Peter Morlar
Der Fluch Version: v1.0 Ted Whistler nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Wermouth‐ Flasche, ...
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Peter Morlar
Der Fluch Version: v1.0 Ted Whistler nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Wermouth‐ Flasche, schloss für einen Moment genießerisch die Augen und ließ den lieben Gott einige Sekunden lang einen braven Mann sein. Anschließend steckte er den Fusel in die Jackentasche zurück und torkelte weiter. Immer wieder fiel sein Blick auf die Bäume und die weiten Felder um ihn herum, die von der trüben Spätsommersonne in ein fahles Licht getaucht wurden. Von einem Moment zum anderen zogen drohende Wolkenberge am Himmel auf, es wurde stockfinster. Ein eiskalter Wind fegte über das Land und ließ den Obdachlosen frösteln. Nur Sekunden später prasselte der Regen einem Sturzbach gleich auf die Erde nieder. »Hol mich der Teufel!«, fluchte Ted inbrünstig und zog sich die Jacke über den Kopf. Er ahnte nicht, dass seine Äußerung sich schneller bewahrheiten sollte, als er es sich träumen ließ …
Der Landstreicher war schon jetzt, wenige Sekunden nachdem das Gewitter begonnen hatte, völlig durchnässt. Gehetzt suchte er nach einem Unterschlupf, wo er Schutz vor den Wassermassen finden konnte. Hinter den grauen Regenschleiern erkannte er schemenhaft das Dickicht einer Baumgruppe. Er überlegte nicht lange und rannte darauf zu, musste jedoch einsehen, dass selbst die Äste und Zweige ihn nicht ausreichend vor dem Wasser zu schützten vermochten. Sein Blick irrte in der Gegend umher. Da entdeckte er ein paar Meter weiter eine kleine Höhle, deren Eingang von einem großen, kantigen Stein verschlossen wurde. Mit seinem ganzen Körpergewicht stemmte sich Ted Whistler dagegen und stieß einen überraschten Pfiff aus, als sich der Fels tatsächlich verschieben ließ. Ein schmaler Spalt entstand, dem ein eigenartiger, säuerlicher Geruch entströmte. Es stank nach Fäulnis und Moder. Angewidert verzog der Landstreicher das Gesicht. Dennoch zwängte er sich durch die schmale Öffnung und fand sich im Inneren einer stockfinsteren Höhle wieder. Das Licht von draußen reichte gerade einmal aus, um die Hand vor Augen zu erkennen. Ted griff nach einer Schachtel Streichhölzer, die glücklicherweise nicht von dem Platzregen in Mitleidenschaft gezogen worden war. Der zuckende Schein der Flamme erhellte die kleine Höhle nur unzureichend. Trotzdem konnte der Obdachlose deutlich erkennen, was da vor ihm auf dem Boden lag. Es war ein menschliches Skelett! Die fleischlosen, zum Teil vergilbten Knochen mussten schon sehr alt sein, Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte. Der Totenschädel schien ihn höhnisch anzugrinsen. Der Landstreicher unterdrückte einen schmerzhaften Aufschrei, als die Flamme des Streichholzes seine Finger erreichte. Schnell riss er ein neues an, kniete sich neben dem Skelett nieder und
betrachtete es eingehend. Erst jetzt fielen ihm die verfaulten Reste eines länglichen Stück Holzes auf, das zwischen den Rippen des Toten steckte. Was zum Teufel hatte es damit auf sich? Hatte er möglicherweise eine längst vermisste Leiche entdeckt, deren Mörder noch immer frei herumlief? Mit zitternden Fingern tastete Ted nach dem Stück Holz, als plötzlich ein, zwei Blutstropfen auf die Knochen fielen. Überrascht zog er seine Hand zurück und bemerkte, dass er sich eine kleine Schnittwunde am Handballen zugezogen hatte, wahrscheinlich, als