Christian Lukas
Fluch der Hallig Version: v1.0 Der Nebel umschloss den Körper des Architekten, der scho...
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Christian Lukas
Fluch der Hallig Version: v1.0 Der Nebel umschloss den Körper des Architekten, der schon seit einer halben Stunde durch den widerlich glitschigen Schlick stapfte. Panik erfüllte ihn, denn das Wasser stieg unbarmherzig an. Die Flut nahm sich zurück, was die Ebbe ihr am Tag gestohlen hatte – und Hans Zimmermann watete bereits kniehoch durch diesen ewigen Kampf der Gezeiten. Er zitterte, er fror. »Are you afraight?«, fragte ihn eine unsichtbare Stimme. Hast du Angst? Verdammt, woher kam die Stimme? Und warum machte sie sich über ihn lustig? »Ich habe Angst!«, schrie er. Die Stimme lachte. Sie half ihm nicht. Nach einer Stunde konnte Zimmermann nicht mehr stehen. Die Strömung trug ihn hinaus auf die See und die eisige Kälte betäubte seinen Körper. Als er einschlief, spürte er keine
Schmerzen mehr …
Die Hallig Bröde lag irgendwo auf halber Strecke zwischen der Insel Pellworm und Hooge im Holsteinischen Wattenmeer. Die Zeit hatte das unbewohnte kleine Eiland vergessen, das gerade einmal die Größe eines Fußballfeldes maß. Auch grasten auf ihm keine Schafe, es wurde landwirtschaftlich nicht genutzt und selbst Tierschützer interessierten sich für die kleine Insel nicht. Ein paar Austernfischer brüteten auf Bröde, Schnepfenvögel mit schwarzweißem Gefieder und rotem Schnabel, deren laute, schrille Rufe sie weit über die Grenzen der Küsten bekannt gemacht hatten. Außerdem wuchs auf der steinigen Insel, zwischen dem wuchernden Gras, die Bonnestave, ein violett blühendes Kraut. Und doch war Bröde etwas Besonderes. In ihrer Mitte, auf einem auf zehn Meter Höhe aufgeschütteten Hügel, stand die Lutherkirche. Ein rotes Backsteingebäude, in dem bereits seit Jahrzehnten keine Gottesdienste mehr gefeiert wurden. »Ein hübscher Anblick, oder?« Der Hubschrauberpilot war nur schwer zu verstehen. Es waren nicht nur die lauten Rotoren, die dies fast unmöglich machten, obwohl die Kommunikation über ihre Helme stattfand, die den äußeren Lärm herunter pegelten. Der Pilot, er hieß Max Schneider, kaute darüber hinaus unentwegt wenig charmant schmatzend Kaugummi. Außerdem war er ein Nordfriese und sprach einen ausgeprägten Dialekt. Yussuf Arikan mochte zwar Lübecker mit Herz und Nieren sein, aber es war für ihn als Kind schon schwer genug gewesen, Deutsch zu lernen – geschweige denn die diversen Dialekte des Nordens. Nur noch einige Hundert Meter trennten sie von Bröde. Yussuf Arikan nickte. »Sehr schön«, pflichtete er dem Piloten bei. Als weniger schön empfand er ihren Besuch auf der Hallig, der politischen Zündstoff bot, denn es ging nicht nur um Geld, sondern auch um den Tod des Architekten Hans Zimmermann. Seit dieser im Watt ertrunken war, stand Yussufs Chefin im Kreuzfeuer der Kritik. Adelheid Schulze‐Petersen, Bauministerin
des Landes Schleswig‐Holstein, hatte als Verantwortliche für den Denkmalschutz die Erlaubnis – und vor allem die Gelder – bereitgestellt, um die Lutherkirche zu restaurieren. Eine Menge Geld … Seit dem Tod des verantwortlichen Architekten bot sie der Opposition unentwegt eine Zielscheibe. Es war durchaus möglich, dass ihr heutiger Besuch ihre letzte Amtshandlung als Ministerin sein würde. Sie war eine elegante, groß gewachsene, schlanke Frau. Yussuf wusste, dass sie ihre Haare blond färben ließ, weil sie bereits in frühen Jahren ergraut war. Allerdings war sie schlau genug, sich graue Strähnen legen zu lassen, so dass ihre Haare vollkommen natürlich aussahen. Als junge Politaktivistin war sie vor allem als Kernkraftgegnerin bekannt geworden, ihren grünen Augen verdankte sie ihren Spitznamen ›die grüne Heidi‹. Neben ihr saß Dr. Volker Schumacher, ihr Staatssekretär. Yussuf mochte Schumacher nicht. Schumacher trug die blonden Haare kurz geschnitten, sein Gesicht war seit der Pubertät vernarbt. Er war gerade einmal Dreißig, aber wahrscheinlich schon seit fünfzig Jahren in der Politik. Er war ein Karrierist, dem die Farbe der Partei, für die er arbeitete, im Grunde egal war. Yussuf kannte viele dieser Jünglinge, die es in allen Parteien gab und die neben ihrer Skrupellosigkeit vor allem ihre Jugend nutzten, um Politik zu machen. Doch wenn seine Ministerin unterging, würde dies auch auf seiner weißen Weste Flecken hinterlassen – es lag also auch in seinem Interesse, die Ministerin im Amt zu halten. Der Hubschrauber landete auf dem nördlichsten Zipfel des Inselchens. Yussuf Arikan nahm den grünen Helm vom Kopf, legte ihn zu seinen Füßen, sprang aus dem Luftgefährt und öffnete seiner Chefin die Tür. Er duckte sich, obwohl sich die Rotorenblätter weit über seinem Kopf drehten. Er reichte der Ministerin seine Hand. Sie lächelte und machte von
dieser Geste gerne Gebrauch. Vom Landeplatz führte ein unbefestigter, ins Gras getretener Weg zur Kirche. Das Gotteshaus war vom Boden aus betrachtet ein vollkommen unwirklicher Ort. Sie war kein architektonisch aufregender Bau, sondern lediglich eine rote Kirche ohne Sakristei, die etwa sechs Meter in der Breite und fünfzehn in der Länge maß. Ein kleiner Glockenturm auf der Südseite, ein Türmchen eigentlich, rundete das Gesamtbild ab. Was diese Kirche so seltsam erscheinen ließ, war ihre Lage. Abgesehen von den Wegen, die die Arbeiter in den letzten Monaten ins Gras getreten hatten, gab es keinen befestigten Pfad, der zu dem Gotteshaus führte. Der Bootssteg auf der zur offenen See befindlichen Seite der Hallig war von den Arbeitern zu Beginn der Restauration des Gebäudes angelegt worden. Die nächste Hallig lag mehr als zwei Kilometer entfernt. Wenn es also einen Ort in diesem Teil der See gab, an dem es absolut keinen Sinn machte, eine Kirche zu errichten, dann war dies die Hallig Bröde. Ein Mann hastete den Weg zum Hubschrauber hinab. »Willkommen auf Bröde«, begrüßte er die Ministerin aufgeregt. Bei seinem Anblick erstarb ihr Lächeln. Hände schüttelten sie zur Begrüßung nicht.
