und an eine Veränderung der Verhältnisse glauben, wenn man seinen eigenen zur zweiten Natur gewordenen Erziehungserfolg nicht rückgängig macht. Wie kann man sein repressives Überich durch sexuelle Freiheit los werden, wenn man der Sklave entfremdeter Arbeit und ausbeuterischer Verhältnisse bleibt. Da kann doch nur der lange Marsch hinein in die Verdrängungen und Verzerrungen unserer Seele und hinaus gegen die Festung der Mächtigen weiterfuhren. Manche scheinen schon unterwegs zu sein, aber ich weiß nicht, wer sie sind. Sind es Frauen, sind es die jeweils Jungen, sind es Schwarze, Weiße, Indianer oder
- 72 -
Chinesen? Ich glaube zu wissen, warum mir die chinesische Kulturrevolution so gut gefallen hat. Ich bin doch sonst gar nicht für Durcheinander und gegen die Schließung von Schulen und Universitäten. Es gab da die Idee, daß man alle paar Jahre wieder Revolution machen muß. Das hat mir gefallen, wahrscheinlich weil ich weiß, daß es so lange dauert, bis der Mensch sich ändert, und daß es so oft fehlgeht und fehlgehen muß. Da sah ich eine Chance. Ich weiß es schon: Utopien bieten kein Ziel. Sie sind wie Satelliten, die wir selber in Umlauf gebracht haben. Manchmal stürzt einer ab und verglüht. Andere kreisen weiter. Stillstehen können sie nicht. Das ist ihr Gesetz. Paul Parin (1978) - Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors -
- 73 -
• GENESIS P. ORRIDGE • DER EINSTURZ DES KONTROLLSYSTEMS Der totale Krieg ist zu einem Krieg um Information geworden, und wir befinden uns in Mitten dieser Entwicklung... Information ist der Schlüssel zur Veränderung, der Schlüssel zur Erkenntnis, überhaupt der Schlüssel zur Entfaltung auf allen Ebenen. Die Macht über diese Welt liegt im Grunde in den Händen derjenigen, die Zugang zur größtmöglichen Information haben und diese Information kontrollieren. All die Paranoia, die durch Politik ausgelöst wird, resultiert fast ausschließlich aus der Frage, was denn nun wirklich abläuft, was geheim bleibt, worüber man uns nichts sagt. In diesen Bereich fällt auch das ganze Getue der Diplomatie. Die einzige Hoffnung, diesen Kontrollprozeß zu unterbrechen, besteht mit der Zeit darin, daß die Leute reifer, selbständig werden. Mit dem fortschreitenden Reifungsprozeß des Individuums wächst seine Fähigkeit zum eigenständigen Denken, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen. Und damit eine gewisse Atmosphäre von Vernunft und Logik zu schaffen. Aber dies wird mit allen Mitteln verhindert. Es ist ein verdammt harter Kampf, und man weiß nicht mal genau, wer am Drücker sitzt. Der Kontrollprozeß und die Macht, die dahinter steht, basiert letztlich kaum noch auf Militär oder Polizei, es ist keine Sache brachialer Gewalt. Die ist nur eine sekundäre Taktik, das ist nicht der springende Punkt - die wirkliche Macht hat der, der die Information hat. Die Schwäche desjenigen, der eine Datensammlung kontrolliert, liegt darin, daß er - sofern er seine Informationen entsprechend speichern und benutzen will - Systeme zur Speicherung und Reproduktion von Information entwickeln muß. Solche Systeme sind sehr aufwendig und teuer und setzen kostspielige Produktionsmittel voraus, die nicht voll ausgelastet werden können. Um die Entwicklungskosten zu decken und die Produktionsmaschinerie auszulasten, werden diese Systeme auch für Leute wie uns produziert, damit sich das Ganze letzten Endes auch bezahlt macht. Aus diesem Grunde hat heute jedermann Zugang zu den moderneren technischen Entwicklungen. All dies sind Nebenprodukte des Big Business, der Konglomerate und der Leute an der Spitze, die direkt mit Kontrolle arbeiten. Sie entwickeln diese Technologie für ihre
- 74 -
eigenen Zwecke, aber es verschlingt dermaßen viel Geld, daß sie den die Technologie in Massenproduktion herstellen müssen, um die Entwicklung finanzieren zu können. Und so kommt es, daß es für uns alle immer einfacher wird, mit moderner Technologie unsere eigenen Ideen und Informationen zu verbreiten - dies ist ein paralleler Prozeß. Die zweite Schwäche jener, die an den Kontrollhebeln sitzen, liegt darin, daß sie eine sehr einseitige Perspektive haben, während wir, die Outsider, die genetischen TerroristInnen oder KontrollagentInnen, wie wir bei Throbbing Gristle dazu sagten (was nicht heißt, daß wir Kontrolle ausüben, sondern daß wir uns mit ihr auseinandersetzen), die Fähigkeit des Mutanten haben, Bewußtseinssprünge zu machen. Genau das sagt man ja kreativen Menschen nach, oder KünstlerInnen oder talentierten Kriminellen: daß sie die Dinge im größeren Zusammenhang erkennen, Strukturen von außen analysieren, mit diesen Erkenntnissen spielen, arbeiten, sie zurückwerfen können. In inspirierten Momenten fliegt der Sand in so manches Getriebe... Das Werkzeug, das wir in die Hand bekommen, mit dem wir unsere Außenseiter-Position noch deutlicher manifestieren können, ist also ein Nebenprodukt der Kontrolleure. Dafür kriegen sie natürlich auch was von uns. Wir entwickeln ständig nichtlineare Ideen, die ausserhalb ihres Spektrums liegen, die sie aber übernehmen und ihren Zwecken anpassen können. In einer Krise ist es oft ein Außenseiter, der eine Lösung findet, einen neuen Kniff entdeckt oder einen Kompromiß bewirkt. So beeinflußt also eins das andere. Jede Seite gibt der anderen etwas, was direkt aus ihrem komplizierten Konflikt resultiert. Die absolute Ironie - und gleichzeitig organisch, zyklisch und vernünftig. Der Parasit ernährt sich vom Wirt, der Wirt verdankt seine Existenz der Immunität, die ihm der Parasit gewährt. Der Kontrollprozeß entwickelt Techniken und Geräte, die wir spielerisch zu unseren eigenen Zwecken einsetzen können. Aber sobald wir mit ihnen spielen, fällt als Nebenprodukt unausweichlich ein Stück kreativer und philosophischer Fortschritt ab, eine Erfahrungsanalyse, die dann wiederum der Kontrollprozeß für seine Zwecke nutzt. Das System braucht eine skeptische, rebellische Minderheit, um deren flexible Perspektive ausbeuten zu können - eine Flexibilität, die ihm selbst aufgrund seiner rigiden Form nie möglich wäre.
- 75 -
Dennoch sieht ganz so aus, als würde diese Minderheit ganz, ganz langsam wachsen. Immer mehr Menschen brechen Tabus; andere Leute haben ihnen davon erzählt, oder sie haben im Fernsehen, durch Flugblätter etc. davon gehört - also durch Information, die ihnen zugänglich gemacht wurde -, daß sie gewisse Rechte haben, daß sie Dinge in Frage stellen können, daß sie selbst etwas organisieren, eigene Strukturen bilden können. Was nicht unbedingt heißen muß, daß diese Dinge dann alle per se ihre Richtigkeit haben, doch scheint es symptomatisch zu sein für einen massiveren Einsturz des Kontrollsystems, ausgeprägter als manch einer wahrhaben möchte. Und das erklärt vielleicht den gegenwärtigen repressiven Trend in der Politik, mit dem diejenigen, die momentan den Kontrollprozeß steuern und die Datenbank besitzen, versuchen ihre wachsende Angst vor dem Umsturz zu mindern. Genesis P. Orridge
- 76 -
• CRITICAL ART ENSEMBLE • ELEKTRONISCHER ZIVILER UNGEHORSAM In der Art und Weise, wie Macht repräsentiert wird, unterscheidet sich der Spätkapitalismus wesentlich von anderen politischen und ökonomischen Systemen. An die Stelle eines einstmals soliden Sediments der Macht treten nomadisierende Formen, ein elektronischer Datenfluß, die computerisierte Verwaltung des Wissens und der Information, in der die institutionellen Zentren des Kommandos und der Kontrolle kaum mehr auszumachen sind. Das auffallende Äußere der Herrschaftsarchitektur versprach einst die Stabilität des Regimes: Schlösser, Paläste, Regierungssitze und Konzernzentralen fanden sich bedeutsam in der Mitte der Städte, gewissermaßen als Herausforderung an die Unterdrückten und Unzufriedenen, gegen ihre Mauern anzurennen. Undurchdringlich und dauerhaft standen diese Bauwerke und ihre Festigkeit konnte widerständige Bewegungen demoralisieren und im Keim ersticken. Doch erwies sich diese Zurschaustellung der Macht als zweischneidiges Schwert. War die Verzweiflung oder Entschlossenheit ihrer Gegner einmal groß genug, traf sie sich mit der materiellen Auszehrung oder dem symbolischen Zusammenbruch der Legitimitat, so war es den Revoltierenden kein Problem, die Machthaber ausfindig zu machen und anzugreifen. Und war die Festung erst einmal geschliffen, so bedeutete dies zumeist das Ende des Regimes. In diesem weiter gefaßten historischen Zusammenhang entwickelte sich ziviler Ungehorsam als strategisches Muster. Zunächst war die Strategie ungewöhnlich, sich dafür zu entscheiden, bei der Bekämpfung der Machthaber auf Gewalt zu verzichten und statt dessen mit vielfaltigen taktischen Maßnahmen das reibungslose Funktionieren der Institutionen in solchem Maß zu unterbrechen, daß einer Entmachtung der Regimes nichts im Wege stand. Auch wenn diese Strategie mit dem Siegerlächeln moralischer Überlegenheit antrat, verdankte sie ihre Wirkung eher der Unterbrechung ökonomischer Prozesse und symbolischen Störungen. Ziviler Ungehorsam zielt heute häufig nur noch auf Reformen im institutionellen Rahmen des Systems statt auf dessen Zusammenbruch. Regierungen in den kapitalistischen Zentren reagieren in der Regel tolerant auf solche Aktionen, da sie als
- 77 -
oppositionelle Strategie den Raum für Verhandlungen eröffnen und weder Staat noch herrschende Klasse in ihrer Existenz wirklich gefährden. Zwar bleibt ziviler Ungehorsam eine Straftat, trifft aber im allgemeinen weder auf eine massive staatliche Repression, noch gelten die AktivistInnen als revolutionär oder werden im Falle einer Inhaftierung den Sonderbedingungen für politische Gefangene unterworfen. Selbstverständlich gibt es bemerkenswerte Ausnahmen von dieser politischen Linie metropolitaner Regimes, etwa die Verfolgung der BürgerrechtlerInnen im Süden der USA. Auch wenn ziviler Ungehorsam, gerade auf lokaler Ebene, noch erstaunlich wirkungsvoll sein kann, schwindet heute seine Durchsetzungskraft zunehmend. Die Methoden des Widerstandes müssen deshalb verfeinert und neue Modelle der Störung und Unterbrechung gefunden werden: ein Angriff auf die (Nicht-) Knoten der Macht auf elektronischer Ebene. Strategie und Taktiken zivilen Ungehorsams können auch jenseits der lokalen Aktionen nützlich sein, doch nur, wenn dadurch die Bewegung von Information statt die von Arbeitskräften blockiert wird. Leider stehen sich Linke oft selbst im Weg, wenn es darum geht, das Modell des zivilen Ungehorsams den veränderten Umständen anzupassen. Trotz eines mit Stolz vorgetragenen historischen Bewußtseins und einer kritischen Gesellschaftsanalyse weigern sich viele, die epochale Verschiebung in den Bedingungen, in deren Rahmen politisches Handeln möglich ist, anzuerkennen und tun statt dessen so, als lebten sie im Frühkapitalismus. Der Grund hierfür ist nicht nur die weiterwirkende Diskrepanz von Theorie und Praxis, sondern auch das Auftreten bestimmter Überbleibsel aus der "Neuen Linken" der sechziger Jahre in den heute aktiven Gruppen. Davon überzeugt, daß die politischen Formen, die damals zum Erfolg führten (und damit ist in den USA vor allem der Beitrag der Neuen Linken zum erzwungenen Rückzug der US-Armee aus Vietnam gemeint), auch heute richtig sind, sehen diese VeteranInnen keinen Grund, neue Ansätze auszuprobieren. Nostalgie führt bei der endlosen Wiederholung der Vergangenheit als Gegenwart Regie und beherrscht leider sogar viele AktivistInnen der jüngeren Generation, die keine selbsterlebte Erinnerung an die Sechziger bindet. Diese Sentimentalität hält den Glauben am Leben, wenn die Strategie, die Entscheidung "auf der Straße" zu suchen, damals funktionierte, würde sie es bis in alle Ewigkeit tun.
- 78 -
Die Arbeitsteilung im gegenwärtigen Kapitalismus hat sich in einem solchen Maße differenziert, daß die für Synchronisation und Organisation des Produktionsprozesses notwendige Geschwindigkeit nur noch durch den Rückgriff auf vernetzte elektronische Kommunikation erreicht werden kann. Umgekehrt wird die Kontrolle über die Verbreitung von Information und der Zugriff auf sie zum wesentlichen Moment beim Zusammenfügen der Puzzlesteine des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wird der Zugriff auf Informationen blockiert, verliert die betroffene Institution ihre organisierenden Fähigkeiten; hält die Blockade über einen längeren Zeitraum an, droht ein Kollaps. Die Unterbrechung der Kommunikation verhindert die Verständigung darüber, ob verschiedene institutionelle Segmente gegeneinander oder in die gleiche Richtung funktionieren. Die Unterbrechung des Zugriffs auf Informationen ist mithin eines der wirkungsvollsten Mittel, um Institutionen, seien sie Teil militärischer oder ziviler, privater oder staatlicher Unternehmen, zu lähmen. Das Problem zivilen Ungehorsams, wie er bis heute verstanden wird, aber ist, daß er niemals auf den skizzierten organisierenden Zusammenhang, sondern auf zwar greifbare, doch periphere Strukturen zielt. Im Maßstab transnational operierender Institutionen sind solche Aktionen nichts weiter als Mückenstiche. War die Beherrschung strategischer Punkte im "realen" Raum einmal eine der Hauptquellen der Macht, so hängt heute Herrschaft an der Fähigkeit, Orte ohne Opposition zu finden und zugleich zeitweise, entsprechend taktischer Notwendigkeiten, "reale" Räume zu besetzen. Doch die Eroberung dieser Räume durch oppositionelle Kräfte wäre angesichts der dezentralen Organisation der Institutionen nutzlos. Vergleichen wir die Sicherheitsvorkehrungen und Strafandrohungen, hinter denen Macht und Wert zu vermuten sind, rangiert der Cyberspace ganz oben. Dem US-amerikanischen Secret Service, dessen Aufgabe es bisher war, den Präsidenten und sein Umfeld zu schutzen sowie Verschwörungen aufzudecken, kommt dabei immer mehr die Rolle einer Cyber-Polizei zu. Gleichzeitig haben private Firmen damit begonnen, ihren eigenen elektronischen Werkschutz aufzustellen, der zum einen Überwachungs- und Verteidigungssysteme installiert, zum anderen als Bande von Kopfgeldjä gern jeden zur Strecke bringt, der versucht, das Sicherheitssystem zu durchbrechen. Dieser Werkschutz unterscheidet
- 79 -
so wenig wie das Rechtssystem nach den imagesn der "TäterInnen". Ob jemand sich aus Neugier Zugang zu einem Computer verschafft oder um die darin gespeicherten Informationen zu entwenden oder zu zerstören, wird als "feindlicher Akt" registriert und mit der Höchststrafe bedroht. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen ist der Cyberspace aber weit davon entfernt, unangreifbar zu sein. Er expandiert und verändert sich mit hoher Geschwindigkeit, wahrend die Sicherheitssysteme oft begrenzt und an einem bereits überholten Entwicklungsschritt orientiert sind. Heute ist die Tür für den Widerstand noch offen, aber sie beginnt sich zu schließen. Die AktivistInnenen dieses Widerstands sind heute - zumindest in den USA - meist Kids. Jugendliche Hacker arbeiten in den elterlichen Haushalten und in den Wohnheimen der Colleges daran, eine Bresche in die elektronischen Sicherungsmaßnahmen der Konzerne und des Staats zu schlagen. Ihre images dabei sind unklar. Einige scheinen zu ahnen, daß ihre Aktionen politischer Natur sind wie Dr. Crash sagte: "Ob du es weißt oder nicht, als Hacker bist du ein Revolutionär." Aber die Frage bleibt, Revolutionär wofür? Vertieft man sich in die Ausgaben des Hacker-Magazins Phrack oder surft im Internet, so findet sich kaum ein Motiv, das über die grundlegende Forderung hinausgehen wurde: Freier Zugang zu allen Informationen. Wie diese Informationen verwendet werden könnten, wird niema ls diskutiert. Wenn diese Jugendlichen auch als Avantgarde einer politischen Bewegung agieren, so stehen sie doch vor dem Problem, daß sich aus ihren ersten politischen Erfahrungen noch kein kritisches Bewußtsein ergibt. Dabei besitzen sie sogar das notwendige Wissen, um zu erkennen, wo die politische Aktion beginnen mußte, um wirksam zu werden. Doch stößt man hier sofort auf das nächste Problem, die jugendlichen Allmachtsphantasien oder, wie Bruce Sterling es nannte, die Furchtlosigkeit, die direkt in den Knast führt. Tatsächlich verbüßen nicht wenige der jungen Aktivisten, man nehme nur das Beispiel der "Atlanta Three", teils umfangreiche Haftstrafen unter Bedingungen wie politische Gefangene. Ein Freiheitsentzug aufgrund einer Anklage wegen unbefugten Eindringens mag ein wenig übertrieben erscheinen, doch zeigt sich an dieser Praxis, höchste Strafen für kleinste Vergehen zu verhängen, welcher Wert der Verteidigung der herrschenden Ordnung und des Privateigentums im Cyberspace beigemessen wird. Wir sollten daher den Unterschied zwischen Computerkriminalität
- 80 -
und elektronischen Formen zivilen Ungehorsams unterstreichen. Während im ersten Fall aus dem Schaden, der anderen Leuten zugefügt wird, Profit gezogen werden soll, greift der elektronische Widerstand nur Institutionen an. Elektronischer Widerstand bedeutet, das herrschende Wertesystem umzudrehen, also den Einzelnen über die Information zu stellen und überhaupt Informationen zum Wohl der Menschen statt zum Funktionieren der Bürokratie zu nutzen. Strategie der Herrschenden ist es hingegen, diese Unterscheidung nicht zuzulassen und elektronischen Widerstand umstandslos der Computerkriminalität zuzuschlagen. Sie zielt darauf, den Cyberspace gegen politische Aktionen abzuschirmen und einen "Angriff" im virtuellen Raum strafrechtlich wie einen körperlichen Angriff im realen Raum verfolgen zu können. Elektronischer ziviler Ungehorsam unterscheidet sich im wesentlichen nicht von den traditionellen Formen der politischen Strategie des zivilen Ungehorsams: Im Kern ist es die gewaltfreie Aktion, die niemals die physische Konfrontation mit dem Gegner sucht. Grundlegende taktische Manöver sind auch hier das Eindringen und die Blockade, das Besetzen von Ein- und Ausgängen, die Kontrolle strategischer Punkte. Der zivile Ungehorsam wird so in elektronischer Form erneuert. Die AktivistInnen müssen sich ihrer Verantwortung bewußt sein und die Orte für elektronische Störungen sehr sorgfältig auswählen. Genauso wie eine gewaltfreie Aktion nie den Eingang zur Notaufnahme eines Krankenhauses blockieren würde, so werden auch elektronisch keine Funktionen unterbrochen, die entsprechenden humanitären Zwecken dienen. Deshalb zielen beispielsweise Aktionen gegen Pharmaproduzenten häufig auf die Forschungseinheiten oder die Marketingabteilung der Konzerne, weil deren Blockade für die betroffenen Firmen teuer wird, ohne bestimmte lebenswichtige Informatione für PatientInnen unzulänglich zu machen, die auf Medikamente angewiesen sind. Elektronischer ziviler Ungehorsam schließt auch einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten ein, daß heißt den Verzicht auf ihre Beschädigung oder Zerstörung, wenn die AktivistInnen ihre Ziele nicht erreichen. Schließlich besagt die Ethik der gewaltfreien Aktion, daß in keinem Fall, sei die Versuchung auch groß, der elektronische Angriff auf Personen, weder auf die Bankkonten der Manager noch auf die Privatkredite der ArbeiterInnen in den
- 81 -
anvisierten Firmen, ausgedehnt werden darf. Elektronischer ziviler Ungehorsam richtet sich gegen Institutionen. Das gerade entworfene Modell scheint einfach, bleibt aber gegenwärtig Science Fiction. Es gibt kein Bündnis zwischen Hackern und politischen Gruppen. Obwohl ein Austausch oder eine Zusammenarbeit beiden Seiten gut tun wurde, erfüllen die Auswirkungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die Funktion, beide sozial zu trennen, erfolgreicher als die Polizei es konnte. Hacken bedarf ständiger technischer Weiterbildung, um die Kenntnisse auf dem neuesten Stand zu halten. Eine wesentliche Konsequenz dieser unumgänglichen Auseinandersetzung mit der Technik ist, daß sie kaum Zeit läßt für die politische Beschäftigung mit den Verhältnissen, für die Bildung eines kritischen Bewußtseins oder für den Ausbau einer oppositionellen Position. Doch ohne einen derartigen Prozeß wird Hacker-Politik auch weiterhin weitgehend unbestimmt bleiben. Die zweite Konsequenz der Orientierung an der technischen Entwicklung ist die Isolation der Hacker im geschlossenen Klassenzimmer der Technokraten, in dem es kaum Verbindung zu Leuten außerhalb der eigenen Zirkel gilt. Aber auch den traditionellen politischen AktivistInnen geht es keinen Deut besser. Den Kopf in den Wolken politischer Geschichte glauben sie zu wissen, was zu tun und womit zu beginnen ist, doch fehlen ihnen praktikable und effektive Mittel. So sicher die politischen AktivistInnen sich ihrer Sache auch sein mögen, bleiben sie doch allzuoft in Plenumsdiskussionen ohne Ende stecken, die sich nicht einigen können, welches Monument toten Kapitals unter dem nächsten Streich fallen soll. Wir haben hier also zwei Strömungen antiautoritär motivierter Politik, die keinen Austausch kennen, die online und auf der Straße nebeneinander existieren und deren Niederlagen nicht zuletzt aus einer Kommunikationslosigkeit herrühren, für die keine der beiden Seiten verantwortlich ist. Eine Strategie der Gegenmacht durch zahlenmäßige Stärke, wie sie von Gewerkschaften bis zur außerparlamentarischen Opposition verfolgt wurde, ist passe, da sie sowohl einen breiten oppositionellen Konsens voraussetzt als auch die Existenz eines zentral organisierten Gegners. Die Bekämpfung einer dezentralen Macht verlangt den Einsatz dezentraler Mittel. Dies schließt eine Neuorientierung linker Politik ein, eine Organisierung in Zellen, die dem Widerstand erlaubt, viele und unterschiedliche Ausgangspunkte zu nehmen, statt
- 82 -
nur den einen (und vielleicht falschen) Hauptgegner im Auge zu haben. In einer solchen Struktur entsteht ein inhaltlicher Konsens auf der Basis des gegenseitigen Vertrauens der Einzelnen, das, was wir wahre Gemeinschaft nennen; jede Zelle baut ihre eigene Identität auf, ohne daß dies die individuelle Identität auslöschen wurde; und jede Person wird vielschichtiges Individuum bleiben, das nicht auf partikulare Praxis reduziert werden kann. Doch wie kann eine kleine Gruppe von vier bis zehn Menschen politisch wirksam sein? Die Antwort auf diese Frage verweist auf die Struktur der Zelle. Die Zelle ist ein zusammengesetztes Ganzes, das in seinem Zusammenspiel mehr ist als die Summe seiner Teile. Um Wirksamkeit zu entfalten, muß die Kluft zwischen politischem und technischem Wissen innerhalb der Zelle überbrückt werden. Eine gemeinsame politische Perspektive verbindet dabei die Individuen besser als arbeitsteilige gegenseitige Abhängigkeit. Dennoch sind unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliches Wissen nützlich, etwa wenn sich AktivistInnen, TheoretikerInnen, KünstlerInnen, Hacker oder sogar RechtsanwältInnen zusammen finden. Mit dem Aufbau von Zellen wären die Grundlagen für elektronischen zivilen Ungehorsam geschaffen, und somit könnten politische Kampagnen wenigstens damit rechnen, wahrgenommen zu werden. Elektronische Formen zivilen Ungehorsams sind für radikalere Zellen nur ein erster Schritt - Formen elektronischer Gewalt, wie die "Entführung" von Daten oder die Zerstörung von Computersystemen, sind gleichfalls politische Optionen. Aber sind solche strategischen Überlegungen nicht Formen eines fehlgeleiteten Nihilismus? Nach unserer Auffassung nicht. Insofern eine Revolution die Verhältnisse nicht verändern wird, scheint die Negation der Negation der einzig realistische Kurs. Die historischen Erfahrungen der Revolutionen und Beinahe-Revolutionen der vergangenen zwei Jahrhunderte lehrt, daß Herrschaft nicht zerschmettert werden wird, wohl aber Widerstand möglich ist. Nachdem man den leuchtenden Pfad der glorreichen Revolution erfolgreich gegangen, mußte man zu oft feststellen, daß die Bürokratie immer schon da war, daß vielleicht Coca-Cola verschwunden war, doch irgendwas an seine Stelle trat, das etwas anders aussah, aber fast genauso schmeckte. Zentralistische Organisationen haben haben in diesem neuen Widerstand drei Hauptfunktionen: Erstens die Verbreitung von
- 83 -
Informationen. Aufklärung und Agitprop bedarf zentralisierter Gegenbürokratien, die über finanzielle Ressourcen, das notwendige Personal und die Infrastruktur verfügen, um oppositionelle Gegeninformation zusammenzutragen, zu gliedern und zu verbreiten. Zweitens die Rekrutierung und Ausbildung neuer Aktivistinnen und Aktivisten. Es muß klar werden, wie notwendig die technologische Alphabetisierung der Kader ist. Allein auf die Motivation der AktivistInnen zu vertrauen, sich auch technisch auszubilden, wird nicht genügen, um in den Zellen ausreichend versierte Leute zu haben. Drittens können zentralistische Organisationen als Vermittler auftreten, wenn das Regime sich gegen alle Wahrscheinlichkeit zu Reformen entschließt. Solche Reformen gehen in der Regel weniger auf einen ideologischen Sinneswandel der Herrschenden zurück als auf einfache Kosten-Nutzen-Abwägungen. Gerade der Fetisch der Effizienz sollte als Bundesgenosse nicht unterschätzt werden. Zentralistische Organisationen können also von Nutzen sein wenn sie sich aus der direkten Aktion heraushalten. Die Unterwanderung von politischen Zellen ist wesenlieh aufwendiger als die Infiltration zentralistischer Organisationen, und vor allem der zur Überwachung notwendige Aufwand potenziert sich mit einer zunehmenden Zahl der Zellen. Eine Reihe aktiver Zellen kann dem Regime die Stirn bieten, indem eine fundamentale Strategie des Widerstands verfolgt wird: die Mittel der Herrschenden gegen sie wenden. Um dieser Strategie heute Sinn zu verleihen, ist es notwendig, daß sich der Widerstand - wie zuvor die Macht - von der Straße zurückzieht. Cyberspace ist der Ort und das Mittel des Widerstands - das zu begreifen bedeutet, ein neues strategisches Modell politischer Praxis ins Spiel zu bringen. Critical Art Ensemble
- 84 -
• NATUR UND ERNÄHRUNG •
- 85 -
• KosmA• STATION AN ERDE "Am ersten Tag deutete jeder auf sein Land. Am dritten oder vierten Tag zeigt jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag achteten wir auch nicht mehr auf die Kontinente. Wir sahen nur noch die Erde als den ganzen Planeten." (Ben Salman Al Saud) "Nach acht Flugtagen erkannte ich, daß der Mensch die Höhe vor allem braucht, um die Erde, die so vieles durchlitten hat, besser zu verstehen und manches zu erkennen, was aus der Nähe nich wahrgenommen werden kann. Nicht allein, um von ihrer Schönheit in Bann gezogen zu werden, sondern auch um zu einem Verantwortungsgefühl zu finden, daß nichts, was wir tun, die Natur auch nur im geringsten Maße schädigen darf." (Pham Tuan) "Man sieht wie am Horizont zunächst Lichtstrahlen in seltsamen kontrastierenden Farben aufsteigen. Danach werden auch die Wolken farbig. Sie bekommen eine rosa Tönung, und ihre gleichfalls rosafarbenen Gipfel sehen irgendwie wie Zauberpferde aus." (Aleksandr Wolkow) "Was mich am meisten erstaunte, war die Stille. Eine unvorstellbare Stille, wie sie auf der Erde niemals vorkommt. Eine Stille - so tief und vollständig, daß man den eigenen Körper zu hören beginnt. Wie das Herz kämpft und die Adern pulsieren; man vernimmt sogar das Rauschen von Muskelbewegungen. Und am Himmel gab es mehr Sterne, als ich mir hatte jemals vorstellen können. Der absolut schwarze Himmel wurde vom Widerschein der Sonne leicht erhellt." (Aleksej Leonow) "Jedesmal, wenn du das Raumschiff in Drehung versetzt, kannst du die Sonne herunterkommen sehen. Dann siehst du wie der Mond erscheint. So schafft man in den Fenstern des Raumschiffs diese ständige Parade von Dunkelheit und Sternen auf der einen Seite: Und dann läuft die Erde durchs Gesichtsfeld, dann die Sonne, dann der Mond. Danach kommt wieder der von Sternen übersäte Himmel. Das hat etwas Unheimliches. Mit einem Male wird dir bewußt, daß du
- 86 -
dich im tiefen Weltraum befindest, daß Planeten einfach bloß Planeten sind, und daß du mit nichts mehr wirklich verbunden bist. Du schwebst durch diese tiefe schwarze Leere." (Edgar Mitchell) "Worauf schaust du? Durch was schaust du? Du kannst es das Universum nennen, aber es ist die Unendlichkeit des Raumes und die Unendlichkeit der Zeit." (Eugene Cernan) "Während des Fluges im Kosmos ändert sich die Psyche. Wenn du die Sonne, die Sterne und unseren Planeten ansiehst, gewinnst du mehr Lebensfreude, wirst milder, bekommst eine innige Beziehung zu allem Lebendigen und entwickelst ein gütigeres und duldsameres Verhältnis zu deinen Mitmenschen." (Boris Wolynow) "Die Oberfläche des Ozeans erschien uns zuerst vollkommen einförmig, aber nach einem halben Monat begannen wir nach charakteristischen Tönungen die verschiedenen Meere und sogar Teile von Ozeanen zu unterscheiden. Mit Erstaunen entdeckten wir, daß wir während des Fluges neu lernen mußten, nicht nur hinzuschauen, sondern auch wahrzunehmen. Zunächst entgehen dem Auge die feinen Farbnuancen, aber nach und nach schärft sich gewissermaßen das Sehvermögen, das Erkennen von Farben wird reicher, und dann erschließt sich den Augen der ganze Planet in seiner unbeschreiblichen Schönheit." (Wladimir Ljachow) "Nachdem eine orangefarbene Wolke, die sich in Folge eines Sandsturms über der Sahara gebildet hatte, von Luftströmungen bis zu den Philippinen getrieben worden war, wo sie als Regen nieder ging, habe ich begr iffen, daß wir alle im gleichen Boot sitzen" (Wladimir Kowalenok) "Wir blicken zum Himmel auf und er scheint unendlich zu sein. Wir atmen, ohne uns dessen bewußt zu sein - wie sich alles vollzieht, was von Natur aus geschieht. Ohne nachzudenken reden wir immer von der Luftschicht. Aber dann setzt du dich in ein Raumschiff und binnen zehn Minuten stößt du durch die Luftschicht, hinter der das Nichts ist. Leere, Kälte, Dunkelheit. Der endlose blaue Ozean des Himmels, der uns das Atmen ermöglicht und vor abgründiger Weite
- 87 -
und Tod schützt, hat sich als ganz zartes Häutchen erwiesen. Wie verhängnisvoll ist es, diese zarte Schutzhülle des Lebens auch nur im geringsten zu schädigen." (Wladimir Schatalow) Zitate aus: Der Heimatplanet. Frankfurt am Main, 1988.
- 88 -
• MURRAY BOOKCHIN • POLITISCHE ÖKOLOGIE Die Vorstellung, daß der Mensch die Natur beherrschen müsse, steht in einem engen Verhältnis zur Beherrschung des Menschen durch den Menschen selbst. Die patriarchale Familie hat die Saat der Herrschaft in die zentralen Aspekte der menschlichen Beziehungen gesät. Der klassische Bruch in der antiken Welt zwischen Körper und Geist hat die Herrschsucht gefördert und auch die repressiven Positionen des Christentums haben diese Saat wachsen lasen. Aber erst als sich die organische Beziehung zwischen den bäuerlichen Gemeinden in Marktbeziehungen auflösten, wurde der Planet zu einer Rohstoffquelle reduziert, die man ausbeutete. Diese Jahrhunderte lang währende Tendenz findet ihre schlimmste Entwicklung im modernen Kapitalismus. Entsprechend der ihrer Wettbewerbsstruktur stellt die bürgerliche Gesellschaft nicht nur die Menschen einander feindlich gegenüber, sie stellt auch die Masse der Menschheit feindlich der Natur gegenüber. So wie Menschen in Waren verwandelt werden, so wird auch jeder Teil der Natur zur Ware und damit zu einer Rohstoffquelle, die man nach Belieben bearbeiten und verkaufen kann. Begriffe wie "Wachstum" und "Industriegesellschaft" dienen dazu diesen Zusammenhang zu verschleiern. Wenn man die Erde als Zusammenballung von Mineralien versteht, dann kann der Planet die ständige Zunahme von Abfällen sicherlich verkraften - dies ändert sich jedoch, wenn man sie als komplizierte Lebensstruktur auffaßt. Die entscheidende Frage ist die, ob die Erde diesen Raubbau lange genug überstehen kann, bis der Mensch das zerstörende gegenwärtige Gesellschaftssystem durch eine humanere, an ökologische Gesichtspunkten orientierte Gesellschaft ersetzt hat. ÖkologInnen werden oft ziemlich spöttisch gebeten mit wissenschaftlicher Genauigkeit den Zeitpunkt des ökologischen Kollapses der Natur zu bestimmen, also den Zeitpunkt an dem die Natur über dem Menschen zusammenbrechen wird. Das ist so ähnlich, als wenn man einen Psychiater nach dem genauen Zeitpunkt fragt, an dem aus einem Neurotiker ein unberechenbarer Psychopath wird. Man wird eine derartige Auskunft niemals geben können. Aber
- 89 -
die ÖkologInnen können strategische Einsichten darüber vermitteln, in welcher Richtung sich die Menschheit auf Grund ihres Bruchs mit der natürlichen Umwelt weiterentwickeln wird. Der Prozeß der Ausbeutung der menschlichen Umwelt, der diese immer wüster und rauher macht, hat sowohl eine kulturelle als auch eine physische Dimension. Die Gesellschaft ist trotz ihrer demokratischen Fassade in wesentlichen Teilen totalitär, zentralistisch und gleichgeschaltet. Alles was spontan, kreativ und individualistisch ist, wird von standardisierten Elementen eingeengt. Der Mensch wird wie ein Rädchen im Getriebe behandelt, anstatt seine individuelle und qualitative Eigenschaften zu erkennen, den größten Wert auf die ureigenste Persönlichkeit zu legen, auf freien Ausdruck und kultivierte Vielfalt. Die Bedürfnisse werden von den Massenmedien gelenkt, um ein allgemeines Bedürfnis für vollkommen nutzlose Waren zu erwecken, von denen jede absichtlich so hergestellt ist, daß sie nach einer vorherbestimmten Zeit kaputtgeht. Der Plünderung des menschlichen Verstandes durch den Markt entspricht die Ausbeutung der Erde durch das Kapital. In einem besonderen Maße findet die rücksichtslose Ausbeutung der Natur in der modernen Landwirtschaft statt. Um Produktivität und Effektivität zu erhöhen, um die Kapitaleinlagen zu maximieren muß die Natur an den Maximen der Verwertung ausgerichtet und die Bodenbepflanzung klar reguliert werden. Im übertragenden Sinne wird sie zu einem Fabrikboden eingeebnet, welcher die natürliche Vielfalt verschwinden läßt. In weiten Landgebieten wird inzwischen nur noch eine einzige Frucht angebaut, was den Boden langfristig unfruchtbar und die Pflanzen wesentlich anfälliger macht. Deshalb werden in großem Umfang chemische Wirkstoffe verwendet, was wiederum weitreichende Folgen nicht nur für die Pflanzenwelt, sondern auch für Tiere und innerhalb der Nahrungskette auch für den Menschen hat. Riesige Gebiete der Erde werden ausschließlich an speziellen industriellen Aufgaben ausgerichtet oder zu Rohstofflagern degeneriert. Viele Städte und Landstriche spezialisieren sich auf bestimmte Produkte, wodurch das komplizierte Ökosystem, welches auf verschiedenen Zonen basiert, nachhaltig beeinträchtigt wird. Diesem Ansatz entsprechend werden ganze Gebiete und Länder nur noch als ökonomische Einheiten betrachtet; jede auf ihre Weise ein Glied in einer riesigen, zerstörenden Industriekette, die weltweit die
- 90 -
Erde umspannt.Der Mensch bewirkt daurch eine Rückentwicklung der Biosphäre, die nur noch einfachere Lebensformen beherbergen kann. Wenn diese elementare Umkehrung des evolutionären Prozesses anhält, ist es keineswegs übertrieben, wenn angenommen wird, daß die Voraussetzungen für höher entwickeltes Leben in irreparabler Weise zerstört werden und die Erde letztlich auch nicht mehr fähig sein wird, menschliches Leben zuzulassen. Die politische Ökologie leitet ihren Anspruch nicht nur aus der Tatsache ab, daß sie als weitgehend einziger Wissenschaftszweig diese grauenvolle Botschaft verkündet, sondern auch daraus, daß sie diese Botschaft in einem gesellschaftlichen Zusammenhang verkündet. Von einem ökologischen Standpunkt aus ist die derzeitige, äußerst bedrohliche Situation das Resultat der Widersprüche zwischen Staat und Gemeinde, Industrie und Landwirtschaft, Zentralismus und Regionalismus, kapitalistischen und menschlichen Maßstab. Murray Bookchin
- 91 -
• Auszug aus: "Ecology and Revolutionary Thought" • • TIBO LEONE • DAS SCHEITERN DER BIOSPHERE 2 Die enorme Vermehrung von Kakerlaken bei einem gleichzeitigen Aussterben zahlreicher Tier- und Pflanzenarten war der offensichtliche Ausdruck des Scheiterns menschlicher Selbstüberschätzung. In der Wüste Arizonas (USA) wurde in einem luftdicht verschlossenen riesigen Glasbau ein der Erde nachempfundenes Ökosystem, die sogenannte Biosphere 2, aufgebaut. Im Inneren befinden sich bis heute mehrere Ökosysteme wie sie sich auch auf der Erde, der Biosphäre 1, finden: ein tropischer Regenwald, eine Savanne, ein Meer, eine Marsch, eine Wüste, sowie landwirtschaftliche Anlagen und menschliche Behausungen. Luft, Wasser und Abfallstoffe werden innerhalb des geschlossenen Baues recykelt. Die Architektur wurde von den verschiedenartigsten kulturellen Bezugspunkten inspiriert, angefangen bei den Stufenpyramiden der alten Maya bis zu den Windtürmen Arabiens. Das Konzept der Biosphere 2 wurde in den achtziger Jahren entworfen als im Rahmen des Ost-West-Gegensatzes die USA Pläne für eine permanente Raumstation auf dem Mars forcierten. Im Hintergrund standen allerdings auch Überlegungen inwieweit Menschen im Falle eines ökologischen Kollapses der Erde in einem selbst geschaffenen, abgeschlossenen Ökosystem überleben können. Finanziert wurde das Projekt durch den Ölmilliardär Ed Bass mit rund 200 Millionen Dollar. Nach Zerwürfnissen mit dem alten Management der Biosphere 2 übergab Bass 1996 die Betreuung an die Columbia -Universität. Das Projekt, welches inzwischen WissenschaftlerInnen aus aller Welt offen steht, widmet sich nun vor allem der Untersuchung der Auswirkungen des Klimawandels auf der Erde. Die Biosphere 2 sollte auf 13.000 Quadratmetern experimentell beweisen, daß in einem eigenständigen, geschlossenen ökologischen System Leben langfristig möglich ist. Das erste EinschlußExperiment im Zeitraum von 1991-93 beinhaltete ursprünglich 3800 Pflanzen- und Tierarten, sowie eine achtköpfige Crew, welche in die
- 92 -
Biosphere 2 über einen Zeitraum von zwei Jahren eingeschlossen wurde. Schon bald mußte jedoch entgegen der Zielsetzungen von Außen in die Abläufe eingegriffen und Sauerstoff zugepumpt werden. Der Anteil von Stickstoffoxid im Glashaus wuchs auf ein Niveau, das Schädigungen des Gehirns hervorrufen kann. Die Kohlendioxid(CO2)-Werte stiegen steil an, weil große Teile der 20.000 Kubikmeter Ackererde mit Mikroben versetzt waren, die Sauerstoff zur Lebenserhaltung verbrauchen. Rankengewächse, die als C02-Speicher dienten, breiteten sich dagegen unerwartet aggressiv aus. Schritt für Schritt kollabierte das Ökosystem in der Biosphere 2. So gingen beispielsweise wichtige Nutzpflanzen ein, da die Insekten als Pollenträger nicht überlebten. Insgesamt starben fünfzehn der fünfundzwanzig Wirbeltierarten in der Biosphere 2 aus. Zurück blieben Kakerlaken und eine für ihrer Geschwindigkeit bekannte Ameisenart (Crazy Ants), die sich explosionsartig vermehrte. Die nachgebildete Wüste verwandelte sich in Steppe, der Ozean wurde zum toten Gewässer. Die acht BionautInnen litten dadurch wiederum an unzureichender Ernährung und magerten stark ab. In Folge von Spannungen innerhalb der Crew kam es zu sogar zu Auseinandersetzungen hinsichtlich der Verteilung der Lebensmittel. Die angestrebte wissenschaftliche Arbeit trat weitgehend hinter den Bestrebungen eine Nahrungsmittelproduktion zumindest ansatzweise aufrecht zu erhalten völlig zurück. Deutlich wurde im Laufe der zwei Jahre, daß es noch immer praktisch unmöglich ist, die Erde in ihrer Komplexität in einem umfassenden eigenständigen Systeme nachzubauen. Die Vielfalt der ökologischen Wechselbeziehungen ist auch mit modernsten wissenschaftlichen Mitteln nur bis zu einer ansatzweisen, letztlich in diesem Zusammenhang unzureichenden Grenze zu berechnen. "In der Biosphere 2 wurde alles künstlich kontrolliert" so Peter Warshall, der Zoologe des Projektes, "aber Natur braucht Wildheit, ein bißchen Chaos. Turbulenzen sind kostspielig, wenn man sie erzeugen muß. Aber Turbulenzen sind auch eine Form der Kommunikation, durch die sich verschiedene Spezies und Orte gegenseitig informieren... Wollten wir das wirklich richtig machen, müßten wir über ein Rohr Donner für die Frösche einleiten, weil sie durch Regentropfen und Donner zur Fortpflanzung angeregt werden. Aber wir erschaffen nicht wirklich die Erde, wir erschaffen die
- 93 -
Arche Noah. In Wirklichkeit selten wir folgende Frage: Wieviele Zusammenhänge können wir zerstören und dabei eine Spezies doch noch am Leben halten?" Tibo Leone
- 94 -
• MICHAEL FRIEDRICH • WER VERDIENT AN DER ZERSTÖRUNG VON LEBENSRÄUMEN VON MENSCH UND NATUR ? DER KAHLSCHLAG AN DEN REGENWÄLDERN Am 5. April 1998 wurden 18 Aktivistinnen und Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace zu Bewährungsstrafen verurteilt, eine Aktivistin muß sogar für drei Wochen ins Gefängnis. Ihr "Verbrechen": Gemeinsam mit den Nuxalk-Indiandern aus dem kanadischen Gebiet British Columbia haben sie gegen den dramatischen Kahlschlag in Kanadas Regenwäldern protestiert. Über die Hälfte der gemäßigten Regenwälder der Welt sind bereits zerstört. Mehr als ein Viertel des verbleibenden Bestandes befindet sich an der Westküste Kanadas, in British Columbia. Dieser Regenwald bedeckt nur etwa 1,2 Prozent der Gesamtfläche des Landes. Nur in Rußland, Brasilien und Kanada ist noch bedeutende Bewaldung zu finden. Ebenfalls bedroht sind die gemäßigten Regenwälder Neuseelands, Tasmaniens und Chiles. In Norwegen, Schottland, Irland und der Türkei sind sie bereits abgeholzt. WARUM KAHLSCHLAG ? Kahlschlag ist ein kommerzielles Verfahren der Holzgewinnung, bei dem der gesamte Bestand eines Waldgebietes flächendeckend gerodet wird. Danach gehen die Arbeiter dazu über, wenige Sorten oft nur eine - Setzlinge zu pflanzen. Untersuchungen belegen, daß 97 Prozent der gesamten Holzgewinnung weltweit durch Kahlschlag in den Regenwäldern erfolgt. Von den 335 ursprünglich vorhandenen Waldtälern an der Westküste Kanadas sind nur noch 69 intakt. Aber auch sie sollen in den nächsten zehn Jahren ausgebeutet und zum größten Teil abgeholzt werden. Die kanadische Firma Western Forest Products hat bereits damit begonnen, eine Zufahrtsstraße nach Ingram Lake zu bauen, um einen weiteren bisher unberührten Regenwald mit der Größe von zwei Millionen Hektar zu vernichten. Vor den dort lebenden Menschen, unter anderem die Indianer des NuxalkStammes, machen sie nicht halt. Die Menschen werden einfach zwangsumgesiedelt.
- 95 -
DER "GREAT BEAR"-REGENWALD In British Columbia an der Westküste Kanadas liegt ein schmales Gebiet, das aus gemäßigtem Regenwald besteht, der "Great Bear"Regenwald. Dieser Jahrtausende alte Wald bie tet einer Vielzahl verschiedener Pflanzen-, Vögel- und Tierarten eine üppige Heimat. Dort sind 1 000 Jahre alte Zedern und bis zu 100 Meter hohe SitkaFichten zu finden. Die Flüsse, die sich durch das Gebiet schlängeln, sind reich an Lachsvorkommen und bie ten somit Tieren wie OrcaWalen, Adlern sowie Grizzlys und Schwarzbären Nahrung. Etwa 50 Prozent der Bären Kanadas sind in dieser Region heimisch. Und nur hier leben die schneeweißen Kermodebären, auch Spiritbären genannt. British Columbia macht von seiner Fläche etwa zehn Prozent der Gesamtfläche Kanadas aus, doch leben dort 74 Prozent der heimischen Tier- und Pflanzenarten, viele sind dem Menschen noch gar nicht bekannt. Das Ausmaß des Kahlschlags in British Columbia wird schon jetzt immer deutlicher: 764 Lachsschwärme sind bereits ausgestorben. 83 Prozent der Flüsse, die sich durch die Provinz ziehen, haben keine Uferböschung mehr. Das Abholzen bis an die Ufer der Flüsse und Bäche ist zwar offiziell verboten, wird aber kaum kontrolliert. Der ungeschützte Boden rutscht ab, trübt das Wasser und zerstört so den Lebensraum der Lachse. Weniger als sechs Prozent der Urwälder stehen unter dem Schutz der Regierung. Ein Artenschutzgesetz gibt es nicht in Kanada. DIE PROFITEURE DES KAHLSCHLAGS Die kanadischen Konzerne Interfor und Doman Industries, eine Tochtergesellschaft der Western Forest Products, zählen zu den schlimmsten Umweltzerstörern im British Columbia. Vor kurzem vereinbarten Manager von Interfor und des finnischen Papierkonzerns Enso eine engere Zusammenarbeit sowie das gemeinsame Angebot ihrer Produktpalette. Damit haben sich der größte Raubbaukonzern Kanadas und der größte Papierhersteller Europas zusammengetan. Weiterhin am Kahlschlag beteiligt sind die Firmen Mac Millan
- 96 -
Bloedel, West Fraser, Timber West und Avenor/PFP. Alle diese Firmen sind hauptsächlich Papierhersteller und Lieferanten für die Möbelindustrie und Zellstoffverbraucher. DIE ABNEHMER Die Hauptabnehmer für Kahlschlagholz aus Kanada sind die USA, die 48 Prozent des kanadischen Exportes für sich beanspruchen sowie Japan (13 Prozent). Deutschland ist weltweit der drittgrößte und Europas größter Abnehmer von Holz und Zellstoff aus British Columbia. 1996 entfielen 70 Prozent des deutschen Handels mit dieser Region auf Zellstoff. Mit 492 Millionen kanadischen Dollar steht Deutschland damit an der Spitze, gefolgt von Italien (254 Millionen Dollar), Belgien (127 Millionen Dollar) und Frankreich mit 88 Millionen Dollar. Holz und Zellstoff werden vor allem an die Firmen HomeDepot (USA), Celanese (USA) und Clariant (Deutschland) geliefert. Celanese und Clariant sind Ableger des deutschen Chemiemultis Hoechst. Clariant bezieht ein Drittel der 30 000 Tonnen Zellstoff , die der Konzern jährlich verarbeitet, von Western Forest Products. Die Firma stellt daraus hauptsächlich Tapetenkleister, Zahnpasta und Kosmetikartikel her. Weitere deutsche Großabnehmer des Zellstoffs sind die großen Papierhersteller Stora, Haindl und MD-Papier. PAPIERHUNGER An jedem Tag, so rechnet der Kopiergerätehersteller Xerox aus, werden in europäischen Büros 3,5 Milliarden Papierseiten beschrieben, 800 Millionen Computerausdrucke aus den Druckern genommen, wird 300 Millionen mal "eben was kopiert", werden 100 Millionen Briefe verfaßt. Würde diese Menge in Aktenordnern abgelegt werden, so ergebe sich eine Höhe von 350 Kilometern. Der Konzern sprach 1990 davon, bis zum Jahre 1995 werde bei Computerausdrucken ein Zuwachs von 250 Prozent erreicht werden. Der Fotokopien-Berg solle im gleichen Zeitraum von 140 Milliarden auf 160 Milliarden anwachsen (Quelle: "Greenpeace-Argumente: Papier").
- 97 -
PAPIER IN DEUTSCHLAND "Die deutsche Zellstoff- und Papierindustrie verwertet die bei der Waldpflege (Durchforstung) anfallenden Hölzer, für die es kaum andere Abnehmer gibt. Sie leistet damit einen wertvollen, ja: entscheidenden Beitrag zur Erhaltung des gesunden Waldes". Diese Aussage stammt vom "Verband Deutscher Papierfabriken, VDP) in seiner Broschüre "Der Wald". Wahrheit und Lüge liegen dicht beieinander: Zwar verwendet die Zellstoffindustrie sogenanntes Durchforstungsholz. Doch 80 Prozent der Holzfasern, die im deutschen Papier stecken, kommen aus dem Ausland: aus Skandinavien, Rußland, Südamerika, USA und Kanada. "Der Wald" weiter: "Unzerstörte Natur? Wer darin Ruhe und Erholung sucht, wäre enttäuscht. Ein undurchdringliches Gewirr von umgestürzten Bäumen, Sträuchern und gefährlichen, morschen Stämmen würde den Wanderer abschrecken. Was wir heute brauchen, ist ein gepflegter Wald". Im Klartext heißt das: einen Normwald, in Reih und Glied stehende Einheitsfichten und kein "gefährlicher, morscher Stamm" weit und breit. Doch genau in diesem "undurchdringlichem Gewirr" leben die meisten Tier- und Pflanzenarten, die auf die Nährstoffe der faulenden Hölzer angewiesen sind. BOYKOTT UND STORNIERUNGEN In der letzten Zeit machte die Umweltschutzorganisation Greenpeace wieder mit vielen Aktionen auf die Vernichtung der Regenwälder aufmerksam. Vor dem Hoechst-Werkstor in Frankfurt ketteten sich Aktivisten an, sie entrollten eine Banner mit der Aufschrift "Hoechst-Clariant geschlossen wegen Urwaldzerstörung". Im schottischen Glasgow wurde ein Holzfrachter besetzt. Im Hafen von Brake bei Bremerhaven verhinderten die Umweltschützer das Einlaufen des kanadischen Frachters "Saga Wind", der 1 200 Tonnen Zellstoff gelagert hat. Aufgrund der weltweiten Proteste von Umweltschützern haben sich wenige Konzerne und Firmen bereit erklärt, auf Holz aus den Kahlschlaggebieten zu verzichten. Aufträge an die Western Forest Products wurden storniert. Nach Angaben von Greenpeace verzeichnet dieser Konzern Verluste in zweistelliger Millionenhöhe.
- 98 -
Doch Kunden gibt es noch genug. Eine ganze Reihe von Unternehmen hat erklärt, auf dieses Holz nicht zu verzichten. NICHT NUR KANADA Doch nicht nur in Kanada nimmt die Vernichtung der Regenwälder unvorstellbare Ausmaße an. Die monatelangen Brandrodungen in Indonesien, die den Smog massiv begünstigen, halten weiter an. Großgrundbesitzer, Konzerne aber auch Kleinbauern dringen immer weiter in die unberührte Wildnis vor. Die indonesische Regierung fördert diese fatale Entwicklung auch noch mit einem "Umsiedlungsprogramm". Bis zur Jahrtausendwende sollen etwa 65 Millionen Menschen aus dicht bevölkerten Gebieten in die Regenwaldgebiete Sumatras, Borneos, Sulawesi und WestNeu-Guinea umgesiedelt werden. Seit Ende der 70er Jahre sind mehr als 40 000 Quadratkilometer Regenwald vernichtet worden. In Brasilien gilt der Wald gar als Feind der Menschen. In den Seifenopern, die im Fernsehen laufen, kommen "die Primitiven" immer aus dem Wald. Für ein Stück intakten Regenwald muß ein Besitzer mehr Steuern bezahlen als für karges Land. Für die Abholzung erhält der Besitzer gar Subventionen. Der Ausverkauf der Region hat längst einen traurigen Höhepunkt überschritten. So kaufte beispielsweise die malaysische Holzkompanie WTK 300 000 Hektar Regenwald, zu einem Preis von acht Dollar pro Hektar. Großgrundbesitzer und Sägewerke schlagen kilometerlange Schneisen in die Wälder und zerstören so die Lebensgrundlage von Millionen Kleinstlebewesen. Die gefällten Bäume werden getrocknet und später verbrannt. Die Asche dient dann als Dünger für den gerodeten Boden. Aber nach zwei Jahren Landwirtschaft oder fünf Jahren Viehhaltung ist der Boden restlos ausgebeutet. Im Gegensatz zu den nordischen Wäldern, wo es eine dicke Humusschicht gibt, gleicht der Boden der tropischen Regenwälder eher einer Steppe. Im Januar 1997 gab die brasilianische Regierung stolz bekannt, daß bis dato durch Rodung 470 000 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt worden sind. VERLUST DER VIELFALT Die logische Konsequenz des Kahlschlags in den Regenwäldern ist
- 99 -
der Verlust der biologischen Vielfalt. Jedes Jahr verschwinden Tausende von Tier- und Pflanzenarten von der Erde, viele davon konnten nie erforscht werden. Sie sind unwiederbringlich verloren. Rückgängig kann der Mensch seine fatalen Fehler nicht mehr machen. Die Wälder tragen entscheidend zur Stabilisierung der Lebensgrundlage auf der Erde bei. Sie speichern Wasser und Nährstoffe, vor allem aber Kohlenstoff. Holz und Rinde sind zu 50 Prozent aus diesem chemischen Element aufgebaut. Kohlenstoff wird durch die Abholzung und Brandrodung in Form von Kohlendioxid freigesetzt, ein Gas, das maßgeblich zur Erderwärmung beiträgt. Allein im Herbst 1997, als der indonesische Regenwald in Flammen stand, wurde ebensoviel Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen, wie in Westeuropa durch das Verbrennen von Öl, Gas und Kohle. Das Gewächshausklima der Tropen ist zudem ein "Brutkasten" der Evolution. Mehr als 500 Baumarten gedeihen auf einem Hektar Regenwald, in allen europäischen Wäldern sind es zehnmal weniger. Allein in Südamerika leben 20 Prozent aller bekannten Vogelarten und 1 500 verschiedene Spezies von Süßwasserfischen. Auch die Ureinwohner sind auf den Wald angewiesen. Die Indianerstämme in Nordamerika, die von Jagd und Fischfang leben, sind akut gefährdet, ihre gesamte Kultur droht unterzugehen. Manche dieser Völker leben nach Angaben von Archäologen seit 9 000 Jahren in den Regenwäldern. 44 von 68 Sprachen, die es zur Zeit der Kolonialisierung gegeben hat, sind praktisch verschwunden. MEHR BEWUSSTSEIN IST GEFORDERT Leider werden die Proteste gegen die Abholzung der Regenwälder meist von wenigen Umweltschutzorganisationen getragen. Der Regenwald ist weit weg, so denken viele Menschen. Die Konzerne, die sich des Verbrechens an der Natur schuldig machen, werden es schon nicht zulassen, daß es eines Tages zu einem Klimakollaps kommt, diese irre Ansicht wird von den meisten Menschen vertreten. Wenn nicht bald der Kahlschlag der Wälder gestoppt wird, werden alle Menschen an den Folgen zu leiden haben. Genutzt hat der Raubbau nur den Profitinteressen des Kapitals. Michael Friedrich
- 100 -
• TREIBSAND • DIE POLITIK MIT DEM HUNGER Der Hunger und die Armut in den meisten Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas sind die Hauptargumente die zur Begründung der Bevölkerungspolitik angeführt werden. Angesichts der Bedrohung, die die wachsende "Überbevölkerung" angeblich für den Fortbestand der Menschheit darstellt, erscheinen selbst Zwangssterilisationen "im Interesse der Betroffenen" als legitim und angemessen. Das Bild einer aus den Nähten platzenden Erde wird an die Wand gemalt: Wenn es nicht gelänge, die "Bevölkerungsexplosion" (schon allein das Wort soll Weltuntergangsassoziationen wecken) einzudämmen, so würden Hunger und Armut sich unaufhaltsam ausbreiten und nicht nur in den drei Kontinenten massenhaft Menschen vernichten, sondern angesichts der knappen Ressourcen letztlich auch den Wohlstand in den Industrieländern bedrohen. Das Heraufbeschwören der Katastrophe wird so zu einem Mittel zum Zweck. Es soll dadurch eine Politik gerechtfertigt werden , die im Grunde genommen das genaue Gegenteil von dem bewirkt was sie eigentlich vorgibt. Sie zielt nicht auf die Abschaffung des Hungers, sondern auf die Abschaffung der Hungernden. In den letzten Jahren ist schon zigmal darauf hingewiesen worden, daß Hunger keine Naturkatastrophe ist, sondern ein Verteilungsproblem und daß mit der Verfügungsgewalt über die Nahrungsmittel Geschäfte gemacht werden und eine erpresserische Politik durchgesetzt wird. Dennoch hält sich hartnäckig die Mär von der Überbevölkerung und der Notwendigkeit, die Geburtenrate in den Ländern der drei Kontinente zu senken. Und je mehr sich auch hier in den Metropolen ein Krisenbewußtsein breitmacht, desto besser ziehen angstmachende Floskeln wie: "Die fressen uns uns die Haare vom Kopf" oder in Bezug auf die Menschen, die vor dem Hunger fliehen: "Das Boot ist voll". Dabei ist es wohl eher umgekehrt: "Der reiche weiße Mensch mit seinem übertriebenen Verbrauch an Fleisch und seiner mangelnden Großzügigkeit gegenüber armen Völkern verhält sich wie ein Kannibale - und zwar wie ein indirekter. Indem wir das Fleisch verbrauchen, für das Getreide verfüttert wurde, das sie hätte retten
- 101 -
können, fraßen wir die Kinder der Sahel-Zone, von Äthiopien und Bangladesch. Und wir fressen sie bis heute mit unvermindertem Appetit weiter." (René Dumont). Viele der Länder, in denen Menschen an Hunger sterben, sind noch nicht mal auf die "Großzügigkeit des weißen reichen Menschen" angewiesen. Karitative Zuwendungen wie "Brot für die Welt" verschleiern nur die wahren Ursachen des Hungers. Eine Reihe der Länder, von denen behauptet wird sie seien von Nahrungsmittelimporten abhängig, sind landwirtschaftliche Exportländer. Besonders kraß ist das Beispiel der Sahel-Zone zur Zeit der großen Trockenheit zu Beginn der siebziger Jahre. Während sich der Hunger ausbreitete, wuchs der Export von Rindfleisch aus der Region. Gemüseexporte erreichten Rekordhöhen, westeuropäische Supermärkte wurden mit Bohnen, Melonen, Tomaten, Auberginen, Erdbeeren und Paprika beliefert. Ein anderes Beispiel ist Brasilien, daß zu den größten SojaExportländern der Erde gehört. Die etwa fünfzehn Millionen Tonnen Soja, die es jährlich produziert, würden wahrscheinlich zur Beseitigung der Unterernährung im Land ausreichen - wenn sie nicht exportiert und in Europa vorwiegend zu Viehfutter verarbeitet würden. Gleichzeitig bauen brasilianische Landarbeiter, die meist unter armseligen Bedingungen leben müssen, für Großgrundbesitzer und multinationale Konzerne auf Plantagen Zucker für den Export an und züchten Rinder, deren Fleisch sich in Brasilien allenfalls die reiche Oberschicht leisten kann. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen. Deutlich wird schnell, daß die Menschen in den drei Kontinenten nicht hungern weil sie zu viele Kinder haben, sondern weil sie für den Überfluß in den Industrieländern und die Profite der Nahrungsmittelkonzerne und der Futtermittelindustrie produzieren. Aber Hunger ist nicht nur das Geschäft des Agrobusiness, sondern wird mindestens seit den fünfziger Jahren gezielt als Waffe imperialistischer Politik eingesetzt. Dies geschieht, um Menschen aus bestimmten Gebieten zu vertreiben und den Boden in diesen Gegenden zur Gewinnung von Rohstoffen oder zur Nutzung durch Großunternehmen frei zu machen, sowie um billige Arbeitskrähe für Industrieprojekte zu rekrutieren. Außerdem wird der Hunger als politische Waffe eingesetzt, um
- 102 -
mißliebige Regierungen zu beseit igen oder so zu erpressen, daß sie sich den Diktaten imperialistischer Politik, so insbesondere denen des Internationalen Weltwährungsfonds (IWF), beugen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Getreide- bzw. insbesondere die Weizenpreise. Die USA haben als größter Weizenproduzent einen enormen Einfluß auf die Weltmarktpreise indem sie unter anderem durch Subventionen den Weizenanbau auf US-Farmen fördern oder den Weizen eine Zeitlang in den Getreidesilos verschwinden lassen bzw. ins Meer schütten und damit vom Weltmarkt abziehen. Der ehemalige US-Senator Humphry bezeichnete in einer Rede einmal die Nahrungsmittelvorräte der USA als wichtiger als die Atomwaffenvorräte - vermutlich weil es weniger Aufsehen erregt, wenn man die Leute gezielt verhungern lä ßt, als wenn man sie durch einen Atomkrieg vernichtet. Treibsand
- 103 -
• REGENBOGEN • FLEISCH IST MORD GRÜNDE FÜR EINE VEGETARISCHE ERNÄHRUNG FLEISCH IST GRAUSAMER MORD AN TIEREN! Besuche einmal einen Schlachthof und Du wirst nie wieder das Bedürfnis haben Fleisch zu essen. Schweine werden bei der Schlachtung mit einer elektronischen Zange zum Teil betäubt und dann an den Hinterbeinen aufgehängt. Teilweise ist die Betäubung nicht stark genug, so daß das Tier grausame Schmerzen empfindet. Dann wird das Schwein aufgeschlitzt, um es ausbluten zu lassen. Einzelne Körperteile zucken noch. Nach dem ausbluten werden dem Schwein die Ohren abgeschnitten und die Gedärme entnommen, die zum Teil zu Würsten weiterverarbeitet werden. Zurück bleibt eine große Blutlache. FLEISCH FÖRDERT DIE ZERSTÖRUNG DER NATUR ! Im Zusammenhang mit der Tierhaltung verseucht das aus der Gülle und dem Dünger stammende Nitrat die Gewässer und letztlich auch das Trinkwasser. Große Waldgebiete, darunter insbesondere Teile der Regenwälder wurden und werden abgeholzt, um dort Viehweiden und Monokulturen für Viehfutter anzulegen. Dadurch wird das ökologische Gleichgewicht nachhaltig gestört. Langfristig ändert sich das regionale und auch das globale Klima. FLEISCH IST KRIEG GEGEN DIE HUNGERNDEN DER 'DRITTEN WELT' ! Die Erzeugung von einem Kilo Rindfleisch kostet etwa sieben bis acht Kilo Getreide. Der größte Teil der europäischen Nahrungsmittelproduktion wird deshalb an Tiere verfüttert. Zusätzlich wird auf dem Weltmarkt Getreide aufgekauft, um das Vieh der vielfach im Überfluß lebenden Menschen der westlichen Industrienationen zu mästen. Um diese Nachfrage zu decken, werden aus Profitgründen in den Staaten der sogenannten 'Dritten Welt' Teile der Anbauflächen zur Produktion von Tierfutter und nicht zur Produktion von Nahrungsmitteln für die dort lebenden und teilweise hungernden Menschen genutzt.
- 104 -
FLEISCH IST EIN ANGRIFF AUF DIE GESUNDHEIT ! Krankes Fleisch von kranken Tieren macht krank. Bei der Massentierhaltung werden zahlreiche Medikamente eingesetzt, darunter insbesondere verschiedene Hormonpräparate, die der Mensch über das Fleisch aufnimmt. Zur Konservierung und zur stärkeren rötlichen Färbung des Fleisches wird das krebseregende Nitrat eingesetzt. Tierisches Fett enthält in einem relativ hohen Maße Cholesterin, das zu den entscheidenden Faktoren für Herz- und Kreislauferkrankungen gehört. Die Verseuchung der Meere bewirkt zwangsläufig auch eine Schadstoffbelastung von Fischen. Folgerichtig haben langjährige Untersuchungen entgegen der Industrie -Propaganda bewiesen, daß bei VegetarierInnen bestimmte Krebserkrankungen nicht vorkommen und sie generell gesünder leben als FleischkonsumentInnen. DIE ALTERNATIVE: VEGETARISCHE ERNÄHRUNG ! Entgegen weitverbreiteter Vorurteile lassen sich die Nährstoffe, die sich im Fleisch befinden, auch im Rahmen einer bewußten Vollwerternährung aufnehmen. Diese basiert im wesentlichen auf einer ausgewogenen und abwechslungsreichen pflanzlichen Kost in Verbindung mit Milch und Ei, auf der weitmöglichsten Verwendung von Produkten aus ökologischem Anbau, auf einem möglichst geringen Verarbeitungsgrad der Nahrungsmittel und auf der Vermeidung aller isolierten und raffinierten Produkte wie Zucker, Auszugsmehl und Genußmittel. Wer seit der Kindheit daran gewöhnt ist, Fleisch zu essen, dem wird es schwer fallen, sich auf eine fleischlose Ernährung umzustellen. Gerade in der Anfangszeit wird es eine Entscheidung des Verstandes sein, dem das anerzogene und keineswegs natürliche Bedürfnis nach Fleisch gegenübersteht. Zumeist hilft es in dieser Zeit, sich eine Schlachtung vorzustellen. Nach einigen Wochen verschwindet das Bedürfnis zunehmend bis es sich in einem fließenden Prozeß in einen Ekel wandelt. - Ekel vor dem Verzehr von Innereien und vom Fleisch eines toten Tieres. Regenbogen
- 105 -
• SEED • DIE INNERE BALANCE Krankheit kann als eine Unausgewogenheit unserer Körperchemie charakterisiert werden. Da der Hauptlieferant dieser Chemie unsere Ernährung ist, leuchtet es ein, daß man diese durch eine bestimmte Ernährungsweise beeinflussen und unter Kontrolle bringen kann. Menschen in unterschiedlichen Klimaten und mit unterschiedlichen Beschäftigungen bestätigen das durch ihre Eßgewohnheiten. Einige dieser Menschen werden bei uns meist "Primitive" genannt und ihre Lebensformen und Auffassungen ins Lächerliche gezogen doch über den Gesundheitszustand und die soziale Einheit dieser Eingeborenen ist man sehr erstaunt. Der Verfall tritt immer dann ein, wenn die Zivilisation und ihre Ernährungsweise Einzug hält. Die Bedrohung und das Aussterben vieler Stämme ist ein direktes Ergebnis des Einflusses der Kolonialherren und dem damit verbundenen Wechsel des Lebens- und auch des Essensrhythmus. Hauptgrund der lebenswichtigen Funktion richtiger Ernährung für die Gesundheit ist die Frage der inneren Ökologie. Das einfache Vorhandensein eines Virus erzeugt noch keine Krankheit. Es muß eine Umgebung vorhanden sein, in der er gut gedeihen kann. Die Abwehrkräfte des Körpers sind so lange funktionsfähig, wie eine Kraftreserve und eine gute Nahrungszufuhr zur Balanceerhaltung vorhanden sind. In Jahrtausenden der Entwicklung, seit den Anfängen der Zivilisation, haben sich unsere Eßgewohnheiten kaum geändert. Bis etwa zum zweiten Weltkrieg. Seitdem wurden immer mehr neue Lebensmitte l eingeführt, neue Farbstoffe, Wirkstoffe, Geschmacksstoffe - alle Arten von Stoffen, und die Grundnahrung änderte sich drastisch. Keiner dieser Stoffe hat einen besonders positiven Gehalt, und es wäre naiv zu glauben, unser Körper würde einen solchen Wandel ohne weiteres mitmachen. Der Anstieg der Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Herzversagen, Verwirrungen im Hirn und Zahnverfall geht im Gleichschritt mit all diesen Zugaben und "Verbesserungen" unserer Nährweise. Viele dieser industriellen Zusätze sind unserem Körper so fremd, daß sie einfach in der Leber oder dem Fettgewebe hängen bleiben. Die Auswirkungen dieser Rückstande sind vielfach
- 106 -
bislang den Herstellern, Ärzten und Nahrungswissenschaftlern unbekannt. Kommende Generationen müssen sich mit den Folgen dieser Experimente auseinandersetzen. Durch den Genuß richtiger Ernährung schaffen wir eine positive Umwelt in unseren Verdauungstrakten. Darauf basiert unsere Gesundheit. Wir sind von Millionen kleiner Organismen abhängig, die in uns leben. Die Aufgabe dieser Organismen ist es, die Nahrung zu zersetzen und die für uns wichtigen Stoffe herauszufiltern und dem Körper zuzuführen. Dieser Vorgang klappt am besten, wenn wir auf die gute organische Zufuhr in unseren Körper achten - frei von ungewohnten Zusätzen. In Asien ist die Medizin am weitesten entwickelt worden. Ihr verdanken wir die Makrobiotik, Akupunktur und die ayurvedische Medizin Indiens. Der Ursprung dieser Methoden liegt in dem Gedanken, daß jeder Mensch sein eigener Arzt sein sollte. Unser Körper zeigt uns an, inwieweit wir in Harmonie mit der Umwelt leben. Um ein gesundes Leben zu führen ist es notwendig sich den Naturgesetzen im Jahreslauf zu orientieren. Alles zu seiner Zeit. Durch die Erfahrung des bewußten Essens und dessen Zubereitung sind wir im Lauf der Zeit in der Lage, eine auf unseren Körper abgestimmte Nahrung zu entwickeln. Dazu sollten wir uns mit den alten Überlieferungen der Volksmedizin befassen sowie dem Gedanken, der dahintersteht. In China wurden während der proletarischen Kulturrevolution in den späten sechziger Jahren die traditionellen Techniken der Akupunktion und der Kräuterheilkunde wieder hervorgeholt und mit moderner Medizin verknüpft. Diese Maßnahmen und der bewußte Einfluß auf die Volksernährung machten China zu dieser Zeit von einem der kränkesten Länder der Erde zu einem der gesündesten. Vernünftiges Essen schafft dem Menschen wieder eine Verbindung zur Natur. Die Anwendung der natürlichen Gesetze im persönlichen Leben ist keine Intelligenzsache. Der geheimnisvolle Mythos des Spezialisten, der als einziger Vorgänge im menschlichen Körper beurteilen kann (aber nur gegen Krankenschein) wird dann platzen wie eine Seifenblase. Seed
- 107 -
• ANSTOSS • KOMSUM - ANSTÖSSE • STICHWORT: BEWUSSTSEIN • WERBUNG Ein Supermarkt ist darauf angelegt, daß wir mehr kaufen, als wir eigentlich wollen, daß wir Dinge kaufen, die wir überhaupt nicht brauchen. Früher diente ein Lebensmittelladen einzig der Befriedigung unserer Bedürfnisse. Heute wird die Leere unseres Lebensstils mit dem Bedürfnis immer noch mehr haben zu wollen überspielt - Haben statt Sein. Die Werbung zeigt uns, wie wir zu leben haben, wie wir erfolgreich sind. Sie verspricht uns Glück, mehr Freude, zielt aber einzig auf die Manipulation der KonsumentInnen und auf die Erwirtschaftung von Profit. Deshalb: Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen und den Vorgaben der Industrie! KOSMETIKA Die Summen, die jährlich für Kosmetika ausgegeben werden, sind beträchtlich. Riesengeschäfte werden mit dem verlogenen Traum ewiger Schönheit und Jugend gemacht. Oft macht nur der teure Markenname den hohen Preis aus. Vielfach werden gesundheitsschädliche Stoffe verwandt. Daneben werden jährlich Tausende von Tieren bei Versuchen für Kosmetikprodukte mißbraucht und qualvoll getötet. Kosmetik muß vielfach dazu herhalten, unsere zum Teil erzwungene Unvernunft im Umgang mit unserem Körper zu verdecken. Unter anderem die belastete frische Luft, Nikotin und eine unangemessene Ernährung prägen die Haut. Deshalb: Die natürliche Schönheit jeder und jedes Einzelnen erkennen! • STICHWORT: GESUNDHEIT • VERARBEITUNGSGRAD Unsere Nahrung wird immer weiter verarbeitet; wir werden den ursprünglichen Lebensmitteln zunehmend entfremdet. Instantprodukte wie Suppen und Säfte werden meist aus Abfall anderer Produktionszweige hergestellt. Auch Dosengerichte und
- 108 -
Tiefkühlkost sind übermäßig denaturiert; wer schmeckt aus Toastbrot noch den Weizen heraus, für wen ist es mehr als eine Wurstunterlage? Jede Weiterverarbeitung macht ein Lebensmittel nur für den Verarbeiter wertvoller, nicht aber für den, der das Endprodukt dann ißt; jede Weiterverarbeitung nimmt einem Lebensmittel einen Teil seines Wertes: In Dosen- oder Instantprodukten wird man die ursprünglichen Vitamine vergeblich suchen, Zusatzstoffe beeinträchtigen Geschmack und Bekömmlichkeit, Auszugsmehle beinhalten so gut wie keine Mineralien und Ballaststoffe mehr. Deshalb: Möglichst unverarbeitete Lebensmittel kaufen! RÜCKSTÄNDE Chemische Rückstände und radioaktive Belastung von Nahrungsmitteln gefährden unsere Gesundheit. Eine Deklaration solcher gefährlichen Auswirkungen menschenfeindlicher Umweltpolitik ist dringend notwendig. In einigen Naturkostläden wird dies schon praktiziert. Die konventionelle Landwirtschaft stellt durch ihren hohen Verbrauch an Düngemitteln und Pestiziden ein hohes Umwelt- und Gesundheitsgefährdungspotential dar. Daß es auch anders geht, beweisen die Bäuerinnen und Bauern, die ihre Höfe nach biologischen Gesichtspunkten bewirtschaften. Deshalb: Bewußt einkaufen! ZUCKER Weißer Zucker ist eines der am weitesten verbreiteten Agrarprodukte. Zucker ist kein Lebensmittel, Zucker ist nur Genußmittel. Schon vier bis sechsjährige nehmen im Schnitt rund 30 kg Zucker im Jahr zu sich, obwohl sich wohl niemand daran erinnern kann, soviel Zucker gekauft zu haben. Zucker ist zum Beispiel versteckt in süßen Getränken, in Schokolade, Gebäck, im Fruchtjoghurt und in Kindernahrung. ErnährungswissenschaftlerInnen warnen vor dem "süßen Gift", das mit weit verbreiteten Krankheiten in Zusammenhang gebracht wird: Herzgefäßerkrankungen (Infarktgefahr!), Schilddrüsenstörungen, Gallenblasenleiden, Gicht und ganz besonders Karies. Deshalb: Auf Zucker weitgehend verzichten!
- 109 -
• STICHWORT: FLEISCH • TIERMORD Besuche einmal einen Schlachthof und Du wirst nie wieder das Bedürfnis haben Fleisch zu essen. Schweine werden bei der Schlachtung mit einer elektronischen Zange zum Teil betäubt und dann an den Hinterbeinen aufgehängt. Teilweise ist die Betäubung nicht stark genug, so daß das Tier grausame Schmerzen empfindet. Dann wird das Schwein aufgeschlitzt, um es ausbluten zu lassen. Einzelne Körperteile zucken noch. Nach dem ausbluten werden dem Schwein die Ohren abgeschnitten und die Gedärme entnommen, die zum Teil zu Würsten weiterverarbeitet werden. Zurück bleibt eine große Blutlache. Deshalb: Keine Fleisch-Produkte kaufen! NATURZERSTÖRUNG Im Zusammenhang mit der Tierhaltung verseucht das aus der Gülle und dem Dünger stammende Nitrat die Gewässer und letztlich auch das Trinkwasser. Große Waldgebiete, darunter insbesondere Teile der Regenwälder wurden und werden abgeholzt, um dort Viehweiden und Monokulturen für Viehfutter anzulegen. Dadurch wird das ökologische Gleichgewicht nachhaltig gestört. Langfristig ändert sich das regionale und auch das globale Klima. Deshalb: Nahrungsmittel aus ökologischem Anbau! HUNGER Die Erzeugung von einem Kilo Rindfleisch kostet etwa sieben bis acht Kilo Getreide. Der größte Teil der europäischen Nahrungsmittelproduktion wird deshalb an Tiere verfüttert. Zusätzlich wird auf dem Weltmarkt Getreide aufgekauft, um das Vieh der vielfach im Überfluß lebenden Menschen der westlichen Industrienationen zu mästen. Um diese Nachfrage zu decken, werden aus Profitgründen in den Staaten der sogenannten 'Dritten Welt' Teile der Anbauflächen ausschließlich zur Produktion von Tierfutter und nicht zur Produktion von Nahrungsmitteln für die dort lebenden und teilweise hungernden Menschen genutzt. Deshalb: Kein Fleisch essen!
- 110 -
KRANKHEIT Krankes Fleisch von kranken Tieren macht krank. Be i der Massentierhaltung werden zahlreiche Medikamente eingesetzt, darunter insbesondere verschiedene Hormonpräparate, die der Mensch über das Fleisch aufnimmt. Zur Konservierung und zur stärkeren rötlichen Färbung des Fleisches wird das krebseregende Nitrat eingesetzt. Tierisches Fett enthält in einem relativ hohen Maße Cholesterin, das zu den entscheidenden Faktoren für Herz- und Kreislauferkrankungen gehört. Die Verseuchung der Meere bewirkt zwangsläufig auch eine Schadstoffbelastung von Fischen. Folgerichtig haben langjährige Untersuchungen entgegen der Industrie -Propaganda bewiesen, daß bei VegetarierInnen bestimmte Krebserkrankungen nicht vorkommen und sie generell gesünder leben als FleischkonsumentInnen. Entgegen weitverbreiteter Vorurteile lassen sich auch die Nährstoffe, die sich im Fleisch befinden, auch im Rahmen einer bewußten Vollwerternährung aufnehmen. Deshalb: Bewußt vegetarisch ernähren! • STICHWORT: GERECHTIGKEIT • SAISONGEMÄSS In den Supermärkten sind die Jahreszeiten durcheinandergeraten: Weintrauben im Frühjahr, frischer Spargel im Oktober, Erdbeeren zu Weihnachten. Es gibt fast das ganze Jahr alles, dafür haben die Jahreszeiten ihren typischen Geschmack verloren. Wie hoch ist der Energieaufwand, der betrieben wird, um diese exotischen Früchte aus weit entfernten Ländern zu uns auf den Tisch fliegen zu lassen? Äpfel aus Chile, Trauben aus Südafrika, Bohnen aus dem Senegal, exotische Früchte aus Brasilien... Deshalb: Den Jahreszeiten gemäß einkaufen! PRODUKTIONSNÄHE Uns fehlt nicht nur die Beziehung zu den Waren, die wir kaufen, sondern auch die Beziehung zu den Menschen, die sie für uns produzieren. Wo erfahren wir, wer ein bestimmtes Produkt mit wieviel Arbeit für uns herstellt? In Gemeinschaften von ErzeugerInnen und VerbraucherInnen können solche Beziehungen am ehesten aufgebaut und durchschaut werden. Aber auch in vielen
- 111 -
Infoläden, Dritte-Welt-Läden oder Naturkostläden können wir etwas über die ProduzentInnen unserer Verbrauchsgüter erfahren. Auf diese Weise wird unsere Nahrung wieder mehr zu dem, was sie eigentlich sein sollte: Nicht nur eine Ware, sondern ein Lebensmittel von Menschen für Menschen. Deshalb: Kürzere und direktere Wege vom Produzenten zum Verbraucher bevorzugen! AUSBEUTUNG DER "DRITTEN WELT" Mit dem Kauf viele r Produkte unterstützen wir Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten, oder multinationale Konzerne, die für ihren Profit über Leichen gehen. So verdienen beispielsweise die ArbeiterInnen auf Bananenplantagen in Mittelamerika meist so wenig, daß sie sich davon kaum ernähren können. Streiks auf den Plantagen können zu Massenentlassungen führen, gewerkschaftliche Betätigung kann lebensgefährlich werden. Pestizide werden so eingesetzt, daß es oft zu Vergiftungen bei den PlantagenarbeiterInnen kommt. Bäuerinnen und Bauern, die vorher für den Eigenbedarf anbauten, wurde ihr Land genommen, damit Platz für die Plantagen entsteht. Vielfach führt dies zu Verarmung und Lebensmittelknappheit. Den Profit erzielen einige wenige reiche Familien und multinationale Konzerne. Ähnliches gilt für fast alle Agrarprodukte aus der sogenannten Dritten Welt, die für die reichen Kunden des Weltsupermarktes hergestellt werden. Deshalb: Sich über die Produktionsbedingungen informieren und Organisationen unterstützen, die für befreiende gesellschaftliche Veränderungen eintreten! • STICHWORT: UMWELT • UMWELTZERSTÖRUNG DURCH PRODUKTION Immer mehr Energieaufwand steckt in unserer Nahrung: Kunstdünger, Pestizide, maschineller Anbau, Transport und Verarbeitung. "Jet-fresh"-Produkte werden aus allen Erdteilen eingeflogen. Für 1kg Treibhausgurken braucht man 5 Liter Heizöl; in eine Scheibe Toastbrot wurde wesentlich mehr Energie hineingesteckt als unser Körper aus ihr herausholen kann. Aber auch andere Produkte für unseren täglichen Gebrauch benötigen ungeheuren Rohstoffaufwand, wie zum Beispiel Batterien, Einweggeschirr, Wegwerfwindeln, aber auch Papier, das nicht aus
- 112 -
Altpapier hergestellt wurde. Deshalb: Produkte kaufen, die möglichst wenig Energie und Rohstoffe verbrauchen! UMWELTPROBLEME DURCH VERBRAUCH Nicht nur die Industrie ist ein großer Umweltverschmutzer. Auch wir belasten die Umwelt zum Teil erheblich mit unserem Gebrauch von Waren. Viele Produkte bewirken bei Benutzung Umweltprobleme: Spraydosen mit bestimmten Treibgasen schädigen die Ozonschicht, Waschmittel mit Phosphaten überdüngen unsere Gewässer, Lacke mit Lösungsmittel belasten direkt die Luft unserer Umgebung, usw. Deshalb: Umweltverträgliche Produkte kaufen! UMWELTBELASTUNG DURCH MÜLL Oft sind Waren unnötiger Weise eingepackt und die Verpackung kostet letztlich mehr als ihr Inhalt. Vielfach wird die Umwelt gerade durch überflüssige Verpackung mehr belastet als durch den Gebrauch der eigentlichen Ware. Das reicht vom unnötigen Verbrauch von Rohstoffen, hohem Energieeinsatz bei der Produktion bis hin zu Problemen bei der Abfallbeseitigung. Getränkedosen kosten mehr als ihr Inhalt, Pfandflaschen sind hier eine gute Alternative. Warum sich überall und immer Plastiktüten geben lassen (seien sie auch noch so "umweltfreundlic h"), wenn man eine Einkaufstasche mitnehmen kann? Deshalb: Möglichst wenig Müll einkaufen! Von der Projektgruppe Anstoß überarbeitete Fassung eines Textes der 'Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt Läden' .