er den scharfkantigen Fels vor dem Eingang der Höhle verschoben hatte. Wieder erlosch die Flamme und plötzlich hatte Ted das Gefühl, nicht mehr allein in der Höhle zu sein. Ein Raunen und Wispern geisterte durch die Dunkelheit, gefolgt von einem lang anhaltenden, gequälten Stöhnen, das von überall und nirgendwo herzukommen schien. Mit klopfendem Herzen riss Ted Whistler ein neues Streichholz an, was ihm erst nach dem dritten Versuch gelang, so sehr zitterte er. Doch ein unvermittelt aufkommender Luftzug fuhr durch das Innere der Höhle und erstickte die kleine Flamme im Keim. Der kurze Moment jedoch hatte Ted genügt, um die grauenhafte Wahrheit zu erkennen. Das Skelett bewegte sich … »Hol mich der Teufel!«, stieß der Landstreicher keuchend hervor, rappelte sich auf und wollte auf dem schnellsten Wege die unheimliche Höhle verlassen. Es blieb beim Versuch. Plötzlich spürte er eiskalte, knochige Klauen, die ihn von hinten umklammerten und brutal herumrissen. Der Gestank nach Fäulnis und Verwesung stach wie Säure in seiner Nase. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Kehle, gefolgt von einem gierigen Schlürfen, das nur noch undeutlich an seine Ohren
drang. Minuten später sank Ted Whistlers hagere Gestalt leblos zu Boden. Er war das erste Opfer einer schrecklichen Kreatur geworden, die er unwissentlich zum Leben erweckt hatte …
* »Mister Croydon! Mister Croydon!« Der junge Mann mit den dunkelblonden, kurz geschnittenen Haaren blickte erstaunt auf, als die beiden Kinder in sein Büro stürmten. »Was ist denn ich euch gefahren?«, fragte er scherzhaft, verstummte jedoch beim Anblick der bleichen, fast angstverzerrten Gesichter der beiden Jungs. »Mister Croydon, wir …« »Jetzt setzt euch erst einmal hin, atmet tief durch und dann erzählt ihr alles der Reihe nach. Einverstanden?« Tim, der ältere der beiden, nickte stumm und kletterte auf den spartanischen Holzstuhl, der vor Croydons Schreibtisch stand. Bill, der andere Junge, zog sich einen Schemel heran und tat es seinem Freund gleich. Ein ungutes Gefühl beschlich Richard Croydon, der von seinen Freunden kurz ›Rick‹ genannt wurde. Er war Konstabler in dem verschlafenen Nest Hillsbury in der Grafschaft Kent und wenn zwei Mal im Jahr ein Handtaschenraub passierte, schnellte die Verbrechensrate gleich um einhundert Prozent in die Höhe. Meist musste er lediglich Schlägereien im Dorfgasthof schlichten oder zwischen streitenden Nachbarn vermitteln. »Also, Jungs«, begann Richard Croydon, »dann lasst mal hören! Warum seid ihr so aufgeregt?«
»Wir … wir haben einen Mann gefunden. Er ist tot, glaube ich.« Ricks Nackenhaare richteten sich auf. »Bist du dir da wirklich sicher, Tim?« Der 13‐Jährige verzog das Gesicht zu einer bitterernsten Miene, hob die rechte Hand und sagte: »Ich schwöre!« »Ja, es ist wirklich wahr, Mister Croydon«, ergriff Bill das Wort. »Tim und ich, wir sind spielen gegangen, nachdem das Gewitter vorbei war. Draußen auf den Feldern. Und im angrenzenden Wald fanden wir den Mann. Er lag tot auf dem Boden und hat sich nicht mehr gerührt.« »Kanntet ihr den Toten?«, hakte Rick nach. »Ja, es war der Landstreicher, der einmal im Monat für ein paar Tage zum Betteln nach Hillsbury kommt.« »Ach, dieser Ted Whistler«, sagte Rick nickend. »Macht euch da mal keine Sorgen, der wird nur wieder einen über den Durst getrunken haben und seinen Rausch ausschlafen.« »Mit offenen Augen?«, fragte Tim erstaunt. »Mister Croydon … Sir … Sie hätten sein Gesicht sehen müssen!