* Seit dem Tod des Architekten Hans Zimmermann waren drei Wochen vergangen. Seither stand die Ministerin unter Personenschutz, denn es waren einige Drohungen gegen Adelheid Schulze‐Petersen eingegangen. Diese Drohungen nahm sie nicht sonderlich ernst. Als Bauministerin war sie nicht unbedingt ein bevorzugtes Ziel von Wirrköpfen. Es fiel ihr schwer, mit der Tatsache zu leben, dass sich
auf Schritt und Tritt ein bewaffneter Mann an ihrer Seite befand. Yussuf hätte auf dem Festland bleiben können – dieses Angebot hatte sie ihm unterbreitet und die Aussicht, den gesamten Nachmittag auf einer Hallig am Ende der Welt verbringen zu müssen, war nicht allzu verlockend. Aber als Personenschützer des Bundesgrenzschutzes folgte er seinen Befehlen – und die lauteten nun einmal eindeutig, die Ministerin zu beschützen. Eigentlich ein Job für mehr als nur eine Person, aber die Geldmittel waren heutzutage auch im Personenschutz knapp. Außerdem wollte die Ministerin der Opposition wohl keine Fläche für weitere Angriffe geben. Ihre Gegner lauerten nur darauf, Kommentare wie etwa »Warum hält sich eine Bauministerin ein Heer von Bodyguards?« abzugeben. Der Mann, der sie begrüßt hatte, hieß Kurt Plisken, ein grobschlächtiger Kerl mit einer Halbglatze, großen, von harter Arbeit gegerbten Händen und, wie Yussuf auffiel, ziemlichen O‐ Beinen. Plisken war Bauunternehmer, Architekt und der Partner von Hans Zimmermann gewesen. Zusammen hatten sie das vollkommen heruntergekommene Kirchgebäude restauriert. Die Arbeiten waren abgeschlossen, die Gerüste und übrigen Baumaterialien bereits von der Insel verschwunden – das ließ den Tod des Baumeisters umso tragischer erscheinen. Sie folgten Plisken zum Südende der Kirche, wo sich eine stabile, große Eichentür befand. Eine kleine Steintafel zur Rechten erinnerte an den Bau des Gebäudes, der in den Jahren 1899 und 1900 stattgefunden hatte. »Hast du eine Ahnung, warum in einer gottverlassenen Gegend wie dieser eine Kirche gebaut wurde?« Max Schneider kaute ein neues Kaugummi. Yussuf fiel auf, dass die Kuppen von Schneiders Zeige‐ und Mittelfinger der rechten Hand vom Nikotin gelblich verfärbt waren. Da der Pilot aber nicht nach Zigarettenqualm roch,
war sein Kaugummitick offenbar ein Versuch, die Gier nach einem Glimmstängel zu kompensieren. »Um Gott zu preisen. Warum sonst?« »Bist du ein gläubiger Mensch?« Yussuf nickte. »Du nicht?« Der Pilot zuckte mit den Schultern. Sie betraten die Kirche. Die Wände des Kirchschiff es waren weiß gekalkt. Links und rechts befanden sich jeweils drei Fenster, deren Scheiben aus mehreren Dutzend milchweißen Glasplättchen bestanden. Zum Altarraum führten zwei Stufen. Der Opfertisch selbst, ein grauweißer Betontisch neuer Prägung, stand in der Mitte. Die Mosaikfenster in den Wänden des Altarraumes links und recht zeigten zwei Szenen aus der Bibel. Eines stellte Jesus beim letzten Abendmahl dar, das andere aber … Yussuf konnte es nicht direkt zuordnen. Der christliche Glaube war ihm nicht fremd, doch die Szenerie dieses Bildes war ihm völlig unbekannt. Ein kleiner Junge, möglicherweise ebenfalls Jesus, zerschlug einen Tisch; daneben standen ältere Männer, die sich ängstlich von dem zornigen Jüngling abwandten. Yussuf dachte nicht weiter darüber nach. In der Kirche befanden sich weder Bänke noch Stühle. Eine Tribüne, auf der eine Orgel hätte stehen können, gab es nicht, doch neben der zweiten Eingangstür befand sich ein Harmonium. »Meine Herren!« Volker Schumacher baute sich vor Yussuf Arikan und Max Schneider auf. »Ich möchte Sie bitten, draußen zu warten.« »Warum? Ich mag Kirchen eigentlich.« Max Schneider kaute betont lässig sein Kaugummi und schmatzte provozierend. Yussuf musste sich ein Grinsen verkneifen und Professionalität bewahren. Der Pilot, ein gut aussehender Frühfünfziger, der allerdings mit einem leichten Bauchansatz kämpfen musste, verbarg seine Abneigung gegenüber Schumacher nicht.
»Bei allem Respekt, aber ich muss mich erst davon überzeugen, dass für die Frau Ministerin keine Gefahr besteht«, widersprach auch Yussuf. »Wir befinden uns auf einer Hallig Kilometer von jeglicher Zivilisation entfernt …«, plusterte sich der Staatssekretär auf. »Und ich tue meine Arbeit.« Yussufs dunkelbraune Augen blitzten. »Volker, bitte …«, schaltete sich die Ministerin ein. Sie hatte ihr Lächeln wieder gefunden. »Yussuf, ich würde mit Herrn Plisken gerne unter vier Augen sprechen.« Der Personenschützer nickte. Er griff den Piloten am Unterarm und zog ihn sanft, aber bestimmt hinaus aufs Eiland.
* »Ich würde gerne einmal wissen, was diese Leutchen zu bereden haben?« Der Nordseewind umwehte sanft Yussufs fein geschnittenes Gesicht. Er beobachtete, wie das Wasser anstieg. Er hielt eine Dose Cola in seinen Händen und saß auf dem Co‐ Pilotensitz des Hubschraubers. Die Türen standen offen, so dass ein angenehmer Durchzug herrschte. »Man bekommt als Pilot ja nicht viel mit, wenn man vorne sitzt. Aber du hast doch bestimmt schon das eine oder andere Staatsgeheimnis erfahren, oder …« Yussuf grinste viel sagend. Er war für einen Bodyguard relativ klein – noch ein Zentimeter weniger und er wäre Automechaniker in Lübeck geworden. Wie seine drei Brüder. Er trug seine Waffe immer am Gürtel, dazu vier Magazine zum Nachladen, denn er ging gerne auf Nummer sicher. »Du bist wohl der Typ, der nicht viel redet.« »Ich bin der Typ, der Diskretion übt.« Er nahm einen letzten
Schluck aus der Dose und knüllte das Aluminium danach zusammen. »Hey, schon einmal etwas von Dosenpfand gehört.« »Ups …« Die beiden Männer lachten. Die Turmglocke erklang. Es war ein ungewöhnlich dumpfer Klang, als wäre die Glocke verstimmt. Die beiden Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes schauten zugleich auf den Glockenturm, als wäre es möglich gewesen, durch die Mauern zu blicken. Nach drei Schlägen kehrte auf der Hallig wieder Ruhe ein, nur einige Möwen krähten um die Wette. »Das ist aber merkwürdig …« Max Schneider zeigte auf einen Punkt etwa dreißig Meter vom Ufer entfernt. Kurze, unruhige, gegeneinander laufende Wellen stießen aufeinander und ließen das Meer an dieser Stelle alles andere als friedlich erscheinen. »Was ist daran merkwürdig?«, fragte Yussuf. Für den das Watt eine vollkommen fremde Welt war, das er gerade einmal von einem Schulausflug her kannte. »Das ist Kabbelwasser. Das entsteht meist dort, wo zwei Strömungen aufeinander treffen, oder an den Spitzen von künstlichen Bauwerken im Wasser.« »Und?« »Denk doch mal nach! Das dort vorne ist die offene See. Und noch vor einer Minute war das Meer dort völlig ruhig.« Der Pilot verfiel in seinen starken friesischen Dialekt, offenbar war er sehr aufgeregt. Yussuf hingegen konnte an dem Naturschauspiel nichts Ungewöhnliches entdecken.