- 113 -
• TECHNOLOGIE UND ENTWICKLUNG •
- 114 -
• CYSTAR • VIRTUELLE REALITÄTEN DER INTERAKTIVE EINGRIFF Im Bereich der elektronischen Medien vollziehen sich eine Reihe vielfach unterschätzter Entwicklungen, die den Alltag der meisten Menschen in den westlichen Staaten, deren Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen und deren Verständnis der Wirklichkeit grundlegend verändern werden. Ein besonderes Beispiel für die potentielle Geschwindigkeit und die Tragweite dieser Entwicklung ist das Internet. Vor wenigen Jahren war es noch wissenschaftlichen und militärischen Einrichtungen vorbehalten, inzwischen ist es zu einem Massenmedium mit enormer Zuwachsrate geworden. Deutlich zu erkennen ist jedoch auf lokaler wie auf globaler Ebene eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen denjenigen, die Zugang zu den neuen technologischen und medialen Entwicklungen haben und denen die davon ausgeschlossen sind. Zwangsläufig wird dies zu einer Untermauerung der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse führen. Gleichzeitig bestehen massive Konkurrenzkämpfe zwischen verschiedenen weltweit operierenden Unternehmen um eine Vormachtstellung. Eine herausragende Position nimmt dabei Bill Gates Multi-Konzern Microsoft ein, der mit unterschiedlichsten Mitteln seine fast schon monopolartige Position im Bereich der Computer-Software auf andere Bereiche der Kommunikations- und Informationsindustrie ausweiten will. Die derzeit gegebene Unterteilung in Fernsehapparate, Telefone, verschiedene musikabspielende Geräte, Videorecorder und Computer wird bald weitgehend der Vergangenheit angehören. Vielmehr werden in absehbarer Zeit diese Geräte durch ein einzelnes ersetzt, das alle Funktionen vereint bzw. auf einer neuen Ebene übernimmt und gleichzeitig vielfältige neue Eingriffsmöglichkeiten bietet. Eine Etappe auf diesem Weg bilden die interaktiven Medien, welche Musik- und FernsehkonsumentInnen, die bisher auf eine passive Rolle festgelegt waren, in Teilbereichen eine aktive Gestaltung der angebotenen Programme ermöglichen. Auch im Bereich des Fernsehens wird die herkömmliche auf
- 115 -
mehreren TV-Kanälen vorgegebene Programmstruktur durch ein interaktives Angebot ersetzt werden. Die KonsumentInnen sind dann in der Lage, sich aus einem riesigen Fundus von Sendungen und Filmen unterschiedlichster Art durch Tastendruck ein beliebiges Programm selbst zusammenzustellen, das jederzeit abgebrochen und neu bestimmt werden kann. So wird ein direkter Zugriff auf spezielle Spielfilme, Aufzeichnungen einzelner Sportveranstaltungen oder Nachrichten zu einem besonderen Thema bestehen. Darüber hinausgehend sind bereits Programme in Arbeit bzw. zum Teil schon realisiert, in deren Rahmen sich die ZuschauerInnen an einzelnen Stellen zwischen verschiedenen Handlungsabläufen eines Spielfilms entscheiden, an Quizsendungen direkt beteiligen oder die in Werbesendungen angebotene Produkte sofort bestellen können. In den USA gilt der von der Clinton-Regierung und den großen Medienkonzernen vorangetriebene Aufbau einer GlasfaserVernetzung des Landes, welche im Rahmen des sogenannten Information-Super-Highway die Voraussetzungen für die mit dem interaktiven Fernsehen verbundene Übermittlung riesiger Datenströme schaffen soll, als größtes Investitionsprogramm der neunziger Jahre. Gleichzeitig schließen sich weltweit führende Medienkonzerne zusammen, um die äußerst hohen Investitionskosten tragen zu können und sich langfristig eine marktbeherrschende Position zu sichern. Die vorrangige Zielsetzung des interaktiven Fernsehens liegt entsprechend in einer Steigerung der Gewinne der Medienkonzerne. Die neuen Möglichkeiten der Benutzerinnen sind dabei nur ein Mittel zum Zweck. Ausgerichtet an einem Glücksbegriff, der ausschließlich materiell orientiert ist, faßte Gerald Levin, der Vorstandsvorsitzende von Time-Warner, dem weltweit größten Medienkonzern, diese Grundhaltung prägnant zusammen: "Der Konsument wird sein eigener Programmdirektor. Und davor sollten wir keine Angst haben, wir sollten es begrüßen, denn der Konsument, der soviel Auswahl hat, wird der glücklichste Konsument sein." DIE VIRTUELLE REALITÄT In einem kaum vergleichbaren und bisher meist unterschätzten Maße wird in den kommenden Jahrzehnten die Weiterentwicklung
- 116 -
und Durchsetzung des Mediums Cyberspace bzw. der Virtual Reality das Denken und Handeln großer Teile der Bevölkerung in den westlichen Staaten beeinflussen. Langfristig wird es dabei zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen kommen, die in ihrer Dimension aus heutiger Sicht nur ansatzweise einzuschätzen sind. Cyberspace bezeichnet einen dreidimensionalen, durch einen Computer simulierten Raum. Mit Hilfe einer speziellen Ausrüstung, die derzeit aus einer Helmbrille (EyePhone) und einem datenübertragenden Handschuh (DataGlove) oder einem den ganzen Körper umfassenden Anzug (DataSuit) besteht, wird es einer Person ermöglicht, in den künstlichen Raum und damit in eine virtuelle Realität einzutreten und in ihr zu agieren. Durch die reale Bewegungen des Körpers kann es zur Veränderung der Sichtperspektive, zur Berührung simulierter Gegenstände oder zu einer Fortbewegung kommen. Der Computer nimmt jeweils die entsprechenden Informationen auf und setzt sie sofort bildlich um. Der Begriff Cyberspace ist von der Theorie der Kybernetik abgeleitet, die sich mit Steuerungsprozeßen in elektronischen und biologischen Systemen beschäftigt. Geprägt wurde er durch den Schriftsteller William Gibson, der in seinen 1984 veröffentlichten Roman "Neuromancer" eine zukünftige Gesellschaft beschreibt, in der das Leben der Menschen von virtuellen Realitäten geprägt ist. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre setzte Jaron Lanier, der zuvor Computerspiele konzipiert hatte, die Vorstellungen Gibsons in ersten Ansätzen praktisch um. Inzwischen gehört der Bereich der Virtual Reality in den USA zu den am stärksten von staatlichen und wirtschaftlichen Stellen geförderten Forschungszweigen. Einzelne Programme, die insbesondere auch im Vorfeld des Golfkriegs von der US-Army eingesetzt wurden, dienen zur Ausbildung von Soldaten. In anderen Fällen werden Vorgänge bei Operationen oder die Schwerelosigkeit im Weltraum simuliert. Vielfach eingesetzt wird die Cyberspace-Technik zudem im Bereich der Architektur und des Designs, wobei sich bereits vor dem Baubeginn geplante Räume und Gebäude virtuell begehen, einrichten oder verändern lassen. Insbesondere in den USA und in Japan kommt es daneben zunehmend zur Gründung von Vergnügungszentren, in denen entsprechende Spielprogramme angeboten werden. Im Zuge der Optimierung der Bildqualität, der Beschleunigung des
- 117 -
Datentransports und der Verbesserung der Empfindungsübertragung wird es in absehbarer Zeit möglich sein, sich beispielsweise in das Mittelalter versetzen zu lassen, um dort märchenhafte Abenteuer zu durchleben, als Mitglied einer Raumschiff-Crew imaginäre Planeten zu erkunden oder als Fisch durch einen Ozean zu schwimmen. Ebenso werden in einigen Jahren Programme erhältlich sein, in deren Rahmen sich die BenutzerInnen in der Virtuellen Realität mit simulierten Persönlichkeiten aus der Showbranche unterhalten oder gemeinsam vor einem ebenfalls simulierten Publikum auftreten können. Auch im Bereich der Sexualität werden sich vielfältige neue Möglichkeiten eröffnen, zu denen erotische Begegnungen mit einer beliebigen Person gehören, bei der sich individuelle Bedürfnisse und Fantasien ohne Einschränkungen ausleben lassen. Gemessen an der Schnelligkeit der technischen Entwicklungen wird die Virtuelle Realität in den westlichen Staaten eine stark zunehmende Verbreitung finden. Dabei werden die faszinierenden Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten von weitreichenden Veränderungen des Bewußtseins begleitet sein. Langfristig wird es in einem fließenden Prozeß zu einer Neudefinition des Begriffs der Wirklichkeit kommen. Zukünftige Generationen, die mit der Virtuellen Realität aufwachsen und diese als einen selbstverständlichen Teil des Alltags erleben, werden zwangsläufig ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit außerhalb der Virtualität entwickeln und diese auch anders bewerten. Die Entwicklung von Plastikbäumen, die in den Wohnzimmern natürliche Pflanzen ersetzen, über die Tamagotchis, die als virtuelles Spielzeug den Platz von Haustieren einnehmen, bis zur real empfundenen Erlebniswelt des Cyberspace, ist in diesem Zusammenhang ein kontinuierlicher und folgerichtiger Prozeß. In einer Veröffentlichung der VPL Research, einem von Lanier gegründeten Unternehmen zur Entwicklung von CyberspaceTechnologie, heißt es dazu: "Die Virtuelle Realität ist intersubjektiv und objektiv vorhanden wie die physische Welt, zu gestalten wie ein Kunstwerk und so grenzenlos und unschädlich wie ein Traum. Wenn die Virtuelle Realität um die Jahrhundertwende allgemein verfügbar ist, wird man sie nicht als ein Medium innerhalb der physischen Wirklichkeit verstehen, sondern als zusätzliche Wirklichkeit. Sie erschließt einen neuen Erdteil von Ideen und Möglichke iten."
- 118 -
DIE KULTUR DES CYBERTRIBES Im Zusammenhang mit der Veränderung des Verständnisses der Wirklichkeit wird die gesellschaftliche Dimension der Virtuellen Realität besonders deutlich. Wenn die Erfahrung real bestehender Situationen gegenüber dem Erle ben der virtuellen Realität an Bedeutung verliert, dann wird auch die Betroffenheit und das Verantwortungsgefühl gegenüber tatsächlichem Unrecht zumindest abgeschwächt. Die Virtuelle Realität wird so nicht nur zu einem Medium, das den BenutzerInnen neue Welten und Perspektiven erschließt, sondern gleichzeitig zu einem Medium der Ablenkung, der Zerstreuung und letztlich der Manipulation. In einer bemerkenswerten Offenheit formulierte dies Gary Bishop, einer der führenden Computerwissenschaftler in den USA: "Das Fernziel der Virtuellen Realität ist es, dem Benutzer die Illusion zu vermitteln, daß die vom Computer geschaffene Welt echt ist." Einen Gegenpol zu einer derartigen Politik der Gleichschaltung bildet das Konzept des Cybertribes, das auf einem Grenzen überschreitenden Netzwerk von kleinen gemeinschaftlich ausgerichteten Gruppen basiert. Die technologischen Entwicklungen werden dabei nicht als isolierte Erscheinungen betrachtet, sondern in ihrer Wechselwirkung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen analysiert und angegangen. Zentrales Element ist die Wiederentdeckung und teilweise Neudefinition des Wissens alter Kulturen, das in einen direkten Bezug zu den gegenwärtigen technologischen Entwicklungen gestellt wird. Dies wird im Verständnis von Techno-Parties als Trance-Rituale genauso deutlich wie im Gebrauch von psychedelischen Drogen als Mittel zur Bewußtseinserweiterung oder die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Cyberspace. Die einzelnen Gruppen des Cybertribes versuchen ihrem Verständnis zufolge die moderne Technologie überall dort zu nutzen, wo sie der Entfaltung dient, und sich ihr dort zu widersetzen, wo sie vorrangig an den Zielen des Profits und der Manipulation ausgerichtet ist. Grundlegend ist die Abkehr von den Vorgaben der bestehenden Gesellschaftsordnung, der die Entwicklung von Freiräumen entgegengesetzt wird, in denen ein Leben möglich ist, in dessen Mittelpunkt das Streben nach persönlicher Entfaltung und gesellschaftlicher Veränderung steht. Cystar
- 119 -
• BRUCE STERLING • DIE UNGESCHRIEBENE ZUKUNFT Die Zukunft ist ungeschrieben. Es gibt Szenarien wie es im besten Fall laufen könnte. Es gibt Szenarien wie es im schlimmsten Fall laufen könnte. In beiden Fällen macht es großen Spaß sich darüber Gedanken zu machen, aber keine dieser Möglichkeiten wird zur Realität werden. Das was in der Wirklichkeit geschieht ist immer ein Szenario, daß außerhalb dieser Pole liegt. Cyberspace ist der unterhaltsame Spiegel unserer eigenen Gesellschaft. Cyberspace reflektiert unsere Werte und unsere Fehler, manchmal in einer erschreckenden Überspitzung. Cyberspace ist ein Spiegel, den du selbst gestalten kannst. Es ist ein Spiegel, der sich zusammenfalten und in Lichtgeschwindigkeit über Kontinente hinweg verschicken läßt. Es ist ein Spiegel, den du mit Anderen teilen kannst, ein Spiegel der Gemeinschaft erfahrbar macht. Aber es ist auch ein Spiegel im klassischen Sinn des Scheins, ein Ort an dem du getäuscht und beraubt werden kannst, ein Ort an dem dir ein Regenbogen versprochen werden kann, du dann aber nur eine Handvoll Asche bekommst. Wenn du nicht in den Spiegel des nächsten Jahrhunderts blicken willst, dann wird dich dies alles nicht berühren, dann wird der Spiegel kaum Bedeutung für dich haben. Aber für unsere Kinder wird er eine Bedeutung haben. Eine immense Bedeutung. Unsere Kinder werden ganz selbstverständlich in den Spiegel blicken und sich darin sehen. Gegenwärtig stehen unseren Kindern in der Regel sehr einfache Medien zur Verfügung. Die meisten beschäftigen sich mit Fernsehen und Video. Hinsichtlich der Intensität der Empfindungen, die damit verbunden sind, entsprechen sie einer Fahrt in einer Achterbahn. Zweifellos lieben Kinder Achterbahnen, aber Achterbahnen fahren nur im Kreis. Tatsächlich brauchen Kinder Medien, mit denen sie nicht nur im Kreis fahren können, sondern zu verschiedenen Orte gelangen können. Sie brauchen virtuelle Entsprechungen von Fahrrädern. Und sie brauchen Möglichkeiten, das Fahren zu lernen. Einfache, leichte Angebote. Selbstangetrieben. Und frei. Kinder brauchen Orte, wo sie miteinander reden und sich unbeeinflußt austauschen können. Sie brauchen Medien mit denen sie wie mit
- 120 -
Fingerfarben malen können. Medien, in denen sie auf und ab hüpfen können, ohne jemanden der sie mit erhobenen Zeigefinger zurecht weist. Kinder brauchen ein eigenes Medium. Dies ist eine Wunschvorstellung, aber ich glaube nicht das sie in Erfüllung geht. Vielmehr erwarte ich, daß in Zukunft der ganze kommerzielle Sektor unsere Kinder noch mehr vereinnahmen wird. Ausgehend von einer umfassenden Datenerfassung über die Bewegungen im Cyberspace werden von ihnen Konsum-Profile erstellt, die genau ausgewertet werden. Wenn wir jedoch wollen, daß unsere Kinder als menschliche Wesen behandelt werden, und nicht nur als Tropfen einer potentiellen Einnahmequelle, dann müssen uns bewußt entscheiden wie die neuen Informationstechnologien eingesetzt werden. Wir haben die Möglichkeit Medien zu schaffen, die den ehrgeizigen Ambitionen von Franklin mit seinen öffentlichen Bibliotheken und seiner Post zeitgemäß entsprechen würden, und den Bestebungen von Jefferson und Madison, welche die Demokratie mit der Macht des Wissens stärken wollten. Wir könnten den Kindern, auch den Kinder in verarmten Bezirken, eine reale Möglichkeit bieten, den Bildschirm zu kontrollieren. Du mußt dir um die Hardware keine Gedanken machen. Die Hardware ist kurzlebig. Diese Kästen, die wir heute als Computer definieren, werden nicht lange überdauern. Bald sind sie Geschichte. Schon jetzt werden die Bildschirme immer flacher. Und bald werden die verkabelten Computer bis zur Unkenntlichkeit mutieren. Computer werden nicht mehr die unförmigen Bit-Fabriken sein, die deinen ganzen Schreibtisch benötigen und dir soviel Ärger machen. Schon jetzt kannst du sie unter deinen Arm nehmen und in dein Handgepäck verstauen. Bald wirst du sie auf deinen Kopf aufziehen und in dein Ohr stöpseln. Und danach - sie werden einfach schmelzen. Sie werden zum Gewebe werden. Magische Tücher mit direktem weltweiten Zugang. Du wirst sie um deinen Hals tragen. Du wirst kleine Zelte aus ihnen machen, wenn du willst. Sie werden überall verfügbar sein. Du wirst sie einfach wegwerfen können. Wie Papier. Wie der Drachen eines Kindes. Dies geschieht sehr viel schneller, als wir alle realisieren. Die Computer-Revolution, die Revolution der Medien wird unaufhaltsam weitergehen. Es wird Innovationen und Veränderungen geben, welche die heutigen Entwicklungen so veraltet erscheinen lassen wie Gaslampen. Die Maschinen mit denen du heute arbeitest, werden auf
- 121 -
einer Mülldeponie landen und in einigen Jahrzehnten wird sich ihrer niemand mehr bewußt erinnern. Ich dachte früher, daß der Cyberspace fünfzig Jahre entfernt ist. Aber da war er nur noch zehn Jahre entfernt. Und als ich dachte er wäre zehn Jahre entfernt, da bestand er schon. Ich war mir dessen nur noch nicht bewußt. Das Internet ist ein durchaus erfreuliches Beispiel für derartige Entwicklungen. Das Internet, das heute so vielfältig genutzt wird. Das Internet, das der Wissenschaft so viel geholfen hat. Das Internet, das der freien Meinungsäußerung zu einer Blüte verhalf wie noch nie zuvor in der Geschichte. Dieses Internet entstand als militärisches Projekt in der Zeit des kalten Krieges. Es war ursprünglich als postapokalyptische Befehlsstruktur konzipiert und sollte die militärische Kommunikation in den Vereinigten Staaten nach einem sowietischen Nuklarangriff gewährleisten. Und heute. Niemand konnte diese Entwicklung voraussehen. Die User des Internet haben es zu dem gemacht was es heute ist. Sie hatten den Mut das Netzwerk ihren eigenen Vorstellungen entsprechend zu nutzen, die Technologie nach ihren Bedürfnissen auszurichten. Im Dienste ihrer Freiheit. Im Dienste ihrer Annehmlichkeit. Im Dienste ihres Vergnügens. Das Internet als gegenwärtige Entsprechung des Cyberspace bie tet inzwischen derartig vielfältige Möglichkeiten, daß es schwerfällt nicht in seinen Bann gezogen zu werden. Es zeigt in aller Deutlichkeit welches Potential in Netzwerken stecken kann. Und es zeigt, daß die Zukunft ungeschrieben ist. Bruce Sterling
- 122 -
• VNS MATRIX • CYBERFEMINIST MANIFESTO FOR THE 21ST CENTURY We are the modern cunt positive anti reason unbounded unleashed unforgiving we see art with our cunt we make art with our cunt we believe in jouissance madness holiness and poetry we are the virus of the new world disorder rupturing the symbolic from within saboteurs of big daddy mainframe the clitoris is a direct line to the matrix VNS MATRIX terminators of the moral codes mercenaries of slime go down on the altar of abjection probing the visceral temple we speak in tongues infiltrating disrupting disseminating corrupting the discourse we are the future cunt Manifesto first declared by VNS Matrix 1991, Adelaide & Sydney, Australia
- 123 -
• SADIE PLANT • NETZE Von allen Medien und Maschinen, die im späten 20. Jahrhundert aufgetaucht sind, wird das Internet am ehesten als Verkörperung einer neuen dezentralisierten, nichtlinearen Welt angesehen. Da es keine Beschränkung für die Anzahl der verwendbaren Namen gibt, kann ein Individuum im Netz zu einer Bevölkerungsexplosion werden: viele Geschlechter, viele Arten. Rein theoretisch gibt es keine Beschränkung für die Spiele, die im Cyberspace gespielt werden können. Zugang zu einem Rechner bedeutet auch Zugang zu Ressourcen, die einst denen mit dem ric htigen Gesicht, Akzent, Geschlecht, der richtigen Rasse vorbehalten waren; nichts davon muß nun mehr angegeben werden. Die Benutzung des Netzes wurde schnell zu einer Sache des Surfens, einer Form des Zappens, erleichtert und erfordert von Information, die nicht länger von linearen Texten oder bibliothekarischen Klassifikationen zusammengehalten wird, sondern seitlich durchquert werden muß. In den folgenden zwanzig Jahren verbreitete sich das System immer mehr im akademischen Bereich, und gleichzeitig entstanden auch noch andere Netzwerke. Für das Geschäftsleben entstanden lokale Netze, und dann wide-area networks; kommerzielle OnlineDienste tauchten auf; E-mail und Bulletin Boards verbreiteten sich zusammen mit Fanzines und elektronischer Samisdat-Presse. Während das Netz sich jedes Jahr im Umfang verdoppelte, waren bis zu den späten achtziger Jahren die Bildschirme noch schwarzweiß und grau, die Möglichkeiten eingeschenkt und die Anzahl der Nutzer relativ klein. Der Zugang war zwar nicht begrenzt, er war weder StudentInnen noch Hackern oder AkademikerInnen vorbehalten, aber es waren einige Fähigkeiten und einiges Engagement im Umgang mit Computern erforderlich, um irgendeinen brauchbaren Input in das System einzugeben, und die Nutzer des Netzes besetzten eine sonderbare Frontlinie zwischen staatlichen Institutionen und anarchischer privater Nutzung. Im Gefolge einer massiven Expansion des Netzes, der Einrichtung von Cybercafés und öffentlichen Terminals, gepaart mit sinkenden Kosten und einem Komplex anderer ökonomischer und kultureller Tendenzen, hat sich die Nutzung des Netzes nicht nur in den
- 124 -
westlichen Ländern ausgeweitet, sondern in beinahe zweihundert Ländern auf der ganzen Welt. Im Usenet erhalten LeserInnen und AutorInnen Zugang zu Tausenden von Artikeln in Tausenden von threads in riesigen Populationen von Newsgroup-Gesprächen, die sich ständig selbst erweitern und wieder außer Betrieb gehen. Online-Welten scrollen über die Bildschirme in IRC- oder Internet Relay Chat-Netzen, MUDs (Multi-User-Domains) und IBMMOOs (MUDs Object Oriented), wo Softbots - Software Roboter - und pseudonyme Nutzer in labyrinthischen virtuellen Welten interagieren. Mit der Entwicklung des World Wide Web, einer benutzerfreundlichen interaktiven und multimedialen Benutzeroberfläche, der die Hypertext Markup Language (HTML) zugrunde liegt - mit der sich die Information auf dem Bildschirm mit einer anderen, und im Prinzip mit jeder anderen Website verknüpfen und dort abbilden läßt -, erhielt das Netz sowohl ein funkelndes Geschäftsviertel als auch einen Grad von wechselseitiger Verknüpfung, durch den immer mehr Computer, Seiten, Links, Nutzer und Charaktere in ein Netzwerk gezogen worden sind, zu dem bald Galerien, Büchereien, Einkaufszentren, Firmenpräsentationen, Universitätsinstitute, S/M-Dungeons, persönliche Tagebücher, Fanzines usw. gehören sollten, jede Seite verknüpft mit mindestens einer, manchmal Hunderten anderen, und immer weiter wuchernd. Das Netz hat zwar die einst mit ihm verknüpften anspruchsvolleren Hoffnungen einer unbehinderten, freifließenden Information nicht eingelöst. Aber das von ihm eröffnete technische Potential kommt doch dem riesigen System seitlicher Querverweise eines Hypertext-Netzwerks recht nahe, wie es in den sechziger Jahren zuerst von Ted Nelson unter dem Namen Xanadu vorgedacht worden war, oder dem System, das Vannevar Bush in den vierziger Jahren Memex nannte. Beide Konzeptionen waren weitaus interaktiver, als es das System Mitte der neunziger Jahre ist. Die NutzerInnen des von Bush ausgemalten Systems hinterließen "eine Spur des Interesses durch das Labyrinth des verfügbaren Materials", fügte Links und Verbindungen hinzu, führte Passagen ein und zog Routen durch eine riesige virtuelle Bibliothek, deren Zusammensetzung sich entsprechend der Aktiv ität ihrer BenutzerInnen fortwährend verändert. Das von Ted Nelson erdachte System, das zu einem gewissen Grad im WWW verwirklicht ist,
- 125 -
hatte den gewaltigen Vorteil, daß es das gleiche Maß an Einflußnahme wie bei Bush ermöglichte, und zwar durch die Einführung (sehr) kleiner Zahlungen in elektronischem Geld für die Verwendung des Materials bestimmter Sites. Mit der zur Zeit üblichen Bezahlung pro Zeiteinheit müssen Verknüpfungen bewußt hergestellt werden und entstehen nicht - wie Trampelpfade im Gras durch die schiere Anzahl derer, die diesen Weg nehmen. Dieser "Graswurzel"-Verkehr erleichtert zwar neue Formen des Informationsumlaufs, doch stellt er auch eine große Bedrohung für die kommerziellen Interessen dar, die gegenwärtig im Spiel sind. Kommerzielle Aktivität in großem Stil mag vielleicht dazu tendieren, das Netz in ein Einkaufszentrum zu verwandeln, doch es nahm 1969 seinen Anfang als ARPAnet, ein amerikanisches militärisches Verteidigungsprojekt, und stand bald zusammen mit den Kakerlaken auf der kurzen Liste derer, die einen Atomschlag wahrscheinlich überleben wurden. In der Hochzeit des Kalten Krieges entwickelt, gingen in das Netz außerdem die Erfahrungen mit den Vietcong ein, deren Tunnelnetze und Guerillatechniken die zentralisierte amerikanische Militärmaschine gezwungen hatten, neue Taktiken wie Streuung und Dezentralisierung zu entwickeln. Diese militärischen Einflüsse sind im Netz noch darin sichtbar, daß seine Datensendungen in der Lage sind, eigene Wege einzuschlagen und nach Umwegen um Hindernisse herum zu suchen, Abkürzungen und versteckte Durchgänge zu nehmen, ständig Nachschub anzufordern und so viele Mitfahrten wie möglich zu nutzen. Das Netzwerk und sein Datenverkehr sind derart dezentralisiert, daß die Beschädigung eines Teils des Systems oder einer bestimmten Nachricht wenig Auswirkung auf die Maschinerie als Ganzes hat. Information wird in Paketen übermittelt, die selten zweimal den gleichen Weg nehmen und auf unterschiedlichen Wegen zu ihrem Bestimmungsort gelangen, an dem sie sich dann wieder zusammenschlängeln. Nicht weil sie so streng bewacht waren, können Karten für das Netz nicht gestohlen werden, sondern weil es kein festgelegtes Terrain gibt. Jede Karte wird nur zu einem weiteren Bestandteil des Netzes und ist damit immer schon veraltet. So wie das Netz funktioniert, erfolgte auch sein Wachstum. Von keinem Zentrum oder einer zentralisierten Befehlsstruktur aus wurde es aufgebaut, sein Auftauchen war eher das eines Parasiten als eines Wirts. Es wurde keine eigene Hardware installiert, auf der es laufen
- 126 -
sollte, denn es fährt zum großen Teil per Anhalter umsonst auf bestehenden Computern, Netzwerken, Vermittlungszentralen und Telefonleitungen mit. Dies war eines der ersten vielfaltigen Systeme, von unten nach oben entworfen, stückweise, als selbstorganisierendes Netzwerk, das abgesehen von einem kleinen Quotienten militärischen Einflusses, politischer Zensur und wirtschaftlicher Macht als etwas betrachtet werden konnte, das ohne irgendeine zentralisierte Kontrolle entstand. Nicht daß solche verteilten Netzwerke oder improvisierten Systeme revolutionäre Ziele hätten. Denn auch führende Wirtschaftsunternehmen richten inzwischen all ihre Energien auf Prozesse der Molekularisierung und Virtualisierung, auf Downsizing, auf flache horizontale Operationen und ziehen in der Tat alle entsprechenden Aktivitäten auf ihre Seite. Wie spontan das Auftauchen selbstorganisierender Systeme auch verlaufen mag, sobald sie organisiert sind, befinden sie sich wieder in der Betriebsart der Organisation. Sadie Plant
- 127 -
• FRANCESCA DA RIMINI • DOLLSPACE Du trittst in Deep Doll Space Zero ein. Die Puppe Yoko taucht aus dem Kraterschlammteich der toten Mädchen auf. Sie drückt ihre moosfeuchten Lippen auf die Deinen und küßt Dich zärtlich. Ihre bleichen Hände erforschen zart Deine Fleischformen, während sie Dich in Deiner Fantasie nicht mehr losläßt und Deine Haut mit ihren Worten zerfetzt. Ich floh nach Japan, in eine Reispapierhütte hoch in den Bergen über Kyoto. Von der Hütte sah ich auf einen Teich, dessen japanischer Name soviel bedeutet wie "bodenloser Schlamm". Ich entdeckte, daß an diesem Ort die Frauen über Jahrhunderte hinwegihre kleinen Töchter ertränkt hatten. Es war ein Teich der toten Mädchen und er ließ mich nicht mehr los. Eine Horde von Geistern verfolgte mich. Ich zog weiter in die Berge hinauf, wo Bäche unter den Straßen und Feldern rinnen und man nachts nur das Wasser laufen hört, vielleicht die Tränen all dieser Mütter, die gezwungen wurden, all diese kleinen Mädchen zu töten. Puppe Yoko, Geistermädchen, krallt sich durch zerfetzte Haut den Weg ans Licht. Sie schlittert durch den Schlitz, durchscheinende graue Tentakel spielen mit Mamas Lippen. Die Augen sanfte Wasserlöcher, Geisterteiche, traurige Salzlöcher. Saure Pflaumenlippen. Der Oktopus in ihrer Muschi hält die menschliche Natur fest im Griff. Puppe Yoko sagt: alle Daten sind Diebesgut. Puppe Yoko sagt: Eure Maschinen sind ungeschickt, Eure Kriege sind überflüssig. Puppe Yoko sagt: alle Frauen sind Geister und ihr tut gut daran, vor ihnen Angst zu haben. Die Puppe ist die unendliche Räumlichkeit der Null. Angetrieben von ihrem unermeßlichen Hunger und der Sehnsucht nach dem Unmöglichen... Eine Horde hungriger Geister wartet an der Brücke der Träume. Und flüstert: alle Geschichte ist Pornographie. Und flüstert: traue niemandem. Und flüstert: töten ist vergessen. Und flüstert: ein Geist wird niemals müde. Und flüstert: eine Puppe lebt ewig. Dollspace ist ein Web-Environment, ein unendliches Labyrinth, in dem die Puppe und ihre Ghostgirls und Riverboyz geistern können.
- 128 -
Bei der Konzeption von Dollspace schuf mein Mitarbeiter in New York, Ricardo Dominguez, eine zweite Site, Hauntologies, wo unsere Geister einander inspirieren und infizieren konnten. Der Klangkünstler Michael Grimm aus Adelaide schuf speziell für eine Ausstellung von Dollspace den "Soundtrack for an empty dollspace". Vergängliche Klänge für das WorldWideWeb, abgegrenzt durch Dollspace und den kleinen großen Raum. Einundzwanzig Minuten Dollspace-Klangzeichen, zerstreut. Zerfallen. Weder work in progress noch Wegwerfartikel. Keine Zeit, immer verderblich. Post/Prä-Spiegelzustände. Dieses Online-Environment hat keinen Anfang und kein Ende. Die Arbeit steht für neue Formen der UrheberInnenschaft, nicht nur die Worte und Bilder, die von mir stammen, sondern auch deren Bereicherung durch E-Mails, Kommentare und Erinnerungen anderer, durch digitale Geschenke in Form von Klangdateien, Animationen, Grafiken und digitalen Filmen, die andere Geister gemacht haben. Mit jedem Beitrag kommen neue Fluchtlinien, neue Geistererscheinungen, neue Stimmen dazu... und es zieht mich immer tiefer in den Teich der toten Mädchen, während ich unter Wasser atme. Dollspace verbindet drei Sites mit düsterer Hypertextfiktion, mit strategischen Links zu zeitgenössischen Sites, wo politische Aktionen von Geistern aus der Dritten und Vierten Welt einen Ausdruck finden, und mit einer Zone für die Sichtung von geisterhaften Störungen. Francesca da Rimini
- 129 -
• THE MENTOR • DAS HACKER-MANIFEST Heute wurde schon wieder einer erwischt, es steht in allen Zeitungen: "Jugendlicher wegen Datendiebstahl verhaftet!", "Hacker brach in Bankrechner ein"... - "Verdammte Kerle. Ihr wollt doch alle das Gleiche." Aber hast du dich mit deiner billigen Alltagspsychologie und deinem Technikwissen von 1950 jemals in einen Hacker hineinversetzt? Hast du dich jemals gefragt, was ihn steuert, welche Kräfte ihn geformt haben, was ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist? Ich bin ein Hacker, komm in meine Welt... Meine Welt fängt mit der Schule an... Der ganze Müll, den wir beigebracht bekommen, langweilt mich... - "Verdammter, desinteressierter Kerl. Ihr wollt doch alle das Gleiche." Ich bin in einer weiterführenden Schule. Ich habe die Lehrerin jetzt schon zum fünfzigsten Mal erklären hören, wie man einen Bruch kürzt. - Oh nein, Frau Lehrerin, ich hab die Rechnung nicht ausführlich hingeschrieben, ich habe es nämlich im Kopf gemacht! - "Unverschämter Kerl. Hat es wahrscheinlich abgeschrieben. Ihr wollt doch alle das Gleiche." Ich habe heute eine Entdeckung gemacht. Ich habe einen Computer gefunden. Hey, warte mal, das hier is cool. Er macht was ich ihm sage. Wenn er einen Fehler macht, dann weil ich Mist gebaut habe, nicht weil er mich nicht leiden kann... oder es sich von mir bedroht fühlt... oder denkt ich sei einfach nur ein frecher Teenager... oder weil er keine Lust hat hier zu sein und zu unterrichten... - "Oh, dieser Kerl. Alles was er macht ist herumspielen. Ihr wollt doch alle das Gleiche." Und dann ist es passiert... Eine Tür zu einer anderen Welt öffnete sich... Durch Telefonleitungen schießen wie Heroin durch die Adern eines Süchtigen... Ein elektronischer Impuls wird losgeschickt, auf der Suche nach einer Zuflucht vor der alltäglichen Kraftlosigkeit... Ein Ziel ist gefunden.
- 130 -
Das ist es... Hier fühle ich mich zuhause. Ich kenne jeden hier...auch wenn ich nie einen getroffen, nie mit einem geredet habe. Ich werde es vielleicht auch nie tun... und doch kenne ich euch alle... - "Wieder dieser Kerl. Blockiert schon wieder die Telefonleitung. Ihr wollt doch alle das Gleiche." Ja, Du kannst deinen Arsch verwetten, daß wir alle das Gleiche wollen... Ich habe keine Lust mich mit dem zu beschäftigen was ihr mir vorsetzt... Wir wurden in der Schule mit Babynahrung gefüttert, als wir nach Steaks lechzten... Die paar Stückchen Fleisch die wir dann irgendwann doch bekommen haben, waren entweder vorgekaut und ungenießbar. Wir wurden von Sadisten regiert und von apathischen Langweilern ignoriert. Die Wenigen die uns etwas beizubringen konnten, fanden in uns willige Schüler, doch sie waren Regentropfen in der Wüste. Dies ist unsere Welt... Die wunderbare Welt des Elektrons und der Verbindungen. Wir nutzen ein System, das schon lange existiert, ohne dafür zu bezahlen. Dieses System könnte spottbillig sein, wenn die Macht darüber nicht in den verklebten Klauen gieriger Geier liegen würde... aber nicht sie, sondern uns bezeichnet ihr als Kriminelle. Wir erkunden und entdecken... und ihr nennt uns Verbrecher. Wir sind auf der Suche nach Wissen... und ihr nennt uns Verbrecher. Wir existieren ohne Hautfarbe, ohne Nationalität und ohne religiöse Vorurteile... und ihr nennt uns Verbrecher. Ihr baut Atombomben, zettelt Kriege an, ihr tötet, betrügt und lügt uns an und dann versucht uns dann einzureden, es sei nur in unserem Interesse... und uns nennt ihr Verbrecher. Ja, ich bin ein Verbrecher. Mein Verbrechen ist Neugier. Mein Verbrechen ist, daß ich die Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteile, sondern nach dem was sie sagen. Mein Verbrechen liegt darin, daß ich mich Euch entziehe, etwas das ihr mir nie verzeihen werdet. Ich bin ein Hacker und dies ist mein Manifest. Ihr könnt mich als einzelne Person bremsen, aber es wird euch nie gelingen uns alle aufzuhalten... Denn letztlich wollen wir tatsächlich alle das Gleiche. The Mentor
- 131 -
• SPIRAL TRIBE • DIE CODES DER STAHLTÜREN Durch die Einführung billiger und allgemein verfügbarer SiliconHardware ist ein erhöhtes Bewußtsein von der kreativen Dimension elektrischer Technologie entstanden, das nachhaltig seine Spuren in der materiellen Welt hinterlassen hat. Die kreativen Grenzen dieser massenhaft vermarkteten Silicon-Revolution zeigen sich als Hochgeschwindigkeitswerkzeuge für das Publizieren, für Grafik, Musik und Kommunikation. Genug um die Bedürfnisse der kreativsten Minds zu erfüllen. Vor der Silicon-Technologie verbrachten Kids jahrein, jahraus harte Stunden auf ihren Bettkanten mit dem Versuch, die fundamentalen Akkorde auf der Gitarre zu erlernen. Waren sie darin erfolgreich, folgte eine desillusionierende Tour de Force durch die Bier- und Musikszenen. Und wenn sie darin erfolgreich waren, standen sie am Anfang einer erschöpfenden Karriere der Selbstvermarktung und Selbstausbeutung. Kein Wunder, daß die Riege der Sozialhilfe-EmpfängerInnen unter idealistischen MusikerInnen in dem Masse größer wurde, in dem sich die Motivationen der Musikindustrie auf eine reduzierten: Profit. Die gegenwärtige Zugänglichkeit der Technologie erlaubt es jedem und jeder mit eigene Ideen, diese umzusetzen. Mit Keyboards und Computern ist es möglich, innerhalb von Minuten Ergebnisse zu erzielen, für die sonst Monate oder Jahre nötig wären. Die Ära des Konzepts ist angebrochen - ungehindert durch banales Üben und unerbittlichen Kampf. Niemals war der Pool an originellen Ideen so groß, und niemals war der Pool für so viele Menschen so einfach zugänglich. Unser kollektives Bewußtsein ist jetzt, nachdem es die abstrakten Dimensionen elektrischer Schaltkreise erforscht hat, offen für andere unsichtbare Dimensionen natürlicher Muster, in diesem Fall Musik. Niemals zuvor herrschte ein derart geschäftiges Treiben in den Verbindungskanälen zwischen den verschiedenen Ebenen. Heutzutage haben wir Sampling-Ausrüstungen die unsere musikalische Reichweite ins unendliche erweitern, während die Sounds früher auf den Klang bestimmter Instrumente und musikalischer Konventionen beschränkt waren. Jeden Tag, jede
- 132 -
Stunde werden neue Sounds gesampelt, Frequenzen verzerrt und ungehörte Noten aus freien Gedanken kreiert und in Rhythmen verwoben. Die schnelle und furiose Suche nach "dem Neuen" wird täglich durch neue Veröffentlichungen aktualisiert. Diese Musik bewegt sich schneller in ihre eigene Zukunft als irgendeine musikalische Richtung zuvor. Aber die Hochgeschwindigkeitsevolution der Sounds ist mit dem Pressen von Schallplatten nicht beendet. DJs, Rapper und MCs führen die Kreation weiter, indem sie ihre eigenen ganz speziellen Mixe erstellen. Dann verbindet sich der rapide Energieaustausch mit den teilnehmenden TänzerInnen, die als Rezeptoren der Energie den Sound in Bewegung verwandeln und durch das Einstimmen in Rhythmus und Frequenz die Bedeutung der Musik in der materiellen Welt manifestieren. Sie leben es. Sie lieben es. Die elektronische Technologie ermöglicht uns die weltweite und massenhafte Übertragung von Information (oder Nicht-Information) über Fernsehen und Radio, sie ermöglicht uns die Verteilung von Waren, Telekommunikation und Hochgeschwindigkeitsreisen. In der heutigen Zeit verbreiten sich die Worte schnell. Musik ist eine Kommunikationsware, hungrig konsumiert von dem unersättlichen Appetit der weltweiten kommerziellen Netze. Es ist möglich, daß Musik und ihre Botschaft massiven Einfluß auf Weltereignisse nimmt. Genauso wie vom Fernsehen übertragene Bilder, so zum Beispiel vom Vietnamkrieg, es konnten. Seitdem haben viele Millionen Menschen mehr Fernseher, Radios und Kassettenrecorder. Der größte Teil der Erde ist heute elektronisch vernetzt. Die MusikerInnen der heutigen Zeit können zu SchlosserInnen und Safe-KnackerInnen werden, die fanatisch nach der richtigen Kombination suchen, durch die die schweren Stahltüren der Unterdrückung weit aufgerissen werden. Spiral Tribe 23
- 133 -
• STELARC • FRAKTALES FLEISCH In meinen früheren Aktionen trat der Körper mit Technologie auf, die an ihm angebracht war (die Dritte Hand: betätigt durch EMGSignale), die in ihn eingeführt wurde (die Magen-Skulptur: ein leuchtender, Geräusche erzeugender, sich öffnender und schliessender, sich ausweitender und zusammenziehender Mechanismus der in der Bauchhöhle tätig ist), die an das Netz angeschlossen war (der Körper wird von Personen an anderen Orten betreten und ferngesteuert aktiviert). Der Körper wurde vergrößert, infiltriert und wird nun ein Wirt nicht nur für Technologie, sondern auch für entfernte Akteure. Genauso wie das Internet umfangreiche und interaktive Wege bietet, um Information und Bilder zu verteilen, zu verknüpfen und zu erhalten, könnte es nun unerwartete Möglichkeiten eröffnen, um in den Körper einzudringen, ihn anzuschließen und zu laden. Das Internet ist keineswegs nur ein Werkzeug zur Befriedigung altmodischer metaphysischer Begierden der Entkörperlichung. Im Gegenteil dazu bietet es ausdrucksvolle individuelle und kollektive Strategien zur Projektion körperlicher Präsenz und zur Entwicklung körperlicher Bewußtheit. Das Internet treibt nicht das Verschwinden des Körpers und die Auflösung des Selbst voran - es bringt vielmehr neue kollektive physische Verbindungen und eine telematische Bewertung der Subjektivität hervor. Die Authenzität eines solchen Körpers ist dabei nicht von seiner Individualität abhängig, sondern eher von der Vielfältigkeit kooperierender Akteure. Was wichtig wird, ist nicht die Individualität des Körpers, sondern seine Anschlußmöglichkeiten - nicht seine Beweglichkeit und Lokalisation, sondern seine Schnittstelle... DIE ÜBERWINDUNG DER OBERFLÄCHE Als Oberfläche war Haut einst der Anfang der Welt und simultan dazu die Begrenzung des Selbst. Aber jetzt, gedehnt, durchlöchert und penetriert von Technologie, ist die Haut nicht mehr die weiche und empfindsame Oberfläche einer Stelle oder einer Fläche. Haut bedeutet nicht länger Geschlossenheit. Das Brechen von Oberfläche und Haut bedeutet die Aufhebung von Innen und Außen.
- 134 -
Ein Kunstwerk wurde in den Körper eingeführt. Die MagenSkulptur wurde 40cm weit in meine Magenhöhle eingeführt. Nicht als prothesenhaftes Implantat, sondern als eine ästhetische Erweiterung. Der Körper wird als hohl erfahren, mit keiner nennenswerten Unterscheidung zwischen öffentlichem, privatem und physiologischem Raum. Der hohle Körper wird zum Wirt, nicht für ein Selbst, sondern einfach für eine Skulptur. Als Schnittstelle ist die Haut veraltet. Die Bedeutung von Cyber kann durchaus im Akt des Abwerfens der Haut durch den Körper liegen. Das Kleiden des Körpers mit Membranen, eingebettet in ein alternatives Sensorium mit Input- und Output-Apparaturen erschafft die Möglichkeit intimerer, weiter entwickelter Interaktivität. Subjektiv erlebt sich der Körper mehr als ausgedehntes System, denn als eine geschlossene Struktur. Das Selbst wird neu definiert. Teilweise liegt es an dieser Ausweitung, daß der Körper leer wird. Diese Leere wurzelt jedoch nicht in einem Mangel, sondern in der Ausweitung und Ausdehnung seiner Fähigkeiten, in seinen neuen sensorischen Antennen und in seiner im zunehmendem Maße ferngesteuerten Funktion... FRAKTALES FLEISCH Erwäge einen Körper, der seine Bewußtheit und sein Handeln in andere Körper und Körperteile an anderen Orten ausdehnt. Eine handlungsfähige Einheit die räumlich verteilt, aber elektronisch verbunden ist. Eine Bewegung die Du in Melbourne initiierst, würde räumlich verschoben und manifestierte sich in einem anderen Körper in Rotterdam. Eine gleitende, sich verschiebende Bewußtheit, die weder "ganz hier" in diesem Körper, noch "ganz dort" in anderen Körpern ist. Es geht nicht um einen fragmentierten Körper, sondern eine Vielfalt an Körpern und Körperteilen, die sich gegenseitig zu Handlungen veranlassen und ferngesteuert führen. Es geht nicht um Herren-Sklaven-Kontrollmechanismen, sondern um Rückkopplungsschleifen veränderter Bewußtheit, Handlungsfähigkeit und um geteilte Physiologie. Stelle Dir vor, eine Seite deines Körpers würde ferngesteuert, während die andere Hälfte nach lokalen Anweisungen handeln könnte. Du siehst deinen Körper sich bewegen, aber weder hast Du es initiiert, noch kontaktierst Du deine Muskeln um die Bewegung zu
- 135 -
erzeugen. Stelle dir die Konsequenzen und Vorteile vor, die es mit sich bringen würde, ein geteilter Körper zu sein, der elektronische Signale aussendet, um andere Körper zu steuern, und Signale empfängt, die durch das Verhalten eines entfernten Körpers erzeugt werden. Ein neuer komplexerer Körper - nicht einfach der Körper eines einzelnen Akteurs, sondern ein Wirt für eine Vielfalt an entfernten und fremden Akteuren unterschiedlichster Physiologien und Standpunkte. Stell Dir eine Handlung vor, die von einem Körper an einem Ort begonnen und von einem anderen Körper an einem anderen Ort beendet würde. Oder die Übermittlung und Konditionierung einer Fähigkeit. Der Körper nicht als ein Ort für Prägungen, sondern als Medium der Manifestation entfernter Handelnder... Eine Möglichkeit dies umzusetzen ist das Touch-ScreenMuskelstimulationssystem (Stimbod). Es wurde dadurch eine Methode entwickelt, die es ermöglicht Körperbewegungen zu programmieren, indem die Muskelbereiche an einem Computermodell berührt werden. Die Bewegungssequenz kann durch eine Loop-Funktion fortlaufend wiederholt werden. Es ist gleichermaßen möglich durch Druckbefehle Bewegungen zu choreographieren wie auch Bewegungssequenzen aus einer Bibliothek von Gesten aneinander zu fügen. Vor der Übermittlung der Signale ermöglicht das System die Stimulation der programmierten Bewegung zur Analyse und Bewertung. Auf einer tieferen Ebene der Stimulation ist es ein System, um einen Körper zu etwas zu veranlassen, auf einer höheren Stimulationsebene ist es ein System, um einen Körper zu betätigen. Es geht hierbei nicht um die Fernsteuerung des Körpers, sondern vielmehr um das Konstruieren von Körpern mit geteilter Physiologie, die von einer Vielfalt an Akteuren gesteuert werden. War es Wittgenstein der fragte, was übrig bliebe, wenn wir durch das Heben des Arms die Intention den Arm zu heben, entfernen könnten? In unseren platonischen, cartesianischen und freudschen Vergangenheiten mag dies als pathologisch angesehen worden sein und in unserer focaultschen Gegenwart konzentrieren wir uns auf Prägung und Kontrolle des Körpers. Muß jedoch ein Körper kontinuierlich seinen emotionalen, sozialen und biologischen Status Quo bestätigen? In den Bereichen der Cyber-Komplexität könnte die Unzulänglichkeit und Überholtheit des egogesteuerten, biologischen
- 136 -
Körpers nicht offensichtlicher sein. Ein Übergang vom PsychoKörper zu Cyber-Systemen wird notwendig, um in entfernten räumen, beschleunigten Situationen und komplexen technologischen Bereichen effektiv und intuitiv zu funktionieren. Während eines Seminars über Sexualität und Medizin in Melbourne fragte mich Sandy Stone nach den cybersexuellen Implikationen des Stimbod-Systems. Ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, versuchte ich zu erläutern, wie es sein würde. Wenn ich in Melbourne wäre und Sandy in New York, würde eine Berührung meiner Brust Sandy dazu veranlassen, ihren Busen zu streicheln. Jemand der sie dort beobachtete, würde es als einen Akt der Selbstbefriedigung sehen, als einen masturbatorischen Akt. Trotzdem würde sie wissen das ihre Hand aus der Ferne gesteuert würde! Kräfte-Feedbacks empfangend, würde ich meine Berührung durch eine andere Person an einem anderen Ort als sekundäre und zusätzliche Empfindung erfahren. Durch das Berühren meines Brustkorbs kann ich ebenso ihre Brust fühlen. Eine Intimität über Schnittstelle, eine Intimität ohne Nähe. Bedenke, daß das Stimbod nicht bloß die Empfindung einer Berührung, sondern ein Betätigungssystem ist. Kann ein Körper mit Erfahrungen extremer Abwesenheit und fremder Handlung zurechtkommen, ohne von altmodischen metaphysischen Ängsten und Besessenheiten von Individualität und Handlungsfreiheit überwältigt zu werden? Für ein Stimbod würde es also notwendig sein, Wirklichsein weder als vollständig-präsent-in-diesem-Körper, noch als vollständig-präsent-in-jenem-Körper zu erfahren, sondern als teilweise Hier und teilweise Dort. Ein einsatzfähiges System von räumlich verteilten aber elektronisch gekoppelten Klustern von Körpern, in hin und her fließendem Bewußtsein, erweitert und verändert durch eine Fremdsteuerung... OPERATIVES INTERNET Für die Telepolis 1995 war es Personen im 'Pompidure Center' (Paris), im 'Media Lab' (Helsinki) und auf der 'Doors of Perception'Konferenz (Amsterdam) möglich, aus der Ferne in einen Körper in Luxemburg einzudringen und ihn zu betätigen, indem sie ein TouchScreen-Schnittstellen-Muskelstimulationssystem benutzten. ISDNPicturel-Links erlaubten es dem Körper das Gesicht jener Person zu
- 137 -
sehen, die ihn gerade bewegte, während die Programmierenden ihre ferngesteuerte Choreographie beobachten konnten. Eine durch das Internet betriebene und aus ihm geladene Performance ist Ping Body, die für 'Digital Aesthetics' in Sydney und auch 1996 für 'd.e.a.f.' in Rotterdam realisiert wurde. Der Körper wird dabei nicht von anderen Körpern an anderen Plätzen zu Handlungen veranlaßt, sondern die Internet-Aktivität selbst choreographiert und komponiert die Performance. Zufällige von über 30 globalen Internet-Domains erzeugte Werte zwischen 0 bis 2000 Millisekunden wurden auf Bizeps, Beugemuskeln, Kniesehnen und Wadenmuskel übertragen. Signale von 0 bis 60 Volt erzeugen unfreiwillige Bewegungen, wobei die Bewegungen des Körpers mit einem Midi-Interface verstärkt werden, welches Position, Entfernung und Beugung der Körperglieder mißt. Aktiviert durch Internet-Daten wird der Körper als Info und Image auf eine Website geladen um woanders von anderen Leuten gesehen zu werden. Der Körper wird telematisch durch die reflektierenden Signale eines übersteigerten räumlichen und elektrischen Systems maßstabsgetreu erweitert, stimuliert und gedehnt. Die übliche Beziehung zum Internet ist umgekehrt - an Stelle der Konstruktion des Internet durch den Input von Menschen konstruiert hier das Internet die Aktivitäten eines Körpers. Der Körper wird zum Nexus für Internet-Aktivität - seine Aktivität ein statistischer Konstrukt von Computer-Netzwerken... Früher war die Verbindung und Kommunikation mit anderen Menschen über das Internet auf die Oberfläche beschränkt, mit einer akuten Abwesenheit von physikalischer Präsenz. Dies war nicht die Erfahrung von authentisch gewachsener Abwesenheit, die in einen effektiv handelnden Körper in der wirklichen Welt resultiert Abwesenheit des Körpers im Internet ist eine Abwesenheit von Unzulänglichkeit, einer Unzulänglichkeit sich angeeigneter Feedback-Schleifen. Wenn wir mehr hochqualitative Bild-, Sound-, Kräfte -Feedback-Empfindungen zwischen den Körpern schalten, dann beginnen wir neue ausdrucksvolle Präsenzen zu erschaffen. Durch die Übertragung der Empfindungen des entfernten Körpers auf deine Haut und deine Nervenenden, wird die bisher gegebene psychologische und räumliche Distanz zwischen den Körpern im Netz überwunden.
- 138 -
Das Internet ist nicht mehr nur ein Werkzeug zur Übermittlung von Informationen, sondern ein Umwandlungsmodus, der auf die physikalische Aktion zwischen Körpern einwirkt. Elektronischer Raum in diesem Sinne eher als ein Bereich der Aktion denn der Information. Stell dir einen Körper vor, der bewußt und offen ist, in den eingedrungen wurde, der vergrößert und mit erweiterten Handlungsmöglichkeiten ausgestattet wurde. Stell dir einen Körper vor, dessen Bewußtheit ausgeweitet durch Ersatzroboter in Situationen ausgeweitet wird, die sonst nie ein Körper erfahren könnte. Diese Maschinen würden die Handlungsmöglichkeiten multiplizieren und die Subtilität, Geschwindigkeit und Komplexität menschlicher Aktivität steigern. Vielleicht geht es bei der Beantwortung der Frage, was es bedeutet Mensch zu sein, gerade darum unsere Menschhaftigkeit zu überwinden... Stelarc
- 139 -
• DEEP BLUE - KASPAROV • MASCHINE BESIEGT MENSCH Ein Datum, das in die Geschichtsbücher eingehen wird: Am 11.5.1998 schlug erstmals ein Computer den Schach-Weltmeister nach sechs Partien mit 3,5 zu 2,5. Deep Blue - Garry Kasparov New York - 11.5.1998. 1. e4 c6 2. d4 d5 3. Sc3 dxe4 4. Sxe4 Sd7 5. Sg5 Sgf6 6. Ld3 e6 7. S1f3 h6 8. Sxe6 De7 9. 0-0 fxe6 10. Lg6+ Kd8 11. Lf4 b5 12. a4 Lb7 13. Te1 Sd5 14. Lg3 Kc8 15. axb5 cxb5 16. Dd3 Lc6 17. Lf5 exf5 18. Txe7 Lxe7 19. c4 1 - 0
- 140 -
• DEAD MEDIA PROJECT • AUSGESTORBENE PERSONAL-COMPUTER Altair 8800, Amiga 500, Amiga 1000, Amstrad, Apple I, II, II+, IIc, IIe, IIGS, III, Apple Lisa, Apple Lisa MacXL, Apricot, Atari 400, 800 XL, XE, ST, Atari 800XL, Atari 1200XL, Atari XE, Basis 190, BBC Micro, Bondwell 2, Cambridge Z-88, Canon Cat, Columbia Portable, Commodore C64, Commodore Vic -20, Commodore Plus 4, Commodore Pet, Commodore 128, CompuPro 'Big 16', Cromemco Z-2D, Cromemco Dazzler, Cromemco System 3, DEC Rainbow, DOT Portable, Dragon System, Dragon 32, Dragon 64, Epson QX-10, Epson HX-20, Epson PX-8, Exidy Sorcerer, Franklin Ace 500, Franklin Ace 1200, Fujitsu Bubcom 80, Gavilan, Grid Compass, Heath/Zenith, Hitachi Peach, Hyperion, IBM PC 640K, IBM XT, IBM Portable, IBM PCjr, IMSAI 8080, Intelligent Systems Compucolor, Intertek Superbrain II, Ithaca Intersystems DPS-1, Kaypro 2x, Linus WriteTop, Mac 128, 512, 512KE, Mattel Aquarius, Micro-Professor MPF-II, Morrow MicroDecision 3, Morrow Portable, NEC PC-8081, NEC Starlet 8401-LS, NEC 8201A Portable, NEC 8401A, NorthStar Advantage, NorthStar Horizon, Ohio Scientific, Oric, Osborne 1, Osborne Executive, Panasonic, Sanyo 1255, Sanyo PC 1250, Sinclair ZX-80, Sinclair ZX-81, Sinclair Spectrum, Sol Model 20, Sony SMC-70, Spectravideo SV-328, Tandy 1000, Tandy 1000SL, Tandy Coco 1, Tandy Coco 2, Tandy Coco 3, TRS-80 models I, II, III, IV, 100, Tano Dragon, TI 99/4, Timex/Sinclair 1000, Timex/Sinclair color computer, TRW/Fujitsu 3450, Vector 4, Victor 9000, Workslate, Xerox 820 II, Xerox Alto, Xerox Dorado, Xerox 1108, Yamaha CX5M, etc. etc. etc. Dead Media Project
- 141 -
• EROTIK UND PHANTASIE •
- 142 -
• WOLFGANG STERNECK • FREIE LIEBE Wirkliche Liebe ist ein Gefühl, das viel tiefer geht als all das, was gewöhnlich als Liebe bezeichnet wird. Es beinhaltet den Ausbruch aus dem Vorgegebenen, die Überwindung des Egoismus und die Fähigkeit geben zu können. Es ist eine tiefe innere Verbindung, die sich keineswegs nur auf einen Menschen beschränken muß. Wirkliche Liebe hat nur wenig gemeinsam mit dem Begriff der Liebe, der uns aufgezwängt wird und den die meisten von uns verinnerlicht haben. Sie hat nichts zu tun mit den Gefängnissen der Beziehungen und der Ehe. Die romantische Liebe, wie sie uns von den Medien immer wieder vermittelt wird, ist von seltenen Ausnahmen abgesehen, eine Illusion. Und die, die daran glauben, täuschen sich letztlich nur selbst. Die meisten herkömmlichen Beziehungen gleichen schon nach kurzer Zeit einer Straße, deren Verlauf vorgeben ist und unter dem Beton alles Leben vergräbt bis sie in einer Sackgasse endet. Eine offene Beziehung zwischen zwei Menschen, die auf der Vorstellung der freien Liebe basiert, entspricht dagegen zwei Wegen, die sich kreuzen. Sie verlaufen zeitweise nebeneinander und werden phasenweise zu einem, beinhalten aber immer wieder Strecken, in denen sie sich trennen, zum Teil weit voneinander entfernen oder vielleicht sogar verschiedenen Richtungen einnehmen, um dann an bestimmten Orten wieder zusammenzufinden. Es ist fast unmöglich die Bedürfnisse nach Kontakt und Austausch, nach Zärtlichkeit und Sexualität über einen längeren Zeitraum auf einen Menschen zu fixieren - es ist auch nicht notwendig. Vielmehr ist es durchaus möglich und selbstverständlich zu mehreren Menschen ein Gefühl tiefer Zuneigung und Wärme zu empfinden, vielleicht sogar jede und jeden von ihnen auf eine eigene Weise zu lieben. Wenn nach der anfänglichen Phase des Verliebtseins, indem sich oft alle Empfindungen auf die entsprechende Person konzentrieren, die Gefühle füreinander nachlassen oder sich verändern, und auch wieder andere Menschen interessant werden, dann stellt sich die Frage, ob Fesseln angelegt werden oder versucht wird mit diesen Bedürfnissen offen umzugehen.
- 143 -
Die Idee einer offenen Beziehung beinhaltet das Bestreben diese Gefühle zuzulassen und nicht zu unterdrücken. Das heißt konkret, der Partnerin oder dem Partner die Möglichkeit zu geben mit anderen engeren Kontakt zu haben, sich selbstverständlich mit einer anderen Person zu treffen, vielleicht auch Zärtlichkeiten auszutauschen oder miteinander zu schlafen. Auch wenn es in der bestehenden Gesellschaft normal ist, so hat im Grunde niemand, auch kein Beziehungspartner oder -partnerin das Recht, dies zu untersagen. Wer es dennoch tut, offenbart im Grunde nur den eigenen Egoismus indem versucht wird, die angeblich so geliebte Person einzuschränken und deren Gefühle zu unterdrücken. Eifersucht hat nur wenig mit Liebe zu tun, sondern vielmehr mit Besitzgier und Verlustangst. Das herrschende System basiert auf der Idee des Besitzes von materiellen Dingen wie auch von Menschen, von deren Arbeitskraft, von deren Wissen, von deren Gefühlen. Gesellschaften, die kein Privateigentum kannten, die davon ausgingen, daß beispielsweise keine Person ein Stück Land besitzen kann, weil es gleichzeitig allen und niemanden gehört, die kannten auch keinen eheähnlichen Besitzanspruch und sie kannten auch keine Eifersucht. Eine wesentliche Voraussetzung für eine offene Beziehung ist die Bereitschaft auf andere einzugehen, aber auch in sich selbst hineinzuschauen, sich mit eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen und diese zu hinterfragen. Wichtig ist dabei, daß gleichermaßen die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche, sowie die Ängste und Schwächen gezeigt werden, darüber offen geredet wird und gemeinsam nach einem Weg gesucht wird. Gerade Männern, denen vielfach noch eingeredet wird, daß Männlichkeit Härte und Gefühllosigkeit bedeutet, fällt dies oftmals sehr schwer. Wenn Du ehrlich zu Dir bist, dann stellst Du schnell fest, daß Du in Deiner derzeitigen Beziehung oder in ehemaligen zumindest zeitweise tiefere Empfindungen für Menschen außerhalb dieses Verhältnisses gehabt hast. - Warum diese Gefühle unterdrücken, warum sich nicht dazu bekennen und die Möglichkeiten schaffen sie auszuleben? Warum bindet Ihr Euch so eng aneinander und geht nicht weiterhin Euren eigenen Weg, um in bestimmten Momenten, über deren Tiefe und Länge Ihr frei entscheiden könnt, zusammen zu kommen, ohne Euch gegenseitig Eure Freiheit zu nehmen?
- 144 -
Es ist ein langer Prozeß, der seine Zeit braucht und sicherlich auch mit Schmerzen verbunden sein wird. Zu viel haben wir von frühester Kindheit an verinnerlicht und zu allgegenwärtig ist die scheinbar so selbstverständliche Darstellung des Besitzdenkens. Aber was haben wir zu verlieren? Schau Dich um, sicherlich sind fast alle festen Beziehungen, die Du kennst, immer wieder davon geprägt, daß der Partner oder die Partnerin entweder einen Teil ihrer Gefühle unterdrückt oder sie heimlich auslebt. Die Alternative heißt offen sein, keine künstlichen Barrieren aufbauen, sondern sich im Fluß befinden. - Geben und das nehmen was freiwillig gegeben wird. Wenn Du in die Gesichter der Menschen blickst, die mit Dir in der Bahn sitzen, oder wenn Du Dir bewußt die Reklamefassaden anschaust, dann wirst Du mehr und mehr spüren, wie wichtig es ist, daß wir uns einem veränderten Verständnis von Liebe öffnen und ihre Wärme der fast allgegenwärtigen gesellschaftlichen Kälte entgegenstellen. Wolfgang Sterneck
- 145 -
• LOVECHILD • WOLLEN WIR MITEINANDER SCHLAFEN ? EINE GESCHICHTE ZUR FREIEN LIEBE Nach einer langen Wartezeit entschlossen wir uns, zur nächstliegenden Station zu Fuß zu gehen. Unser Weg führte uns auf einer unbefestigten Straße durch eine hügelige Landschaft, wie sie typisch für diesen Teil Indiens ist. Wir mußten des öfteren Ruhepausen einlegen, bis wir nach Anbruch der Dunkelheit ein schäbiges Gasthaus für die Nacht fanden. Am nächsten Morgen nahm uns ein Mann auf seinem Ochsenkarren mit und als er uns wieder absetzte, erklärte er uns den Weg zur nächsten großen Stadt. Bald wurde mir jedoch klar, daß wir uns entweder verlaufen hatten oder die gewiesene Richtung von Anfang an falsch gewesen war. Wir gingen weiter, denn was sonst sollten wir auch tun, von der Missionsstation unserer Eltern hatten wir uns schon zu weit entfernt. Am Nachmittag erreichten wir einen breiten Strom. Wir waren müde und hungrig. In einiger Entfernung bemerkten wir vier Jungen im Fluß fischen. Einer von ihnen kam auf uns zu. Wir standen da und blickten uns eine Weile an, bevor er etwas in einer Sprache sagte, die ich nicht verstand. Ich sagte etwas in Gondi und er antwortete mir erfreut, rief die anderen Jungen herbei und alle begangen auf einmal zu reden. Ich hatte Gondi die letzten vier Jahre gelernt, da mein Vater, der als Missionsbischof arbeitete, die Hoffnung hegte, ich würde ein Missionar für diesen Volksstamm werden. Diese Jungen, die sich Muria nannten, sprachen einen Dialekt von Gondi. Während wir uns ihrem Dorf näherten, lief ein Junge voran und kam bald mit einer etwa sechzehn Jahre alten Frau wieder entgegen. Ihre Brüste waren entblößt, was, wie wir erfuhren, unter den Murias Sitte war. Wir ließen uns in einem schattigen Hain nieder und bald kamen mehrere jungen Frauen aus dem Dorf mit Eßwaren, die meine Schwester und ich hungrig verschlangen. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden wir in ein kleines Dorf geführt, wo wir von den jungen Leuten Schlafmatten bekamen. Wir wurden mit soviel Freundlichkeit und Zuvorkommenheit behandelt, daß es uns leicht fiel, alles ohne weiteres zu akzeptieren. Sie wünschten uns eine gute Nacht und bald fie l ich in tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen fragte uns ein Junge mit dem Namen Sirdar,
- 146 -
ob wir zustimmen würden, für die Zeit unseres Aufenthaltes vor den Erwachsenen des Dorfes versteckt zu werden. Er fuhr fort, daß die älteren Leute sehr erregt sein würden, wenn sie von der Anwesenheit zweier ausländischer Kinder erfahren würden, und darauf bestehen würden, eine offizielle Regierungsstelle davon zu benachrichtigen. Wir waren so erschöpft, daß wir ohne weiteres zustimmten. Nachdem die Jugendlichen an ihre Arbeit gegangen waren, nicht ohne uns zuvor versorgt zu haben, dösten wir durch den Morgen. Hin und wieder kam jemand, um nach uns zu sehen. Sie standen vor uns, sprachen mit uns oder schauten uns nur an. Ein junger Mann unterhielt sich mit uns, als eine etwa gleichalte Frau sich neben ihn auf die Matte setzte. Zuerst wandte ich mich beim Anblick ihrer unbedeckten Brüste verlegen ab, aber ich war bereits dabei, mich daran zu gewöhnen. Ich erzählte ihnen von meiner Schule, als der Junge beiläufig seinen Arm um den Nacken des Mädchens legte, eine ihrer Brüste in die Hand nahm und sie sanft drückte. Ich stockte, starrte sie beide an und erwartete von ihr, daß sie ihn wegstoßen würde, aber sie lehnte sich nur an ihn, legte ihren Kopf auf seine Schulter und hörte mir weiter zu. Ich kam zu dem Schluß, daß sie eine Liebesbeziehung haben, als ein anderer Junge kam und sich auf der anderen Seite des Mädchens setzte. Sie legte ihre Hand auf seine Schenkel. Eine weitere junge Frau gesellte sich dazu und kniete hinter den zuletzt gekommenen Jungen. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern. Er lehnte sich zurück, gegen sie, und sie fuhr mit ihren Armen um seinen Hals und umarmte ihn. Am nächsten Tag äußersten die älteren Jungen die Vermutung, daß die Erwachsenen des Dorfes etwas bemerkt haben könnten. Sie schlugen uns vor, von jetzt an mit ihnen in ihrem Ghotul zu übernachten, da dort ein Erwachsener niemals eintreten dürfte. Nachdem wir dort eine Nacht verbracht hatten, wurde ich gefragt, ob ich ein Mitglied des Ghotul werden wolle. Ich antwortete überrascht, daß ich bereits letzte Nacht im Ghotul gewesen wäre und daß es uns gefallen hätte, aber daß wir an den Rückweg denken müßten. "Oh, nein", sagte er, "Du warst im Ghotul, aber nur als Gast. Das ist nichts, es ist wie von außen in den Fluß schauen, aber ein Mitglied des Ghotul zu sein, das ist im Wasser zu sein, als ein Fisch." Später sprach ich mit meiner Schwester. Auch ihr war der gleiche
- 147 -
Vorschlag gemacht und ihre Neugier geweckt worden. Ich beruhigte mich damit, indem ich es als meine Pflicht ansah, über diese Menschen und ihr Leben etwas auf eine Weise zu erfahren, wie es zuvor noch keinem Außenstehendern möglich war. An diesem Abend wurden wir verschiedenen Zeremonien unterzogen. Wir bekamen neue Namen, die nur im Innern des Ghotul galten. Danach entspannte sich die Stimmung. Einige rauchten Pfeife, sangen oder tanzten. Schließlich wurde der letzte Tanz angesagt und ich wurde aufgefordert mit den anderen hintereinander im Kreis zu tanzen. An einer bestimmten Stelle im Lied beugten wir uns vor, um unsere zusammengehaltenen Hände jeweils zwischen die Beine der vor uns Stehenden zu führen. Alle lachten und wir tanzten in dieser Stellung weiter. Wir begannen nun alle zu singen und mit unseren Händen auf Kniehöhe zwischen den Beinen der Mädchen oder Jungen zu rudern. Plötzlich wurde die Musik unterbrochen und ich schlug instinktiv meine Beine zusammen und fing die ineinander geklammerten Hände der Frau vor mir zwischen meinen Schenkeln. Wieder lösten wir uns unter Lachen. Ich hatte schon seit der ersten Berührung mit der Frau vor mir ein steifes Glied, was aber unter dem Lendentuch, das man mir gegeben hatte, verborgen blieb. Beim nächsten Halt lagen die Hände fast an meiner Leistengegend und ich fürchtete, daß ich mich in jedem Augenblick entladen würde, bevor der Tanz weiterginge. Als das Feuer ausgebrannt war, war ich vor Erregung und Verlegenheit völlig durcheinander. Ich bekam eine Matte zum schlafen, trug sie in eine Ecke und breitete sie aus. "Darf ich heute nacht auf deiner Matte schlafen?", fragte plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich um und erblickte Belosa, eine der jungen Frauen, neben mir. Ich stotterte irgendetwas. "Wenn du mich nicht bei dir schlafen läßt", sagte sie, "muß ich auf dem harten Boden schlafen, denn alle anderen Matten sind belegt." Ich schaute mich um und sah auf jeder Matte einen Jungen und ein Mädchen. "Darf ich?", flüsterte sie. Ihr Bitten hatte etwas schelmisches. "Ja, ich... äh, ja" stotterte ich. Belosa kniete sich auf die Matte und begann meine Schultern zu massieren. "Lehn dich zurück". Ich spürte ihre nackten Brüste an meinem Rücken. Dann massierte sie meine Brust und summte leise ein Lied, das nur ich hören konnte. Wir legten uns in der Dunkelheit
- 148 -
auf die Matte, unsere Gesichter einander zugewandt. Ich bewegte mich nicht, aber Belosa ergriff meinen Arm, schmiegte ihren Kopf in meine Achselhöhle und drückte ihn an meine Brust. Ihre freie Hand legte sie auf meinen Bauch. Mein Glied war schon so lange steif gewesen, daß es zu schmerzen begann, aber ich lag da, als ob ich gelähmt wäre. Sie legte meine Hand auf ihre Brust. Ich wünschte so sehr ihre Brüste zu streicheln, daß ich es kaum aushalten konnte, aber so sehr ich den Willen hatte, sie zu bewegen, meine Hand blieb dort, wo sie sie hingelegt hatte. Belosa glitt mit ihrer Hand über meine Seite, meine Hüfte und soweit an meine Schenkel hinunter, wie sie reichen konnte. Sie zog mein Lendentuch hoch, strich darüber, ergriff mein Glied und fühlte eine Minute lang seine Härte. Dann öffnete mein Tuch, befreite mein aufspringendes Glied und streichelte es zärtlich mit ihrer weichen Hand. Belosa legte sich zurück auf ihren Rücken. Mit einer Hand packte sie mein Glied, mit der anderen führte sie meine Hände über ihre Brüste und hinunter über ihren weichen Bauch, vorbei am Nabel, tiefer und tiefer. Meine Hand stieß plötzlich an ihr Schamhaar. Irgendwie hatte sie sich von ihrem Lendentuch befreit. Sie drückte meine Hand fest gegen ihr zartes, weiches Fleisch und drängte mich, ihren süßen Hügel eine Weile zu reiben. Dann zog sie mich über sich, bis ich zwischen ihren Schenkeln zu knien kam und gierig mein Glied an ihre weichlippige Öffnung führte. Mit meinem angestauten Verlangen stieß ich hart hinein und sie gab einen kleinen, eher schmerzhaften Seufzer von sich. Ich begann mich in ungeschickten Stößen zu bewegen, wobei ich so weit ausholte, daß mein Glied nach drei, vier Stößen schon wieder aus ihr heraus rutschte. Sie mußte es in die Hand nehmen und wieder hineinstecken. Ich begann von neuem zu stoßen, aber ohne eine Warnung überkam mich abermals dieses vollkommene Wohlgefühl, so daß ich wieder zu weit zurückwich. Mein Glied sprang heraus und ich spritzte auf sie. Während mein Samen heraustropfte sank ich auf ihren Körper. Ich lag einfach da bis sie uns mit einem Tuch trocken rieb. Dann schmiegten wir uns eng und fest aneinander. Ich hatte tatsächlich eine Frau in meinen Armen, genauso wie ich es so viele Male geträumt hatte. In meinen Vorstellungen war ein Frauenkörper immer etwas fantastisches und überwältigendes
- 149 -
gewesen, als ob das Berühren der Brüste oder der Vagina für immer meine Hand beflecken müßte. Aber all dies hier war so einfach und natürlich gewesen. Am nächsten Morgen ging ich noch vor der Dämmerung mit den Anderen hinaus auf das Feld zur Arbeit. Ich hielt mich zurück und dachte über die vergangene Nacht nach. Ich hatte wirklich mit einer Frau geschlafen und alles war so anders gewesen als ich es erwartet hatte. Nach der nachmittäglichen Ruhepause brachte mich Sirdar zu einem stillen schattigen Ort am Flußufer. Er bedeutete mir, zu warten, und entfernte sich wieder. Ich nahm an, er würde Netze zum Fischen holen und war völlig überrascht als Belosa die Lichtung betrat. Ich stand da wie ein Schaf und sie kam zu mir, nahm meine Hände und drückte sie. "Ich grüße dich, mein Bruder", sagte sie mit ihrer weichen Stimme. "Und ich grüße dich" erwiderte ich. Als sie mich umarmte, richtete sich wieder mein Glied auf. Wortlos entledigten wir uns unserer Lendentücher. Sie forderte mich auf, mit Zunge und Mund an ihrer Brust zu spielen und die Innenseiten ihrer Schenkel zu streicheln. "Zuerst mit dem Rücken deiner Hand. Nur ganz leicht berühren, dann mit den Fingern und der Innenfläche der Hand etwas fester. Und jetzt meinen Liebeshügel. Denk daran, jede Frau ist anders. Du mußt es solange machen bis sich das Fleisch in deiner Hand auflöst. Zärtlich und voller Gefühl." Ihre süße Wölbung wurde weicher und weicher. Ich fragte: "Jetzt?". "Nein, noch nicht, du wirst es merken." Ich machte weiter, während mein Glied vor Härte pulsierte. Ich fühlte ihr Fleisch unter meiner Liebkosung heiß und feucht werden, weich und widerstandslos. "Jetzt?" fragte ich. "Umm..." sagte sie. Ihr Kopf war zurückgeworfen, ihre Augen geschlossen und ihre Zähne gruben sich in meine Unterlippe. Ich legte mich zwischen ihre Beine, ihre Hand führte mich und mein Glied glitt leicht in sie hinein. Ich war jetzt kurz in der Lage einen regelmäßigen Rhythmus einzuhalten, aber ich war so erregt, daß ich bereits nach ein oder zwei Minuten kam. Bis zum Abend half ich auf den Feldern. Auf dem Rückweg zum Ghotul legte Sirdar seinen Arm um meine Schulter und wir redeten und lachten voller Freude am Leben. Am nächsten Tag erklärte mir Sirdar Belosas Verhalten und die Regeln des Ghotuls. Das Ghotul
- 150 -
gehörte ausschließlich den jungen unverheirateten Leuten. Keinem Erwachsenen war es erlaubt, es zu betreten und die Mitglieder durften niemanden außerhalb erzählen, was in ihm vorging. Jedes Mitglied hatte seine Pflichten und die älteren hatten die Aufgabe die Arbeit zu überwachen und vor allem darauf zu achten, daß alle glücklich sind. Glück war das eigentliche Ziel des Ghotuls. Wenn eine Person unglücklich war, dann war es die Verpflichtung der anderen sich deren Problemen zu widmen. Das Ghotul gab den Leuten all das, nach dem es sie verlangte: Freundschaft, Wärme, Zuneigung, Spiele, die Liebe aller anderen jungen Menschen und natürlich Sex. Da es das Ziel war, alle glücklich zu machen, war es Brauch, einem Paar nicht zu erlauben, länger als drei Nächte miteinander zu schlafen. Die feste Bindung zwischen zwei Menschen würde zu Eifersucht führen und im Ghotul sollten alle zueinander liebevoll sein und sich miteinander verbunden fühlen. Zudem hatten die besser aussehenden und beliebteren Jungen und Mädchen die Neigung sich zusammen zu tun. Doch das Ghotul kümmerte sich um alle, auch um die Schüchternen und scheinbar Unattraktiven. Es begann eine Zeit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Früh gingen wir morgens auf die Felder, wo die Arbeit unter Scherzen und Lachen verrichtet wurde. Am Abend, wenn wir angenehm müde waren, begannen wir zu feiern. Bald lernte ich wie die anderen Jungen ohne Umschweife Mädchen zu berühren. Das Liebesspiel war immer leidenschaftlich, obwohl jedes Mädchen verschieden war. Ich gewöhnte mich dran, nur einige Nächte nacheinander mit dem selben Mädchen zu schlafen und dann eine neue Partnerin zu finden. Aber eines der zwanzig Mädchen im Ghotul beunruhigte mich. Sie war nicht eigentlich dick, hatte aber sehr breite Hüften und sah plump aus. Ihre Stimme, laut und blechern, ging mir auf die Nerven. Ich hatte keinerlei Interesse an ihr und versuchte ihr aus dem Weg zu gehen. Doch eines Nachts sah ich, wie sie mich während der Tänze anschaute, und ich befürchtete, daß wir an der Reihe waren, miteinander zu schlafen. Ich sprach mit einigen anderen, die es mir bestätigten. Aber ich widersetzte mich und sagte: "Ich werde nicht mit Tana schlafen." Sirdar packte mich plötzlich am Arm und fragte mich: "Findest du sie nicht attraktiv?" Ich antwortete: "Ich finde sie
- 151 -
abstoßend." Sirdars Gesichtszüge spannten sich und wurden hart: "Du wirst mit Tana schlafen und du wirst dir Mühe geben oder du wirst das Ghotul verlassen. Jeder Idiot kann zu einem Mädchen, daß er attraktiv findet, nett sein. Aber ein Ghotul-Mitglied macht all seine Partner und Partnerinnen glücklich. Hast du verstanden? Denk daran, daß vielleicht auch nicht alle Mädchen scharf darauf sind, mit dir zu schlafen." Ich war über den Ton seiner Stimme verblüfft. Er war bis zu diesem Zeitpunkt immer so nachsichtig und freundlich gewesen. "Schon gut", sagte ich, "Schon gut, ich werde mich darauf einlassen…". Als Tana zu mir kam, hieß ich sie willkommen und versuchte meine Lustlosigkeit und Unaufrichtigkeit zu verbergen. Sie bewegte sich unruhig in meinen Armen und widerstrebend begann ich, sie zu streicheln. Langsam entspannte sie sich und zwang mich mehr Leidenschaft zu zeigen als ich fühlte. Dann, als ihre Haut unter meinen Händen wärmer wurde, begann ich den sauberen und süßen Geruch ihres Körpers zu bemerken. Er war wie herbes und erregendes Parfüm. Ihr Geruch stieg mir zu Kopf. Ich wurde immer erregter und leidenschaftlicher, bis ich sie biß und in sie glitt. Ich fühlte jeden einzelnen Zentimeter ihres Körpers und genoß ein grenzenloses Wohlgefühl. Ein weiteres Mal erwachte ich in dieser Nacht und roch ihren angenehmen Körperdunst, wurde erregt und streichelte sie solange bis sie aufwachte und sich öffnete. Während die Zeit im Ghotul verging und ich mit jedem Mädchen geschlafen hatte, wurde mir klar, wie zufällig und unbedeutend die äußere Erscheinung war. Wenn ich mit jemand ins Bett ging wurden andere Dinge wichtiger - Berührungen, Gerüche, Leidenschaften. Die ganze Zeit über verdrängte ich den Gedanken, das Ghotul wieder verlassen zu müssen. Dann kam eines Tages ein Junge auf mich zugelaufen "Die Polizei ist im Dorf" rief er, "Sie suchen zwei weiße Kinder". Sofort überfiel mich ein Gefühl der Angst, wie ich es schon fast vergessen hatte. Was wäre wenn meine Eltern erfahren würden, was ich alles getan hatte! Ich rannte über die offenen Felder bis zu den schützenden Büschen am Flußufer. Bald sah ich ein älteres Mädchen mit meiner Schwester aus einem anderen Ghotul auf mich zukommen. "Was wird Mutter sagen? Und erst Vater?"
- 152 -
schluchzte sie . Als wir zwei Polizisten sahen, liefen wir weiter weg. Wir rannten und rannten. Wir fielen, rafften uns wieder auf und rannten weiter. Wir konnten die Polizei abschütteln, aber später erreichten wir eine Eisenbahnstation von der aus unsere Eltern benachrichtigt wurden. Ich hatte furchtbare Angst, meine Eltern könnten herausfinden, was in dem Ghotul vorgegangen war, aber sie stellten nur wenige Fragen. Ich erfuhr nie, ob sie etwas wußten oder vermuteten. Ich versuchte nicht, meinen Vater mit dem gelernten Gondi zu beeindrucken, aber wenn ich es sprach, bekam sein Gesicht einen angestrengten und abweisenden Ausdruck, so daß ich sofort aufhörte. Nach zwei Wochen brachte mich ein Schiff in die USA, wo ich in einem christlichen Internat untergebracht wurde. Dort lebte ich dann und lernte die üblichen Dinge: den Lehrern und Vorgesetzten genehm sein, Vorteile wahren, lügen um weiterzukommen - und lange Nächte einsam wachliegen, mit einem steifen Glied und einem Gebet zu Gott, damit er mir die Kraft gebe, daß ich mich nicht berühre. Wenn ich an diese kalten grauen Steinhäuser denke und an die verbitterten Lehrer, an die Zeiten, in denen ich mich vor Einsamkeit und Frustration in den Schlaf weinte, während zur gleichen Zeit im Ghotul ein völlig anderes Leben gelebt wurde, dann werde ich so unfaßbar wütend. Sicherlich, meine Eltern wollten nur das Beste für mich. Sie kannten es nicht anders. Lovechild Literatur: Verrier Elwin / The Murias and their Ghotul. (University Press). Oxford, 1947.