*
Yussuf schlendert an der Wasserkante entlang und sah, wie die Ministerin ins Freie trat. Sie wirkte wütend. Es dämmerte bereits und das Wasser stieg weiter an. In ein paar Minuten wurde das Meer den Weg, den er entlang flanierte, überspült haben. Er war daran gewöhnt, Minister und Staatssekretäre als Menschen zu erleben. Vor allem die, die vor die Kameras traten und dort so unverbindlich charmant wirkten, waren oft diejenigen, vor denen man sich in Acht nehmen sollte. Wie etwa Volker Schumacher, der vor den Kameras eine außerordentlich gute Figur abgab und als Nachfolger der Ministerin gehandelt wurde. Doch sobald die Türen geschlossen wurden, wurde aus Schumacher ein unsympathischer harter Brocken. Yussuf konnte sich nicht erinnern, dass ihm der Staatssekretär schon einmal einen guten Tag oder eine angenehme Nachtruhe gewünscht hätte. Er schien für Untergebene nicht viel übrig zu haben. Yussuf konnte nicht verstehen, worüber sich die Drei – inzwischen war auch Plisken hinaus ins Freie getreten – stritten. Der Staatsekretär redete auf Schulze‐Petersen ein, Plisken hielt sich im Hintergrund. Als sich die Ministerin abwandte und den Weg zum Hubschrauber einschlagen wollte, packte Schumacher sie so hart am Oberarm, dass sie beinahe zu Boden fiel. Yussuf stand keine dreißig Meter von den Streitenden entfernt. Er benötigte nur ein paar Sekunden um sich zwischen den Staatssekretär und die Ministerin zu schieben. Er verpasste Schumacher einen leichten Hieb gegen den Brustkorb. »Sind Sie wahnsinnig?«, schrie der Staatssekretär. Yussuf Arikan blieb gelassen. Volker Schumacher mochte zwar einen Kopf größer als er sein, aber er schien doch einer körperlichen Konfrontation aus dem Weg gehen zu wollen. »Das wird Sie ihren Kopf kosten«, fluchte Schumacher weiter. »Sie möchten doch nicht wirklich eine Dame schlagen, oder?«
»Was glauben Sie …« »Ich habe gesehen, wie Sie Frau Schulze‐Petersen am Arm gerissen haben. Wenn ich noch einmal sehe, dass Sie meine Schutzbefohlene anrühren, breche ich Ihnen den Arm, ist das klar …« Der Staatssekretär lachte. »Wer glaubst du kleines Arschloch eigentlich, wer du bist …« »Sie Arschloch …« Schumachers Gesicht verfärbte sich langsam aber sicher rot, doch er brachte kein Wort hervor. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich Ihnen das Du angeboten hätte. Es heißt also ›Sie Arschloch‹«, fuhr Yussuf ungerührt fort. Der Staatssekretär lachte. »Du kannst dir schon einmal einen Job als Türsteher suchen, das ist doch das, was Leute wie du am besten können …« Schumacher fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Yussufs Gesicht herum, als wolle er ihm drohen. Dann wandte er sich dem Architekten zu und ging mit ihm in die Kirche. Ministerin Schulze‐Peterson war sichtlich pikiert. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Herr Arikan«, sagte sie leise, »und mich gleichzeitig für Dr. Schumacher entschuldigen. Er ist normalerweise nicht so …« »Doch, das ist er, Frau Ministerin.« Yussuf lächelte unverbindlich. Die Ministerin wirkte bedrückt. »Ich würde Ihnen gerne erklären …« Ihr Bodyguard erhob seine Hände und wehrte ihre Worte symbolisch ab. »Das geht mich nichts an, Frau Ministerin.« »Sie werden natürlich keinen Ärger bekommen, dafür werde ich schon sorgen, ich spreche mit Dr. Schumacher.« »Frau Ministerin«, Yussuf Arikan ergriff ihre rechte Hand und umschloss sie fest, »Sie brauchen sich für nichts entschuldigen.« Von der Geste überrascht raffte sich auch die Ministerin zu einem
Lächeln auf. »Danke«, erwiderte sie. Es war ein Dank von Herzen und vielleicht der erste Moment an diesem Tag, an dem sie für einen Moment erleichtert und entspannt durchatmen konnte. »Hey!« Max Schneider lief den kleinen Hügel hinauf. »Schaut euch das an, so etwas habe ich noch nie gesehen …« Die Ministerin und der Personenschützer verstanden nicht, was der Friese meinte. Erst als sie sich umdrehten, wurde ihnen klar, was ihn so sehr in Aufregung versetzte. Eine Nebelwand schob sich aus dem Nichts kommend auf die Hallig zu. Doch sie näherte sich nicht von Ost oder West, Nord oder Süd. Sie kam aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig.
* Die Ministerin, ihr Staatssekretär, Yussuf Arikan und Max Schneider benötigten keine zwei Minuten, bis sie im Hubschrauber saßen und der Pilot die Rotoren startete. Doch diese zwei Minuten waren bereits zu viel … Der Nebel fiel über die Insel her wie ein Dieb über sein wehrloses Opfer. Einen solch dichten Nebel hatte Yussuf Arikan noch nie gesehen – und wenn er sich Max Schneider anschaute, schien auch der Pilot etwas Ähnliches noch nie erlebt zu haben. »Sie können doch durch Nebel fliegen, oder nicht?«, fragte der Staatsekretär und in seiner Stimme klang Verunsicherung mit. »Ungern, aber theoretisch wäre das möglich …« »Theoretisch?« Stumm tippte der Pilot mit einer Hand gegen seinen Kompass, der verrückt spielte. »Was zum Teufel …« Der Staatssekretär ließ den Satz unvollendet. Aus der rechten Innentasche seiner Lederjacke zog er ein Handy hervor. Er tippte eine Nummer ein, aber es kam keine Verbindung
zustande. Schneider versuchte über Funk seinen Stützpunkt zu erreichen. Mehr als ein Rauschen bekam auch er nicht zu hören. »Ist ja prächtig. Haben Sie keine Erkundigungen über das Wetter eingeholt«, raunzte Volker Schumacher den Piloten an. »Selbstverständlich habe ich meinen Job getan! Ich habe mich vor fünfzehn Minuten noch mit dem Tower unterhalten und von dort die Meldung einer leichten Böe und eines wunderschönen Tages erhalten.« Die Kompassnadel drehte ihre Runden, etwas schien sie abzulenken; außerdem waren Teile der Elektronik offenbar durch einen Kurzschluss in ihrer Funktion eingeschränkt. Der Pilot schüttelte den Kopf. »So eine Scheiße habe ich noch nicht erlebt«, fluchte er auf Friesisch. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Er schaltete den Motor ab. »Was soll das?« Natürlich kam dieser irrelevante Kommentar von Schumacher. »Möchten Sie durch diese Suppe ohne Kompass fliegen?«, gab der Pilot gereizt zurück. Insgeheim hoffte Yussuf, dass Schumacher nur ein aufgeblasener Fatzke war, ansonsten befand sich seit eben ein zweiter Bundesgrenzschützer auf seiner Schwarzen Liste. Einer Liste, die bestimmt viele Namen umfasste, denn viele Freunde schien der Politiker nicht zu haben. Man schätzte wohl vor allem seinen Sachverstand … »Frau Ministerin«, wandte sich der Pilot an die Politikerin. »Es tut mir Leid, aber offenbar wurden uns falsche Daten übermittelt. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte und ehrlich gesagt habe ich so etwas noch nie erlebt …« »Vielleicht ist es ja besser so. Stellen Sie sich einmal vor, das Problem mit dem Kompass wäre während des Fluges aufgetreten«, beruhigte die Ministerin den sichtlich verärgerten, aber auch
besorgten Piloten. Yussuf Arikan wandte sich von dem Gespräch ab. Ihm war, als hätte er in dem dichten Nebel, der vielleicht fünf, sechs Meter Sicht erlaubte, etwas gesehen. Einen Schatten. Einen menschlichen Schatten? Kurt Plisken womöglich, der eigentlich auf der Insel bleiben und sich am späten Abend von einem Boot abholen lassen wollte. Hatte er es sich anders überlegt? Yussuf Arikan öffnete seine Weste und dann das Lederbändchen seines Pistolenhohlsters. Er war darauf trainiert, Gefahren zu erkennen, ehe sie tatsächlich konkret wurden. Zwar befand sich außer ihnen nur noch der Architekt auf der Insel, aber tief in seinem Inneren spürte er, dass sich etwas im Nebel befand. Irgendetwas. »Mist«, hörte er den Staatssekretär fluchen, als Schumacher die Seitentür des Hubschraubers öffnete. Yussuf löste seine Sitzgurte und wirbelte auf dem Sitz herum. Er griff nach seiner Waffe und richtete sie auf den Angreifer, der in dieser Sekunde den Staatssekretär packte und aus dem Hubschrauber riss.
* Es ging unglaublich schnell. Yussuf robbte in den Passagierbereich des Hubschraubers, drückte die Ministerin in ihren Schalensitz und schützte sie mit seinem Körper. Die Bauministerin schrie, während ihr Staatssekretär vor den Hubschrauber stürzte. Yussuf riss seinen rechten Arm in die Höhe. Er konnte den Angreifer nur als Schemen erkennen, dennoch zögerte er keinen Augenblick und feuerte zwei Mal. Die Kugeln schlugen in den Körper ein, aber niemand schrie. Der Angreifer fiel offenbar zu Boden.
Max Schneider öffnete die Pilotentür. Als Grenzschutzbeamter war auch er bewaffnet. Er umklammerte seine Pistole mit beiden Händen. Mit einem Satz kniete er neben dem Staatsekretär. Schneider reichte Schumacher seine Linke und half dem desorientiert wirkenden Mann auf die Beine, um ihm dann einen Stoß zu versetzen. Der Staatssekretär stolperte, nein, er stürzte förmlich in das Fluggefährt. »Max«, brüllte Yussuf, »komm rein.« Der Pilot setzte zum Sprung an, doch etwas hielt ihn zurück. Yussuf erkannte eine Gestalt und feuerte. Doch die Kugeln schienen ihr nicht schaden zu können … Der unheimliche Fremde riss Max Schneider von den Beinen. Erneut ergab sich ein freies Schussfeld, nur konnte Yussuf Arikan nicht erkennen, auf wen – oder was – er feuerte. Wieder und wieder drückte er ab. Der Angreifer wurde getroffen, aber er ließ von dem Piloten nicht ab. Schneider schrie, rollte sich auf den Bauch und feuerte nun seinerseits in den Nebel hinein. Yussuf Arikan musste eine Entscheidung treffen. Sein Job war es zwar, die Ministerin zu schützen, aber er konnte nicht tatenlos mit ansehen, wie der Angreifer einen Kollegen tötete. Also sprang der Bodyguard ins Freie und stürzte sich auf den Unheimlichen. Wie ein Rugbyspieler rammte er seinen Gegner zu Boden. Der Pilot erwies sich trotz seines Bauchansatzes als recht behände. Er drehte sich auf den Rücken, umschloss seine Waffe mit beiden Händen – und feuerte auf den Schatten, der sich taumelnd erhob, aber von der Wucht der Einschüsse wieder zu Boden gerissen wurde. Yussuf Arikan robbte zum Hubschrauber zurück, packte seinerseits den Piloten und zerrte ihn mit sich in den metallenen Vogel. Als er wieder nach draußen sah, war der Angreifer verschwunden.
Für den Augenblick zumindest. Yussuf atmete gerade erleichtert auf, als er etwas Seltsames entdeckte. Auf seiner Oberbekleidung klebte Rottang …
* Er klopfte sich die zierlichen Algen, deren roter Blattfarbstoff im Notlicht der Kabine seltsam schimmerte, von den Schultern und sogar aus den Haaren, ohne die Türen aus den Augen zu lassen. Vorsichtig näherte er sich der Ministerin, die unter Schock stand und schwer atmete. Er ging in die Knie und stieß sie leicht an die Schulter. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Frau Ministerin, wir müssen in die Kirche. Im Hubschrauber geben wir ein viel zu leichtes Ziel ab.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Wer war das?«, stammelte sie kaum verständlich. »Ich weiß es nicht«, antwortete ihr der Personenschützer wahrheitsgemäß. »Müsste die Frage nicht lauten, was das war?«, meldete sich Volker Schumacher leichenblass zu Wort. »Was?«, fragte Yussuf Arikan erstaunt. »Sie haben auf das Ding gefeuert und es ist verschwunden«, ereiferte sich Schumacher. »Sie haben ein verdammtes Magazin in das Scheißding entleert und es ist nicht tot.« Yussuf versuchte Ruhe zu bewahren. »Möglicherweise handelte es sich um einen Kampfschwimmer, der eine kugelsichere Weste getragen hat. Ich glaube auch nicht, dass er unverletzt ist …« »Ich gebe unserem Staatssekretär nur ungern Recht«, fiel der Pilot
ihm ins Wort, »aber die Hand, die mich ergriffen hat …« Er schüttelte sich und sprach den Satz nicht zu Ende. »Außerdem glaube ich, dass es sich um zwei Angreifer gehandelt hat. Der mich gepackt hat, war … war größer als der erste …« Yussuf Arikan gab ungern zu, dass ihm dieser Gedanke auch schon gekommen war; nicht aufgrund genauer Beobachtungen, sondern ausgelöst durch ein undefinierbares Gefühl. Aber war es nicht auch nur ein Gefühl gewesen, das ihn gewarnt hatte? »Sie wollen mit uns durch den Nebel zur Kirche?«, fragte Staatssekretär Schumacher mit einem leichten Anflug von Hysterie in der Stimme. »Ich werde den Hubschrauber starten«, meldete sich Max Schneider zu Wort. »Um dann irgendwo über der Nordsee verloren zu gehen«, konstatierte die Ministerin sarkastisch. »Da drüben«, der Pilot zeigte gen Osten, »ist das Festland. Das sind nur ein paar Kilometer.« Die Stimme des Piloten zitterte. »Es mag sein, dass wir blind fliegen und nicht genau wissen werden, wo unser Vogel landen wird, weil der verdammte Kompass streikt, die Elektronik spinnt, wir keine beschissene Funkverbindung nach draußen bekommen und keine Ahnung haben, wie weit der Nebel sich zieht, aber es ist besser, im Blindflug durch diese Suppe zu fliegen als auch nur eine Minute länger auf dieser Insel zu bleiben!« Yussuf blickte die Ministerin fragend an. Die Entscheidung lag bei ihr. »Und Herr Plisken?«, fragte sie besorgt. »Wir sollten froh sein, wenn er es nicht schafft«, blaffte Volker Schumacher. »Dann wären wir ein Problem los.« Yussuf Arikan versuchte die eigene Angst, die seinen Magen im Würgegriff hielt, zu unterdrücken. »Ich werde tun, was Sie von mir verlangen«, sagte er zu seiner Schutzbefohlenen, den Staatssekretär bewusst ignorierend. Die Ministerin zögerte, während Max Schneider die Rotoren
startete. Das Metall begann zu vibrieren, die Rotoren drehten sich schneller und schneller. In Filmen sieht es immer so einfach aus, einen Hubschrauber zu starten – ein Knopf wird umgelegt, die Rotoren beginnen sich zu drehen und schon fliegt der Hubschrauber davon. In der Realität benötigt es eine Menge Zeit, bis die Rotoren die Geschwindigkeit erreichen, die einen Flug erst möglich machen. Diese Minuten verwandelten sich auf Hallig Bröde in eine Ewigkeit. Die Entscheidung, wie sie handeln sollten, wurde ihnen von den Angreifern abgenommen. Die Frontscheibe des Hubschraubers zerplatzte. Es war jedoch weniger der Schreck, der Yussuf Arikan, die Ministerin und ihren Staatssekretär zusammenzucken ließ. Es war vielmehr der Schrei Max Schneiders … Yussuf reagierte sofort und feuerte in den Nebel hinein. Zwei Kugeln – dann war sein Magazin leer. Mit einem Daumendruck löste er die Sperre, die das Magazin in der Waffe hielt. Es fiel noch zu Boden, als er bereits mit der freien Hand das neue Magazin in die Waffe drückte. Der Bodyguard stieß die Ministerin zu Boden und deutete Schumacher an, ebenfalls in Deckung zu gehen, während er vorsichtig über die Mittelkonsole ins Cockpit zu gelangen versuchte. Max Schneiders saß auf seinem Pilotensitz, nur noch vom Gurt aufrecht gehalten. Eine Axt spaltete seinen Schädel.
* Yussuf Arikan blieb in Deckung und zog von Grauen geschüttelt die Axt aus dem Schädel seines Grenzschutzkollegen. Vorsichtig tastete er nach Schneiders Dienstwaffe. Sie lag griffbereit auf seinem Schoß, doch sie hatte ihm nichts mehr genutzt. Unter dem Pilotensitz befand sich außerdem eine Leuchtpistole, die Yussuf ebenfalls an sich nahm.