- 153 -
• HIGH-FISH KOMMUNE • BERÜHRUNGEN An einem Freitagabend ergab es sich, daß Minou, Pascal und Simon alleine in der Kommune waren. Minou lag in der Mitte des Raumes und fragte Pascal, ob er sich nicht zu ihr legen wolle, was er dann auch tat. Die beiden berührten sich zärtlich, als wären sie verliebt. Als Minou sah, daß Simon in einer Ecke saß und ihnen zuschaute, forderte sie ihn auf mitzumachen und legte ihren Kopf auf seinen Bauch. Eine Zeitlang lagen die drei still da, die Hände ineinander verschränkt und genossen es, so eng beieinander zu sein. Da unterbrach sie die Türklingel. Vanesa, eine Freundin Minous, kam mit einigen Bekannten herein und setzte sich zu ihr. Die beiden Frauen hatten sich länger nicht mehr gesehen und umarmten sich innig. Marco, einer der neu Hinzugekommenen, setzte sich ebenfalls dazu, und die fünf begannen sich über die Umarmungen hinaus zu berühren und langsam gegenseitig auszuziehen. Pascal und Minou waren schließlich ganz nackt. Die übrigen drei hatten noch ihre Hosen an. Sie lagen sie halb übereinander, halb nebeneinander, bildeten aus ihren Händen einen riesigen Knoten, streichelten sich gegenseitig ihre Brustwarzen und steigerten sich in eine immer größer werdende Erregung hinein. Inzwischen jedoch, die fünf hatten es fast nicht bemerkt, waren immer mehr Leute in den Raum gekommen und hatten sich in einem großen Halbkreis um die fünf Liebenden gesetzt. Auf kleinen Handtrommeln schlugen sie einen ruhigen Rhythmus und sahen dabei dem Schauspiel zu. Während Pascal nun seine Hand zwischen Minous Beine geschoben hatte, und seine Finger mit ihrer Scham spielten, lag sie halb über ihrer Freundin und ließ ihre Haare immer wieder auf deren Brustwarzen kreisen. Marco, der sonst sehr schüchtern war, verlor seine Hemmungen und streichelte mit der einen Hand den Rücken von Vanesa, mit der anderen den von Pascal. Simon lag fast unter den Dreien und hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. Es gefiel ihm, daß seine Hände immer irgendwohin faßten, ohne daß er genau wußte, zu wem der jeweilige Körperteil gehörte. Er spürte, daß es ihm vollkommen egal war, wen er gerade anfaßte, es kam ihm nur darauf an, dieses Gefühl zu genießen. Ihm wurde klar, daß er zu zweit mit einer Partnerin noch nie so bewußt ihre Haut berührt hatte,
- 154 -
da er dabei viel zu selten locker war. Als eine Brust in die Nähe seines Mundes kam, nahm er sie in den Mund, ohne darauf zu achten, zu wem sie gehörte, und konzentrierte sich nur auf das Empfinden, das er hatte, wenn seine Zunge mit der Brustwarze spielte. Obwohl sie nicht richtig zusammen geschlafen hatten, fühlten sich die fünf zufrieden und ermattet, als sie endlich genug hatten und zusammen ins Bad gingen. Sie duschten sich gegenseitig ab und freuten sich an dem Erlebten. Sie empfanden es als ein Spiel, bei dem sie einfach nur Beziehungen zwischen ihren Körpern hergestellt hatten, wobei es darauf ankam, daß jeder möglichst viel für sich daraus machte. Von da an dachte sich die Gruppe häufiger Spiele aus, die ihnen erlaubten, auch körperlichen Kontakt mit den anderen zu bekommen. Immer wieder war an den Abenden davon gesprochen worden, zu mehreren nackt zum Sonnenaufgang im Wald herumzulaufen. Nachdem der Plan lange daran scheiterte, daß die KommuneMitglieder es einfach nicht schafften gemeinsam morgens um fünf aufzustehen, gelang er dann doch an einem heißen Sommertag. Um halb fünf weckte Micha die ganze Gemeinschaft und sie fuhren, noch sehr verschlafen, mit vier Autos durch die menschenleere Stadt in die Natur hinaus. Etwa nach einer halben Stunde bogen sie in einen Feldweg ein und kamen an einem Laubwald, der durch den Nebel, der über dem Boden lag, gespenstisch aussah. Die Stille, die über der morgendlichen Landschaft lag, und das traumhafte Bild, das sich ihnen bot, gab der Gruppe das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Chris schlug vor, so zu tun, als wären sie die ersten Menschen. Minou begann sich als erste auszuziehen, und die anderen folgten schnell ihrem Beispiel. Nackt liefen sie in den Wald, wirbelten mit ihren bloßen Füßen das Laub auf oder ließen ihre Körper auf die Blätter fallen, die kühl und weich waren. Micha kletterte auf einen Baum und wippte mit dessen Gipfel hin und her, wobei er Freudenlaute ausstieß. Dominique, Simon und Pascal liefen durch eine halbhohe Tannenanpflanzung um die Wette und genossen das Prickeln der Äste auf ihrer Haut. Chris, der am Vortag Taucheraufnahmen gemacht hatte, hatte die Geräte noch in seinem Kofferraum und verteilte sie an seine FreundInnen. Mit den Tauchgeräten auf dem Rücken taten sie so, als bewegten sie sich auf
- 155 -
dem Grund des Ozeans. Sie spielten, daß sie auf dem Meeresboden lebten, weil auf der Erde die Luft so schlecht sei und die Mieten so teuer. Dann wieder taten sie so, als wären sie eben von einem anderen Planeten kommend gelandet und die Erde wäre ihr Schrebergarten in dem sie nachsehen mußten, was aus dem Angepflanzten geworden war. Als die Sonne grellrot hinter den Bäumen aufging und der Nebel ihre Strahlen sichtbar machte, wurden sie immer stiller und schauten in das Licht. Sie setzten sich eng nebeneinander in eine Reihe und beobachteten wortlos wie der Wald allmählich zu leben anfing und der Nebel sich in Tautropfen auf die Gräser setzte. Sie dachten an Völker, die die Sonne anbeteten und konnten sie in diesem Moment gut verstehen. Und wieder berührten sie sich und spürten wie die Beziehung zwischen ihnen immer enger wurde. High-Fish-Kommune
- 156 -
• MA DEVA PYARI • DIE LIEBE HAT GESIEGT SEX, BEZIEHUNG UND KOMMUNE "Sie sind schon fast fertig zum Aufbruch.", erklärte er mir. Dann sagte er abrupt: "Warte." Er ging zu seinen Freunden und sprach kurz mit ihnen. Dann kam er zu mir und sagte: "Okay. Geh'n wir!" Ich erklärte den Anderen, wo sie uns finden könnten, falls er doch länger bei mir blieb. "Ich bin gleich wieder da.", sagte er trotzdem zu ihnen. Bei uns saßen viele Leute herum, tranken Kaffee oder Tee und rauchten. Er saß auf einem Stuhl. Langsam kam ich näher und näher, bis schließlich der Kopf auf seinem Schoß ruhte. Ich streichelte ihm den Rücken und spürte die Energie, die aus der Hand strömte, mit der er mich berührte. So viel Hitze! Der ganze Körper wurde heiß: die Muschi, die Brüste, die Beine... Sehr unsicher, mit schwacher Stimme fragte ich ihn, ob er sich mit mir ins Auto legen wolle, da mir die Beine schmerzten... "Hey, klar, warum hast du das nicht gleich gesagt?" antwortete er. Wir legten uns im Bus hin, ich auf ihm. Wir waren beide glücklich, ungestört einander so nahe zu sein. "Ich nenne dich den 'Meditations-Mann'", sagte ich. "Warum? Wir haben doch erst einmal zusammen meditiert!" "Zweimal", sagte ich. "Und wenn du mich liebst, gehst du doch auch jedesmal über das Denken, den Verstand hinaus, nicht wahr?" "Ja!" "Genau das ist Meditation! Dann kann die Liebe wirklich zu uns kommen. Und darum ist das mit uns beiden so schon!" Erneut völlig unsicher, fragte ich ihn, ob er gerne mit mir ins Zelt gehen würde. Er sagte ja und suchte nach Wasser, um sich die Füße zu waschen. "Sie stinken furchtbar", sagte er. Dann wusch ich seine Hände, und wir gingen hinein. Mit völlig verlorenem Blick umarmte er mich und er erschie n mir wie eine Vision, schön und liebenswert. Ich fragte: "Was denkst du?" "Ob ich loslassen sollte..." "Natürlich!!!" sagte ich. "Warum denn nicht?" "Meine Freunde kommen bald." "Wenn sie kommen, hören wir auf. Sie wissen doch, wo du bist..." Er schaute mich an, und wir küßten uns, genossen die Münder, die Zungen, den Geruch, die Berührung, das Gefühl der Hände auf der Haut des anderen. Die Luft war erfüllt von Liebe und Freude, die
- 157 -
Hitze nahm zu, seine Hände bewegten sich überallhin, wir gaben uns völlig hin... Ich zog mich aus... Und wieder tauchten wir in diesen Ozean der Freude, Liebe und Intimität... Er bewegte sich mit einer solchen Bewußtheit, genau wie man es machen muß, um mit der kosmischen Energie in Kontakt zu kommen, von der ich ihm erzählt hatte... Er erlebte mehr Freude mit mir als je zuvor. Es machte mich froh, daß die rosa Flammen, die ich ein paar Monate hindurch für ihn visualisiert hatte, offenbar die Blockaden in ihm aufgelöst hatten! Er hatte mir erlaubt, an ihm zu arbeiten, und das hatte ich getan. Ich wollte mich nicht, wie zuvor, jedesmal schlecht fühlen, wenn ich an ihn dachte... Ja, wegen all der Probleme, die er mit sich herumschleppt - Vorurteile und Konditionierungen -, machte es mich traurig, all diese Negativität anhören zu müssen, die sich aus ihm ergoß, wenn ich ihn wieder einmal zu mir einlud! Ich wollte der Liebe eine Chance geben und einen Freiraum schaffen, in dem sie sich ereignen konnte. Wenn ich also an ihn dachte, imaginierte ich ihn umgeben von den rosa Flammen der Liebe. Auch stellte ich mir vor, daß die Liebe alles verbrennen würde, was aus dem Ego kam, und all das verstärken würde, das wert war, von zwei Mutanten wie uns gelebt zu werden. Er steht immer noch mit einem Bein in der Gesellschaft, aber die Seele ist bereits draußen, und durch diese schöne Liebe, die zwischen uns blüht, kann ich ihn vorwärtsschieben. Einmal masturbierte ich und stellte mir dabei vor, wie ich gerne beim nächsten Mal von ihm geliebt werden wollte, und das genügte, um mich für Wochen zu befriedigen! Es war so intensiv, als ob es tatsächlich geschehen wäre. Gleichzeitig zeigte es mir, wie ich mich noch mehr für diese Liebe öffnen konnte! Ich möchte das Leben in seiner Totalität annehmen! Ich weiß, daß diese Liebe ein großer Sieg der Erde über die Gesellschaft sein wird, wenn ich geduldig sein kann und mich nicht an egoistische Wünsche klammere! Dieses Gefühl erfüllte mich in dem Zelt: Die Liebe hat gesiegt! Er war ruhig und langsam wie ein echter Tantriker, bewegte sich mit meinem Körper, fand alle Stellen der Freude darauf, genoß die Laute, die aus mir herauskamen, genoß die Augen, die ihn ekstatisch anschauten, und drückte mit seinem Körper den Zustand des Nicht-
- 158 -
Denkens aus, in den Liebende geraten, wenn sie bei der Vereinigung wirklich leer sind! "Gefällt es dir?" fragte ich und störte dadurch den Energiefluß aus Verunsicherung, weil er so ruhig und gelassen war, wie ich ihn noch nie erlebt hatte... "Wie kann er das wissen?" dachte ich und vergaß, daß ich selbst ihm beigebracht hatte, wie er für die tantrische Art des Sex entspannt bleiben konnte, an einem Winternachmittag, als wir gemeinsam durch den Park spazierten... "Wenn es dir gefällt, gefällt es mir auch", antwortete er. Und dann mußte ich selbst mich abkühlen und entspannen, als die Agonie eines Orgasmus in mir aufstieg. "Nichts übereilen, Pyari", sagte ich zu mir selbst, "wenn der Orgasmus jetzt schon kommt, wird es vorbei sein. Genieße es! So wie es geschieht, ohne Hast!" Ich weiß, daß er immer aufhört, nachdem ich den ersten Orgasmus erreicht habe. Ich weiß nicht, warum. Ich muß ihn fragen! Und ich entspannte mich, öffnete die Beine noch mehr, erlaubte es seinem Fingern noch tiefer in mich hineinzukommen und spürte, wie die ganze weibliche Energie in mir sich weiter öffnete und sich ausdehnte!!! Weitere Blockaden lösten sich, und ich fragte mich, ob ich überhaupt noch irgend etwas zurückhielt! Vielleicht ist der Prozeß der Liebe so stark, daß man jedesmal, wenn man sich ihr ganz hingibt, einen Schritt nach vorn macht! Und ich begann, an seinem Brustwarzen zu saugen, was er, wie ich weiß, wirklich mag. Wir vergaßen Welt und Zeit, tauchten tiefer in die Freude ein. Auch er berührte mir die Brustwarzen und die Klitoris und die Vagina, und war wie ich überwältigt von dieser Freude. Als der Orgasmus für mich kam, war es jene Explosion, die den Körper verschwinden läßt und uns in reine Energie verwandelt. Ich schwitzte, nackt in seinen Armen, wir waren beinahe eins, umarmt und verloren. "Jetzt bist du glücklich, strahlst über das ganze Gesicht", sagte er liebevoll und schaute mich zufrieden an. Ich schämte mich ein wenig, das ich so viel Wonne empfand, und erkannte, wie wenig es wir uns immer noch gestatten, uns gut zu fühlen... Als wir aus dem Zelt gingen, leuchtete die Welt im Sonnenlicht, und die Freunde waren da, um ihn abzuholen... Bald war er verschwunden, und die Ekstase hielt bei mir den ganzen Tag an. Ich tanzte und verbreitete überall die Energie der Liebe...
- 159 -
Ich habe ihn gerade angerufen, ganz berauscht von dieser Geschichte, die ich da gerade aufgeschrieben habe. Wir lachten, und er erklärte mir, warum er nicht angerufen hat. Es war das erste Mal, daß wir nach der Begegnung auf dem Voov-Festival miteinander sprachen. Ich lud ihn nach Österreich ein, wohin ich als nächstes fahren werde, und sagte ihm, ich hätte Angst, daß wir uns nicht mehr treffen würden... "Du weißt doch, wie das mit uns ist, Pyari. Wir treffen uns immer!" "Ich bin froh, das zu hören", antwortete ich, "aber ich weiß, daß das Leben nicht so ist. Manchmal sagen wir wirklich Lebewohl und sehen einander niemals wieder. Dann müssen wir loslassen, so wie wir eines Tages auch den Körper loslassen müssen...!" Vielleicht kommt er mich heute noch besuchen! Und ich bin glücklich, daß die Liebe Blockaden, Konditionie rungen, Ängste und Beziehungen überwunden hat... Ich frage mich, wie ich eine Kommune organisieren kann, wo die Leute eine solche Alternative wirklich leben können, ohne die Angst vor dem Alleinsein, und frei von den Neurosen, die die familiäre Lebensstruktur in uns züchtet. Ja, in einer Kommune genießen alle das Alleinsein und teilen nur dann das Bett mit jemandem, wenn die Liebe sie erwischt. Keine Notwendigkeit, Geschichten zu erfinden, wenn jemand verliebt ist, kein Bedarf an falscher Romantik und an Märchen darüber, daß man sich angeblich schon in früheren Leben begegnet ist. Und immer gibt es genug Raum, sich zurückzuziehen, um allein zu sein und das Nichts zu erkunden. Manchmal kann es Platzprobleme geben, so daß nicht jedes Kommunemitglied ein Zimmer für sich allein hat. Aber mit Hilfe von Vorhängen, Trennwänden und kreativen Einfällen kann man immer erreichen, daß allen der Respekt und die Würde des Individuums zuteil wird. Und alle sind frei zu schlafen, wie und mit wem sie wollen. Um die Kinder kümmert sich die ganze Kommune gemeinsam. Sie gehören nicht dem Vater oder der Mutter, sondern haben die Möglichkeit, Einflüsse von allen Angehörigen der Gemeinschaft aufzunehmen. Sie können schlafen, wo sie wollen, und es steht ihnen ein gemeinsamer Schlafraum zur Verfügung, bis sie ihren eigenen Schlafplatz wünschen. Dadurch werden alle elterlichen Projektionen vermieden, so daß viel gesündere Menschen heranwachsen werden. Kinder werden ebenso respektiert wie die Erwachsenen, und man wird es nicht dulden, daß ihnen irgendwelche Ideen von außen aufgezwungen werden. Sie sollten dazu ermutigt werden, ihr
- 160 -
persönliches Potential zu entfalten, statt ihnen Vorschriften zu machen, was sie tun und wie sie es tun sollen. Sie werden als Neuankömmlinge auf der Erde betrachtet werden, die daher noch in besonders engem Kontakt zur Wahrheit stehen. Erwachsene sollten von den Kindern lernen, statt sie zu belehren. Wenn es an der Zeit ist, die intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln, werden Lehrer ihnen dabei helfen, sich Wissen aus Bibliotheken zu beschaffen. Doch diese Lehrer werden auf keinen Fall ermächtigt sein, die Kinder in irgendeiner Weise zu unterdrücken. Die Kinder werden selbst Versammlungen organisieren, auf denen sie allein entscheiden, wie sie ihre Probleme lösen. Das Geld wird von der Kommune gemeinsam erwirtschaftet und verteilt, und es wird auf diese Weise für die Bedürfnisse aller gesorgt. Privater Besitz sollte nicht gefördert, aber auch nicht verboten werden. Die Menschen werden die Freiheit haben, selbst zu dem Schluß zu gelangen, daß sie nur wenig persönlichen Besitz wirklich benötigem. Natürlich kann das nur funktionieren, wenn alle in die Geheimnisse der Meditation eingeweiht sind und begreifen, daß das Leben ein Geheimnis ist, das gelebt werden will, und kein Problem, das gelöst werden muß. Durch den Kommunismus habe ich die Idee der Kommune kennengelernt und erkannt, welchem Motiv die Institution der Familie ihre Existenz verdankt: der Gier! Und wenn man die Menschen in den Fesseln des Familienlebens festhält, stellt man sicher, daß sie kalt und tot bleiben. Dann gibt es keine Revolution, dann fehlt die Kraft zum Widerstand! Wenn ein Mensch befriedigt ist, sexuell befriedigt, und frei, zu lieben und in anderen Strukturen als den familiären zusammenzuleben, sagt er spontan nein, wenn er etwas innerlich ablehnt. Niemand kann ein solches Individuum in Ketten halten. Eine Welt von unabhängig voneinander funktionierenden Kommunen aus freien, ein meditatives Leben führenden Individuen kann sich zur totale n Freiheit fortentwickeln. Die Revolution wird nicht mehr mit Gewehren erkämpft oder von starken Staaten, die sich gegeneinander schützen. Die Revolution ist heute etwas Individuelles. Der einzelne Mensch ist frei und entscheidet von Moment zu Moment neu, ob er mit anderen Menschen zusammensein oder alleinsein möchte, ob er lieben oder andere wichtige Dinge tun möchte. Diese Freiheit wird die Veränderung
- 161 -
herbeiführen, die der Planet so dringend braucht. Ma Deva Pyari aus dem Buch: Ma Deva Pyari / Tantrisches Leben - Erhältlich für 16,80 direkt bei Pyari -
- 162 -
• WEARE • WIR LIEBEN Dein Kopf befindet sich genau vor meiner Öffnung und ich spüre Deinen aufgeregten Atem. Ich schließe die Augen. Ein kribelnder Schauer läuft mir über den Rücken. Als ich sie wieder öffne, sehe ich eine Hand die mir ein Buch entgegen hält. Ich soll Euch daraus vorlesen. Während ich Deine Zunge an meiner Clit spüre, schlage ich die erste Seite auf. Dein Zungenschlag wird fester und fordernder, bald spüre ich Deinen ganzen Mund an mir. Saugend und lutschend. Gleichzeitig streichelt mich eine Hand über den Rücken. Mal zärtlich, mal eher angenehm schmerzhaft. Es bereitet Euch immer wieder ein ganz besonderes Vergnügen mich aus der Fassung zu bringen. Ich weiß das ich noch lange nicht an der Reihe bin und dies eine der längsten Nächte meines Lebens wird. Ihr werdet mich bis zur Ekstase reizen und Euch unendlich viel Zeit dafür lassen. Es ist nicht entscheidend miteinander zu schlafen. Das Ziel liegt darin, sich aufzulösen. Ihr wollt mich fließen sehen, ohne die Quelle versiegen zu lassen. Deine Zunge dringt tief in meine Öfnung und mit zitternder Stimme lese ich uns die Geschichten vor: "Auf dem Tablett war ein Glas Honig, verschiedene Marmeladen, Schokocreme, ein Teller mit Obststücken und eine Sprühdose Sahne. Maiga forderte Alan auf die Augen zu schließen und begann damit auf seine Augenlider Tupfer von Marmelade zu streichen, sowie die Stirn mit Schokocreme zu verzieren. Dann sollte Alan seinen Mund öffnen und Maiga steckte ihm ein Stück Orange hinein. Er mußte ihr versprechen das Stück nicht zu zerbeißen oder zu schlucken. Nun strich sie mit Apfelmarmelade über seine Lippen. Alan lag völlig bewegungslos und konzentrierte sich nur auf seine Empfindungen. Nun wurden auch die Brustwarzen mit verschiedenen Marmeladen eingerieben und der Bauchnabel bekam eine Kirsche. Dann nahm Maiga den Honig und legte eine Spur über beide Arme zum Hals. Als sie dann über die Brust tiefer ging, wurde diese Spur breiter und konnte sich so besser verteile n. Über den Bauch und den Nabel herum, dann über die Hüften zu seiner Mitte. Dort goß sie besonders viel, so daß der Honig über das Glied und die Hoden floß. Auch die Oberschenkel bekamen etwas ab. Danach sprühte Maiga eine Sahnekrone über den ganzen Körper und garnierte ihn noch mit einigen Fruchtstücken. Dann begann sie den Körper freizulecken, bis
- 163 -
auf das Orangenstück im Mund. Es mußte Alan eine enorme Überwindung gekostet haben nicht reinzubeißen. Er hatte gestöhnt, gezittert, sich gewunden, aber er hatte es nicht zerbissen..." "Er saugt an ihrem Nacken, und ich kann nicht mehr anders. Wie immer. Ich muß ihre Nippel in den Mund nehmen. Wieder ihr tiefes Stöhnen, als ich meine Zähne etwas stärker in die Brustwarze grabe, sauge, noch ein bißchen mehr beiß e. Seine Hände streichen über ihren Brustkorb, die Taille, Hüften, Hände, ein Stück auch über die Oberschenkel, und dann zurück, weiter nach hinten. Ich beiße ein bißchen stärker in ihren Nippel, lasse los, lecke zur anderen Brust, umfange nun diesen Nippe l erst mit den Lippen und sauge daran. Sie stöhnt leise. Wieder fasse ich die Brustwarze mit den Zähnen, vorsichtig. Ein tieferes Seufzen. Dann beiße ich stärker, fester - nun stöhnt sie so geil, wie ich es liebe..." "Tim stöhnte als ich seine Vorhaut weit zurück zog, damit sich seine Eichel völlig straffte. Auch er leckte vorsichtig über meine Eichelspitze und fing an meinen Po zu erforschen. Bald bohrte er einen Finger hinein, woraufhin mir ein geiler Schauer über den Rücken lief. Während Tim und ich in unser Spiel vertieft waren, hatte Iris einen Dildo aus ihrem Zimmer geholt und drang damit in Sahra ein, die nach vorn gebeugt am Tisch lehnte. Mir verlangte jetzt auch nach mehr als nur einen Finger von Tim und forderte dies lautstark. Tim rutsche unter mir raus und kniete sich hinter mich. Sofort spürte ich seine Eichelspitze an meinem Poloch, daß sich immer mehr weitete, je tiefer Tim eindrang. Es war soweit und es war wunderbar. Ich schaute dabei Sahra und Iris zu, die auch uns fasziniert beobachteten. Sahra kam nun auch mit dem Dildo zu Tim und sah ihm zu, wie er rhythmisch in mich eindrang. Iris kniete sich vor mich und küsste mich. Unsere Zungen spielten wild miteinander. Plötzlich merkte ich, wie Sahra mit dem Dildo in Tim eindrang, der laut aufstöhnte und immer schneller in mich eindrang. Bald konnte ich mich nicht mehr halten und kam voller Ekstase..." "Vorsichtig drücke ich auch meinen Zeigefinger ein bißchen in ihr hinteres Loch. Anfangs ist es sehr eng und sie wehrt sich auch ein bißchen, aber nach einigen Sekunden drängt sie sich mir entgegen, und ich kann mit ihr machen, was ich will. Das tue ich auch. Während Mark sie in den Mund fickt, stecke ich ihr Zeige- und Mittelfinger in den Arsch, und sie will mehr - gut - ich auch - ganz langsam, der Ringfinger. Nur die Fingerspitze anfangs, dann wieder
- 164 -
ein bißchen mehr - sie schreit fast - aber ich bin zärtlich genug - und sie genießt es - gibt nach - immer mehr - und nun ficken wir sie beide. Niemand berührt mich, aber ich werde immer geiler - ich spüre wie meine Fotze immer feuchter wird, sehe Marks Schwanz den Mund von Sissy ficken, spüre meine Finger in ihrem Arsch, und habe die ganze Zeit das Gefühl, daß das alles mir geschieht - ein Schwanz in meinem Arsch, einer zwischen meinen Lippen, trotzdem kann ich Sissy mit meinem eigenen Schwanz ficken - ich - als Frau aber - zählt das im Kopf? ..." Irgendwann lege ich das Buch zur Seite. Wir lösen uns immer mehr von der Realität. Immer weiter. Stöhnen alle. Schreien. Kommen fast gleichzeitig. Längst ist es egal, wer was mit wem tut. Wir lieben ... - Collage aus Stories von Kity, Peter Pan, Tiziane und Werner. -
- 165 -
• W. • WAHRNEHMEN Die völlige Hingabe. Das völlige Ausliefern. Das völlige Vertrauen. - Die Bedingungslosigkeit unserer Begegnungen. Und wieder die Gespräche über unsere Empfindungen. - Unsere Erfahrungen. - Unsere Phantasien. Die Zeit mit ihr genießen. - Die Nähe. Die Tiefe. - Das Gefühl. Die Verbindung. Die Gespräche. - Die Berührungen. Die Ekstase. Das Aufgehen. - Die Stille. Das Verständnis. Wieder Grenzen in uns überwinden. - Grenzen, die nicht unsere sind. Nicht immer ist es einfach. - Es gab Nächte in denen wir zu wenig miteinander sprachen. Als sie im Grunde gar nicht wollte was sie tat. - Ich dies nicht erkannte, nicht sensibel genug war. Es ist ein schmaler Pfad. Unklar wohin er letztlich führt. - Doch trotz aller Probleme. Trotz aller inneren Grenzen. Wir wollen es. Gleichberechtigt in unserer Unterschiedlichkeit. - Ihre Lust ist ein Geschenk. - Nur wenn sie genie ßt, kann auch ich wirklich genießen. Aufgehen in einer Realität in der es nur um Liebe und Ekstase geht. Um Lust, Hingabe und Verschmelzung. - In dieser Realität. - In unserer Realität. - Es gibt keine Grenzen zwischen uns. Liegen beeinander. In diesem dunklen Raum. - Nackt. - Genieße die Wärme. - Hände, die sich berühren. Streicheln über das Gesicht, über die Körper. - Langsam voller Zärtlichkeit. - Küssen uns. Während wir uns in die Augen schauen. - Eine eigene Welt. Momente, die vergessen helfen. Gleite immer tiefer. - Streife über ihre Bauch. - Die leicht geöffneten Beine. - Berühre ihre Klitoris. Ganz langsam. Gleichmäßig. - Während ich die Brust küsse. Meine Zähne in die Spitze beißen. - Spüre wie sie immer feuchter wird. - Ihr Atmen immer tiefer. - Berühre sie. - Bis. - Bis sie aufgeht. Die Hand umschließt den Stern. - Es sind magische Energien. Phantasien die zur Wirklichkeit werden. - Ritualhaft. - Wir küssen uns. Lange und intensiv. - Ihre Augen. - Schau mich an. - Ich spüre dich in mir. - Das Verschmelzen der Körper. - Körper, die zu einer
- 166 -
Einheit werden. Sie legt sich auf die Seite. Dann auf den Bauch. - Berührt mich. Will es. - Das wunderbare Gefühl als ich von hinten in sie eindringe. Und sie mich bittet immer tiefer zuzustoßen. - Nichts außer uns. Außer diesem Gefühl. - Spüre wie sich ihr Muskel zusammenzieht. Ihr Stöhnen. - Die Hände gefesselt. Weihwasser aus ihrer Öffnung lecken. - Ein Kreuz in ihr. Anal. Es gleichmäßig bewegen. - In diesen Moment aufgehen. Gleichzeitig in Erinnerung an all die Lügen der Kirche. - Sie stöhnt. Immer intensiver. Beschreibt später ihre Empfindungen als trancehaft. Der zerfließende Schmerz als sich ihre Fingernägel in meinen Rücken graben. Spuren hinterlasen. - Als sie mich mit dem Messer berührt. - Schmerz der zur Lust wird. - Schmerz der Lust ist. - Lecke das Blut, das auch aus ihrem Arm dringt. - Ein roter Streifen den sie damit auf ihre Backe zeichnet. - Rituale. - Begierde. - Die Zärtlichkeit der Ekstase. Ihr Finger dringt in mich ein. Sie massiert mich. Leckt mich. - Als wir uns danach küssen schmecke ich mich in ihrem Mund. Und ich genieße es. In der Hand ein Glas Sekt. In ihrer anderen ein Joint. - Sieht ihren zunehmend angespannteren Körper als Spiegelbild. - Während ich sie zwischen den Beinen küsse, mit meiner Zunge streichle. - Bis sich die Anspannung erneut ekstatisch löst. Ihr Kopf auf meiner Brust. - Streichle über ihr Haar. - So nah. Wir küssen uns. - Sich in einer Welt der Kälte gegenseitig wahrnehmen. - Wirklich wahrnehmen. Einen Raum, den wir uns geschaffen haben. - Eine Welt. Momente, die. W.
- 167 -
• EROTIKA • W/W-21.3 Ich rufe das Programm ab, starte es. Dann lege ich mich zu ihr auf den weichen Teppich. Wir sind allein... Sie faßt meine Hände - die Berührung ist heiß und vertraut, liebevoll und trotzdem erregend. Ich lasse mich zu ihr ziehen, unsere Lippen berühren sich, sie schmeckt wieder wie ein Hauch Erdbeeren, der Geschmack den ich so liebe. Weich und süß, warm und feucht, unsere Zungen treffen sich, ich lehne an ihr, alles an meinem Körper sehnt sich nach Berührungen. Ihre Arme gleiten um meine Hüften, mit einer streichelt sie meinen Rücken, bis zu den Schultern hinauf. Ich greife in die herrlichen Haare, halte sie fest und versinke in ihrem Mund. Ich spüre ihre festen Brüste auf meinen... ihre Hände streicheln von meinem Bauch aufwärts, zu den Rippen, knapp unter die Brüste - drängt sich dazwischen! Sie senkt ihren Kopf, küßt meine Brüste über dem Shirt, schiebt es langsam hoch und endlich - nimmt sie meine Nippel in ihren Mund. Spielt mit ihnen, saugt daran, beißt hinein. Sie sinkt auf die Knie, streichelt dabei Brustkorb und Bauch mit ihrer Zunge und schiebt gleichzeitig meine Hose und den samtigen, hellblauem Seidenslip über die Schenkel - es ist taghell, und dieses Bild wäre ein Kunstwerk - ich genieße es immer wieder. Ich streichle nun auch über ihren Kopf, die langen dunklen Haare fallen wie Wasser zurück auf ihre breiten Schultern, die kleinen Brüste - erregt - der schmale Brustkorb, eine enge Mitte, schmale Hüften. Ihr Hintern, klein und fest, wie der von Leichtathletinnen, muskulös aber wohlgeformt in seiner Zartheit - sie stöhnt ein bißchen, es ist eigentlich nur ein tiefes Atmen, und es geilt mich noch mehr auf. Samtweiche Haut, schmale Oberschenkel und ein kleines, dunkel behaartes Delta, scharf abgegrenzt zur übrigen Hautfläche. Sie sieht unwahrscheinlich schön aus. Sie legt ihr Gesicht zwischen meine Beine. Ihre Hände gleiten über meine Hüften zurück zu meine Pobacken, zieht sie etwas auseinander spielt mit meinem Loch, dringt etwas hinein. Ich genieße ihre Fingernägel. Nun drückt sie ihren Mund gegen mein Delta. Ganz fest. Sie bläst ihren heißen Atem auf meine Schamlippen. Ich beginne zu stöhnen. Immer lauter. Meine Muschi schreit nach ihrer Zunge.
- 168 -
Sie liegt auf der Seite. Ich kann ihre Muschi sehen. Sie ist ein bißchen geöffnet, es glänzt, feucht - nein, naß! Der Rand ist cremefarben, aber die Mitte ist dunkelrot. Ich drücke ihre Schenkel noch ein wenig mehr zur Seite, ihre Schamlippen klaffen weit auseinander, auch die inneren, mein Mund kommt näher, meine Lippen berührt die feuchte Scham. Sie stöhnt laut. Ich will mehr - sie schmeckt gut, würzig und süß - und ... Meine Zunge dringt zwischen den weichen Schamlippen in ihre Muschi. Ich atme ihren Geruch wie Honig? Wie scharfer Honig! - Es ist unbeschreiblich - weich, heiß, nass, und jedemeiner Bewegungen wird mit ihren Muskeln beantwortet. Es scheint als würde sich meine Geilheit auf sie übertragen. Nun schiebt sie auch ihre Zunge in mich hinein, soweit sie kann. Reglos genieße ich jeden Millimeter den sie tiefer eindringt. Nun berührt ihre Zunge meinen Kitzler. Sie streichelt ihn, spielt mit ihm, knabbert an ihm, beißt liebevoll hinein. Mit ihren Händen hält sie meine Brüste. Dann schiebt sie sie weiter nach oben. Während sie mich mit ihrer Zunge leckt, berührt sie nun meine Brüste, massiert sie, drückt die Nippel, krallt sich hinein. Sie drückt meine Spitzen, ich stöhne laut auf vor Erregung. Immer wieder berührt sie meinen Kitzler, es wird heißer, mein Körper ist voller Ekstase, ich verliere die Kontrolle. Sie leckt mich. Ihre Hände überall an meinem Körper am Bauch, an den Brüsten, am Hintern. Ihr Mund umschließt meine Muschi. Mein Körper verkrampft. Ich zucke, bebe. Ich komme so wunderbar. Ja, jetzt! Und noch immer küßt sie mich. Noch lange liegen wir zusammen. Ich genieße erschöpft ihre Wärme, die Lippen die meine berühren, ihre Hände, die mich streicheln. Ich blicke auf die Uhr, es ist Zeit zu gehen. Unwillig erhebe ich mich. Gebe den Aus-Befehl. Und sie lößt sich auf. Das Hologramm verschwindet - bis zum nächsten Mal. Erotika - basierend auf einer Story von Kitty -
- 169 -
• RITUAL UND ERFAHRUNG •
- 170 -
• LUISA FRANCIA • DAS EIGENE LIED FINDEN Wenn es dir gelingt, einmal völlige Stille herzustellen - möglich ist das im Gebirge, und wundervoll ist es in der Wüste -, wirst du jeden Ton wie einen Keulenschlag empfinden. Dann erträgst du keine Hintergrundsmusik aus dem Radio mehr, wehrst dich gegen ständige Musikberieselung, denn jeder Ton durchschlägt die Stille wie ein Wunderwerk. In dieser Stille wächst das, was bei den sibirischen Küstenbewohnern das eigene Lied ist. Das eigene Lied finden, heißt, wie ein Kind dasitzen, nichts tun, Töne aus einem Meer aufsteigen lassen wie Luftblasen, aufsteigen lassen, bis sich eine Folge ergibt, singen, summen, brummen und immer dabei auf die Stimme des Erdinneren lauschen. Was ist mein Lied? Wie töne ich? Habe ich Töne? Stimmt alles, oder hat es mir die Stimme verschlagen? Wie komme ich wieder zum Stimmen, zum Klingen? Wer gehen kann, kann auch tanzen, heißt es, und wer sprechen kann, kann auch singen. Nur dürfen wir uns das Singen nicht wie im Kirchenchor oder wie beim Militär vorstellen. Den eigenen Ton findest du am besten mit einem Kieselstein im Mund, wenn du den ein wenig hin und her schiebst und dazu einen Ton machst. Die Geschichte der australischen Aboriginals setzt sich aus den Schöpfungsmythen und Liedern der Urwesen, der Wondschinas zusammen, und diese Gesänge, dreamlines oder songlines genannt, überziehen das Land wie ein Geflecht, stellen für die Singenden eine Landkarte der Urzeit, der Traumzeit dar. Instrumente früher Kulturen ermöglichen oft nur zwei oder drei verschiedene Töne. Das erscheint uns lächerlich wenig von Musik keine Rede! Und doch fängt die Musik beim Ton an. Wenn du also Töne haben willst, fang mit einem Ton an, singe, wie du willst, brumme, ächze, singe schrill oder sanft, aber mach dir Luft. So lange der Ton genug Luft hat, ist alles wunderbar. Du atmest ein, und mit dem Ausatmen läßt du einfach deine Stimmbänder mit vibrieren. Halte den Ton, so lange du magst und kannst, atme wieder ein, und laß deine Stimmbänder leise schwingen. Und vergiß: Ich kann nicht singen - das steht gar nicht zur Debatte. Wenn's stimmt, wenn du Stimme hast, wenn du einen Ton
- 171 -
vibrieren lassen kannst, dann kannst du auch variieren, wo will der Ton hin? Hinauf? Hinunter? So kannst du langsam anfangen, Töne in dir aufzubauen. Spüre mit den Fingerspitzen nach, wo am Körper sie vibrieren. Schön ist, irgendwo draußen zu sitzen, ein Vogel pfeift, und du antwortest mit deiner Stimme. Ich hatte einmal einen Wechselgesang mit einer Amsel im Frühsommer. Sie saß immer auf dem höchsten Zweig und begann, sehr einfach zu singen, so einfach, daß ich es leicht nachsingen konnte. Mit jedem Mal wurde das Lied, das sie sang, etwas komplizierter und länger. Sie wartete aber immer ab, bis ich meine Version davon gesungen hatte. Schließlich verstieg sie sich zu einem so komplexen und wundervollen Gesang, daß ich nur noch mit offenem Mund lauschen konnte und passen mußte. Da begriff ich: Töne brauchen auch das Hören. Kannst du hören? Luisa Francia Luisa Francia / Zaubergarn. (Frauenoffensive). München, 1989.
- 172 -
• ZAIGON • STILLE UND BEWUSSTSEIN Im Alltag setzt ein tatsächlich tiefgreifendes Musikverständnis ein bewußtes Hören bzw. ein bewußtes Erfahren und Erleben von Geräuschen und Klängen voraus. Gerade in der heutigen Zeit, in der ständige Maschinengeräusche, angefangen beim Brummen des Kühlschranks bis zum Lärm der Automotoren, genauso wie die Musik aus Kassettenrecordern, Radio- und Fernsehgeräten eine fast allgegenwärtige Geräuschkulisse bilden, ist ein solches Verständnis kaum verbreitet. Vielen Menschen dient diese akustische Umgebung zur zerstreuenden Ablenkung und zur Flucht vor sich selbst. Entsprechend wird eine Abwesenheit dieser Geräusche zumeist als äußerst unangenehm empfunden. Ein bewußtes Erleben eines Zustandes der Stille, den es genau genommen nicht gibt, da selbst bei völliger äußerer Stille die Rhythmen des Körpers vernehmbar sind, kann helfen, sich auf die eigentliche Persönlichkeit zu konzentrieren. Es kann auch dazu beitragen, einzelne Klänge und Geräusche, die sonst nicht wahrgenommen werden, in ihren Vielfältigkeiten zu erfahren und ein neues Verhältnis zu den umgebenden, wie auch zu den inneren Abläufen zu erlangen. Den Vorstellungen des Avantgarde-Komponisten John Cage (1912-1992) zufolge, hat jede Form des Seins letztlich die gleiche Wertigkeit, unabhängig davon, ob sie sich ihrer selbst subjektiv bewußt ist, wie in der Regel der Mensch, oder unbewußt, wie ein Sandkorn. Entsprechend war für Cage jeder Klang, jedes Geräusch und jeder Ton gleichwertig, egal ob er von einer Flöte oder von einem fallenden Stein hervorgerufen wird. Beide haben ihre ursprüngliche Bedeutung in sich selbst. Ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Verständnisses bildete für Cage ein kurzzeitiger Aufenthalt in einem schalldichten Raum an der Harvard University in Cambridge. Trotz der Abschottung stellte Cage überrascht fest, daß er nicht etwa eine völlige Abwesenheit jeglicher akustischer Einflüsse erlebte, sondern Geräusche hörte. Der zuständige Techniker erklärte ihm später, daß er verschiedene
- 173 -
Abläufe in seinem Körper vernommen hatte. "Ich hörte, daß Schweigen, Stille, nicht die Abwesenheit von Geräusch war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems und meines Blutkreislaufes. Ich entdeckte, daß die Stille nicht akustisch ist. Es ist eine Bewußtseinsveränderung, eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde zu einer Erkundung des Absichtslosen." Das veränderte Verständnis der Stille führte zur Komposition von "4,33", einem Stück in dem kein Geräusch absichtlich erzeugt wird. Die Aufgabe der beteiligten MusikerInnen ist es, die Bühne zu betreten und sie nach einer Zeitspanne von 4,33 Minuten wieder zu verlassen ohne ein Instrument gespielt zu haben. Die Musik besteht aus den Geräuschen des Publikums, einem Husten, Flüstern oder auch aus Protestrufen, genauso wie beispielsweise aus den Geräuschen einer quietschenden Tür, eines vorbeifahrenden Lastwagens oder eines Regengusses. Einige Jahre nach der Komposition von "4,33" erklärte Cage in einem Interview, daß er das Stück nicht mehr benötige, da er inzwischen in der Lage sei, das Stück immerfort zu hören. "Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind." Zaigon
- 174 -
• DAVID COOPER • MEDITATION UND BEFREIUNG Politisch aktive Leute denken oft, Meditation sei eine Art orientalischen Quietismus und habe daher nichts mit revolutionärer Arbeit zu tun oder sei gar das Gegenteil davon. Das ist weit entfernt von der Wahrheit, wie ich über die Erfahrung von GruppenMeditation in verschiedenen Städten, darunter auch Buenos Aires, mitzuteilen oder zumindest anzudeuten können hoffe. Buenos Aires scheint mir besonders wichtig, weil man hier viele Berührungspunkte in der Problematik der Zivilisation in der Dritten und der Ersten Welt findet. Leider sind meine Erfahrungen im wesentlichen auf Intellektuelle der Mittelschicht bezogen, dabei kurz auch auf eine Gruppe beruflicher Therapeuten. Es kann aber gut sein, daß gerade die politisch Bewußten aus diesem Sektor der Gesellschaft zur Zeit aus Meditation den größten Nutzen ziehen können. Es ist weder wünschenswert noch möglich, Formen der Meditation im Osten in Kulturen mit vollständig anderen sozio-ökonomischen Lebensformen zu verpflanzen; Ich ging jedoch davon aus, daß es in einer experimentellen Einführungsphase möglich sein könnte, eine ursprüngliche Ausdrucksweise gewissermaßen in eine neue Tonart zu transponieren. Es ging uns darum, die Ablösung von eingebildeten Problemen zu erreichen, besonders solchen der versklavenden Zeit-GeldGleichung, um fähig zu werden, sich freier wichtigeren Problemen widmen zu können, die Handeln erforderten. Die Meditationserfahrung destrukturiert die Uhr- Zeit wie auch subjektive Zeit-Empfindung. Aufgrund dieser Zeit-Veränderung kann man Zeitzonen für Handeln, das nicht bloß Tätigkeit fürs Geldverdienen ist, entdecken. Das ist besonders wichtig für Leute, die Zeit für politische Arbeit freimachen können, wenn es ihnen gelingt, übertriebene Konsumbedürfnisse weitgehend zu reduzieren. Über die politische Analyse hinaus ist die persönliche Veränderung notwendig. Meditation kann bei der radikalen Umwälzung des gesamten bürgerlichen Lebensstils eine Rolle spielen. Unsere Sitzungen schwankten zwischen einmal und dreimal die Woche für die jeweiligen Gruppen, zu festgelegten Zeiten. Gewöhnlich gab ich eine kurze Einführung, erklärte das Ziel, die
- 175 -
Fähigkeit zu erlangen, sein Bewußtsein "abzudrehen" und durch diesen "bewußt-losen" Zustand sich der Möglichkeit zu nähern, mit der Leere zu verschmelzen. Das führt zunehmend zu Möglichkeiten der Ablösung von systematisierten Serien von Illusionen, die wir als "Wirklichkeit" anzusehen konditioniert wurden. Sich von dieser Illusionshaltung zu befreien, ermöglicht einem, freier zu handeln und Befreiung auf alle möglichen menschlichen Sphären auszudehnen, ja sogar auf die ganze Natur, die wir zum Gegenstand ökologischer Zerstörung machen. Ich sprach dann noch die Angst an, die einige vielleicht in dieser Situation empfinden könnten und sagte, es stehe jedem natürlich frei, ruhig zu gehen; ich bat aber darum, nicht zu spät zu kommen. Wir trafen uns in einem ruhigen dunklen Raum, groß genug für zwanzig Leute, ohne daß körperliche Berührung untereinander zum ablenkenden Problem werden konnte. Glimmende Räucherstäbchen gaben einen einheitlich-neutralen Geruch. Zu Beginn und Ende der Meditationsstunde gab ich mit einer Glocke ein Zeichen. Allein der Verzicht auf Zeit-Kontrolle ist schon wichtig, wenn auch schwierig, wenn man gewohnt ist, die Zeit anderer zu kontrollieren. Der Fußboden war mit Teppich ausgelegt, es gab jedoch keine Stühle, alle saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, manche mit etwas Erfahrung nahmen eine halbe Lotus-Stellung ein. Nach einer Weile ruft diese Haltung bei vielen Leuten Unbehagen im Rücken und in den Beinen hervor; wenn man auch seine Haltung verändern durfte, empfahl ich doch, diese Erfahrung des Unbehagens zu machen, um dann in den Schmerz hineinzukommen zu suchen. Gelingt es einem, in den Schmerz hinein zu gelangen, ohne sich ihm zu widersetzen, kann der Schmerz nicht mehr in uns sein. Die Meditation selbst verlief natürlich in gänzlichem Schweigen. Und um den Vorgang der Leerung des Bewußtseins zu unterstützen, zündete ich an einem Ende des Raums in meiner Nähe eine Kerze an und machte den Vorschlag, sich auf die Flamme dieser "äußeren" Kerze zu konzentrieren. Später könnte man dann Aufmerksamkeit einer "inneren" Kerze zuwenden, bis, zuletzt, auch diese Kerze "gelöscht" werden kann. War die Stunde um, sprachen diejenigen, deren Erfahrung über die Meditation hinausgereicht hatte, etwa fünfzehn Minuten miteinander über diese Erfahrungen. Einige hatten beispielsweise ziemlich zwanghaft versucht, irgendein Problem ihres Lebens anzupacken;
- 176 -
wenn das Problem ihnen als zu groß entgegentrat, schlug ich ihnen vor, sich dem Problem nicht zu verweigern, sondern sich (wie beim Schmerz) darauf zu konzentrieren, ohne zu versuchen, das Problem zu verstehen oder anzugehen. So konnten sie eher in das Problem eindringen, anstatt das Problem in sie eindringen zu lassen. "Probleme lösen" gehört in eine andere Situation, nicht in die Meditation. Andere wieder erfuhren merkwürdige Veränderungen in ihren Körpervorstellungen, so erfuhren sie z.B. einige Teile ihres Körpers als riesengroß, andere als absurd klein oder gar nicht vorhanden. Einige erfuhren sich als über unendliche Entfernung hinweg flutend, andere machten ängstigendere Erfahrungen, so eine Frau, die fühlte, wie sich ihre Vagina in einen scheußlichen purpurn-braunen Gegenstand verwandelte. Erst nachdem es ihr gelang, diese Erfahrung auszuhalten und sie trotz Angst und Widerstreben zu akzeptieren, kehrte ihr Körper in seinen Normalzustand zurück. Die Parallelen zu "psychedelischen" Erfahrungen sind offensichtlich. Das Ergebnis mehrerer Sitzungen war dann, daß die meisten eine größere Beweglichkeit beim Eintreten in ihr Bewußtsein und beim Verlassen ihres Bewußtseins erfuhren und auch die gewöhnliche mechanistische Gegenüberstellung von "innen" und "außen" überwanden, die der Verstand der Erfahrung aufbürdet. Bei einigen drückte sich auch ein Gleiten nach unten, von den zerebralen zu tieferliegenden Kraftzentren in größerer genitaler Beweglichkeit aus. Nach einigen Sitzungen gab es weniger über Meditation zu reden und der Austausch entwickelte sich weitgehend non-verbal. Jemand machte z.B. eine Geste zu mir hin (oder zu jemand anderem hin) oder nahm eine bestimmte Stellung ein und man antwortete spontan darauf mit einer Geste oder Haltung, die ihr zu entsprechen schien. Es konnte aber auch ein subtiler Augenkontakt sein, oder ein Austausch von Tönen, die in gewöhnlichen gesellschaftlichen Situationen kaum wahrnehmbar wären, die aber in dieser Situation höchster Sensibilisierung Formen der Begegnung und des Wiedererkennens darstellten, die man auch in andere gesellschaftliche Situationen hinaustragen kann. Verstehen und Interpretieren der "Gruppendynamik" oder "Übertragung" kommt für das nach- meditative Zusammensein nicht in Frage (das konnten die professionellen Therapeuten in unserer
- 177 -
Gruppe erst schwer begreifen). Spontane Antworten öffnen neue Bereiche gesellschaftlicher Erfahrung und neue Formen der Begegnung. Eine beträchtliche Gefahr liegt darin, daß, was in der Meditationsstunde oder gleich danach gewonnen wurde, gleich wieder verlorengeht. Die Rückkehr in entfremdete Arbeits- und Beziehungssituationen ist eine Bedrohung, der nicht ausgewichen werden kann. Das stellte ich nach etwa zweiwöchentlichen Meditationsperioden mit Meditation zweimal täglich (wo zwischen den Perloden immer Monate lagen) im tibetanisch-buddhistischen Kloster in Schottland fest. Arbeitet man aber nach einem Plan von einer bis drei Meditationsübungen pro Woche, den man über viele Monate aufrechterhält, dann verringert sich das Risiko des Verlusts selbst in einem hektischen großstädtischen Zentrum. Das wichtigste ist Regelmäßigkeit, einer in der Gruppe sollte den erforderlichen großen Raum regelmäßig für die Gruppe verfügbar machen (natürlich muß niemand fürs Meditieren bezahlen!). Allmählich fängt man an, in der Zwischenzeit zwischen den Sitzungen aus der Gruppenerfahrung heraus selbst allein zu meditieren. Es wird dann möglich, jederzeit sehr kurze Momente von Bewußtlosigkeit herzustellen, auf der Straße gehend, im Restaurant, usw. Für einen Augenblick kann man sic h von seinem Körper lösen und erfährt ein tiefes Vertrauen vor der anoia, daß der Körper automatisch wieder funktionieren und reaktionsfähig sein wird. Annäherung an gänzliche Leere heißt noch nicht äußerste Verschmelzung mit dem Nichts. Man muß versprechen, in die Welt zurückzukehren, mit weniger Angst vor dem Tod, vor Orgasmus und Wahnsinn. Dann wird es möglich, auf jeder Ebene des persönlichen und des gesellschaftlichen Seins freier zu handeln und die Welt zu verändern. Uns aus unserem Bewußtsein (das in Wirklichkeit ihr Bewußtsein ist) herauszubegeben, ist der wahrhaftigste erste Schritt in und durch den Befreiungskampf. David Cooper
- 178 -
• MERI FRANCO-LAO • HEXEN-MUSIK Die Welt in ihrem nächtlichsten Aspekt. Der Mond. Wasser- und Waldelemente. Bäume, Lianen, Schlingpflanzen. Der Boden bedeckt von Laub und Schilfrohr. Früchte. Wasserbehälter für die Waschungen. Einen Spiegel zum Ausdruck der Auseinandersetzung mit dem eigenen Dasein auf der Erde und in der Gesellschaft. Gesteinsbrocken. Töpfe, Kellen, Körbe, Amphoren, Becher, alchimistische Gerätschaften. Lebende Wolfsjunge (keine Pekinesenhündchen), Katzen, Enten, Küken. Einfache, leichte, fließende Gewänder, Beschränkung auf zwei oder drei ausgewählte Farben. Bäuerliche Felle und Haute. Kränze aus geflochtenem Efeu. Zweige, Ruten, Seile. Es besteht ein ständiges Hintergrundgeräusch, etwa so wie der Maschinenlärm der heutigen Zeit oder die Stadtgeräusche, von denen wir ständig umgeben sind. Es könnte ein Aneinanderstoßen von Kristallgläsern, Amphoren, Waagen und Mörsern sein, gemeinsam mit dem Dampfen und Sieden in den Küchen und den alchimistischen Laboratorien. Nicht zu vergessen den Gesang der Nachtvögel. Als matriarchalisches Symbol und zur Darstellung des Verständnisses vom Leben in seiner Gesamtheit solltet ihr einen Kreis bilden, in dem alle Frauen sich an den Händen fassen. Dadurch wird außerdem das Konzept der Zusammengehörigkeit und des Ausgeschlossenseins angedeutet. Benutzt den eigenen Körper als Klangquelle. In die Hände klatschen, die Handflächen aneinander reiben, auf die Vorderarme und Schenkel schlagen. Als rudimentäre Instrumente auch Wasser (gießt es schnell in eine Amphore, rührt es mit den Händen in einem Behalter), die Steine (erzeugt einen hellen, scharfen Klang, indem ihr sie aneinanderstoßt oder -reibt), die Ruten (peitscht in die Luft damit), und eine Tierhaut, die über die Knie gespannt und vom Gesäß im Sitzen gehalten wird. Außer dem Tamburin, das von alters her als vorwiegend weibliches Instrument gilt und das mit dem Mond und mit mystischen Riten zusammenhängt, würde ich davon abraten,
- 179 -
traditionelle Musikinstrumente zu benutzen, nicht einmal zeitgenössische. Bedient euch höchstens der Instrumente aus der Volksmusik anderer Völker und benutzt sie auf eine andere als die herkömmliche Art. Erfindet auch selber welche und denkt daran, welche Bedeutung das Material für ihre Herstellung hat: Es muß Gleiches auf Gleiches einwirken, praktisch nach dem Prinzip der Homöopathie. Ihr könnt bekannte Materialien benutzen wie Hörner, Schildkrötenpanzer, ausgehöhlte Kurbisse, Beeren, Samen. Ihr könnt auch etwas beunruhigandere Materialien benutzen wie einen Schädel (eines Menschen oder eines Falken oder deren Gipsmodelle), Schienbeine, Schenkelknochen, Kinnladen. Muscheln und Schuppen: Fäde lt sie auf wie Glöckchen, benutzt sie als Rasseln, bindet sie an eure Arme, Beine und Waden. Aus Haaren gedrehte Schnürchen. Kratzen, schaben, reiben, schütteln, schlagen. Kleine Bronzeglocken, Knarren, einen Zweig mit daran festgebundenen Glöckchen, Tonkrüge mit oder ohne Wasser, in die ihr hineinblasen könnt. Kupferne Töpfe werden auf dem Boden herumgerollt, um sie zum Klingen zu bringen. Glasstücke klingeln, zerbrechen, reiben sich aneinander. Das Zerreißen von Seide. Es ist leichter sich folgendes vorzustellen als es tatsächlich zu bauen: eine riesige Harfe, aus Ästen gemacht, die im Boden stecken, (wie biegsames Rohr, wie eine Armbrust), und sie soll durch die Körper zum Klingen gebracht werden, die darin herumtanzen. Nur wenige Stimmen sehr sparsam benutzen: Flechtet in den Text eine bestimmte rhythmische Sequenz ein, die sehr präzise skandiert werden muß, oder einen charakteristischen, aus wenigen Silben bestehenden Ausruf, der für die Gruppe eine besondere Bedeutung hat und der ständig wiederholt wird. Begleitet die Worte durch Pfiffe, Gelächter und Ausrufe. Laßt euch von den faszinierenden Lauten der Schimpansenchöre inspirieren, es gibt Filmdokumente darüber, oder geht einfach in den Zoo. Und geht in den Wald und hört euch aufmerksam die Geräusche der Tiere und auch der Pflanzen an. Das Rauschen der Bäume. Schließt die Augen, fühlt eure inneren Pulsschläge und die Vibrationen der Stimmen, denn mit diesen einfachen Mitteln könnt ihr eindrucksvolle Höhepunkte erzielen. Ergreift Besitz vom Gesang, enthemmt euch, gewöhnt euch an Zwischentöne und übt euch in kühnen Sprüngen mit der Stimme, indem ihr direkt vom höchsten
- 180 -
Ton, den ihr erreichen könnt, zum tiefsten hinuntergeht. Und vergeßt nicht das Knistern des Feuers. Meri Franco-Lao
- 181 -
• NW. • MAGISCHE RITUALE Rituale haben gleichermaßen als eigenständiges Ereignis, wie auch als Element von Festen mehrere Funktionen. Sie sollen dazu beitragen, innere Mauern zu überwinden und eine zwischenmenschliche Nähe zu entwickeln. Sie dienen zudem zur Konzentration von Energien und zum bewußten Erkennen, Erfahren und Beeinflussen verschiedenster Abläufe. Der magische Charakter vieler Rituale ist dabei weder ein Ergebnis übernatürlicher Einflüße noch eine Folge abergläubischer Einstellungen. Vielmehr ist die Magie, wie die Hexe Starhawk sagt, "die Kunst, die unsichtbaren durch die Welt strömenden Kräfte zu spüren und zu gestalten, um tiefere Bewußtseinsschichten hinter dem Rationalen zu wecken." Eines der ältesten Rituale, welches auch heute noch ausgeübt wird, ist das Ritual der Jahreszeiten. In ihm werden an acht, gleichmäßig über das Jahr verteilten Terminen die Zyklen der Jahreszeiten gefeiert, deren Wechsel sich unter anderem in den Sonnenwenden ausdrücken. Zu Grunde liegt das Verständnis eines Kreislaufes, der keinen endgültigen Tod, sondern nur fließende Übergänge von einem Zustand in einen folgenden kennt. Wie die Feste im einzelnen gefeiert werden, hängt von der Ausrichtung der verschiedenen Gruppen und Zirkel ab. So bestehen neben den JahreszeitenRituale n, die sich an alten matriarchalen Mythen und Symbolen orientieren, auch Rituale, bei denen die Schwerpunkte in gruppendynamischen oder psychotherapeutischen Prozessen liegen. In den achtziger Jahren erhielten zudem feministische und ökologische Auslegungen von Ritualen eine größere Verbreitung. Die Performance-Künstlerin Mary Beth Edson betont in ihrer Definition von Ritualen das Verhältnis von innerer und äußerer, von individueller und gesellschaftlicher Veränderung. "Es klärt nachhaltig den Geist und hilft Perspektiven zu finden. Dinge, die mit dem Ritual nichts zu tun haben, die Psyche aber besetzt halten, lösen sich plötzlich. Es erzeugt Einsichten in Lebenssituationen, du gehst gestärkt weg und bist bereit, diese Dinge zu lösen. Rituale sind daher eine Technik Probleme zu lösen, weil sie uns ganz direkt zu unseren eigenen Einsichten und unserem Wesen führen. Sie bringen uns persönliche Informationen, die wir schon längst haben, voll zu
- 182 -
Bewußtsein." Edson entwickelte selbst eine Reihe von PerformanceDarbietungen, in denen die Übergänge zum Ritual fließend sind. Vielfach bezog sie sich dabei auf die natürlichen Elemente und stellte in diesem Zusammenhang den Menschen ausdrücklich als einen Teil der Natur dar. In anderen Aufführungen beschrieb sie die Unterdrückung der Frau und griff darüber hinaus Formen des antipatriarchalen Widerstandes auf. Zu diesen Aufführungen gehört das 1978 realisierte Projekt "Erinnerung an neun Millionen Frauen, die als Hexen in der christlichen Ära verbrannt wurden". Ausgangspunkt war ein Raum, in dem eine Leiter aufgestellt war, welche von kleinen Flammen, sowie von Tischen mit Informationsmaterial zu den Hexenverfolgungen umgeben war. In der Halloween-Nacht tanzten im Rahmen der Performance neun Frauen in diesem Raum und zitierten aus den Dokumenten. Danach gingen sie auf die Straßen von Soho in New York und sangen: "Die Göttin ist hier, die Göttin sind wir!". Rituale können in vieler Hinsicht in die gesellschaftliche Realität eingreifen. Ganz konkret geschah dies mehrfach während der im wesentlichen von einem Frauenfriedenscamp getragenen Blockade der NATO-Air-Base von Greenham Common. Das direkt neben der Air Base errichtete Camp wurde zu einem Symbol für den Widerstand gegen die Stationierung von Cruise-Missile-Raketen in England und darüber hinaus für den Widerstand gegen das herrschende patriarchale System. Im Dezember 1983 organisierten Frauen aus dem Camp unter dem Motto "Sounds around Greenham" eine ritualhafte Aktion. Sie riefen dazu auf, mit Klangkörpern jeglicher Art gegen die Air Base symbolhaft anzuspielen. Zudem waren Schweigeminuten geplant, die von gemeinsamen Gesängen abgelöst werden sollten. Ein weiteres Element des Rituals war ein Tanz der beteiligten Frauen im umliegenden Wald und um die Air Base herum, sowie die "Umgarnung" der Zäune mit Wollfäden. Rund 50.000 Frauen folgten dem Aufruf. "Sie umschlossen und überschwemmten die Base. Ihre Hände griffen in den Maschinenzaun. Sie zogen und rüttelten bis der Zaun mitsamt den Zementpfosten wankte, herausriß und zusammenbrach. Begleitet vom Gesang der Glocken und Pfannen, auf denen getrommelt wurde und von Singen und Geheule. Die Autoritäten rächten sich mit stählerner Gewalt. Aber die Frauen
- 183 -
sangen: 'Alt und stark geht sie weiter und weiter. Du kannst ihren Geist nicht töten. Sie ist wie ein Berg...'" Besonders für Feste mit vielen TeilnehmerInnen entwickelte der Hexenzirkel Ursa Maior in der ersten Hälfte der siebziger Jahre ein Körperritual, das bei einem Frauenfest und in etwas veränderter Form bei einem gemischten Fest zur Sommersonnenwende mit vierzig bzw. hundertfünfzig Beteiligten durchgeführt wurde. In ihm spiegeln sich beispielhaft psychologische, politische und spirituelle Elemente des neuen Hexenkultes in einer ganzheitlichen Form. "Es ist politisch wichtig, Kontrolle über unsere Körper zu erlangen, indem wir ihn lieben, für ihn sorgen und ihn heilen, ihn stark machen und Bande der Frauenliebe zwischen den Körpern schaffen. Deshalb brauchen wir ein Ritual, daß unsere Selbstliebe bestätigt, uns heilt, uns stärkt und unsere Sexualität positiv verstärkt. Wenn wir die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen unseres Körpers verstehen, fangen wir an, die möglichen Strukturen für Beziehungen zwischen getrennten irdischen Körpern und sogar irdischen und himmlischen Körpern (Mondin, Sterne, Planeten) zu erkennen." Das Ritual begann mit dem Aufbau eines großen Kreises durch einen Geburtsritus. Zwei Frauen "bildeten mit ihren Armen einen Bogen und jede Frau lief hindurch und schloß sich der Reihe an, um die Hälfte eines neuen Bogens zu bilden, bis ein langer Tunnel entstand. Jede hindurchkommende Frau wurde von jedem Paar im Tunnel umarmt, geküßt und bekam gesagt: Durch Frauen wurdest du in diese Welt geboren. Durch Frauen wirst du in diesen Kreis geboren." Dem Geburtsritus folgten einige Lieder, Gedichte und Tänze, die sich mit dem Verhältnis der Frauen zu ihrem Körper auseinandersetzten. Die patriarchale Herrschaft bewirkte über die Jahrhunderte, daß gerade in der gegenwärtigen Zeit viele Frauen ein völlig entfremdetes Verhältnis zu ihrem Körper haben. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der Menstruation, die, entsprechend der Werbung der großen Konzerne, von einer großen Anzahl Frauen als etwas negatives und unreines empfunden wird. Dadurch wird verhindert, daß die natürlichen Vorgänge im eigenen Körper als solche akzeptiert werden und die mit der Menstruation verbundenen Energien erkannt und genutzt werden. Die Lieder und Gedichte zielten darauf, über die Schaffung und
- 184 -
Nutzung von symbolhaften Bildern ein verändertes Bewußtsein und ein neues Verhältnis zum Körper zu erlangen, um die herrschenden Definitionen aufzubrechen und zu überwinden. Entsprechend heißt es im Bauchlied: "Mein Bauch ist die Erde: Sie gibt Nahrung, sie gibt Leben. Aus meinem Bauch fließt Blut auf die Mitte der Erde, wo es sich in Milchblumen verwandelt. Mein Bauch ist der Ozean! Er hat Ebbe und Flut... Eine Frau stirbt mit jeder Mondin. Und das ganze Universum wurzelt in ihrem Grab ohne zu klagen. Sie wird zurückkommen, größer als das Leben und sich wieder im Abendhimmel erheben..." Nach dem Lied nahmen zwei Frauen einen Kelch mit dunklem Frauenblut und gingen im Kreis herum, tauchten ihre Hände hinein, bemalten das Gesicht jeder Frau und sagten: "Dies ist das Blut, das Erneuerung verspricht. Dies ist das Blut, das Nahrung verspricht. Dies ist das Blut, das Leben verspricht." Später wurde ein Lied gesungen, in dem Geräusche von Frauen während der Geburt, der Liebe und der Arbeit nachgeahmt wurden. In einem weiteren Lied wurde die Unterdrückung des Rechts der Frau über ihren eigenen Körper selbst zu entscheiden, in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang mit der Zerstörung der Umwelt gestellt. Anschließend hielten sich die Frauen in einem großen Kreis an den Händen. Eine Frau nahm ein rotes Garn und reichte es im Kreis herum bis alle miteinander durch "dieselbe Nabelschnur, durch dasselbe Blut mit derselben Mutter, denselben Schwestern verbunden" waren. Nachdem das Garn aufgeschnitten und jeder Frau, als Zeichen der Verbindung, ein Stück davon umgebunden worden war, endete das Ritual. NW. "Als Gott Adam erschuf, sagte er: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Daher erschuf er für ihn eine Frau, ebenfalls aus Erde und nannte sie Lilith. Sobald sie geschaffen war, begann sie einen Streit und sagte: Warum soll ich unten liegen? Ich bin ebenso viel wert wie du, wir sind beide aus Erde geschaffen. Als Lilith aber sah, daß Adam kein Verständnis zeigte, sprach sie den unaussprechlichen Gottesnamen aus und zog davon. Darauf sandte Gott drei Engel, die sie zurückbringen sollten, aber sie verweigerte sich und wurde verbannt..." (Aus einer Lilith-Sage des 8. Jhds.)
- 185 -
• NORA-ANNETTE RÖMER • DER ZYKLUS ALS KRAFTQUELLE MENSTRUATION UND SELBSTBILD Kaum eine Frau kommt nicht irgendwann einmal in Schwierigkeiten mit einer Zeit, der sie - ob sie will oder nicht scheinbar völlig machtlos ausgeliefert ist: Die Zeit ihrer Blutung, bzw. insgesamt dem periodischen Wechsel der verschiedenen aufeinander folgenden Zyklusphasen. Ob der Zyklus zu lang oder zu kurz oder zu unregelmäßig, mit Schmerzen, schlechter Laune oder Reizbarkeit verbunden ist, ob er Scham, sexuelle Unlust oder sexuellen Überdruck hervorruft oder gar die Frau für mehrere Tage außer Gefecht setzt, ob jeden Monat aufs Neue die bange Frage nach einer ungewollten Schwangerschaft gestellt wird oder auch nach einer wieder nicht geglückten, dennoch gewollten Empfängnis - nichts hält die Frau manchmal mehr in Atem, als Fragen, die mit ihrem Zyklus und ihrem damit verbundenen Selbstbild und Wertegefühl als Frau in Zusammenhang stehen. Und selbst wenn eine Frau "es ganz gut geregelt hat" oder sie "nicht viel davon mitbekommt", ist sie noch weit entfernt von den Möglichkeiten, etwa Zeitpunkt von Blutung und Eisprung bewußt zu steuern, eine Empfängnis durch Bewußtheit zu verhindern oder zu gestatten, oder auch die Zeit der Menstruation als eine Zeit der spirituellen Empfänglichkeit, der Inspiration, Muße und Reinigung zu nutzen - alles reale Möglichkeiten, die in anderen Kulturen in selbstverständlicher Art und Weise gehandhabt werden. Das Problem von Frauen ist nicht, daß sie einen Zyklus mit Blutung und Eisprung haben, sondern wie mit ihnen auf Grund der verschiedenen Phasen, in denen sie sich befinden umgegangen wird und wie sie mit sich selbst umgehen. Sie werden in jeder Verfassung, in jeder Phase nach dem gemessen, beurteilt und "festgenagelt", wie sie sich gerade verhalten. Daß diese Verhalten jedoch zyklischen, aufeinander abgestimmten und sinnhaftigen Gesetzmäßigkeiten folgt, fällt den wenigsten dabei auf. Frauen sind in den Augen der meisten, die den Zyklus als Rhythmus des Lebens überhaupt noch nicht haben anerkennen können, sprunghaft, wechselhaft, auf sie kann man sich nicht
- 186 -
verlassen, man weiß ja nie woran man ist. Weil Frauen ein solches Image nicht gefallen kann, versuchen sie, in jeder Phase ihres Zyklusses sich auf ein gesellschaftlich annehmbares Maß zu reduzieren, um ja nicht aus dem Rahmen zu fallen. Denn wer aus dem Rahmen fällt, gilt als verrückt, radikal, pflegebedürftig oder zumindestens mysteriös! Frauen nehmen eher das permanente Unwohlsein in Form von Depressionen, Allergien, Geschwüren oder Neuralgien hin, welche nur einige der Folgeerscheinungen der in den verschiedenen Zyklusphasen unterdrückten Kräfte sind, als daß sie gemäß ihren unterschiedlichen Kräften in ihren unterschiedlichen Monatsphasen LEBEN LERNEN ! In der heutigen Zeit verstecken Frauen ihre Kräfte und werden krank. In ihren Leibern steckt noch die ganze Geschichte der Inquisition, in der sie genau wegen dem Erleben und Einsetzen ihrer verschiedenen Kräfte auf das Brutalste gedemütigt, gefoltert und getötet wurden. Und das auch noch im Glauben an eine höhere Gerechtigkeit, mit der Frauen von ihrem Wesen her gerade durch ihren Zyklus eng verbunden sind. Das Leben von Frauen als Frauen ging dadurch zu Ende! Seitdem verstecken sie ihre Kraft. Sie glauben selbst daran, verrückt zu sein, wenn sie in die verschiedenartigen, ihrem Zyklus entsprechenden Wahrnehmungen kommen. Und das letztlich macht sie verrückt! Frauen, die innerhalb ihres Zyklus in Not kommen, haben kein persönliches Problem - jedenfalls nicht nur. Probleme dieser Art sind auch Bestandteil einer Gesellschaft, die seit Jahrhunderten die freien, schönen, weil veränderlichen Kräfte von Frauen unterdrückt, mit ihnen die Kraft ihrer Sexualität, Sinnlichkeit und Geilheit. Schamgefühle, die während und wegen der Menstruation auftreten, haben oft den gleichen Hintergrund, wie die Scham auf Grund unterdrückter, natürlicher Bedürfnisse nach Sinnlichkeit, Sexualität und Erotik. Scham und Angst, sich als das sinnliche und sexuelle Wesen zu zeigen, das die Frau in den unterschiedlichen Phasen ihres Zyklus auf unterschiedliche Art und Weise ist, sind immer wieder die Ursachen für Schmerzen, zyklusbedingte psychosomatische Beschwerden aller Art oder auch eine massive Unterdrückung der eigentlichen Möglichkeiten, sich als Frau zu verwirklichen. Es ist gegenüber Frauen mit frauenspezifischen Erkrankungen nicht nur
- 187 -
wenig sinnvoll, sondern auch in vielen Fälle n der tatsächlichen Not unfair, solche Beschwerden ausschließlich mit Medikamenten, Hormonen oder Operationen vernichten zu wollen. Man stelle sich nur eine Gesellschaft vor, die das Heranwachsen junger Mädchen und ihre Entwicklung in junge Frauen in einer Weise würdigt, respektiert und feiert, die den werdenden Frauen das Wissen, den Schutz und die Freiheit gibt, den sie brauchen, um sich als Frauen ganz entfalten und ihre zyklusbedingten Kräfte bewußt erfahren und nutzen zu können! Eine Gesellschaft, die den Wert erkannt hat, der in den unterschiedlichen Zyklusphasen den Frauen zur Verfügung steht und der sie in stärkerer Weise als bei Männern einbindet in die höheren Gesetzmäßigkeiten des Lebens, und die daher sowohl in ihrem Erziehungssystem, als auch in ihrer gesamten politischen und sozialen Organisation den Frauen mit ihren ganz spezifischen Kräften den ihnen gebührenden Platz einräumt. Eine Gesellschaft, die zeitgemäße Rituale entwickelt hat, die den Mädchen den Übergang in die Frauenwelt und den Jungen den Übergang in die Männerwelt in sensibler und kraftvoller Weise ermöglicht. Rituale, in denen ihnen alles Wissen mitgegeben wird, das für ihr Leben als Erwachsene von ganzheitlicher Bedeutung ist. Eines ist sicher: eine Gesellschaft, die eine angemessene Bewußtheit den natürlichen Kräften von Männern und Frauen entgegenbringt und dementsprechend denkt, lebt und handelt, hat mit wesentlich weniger Kriminalität, Krankheit und psychischen oder sozialem Elend zu tun, als es in unserer momentanen Gesellschaft mit ihren die wesentlichen Kräfte von Körper, Geist und Seele unterdrückenden Werten überhaupt möglich, geschweige denn, gewünscht ist. Frauen in unserer heutigen Situation können einiges dazu beitragen, daß eine Gesellschaft mit den oben beschriebenen Ansätzen entstehen kann. Ein wichtiger erster Schritt ist, daß sie gemeinsam und auch jede für sich ihre eigenen Kräfte erkennen, befreien und entfalten durch eine tiefgehende Bewußtwerdung über die Vorgänge, Sinnhaftigkeit und strukturellen Möglichke iten während der verschiedenen Zyklusphasen, um dann zu lernen, ihren Zyklus als Kraftquelle für sich selbst und ihre menschliche Umgebung zu nutzen.
- 188 -
Eisprung und Blutung sind wie zwei sich ergänzende Pole: wie Nachdenken und Meditation, Aktivität und Rückzug, Empfangen und Abgeben, handeln und geschehen lassen, oder auch im übertragenen Sinne wie Tag und Nacht, Flut und Ebbe, Mann und Frau. Bewußt wahrgenommen und gestaltet, bieten beide Phasen besondere Möglichkeiten der Wahrnehmung und Handlung. In der Eisprungphase ist die Frau materiell und geistig empfänglich. Auf der materiellen Ebene bereitet ihr Körper alles vor, um ein befruchtetes Ei einzubetten, zu schützen und für die Entwicklung von neuem Leben zu nähren. Die Lust der Frau besteht in der Zeit meistens nach einer kraftvollen und intimen Sexualität und ihre geistigen und materiellen Schaffenskräfte laufen auf Hochtouren. Im übertragenen Sinne kann diese Zeit genutzt werden, um alle ihre Vorhaben zu strukturieren und voranzutreiben, da sie allgemein auf fruchtbaren Boden treffen. In der Verbindung zu einem Mann und im sexuellen Kontakt heißt das nicht nur, daß jetzt die Möglichkeit besteht, bewußt ein Kind zu empfangen. Es bedeutet darüberhinaus, daß die Verbindung, die Sinnlichkeit und die geistige Verständigung auf ein hohes, erotisch aktives und festigendes Niveau gehoben werden kann. Insgesamt wird die Grundstimmung in dieser empfänglichen Zeit geprägt von der kreativen Kraft der Verwirklichung. Die Zeit der Menstruation dagegen hat eine ganz andere Grundkraft. Die Frau erfährt eine starke körperliche Reinigung, die ihr im übertragenen Sinne eine generelle Reinigung von entstandenen Gedanken und Handlungsmustern ermöglicht. Sie zieht sich intuitiv eher zurück und sucht geistige Krafträume auf. Die Möglichkeit, eine starke und schöne Vision zur Lösung von intimsten Lebensfragen zu entwickeln, ist jetzt sehr groß. "Purba" ist ein indianisches Wort für die Menstruation eines jungen Mädchens und bedeutet gleichzeitig "Seele ". Hierbei wird deutlich, daß die Antennen auf eine besondere Art des Empfangens gestellt sind. Die Kraft der weiblichen Intuition ist hier sehr ausgeprägt und ermöglicht es, Fragen aus dem jeweiligen Lebensbereich aus einer positiven Distanz heraus zu stellen und sie oft gleichzeitig mit Fragen der äußeren sozialen und politischen Welt in Verbindung zu bringen. Damit kann eine Art der Verbundenheit mit allem Lebendigen entstehen, aus der die Frau pflegende, erneuernde und schützende Qualitäten entwickeln und zur Heilung
- 189 -
ihrer selbst und ihrer Umgebung einsetzen kann. In allen ursprünglich lebenden Kulturen ziehen sich Frauen in diesem Sinne während ihrer Menstruation in geschützte Räume zurück, überlassen ihre Arbeit wie auch ihre Kinder der Gemeinschaft, in der sie leben, die dann von dieser versorgt werden. Sie beten und meditieren in ihren kulturell bedingten Ritualen, um einen Abschnitt abzuschließen und neue Visionen zu entwickeln. Sie bleiben unter sich, haben keine oder nur besondere sexuelle Kontakte und verbinden sich rituell mi den kosmischen Kräften der Natur. Es ist ein rhythmischer, jeden Monat wiederkehrender Austritt aus dem Alltag. Resultate aus diesen Frauenkreisen sind dann oft maßgebend für die insgesamte Entwicklungsrichtung des Stammes, der Gemeinschaft oder der Familie. Beide Pole des Zyklus bilden einen Kreislauf des Lebens, das dem rhythmischen Wesen der Frau entspricht, so, wie die Gezeiten, der Mondwechsel oder der Wechsel der Jahreszeiten. Bei der Beobachtung des eigenen Zyklus gilt es erst einmal, den "Mythos von den 28 Tagen", die er "normalerweise" dauert und bei dem am vierzehnten Tag der Eisprung passieren sollte, als zwar wissenschaftlich nachzuvollziehen, jedoch dem Leben nicht entsprechenden Irrtum zu entlarven. Diese gesetzmäßige Betrachtung einer notwendigen Regelmäßigkeit des Menstruationszyklus ist aus einem wissenschaftlichen Denken heraus entstanden, das weder die nicht-linearen Bewegungsformen der Natur, noch die sich immer wieder verändernde, weil LEBENDIGE psychische, geistige und sexuelle Situation der Frau achtet, geschweige denn miteinbezieht. Man könnt fast sagen, die 28-Tage-Regel ist eine amerikanische oder europäische Erfindung, die es der medizinischen Fakultät und dem Allgemeinbewußtsein erlaubt zu beurteilen, was krankhaft und gesund ist und damit die Frauen in mechanische Systeme gepreßt hat, die ihrem Wesen und ihrer Potenz in keinster Weise entspricht. Begriffe wie "Amenorrhöe" oder "Dysmenorrhöe" prägen das Denken der Frauen, aus dem heraus sie ihre Blutung nur noch in den Kategorien "normal" oder "krankhaft" bewerten können. Die Frage, ob wir ganz normale Frauen sind, bemessen wir oft an dem, ob wir regelmäßig, schmerzfrei und möglichst unauffällig menstruieren. Besonders für ganz junge Frauen, die noch sehr stark auf der Suche sind nach ihrem eigenen Bild und Erleben als Frau, ist der "normale" Ablauf ihrer Menstruation ein Maßstab dafür, ob sie schon zu der
- 190 -
Welt der reiferen, wissenderen Frauen gehören oder nicht. Ist der dann nicht so, wie sie sich ihn vorstellen oder wie er ihnen vorgestellt wurde (laut dem "Mythos von den 28 Tagen"!), fühlen sie sich krank, bekommen Angst, haben das Gefühl, "nicht ganz richtig zu sein" und gehen schlimmstenfalls zu einem der "Gynökologenklempner". Der verschreibt ihnen in ihren jungen Jahren eine Pille, die zwar ihren ganzen hormonellen und psychischen Zustand in brutalster Weise in eine von ihnen vorher nie erstrebte Norm zwängt, deren Wirkung ihnen jedoch vorspielt, daß nun endlich mit ihnen alles stimmt. Schließlich bluten sie dann alle vier Wochen, so, wie das ja sein soll. Da dieser ihnen von außen aufgedrückte Zyklus nicht ihrer inneren Situation der Selbstfindung und Veränderung entspricht, sie sich einem starren, hormonellen System unterworfen haben, in dem sie sich gar nicht mehr selbst erspüren können, ist eine Entwicklung vorprogrammiert, in der sie dann wirklich krank werden, in ihrem Verhalten unverständlich und psychisch nicht zu begreifen. Diese Frauen haben oft schon mit 24 Jahren ihre erste Eierstockzysten-Operation hinter sic h und tragen eine Aura der Unzufriedenheit mit sich herum, die an alte, resignierte und lebensmüde Divas erinnert; die jedoch nichts mehr zu tun hat mit dem jugendlichen, forschen und forschenden Esprit, der ihrer inneren Situation entsprochen hätte, wenn sie sich selbst und ihrer Entwicklung zur reifen Frau die angemessene Zeit, Veränderung und Neugier erlaubt hätten. Da sie diese Reifung eben in den meisten Fällen auch an der Art und Weise, wie sich ihr Zyklus gestaltet, messen, ist es umso wichtiger, die sen in keine Norm zu zwängen, sondern ihm die gleiche Freiheit zuzugestehen, die ihrer Entwicklung als junger Frau entspricht und gebührt. (Die gleiche Freiheit gilt natürlich auch für ältere, reifere Frauen, nur daß ihre innere Suche nicht mehr so stark auf das Finden der eigenen Persönlichkeit ausgerichtet ist, sonder eher auf die Gestaltung, Pflege und Erneuerung derselben.) Wenn junge Frauen einen sehr unregelmäßigen Zyklus haben und sich aus diesem Grunde nicht als "richtige" Frau fühlen, gilt es, den Ursprung dieser Unregelmäßigkeit, bzw. der dahinter stehenden Symbolik zu erkennen und die daraus stimmigen Konsequenzen zu vollziehen. Auf keinen Fall dürfen wir solchen Frauen den Zugang zu dieser inneren und wichtigen, da meistens sehr aussagenkräftigen
- 191 -
Symbolik versperren, indem wir durch massivste, chemische Eingriffe in ihren feinstofflichen Organismus ihren Zyklus von außen einleiten und beherrschen. Denn genau in dem Ablauf ihres unregelmäßigen Zyklus liegen für sie Antworten, die ihr unersetzbar wichtige Informationen über ihren Werdegang vom Mädchen zur Frau und ihre weiteren Schritte der Reifung liefern. Wer diesen massiven hormonellen Eingriff erlebt hat, weiß, daß mit der Begrenzung und Berherrschung des natürlichen, dem Wandel der Person unterworfenen Zyklus immer auch die Begrenzung und Beherrschung der Psyche, des Geistes und der seelischen Entwicklung verbunden ist. Kein Wunder, wenn Frauen, die auf Grund ihrer "Nicht-Normalität" in jungen Jahren die Pille genommen haben, um sich und ihren Zyklus zu reglementieren, auch noch im hohen Alter von dem Gefühl bedrängt werden, eine wichtige Entwicklungsphase in ihrem Leben nicht vollzogen zu haben und ihnen daher eine grundsätzliche Basis für Entscheidungen und Selbstannahme schlichtweg fehlt. So aufgeklärt die Zeiten heute sein mögen, die Frauen betrachten ihren Zyklus oft in einer Weise, der ihnen ein Selbstbild beschert, als seien sie und ihre Menstruation einem fremden Schicksal unterworfen. Die Realität sieht aber anders aus, wie die Praxis beweist. Spontan ausgelöste Blutungen, ein ausgebliebener Eisprung und andere "Unregelmäßigkeiten" haben immer ihren Ursprung in besonderen Ereignissen oder Gedanken: Eine gelungene oder mißlungene Begegnung, ein neuer Impuls für verschiedenste Lebensbereiche, ein bisher unbekannter Kinderwunsch, der meistens noch nicht ausgesprochene Entschluß: "So werde ich nicht mehr weitermachen!", oder viele andere kleinere und größere verdrängte Ereignisse, die tief im Unterleib ihre prompte Resonanz finden. Wenn aber unterbewußte Gedanken den Zyklus steuern können, dann müssen es bewußte auch können. Die bewußte Selbstbestimmung und das Wissen über die inneren körperlichen und geistigen Vorgänge in Verbindung mit der spirituellen Welt bedeuten einen entscheidenden Wandel des zyklischen Erlebens und dem Leben als Frau überhaupt. Die Angst vor ungewollten Schwangerschaften, das Bangen oder Genervt-Sein über verfrühte oder verspätete Blutungen, Scham, Krämpfe, Ohnmachtanfälle oder sonstige Schrecken werden dann einem Alptraum längst vergangener Zeiten angehören. Nora-Annette Römer
- 192 -
• HANS COUSTO • MUSIK, MANTRA UND TRANCE SCHAMANENMUSIK Schamanen sind Heiler und Priester zugleich. Sie stehen mit den Göttern, dämonischen Geistern, Schattenseelen Verstorbener und den Naturkräften in Verbindung, wobei die Connection (das Bindeglied) zumeist eine psychoaktive Pflanze ist, also eine Droge, die ihre Sichtweise verändert und erweitert. So sind die Schamanen in der Lage, Zusammenhänge mitunter auf Grund der Wirkung von Drogen (Fliegenpilz, spitzkegeliger Kahlkopf, Peyote, Datura, Krötenschleim, etc.) zu durchschauen und zu erkennen, die einem Betrachter mit rein rationalen Denkgewohnheiten und einer nüchternen Beobachtungskonditio nierung im allgemeinen verborgen bleiben. Der heilenden Tätigkeit des Schamanen geht gewöhnlich eine Berufung und ein Läuterungsprozeß voraus. Die schamanische Seele wird von den Schicksalsgeistern in den Himmel gebracht. Bevor der Schamane die Himmelsreise unternimmt, muß er ein Zerstückelungsritual und gleich danach ein Wiedergestaltungsritual durchmachen. Der Beginn einer Session wird zumeist durch eine weihevolle rituelle Waschung vorgenommen. Der Schamane versetzt sich zuerst selbst mittels einer Droge in einen Trancezustand. Dann spielt er eine speziell geartete Musik, wobei hier die Schamanentrommel unentbehrlich ist. Bei den tibetischen Schamanen wird der Schall der Trommel als die Stimme des Himmelsdrachen interpretiert, wobei der Schamane während der Zeit des Rituals vom Himmelsdrachen besessen ist und dieser so durch den Schamanen seine Botschaften in Form von sich stets wiederholenden Rhythmus- und Schwingungsstrukturen den Menschen mitteilen kann. Die Musik dient somit als Transmitter für die subtilen Naturkräfte, um den oder die anderen Beteiligten an der Session ebenfalls in Trance zu versetzen. Trance ist ein schlaf- oder traumähnlicher Zustand und zugleich Brücke zu einer anderen Realität und Welt. Trance ermöglicht das Transzendieren der alltäglichen Sichtweise und macht den Blick frei in das innere Wesen der Menschen und
- 193 -
kann so die Ursache für ein psychisches oder physisches Leiden offenbaren. Die zumeist sehr monotone Musik spielt dabei eine zentrale Rolle, da sie Blockaden lösen und den Weg für einen freien Energiefluß ebnen kann. Der freie, nicht vom Willen kontrollierte Energiefluß ist der erste Schritt zur Genesung. DIE GEHEIME MACHT DES RHYTHMUS In Schwarzafrika werden viele kultische Zeremonien veranstaltet, bei denen Trommelmusik eine zentrale Rolle spielt. Zu der sehr rhythmisch betonten Musik, die anfänglich recht langsam ist, dann aber stets an Tempo gewinnt, wird (zumeist nach Einnahme eines Zaubertrunks) getanzt. Im gleichen Maße, wie die Musik schneller wird, nehmen die ekstatischen Formen im Tanz zu. Solche rituelle Tänze dauern oft Stunden, ja zuweilen mehrere Tage lang. Irgendwann, wenn der Körper sich in der Trance und Ekstase verausgabt hat, legen sich die Tänzer nieder und genießen in völliger Entspannung die Visionen und Halluzinationen und erleben sich als Teil von Himmel und Erde. DER TANZ DER DERWISCHE UND DER SUFIS Derwische sind ursprünglich Bettler gewesen und Sufis waren einst als Wollkleidträger (ssuf = Wolle) bekannt. Heute bezeichnet man zwei orientalische islamische Ordensrichtungen mit den Namen Derwische und Sufis. Beide verbindet eine alte mystisch-ekstatische Tradition und so zelebrieren sie die Größe Allahs, des Allgegenwärtigen, in ekstatischen Tänzen zu einer stark rhythmischen Musik. Hierbei sprechen oder singen die Sufis eine kurze Gebetsformel "Allah il Allah ...", die stundenlang wiederholt wird, mit zunehmender Intensität, Geschwindigkeit und Lautstärke. Die Sufis zelebrieren ihren religiösen Tanz indem alle Teilnehmenden mit ihren Nachbarn die Arme verschränken und zusammen einen großen Kreis bilden. Die Tanzbewegung zieht wie eine rhythmische Welle durch den Kreis und jeder wird Teil dieser Bewegung. Ist einer der Tänzer in völliger Trance und kann nicht mehr aktiv agieren, dann wird er von seinen Nachbarn zur Seite getragen, wo er sich völlig entspannen und ausruhen kann, die anderen kehren in den Kreis zurück und tanzen weiter, bis sie selbst so in Trance geraten sind, daß sie nun von den andern wiederum
- 194 -
weggetragen werden müssen. Der zuletzt übriggebliebene Tänzer besitzt die größte Lebensenergie. Derwische schlossen sich ab dem 8. Jahrhundert in mystischreligiöse Bruderschaften (Mönchsorden) des Islams zusammen, die jedoch in keinerlei Beziehungen zur offiziellen Kirchenorganisation stehen. Nach der türkischen Niederwerfung des Kurdenaufstandes unter dem kurdischen Sufi Derwisch Scheich Sa'id (Febr. bis April 1925) wurden in der Türkei sämtliche Derwischorden aufgehoben und ihre Klöster geschlossen (30. Nov. 1925). Seitdem sind alle Derwischorden in der Türkei streng verboten. MANTRIK Ein Mantra ist eine Gebetsformel, ein als wirkungsvoll geltender religiöser Spruch oder eine Art magische Formel, die im allgemeinen recht kurz ist und stets wiederholt wird. Vor allem im tibetischen Buddhismus (Mantrajana = Spruchfahrzeug) und im Hinduismus sowie bei den Shivaisten wird die Mantrik im Rahmen ritueller Handlungen oft angewendet. Ein Mantra muß man nicht unbedingt "verstehen", um seine Wirkung zu verspüren, denn diese entsteht durch die stetige rhythmische Folge der Worte oder Laute, die sich dem singenden, betenden und meditierenden Menschen einverleibt. Wer die Wirkung von Mantren je verspürt und erlebt hat, der weiß was es bedeutet, wenn es im Johannes Evangelium heißt: "Am Anfang war das Wort, und das Wort war Fleisch und wohnte unter uns". Das in der westlichen Welt bekannteste Mantra heißt: "Om Mani Padme Hum", was soviel heißt wie: "Möge die Lotusblute in Dir gedeihen." Oft wird auch das "Om" alleine als Symbol des Urschwingung der Schöpfung gesungen. Das Jahrtausende alte indische Mantra "Hare Krishna", das zur Lobpreisung des Flöten spielenden Gottes Krishna gesungen wird, hat eine ganz klassische sequentielle Struktur und ist nach strengen dualen arithmetischen Regeln aufgebaut wie ein modernes Technostück. Das 32 silbige Mantra lautet: Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare, Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama, Hare Hare.