Die Ministerin weinte, Schumacher kaute nervös an den Fingernägeln. »Wir müssen in die Kirche«, wiederholte sich Yussuf Arikan scheinbar völlig beherrscht. »Max Schneider ist tot.« Ohne zu diskutieren drückte er der Ministerin die Waffe des Piloten in die Hand. Sie zitterte, wollte sie ihm zurückgeben, doch Yussuf schüttelte den Kopf. Yussuf reichte dem Staatssekretär die blutverschmierte Axt. »Sollte ich nicht besser die Pistole nehmen?«, fragte dieser, offenbar nicht ganz ohne eigennützige Gedanken. Die Ministerin beugte sich zu ihm, um ihm die Waffe zu geben. »Nichts da.« Yussuf hielt die Ministerin von ihrem Vorhaben sanft, aber bestimmt ab. »Sie sind ein Mann«, blaffte er Schumacher an. »Unsere Angreifer haben bislang keine Schusswaffen benutzt. Keine Ahnung, warum, aber es ist eine Tatsache, die wir uns zu Nutze machen müssen! Wenn Ihnen einer von diesen Drecksäcken zu nahe kommt, haben Sie zumindest eine Chance, ihm als erster mit der Axt seinen Schädel zu spalten. Sie aber«, wandte er sich an die Ministerin, »haben diese Kraft nicht. Daher pumpen sie diese Wichser mit Bleib voll. Ist das klar?« Yussuf Arikans Worte waren aggressiv heraus gebrüllte Befehle, denen sich die Ministerin und der Staatssekretär zu beugen hatten. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ein Widerwort nicht zuließ und benutzte bewusst eine solch derbe Sprache. »Vergessen Sie nicht, sich zu ducken«, schrie er, bevor er die Tür aufriss, in den Nebel sprang, den Staatssekretär am Arm packte, aus dem Hubschrauber zerrte und dann die Ministerin am Ellenbogen hinaus zog. Sie rannten den aufgeschütteten Hügel hinauf, zur Seitentür. Yussuf Arikan stürmte, die Waffe in der Rechten, mit der Linken seine Schutzbefohlene hinter sich her ziehend, an Schumacher vorbei.
»Kommen Sie mit«, brüllte er und blickte sich um. Sein Herzschlag stockte. Hinter dem jungen Politiker, der bereits wieder im Nebel verschwand, tauchte ein Schatten auf.
* Yussuf Arikan stockte der Atem. In genau dem Moment, als Schumacher losrannte, schlug der Angreifer ins Leere und geriet ins Stolpern. Der Staatssekretär bemerkte den Angriff nicht einmal. Yussuf öffnete die Kirchentür und stieß die Ministerin hindurch. Er selbst folgte ihr nur den Bruchteil einer Sekunde später; Schumacher wiederum folgte unmerklich später. Ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu verlieren, schob Yussuf seine Waffe in den Hohlster, packte die Tür mit beiden Händen und schlug sie mit aller Kraft zu. Ein modernes Sicherheitsschloss, offenbar dazu gedacht, allzu neugierige Segler von einem Besuch der Kirche außerhalb ihrer Öffnungszeiten abzuhalten, schützte die Tür. Yussuf Arikan drehte den Türknauf. Ein leises Klicken und die Pforte war verriegelt. »Was geht dort draußen vor?« Kurt Plisken, der Architekt, der in der Kirche zurückgeblieben war, zitterte am ganzen Körper. Beim Blick auf die Blut verschmierte Axt in den Händen des Staatssekretärs wich er verstört zurück. »Wir werden angegriffen und haben verdammt noch mal keine Ahnung von wem«, fluchte Yussuf, während er den Nebeneingang und die Fenster überprüfte. »Sind das Attentäter?«, fragte Plisken, ohne den Blick von der Axt abzuwenden. »Eher radikale Teetrinker, deren Earl Grey zu kalt serviert worden
ist«, grollte der Staatssekretär, ehe er wütend die Stimme erhob. »Natürlich sind das Attentäter, du Arschloch.« »Aber das macht doch keinen Sinn«, wimmerte der Architekt. »Warum nicht?« Yussuf Arikans Desinteresse war verflogen. Ihn interessierten die Ränkespiele seiner Schutzobjekte normalerweise nicht, doch in diesem Fall sah es anders aus. Dieses Mal war aus einem Routineauftrag blutiger Ernst geworden. Und wenn er schon auf einem gottverlassenen kleinen Eiland in der Nordsee krepieren musste, wollte er wenigstens wissen, warum er sich überhaupt auf dieser Hallig befand. »Das geht Sie nichts an«, bellte ihn Schumacher an. »Halt den Mund, Volker.« Die Ministerin erhob sich langsam vom kalten Kirchboden. »Halt einfach deinen Mund.« Unendliche Frustration lag in ihrer Stimme.
* »Dann verabschiede dich schon einmal von deiner politischen Zukunft.« Volker Schumacher hatte sich wieder unter Kontrolle. Selbst in einer Situation wie dieser dachte er nur an eines: Karriere. Yussuf Arikan wusste nicht, ob er Schumacher dafür hassen oder sogar bewundern sollte. Der Staatssekretär positionierte sich neben dem Seiteneingang, die Axt fest in Händen haltend. Die Schlacht kampflos aufzugeben, schien für ihn inakzeptabel zu sein. Die Ministerin setzte sich an das Harmonium. Vor dem Instrument stand ein Schemel, die einzige Sitzgelegenheit in dieser Kirche. Sie streichelte die Tasten – angeblich war sie eine ganz hervorragende Klavierspielerin. Yussuf hätte ihr gerne einmal zugehört. Er ließ sich neben das Instrument sinken und schloss seine Augen.
»Vor zwei Jahren musste mein Mann Konkurs anmelden«, begann die Ministerin. »Er ist Statiker und betreibt ein eigenes Büro. Ohne die Situation schön zu reden: die Situation seiner Firma war so prekär gewesen, weil es in Deutschland inzwischen zum guten Ton gehört, Rechnungen nicht zu bezahlen. Er hat ordentlich gearbeitet, aber die Auftraggeber haben nicht gezahlt.« Sie lächelte unsicher. »Zwei Tage nach der Anmeldung der Insolvenz erhielt mein Mann einen sehr großen Auftrag. Der Auftraggeber verpflichtete sich noch am gleichen Tag, die Hälfte der ausgemachten Summe zu bezahlen, als eine Art zinsloses Darlehen – und rettete das Unternehmen meines Mannes.« »Die Auftraggeber waren Plisken und Zimmermann«, vermutete Yussuf. Sie nickte. »Als Gegenleistung verlangten sie gar nicht viel. Sie baten mich nur, dass, sollte es ihnen einmal schlecht gehen, ich sie nicht vergessen möge.« »Und weiter?« »Nun, der Baubranche geht es ganz allgemein nicht gut und vor einiger Zeit erhielt ich einen Anruf von Herrn Plisken. Nun kann ich nicht einfach einen Auftrag vergeben. Aufträge müssen ausgeschrieben werden, das ist ein sehr bürokratischer Akt. Aber es gibt natürlich Mittel und Wege, solche Ausschreibungsverfahren zu …« Sie stockte. »Manipulieren?«, schlug Yussuf vor. »Zu manipulieren«, wiederholte sie. »Vor allem im Bereich des Denkmalschutzes. Herr Plisken hat mich schließlich auf diese Kirche aufmerksam gemacht. Das perfekte Objekt für unseren Deal. Dieses Gebäude ist einmalig, Herr Arikan. Er steht auf einer Hallig mitten im Nirgendwo, jenseits aller Schifffahrtslinien. Es gibt in ganz Schleswig‐Holstein keine zweite Kirche wie diese. Der Glockenturm ist nicht begehbar, sie hat keine Sakristei, keinen Keller, keinen Friedhof, diese Kirche dürfte so, wie sie hier steht, gar nicht
existieren. Und daher war sie unbedingt erhaltenswert.« Die Ministerin rieb sich die Augen. »Die Medien berichten von einem Auftragsvolumen von 600.000 Euro.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist aber nur ein Teil der tatsächlichen Summe. Tatsächlich sind in dieser Kirche rund 1,5 Millionen Euro versickert … Ja, es war einfach, die Unterlagen zu manipulieren. Die Einmaligkeit dieser Kirche konnte tatsächlich von meinem Ministerium innerhalb sehr kurzer Zeit festgestellt werden. Das ist nicht einmal eine Lüge. Nur bei der Darstellung der Dringlichkeit der Renovierungsarbeiten haben wir die Situation etwas verschärft.« »Also begannen Arbeiten, die niemand überprüfen konnte, da kein Parlamentarier, kein Beamter sich auf den Weg macht, um hier hinaus zu kommen. Und wenn doch, dann sah er ja Bauarbeiten.« »So ist es. Die Kosten wurden nicht weiter hinterfragt. Die Rechnungen wurden von den zuständigen Gremien abgezeichnet, alles lief perfekt. Bis Hans Zimmermann ertrunken ist. Er war allein auf der Insel, um die Elektronik zu überprüfen, die übrigens über einen kleinen Generator in einem Schacht neben dem Eingang betrieben wird.« Die Ministerin schüttelte den Kopf. »Sein Boot lag am Steg, er ist auf einer Insel aufgewachsen … Warum also ist er ins Watt hinaus gelaufen? Er muss über die hiesigen Verhältnisse und die möglichen Gefahren bestens Bescheid gewusst haben. Die Versicherung stellte Fragen – und unser so schön aufgebaute Kartenhaus aus kleinen Lügen und Betrügereien wackelt nicht nur, es steht kurz vor dem Zusammenbruch.« »Dann sind Sie heute nur nach Bröde geflogen, um sich hier in Ruhe mit Plisken unterhalten zu können?«, fragte Yussuf Arikan ungläubig. »Jenseits der Augen und Ohren der Journalisten, meiner Parlamentskollegen, der Öffentlichkeit. Wir sind nur wegen eines
Gespräches hier hinaus geflogen. Und um Strategien zu entwickeln, wie wir politisch und geschäftlich heil aus der Geschichte heraus kommen.« Yussuf schlug die Hände vors Gesicht. Und lachte. Mit dieser Reaktion hatte keiner der Anwesenden gerechnet. »Tja, Frau Ministerin, Ihre Ehrlichkeit ehrt sie, aber dennoch habe ich eine schlechte Nachricht für Sie.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter hin zur Eingangspforte: »Die Jungs dort draußen kommen nicht von der Opposition.« Im gleichen Augenblick erschüttert eine Explosion die Kirche.