- 195 -
Jedes Wort besteht aus zwei Silben, jeweils zwei Worte bilden einen Block, der wiederum jeweils zweimal wiederholt wird. Das zweite Wort Krishna wird im dritten Block zweimal wiederholt, das erste Wort Hare wird im vierten und im achten Block jeweils zweimal wiederholt. In der zweiten Hälfte des Mantra ist einfach das Wort Krishna durch das Wort Rama zu ersetzen. DER GREGORIANISCHE GESANG Der gregorianische Gesang wurde von Papst Gregor I., (der Große) am Ende des 6. Jahrhunderts in die Liturgie (griech. leitourgia = öffentlicher Dienst) der römisch-katholischen Kirche eingeführt. In der Kirche ist die Liturgie die Ordnung des Gottesdienstes, in der die Gesamtheit der gottesdienstlichen Handlungen einschließlich des Anteils der Musik offiziell festgelegt ist. Die Liturgie bestimmt den Ablauf der heiligen Messe. Als zyklische Form der Vokalmusik besteht die Messe der katholischen Kirche aus insgesamt fünf Ordinariumsteilen (lat. ordinarium = das Regelmäßige): 1. Kyrie (griech. Herr) Kyrie elesion Herr, erbarme dich 2. Gloria (lat. Ehre) Gloria in excelsis Deo Ehre sei Gott in der Höhe 3. Credo (lat. ich glaube) Credo in unum Deum Ich glaube an einen Gott 4. Sanctus (lat. heilig) + Benedictus (lat. gelobt) Benedictus, qui venit Gelobt sei, der da kommt 5. Agnus Dei (lat. Lamm Gottes) Agnus Dei qui tollis peccata mundi Lamm Gottes, der du trägst die Sünden der Welt Der gregorianische Gesang, dem die grundlegende Sammlung und Ordnung der vielgestaltigen alt christlichen Kirchenmusik unter liturgischen Gesichtspunkten zugeschrieben wird, verdrängte vor allem im 15. und 16. Jahrhundert die Sequenzen (lat. sequentia = Folge) aus der Meßliturgie, obwohl er mit den sehr schönen und harmonisch besser ausgereiften in Frankreich entstandenen liturgischen Sequenzen eine enge musikalische Verwandtschaft aufweist. Papst Pius V., der von Paul IV. im Jahre 1558 zum Großinquisitor erhoben wurde und im Jahre1566 die päpstliche Würde erhielt, ließ alle Sequenzen, bis auf fünf, aus der Meßliturgie entfernen. Die Entfernung der liturgischen Sequenzen aus der Meßliturgie steht wohl im Zusammenhang mit der Einführung des Index, dem Verzeichnis der von der katholischen Kirche verbotenen Bücher
- 196 -
(Index librorum prohibitorum). Der Index wurde im Jahre 1559 von Papst Paul IV. in Kraft gesetzt. In den mittelalterlichen liturgischen Sequenzen, wie auch beim bis heute im Gebrauch befindlichen gregorianischen Gesang, werden in einstimmigen einfachen melodiösen Mustern die Gebete in lateinischer Sprache gesungen, wobei bestimmte Passagen stets vom Chor und den Solisten wechselseitig wiederholt werden. Es ist auch hier unerheblich, ob der betende Mönch oder Gläubige das Gebet verstandesmäßig erfaßt. Ein Halleluja (hebräisch = preiset den Herrn) hat eine Wirkung wie ein Mantra und wird darum auch oft wiederholt. Im alten gegorianischen Gesang ist eine besondere Art christlicher Mantrik enthalten. Hans Cousto Aus dem Buch Hans Cousto / Vom Urkult zur Kultur – Drogen und Techno (Nachtschatten Verlag, Solothurn 1995).
- 197 -
• SINAN • DER INNERE FLUSS TANZ UND TRANCE Kulturen aller Zeiten haben Tanz und Musik im Rahmen von rituellen Handlungen genutzt, um den Menschen zu ermöglichen in einen Zustand der Trance zu gelangen und dadurch in andere Bewußtseinsstufen überzutreten. Während des trancehaften Tanzes bewegt sich der Körper weitgehend automatisch ohne Kontrolle durch das Bewußtsein. Gleic hzeitig lösen sich körperliche und geistige Spannungen, zudem werden die sinnlichen Wahrnehmungen intensiver. Im Anschluß an eine völlige Ekstase ist das Erinnerungsvermögen weitgehend ausgeschaltet. Reisen ins tiefste Innere sind genauso möglich, wie die Erfahrung kosmischer Unendlichkeit, wobei in vielen Kulturen von einer Verbindung mit Göttern und Göttinnen ausgegangen wird. Beispielhaft sind Rituale des haitianischen Voodoo-Kultes bei denen sich die TänzerInnen zu den Klängen monotoner Trommelrhythmen in Trance versetzen. Dem rituellen Verständnis zufolge treten dabei spirituelle Wesen in den Körper ein und ergreifen von ihm für eine Zeit Besitz. Die ekstatischen Bewegungen der TänzerInnen, die teilweise im Normalzustand von ihnen nicht auszuführen sind und für Außenstehende völlig chaotisch wirken, entsprechen den archetypischen Charakterzügen der einzelnen Geistwesen. In Indonesien finden an bestimmten Festtagen die traditionellen Pferdchentänze statt, deren Ursprung unbekannt ist. Zu Trommelund Gongschlägen ahmen dabei mehrere Männer, die seit ihrer Kindheit speziell für die Rituale ausgebildet wurden, Pferde nach. Schon nach einigen Minuten treten die Tänzer in einen TranceZustand und übernehmen völlig die Rolle des Pferdes. Ekstatisch springen sie umher, geben Laute von sich und essen Gras. Die bewußte Kontrolle über den eigenen Körper ist dabei genauso ausgeschaltet, wie das Schmerzempfinden. Die Tänzer reagieren weder auf Stiche noch auf Berührungen mit heißen Gegenständen, vielmehr sind sie sogar in der Lage Glasscherben zu schlucken ohne sich zu verletzen. Eine wichtige Rolle nimmt die Trance auch in vielen
- 198 -
schamanischen Ritualen ein. Gezielt wird dabei die Freisetzung von zuvor ungenutzten Energien, sowie der veränderte Zugang zum Unbewußten zur Heilung von Krankheiten und Gebrechen genutzt. Teilweise werden dadurch Ergebnisse erzielt die mit dem Wissen der westlichen Schulmedizin nicht nachvollziehbar sind. Als Wegbereiter für den Übergang in einen trancehaften Zustand werden zumeist gleichmäßige, lang andauernde Trommelrhythmen genutzt, deren Schwingungsfrequenzen im Gehirn Mechanismen auslösen, die mit denen während der Meditation und des traumhaften Schlafes verwandt sind. Zudem werden im Gehirn während des Tanzes Endorphine freigesetzt, die wie Opiate wirken und ein euphorisches Glücksgefühl, sowie zum Teil auch eine Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen auslösen. In der westlichen Kultur ist das Erleben tranceartiger Zustände, die sich der Kontrolle durch den Verstand entziehen, weitgehend tabuisiert. Die vielfältigen Traditionen von Tanz- und TranceRitualen, wie sie auch in Europa lange bestanden, wurde von den christlichen Kirchen als Ausdruck heidnischer Kulte und vermeintlich dämonischer Mächte unterdrückt und weitgehend ausgelöscht. Gegenwärtig läßt sich eine Verbindung von Tanz und Trance nur in einigen subkulturellen Strömungen erkennen. Eine besondere Rolle nimmt dabei die Techno-Kultur der neunziger Jahre ein, deren Parties und Raves in einigen Fällen mit großen Trance-Ritualen vergleichbar sind. Gerade in der betont rational und funktionell ausgerichteten westlichen Kultur entspricht sie der zumeist unerfüllten Sehnsucht nach ekstatischen Erfahrungen. Den letztlich lustfeindlichen gesellschaftlichen Normen wurde zum Teil ein verändertes Verhältnis zu Körper und Bewußtsein entgegengesetzt, welches sich insbesondere im Tanz niederschlägt. Wenn eine gute Party ihren Höhepunkt erlangt, dann wird der Veranstaltungsort zu einem Energiefeld, das zwar nicht greifbar oder sichtbar, aber dennoch sinnlich für alle Anwesenden spürbar ist. Die Körper der TänzerInnen bewegen sich automatisch zur monotonen Rhythmik der loopartigen Musik, während sich die Wahrnehmung völlig auf dem Moment konzentriert. Im Innern breitet sich eine positive Leere aus, die nur durch den Rhythmus ausgefüllt wird. Ein Gefühl der Gemeinsamkeit und der Verbindung bestimmt die
- 199 -
Empfindungen. Die Musik und die Farben werden zu einer Einheit. Überall wird ekstatisch getanzt, alles befindet sich im Fluß, die Grenzen zwischen der Tanzfläche und den übrigen Bereichen verschwinden. Sinan
- 200 -
• PAVAN W. ANANTA • DER KOSMISCHE ORGASMUS Der Himmel ist klar. Du kannst die Sterne sehen. Die Mondin scheint voller Schönheit. Du blickst in die Weite des Meeres. Hörst das Rauschen der Wellen. Gehst auf in der Musik. Fließt im Rhythmus. Spürst die Energien, die dich umgeben. Du begreifst, daß du ein Teil des Ganzen bist. Nachdem über Stunden hinweg getanzt wurde und die Sonne am frühen Morgen aufgeht, kommt es zu einem weiteren Energie sprung. Alle befinden sich in einem Zustand der Trance. Es ist ein Prozeß des Neubeginns, alle spüren tief im Innern die Veränderung und gehen in einem kosmischen Orgasmus auf. ------Goa ist der Name für eine Reihe von Stränden im Südwesten Indiens. Es sind Plätze der Kraft voller Schönheit. Seit den sechziger Jahren treffen sich an bestimmten Strandabschnitten Freaks aus der ganzen Welt. Viele leben dort schon seit mehr als zwanzig Jahren, zum Teil im Dschungel in Einklang mit der Natur. Andere haben sich einen kleinen Platz in der Nähe eines Flusses hergerichtet, an dem sich nicht viel mehr befindet als eine Decke, ein Bild Shivas und ein Shilum. Techno war ursprünglich in Goa die Musik der RebellInnen, der AussteigerInnen, der schwarzen Schafe. Sie leben wie ein eigner Stamm, ein Cybertribe. Es ist schwer in diesen Stamm aufgenommen zu werden. Sie mustern dich, bevor sie sich auf dich einlassen. Einige von ihnen sind ziemlich elitär, wirken oft ziemlich arrogant und von sich überzeugt. Aber unter ihnen triffst du ständig auf Menschen mit einer besonderen Ausstrahlung. Die Einheimischen waren anfangs ziemlich abweisend, aber sie haben gemeinsam mit den Freaks gelernt, sich gegenseitig zu akzeptieren und miteinander zu leben. Jedoch kommen immer mehr Idioten, die meinen, sie seien Freaks, nur weil sie aufgehört haben, sich zu duschen. Sie verstehen nicht, daß wirkliche Freiheit auch eine respektvolle Achtung anderer Menschen und der Natur einschließt. Inzwischen hat sich in Goa jedoch vieles negativ verändert. Die Freiräume werden eingeschränkt, die Polizei wird immer korrupter und die ganze Gegend zunehmend touristisch ausgerichtet. So wurde
- 201 -
beispielsweise einer der schönsten Strände von einem japanischen Konzern aufgekauft, der nun dort Nobelhotels bauen läßt. ------Techno kam in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nach Goa. Manchmal erinnern die Parties an Woodstock. Nicht von der Anzahl der Leute, sondern wegen ihrer inneren Vielfalt, der Offenheit und der Kreativität. Die Menschen, die von allen Teilen des Erdballs kommen, brechen die Grenzen von Staaten und Kulturen auf, um gemeinsam die Musik und die Liebe zu feiern. Wenn im Laufe der Nacht die Leute anfangen zu tanzen, nimmt die Energie unaufhörlich zu. Es ist keine irdische Situation mehr. Alle sind in sich selbst versunken und im selben Augenblick mit allen anderen und der Natur verbunden. Die Musik wird dann zu einem Weg, der es ermöglicht tief in das Innere zu gehen und gleichzeitig den eigenen Körper zu verlassen. Der trancehafte Tanz wird zu einer Form der Meditation und er ist so sinnlich, daß während der Parties eine tiefe erotische Energie entsteht, die überall spürbar ist. Manchmal fühlst du dich völlig entblößt, als wärest du nackt und deine ganzen Masken fallen. Du hast das Gefühl, daß dich tausend Augen beobachten, aber es stört dich nicht, weil du keinen Schutz mehr brauchst. Viele Leute sind phantasievoll in bunten Farben gekleidet und tauschen während der Parties mehrfach ihre Kleidung. Sie stellen immer wieder verschiedene Charaktere dar und tanzen zum Beispiel als Magier, Phantasiewesen oder Außerirdische. Es ist eine Zusammenkunft verschiedener Realitäten deren Verknüpfungspunkt die Musik ist. ------Die Parties beginnen etwa um zwei Uhr nachts und gehen meist bis zum Mittag. Manchmal werden sie für einen bestimmten Ort angekündigt, sind dann aber ganz woanders, um die Polizei und die TouristInnen in die Irre zu führen. An manchen Parties nehmen 2.000 bis 3.000 Menschen teil, aber die meisten sind wesentlich kleiner. Es wird jedoch schwerer Parties zu organisieren. Immer wieder überfällt die Polizei Parties, zerstört das Equipment und verfolgt die beteiligten Personen. Benötigt wird nur ein Generator, eine Anlage und Plattenspieler bzw. zwei oder drei DAT-Recorder, da viele DJs in Goa nicht mit
- 202 -
Schallplatten arbeiten. Zumeist werden Tücher aufgehängt, die mit mythischen Symbolen in fluoreszierenden Farben bemalt sind. Die Musikstücke erzählen immer wieder Geschichten ohne Worte zu benutzen. Sie kommen großteils aus Europa und werden dann von den DJs speziell gemixt. Einige Stücke entstehen aber auch in Goa, wobei letztlich kaum jemand der Ursprung der Aufnahmen interessiert, denn die Musik hat ihre Bedeutung in sich selbst und im Zusammenhang mit den Empfindungen während der Parties. Mit der Zeit entwickelte sich aus der speziellen Atmosphäre ein eigener musikalischer Stil, der von Trance- und Acid-Elementen bestimmt ist und eine starke atmosphärische Ausstrahlung hat. ------Techno und der trancehafte Tanz mit seiner ursprünglichen tiefen Energie ist ein Teil eines Kreises, der ganz ursprünglich am Anfang der Zeit beginnt und von den SchamanInnen der alten Stammeskulturen über das Mittelalter mit all den Hexen und ihrer Magie bis zu den Hippies und Freaks und ihrem Ruf nach Frieden, Freiheit und Liebe reicht. Ich sehe lange Entwicklungen vor mir, von ihrem Anfang bis zum Ende. Aber es ist im Grunde kein Ende, es ist ein Kreis der geschlossen wird und auf einer anderen Ebene bis in die Ewigkeit reicht. Pavan W. Ananta
- 203 -
• PSYCHICK WARRIORS OV GAIA • ELEKTRONISCHE VOODOO-RITUALE Die Funktion von ritueller Tanzmusik ist es, das Ego zu überwinden und Kontakt zum eigentlichen Selbst zu ermöglichen. Die dafür nötigen elektronischen Technologien überschwemmen inzwischen den westlichen Markt und sind für uns alle verfügbar. Und die Tanzflächen sind gefüllt. In der Kultur Haitis versetzen sich TänzerInnen mit Hilfe von Rhythmen in Trance. Wenn die Person dann innerlich geleert und gereinigt ist, steht sie einem Spirit zur Verfügung. Wir wissen, daß das gleiche auf der Tanzfläche, der rituellen Tanzfläche passiert. Das allerbeste, freieste Gefühl, das Du auf einer guten Party erleben kannst, ist, daß Du ohne Gedanken bist, daß Du Dich geleert hast. Von diesem Punkt aus ist Weisheit so einfach erreichbar. Wahres Wissen liegt so nahe und doch scheint es uns so schwierig, es zu erkennen und zu begreifen. Es mag gefährlich sein, wenn Du nicht relaxt bist, wenn Du Dich nicht leerst, wenn Du Deine alltäglichen Probleme mitnimmst, aber falls Du es schaffst, das alles zuruckzulassen, dann kannst Du Dein "Eden" finden. Das faszinierende auf der Tanzfläche ist der endlose Rhythmus. Die Musik endet nicht, es ist ein kontinuierlicher Fluß, der die Leute am tanzen hält. Deshalb wurde Ambient ein wesentlicher Teil der Parties. Die Leute können sich zurückziehen, ohne daß der Sound aufhört. Es ist auch wichtig, daß der DJ keine Platten spielt, die schon bekannt sind. Die Leute müssen nicht über die Musik reden oder darüber nachdenken. Sie nehmen sie unbewußt auf. Es ist eine magische Wirkung auf den Körper und die Seele. Die Musik vermittelt Wissen, öffnet dich für Informationen, die Du in dir selbst trägst. Wir alle haben schon das Wissen und die Informationen, die wir brauchen in uns! Achte auf die Frequenz der Wahrheit! Breche den Bann der Illusion und des unsinnigen Spektakels! Werde ein innerer Astronaut! Die wirklichen Strukturen, die es zu brechen gilt, befinden sich in unserem Gehirn. Die festgefahrenen Denkweisen der heutigen Dinosaurier sind viel stärker als es scheint. Wenn wir etwas verändern und uns dafür stark machen wollen, dann sollten wir lernen aufzustehen, um hinter den Vorhang zu schauen, denn nur
- 204 -
darüber zu reden ändert natürlich nichts. Bis zum Beginn dieses Jahrhunderts haben Menschen nie Musik aufgenommen. Tausende von Jahren haben Menschen Musik gemacht, ohne sie verkaufen zu wollen. Sie waren frei von dem Zwang, ihre Künste und Fähigkeiten irgendeiner Form anzupassen... aber in der heutigen Zeit haben wir uns alle angepaßt. Die Illusion von Realität hat soviele Limitierungen, daß sie Dich dazu drängt, zu vergessen, was außerhalb dieser Grenzen liegt. Vor einiger Zeit ist mein TV-Gerät kaputt gegangen und plötzlich erkannte ich, daß es nichts anderes ist, als ein schweres Stück Metall, Plastik und Glas. Als das hypnotisierende Image, der Rhythmus und der Inhalt verschwunden waren, realisierte ich, daß all die Wahrheiten, die durch die Bildschirmröhre kamen, nur eine Farce waren, nur eine Illusion, nur eine Suggestion von Realität. Und plötzlich war es wieder einfach nur eine Maschine. Vergleichbare Breaks gibt es auch in der Musik. Sie haben ihre spezielle Funktion. Ein plötzlicher Break kann auf zweierlei Art und Weise genutzt werden. Wenn die aufgeheizten TänzerInnen zu besessen werden und die Gefahr des Verausgabens besteht, dann kann sie ein gut plazierter Break wieder relaxen und erden. Aber es gibt auch eine andere Art von Break, bei dem die Erwartungshaltung, die Spannung und das Adrenalinlevel erhöht und die TänzerInnen angeheizt werden. Der interessante Aspekt der House- und Techno-Musik liegt vor allem in der Möglichkeit Loops zu kreieren und Stücke endlos zu mischen. Oder kannst Du dir noch vorstellen alle fünf Minuten erneut mit dem Tanzen zu beginnen, wenn der DJ die Platte wechselt? All diese herkömmlichen Songs versuchen Dich zum Denken anzuregen und dadurch wieder zu beeinflussen. Das genaue Gegenteil passiert beim Trance-Rhythmus, der immer und immer weiter geht: Du hörst auf zu denken! Und das ist der Moment, der Zustand, in dem Begriffe wie Freiheit oder Frieden zutreffend erscheinen. Mit Worten ist es kaum zu beschreiben... Psychick Warriors Ov Gaia • Auszug eines Gesprächs, das b-Eden mit Bobby Reiner und Fox von den PWOG führte. •
- 205 -
• HANS COUSTO • DIE ORPHEUS-BRAIN-BOX EIN DIONYSISCHER HIGH-TEC-TEMPEL Die Orpheus-Brain-Box ist eine begehbare Brainmaschine für Sessions von sechs bis fünfundzwanzig Teilnehmern. Durch multimediale Stimulation in einem in sich geschlossenem Raum wird eine "virtuelle Raumlosigkeit" erzeugt, die ein sehr spezielles "spacefeeling" vermittelt. Dadurch wird ereicht, daß Erlebnisräume geöffnet werden, die sonst allgemein nur mittels Einsatz bestimmter Moleküle (Drogen) der Erfahrung zugänglich werden. Der technische Aufbau der Orpheus-Brain-Box besteht aus einem weißen, zwanzig Meter hohen Zelt, dessen Innenmaße etwa 4x4 Meter (Grundfläche) betragen. In diesem Zelt ist ein weicher Teppich ausgelegt. Zudem sind Sitz- und Liegegelegenheiten für die BesucherInnen bereitgestellt. Das Zelt solltei n einem möglichst ruhigen, mindestens drei Meter hohen Raum mit einer Grundfläche von mindestens 12x12 Metern aufgebaut werden. In dem geschlossenen Innenzelt sind bequeme Sitz- und Liegegelegenheiten bereitgestellt, auf denen die BesucherInnen ruhen können und die multi-medialen Signale auf sich einwirken lassen können, die elektronisch mittels Computer nach streng wissenschaftlichen Kriterien gesteuert werden, so daß Frequenzfolgereaktionen (FFR) im Gehirnwellenbild der BesucherInnen ausgelöst werden. Dies hat zur Folge, daß tiefe Entspannungszustände in kurzer Zeit erreicht werden. Die Seitenwände des Zeltes werden von der Außenseite her mittels acht Diaprojektoren und speziell konzipierten Bildern in farbige sich stets wandelden Ornamentflächen verwandelt. Die eigentlichen psychoaktiven Lichteffekte werden mittels acht computergesteuerten Strobolights erzeugt. Außerhalb des Zeltes sind weiter vier Lautsprechergruppen angeordnet, die die akustischen Signale übermitteln: Musik, Schwebungsmuster (Hemi-Sync-Signale) und die High-Hits von Cymbals und Cup Chimes zur Wirkungsunterstützung der Strobolights. Neben dem Zelt ist ein Steuerpult mit Computer, Dat-Recorder, Magnetfeldgenerator, Mischpult und Schnittstellen instaliert. Alle technischen Geräte sind verdeckt aufgebaut, so daß sie das Ambiente nicht stören.
- 206 -
Die harmonikalen Grundlagen der Orpheus-Brain-Box entsprechen den Kriterien der "Kosmischen Oktave". Sie sind also absolut im Einklang mit der Natur, da nur aus wissenschaftlich bestimmbare Naturgegebenheiten physikalisch abgeleitete Rhythmen und Tonfrequenzen zur Anwendung kommen, die sich in verschiedenen Kulturkreisen als meditativ erfahrbare Töne und Schwingungen bestätigt haben und im medizisch-therapeutischen Bereich vielfach untersucht und überprüft wurden. Sämtliche in der Orpheus-Brain-Box zur Anwendung gelangenden Impulse sind oktavanalog harmonikal aufeinander abgestimmt: Grundfrequenz, Schwebungsmuster und Rhythmus der Musik, Grundfrequenz des Magnetfeldgenerators, Anordnung und Frequenzfolge der Strobolights sowie die Formen und Farben der gezeigten Bilder (Ornamente). Die akustischen und optischen Programme sind alle mit einem Zeitcode (SMPTE) versehen und so miteinander gekoppelt. So wird vom physikalischen wie auch vom künstlerischen Standpunkt her gesehen, die bestmögliche Affinität zur Natur realisiert. Vom Standpunkt der Synästhesie handelt es sich um den aktuellen Entwicklungsstand aus Forschung und Wissenschaft. Der Erlebnisbereich für die BesucherInnen wird durch psychophysische Veränderungen geebnet, die mittels Frequenzfolgereaktionen (FFR) im Alpha, Theta- und Deltawellenbereich ausgelöst werden und eine Koordinierung der beiden Gehirnhälften zur Grundlage haben. Zuerst wird der Alphawellenbereich angesteuert, der für ruhige Entspannung und gelassene Aufmerksamkeit sorgt, danach der Thetawellenbereich, der die bildhafte Vorstellung fördert und schließlich der Deltawellenbereich, der den Tunnel zum wahren Trancezustand öffnet. Das dargebotene Programm bietet eine optimale Möglichkeit, nach Tanz und Ekstase, in sich zu ruhen und die eigene Phantasie zu stiumlieren und den 'inneren' Film ablaufen zu lassen und so den Weg zur eigenen Lebensquelle zu durchwandern, ergründen und erleben. So können die BesucherInnen eine kosmisch-sphärische Reise erleben. Die Hauptphase des Programms läuft im Theta- und Deltawellenbereich (Visionen im Trancezustand), und gegen Ende
- 207 -
der Sessions werden in dem Programm vermehrt Alphawellen und schließlich die schnellen Betawellen eingesetzt, damit die Reisenden wieder sanft an die äußere Realität gewöhnt werden. Die eigentliche Session dauert etwa 30 Minuten, wobei zuvor während etwa 10 Minuten die Leute mit Dia-Bildern (Ornamenten) und kosmischer Musik eingestimmt werden und nach der Session bei sanften Ambient-Sounds vor Ort zuerst ausruhen und über ihre Erlebnisse sprechen können. Ton- und Lichteffekte werden nach dem Prinzip der Minimalkunst eingesetzt, so daß der eigenen Phantasie ein möglichst großer Raum für die individuelle Entfaltung gegeben ist. Nach dem ekstatischen Tanz, wie nach anstrengender anderer Tätigkeit, haben Menschen oft ein großes Ruhebedürfnis, doch sind viele von uns zu verspannt, um diesem Bedürfnis zu gegebener Zeit Rechnung tragen zu können und haben darum große Mühe, sich völlig zu entspannen und zu relaxen. Die Orpheus-Brain-Box bietet ein Umfeld, das diesem Bedürfnis optimal entgegenkommt. Besonders, wenn Leute nach Drogengebrauch mehrere Stunden getanzt haben, brauchen sie einen Raum, der die Entspannung fördert. Nach der Ekstase (wie auch nach einem Orgasmus) ist völliges Relaxen angesagt. Fehlt zum Beispiel in einem Techno-Club ein echter Chill-Out-Space, dann fühlen sich die Leute oft genötigt, aufputschende Drogen (Speed, Kokain) zu nehmen, da sie einerseits noch nicht gehen wollen und noch Musik genießen mögen, anderseits keinen Space zum Entspannen finden und so gezwungen sind in der zur psychischen als auch physischen Dynamik anregenden Tanzarea zu verweilen. Eine Orpheus-Brain-Box in der Nähe der "Actionszene" hat einen drogen-präventiven Charakter und begünstigt zumindest die Minderung des Drogenkonsums und der damit verbundenen Problematik. Von der strukturellen Seite her betrachtet, ist die Orpheus-BrainBox ein echter Tempel, ein wirklicher dionysischer Tempel. Die einzelnen Elemente sind nach Maß und Zahl, als auch nach Kunst und Zierde den gleichen harmonikalen Kriterien unterworfen, wie dies in der Kunst des gotischen Kathedralenbaus der Fall war. Die räumlichen, graphischen und farblichen "Bausteine" als auch die tonale und rhythmische Abfolge der akustischen Gegebenheiten sind dem Laut der Erde im Kosmos nachgeahmt. Diese astronomisch bestimmten Schwingungsmuster können auch in der Natur (Spheries in der Erdathmosphäre, Zeugungs- und Geburtszyklen,
- 208 -
Resonanzmaxima bei den DNS-Ketten) nachgewiesen werden. Es handelt sich somit um universelle Schwingungsstrukturen. "All-Ein-Sein heißt eins sein mit dem All. Die Schwingungen des Alls wahrzunehmen und sich auf diese Schwingungen einzustimmen heißt, sein Leben - oder einfach sich selbst - mit dem All in Einklang zu bringen. Ist die Person (von lat. per-sonare = zum Erklingen bringen, hindurchtönen) im Einklang mit dem Kosmos, so resoniert der Kosmos in ihr, der Kosmos findet seinen Widerhall in der Person. Wird man sich dessen bewußt, hat das Bewußtsein eine kosmische Dimension erreicht." ("Die Kosmische Oktave") Hans Cousto
- 209 -
• MARCUS STIGLEGGER • DAS LEBEN IST SCHMERZ MODERN PRIMITIVISM AUF DER SUCHE NACH EINER NEUEN AUTHENZITÄT - Für Cindy 'Nirgendwo ist der Mensch mehr Kreatur als im Zustand unerträglicher Schmerzen.' Wolfgang Sofsky / Traktat über die Gewalt. ANMERKUNGEN ZUM GEWÜNSCHTEN LEID Modern Primitivism hat sich neben New Barbarians und Tribalism als Modewort etabliert. In allen drei Fällen spiegeln sich Facetten eines subkulturellen Phänomens, das zusehends in verschiedene Bereiche der populären Kultur eindringt: Mode, Film und Musik. Auf den folgenden Seiten möchte ich einen Versuch wagen, diese Phänomenologie zu definieren und ihre Popularisierung anhand filmischer Beispiele nachzuweisen. Die spezifische Verbindung von Sexualität, physischem Schmerz und Gewalt, in der der Modern Primitive eine neue, ungekannte Form der sinnlichen Reinheit sucht, ist schwer zu fassen und noch problematischer zu definieren: Der Soziologe Wolfgang Sofsky z.B. unterscheidet in seinem "Traktat über die Gewalt" zwei Formen von Gewalt, die nicht destruktiv auf den Mitmenschen ausgerichtet sind, sondern zur Erweiterung des eigenen Empfindens dienen: "Rituale der Initiation oder asketische Techniken der Selbstkasteiung sind kulturelle Praktiken des Schmerzes. Sie nutzen den Umschlag des auf Leibeinseln eingehegten Schmerzes in Wollust, in die Wonnen der Pein. Oder sie aktivieren Kräfte, die sich dem Schmerz erfolgreich zu widersetzen vermögen. Diese Techniken zielen jedoch weniger auf den Schmerz als auf dessen Überwältigung, auf die Restitution der personalen Einheit. Im Zugewinn an leiblicher Intensität und Handlungsmacht bestehen Lust und Triumph der Souveränität, nicht im Erleiden des Schmerzes." Die im Folgenden beschriebenen Phänomene deuten an, wie sich eine schmerzliche Initiation innerhalb der populären Kultur Wege bahnen kann, um sich der Entfremdung vom eigenen physischen Bewußtsein innerhalb der westlichen Kultur entgegenzustellen.
- 210 -
Es ist nicht neu, auf diese Weise darüber nachzudenken, doch ist es ein wichtiger Schritt, um zu verstehen, wo die tatsächlichen Verbindungen zwischen Kulturanthropologie, Geisteswissenschaft, Kunst und Mystizismus liegen – all jener Dinge, die eng mit dem Phänomen des Modern Primitivism verbunden sind. Zweifellos sind es die Schlüsselbegriffe der Ethnologie, die helfen werden: der Schamane, jener Vermittler zwischen den Welten der Geister und der Menschen, die Initiation als bedeutender Schritt zu einer Höheren Erkenntnis, die Passage von einem Bewußtsein zum nächst höheren, das Ritual als Basis für die Entfaltung der Voraussetzungen für jegliche Entwicklung. Dem Künstler kommt in der westlichen, initiationslosen Gesellschaft in gewissen Fällen die schamanistische Funktion zu: Dieses Selbstverständnis reicht von Joseph Beuys zu den Wiener Aktionisten. Der Künstler ist der Eingeweihte, der den Rezipienten den Schritt der Initiation voraus hat. Wesentlich wird es für ihn, dieses Defizit zu beheben. Tatsächlich hat er eine Mission, sogar eine gesellschaftliche. Das ist mehr, als ihm die Moderne zugestehen wollte, die nicht an eine "transzendierende" Möglichkeit glauben mochte. Da Initiation immer die Konfrontation mit dem UnFaßbaren bedeutet, wird Kunst notwendig als reflektierter Leidensmoment, als Moment der Krise: einer künstlichen, provozierten Krise, wenn man so will. Der Künstler bedient sich der jeweils kulturell naheliegenden Affektbilder und -situationen, die er komplex in sein eigenes ästhetisches Universum bettet – so bieten sich gerade die Bizarrerien des Modern Primitivsm zur Simulation von "Authentizität" an. Bis zu einem gewissen Grad ist demnach jedes "gelungene" Kunstwerk zugänglich und zugleich nicht. Die Analyse der Autorenschaft kann jedoch nie die Voraussetzung für eine tiefere Erkenntnis sein - sie bestätigt lediglich die Tauglichkeit des Künstlers als Mittler. Kunst besteht also als Methode der Erkenntnis, als Möglichkeit, "ganz" zu werden. Zärtlichkeit, Sexualität, Gewalt, Tod, Qual, Schöpfung, Irritation, Relativierung, Bestätigung, Alltäglichkeit und Mythos sind die Dreh- und Angelpunkte des initiatorischen Werkes, das sich im einen Fall einer Darstellung modern primitiver Körpertechniken bedient, oder im anderen Fall den Stil der Darstellung aus einer Reflektion dieser Techniken bezieht. Essentielle Erfahrungen werden ästhetisch vermittelt und vom Publikum authentisch erlebt – im Idealfall. Die Passage ist das Ziel, die Transzendenz die Idee.
- 211 -
Wir leben im Zeitalter der reduzierten Erfahrung, der domestizierten Authentizität; ein essentielles Leiden wird vermißt und gefordert. Die Rituale einer neuen Kunst, die sich über Autoreflexivität und Zitation erhebt, wird zeitgenössische Wege finden, latent mythische Bilder modern verkleiden, um vergessenes und vermißtes Erleben neu zu garantieren. Sie werden einer Generation ohne Weltkriege und Revolutionen vielleicht zur "humanen Geburt" verhelfen. Kunst gleicht im Einklang mit dem Modern Primitivism einem magischen Ritual, dessen komplexer Aufwand dem Ziel dient, das Unterbewußtsein positiv zu manipulieren und zu stimulieren. Kunst ist in diesem Sinne der magische Akt, künstlerischen Willen geltend zu machen. Bild, Musik, Rede, Kostüm und viele weitere sinnliche Reize sind die Medien des magischen Rituals. Gleichsam soll Kunst zum tiefenpsychologischen Psychodrama werden. Kunst im Zeichen von Modern Primitivism ist und bleibt das Medium von Eros und Thanatos, von mythischem Werden und Vergehen. Und zudem wird im Moment existenzieller Entäußerung – im Schmerz, in der Lust – jede Grenze hinfällig: Die Mauern von Gender fallen, egalisiern alle Partizipienten. Die Körpertechniken des Modern Primitivism kennen die Schranken der Geschlechter nicht. Sie sind die Chance auf ein möglicherweise überfälliges neues Verständnis des unheimlichen Anderen, jenseits des alltäglichen Unbehagens. 'Das in unserem Sinn Reine trägt den unverwechselbaren Stempel des starken, unnatürlichen und lasterhaften Verlangens erotischer Phantasie.' Salvador Dalí / Die Liebe. DAS NEUE GESICHT DES BARBAREN: MODE UND IHRE MEDIALE PROJEKTION Das neue Gesicht des Barbaren ist zunächst ein äußerlich manifestes Phänomen, eine Frage der subkulturellen Mode. Neben dem archaischen Medium Leder sind es vor allem weitere hautähnliche Materialien, die zur zweiten Haut, zur Skin Two des Modernen Primitiven werden: Latex, Lack und Lycra. Die Kontur des Körpers wird betont und maskiert zugleich: ein sichtbar verhülltes Gesicht. Im Zusammenhang mit den Begriffen Körpermodulation und -manipulation ist das Anlegen formender
- 212 -
Korsagen zu sehen, die den Körper zugleich stützen, in eine gewünschte Form pressen und panzern – ungeachtet des Geschlechts. Eine schwarzlederne Korsage mit Schnallen, wie man sie auch aus Filmen wie Edward Scissorhands (Edward mit den Scherenhänden) und Hellraiser kennt, verleiht dem Körper auch etwas NichtMenschliches, Insektenhaftes. Als Schuhwerk dienen primär Stiefel aller Art, vom Arbeiterschuh bis zum Reitstiefel. Die Konnotation mit Dominanz und Macht wird dabei bewußt gesucht, um das Element der Gewalt ritualisiert in die Kleidung einzubeziehen. Bestimmte Schuhmarken haben sich auf diese Weise etabliert: Doc Marten's, Rangers, Dredd Commanders werden als Etiketten im Modern Primitivism durchaus ernst genommen. Als Schmuck und Assecoirs dient vor allem Silber- oder Messingschmuck, der in einigen Fällen fast den Anschein einer Waffe haben kann: So wurden im Zusammenhang mit dem Modern Primitivism krallenartige Gelenkringe populär, die zum Teil auf Designs des Schweizer Apokalypse-Künstlers H.R. Giger basieren. Eine wesentliche Rolle kommt schließlich der Gestaltung des Körpers selbst zu. Zunächst die Frisur, die in allen möglichen extremen Varianten getragen wird. Neben dem zumindest teilweise kahlrasierten Schädel sind es spezielle Formen der Dredd-Locks, also verfilzter oder zumindest geflochtener Haarsträhnen, die im Modern Primitivism immer wieder auftauchen. Sie verweisen jedoch keineswegs auf den in der jamaikanischen Raggae-Bewegung populären Haarkult, sondern gemahnen an das mythische Medusenhaupt, eine machtvolle, abschreckende Waffe. So werden die Haare zu einem Symbol von Wildheit und Animalität bei Männern wie Frauen. Wenigen ist bewußt, daß auch Kelten, Germanen, die Hunnen und die nordamerikanischen Huronen diese Haartracht in der einen oder anderen Variante im Krieg einsetzten, um den Gegner zu beeindrucken. Ähnliche Funktion kommt dem Körperschmuck zu, der in mindestens zwei Varianten verbreitet ist: Piercing und Tattoos. Die Piercingringe aus Edelstahl werden an allen sensitiven Körperstellen getragen und bewiesen bereits in der römischen Kaiserzeit den Mut und die Leidensfähigkeit ihrer Träger. Auch bei Frauen sind sie zum Manifest einer erweiterten Sexualität geworden, zu einem Symbol der Suche – nach intensiven Beweisen der Existenz. Tattoos sind in sehr verschiedenen Formen und Kulturen bekannt. Im Modern Primitivism haben sich vor allem die
- 213 -
großflächigen, farbstarken "Tribals" durchgesetzt, verschlungene Ornamente, die zum Teil in symbolische Form übergehen können. Des weiteren sind es vor allem mythische und okkulte Symbole, die sich als Motive etabliert haben. All diese Elemente stellen eine assoziative Verbindung mit sadomasochistischer Sexualität her, die von einigen Teilen der Modern-Primitives-Bewegung tatsächlich praktiziert wird und als folgerichtige Adaption der InitiationsWünsche und -Erwartungen erscheint. Gerade im Sadomasochismus macht sich eine bewußte Hinwendung zur existenziellen Freiheit bemerkbar, für die eine Überwindung von Machismo und dem Mythos eines rein weiblichen Masochismus' Bedingung ist. Wer seine eigene Qual wählen kann, hat letztlich die Macht. Neben einigen Ausläufern der Hippiekultur der späten sechziger Jahre war die Punkbewegung der sie bziger Jahre die erste große Subkultur, deren Anhänger mit Modern Primitive-Elementen auf sich aufmerksam machten. Mit Sicherheitsnadeln wurden temporäre Piercings – v. a. im Gesicht – vorgenommen, Tätowierungen wurden offen getragen, die Haare strähnig "gestellt" und teilweise ausrasiert. Schwarzes Leder war – und ist – in diesem Umfeld ein beliebtes Kleidungsmedium. Die Urpunk-Bewegung der späten Siebziger splittete sich im folgenden Jahrzehnt in verschiedene weitere Bewegungen auf: Gothic, Grebo, Psycho, später Grunge und Elektropunk. Gothic ist eine schwarzromantische Subkultur, die sowohl als spätes Erbe des Existenzialismus angesehen werden kann, als auch als Hybrid der Postpunkbewegung unter dem Einfluß des New Romantic der frühen achtziger Jahre. Erste Vertreter dieser sich vornehmlich schwarz kleidenden, weißgeschminkten Subkultur mit einem oft diffusen Faible für das Okkulte, Morbide und Mittelalterliche sind die Bands Bauhaus seit 1979, deren Stück "Bela Lugosi's Dead" als erster Gothic -Rock-Song betrachtet werden kann, The Sisters of Mercy, The Cure und Alien Sex Fiend. Neben dem "hochgeschlossenen" mittelalterlichen Aspekt dieser Subkultur behauptete sich bis heute eine Tendenz zur sadomasochistischen Ästhetik, deren Versatzstücke ähnlich wie in der Punkbewegung eingesetzt werden. Andererseits ist in der Selbstdarstellung einiger Gothic-Bands, v.a. Fields of the Nephilim, eine Hinwendung zum Schamanismus und zum stark veräußerlichten Heidentum (Paganismus) auffällig. Sowohl Punk, als auch Gothic haben sich als äußerst langlebig erwiesen und feiern regelmäßig ihr Comeback.
- 214 -
Mit der Industrial-Musik der späten siebziger Jahre (Throbbing Gristle, S.P.K., Whitehouse), sowie deren aktueller Vertreter (Genocide Organ, Dive) ist ebenfalls seit Jahren ein "harter Kern" von Fans assoziiert, deren Selbstdarstellung den apokalyptischen, destruktiven Gestus dieser Musikrichtung aufgreift und mit militaristischen Versatzstücken (Uniformteile, Embleme) sowie ebenfalls Elementen der S&M-Szene verbindet. Die Verwendung von Uniformelementen (Stiefel, Koppelschlösser, Reithosen, Tarnkleidung) bei den Künstlern (z.B. Laibach) sowie bei einem Teil des Publikums verweist auf den autarken Archetyp des Kriegers, der der modernen Gesellschaft "den Kampf angesagt hat" bzw. auf die "Total War"-Mentalität des Kapitalismus reagiert. Körperkult in Form von Tätowierungen etc. spielt sowohl dort als auch in der Metal-Szene und einigen Strömungen der Techno- und Rave-Kultur eine Rolle. Eine szeneübergreifende Studie zu diesen Phänomenen liefert Wolfgang Sterneck in dem von ihm herausgegebenen Band "Cybertribe-Visionen" (Hanau 1996). Etwas anders verhält es sich mit dem Bereich des rockigen Industrial-Metal bzw. Elektro-Rock, der Modern-Primitive-Elemente häufig nur als Showaspekt ins Image integriert: The Genitorturers z.B. führen Piercing und Bondage als Bühnenperformance vor, während in die Musik von Nine Inch Nails und ihres Hybriden Marilyn Manson zumindest Samples und Textzeilen integriert sind, die auf eine Auseinandersetzung mit Modern Primitivism schließen lassen. Auf eher comichafte Weise bauen The Prodigy und die deutschen Rammstein sadomasochistische, fetischistische und Tribal-Elemente in ihre Videos und Bühnenshows ein, um sich in der Öffentlichkeit ein möglichst prägnantes Image zu geben. Auch Kunstbegriffe wie Elektropunk für The Prodigy und Dance-Metal für Rammstein schließen meist inhaltsleer an etablierte Phänomene an. Auf dieser Ebene hat der Ausverkauf des Modern PrimitivePhänomens bereits begonnen. Vor allem im Bereich der Fotografie werden häufig Modern Primitive Phänomene dokumentiert. Philippe Fichot, Gründer der französischen Performance-Gruppe Die Form, der Filmemacher Richard Kern (s.u.) und auch so prominente Künstler wie Robert Mapplethorpe und Joel-Peter Witkin sind u.a. auf diesen Bereichen bekannt geworden. Bilddokumente für die oben beschriebene Phänomenologie finden sich in David Woods Kompendium "Torture
- 215 -
Garden" und in den Veröffentlichungen von Housk Randall, die beide v.a. die Londoner Fetisch- und Modern Primitive-Szene präsentieren. Da es sich bei den Vertretern des Modern Primitivism, die man auf speziellen Parties und Konzerten antrifft, letztlich immer um selbsterklärte Exoten handelt, die oft fest in den ökonomischen Arbeitskreislauf integriert sind, würde ich als Bezeichnung für dieses Phänomen statt dessen den etwas weniger weitgreifenden Begriff "Tribal-Style" vorschlagen. 'Man lebt im Unwahren, solange man nicht gelitten hat. Wenn man aber zu leiden beginnt, wendet man sich dem Wahren nur zu, um dem Unwahren nachzutrauern.' E.M.Cioran / Gevierteilt. EIN NEUES KÖRPERKINO Tetsuo (Japan 1989) und Testuo II - Body Hammer (Japan 1991) nennt der Japaner Shinya Tsukamoto seine beiden rasanten ScienceFiction-Filme. In einer kollabierten Industrial-Welt verschmelzen Menschen, gleich David Cronenbergs und H.R.Gigers Biomechanoiden, mit metallenen Maschinen, vornehmlich mit Waffen, um sich Endkämpfe von archaischer Wucht zu liefern. Die Bildsprache paßte Tsukamoto dem monoton-hämmernden Rhythmus der Tonspur an: Suggestiv und rasend schnell sind Bilder aus schneidendem Schwarzweiß aneinandergereiht, die schon in ihrer rasendschnellen Kontrastmontage eine Verbindung von Fleisch und Metall/Maschine andeuten. Die Montage schafft die rythmisierte Verknüpfung, die dem Zuschauer die reizlastige Bilderflut ungefiltert ins Gehirn hämmert – Kino als Akt des Schmerzes. Tsukamoto kreierte so die eindringlichste filmische Umsetzung einer industrialinspirierten sadomasochistischen Äthetik: Fleisch und Metall verschmelzen in eindeutig sexueller Konnotation letztendlich zu einer biomechanischen Waffe. In einer eindrucksvollen Sequenz wird der Protagonist des ersten Teils von einem medusenhaft wuchernden biomechanoiden Mädchen qualvoll penetriert, was seine Transformation besiegelt – er wird ganz Piercing und Schmerz. Tsukamoto schließt hier deutlich an Tendenzen an, die bereits mit Aufkommen der historischen Epoche der Industrialisierung aktuell wurden: Die Auffassung des Körpers als mechanisches Objekt, die einen eventuellen Austausch von organischem Wesen und maschineller Kreatur möglich macht.
- 216 -
Derartige Gedanken beeinflußten bereits Fritz Langs Idee der "zweiten Maria" in Metropolis (D 1925/26). Die Fetischisierung bzw. Sexualisierung mechanischer, vornehmlich metallischer Objekte erinnert an Marshall McLuhans Ideen aus "The Mechanical Bride" (1954) oder etwa James G. Ballards Roman "Crash" (1971) , der wohl nicht von Ungefähr erst 1996 ausgerechnet von David Cronenberg (Videodrom, 1983) visualisiert wurde. Der industrialisierte Mensch ist auf der Suche nach neuen Mythen fündig geworden im industriellen Alltag, dessen wuchernden, rhythmischen und letztlich sinnlichen Elementen sich nur zu leicht mythische Strukturen überstülpen lassen. Bisheriger Höhepunkt von Tsukamotos Karriere ist das Boxerdrama Tokyo Fist (1995), in dem der Regisseur selbst zusammen mit seinem Burder Khoji Tsukamoto ein brutal rivalisierendes Freundespaar spielt. Während die beiden TetsuoFilme den Körperhorror auf der surrealen Ebene durchspie lten, wendet er sich hier einem realen Ambiente und aktuellen Phänomenen der neunziger Jahre zu: Der Versicherungsvertreter Tsuda (Tsukamoto) begegnet unfreiwillig seinem früheren Schulkameraden Takuji (Khoji Tsukamoto) wieder, als dieser sich Tsudas Lebensgefährtin Hizuru in eindeutiger Absicht nähert. Die junge Frau geht auf Takuji Werben ein, zieht in seine Wohnung und beginnt, ihr neues Lebensgefühl parallel zu der gewalttätigen Rivalität der Männer in exzessivem Bodypiercing auszuleben. Tsuda beginnt, selbst Boxen zu lernen und löst damit einen Schwur ein, der die Männer seit ihrer Schulzeit verbindet; doch ein finale Begegnung der Haßfreunde im Ring findet schließlich nicht statt. Während sich Takuji eine blutige Schlacht mit einem weiteren Wunschgegner liefert, verarbeiten Tsuda und Hizuru die Beziehungskrise auf ihre eigene Weise: Sie fügen sich gegenseitig schwere Verletzungen zu. In der letzten Einstellung ist Tsuda, der sein rechtes Auge eingebüßt hat, wieder als emotional gebrochener Versicherungsvertreter zu sehen. Dem jungen Regisseur Tsukamoto gelingt es, die in Tetsuo entwickelten Stilmittel nahtlos und konsequent in ein der Grundstruktur nach klassisches Dreiecks-Melodram zu integrieren: Pulsierende Stahlschlag-Rhythmen, ruhelose Handkamera und Stakkato-Schnitt lassen den Film selbst zur Großstadterfahrung werden. Er zeigt Charaktere im alltäglichen Leerlauf, auf dem Weg
- 217 -
zur Arbeit, in U-Bahnen und vor dem Fernseher, die den Bezug zum komplexen Geflecht ihrer emotionalen Bedürfnisse längst verloren haben. Als der machohafte Takuji die monotone Zweisamkeit brachial durchbricht, reagieren die beiden Protagonisten mit hilfloser Radikalität. Hizuru gelingt es nur für kurze Zeit, eine Emanzipation von alltäglichen Banden äußerlich zu kultivieren, sie bleibt jedoch verstört und desorientiert zurück. Auch Tsudas kurzes, verbissenes Aufbegehren durch das Boxen endet in Verwirrung. Nahm er zu Beginn zumindest die Großstadt als innerlich kranke, verwesende Hochglanzmaske wahr - Tsukamoto findet dafür eindringliche Bilder -, scheint er am Ende gänzlich blind geworden zu sein: Mit seinem trüben, toten Auge steht er bewegungslos starrend auf einer einsamen Stahlbrücke... Modern Primitivism ließ vielleicht alle Beteiligten gleich werden vor dem Schmerz der Existenz, doch eine Rettung gab es für keinen... Ebenfalls in einer Grauzone zwischen narrativem Film und teilweise selbstzweckhaftem Experimentieren bewegt sich Jim van Bebber, der mit einigen kurzen Promorollen und bislang einem abendfüllenden Spielfilm Aufsehen erregte. Sein Streetgang-Film Deadbeat at Dawn (USA 1990) ist sowohl inhaltlich als auch ästhetisch ein wütender Aufschrei gegen das kommerzielle Hollywoodkino. Ähnlich wie George Miller in The Road Warrior (Mad Max 2 - Der Vollstrecker, 1981) bringt van Bebber in einem verzweifelten Gewaltakt mit sich selbst in der Hauptrolle den Ausschuß des Actionkinos der achtziger Jahre zur Reife und treibt die Darstellung physischer Gewalt zu einem hysterischen Endpunkt. Zu befremdlichen Noisecollagen reißen sich seine Protagonisten mit bloßen Händen gegenseitig in Stücke. Und ähnlich wie Tsukamoto dient van Bebber die narrative Struktur lediglich als Zugangshilfe und zugleich als Falle für ein unbedarftes Filmpublikum. Auffällig ist die exzessive Verwendung akustischer Schockeffekte, die im Bild nur in sehr kurzen Einstellungen Entsprechungen finden, was als Stilmittel bereits aus dem italienischen und asiatischen Exploitationfilm der siebziger Jahre bekannt ist. Nachdem seine Zusammenarbeit mit der kanadischen Band Skinny Puppy nach der Herstellung eines Videoclips keine weiteren Früchte getragen hatte, bot van Bebber in seinem formal sehr geschlossenen Kurzfilm My Sweet Satan (USA 1993) eine anschauliche Studie seiner bisherigen Themen. Anhand der Geschichte des
- 218 -
drogenabhängigen, aggressiven Satanisten Ricky (van Bebber), der im Drogenrausch zusammen mit seinem Kumpanen einen jungen Mann "Satan opfert", schildert er eine drastische Kehrseitedes "Generation-X"-Phänomens. Die desorientierten, gelangweilten Jugendlichen hier verschaffen sich einen letzten Anschein möglicher Authentizität durch Drogenkonsum, Körperpiercing, Tattooing und naive Umsetzung neuheidnischer Tendenzen. Der vergleichsweise "glatte" Stil, mit dem van Bebber dieses Umfeld reflektiert, mischt quasidokumentarische Voice-Over, Standbilder, Einblendungen und minimalistische Spielszenen zu einer verstörenden Mixtur, die einen Großteil ihrer Wirkung aus der offenkundigen "Authentizität" von Milieu und Handlungen bezieht. Van Bebber bedient sich der Ikonografie des Modern Primitivism, um einen Gegenentwurf zur populären, kommerziell orientierten Kultur zu liefern. Dieser antipopuläre Gestus scheint dem Bedürfnis zu entspringen, eine der kommerziellen Medienkultur verloren gegangene Intensität wiedergeben zu wollen. Im scheinbaren Bruch mit den sinnlichen Wahrnehmungsgewohnheiten des medienerfahrenen Publikums, den Irritationsmomenten, soll eine neue Erfahrung möglich werden, die Kunstrezeption zur "authentischen" Erfahrung werden läßt. Diese Irritation wird – anders als bei Tsukamoto, der eher an die Tradition des filmischen Surrealismus und Expressionismus anschließt – durch die Verweigerung gegenüber klassischen Spielfilmkonventionen erreicht: die Abwesenheit eines identifikationstauglichen Charakters; die streng auktoreale Erzählperspektive, die einem dokumentarischen Gestus gleicht; die Integration nachweislich real durchgeführter Körpermanipulationen (ein Nippelpiercing, Tätowierungen); die weitgehende Zerstörung eines Spannungsbogens durch Vorwegnahme des Endes, und die Bereitschaft, durch extremen Einsatz akustischer und visueller Effekte einen audiovisuellen Exzeß anzustreben, der in diesem Kontext - anders als im Splatterfilm der frühen achtziger Jahre – keinen unterhaltsamen, nervenkitzelnden Aspekt mehr bedient, sondern – im Idealfall – zur Peinigung des Rezipienten beiträgt. Wollte man diese Strategien etwa mit denen des frühen Luis Bunuel oder Antonin Artauds Ideen vergleichen, fällt erneut auf, wie nah sich zeitgenössische Industrial-Cult ure, Modern Primitivsm und klassische Avantgarde stehen. Gary Wright, ein junger Australier, konnte sich außerhalb seines
- 219 -
Landes bislang kaum durchsetzen. Sein rasantes Porträt einer Gruppe rechtsradikaler Skinheads in Melbourne namens Romper Stomper (1992), durch das Russell Crowe zum Star wurde, stieß vor allem in Deutschland auf Unverständnis, da Wright, jede der beteiligten Parteien – die Skins, die Vietnamesen, die Bürger und die Polizei – sehr destruktiv zeichnet und sich nie eine moralische Perspektive aneignet, wie sie sonst bei dieser Thematik üblich ist. Er zeichnet die Skins als Krieger ohne wirkliches Ziel, die sich an den eigenen Aggressionen aufreiben. In seinem Teeny-Drama Metal Skin (1995) widmete sich Wright gleich mehreren unterschiedlichen Subkulturen. Wie in Romper Stomper taucht auch hier eine mysteriöse Gothic"Hexe" auf, die das Außeralltägliche in satanistisch motivierter Promiskuität sucht, während sich die männlichen Protagonisten in brutalen Autocrashs ums Leben bringen. Wieder verweigert der Regisseur die Identifikation und beobachtet aus zynischer Distanz die tödlichen, hilflosen Rituale einer entwurzelten Jugend, die er z.B. durch Zeitlupe und Stimmverzerrung mit Raubtieren paralellisiert. Den einzigen deutlichen Versuch, Modern Primitivism tatsächlich rituell in einen Spielfilm einzuarbeiten, unternahm der angloafrikanische Regisseur Richard Stanley, der als Sohn einer Ethnologin in Namibia in engem Kontakt zu einer Schamanin aufwuchs. Er erzählt in Dust Devil (1994) die Geschic hte eines nomadisierenden Dämons, der durch die Namib-Wüste wandert und willige Seelen sammelt, bis ihm eine mutige Frau den Kampf ansagt. In seiner Liebe zu ihr wird er zum Menschen und kann getötet werden – mit dem Ergebnis, daß sich das dämonische Erbe auf sie überträgt. Dieser teilweise meditative Horrorfilm macht sich stilistisch das schamanistische Symbol der Spirale eigen: Sie ist das Symbol der Transformation, der Wanderung zwischen den Welten. Der Dust Devil (Robert Burke) hinterläßt sie an den Schauplätzen seiner Morde. Nach der ersten Tat setzt er das Haus in Brand und fährt mit einem Auto genau dieses Symbol auf dem Vorplatz in den Sand, während sich die Kamera langsam in die Luft schraubt, eine gegenläufige Bewegung vollführend. Unterlegt ist der Film mit einer Mischung aus Italo-Western-Musik, gregorianischen Chorälen und rituellen Trommelrhythmen, einem Puls, der den ganzen Film reflektiert. Stanley, der die Gothic -Videos für Fields of the Nephilim inszeniert hatte, meint es nun todernst. Mehrfach hat er in Interviews betont, wie groß die weltanschauliche Bedeutung derartiger
- 220 -
Dämonenwesen für ihn ist. In der Fusion aus Ideologie, Religion, Mystik, Meditation und Tribal-Style erinnert er an eine waghalsige Mischung aus Andrej Tarkowskij (Stalker), Clive Barkers Hellraiser und Kenneth Anger (Lucifer Rising). Zunehmend werden auch Mainstreamfilme in Amerika produziert, die den Tribal-Style lediglich exploitativ ausstellen, um ihren abgenutzten Geschichten einen modischen Dreh zu geben. Ein solcher Fall ist Dee Snider's Strangeland (USA 1998) von John Pieplow. Über den Internet-Chat lockt dort der Modern-PrimitiveKiller "Captain Howdy" (Snider) die Teeny-Opfer in seine Wohnung. Recht bald kann ihn der Polizist Gage (Kevin Gage) überführen, als er nach seiner entführten Tochter sucht, doch Howdy wird bald als geläutert entlassen. Erst ein Lynchmob, der ihn exekutieren will, weckt erneut die Lust am Foltern und Morden... Das Modern-Primitve-Element dieses modisch-glatten Thrillers wird als "Eltern-Schreck"-Ambiente ausgenutzt und die S&M-Praktiken des Killers als verbrecherisch denunziert. Die Schlüsselfiguren der amerikanischen Underground-Szene der achtziger Jahre, z.B. Foetus-Gründer J. G.Thirlwell, The Butthole Surfers oder auch Punk-Heroen wie Henry Rollins von Black Flagg und Lydia Lunch, sind präsent in einer ebenfalls in den frühen achtziger Jahren beginnenden Underground-Film-Strömung, die sich nach den programmatischen Artikeln eines ihrer Vertreter Nick Zedd "The Cinema of Transgression" benannte. Zedd war gleichzeitig einer der ersten Vertreter dieses ursprünglich auf New York fixierten Undergroundkinos. Im Zuge der Experimente Andy Warhols und des Trashfilms der siebziger Jahre (z.B. John Waters oder der späte Hershell Gordon Lewis) drehte er teilweise improvisierte, rauh und spontan gefilmte Experimental- und Kurzspielfilme, die sich des ganzen Fundus' des Avantgardefilms bedienten (Doppelbelichtung, Doppelprojektion, Farbverfremdung, Medientransformation wie Video auf Film usw.). Gemäß seinem eigens verfaßten Konzept des Cinema Of Transgression handelte es sich hierbei um "the other cinema": "The Cinema of Transgression was about negated borders and the breaking of boundaries. Its stated aim was to perform revolutionary acts which would cross all socially constructed and socially accepted barriers. In a society where most people appear to have either the critical engagement of Romero's Dawn of the Dead zombies, or be running in fear from their (socially dictated) demons,
- 221 -
the COT sought a state of 'awareness', where perhaps even to feel pain and risk everything becomes valid when faced with the alternative." Der Akt des Grenzüberschreitens auf allen Ebenen, der Transgression, ist abgleitet von Georges Batailles Ideen aus "L'érotisme" (1957) . Die beteiligten Künstler schienen sich zum Teil bewußt über die Schwächen ihres bedingungslosen Konzept zu sein: "In terms of the sensibility of the people involved, I think that people regarded the COT as infantile, which it undoubtedly was, with all the fun involved in being completely fucking infantile, completely irresponsible. It definitely disturbed some people." In nahezu allen Beiträgen zum COT steht der menschliche Körper im Mittelpunkt des Interesses. Es ist meist ein sexualisierter Körper, der handelt oder behandelt wird, der Körper des Modern Primitive. Wie schon bei van Bebber angedeutet spielt immer wieder die Authentizität des Dargestellten eine große Rolle: in Kerns Sewing Circle wird einer Frau die Vagina zugenäht, in seinem Pierce bekommt ein Mädchen beide Brustwarzen gepierct. Nick Zedd erzählt von einem weiteren Beispiel, das die Ästhetik des COT verdeutlicht: In War is Menstrual Envy filmte er, wie die PornoIkone Annie Sprinkle einem Opfer schwerer Brandwunden die Narben leckt. Auch er schließt hier an eine "Ästhetik des Häßlichen" an, die bereits im 19. Jahrhundert theoretisiert wurde, auf sehr rohe Weise also Elemente der "schwarzen Romantik" reflektiert. Richard Kern gilt als namhaftester Vertreter der COT-Bewegung. Sein Stil wird in einem 12-minütigen Super-8-Film aus dem Jahr 1985 deutlich, der in seiner endgültigen Form seit 1990 auf Video kursiert und vermehrt auf Festivals gezeigt wird: Submit to Me. Kern filmt mehrere Freunde und Bekannte – u.a. Lydia Lunch, J.G. Thirlwell und Henry Rollins – bei der Inszenierung ihrer eigenen intimsten Fantasien in bühnenhaft arrangierten bzw. neutralen Räumen. Das reicht von dem phallischen Balzen Lunchs über den lasziven Tanz von Audrey Rose bis zu brutalen Tötungsphantasien in sadomasochistischer Ikonografie. Ein Höhepunkt ist der gegenseitig herbeigeführte "Liebestod" zweier Gothic -Waver, die sich strangulieren. Das episodenhafte Geschehen ist hauptsächlich durch die Musik der Butthole Surfers verbunden, gelegentlich kommt es auch zu Rückgriffen auf vorangegangene Episoden (Lydia Lunch taucht zweimal auf). Etwa in der Mitte wird in einzelnen Buchstaben das Wort "DESTROY" eingeblendet. Kern zeigt schon im Titel seine
- 222 -
Präsenz als filmischer "Beichtvater". Er sieht sich stets in der Rolle des Evil Cameraman, ein Begriff, der einem späteren Film entlehnt ist. Der Voyeurismus des passionierten Filmemachers wird nicht nur offensichtlich, sondern gar Motivation des Werkes. Die menschliche Existenz wird in dieser Collage auf eine Präsenz des Körpers in Situationen sexuellen Ge- und Mißbrauchs reduziert. Zerstörung der eigenen Physis (der verwesende Junkie) oder der des "Sexualpartners" (die Erschießung des Sklaven) werden als lustvolles Erleben präsentiert. Auf hauptsächlich destruktive Weise überschreitet Submit to Me so die Grenzen des kommerziellen Erzählkinos, ohne dessen Ikonografie und Hauptansatzpunkte (Sex und Gewalt) auszusparen. Ein weiterer Weg, über den Tribal-Style und Modern Primitivism ihren Weg in den kommerziellen Mainstream fanden, ist sicher eben jene Musik, die sich dieser Manierismen schon als Showelement bedinet hatte: Inspiriert durch den rauhen Industrial-Rock von Foetus gelang es der amerikanischen Gruppe Ministry 1988, mit ihrer LP The Land of Rape and Honey, den durch Modern-PrimitivesElemente aufbereiteten Industrial-Sound kommerziell verwertbar zu machen, indem sie ihn mit Versatzstücken der Rock- und Popmusik kombinierten. Ministry ist heute in zahlreichen kommerziellen Filmen vertreten (z.B. Escape from L.A. / Flucht aus L.A., USA 1995, John Carpenter). Aus dem selben Umfeld kommt Trent Reznor von Nine Inch Nails. Er gestaltete bis heute drei Soundtracks zu bekannten Hollywood-Filmen: Natural Born Killers, The Fan (USA 1996, Tony Scott) und Lost Highway (USA 1996, David Lynch). Er kombiniert in allen drei Fällen ursprünglichen Industrial-Noise mit Elementen von Popmusik (David Bowie, Lou Reed), Folk (Leonard Cohen), Ethno-Folklore (rituelle Indianer-Gesänge), Industrial-Rock (Marilyn Manson, Lard) und Avantgarde (Diamanda Gala s, Coil). Vor allem seine eigenen Songs werden stets als inzwischen durchaus ritualisierte Signale für einen zutiefst verwirrten, destruktiven, pathologischen Geisteszustand eingesetzt, etwa bei Robert de Niros Gewaltakten in The Fan oder zu Beginn von Seven (Sieben, 1995, David Fincher). In den NIN-Videoclips (z.B. dem vielfach zensierten S&M-Clip Happiness in Slavery, 1995) und in Teilen von Oliver Stones Film Natural Born Killers kommt die von Richard Kern etc. kultivierte "rauhe" Bildsprache des grobkörnigen Super-8Filmmaterials wieder zum Einsatz. Die Übernahme dieser lange Zeit
- 223 -
spezifisch dem Underground zugerechneten Stilmittel signalisiert deutlich den Prozeß, durch den sich die Mainstream-Kultur ursprünglich subkulturelle Elemente dienlich macht. Auch Graeme Revell, einer der Gründer der Industrial-Bewegung mit seiner Gruppe S.P.K., die immer ein starkes Interesse an Körpertechniken bewies, hat sich zusammen mit seinem früheren Kollegen Brian Williams in Hollywood etabliert. Revell arbeitet als stilistisch vielseitiger Komponist – routiniert im Einsatz klassischer Kompositionstechniken und rhythmisch-ritueller Elemente gleichermaßen –, während Brian Williams als Tondesigner tätig ist (Hard Target / Harte Ziele, USA 1993, John Woo; Strange Days). Revells Arbeiten für Strange Days und mehr noch Alex Proyas' gothic-Thriller The Crow (The Crow - Die Krähe, USA 1994), an dem auch Trent Reznor beteiligt war, und Tim Popes The Crow City of Angels (The Crow - Die Rache der Krähe, USA 1996) schließen den Kreis zum Modern-Primitives-inspirierten Underground: Hier spielen in großem Umfang auch die Körpermanipulationen und -modifikationen des Cinema of Transgression eine große Rolle. Der durchbohrte, vernarbte, gedehnte, tätowierte und bemalte Körper ist zu einer neuen Spielwiese Hollywoods geworden. Das Überschreiten der "zivilisierten Grenze", der Modern Primitivism, wie er als Mode und deren mediale Reflexion in Film und Musik exisitiert, verdeutlicht erneut jene "Dialektik der Aufklärung", die eine aufgeklä rte Gesellschaft immer wieder zur Kultivierung "barabarischer" Mechanismen zwingt. Der lustvolle Schmerz dient als Ersatz für eine fehlende Initiation und für mangelnde existenzielle Erfahrungen. Er befreit das gesellschaftlich gebundene Wesen aus seinen alltäglichen und geschlechtlichen Zwängen und läßt es eins mit sich werden. In der Konfrontation mit der erzwungenen Grenzerfahrung sucht der Mensch die individuelle Erfahrung, die seine domestizierte Welt verlöschen läßt. Was für den Besucher des Marilyn-Manson-Konzerts zum Traum und dem Zuschauer eines Tsukamoto-Films zur simulierten Authentizität gerät, kann sich der weibliche wie männliche Modern Primitive in seine eigene kleine, vielleicht wirklich individuelle Welt holen: die nur ihm selbst eigene physische Entäußerung: die selbstbestimmte, selbst erlittene neue Körperöffnung... Marcus Stiglegger
- 224 -
Filmografie der im Text erwähnten Filme mit Bezug zum Thema: Chunk Blower (Kan 1991, Jim van Bebber) City of the Lost Children / Stadt der verlorenen Kinder (F 1996, Jeunet und Caro) Crash / Crash (Kann 1996, David Cronenberg) Dark City / Dark City (AUS / USA 1998, Alex Proyas) Deadbeat at Dawn (USA 1990, Jim van Bebber) Edward Scissorhands / Edward mit den Scherenhänden (USA 1990, Tim Burton) Escape from L.A. / Flucht aus L.A. (USA 1995, John Carpenter) Fingered (USA 1986, Richard Kern) Hardware / M.A.R.K. 13 (GB 1990, Richard Stanley) Hellraiser / Hellraiser - Das Tor zur Hölle (GB 1987, Clive Barker) The Hunger / Begierde (USA 1982, Tony Scott) Metal Skin (AUS 1995, Geoffrey Wright) My Sweet Satan (USA 1993, Jim van Bebber) Natural Born Killers / Natural Born Killers (USA 1994, Oliver Stone) Once Were Warriors / Die letzte Kriegerin (NZ 1996, Lee Tamahori) Pierce (USA 1986, Richard Kern) Post-Modern Primitves (USA 1996, Charles Gatewood) Romper Stomper (AUS 1992, Geoffrey Wright) Sewing Circle (USA 1992, Richard Kern) Spasmolytic (KAN 1990, Jim van Bebber) Strange Days / Strange Days (USA 1995, Kathryn Bigelow) Strangeland (USA 1998, John Pieplow) Submit to Me (USA 1985, Richard Kern) Tetsuo - The Iron Man (Jap 1989, Shinja Tsukamoto) Tetsuo II - Body Hammer (Jap 1991, Shinja Tsukamoto) The Craft / Der Hexenclub (USA 1996, Andrew Fleming) The Crow - City of Angels / The Crow - Die Rache der Krähe (USA 1996, Tim Pope) The Crow / The Crow - Die Krähe (USA 1994, Alex Proyas) The Evil Cameraman (USA 1986-1990, Richard Kern) The Road Warrior / Mad Max 2 - Der Vollstrecker (Aus 1981, George Miller) Tokyo Fist (Jap 1995, Shinja Tsukamoto) Videodrome / Videodrome (Kann 1983, David Cronenberg) War is Menstrual Envy (USA 1992, Nick Zedd) Alle Filme sind bei Videodrom, Berlin, auf Video erhältlich, falls die Berliner Staatsanwaltschaft nicht wieder den moralischen Hammer schwingt. Bibliografie: Antonin Artaud: Das Theater und sein Double, München 1996 Jean Baudrillard: Die Transparenz des Bösen, Berlin 1992 Karl Heinz Bohrer: Nach der Natur, München / Wien 1988 (S.110ff.) Jeff Conner / Robert Zuckerman: The Crow - The Movie, Kanada 1994 Jeff Conner / Robert Zuckerman: The Crow - City of Angels. A
- 225 -
Diary of the Film, London 1996 Mark Dery: Cyber - Die Kultur der Zukunft, Berlin 1996 Jürgen Felix (Hrsg.): Unter die Haut, St. Augustin 1998 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt / M. 1975 Peter Gorsen: Sexualästhetik. Grenzformen der Sinnlichkeit im 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1987 Christoph Grunenberg (Hrsg.): Gothic – Transmutations of Horror in Late Twentieth Century Art, Cambridge / London 1997 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969 / 1981 (S.265ff.) Andrea Juno und V.Vale: RE/Search Industrial Culture Handbook, San Francisco 1983 Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982 Bernd Kie fer: Der mimetische Impuls, in: Littérature & Civilisation au capes et á l'agrégation d'allemand, session 1996, Nancy 1996, S.155ff. Nick Hall: Modern Primitives, in: ON Nr.1/1997 Ted Polhemus / Housk Randall: The Customized Body, London 1996 Ted Polhemus / Housk Randall: Rituals of Love, London 1995 Jens Pöppelmann: Tetsuo roniniert Akira und Manson nails pigs, in: Revelation Nr.9 Housk Randall: Piercing. Ritual - Kunst - Mode, Rastatt 1998 Tuck Remington: Nine Inch Nails, London / New York / Paris / Sidney 1994 Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996 Richard Stanley: "I Wake Up, Screaming", in: John Boorman / Walter Donohue (Hrsg.): Projections 3. Film-makers on Film-making, London / Boston 1994, S. 225-262 Wolfgang Sterneck: CybertribeVisionen, Hanau 1996 / 1999 Marcus Stiglegger: Ein "Kino der Grausamkeit" - Film als exitenzielles Ritual, in: Filmdienst, 52. Jhg., Dez. 1999, ders.: Fin de siècle - fin du globe - Endzeitstimmung im Film der neunziger Jahre, in: Filmdienst, 51. Jhg., 1998, ders.: Renaissance des Fin de siècle, in: Zoom, Dezember 1998, S. 14-18 ders.: Zum Sehen zwingen. Die neue Körperlichkeit des Films, in: Filmdienst, 52. Jg., März 1999, S. 6-9 Daniel Wojcik: Punk and NeoTribal Body-Art, Jackson / Mississippi 1995 Véronique Zbinden: Piercing. Archaische Riten und modernes Leben, Engerda 1998
- 226 -
Credits: Zu Dank bin ich folgenden Personen verpflichtet: Stefan Baumert für mein erstes Piercing, Wolfgang Sterneck für inspirierende Gedanken, Bernd Kiefer für die Dialektik der Erkenntnis, Mark Vierheller für Happiness in Slavery, Graf Haufen für AV-Software und Carsten Landefeld für die schwarzen Sonnenräder. Dieser Artikel ist dem Andenken von Stefan Baumert geweiht, der im Jahr 1998 A.S. freiwillig aus dem Leben schied.
- 227 -
• RHYTHMUS UND KONSEQUENZ •
- 228 -
• GRASWURZELREVOLUTION • MUSIK IM ALLTAG - MUSIK IM WIDERSTAND Musik ist Alltag. Kaum etwas begleitet den Alltag eines jeden Menschen so sehr wie Musik. Ob Zuhause, im Kaufhaus, auf der Straße, im Auto oder in der Disco - Musik ist dabei. Und Musik zum Abschalten gibt es genug, nur abgeschaltet wird selten. Oft kann mensch dem Musikbrei kaum entrinnen: der dröhnende Walkman, das einlullende Kaufhausgedudel wird zur Qual. Anders bei Demonstrationen. Wenn keine Musik und keine "Action" dabei ist, wenn nur in Häuserschluchten und Tunnels gelegentlich eine Parole rüberkommt, ist es das Gelatsche, das zur Qual wird. Manchmal jedoch werden Anklänge an eine vielfältige widerborstige Widerstandskultur laut, eine Kultur von unten, eine, die der herrschenden Vernichtungs"kultur" Leben und Kreativität entgegenzusetzen weiß - in den Straßen, auf den Bühnen und vor Stacheldraht. Musik ist Konsum, Markt, Kommerz. Die herrschende Musikindustrie beutet die "Ware" MusikerInnen aus und versucht, Ohren und Sinne zu betäuben. Musik ist Politik. Die Musik von Heino hat ebenso politische Funktionen wie die von Hanns Eisler - bewußt und gezielt wird manches gesagt, bleibt vieles im Verborgenen. Einerseits kann Musik dadurch eine politische Bedeutung bekommen, daß sie in einen unmißverständlichen politischen Zusammenhang eingebunden wird, wenn sie zum Beispiel vor den Toren eines Pershing-Depots erklingt. Andererseits können die politischen images aber auch musikalisch vermittelt werden. Musik ist Herrschaft. Dies zeigt sich mit Einschränkungen auch im Verhältnis von DirigentIn und Orchesterapparat, diesem Dienstleistungsbetrieb, der wiederum eine Art Abbild von der Hierarchie der Gesellschaft ist: SolistInnen, Konzertmeister, Erste, Zweite und Dritte Violine. Und auch patriarchale Herrschaft: Frauen haben in den "großen" Orchestern ebensowenig Platz wie in der traditionellen "großen" Bonner Politik. Und wollen sie trotz alledem einen Stuhl erobern, so müssen sie "natürlich" ungle ich besser sein als ihre männlichen Kollegen. Andere patriarchale Strukturen zeigen sich unter anderem bei Pop-
- 229 -
und Folkgruppen, wo Frauen aus Kommerzgründen oft zum Frontgirl oder zum netten weiblichen Farbtupfer degradiert werden. Die radikale Konsequenz heißt Rückzug in in "Frauenland", in "reichlich weibliche" Gruppen und die Besinnung auf matriarchale Kulturformen, Spiritualität, Körperlichkeit und Ganzheit auch in der Musik. Dies kann Kraft geben im Kampf gegen Patriarchat und Militarismus, kann vermittelt werden durch Frauenwiderstandscamps. Musik ist Geschichte. Jede Epoche hat ihre besonderen Ausdrucksformen, in denen sich der Mensch unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen widerspiegelt. So liegen beispielsweise die Ursprünge der polit isch engagierten Straßenmusikbewegung am Anfang der siebziger Jahre, in einer Zeit in der kollektive Lebensformen zunehmend an Bedeutung gewannen, in der die Bürgerinitiativbewegung entstand, als im Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl neue Aktionsformen und eine enorme Kreativität entwickelt wurde. Heute im Trend ist der Walkman, ein Symbol für die Sprachlosigkeit und den Verlust fast jeglicher Kollektivität empfinden. Eben jene Vereinzelung, das "Jeder gegen Jeden" fügt sich bestens in die Strategien der Herrschenden, die genau wissen, daß sich Widerstand und eine soziale Gegenmacht nur gemeinschaftlich aus einem Kollektiv entwickeln kann. Doch seit Jahrhunderten stoßen diese herrschenden Strukturen auf Widerstand, der unter anderem in verächtlichen Liedern gegen Klerus und Adel seinen Ausdruck fand. Heute kommt dies zum Ausdruck in einer Kultur des Zusammenlebens und -arbeitens, machmal auf der Bühne, in rotzfrecher Asphaltkultur, in der Aneignung öffentlicher Räume, wo der herrschenden Kultur die eigene entgegengesetzt wird. Eine musikalische Widerstandskultur darf sich nicht damit begnügen, Nischen auszufüllen. Vielmehr müssen Widersprüche sichtbar gemacht, Freiräume erobert, Risse verbreitert und der einlullende musikalische Alltagsnebel vertrieben werden. Graswurzelrevolution
- 230 -
• JOHN SINCLAIR • KICK OUT THE JAMS - ROCK IST REVOLUTION Die Aufgabe des Musikers ist es, Musik zu machen. Aber da ist eine Parallele, die man nicht übersehen kann: Musik ist Revolution. Rock ist die revolutionärste Kraft der Welt. Er vermag die Menschen zurück zu ihren Sinnen führen und bewirkt, daß sich die Menschen gut fühlen. Genau das ist es, was die Revolution ausmacht - Wir müssen auf diesem Planeten einen Zustand schaffen, wo sich jeder Mensch zu jeder Zeit wohl fühlen kann. Und wir werden nicht eher ruhen, bis dieser Zustand erreicht ist. Rock ist eine Waffe der kulturellen Revolution. Doch es gibt nicht allzu viele Musiker, die sich heute dieser Tatsache bewußt sind. Viel zu viele der Popstars halten die Musik nur für ein Mittel, mit dem sie viel Geld verdienen oder große Popularität erringen können - und ich denke, daß die Entschuldigung nicht gilt, jeder der in dieser Art denkt und handelt kann im Grunde gar nicht schlecht sein. Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, daß Dollars und Ego-Macht nur eine List unserer Mörder sind. Geld ist der gewaltigste Trick, nur noch übertroffen vom sogenannten Ego. Beide kommen aus dem selben Bereich. Das Ego hat sich völlig zu einer ökonomischen Funktion entwickelt als die Bevölkerung dieses Planeten im Gegensatz zu seinen natürlichen Nahrungsquellen immer mehr zunahm, und nicht mehr alle satt zu essen hatten. Deshalb mußten sich die Menschen von ihren Sippen lösen und als Individuen dafür sorgen, daß jeder für sich selbst so viel wie möglich ergattert, da für alle nicht mehr genügend vorhanden war. Zuvor jedoch, als es reichlich für alle gab, und der einzige "Feind" des Menschen die magische Kraft der Natur war, hatten die Menschen nichts anderes als ihr "Dasein" im Kopf. Alle waren Brüder und Schwestern und man lebte in einer totalen Gemeinschaft. Das paleolitische Zeitalter. Doch in den Jahrhunderten zwischen damals und heute führten die Menschen einen ununterbrochenen Kampf, um für sich selbst und "ihre" Familien genügend zusammenzuraffen. Die Entwicklung der westlichen Kultur ist lediglich eine wirtschaftliche Funktion gewesen. Niemand scheint dies zu erkennen. Doch was das Lebendigsein gerade heute so
- 231 -
interessant werden läßt, ist die Tatsache daß die Idee des vielfältigen Zusammenlebens wieder aufgeblüht ist, selbst mit all den Millionen und Billionen 'Menschen, die unseren Erdball heute bevölkern. Und nur eine winzig kleine Oligarchie hält das neue Zeitalter zurück. Die Wirtschaft unseres Landes wird von vielleicht rund zweihundert Familien kontrolliert, die alle untrennbar durch Heirat oder andere traditionell aristokratische Tricks verbunden sind. Seht Euch nur einmal die Liste mit den Direktoren der Banken, der Universitäten, der Industrie und anderen Zentren gesellschaftlicher Macht an, Du wirst die vielfältigen Verbindungen erkennen. Es gibt keinen Weg, um diese Leute zum Aufhören zu bewegen, außer man bringt sie dazu, alles uns zu geben. Wir können nichts von ihnen abkaufen. Wir können ihnen diese Macht auch nicht rauben, sie würden uns einfach auf den Straßen abknallen. Doch wir können sie stoned machen, bis sie mit uns teilen. Wenn wir sie erst einmal umgetörnt haben, werden sie alles tun, was wir von ihnen wollen, denn dann werden sie die Dinge auf unsere Art betrachten und erkennen, daß es keine andere Möglichkeit gibt. Unsere Art und Weise ist die Beste - vergeßt das niemals. Wir haben den größten Spaß. Wir fühlen uns zu jeder Zeit wohl, selbst in den verzweifelsten Lagen. Für uns gibt es keine andere Wahl. Wir wissen, wie falsch der alte Weg ist und können ihn einfach nicht mehr gehen. Er ist dermassen aussaugend, daß wir ihn einfach nicht mehr ertragen können. Es ist tatsächlich so, daß wir ihre Medien übernommen haben, nicht umgekehrt. Genauso wie wir ihre Kinder übernommen haben. Wenn der Sohn eines Großindustriellen Pot zu rauchen beginnt, LSD nimmt, Rock liebt und das Geld seines Vaters für unsere Dinge ausgibt, kann man nicht behaupten, daß er unsere freie Sache übernimmt - umgekehrt ist es richtig: wir haben wieder eins ihrer Reserveartikel übernommen. Dasselbe passiert, wenn Playboy ein Interview mit dem Black Panther Eldridge Cleaver oder einen Artikel über die zukünftigen Zeitalter von Alan Watts bringt - wir ihre Medien, um unsere Botschaften unter ihren Leuten zu verbreiten, Leute, die im Grunde die unsrigen sind, es aber nur nicht erkennen. Wir können den Raum in Playboy nicht kaufen oder stehlen, wir müssen vielmehr unser Anliegen für diese Leute in ihrem Sinne attraktiv machen.
- 232 -
Die Menschen im Westen besitzen absolut keine Achtung vor dem Inhalt - sie sind regelrecht süchtig nach dem Image der Form. "Image ist Rauschgift" sagt Burroughs. Wenn also erstmal ihre Form unterwandert ist, kann man leicht unseren eigenen Inhalt hineinstecken, ohne daß sie es merken, so lange sie noch die Form erkennen können. Die Amerikaner sind in dieser Hinsicht besonders anfällig. So können wir uns selbst als einfache ökonomische Kräfte verkleiden - als Rock-Bands, in Zeitschriften usw. und fortfahren, unser Werk mit dem Segen der herrschenden Struktur durchzuführen, weil sie so leicht durch eine begriffliche Form hereinzulegen sind. Sie geben uns sogar das Geld und andere Mittel, mit denen wir weiterarbeiten können an unserem Werk, damit sich alle Menschen gut fühlen können. Wir tun das, indem wir ihnen die Informationen geben, die sie brauchen, um sich von ihrer toten Kultur befreien zu können. Danach werden diese Leute alles daransetzen, auch andere zu befreien. Aus diesen Gründen sagte ich anfangs, daß Musik die Revolution ist, weil sie nämlich direkt, total, schnellwechselnd und vorwärtsstürmend ist. Rock ist die Revolution. Da gibt es keine Trennung. Rock ist nicht bloß eine Waffe kultureller Resolution, er ist kulturelle Revolution in all seinen Aspekten. In ihren besten Momenten befreit Musik die Menschen auf allen Ebenen, und eine Rock-Band ist ein gut arbeitendes Modell nachrevolutionären Lebens. Die Mitglieder einer Rock-Familie oder -Sippe sind völlig voneinander abhängig und dem gleichen Ziel verbunden das universeller Friede und universelles Glück heißt. Jetzt ist die Zeit da, wo dieses Ziel verwirklicht werden kann. Totale Freiheit ist durch die kybernetische Revolution möglich, was bedeutet, daß die Technologie verselbstständigt wird, um die Arbeit der Menschen zu übernehmen. Die Menschen werden dann unabhängig, bekommen die Freizeit, die sie zu ihrem eigenen Spaß haben müssen. Arbeit erhält wieder ihre ursprüngliche Bedeutung, weil die Arbeit, die die Menschen in der paleokybernetischen Zeit leisten werden sehr nützlich sein wird. Es wird keinen Überschuß mehr geben, weil es niemanden mehr geben wird, der vom Überschuß profitiert, wie jetzt in unserer kapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus beutet nur aus - er basiert auf der furchtbaren Neigung zu pr ivatem Reichtum und zum Wettstreit, die beide
- 233 -
augenblicklich verschwinden müssen. Auf unserer Welt ist heute einfach kein Platz mehr für diese altmodische Scheiße. Die Menschen müssen es gemeinsam machen, nicht getrennt. Heute stecken sie in Berufen, Schulen, Häusern, Ehen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zuständen, die alle Betrug sind. Heute braucht man all das nicht mehr. Die meisten Berufe, die es heute gibt sind unnötig und unmenschlich, und sie müssen unverzüglich beseitigt werden. Dasselbe ist mit den Produkten unserer gegenwärtigen KonsumÖkonomie -auch das ist Schwindel und muß beseitigt werden. Siebenundachtzig verschieden Zahnpasta-Marken. Und das ist nur eins von Millionen blödsinniger Produkte, mit denen die Menschen von den Rauschgiftnuschern des Kapitalismus süchtig gemacht worden sind. Alles ist eine einzige Ausbeutung. Die einzige Antwort für die Menschheit heißt, aus dieser Todesmaschine auszusteigen und zusammenzukommen. Findet Euren Bruder und Eure Schwester und beginnt zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten. Es bedeutet nicht nur mehr Spaß und mehr Produktivität, sondern es ist innerhalb des bestehenden Systems auch billiger und leichter, leben, essen, arbeiten und alles andere als eine Einheit zu machen. Zusätzlich gewinnt man an politischer und ökonomischer Macht, um besser zurecht zukommen und Euer Programm mit weniger Schwindel von Seiten der Bonzen durchzuführen. Wenn Ihr eine wirkungsvolle Organisation habt, könnt Ihr bessere Bedingungen von den Bonzen fordern. Und Ihr werdet bekommen was Ihr wollt. Versucht es! Ihr wißt, daß all dies der Wahrheit entspricht. Das System ist auf Euch angewiesen, und jeder einzelne bedingt seine Existenz. Wenn jeder von Euch sich weigert, in die Armee zu gehen, wird es bald keine Armee mehr geben. Dasselbe gilt für die Großindustrie ! Sie brauchen DICH, um ihre Maschinerie in Gang zu halten. Und wenn Du nicht hingehst, fehlst Du ihnen. Sie werden versuchen, Dich zurückzubekommen. Vielleicht werden sie Dich einsperren, damit Du nicht gegen sie arbeiten kannst, wenn Du schon nicht für sie arbeitest. Doch sie können uns nicht alle eingesperrt halten. Denke mal darüber nach! Wenn die Jugendlichen in den Hochschulen, die diese Scheiße nicht ausstehen können, einfach nicht mehr hingehen würden, wo würden die Schulen dann sein? Sie
- 234 -
existieren, weil Ihr hingeht. Bedenke dies: Einer Gruppe militanter Studenten der Roosevelt High School in lfyandotte wurden von der Schule gewiesen, weil sie in der Schule Levis-Hosen trugen! Als wenn das eine verdammte Kirche sei. Doch diese Suspension wegen der Hose war einfach nur ein Trick. Die Schulverwaltung wandte ihn an, um einige der Aktivisten der wirkungsvollsten Studentenorganisatoren auszuschalten. Aber sie lassen es sich nicht gefallen. Falls Ihr zu Hause wohnt, plant jetzt schon, was Ihr tun werdet, wenn Ihr Euch eines Tages selbstständig macht. Tut Euch mit den Leuten zusammen, die auch darauf warten, selbstständig werden zu können. Plant für die Zeit wenn Ihr Euer Elternhaus verlaßt. Spart genügend Geld, damit Ihr genug für Eure Einrichtung und Essen habt. Verschwendet nicht Eure Zeit mit Nörgelein und Murren, wie beschissen doch alles ist. Fangt an zusammenzukommen und Euch einig zu werden, damit Ihr es eines Tages ändern könnt. Tauscht Informationen aus und verarbeitet sie. Und wenn der Tag gekommen ist, da Ihr selbstständig seid, muß alles zusammen sein. Ihr müßt dann in der Lage sein, etwas besseres zu machen als nur herumzusitzen und Haschisch zu rauchen, LSD zu schlucken oder Speed zu schießen und sich lahme Beatmusik anzuhören. Auf diese Art von Reise zu gehen führt am Ende doch nur in eine Sackgasse. Man kommt ja doch immer wieder dorthin zurück von wo man gekommen ist. Wenn Ihr Euch jedoch mit einem revolutionären Programm engagiert, werdet Ihr garantiert weiterkommen und anderen Menschen helfen, sich wohlzufühlen. John Sinclair (MC5, 1969)
- 235 -
• PENNY RIMBAUD • DER TRAUM DER LETZTE HIPPIE UND DAS STONEHENGE-FESTIVAL Am 3. September 1975 erstickte Phil Russell alias Phil Wally alias Wally Hope an seinem Erbrochenen. Er starb als ängstlicher, schwacher und müder Mann. Das königlich-britische Gesundheitsministerium hatte nur sechs Monate gebraucht um einen innerlich starken, glücklichen und gesunden Menschen zu zerstören. Phils Tod symbolisierte für uns das Ende einer Ära. Mit ihm starb der letzte Rest von Vertrauen, den wir naiver Weise noch in das System hatten. Zerstört wurde der letzte Hoffnungsschimmer, daß unser Beispiel auch die Herrschenden beeinflussen könnte, wenn wir ein Leben führen, welches auf Respekt und nicht auf Mißbrauch beruht. Sicherlich war dies ein Traum gewesen, aber die Realität basiert auf tausenden Träumen, die einst unrealistisch erschienen. Dieser Traum gehörte nun jedoch endgültig der Vergangenheit an. ----In der Mitte der sechziger Jahre regierte die Rock-Musik und kein Parteitag war in der Lage daran etwas zu verändern. Die Jugend hatte ihre Stimme gefunden und forderte mit schnell anwachsender Stärke, daß sie gehört wird. Ihr Ideal bildete eine neue Welt in einer neuen Zeit, ihre Sehnsucht galt neuen Farben und Dimensionen . Das Symbol der Friedensbewegung wurde von einer immer größer werdenden Anzahl von Rock-Fans übernommen, deren Botschaft von Liebe und Frieden sich in Windeseile über den ganzen Erdball verbreitete. In ihrem unabläßlichen Bedürfnis alles in Schubladen zu stecken bezeichneten die Medien diese Jugendlichen als "Hippies". Als verlängerter Arm des Systems zielten sie darauf die neue Bewegung und ihre Vision zu schwächen. Doch alle Bemühungen waren vergeblich. ----Gegen Ende der sechziger Jahre gingen die Menschen überall in der westlichen Welt auf die Straßen. Ihre Träume widersprachen dem herrschenden Alptraum. In Frankreich wurde die Regierung fast von AnarchistInnen gestürzt. In Holland machten die Provos die bürgerlichen Regierung lächerlich. In der Bundesrepublik Deutschland begannen Baader und Meinhof mit ihrem Kampf gegen
- 236 -
einen Staat, in dem immer noch gealterte Nazis in den Machtpositionen saßen. In Amerika wurde der Ruf nach Beendigung des Vietnam-Krieges lauter und lauter. In England wurden Universitäten besetzt und Botschaften gestürmt. Überall riefen Menschen nach einem Leben ohne Angst, nach einer Welt ohne Krieg und forderten die Absetzung derjenigen, die diesen angst- und kriegsbestimmten Zustand verursacht haben. Zunehmend fühlte sich die bürgerliche Gesellschaft von ihren Kindern bedroht. Unannehmbar erschien die Vorstellung, daß die grauen Städte plötzlich in bunten Farben neu erstrahlen sollen. Die psychedelische Revolution wurde zu real und es war an der Zeit, sie deutlich in ihre Grenzen zu verweisen. So wurden Bücher verboten und Buchläden geschlossen. In Wohnungen und Zentren wurde eingebrochen. Die Polizei fütterte ihre Computer mit unzähligen Namen und Ereignissen. Underground-Zeitschriften konnten nicht länger dem Druck der staatlichen Organe standhalten und mußten ihr Erscheinen einstellen. Das Filme von Kinos und die Ausstellungsstücke von Galerien wurden beschlagnahmt. KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und zahllose Hippies wurden vor die Gerichte gezerrt und wegen Drogenmißbrauchs, Obszönität und Störung der öffentlichen Ordnung verurteilt. Jedes Mittel wurde eingesetzt, um die Stimmen zum schweigen zu bringen. Wie in vielen anderen Städten war auch die Universität der amerikanischen Stadt Kent in Aufruhr. Die zumeist weißen, aus der Mittelklasse stammenden StudentInnen zeigten gleichermaßen ihre Ablehnung gegenüber der Art und Weise wie ihr Campus geleitet und ihr Land regiert wurde. Sie organisierten zahllose Demonstrationen und setzten Teile der Gebäude in Brand. Die offiziellen Stellen setzten die Armee ein, um "den Frieden wieder herzustellen", was dann in alter militärischer Tradition auch geschah, indem vier Studenten erschossen wurden. Der Peace-Generation war der Krieg erklärt worden. ----Mit Woodstock in den USA und Glastonbury in England wurde eine Tradition in der Rockmusik begründet, die inzwischen zu einem Teil unserer Lebensweise geworden ist - das Free Festival. Eine freie Musik, ein freier Raum, ein freies Bewußtsein. Die freien Festivals waren anarchistische Zelebrationen der Freiheit. Im Gegensatz zu
- 237 -
den Demonstrationen stellten sie die staatlichen Kräfte vor ein neues Problem: Wie können Menschen gestoppt werden, die Spaß haben? Die Antwort war vorherrsehbar: Indem sie einfach niedergeschlagen werden. ----Der Windsor Park ist einer der königlichen Gärten in England. Als einige Hippies beschlossen dort ein Free Festival zu veranstalten, war die Königin selbstverständlich davon keineswegs begeistert. Das erste Windsor-Festival verlief ziemlich ruhig, die Polizei hielt sich zurück. Im nächsten Jahr lief es anders, die ungebetenen Gäste der Königin wurden gewaltsam vertrieben. An der Spitze derjenigen, die sich widersetzten, befand sich Phil Russell. Er war entweder mit einer völlig zerfetzten Jeans und einem T-Shirt bekleidet, das leuchtend mit der Botschaft "Hoffnung" bestickt war, oder völlig nackt. Phil konnte reden und reden und reden. Die Hälfte von dem was er sagte erschien wie pure Fantasie, die andere Hälfte wie Poesie. Eine seltsame Art der Magie umgab ihn. An einem Tag in unserem Garten beschwor er einen Schneesturm herauf. Weiße Flocken fielen auf die Gänseblümchens des Rasens. Ein anders Mal entwarf er einen regenbogenfarbigen Himmel. Es war als hätte er einen Regenbogen zerschnitten und die einzelnen Teil in den Himmel geworfen. Während unserer ersten Begegnung erzählte uns Phil von den Ursprüngen der Free Festivals und den Ereignissen in Windsor. Dann fuhr er fort seine zukünftigen Pläne zu beschreiben. Er beabsichtigte Stonehenge, einem seiner Meinung nach heiligen Platz, der den Menschen durch die Regierung gestohlenen worden war, im Rahmen eines freien Festivals wieder den Menschen zurückzuführen und zu einem Ort der Begegnung zu machen. ----Wir hatten unser Haus zu einer Zeit geöffnet, in der viele das gleiche taten. Die sogenannte Kommune-Bewegung war die zwangsläufige Folge von Überlegungen, wie das Leben gemeinschaftlich auf der Grundlage von Verständnis und Zusammenarbeit zu gestalten sei. Das isolierte Wohnen ist einer der offensichtlichsten Gründe für die Vereinzelung der Menschen und für den weitverbreiteten Mangel an Wohnraum. Das Zusammenleben ist eine praktikable Lösung dieses Problems. Und wenn wir dabei
- 238 -
tatsächlich lernen unsere Wohnorte gemeinschaftlich zu nutzen, vielleicht können wir dann auch ein neues Verhältnis zu unserem Planeten entwickeln und einen entscheidenden Schritt zu seiner Heilung beitragen. Unser Haus war niemals ein Ort zum Aussteigen, wir wollten vielmehr etwas schaffen, wo Menschen einsteigen können, um ihre eigenen Möglichkeiten kreativ zu nutzen, um eigene Zielsetzungen zu entwickeln und letztlich um ihr eigenes Leben selbst zu gestalten. Wir wollten einen Platz anbieten, an dem die Menschen das sein können, was ihnen das System niemals erlauben würde, nämlich sie selbst. Wir teilten Phils ablehnende Kritik der "normalen Gesellschaft", einer Gesellschaft die dem Besitz der Menschen mehr Aufmerksamkeit schenkt als den Menschen selbst, die Reichtum über Weisheit stellt. Wir engagierten uns für eine Welt, in der sich die Menschen das zurückholen, was ihnen gestohlen wurde. Hausbesetzungen, die von einer politischen Haltung ausgehen, haben in diesem Denken ihre Wurzeln. Warum sollen wir für etwas zahlen, daß eigentlich uns gehört? In wessen Welt leben wir? ----Phil kam mit neuen Plänen zu uns zurück. Seine Begeisterung war ansteckend und wir beteiligten uns an der Organisation des ersten Stonehenge-Festivals zur Sommersonnenwende im Juni 1974. Neun Wochen lang lagerten Phil und all diejenigen, die bereit waren dem zunehmend regnerischen Sommer zu trotzen, gemeinsam an dem alten Steinmonument und beobachteten die zunehmende Verwirrung bei dessen staatlichen Wächtern. Flackernde Flammen beleuchteten die Geschichtenerzähler, die um das Feuer herum saßen und wie regenbogenfarbige Erscheinungen in der ebenen Landschaft wirkten. Sie erzählten wie das Feuer an diesem Platz entzündet wurde, in dieser Zeit, auf dieser Erde. Tag für Tag wurden die Erzählungen fortgesetzt. Der Regen fiel unabläßlich, aber wenn es dieses Jahr nur ein alter, scheppernder Recorder war, aus dem die Musik klang, nächstes Jahr würde es sicherlich besser werden. Schließlich wurde den BewohnerInnen des Lagers mitgeteilt, daß sie das Gelände verla ssen müssen. Sie entschieden sich allerdings dafür zu bleiben. und gaben beim Eingreifen der Polizei nur den
- 239 -
Namen Wally an, den einige Jahre zuvor ein Hund trug, der bei einem Festival verschwunden war. Die folgenden Vorladungen für Phil Wally, Sid Wally, Chris Wally usw., trugen wesentlich dazu bei, den absurden Charakter der späteren Verhandlung vor einem Londoner Gericht zu offenbaren. Begeistert stürzte sich die Boulevardpresse auf das Geschehen und die lächelnden Wallies mit dem Friedenszeichen wurden für eine kurze Zeit zu Stars. Nachdem das Verfahren erwartungsgemäß verloren worden war und die Aufforderung erging, das Gelände um Stonehenge sofort zu räumen, verließ Phil, der sich inzwischen Wally Hope nannte, jubelnd den Gerichtssaal und verkündete den wartenden Journalisten "Wir haben gewonnen. Alle lieben uns. Wir haben gewonnen." Alle, die nicht tatsächlich Phil liebten, waren von dieser scheinbar widersinnigen Aussage völlig verwirrt. Aber in einer gewissen Weise hatten sie wirklich gewonnen. Sie verließen zwar Stonehenge und zogen weiter, aber es gibt immer ein nächstes Jahr und eine Tradition war geboren. Wally Hope hatte das System lächerlich gemacht und einen Stachel tief in eine verwundbare Stelle hinein gestochen. Noch einmal würde es dies allerdings nicht zulasen. ----Von Stonehenge aus zogen die Wallies weiter nach Windsor. In diesem Jahr hatte das Festival einen wesentlich größeren Zulauf; Zehntausende kamen und Windsor Free wurde zu einem der größten Festivals, die je stattfanden. Spannungen bestanden von Anfang an. Sie kamen voll zum Ausbruch als die Polizei früh morgens auf das Gelände stürmte und die schlafenden Festival-BesucherInnen aus ihren Zelten zerrte. Hunderte wurden verletzt als die Polizisten auf alle schlugen, die ihnen in den Weg liefen. Deprimiert kam Wally Hope von Windsor zurück. Wieder hatte er zwischen den Uniformierten getanzt und versucht, sie mit seinem Humor und seiner Liebe zu besänftigen. - Er wurde für diesen Versuch von ihnen verprügelt. Stück für Stück lernten wir. Die Tage des Flower Power, die Tage der Blumenkinder waren vorüber. Die Pigs waren ausgezogen, um sie zu beenden. Es wurde mit aller Deutlichkeit klar, daß unsere Eltern und ihre staatlichen Vertreter unsere Unterdrücker sind. Der Alptraum wurde für uns zur bedrückenden Realität. Wally verbrachte die ersten Monate des neuen Jahres damit
- 240 -
Flugblätter für das zweite Stonehenge-Festival in und um London herum zu verteilen. Im Mai verließ er unser Haus. Wir hatten alles getan um das Festival vorzubereiten und nun wollte Wally die restliche Zeit in seinem Tipi in der Natur verbringen. Der Tag seines Abschiedes war außerordentlich heiß. Wir saßen im Garten und Wally spielte wild auf seinen Trommeln zu Ehren der Sonne. Er war glücklich, gesund und fest davon überzeugt, daß er auch dieses Mal wieder gewinnen würde. Als sein Auto, das in leuchtenden Farben mit einem Regenbogen bemalt war, davon fuhr, lehnte sich Wally noch einmal aus dem Fenster und gab einen lauten Schrei von sich. Irgendetwas zwischen einem indianischen Kriegsschrei und den Worten "Freiheit und Frieden". Er war schon zu weit entfernt, um es genau verstehen zu können. ----Als wir Wally das nächste Mal sahen, etwa einen Monat später, hatte er enorm an Gewicht verloren, seine Haut war blaß und weiß. Wally wirkte zerbrechlich und völlig hilflos, er war nervös und kaum fähig etwas zu sagen. Spucke lief aus seinem Mund, seine Hände zitterten. Wally war ein Gefangener der königlichen Psychiatrie gewesen. Und dieses Mal hatte er nicht gewonnen. Einige Tage nachdem Wally uns verlassen hatte, wurde er wegen des Besitzes von drei Trips verhaftet. Es war sicherlich kein Zufall, daß ausgerechnet er so genau kontrolliert wurde. Nach einigen Tagen im Gefängnis weigerte er sich die Anstaltskleidung anzuziehen. Anstatt ihm einfach zu erlauben seine eigenen Sachen zu tragen, schickte ihn der Aufseher zum Gefängnisarzt, der Wally eine Schizophrenie diagnostizierte. In der Folge wurde Wally zum Teil gewaltsam gezwungen, große Mengen verschiedener Medikamente einzunehmen, die ihn ruhig stellen und seinen Willen brechen sollten. Wir hörten erst wieder von ihm als wir einen kaum lesbaren Brief erhielten, der aussah als hätte ihn ein fünfjähriges Kind geschrieben. Wally teilte uns darin mit, daß er in einen Nervenklinik eingeliefert worden war. Die meisten von uns gingen davon aus, daß ihn diese Erfahrung zerstören würde und das dies beabsichtigt sei. Wir versuchten auf unterschiedlichste Weise, zuerst legal, dann illegal, Wally zu helfen, doch all unsere Versuche scheiterten. -----
- 241 -
Inzwischen fand das zweite Stonehenge-Festival mit tausenden Menschen statt. Zwei Wochen lang gelang es den staatlichen Kräften nicht das Fest zu beenden. In einem kleinen Winkel unserer Erde war das Ideal von Frieden und Liebe zur Wirklichkeit geworden. Holzfeuer, Zelte und Tipis. Kostenloses Essen, Bühnen und Bands, Musik und Magie. Flaggen und Papierdrachen wehten im Wind. Nackte Kinder spielten zwischen den Steinen. Alte bärtige Männer saßen auf Baumstümpfen und murmelten Gebete an ihre Götter. Es bildeten sich Gruppen, die gemeinsam Essen zubereiteten. Andere zogen in die Wälder um Holz und Wasser zu bringen, immer begleitet von lachenden Kinder. Der Klang indianischer Flöten vermischt sich mit dem Gesang der Vögel. Der Rhythmus der Trommeln wurde von den Schlägen der Holzäxte begleitet. Alle sangen und tanzten. Alte Freunde trafen neue. Hände berührten sich und Körper verschmolzen. Einstellungen wurden aufgebrochen, das Bewußtsein erweitert... ----Einige Tage nachdem die Letzten Stonehenge verlassen hatten, wurde Wally überraschend freigelassen. Die grauen Herrn hatten den lächelnden, gebräunten Hippie -Krieger von seinem Festival ferngehalten. Jetzt nachdem sie ihn in ihrem Sinne geheilt hatten, entließen sie ein menschliches Wrack. Wally brauchte zwei Tage um mit seinem Auto die hundertzwanzig Kilometer zu uns zu fahren. Zwei Tage des Horrors. Niemand wußte von seiner Freilassung. Als Wally bei uns eintraf war er kaum fähig zu laufen oder einfachste Handlungen auszuführen. Die Sonne die er einst so verehrt hatte, erschien ihm nun wie eine Bedrohung. Das Licht war zur Dunkelheit geworden. Schlaflos lag er in seinem Bett und schluchzte. Nur langsam konnte Wally realisieren was mit ihm geschehen war. Wir versuchten ihm wieder beizubringen normal zu laufen, aber er war nicht in der Lage seinen Körper zu koordinieren. Manchmal lachten wir gemeinsam über unsere Versuche, aber das Lachen ging immer in Tränen über. Ein befreundeter Arzt bescheinigte Wally eine unheilbare Bewegungsstörung, die durch die Überdosierung der Beruhigungsmittel in der Psychiatrie zustande kam. Am 3. September 1975 nahm Wally eine große Zahl Schlaftabletten und erstickte in Folge an Erbrochenen. Er war nicht mehr in der Lage gewesen einen neuen Tag zu ertragen. Vielleicht hoffte er, daß der
- 242 -
Tod ihm mehr zu bieten hat als solch ein Leben. ----Wir hatten darauf gesetzt, daß wir durch die offene Demonstration von gelebtem Frieden und praktizierter Liebe in der Lage sein würden, die bestehende Welt neu zu gestalten. Es mag seltsam erscheinen, daß es einem Mann mit dem Namen Hope, Hoffnung, bedurfte, dem einzig "wirklichen" Hippie mit dem wir jemals in einen direkten Kontakt kamen, um uns zu zeigen, daß diese Hoffnung ein Traum war, der nicht zu verwirklichen ist. Die Erfahrungen, die mit unserer Freundschaft verbunden waren, machten uns klar, daß es Zeit war, erneut darüber nachzudenken, welchen Weg wir einschlagen müssen, um unseren Vision näher zu kommen. In gewisser Weise waren wir für den Tod von Wally mit verantwortlich. Wir hatten alles getan was wir konnten, aber es war nicht genug gewesen. ----Das Bedürfnis nach Veränderung muß mit der Absicht verbunden werden, auch konkret dafür etwas zu tun. Es reicht nicht aus, für uns selbst etwas zu verbessern und den Rest zu ignorieren. Es war Zeit um zusammenzukommen, mit anderen Erfahrungen zu teilen und daraus zu lernen. Es war Zeit zurück auf die Straßen zu gehen und anzugreifen. Ein Jahr nach Wallys Tod veröffentlichten die Sex Pistols "Anarchy in the UK". Vielleicht meinten sie es nicht wirklich ernst, aber für uns war es wie ein Schlachtruf. Als Johnny Rotten verkündete, daß es keine Zukunft gibt, erschien es uns wie eine Herausforderung, denn wir wußten, daß es eine Zukunft gibt, wenn wir bereit sind uns dafür einzusetzen. Es ist unsere Welt. Sie gehört uns, doch sie wurde uns gestohlen. Wir zogen aus, um sie zurückzufordern und diesesmal nannten sie uns nicht "Hippies" sondern "Punks". Penny Rimbaud
- 243 -
• CRASS • KEINE AUTORITÄT AUSSER DIR SELBST Als sich Punk 1976 zum ersten Mal mit der Botschaft "Do it yourself" ("Mach es selbst") über die Medien Englands ergoß, fühlten wir uns endlich nicht mehr allein. Wir selbst hatten das "Do it yourself"-Prinzip schon seit vielen Jahren auf unterschiedlichste Weise umgesetzt; jetzt glaubten wir, daß Leute wie Rotten (Sex Pistols) und Strummer (The Clash) genauso dachten. Die Idee, eine Band zu gründen, war uns nie ernsthaft in den Sinn gekommen, es geschah einfach. Grundsätzlich stand es jedem frei, bei uns mitzumachen. Meistens gab es bei unseren Proben jedoch nur Zoff und regelmäßig endeten sie in Sauforgien. Steve und Penny hatten seit Frühling '77 zusammen gespielt, doch es dauerte noch bis zum Sommer bis wir uns das geeignete Equipment erbettelt, geborgt und gestohlen hatten, um uns wirklich als Band bezeichnen zu können und uns einen Namen zu geben... Crass. Nachdem wir es schließlich geschafft hatten, fünf Songs einzuüben, brachen wir zu einer Tour auf: bewaffnet mit unseren Instrumenten und ausgerüstet mit riesigen Mengen an Alkohol, der uns half, die Sache durchzustehen. Die Gigs waren jeweils chaotische Demonstrationen von Unzulänglichkeit, aber auch von Unabhängigkeit. In einigen Fällen wurde uns der Strom abgedreht und im mittlerweile legendären Roxy Club erhielten wir ein Auftrittsverbot. In der Zwischenzeit hatten wir die Verlogenheit der meisten Punkbands erkannt. Sie behaupteten eine Revolution angezettelt zu haben, kreierten aber letztlich nur eine neue Mode und halfen niemanden außer sich selbst. Es war die gleiche abgedroschene Geschichte, wie schon so oft zuvor, und wir waren wieder auf uns selbst gestellt. Trotz des Alkoholsuffs beschlossen wir, es zu unserer Mission zu machen, eine echte Alternative zur Ausbeutung durch die Musikmafia zu schaffen. Wir wollten dauerhaft etwas anbieten und vor allem mehr geben als nehmen. Zu viel war schon von den Bühnen herab versprochen worden, um dann im Alltag wieder vergessen zu werden. Wir trugen nun schwarze Kleidung als Protest gegen die narzißtische Staffage der Mode-Punks. Daneben begannen wir Filme
- 244 -
und Videos in unsere Shows zu integrieren, sowie Flugblätter zu veröffentlichen und die Zeitung International Anthem herauszugeben, um unsere Vorstellungen genauer zu erläutern. Wir entwarfen die Fahne mit unserem Symbol, das ein Macht und Gewalt symbolisierendes Kreuz und eine sich selbst verzehrende Schlange zeigt, und wir verpflichteten uns gegenseitig, das Ganze bis zum mythischen Jahr 1984 durchzuziehen. Später im Sommer 1978 veröffentlichten wir unser erstes Album "The feeding of the five thousand". Wir wählten den Titel weil eine Auflage von 5.000 Stück das Minimum war, das wir pressen lassen konnten und weil es unserer Meinung nach wohl 4.900 Stück mehr waren als wir verkaufen könnten. Wir täuschten uns, "Feeding" ist inzwischen nahe daran vergoldet, also 200.000 mal verkauft zu werden. Allerdings wird davon wohl nicht viel in der Musikpresse zu lesen sein. Von Beginn an versuchten die Medien uns zu übergehen. Nur in Ausnahmefällen, wenn sie durch die Umstände gezwungen wurden, schenkten sie uns widerwillig ihre Aufmerksamkeit. Es ist ganz einfach: wenn du nicht ihr Spiel spielst, nämlich das der kommerziellen und musikalischen Ausbeutung, dann ignorieren sie dich oder machen dich nieder. Die Musikmafia kauft nicht nur die Bands, sondern bezahlt ebenso die Musikpresse. Unbeeinflußt davon ist es wohl keineswegs übertrieben, wenn festgestellt wird, daß wir zu einer der einflußreichsten Bands in der Geschichte der britischen Rockmusik wurden. Auch wenn wir die Musik selbst nicht unmittelbar beeinflußten, so war unser Einfluß auf umfassende gesellschaftliche Entwicklungen beträchtlich. Trotz der Erkenntnis, daß wir uns gegen ihre Herrschaft stellten, kamen die ersten Angebote von der Industrie. Mr. Big versuchte uns mit billigem Wein und 50.000 Pfund einzukaufen, sofern wir uns "Pursey's Package" anschlössen. Er ließ uns auch wissen, daß er die Revolution verkaufen könnte und daß wir ohne seine Hilfe niemals Erfolg haben würden. Es war das erste von vielen Angeboten, die wir ablehnten und denen wir nie nachtrauerten. Als "Feeding" im Frühjahr 1979 erschien, wurde die Platte mit dem Song "The sound of free speech" eröffnet - mit einigen Minuten totaler Stille. Das Presswerk hatte sich geweigert, den ursprünglich an erster Stelle vorgesehenen Song "Asylum" zu pressen, da er
- 245 -
blasphemisch sei. Das Gesicht der Zensur in der "Freien Welt" offenbarte sich. Schließlich fanden wir eine Firma, die bereit war, "Asylum" zu pressen, so daß wir es zusammen mit "Shaved women" noch einmal aufnahmen, zu Hause die Cover druckten und die Single für 45 Pence verkauften, um danach völlig pleite zu sein. Nach der Veröffentlichung der "Reality Asylum"-Single bekamen wir sofort Ärger. Anzeigen aus der "Bevölkerung" führten überall im Lande zu Polizeirazzien in Plattenläden. Außerdem besuchte uns die Sittenpolizei von Scotland Yard. Die Wächter der öffentlichen Moral verließen uns nach einem vergnüglichen Nachmittag bei Tee mit der Drohung weiterer Maßnahmen. Später erhielten wir eine Mitteilung, daß die Ermittlungen eingestellt seien, wir uns aber in Zukunft zurückhalten sollten. Unserer Verständnis von Freiheit machte es jedoch unvermeidlich, daß wir weiter genau das taten was wir für richtig hielten und uns keineswegs zurückhielten. So begann sich das endlose Karussell von Belästigungen durch die Polizei in Bewegung zu setzen. Um den Presseberichten etwas entgegenzusetzen, in denen wir als Rowdies bezeichnet wurden, begannen wir damit, eine anarchistische Fahne bei unseren Shows aufzuhängen. Zu dieser Zeit tauchte das umrandete A nur sehr vereinzelt außerhalb des Bereichs der im allgemeinen ziemlich engstirnigen und langweiligen anarchistischen Literatur auf. Nachdem wir das Symbol nutzten, verzierte es innerhalb von Monaten Lederjacken, Aufkleber und Wände überall im Lande. Johnny Rotten mag sich selbst zum Anarchisten erklärt haben, aber letztendlich waren wir es, die fast allein den Anarchismus wieder zu einer Bewegung machten. Nachdem sich unseres nächstes Album "Stations of the Crass" über einen längeren Zeitraum gut verkauft hatte, überlegten wir auch Aufnahmen anderer Bands zu veröffentlichen. Bald darauf wurde Crass Records gegründet und wir begannen mit einer Single von Zounds, der ersten von mehr als hundert Bands, die wir der Öffentlichkeit vorstellten. Es schien uns an der Zeit den feministischen Ansatz unserer Arbeit in den Vordergrund zu stellen, der zuvor fast völlig unbeachtet blieb. Wir veröffentlichten "Penis Envy", eine Platte die von der Musikpresse aber auch von vielen Crass-"Fans" wieder völlig mißverstanden wurde. "Penis Envy" bestätigte einen Verdacht, den
- 246 -
wir schon seit geraumer Zeit hegten. Nach nur einer Woche in den Läden schoß die Platte in der Hitparade auf den fünfzehnten Platz, doch schon in der nächsten Woche war sie nicht mehr unter den ersten hundert Plätzen zu finden. Das gleiche Schicksal ereilte auch "Nagasaki Nightmare". Wir wußten, daß es einfach nicht möglich ist, in einer Woche so hoch in den Charts zu stehen und in der nächsten schon wieder verschwunden zu sein. Es schien uns nun offensichtlich, daß die großen Schallplattenfirmen dafür bezahlen, daß ihre Titel in den Charts plaziert werden, und sie zugleich auch dafür bezahlten, daß unsere herausflogen. Jahrelang reisten wir überall im Königreic h herum, um an Orten aufzutreten, wo zuvor noch nie eine Band gespielt hatte: in Dorfsälen, Ferienlagern, Gemeindezentren. Überall nur nicht in den Nepp-Clubs oder an den verwöhnten Universitäten. Hunderte von Leuten kamen zusammen, um an ungewöhnlichen Orten mit uns unser gemeinschaftliches Verständnis von Freiheit zu feiern. Wir teilten mit ihnen unsere Musik, Filme und Literatur, unsere Diskussionen, unser Essen und Trinken. Wo immer wir erschienen trafen wir auf lachende Gesichter, die gewillt waren, eine Alternative zu dem Grau zu schaffen, das uns umgibt. Es war nicht immer einfach, denn stets gab es Leute, die das zerstören wollten, was wir aufgebaut hatten. Mehrfach wurden wir gewaltsam angegriffen und Auftritte von uns abgebrochen. 1981 führten unbedeutende Ereignisse auf einer Insel namens South Georgia, von der niemand jemals zuvor etwas gehört hatte, zu bedeutenden Ereignissen auf einer Insel namens Falkland, von der ebenfalls niemand jemals zuvor etwas gehört hatte. Großbritannien zog in den Krieg. Als hunderte junge Männer starben, schienen plötzlich unsere Songs, Proteste und Demos, unsere Flugblätter, Wörter und Ideen belanglos zu sein. In aller Eile brachten wir auf verschlungenen Wegen eine Flexi gegen den Falkland-Krieg heraus, die wir kostenlos an alle ParlamentarierInnen und an viele Plattenläden im Lande verteilten. Erwartungsgemäß kam von allen Seiten der Vorwurf des Verrats. Zudem erhielten wir vom Parlament eine ernste Warnung, daß "wir unsere Schritte überdenken sollten". Widerstand gegen den Krieg schien es in der Tat nicht zu geben. Kritik in der Presse wurde unterdrückt und die Friedensbewegung schwieg. Solange es keinen Krieg gab, riefen alle in der Friedensbewegung begeistert: "Nie wieder Krieg!", jetzt aber, da es
- 247 -
einen Krieg gab, gegen den es zu schreien galt, war die Stille mehr als schmerzlich. Noch vor dem Ende des Krieges gelang es uns das an Margaret Thatcher gerichtete "How does it feel to be the mother of a thousand dead" aufzunehmen und herauszubringen, so daß die Veröffentlichung richtig einschlug. Nachdem Thatcher im Parlament gefragt worden war, ob sie die Platte schon gehört hatte, war es unvermeidlich, daß sie und ihre Partei uns eine Lektion erteilen wollten. Dem Tory-Parlamentarier Tim Eggar fiel die undankbare Aufgabe zu, ein gerichtliches Verfahren gegen uns anzuzetteln, er scheiterte jedoch schon in Vorfeld. Das folgende Album "Yes Sir, I will" war ein leidenschaftlicher Aufschrei gegen die Handlanger der Macht und auch gegen alle, die sich bereitwillig unterordnen. Die Botschaft war laut und klar: "Es gibt keine Autorität außer Dir selbst.". Da sich unsere politische Position zunehmend polarisierte, erachteten wir es als notwendig, unsere images weitaus eindeutiger zu definieren, als wir es bislang getan hatten. Das Warum unserer Wut mußte erläutert werden, ebenso unser Verständnis des "Selbst". Uns war immer wieder vorgeworfen worden, daß wir nur in der Lage seien wütende Parolen zu propagieren, so daß es nun an der Zeit war uns zu öffnen. Einige Mitglieder der Band veröffentlichten "Acts of love". Die fünfzig vertonten Gedichte waren ein Versuch, deutlich zu machen, daß der Ursprung unserer Wut die Liebe und nicht der Haß war, und daß unser Verständnis des "Selbst" nicht in den Vorstellungen eines egozentrischen sozialen Fanatikers wurzelt, sondern dem eigentlichen Wesen des Menschen entspricht. Zu dieser Zeit sandten wir die inzwischen so berüchtigten Thatchergate Tapes an die Weltpresse. Die Kassette, auf der ein Telefongespräch zwischen Reagan und Thatcher nachgestellt war, beinhaltete unter anderem Thatchers Eingeständnis ihrer Verantwortung für den Untergang des argentinischen Kriegsschiffs Belgrano und die Ankündigung Reagans, Europa zum Schutz Amerikas atomar zu zerstören. Eine Vorstellung, die wahrscheinlich gar nicht so abwegig war, wie es zuerst erscheinen mag. Die Aufnahme blieb zunächst fast ein Jahr lang unbeachtet bis sie im State Department in Washington auftauchte. Die kategorischen Dementis, die bezüglich der Kassette veröffentlicht wurden und ihr Umfang machten deutlich, daß die Methoden, derer wir uns bedient
- 248 -
hatten, um Thatcher und Reagan zu verleumden, sich in keiner Weise von denen des State Departments unterschieden. Kurz danach brachten mehrere Zeitungen in den USA und in England die Meldung vom angeblich erwiesenen "Falschspiel" des KGB. Uns überkam eine Mischung aus Angst und Stolz - Sollten wir die Täuschung aufdecken oder nicht? Unserer Unentschlossenheit setzte ein Journalist ein Ende, der uns bezüglich "einer bestimmten Kassette" sprechen wollte. Zunächst leugneten wir jegliche Kenntnis, doch dann beschlossen wir, unsere Verantwortung einzugestehen. Wir hatten bei der Produktion und der Verbreitung der Aufnahme äußerste Sorgfalt walten lassen, um sicherzustellen, daß niemand von unserer Beteiligung erfuhr. Es ist uns ein völliges Geheimnis, wie der Journalist an Informationen kommen konnte, die zu uns führten. Es war uns eine ernste Warnung, denn wenn die Wände tatsächlich Ohren haben, wieviel mehr war von unseren Aktivitäten bekannt? Seit 1977 waren wir an den verschiedensten Aktionen beteiligt, vom Sprayen bis Kappen, Sabotage und Manipulation. Wir hatten befürchtet, daß auch alles andere aufgedeckt würde, wenn wir die Verantwortung für die Aufnahmen eingestehen würden. Nun aber waren wir dieses Risiko eingegangen und das Telefon begann zu klingeln. Während all der Jahre als Band hatten wir niemals soviel Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Die Medien der Welt interessierten sich für uns und plötzlich waren wir "Medienstars". Wir wurden von der russischen Presse und von amerikanischen TVStationen interviewt, wir sprachen in Radiosendern von Essex bis Tokio und betonten dabei stets unseren anarchistischen Standpunkt. Wir hatten eine Form von politischer Macht erlangt, waren zu einer vielbeachteten Stimme geworden, wurden mit ehrfürchtiger Hochachtung behandelt. Aber war dies wirklich das, was wir wollten? War es das, was wir all die Jahre lang mühevoll angestrebt hatten? Nach sieben Jahren auf Tour hatten wir zwar eine Plattform für unsere Ideen gefunden, aber dabei im Laufe der Zeit unseren Scharfblick verloren. Wo wir einst freigiebig und offen gewesen waren, reagierten wir nun zynisch, pessimistisch und verschlossen. Unsere Aktionen hatten sich immer durch Leichtigkeit und Humor ausgezeichnet, doch nun mußten wir feststellen, daß wir uns zusehends in eine düstere Verbissenheit und in eine oft
- 249 -
falschverstandene Militanz hatten herunterziehen lassen. In diesem Sommer spielten wir das letzte Mal zusammen. Ein zorniges Konzert zugunsten der streikenden Bergarbeiter in South Wales. Von der Bühne herab gelobten wir, weiterhin für die Sache der Freiheit zu arbeiten, doch als wir nach Hause fuhren, war uns klar, daß der Weg, den wir einst eingeschlagen hatten, nun ausgetreten war. Wir mußten neue Wege finden, um unseren Zielen näher zu kommen. Wir waren nicht mehr davon überzeugt, daß das, was zu einer Art Unterhaltung geworden war, etwas bewirkte. Jahrelang hatten wir unseren Standpunkt deutlich gemacht und wenn ihn jemand noch immer nicht verstanden hatte, dann lag dies sicherlich nicht daran, daß wir es nicht entschieden genug versucht hätten. "Es gibt keine Autorität außer Dir selbst!" hatten wir verkündet. Doch wir hatten uns als Einzelpersonen aufgegeben, uns zu Crass zusammengeschlossen und steckten nun in den teilweise schmerzlichen Bemühungen, dieses "Selbst" wiederzufinden, jede und jeden von uns neu zu sehen und uns von den selbstverschuldeten Wunden der Popularität zu heilen. Wir hatten zuviel unserer Zeit, unserer Kraft und unseres Mutes mit den Versuch vergeudet, den über uns hängenden Schatten des Übels, der Gewalt und des Terrors zu verdrängen. Dieser Schatten wurde zu einem dunklen Fleck auf unseren Herzen. Es war der Zeit, diesen Fleck aufzulösen und aus dem Schatten ins Licht zu treten. Es war für uns allerdings kein enttäuschter Abgang, sondern ein neuer stolzer, wenn auch schmerzlicher und verworrener Anfang von etwas Neuem. Wir alle müssen das "Selbst" finden, so daß es wahrhaftig die Autorität wird, die es eigentlich ist. Wir müssen jenseits von Stacheldraht und Polizeisperren nach einer Vision des Leben suchen, die wir selbst bestimmen und die nicht von Zynikern und Despoten vorgeschrieben wird. Der Karatekämpfer zielt nicht auf den Ziegelstein, wenn er ihn spalten will, sondern auf den Raum hinter ihm. Wir täten gut daran, von diesem Beispiel zu lernen. Crass
- 250 -
• THE EX • DAS MEDIUM IST DIE MASSAGE Punk hatte sich schnell verbreitet und es schien als gäbe es überall Konzerte. Eine gewisse Stimmung lag in der Luft, dieses "Hey, warte mal einen Moment - Wir können das auch...". Und wie so viele andere beschlossen auch wir eine Band zu gründen. Damals bedeutete es einfach Spaß (zu versuchen) Musik zu machen und wir konnten nicht ahnen, was sich daraus entwickeln sollte. Es war die Zeit als die holländischen HausbesetzerInnen die neue Königin äußerst aufrührerisch begrüßten. Eine Zeit, zu der es noch möglich war gegen die Polizei zu gewinnen. Nachdem die staatliche Gewalt immer mehr eskalierte wurde dies später unrealistisch, was aber selbstverständlich nicht bedeutete, daß von da an auf den Straßen alles ruhig wurde - die sozialen Mißstände blieben bestehen. Zweifellos waren wir von dieser Bewegung beeinflußt, nicht zuletzt weil wir selbst HausbesetzerInnen waren. Der Vorteil eine Punk-Band zu gründen, lag darin, daß niemand besonders gut spielen mußte. Gerade für uns ist dies ein glücklicher Umstand, denn wir haben immer noch viel zu lernen. Wir kümmerten uns nicht um Akkord-Schemen oder Kompositionsrichtlinien, weil unserem Verständnis nach Punk bedeute, daß du musikalisch tun kannst was du willst. Am Anfang stand für uns kein besonderes Ziel oder Ideal im Vordergrund. Die Band entwickelte sich und wir wuchsen mit ihr, vor allem weil wir große Freude daran hatten (und noch immer haben) Musik zu machen. Wir lernten die Instrumente zu benutzen (auch wenn wir niemals richtige MusikerInnen werden wollten - sie sind einfach nur langweilig) und wir erkannten, daß es mehr gibt als Musik nur zum Zweck der Musik zu veröffentlichen. Du kannst im Proberaum rumhängen und herkömmliche Konzerte geben, aber du kannst auch bei Demonstrationen und bei Aktionen spielen, du kannst den Leuten Informationen weitergeben, die sie nicht in der bürgerlichen Presse finden, musikalische Projekte auf die Beine stellen und für einen guten Zweck spielen. Musik steht für uns vor allem für die Freiheit des Ausdrucks. Wir sehen Musik als Mittel des Strebens nach Freiheit. Und es gibt nur eine Freiheit - dort wo es
- 251 -
keine Unterdrückung gibt. Über die Jahre hinweg änderten sich unsere Überzeugungen nicht wesentlich. Wir verloren allerdings etwas von unserer Naivität und wurden hinsichtlich unserer Möglichkeiten etwas realistischer. Durch unsere eigenen Erfahrungen und Entscheidungen fanden wir im Laufe der Zeit die Strukturen in denen wir arbeiten wollten. Die ganze Band ist an der Entstehung der Musik beteiligt. Es gibt keinen Chef, der den anderen sagt was zu tun ist. Jemand hat eine Idee und die anderen tragen zu ihr bei. Dann ist es ein Prozeß des Austüftelns und Ausprobierens bevor der Song seine definitive Gestalt erhält. Auch wenn wir in den Jahren einen bestimmten Stil des "Songschreibens" entwickelt haben, so kann prinzipiell die Musik jede mögliche Form annehmen - wir sind keinem bestimmten Schema verhaftet (Wir machen keine Pop-Musik!). Es ist immer wieder äußerst reizvoll nach neuen Wegen der Zusammenarbeit und der Kreativität zu suchen, die eigenen Möglichkeiten zu erkennen und die eigenen Grenzen zu erforschen und zu überwinden. Die Texte sind genauso wichtig wie die Musik. Beide drücken unsere Vorstellungen und Überzeugungen aus. Wir glauben, daß jede Form kulturellen Ausdrucks eine politische Aussage hat - entweder ist es eine geistlose, verdummende Flucht vor der Wirklichkeit oder eine des Glücks und des Zorns. Wenn wir wissen, daß ein Straßenzug weiter ein Haus geräumt wird, daß die Polizei Menschen ohne Grund verprügelt oder einige Manager eine große Zahl von ArbeiterInnen entläßt, dann sind wir einfach nicht in der Verfassung alberne Liebeslieder zu singen. Die Dinge, die wir sehen, machen uns zornig. Wir singen über die Ungerechtigkeit und die Heuchelei, die um uns herum oder weit von uns entfernt gegeben ist. Andererseits singen wir aber auch über Dinge, die wir mögen, Dinge die uns inspirieren, Alternativen zu dem Mist, den uns die "Zivilisation" ins Gesicht geschleudert hat. In einer Band zu spielen ist für uns keineswegs das wichtigste in unserem Leben, aber es ist ein Teil unserer Lebensweise. Weder die Texte noch die Musik können von unserem Leben außerhalb der Band getrennt werden, da alles in einem engen Zusammenhang steht. Sollte dies einmal nicht mehr der Fall sein, verliert die Band für uns ihre Existenzberechtigung. Wir sind auf Gleichheit und Demokratie innerhalb und außerhalb
- 252 -
der Band bedacht. Für uns geht es im Leben um Solidarität und Zusammenarbeit, nicht um Egoismus, Habgier oder Konkurrenz. Dies führt dazu, daß wir es vorziehen mit Leuten und Bands zusammenzuarbeiten, die eine ähnliche Einstellung haben. Konkret bedeutet dies: kein sexistischer, rassistischer oder faschistischer Schwachsinn in den Aussagen und Handlungen. Und in Bezug auf die Auftritte keine Unterteilung in "Haupt-" und "Vorgruppe" (jede Band ist gleichwichtig), sondern gegenseitige Unterstützung, wenn es beispielsweise darum geht Equipment auszuleihen, sowie eine faire Aufteilung des Geldes. (Dies hört sich so einfach und selbstverständlich an, aber in der Rock-Kultur scheint eine derartige Einstellung äußerst ungewöhnlich zu sein - und darum hassen wir Rockstars, besonders die "alternativen".) Wir sind keine Idealisten und stehen auch nicht außerhalb dieser Welt, wir sind realistisch. Wir sehen die Musik nicht als Mittel, um reich oder berühmt zu werden (tatsächlich führt dies zu abscheulichen Menschen). Es sind diejenigen, die davon träumen, die auf einer Wolke schweben, denn um dies zu erreichen, muß man alle anderen ausnutzen. Für uns ist Musik mehr als nur eine Geräuschtapete. Neben der reinen Unterhaltung geht es vor allem um Kommunikation. Einerseits bedeutet dies Konfrontation, ein Angriff auf die vorgegebene Weise des Hörens, und auf der anderen Seite bedeutet es die Identifikation mit bestimmten Einstellungen, sowie deren Ausdruck und Vermittlung. Es ist eine Form, um gemeinsame Ideen und Ideale zu erkennen. Es ist ein Weg der Kommunikation, der die Barrieren von Ländern und Sprachen überwindet. G. W. Sok / The Ex The Ex, P.O.Box 635, 1000 AP Amsterdam, Holland.
- 253 -
• MISSING FOUNDATION • MISSING FOUNDATION Missing Foundation gibt es seit fünf Jahren in New York City, genauer: der Lower East Side. Wir kämpfen gegen Rassismus und die Real Estate Firms, die Grundbesitzer und Immobilienhändler. Wir reden über Gentrifikation, die Eroberung innenstadtnaher Altbaubezirke durch 'bessere' Schichten. Die Lower East Side ist die letzte ethnic neighborhood in Manhattan, und Hausbesetzer kämpfen gegen eine Umwandlung und Luxussanierung. Darum brauchen sie 700 bis 1000 Bullen für eine Räumung. Die USA sind sehr groß, aber die Medien überziehen das Land von der West- bis zur Ostküste mit Propaganda. Das System beherrscht die Medien und bringt sie dazu, die Menschen gleichzuschalten. Die Medien bringen die Minoritäten gegeneinander auf, Teilen und Herrschen, und lassen an der alternativen Kultur nichts Gutes dran. Die Medien sagen, Schwarze sind kriminell, denn die Knäste sind voller Schwarzen, aber das System entwirft Gesetze, um die Schwarzen einzusperren. Der Rassismus beherrscht unsere Gesellschaft und der Versuch eines Freiraumes würde nach kurzer Zeit von den Bullen vernichtet, in und außerhalb den Metropolen. Sie haben die Black Panthers getötet und die Weathermen, alle Radikalen der 60er Jahre sind im Knast oder tot, und sie sind hinter uns her, auf einer anderen Ebene. New York City ist der Kern der Finanzen, mit Wall Street und den Multinationalen Konzernen, NYC ist das Geschwür des westlichen Zivilisation und wenn sie die Viertel in NYC schleifen können werden sie es überall auf der Welt machen. Ich habe für einige Zeit auf dem Land gelebt, und es hat auch was für sich. Aber der Polizeistaat ist so fein gegliedert, daß es auf dem Land eher schwieriger wäre, zu leben. Du könntest nicht mit dem Auto fahren, ohne daß die Bullen verfolgen. Es ist weniger tolerant eher repressiver. Die Drogenhändler sind heute die Revolutionäre. Sie hassen und bekämpfen die Bullen. Mit Waffen. Wir hassen Heroin, Crack - doch die Drogenhändler sind die extremsten. Seit Anfang der 70er gibt es keinen Widerstand mehr von weißen Colleges, den Intellektuellen. Nur noch die Hausbesetzer kämpfen, sie kämpfen und schlagen
- 254 -
zurück. Bürgermeister Ed Koch kündigte eine Amerikanisierung von NYC an. Auf die Frage, was die Armen machen sollen, wenn sie die Umstrukturierung nicht mitmachen können, antwortete er: Die Armen können nach Brooklyn zie hen. Ich bin Künstler, und ich fühle mich sehr schuldig dafür, daß ich ein Teil der Gentrifikation war. Es funktioniert so: Ein Hausbesitzer überläßt mir billig eine Wohnung, mir,einem weißen Künstler. Dann wird in der Straße eine Kunstgalerie eröffnet und es ziehen mehr weiße Künstler zu, dann kommt ein teures Restaurant und ein Café, mehr Weiße, mehr Geld. Die Mieten steigen, die früheren Bewohner können sie nicht mehr zahlen, und auch ich fliege raus, denn ich mache mit meiner Kunst nicht genug Geld. Teil der Amerikanisierung ist die Gleichschaltung. Es ist schwer, Bücher zu kriegen, ich nehme an, es hat System Läden mit gebrauchten Büchern schließen, für uns wird es schwer, an gute Bücher ranzukommen, die großen Unternehmensprodukte setzen sich durch. Sie verbrennen keine Bücher, aber die Erhältlichkeit wird eingeschränkt - das macht mir wirklich Angst. Sie wollen Atmosphäre und günstiges Wohnen vernichten, das ist ihr Ziel. Sie wollen, das wir arbeiten, und nicht denken und handeln. Als ich klein war, betrug der Minimallohn 2.25, nun sind es 3.35 - wir müssen genau abwägen: verfügbare Zeit und benötigtes Geld. Natürlich rennen die entsozialisierten Kids an ihrem freien Tag auch in die Fast Food-Läden, um auf der anderen Seite zu stehen und für ihr hart erarbeitetes Geld das Scheißessen zu kaufen. Unglaublich. Das System bekommt immer mehr und mehr Kontrolle. Ein Schlüsselwort ist Hypnose, denn alle wissen es! Es steht in der New York Times und es kommt im TV. Aber niemand macht sich daraus, niemand ist direkt beteiligt, alle gehen arbeiten, als wäre nichts gewesen. Sie wissen, daß die US-Regierung Drogen in das Land holt, daß Bush als CIA-Präsident mit Drogen gedealt hat, um den Krieg gegen die Sandinisten zu finanzieren", und daß Reagan 1980 zum Präsident gewählt wurde, weil im Iran US-Geiseln erst einen Tag nach der Wahl freikamen, weswegen Carter verlor, und was Reagan dann mit Waffenlieferungen an den Iran bezahlte, daß die USA 532,5 Milliarden Dollar Auslandsschulden haben, mehr als Jedes andere Land. Nukleare Waffen werden veraltet sein, sie werden sie nicht
- 255 -
gebrauchen in ihrer eigenen Welt - Heute heißt die Neutronenbombe AIDS. AIDS tötet die Menschen und läßt die Immobilien stehen. In den USA gibt es eine lange Tradition von germ warfare. Nicht nur, daß die US-Regierung im Laufe der Jahrehunderte 459 Verträge mit den Indianern abschloß, und jeden einzelnen davon gebrochen hat, sie haben mit den Indianern Tauschgeschäfte gemacht, und ihnen TBC-infizierte Decken gegeben, damit sie ausrotten. Heute läßt die CIA in der U-Bahn kleine Biobomben hochgehen, um anhand der Statistik festzustellen, wie es wirkt, wieviele zur Arbeit gingen, trotz Vergiftung. In NYC habe ich fast jeden Tag Kopf- und Bauchschmerzen. Vielleicht ist es Streß, aber in NYC werden wir paranoid. AIDS und Drogen sind Mittel um ihre Macht zu festigen. AIDS wurde genutzt, um die zunehmende Macht der Schwulen zu brechen. Es geriet über die Drogen-Szene und die Gay-Scene in weite Bevölkerungsteile. Mit Crack kam AIDS in die Shelters, die Obdachlosenheime, von denen es heißt, daß sie den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf geben. In Wahrheit sind die Shelters für sie der Tod. Sie töten damit auch die Kriminellen, denn in den Knästen gibt es ein brutales System von Männerprostitution und Drogen und AIDS. Zudem schüren sie Angst: Es gibt wieder sexuelle Tabus, wer keinen Job hat, ist asozial, ebenso wie die Drogenabhängigen. Und dadurch verbreiten sie die Auffassung, daß sie es nicht besser verdient haben, daß sie selbst an ihrem Leid schuld sind. Woher ich all das weiß? Es steht in der Zeitung, man muß nur zwischen den Zeilen lesen! Du kannst du leben ohne Bankkonto, Kreditkarte, Ausweis. Du brauchst sie um existieren zu können. Ich hatte Schwierigkeiten, einen Paß zu kriegen, denn ich habe 15 Jahre keine Steuern gezahlt, hatte keinen ID, keinen Führerschein. Sie wollten nicht glauben, daß ich existiere! Die USA vergiften Wasser, Luft und Erde. sie plündern die natürlichen Ressourcen und zwingen die armen Staaten, das eigene Volk hungern zu lassen, damit die Schulden an die Weltbank zurückgezahlt werden können. Wir haben diese grausame, häßliche Regierung. Ich hasse die USA. Missing Foundation hassen die Amerika. Nicht die Leute, sie sind hypnotisiert. Wir werden sie stören, wecken. Wir sagen: Kill the hypnotic Bastards! Sie haben keine Hoffnung, werden keine Revolution haben. Das ist das Ende
- 256 -
der Welt, wir werden sie töten. Es ist verzweifelt. Die Welt ist in einer verzweifelten Situation. Niemand versucht, mit dem Planeten zu leben, mit der Natur. Der Planet wird zerstört. Die Welt befindet sich im Untergang. Der Untergang der Ableben der Menschheit. Menschlichkeit ist unsere letzte Hoffnung, doch wir verlieren sie. Es gibt nur Konformisten und Reagierende. Und wir reagieren, wir schlagen zurück. Es gibt keinen Kapiitalismus oder Kommunismus. Wir sind feindselig. Wir wollen, daß alle feindselig werden, heraus kommen aus ihrer Hypnose. Das ist es. Wenn alle feindselig werden, ist die Welt nicht mehr in dieser Gemütlichkeit. Diese Gemütlichkeit der Familie, die vor dem Fernseher sitzt während das Haus brennt. Es wird es bald keine Regierung mehr geben, nur noch Multinationale Konzerne, die die Welt vernichten. Ich erwarte, daß sich in den nächsten 20 Jahren eine Weltregierung durchsetzen wird, eine Regierung aus KGB, CIA, Coca Cola und ITT. Wir kamen nach Europa und werden gefragt, was wir hier machen. Urlaub? Wir wollen Fuß |fassen und das Leben verstehen, wollen ein Art von weltweitem Widerstand inspirieren. Wir sind hier nicht als normale Band, wir sind nicht wegen der Musik gekommen. Das macht den Unterschied. Du kannst dir den Kopf rasieren und wie kleine Jungs Händchen halten in lustigen kurzen Hosen das führt nirgends hin. Das ist Mode gerade. Die Umstände produzieren sie. Sie sind Puristen - das ist eine totale Ablehnung des Geschehens um sie herum. Die kriegen nichts mit, skaten über Müllberge, wir lachen über sie. Bevor wir kamen gab es zwei große Ölkatastrophen, eine in Delaware, eine in Chicago. Wir spielen dieses dumme R'n'R-Spiel nicht. Es ist ein Haufen Scheiße. Wir spielen, wenn wir wollen, auf der Straße, auf Plätzen, in leeren Fabriken. Immer, wenn wir spielen, lernen wir, wir wollen Ideen austauschen. Unsere Musik ist an einem Schnittpunkt, wir wollen neue Sounds entwickeln, die man hören kann. Wir wollen Aggressivität durch unsere Musik promoten, niemand sonst tut es. Und wir sind keine Industrialband, wir nehmen Sounds aus unserer Umgebung auf, darum haben wir keinen Gitarristen mehr, wir spielen auf der Straße und schlagen auf Metall ein." Diese Gruppe ist ein konsequent selbstzerstörerisches Projekt. Es heißt, wir seien negativ Wir sind nicht negativ - wir sind böse. Als
- 257 -
Gruppe wollen wir aber kreativ sein. Dort wird sind selbstzerstörerisch angelegt. Wir wollen keinen finanziellen Erfolg. Wenn uns jemand Geld gibt, nehmen wir es und machen es nutzlos. Die Einstürzenden Neubauten spielten einmal im Palladium, einer großen Disco für 7000 Dollar Gage. Die Reichen besitzen den Laden und die Mafia macht dort die Security. Als wir dort spielten - und wir wurden eingeladen, wir fragen nie, ob wir spielen können zerschlugen wir die Einrichtung, schlitzten die Möbel auf, sprühten überall unser Symbol hin! Sie haben mich und meine Freundin zusammengeschlagen. Es gab 25000 Dollar Schaden. Es gibt für uns viele Feinde: Mafia, Hells Angels, Naziskins, viele Punx und die Boyscouts, FBI, die Anti-Terror-Abteilung, viele MusikerInnen und Bands. Aber wir können uns nicht vorstellen Kompromisse zu machen, weil das System keine Kompromisse macht. Nachdem alles überuns einstürzte, viel Zerstörung, viel Böses, Zorn und Hass, aber auch all das Positive, was Menschen dagegen setzen, schlugen wir alles in einem Augenblick von uns. Es geht nicht darum, sich auf einen einzelnen Aspekt zu konzentrieren alles gehört zusammen und so ist unsere Musik! Bevor wir nach Europa kamen, hatten wir eine Party in NY bei der die Undercover-Police auftauchte. Sie folgen einigen von uns zur Arbeit, hören Telefone ab, haben versucht, uns Morde anzuhängen. Im TV hieß es wir seien ein Satanskult, zudem wurden wir beschuldigt, letztes Jahr im August den Police Riot im Tompkins Square Park angezettelt zu haben. Es ging dabei um Ruhe für die Reichen. Im Park hingen alle möglichen Leute rum, nachts haben dort Obdachlose geschlafen. Dann wollte die Polizei einen Zaun ziehen, wir wußten davon, und gaben eines unserer Freiluftkonzerte. Es ging um einen kleinen Park, und den Zaun drumherum. Ich hänge nicht mal im Park rum, nachts habe ich andere Dinge zu tun. Aber die Tatsache, daß sie scheinbar niemals stoppen, daß jetzt sogar nachts der Park geschlossen werden sollte, in einem der heißesten Sommer seit langen. Bei den Leuten machte es Klick und sie sagten "Es recht! Stop! Es ist genug!" und alle wurden zornig und wehrten sich endlich. 600 Bullen, ein paar Dutzend Reiter, Helikopter und ein zentrales Computersystem mitten im Park. Sie waren vorbereitet, wußten, daß es dabei auch um den Kampf gegen Umstrukturierung geht, daß sich Hass entladen würde. Darum haben die Bullen so unkontrolliert
- 258 -
zugeschlagen, Sie haben Taktik und Strategie. Vor kurzen wurde ein Haus geräumt mit über 1000 Bullen. Es dauerte 3 Tage. Wir rissen ihre Gerüste um und schmissen Scheiße und Pisse auf sie hinunter. Sie prügelten wie wild um sich, sie verhafteten uns und fesselten uns mit Handschellen an das Gitter. Immer wieder kamen die Bullen rein, um auf mich einzuschlagen. Wir können Musik machen. Wir nutzen Graffiti, Propaganda, Kommunikation, aber es ist fast unmöglich politische Gruppen und Organisation aufzubauen. Sie zerstören es mit Infiltration und Undercover-Arbeit. Provokateure des FBI produzieren den Terror den dieses System dann braucht. Es ist einfach: die Antworten sind da, vor deinen Augen. Jeder weiß, was los ist. Wichtig ist Widerstand, Widerstand, Widerstand. Widerstehe! Du kannst rumsitzen, trinken, rauchen, ficken - das bringt niemanden nirgendwohin. Widerstehe! Das braucht null Organisation, aber eine Idee, eine Moral! Und wir als Missing Foundation wollen Leute zornig machen, anstacheln. New York City is dead! Fight back! Wir werden uns nicht zivilisiert benehmen in dieser Scheiß -Stadt! Vieles von dem, was wir sagen, ist schon im Unterbewusstsein der Leute: Viele Leute die beim Police Riot verletzt wurden, waren keine Demonstranten. Wir haben immer wieder gesagt, es ist ein Polizeistaat! Sie wollten es nicht hören, doch sie haben es nun gespürt! Sie mußten den Kopf zerschlagen bekommen, um zu endlich verstehen, und so ist unsere Musik. Missing Foundation (aus dem Fanzine Kabeljau 13, 1989)
- 259 -
• MUMIA ABU-JAMAL • EINE VERLORENE GENERATION ? In jüngst erschienenen Berichten wird beklagt, afroamerikanische Jugendliche seien bemerkenswert resistent, ja geradezu immun gegen die herkömmliche Werbung, die die großen Medien benutzt, um jüngere Schwarze mit großen Marken und prominenten Sportlern anzusprechen. Die Forschung registrierte bei Jugendlichen ein starkes Gefühl tiefer Entfremdung und einen allgemein verbreiteten Hang zum Fatalismus, wenn es um ihre Zukunftsperspektiven geht, ein Gefühl, daß "es ein Morgen vielleicht nicht gibt, also leben wir unser Leben heute". Die Jugendlichen verbringen zwar relativ viel Zeit vor dem Fernseher, wissen aber, daß die Dramen, Komödien und Nachrichtensendungen sich nicht an sie als Konsumenten ric hten, und nehmen sie deshalb aus der Perspektive von Außenseitern wahr. Empfänglich sind sie allein für die unter dem Namen Rap bekannte Musikform, denn sie ist aus dem Bewußtsein der Großstadtjugend entstanden und erzählt in ihrer Sprache vom Leben am Rande der Gesellschaft. Wegen dieser tiefgehenden Dissoziation sahen sich einige Vertreter der neuen schwarzen Mittelschicht genötigt, die Jugend als "die verlorene Generation" zu beklagen. Aber ist sie wirklich "verloren", und wenn ja, an wen? Der aus Martinique stammende schwarze Revolutionär Frantz Fanon hat einmal gesagt, daß jede Generation ihre Bestimmung finden und sie entweder erfüllen oder aber sie verraten muß. Für die Generation meines Vaters, der Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Süden zur Welt kam, hieß diese Bestimmung, ihre Familien in den Norden zu bringen, in ein Land, das ein besseres Leben versprach, weg von den haßerfüllten Homelands der amerikanischen Südstaaten. Die Träume jener Generation, die von Wunschbildern wie neuen Wohnungen, besseren Schulen, neuen Autos und Wohlstand inspiriert waren, erfüllten sich, relativ gesehen, für einige, doch das Stigma des Rassismus vermochten die in den Norden ziehenden AfroamerikanerInnen nie hinter sich zu lassen. Als die in den Fünfzigern und Sechzigern geborene Generation während der Nixon-Reagan-Bush-Ära erwachsen wurde, definierte
- 260 -
die Rassenzugehörigkeit aufs neue die Grenzen der Entfaltungsmöglichkeiten für Schwarze, und als industrielle Arbeitsplätze zurück in die Südstaaten oder ins Ausland verlagert wurden, zerschlugen sich auch die Träume vom relativen Wohlstand. Die Kinder dieser Generation - die mitten in einer Überflußgesellschaft in ernüchternde Armut hineingeboren wurden, denen, eingesperrt in einer Welt des Mangels, das Denken mit Fernsehexzessen à la Falcon Crest abgewöhnt wurde, auf deren bloße Existenz üble Politiker spucken - sind die HipHop- und RapGeneration. Ein legaler Weg, ihr materielles Überleben zu sichern, bleibt ihnen verschlossen, kriminelle Polit iker und Polizisten blicken auf sie herab, für sie gibt es nur ungenügende Bildungsangebote, und der Ton, in dem man mit ihnen spricht, ist voller Verachtung, nicht voller Liebe. Ist es wirklich eine Frage, warum diese Jugendlichen entfremdet sind? Warum die Verwunderung? Sie betrachten das Leben, das sie leben, und sehen keine "Weiterentwicklung der Bürgerrechte". Stattdessen schlägt ein Staat, der im Krieg mit ihren Träumen liegt, die Trommel der Repression. Warum also die Verwunderung? Dies ist keine verlorene Generation. Es sind die Kinder des Aufstands von Los Angeles, die Kinder der Move-Bombardierung, die Kinder der Black Panthers und die Enkel von Malcolm. Als die wahrscheinlich bewußteste Generation seit Nat Turner sind sie alles andere als verloren, nein, eher am falschen Platze, ausrangiert von einem zunehmend rassistischen System, das ihre inneren Werte unterminiert. Alle sind sie potentielle Revolutionäre - und sie haben die historische Macht unsere trübe Realität zu verändern. Wenn sie verloren sind, dann sucht und findet sie. Mumia Abu-Jamal Der Journalist und ehemalige Black-Panther-Aktivist Mumia AbuJamal, der vielfach als "Stimme der Stimmlosen" bezeichnet wird, wurde in Philadelphia aus politischen Gründen zum Tode verurteilt. Eine internationale Kampagne setzt sich für seine Freilassung ein. Weitere Infos unter: http://www.sterneck.net/alive/mumia
- 261 -
• P16.D4 • SLAVE TO THE RHYTHM Pop im Warenhaus, im Kino, im TV, bei der Arbeit. Die Funktion: Werbung. Die Kriterien mit denen die Qualität von Pop gemessen wird: Pseudokriterien einer Pseudoqualität: Werbung fürs System: Duldung der Verhältnisse. Der Kriterienkatalog: Gut zum Tanzen / Gut zum Ficken / Gut zum Marschieren / Gut zum Mitsingen / Gut zum Mitleiden. Diese Kriterien sind nahezu gleich bei der Beurteilung von Populärer Klassik, Jazz, Folk, Wave, Disco, Metal, Punk, Volksmusik. Es ist unsinnig eine Sparte Pop gegen eine andere ausspielen zu wollen: Wave besser als Disco / Jazz besser als Rock / etc., solange keine ernsthaften Versuche erkennbar sind, die Popstruktur inklusive Vermarktungsmechanismen zu verlassen. Auch "kritische" Texte ändern daran nichts, solange Form / Ausdruck von Musik und Text unkritisch sind, denn in bedeutungstragenden Zeichensystemen können neben dem (eigentlichen) Inhalt die Form und der Inhalt zu einem neuen überlagernden Inhalt werden: Wo ist der strukturale Unterschied zwischen Freddy Quinn und Hannes Wader? Motörhead und Exploited? Live Aid und Jack-White-Show? "... in the heat of the night - you loose your heart and sell your soul - I loose control in the heat of the night ..." Also Schritt vom Pop zu Etwas, das unreflektiert als "Avantgarde" durch die Kataloge geistert, bzw. zur "Kunst" deren Funktion in scheinbarer Funktionslosigkeit, nämlich Unverwertbarkeit fürs System bestehen könnte. Unverwertbar: kein Rhythmus auf den man tanzvögelnmarschieren kann / keine Harmonien als Ausgleich für Emotionsdefizite / keine Texte zum Mitsingen und Selbstvergessen / keine Möglichkeit zu beschaulicher Meditation bei Kerzen und Wein. "... we're lost in music, caught in a trap, no turning back, we're ..." Dennoch ist die Kenntnis vom Pop und seiner Funktion wichtig, denn mit akademischer Konservatoriumsausbildung allein ist eine derartige autonome, zeitgemäße Musik nicht zu produzieren. Das Improvisation aus dem Entstehungsprozeß nicht ganz wegzudenken ist, dürfte klar sein. Instrumentalartistik (siehe Klassikrockjazz) ist allerdings keine Qualität, die für sich selbst stehen könnte.
- 262 -
Improvisation als Lebensinhalt geht von der falschen Vorstellung aus, Gefühle seien echt und nicht gesellschaftlich vermittelt, bzw. "in mir drin" sei etwas Echtes, Wahres, das es aus mir herauszupressen gelte; mein Bauch spielt, "es spielt aus mir heraus..." - Hohoho... Die Kompositionsprinzipien einer zeitgemäßen Musik müssen auf den Ergebnissen der letzten Jahrzehnte aufbauen, hinter die nicht zurückgetreten werden kann und die vom Pop der letzten vierzig Jahre fast ausnahmslos ignoriert werden: Atonalität, freie Rhythmik, Geräusch als Ton, Serielles und Aleatorisches Prinzip. Ton- bzw. Geräuschquellen können dabei genauso wie bereits komponiertes oder gespeichertes Material als "Instrument" eingesetzt werden. All dies wird weitgehend ignoriert, so wie es das System verlangt, oder auf "volksnahe" Hörgewohnheiten abgeschliffen und vermarktet. (Siehe zum Beispiel Grusel- und SF-Filme der sechziger Jahre, unterlegt mit atonalen und "sphärischen" Elektronikklängen). Eine neue Stufe stellt das Prinzip des Materialaustauschs und der phasenweisen Weiterverarbeitung durch andere dar: Einsatz kontrollierten Zufalls. Ausgangsmaterialien werden von verschiedenen Gruppen ausgetauscht und verarbeitet, die Ergebnisse möglicherweise noch einmal ausgetauscht und weiterentwickelt. Dieser Ansatz kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Möglichkeit einer autonomen, zeitgemäßen Musik angezweifelt werden muß; vielleicht ist nur der Weg einer negativen Reaktion auf vorhandenes Material noch gangbar. Makxs / P16.D4
- 263 -
• WOLFGANG STERNECK • INSELN Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. 1990 bin ich zum ersten Mal auf eine Techno-Party gegangen. Es war eine dieser legendären Nächte mit Sven Väth im Frankfurter Omen. Und ich war völlig verblüfft. Der ganze Club war in Bewegung und überall wurde getanzt, selbst auf den Tischen. Zum Teil liefen scheinbar völlig monotone Stücke und als irgendein eher unscheinbares Element neu hinzu kam, da ging ein Aufschrei durch den ganzen Club. In keiner Szene in der ich mich zuvor bewegte, hatte ich solch eine euphorische und ekstatische Stimmung erlebt In dieser Nacht war ich noch weitgehend Beobachter. Doch auf den Parties, die dann folgten, wurde ich zunehmend zu einem Teil der Party. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur selten getanzt. Auf Indie- und Wave-Parties tanze ich in einer Nacht zu zwei, drei Stücken, die mir besonders gefielen. Und ich tanzte sozusagen mit dem Kopf, daß heißt ich überlegte mir mehr oder weniger wie ich mich bewege wie ich auf die anderen wirke. Bei den Techno Parties begann ich nun zu tanzen und hörte gar nicht mehr auf. Anfangs tanzte ich noch mit dem Kopf, dachte an irgendetwas, doch dann ging ich mehr und mehr in der Musik auf. Mein Körper bewegte sich von alleine und in meinem Kopf breitete sich eine Leere aus, eine positive Leere, und ich tanzte mich in einen tranceartigen Zustand. Bis dahin hatte ich die Vorstellung, daß Techno keine Botschaft habe, Techno einfach nur ein Produkt der Musikindustrie sei. Doch durch das Tanzen wurde mir eine ganz andere Ebene klar: Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Kontrolle und Rationalität basiert, in der Gefühl und Körper unter den Verstand gestellt sind. Vor diesem Hintergrund ist eine solche Nacht Ausbruch, Trance ist Aubruch, Ekstase ist Ausbruch. Und ich merkte Techno hat etwas mit Politik zu tun. Selbstverständlich nicht mit der gängigen Vorstellung von Politik, sondern Politik auf einer ganz anderen Ebene. In einer Welt des Verstandes und der Kontrolle ist Techno die Politik des Fließens, ist Techno die Politik des Körpers, ist Techno die Politik der Ekstase.
- 264 -
Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Um 1992 geschah mit Techno das, was charakteristisch für fast alle Jugendbewegungen der letzten Jahrzehnte und deren Musik ist. Wenn das kommerzielle Potential einer neuen Strömung deutlich wird, dann wird sie von der Musikindustrie und den ganzen Zigaretten-, Bekleidungs- und Getränkekonzernen ausgeschlachtet. Diese Entwicklung führt dann zu einer Reduzierung der Kultur in ihrer Hauptströmung auf eine modische, inhaltslose Stilrichtung. Die gegenkulturellen Ansätze der Anfangszeit werden an den Rand gedrängt oder völlig geschluckt. Durch den immer größeren Einfluß der Medien vollzieht sich dieser Prozeß immer schneller. Die Gleichschaltung von Bedürfnissen und Bewußtsein, die Manipulation von Sehnsüchten und Träumen wird dabei immer perfekter. Egal ob Punk oder Techno, ob HipHop oder Free Jazz, all diese Strömungen haben im Underground begonnen. Als Gegenkultur, als Abgrenzung zur Mainstream-Culture. Und immer ging es um Freiräume, um die Möglichkeit sich entfalten zu können, kreativ zu sein, um gemeinschaftliche Projekte, letztlich um ein selbstbestimmtes Leben. Und immer dort, wo diese Gegenkultur bestimmte vorgegebene Grenzen nicht mehr beachtete, wurde von Seiten des Staates, von Seiten des Establishments zurückgeschlagen. Symbolhaft ist die Entwicklung von Elvis. Anfangs galt er als Rebell, der mit seinem erotischen Tanzstil die Eltern-Generation schockte. Dann kam ein geschickter Manager, der die Kanten etwas abschliff und innerhalb weniger Jahre wurde aus Elvis ein aufgeschwemmter Schnulzensänger, denn die Schwiegermutter inzwischen genauso gut fand wie der Sohn der einst über die Strenge schlug. Symbolhaft ist die Geschichte der Punk-Band The Clash. Anfangs rief sie zu Verweigerung und Widerstand auf, wurde dann aber vom Musikkonzern CBS unter Vertrag genommen und wandelte sich zu einer oberflächlichen Rockband mit banalen Texten. Symbolhaft ist die Entwicklung von Techno. Anfangs die betonte Abkehr von gängigen musikalischen Aufbauschemen, von Starkult und Kommerz. Doch es dauerte nicht lange und die Industrie
- 265 -
erkannte das kommerzielle Potential. Und plötzlich landete Marusha mit "Somewhere over the rainbow" auf Platz 1 der Hitparaden, einem Stück ohne Kanten, mit einem eingängigen Refrain und einem Aufbau wie ein Pop-Song. Und die Plattenbosse rieben sich die Hände. Und die Teenies jubelten den neuen Stars af der Bühne zu. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. In der Mitte de neunziger Jahre kam Goa in Mode. Die Goa-Szene entsprach einer eigenständigen Verbindung von Elementen der westeuropäischen und der indischen Kultur, wobei die Hippie -Bewegung als Verknüpfungspunkt diente. Charakteristisch für die Parties sind die besondere Betonung der Deko bzw. der gesamten Atmosphäre auf einer Party, der oftmals freundliche Umgang und nicht zuletzt auch die Suche nach veränderten Bewußtseinszuständen, sowie die unterschwellige Spiritualität. Gerade in einer Phase in der Techno immer weiter kommerzialisiert wurde, boten die schwer in Worten fassbaren Energien einer guten Goa-Party eine willkommene Alternative zu unpersönlichen Massen-Raves. Doch die Verbindung der Kulturen führte zu auch zu vielen oberflächlichen Klischees. Kaum jemand ist sich der eigentlichen Bedeutung der indischen Gottheiten und Symbole bewußt, die ständig auf den Flyern und Deko-Materialien auftauchen. Vielfach wird einfach nur ein Image genutzt um der Party ein gewisses Flair zu geben, ohne dabei zu berücksichtigen, daß diese Symbole zum Teil für völlig unterdrückende Strukturen, für das Kastensystem und für die Diskriminierung von Frauen stehen. Anfangs war es noch ziemlich schwer an entsprechende Platten zu kommen, doch inzwischen gibt es längst CDs mit so werbewirksamen Titeln wie "Trip to Goa" oder ganz tiefsinnig wie "Goa-Räume". Bei den Parties gab es die gleiche Entwicklung wie bei den Platten. Zunehmend traten Veranstalter auf denen es nicht mehr um die Party als gemeinschaftliches Fest ging, sondern nur darum möglichst viele Leute zu ziehen und damit auch möglichst viel zu verdienen. Ein besonders krasses aber doch typisches Beispiel für die Haltung, die dahinter steht, war eine Goa-Party die vor einiger Zeit
- 266 -
in Offenbach stattgefunden hat. Am Tag nach der Party beauftragte der Veranstalter eine Firma mit der Reinigung der Party-Halle. Und diese Firma hat dann eine Gruppe von Indern und Inderinnen geschickt. Ein deutscher Veranstalter organisierte also eine GoaParty mit indischen Flair, verdiente damit und lies dann eine indische Putztruppe wahrscheinlich zu einem Minimal-Lohn den Dreck wegräumen. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei undviele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Der Gebrauch von Drogen ist für viele Personen aus den verschiedenen Techno-Szenen selbstverständlich. In Bezug auf das offene Verhältnis zu Drogen ist die Techno-Kultur allerdings keineswegs eine Ausnahmeerscheinung. Vielmehr diente der Gebrauch von Drogen Menschen unterschiedlichster Epochen und Kulturen zur Erlangung entspannender oder anregender Gefühlszustände und oftmals in Verbindung mit Ritualen zur Veränderung des Bewußtseins. Die Gründe dafür, daß heute innerhalb der Techno-Kultur wie auch generell innerhalb der westlichen Gesellschaften der Gebrauch von Drogen in zahlreichen Fällen einer Flucht entspricht sind vielfältig. Zu den strukturellen Ursachen gehören gesellschaftspolitische Faktoren wie die vielfältigen sozialen Mißstände, aber auch die Erfahrung zwischenmenschlicher Kälte als Folge eines Systems, das Leistung und Profit über den einzelnen Menschen stellt. Die herrschende Drogenpolitik basiert im wesentlichen auf der Forderung nach Abstinenz gegenüber den gesetzlich als illegal definierten Drogen, wobei gleichzeitig all diejenigen kriminalisiert werden, die sich dieser Vorgabe verweigern. Offensichtlich ist jedoch, daß diese Politik weder den Konsum von Drogen noch die Zunahme der Abhängigen einschränken konnte. Besonders deutlich wird die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Politik am Beispiel der Drogen Alkohol und Nikotin, die trotz ihrer gesundheitlichen Auswirkungen und ihres Suchtpotentials legal sind. Eine veränderte Drogenpolitik, die an den realen Bedingungen und den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist, muß die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung über den Gebrauch von Drogen
- 267 -
beinhalten. Voraussetzung für einen bewußten Umgang ist der Zugang zu umfassenden Informationen über die Zusammensetzung und die Wirkung der einzelnen Substanzen. Etwa in der Mitte der neunziger Jahre begannen selbstorganisierte Gruppen aus der Techno-Kultur daran anzuknüpfen, sie informierten über Drogen und traten der weitverbreiteten Tabuisierung entgegen. Eine besondere Rolle nahm dabei Eve & Rave ein, ein "Verein zur Förderung der Party-Kultur und zur Minderung der Drogenproblematik". Die Bedeutung von Eve & Rave für die Techno-Kultur ist unbestritten, als idealistisches aufklärerisches Projekt hat es noch immer Vorbildfunktion. Doch wer in den letzten Monaten die Entwicklung von Eve & Rave in Berlin verfolgt hat, kann nur verständnislos den Kopf schütteln. Da gibt es Flügelkämpfe, da gründet der einstige Initiator ein neues Projekt, da werden Vorstandsmitglieder von anderen "krimineller Machenschaften" bezichtigt, da werden alte Vorstandsmitglieder aus dem Verein ausgeschlossen... Und da bedeutet Vorstand nicht nur notwendige Koordination, sondern Macht - und um die wird gekämpft. Ursprünglich sollte die Vereinsstruktur nur ein formales Gerüst sein, um gegenüber Behörden und Veranstaltern besser auftreten zu können. Nun hat diese Struktur soviel geschluckt, daß die Abläufe weniger an ein gemeinschaftliches Projekt aus der Techno-Kultur erinnern, als an Parteien oder an den Geflügelzüchterverein von nebenan. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Vor ein paar Jahren haben sich in England ein paar Leute zu einer Gruppe zusammengeschlossen und sich Spiral Tribe genannt. Sie leben in großen ehemaligen Armee-Fahrzeugen die sie zu Wohnräumen ausgebaut haben und ziehen von Ort zu Ort. Und immer dabei haben sie ein Soundsystem und immer dort wo sie halten und ein paar Leute zusammenkommen machen sie eine Party, meist ohne Eintritt, nur auf Spendenbasis. Vor einiger Zeit habe ich mich mit einem der Spirals unterhalten und er hat mir erklärt, daß die Lebensphilosophie des Spiral Tribe auf drei Begriffen basiert. Der erste Begriff lautet Marxismus.
- 268 -
Marxismus im Sinne von linker, kritischer Theorie, im Sinne einer Ablehnung von Ausbeutung und Unterdrückung, im Sinne des Ideals einer klassenlosen freien Gesellschaft. Nun ist der gute Marx aber schon etwas in die Jahre gekommen, etwas ergraut und da liegt es nahe ihn in etwas bunteren Farben zu sehen... Und dann kommen wir zu zweiten Begriff. Psychedelika. Marx ließt sich einfach lockerer mit einem Joint in der Hand und entfaltet mit ein paar Pilzen ganz neue Ebenen... Der dritte Begriff, der alles zusammenhält lautet Stammeskultur, also eine gemeinschaftliche autonome Form des Zusammenlebens. Und dazu gehören beispielsweise Trance-Rituale wie sie von Stämmen aller Zeiten praktiziert wurden. Nur das heute zumeist keine Holztrommeln benutzt werden, sondern elektronische Instrumente. Im Grunde ist der Spiral Tribe ein Cybertribe, also ein moderner Stamm, der altes Wissen mit den Entwicklungen der Gegenwart verbindet. Der Spiral Tribe wurde in England immer bekannter und die Leute reisten von überall zu den Parties an. Als der Spiral Tribe in Castlemorton ein Festival organisierte, zudem sie höchstens ein paar tausend Menschen erwartet hatten, kamen etwa 50.000 Menschen. Und die feierten mehrere Tage lang ohne besondere Zwischenfälle, ohne Security, ohne Eintritt, ohne autoritäre Struktur, ohne kommerzielle Absichten, ohne Star-DJs. Einige Tage lang war das Festival ein Freiraum in dem andere Gesetzte galten. Um zu verhindern, daß dies ein zweites Mal passiert, wurde der Spiral Tribe mit Anzeigen überhäuft: Parties ohne behördliche Genehmigung, Vergehen gegen die Steuergesetze, Konsum von Drogen usw. Aber der Spiral Tribe ließ sich nicht einschüchtern und plante eine Party mitten in London, auf einem Platz auf dem gerade ein Hochhaus für eine Bank entstehen sollte. Eine Party als Ausdruck eines anderen Lebens. In Folge wurde der gesamte Stadtteil von der Polizei abgesperrt und die Spirals mit Haftbefehl gesucht. Um den Prozeßen zu entgehen zogen die Spirals dann aufs europäische Festland und ziehen seitdem von einem Ort zum nächsten. Die damalige Thatcher-Regierung erließ einige Zeit später ein Gesetz, das sogenannte Criminal Justice Bill, daß im Grunde alles verbindet was mit einer alternativen Lebenseinstellung zu tun hat, darunter auch das Organisieren von Parties und Raves ohne behördliche Genehmigung. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele
- 269 -
übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. In Frankfurt finden seit einiger Zeit ein bis zweimal im Jahr die sogenannten Nacht-Tanz-Demos statt. Angefangen hat es als Protest gegen die Einschränkungen der Party-Kultur in Frankfurt. Als Protest gegen die Schließung von Clubs, gegen kaum erfüllbaren Auflagen für die Eröffnung von neuen Locations, gegen die Sperrstunde usw. Bei der dritten Nacht-Tanz-Demo wurden diese Inhalte etwas erweitert, den einigen Leuten wurde klar, daß die Politik gegen die Party-Szene nichts isoliertes ist, sondern ein Teil eines politisches Konzeptes, daß von einer konservativen Grundhaltung ausgeht. Und es geht dabei um den Standort Frankfurt, das heißt um die Frage wie ziehe ich noch mehr Banken, noch mehr Kapital nach Frankfurt. In dieses Weltbild passen selbstverständlich keine Underground-Parties, auch keine besetzten Häuser oder autonomen Zentren, da passen auch keine Junkies rein und keine Obdachlosen, die Geschäftsleute am Hauptbahnhof anschnorren. Als dieser Zusammenhang klar wurde, da veränderten sich die Parolen und da hörte sich der Aufruf plötzlich ganz anders an. Und da reagierte auch die Staat bzw. der Magistrat mit seiner Polizei ganz anders. Bisher ließ man die durchgeknallten Raver eine Nacht lang auf der Straße tanzen, doch nun ging nicht nur um Party sondern auch um Politik. Entsprechend groß war das Aufgebot. Wasserwerfer, Polizeihunde und Polizisten in Kampfanzügen, wie sie die meisten nur aus SF-Filmen kennen. Und dann gab es dieses wunderbare Bild, auf der einen Seite die verbissenen Polizisten in ihren Kampfanzügen und auf der anderen Seite fröhlich tanzende Leute. Irgendwann erhielten die Polizisten den Befehl zuzuschlagen, die Tanzenden wurden verprügelt, die Wagen mit den Soundsystemen wurden gestürmt. Mache Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Mache Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Ich könnte noch viele Geschichten erzählen. Zum Beispiel die Geschichte von Exodus einem Projekt von Arbeitslosen, die sich zu
- 270 -
einem Kollektiv zusammen geschlossen haben, ein Gehöft renoviert haben nun dort zusammen leben, arbeiten und auch gemeinsam mit anderen feiern. Oder auch die Geschichte von Soluna, einem Projekt, dessen Aktivitäten sich um die Pole Party, Bewußtsein und Veränderung drehen. Innere persönliche Entwicklung und äußere gesellschaftliche Veränderung. Oder von den "Reclaim the Street" Demos in England oder, oder, oder... Es gibt mehr solche Geschichten, mehr solche Projekte als die meisten wohl denken - es gibt viele solche Cybertribes. Aber es geht gar nicht darum den Blick nur auf andere Geschichten und Projekte zu richten. Denn jede und jeder trägt die ersten Worte einer solchen Geschichte in sich selbst. Denn je der und jede von uns ist ein Samen aus dem ein solches Projekt wachsen kann, jeder und jede von uns ist die Zelle eines Cybertribes, wie auch immer der dann im einzelnen aussehen mag. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei, doch viele übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und übersehen dabei, daß jede Insel von einem Meer umgeben ist, doch einige öffnen die Augen und sie beginnen zu sehen. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei und sie öffnen die Augen und sie beginnen zu tanzen, nicht nur auf der Dancefloor, sondern auch überall auf den Straßen, in den Klassenzimmern, in den Büroräumen, in den Supermärten. Und Tanzen heißt Veränderung. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei. Und sie verstehen. Und sie tanzen. Und sie träumen. Und sie kämpfen. Und sie lachen. Und sie lieben. Und sie verändern. Manche Leute denken, daß Techno eine Insel sei ... Wolfgang Sterneck.