* Einige Mosaikfensterscheiben gingen zu Bruch. Ein Regen aus buntem Glas ergoss sich in den Altarraum. Ein Teil des Hubschrauberrotorenblattes schoss in das Gotteshaus hinein und donnerte auf dem Altar nieder. Kurt Plisken, der unter dem Altar Schutz gesucht hatte, schrie. Der Opfertisch hielt dem Aufprall zwar stand, aber ein Teil des Metallblattes traf Plisken noch am Kopf. »Sie haben den Hubschrauber gesprengt«, fluchte Volker Schumacher. Die Ministerin kümmerte sich um wimmernden und stark blutenden Architekten. Ein Poltern erschütterte die Haupteingangspforte, nur einen Augenblick später krachte es auch an der Seitentür. Yussuf Arikan stand wie angewurzelt in der Mitte des Gebäudes. Sein Verstand verlangte von ihm, die Haupttür zu sichern, sein Gefühl aber gab ihm eine andere Richtung vor. »Das ist ein Ablenkungsmanöver«, rief er dem Staatssekretär zu
und deutete auf das hinterste der drei Seitenfenster. Durch das Feuer der Explosion wurde der Nebel erhellt – und eine Gestalt wurde sichtbar, die versuchte, durch das Fenster in die Kirche zu gelangen. Ohne zu zögern nahm Yussuf den Angreifer ins Visier und feuerte. Der Körper wurde durch den heftigen Einschlag aus seinem Sichtfeld geschleudert. Eine zweite Scheibe auf der direkt gegenüberliegenden Seite zerbrach und ein Körper stürzte in den Kirchsaal. Keiner – weder Staatssekretär Schumacher, Ministerin Adelheid Schulze‐Petersen, der Architekt Kurt Plisken noch der Bundesgrenzschützer Yussuf Arikan – wagte in diesem Moment etwas zu sagen. Erst als sich der Angreifer aufrappelte, durchbrach Kurt Pliskens Schrei die plötzliche Stille. Der Angreifer, dessen aufgedunsenes, schwarz verfärbtes Gesicht an den Wangen aufgeplatzt war und einen Blick auf die faulig braunen Knochen unter der Haut freigab, würgte ein paar Wattwürmer aus seinem Mund. Dann lächelte er.
* Yussuf Arikan war es vollkommen egal, ob ein Angreifer ein Politwirrkopf, ein professioneller Attentäter oder ein Zombie war. Er nahm den Kopf des Angreifers ins Visier und feuerte. Der Schädel zersprang in kleine Haut‐ und Knochenfetzen. Der Körper des Mannes fiel nach vorne und grün gefärbtes Wasser ergoss sich auf den Kirchboden. Ein weiteres Fenster ging zu Bruch, zwei weitere Zombies stürzten in die Kirche. Ein Vierter stürzte durch die Reste des Mosaikfensters, dessen biblische Geschichte Yussuf Arikan nicht erkannt hatte.
Eine fünfte Horrorgestalt, eine sechste … Die Ministerin wich zurück, aufgequollene, grünlich schimmernde, schwarze Hände griffen nach ihr. Schreiend wich sie ihnen aus, doch sie stürzte. Ein besonders breitschultriger Angreifer, an dessen Oberkörper ein weißblau gestreiftes Hemd in Fetzen herab hing, fasste nach ihr und öffnete seinen Mund – als wolle er sie küssen. Yussuf Arikan verpasste ihm einen Tritt, der Untote geriet ins Schwanken und fiel neben Schulze‐Petersen auf den kalten Steinboden. Yussuf feuerte, doch der erste Schuss streifte das Monstrum lediglich; bevor Yussuf ein zweites Mal abdrücken konnte, spürte er eine nasse Hand, die ihn an der Schulter griff und deren glitschige, vermoderte Finger sich in seine Haut bohrten. Der Schmerz war unerträglich. Yussuf wollte sich umwenden, dem Angreifer etwas entgegen setzen; aber sein Körper versagte ihm den Dienst. Während die Ministerin wieder auf die Füße kam und flüchtete, erhob sich der Zombie, den Yussuf angegriffen hatte und stürzte sich wütend auf den Leibwächter. Dies war der Moment, in dem die Ministerin auf den Angreifer schoss. Die Kugel bohrte sich durch seinen Körper, trat aus dem Brustkorb wieder aus und streifte Yussuf Arikan am Oberarm.
* Einer der beliebtesten Sprüche in alten Western lautet: »Es geht mir gut. Es ist nur ein Streifschuss.« In der Realität aber sieht dies anders aus. Yussuf Arikan stöhnte, als der Schmerz durch seinen Arm, seinen ganzen Körper schoss. In Sekundenschnelle färbten sich das weiße Hemd und der weiße Pullover rot. Dennoch hatte die Ministerin einen wahren Sonntagsschuss
abgegeben. Nicht nur der der bullige Untote stürzte leblos zu Boden – die Kugel traf auch noch den hinter ihm stehenden zweiten Angreifer in die Schulter. Ein leises Puffen war zu hören, als die Kugel in seine morschen Knochen einschlug. Sofort ließ er von Yussuf ab, der den Schmerz in seinem Arm unterdrückte, einmal um die eigene Achse wirbelte und dem Angreifer in den Kopf schoss. Der Zombie fiel leblos zu Boden. Ob leblos bei einem Toten auch tot bedeutete? Weitere Schüsse hallten durch das Kirchschiff. Die Ministerin feuerte weinend und schreiend, bis das Magazin leer geschossen und nur mehr ein hohles Klicken zu hören war, als der Bolzen ins Leere hämmerte. Staatssekretär Schumacher kauerte neben der Pforte. Ein kleiner Untoter, der sich nur robbend vorwärts bewegen konnte, da er keinen Unterleib mehr besaß, schob sich auf den Sekretär zu, der kurz davor stand, den Verstand zu verlieren. Yussuf Arikans Waffe war leer. Und dieser Idiot von Staatsekretär blieb einfach sitzen. Yussuf ließ das Magazin aus der Waffe gleiten, packte an seinen Gürtel und – griff ins Leere. Die Magazine waren verschwunden, vermutlich im Kampf mit den Untoten verloren gegangen. Zeit zum Suchen blieb nicht. Kurz entschlossen packte Yussuf den kriechenden Zombie. Der Untote trug die Reste von Seemannskleidung, die noch immer einen großen Teil seines verrotteten Körpers bedeckten. Der Zombie wehrte sich mit Ruderbewegungen seiner Arme, als Yussuf ihn bei den Hosenträgern packte und über den Boden schleifte. Im Vorbeilaufen entriss Yussuf dem vollkommen apathisch geradeaus starrenden Staatssekretär die Axt. »Showtime«, wisperte er dem Zombie in die Ohren. Dann hob er, vollkommen von Sinnen und von Panik überflutet, die Axt und schlug zu.