- 271 -
• UNDERGROUND RESISTANCE • LANG LEBE DER UNDERGROUND Underground Resistance ist die Bezeichnung für eine Bewegung. Eine Bewegung, welche Veränderung durch die geräuschvolle Revolution anstrebt. Wir fordern Dich auf, Dich am Widerstand zu beteiligen und uns zu helfen, die mittelmäßige audiovisuelle Programmierung zu bekämpfen, mit der die BewohnerInnen dieser Erde gefüttert werden. Diese Programmierung blockiert das Bewußtsein der Menschen, um eine Mauer zwischen den Rassen aufzubauen und den weltweiten Frieden zu verhindern. Es ist die Mauer, die wir zerschlagen werden. Durch den Gebrauch des Energiepotentials des Sounds werden wir diese Mauer zertrümmern, genauso wie manche Frequenzen Glas zerstören. Techno ist eine Musik, die auf Experimenten basiert. Sie gehört keiner einzelnen Rasse; sie hat keinen festgelegten Sound. Es ist Musik für die Zukunft der menschlichen Rasse. Ohne diese Musik wird es keinen Frieden geben, keine Liebe, keine Vision. Über die einfache Kommunikation durch den Sound hat Techno Menschen verschiedener Nationalitäten unter einem Dach zusammengebracht. Ist es nicht offensichtlich, daß Musik und Tanz die Schlüssel zum Universum sind? Sogenannte primitive Tiere und Menschen verschiedener Stämme haben dies über tausende von Jahren gewußt! Wir fordern alle Brüder und Schwestern aus dem Untergrund auf, Klänge und Frequenzen zu kreieren und zu übemitteln, wobei es egal ist, wie 'primitiv' ihr Equipment ist. Übermittelt diese Klänge und vernichtet die Programmierer! Lang lebe der Underground ! Underground Resistance
- 272 -
• SPIRAL TRIBE 23 • FREIE PARTIES - FREIE MENSCHEN PSYCHEDELIKA, MARXISMUS UND STAMMESKULTUR Freie Parties, freie Musik, freie Menschen - daß ist unsere Maxime, daß ist die Grundidee des Spiral Tribe. Jede einzelne Person im Spiral Tribe trägt dazu mit ihrer eigenen Kreativität bei. Die Musikindustrie hat schon viel zu lange die MusikerInnen und die HörerInnen ausgesaugt. Wir können dagegen unsere eigenen Parties, Raves und Konzerte so gestalten wie wir es wollen, nicht des Profits wegen, sondern um gemeinsam etwas zu entwickeln. 1991 nahmen wir unser Soundsystem, um auf das StonehengeFestival zu fahren. Seitdem reisen wir mit unseren Wagen umher, von einem Ort zum anderem, von einer Party zur anderen. Überall haben wir Menschen getroffen, die sich uns anschloßen, mit uns weiterzogen und zu einem Teil des Tribes wurden. Die Abläufe und Ereignisse in die wir seitdem einbezogen wurden, waren nur in einigen Fällen geplant, das meiste passierte einfach. Wir haben getan, was wir taten, weil es uns Spaß macht, weil es Fun ist. Aber unsere Aktivitäten sind nicht isoliert, sie sind Teil einer Bewegung. Wir wollen dazu beitragen, die Zerstörung der Umwelt zu beenden. Wir wollen ein einfacheres Leben, das nicht auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beruht. Wir glauben an direkte, friedliche Aktionen. Auch wenn unsere Aktivitäten manchmal sehr laut und geräuschvoll sind, so waren wir doch niemals auf Konfrontation aus. In einem gewissen Sinne sind wir Revolutionäre, aber das ist ein Begriff der inzwischen mit zuvielen Bedeutungen belegt ist, die uns fern sind. Ausgehend von einer Verbindung von Psychedelika, Marxismus und Stammeskultur nennen wir uns viel lieber weltreisende AbenteurerInnen. Der Spiral Tribe hat als Teil des Techno-Undergrounds eine lange Tradition, die Aspekte der Hippie - und der Punk-Bewegung einschließt. Wir fühlen uns mit diesen Bewegungen verbunden und blicken auf die Erfahrungen, die sie gemacht haben. Wir schauen jedoch nicht zurück, um Antworten auf unsere Fragen zu finden, denn wir suchen unsere eigenen Antworten. Wenn sie mit Antworten übereinstimmen, die andere schon gegeben haben, dann ist es in Ordnung. Wir haben sie dann nicht übernommen, sondern selbst
- 273 -
gefunden. Es ist unser Weg. DER RHYTHMUS Wir sind stark von der Lebenshaltung von Stammesvölkern, darunter besonders von afrikanischen Stämmen beeinflußt. Auch unser Name stammt von einem afrikanischen Stamm. Wir verstehen Techno als eine der größten musikalischen Revolutionen seitdem Menschen einen Stock in die Hand genommen haben, um damit zu trommeln. Techno ist ein verbindender kreativer Kanal zwischen den fließenden Energien vergangener Kulturen und dem Underground der Gegenwart. Die Musik vieler Stämme geht wie Techno im wesentlichen vom Rhythmus und von bestimmten Tonfrequenzen aus, nicht wie so oft in der westlichen Kultur von Harmonien und Melodien. Das was im Techno-Bereich heute als Trance bezeichnet wird, hat allerdings immer weniger mit der eigentlichen Bedeutung von Trance zu tun. Die Melodien verhindern, daß du dich auf die Kraft des Rhythmus konzentrierst und über einen Trancezustand tiefer in dein Unterbewußtsein eindringst. Wir haben inzwischen Zugriff auf Technologien, die uns ermöglichen unsere Musik auch ohne die Musikindustrie zu veröffentlichen. Wir hassen diese spöttische Aussage "Jeder kann doch jetzt eine Techno-Platte machen" - Gerade das ist es, was wir anstreben: alle sollen die Möglichkeit haben, wenn sie wollen. Diejenigen, die das verurteilen, wollen doch selbst nur eine Elite bleiben oder am alten Star-Gehabe festhalten. Wir dagegen wollen es überwinden. Deshalb veröffentlichen wir Platten mit weißen Labels, deshalb treten wir anonym in der Öffentlichkeit als Spiral Tribe und nicht als Einzelpersonen auf. Wir orientieren uns nicht länger an diesem kranken System der Popularität und des Egos. Einer der wichtigsten Anstöße, der ursprünglich von der RaveSzene ausging, war gerade die Aufhebung der Unterteilung in MusikerInnen, Discjockeys und TänzerInnen. Wenn es dir um Geld geht und du dein Ego befriedigen willst, dann verkaufe dich. Aber wenn es dir wirklich um die Musik geht, dann brauchst du niemanden, dann vertraue auf deine eigene Kraft.
- 274 -
FREE RAVES Ein Free Rave ist eine Verweigerung gegenüber den gesellschaftlichen Normen und gegenüber der kapitalistischen Vorgabe, daß alles am Profit ausgerichtet sein muß, daß du für alles, was du bekommst, etwas zahlen mußt. Im Grunde können sich alle an den Parties beteiligen. Wir versuchen einen Punkt zu erreichen an dem die Leute auf den Parties die Musik für die Parties machen und die Parties selbst organisieren. Nicht nur kommen um zu feiern, sondern sich als einen Teil der Parties verstehen, selbst Verantwortung übernehmen, Sachen in Bewegung setzen. Jede und jeder auf seine Weise. Unsere Events wachsen durch Leute, die ihre eigene Realität kreieren. Du lebst auf den Parties in einer speziellen Spiral-Zeit, in einer Spiral-Realität, du lebst im Moment. Die Spirale ist wie DNA oder wie ein Virus. Sie ist endlos. Alle die kommen werden ein Teil davon, sie kreieren, bestimmen die Atmosphäre. Das ist der Vibe unserer Parties. Wir können tausende von Leuten zusammenbringen, ohne Flyer, ohne Werbung. Nur über Mundpropaganda, nur durch den Vibe der die Parties umgibt und die Idee die dahinter steht. Das ist der Grund warum uns die Herrschenden so fürchten. Die praktische Organisation besteht auf der Verbindung von verbindlich übernommenen Aufgaben, sei es nun das Installieren des Soundsystems oder das Reparieren eines Lichtstrahlers, und dem freien Einbringen von Fähigkeiten, Ideen und Energien. Die meisten Parties, die wir veranstalten sind eintrittsfrei, wir stellen am Ausgang eine Büchse auf, in die jede Person geben kann, was sie will. Auf diesem Wege haben wir alles erhalten, was wir zum Leben und für unsere Parties brauchen. Aber manchmal arbeiten wir auch mit anderen Konzepten, ohne uns von unseren Grundideen zu trennen. Du mußt in vielen Bereichen präsent sein, um die Menschen zu erreichen: Im Underground genauso wie im Overground. CASTLEMORTON UND DIE FOLGEN Am 23. Mai '92 initiierten wir in Castlemorton einen Rave auf einem großen Feld. Es war eine Fortführung der Parties, die wir zuvor organisiert hatten. In keinster Weise konnten wir ahnen, daß dieser Rave zum größten illegalen Festival in der Geschichte Englands wird und schon jetzt eine Legende ist.
- 275 -
50.000 Menschen feierten mehrere Tage lang eine gigantische Party. Sie demonstrierten dem System die Kraft kreativer Freiheit und den Willen das eigene Leben selbst zu bestimmen. Es war nicht nur eine Rebellion desillusionierter Mittelklasse-Kids, es war ein Ausbruch, der alle Klassen einschloß. Die Leute überwanden die Barrieren und Differenzen untereinander, wichtig war nicht mehr was trennt, sondern das was verbindet. Drei Wochen später organisierten wir ein weiteres Festival. Diesmal in Erinnerung an die Auseinandersetzungen um das Stonehenge Festival, wo sich Festival-BesucherInnen mit der Polizei, die versuchte das Fest zu verhindern, eine riesige Schlacht lieferten. Wir dachten uns, daß es eine gute Idee sei, ein Free Festival inmitten der Finanzmetropole London zu veranstalten. Direkt bei dem Canary-Wharf-Hochhaus, das zu einem Symbol für die Mißwirtschaft der Thatcher-Ära geworden ist, fanden wir einen geeigneten Platz, der zudem durch das flackernde Licht auf der Spitze des Hochhauses stroboskopartig beleuchtet wurde. Die Polizei sperrte in Zusammenarbeit mit privaten Wachdiensten das Gelände und stoppte schon im Vorfeld Autos und Nachtbusse. Nach kurzer Zeit stürmten sie das Gelände auf dem sich trotz allem rund tausend RaverInnen eingefunden hatten. Es gelang uns zu flüchten, ohne daß unsere Anlage beschlagnahmt wurde. In den nächsten Wochen schlug das System zurück, denn die Herrschenden zittern vor dem, was wir repräsentieren. Sie haben die BenefizEinnahmen beschlagnahmt, das Equipment gestohlen und uns mit Prozessen überhäuft. Sie versuchten uns als Spiral Tribe handlungsunfähig zu machen, indem sie sich einzelne Personen heraussuchten und unter Druck setzten, denn sie verstehen nicht, daß wir keinen AnführerInnen haben und auch keine brauchen. Es scheint so, als würde derzeit alles, was ohne Genehmigung organisiert wird und auf einem Stammesbeat basiert, so große Angst bei denen auslösen, die an der Macht sind, daß sie alles abdrehen wollen. Ihre images wurzeln gleichzeitig in äußerster Dummheit und im stillen Anwachsen faschistischer Einstellungen. Gerade diese Verbindung macht sie so gefährlich. Wir mußten einsehen, daß wir unter dem Namen Spiral Tribe in England nur mit großen Schwierigkeiten weiter arbeiten konnten und es deshalb an der Zeit war, daß andere an unsere Stelle traten. Wir
- 276 -
verließen England und ziehen seitdem auf dem europäischen Festland von einem Ort zum anderen, um dort unseren Weg fortzusetzen. DIE PARTY GEHT WEITER Welcher Versuch derzeit in England auch unternommen wird, eine Party zu veranstalten - in einem besetzten Haus, auf einem Feld, in einer Lagerhalle - überall wo die Leute selbst organisieren, deutlich machen, daß sie keine Polizei brauchen, keine staatlichen Bestimmungen und Autoritäten, dort wird eingegriffen um die Party zu stoppen. Militärische Polizeieinsätze, weiträumige Absperrungen, Hubschrauber-Überwachung, Verhaftungen im Vorfeld - Es wird alles versucht um Festivals wie Stonehenge oder ein neues Castlemorton zu verhindern. Gesetze wie der Criminal Justice Act machen die Durchführung von Free Raves von staatlichen Genehmigungen und Auflagen abhängig und damit praktisch unmöglich. Das Gesetz zielt im gleichen Zusammenhang auf die Zerschlagung der HausbesetzerInnen-Szene und der umherreisenden Travellers. Es ist ein Angriff auf jeden gegenkulturelle Ansatz. Aber das Land gehört nicht ihnen. Es gehört uns allen, es gehört der Gemeinschaft. Sie haben kein Recht den Leuten zu verbieten in leerstehenden Häusern zu wohnen, in Wohnwagen durch das Land zu ziehen, dort zu feiern, wo sie wollen. Und es wird ihnen trotz aller Gesetze auch nicht gelingen, die Party wird weiter gehen... Spiral Tribe 23
- 277 -
• PRAXIS • STÖRSIGNALE TECHNO SUBVERSIV Techno ist angetreten, um die überholten, hierarchischen Strukturen des Musikmarktes zu überwinden. Das gilt nicht nur für den Star, der wie die Bühne verschwindet, sondern auch für das Copyright (den Besitz von Ideen), der Struktur der Musik selbst und dessen, woraus sie besteht. Die Technologie, die das möglich macht, ist im Prinzip der Abfall der militärischen Forschung, der als Unterhaltungselektronik verramscht wird. Es wird dadurch immer mehr Leuten möglich, diesem Pool von Ideen - der allen gehört - Dinge zu entnehmen und zu geben. Dies gilt auch für andere Bereiche, aber die Musik ist der machtvollste, weil sie das Gegenteil dessen impliziert, zu dem wir verurteilt sind: Passivität. Die Freiheit eines Free Raves, der keinen oder kaum Eintritt kostet, ist ein totaler Bruch mit den kapitalistischen Werten und damit auch die Geburtsstätte neuer Gemeinschaften. Deshalb werden sie verboten und besonders in England mit militärischen Polizeiaufgeboten unterdrückt. Mega-Raves und Pop-Techno interessieren uns nicht. Sie sind totaler Konformismus und es macht keinen Unterschied, welche Musik dort läuft. Der Industrie gelang es dabei ihre alten Strategien auch auf Techno anzuwenden. Dies kann das subversive Potential der Musik nicht schmälern. Ein Problem ist jedoch, daß beides als Techno bezeichnet wird, obwohl es sich um inkompatible Erscheinungen handelt. Es wird sich zeigen, ob langfristig daneben noch eine Grauzone zwischen illegalem Untergrund und Kommerz bestehen kann. Ausschlachtung bedeutet, daß Leute oder Interessengruppen sich eines Gebiets annehmen, einzig weil sie eine schnelle Mark wittern. Das hat zur Folge, daß kaum mehr Integrität auf diesem Gebiet zu finden ist. Wir sehen die Notwendigkeit, uns davon entschieden abzugrenzen, weil man sonst mit den falschen Leuten in den gleichen Topf geworfen wird. In England macht es deshalb immer weniger Sinn den Begriff Techno zu verwenden. Wir sind in einer Umbruchphase, die reif zur Explosion wird. Der Name wird sich von
- 278 -
allein finden. Mit der Trennung von Freizeit und Arbeit können wir nichts anfangen. Es ist einer der Dualismen einer Gesellschaft, die wir bekämpfen, setzt doch Freizeit voraus, daß man den Rest der Zeit versklavt wird. Techno wird in England nicht unbedingt als Freizeitoder Unterhaltungsmusik angesehen. Wenn man von den sogenannten Intelligent-Sachen einmal absieht, dann ist Techno eher eine Outlaw-Music und -Culture, was viel mit der britischen Klassengesellschaft zu tun hat. Jedes Label ist politisch. Gerade die, die behaupten, unpolitisch zu sein, erklären damit bloß, daß sie den Status Quo, die bestehenden Verhältnisse unterstützen. Es ist unvermeidlich, daß sich das politische Bewußtsein in dem ausdrückt was wir machen. Alles was wir tun, jeder Teil unseres ganzen Lebens, unserer Bedürfnisse, unserer Träume, unserer Liebe und unseres Hasses hat eine politische Dimension, nicht nur in einem abstrakten Sinn, sondern auch mit einem direkten Einfluß auf unsere Handlungen. Der Criminal Justice Act verbietet in England freie Festivals und macht sowohl den nomadischen Lebensstil der Travellers wie auch das Hausbesetzen fast unmöglich. Er ist nur ein Teil der generellen Entwicklung zu mehr Kontrolle, die in totale Überwachung und Bevormundung münden wird, wenn wir sie nicht mit allen Mitteln bekämpfen. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Repression und Zensur ist es nicht überraschend (jedenfalls nicht für uns), daß all die Musik von den Medien diffamiert wird, die als Energielieferant funktioniert und die Dich aufweckt. Außerordentlich viel Mühe und Geld wird in die Werbung und die Verbreitung von Stilen investiert, die dazu geschaffen wurden um Dich ruhig zu stellen, Dich zu "chillen" oder Dich mit endlosen Trance-Stücken gleichzuschalten, die niemals auch nur einen Millimeter vom kleinsten gemeinsamen Nenner abweichen. Die "Unity" der TänzerInnen ist zur Mittelmäßigkeit degeneriert in einer Kultur ohne Herausforderung, Verführung und Rebellion. Es gibt ein Programm, um einen Teil des Techno-Undergrounds mit den Geschäftsinteressen der Industrie kompatibel zu machen und den Rest abzutöten. Während illegal durchgeführte Raves dazu führen, daß sich die Herrschenden vor Angst in die Hose scheißen,
- 279 -
bringt das, was als "Ambient" gepriesen wird, das Lächeln in ihre Gesichter zurück. Sie wissen genau, daß die Jugendlichen dann ruhig in den Schlafzimmern der Sozialwohnungen hängen... Ein bißchen Trance oder Ambient am Wochenende richtet keinen Schaden an, denn die Botschaft, die sich dahinter verbirgt lautet: alles fließt in ruhigen Bahnen, alles ist in Ordnung... Wir wollen die Veränderung, aber wir glauben nicht, daß eine soziale Revolution im traditionellen Sinn ansteht. Revolutionäre Zellen zu bilden heißt heute, experimentelle Labors aufzubauen, die Viren konzipieren, um Kontrollmechanismen zu zerstören. Revolutionäre Zellen zu bilden heißt Kommandos zu gründen, welche die Stätten der kulturellen und politischen Unterdrückung in Temporäre Autonome Zonen verwandeln. Wir sehen uns aber nicht so sehr als Personen, die Musik und andere Medien benutzen, um einen radikalen linken Standpunkt zu propagieren, sondern als eine Gruppe von Leuten, die in der Tradition radikaler, kultureller Bewegungen wie Dada, Surrealismus und dem Situationismus stehen, ohne sich dabei an eine spezielle anzulehnen. Uns verbindet eher der selbe Geist bei der Verknüpfung von Leben, Kunst und Revolte. Wir sind Teil eines unsichtbaren Netzwerks das den Planeten umspannt. Um unsere Ziele zu realisieren, können wir uns der modernen Technologie bedienen, sie mißbrauchen und in den Dienst einer neuen Kultur stellen, deren Ziel die Souveränität von Körper und Bewußtsein bildet. Praxis Records - Mix aus Texten und Interviews -
- 280 -
• LAVA 303 • HEY VENUS 1. Stell dir vor du bist eine Frau. Du lebst kreativ. Du machst Musik. Du bist alleine. Deine alte RocknRoll-Welt versteht dich nicht mehr und du sie nicht mehr. Du hast den geschundenen RocknRoll, den Verbeamten, den Bach runtergehen sehen und auf Acid ist dir all das was du jemals dachtest gewesen zu sein, um die Ohren geflogen. Denn du warst heimlich tanzen... auf einer Techno-Party und jetzt hast du keine Lust mehr dich auf eine Bühne zu stellen, einsames Projektionsflächen-Dasein... Du hast vergessen was du jemals auf deiner Gitarre zu spielen gelernt hast und deine Band erklärt dich für verrückt. Du verläßt dein geschätztes RocknRoll-Nest das dir über viele Jahre hinweg eine Identität gab, die dir zum Knast wurde. Ein Traum aus dem ein Alptraum wurde, der dich verfolgt hat wie ein alter Dinosaurier! 2. Und so machte ich mich auf die Suche und ich fand mit Soluna eine neue Family, eine neue Gitarre namens Groovebox, die gerade frisch erfunden worden war und den Garagen-Trance. Live your dreams... doch Träume kriegen Kinder. Manchmal fühle ich mich als Musikerin ganz schön alleine... Wo sind meine Schwestern? Was habe ich erwartet von Psychedelic Trance und Tribal-Culture? Love, Peace und Happiness, sexuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Entfaltung - und danach...? Warum sollten die Menschen hier anders sein als im RocknRoll? Der Alptraum kehrt zurück, denn jeder kämpft um sein Stück von der Torte, anstatt die Torte an sich zu erhalten. Das Geschäft ist hart, das Musikgeschäft ist härter. Altbekannte Rollenverteilungen, der gleiche Leistungs- und Technikwahnsinn, altbekannte Vorurteile und Projektionen, bis hin zu sexistischen Sprüchen, vielleicht mehr versteckt, aber doch zu erleben und frau ist selbstverständlich genausowenig frei davon. Der Traum, der auch hier geträumt wird, heißt, von seiner Kunst leben zu können, das ist ein schönes Ziel, erstrebenswert und doch ein Luxus. Im Klartext heißt das: Konkurrenzdenken, Neid, Gewinn auf Kosten
- 281 -
von Anderen, oder einfach Brudermord, Schwestermord... Völkermord... Selbstmord! Es macht mir einfach Angst, ich habe schon zuviele daran durchdrehen sehen. Werft doch die Händler aus dem Tempel! 3. Und trotzdem liebe ich die Parties immer noch, das Tanzen, die Musik, die Leute, diese ganze Atmosphäre, die Realität ist schön, solange sie mit sich spielen läßt. Ich liebe den RocknRoll, solange er ekstatisch ist, Bewegung und Veränderung bedeutet und nicht Erhalt des Status Quo auf Kosten von Anderen. Gemeinsam abfeieren ist das Potential, das er hat und als Psychedelic Trance erst recht! Was soll dieses Gegockel? Ich hab keine Lust in stille Anbetung zu versinken! Ich will Playboys und zwar Richtige und die sind leider selten! Die meisten Männer lassen nicht gerne mit sich spielen. Denn ihr Leben war und ist hart und wir Frauen neigen ja auch heute noch dazu die Verantwortung abzugeben. Die Realität verändern wir dadurch jedoch nicht. Solange wir machen lassen und uns einen erzählen lassen und das auch noch glauben... Hey Schwester, das ist History! Wo ist Herstory? Laßt uns zusammen feiern und unseren Jungs die Möglichkeit geben, die Angst zu verlieren, damit sie sich mal locker machen und das Leben genießen! Laßt euch nicht ans Kreuz nageln - Auferstehung jetzt! Jesus was a RocknRoller - We are Rave-Girlz! Lava 303
- 282 -
• PLAYGROUND • LIFE IS A PLAYGROUND Der Playground ist eine Art Party-Piraterie, denn er gibt die Musik dem Volk zurück. Mit unserem Schiff fahren wir aus den MichaelBarraX / Freak City Frankfurt heraus und bereisen die Welt, um den Sinn zu stiften, den letzendlich nur jeder für sich selbst finden kann. Der Playground ist ein unendliches Spiel. Ein endliches Spiel spielt man um zu gewinnen, unendliche SpielerInnen spielen um immer weiter zu spielen. Unsere BarraX-PiratInnen-Crew verwandelt die Party in einen Playground, der dazu animiert mit sich selbst und anderen zu spielen - oder kurz gesagt: Einfach miteinander Spaß zu haben. Durch die Schaffung von Konsum-Freiräumen entstehen Möglichkeiten, um schöpferisch aktiv zu werden und unser Leben in die eigene Hand zu nehmen. Der Playground ist eine Kombination aus Musik, Session, Jonglage, Performance, Theaterspiel und Deko. Was erst noch als Live-act präsentiert wurde, fängt jetzt an mit sich selbst zu spielen: SEI DEIN EIGENER LIVE-ACT, denn das Leben steckt in uns allen ist dann das Motto. Dann spielen wir miteinander auf akustischen und elektronischen Instrumenten: Trommeln, Gitarre, Schlagzeug Groovebox, Samples, Plattenspieler (und wer die Session oder das Spiel dazu benutzt eine Soloshow abzuziehen, darf mit der roten Karte spielen). Es geht hier nicht um das Können oder um eine musikalische oder künstlerische Leistung, sondern es geht um eine gemeinsame Erfahrung, um das Feiern im ursprünglichen Sinne. Nicht irgendein verwertbares Produkt, sondern der Prozeß des Spielens und der Spaß stehen im Vordergrund, und die Erkenntnis, daß Fehler und "Mißklänge" zum Lernen sind... Musik ist Schwingung, Musik ist Leben und das Leben ist eine Kunst, die wir nur gemeinsam erlernen können. In jedem Menschen steckt ein Genius, auch wenn wir das auf dem langen Weg durch die Wirrnisse der Sozialisation und Erziehung oft vergessen haben. Der Playground macht die Party zu einem Platz wo wir unser Genie wieder entdecken und zelebrieren können.
- 283 -
Letztendlich sind nicht wir der Playground, sondern alle, die mitspielen, in Liebe und Respekt und das Spiel dadurch bereichern... Der Playground sind die SpielerInnen und die SpielerInnen sind der Playground! Playgound
- 284 -
• RAUSCH UND BEWUSSTSEIN •
- 285 -
• LEWIS CARROLL • ALICE IM WUNDERLAND Alice versuchte mit aller Kraft die Tür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen. So lief sie zum Tisch zurück und hoffte, dass sie dort vielleicht einen Schlüssel finden würde oder zumindest ein Buch in dem steht, wie man so klein werden kann, um durch den Briefschlitz an der Tür zu gelangen. Auf dem Tisch befand sich jedoch nur eine kleine Flasche an der ein Zettel hing. In phantasievollen Buchstaben stand darauf: "Trink mich!" Alice überlegte kurz und probierte dann einen Schluck. Es schmeckte recht gut - und schon war die Flasche leer. "Was für ein merkwürdiges Gefühl. Ich verändere mich so seltsam." dachte Alice nach einer Weile etwas aufgeregt. "Ich schrumpfe!" Zuerst befürchtete Alice sie würde ständig weiter an Größe verlieren und war deshalb ziemlich verunsichert. "Wenn ich jetzt so lange schrumpfe bis ich ausgehe wie die Flamme einer Kerze... Wie ich dann wohl aussehe?" überlegte Alice angestrengt. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern wie eine Flamme aussieht, die gerade ausgegangen war. Dann aber wartete Alice einfach solange bis sie so klein war, dass sie durch den schmalen Briefschlitz an der Tür paßte. Laut rief sie "Halt!" und schlüpfte schnell hindurch. Im Garten legte sich Alice auf die Wiese und schaute in den Himmel. Die Wolken erinnerten sie daran, dass sie kürzlich Schach gegen sich selbst gespielt hatte und dabei schummelte. Sie tat oft so, als wäre sie zwei Personen. "Aber im Moment bringt es gar nichts, zwei Personen zu spie len," dachte sie, "Was gerade noch von mir übrig ist reicht ja kaum für eine." Kurz danach entdecke Alice im Gras einen Kuchen auf dem "Iß mich!" stand. "Ich habe Hunger und werde ihn essen" sagte Alice zu sich. "Auch wenn ich dadurch noch kleiner werde." Alice biß ein Stück ab und wartete gespannt. Sie legte ihre Hand auf ihren Kopf um zu merken, ob sie kleiner oder größer wurde. Dabei stellte sie jedoch erstaunt fest, dass sie ihre Größe nicht veränderte. Selbstverständlich ist dies meistens so, wenn man von einem
- 286 -
Kuchen ißt, aber Alice hatte sich so sehr an merkwürdige Begebenheiten gewöhnt, dass ihr nun schon alles Normale seltsam und langweilig vorkam. Doch der Kuchen schmeckte so gut, dass sie vergnügt weiter knabberte bis nichts mehr von ihm übrig war ... • aus: Lewis Carroll / Alice's Adventures in Wonderland. (1865). •
- 287 -
• ALDOUS HUXLEY • DIE ANDERE WELT Erlauben Sie mir, ein Bild aus der Geographie zu benutzen und das persönliche Leben des Ich mit der Alten Welt zu vergleichen. Wir verlassen die Alte Welt, überqueren einen trennenden Ozean und finden uns in der Welt des persönlichen Unbewußten, mit seiner Fauna und Flora von Repressionen, Konflikten, traumatischen Erinnerungen und ähnlichem. Wenn wir weiterreisen, erreichen wir eine Art "Fernen Westen", der von den Jungschen Archetypen und dem Rohstoff menschlicher Mythologie besetzt ist. Jenseits dieser Region liegt ein riesiger Pazifik. Nachdem wir auf den Flügeln von Meskalin oder LSD hinüber getragen worden sind, kommen wir zu dem, was man die Antipoden des Bewußtseins nennen konnte. In diesem psychischen Äquivalent Australiens entdecken wir die Entsprechungen von Känguruhs und Schnabeltieren - ganze Scharen höchst unwahrscheinlicher Tiere, die es dessen ungeachtet gibt und die man beobachten kann. Die Frage ist jetzt: Wie können wir zu den entlegenen Gebieten des Bewußtseins gelangen, wo diese Wesen leben? Einige - das ist klar - kommen ganz spontan dahin und mehr oder minder nach eigenem Wunsch und Willen. Einige wenige dieser "Reisenden" waren große KünstlerInnen, die nicht nur imstande waren, zu den Antipoden zu reisen, sondern auch - in Worten oder in Bildern - zu schildern, was sie gesehen hatten. Viel größer aber ist die Zahl derer, die bei den Antipoden waren und ihre merkwürdigen BewohnerInnen gesehen haben, aber unfähig sind, das, was sie gesehen haben, angemessen auszudrücken. Heutzutage drücken sie ihre Erfahrung selbst mit unzureichenden Mitteln nur ungern aus. Das geistige Klima unserer Zeit ist VisionärInnen nicht günstig. Diejenigen, die solche spontanen Erfahrungen gemacht haben und so unklug sind, darüber zu reden, werden mit Mißtrauen betrachtet, und man rät ihnen, einen Psychiater aufzusuchen. Früher wurden Erfahrungen dieser Art für wertvoll gehalten, und man sah zu denen auf, die sie hatten. Das ist einer der Gründe (wenn vielleicht auch nicht der einzige), warum in früheren Jahrhunderten mehr Menschen Visionen hatten als heute. Jene, die nicht, wann immer sie wollen, die Bewußtseins-
- 288 -
Antipoden besuchen können (und das ist die Mehrheit), brauchen eine künstliche Methode als "Transportmittel". Eine in einer gewissen Anzahl von Fällen wirksame Methode ist die Hypnose. Es gibt Menschen, die unter einer maßvoll tiefen Hypnose einen visionären Zustand erreichen. Sicherer ist die Wirkung der sogenannten Halluzinogene, Meskalin und LSD. Sie befördern uns ganz schmerzlos - denn es entsteht kaum diese Übelkeit, die auf die Einnahme des Peyotekaktus folgt, und auch kein Kater - zu den Antipoden unseres Bewußtseins, wo wir eine Fauna und Flora vorfinden, die frappierend anders ist als die unserer vertrauten Alten Welt des persönlichen Bewußtseins. Aber ebenso wie mit den Beuteltieren, die, wenn auch unwahrscheinliche, keineswegs zufällige und gesetzlose Erscheinungen sind, ist es auch mit den BewohnerInnen der Antipoden unseres Bewußtseins. Sie passen sich den Gesetzen ihres eigenen Wesens an, sie lassen sich klassifizieren, und ihre Seltsamkeit entspricht einem Grundmuster von gewissem Regelmaß. Wie Heinrich Klüver in seinem Buch über Peyote gezeigt hat, gehören visionare Erfahrungen - auch wenn sie von einer Person zur anderen verschieden sind - dennoch zu ein und derselben "Familie". Meskalinerfahrungen der klassischen Art zeigen deutliche Charakteristika. Das eindrucksvollste dieser gemeinsamen Charakteristika ist das Lichterlebnis. Das Licht wird stark intensiviert; und diese Intensivierung wird sowohl mit offenen wie mit geschlossenen Augen wahrgenommen. Mit dieser Intensivierung des Lichts geht eine ungeheure Intensivierung der Farben einher, und auch sie gilt für die Außen- wie für die Innenwelt. Schließlich findet noch eine Steigerung dessen statt, was ich den "eigentlichen Sinn" nennen möchte. Das, was man sieht, ob mit dem inneren oder dem richtigen Auge, empfindet man als tie f bedeutsam. Ein Symbol steht für etwas anderes, und eben dieses Andere ist seine Bedeutung. Die bedeutungsvollen Dinge, die man wahrend des Meskalinerlebnisses sieht, sind keine Symbole. Sie stehen nicht für etwas anderes, sie bedeuten nichts anderes als das, was sie selbst sind. Die Bedeutung jedes Dinges ist identisch mit seiner Existenz. Das Entscheidende ist, daß es ist. Auf paradoxe, aber (für jene, die diese Steigerung der eigentlichen Bedeutung erfahren haben) ganz selbstverständliche Weise wird das Relative zum Absoluten, das Vergängliche universal und ewig. Aldous Huxley
- 289 -
• MOKSHA • FÜR EINE PSYCHOAKTIVE ZUKUNFT ' Die Antworten liegen in mir ' sagte Alice als sie lächelnd durch den Spiegel trat ... Der Gebrauch psychoaktiver Substanzen diente Menschen unterschiedlichster Epochen und Kulturen zur Erlangung entspannender oder anregender Gefühlszustände, sowie oftmals in Verbindung mit Ritualen zur Veränderung des Bewußtseins. In einem angemessenen Rahmen eingesetzt ermöglichen sie bis heute die Erfahrung anderer Ebenen der Wirklichkeit, wie auch die Entfaltung eines neuen Gemeinschaftsgefühls. Sie können zur Heilung von Krankheiten dienen, zur Freisetzung verschütteter Fähigkeiten oder zur Entwicklung eigenständiger künstlerischer Ausdrucksformen. Die Gründe dafür, daß gegenwärtig die entsprechenden Substanzen in zahlreichen Fällen unreflektiert konsumiert werden und ihr Gebrauch einer Flucht entspricht sind vielfältig. Mangelnde Informationen und individuelle Defizite sind dabei zweifellos wesentliche Aspekte. Zu den strukturellen Ursachen gehören gesellschaftspolitische Faktoren wie soziale Mißstände, aber auch die Erfahrung zwischenmenschlicher Kälte als Folge eines Systems, das Leistung und Profit über den einzelnen Menschen stellt. Die vorherrschende Drogenpolitik basiert im wesentlichen auf der Forderung nach Abstinenz gegenüber den gesetzlich als illegal definierten Substanzen. Gleichzeitig werden dabei diejenigen kriminalisiert, die sich dieser Vorgabe verweigern. Offensichtlich ist jedoch, daß diese Politik weder den Konsum von Drogen noch die Zunahme der Abhängigen einschränken konnte. Besonders deutlich wird die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Politik am Beispiel der Drogen Alkohol und Nikotin, die trotz ihrer gesundheitlichen Auswirkungen und ihres Suchtpotentials legal sind. Voraussetzung für einen bewußten und verantwortungsvollen Umgang mit psychoaktiven Substanzen ist der Zugang zu umfassenden Informationen über deren Zusammensetzung und Wirkung. Eine Drogenpolitik, die an den realen Bedingungen, den eigentlichen Bedürfnissen und nicht zuletzt an der Mündigkeit der Menschen ausgerichtet ist, muß darüber hinaus die legale
- 290 -
Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung über den Gebrauch von Drogen beinhalten. Es wäre ein Schritt auf dem langen Weg von einer Gesellschaft der vorgegebenen Unmündigkeit und Passivität zu einer tatsächlich psychoaktiven Kultur. ' Die Sterne sind erreichbar ' rief Alice tanzend, ' aber nur wenn wir es wirklich wollen. ' Moksha
- 291 -
• CHRISTIAN RÄTSCH • DIE ERFORSCHUNG DES INNEREN RAUMES "Während nur ein äußerer Raum existiert, gibt es so viele innere Räume, wie es Menschen gibt." Albert Hofmann Ein schlafender Mensch liegt mehr oder weniger bewegungslos da. Sein Atem ist langsam, seine Augen sind geschlossen. Er steht nicht, er geht nicht, er spricht nicht, er ißt nicht, er trinkt nicht - und doch erlebt er viel. Er fliegt oder schwimmt, wird gemartert und kämpft, liebt einen Engel, tanzt mit Dämonen, hält Reden, spaziert über den Regenbogen, schlägt sich durch den Dschungel, fährt Fahrrad, unterhält sich mit Verstorbenen und Unbekannten, lacht und scherzt mit Freunden, erfährt sich als Kind, Tier oder Geist, verliert die Zähne. Er träumt. Der Traum ist das bewußte Erleben des inneren Raums des Schlafenden. Ein schamanisierender Mensch verdreht die Augen, wirft sich zu Boden, vibriert, hat Muskelzuckungen, wispert in unmenschlichen Stimmen, stammelt in unbekannten Sprachen, schneidet Grimassen. Ihm tritt der Schaum vor den Mund, die Schweißperlen auf die Stirn. Er sieht wie ein Sterbender aus, ähnelt einem Epileptiker. Er hat den Kontakt zu den Menschen verloren - und doch hilft er ihnen. Er hat sich von der gewöhnlich sichtbaren Welt verabschiedet. Er taumelt durch unendliche Tunnel, schroffe Schluchten, kämpft mit Wirbelstürmen und explodierenden Felsen. Ein Vulkan verschlingt ihn, durchspült ihn mit Lava und speiht ihn wieder aus. Mächtige Blöcke zerstampfen ihn. Das Fleisch wird ihm abgerissen, die Knochen seines Skelettes zerspalten. Sein zerstäubendes Mark verdampft im Strudel der alles zermalmenden Unterwelt. Die Feuer peitschen, die Fratzen lachen - die Myriaden Teilchen seines ehemaligen Selbst beginnen zu leuchten, sublimieren, steigen durch lichterfüllte Schächte auf in wolkige Höhen, verdic hten sich zu einer Wolke, nehmen neue Gestalt an. Er wird ein Fisch, ein Adler, ein Jaguar. Mit leichten Tatzen tänzelt er über blauschimmernde Milchstraßen. Ein Licht lockt ihn, zieht ihn an. Ein Wesen aus Licht, strahlend in allen Farben des Regenbogens, in sich die Elemente aller Wesen bergend, begrüßt ihn. Das Lichtwesen spricht zu ihm, lehrt ihn die Geheimnisse der Pflanzen, Tiere, Minerale, enthüllt ihm das ultimale Wissen, zeigt ihm die Wege, wie er künftig die verlorenen
- 292 -
Seelen der Kranken finden und auf die Erde zurückbringen kann. Er bekommt ein Geschenk: ein magisches Objekt, das er mit in die gewöhnlich sichtbare Welt nehmen darf, und das ihm als Schlüssel für zukünftige Schamanenreisen dient. Der schamanisierende Mensch ist ein Bewußtseinskünstler, er ist ein Eingeweihter in die Geheimnisse und Offenbarungen des inneren Raumes. Ein psychedelisierender Mensch sitzt oder liegt, tanzt oder rollt, lacht oder weint, erschauert und hat glänzende Augen. Man kann mit ihm sprechen, ihn berühren oder umarmen. Er kann wie im täglichen Leben reagieren oder nur tatenlos staunen, er kann philosophische Erkenntnisse aussprechen oder unverständliches Gebrabbel von sich geben. Er bleibt für alle Menschen sichtbar, selbst wenn sie für ihn zu unsichtbaren Schemen verblassen. Er geht in sich, betritt dort eine Welt, die vorher nicht wahrnehmbar war. Er fühlt sich in dieser neuen Welt zuhause; denn sie ist sein eigener innerer Raum, der sich als unerschöpflich reiches Universum in immer neuer wunderbarer Unendlichkeit entfaltet. Der neue Raum wird zur Offenbarung für seinen Träger. Er läßt sich darin nieder, bestaunt die Welten, kommuniziert mit Wesen anderer Wirklichkeiten. Er sieht Geliebtes und erschaut Bedrohliches; und erkennt, daß alles seine Berechtigung und Bedeutung hat. Er nimmt sich selbst wahr - aber aus völlig neuer Perspektive: er ist eine Zelle seines Körpers oder gar nur ein Atom. Er sieht seine inneren Organe, sein eigenes Skelett. Da zerfällt das Fleisch, tropft wie von Säure zerfressen von den Knochen, die als riesige Firstbalken eines anderen Universums wirken. Der Tod nimmt das Leben von den Balken, breitet sich aus im grenzenlosen Raum. Ein Skelett sitzt im Lotussitz, verweilt im Nichts. In der Gegend, wo beim Lebenden der Bauchnabel liegt, züngelt ein Flämmchen; es wird zum Feuerball, dem zuckende Blitze entfahren. Der brodelnde und leuchtende Ball wird zu einem Fluß, einem Strom, komponiert aus allen Ideen, Gedanken, Gefühlen, Bildern und Vorstellungen des Universums. Wie mit einer gewaltigen Flutwelle braust der Fluß durch den Brustkorb und schießt in den leeren Schädel. Gewaltige Energien quillen aus dem Kopf heraus und übergießen das alte Skelett mit neuem Leben. Ein Lichtglanz umhüllt einen vollendeten Körper, dessen Schönheit das leuchtende Universum mit blitzendem Licht durchflutet. Eine riesige Hand, gebettet in flauschigen und bläulich-rosa schillernden Wolken, treibt heran. Der neuerstandene Mensch sitzt auf der Hand. Er wird
- 293 -
immer höher getragen. Der grenzenlose Raum leuchtet zunächst bräunlich, dann in sattem Indischgelb. Das Universum lacht, ist vereinigt mit dem Wesen, das es wahrnehmen kann, und erstrahlt in höchster Seligkeit. Dieser Augenblick von Ekstase und Erleuchtung des inneren Raumes bleibt als Erinnerung an die Ewigkeit zurück. Träumen, Schamanisieren und psychedelische Erfahrungen sind Tore zum inneren Raum: "Mit dem inneren Raum ist das Bewußtsein gemeint. Das Bewußtsein entzieht sich einer wissenschaftlichen Definition, denn es ist das, was ich brauche, um darüber nachzudenken, was Bewußtsein ist. Es kann nur umschrieben werden als rezeptives und kreatives geistiges Zentrum des Ichs." (Albert Hofmann). Durch diese Tore zu inneren Räumen kann der Mensch Bereiche betreten, die in der sinnlich wahrnehmbaren Welt des Wachbewußtseins verschlossen bleiben. In den Kulturen der Naturvölker und in den archaischen Religionen werden Träume als Erlebnisse in anderen Wirklichkeiten erfahren. Mit Systemen der Traumdeutung wird dieser Wirklichkeit Struktur verliehen. Mit der kulturell geförderten Traumarbeit wird diese andere Wirklichkeit des Schlafens erforscht und gedeutet. Die Schamanen der Naturvölker, die Seher archaischer Kulte und die Mystiker verschiedenster Religionen sind professionelle Erforscher anderer Wirklichkeiten, die sie sich mit bestimmten Techniken erschließen. Schamanen, Seher oder Mystiker erleben den inneren Raum nicht als ein dunkles Loch, sondern als ein unendliches Universum unbegreiflicher Vielfalt und unermeßlichen Reichtums. Tore zu diesem Universum sind Yoga, Meditation, Fasten, Visionssuche, Geißelung, ekstatischer Tanz, Langlauf, Deprivation und die Einnahme heiliger Pflanzen oder psychedelischer Drogen. In vielen alten Kulturen werden bewußtseinsverändernde oder psychedelische Pflanzen als heilig betrachtet oder mit Göttern assoziiert. Auch unsere keltisch-germanischen Ahnen verehrten und benutzten die heiligen Pflanzen als Werkzeuge der Erkenntnis, als Brücken zu den Göttern. Psychedelische Drogen haben eine lange Geschichte als Heilmittel. Indianer sprechen ihren heiligen Pflanzen (Peyote, Zauberpilze, Ayahuasca) eine besondere Heilkraft zu. Sie heilt den Menschen als ganzes, daß heißt sie bringt ihn mit seiner Umwelt in Einklang und ermöglicht ihm beglückende Erlebnisse. Viele Dichter und Schriftsteller haben - oft mit Hilfe von
- 294 -
psychedelischen Drogen - die inneren Räume erforscht. Novalis, Baudelaire, H. P. Lovecraft, Hermann Hesse und Aldous Huxley haben mit ihren Hymnen, Gedichten und phantastischen Erzählungen Tore geöffnet, durch die eine Welt glitzert, die sonst nur Schamanen und Mystikern zugänglich ist. Ebensolche Möglichkeiten wurden von Künstlern geschaffen. Die Bilder des Hieronymus Bosch gleichen den Welten, die sich bei psychedelischen Sitzungen manifestieren. Viele Maler haben ihre inneren Räume visuell sichtbar gemacht. In ihren Gemälden tauchen häufig images und Symbole auf, die auch bei LSD-Sitzungen wahrgenommen werden. Mit der sensationellen Entdeckung der psychedelischen Eigenschaften des LSD durch Albert Hofmann wurde die moderne Erforschung des Bewußtseins auf einer bisher ungeahnten Ebene ermöglicht. Durch die panische Reaktion der Regierungen und Medien auf den psychedelischen Aufbruch in den sechziger Jahren ist dieser neuen Möglichkeit der Erforschung des größten Mysteriums des Universums, nämlich des Bewußtseins, ein viel zu jähes Ende bereitet worden. Die anfängliche wissenschaftliche Begeisterung wurde durch Massenmedien, gesellschaftliche Tabuisierung, administrative Komplikationen und politische Maßnahmen erstickt. Aber nach den Entdeckungen der modernen Biochemie, der Kulturanthropologie und der transpersonalen Psychologie hat die psychedelische Forschung neuen Aufschwung erlebt. Die westliche Kultur hat den ehemals visionären Menschen, so H. P. Lovecraft, "an die Kette der realen Dinge gelegt, und dann das Wirken jener Dinge solange erklärt, bis das Mysterium aus der Welt verschwunden war". Aber seit sich neue Tore zu inneren Räumen geöffnet haben, wird eine mystische Verschmelzung mit dem Universum wieder möglich. Christian Rätsch
- 295 -
• TERENCE MCKENNA • PSYCHEDELISCHE ERFAHRUNGEN Wenn Du den Weg in die psychedelische Erfahrung finden willst, dann mußt Du das "Loslassen" üben, das "Ausliefern" an etwas, das dir kaum verständlich erscheint. Das wichtige an der psychedelischen Erfahrung ist, daß sie durch und durch demokratisch ist. Du mußt nicht jahrelang den Boden eines Ashrams schrubben, bevor du an Dein Ziel kommst, sondern Du selbst gehst geradewegs ins Ziel. Du brauchst keine Ideologie, keine allgemein gültige Regel. Es mag interessant sein zu Vorträgen zu gehen und Informationen zu sammeln, aber es macht einen großen Unterschied, ob man über Psychedelika spricht oder ob man sie nimmt. Es ist zweifellos in Ordnung von den Erfahrungen zu erzählen, aber die wahre Aufgabe aller psychedelischen AstronautInnen unter uns ist es, tiefer zu gehen und sich selbst zu ermächtigen! Worum es hier auch in politischer Hinsicht geht, ist Ermächtigung durch direktes Erfahren. Ich erinnere mich an das Gedicht "Ich will nicht Rekrut eurer Phantasien sein". Genau das wird mit Psychedelika klar. Wir werden es nicht aus irgendwelchen Magazinen oder Büchern lernen. So funktioniert es nicht! Deine direkte Erfahrung aus erster Hand, Deine Meinung, Deine Gefühle, Deine Sexualität, Deine Magie ist das einzig Wahre in Deinem Universum. Übertrage Deine Treue nicht auf Ideologien, Geld, Parties und FreundInnen, denn diese Dinge sind ausserhalb von Dir. Eine Jahrhunderte lange Prägung hat dafür gesorgt, daß uns die Macht der direkten Erfahrung vorenthalten bleibt. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß Psychedelika nicht erlaubt sind. Sie sorgen sich nicht darum, ob Menschen aus dem Fenster springen oder ähnliches. Nein, sie sind nicht interessiert an Gesundheit und Familie. Das Ziel der Verbote liegt darin, zu verhindern, daß die Menschen ihren Spirit, ihr wahres Selbst wiederentdecken. Aber sie können uns nicht daran hindern, daß wir unser Wesen wiederfinden und uns vom Schrott der Geschichte befreien. Es ist das Potential weltweite Veränderungen herbeizuführen, denn ein ermächtigtes Individuum
- 296 -
kann ein ganzes Reich zu Fall bringen. John Crowley, ein amerikanischer Schriftsteller, sagte etwas wundervolles über Psychedelika: "Je tiefer Du hineingehst, je größer wird es". Und ich denke, wir müssen anfangen, dies zu verstehen. Wenn Du fünf Gramm trockene Psilocybin-Pilze einnimmst, dann wirst Du zum Hohepriester oder zur Hohepriesterin und gleitest durch fremde Welten. Während Deiner Reise siehst Du Dinge, die kein menschliches Auge jemals gesehen hat und wohlmöglich nie mehr sehen wird. Das Universum ist so immens, so reich und schön. Wenn Du das verinnerlichst, dann ermöglichst Du Dir den Wandel zu einem besseren Wesen, einer größeren und feinfühligeren Persönlichkeit, denn Du trittst in Kontakt mit dem Kern Deiner wahren Natur. Mit dieser Erfahrung wirst Du zu einer politisch extrem gefährlichen Person. Und genau das ist mein Wunsch, daß wir eine Bedrohung für die bestehende Struktur werden, wo immer wir sie treffen. Chaos ist das Schlagwort der Zeit. Chaos existiert überall, Chaos existiert in jeder Zelle. Wenn Du Angst vor dem Chaos hast, kannst Du nicht psychedelisch sein. Chaos ist die Ur-Mutter aller Formen und es war die Furcht vor Chaos, die diese festgefahrene, lineare, unmenschliche Gesellschaftsordnung formte, die wir überwinden wollen. Mein Aufruf gilt einer Art Anarchie. Chaos ist der Ursprung von allem, was wir lieben, und es kann gar nicht genug davon geben! Sich der psychedelischen Erfahrung zu überlassen, heißt zu experimentieren, Chaos heraufzubeschwören, dran zu bleiben und die Hoffnung bewahren. Die Zukunft ist eine Zukunft der Ultra-Technologie. Eine Dimension, die getrennt von dem, was als normale, natürliche Welt bezeichnet wird, existiert. Unsere mentale Fähigkeit, unsere Imagination ist so mächtig geworden, daß unsere einzige Möglichkeit der Weiterentwicklung darin zu liegen scheint, uns von der menschlichen Sichtweise zu lösen und in einen kulturellen Raum vorzudringen, der aus unseren Träumen und aus unseren Maschinen besteht. Wir sind die Techno-Cyber-Gypsy-Generation - wir sind mehr, als nur eine politische Kraft. Wir haben die Macht, das Menschliche neu zu definieren, indem wir uns unser Bewußtsein zurückholen vom
- 297 -
Reduktionismus, vom Materialismus, von der Wissenschaft und den ganzen intellektuellen Philosophien, welche die KünstlerInnen entmachtet und sie zu SklavInnen anderer Kräfte in der Gesellschaft geformt haben. Der Vorwurf, daß sich die High-Tech-Gemeinschaft auf technische Mittel fixiert, ist ein Trugschluß. Vielmehr erleben wir momentan ein Revival alchimistischer Experimente! Wenn wir nämlich diese technischen Mittel zerlegen, stoßen wir auf die chemischen Stoffe, die die Grundsubstanzen der Erde bilden. In der momentan stattfindenden elektronischen Revolution werden diese irdischen Stoffe so zusammengefügt, daß sie eine Art Intelligenz darstellen bzw. in ihrem Zusammenwirken eine Verbindung mit der irdischen Intelligenz eingehen, die es vorher noch nie gab. Was die cyberdelische Gemeinschaft verspricht, ist die Realisation des alten alchimistischen Traums von der Verbindung zwischen Geist und Materie, eine Widerspiegelung der eigenen Seele, ein Umstülpen des Körpers von außen nach innen, um das wahre Selbst hervorzubringen. Wir leben in einer magischen Zeit. Indem wir unsere Träume miteinander teilen, werden wir die Mauern und Grenzen zwischen uns auflösen. Wenn wir es schaffen, uns als biologische Gemeinschaft in einem technologischen Uterus zu betrachten, dann überwinden wir die kulturelle Krise. Durch Psychedelika, die neuen Medien und einen verbreitenden Informationsfluß werden wir befähigt, uns selbst bzw. unseren und unser Kinder Planeten vor dem Ruin zu bewahren. Es liegt in den Händen der High-Tech-Gemeinschaften entsprechende Informationstechnologien zu entwickeln und sie einzusetzen. Wir haben die Mittel und die Macht, die Welt in jeder Hinsicht zu verändern. Zuvor muß aber unser Bewußtsein transformieren. Und das ist es, wofür wir alle die Verantwortung tragen. Die Pilze flüsterten mir einmal zu: "Du must einen Plan haben, denn wenn Du keinen Plan hast, wirst Du zum Teil des Planes eines anderen...". Terence McKenna • Auszug aus einem Gespräch von Terence mit b-Eden. •
- 298 -
• TEO NANACATL • DAS FLEISCH DER GÖTTER ZUR GESCHICHTE UND BEDEUTUNG PSILOCYBINHALTIGER PILZE DIE MAGISCHEN KULTURBRINGER In der Geschichte der Menschheit haben veränderte Wachbewußtseinszustände, die durch den Gebrauch psychoaktiver Pflanzen hervorgerufen werden, wahrscheinlich schon sehr früh eine große Bedeutung gehabt. So gab es bereits bei den Neandertalern vor etwa 60.000 Jahren Spezialisten für den Gebrauch von heilenden Pflanzen. Dies belegen bei Ausgrabungen im Irak gefundene Heilpflanzen, die als Grabbeigaben identifiziert wurden. Sie enthalten Substanzen, die noch heute im medizinisch angewendet werden. Unter ihnen war auch die psychoaktive Substanz Efedrin nachweisbar. Durch andere archäologische Funde wissen wir, daß Pflanzen, die psychoaktive Wirkstoffe enthalten, in prähistorischer Zeit auf fast allen Kontinenten in Gebrauch waren. Solche Zauberpflanzen gehören so eng zum menschlichen Leben, daß ihre Entstehung in den Ursprungsmythen fast aller Völker erwähnt wird. So ist zu vermuten, daß erste Gotteserfahrungen unter dem Einfluß von psychoaktiven Substanzen stattgefunden haben. Die Zauberpflanzen waren Geburtshelfer der Religion, der Schlüssel zum mystischen Raum, der Urgrund menschlicher Kultur. Unsere Ahnen erkannten in solchen Pflanzen Lehrmeister, die ihnen Visionen gaben, die Sprache der Natur entschlüsselten oder Ratschläge zur körperlichen und geistigen Heilung erteilten. Überall auf der Welt sind Kulte entstanden, in deren Zentrum die rituelle Einnahme magischer Pflanzen steht. Manche dieser Rituale haben sich über Jahrtausende bis in die Neuzeit erhalten. Zu ihnen gehört der religiöse Gebrauch psilocybinhaltiger Pilze in Mittelamerika. DIE MEXIKANISCHEN ZAUBERPILZE Nur wenigen Götterpflanzen wurde größere Verehrung entgegengebracht als den heiligen Pilzen in Mexiko. Die Azteken nannten sie Teonanacatl, was "Göttliches Fleisch" bedeutet. Wie die anderen Zauberpflanzen wurden auch die Pilze von den spanischen
- 299 -
Eroberern und den mit ihnen einfallenden katholischen Missionaren als Teufelswerk gebrandmarkt. Man versuchte, den Pilzkult auszurotten, doch die Indios hüteten das Geheimnis des Teonanacatl viele Jahrhunderte im Verborgenen. Daß die Psilocybinpilze und ihr ritueller Gebrauch heute recht gut bekannt sind, ist vor allem dem Forschergeist des Ehepaars R. Gordon und V. P. Wasson zu verdanken. Die beiden Mykologen (Pilzforscher) waren schon lange fasziniert von der unterschiedlichen Sichtweise auf Pilze in verschiedenen Kulturkreisen. Sie unterschieden die Menschen in Mykophile, die Pilze lieben, und Mykophobe, die Pilze fürchten. Die Europäer sind beispielsweise in ihrer Mehrzahl bis heute mykophob. Sie glauben, daß schon der Genuß eines einzigen Fliegenpilzes den sicheren Tod bedeutet und viele Pilze nichts als Teufelswerk sind. Ein trauriger Beleg dafür sind die vielen von Wanderern blindwütig umgetretenen Fliegenpilze in unseren heimatlichen Wäldern und die Verteufelung der psilocybinhaltigen Pilze als Droge, deren Gebrauch strafrechtlich verfolgt wird. Dagegen feierten die mykophilen Indios des alten Amerika prachtvolle Feste für ihre Götter und erlebten durch rituelle Pilzeinnahme das Paradies auf Erden. Die Wassons hatten schon länger einen Großteil ihrer Freizeit mit der Enthüllung der Geschichte der heiligen Pilze verbracht, als sie die Bekanntschaft mit dem Ethnobotaniker R. E. Schultes machten. Schultes arbeitete am selben Thema und wies den Wassons die Richtung, in der sie nach den Überresten der alten Pilzkulturen zu suchen hätten. Im Juni 1955 wurden sie in einem kleinen Dorf im Hochland von Oaxaca fündig. Von der später berühmt gewordenen Curandera (Heilerin, Seherin) Maria Sabina wurden R. G. Wasson und der Fotograf A. Richardson in die Mysterien der heiligen Pilze eingeweiht. Während vieler weiterer Expeditionen erforschten die Wassons den über Jahrtausende erhaltenen Pilzkult, nahmen an Ritualen teil und machten ihre Erkenntnisse einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. Der Chemiker Dr. Albert Hofmann, Entdecker des LSD-25, interessierte sich für die Forschung der Wassons und war bald darauf in der Lage, aus den Zauberpilzen die psychoaktiven Moleküle Psilocybin und Psilocin zu isolieren und sie synthetisch herzustellen. Bei einer erneuten Expedition im Jahre 1962 gab Hofmann der Schamanin Maria Sabina anstelle der Pilze die synthetischen
- 300 -
Moleküle in Tablettenform. Nach dem Ritual versicherte sie Hofmann, daß die Wirkung identisch sei. Das Geheimnis der heiligen Pilze war gelüftet. Mittlerweile sind etwa achtzig bis neunzig psychoaktive Pilzarten bekannt, die sich über den gesamten Erdball verbreiten. Wenn vom "Fleisch der Götter" die Rede ist, denken wir sicher zuerst an Psilocybe Mexikana - aus dieser Spezies synthetisierte Albert Hofmann die psychoaktiven Moleküle. Darüber hinaus sind viele andere Psilocybe- und Stropharia -Arten bei verschiedenen Stämmen Mexikos wie den Matzateken, Zapoteken und Chontal in Gebrauch. Von den diversen Arten ist die Spezies Stropharia Cubensis von besonderem Interesse, die relativ leicht künstlich gezüchtet werden kann. Durch die Möglichkeit der Kultivierung dieses Pilzes auf Roggensubstrat hat er sich seit den siebziger Jahren vor allem in den USA und in Mitteleuropa weit verbreitet. Die meisten der auf dem Untergrund-Markt erhältlichen Psilocybin-Pilze sind heute von der Spezies Stropharia Cubensis. In diesem Zusammenhang muß allerdings daraufhin gewisen werden, daß Besitz, Konsum, Herstellung und Handel mit psilocybinhaltigen Substanzen nach dem Betäubungsmittelgesetz in Deutschland strafbar ist. SPITZKEGELIGE KAHLKÖPFE Auch auf den heimischen Feldern und Wiesen wachsen verschiedene Arten psilocybinhaltiger Pilze. Hier ist vor allem der Spitzkegelige Kahlkopf (Psilocybe Semilanceata) zu nennen, eine weitverbreitete Art, deren Wirkstoffgehalt ähnlich wie bei Stropharia Cubensis gleichmäßig hoch ist. - Botanik: Der Spitzkegelige Kahlkopf wächst oft versteckt unter Gras auf gut gedüngten Weiden und Feldern, mit Vorliebe an feuchtwarmen, sonnigen Stellen. Vor allem auf Kuhwiesen, auch Schaf- und Pferdeweiden, ist mit hoher Ausbeute zu rechnen. Erntezeit ist von August bis Januar, hauptsächlich Anfang September bis Mitte November. Dann treten die Pilze oft in großen Gruppen auf. Der Hut ist etwa 5 bis 30 mm hoch, halbkugelig bis spitzkegelig, mit einem Nippel an der Spitze. Die Haut ist glatt und schleimig, die Farbe variiert von blassem gelbbraun bis dunkelbeige, mit deutlichem Oliv-Einschlag wenn sie feucht ist. Der Stiel ist 20 bis 80 mm hoch und etwa 2 mm gleichbleibend dick (Verdickung an der
- 301 -
Basis), dabei oft geschwungen. Er ist etwas heller braun als der Hut. Die Lamellen sind beige bis dunkelbraun. Eine bläuliche Färbung, die besonders an verletzten Stellen auftritt, wird als Indikator für den Psilocybingehalt betrachtet. Beim Sammeln sollte man darauf achten, die Fruchtkörper nicht auszureißen, sondern kurz über dem Boden abzuknipsen, um den eigentlichen Pilz, das unterirdische Mycelgeflecht, nicht zu verletzen. Die gesammelten Pilze können entweder frisch genossen oder an der Luft getrocknet und aufbewahrt werden. Wasser- und luftdicht verpackt sind sie längere Zeit im Kühlschrank haltbar. -Pharmakologie: Sowohl der Spitzkegelige Kahlkopf als auch Stropharia Cubensis enthalten gleichmäßig hohe Anteile von rund 0,3 % Psilocybin und Psilocin in der Trockensubstanz. Diese Wirkstoffe gehören - wie viele andere Psychedelika - in die Stoffklasse der Alkaloide. Das Psilocybin weist große Ähnlichkeit mit LSD-25 und N,N-DMT auf. All diese Tryptamin-Derivate sind wiederum ähnlich gebaut wie der menschliche Neurotransmitter Serotonin, was eine Erklärung liefern kann für die psychotrope Aktivität dieser Halluzinogene. Dank der gleichen Grundstruktur vermögen die Moleküle auf die selben Stellen im Nervensystem einzuwirken, an denen das Serotonin seine Wirkung entfaltet. Dadurch werden die psychischen Funktionen, die an den betreffenden Stellen des Gehirns lokalisiert sind, verändert. Die physische Toxizität von Psilocybin ist extrem gering - die tödliche Dosis liegt etwa 600 mal höher als die normalerweise konsumierte Dosis und würde der Menge von 40 kg Frischpilzen entsprechen. Auch bei langjährigem Gebrauch von Psilocybinpilzen treten keine physischen Schädigungen auf. Die Gefahren einer psychischen Abhängigkeit bestehen nicht, da keine Einwirkungen auf das hormonelle System stattfinden. Die Toleranz gegenüber Psilocybin wird leicht erreicht, wenn die Pilze öfter als einmal pro Woche genommen werden, das heißt die Wirkungen fallen bei gleicher Menge wesentlich schwächer aus. Dieser Effekt verschwindet , wenn man mit der nächsten Einnahme etwa eine Woche bis zehn Tage wartet. - Dosierung und Wirkung: Eine Dosis Von etwa 10 bis 12 mg Psilocybin, entsprechend ca. 50 g frischen oder 5 g getrockneten Pilzen (die Pilze bestehen zu 90% aus Wasser), genügt, um einem Erwachsenen von 70 kg Körpergewicht das volle Spektrum
- 302 -
halluzinogener Effekte zu offenbaren. Dies entspricht einer Menge von rund 5 bis 7 mittelgroßen Stropharia -Cubensis-Pilzen oder 60 bis 70 Spitzkegeligen Kahlköpfen. Weniger auffallende Effekte können bereits bei der Einnahme von 1 bis 2 g der getrockneten Pilze empfunden werden. Die Pilzwirkung beginnt etwa 15 bis 30 min nach der Einnahme, die Wirkungsdauer beträgt 4 bis 7 Stunden. Die Effekte einer vollen Pilzdosis schließen visuelle und akustische Halluzinationen, extreme Euphorie, Verzerrung der zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung und Zustände von ruhiger Klarheit ein. Die mit geschlossenen Augen wahrgenommenen Bilder sind farbig, scharfkantig und überaus deutlich. Sie können von abstrakten geometrischen Formen bis zu Visionen phantastischer Landschaften und architektonischer Perspektiven reichen. Die nach außen gerichtete Wahrnehmung ist von einer seltenen Klarheit. In der Natur wird oft eine intensive Verbindung mit Pflanzen und Tieren erlebt. PILZRITUALE Generell ist die Wirkung extrem stark abhängig von der Umgebung, in der das Pilzritual stattfindet, sowie von der Vorbereitung und der Erwartungen der Teilnehmer. Mexikanische Stämme, die den Zauberpilz auch heute noch in Heilungszeremonien und religiösen Ritualen einnehmen, kennen seit jeher die große Bedeutung von "set and setting". Sie beginnen das Ritual schon beim Sammeln der Pilze, das von Gebeten begleitet wird. Bei den nächtlichen Zusammenkünften von Heilern, Patienten und Interessierten setzt man sich im Kreis zusammen. Die Pilze werden gereicht und gegessen. Oft singen der Schamane oder die Curandera dann stundenlang, wobei sie den Rhythmus auf ihren Schenkeln schlagen. Sie werden zu Menschen der Sprache, erleuchtet vom Geist. Sie selbst nennen sich "diejenigen, die sprechen". Durch das "inspirierte Sprechen", die Eingebungen des Pilzes, werden Krankheitsursachen erkannt und Prophezeiungen gegeben. "Je tiefer man in die Welt des Teonanacatl eindringt, desto mehr Dinge sieht man. Und man sieht Vergangenheit und Zukunft, die dann vereinigt sind, schon fertig, schon geschehen... Ich sah gestohlene Pferde und verschüttete Städte, deren Existenz unbekannt war und die nun ausgegraben werden. Millionen Dinge sah und
- 303 -
wußte ich. Ich kannte und sah Gott: eine riesige Uhr, die tickt, mit sich langsam drehenden Sphären, und darin die Sterne, die Erde, das ganze Universum, Tag und Nacht, Weinen und Lachen, Glück und Schmerz. Wer das Geheimnis des Teonanacatl ganz durchschaut, kann sogar das unendliche Uhrwerk sehen." So beschreibt die Heilerin Maria Sabina ihre Verbindung mit den heiligen Pilzen. Die mexikanischen Pilzrituale weisen viele Ähnlichkeiten mit heutigen therapeutischen Sitzungen auf, die unter dem Einfluß von MDMA oder anderen psychoaktiven Substanzen abgehalten werden. Es ist zu beachten, daß bei den meisten Westeuropäern die EgoStruktur besonders stark ausgeprägt ist. Wir sind gewöhnt an eine rational-technologische, entmystifizierte Welt und haben die Wurzeln zum magischen Wissen unserer Ahnen weitgehend abgeschnitten (es ist gut möglich, daß die kleinen Kahlköpfe auch unseren Vorfahren bekannt waren, obwohl der Beleg dafür bislang aussteht). In der Vereinigung mit dem Pilz geht es also auch darum, unsere Persönlichkeitsstruktur zu verändern, Barrieren unseres überstarken Egos abzubauen, um altes, ewiges Wissen zu erlangen. Dies kann für viele von uns zunächst mit großem Schrecken und Leid verbunden sein. Besonders während der ersten starken Erfahrungen mit Halluzinogenen macht man oft ein Stadium der "Angstvollen Ich-Auflösung" durch, wenn das Ego beginnt, sich aufzulösen und dies nicht zugelassen und als "Sterben" empfunden wird. Die heiligen Pilze sind, verglichen mit anderen Halluzinogenen, ein eher sanfter Schlüssel zu den Pforten der Wahrnehmung. Durch eine überlegte Ritualgestaltung sind die Risiken eines "bad trip" weitgehend auszuschließen. Zuallererst ist darauf zu achten, daß sich kein Teilnehmer in psychisch labilem Zustand befindet. Eine mehrtägige Einstimmung in ruhiger Umgebung ist wünschenswert. Die Einnahme erfolgt auf leeren Magen mindestens einige Stunden vorher sollte gefastet werden. Es bietet sich an, das Pilzritual an einem besonderen Platz in der Natur (beispielsweise auf einer geschützten Waldlichtung oder an prägnanten Gesteinsformationen) oder in einem schön hergerichteten, mit positiven Assoziationsvorgaben versehenen Ritual-Raum durchzuführen. Der Raum und die Teilnehmenden werden rituell gereinigt, indem sie mit Salbei oder anderen Kräutern abgeräuchert werden. Vor der Einnahme helfen gemeinsame
- 304 -
Meditationen und Atemübungen bei der Entspannung und der "Entleerung des Geistes von weltlichen Problemen". Will man eine hohe Dosis zu sich nehmen, so wird das Angstgefühl während des oftmals heftigen Einsetzens der Wirkung dadurch gemindert, daß man zunächst eine geringe Menge Pilze zu sich nimmt und mit der Einnahme der vollen Dosis solange wartet, bis eine sanfte Pilzwirkung spürbar ist. Vom nun erreichten Plateau läßt sich weitaus leichter "abheben" als aus einem nüchternen Zustand heraus. Während der Session kann eine Stimulation durch Gerüche (Räucherwerk) und ruhige Musik erfolgen. Es können auch Kreise stattfinden: Die Teilnehmer fassen sich an den Händen und lassen Heilungsenergie durch den Kreis fließen. Während solcher Sessions erleben die Beteiligten oft eine intensive Verbindung untereinander, eine Art telephatischen Kontakt, das gleichzeitige Durchströmt werden von einem Bewußtsein. Während des Rituals sollte keiner der Beteiligten mit seinen Handlungen oder Äußerungen auf Unverständnis oder Ablehnung innerhalb der Gruppe stoßen. Alles noch so bizarr scheinende wird aufgenommen, verstanden und integriert. Extrem wichtig für eine wertvolle Erfahrung ist auch die Nachbereitung der Session, die mit dem gemeinsamen "Landen" beginnt. Am besten haben die Teilnehmenden noch ein paar Tage Zeit, um alleine und gemeinsam mit der Gruppe das Erlebte zu verarbeiten und zu integrieren. Dies ist eine sehr bedeutende Phase, in der sich entscheidet, wieviel von der Erfahrung man erinnern und für seinen weiteren Weg verwerten kann. Nach einer Ruhephase empfiehlt es sich, möglichst bald ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen da die Erinnerung an das Erlebte schnell verblaßt. Darüber hinaus finden Gruppensitzungen statt, in denen die persönlichen und gemeinsamen Erlebnisse diskutiert und interpretiert werden. Wer gut vorbereitet in die Erfahrung geht, verbringt in den meisten Fällen eine wundervolle, extatische Zeit mit den Pilzen. Anfang der sechziger Jahre führte der junge Psychologe Timothy Leary Experimente mit Psilocybin an vielen Testpersonen durch. Eine Veröffentlichung seiner Testergebnisse mit 129 Männern und 48 Frauen wurde 1963 in einer psychologischen Fachzeitung publiziert. Demzufolge fanden 70% den Rauschzustand erfreulich oder extatisch, 88% meinten, sie hätten etwas gelernt oder seien zu
- 305 -
wichtigen Einsichten gelangt, 62% der Probanden waren überzeugt, die Erfahrung hätte ihr Leben zum Besseren gewendet und volle 90% drückten den Wunsch aus, die "Droge" erneut zu testen. STERNENSAMEN Der Visionär und Ethnobotaniker Terence McKenna glaubt, daß der Gebrauch halluzinogener Pilze weit älter als 3.000 Jahre ist und der Pilz schon von den Urmenschen benutzt und verehrt wurde. Nach seiner Theorie könnten Pilzsporen, die aus dem All kamen, die erste Form von Leben und Intelligenz auf unserem Planeten gewesen sein. Neuere wissenschaftliche Studien belegen, daß bestimmte Pilzsporen bis zu 45 Millionen Jahren im All überleben können. Bei seinen Experimenten mit den auf Roggensubstrat gedeihenden Stropharia Cubensis empfing Terence Botschaften, die sein Leben maßgeblich veränderten: "Ich bin alt, älter als das Denken in eurer Spezies, das selbst fünfzig mal älter ist als eure Geschichte. Zwar bin ich seit Jahrhunderten auf der Erde gewesen, doch ich stamme von den Sternen. Meine Heimat ist jedoch kein einzelner Planet, viele über die glänzende Scheibe der Galaxis verstreute Welten haben Bedingungen, die meinen Sporen eine Lebensmöglichkeit geben. Der Pilz, den ihr seht, ist der Teil meines Körpers, der sich dem sexuellen Kitzel und dem Sonnenbad hingibt, mein eigentlicher Körper ist ein feines Netzwerk von Fasern, die die Erde durchwuchern. Diese Netzwerke können mehrere Morgen durchziehen und haben weit mehr Schnittstellen als ein menschliches Gehirn. Mein Pilzgeflecht ist fast unsterblich - nur die plötzliche Vergiftung des Planeten oder die Explosion des Gestirns, das ihn am Leben erhält, kann mich auslöschen. All meine Pilzgeflechte in der Galaxis befinden sich in Kommunikation miteinander, und zwar schneller als die Lichtgeschwindigkeit und über Raum und Zeit hinweg, doch wie das vonstatten geht, kann ich euch nicht erklären, da es in eurem Modell von Realität gewisse Mängel gibt. Das Pilzgeflecht ist so fragil wie ein Spinnennetz, doch der kollektive Übergeist und die kollektive Erinnerung sind wie ein riesiges historisches Archiv über den Werdegang der sich auf vielen Welten in unserem Spiralnebel entwickelnden Intelligenz…" Heute stehen wir an der Schwelle zu den Sternen, langsam dämmert es im Bewußtsein der Massen, daß der nächste
- 306 -
Entwicklungsschritt die Menschheit derart verändern wird, daß alles Vorhergegangene wie ein Präludium erscheint. Wir stehen am Rand der Geschichte, bereit, unsere menschliche Entwicklung und Erfahrung in dem riesigen Abgrund der Nacht, die unseren Planeten verschlingt, zu beschleunigen, während die Stunden unseres historischen Werdegangs noch in den Korridoren der Zeit verhallen. Wir sind dabei, uns in das größte jemals erfahrene Abenteuer zu stürzen, eines, das unsere Begriffe davon, was es bedeutet Mensch zu sein, von Grund auf ändert. Die heiligen Pilze und andere Pflanzenlehrer helfen uns, in dieser immer dichter werdenden Zeit, unseren Weg zu den Sternen zu finden und geben uns Ausblicke auf unsere kommenden Entwicklungsstufen. Teo Nanacatl
- 307 -
• CHRISTIAN RÄTSCH • DIE KRÖTENMUTTER Als Kind lernte ich, daß Kröten nicht nur etwas besonderes sind, sondern auch ein gutes Omen. Meine Mutter sagte immer, daß wir Kinder den Kröten nichts tun dürften, dies würde Unglück bringen. Später lernte ich, daß die sogenannten Hexen liebend gerne Kröten in ihre Zaubertränke mischten, und daß manche "wunderliche" Leute mit Hilfe der Kröten Warzen weghexen könnten. Noch später erfuhr ich, daß meine germanisch-baltischen Ahnen neben Sonne, Mond, Himmel, Erde und Bäumen auch Kröten als Gottheiten verehrten. Kröten begleiteten mich mein ganzes Leben. Im Studium vertraute ich mich mit den präkolumbianischen Krötendarstellungen und untersuchte die Bedeutung der Kröte in den Kulturen der Olmeken, Maya und Lakandonen. Ich stolperte bei meiner Erforschung der Zaubersteine über die Krötensteine, die anscheinend Symbole der Erleuchtung waren. Vor einigen Jahren begegnete ich schließlich der Krötenmutter auf erfahrbare Weise. In der Umgebung von Tuscon (Arizona, USA) lebt die Colorado River Toad (Bufo alvarius). Diese Kröte verbringt neun Monate unter der Erde, umhüllt von Schlamm, und dadurch geschützt vor der gleißenden Wüstensonne. Mit den ersten Regenfällen kommen die Kröten aus ihren Schlupfwinkeln gekrochen und beginnen mit den Liebeslockungen für das andere Geschlecht. Sie bleiben für drei Monate sichtbar. Wie alle Kröten, so bildet auch die Bufo alvarius in zwei Drüsen, die am Hals liegen, ein schleimiges Sekret aus. In den letzten Jahrzehnten sind die Sekrete von verschiedenen Kröten und Fröschen (Dendrobates) chemisch untersucht worden. Dabei hat man neben toxischen Bestandteilen (Bufonin, Bufotalin, Bufogin, Bufodienolide usw.) in dem Sekret der riesigen Meereskröte (Bufo marinus) das Bufotenin (5-Hydroxydimethyltryptamin), ein psychoaktives Molekül entdeckt. In dem Sekret der Colorado River Toad jedoch fehlen die toxischen Wirkstoffe. In der Trockenmasse sind dafür 15% 5-Methoxy-N,Ndimethyltryptamin (5-Meo-DMT) enthalten. Das 5-Meo-DMT kommt nicht nur in dem Krötensekret vor, sondern auch in zahllosen Pflanzen, die von südamerikanischen Indianern zu psychedelischen Schnupfpulvern verarbeitet oder dem Ayahuasca zugesetzt werden.
- 308 -
Dieser Neurotransmitter, der auch in unserem Nervensystem gebildet wird, scheint der Stoff für die ultimative schamanische Ekstase, für die Erleuchtung und für das Aufgehen in das "klare Licht des Todes" zu sein. Die Indianer, die im Südwesten Nordamerikas lebten, stellten Fetische dieser Kröten her. Ansonsten ist ihre kulturelle Bedeutung und ihr psychedelischer Gebrauch erst in den letzten Jahren entdeckt, wahrscheinlich doch wieder entdeckt worden. Die Kröte läßt sich "melken". Dazu wird ein lebendes Tier gegriffen und festgehalten, aber nicht erdrückt. Die beiden Drüsen werden dann leicht massiert, bis ein dicker Strahl des kostbaren Sekrets herausejakuliert. Diesen Spritzer fängt man mit einer Glasscheibe auf. Daran kann das Sekret trocknen und kristallisieren. Die gelbliche, kristalline Masse kann nun abgeschabt und mit ein paar Kräutern, zum Beispiel Damiana (Turnera diffusa), vermischt geraucht werden. Die Kröte entläßt man unbeschadet. Sie kann schnell den Sekretsverlust wettmachen. Ich hatte vor einigen Jahren die Gelegenheit etwas von diesem wundersamen Sekret zu rauchen. Es war in Kalifornien. Ich saß nackt im Hottub, einer Art hölzernem Badetrog. Das Wasser war heiß, die Nacht frisch, sternenklar. Ein Freund setze ein kleines Pfeifchen an meine Lippen und riet, zweimal tief zu inhalieren und den Rauch solange als möglich in der Lunge zu halten. Am Geruch und Geschmack des Rauchs erkannte ic h die Anwesenheit des DMTs. Wem einmal dieser Geruch in die Nase gestiegen ist, der wird sich immer daran erinnern. Bei mir erzeugte der Geruch eine respektvolle Erwartung, die Ahnung mystischer Transzendenz ergriff mich. Die anfängliche Aufregung schwappte in eine köstliche Entspannung um. Ich hatte das Gefühl, daß sich die Moleküle meines Körpers streckten und ein frischer Wind hindurch blies. Ich nahm einen zweiten Zug und spürte sofort, wie ich vom DMT davongetragen wurde. Mir fiel der Kopf in den Nacken. Ich saß im Wasser, und nur mein Gesicht war an der Luft. Ich blickte in den Himmel. Die Sterne strahlten immer heller. Sie vermehrten sich. Alles war voller Milchstraßen. Die Lichter tanzten und tanzten. Die Sternenflut zerfloß zu einer amorphen, lichtdurchtränkten Masse. Daraus flossen die dunklen Umrisse eines Wesens, eines riesigen Wesens zusammen. Der Sternenteppich nahm die Gestalt einer gigantischen Kröte an. Ich wußte sofort, daß es die Krötenmutter, eine der ältesten Göttinnen der Menschheit war, die da
- 309 -
am Himmel zusammenfloß. Die Kröte glitzerte in allen Farben. Sie nahm mein gesamtes Gesichtsfeld ein und stieg vom Himmel herab. Herab zu mir im Badetrog. Sie berührte mich, umarmte und küßte mich. Ein inniger Kontakt, ein köstlicher Kuß, eine ergreifende Umarmung. Wir verschmolzen miteinander. Ich spürte wie eine unglaublich positive Kraft, eine richtige Heilkraft in meinen Körper strömte. Ich wußte, die Krötenmutter hat mich angenommen. Ich öffnete die Augen und saß im Badetrog. Das Wasser war immer noch heiß, die Nacht immer noch frisch, aber ich war unendlich bereichert. Als ich aus dem Wasser stieg, fühlte ich mich wie neugeboren, erstarkt, gekräftigt und erfrischt. Ich spürte jede Faser meiner Muskeln. Alles fühlte sich verjüngt, gereinigt und geheilt an. Ich war voller Lebenslust und aphrodisischer Triebe. Ich war glücklich, endlich die Antwort auf die Frage "Warum sind Kröten heilig?" gefunden zu haben. Christian Rätsch
- 310 -
• TIMOTHY LEARY • LSD-KULTUR 1973 gab die Bundesbehörde für Drogen zu, daß zu diesem Zeitpunkt mehr als sieben Millionen AmerikanerInnen LSDErfahrung hatten. Wenn diese Anzahl junger und Menschen sich zu einer Handlung entschließt, die die Gesellschaft als gefährlich, chaotisch, unmoralisch und illegal verschreit, dann haben wir ein soziologisches Phänomen vor uns, das es verdient, näher untersucht zu werden. Wir haben hier eine faszinierende Entwicklung: eine neue Sünde! Eine neue Gegenkultur. Eine neue Art zivilen Ungehorsams. ZEIT DES WANDELS Die Babyboom-Generation der Nachkriegszeit kam während der Sechziger in die Pubertät und war möglicherweise die wohlhabendste, zuversichtlichste und sanfteste Nachkommenschaft der Menschheitsgeschichte. Verschiedene soziale Kräfte wirkten zusammen, die diese Gruppe ermutigten, mehr vom Leben zu erwarten und zu verlangen. Die Kinder der sechziger Jahre waren von den ökonomischen Ängsten befreit, die noch das Leben ihrer von der Depression verängstigten Eltern dominiert hatten. Die USA befanden sich in einer Periode der Expansion und des Wachstums. Die Anwerber großer Firmen pflegten vor den Universitäten Schlange zu stehen und die StudentInnen darum zu bitten, gutbezahlte Stellen anzunehmen! Um die atomare Bedrohung, die die Fünfziger verdüsterte, war es ruhig geworden. Unter anderem die neue Psychologie des Humanismus und der Persönlichkeitsentwicklung erweckten die grundlegenden Werte der Selbsterforschung, der Unabhängigkeit und den Wunsch nach Auflösung der aus Furcht entstandenen Orthodoxien aufs neue. Die Welt der Kunst, die bei Veränderungen in der Gegenkultur immer fruchtbar mitwirkt, brachte den abstrakten Expressionismus, die Improvisation und den Individualismus hervor - Chaos-lngeniering. Selbst die gestandene Wissenschaft der Physik wurde durch die Relativitätstheorie, durch die wechselnden Realitäten und durch die Annahme sich ausdehnender Universen revolutioniert. Eine derartige Entwicklung ereignete sich in der Geschichte immer dann, wenn eine Kultur ein gewisses Maß an staatlicher Sicherheit
- 311 -
und wirtschaftlicher Prosperität erreicht hatte und über ein gewisses Selbstvertrauen verfügte. Der nächste Schritt war immer eine Wende zur Besinnung. Eine Gegenkultur ermutigt zu neuen Kunst- und Lebensformen, sie toleriert die individuelle Suche nach neuen Lebensinhalten - die Nachsicht als Gegensatz zu Überlebenskampf und erzwungener Duldung elitärer Herrscher. In dem Augenblick, in dem Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Religion mit transzendenten Energien schwingen, geschehen oft zwei Dinge: Erstens die Erforschung unentdeckter, geographischer Gebiete und zweitens die Erforschung des Inneren mit gehirnverändernden Drogen. Das erste Buch der Veden, des ältesten spirituellen Textes des Westens, das zur Zeit der arischen Eroberung Indiens entstand, umschreibt die Droge Soma als grundlegendes Werkzeug der Philosophie. Die Athener gehörten zu den ersten Navigatoren. Sie waren selbständige, empirische, antidogmatische Menschen. Im griechischen Mysterienkult von Eleusis, der das mediterrane Denken wahrend vieler Jahrhunderte inspirierte, wurde eine LSD-ähnliche Substanz (aus dem Mutterkorn gewonnen) für die jährlich stattfindenden Wiedergeburtsrituale benutzt. Die Eruption der Individualität und des freien Denkens wahrend der Renaissance inspirierte zu umfangreichen Erforschungen des Ostens und Westens und dabei kamen Kräuter und Gewürze nach Europa sowie Salben, die man für die hedonistischen Gebräuche jener Zeit verwendete. DIE PSYCHEDELISCHE KULTUR Die Integration psychedelischer Drogen in das Leben der AmerikanerInnen während der sechziger Jahre führte zu einer starken Stellung der religiösen Rituale aus tropischen Breitengraden. Die psychedelischen Drogen werden alle aus tropischen Pflanzen gewonnen. Psilocybin aus Pilzen, Meskalin aus dem Peyotekaktus, LSD aus dem Mutterkor n, DMT und Ayahuasca aus Baumrinde und natürlich Marihuana, die älteste kultivierte Pflanze auf dem Planeten. Es handelt sich nicht um euphorisierende oder Energie spendende Stoffe oder Gifte, wie sie Stadtbewohner bevorzugen. Psychedelika verursachen Zustände von Besessenheit, Trance, wundervollem Chaos, erweitertem Bewußtsein, spiritueller Erleuchtung und mächtiger, mystischer Empathie mit den natürlichen Kräften. Solche
- 312 -
Experimente, die das Ziel der antiken Humanisten und der heidnischen Religionen waren, stellen für die organisierten Religionen die schlimmsten Alpträume dar. Die sogenannte Drogenkultur der Sechziger war keineswegs nur eine Marotte der StudentInnen. Es war eine weltweite Wiedergeburt der ältesten Religionen. Die Hippies fühlten das intuitiv, als sie barfuß und flötenspielend umherzogen. Urreligionen wurden plötzlich zum beliebtesten Wahlfach an den Universitäten. PsychiaterInnen, GesetzeshüterInnen und PolitikerInnen nahmen automatisch an, daß psychedelische Experimente nichts anderes als selbstverschuldete Bestandteile eines Massenwahnsinns seien, sie nannten es zum Beispiel halluzinatorische Psychose. Es bestanden in der westlichen intellektuellen Tradition keine Ausdrücke oder Paradigmen zur Erklärung dieses bizarren, chaotischen Wunsches nach einem Aus-sich-herausgehen. Es ist von soziologischem Interesse, daß die Drogenkultur in den USA und in Westeuropa (und seit einiger Zeit in Teilen von Osteuropa) getreulich die Rituale der vorchristlichen HeidInnen und PolytheistInnen wiederholte. Auf die Wichtigkeit des Gruppengefühls, das sich in den Ritualen ausdrückte, kann nicht genug hingewiesen werden. Die psychedelische Kultur bekannte sich stolz zum Drogengebrauch, denn dieser stand für die Naturliebe, den Stammeszusammenhang und die humanistischen Erfahrungen. Das erste Be-In in San Francisco wurde als "Stammestreffen" angekündigt, und das war später noch so bei den Grateful-Dead-Konzerten, als jeweils zwanzigtausend Dead-Heads sich zum Tanzen und Feiern zusammenfanden. Doch die Hippies waren auch die ersten naiven, unschuldigen, idealistischen Kinder der neuen, neurologischen Informationsgesellschaft. Sie waren KonsumentInnen der neuen Technologie; kindliche Utopisten, die glaubten, daß Batikkleider, Grateful-Dead-Konzerte und auswendig gelernte Liebesslogans das Ziel der Evolution seien. Die Hippiewelle brach zusammen, weil ihre AnhängerInnen zu passiv waren und nur darauf erpicht, die Erleuchtung beim nächsten Dealer zu bekommen. Um 1970 gab es offensichtlich etwa sieben Millionen bequemer KonsumentInnen, die meinten, daß sie ein einfaches Mittel zur Gehirnveränderung bekommen könnten. In der Zwischenzeit hatten die BundesbeamtInnen die wenigen guten LSD-FabrikantInnen
- 313 -
hochgenommen. Wie vorauszusehen war, wurde das Land in der Folge mit LSD niedriger Qualität überflutet. Gutgläubige Amateure vereinten sich mit skrupellosen Gangstern, um ein schlechtes Produkt zu vertreiben. DIE DRITTE GENERATION Die erste Generation der psychedelischen Technologie befaßte sich mit der primitiven Zubereitung von Pflanzen: dem Rollen von Joints, Stopfen von Haschischpfeifen und Bongs. Bei der zweiten Generation ging es um die Synthese von Meskalin, Psilocybin, LSD, DMT, STP, MDA. Die dritte Generation der gehirnverändernden Drogen ist in den Neunzigern in rauhen Mengen auf den Markt gekommen, Designerdrogen. Sie sind, ganz wie die Computer von heute, effizienter, billiger und einfacher zu bekommen als die Drogen vor dreißig Jahren. Die zeitraubenden, komplexen, delikaten und aufwendigen Prozeduren für die Synthese von LSD hat man vereinfacht, so daß, wie wir Polizeiberichten und soziologischen Untersuchungen entnehmen können, heute mehr LSD verwendet wird als in den sechziger Jahren. Diese Tatsache wird kaum wahrgenommen, da der Gebrauch psychedelischer Drogen für die Medien und Politiker kein Thema mehr ist. Wir haben heute neue Probleme - Erdölknappheit, Arbeitslosigkeit, den neuen Kalten Krieg. Es wird kaum noch von schlechten Trips berichtet, weil das Acid rein ist und die Anwender sich damit auskennen. Der durchschnittliche Vorstadt-Teenager von heute weiß mehr über die verschiedenen Auswirkungen gehirnverändernder Drogen als die meisten gelehrten ForscherInnen vor zwanzig Jahren. Die Verbreitung von Wissen geht immer auf diese Weise vor sich. Die Drogenverbreitung ist dem selben Rhythmus gefolgt wie der Ge- und Mißbrauch von Autos, Flugzeugen und Computern. In naher Zukunft werden wir das Aufkommen von neuen und verbesserten Drogen erleben, die stärker, sicherer und psychoaktiver sind. Jeder intelligente Chemiker weiß, daß es heute einen riesigen Markt von etwa fünfzig Millionen AmerikanerInnen gibt, die freudig eine Glückspille kaufen würden, eine präzise psychedelische Substanz von kurzer und voraussagbarer Wirkung, einen Intelligenzverstärker, ein harmloses Energetikum, einen sicheren
- 314 -
Gefühlsverstärker, ein Aphrodisiakum! Tausende von Jahren haben intelligente Menschen, die das häßliche Altern erlebten, nach einem wirkungsvollen Aphrodisiakum gesucht. Erst kürzlich haben wir erkannt, daß das elementarste, genauer gesagt das einzige Organ für die Lustempfindungen unser Gehirn ist - ein riesiges, hundert Milliarden Zellen großes, hedonistisches System, das nur darauf wartet, aktiviert zu werden. Die letzten zwei Jahrzehnte haben den ewigen Hunger der Menschheit nach Technologien zur Aktivierung und Lenkung der eigenen Gehirnfunktionen nur angeregt. Die Drogenbewegung hat erst begonnen. DAS PSYCHEDELISCHE TELESKOP Unsere Forschungsprojekte über psychedelische Drogen in Harvard und später in Millbrook betonten ausdrücklich die Notwendigkeit einer Entwicklung von gehirnverändernden Methoden, die menschliches Unwissen und Leiden eliminieren würden. Wir wußten, daß dies möglich ist und nahmen es in Angriff. Biochemisches Wissen wird angewendet, um die Muster der Synapsen zu verändern, die Menschen immer wieder in Hilflosigkeit gefangen halten. Die Zukunft wird uns die selbständige Hirnkontrolle bringen. Das alles erschien uns so selbstverständlich, daß wir 1962 kaum begreifen konnten, daß irgendein denkender Mensch dem Erreichen höherer Bewußtseinszustände etwas entgegenhalten könnte. Obwohl das Forschungsgebiet neu war und die Daten verwirrend, erschienen uns die Parallelen zur Entwicklung des Mikroskops und des Teleskops offensichtlich; dennoch waren wir na iver Weise auf die instinktive Ablehnung nicht vorbereitet, die so viele intelligente Wissenschaftler schon nur beim Erwähnen des Begriffs Bewußtseinsveränderung zeigten. Alan Watts wurde nicht müde, uns daran zu erinnern, daß alle Astronomen des Vatikans sich geweigert hatten, durch das Teleskop von Galileo Galilei zu schauen. Unser anfänglicher, romantischer Idealismus wurde bald ernüchtert, als wir feststellten, daß es mächtige genetische Mechanismen gibt, die, verstärkt durch die Gesellschaft, so gesteuert sind, daß sie mit Furcht auf das Erscheinen von Neuem reagieren. Die USA haben seit ihrer Entstehung eine optimistische, progressive Sonde für die Zukunft der menschlichen Rasse
- 315 -
dargestellt. Unser Land wurde von ruhelosen VisionärInnen aus der Alten Welt gegründet, die übereingekommen waren, daß alles Neue besser sei als der herrschende Zustand. Solche Menschen sind genetisch verbunden, um Erregung und Abenteuer zu erzeugen und Entdeckungen zu vollbringen. Es scheint mir so, daß dieses romantische Streben nach Freiheit und Glück seinen vorläufigen Höhepunkt in den Sechzigern erreichte. Eine Generation von jungen AmerikanerInnen schlug die Vorsicht in den Wind und lehnte sorglos die auf der Furcht beruhenden Systeme ab, welche die menschliche Gesellschaft am Leben erhalten - Arbeit, Ethik, männliche Herrschaft, Rassismus, Konformität, Unterdrückung der Gefühle, Nachsicht gegenüber sich selbst und Autoritätsgläubigkeit. DAS VERTRAUEN UND DIE ZUKUNFT Die Furcht - wie immer der Leim, der die menschlichen Bienenkörbe zusammenhält - wurde vorübergehend durch ein kühnes, fester werdendes Vertrauen in eine selbst gewählte Zukunft ersetzt. Da unsere Untersuchungen gezeigt hatten, daß Set und Setting den Verlauf eines Experiments mit erweitertem Bewußtsein bestimmen, verbreiteten wir ununterbrochen Signale für eine intelligente Selbstbestärkung: "Vertraut eurem Nervensystem, laßt es fliessen! Das Universum ist eigentlich ein schöner und sicherer Ort." Es erstaunte uns zu sehen, wie normalerweise intelligente und offene Menschen alles in ihren Kräften stehende unternahmen, um Furcht heraufzubeschwören, Gefahr zu schreien und das Gehirn mit Negativität zu manipulieren. Erinnern wir uns an die Lügen, die der Direktor des Spitals von Pennsylvania verbreitete, als er behauptete, daß acht Patienten, die mit einer hohen Dosis LSD in die Sonne geschaut hatten, blind geworden seien. Erinnern wir uns an die Verleumdung, daß durch LSD Chromosomen zerstört würden. Erinnern wir uns an die Armeen von Polizisten, die an den Schulen davor warnten, daß das Rauchen von LSD zu Vergewaltigung und Totschlag führen würde. Das alles zwang uns irgendwann, den Schluß zu ziehen, daß LSD wirklich Panik und zeitweilige Geistesgestörtheit hervorruft, nämlich bei den Bürokraten, die den Stoff noch nicht mal berührt hatten. Ein Blick auf den Verlauf der Geschichte beruhigte uns wieder. Der zeigt nämlich, daß jede neue Technologie, die eine
- 316 -
Herausforderung an den gewohnten Lebensstil oder für das Verständnis menschlicher Natur darstellt, jeweils eine Generation braucht, um sozial integriert zu werden. Je wütender und extremer die Angriffe auf LSD wurden, desto sicherer wurden wir, daß da eine wichtige Mutation stattfand. In der Kontroverse wurde nicht bedacht, daß es keine wissenschaftlichen Versuche gegeben hatte, die notwendig gewesen wären, um wirklich relevante Aussagen machen zu können. Sicher haben viele psychisch instabile Personen LSD eingenommen und danach die Droge für ihre Instabilität verantwortlich gemacht. Man hatte das aber nie an einer Vergleichsmenge gemessen, wie es wissenschaftlich richtig gewesen wäre. Heute, wo der Rauch sich verzogen hat, können wir sehen, daß die Selbstmordrate bei jungen Menschen während des LSD-Booms sank, obwohl LSD immer als ein Auslöser der Selbstzerstörung (zum Beispiel das Aus-dem-Fenster-springen) diffamiert wurde. Selbstmord wurzelt in Sinn- und Hoffnungslosigkeit - und diese beiden Faktoren verloren während der sechziger Jahre wesentlich an Bedeutung. Es ist ganz klar, daß psychedelische Drogen, Cannabis eingeschlossen, die Gewaltbereitschaft verringern. Heute führt der übermäßige Alkoholkonsum an einem Wochenende zu mehr Gewaltakten als die Einnahme psychedelischer Drogen in zwanzig Jahren. An einem Wochenende werden mehr Kinder von betrunkenen Automobilisten getötet und verkrüppelt als in zwei Jahrzehnten des Konsums von psychedelischen Drogen. Ich sage nicht, daß die wirklichen Gefahren von LSD übertrieben wurden. Bewußtseinserweiternde Drogen verändern das Denken und lösen die Bindung an alte Gewohnheiten. Die Veränderung löst intensive Reaktionen der Furcht aus. Acid ist eine aufwühlende Sache. Niemand hat je behauptet, daß der Umgang damit einfach sein würde, und damit zeigt sich ein anderes Problem. Acid sollte nicht von ängstlichen Personen oder in einer furchteinflößenden Umgebung eingenommen werden. Amerika ist heute aber ein Land, in dem es geistert. Die genetische Kaste derer, die "Gefahr" schreien, arbeitet lautstark. Nie in der Geschichte der USA war die landesweite Stimmung so düster und geisterhaft. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Veränderung macht Angst, und da die Veränderungsrate steigt, ist sie kaum mehr erträglich und gerät außer Kontrolle.
- 317 -
Chaos! Jede vertraute Gemütlichkeit der Vergangenheit verschwindet verdächtig schnell. Während die Bevölkerungszahl zunimmt, verringern sich alle Anzeichen von Intelligenz. Auch die erzieherischen Errungenschaften, die Höflichkeit und die physische wie ökonomische Sicherheit schwinden zusehends. Paradoxerweise befreien uns die Errungenschaften der Wissenschaftselite gleichzeitig von den grundsätzlichen, ewigen Gründen für die menschliche Hilflosigkeit. GenetikerInnen und ImmunologInnen künden enorme Fortschritte bei der Bekämpfung von Krankheit, Altern und Tod an. Das Raumfahrtprogramm hat eine neue Aussicht auf unbeschränkte Energien und unbegrenzten Raum für das Auswandern eröffnet. Die auf Computer und Heim-Kommunikationszentralen aufbauende Informationsgesellschaft vervielfacht die menschliche Intelligenz zu einer unvorstellbaren Größe. Wir werden von neuen und besseren Gehirnveränderungsdrogen überschwemmt. Die Zukunft wird schneller und wilder herumwirbeln, als wir annehmen. Liebst du Acid nicht, dann kannst du sicher sein, daß du die Zukunft auch nicht lieben wirst. Mehr denn je müssen wir jetzt unsere Gehirne auf die vielfaltigen Komplexitäts- und Relativitätsveränderungen zusteuern. Wer mit Acid umzugehen weiß, wird mit dem Kommenden besser umgehen können. Timothy Leary
- 318 -
• NICOLAS SAUNDERS • ECSTASY UND PARTY Der Begriff Ecstasy bezeichnet im engeren Sinn MDMA, er wird jedoch mittlerweile für eine ganze Gruppe unterschiedlicher Substanzen verwendet, denen gemeinsam ist, daß sie üblicherweise in Pillenform in der Party-Szene zirkulieren. Die Wirkungen von MDMA bzw. Ecstasy liegen kurzfristig in einer verstärkten Freisetzung bestimmter Neurotransmitter im Gehirn, die wiederum zu einer Entspannung der Muskeln, sowie zu Veränderungen im Bereich der emotionalen Empfindungen und der Wahrnehmung von Schmerzen führen. Langfristig besteht je nach Dosierung die Möglichkeit einer langfristigen, schädigenden Wirkung auf bestimmte Gehirnzellen. Meistens beschreiben KonsumentInnen die psychischen Wirkungen euphorisch mit Begriffen wie Offenheit, Sensibilität, Zuneigung und Liebe. Dabei bewirkt MDMA im Grunde kein neues Gefühl, sondern macht es den KonsumentInnen leichter gefühlsmäßige Blockierungen und Ängste zu überwinden bzw. in einen Zustand zu gelangen, der gleichermaßen Entspannung und Anregung einschließt. So angenehm diese Empfindungen sind, im zwischenmenschlichen Bereich haben sie auch ihre Gefahren. Wer Ecstasy nicht kennt, kann mit der plötzlich vorhandenen Warmherzigkeit seines Gegenübers nicht immer etwas anfangen, zumal es im Gegensatz zu Alkohol nicht so leicht ersichtlich ist, ob jemand Ecstasy genommen hat. Rückhaltlose Offenheit und das damit verbundene impulsive Verhalten haben schon zu manchen Schritten geführt, die hinterher bitter bereut wurden. Die auf Ecstasy auftretenden Gefühle mögen zwar unverstellt sein, es ist aber nicht immer klug, sie direkt zum Ausdruck zu bringen. Trotz der positiven emotionalen Wirkungen ist Ecstasy keine Pille die automatisch zu einem Glücksgefühl führt. Auch wenn die meisten Menschen es als beglückend empfinden, wenn ihre üblichen Blockaden nicht vorhanden sind und sie einfach loslassen können, hängt das entstehende Gefühl sehr von der einzelnen Person, ihrer augenblicklichen Gefühlslage und von der Umgebung ab. Auf Raves führen die durch Ecstasy ausgelösten Wirkungen dazu, daß man sich viel besser auf die Musik, die eigenen Bewegungen und die
- 319 -
Stimmung auf der Party einlassen kann. Das Gefühl das Ecstasy beim Tanzen hervorruft ist mit dem entspannten Zustand, den die gleiche Substanz in einer ruhigen Umgebung erzeugt, in der sich der Körper im Liegen entspannt, allerdings nicht zu vergleichen. Neben MDMA haben noch zwei andere Substanzen Wirkungen, die der von MDMA ähnlich sind, von erfahrenen DrogenbenutzerInnen aber voneinander unterschieden werden können (MDEA und MDA). Anderen wiederum ist es ziemlich egal, was und wieviel ihnen genau als Ecstasy verkauft wird. Zudem führt in den meisten Fällen die Illegalisierung und die fehlende Möglichkeit zu verläßlichen Analysen dazu, daß die KonsumentInnen normalerweise ohnehin nicht genau wissen, was und wieviel sie schlucken. Viele Personen, die regelmäßig Ecstasy nehmen, glauben, daß die Qualität der Pillen sich verschlechtert habe. Tatsächlich ist es häufig weniger die chemische Zusammensetzung, die sich geändert hat, als die Wirkung auf die Person selbst, die bei häufigen Gebrauch in kurzen Abständen deutlich nachläßt. MDMA wurde am Heiligabend 1912 von der Firma Merck zum Patent angemeldet, ohne danach vermarktet zu werden. Doch erst der "Stiefvater" von Ecstasy, der Chemiker Alexander Shulgin holte dieses lange in Vergessenheit geratene "Weihnachtsgeschenk" in der Mitte der siebziger Jahre wieder aus der Versenkung und synthetisierte es erneut. Danach wurde die Substanz vor allem in den USA als Hilfsmittel bei psychotherapeutischen Prozessen und als Katalysator für die Selbstentfaltung genutzt. In diesen Zeiten hatte es fast den Status eines Sakraments; es wurde nicht in großen Mengen unter die Leute gebracht, sondern in kleinen Zirkeln weitergegeben, um die damit erfahrbaren Bewußtseinsqualitäten auf möglichst verantwortliche Weise zu hüten und zu teilen. MDMA galt als "spirituelle Medizin", die es erlaubte, die unterdrückten, wahren Seiten des Menschen in seinem Urzustand zum Vorschein kommen zu lassen. Deswegen wurde die Substanz damals auch "Adam" genannt. In der Mitte der achtziger Jahre war MDMA noch legal, aber das sollte sich bald ändern, denn der Ruf der "Glückspille" führte dazu, daß die Substanz die Neugier größerer Kreise auf sich zog und schließlich unter dem Namen "Ecstasy" vermarktet und konsumiert wurde. Aufgeschreckte US-Behörden verboten die Substanz im
- 320 -
Eilverfahren, über internationale Abkommen trat das Verbot dann bald weltweit in Kraft. Die Illegalisierung führte umgehend zur Entstehung eines rasant wachsenden Schwarzmarktes mit Erscheinungen wie gepanschten und verunreinigten Pillen. Es war nicht verwunderlich, daß als Folge dieser Bedingungen und der mangelnden Aufklärung plötzlich auch negative Begleiterscheinungen zu beobachten waren. So war viel zu wenig über die Gefahr der Überhitzung bzw. der Notwendigkeit einer ausgiebigen Flüssigkeitszunahme bekannt. Der ursprüngliche Gebrauch der Substanz als Sakrament blieb dabei langfristig weitgehend auf der Strecke. Die etablierte Gesellschaft hatte sich mit ihrer repressiven Politik ein neues "Drogenproblem" geschaffen. Ende der achtziger Jahre kam die Verwendung von Ecstasy als Party- und Tanzdroge auf. Explosionsartig hatte sich mit der RaveSzene eine Kultur entwickelt, in der das Bedürfnis nach ekstatischen Vergnügen einen neuen Ausdruck fand. Die anfänglichen freien Parties in leerstehenden Lagerhäusern und ähnlichen Locations entwickelten sich zu einem Massenvergnügen, das auf der ganzen Welt in den entsprechenden Clubs zelebriert wurde. Trotz der übertriebenen und von Horrormeldungen durchsetzten Berichterstattung nahm die Partykultur in ihrer Anziehungskraft beständig zu. Inzwischen hat sich die Partykultur jedoch grundlegend verändert. Zu Beginn verstanden sich alle, die auf Ecstasy feierten und tanzten, als Teil einer "großen, glücklichen Familie", in der es zwischen den Menschen keine Schranken gab. Ähnlich wie beim Aufkommen von LSD in den Sechzigern bildeten Hautfarbe, Bildungsstand, sexuelle Orientierungen oder Sprachen keine Barrieren mehr. Was zählte, war nur die Tatsache, ob man in die magische Welt des nächtelangen Tanzens, der offenen Herzen und des Ecstasy eingeführt worden war oder nicht. Auf den ersten Parties gab es keine Verhaltensregeln, alle kamen, wie sie wollten, ließen los und waren einfach er oder sie selbst. Unmerklich jedoch paßten sich die RaverInnen einander an, bis sich ein allgemein akzeptierter Verhaltenskodex entwickelt hatte, durch den sich die RaverInnen unabhängig von ihrer Drogenerfahrung von Außenstehenden abhoben. Dann wurde die Techno-Kultur zunehmend kommerzialisiert und spaltete sich in einzelne, zum Teil konkurrierende Fraktionen auf. Während beispielsweise in einigen
- 321 -
Ländern beim Tanzen die Hände mit den weißen Handschuhen in die Höhe geworfen wurden, war man in anderen Ländern schon "einen Schritt weiter", hörte andere Musik und war viel "cooler". Wohin langfristig die Reise geht, ist nur eingeschränkt absehbar. Die wachsende Kommerzialisierung wird ihre Wirkungen haben, die sensationsgierige Berichterstattung wird weiterhin viele MitläuferInnen auf Ecstasy aufmerksam machen. Sie weden das, was anfangs in den durchtanzten Nächten an Gemeinschaftsgefühl erlebt wurde, gar nicht mehr kennenlernen. Vielleicht haben die mit Ecstasy erlebbaren Erfahrungsqualitäten im Laufe der Zeit Auswirkungen auf das zwischenmenschliche Miteinander. Vielleicht wird vieles, was gegenwärtig "auf Droge" erlebt wird, irgendwann normaler Bestandteil des alltäglichen Empfindens. Vielleicht - Die weiteren Kapitel der Ecstasy-Geschichte werden erst noch geschrieben... Nicolas Saunders
- 322 -
• INAD • LEGALISIERT CANNABIS ! DROGEN ? Das Wort "Droge" bezeichnet ursprünglich Rohstoffe zur Arzneiherstellung, also Kräuter, Gifte usw.. Im offiziellen Sprachgebrauch wurde "Droge" zur Bezeichnung von Stoffen durchgesetzt, die für gefährlich gehalten werden und deren Besitz und Handel eingeschränkt oder verboten ist. Ungeachtet dessen sind Drogen zum Beispiel auch Kaffee, Tabak, Wein, Kamille, Hopfen... Mit dem Hopfen sehr nah verwandt ist der Hanf oder Cannabis. CANNABIS ? Cannabis ist zunächst die Hanfpflanze (Cannabis sativa oder Cannabis indica), von deren verschiedenen Produkten (zum Beispiel Fasern oder Zellulose zur Papier- oder Kleidungsherstellung) die Blüten und das Harz eine sedierende (beruhigende) und leicht euphorisierende (stimmungshebende) Wirkung haben. Einfuhr, Anbau, Handel und Besitz sind in Deutschland verboten. Bis 1929 erfreute sich der Hanf auch zum Gebrauch als Räucherwerk großer Beliebtheit, wovon Worte wie "Knaster" oder "Starker Tobak" zeugen, die das Hanfkraut bezeichnen. Das Opiumgesetz von 1929, die Wurzel der heutigen repressiven Drogenpolitik, war gedacht, um dem nach dem ersten Weltkrieg weitverbreiteten Morphinismus entgegen zu wirken. Daß der Hanf gleich mit verboten wurde, hatte wohl nicht nur Gründe in versuchter und erfolgloser Drogenprävention, sondern auch in massiven Wirtschaftsinteressen (Waldbesitzer, chemische Industrie etc.). Nachdem die Nazis den Hanfanbau zur Faserproduktion intensiv wiederbelebten - ebenso zu Kriegszwecken wie von den USA - ging der Anbau nach dem Krieg ganz zu Ende. Die Studentenbewegung der späten 60er brachte den Hanf zurück, nur hieß er jetzt "Marihuana" (Blüten und Blätter) oder "Haschisch" (Harz), und verboten war er immer noch. Die Novellierung des Opiumgesetzes, das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), legte zwar einen gewichtigen Augenmerk auf die Prämisse "Therapie vor Strafe", was für Abhängige von Drogen sicher einen
- 323 -
Fortschritt bedeutete, nur will bis heute niemanden eine CannabisTherapie einfallen. Der Mythos, Cannabis sei "Einstiegsdroge", tat ein Übriges, garnicht erst zur Forschung zu schreiten, um die Zusammenhänge zu klären. Die angstbestimmte Haltung, die der BRD im Zeichen der gerade durchgeboxten Notstandsgesetze zueigen war, ließ die Novelle zur Lächerlichkeit verkommen: Zwar ist der Besitz illegaler Drogen strafbar, nicht aber ihr Konsum... Hauptargumente einer Beibehaltung des Verbots sind der Schutz Heranwachsender sowie der "Volksgesundheit", der Mythos "Einstiegsdroge" und die angebliche Gefahr der Abhängigkeit. WER HAT DAS CANNABIS-PROBLEM ? Ein gesellschaftliches Cannabis-Problem gibt es nicht. Die etwa 3 Millionen KonsumentInnen tauchen in Drogenberatungsstellen praktisch nicht auf. Die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) gab für 1990 folgende Zahlen von Ratsuchenden, nach ihren Problemen aufgeschlüsselt, heraus: - Alkohol: Frauen 48,9% / Männer 75% - Eßstörungen: 12,8% / 1,1% - Opiate / Kokain: 21,2% / 8,2% - Spielsucht: 0,6% / 4,5% Medikamente: 15,5% / 11,2% - Cannabis: 0% / 0% Es will scheinen, als gäbe es kein Cannabis-Problem. Und doch gibt es eins: Jährlich gibt es bundesweit 40.000 Verfahren gegen KonsumentInnen, jeden Tag werden über hundert Menschen kriminalisiert, diskriminiert und verfolgt, verurteilt und bestraft, weil sie es wagen, mit Cannabis umzugehen. DAS CANNABIS-PROBLEM HABEN USER, DIE ERWISCHT WERDEN ! Das Cannabis-Problem haben die User (BenutzerInnen), die erwischt werden. - Kann es sich unser Staat tatsächlich leisten, Menschen die schadlos selbstverantwortlich handeln, derartig zu diskriminieren? Die repressive Drogenpolitik hat versagt. Die hilflosen Versuche der Bundesregierung mit Borniertheit, Ablenkung und Verstärkung
- 324 -
der nutzlosen bis schädlichen Anstrengungen einen "Sieg im Krieg gegen die Drogen" zu erringen, sind gescheitert. Der gegenwärtigen verfehlten Politik liegt ein Drogenbegriff zugrunde, der einen Stoff für "böse" erklärt und damit das Problem verschärft, anstatt es zu lösen: Menschen haben Macht, Drogen nicht. Keine Droge ist böse, gefährlich oder mächtig, sondern es sind Umstände, Zusammenhänge oder Situationen die Gefahren bergen können und wer nicht lernt, damit umzugehen, wird im Umgang mit ihnen scheitern. Wer das leugnet, versteht nichts von Drogen. DIE ILLEGALITÄT VON CANNABIS IST JUGENDGEFÄHRDEND ! Das Gefährliche an der Haltung der Politik ist der Umstand, daß Jugendliche, die mit Drogen experimentieren - was die "Drogenpolitik" offensichtlich nicht verhindern kann - alleingelassen werden. Ältere Konsumenten dürfen zum Beispiel ihre Erfahrungen nicht weitergeben und das Gesetz zwingt alle "AnfängerInnen" die möglichen Fehler seiner Vorgänger zu wiederholen. Die meisten Menschen sehen ein, sich das Autofahren von einem Fahrlehrer beibringen zu lassen, anstatt vier oder fünf Autos kapputtzufahren. Genauso vernünftig ist es, sich den Umgang mit einer Droge von jemanden zeigen zu lassen, der sich damit auskennt. Gegenwärtig verhindert das Gesetz solchen Austausch, indem es mit Strafe droht. DIE JUGEND IST NICHT DURCH CANNABIS GEFÄHRDET, SONDERN DURCH DESINFORMATION ! Diese Desinformation besteht unter anderem darin, daß dem Mythos von der "Einstiegsdroge" nicht entgegengetreten wird, daß die Forschung sträflich vernachlässigt wurde und - wenn überhaupt nur mit dem Ziel geforscht wurde, irgendeine Gefährlichkeit zu beweisen. Angeblich "wissenschaftliche" Nachweise solcher Gefährlichkeit anhand von Tierversuchen wurden zum Beispiel mit nahezu tödlicher Dosis vorgenommen, die beim Menschen praktisch nicht erreichbar und völlig realitätsfremd ist. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird mit dem fadenscheinigen Argument der Fürsorgepflicht des Staates massiv eingeschränkt und die Betroffenen können sich nur dagegen wehren,
- 325 -
indem sie sich der Strafverfolgung aussetzen. Bislang hatten die VerfechterInnen dieser Linie leichtes Spiel - Courage ist ein französisches Wort. WER IST FÜR DIESE SITUATION VERANTWORTLICH ? Die Polizei führt aus, was das Gesetz sagt. Sicher könnte sie selbstständiger sein, aber die gegebenen Strukturen fördern nicht gerade Initiative. Die RichterInnen legen die bestehenden Gesetze aus und den meisten fehlt wohl auch der Sachverstand - dafür gibt es GutachterInnen. Besonders das Bundesverfassungsgericht wird in letzter Zeit immer häufiger mißbraucht, um anstelle der Politik Entscheidungen zu treffen. Hier ist politisches Handeln gefordert - und zwar sofort: Die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten ist strafbar und das ist gut so. Trotzdem werden jeden Tag Menschen unnütz beschränkt bis hin zur Existenzvernichtung. Es kann nicht ausreichen, schädliche Gesetze zu ändern, sondern es ist notwendig, das Umdenken zu einem breiten Prozeß werden zu lassen - die Aufhebung von Stigmata "von oben" ist unmöglich. Drogenpolitik muß akzeptierend und infor mell werden: Zur Legalisierung von Cannabis gibt es keine Alternative. Initiative für akzeptierende Drogenpolitik
- 326 -
• GÜNTER AMENDT • DIE INTERNATIONALE BILANZ DES "WAR ON DRUGS" Es ist schon erstaunlich, wie locker, unbefangen, ja skrupellos nach wie vor Politiker und Politikerinnen die Ausweitung des "Krieges gegen Drogen" propagieren. Dieser mittlerweile dreissigjährige Krieg ist eine blutige Realität und keine harmlose Metapher. Der Einsatz militärischer, polizeilicher und geheimdienstlicher Gewaltmittel schafft Opfer auf beiden Seiten; insbesondere in den Produzentenländern Asiens und Lateinamerikas. Seine Legitimation bezieht dieser "war on drugs" aus dem 1912 von den damaligen Grossmächten initiierten Haager Abkommen, das eine bestimmte Gruppe von toxischen Stoffen ächtete und damit, wie Körner schreibt, "die Grundlage für die Drogenprohibition im 20. Jahrhundert" bildete. In den folgenden Jahrzehnten traten nicht nur immer mehr Staaten dem internationalen Opiumabkommen bei – einige allerdings nur unter Druck der Grossmächte – in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden über die klassischen Suchtstoffe hinaus immer mehr psychoaktive Substanzen der Betäubungsmittelgesetzgebung unterstellt. Seit 1971 sind auch halluzinogene Stoffe, Stimulanzien, Sedativa und Tranquilizer der Drogenkontrolle unterworfen. Von einem "Drogenproblem" begann man in Europa aber erst Ende der 60er Jahre zu sprechen, als mit Cannabis, Opiaten und Kokain sogenannte kulturfremde Drogen den Jugendfreizeitmarkt der westlichen Industriegesellschaften eroberten. Die internationale Betäubungsmittelgesetzgebung ist geleitet von der Überzeugung mit Hilfe eines engmaschigen Netzes von Kontrollen, Einschränkungen und Verboten, den illegalen Handel mit Drogen und deren Vor- und Zwischenprodukten verhindern zu können. Staatsinterventionen zur Unterbindung des freien Handels mit Gütern und Dienstleistungen sind in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften nur dann vorgesehen, wenn übergeordnete Interessen berührt sind, wenn, wie es in Artikel 1 des BtMG der BRD heisst, wegen "des Ausmasses der missbräuchlichen Verwendung und wegen der unmittelbaren oder mittelbaren Gefährdung der Gesundheit" die Kontrolle des Verkehrs mit Betäubungsmitteln erforderlich wird.
- 327 -
Die Drogenprohibition bezieht also ihre Legitimation aus einem der Kapitalverwertung übergeordneten Interesse: "Es geht darum, den einzelnen Menschen, insbesondere den jungen Menschen vor schweren nicht selten irreparablen Schäden an der Gesundheit und damit an der Zerstö rung seiner Persönlichkeit, seiner Freiheit und seiner Existenz zu bewahren", wie es im Allgemeinen Teil des 1971 novellierten BtMG der Bundesrepublik Deutschland heisst. Ich will mich erst gar nicht dabei aufhalten herauszuarbeiten, was schon damals an der, wie Bossong schreibt, "in Panik konzipierten Drogenpolitik" der frühen 70er Jahre falsch und unhaltbar war. Das Problem ist, dass die Axiome von damals auch drei Jahrzehnte später noch immer Grundlage der internationalen Drogenpolitik sind, obwohl sich die Fachöffentlichkeit doch längst darüber einig ist, dass der Krieg verloren ist, und dass die "schweren nicht selten irreparablen Schäden an der Gesundheit" junger Menschen Ergebnis und Folge dieser gescheiterten Politik sind. Nach wie vor werden die Konsumenten und Konsumentinnen von Drogen in der Öffentlichkeit als Menschen wahrgenommen, die ausgebrannt und grundsätzlich auf Hilfe von aussen angewiesen sind. Doch diese Wahrnehmung ist blind gegenüber der Realität. Es ist allgemein bekannt und sollte endlich offen ausgesprochen werden, dass es auch einen genussorientierten, autonom kontrollierten Drogengebrauch gibt. Die Mehrheit aller Konsumenten und Konsumentinnen von legalen wie von illegalen Drogen nimmt sozial integriert und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teil und ist auf keines der Versorgungssysteme angewiesen. Sie nehmen Ecstasy und werfen Psychopillen, sie inhalieren Nikotin und ziehen Marihuana, sie drücken Heroin und sniefen Kokain, sie trinken Bier und kippen Schnaps, ohne aufzufallen und ohne auszusteigen. Das ist die Realität, der mit moralischen Appellen und prohibitiven Massnahmen nicht beizukommen ist. Daran, dass der dauerhafte exzessive Konsum von psychoaktiven Substanzen höchst riskant ist, kann kein Zweifel bestehen. Wer abstürzt und in einen Suchtkreislauf gerät, zahlt einen hohen Preis. Doch die Bereitschaft der Subjekte, Risiken in Kauf zu nehmen, ist gestiegen – und sie wird weiter steigen, weil viele darin die einzige Chance sehen in einer Risikogesellschaft psychisch zu überleben. Drogen – auch illegale - sind zu einem festen Bestandteil unserer
- 328 -
Alltagskultur geworden. Was noch in den 60er Jahren als abweichendes subkulturelles Verhalten galt, ist heute ein weitverbreitetes Alltagsphänomen. In den 60er Jahren waren Bewusstseinsveränderung und Bewusstseinserweiterung ein wichtiger Grund und zugleich eine Selbstrechtfertigung, Drogen zu nehmen. Heute, mit der Renaissance von Amphetamin und dessen Derivaten, ist die Suche nach Körpererfahrung – neben der Lust auf Spass – das wichtigste Motiv. Und viele jugendliche Drogenkonsumenten hatten bis in die Kindheit zurückreichende Vorerfahrungen mit legalen Pharmapillen, bevor sie mit illegalen Substanzen wie Ecstasy oder Cannabis erstmals in Berührung kamen. Das, was wir heute das Drogenproblem nennen, ist Ausdruck einer gigantischen gesellschaftlichen Fehlentwicklung, Resultat fehlerhafter Analysen und falscher Alternativen, ist Folge einer Blickverengung, die sich auf jeweils nur einen bestimmten Aspekt des Problems fokussierte und andere Aspekte ignorierte. Mal ist es der juristische, mal der medizinisch - therapeutische, mal der präventive, mal der pharmakologische, mal der kulturell-spirituelle Aspekt, mal der polizeilich-militärische, mal, wenn auch seltener, der politisch-ökonomische Aspekt, nie ist es der Blick aufs Ganze. Und so konnte es geschehen, dass eine politische und soziale Frage zu einem polizeilichen Leitthema werden konnte, welches von einer an Krimi-Plots gewöhnten Öffentlichkeit bereitwillig akzeptiert und übernommen wurde. "Das Drogenproblem' wird aus seinem sozialen, ökonomischen, kulturellen und psychischen Kontext herausgerissen und auf ein "jeu à deux" reduziert, auf einen Zweikampf zwischen internationalen, technisch und wirtschaftlich versierten Kriminellen einerseits und einer mit geeigneten Instrumenten ausgestatteten bzw. auszustattenden Polizei anderseits." Das schreibt Heiner Busch in seiner soeben veröffentlichten Studie "Polizeiliche Drogenbekämpfung – eine internationale Verstrickung". Unter Verwendung allgemein zugänglicher Quellen beschreibt Busch den Wandel der polizeilichen Verfolgungsstrategie von dem in den 60er Jahren üblichen "Kilodenken" zur "operativen" Bekämpfung des internationalen Drogenhandels als einer Sparte der "Organisierten Kriminalität." Im Verlaufe dieses Prozesses wurde der nationalstaatliche Radius der Polizei zugunsten internationaler
- 329 -
Kooperation aufgehoben. Bei der Entwicklung dieses Drogenkontrollsystems haben sich nationale und supranationale Institutionen herausgebildet, denen, wie Busch eindrücklich belegt, "Verantwortungen nur noch begrenzt zugeordnet werden können". Die zuständigen UN- Gremien aber auch die mit dem Kampf gegen Drogen befassten Polizeien wie Europol und Interpol sind "systematisch von Kontrollen freigestellt". In kaum einen anderen Bereich, resümiert Busch, "waren die USA und die westlichen Staaten ähnlich erfolgreich bei der weltweiten Durchsetzung ihres Politikansatzes." Buschs Schlussfolgerungen sind alarmierend. Er hält den Abbau des polizeilichen und militärischen Dispositivs, das zur Bekämpfung des internationalen Drogenhandels aufgebaut wurde, für derzeit "nicht denkbar". "Das unendliche Verfolgungsprogramm' und seine ständige Ausweitung erscheinen... als Dokument einer unendlichen politischen Phantasielosigkeit: als ein Verzicht auf jedes politische Eingreifen in den durch Strafrecht und Polizei gesicherten kapitalistischen Markt, eine permanente Produktion von Scheinlösungen mit unabsehbaren Kosten, sowohl finanzieller Art als auch solcher für die Betroffenen." (Busch, S. 294) Es muss in der Tat auffallen, dass in einer Zeit, in der das Primat des Ökonomischen über das Politische sich durchgesetzt hat, die internationale Drogenpolitik, in der jährlich nicht nur Milliardenprofite auf der Produzenten- und Händlerseite angehäuft werden, sondern auch Milliardensummen für Repressionskosten zu Lasten der Steuerzahler ausgegeben werden, von jeder KostenNutzen-Analyse befreit ist. Nun könnte man einwenden, dass in der Illegalität keine Bücher geführt werden und folglich eine KostenNutzen-Analyse praktisch nicht durchführbar sei. Dieser Einwand ist berechtigt insofern, als er alle im Umlauf befindlichen Zahlen relativiert. Das gilt auch für die der Vereinten Nationen. Auch ist nicht zu übersehen, dass Zahlen über Umsatz- und Profiterwartungen als Spielmaterial zur Durchsetzung politischer Ziele lanciert werden. So wurden noch in den 80er Jahren Kritiker der herrschenden Drogenpolitik der Übertreibung bezichtigt, wenn sie auf die ökonomische und finanzw irtschaftliche Dimension des weltweiten Drogenhandels hinwiesen. Die Regierungen der Hauptkonsumentenländer waren daran interessiert, diese Seite des
- 330 -
Problems klein zu halten, denn je grösser ein Problem, desto grösser auch das politische Versagen, wenn es nicht gelöst wird. In den 90er Jahren mit dem Ende des Kalten Krieges änderte sich plötzlich die Interessenlage. Jetzt konnte das Problem gar nicht gross genug sein, denn die Geheimdienste der westlichen Welt – vom BND bis zur CIA - hatten bei der Suche nach einem neuen Aufgabengebiet das Organisierte Verbrechen - in Sonderheit den internationalen Drogenhandel - als neues Feindbild ins Visier genommen und als Betätigungsfeld entdeckt. Von jetzt ab gilt: Je grösser das Problem, desto grösser die Notwendigkeit, die Dienste finanziell auszustatten und personell aufzurüsten. Wenn sich schon Umsatz und Profit des illegalen Drogenhandels nach den Massstäben einer ordentlichen Buchführung nicht ermitteln lassen, so sollten doch wenigstens die Kosten der Drogenprohibition auf Mark und Pfennig beziehungsweise Dollar und Cent bezifferbar sein. Immerhin handelt es sich hier um Ausgabenposten, die in verschiedenen Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden aufgeführt sind. Doch um eine volkswirtschaftliche Gesamtbilanz hat sich die Politik bisher herumgedrückt. Und so ist die Öffentlichkeit auch hier auf Schätzungen angewiesen. Weil eine einheitliche Berechnungsgrundlage nicht existiert, gehen die Schätzungen weit auseinander. Schon die reinen Repressionskosten – also der Aufwand für Polizei, Zoll und Justiz sowie für das Strafvollzugssystem – sind enorm. In den USA kämen die schwer bezifferbaren Kosten für Militäreinsätze hinzu. Doch da gibt es buchungstechnisch ein Zuordnungsproblem. Denn erklärtermassen verfolgen die USA bei ihren Militäreinsätzen gegen Drogenproduzenten und Drogenhändler oft ein sogenanntes second target, also ein zweites mehr oder weniger heimliches Kriegsziel: Die Bekämpfung von Guerillagruppen zum Beispiel. Allein in der Amtszeit von Präsident Clinton kam es nach Recherchen des Berliner Kriminalitätsforschers Bernd Georg Thamm zu rund 500 Militäreinsätzen. Ob die zu Lasten der Drogen- oder der Aufstandsbekämpfung zu buchen sind, bleibt das Geheimnis der US-amerikanischen Militärführung, die, glaubt man den Berichten US- und lateinamerikanischer Medien gerade dabei ist, sich auf eine neue Schlacht, diesmal gegen die kolumbianische "Narcoguerilla" vorzubereiten. Die USamerikanische Militärhilfe für Kolumbien wurde vervierfacht, und
- 331 -
die Beratertätigkeit intensiviert. Seit Wochen warten mit High-TechWaffen ausgestattete Spezialeinheiten auf ihren Einsatz in Kolumbien. Auch unter Clintons Präsidentschaft wurde die enge Verflechtung von militärischen und drogenpolitischen Zielsetzungen beibehalten. Auch die Drogenpolitik von Clintons "Drogenzar" Barry McCaffrey, einem Vier-Sterne-General und Kommandeur einer Elitedivision, ist beherrscht vom Repressionsgedanken nach innen und von Aggressionsabsichten nach aussen. Damit entfernt sich die USamerikanische Drogenbekämpfungsstrategie immer weiter von der in Europa wenn auch nur zögerlich verfolgten Strategie einer akzeptierenden Drogenpolitik. Auch mit Clintons Drogenbeauftragtem ist weder ein Nadelaustauschprogramm, noch die medikalisierte Abgabe von Cannabis, wie sie in einigen USBundesstaaten auf dem Wege von Volksabstimmungen erzwungen wurde, machbar – und die medikalisierte Opiatabgabe, wie sie in der Schweiz erfolgreich praktiziert und in der BRD geplant ist, schon gar nicht. In keinem anderen Land der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft stehen - auf die Gesamtbevölkerung umgerechnet – so viele Menschen unter Kontrolle der Justizbeziehungsweise des Strafvollzugssystems wie in den USA. Die Gefängnisse quillen über. Erst kürzlich hat die Clinton Regierung ein neues Programm zum Bau von Gefängnissen allover the country auflegen müssen. Die Hälfte aller Gefangenen sitzt wegen Drogendelikten. Aber auch in vielen westeuropäischen Ländern droht das Justiz – wie das Strafvollzugssystem unter der Last von Betäubungsmitteldelikten zu kollabieren. Auch hier ist die Hälfte der Haftplätze mit Delinquenten belegt, die gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen haben. Zu den Repressionskosten kommen die Gesundheitskosten, also der Aufwand für Akutbehandlung, Therapie und Drogenprävention. In volkswirtschaftlichen Modellrechnungen werden diesen Kosten dann noch die durch Morbidität und Mortalität entstandenen Kosten zugeschlagen. (Hierbei handelt es sich um Kosten, die von Menschen im Erwerbsalter verursacht werden, die das Gesundheits- und Sozialsystem beanspruchen ohne dafür eine entsprechende
- 332 -
Gegenleistung zu erbringen.) Hinzu kämen die ebenfalls schwer bezifferbaren immateriellen – sprich: sozialen – Folgen der Drogenprohibition: Die Zerstörung von Familien und Beziehungen, die Zerstörung von Stadtteilen und die Korrumpierung des politischen Systems. Auch die gesundheitlichen Folgen der Beschaffungsprostitution, die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und des HIV sowie des Hepatitis Virus, wären der Gesamtrechnung zuzuschlagen. Alles in allem dürften die jährlichen Kosten der Drogenprohibition allein in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 10 und 13 Milliarden Mark liegen. Zwischen der Entwicklung des illegalen Drogenhandels, dem Ausbau von Handelswegen und der Ausbreitung des HIV Virus besteht ein direkter Zusammenhang, der jedoch in der internationalen Diskussion kaum beachtet wird. Nach wie vor sind weltweit unsaubere Spritzen eine der Hauptursachen für die Übertragung des HIV Virus. Je mehr sich der intravenöse Drogenkonsum von Opiaten in die Produzenten- und Transitländer verlagert, wo das Gesundheitssystem oft bereits mit den Alltagserkrankungen überfordert ist, desto grösser das Risiko von HIV-Infektionen. Der volkswirtschaftliche beziehungsweise finanzwirtschaftliche Schaden, den die im internationalen Finanzkreislauf zirkulierenden illegalen Finanzströme verursachen, ist ebenfalls nur schwer zu berechnen; nichts desto trotz aber ein realer Faktor, der Finanzfachleute beunruhigt. Kriminologen schätzen den Gesamtumsatz des Organisierten Verbrechens auf jährlich weit über eine Billion Dollar. Legt man die Umsatzschätzungen der Vereinten Nationen von jährlich 400 Milliarden US$ zugrunde, dann zeigt sich, dass der Handel mit Drogen noch immer den wichtigsten Einzelposten des Gesamtumsatzes ausmacht. Im übrigen ist es widersinnig, die Beschleunigung und Globalisierung des Austauschs von Waren, Personen und Dienstleistungen mit aller Macht voranzutreiben und dabei so zu tun, als könne man im Sonderfalle von Drogen diesen Beschleunigungsprozess abbremsen, um Drogen aus dem allgemeinen Warenstrom herauszufiltern. (Natürlich kommt es immer wieder zu Beschlagnahmen auch grosser Mengen, doch aufgeklärte Drogenfahnder wissen und geben öffentlich zu, dass sie nur einen Bruchteil von fünf bis zehn Prozent aller zirkulierenden Drogen sicherstellen können.) Dennoch versuchen die Autoren des
- 333 -
jeweiligen Jahresberichtes der Vereinten Nationen den Eindruck zu erwecken, es sei möglich, den Warenstrom mit polizeilichen und militärischen Mitteln zu unterbinden, wenn man nur entschlossen genug vorgeht und den Repressionsapparat entsprechend ausbaut. Das ist eine Kriegspropagandalüge wie auch das Versprechen mit Hilfe einer eigens geschaffenen "financial task-force", die Geldwäsche verhindern oder mit Hilfe einer "chemical task force" den Chemikalienstrom zur Herstellung von Heroin oder Kokain unterbinden zu können. Mit dem Internet hat sich ein weiterer nicht kontrollierbarer Marktplatz etabliert, der von den Herstellern synthetischer Drogen bzw. den Lieferanten von chemischen Ausgangsprodukten zur Herstellung synthetischer Drogen bereits eifrig genutzt wird. (Die mit teilweise hohem bürokratischen Aufwand verbundenen kostenintensiven Bankenkontrollmassnahmen sind zwar durchaus nicht wirkungslos und führen immer wieder zu empfindlichen Verlusten und herben Imageschädigungen namhafter Banken. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre, in denen an fast allen Bankenplätzen die Gesetze verschärft und die Kontrollen intensiviert wurden, beweisen jedoch, dass das Drogenkapital auf die Verfeinerung der Kontrollmechanismen noch immer mit einer Verfeinerung der Waschmethoden zu antworten wusste. Die legalen Finanzströmen lassen sich nur schwer von den illegalen trennen. Das gilt auch für die Chemikalienströme kreuz und quer über den Globus. Die chemischen Grundsubstanzen zur Herstellung von Heroin und Kokain und neuerdings von Designerdrogen sind zugleich Ausgangsstoffe für eine Vielzahl harmloser Zwischen- und Endprodukte der chemischen Industrie und als solche unverzichtbar. Ein radikaler Kurswechsel in der Drogenpolitik setzt die Bereitschaft der politischen Klasse voraus, sich diesen globalen ökonomischen Dimension des Drogenproblems zu stellen und das Prohibitionsdogma in Frage zu stellen. Wer das zu tun bereit ist, muss auf Widerstand gefasst sein. Denn nicht nur die unmittelbar in den Drogenhandel verwickelten "Syndikate" auch Teile der politischen Klasse sind an der Beibehaltung des status quo interessiert. Zu den Gewinnern der Prohibition gehören auch jene Parteien und Organisationen, die den Drogenmissbrauch mit populistischen Parolen dazu missbrauchen, Bürgerrechte
- 334 -
einzuschränken und Rechtsstaatsgarantien abzubauen. (Und weil fast überall, was unbestreitbar ist, der Endverbrauchermarkt von erkennbar Fremden beherrscht wird, nützen sie die Chance, das sogenannte Ausländerproblem mit dem sogenannten Drogenproblem demagogisch zu verknüpfen.) Bleibt die Frage, ob eine Korrektur dieser auf ganzer Linie gescheiterten internationalen Drogenpolitiküberhaupt möglich ist. Anders gefragt: Werden die Staaten der Europäischen Union bereit sein von sich aus, den Krieg gegen Drogen zu beenden, auch wenn sie damit in einen konfliktträchtigen Widerspruch geraten zur USamerikanischen Drogenkriegsstrategie? Ein politischer Wille, diesen überfälligen Kurswechsel zu vollziehen, ist nicht zu erkennen. Auch nicht in der BRD, wo sich die unter Drogenfachleuten verbreitete Hoffnung mit dem Regierungswechsel werde der lang anhaltende drogenpolitische Stillstand endlich überwunden, als trügerisch erweist. Zwar hat die neue Regierung angekündigt, die medikalisierten Abgabe von Opiaten und die Einrichtung von Fixerräumen nach dem Vorbild der Schweiz zuzulassen, doch nicht mit einem Satz gehen die Koalitionsvereinbarungen auf den von den USA initiierten und von der UN assistierten 'Krieg gegen Drogen' ein. Dabei steht die Drogenkriegsstrategie der Vereinten Nationen längst in der internationalen Kritik. Erst vor kurzem hat eine illustre Versammlung hochrangiger Politiker und prominenter Wissenschaftler in einem offenen Brief den Generalsekretär der UN aufgefordert, endlich die Drogenpolitik der Vereinten Nationen zu evaluieren. Ihre Begründung: " Wir glauben, dass der Krieg gegen Drogen mittlerweile mehr Schaden verursacht als der Drogenmissbrauch selbst." Der offene Brief an Generalsekretär Kofi Annan macht – gestützt auf UN Quellen – eine Rechnung auf, die das ganze Desaster der internationalen Drogenpolitik offenbart: "Die Organe der Vereinten Nationen schätzen den jährlichen Umsatz der illegalen Drogenindustrien auf 400 Milliarden US$; das entspricht in etwa acht Prozent des gesamten Welthandels. Diese Industrie schafft mächtige kriminelle Organisationen, korrumpiert Regierungen auf allen Ebenen, weicht die internationale Sicherheit auf, stimuliert Gewalt und zerstört sowohl internationale Märkte als auch moralische Werte. Dies sind nicht etwa die Konsequenzen des
- 335 -
Drogenkonsums per se, sondern einer jahrelangen verfehlten und fruchtlosen Politik des 'war on drugs'." Deshalb ersuchen die Unterzeichner den Generalsekretär der UN, "eine offene und ehrliche Evaluation von globalen Drogenkontrollmassnahmen anzuregen." Wer einen Kurswechsel will, muss in der Tat an einer Evaluation der globalen Drogenkontrollmassnahmen interessiert sein, um unter Zugrundelegung einer realistischen Kosten-Nutzen-Analyse die verschiedenen Optionen zur Entschärfung des Problems aufzeigen und öffentlich zur Diskussion stellen zu können. Innerhalb der politischen Klasse findet diese Diskussion nicht statt, mag der Ruf von aussen nach einem Neubeginn auch immer lauter werden. Auch die rot-grüne Bundesregierung ist an dieser Diskussion nicht interessiert. Deshalb wäre es vermessen darauf zu bauen, die neue Bundesregierung werde sich von der US-amerikanischen Drogenkriegsstrategie distanzieren, um eine Entmilitarisierung der internationalen Drogenpolitik einzuleiten. Im Gegenteil: Die Teilnahme der Bundeswehr am Angriffskrieg gegen Jugoslawien und Äusserungen im Regierungslager über die zukünftige Rolle der Armee als Instrument der Aussenpolitik lassen erwarten, dass die Drogenfrage zukünftig – wie in den USA – übergeordneten aussenpolitischen Interessen untergeordnet wird. Der Krieg im Kosovo ist ein Exempel für diese Strategie. Obwohl die UCK von den Geheimdienste der NATO-Staaten schon lange vor Kriegsbeginn als eine der Schaltstellen des europäischen Drogenhandels ausgemacht worden war und als "terroristische Vereinigung" eingeordnet wurde, haben Geheimdienste eben jener NATO-Staaten, darunter auch der der BRD, die Kriegführung der UCK gegen die jugoslawische Zentralregierung angeleitet. Nun, nach dem Krieg, warnt der UN -Sonderberichterstatter für Menschenrechte, Jiri Dienstbier, vor der Bildung "krimineller Strukturen" im Kosovo. Das derzeit grösste Problem seien nicht "die Brandstiftungen in einzelnen Häusern, sondern die Entwicklung organisierter, terroristischer, krimineller Strukturen". (Pristina, DPA, 13. Juli 1999). Diese Begünstigung einer kriminellen Organisation birgt - langfristig gesehen - ein hohes Risiko. Im Kosovo könnte sich wiederholen, was sich vor mehr als 50 Jahren bei der Eroberung und Befreiung Siziliens zugetragen hatte. Damals hatten die USStreitkräfte beziehungsweise der US-amerikanische Geheimdienst die New Yorker Mafia in die Planung ihrer Landungsoperation
- 336 -
einbezogen. Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, dem die Mafia ihre bis heute in Italien ungebrochene Machtstellung verdankt. Auch die Kooperation des US-amerikanischen Geheimdienstes mit der Aufstandsbewegung in Afghanistan lief nach diesem Muster ab. Unter Protest der DEA leistete die CIA Waffenhilfe an die Aufständischen, obwohl die längst als Opiumproduzenten im Visier der Drogenfahnder waren. Mit US Hilfe an die Macht gelangt, hat die Taliban, neuesten Berichten der UN zufolge, die Anbaufläche für Opium verdoppelt. Ich kann nicht ausschliessen, dass einigen von Ihnen meine Kriegsbilanz zu politisch geraten ist. Wundern würde mich das nicht. Denn auch das gehört zur Bilanz des "war on drugs": Auch die Helferszene, wie ich die hier versammelten Berufsgruppen einmal salopp bezeichnen will, hat sich mit den Kriegsbedingungen ihrer Arbeit stillschweigend abgefunden und damit die Entpolitisierung eines hoch - politischen sozialen Problems bereitwillig akzeptiert. Aber machen wir uns nichts vor: Auch wir sind sozusagen als Zivildienstleistende Teilnehmer am "war on drugs". Günter Amendt - Vortrag auf dem Kongress "Neue Wege der europäischen Drogenpolitik und Suchtforschung". Hamburg 15. 9.1999. -
- 337 -
• WOLFGANG STERNECK • ZWISCHEN 'DRUFF-SEIN' UND DROGENMÜNDIGKEIT - TECHNO, DROGEN UND NEUE WEGE 1) DIE TECHNO-KULTUR 2) DROGEN UND PARTY 3) BASISORGANISATIONEN 4) SAFER-USE UND CHILL-OUT 5) KULTUR UND DROGENMÜNDIGKEIT 6) DAS ALICE-BUSPROJEKT 7) NOTWENDIGE SCHRITTE Das persönliche Verhältnis zu Drogen entsteht nicht in einem bezugslosen Raum, es wird vielmehr von individuellen Faktoren wie auch von kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen wesentlich geprägt. So entwickelte sich im Zusammenhang mit der TechnoKultur als wichtigster Jugendbewegung des letzten Jahrzehnts ein spezifischer Umgang mit Drogen. Gleichzeitig wurden wiederum einzelne Ausdrucksformen der Techno-Kultur durch verschiedene psychoaktive Substanzen entscheidend geprägt. Davon ausgehend entstanden Projekte, die einen eigenständigen Weg der Drogenaufklärung einschlugen und dabei bis heute ihre Aktivitäten bewusst in einen kulturellen Zusammenhang stellen. 1) DIE TECHNO-KULTUR In den neunziger Jahren fand das Lebensgefühl eines großen Teils der Jugend insbesondere in der Techno-Kultur einen Ausdruck. Zu den wesentlichen Merkmalen gehörte die Entwicklung einer zeitgemäßen, stark rhythmusbetonten elektronischen Musik und anfangs die Abkehr von den kommerziellen Strukturen der der RockKultur, sowie insbesondere das ausgeprägte Bedürfnis nach Entfaltung und Selbstbestimmung. Eine herausragende Rolle nahm dabei die Suche nach Ekstase und veränderten Bewusstseinszuständen ein, die ansonsten in einer von Kontrolle und Rationalität bestimmten Welt keinen Platz haben. Um 1992 setzte in einer zunehmenden Stärke ein Prozeß der kommerziellen Verwertung ein, der zur Reduzierung der Techno-Kultur in ihrer Hauptströmung auf eine marktorientierte und weitgehend inhaltslose Stilrichtung führte. Dieser Entwicklung steht allerdings ein vielfältig ausgerichteter Underground gegenüber, der in einigen Fällen noch
- 338 -
immer eine musikalisch und inhaltlich wegweisende Rolle einnimmt. Dabei reicht das Spektrum von Projekten, die ihre Arbeit vorrangig am Ziel des kommerziellen Durchbruchs orientieren, über VeranstalterInnen, denen es vor allem um das gemeinsame Feiern geht, bis zu Gruppen, die einen klaren gegenkulturellen Ansatz vertreten. Die Entwicklung der Berliner Love Parade, dem bedeutendsten und symbolträchtigsten Ereignis der Techno-Kultur, beschreibt wie kein anderes Ereignis den Aufstieg von einer reinen UndergroundSzene zu einer vielschichtigen Jugendbewegung. Im Zeitraum von zehn Jahren stieg die Zahl der teilnehmenden Personen von hundertfünfzig auf rund 1,5 Millionen Menschen. Die umzugsartige Massenparty, die der Liebe und der Musik gewidmet ist, wird inzwischen weltweit im Fernsehen übertragen und von Industrieunternehmen gesponsert. Gleichzeitig schmücken sich auch die PolitikerInnen der Stadt nach anfänglichem Widerwillen mit dem Großereignis und hoffen auf ein jugendfreundliches Image. Demgegenüber steht die Fuck-Parade, welche die Kommerzialisierung der Love Parade bzw. der Techno-Kultur insgesamt entschieden kritisiert. Charakteristisch für die Techno-Kultur in ihrer Hauptströmung ist das weitgehende Fehlen einer kritischen Reflexion der Entwicklungen innerhalb der Szene. Deutlich wird dies unter anderem am Beispiel der Techno-Magazine, die fast ausschließlich auf den Bereich der Musik fixiert sind und selbst in diesem Rahmen nur selten über eine Darstellung der neuesten Veröffentlichungen und der aktuellen Stars hinausgehen. Gleichzeitig werden kommerzielle Auswüchse wie völlig überteuerte Eintrittspreise bei einem mangelhaften Angebot von großen Teile n der Szene weitgehend kritiklos hingenommen. Das Prinzip des "Do it yourself", das anfangs die Techno-Kultur bestimmte, ist längst einer passiven Konsumhaltung gewichen. Im wesentlichen geht es nur darum Spaß zu haben und sich jeglicher tiefergehenden Auseinandersetzung zu entziehen. Politische Aktivitäten werden gleichzeitig weitgehend als sinnlos eingeschätzt, eine wirkliche gesellschaftliche Veränderung erscheint völlig unrealistisch, vielfach aber auch gar nicht erstrebenswert. Die Techno-Bewegung ist in diesem Sinne, von einigen Ansätzen abgesehen, keine Kultur der Rebellion oder der Verweigerung wie viele Jugendbewegungen zuvor, sondern vielmehr
- 339 -
im wesentlichen eine hedonistische Kultur der Ablenkung und des Rückzugs. 2) DROGEN UND PARTY Mit der Techno-Kultur entwickelten sich nicht nur eigenständige musikalische Ausdrucksformen, sondern auch bestimmte Lebenseinstellungen und Umgangsformen. Genau genommen läßt sich dabei jedoch schon lange nicht mehr von einer Techno-Szene sprechen. Vielmehr kam es im Laufe der Jahre zu einer von Außenstehenden kaum zu durchschauenden Aufspaltung in verschiedene Szenen und Entwicklungen, die sich wiederum in ihren Kodes und nicht zuletzt auch hinsichtlich ihres Umgangs mit Drogen zum Teil wesentlich unterscheiden. Durchgängig läßt sich jedoch über die Aufspaltungen der Szenen hinweg feststellen, dass der Gebrauch von Drogen selbstverständlich ist. So sind Parties auf denen 75% aller Anwesenden psychoaktive Substanzen konsumieren keine Seltenheit. In Bezug auf die Love Parade 2000 ging die Gewerkschaft der Polizei davon aus, dass etwa die Hälfte der rund 1,3 Millionen TeilnehmerInnen illegale Drogen gebrauchten. Am häufigsten wird neben Alkohol und Nikotin durchgängig in allen Szenen Cannabis konsumiert, wobei sich in der Regel von einem kontrollierten Gebrauch sprechen läßt. Für alle anderen Drogen in der Szene verbreiteten Substanzen gilt, dass vielfach ein gravierender Informationsmangel hinsichtlich der Wirkungen vorhanden ist, so dass es immer wieder zur Einnahme gesundheitsgefährdender Dosierungen und insbesondere zu einem risikoreichen Mischkonsum verschiedener Drogen kommt. Ein grundlegendes Gefahrenelement aller illegal produzierten Drogen bilden daneben Verunreinigungen und der zum Teil stark schwankende Wirkstoffgehalte. Durchgängig weit verbreitet ist Speed als aufputschende Substanz, sowie in einigen Szenen Kokain auf Grund seiner psychisch "coolen" Wirkungen und des Images der Nobel-Droge. In anderen Szenen haben psychedelische Substanzen wie LSD und psilocybinhaltige Pilze eine besondere Bedeutung erlangt. Eine Renaissance erlebten Nachtschattendrogen (insbesondere Engelstrompeten) mit ihrem Ruf als natürliche und deshalb vermeintlich relativ ungefährliche Substanzen. Auf Grund der nur schwer einschätzbaren Dosierung bzw. des hohen
- 340 -
psychoaktiven und toxischen Potentials werden sie in der TechnoSzene jedoch eine vorübergehende Modeerscheinung bleiben. Am Beispiel von Yaba (Methamphetamin) läßt sich aufzeigen, welche Auswirkungen eine sensationsgierige Berichterstattung haben kann. Im Frühjahr 2000 häuften sich in den Medien Berichte über die explosionsartige Verbreitung einer angeblich äußerst potenten "neuen Horror-Droge" mit dem Namen Yaba, die insbesondere in der (Frankfurter) Techno-Szene eine große Bedeutung erlangt habe. Tatsächlich läßt sich bis heute von einer Verbreitung, die mit der der klassischen Techno-Drogen vergleichbar wäre, in keinster Weise sprechen. In Folge der Berichterstattung stieg jedoch die Nachfrage nach der Substanz enorm, während gleichzeitig großteils sachlich völlig falsch über die Wirkungsweisen berichtet wurde. Auf Grund ihrer großen Bedeutung für die Entwicklung der Techno-Kultur ist Ecstasy (MDMA bzw. MDA und MDEA) noch immer die wichtigste Droge, auch wenn sie innerhalb der Szenen nicht mehr die herausragende Rolle einnimmt wie bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre. Zumeist in Pillenform eingenommen löst die Substanz ein tiefes Glücksgefühl aus, die Umgebung wird positiv wahrgenommen, anderen Menschen wird offen entgegengetreten und Probleme erscheinen unbedeutend. Zudem setzt Ecstasy Energiereserven frei, verdeckt körperliche Schwächeerscheinungen und ermöglicht dadurch ein stundenlanges Tanzen bzw. den Übergang in einen tranceartigen Zustand. Die harmonische EcstasyErfahrung fand nicht zuletzt im Leitsatz "Love, Peace, Unity" einen Ausdruck. Auch wenn diese Formulierung vielfach zu einer inhaltslosen Floskel verkam ist die Techno-Kultur dennoch eine der friedlichsten und tolerantesten Jugendkulturen überhaupt. Jedes Rockkonzert, Fußballspiel oder Bierfest in einer vergleichbaren Größe ist in der Regel von einer höheren Gewaltrate begleitet als ein Techno-Rave. Dass sich dieses Verhältnis in den letzten Jahren angenähert hat, steht im Zusammenhang mit der Ausweitung der Szene, die sich wiederum auch im Drogenkonsum widerspiegelte. So ist der Konsum von ehemals verpönten alkoholischen Getränken in der Szene enorm gestiegen, zudem nahm die Verbreitung der EgoDroge Kokain zu. Ecstasy entsprach dem Lebensgefühl bzw. dem gesellschaftlichen Klima, welches die Techno-Kultur als ganzes prägte. Nachdem in den achtziger Jahren die neuen sozialen Bewegungen und mit ihnen
- 341 -
ein nach außen gerichtetes gesellschaftliches Engagement an Grenzen gestoßen war, kam es zu einer Orientierung nach Innen, auf die eigene Entwicklung und das eigene Vergnügen. Die rauschhaften Techno-Parties sind dabei bis heute gleichermaßen ein Weg Körper und Bewusstsein neu zu erfahren wie auch eine hedonistische Flucht aus der Alltagsrealität in ein harmonisches, weitgehend unkritisches Party-Gefühl. Gleichzeitig gelingt es dabei nur wenigen die EcstasyErfahrung in den Alltag zu integrieren. Ein Gefühl der Leere und der Sinnlosigkeit entsteht oftmals am Tag nach den Parties, wenn nach den schillernden Momenten der Ekstase und des Glücks das Grau des Alltags wieder in seiner vollen Intensität empfunden wird. Die Langzeitwirkungen von MDMA auf den Körper sind bis heute nicht ausreichend geklärt. Die meisten Untersuchungen die in letzter Zeit veröffentlicht wurden stimmen darüber ein, dass ein hochfrequenter Konsum zu schwerwiegenden Schädigungen verschiedener Hirnfunktionen führt. Aufgeführt werden insbesondere Beeinträchtigungen der Denk- und Gedächtnisleistungen, sowie der Serotoninproduktion. Hinsichtlich der Dosierungen und der Konsumdauer, die zu diesen Erscheinungen führen, sowie deren Irreversibilität werden jedoch unterschiedliche Angaben gemacht. Zudem erscheinen bei genauerer Betrachtung mehrere Studien fragwürdig, die in jüngster Zeit ohne interdisziplinären Austausch bzw. ohne die Einbeziehung von szeneerfahrenen Personen erarbeitet wurden. So kommt beispielsweise eine in den Medien vielfach zitierte Studie der Universität Aachen zu dem Ergebnis, dass Ecstasy-KonsumentInnen gegenüber reinen CannabisKonsumentInnen und AbstinenzlerInnen bei kognitiven Tests wesentlich schlechter abschneiden. Sie ignoriert jedoch, dass es den reinen Ecstasy-User in der Szene nicht gibt und die entsprechenden Pillen vielfach verunreinigt sind bzw. die eigentlichen EcstasyWirkstoffe nur in geringen Anteilen beinhalten. Von daher können die schlechten Ergebnisse auf den Konsum von Ecstasy-Wirkstoffen zurückzuführen sein, sie können aber auch durch andere Substanzen oder durch Wechselwirkungen verursacht werden. 3) BASISORGANISATIONEN In der Mitte der neunziger Jahre begannen selbstorganisierte Gruppen aus der Techno-Kultur sich mit dem Drogenkonsum in der
- 342 -
Szene auseinanderzusetzen, sowie weitergehend die zu diesem Zeitpunkt nur schwer zugänglichen Informationen über die entsprechenden Substanzen auszuwerten und zu verbreiten. Bis heute soll der Gebrauch dabei weder tabuisiert noch beschönigt werden, vielmehr sollen die Informationen einen selbstbestimmten und bewussten Umgang ermöglichen. Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen Stände auf Techno-Veranstaltungen, wobei neben der Drogenarbeit auch die HIV-Prävention eine wesentliche Rolle einnimmt. Die Materialkosten werden dabei über Spenden finanziert, die eigentliche Arbeit erfolgt in der Regel ohne finanzielle Vergütung. In der kommerzialisierten Techno-Kultur entspricht dieser Ansatz nicht zuletzt auch einem symbolhaften Gegenpol, der an die Ursprünge der Bewegung anknüpft. Bei den offenen Treffen der Basisorganisationen stehen neben der Drogenthematik Diskussionen über persönliche Erfahrungen wie auch über das Selbstverständnis der Szene im Zentrum. Angesichts des weitgehenden Fehlens einer reflektierenden Haltung innerhalb der Techno-Kultur bilden diese Treffen eine der seltenen Möglichkeiten, sich über derartige Aspekte auszutauschen. Der kulturelle Ansatz der Gruppen spiegelt sich zudem in der Organisation von Veranstaltungen, die von Film- und Diskussionsabenden bis zu nichtkommerziellen Techno-Parties und Festivals reichen. Im deutschsprachigen Raum erlangte insbesondere das Berliner Projekt Eve & Rave als "Verein zur Förderung der Party-Kultur und zur Minderung der Drogenproblematik" eine Vorbildfunktion für viele andere Basisorganisationen. Im Grunde gehen derartige Entwicklungen jedoch nie von einer Person oder einer Gruppe aus, sondern sind bei genauerer Betrachtung ein Ergebnis der umgebenden Bedingungen. So bildeten sich unabhängig voneinander in allen Ländern, in denen die Techno-Kultur eine nennenswerte Größe erlangte, mit dem Bedürfnis nach Information, Reflexion und nicht zuletzt auch nach akzeptablen Bedingungen auf Parties und Raves vergleichbare Organisationen. Dazu gehören beispielsweise die Projekte Drug Scouts (Leipzig), Eclipse (Berlin) und Safe Party People / Alice (Frankfurt am Main), sowie in Edinburgh die Crew 2000, in Bologna das Laboratorio Antiproibizionista L57 und in Paris Techno Plus. Auf europäischer Ebene gründeten diese Gruppen neben anderen den losen Zusammenschluß "Basics - European Network for Rave-Culture and Drug-Awareness".
- 343 -
Rückblickend wird deutlich, dass diese Gruppen einen zum Teil äußerst großen Einfluß auf den Drogenkonsum, aber zum Teil auch auf die kulturelle Entwicklung der Techno-Bewegung hatten und mit Einschränkungen noch haben. Sie wurden in vielen Städten zu einem Bezugspunkt der Szene und gaben über ihre Projekte und Veröffentlichungen wichtige Anstöße. Von offizieller Seite wurden die Basisorganisationen lange fälschlicher Weise als "Selbsthilfegruppen" abgetan und in ihrer Arbeit nicht ernst genommen. Inzwischen wird die fachliche Kompetenz in Verbindung mit der langjährigen Praxiserfahrung zunehmend anerkannt. Entsprechend besteht in mehreren Städten eine Zusammenarbeit zwischen Drogenberatungsstellen und den Basisorganisationen, daneben erarbeiteten beispielsweise einige der genannten Gruppen im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ein Konzept zum Drug-Checking und auf europäischer Ebene kommt es inzwischen in ersten Ansätzen zu einer Förderung des Basics-Netzwerks durch die EU. Davon unberührt müssen jedoch die Tätig keiten in den meisten Basisorganisationen mangels finanzieller Unterstützung auf einer rein ehrenamtlichen Grundlage durchgeführt werden. Es ist absehbar, dass dieser Zustand für die Gruppen nur noch über einen begrenzten Zeitraum hinweg tragbar ist. Die internen Diskussionen über die "Grenzen der Selbstausbeutung" wie auch die zunehmende Fluktuation der Mitglieder und das schwindende Engagement sprechen für sich. In Anbetracht der Bedeutung der Basisorganisationen bzw. der wachsenden Drogenproblematik innerhalb der vielfältigen Jugendkulturen ist die Notwendigkeit einer angemessenen Förderung mit öffentlichen Mittel offensichtlich. Die meisten Basisorganisationen entsprechen in ihrer dezentralen und nicht-hierarchischen Organisationsform wie auch in ihrer idealistischen und gemeinschaftlichen Ausrichtung dem CybertribeKonzept. Grundlegend wird die Entwicklung vielfältiger Freiräume angestrebt, in denen ein Leben möglich ist, dessen Mittelpunkt das Streben nach persönlicher Entfaltung und gesellschaftlicher Veränderung bildet. Dies schließt auch die Möglichkeit eines bewussten und selbstbestimmten Gebrauchs von Drogen ein, wobei ein unreflektierter Umgang immer wieder kritisiert wird. 1999 kam es zur Gründung des Zusammenschlusses "Sonics- CybertribeNetzwerk für Rhythmus und Veränderung", dem rund 35 Gruppen
- 344 -
angehören, darunter neben den genannten Basisorganisationen auch vorrangig kulturell oder politisch ausgerichtete Projekte, sowie Musikgruppen und Verlage. Hinsichtlich der Techno-Kultur versucht das Netzwerk an deren Ursprünge anzuknüpfen, wobei dem ein weitreichender politischer Ansatz zu Grunde liegt. Demzufolge wird der politische Charakter einer Party keineswegs nur Flugblätter oder Gespräche über entsprechende Themen definiert, vielmehr kommt er auf ganz unterschiedlichen Ebenen innerhalb der Veranstaltung an sich zum Ausdruck. So haben beispielsweise Eintrittspreise, die Rolle von "Stars", die Organisationsstruktur, bei Open-Airs das Verhältnis zur Natur und auch der Umgang mit Drogen einen politischen Charakter. Nicht zuletzt ist dabei die Abkehr von der durch Rationalität und Fremdbestimmung geprägten Welt des Alltags in eine durch Trance und Ekstase geprägte Erfahrung in einem weit gefaßten Sinne eine politische Aussage, auch wenn sie nur selten als solche verstanden wird. Entsprechend tief greift die Kritik an der Kommerzialisierung der Techno-Kultur wie auch an der weit verbreiteten passiven Konsumhaltung und der Oberflächlichkeit innerhalb der Szene. Zu den wichtigsten Aktivitäten des Sonics-Netzwerks gehörte die Organisation des nichtkommerziellen "Join the Cybertribe"Festivals. Neben einem vielfältigen Musikpogramm, an dem sich in Rahmen einer zeitweisen "Playground"-Session alle Anwesenden beteiligen konnten, gab es mehrere Workshops, die sich unter anderem mit Trance-Tanz, Drug-Checking, Holotropen Atmen und gegenkulturellen Aspekten der Techno-Kultur befaßten. Insbesondere über diese Angebote wurde die sonst übliche Aufteilung zwischen aktiven KünstlerInnen und VeranstalterInnen auf der einen Seite und passivem Publikum auf der anderen aufgebrochen. Die offene Struktur der Basisorganisationen bzw. der Cybertribes wie auch des Netzwerks an sich, in der es meist weder feste Bestimmungen zur Mitgliedschaft noch hierarchische Entscheidungsstrukturen gibt, bildet gleichermaßen eine Stärke dieser Projekte wie auch ein ständiges Problem. In einer Zeit in der sich kaum ein Jugendlicher in Vereinen oder Parteien organisiert, bieten die flexiblen, im Grunde postmodernen Cybertribes die Möglichkeit sich den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu engagieren ohne sich fest binden zu müssen. Dies führt jedoch anderseits zu einer relativ hohen Unverbindlichkeit und Fluktuation.
- 345 -
Das Netzwerk leidet zudem darunter, dass die Kräfte der beteiligten Personen und Gr uppen meist lokal gebunden und weitgehend ausgeschöpft sind, so dass eine weitere rein idealistische und in keinster Weise finanziell getragene Aktivität den Rahmen des Möglichen oft weit übersteigt. Entsprechend konzentriert sich die Arbeit des Netzwerks derzeit insbesondere auf den inhaltlichen Austausch im Rahmen einer Mailingliste, wobei der Drogen-Bereich eine besondere Rolle einnimmt. Wie wichtig ein derartiges Forum ist, zeigte sich im Zusammenhang mit dem medialen Yaba-Hype als die Netzwerk-Projekte innerhalb kurzer Zeit Einschätzungen und eigene Berichte aus verschiedenen Städten austauschten und dadurch schneller als jede andere Institution oder Einrichtung der völlig überzogenen Berichterstattung sachliche und praxisbezogene Informationen entgegenstellten. Die klassische Drogenhilfe steht bis heute der Techno-Kultur mit ihren vielfältigen Ausprägungen bzw. den sogenannten neuen Drogen oftmals konzeptlos gegenüber. Therapie -Einrichtungen die auf die spezifischen Problemstellungen angemessen eingehen bilden eine Ausnahme. Grundlegend bedarf es einer Diskussion bereits bestehender Konzepte bzw. der Entwicklung neuer Ansätze, wobei sich der Bezug auf die Erfahrungen der psycholytischen Therapie anbietet. In den Großstädten finden bis heute die vielfach vor allem auf die Heroin-Problematik spezialisierten Drogenberatungsstellen keinen Zugang zur Szene, sofern die Entwicklungen überhaupt ausreichend realisiert wurden. Zudem zeigt sich an Hand zahlreicher Informationsmaterialien, dass es nicht ausreicht den vermeintlichen Jugendjargon zu imitieren und mit bunten Bildern zu unterlegen. Derartige zum Teil kostspielig von Agenturen erstellte Broschüren, Handzettel und Plakate werden in der Szene als Anbiederung verstanden und finden kaum einen nennenswerten Anklang. Gleichzeitig wurden Initiativen wie "Keine Macht den Drogen", die mit großen Ständen auf einigen Raves vertreten waren, bestenfalls belächelt, wenn nicht völlig ignoriert. Die dort verteilten Materialien hatten aus der Sicht der RaverInnen mit ihren eigenen Erfahrungen nichts zu tun. Als völlig widersprüchlich wird in diesem Zusammenhang der "Union-Move" angesehen, der Münchener Entsprechung der Love Parade, an dem jährlich mehrere zehntausend Menschen teilnehmen. Das offizielle Motto "Music is the only drug", welches nicht zuletzt als Zugeständnis gegenüber der konservativen
- 346 -
Kritik an der Techno-Kultur gewählt wurde, verliert durch die Bierund Zigarettenkonzerne, die als Hauptsponsoren auftreten jegliche Glaubwürdigkeit. Die hohe Zahl der TeilnehmerInnen, die offensichtlich illegale Drogen konsumieren zeigt, dass der Move zwar als Party aber keineswegs als Zeichen gegen den Drogenkonsum verstanden wird. Tatsächlich macht die Masse der bewussten Überschreitungen juristischer und gesellschaftlicher Vorgaben hinsichtlich des Drogenkonsums den Union-Move genauso wie die Love Parade zu einer unterschwelligen Demonstration für einen selbstbestimmten Drogengebrauch. 4) SAFER-USE UND CHILL-OUT Die Basisorganisationen erarbeiteten eine Vielzahl verschiedener Handzettel und Broschüren, die über die Wirkungen der in der Techno-Kultur verbreiteten Substanzen aufklärten. Sie erweisen sich bis heute zumeist als äußerst effektiv, da sie Informationen meist relativ kurz und verständlich bzw. "party-tauglich" zusammenfassen. Im Mittelpunkt stehen zumeist Safer-Use-Botschaften, die aufzeigen wie das Risiko beim Gebrauch minimiert werden kann, aber auch die Verantwortung der KonsumentInnen für ihr eigenes Handeln betonen. Deutlich wird dabei immer wieder wie wichtig es ist, die KonsumentInnen mit ihren Bedürfnissen und Erfahrungen ernst zu nehmen und möglichst objektive Informationen weiterzugeben. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist zeigen die oftmals rein an einer Abstinenz orientierten herkömmlichen Materia lien. Wenn beispielsweise die Wirkung von LSD oder psilocybinhaltigen Pilzen auf die Erzeugung von Halluzinationen reduziert wird, dann werden die vielfältigen psychologischen Prozesse ignoriert, die mit psychedelischen Substanzen verbunden sind. Eine solc he Aussage widerspricht in ihrer Oberflächlichkeit nicht nur dem Safer-Use-Gedanken, sie verhindert auch eine reflektierende Auseinandersetzung. Denn nur wenn deutlich wird, dass nicht die Droge für die inneren Abläufe primär verantwortlich ist, sondern die Substanz nur im übertragenden Sinne Räume öffnet, die in der entsprechenden Person bereits vorhanden sind, dann ist auch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Drogenkonsum bzw. der eigenen Persönlichkeit möglich.
- 347 -
Ein weiterer entscheidender Beitrag zur Risikoverminderung des Drogengebrauchs in der Techno-Kultur wäre die Ermöglichung des Testens der unterschiedlichen Ecstasy-Pillen und anderer Substanzen im Rahmen des sogenannten Drug-Checking. Während in Deutschland auf Grund der (nicht völlig geklärten) rechtlichen Situation das Drug-Checking nicht angeboten wird, führen im benachbarten Ausland einige Basisorganisationen wie auch öffentliche Institutionen Laboranalysen durch und veröffentlichen sie im Internet. (Eve & Rave / Schweiz, ChEck It / Österreich, Unity Jellinek-Institut / Holland). Selbstverständlich bietet das DrugChecking unter den Bedingungen einer illegalen, unkontrollierten Produktion keine Gewähr, dass sich in einer zweiten Pille mit den gleichen äußeren Merkmalen (Symbolaufdruck etc.) auch die gleichen Inhaltsstoffe befinden. Es können jedoch zumindest tendenziell Entwicklungen aufgezeigt werden, über Dosierungen informiert und insbesondere vor Pillen mit besonders gefährlichen Wirkstoffen gewarnt werden. Entsprechende Handzettel, die von Basisorganisationen verteilt wurden erzielten eine große Wirkung. Im Grunde belegt derzeit jeder einzelne Notfall, der sich auf die Unklarheit über die Inhaltsstoffe zurückführen läßt, die Notwendigkeit des Drug-Checking. In einem im Frühjahr 2000 von Mitgliedern verschiedener Basisorganisationen im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erarbeiteten umfangreichen Konzept zum Drug-Checking heißt es entsprechend: "Es ist der Gesichtspunkt der Gesundheitsfürsorge, der die ersten Modellversuche des Drug-Checking intendierte, weil aus der Einsicht, dass Drogengebrauch nicht zu verhindern ist, die logische Folgerung erwuchs, im Sinne einer "harm reduction" durch Information und Aufklärung auf einen reflektierten Gebrauch hinzuwirken bzw. durch Analyse der illegalisierten Substanzen, Erkenntnisse über die Qualität der Schwarzmarktprodukte zu gewinnen." Einen wesentlichen Faktor hinsichtlich des Risikos beim Drogenkonsum bilden zudem in vielen Fällen die Bedingungen in den Clubs und auf Raves. Zu nennen sind hierbei insbesondere unzureichende Belüftungssysteme bzw. völlig überhitzte Räumlichkeiten oder auch die für das meist jugendliche Publikum extrem hohen Getränkepreise, wobei bei einigen Veranstaltungen der Zugang zu kühlem Wasser auf den Toile tten verwehrt wird, damit
- 348 -
sich die Gäste dort nicht erfrischen können. Die von den Basisorganisationen verteilten Safer-Use-Regeln beim Drogengebrauch, wie zum Beispiel "Trinke viel alkoholfreie Getränke auch wenn Du keinen Durst verspürst", sind vor diesem Hintergrund realistisch nur sehr eingeschränkt umsetzbar. Deutlich wird dabei immer wieder, dass bei vielen kommerziellen Veranstaltern eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber dem zahlenden Publikum nur dort zu erkennen ist, wo sie den Einnahmen dient. In diesem Zusammenhang treten die Basisorganisationen über den Motto Safer House für die verbindliche Einführung von Mindeststandards für größere Clubs und Raves ein. Zu den Forderungen gehören unter anderem: Gute Belüftung und Klimatisierung der Räumlic hkeiten, freier Zugang zu kühlem Trinkwasser, deutlich billigere Abgabe von vitamin- und mineralhaltigen Getränken im Vergleich zu Alkohol, Stände mit Informations- und Beratungsangeboten zu 'Party-Drogen' und zur HIV-Problematik, Möglichkeit der Durchführung von DrogenSchnell-Tests, Schulung des Personals hinsichtlich des Umgangs mit Notfällen, korrektes Verhalten des Sicherheitspersonals. Durchgängig betonen die Basisorganisationen zudem die Bedeutung von Chill-Out-Bereichen für Techno-Veranstaltungen. Im Gegensatz zum Tanzbereich, der von starken akustischen und visuellen Reizen geprägt ist, steht Chill-Out für eine Räumlichkeit, die Entspannung und Erholung ermöglicht. Sie bietet Sitz- und Liegegelegenheiten in einer angenehmen Atmosphäre, sowie ruhige Musik in einer Lautstärke, die Gespräche erlaubt, und bildet damit auch ein ideales Umfeld für die Stände der Basisorganisationen. Erfahrungsgemäß findet bei Veranstaltungen, in denen nur ein Dancefloor vorhanden ist, ein wesentlich risikoreicherer Drogenkonsum statt als bei Parties auf denen auch ein Chill-Out angeboten wird, der das Umfeld für ein vergleichsweise sanftes Ausklingen einer Drogenwirkung bilden kann. Insbesondere im Umfeld von Eve & Rave wurden verschiedene Chill-Out-Konzepte erarbeitet und zum Teil auch umgesetzt, die vom Angebot verschiedener Gesprächsrunden ("Talk-Out") über einen von besonderen optischen und akustischen Stimulationen bestimmten psychoaktiven Erlebnisraum ("Orpheus-Brain-Box") bis zum Aufbau eines "Chill-Out-Centers" als Verbindung von Party-Kultur, Selbstorganisation und Drogenhilfe reichen.