* Yussuf Arikan beugte sich über den Leichnam Kurt Pliskens. Der Architekt lag zusammengekauert am Absatz der Altarstufe. Eine riesige Blutlache füllte den Untergrund aus bildete einen roten Teich, der einen Abdruck des Toten abzeichnete und verewigte. Yussuf schloss dem Architekten die Augen. Draußen hörte er Schritte. Die Angreifer schienen sich neu zu formieren. Sie mochten zwar nicht mehr unter den Lebenden weilen, aber dumm waren sie nicht. »In Ordnung, hat jemand eine Idee?«, fragte Yussuf in die Runde. Die Ministerin kauerte auf den Stufen, starrte den Architekten an und hielt ihre Waffe festgekrallt in ihren schlanken Händen. Sie hasste Waffen, war Mitglied der Friedensbewegung und überzeugte Vegetarierin … und doch hatte sie im Moment nackter Panik auf den Angreifer geschossen. »Das alles hier kann nicht wirklich geschehen«, flüsterte sie fassungslos. »Dafür muss es doch eine logische Erklärung geben …« »Und, was haben Sie zu sagen, Dr. Schumacher?«, schoss Yussuf seine Frage ab. Der Staatssekretär war leichenblass. Er bibberte vor Kälte, würgte hin und wieder, um sich zu übergeben. Doch es gelang ihm nicht. Yussuf sank zu Boden. Die Schusswunde schmerzte, aber sie blutete kaum; offenbar ging sie nicht tief. Er nahm die Axt, die er neben dem Architekten abgelegt hatte, wieder an sich. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie eigenartig geformt war. Ihr Stiel war länger, der Metallkopf etwas größer als gewöhnlich. Außerdem war die obere Kante leicht abgerundet und ergab mit der Klinge eine Einheit. Am Stiel stand außerdem etwas geschrieben. Ein – Namenszeichen? »Das ist Chinesisch, oder?«, fragte er die Ministerin. Er wollte sie
vom Geschehen ablenken. »Chinesisch?« Der Staatssekretär übergab sich, als sei das das Stichwort gewesen, der Gaumenkitzler, der ihn endlich von der Last, die auf seinem Magen lag, befreite. Yussuf überlegte. Konnte es sein, dass die Angreifer Asiaten gewesen waren? Ihre Gesichter waren aufgequollen, als hätten sie eine Ewigkeit im Wasser gelegen, unter Schlamm begraben – was wiederum ihre Körper konserviert hatte. »Are You afraight?« Die fremde Stimme wehte urplötzlich in das Kirchgebäude. Kam sie von rechts? Oder links? Der Wind verschwieg ihren Ursprung. Yussuf erkannte in den Worten eines: Wer immer ihnen diese Frage stellte, war weder ein Brite, Amerikaner, Australier oder sonst jemand, der Englisch seine Muttersprache nannte. Der Sprecher bediente sich einer Fremdsprache, was an den lang gezogenen Vokalen und der peniblen Betonung der Konsonanten erkennbar war. Vor allem Menschen aus dem ostasiatischen Raum sprachen auf diese Art Englisch. Zum Beispiel Chinesen.
* Die Zeit lief ihnen davon. Yussuf fand eines seiner Magazine wieder und lud sofort seine Waffe nach. Aber er steckte die Waffe in den Hohlster, denn die Axt erschien ihm in diesem Moment als Waffe sinnvoller. Wenngleich nicht im Einsatz gegen den äußeren Feind. »Dr. Schumacher, Sie haben sich offenbar ausgekotzt«, schnauzte er den Staatssekretär an. »Es ist nun an der Zeit uns mitzuteilen, was
Sie vermuten.« Der Staatssekretär zögerte. »Es ist eine absurde Legende …« »Was absurd ist, das bestimme ich«, stieß Yussuf Arikan hervor. »Wir haben keine Zeit für eine rationale Analyse unserer Situation.« Er streichelte die Schneide der Axt, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Es gibt keine offiziellen Unterlagen über diese Kirche, abgesehen vom Bauplan des Architekten. Weder ist dieser Bau ins zuständige Kataster eingetragen noch ist jemals eine offizielle Baugenehmigung erteilt worden. Wir dachten zunächst, die Unterlagen seien vielleicht im Krieg verloren gegangen, bis wir feststellten, dass diese Kirche tatsächlich illegal erbaut worden ist. Sie wurde auch niemals eingesegnet und Gottesdienste haben hier niemals stattgefunden. Zumindest nicht offiziell.« »Ist das, was Sie mir erzählen, wichtig oder können wir die Geschichte abkürzen?«, fragte Yussuf süffisant, wohl wissend, dass sein Verhalten dem Staatssekretär Angst machte. »Ja«, erwiderte Schumacher, lauter als nötig gewesen wäre. »Es haben in dieser Kirche Gottesdienste stattgefunden, das haben wir recherchieren können, aber ausschließlich von Laien geleitet. Einmal im Jahr trafen sich hier Fischer und Familien aus dem gesamten Umland. Immer am Heiligen Abend. Als wir weiter recherchierten, stießen wir auf einen seltsamen Umstand: Im Jahr 1898 verfügten einige der Fischer plötzlich über überraschend große Geldbeträge. Nicht ein paar Hundert Mark, was für sie schon ein Vermögen gewesen wäre. Es waren mehrere Tausend Mark! Aber dann verschwand das Geld in etwa im gleichen Tempo, wie diese Kirche wuchs.« Yussuf schnippte mit den Fingern. »Wir haben keine Zeit …« »Ja, ja …«, antworte Schumacher gereizt. »1898 verschwand in der Nordsee ein britisches Handelsschiff. Der Heimathafen des Schiffes war Hongkong, die meisten Matrosen waren Chinesen, sogar der
Erste Offizier, was seinerzeit sehr ungewöhnlich war. Das Schiff hatte seine Fracht in London gelöscht und befand sich nun auf dem Weg nach Hamburg, um dort Waren für Hongkong aufzunehmen. Doch dann verschwand es.« Yussuf blickte auf die Axt in seiner Hand. »Wahrscheinlich ist das Schiff gesunken, die Fischer eilten den Seeleuten zu Hilfe und retteten sie. Und den Schatz …« »Schatz?« »Goldschmuck. Schmuggelware. Einige der Seeleute standen offenbar im Dienste einer Triade. Die Gesellschaft, bei der das Schiff versichert war, ging lange Zeit von einem Versicherungsbetrug aus. Erst durch die zufällige Verhaftung eines chinesischen Kaufmanns in London kam heraus, dass die Seemänner an Bord im Auftrag der Triaden regelmäßig Schmuggelware nach Europa transportierten. Opiate, Seide, aber auch Gold, als Bezahlung für Waren, die sie wiederum importierten. Global arbeitende Kriminalität ist kein Phänomen unserer Zeit, Herr Arikan.« Es war das erste Mal, dass der Staatssekretär ihn bei seinem Namen nannte. »Der kleine Jesus wirft die Händler aus dem Tempel …« Yussuf zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Das zeigte das zweite Fenster …« Schumacher sah ihn fragend an. »Die Mosaikfenster. Eines zeigte Jesus beim letzten Abendmahl, bevor er von Judas verraten wurde. Das zweite Fenster zeigte den jungen Jesus, der die Händler aus dem Tempel vertrieb. Beides sind Szenen, die an unsere Sünden erinnern – an Judas, der Jesus verriet, an die Händler, die den Tempel in einen Marktplatz verwandelt hatten. Diese Kirche war die Sühne der Fischer. Sie haben sie erbaut, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten. Sie waren einfache Männer, wahrscheinlich gute, ehrbare Familienväter. Sie haben vielleicht ihre eigenen Leben riskiert, um die Chinesen aus dem Meer zu retten.