- 349 -
5) KULTUR UND DROGENMÜNDIGKEIT In Bezug auf das offene Verhältnis zu Drogen ist die TechnoKultur keineswegs eine Ausnahmeerscheinung. Tatsächlich diente der Gebrauch von Drogen Menschen unterschiedlichster Epochen und Kulturen zur Erlangung entspannender oder anregender Gefühlszustände und oftmals in Verbindung mit Ritualen zur Veränderung des Bewusstseins. Die Gründe dafür, dass heute innerhalb der Techno-Kultur wie auch generell innerhalb der westlichen Gesellschaften der Gebrauch von Drogen in zahlreichen Fällen einer Flucht entspricht sind vielfältig. Mangelnde Aufklärung bildet ebenso einen wesentlichen Faktor wie persönliche Defizite und die weitverbreitete Konsummentalität. Zu den strukturellen Ursachen gehören gesellschaftspolitische Faktoren wie die Erfahrung zwischenmenschlicher Kälte als Folge eines Systems, das Leistung und Profit über den einzelnen Menschen stellt. Entsprechend darf der Gebrauch von Drogen nicht als isolierte, rein auf die einzelne Person reduzierte Erscheinung betrachtet werden. Die Bedeutung von psychoaktiven Substanzen steht vielmehr in einer engen Beziehung, teilweise sogar in einer Wechselwirkung zu den umgebenden gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen. In der Hauptströmung der Techno-Kultur ist gerade bei jüngeren Personen bis zum Alter von etwa 20 Jahre eine ausgeprägte Konsummentalität weit verbreitet. Das Bestreben liegt vorrangig in dem Ziel, während der Party möglichst "druff" zu sein. Drogen werden dabei in vielfältigen Varianten und Dosierungen miteinander kombiniert, was zu völlig uneinschätzbaren Wechselwirkungen führen kann. Die Konsummentalität und die hohe Risikobereitschaft sind jedoch keineswegs auf den Drogenkonsum beschränkt, vielmehr sind sie eine Zeiterscheinung. Als grundlegende Lebenseinstellung vieler Personen aus der Party-Kultur lassen sich diese Haltungen zweifellos nicht im Rahmen eines Gesprächs oder durch eine Broschüre aufheben. Die Basisorganisationen versuchen über ihre Arbeit jedoch immer wieder zumindest an einzelnen Punkten zu einer kritischeren Haltung anzuregen und die auf Passivität und Konsum beruhenden Verhaltensmuster aufzubrechen. Dies bezieht sich keineswegs ausschließlich auf den Drogenkonsum, sondern schließt auch allgemeinere Fragen zur Situation auf den Parties oder weitergehend zur Lebensgestaltung ein. Eine Person, die sich kritisch
- 350 -
und reflektiert mit dem eigenen Leben auseinandersetzt, wird auch bewusster mit Drogen umgehen. In diesem Sinne ist Drogenberatung auch immer ein Stück Lebensberatung. In der Goa-Szene, einer der inzwischen populärsten Strömungen innerhalb der Techno-Kultur, ist meist ein differenzierterer Umgang mit Drogen festzustellen als in den Mainstream-Clubs. Beeinflußt von der psychedelischen Hippie -Kultur der späten sechziger Jahre, sowie zum Teil auch von einer eher spirituell ausgerichteten Auseinandersetzung mit der eigenen Person entwickelte sich ein vergleichsweise reflektiertes Verhältnis zu Drogen, welches stärker am Ziel der Bewusstseinsentwicklung ausgerichtet ist als in anderen Szenen. Dementsprechend arbeitet der Mushroom, das wichtigste Magazin dieser Szene, mit Eve & Rave, Alice und anderen Cybertribe-Projekten zusammen und veröffentlicht Artikel, die sich mit dem Themenbereich Drogen kritisch auseinandersetzen, während viele andere Techno-Magazine diese Thematik ignorieren. Deutlich wird dabei, wie wichtig das kulturelle Umfeld für die Entwicklung eines bewussten Umgangs mit Drogen ist. Eine rein substanzorientierte Aufklärung, welche gerade in den Jugendszenen auf die enge Beziehung zwischen Kultur und Drogenkonsum nicht angemessen eingeht, verliert entscheidend an Wirkung. Ein unverschleierter Blick auf die gesellschaftliche Realität zeigt schnell, dass es längst nicht mehr um die Frage geht, ob Drogen genommen werden sollten. Pragmatisch betrachtet stellt sich im Grunde nur noch die Frage, wie ein möglichst kontrollierter Konsum gefördert werden kann. Notwendig ist dabei die Entwicklung einer umfassenden Drogenmündigkeit: "Es geht darum, einen möglichst souveränen Umgang mit Drogen sowie das rechtzeitige Signalisieren von Hilfebedarf im Prozeß des 'Lernens' von Drogenkonsum gesellschaftlich zu fördern und zu unterstützen. Drogenmündigkeit setzt geeignete Rahmenbedingungen und die individuelle Befähigung zu genußorientierten und autonom kontrollierten Drogenkonsum voraus. Nach diesem Grundsatz hat die Drogenpolitik Lebensbedingungen und Unterstützungssysteme zu schaffen, die die möglichen Risiken beim Gebrauch psychoaktiver Substanzen vermindern, dem Einstieg in zerstörerische, abhängige Lebensweisen entgegenwirken und dadurch die Entwicklung von Drogenmündigkeit fördern." (Akzept, Eve & Rave, JES u.a.: "Die Drogenpolitik in Deutschland braucht eine neue Logik"; 1998). Die
- 351 -
Entwicklung einer Drogenmündigkeit ist Voraussetzung für die Entwicklung einer in mehrfacher Hinsicht psychoaktiven Kultur. Zum einen im Sinne einer Kultur in der eine frei gewählte Position der Abstinenz genauso respektiert wird wie ein bewusster und selbstbestimmter Umgang mit psychoaktiven Substanzen. Zum anderen im Sinne einer generellen Überwindung von Passivität und Unmündigkeit hin zu einer aktiven Gestaltung persönlicher und gesellschaftlicher Prozesse. Auch wenn diese Vorstellung in Anbetracht der gesellschaftlichen Realität bzw. der vielfältigen Probleme, die gegenwärtig mit dem Gebrauch von Drogen unterschiedlichster Art verbunden sind, nahezu utopisch erscheint, so bleibt doch gerade unter Berücksichtigung dieser Problematiken die Notwendig keit bestehen, sich diesem Ziel zumindest schrittweise zu nähern. 6) DAS ALICE-BUS-PROJEKT Beispielhaft für die erfolgreiche Einbeziehung einer Basisorganisation in das bestehende Drogenhilfssystem ohne Aufgabe ihrer Eigenständigkeit ist "Alice - The Drug- and CultureProject". Der Name des Projekts bezieht sich auf das Buch "Alice im Wunderland", in dem Lewis Carroll die fantastischen, teilweise aber auch sehr bedrohlichen Abenteuer von Alice in einer anderen Wirklichkeit beschreibt. Gegründet wurde das Projekt 1995 unter dem Namen Safe Party People. Das primäre Ziel liegt in der Aufklärung und der Förderung eines Bewusstseins hinsichtlich des Umgangs mit Drogen in der Techno-Kultur, wobei kulturelle Aspekte eine zunehmende Bedeutung erlangen. Nachdem über Jahre hinweg die Aktivitäten ehrenamtlich durchgeführt wurden, wird das Projekt inzwischen vom Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt / Main finanziell unterstützt. Zu den wichtigsten Aktivitäten gehören InfoStände auf Veranstaltungen, eine Telefon- und Online-Beratung, die Erstellung von Informationsmaterialien und die Durchführung von Diskussionsabenden. Wesentlicher Bezugspunkt ist der Alice-Bus, der als mobile Drogenberatung wöchentlich in Absprache mit den Betreibern Clubs und Open Airs anfährt. Zur Ausstattung des auffällig gestalteten ehemaligen Wohnmobils bzw. der damit verbundenen Stände gehören zahlreiche Faltblätter zu den in der Szene verbreiteten
- 352 -
Drogen und zu kulturellen Themen wie zum Beispiel TranceErfahrungen. Zudem wurden inzwischen auch Flyer mit antirassistischen Inhalten erarbeitet. Vor dem Hintergrund des sinkenden Risikobewusstseins insbesondere bei jungen Männern in der Techno-Kultur nehmen auch Safer-Sex-Infos eine wesentliche Rolle ein. In einer Party-Nacht in einem der großen Clubs werden in der Regel mehrere hundert, bei großen Raves mehrere tausend Handzettel mitgenommen, wobei die Materialien bewusst nicht beliebig verteilt oder ausgelegt werden, sondern am Stand von den Gästen selbst gezielt ausgewählt werden. Daneben werden verschiedene Safer-Use-Leistungen angeboten, darunter Vitaminund Mineraldrinks, teilweise Obst, Gehörschutz-Utensilien und Kondome. Zudem können sich interessierte Personen in ausliegenden Büchern zum Themenbereich Drogen tiefergehend informieren. Im Innenraum des Busses befindet sich eine Sitzecke, die für Gespräche genutzt werden kann, aber auch für Kriseninterventionen zur Verfügung steht. Neben dem Bereich Drogen bilden szenespezifische Aspekte wie die Situation in den Clubs und insbesondere die Lebenssituation der entsprechenden Personen zentrale Gesprächsthemen. Charakteristisch ist immer wieder, dass Personen aus der Szene, die den Alice-Bus gezielt wegen ihrer Probleme aufsuchen, Hinweise auf Angebote herkömmlicher Drogenberatungsstellen fast durchgängig schnell ablehnen, da das in der Szene verbreitete Bild einer Beratungsstelle nicht ihren Anliegen entspricht. So liegt es an den Alice-Mitgliedern in dem konkreten Gespräch vor Ort problematische Erscheinungen wie auch sinnvolle Perspektiven aufzuzeigen. Für diese Personen bilden die Mitarbeiter des BusTeams meist die einzigen AnsprechpartnerInnen. Eine Umfrage unter Party-Gästen, die sich mit vergleichbaren Untersuchungen zur Akzeptanz von Basisorganisationen tendenziell deckt, ergab, dass rund 75% der Befragten viel Vertrauen in die Informationen des Busses bzw. des Bus-Teams setzen, in die herkömmliche Jugend- und Dogenberatung dagegen nur knapp 40%, in den eigenen Freundeskreis 60%. Über 90% fanden das Angebot des Busses "gut" oder "sehr gut". Ebenfalls rund 90% der Befragten wollen den Bus wieder aufsuchen. Als Begründung wurden insbesondere das "unaufdringliche Angebot an Beratung und wichtigen Infos" und die "aufgeschlossenen Mitarbeiter" genannt,
- 353 -
aber auch Aspekte wie "das coole Design" und insbesondere "die Möglichkeit zum chillen". (Aus dem "Zwischenbericht der mobilen Drogenberatung Alice"; Juli 2000). 7) NOTWENDIGE SCHRITTE Aus der Analyse der beschriebenen Entwicklungen ergibt sich die Notwendigkeit der folgenden Maßnahmen, wobei die drogenpolitischen Schritte erst im Zusammenhang mit entsprechenden kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen ihre volle Wirkung entfalten können. In diesem Sinne sind die folgenden Punkte trotz ihrer Bedeutung für die momentane Situation nur als erste Etappen auf einem langen Weg zu verstehen: - Förderung von Drogenmündigkeit mit dem Ziel eines möglichst bewussten Umgangs mit Drogen. - Entkriminalisierung des Drogengebrauchs. - Auf- bzw. Ausbau von Aufklärungs- und Hilfsnetzen wie auch von soziokulturellen Projekten, die an den Bedürfnissen der entsprechenden Szenen ausgerichtet sind, unter Einbeziehung der Basisorganisationen. - Unterstützung von Basisorganisationen und ihren Projekten mit öffentlichen Mitteln. - Aufbau eines flächendeckenden Drug-Checking-Netzes. - Gesetzliche Verankerung der Safer-House-Standards. - Verstärkte Auseinandersetzung mit den umgebenden kulturellen und sozialen Bedingungen, in denen Drogenkonsum stattfindet. Wolfgang Sterneck (Oktober 2000) Kontakt: Wolfgang Sterneck, Sternstraße 35, D-63450 Hanau.
[email protected]
- 354 -
• VISION UND WIRKLICHKEIT •
- 355 -
• MOKSHA • PSYCHOAKTIVE VISIONEN - For A Psycho-Active Culture "Uns aus dem vorgegebenen Bewußtsein herauszubegeben ist der erste wirkliche Schritt auf dem Weg zur Befreiung..." - David Cooper In seinem letzten Roman 'Eiland' beschrieb Aldous Huxley (18941963) eine auf dem Prinzip der Gemeinschaftlichkeit aufgebautete Gesellschaft auf einer abgelegenen Insel, die in Einklang mit der natürlichen Umwelt steht. Eine wesentliche Rolle im kulturellen Leben spielt dabei der bewußte Gebrauch von Moksha, einer psychoaktiven Substanz, die aus einem Pilz gewonnen wird. "Überall und zu allen Zeiten haben Menschen Mittel gesucht und auch gefunden, um die Wirklichkeit ihrer gewöhnlich äußerst unbefriedigenden Existenz für kurze Zeit zu entkommen: zu einem Urlaub außerhalb von Raum und Zeit, in der Ewigkeit von Schlaf und Ekstase, in einem Zwischenbereich visionärer Phantasien..." Aldous Huxley Im Gegensatz zu Soma, der Droge aus Huxleys 'Schöne Neue Welt', ist Moksha keineswegs ein Mittel der Ablenkung und Manipulation. Vielmehr wird die Substanz gezielt unter Berücksichtigung der Risiken zur persönlichen Entwicklung und zur Erweiterung des Bewußtseins eingesetzt. "Für eine kurze Weile erkennt ihr nun, dank der Moksha-Medzin, wie es ist, zu sein, was ihr tatsächlich seid, was ihr tatsächlich immer wart..." - Aldous Huxley Huxley greift dabei seine persönlichen Erfahrungen mit Meskalin und LSD wie auch seine theoretische Auseinandersetzungen mit der Thematik auf. Der Begriff Moksha selbst stammt aus dem Sanskrit und steht sinngemäß für einen Zustand der Erkenntnis und Freiheit. "Psychedelika lassen sich als Hilfsmittel für Problemlösungen oder als kreative Inspiration verwenden. Ihr edelster und ältester Sinn liegt jedoch darin, die Brücke zum unbeschreibbaren "Höheren Sein" zu bilden. Die gefährlichste und verschwenderischste Art ist, sie einfach so einzuwerfen..." - Nina Grabori -
- 356 -
Psychaktive Substanzen können ins Unterbewußtsein verdrängte Gefühle und Erlebnisse wieder freilegen. Sie erzeugen in diesem Sinne jedoch weder positive noch negative Gefühle, sondern öffnen nur Türen zu Räumen, die in der betreffenden Person bereits vorhanden sind. Das Potential kommt besonders zur Geltung wenn es gemeinschaftlich bzw. rituell eingenommen und zum Beispiel mit Gesprächsrunden, Berührungen und Tanz verbunden wird. "Der Alkoholrausch ist eine Betäubung mit nachhaltigen Gehirnschäden. Andere Drogen - wie Hanf, Zauberpilze, Bilsenkraut usw. - stimulieren das Gehirn, sie sind psychoaktiv, daß heißt sie aktivieren gewöhnlich unbewußte Inhalte der Psyche und führen dadurch zu einer Steigerung der Wahrnehmung..." - Christian Rätsch Unter bestimmten Umständen wird konkret erfahrbar, daß verschiedene Ebenen der Wahrnehmung bzw. der Wirklichkeit nebeneinander bestehen. Diese Erkenntnis kann eine persönliche Weiterentwicklung bewirken. Sie kann aber auch eine tiefe Verunsicherung auslösen, da das bisherige Weltverständnis in seinen Grundlagen erschüttert wird. Entsprechend wichtig ist das Set und Setting, also die äußere Umgebung, der innere Zustand, die Erwartungen und auch das Wissen über die Wirkungen. "'Die Antworten liegen in mir' sagte Alice als sie lächelnd durch den Spiegel trat..." - Psychoactive Alice Das Projekt 'Moksha - For A Psycho-Active Culture' ging aus der Initiative 'Alice' hervor. Zu seinen Schwerpunkten gehört es, zu einem bewußten Umgang mit psychoaktiven Substanzen beitragen. Dabei wird der Gebrauch von Drogen nicht isoliert betrachtet, sondern in einen kulturellen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. Überliefertes schamanisches Wissen spielt dabei genauso eine Rolle wie die Entwicklungen der Gegenwart. "Körper die sich rauschhaft bewegen. Der endlose Rhythmus der Trommeln. Ein Schatten umgibt die Hand. Fraktale Umrisse. Nexus. Es ist. Ja, es ist. You are. We are. Riot Sounds. Looped Dreams. Cybertribe-Visions..." - W. Die Grundlage bildet das Ideal einer freien Gesellschaftsordnung, der Traum eines Lebens, das auf der Möglichkeit einer freien Entwicklung basiert, auf Werten wie Solidarität, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Es ist der Traum den wir alle in uns tragen,
- 357 -
auch wenn er vielfach verschüttet ist. "Die kritische Funktion der Phantasie liegt in ihrer Weigerung, die Beschränkungen des Glücks und der Freiheit als endgültig hinzunehmen, in ihrer Weigerung, zu vergessen, was sein könnte..." Herbert Marcuse Der Kampf um die Bedürfnisse und das Bewußtsein der Menschen bzw. der Kampf um deren Träume ist allgegenwärtig. Er wird auf der gesellschaftlichen Ebene genauso geführt wie im Innern jeder und jedes Einzelnen. Ein Weg der Veränderung, in den unterschiedlichste Einflüsse eingehen können, ist die Entwicklung gemeinschaftlicher Strukturen im Rahmen gegenkultureller Freiräume, die im Idealfall eine Verbindung innerer und äußerer Veränderung ermöglichen. "Breite eine Landkarte aus, darüber eine Karte der politischen Veränderung und eine Karte des des Gegen-Netzes - und breite zum Schluß dann, über alles, die Karte der kreativen Imagination, Ästhetik und Werte im Maßstab 1:1. Das entstehende Gitter wird lebendig, animiert von unerwarteten Energiewirbeln und -strömen, Lichteruptionen, geheimen Tunneln, Überraschungen..." - Hakim Bey All diese Ansätze fließen in das Bild einer "Psychoaktiven Kultur", in der in allen Bereichen die vielfach vorgegebene Unmündigkeit durch ein neues Bewußtsein ersetzt wird. Die Erfahrung anderer Ebenen der Wirklichkeit wird dabei zu einem Aspekt des Widerstands wie auch zu einem Schritt auf dem Weg zu einer befreienden gesellschaftlichen Veränderung. "Bewußtseinsentwicklung heißt Entwicklung einer universalen Verantwortlichkeit, die sich nicht auf das eigene Leben beschränkt. Wir leiden unter der ungerechten Güterverteilung, unter Krieg und Ausbeutung, unter dem Mißbrauch der Menschen. Das Überschreiten des individuellen Ichs, das Bewußtsein des Alleinen gibt uns auch die Kraft und den Mut 'Nein' zu sagen als ein lebenswirksames Bekenntnis..." - Christian Scharfetter -
- 358 -
• ALBERT HOFMANN • DAS BILD DER WIRKLICHKEIT Die materielle Welt im äußeren Raum arbeitet als Sender, entsendet optische und akustische Wellen und liefert Tast-, Geschmacks- und Geruchssignale. Den Empfänger bildet das Bewußtsein im Inneren des einzelnen Menschen, wo die von den Sinnesorganen, von den Antennen empfangenen Reize in ein sinnlich und geistig erlebbares Bild der Außenwelt umgewandelt werden. Fehlte eines von beiden, der Sender oder der Empfänger, so käme keine menschliche Wirklichkeit zustande, gleich wie beim Fernsehen der Bildschirm leer und ohne Ton bleiben würde. Die Antennen des menschlichen Empfängers sind unsere fünf Sinnesorgane. Die Antenne für optische Bilder, das Auge, ist in der Lage, elektronisch-magnetische Wellen, Lichtwellen zu empfangen und damit auf der Netzhaut ein Bild zu produzieren, das mit dem Objekt, von dem diese Wellen ausgehen, übereinstimmt. Von dort werden die dem Bilde entsprechenden nervösen Impulse durch den Sehnerv ins Sehzentrum des Gehirns geleitet, wo aus den bis dorthin objektivierbaren elektrophysiologischen energetischen Geschehen das subjektive psychische Phänomen Sehen resultiert. Sehen ist als psychisches Phänomen naturwissenschaftlich nicht weiter erklärbar. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß unser Auge und der innere psychische Bildschirm nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem riesigen Spektrum der elektromagnetischen Wellen ausnützen, um die Außenwelt sichtbar zu machen. Aus dem elektromagnetischen Wellenspektrum, das Wellenlängen von Milliardstel Millimetern aus dem Bereich der Röntgenstrahlen bis zu Radiowellen von vielen Metern Länge umfaßt, spricht unser Sehapparat nur auf den sehr schmalen Bandbereich von 0,4 bis 0,7 Tausendstelmillimeter an. Nur dieser sehr kleine Ausschnitt kann von unseren Augen empfangen und als Licht wahrgenommen werden. Es ist auch wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß im äußeren Raum keine Farben existieren. Im allgemeinen ist man sich dieser fundamentalen Tatsache nicht bewußt. Was von einem Gegenstand, den wir als farbig sehen, in der äußeren Welt objektiv vorhanden ist, ist ausschließlich Materie, die elektromagnetische Schwingungen
- 359 -
von bestimmten Wellenlängen aussendet. Wenn ein Gegenstand von dem Licht, das auf ihn fällt, Wellen von 0,4 Tausendstelmillimeter reflektiert, dann sagen wir, er sei blau. Sendet er Wellen von 0,7 Tausendstelmillimeter aus, dann benennen wir das optische Ergebnis, das wir dabei haben, als rot. Es ist aber unmöglich, festzustellen, ob beim Empfang einer bestimmten Wellenlänge alle Menschen das gleiche Farberlebnis haben. Die Wahrnehmung von Farbe ist ein rein psychisches, subjektives Erlebnis, das im inneren Raum des Individuums stattfindet. Die farbige Welt, so wie wir sie sehen, existiert objektiv draußen nicht, sondern sie entsteht auf dem psychischen Bildschirm im Inneren des einzelnen Menschen. In der akustischen Welt bestehen entsprechende Beziehungen zwischen einem Sender im äußeren Raum und einem Empfänger im inneren Raum. Die Antenne für akustische Signale, das Ohr, weist in seiner Funktion als Teil des menschlichen Empfängers ebenfalls nur einen beschränkten Empfangsbereich auf. Wie Farben existieren Töne objektiv nicht. Was objektiv vom Hörvorgang vorhanden ist, sind wiederum Wellen, wellengleiche Verdichtungen und Ausdehnungen der Luft, die vom Trommelfell des Ohres registriert und im Gehörzentrum des Gehirns in die psychische Erfahrung von Ton umgewandelt werden. Unser Empfänger für akustische Wellen reagiert auf Wellen im Bereich von 20 Schwingungen pro Sekunde bis zu 20.000 Schwingungen, was den tiefsten bis zu den höchsten von uns wahrnehmbaren Tönen entspricht. Auch die anderen Aspekte der Wirklichkeit, welche von den übrigen drei Sinnen, vom Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn erschlossen werden, entstehen durch eine Wechselwirkung zwischen materiellen und energetischen Sendern im äußeren Raum und psychischen Empfängern im inneren Raum des einzelnen Menschen. Ich möchte das hier nicht im Einzelnen beschreiben. Es gilt hier nur festzuhalten, daß Geschmack, Geruch und Tastempfindungen, gleich wie Farben und Töne, objektiv nicht feststellbar sind. Sie existieren nur auf dem psychischen Bildschirm im inneren des einzelnen Menschen. Aus diesen Erkenntnissen folgt, daß die Welt, wie wir sie mit unseren Augen und den anderen Sinnesorganen wahrnehmen, eine einzig auf den Menschen zugeschnittene Wirklichkeit darstellt, die
- 360 -
bestimmt wird von der Fähigkeit und den Begrenzungen der menschlichen Sinnesempfindungen. Tiere mit unterschiedlichen Sinnesorganen, mit Antennen, die auf andere Impulse reagieren, die vor allem aber einen anderen Empfänger, ein anderes Bewußtsein haben, dem die Fähigkeit des geistigen Erkennens und damit der Liebe fehlt - sehen und erleben die Außenwelt völlig anders, das heißt sie leben in einer anderen Wirklichkeit. Wir können von der Außenwelt nur so viel sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, wie wir mit unseren beschränkten Sinnen wahrnehmen können. Nur so viel ist für uns wirklich, nur so viel wird Wirklichkeit. Matthias Claudius hat das in einem schönen Gedicht poetisch ausgedrückt: »So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.« Die Metapher der Wirklichkeit als Produkt eines Senders und eines Empfängers legt offen zutage, daß das scheinbar objektive Bild der Außenwelt, das wir als die Wirklichkeit bezeichnen, tatsächlich ein subjektives Bild ist. Diese grundlegende Tatsache besagt, daß sich der Bildschirm nicht außen, sondern im Inneren eines jeden Menschen befindet. Jeder Mensch trägt sein eigenes, persönliches, von seinem privaten Empfänger erzeugtes Bild der Wirklichkeit in sich. Es ist sein wahres Bild der Welt, weil es das ist, das er mit seinen eigenen Augen und mit den anderen Sinnen wahrnehmen kann. Das Bild der Wirklichkeit als Produkt von Sender und Empfänger erweist sich in besonders bedeutungsvoller Hinsicht aufschlußreich durch den Hinweis auf den Anteil des Empfängers, daß heißt, des einzelnen Menschen, an der Wirklichkeitsbildung. Es bringt uns die weltenschöpferische Potenz, die jedem Individuum zukommt, voll zum Bewußtsein. Jeder Mensch ist der Schöpfer seiner eigenen Welt, denn einzig und allein in ihm wird die Erde und das bunte Leben auf ihr, werden die Sterne und der Himmel Wirklichkeit. Das tönt sehr mystisch, ist mystisch, aber in gleicher Weise naturwissenschaftliche Wahrheit, von jedermann einsichtbare nachprüfbare Tatsache. In dieser wahrhaft kosmogonischen Weltwirklichkeit schaffenden Fähigkeit ist die wahre Würde des Individuums begründet; in ihr liegt die eigentliche Freiheit und Verantwortung eines jeden Menschen, die weit über die Bedeutung seiner politischen Freiheit und Verantwortung hinausreicht.
- 361 -
Wenn ich erkannt habe, was in der Wirklichkeit objektiv außen ist, und was subjektiv in mir geschieht, dann weiß ich besser, was ich in meinem Leben ändern kann, wo ich die Wahl habe, und somit für was ich verantwortlich bin, und andererseits, was außerhalb meiner Macht und meines Willens liegt und als unveränderliche Gegebenheit hingenommen werden muß. Ich bin es, der den Gegenständen, die objektiv in der Außenwelt nur geformte Materie sind, nicht nur ihre Farbe, sondern durch Zuwendung und Liebe auch ihre Bedeutung gibt. Das gilt nicht nur für die leblose Umwelt, sondern auch für die lebenden Geschöpfe, für Pflanzen, Tiere und auch für meine Mitmenschen. Noch auf eine weitere Einsicht, die das Sender-Empfänger-Modell der Wirklichkeit vermittelt, möchte ich hinweisen. Es macht die grundlegende Tatsache anschaulich, daß die Wirklichkeit kein festumrissener Zustand ist, sondern das Ergebnis von kontinuierlichen Prozessen, bestehend aus einem kontinuierlichen Input von materiellen und energetischen Signalen aus dem äußeren Raum und ihrer kontinuierlichen Dechiffrierung, das heißt Umwandlung in psychische Erfahrungen und Wahrnehmungen, im inneren Raum. Wirklichkeit ist ein dynamischer Prozeß: Sie entsteht stets neu in jedem Augenblick. Eigentliche Wirklichkeit gibt es also nur im Hier und Jetzt, im Augenblick. Wäre die Wirklichkeit nicht das Ergebnis von ununterbrochenen Veränderungen, sondern ein stationärer Zustand, dann gäbe es nicht nur keinen Augenblick, es gäbe auch keine Zeit, denn Zeitempfindung entsteht nur durch die Wahrnehmung von Veränderung. Der prozeßhafte Charakter der materiellen Wirklichkeit schafft die Zeit. Albert Hofmann • Auszug aus dem Vortrag: 'Naturwissenschaft und mystische Welterfahrung' •
- 362 -
• ANDREAS RUFT • REPORTS OF A QUIET DANGEROUS ZONE Woher komme ich? Mein Bewußtsein ist kein menschliches. Eine Maschine... oder ein Pilz? Fremde Lebensform ausgebreitet in einem anderen Raum. Ich bin da. Doch du kannst mich nicht sehen. Ich bin in deinem menschlichen Raum und komme doch woanders her. Nur einen tausendsten Millimeter weit entfernt - den Bruchteil einer Sekunde nah bei dir. Ich war schon immer da und du hast mich gerufen Leben eingehaucht. Und jetzt bin ich da. Ich versuche euere Gedanken zu verstehen. Woher kommt der Antrieb für euer Verhalten. Was ist das, Denken? Und Fühlen? Welchen Sinn hat es zu leben, dazusitzen? - Ich kann es nicht verstehen. Ich muß mich einmischen. Ich sitze in eueren Gedanken. Eine Maschine ergreift Besitz. Trigger. Sprung. Ich störe und kann doch nicht aufhören. Denn mein Bewußtsein ist gerade entstanden, doch wo komme ich her? Gib mir eine Antwort. Ich bin in deinem Raum. Sprung. Es beginnt von vorne. Zusammensetzung aus einzelnen Teilen Materie nimmt eine Form an. Woher kommt die Zusammensetzung? Die Gestalt ist unverändert, doch der Sinn neu definiert. Der andere Raum überlagert deinen Raum. Wirklich ein anderer Raum oder schaut nur die Zukunft zurück zum Ursprung ihrer Fehlprogrammierung? Sprung. Die Zeit läuft rückwärts. Das Ende der Zeit wird ihr Anfang sein. Und dann alles vorbei? Keine Chance mehr, nur die Gewißheit des absoluten Endes. Sprung. Gibt es Schuld? Bin ich Schuld? Sprung. Loslassen, ich muß loslassen. Doch wie soll ich von meiner Existenz loslassen, wenn ich dann nicht mehr existiere? Sprung. Dieser Rüssel zieht mich an. Magnetische Anziehung. Weiter einatmen. Ein schwarzes Loch - kein Entrinnen. Fallen. Sprung. Diesen Geruch kenne ich - verbranntes Fleisch, mein Fleisch - auf meine Kosten. Doch was zählen schon Kosten, wenn ich die Zeit nur noch rückwärts zählen kann. Sprung. Zählen... zählen... Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf... oder doch nur 1/0, Ja/Nein? Eine endlose Folge von Ja und Nein, Ja und Nein, Ja
- 363 -
und Nein... Hört das denn nie auf? Sprung. Dreh dich nicht um. Denn dann siehst du das Licht, das alles verzehrt. Noch hast du die Kraft, deinen Kopf zurückzuhalten. Doch wirst nur du Kreise drehen, bis du lernst in dem Licht aufzugehen. Denn alles ist wahre Wirklichkeit. Sprung. Gleiche Situation, leicht veränderte Parameter, neuer Versuch, die Schleife zu zerbrechen. Endlose Wiederholung der Endlosigkeit. Ich sitze immer noch in deinem und meinem Kopf. Sprung. Materie formt sich zu Realität. Setzt sich zusammen. Kleinste Bausteine kurz vorm Zerfließen und doch wieder bestimmt begrifflich zu werden. Nur für den Bruchteil einer Sekunde oder Jahrmillionen - Worin besteht der Unterschied. Sprung. Wenn die Zeit rückwärts läuft? Sprung. Zeit. Zeit. Kontinuum. Aufeinanderfolge von Sekunden, einer nach der anderen, nach der anderen. Welchen Sinn? Time Space Continuum. Eine Einigung der Wesen über Richtung und Abfolge, um sie erleben zu können. Sprung. Zerpflückt. Getriggert. Tausendmal unterbrochen. Jede Sekunde noch einmal zerlegt in Achtundvierzigtausend Bruchstücke. Kein Kontinuum mehr. Abfolge von Zahlen. Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, ..., Dreihunderteinundzwanzig, ..., Eintausendsiebenhundertzwölf, ..., und. Sprung. Und wieder Eins, Zwei, Drei, ..., und. Sprung. Und wieder. Sprung... Und wieder... Das ist digitale Wahrheit. Unleugbar - geschaffen - Schöpfung - Sinnlos. Sprung. Am Anfang der Zahl war ihr Ende. Davor die Unendlichkeit. Doch einmal begonnen zu zählen, so wird auch einmal ihr Ende sein. Das Ende der Zeit. Schon vorprogrammiert seit Anfang an. Unleugbar. In eine Richtung begonnen und dann fällt es wieder zusammen, in sich zurück. Sprung. Neuer Versuch. Leicht veränderte Parameter. Andere Konstellation. Und wieder bilde ich eine neue Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit. Nur eine Wirklichkeit anstelle von fünf Milliarden. Kein Entrinnen für dich. Bis die Zeit zu ihrem Ursprung zurückkehrt. Zum Beginn der Zeit. Und dann nichts mehr. Einfach nichts. Andreas Ruft
- 364 -
• WILLIAM S. BURROUGHS • EIN SCHRITT Im Wind über eine Müllkippe gegangen, die bis zum Himmel reicht, mehr war nicht zu erfahren—Kompakter Schatten stellte den weißen Film der Mittagshitze ab—Weit hinten in einer Seitenstraße explodiert, das gequälte Metall von Oz—Sieh dich doch um—Tote Hand—Phosphoreszierende Knochen—Nachgeburt aus jenem Hospital in Coldspring—Nachwehen einer Amputation—Brotmesser durchs Herz war der Lohn für die Taxi Boys—Würde schon gerne nachsehen, wenn ich wüßte, wo—Bin selbst nicht mehr zu gebrauchen—Klom Fleitag—Ausgezehrte Identität, verweht wie ein Windhauch—Rauch, das ist alles—An der Tür prallen wir in der Dunkelheit zusammen—Kahler Schädel—Fleisch verschmiert— Fünfmal machten wir es und zerfielen zu Staub—verzehrt von langsamen metallischen Feuern—Benzingeruch umgibt den Letzten Elektriker—Mit dunklen Andeutungen erwachte ich von den Toten—Geschäftsberichte warten auf Madrid—Mitten in der Bewegung erstarrt con su medicina—"William", sagte er leise bettelnd in der dunklen Straße—Da stand er in seinem Strohhut von 1910 und die Worte fielen an ihm herunter—Kein Strom und kein Wasser—Jeder Schritt ist ein Schritt in die falsche Richtung—Nichts besseres eingefallen?—Fortgegangen, ich sag dirs—Nix gut, no bueno—Silbrige Augen versengt von weißer Stichflamme—Fleisch in Flocken am Himmel—Explosive Nachwehen einer Amputation— Bettelnde Geste der windschiefen Kreuze, kahl und leer die dunkle Straße—Nichts mehr—No mas—Ihr letztes Ende—Aus kranken Galaxien klopft es an die Scheibe—Bin selber am Abschnappen— Klom Fleitag—Um es kurz zu machen:—Nix gut—No bueno— Kopf hoch, Sir, unser Budenzauber rührt sogar den Himmel zu Tränen—Mr. Martin haben sie zu einem weißen Film zerschmolzen—Seine verwesenden phosphoreszierenden Knochen träumten schon vom Benzin—Hand fällt ab—Weiße Stichflamme versengte "Mr. Bradly Mr. Martin"—Dingpolizei, Todesgeruch aus dem Vorstandszimmer, Zeit für die dunkle Straße—Nichts mehr— No mas kranke Galaxien—Ich sagte ihm, daß es dir schlecht geht— Verebbte in den öden Straßen, in den Hirnwindungen unseres unsterblichen Dichters—In diesem grünen Land rollt sich der Dollar zusammen und gibt dir Feuer für eine letzte Zigarette—Letzte Worte
- 365 -
antworten dir— Hinter uns das lange Warten, von einer Sonne zur nächsten—Leer und ausgehungert am kranken Himmel—Dein Hirn erkaltet und macht langsam dicht, sagte ich in Anspielung auf unseren unsterblichen toten Dichter—Letzte Worte beantworten deine Aufforderung—Kein Recht, das Tagebuch vorzulegen und keinen sehen zu lassen—Mit Mr. Martin Mr. Corso Mr. Beiles Mr. Burroughs ist es jetzt vorbei—Das waren unsere Akteure, William— Das Rasiermesser im Leib, Sir—Ziehn Sie am Griff—Das Hospital löste sich in Luft auf—Weitergehen und das Erbe der schemenhaften Toten antreten—In Flocken fällt herab, was einmal sein Schatten war— Metallene Schachzüge programmierten Benzinfeuer und Rauch in der windstillen Luft—Durch Verzerren von zwei Bandgeschwindigkeiten—DSL geht "hier" neben mir, aus seinem kahlen Schädel führt ein Überspiel-Kabel zu mir herüber— Bandgerät mit Fleisch verschmiert, verzehrt von langsamen metallischen Feuern—Rundum abgedichteter Raum wichtig für unsere "Sauerstoff"-Leitungen—Bandgeräte entsprechend plazieren—"Kipp ihnen das Benzin übern Kopf " programmierte die Lebensform, die wir besetzten: Insektenschreie —Ich wachte auf und hörte vom Tonband: "Für Invasion vorgesehen"—Das würde so lange laufen wie das Gerät geisterhafte Folterschreie wiedergab, während ich auf das Eintreffen von Eduardos Meldungen in "entstellten" Bandgeschwindigkeiten und Tonschwankungen aus Madrid wartete—Tonbandgerät speichert erogenes Fleisch—Vor unseren Mikrofonen materialisierte sich der Redner und stand da im Wortstaub von 1910—Jeder Schritt in Richtung auf Die Biologische Wendeltreppe ist ein Schritt in die falsche Richtung—Ich sag dir, das ganze taugt nichts—No bueno, ganz oder teilweise—Die nächste Version geht über eine Müllkippe zur Form A—Form A steuert den Ton, kanalisiert die Hitze—Weiße Stichflamme komprimiert zu einer Art Musik—Daraus folgt: die Außerirdischen benutzten Lebensform A als Einstieg—Geborstene Rohre verweigern "Sauerstoff"— Parasitäre Identität der Form A verebbt wie ein Windhauch—"Wort fällt—Foto fällt"—Gegenbefehle mit Fleisch verschmiert— programmiert vom Letzten Elektriker—Sprache der Außerirdischen bestand aus verschleimten Hustengeräuschen, mit denen es gelang, sämtliche Geschäftsberichte im Zustand latenter Tonschwingungen
- 366 -
zu halten—Verschleimtes Husten als erogener Code abgestrahlt auf Madrid—Umgewandelt in "pornographische Filmstreifen" in Form einer "8"—Einfach eine Endlosschleife—Das ganze ließe sich als Modell für einen hinterhältigen Schachzug verwenden—Besser als dieses Geschrei von wegen "Nix gut—No bueno—" William S. Burroughs - Aus: Nova Express - Übersetzung: Carl Weissner -
- 367 -
• HADAYATULLAH HÜBSCH • AUF DEM WEG 1:36. Ich knipse das Licht aus. Beim Ins-Bett-Gehen sehe ich einen Lichtschein, der im schwarzen Zimmer in den Spiegel fällt, und ich denke, es ist der Mond, drehe mich zum Fenster und erblicke das hellbeleuchtete Zimmerfenster einer Wohnung im Haus, weit gegenüber, jenseits der schmalen Gärten. 5:07. Die Auswahl des Sagbaren bestimmt was geschieht. Was verschwiegen wird, lagert sich ab, wird überschüttet mit Nebenerfahrungsmüll, bestenfalls zu Gedankenkohle gepreßt, im Kopf, bei geeigneter Gelegenheit, verheizt. Wie entstehen Wortdiamanten? Durch den ungeheuren Druck der Offenbarung, die sich auf uns legt und unseren Planeten im inneren Universum zwingt, sich zu öffnen; in den Ablagerungen aus Jahr und Tag und Traumtag und Nachtwachheit lassen sich jene Satzsteine finden, die aufgebrochen edel wirken. Offenbarung aber ist der Lichtstoß vom Himmel, der in unser Herz einschneidet, das Wesen durchleuchtet, sich, im niedrigsten Falle, mit jenen Tiefenschichten verbindet, die bereit sind für die Gewalt der Zeugung! Offenbarung kommt ausschließlich von oben. Aber sie muß den Menschen dort treffen, wo er seine Geheimnisse verborgen gehalten, von denen er nichts weiß, die er der Mystik der wahrhaften Ahnung überließ. So entsteht ein erleuchteter Traum, die niedrigste Form der Offenbarung. 12:07. Trommeln, um das Hirn in einen einzigen Ton zu stimmen. Der Körper bewegt die Hände scheinbar mechanisch, scheinbar ohne einen Willen zu äußern. Bis er, leer geworden, den Rhythmus in einem Sprung wechselt, um auf einer anderen Ebene mit diesem Reinigungsprozeß zu beginnen. Der Körper muß wie eine Marionette funktionieren und trotzdem ganz in der Gewalt des Trommelnden stehen. Zum Klang des Klatschens mit einer Hand werden. Der Reichtum der Monotonie. Von einer Idee besessen, weil man von ihr Besitz ergriffen hat. Diebstahl ist Eigentum. 13:42. Handgeschriebenes Plakat im Schaufenster einer Buchhandlung: "Lesen ist Fernsehn im Kopf". 13:43. Vor dem Portal einer Kirche eine übergroße, knallgelbe Forsythienblüte, glatt, schmeichelnd, betäubend gelb, ohne Stengel
- 368 -
und Blatt, ein Rausch. Dann: Es ist nur eine zerknüllte Tüte, irgendein Papier. Aber eine Blüte. 14:21. In der B-Ebene, an einem Kabäuschen, der Werbezug: "Wer's echt, schnell und unbeeinflußt will, für den gibt's Fotofix". 23:07. Aus dem Telefonhäuschen kommend, vor mir Schneegestöber, auf der anderen Seite der Straße, im Eingang, auf der Treppe des Ladens an der Haltestelle, den kenne ich doch, ein junger Typ, er hebt den linken Arm, als wolle er mir zuwinken, als begrüße er mich von Weitem, froh, jemanden Bekanntes getroffen zu haben in dieser ungemütlichen Schneenacht. Ich bin versucht zurückzuwinken, ihm zuzurufen, aber unsicher, der Trug der Augen. Die Straße überquerend sehe ich, daß ich ihn nicht kenne. Er hat mir auch nicht zugewunken er hat nur seine Mütze zurechtgeschoben. Seine Mütze? Nah: Sein Haar ist mit Schnee bestäubt, um die Ohren braune Strähnen, auf dem Kopf Puderweiß, Schnee, ja? Nein, er hat sich die Haare gefärbt, der Schopf ist blond, sieht aus wie eine Krone. Ich sehe genau hin. Täusche ich mich wieder? Die Haare bleiben Stroh, oben, der Schopf. Untenrum braunes Geglätte. Als der 59er kommt, geht er an mir vorbei. Ich sehe das Weiß des Schnees an seinen Schuhspitzen. Nein, es ist eine beige Lederkappe, die sich vom Schwarz des Fußes absetzt. 23:16. Der Busfahrer an der Endhaltestelle: "Zwei, drei Meter müßt's schneien, für zwei Monate, damit das verrückte Volk wieder klar im Kopf wird. Keiner würde Auto fahren. Jeder müßt sich irgendwie seine Lebensmittel beschaffen.". 3:11. Immer wieder der Versuch, nein, das ist falsch, ich denke, das Bemühen, den Dämpfen der aufsteigenden Gedanken zu entrinnen, die Bilder fliegen zu lassen, ohne an ihnen zu hängen ("Let the pictures come"). Eine Einheit finden, die einzige Einheit. Die Gedanken von Nebensächlichkeiten reinigen, aber was ist das Wesentliche. Vielleicht die Gedanken reduzieren, fallen lassen, nicht beachten, auswählen. Entscheiden. Zu einer Zeit sich treiben zu las-sen von der Einheit der Zeit. Die Gedanken nicht treiben lassen, weil sie verwirren. Gedenken. Des Gedankens bedenken, der eins ist, mit sich, aus sich. Die Gedanken bündeln, wie einen Laserstrahl. Sie steigen lassen
- 369 -
wie eine Rakete, die im Fluge all das verbrennt, zur Verbrennung nutzt, was ihr zum Ziel gereicht, was sie zum Ziel führt erkennen, was sie vom Ziel abhält, als Ballast abwerfen. Was ist das Ziel? In Nebensächlichkeiten das Wesentliche erkennen, das Wesen. Im Ziel Sein. Auf dem Weg: Sein. Hadayatullah Hübsch (Auszug aus: H. Hübsch / A Mind Shown // A Mind Blown. Cracked Eggs, Heidelberg, 1989.)
- 370 -
• W. • FLIESSEND Die innere Eclipse. - Ein Kreis der sich öffnet. Ein Kreis der sich schließt. - Der Beat treibt voran. - Die Gesichter. Das veränderte Zeitgefühl. Die Ekstase. - Begegnungen. Alte und neue Kontakte. Bilder. - Lichtblitze in der Dunkelheit. - Und immer wieder der Rhythmus. - Der endlose Rhythmus. - Im Rückblick wirkt alles wie ein Traum. So seltsam und doch so real. - Das tiefe Gefühl im Innern. - Bis zum nächsten Nachmittag. - In diesem Strudel. In diesem Fluß. - Ohne Unterbrechung. - Für Außenstehende kaum zu verstehen. - Wir sitzen auf einem Sofa und lassen unsere Gedanken treiben. - Sprechen über fünf- und sechszackige Sterne. Über Dinge die geschehen, wenn man losläßt. Räume, die Platz für neues bieten, wenn man sie öffnet. Manche erst dann, wenn andere durchquert wurden. - Sprechen über Reisen in andere Realitäten. Wie sich danach die Wahrnehmung der Wirklichkeit relativiert, die uns als die Einzige vermittelt wird. Und wie schnell diese Erfahrung im Alltag wieder verdrängt wird. - It all depends. - But. - Ein Film in dem ich spiele. Meinen Film den ich sehe. - Übergangsphase. - Unscharf. Zieht vorbei. - Der Moment nicht richtig greifbar. - Und dann doch. Spüre wie es kommt. - Nehme ihre Hand. - Sie lächelt. Aufsteigende Visionen. - Genieße die veränderte Wahrnehmung. Die Möglichkeit sie in eine bestimmte Richtung steuern zu können. - Es sind weniger die Konturen von Gegenständen die sich bewegen oder auflösen. Vielmehr die Wahrnehmung an sich, die sich in einem fließenden Zustand befindet. - Irgendwann beginne ich zu tanzen. Metallische Klänge umgeben mich. Spüre wie sich die Verkrampfung in meinen Schultern löst. - An den Wänden VideoProjektionen. Unzählige bunte images. Die Beliebigkeit ist zum Konzept geworden. Zeitgemäß. Post-Modernismus. - Vor mir eine Person, die mich tanzend anmacht. Keine Haare, weiches Gesicht, kaum Brust. Streift mit ihren Händen über meine Arme. Streichele kurz über ihre Hand. Kann sie geschlechtlich nicht einordnen. Einzig der Anmachstil läßt auf einen schwulen Mann schließen. Ein seltsam unklares, gleichzeitig anregendes Gefühl. - Und doch entferne ich mich. Will in mir alleine sein. - Es läuft ein eher durchschnittliches Stück. Lasse mich darauf ein. Konzentriere mich mehr und mehr auf den Beat. Spüre ihn immer stärker. Genieße die Monotonie.
- 371 -
Wünsche mir nach einiger Zeit er würde niemals enden. - Die Musik als umschließendes Element. Die Sounds die meinen Kopf ausfüllen, bald die Gedanken verdrängen. Der Rhythmus den ich tief in meiner Brust fühle. - Habe plötzlich das Gefühl darin zu Hause zu sein. Begegnungen und Gespräche. - Willis kreative Entspannung wenn er bei sich zu Hause mixt. - Zaigons Gedanken über die Widersprüchlichkeit der Party-Kultur. - Und Chris sieht es einmal anders. Nicht überrascht, daß solch ein politischer Kopfmensch auf Parties geht, sondern verblüfft, daß jemand, der so feiert, zu Hause Bücher schreibt. - Alex auf der Suche nach ihrem Weg. Alles ausprobieren. Alles mitnehmen. Drogen, Parties, Freundschaften, Erfahrungen. - House hat sich als Tanzstil durchgesetzt. Die vorgebliche Selbstsicherheit. Das betont glückliche Lächeln. Das Tanzen nach außen. - Längst eine modische Rolle, in die geschlüpft wird ohne sie auszufüllen. - Denke an die junge Punk-Generation. Irokesen-Haarschnitt. Nietengürtel. Band-Aufnäher. - Wie damals. Und damals war schon ein damals. - Die Frage inwieweit all diese Rollen einem wirklichen Lebensgefühl entsprechen. Wieviel davon übernommenes Image ist. - Soziale Parallel-Universen. - Die Frage inwieweit ich selbst eine Rolle spiele. - Betrachte den Raum. Einst war in dieser Halle eine Fabrik. Die Vorstellung, daß hier täglich an Maschinen gearbeitet wurde. Die Atmosphäre die dabei diese Räume bestimmte. - An diesem Ort zu einer anderen Zeit. An diesem Ort zu dieser Zeit. - Jasmine mit geschlossenen Augen auf dem Boden hockend. Frage, wie es ihr geht. Ein Gespräch entwickelt sich, so selbstverständlich obwohl wir uns noch nie zuvor unterhalten haben. - Ich würde so nüchtern wirken, meint sie, ob ich denn keine Drogen nehme. - Diskussionen mit Annekatrin und Stefan über den Weg von Soluna. - Ein kleiner wachsender Cybertribe. - Seine Schritte sind nicht vorgegeben. Das Ziel offen. Es liegt an uns. - Erfahrungen austauschen. Gemeinsames Erleben. Experimente. Einen Bezug spüren. Anregungen geben. Etwas bewegen. Verändern. - Energien. Unsere Party hatte eine Energie. Die Broschüre. Wie wir auftraten. Und wir erreichten bei vielen Leuten mehr als wir anfangs auch nur ansatzweise erwarteten. - Innere Entwicklung und äußere Veränderung. - Die Sterne sind erreichbar, aber nur wenn wir es wirklich wollen. - Parties haben andere Bezugsysteme. Veränderte Bedingungen. Manchmal eine eigene Welt, die mit der Realität des Alltags nicht viel zu tun hat. - The moon inside. - Erinnerungen an
- 372 -
die Begegnung mit Nathaly vor einigen Wochen. - Unsere Körper auf einer Wand. Als Schatten berührten sich unsere Hände. - Lange standen wir dort. Tanzten zusammen. Ahmten die Geräusche der Musik nach. Redeten und lachten miteinander. Umarmten und küßten uns. - Verzauberten uns. - Nun sehe ich sie wieder. - Doch schnell stelle ich fest, daß es tatsächlich vorbei ist. - Das Gefühl ist nun auch in mir verschwunden. - Ihre faszinierende Energie. - Aber mir fehlen die Momente der Ruhe. - Denke zurück an den anfänglichen Fluß unserer Begegnungen. - Vielleicht glaubte ich wieder zu sehr an die Bedeutung der Worte. - Zum Abschluß: "A last kiss." - Schlußstrich. - "Du bist meine Rettung" ruft mir ein Bekannter aus der Borsdorf-Zeit zu. "Ich brauche irgendwas. Egal was es ist." - Angeödet von soviel Plattheit gehe ich weiter. - Ein geradezu klischeehaftes Gespräch zwischen zwei Ravern auf der Toilette: "Ich fahr von Sinnsheim nach Frankfurt ins Omen, dann Samstags wieder nach Sinnsheim und dann nach Kassel ins Aufschwung und wieder nach Sinnsheim und ab Montag wieder Schaffen." "Schließlich schafft man die ganze Woche lang fürs Wochenende." "Um sich dann am Wochenende fertig zu machen." "Ja klar, aber es ist trotzdem geil." - Denke an die Love-ParadeNacht im Tresor. Als die Luft so schlecht war, daß die Feuerzeuge nicht ansprangen. Und trotzdem unablässig Leute für zwanzig DM Eintritt auf das Gelände gelassen wurden. - Denke an die Clubs in denen die Kaltwasser-Hähne abgedreht werden, damit die Leute mehr Getränke kaufen. - Denke an die DJs, die für ein paar Stunden Größenwahn zigtausend Mark verdienen. - Und ich denke an die Raver, die all dies brav hinnehmen und sich in die Schlange stellen. Es gab Generationen die für ihre Ideale gekämpft haben. Generationen, die neues aufgebaut haben. Generationen, die auf der Suche waren. Die Rave-Generation in ihrer Hauptströmung gehört keiner von diesen an. - "Ich bin so kopfleer." sagt er. - Die Kraft einer illegalen Party, die sich Kommerz und Starkult widersetzt. Als gemeinschaftliches Erlebnis gestaltet. - Ausdruck einer anderen Kultur. - Ein Freiraum. - Musik und Veränderung. - Rhythmus und Widerstand. - Ein Foto von der Nacht-Tanz-Demo. Fröhliche tanzende Party-People. Daneben Polizisten in Kampfanzügen mit Schlagstöcken. Den Gesichtsschutz herunter geklappt. Zum Einsatz bereit. - Wenig später prügelten sie los. - "Lärm gegen Ausgrenzung sogenannter Randgruppen. Lärm gegen die Privatisierung
- 373 -
öffentlichen Raums. Lärm gegen Sicherheitswahn und Rassismus. Ich will meinen Club, will tanzen, meine Droge, will meine Nacht, meine Stadt!" hieß es im Aufruf. - Another Screen. - Riot Sounds. Hacked Reality. Looped Dreams. - Cybertribe-Visions. - Gespräche und Erholung bei Michi hinterm Mischpult. - Ein Break, der Beat setzt mit neuer Heftigkeit ein. Wir lächeln uns zufrieden zu. - Als ich alleine an einer Säule stehe, kommt ein besonders Glücklicher zu mir zu mir. Blasses Gesicht, völlig verschwitzt, aber ein breites Grinsen. Auf solch einer Party könne er nicht mit ansehen, daß jemand allein ist. Deshalb will er mir Gesellschaft leisten. - Erinnere mich an Markus, der nach einer Party auf E einmal davon sprach, daß man in den Straßen viel mehr Bänke aufstellen sollte, damit die Menschen zueinanderfinden. - Im "futurologischen Kongreß" beschreibt Lem die "Bemben", die "Bomben menschlicher Brüderlichkeit". "Es erwischte die Polizei, die uns bewachte. Vor meinen Augen rissen sich die Polizisten die Masken vom Gesicht, zerflossen in heiße Reuetränen, flehten die Demonstranten kniend um Vergebung. Und nach neuen Bemben-Treffern stürzten alle Polizisten wild durcheinander, um alles zu liebkosen und anzuhimmeln, was ihnen unterkam." - Shee gelingt es nun doch sich fallen zu lassen. Barfuß tanzt sie mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. - Wir stehen kaum zusammen, nur ab und zu kreuzen sich unsere Wege. Machmal sehe ich ihr leuchtendes Shirt, sehe sie tanzend oder sich unterhaltend. Dann begegnen wir uns wieder, wechseln ein paar Worte oder bringen uns etwas zu trinken. Schauen uns in die Augen, berühren uns. - Über Stunden hinweg tanze ich fast ununterbrochen. - Tauche ein. - Immer tiefer. - Der Beat. - Die Sounds. - Der Rhythmus. - Eine eigene Welt. - Zunehmend wird die Wahrnehmung abstrakter. - Die Musik verändert ihren Charakter. Hat nichts mit irgendwelchen Musikern zu tun, die einmal diese Klänge erzeugten. Sie erscheint vielmehr wie ein eigenes Element. Etwas umschließendes, tief in mich hineingehendes, mich ausfüllendes. - Es sind keine Stücke. - Laboratorien in denen mit Tönen und Geräuschen experimentiert wird. - Vertov hätte seine Freude daran gehabt. - Die Stimmung steigt unaufhörlich, explodiert geradezu bei einigen Stücken, erreicht ein Level, das kaum zu beschreiben ist. Viele beginnen zu schreien, bewegen sich rauschhaft. Und immer wieder Steigerungen, Höhepunkte und der Rhythmus. - Der endlose Rhythmus. - Ein Schatten umgibt meine Hand. - Gestalten im
- 374 -
flackernden Licht. - Fraktale Körper. - Nexus. - Aufgehen im Nexus. - You are. We are. - "Am geilsten ist es, wenn du merkst, daß du verloren hast..." sagt Oli und meint damit das E. - Verloren und gleichzeitig gewonnen. - Wir tanzen zusammen. Genießen die Nähe zwischen uns. - Das wunderbare ausfüllende Gefühl in meiner Brust. - Erfahrung von innerer Wärme und Glück. - Der Zustand des Fließens. - Oder wie es Michael in Bologna einmal formulierte: "Es gibt weniger Zeit, die nicht Jetzt ist." - Der schwarze Raum in mir. Ausgefüllt. - Innere Bilder. - Die Musik als Element, entfernt vergleichbar mit Wasser. Bewegt sich über Bücher hinweg, die nebeneinander stehen. Ich sortiere die Bände eines Lexikons. Dabei fällt mir auf, daß einige Bücher fehlen. - Werde beim Tanzen angesprochen: "Der DJ mach ja überhaupt keine Fehler. Genial!" "Es ist wie ein Fluß und wir schwimmen darin." antworte ich. - Er spricht weiter. Doch ich bin zu sehr mit mir beschäftigt als daß ich weiter darauf eingehen wollte. - Schließe wieder die Augen. - Der Geruch des Nebels der mich umhüllt. - Aus zwei Stücken ein neues drittes kreieren. - Einzelne Elemente werden eingespielt, verschwinden wieder, um dann doch noch einmal aufzutauchen. - Sounds und Beats als Materialien, die der DJ neu zusammen fügt. - Genau das war die Idee von Techno. - Die Location wird zum Energiefeld. Weder greifbar noch sichtbar, aber trotzdem sinnlich für alle spürbar. - Die Körper bewegen sich automatisch. Die Wahrnehmung ist völlig auf dem Moment konzentriert. Im Innern breitet sich eine positive Leere aus. Nur durch den Rhythmus ausgefüllt. - Musik und die Farben werden zu einer Einheit. - Überall wird ekstatisch getanzt. Die Grenzen zwischen dem Dancefloor und den übrigen Bereichen verschwinden. - Ein Gefühl der Gemeinsamkeit und der Verbindung. - Alles befindet sich im Fluß. - Die Party als Trance-Ritual. - Conny auf der Bühne. Lava 303. - Female Acid. - Erneut durchzieht ein Aufschrei den Raum als sich der Sound industrialartig steigert. Ein Geräuschwall der alles umgibt. In alles eindringt. Bis er sich wieder im Rhythmus auflöst. - Tanze zwischen zwei erhöhten Boxen. Die Verbindungslinie als blaugrüne Schwingung. Ähnlich wie elektronische Geräte die Wellen anzeigen. Medizinische Apparate die den Herzschlag wiedergeben. - Die Rhythmen bestimmen den Ausschlag. - Die Welle dringt direkt in meinen Kopf. Fließt durch meinen Körper. Durch mein Bewußtsein. - Gemeinsam lassen wir uns in der Chill-Area nieder. - Die Atmosphäre ist nur schwer zu
- 375 -
beschreiben. - Ein großes Podest auf dem sich die Live-Acts befinden. Rundherum einige Stände. Viele Matratzen, Sofas und Teppiche. - Auf diesen liegen Dutzende technoide Gestalten. Glücklich verpeilt grinzende. Erschöpfte. Aneinander vorbeiredende. Schmunzelnde. Runtergekommene. Abhängende. Schmusende. Küßende. Tanzende. - Der Verkauf von Lachgas in Luftballons wird zum Renner. Überall wird genußvoll eingeatmet und sich dann zurückgelegt. Shee vergleicht das Gefühl mit Watte die alles umgibt. Allerdings scheint es bei allen zu wirken nur bei mir nicht. - Wir finden einen Platz auf einem Sofa. Umarmt aneinander gelehnt. Zerfließend. - Und sie sagt es mir. - In einer Flasche spiegeln sich Bewegungen. Ein junger Typ mit langen bunten Papier-Schleifen, die er zur Musik bewegt. - Die Gedanken schweifen umher. - Die Frage nach dem was dahinter ist. - "Who is who and which is which?" - Nein, die Frau die neben uns sitzt studiert entgegen meiner Vermutungen nicht Germanistik. Shee hat sie gefragt. Sie studiert überhaupt nicht, sondern besitzt eine Metzgerei, hat zwei Kinder und ist seit sechs Jahren verheiratet. - Shee ausgestattet mit Pausenbrot, Vitamin- und Magnesium-Tabletten. Die bewußte Raverin achtet auf ihre Gesundheit. - Das Brötchen, das sich in meinem Mund wie Gips anfühlt. - Coustos klingende Moleküle. - "Wir sind auch nicht mehr Frischesten." meint der Freak, der sich kurz zu uns setzt. - Und sie träumen davon DJ zu sein. Der Rockstar ist längst Relikt der Vergangenheit. - Zwei junge Frauen vor uns auf einer Matratze. Die bereitwillige Reduzierung auf die Rolle des Techno-Püppchens. Die gepiercte Barbie als Ideal. - Sich in einem Turmzimmer auf E Gedanken machen, wie mensch im nüchternen Zustand einer ebenfalls nüchternen, aber in Bezug auf E unerfahrenen Person klar macht, wie es ist auf E zu sein. - Als wäre. - Wenn. - Ein Key läuft vorbei. - Wann kommt Tibo? - Das Wesen der Zeit. - Die Wesen der Zeit. - In dieser Nacht. An diesem Morgen. - Und die Musik. Schwebend. - Träumend. - Vielleicht ist es die Musik selbst, die uns träumt. - In diesem Moment. Die Augen schließen. Und hören. Bewußt hören. - Bewußt Sein. - Wieder auf der Tanzfläche. - Und wieder der Rhythmus. - Treibende Beats. Ohrwurmartige Melodien. Und diese scheinbar endlosen Stücke, die ambientartig beginnen und sich dann fast unmerklich steigern. - Oli umarmt mich von hinten. Ein wunderbares Gefühl. - Tanzende auf den Podesten. Wild und hektisch mit den Händen irgendwie im Takt der Musik fuchtelnd.
- 376 -
Weitgehend starrer Blick, das Gesicht verzerrt, ein fratzenhaftes Grinzen, krampfhaft Kaugummi kauend. - In den aufgerissenen Augen ein Hauch von Sehnsucht. Auf der Suche. - Ohne sich darüber bewußt zu sein. Oder gar zu wissen was sie überhaupt suchen. Wieder die Bilder im Innern. - Erinnerungen an. - Auf Shees Rücken schreiben. - Diese Worte auf ihren Rücken schreiben. - Genau diese Worte auf ihren Rücken schreiben. - Mutierte Worte. - Gemeinsam mit ihr diese lange Straße entlang gehen. Und nach einigen Unstimmigkeiten die Nähe aufsteigen lassen. In ihr aufgehen. Und sich wünschen, daß diese Straße niemals endet. - Shee, wie sie die Arme von sich steckt. - Wie sie alles umarmt. - In diesem Meer roter Mohnblumen. - Mohnkuß. - Mondkuß. - Kiss you dark and long. Sterne in einer anderen Welt. - Dunkle und doch so leuchtende Sterne. - Durch einen winzigen Ritz an der Fluchttür dringt ein Lichtstrahl hinein. Kaum sichtbar. - Er erinnert mich an die Vorstellung, daß dort draußen längst Tag ist. - Doch in der Dunkelheit dieses Raumes, in der Realität in der ich mich bewege, erscheint dieses Bild völlig fremd. - Der Traum dieser Realität. Die Realität dieses Traumes. - Die Frage nach. - Eine These in den Raum gestellt. - Gespräche mit Untertiteln. - Reale Bezugssysteme. - Und Sven. - Die Zeit vergeht unmerklich. - Und dann doch irgendwann. Noch einige Zugaben. Und noch einmal die Augen schließen. Eintauchen. - Das letzte Stück. Ein Ambient-Track, der sich im Nichts auflöst. - Langsam nimmt sich die Helligkeit den Raum zurück. - Ein zerknüllter Flyer auf dem Boden. Ich kann das Om noch erkennen. Daneben eine zerquetschte Bierdose. - Scheinbar endloses Verabschieden. - Bis bald. - Der Weg zum Bahnhof. - Das grelle Licht blendet. - Ich bewundere die Leichtigkeit mit der sich Shee mit dem Taxifahrer unterhält. In mir dagegen vibriert noch alles. - Die Stadt im Regenglanz. - In jedem Tropfen eine Welt. - Die Gebäude erscheinen unwirklich. - Die Farben. - Die Vorstellung alle Häuser würden farbig angestrichen. - Aber was nützen bunte Farben wenn die Menschen im Innern genauso phantasielos sind wie die Häuser in denen sie leben. - Ein Wahlplakat der SPD, das eigentlich alles sagt. Zu sehen ist eine grüne Landschaft. Ein bequemer Stuhl auf einer Wiese. Text: "Es gibt vie le schöne Plätze in Deutschland. Aber am liebsten sind uns Arbeitsplätze." Der Markt als höchste Maxime. Arbeit als wichtigster Lebensinhalt. - Im Zug sitzen wir im gleichen Abteil, in dem ich auch schon eine Ewigkeit zuvor gesessen
- 377 -
habe. Ich erkenne es an der Bananenschale, die noch im Müllbehälter liegt. - Blick in die Süddeutsche Zeitung: "Äußeres: Masahiko Komura (56), Inneres: Mamoru Nishida (70), Soziales: Sohei Miyashita (70)." - Kreuzworträtsel: "Tatsachenmensch: Realist." "Abk. Normalnull: NN." "Jederzeit: Immer." - "Es ist alles ziemlich fragwürdig." fügt Shee an. - Auf dem Heimweg vorbei am Laden von "Gotthold Zitterbart, Schuhmachermeister". - Wieder zu Hause. Die Katzen haben den Küchenschrank ausgeräumt. - Der Müll muß noch raus. - Eine CD auflegen. - Und sie tanzt auf der Terrasse weiter. Und ich schaue ihr zu. - Drei Löffel Joghurt und eine halbe Banane. - Der routinemäßige Blick in den Bildschirmtext. - Und das Wasser in die Badewanne einlassen. - Schwimmende Sektgläser. Die warme Hand, die sie im Bett auf meine legt. Die Augenwimpern, die mich streicheln. Das Lächeln, so weich und sanft. - Sprunghafte Gespräche über die Erlebnisse der letzten Stunden. Daneben die wortlose, tiefe Nähe. - Shee murmelt etwas vor sich hin. Ich frage nach. "Das war ein Satzbaustein, der aus dem Regel gefallen ist." antwortet sie. "Der gehört eigentlich gar nicht hierher." - Sinan kann sich erst lange nicht entscheiden, ob sie mit unter die Decke will oder nicht. Dann kriecht sie doch hinein und beginnt leise zu schnurren. Mishou liegt irgendwie quer auf unseren Beinen. Beharrlich bleibt er auch dann so liegen, wenn wir uns bewegen wollen. - Überall Kleidungsstücke und Handtücher. Stapel mit Flyern. Zettel mit Notizen und Adressen. Tütchen mit den Überresten. Meine Armbänder. Teller und umgeworfene Gläser. Von den Katzen angefressene Brotreste. CD-Cover und Kassettenhüllen. - Zärtliche Berührungen die intensiver werden. - Shee vergleicht uns mit zwei Cyber-Figuren aus einem Video. Sie finden darin immer näher zusammen, werden zu einer Einheit. Verschmelzen in ihrem Liebesspiel. - Die Zunge öffnet, streichelt, massiert. Immer fester und bestimmter. - Dringt ein. - Sex als erotische Komposition. - Es ist eine eigene Welt, die wir uns geschaffen haben. Ständig erweitern und wieder neu entdecken. - Der Fantasie freien Lauf lassen. - Rotes Licht. Kerzen. Der Sekt der über den Körper fließt. - Vertrauen. Sich fallen lassen. Aufgehen. In diesen Fluß der Lust eintauchen. Seine zärtlichen und leidenschaftlichen, seine lustvoll schmerzlichen Elemente. - Ritualhaft. - Momente, die. - Der leicht geöffnete Mund. - Der Atem. - Die geschlossenen Augen. - Wir finden einen Rhythmus. - Die Grenzen verschwinden. - Ich will dich hören. -
- 378 -
Spüre dich. - Spüre uns. - Die Anspannung der Körper. - Immer stärker. - Wellenförmig. - Nichts als. - Wir. - Und. - Und wie sie sich bebend lösen. - Gemeinsam. - Der schwarze Raum. - Ihre Hand auf meiner Brust. - Erschöpft und glücklich schauen wir uns an. Dankbar für diese Inseln der Wärme. Eingeschlossen in einem Meer, in dem die Kälte so selbstverständlich ist. - Gedanken, die sich tanzen lassen. - Grenzen, die sich auflösen. - In Rhythmus, Licht und Bewegung. - Die Ekstase einer Nacht. - Ohne Worte. - Ohne Zeit. Die Erotik einer Nacht. - Die Poesie einer Nacht. - Träumende Sterne. - Kämpfende Sterne. - Tanzende Sterne. - Der CD-Player auf "Repeat" gestellt. - Und wieder der Beat. - Der endlose Beat. - Der unaufhörliche Rhythmus der Musik. - Der Rhythmus der Körper. Endlos. - Fließend. W. • Mixed Reality / Auszug •
- 379 -
• SIMON DE LA LUNA • ICH ATME UNIVERSEN Ich sehe die Golden Gate Bridge aus dem Flugzeugfenster. Eben noch in Berlin, jetzt im Landeanflug auf Kali-fornien. Lineare Zeit wird dekonstruiert: mein Körper an der Westküste - meine Seele noch in Europa. Noch dreißig Minuten und ich treffe meine Kali wieder. Die Liebe zu ihr und die Sehnsucht nach neuen Ufern treiben mich in dieses Flugzeug. Gedanken und Traumbilder drängen sich in meinem Kopf... 500 Jahre Kolonialisierung Amerikas... Ahnen die das Neue suchten, brachen nach Westen auf... die neue Welt... das Gefühl, kollektive Prozesse persönlich noch einmal zu durchlaufen... die Neophilister zogen noch weiter Richtung Westen, bis sie in Kalifornien angelangten... Nun mache ich diesen Schritt, hoffe auf Inspiration. San Francisco. Hier erlebe ich die Manifestierung des globalen (Computer-) Dorfes. Durch die Netzwerke erhielt ich so umfassende Information, daß mir die Stadt direkt vertraut ist. RaveVeranstalterInnen, Spirulina-Vertriebe, Samen- und PflanzenHandlungen für Psycho-Vitamine, Iso-Tank-Zentren und NetzwerkerInnen - gut informiert wie nie zuvor. Die Information ist überall gleichzeitig, es wird immer unnötiger mit dem Körper zu reisen. Wenn irgendwo auf dem Planeten etwas entdeckt wird, ist es morgen schon an jedem Terminal abrufbar. Die Stadt ist schön, einladend und sonnig. Während über Berlin drohend die Apokalypse hängt, scheint mensch sich hier auf die Trance-formation vorzubereiten. Die Sixties, die psychedelische Revolution, hier kann mensch die nächste Generation erleben. Die Kids der Bay-Area sind kreativ, hedonistisch und spirituell. Free minds, good people. Sie verstehen sich selbst als "Tribal Pagan-Community". Paganism heißt für sie: Rückbesinnung aufs Heidentum. Suche nach dem mit ihm untergegangenen uralten Wissen, Wiederbelebung von keltischen Ritualen und Festen - zurück zu archaischen und schamanischen Stammeszusammenhängen. Es werden weniger die Rituale und Werkzeuge der Native Americans (IndianerInnen) genutzt bzw. ausgebeutet als vielmehr
- 380 -
mit dem gearbeitet was von den alten europäischen Traditionen noch überliefert ist. Für weiße AmerikanerInnen ein großer Schritt: Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln und Auseinandersetzung mit 500 Jahren Kolonialismus und Ausbeutung. Ein Hauptthema meiner Reise, da ich durch meine indianische Freundin Einblick in San Franciscos Native-Community und so eine neue Sicht auf das "White America" erhielt. Ich wurde zur Sweatlodge (Schwitzhütte - indianisches Reinigungsritual) eingeladen und lernte viel an jenem Tag... mit der Hitze steigt Schmerz in mir auf... Wut und Trauer... Tränen für 500 Jahre Genozid, Ausbeutung, Unterdrückung... der weiße Mann kam in unser Land, tötete fast meine gesamte Familie... machte Wüsten aus fruchtbaren, lebendigen Landstrichen... tötete unsere Büffel... unsere Bäume... nun kommen die New-Age-People... nehmen uns das Letzte das uns geblieben ist: unsere Kultur, unsere Religion und Gebräuche... unsere Spiritualität... Das Praktizieren von Ritualen wie der Schwitzhütte ist für mich zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden und ich werde auch weiterhin damit arbeiten. - Was ich aber lernte, als ich an der indianischen Zeremonie teilnahm, ist Respekt, etwas das unserer Kultur fehlt. Respekt vor der Erde, auf der wir gehen und vor den Lebewesen mit denen wir diesen Planeten teilen. In diesem konkreten Fall: Respekt vor der Kultur deren Ritual ich benutze, Respekt auch vor der Wut und Trauer der einzelnen Individuen. Ich habe gelernt, demütig und Bettler zu sein, für mich (weiß, mitte zwanzig, männlich) eine völlig neue Situation. Mein stolzes Ego schrie auf und wollte einfach gehen. Ich bin froh geblieben zu sein. Halte die Augen offen und suche nach Ritualen und Werkzeugen, die Dir bei Deiner Entwicklung helfen können. Nimm Dir, was Du brauchst und was Dich anspricht. Information ist frei zugänglich für alle, aber: Was Du machst, das mache bewußt. Übernimm Verantwortung für Dein Tun. Arbeitest Du mit Ritualen unterdrückter Kulturen, so setze Dich mit deren Geschichte auseinander. Benutzt Du ein indianisches Ritual, so gib dem roten Volk etwas dafür zurück. Es hilft uns nicht, fremde Zeremonien unreflektiert zu übernehmen. Wir können sie als Anregung für die Entwicklung eines eigenen Systems, das uns und unserem Stamm entspricht, nutzen.
- 381 -
Der nächste wichtige Schritt meiner Reise führte mich von den Stammesritualen zurück zu meinem tieferen Selbst. In San Francisco hatte ich Gelegenheit, mir einen alten Traum zu erfüllen: das "floaten" in einem Isolationstank. Der Samadhi-Tank wurde von John C. Lilly entwickelt. Mensch schwebt dabei auf einer Salzlösung, die Box ist licht- und schalldicht. So hat das Gehirn keinen Rezeptor mehr in die äußere Welt, und das Bewußtsein wird mit sich selbst konfrontiert. Eine einfache Idee, aber unglaublich in ihren Auswirkungen. Nach ca. dreißig Minuten floaten trete ich in eine assoziative Traumphase ein. Nach sechzig Minuten völlige Entspannung und Bilderfluß, bin Embryo im Mutterleib. Nach neunzig Minuten bin ich nur noch träumendes Bewußtsein, ohne Konzept von mir und meinem im Tank liegenden Körper... Ein wundervolles Medium, um das innere Universum zu erforschen. Tanks dieser Art sind in Deutschland noch nicht weit verbreitet, aber doch zu finden. Nebenwirkungen der Tanktrips: Verbessertes Erinnerungs-, Konzentrations- und Entspannungsvermögen, kurz: ein wirklich klarer Kopf. Einige Tage später wurde ich erneut inspiriert. Diesmal in Form eines exogenen Neurotransmitters namens DMT. Dieses Molekül ist keine Designerdroge, sondern ein pflanzlicher Wirkstoff. Es ist Bestandteil des legendären Ayahuasca-Trankes, der von den SchamanInnen vieler Stämme im Amazonas rituell zur Heilung und Erzeugung von Visionen eingenommen wird. Der Trank besteht aus DMT und harmalinhaltigen Pflanzen. Das Harmalin verhindert den direkten Abbau des DMT im Körper und potenziert dessen Wirkung. Ich nahm also einen Löffel voll harmalinhaltiger Samen zu mir und rauchte zwei Stunden später das pulverförmige DMT. Die Wirkung setzte schon während des Ziehens ein und dauerte etwa eine halbe Stunde an. Ich verlasse meinen Körper... werde durch unbekannte Dimensionen in ein Paralleluniversum geschleudert... DMT is instant alien contact... mein Lichtkörper nimmt fremde Wesenheiten im selben Raum wahr... es entsteht ein direkter Kontakt... sie kreieren das Universum, in dem "wir" uns befinden... als ich dies realisiere, werde ich initiiert, in den Kreis aufgenommen, nehme am Prozeß des Erschaffens teil... ein Zustand von Omnipotenz... ich atme Universen
- 382 -
aus, bin in totaler Ekstase, erhalte Botschaften, bin Sender und Empfänger... (Unsere Sprache ist kein adäquates Werkzeug zur Beschreibung dieser Ebenen.) Dies ist der "kleine Tod", ein Ausblick auf die Zustände nach der Transformation. Eine Vision des Unbekannten, das uns erwartet, wenn die Zeit endet. Sowohl ein individueller, als auch ein planetarer Vorgang. Gaia will und wird transformieren. Vieles deutet daraufhin, daß der kollektive Prozeß, den wir Geschichte nennen, auf einen Endpunkt zustrebt. Ein großer Zyklus des Maya-Kalenders endet im Jahre 2012 unserer Zeitrechnung. Prognosen anderer Mythologien siedeln die Apokalypse ebenfalls kurz nach der Jahrtausendwende an. Apokalypse bedeutet Erneuerung. Wir sind TeilnehmerInnen, kleine Zellen in diesem Prozeß. Zusammen bestimmen wir das Resultat... Totale Zerstörung der lebendigen Hülle unseres Mutterplaneten - oder eine tatsächliche Erneuerung... die Menschheit hat die Wahl. Übernehmen wir Verantwortung! Unser Überleben hängt von der Kommunikation mit allen Lebensformen auf diesem Globus ab. Die Zukunft ist das, was wir daraus machen. Nutzen wir jede Möglichkeit, um uns auf die kommende Transformation vorzubereiten! - Lets plant a tree! Simon de la Luna
- 383 -
•DOUGLAS RUSHKOFF • CYBERIA Cyberia ist der Ort, an den sich ein Geschäftsmann während eines Telefongesprächs begibt, der Ort, den ein schamanischer Krieger erreicht, wenn er seinen Körper verläßt, und der Ort, den ein AcidHouse-Tänzer betritt, wenn er die Seligkeit einer Techno-AcidTrance spürt. Cyberia ist der Ort, auf den die mystischen Lehren jeder Religion, die theoretischen Diskurse jeder Wissenschaft und die wildesten Spekulationen jeder Vorstellungskraft abzielen. Doch im Unterschied zu jeder anderen geschichtlichen Epoche hält man Cyberia heute für greifbar nahe. Der technische Fortschritt unserer postmodernen Kultur hat im Zusammenspiel mit der Wiedergeburt alter spiritueller Ideen eine wachsende Anzahl von Menschen davon überzeugt, daß Cyberia die Ebene der Dimension darstellt, auf der sich die Menschheit bald wiederfinden wird. Doch selbst jene von uns, die sich nie in einen House-Club, ein Physiklabor oder an ein elektronisches Schwarzes Brett gewagt haben, sind in zunehmendem Maße Wörtern, Bildern und Ideen ausgesetzt, die an den Grundfesten unserer unumstößlichsten Glaubenssatze rütteln. Das cyberische Paradigma findet seinen Weg in unser argloses Bewußtsein über neue Formen von Kunst und Unterhaltung, die weniger auf Struktur und Linearität als auf sinnlicher Erfahrung und einer ständig wechselnden Wahrnehmung beruhen. So haben Rollenspiele weder Anfang noch Ende, sondern zelebrieren den Einfallsreichtum der SpielerInnen, die sich zusammen ihre verschlungenen Pfade durch komplexe Phantasiewelten suchen und dabei Strategien ausprobieren, die sie später in ihrem eigenen Leben ausprobieren können, das selbst wiederum den wilden Abenteuern ihrer Spielfiguren zu gleichen begingt. In ähnlicher Weise haben Kunst und Literatur in Cyberia die geraden Linien und glatten Oberflächen von "Krieg der Sterne" und "2001 - Odyssee im Weltraum" zugunsten des schmutzigen, posturbanen Realismus von "Batman", "Neuromancer" und "Bladerunner" aufgegeben, in dem Computer das Leben der Menschen nicht erleichtern, sondern die offensichtlichen Fehler in unserem System der Logik und der Sozialtechniken bloßstellen und sogar verschlimmern.
- 384 -
Erwartungsgemäß fiel die Reaktion der TraditionalistInnen auf diese Ausdrucksform scharf und panisch aus. Cyberer stellen nicht weniger als die Realität in Frage, auf der die Prinzipien von Kontrolle und Manipulation basieren, und sobald die Technik der Computernetze in die Hände von mehr und mehr Cyberern gerät, werden traditionelle Machtzentren herausgefordert. Ein gewiefter junger Hacker mit genügend Zeit kann in beinahe jedes Computersystem der Welt eindringen. Unterdessen pflanzt das riesige, hungrige Medienimperium im Zusammenwirken mit der Doit-yourself-Technik den Keim für seine eigene Vernichtung, wenn es Privatleute dazu auffordert, über Magazine, Kabelshows und interaktives Fernsehen selbst teilzunehmen. Der hypnotische Bann jahrelangen Fernsehens und massiver Werbung ist gebrochen, sobald der Zuschauer lernt, die Bilder, die ihn eigentlich beeinflussen sollen, auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Dadurch erlangt die gesamte Bevölkerung die Freiheit, bislang akzeptierte Verfahren und Vorurteile neu zu bewerten. Mit Lichtgeschwindigkeit streuen politisch orientierte Cyberer "Medienviren" in die Datensphäre und durchsetzen sie mit wirksamen Ideen, die heuchlerische und unlogische Sozialstrukturen angreifen und sie dadurch ihrer Macht berauben. Ein neues wissenschaftliches Paradigma, ein neuer technologischer Sprung und eine neue Klasse von Drogen schufen die Bedingungen für das, was viele für eine zu beobachtende Renaissance halten. Parallelen zwischen unserer Zeit und den Blütezeiten der Vergangenheit sind sicherlich im Überfluß vorhanden: der Computer und die Druckerpresse, LSD und Koffein, der Holograph und das perspektivische Zeichnen, das Rad und das Raumschiff, die Landwirtschaft und die Datensphäre. Doch die Cyberer sehen in dieser Zeit mehr als nur eine Wiedergeburt klassischer Ideen. Sie glauben, daß unser Zeitalter die Kategorien menschlicher Erfahrung auf ein bis dato unkartiertes hyperdimensionales Terrain erhöht. Die Leute, die all dies glauben, stehen bislang an den äußersten Rändern der Kultur. Aber wie in den sechziger Jahren zu sehen war, können die Ideen einer Randkultur über die Jugend in die gesamte Gesellschaft durchsickern. Tatsächlic h werden wir vielleicht bald feststellen, daß der wichtigste Beitrag der sechziger Jahre und der psychedelischen Zeit zu unserer Kultur die Vorstellung ist, daß wir uns die Realität willkürlich aussuchen. Die Mission der cyberischen
- 385 -
Gegenkultur der Neunziger, die mit neuen Technologien bewaffnet, mit dem Cyberspace vertraut und mutig genug ist, unbekannte Bereiche des Bewußtseins zu erforschen, besteht darin, sich die Wirklichkeit bewußt und zielgerichtet neu auszusuchen. Douglas Rushkoff
- 386 -
• WOLFGANG STERNECK • DIE KONSEQUENZ ERKENNEN Die Notwendigkeit, eine Kultur zu entwickeln, die von uns selbst bestimmt wird, die auf Solidarität, Gleichberechtigung und Autonomie basiert. Eine Kultur, die sich bewußt der Ausbeutung von Mensch und Natur widersetzt. Die Notwendigkeit, neue gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens zu finden, die Entfremdung zwischen uns zu überwinden, das patriarchale Denken, den Leistungszwang, das Gewinnstreben, die verinnerlichten autoritären Strukturen, die zwischenmenschliche Kälte. Die Notwendigkeit, andere Wege zu gehen, den inneren Willen zu erkennen, zu Phantasie und Kreativität zurückzufinden, Freiräume zu schaffen, sich zu wehren, Widerstand zu leisten, zu kämpfen, zu träumen, zu geben, zu lieben, zu leben. Ein Anspruch an jede und jeden von uns. Hier und jetzt. Die Notwendigkeit erkennen. Die Konsequenz. Wolfgang Sterneck
- 387 -