Doch dann sahen sie das Gold – es war mehr Wert, als die Fischer in ihrem ganzen Leben verdienen könnten. Deshalb wurden sie schier wahnsinnig. Wahrscheinlich nicht einmal alle, aber doch mehrere von ihnen. Sie töten die Seeleute, wahrscheinlich Stunden später, möglicherweise im Schlaf und ließen die Leichen verschwinden. Das Schiff lag irgendwo weitab vom eigentlichen Kurs. Die Leichen und alles, was die Matrosen bei sich trugen, ließen sie hier im Watt verschwinden. Sie kannten das Watt, wussten, wo der Schlamm die Körper nie wieder hergeben würde.« Yussuf stieß atemlos die Luft aus. »Nun waren sie reich, aber dieser Reichtum machte sie nicht glücklich. Einen Teil des Goldes tauschten sie in Geld um, aber das Blutgeld verfolgte sie bis in ihre Träume. Um ihr Gewissen zu bereinigen, bauten sie diese Kirche. Aber es ist eine Kirche, die die Gläubigen nicht zum Gebet ruft; es ist ein Ort, an dem nur Mörder ihre Gebete sprechen. Allein, abgeschieden von der Außenwelt. Bis der letzte Fischer eines Tages stirbt und diese Kirche endgültig dem Verfall preisgegeben wird.« »Na gut, aber warum sind die Chinesen dann nicht schon früher von den Toten wieder auferstanden und haben sich an den Fischern gerächt?« Schumacher schien den Schlussfolgerungen Yussufs nicht glauben zu können. »Weil es ihnen nicht um Rache geht. Sie wollen zurück haben, was ihnen gehört.« »Das Gold ist weg …« »Wissen Sie das genau? Wie viel Gold haben die Fischer tatsächlich in Geld umtauschen können? Wie viel Gold befand sich im Besitz der Schmuggler? Es muss einen Rest geben, der sich noch immer in dieser Kirche befindet …« »Und wo soll das sein? Die Kirche ist grundsaniert worden, auch der Glockenstuhl wurde …« »Aber auch die Glocke?«, unterbrach Yussuf. »Ich bin in Lübeck in einem Viertel mit nicht weniger als fünf Kirchen aufgewachsen –
und auch wenn ich kein Christ sein mag, weiß ich doch, wie Kirchenglocken klingen. Als die Glocke heute läutete, da erzeugte sie einen Klang, wie ich ihn noch nie gehört habe.« Volker Schumacher starrte auf den kleinen Elektronikkasten neben dem Haupteingang, der die Glocke zum Läuten brachte – an den Stromgenerator angeschlossen an dem Tag, an dem Hans Zimmermann gestorben war … »Deswegen hat der Glockenturm keine Treppen«, schloss Yussuf Arikan seine Ausführungen. »Weil die Glocke noch niemals geläutet worden war! Sie sollte die Fischer an ihre Untat erinnern. Sie besaßen eine der wertvollsten Glocken der Welt – aber sie blieb stumm. Bei den Renovierungsarbeiten wurde sie wahrscheinlich nur wahrgenommen, aber nicht näher untersucht. Das wäre zu teuer gewesen.« »Die Glocke ist aus Gold? Wissen Sie, wie viel Gold das wäre, wie schwer sie dann wäre …« »Nicht die Glocke«, vermutete der Bodyguard. »Der Klöppel ist aus Gold.« »Dann sollen sie ihr Gold doch haben«, fauchte die Ministerin, aus ihrer Trance erwacht. Bevor Yussuf Arikan sie aufhalten konnte, rannte sie an ihm vorbei zur Hauptpforte und öffnete die Tür.
* Yussuf Arikan zog die Waffe. Aber auf wen sollte er zuerst schießen? Auf die Untoten, die durch die Hauptpforte wankten? Oder diejenigen, die durch die Fenster eindrangen? »Wie viele Besatzungsmitglieder hatte das Schiff?«, fragte er den Staatssekretär hastig. »Dreißig …«
Hände griffen nach der Ministerin. Drei, vier Körper stürzten sich auf sie. Aufgeschwemmte Leichname streckten ihre aufgedunsenen Finger nach den Männern aus. Yussuf Arikan und der Staatssekretär wichen zurück. »Heidi?«, schrie Volker Schumacher verzweifelt. »Warum hast du das getan?« »Weil sie versagt hat«, stellte Yussuf Arikan nüchtern fest. »Und weil sich hinter ihrer netten Fassade, auf die auch ich hereingefallen bin, nur eine Politikerin versteckt, die nichts anderes als ihren eigenen Arsch retten wollte …« Unendliche Wut auf seine Schutzbefohlene überkam den Bodyguard. Er hatte immer als alter Mann, umgeben von seiner Familie, ins Paradies einziehen wollen … Die Leuchtpistole aus dem Hubschrauber, die noch immer in seinem Hosenbund steckte, fiel ihm ein. Er drückte dem Staatssekretär seine eigene Pistole in die Hand. »Die Tür ist offen, unsere Feinde hier drin. Sie mögen uns nach unserem Leben trachten, aber sie sind langsamer als wir …« Hände griffen nach ihnen, doch Yussuf Arikan wusste die Axt zu handhaben. Er schlug um sich, trennte Gliedmaßen von Körpern, trat, ja biss sogar um sich, mitten in ihr fauliges Fleisch. Er spürte und schmeckte es überall. Der Kampfrausch machte ihn blind und taub dem Entsetzen und dem Ekel gegenüber. Um ihn herum fielen Schüsse. Der Staatssekretär versuchte, sich einen Weg zu bahnen, aber es gelang ihm nicht, seine Angst in Wut und diese Wut in Kraft zu verwandeln. Yussuf verlor ihn aus den Augen, während er den Angreifern den Kampf seines Lebens lieferte. Er konnte es kaum fassen – aber er hatte es geschafft. Er stand direkt neben dem kleinen Metallkästchen am Eingang und drückte den entscheidenden Knopf.
Eine Sekunde verging. Yussuf Arikan wurde zu Boden gerissen. Zwei Sekunden. Er rollte sich auf den Rücken. Drei Sekunden. Ein Angreifer stürzte sich auf ihn. Das Gesicht des Mannes war zu der Größe eines Fußballs aufgequollen. Es war schwarz und stank nach Verwesung. Vier Sekunden. Ein Glockenschlag. Der Angreifer ließ von Yussuf ab. Der Grenzschutzbeamte ergriff die Leuchtpistole, entsicherte sie, robbte einen, zwei Meter, rappelte sich wieder auf – und blickte hinauf in den Glockenturm. Die Glocke hing frei über ihm. Keine Treppen, keine Böden verhinderten die Sicht. Sie hing genau so, wie die Fischer sie es geplant hatten: Frei einsehbar, direkt über dem Eingang. In einem Holzrahmen. In einem Dachstuhl aus Holz. Yussuf feuerte in den Turm hinein, dann rannte er davon, hinaus in den Nebel, während der Dachstuhl Feuer fing.
* Der Nebel verschwand ebenso plötzlich, wie er entstanden war. Regen löschte den Brand des Dachstuhls. Aus der Ferne hörte er das Herannahen eines Hubschraubers. Endlich … und viel zu spät. Als der Dachstuhl in sich zusammengestürzt war, war auch das
Läuten der Glocke verstummt. Nun lag sie in den dampfenden Trümmern. Der Klöppel war verschwunden, ebenso wie die Überreste der toten Matrosen. Zurück blieben lediglich die Toten der Gegenwart. Yussuf Arikan stand vor den Trümmern des Dachstuhls. Ins Innere der Kirche wagte er sich nicht. »Tell them what happened to us …«, wisperte eine Stimme aus der Ferne. Erzähle Ihnen, was uns geschehen ist. Yussuf wandte sich von der Kirche ab und folgte der Stimme. Am Wrack des Hubschraubers machte er einen Schatten aus, das Abbild eines Mannes. Er trug eine Uniform, wie ein Offizier der Handelsmarine aus längst vergangenen Zeiten. Sein Gesicht sah Yussuf nicht, doch er nickte ihm zu. Ohne Groll und ohne Hass. Der Schatten verschwand in der dunklen See. ENDE