« »Was war damit?« »Er sah aus, als sei er etwas ganz Furchtbarem begegnet. Sein Mund stand offen und er …« Tim holte kurz Luft. »Er hatte ganz seltsame Wunden am Hals!« »Wo genau habt ihr den Mann gefunden?«, fragte der junge Konstabler aufgeregt. Wunden? Ein Mord vielleicht? In seinem Ort? »Im Wald, vor dieser seltsamen Höhle, in der das Böse wohnen soll. Unsere Eltern haben uns strengstens verboten, in ihre Nähe zu gehen, aber wir waren eben neugierig und …« »Schon in Ordnung«, wiegelte Rick ab und griff nach dem Telefon. Mit zitternden Fingern wählte er eine Nummer, die er im Schlaf kannte. »Jeff?«, rief Croydon, nachdem sich die Stimme seines Freundes
gemeldet hatte. »Ich bin’s, Rick! Pack deinen Koffer und komm so schnell es geht zu mir! Beeil dich! – Ja, zum Teufel! Es brennt!«
* Rick hatte die beiden Jungen nach Hause geschickt und ihnen versprochen, sich sofort um die Angelegenheit zu kümmern. Nur Minuten später klopfte es an seiner Tür und Jeff Harper, der Dorfmediziner, trat ein. »Was ist denn los, Rick?«, rief er anstellte einer Begrüßung. »Du hast geklungen, als sei ein Mord passiert!« »Genau so ist es!«, erklärte Croydon knapp. »Los, komm mit! Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Der Konstabler warf sich schnell eine Jacke über und stürmte an Harper vorbei aus dem Büro. Eilig stieg Rick in seinen Mini und fuhr bereits an, noch bevor Jeff die Beifahrertür überhaupt richtig schließen konnte. Wenig später erreichten sie das Waldstück. Die ungefähre Lage der verfluchten Höhle war ihnen bekannt und es dauerte keine zwei Minuten, bis sie die reglose Gestalt des Landstreichers entdeckten. Jeff Harper bekreuzigte sich. »Bei allen Heiligen …« Rick ignorierte den Kommentar seines Freundes, beugte sich über den Toten und betrachtete ihn eingehend. »Die beiden Jungs hatten Recht, Jeff! Sieh dir sein Gesicht an!« »So etwas habe ich in meiner Laufbahn als Arzt noch nicht gesehen«, gestand er und machte sich mit einem flauen Gefühl im Magen an die erste, oberflächliche Untersuchung. »Ich habe den Eindruck, als habe er kurz vor seinem Tod etwas unsagbar Schreckliches erlebt. Und hier …« Er deutete auf die bläulichen Striemen am Hals des Landstreichers. »Jemand muss ihn gewürgt haben.« »War das die Todesursache?«
Jeff überlegte und zog sich ein paar Plastikhandschuhe über. »Ich bin mir nicht sicher«, murmelte er und tastete den Leichnam ab. »Was mich ein wenig stutzig macht, sind diese beiden kleinen Einstiche am Hals.« Er zog eine Spritze aus seinem Koffer und stach die Kanüle in die Armbeuge des Landstreichers. Einige Augenblicke später schüttelte er ungläubig den Kopf, packte die leere Spritze wieder weg und richtete sich nachdenklich auf. »Das gibt’s doch nicht …« »Woran ist Whistler gestorben?« »Du meinst, wer oder was dafür verantwortlich ist?«, stellte Jeff Harper die Gegenfrage. »Keine Ahnung. Das Einzige, was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass sein Leichnam keinen einzigen Tropfen Blut mehr enthält …«
* »Rick, was ist los? Du siehst ja aus, als wärst du dem Teufel begegnet!« Glenda Morris kam auf ihren Freund zugelaufen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Croydon nahm die junge Frau fest in den Arm. »Alles Gute zum Geburtstag, Darling!«, sagte er lächelnd, seine Sorgen einen Moment lang überspielend und kramte ein kleines Kästchen aus der Jackentasche hervor. »Was ist das?«, wollte Glenda wissen. In ihren Augen blitzte es. »Dein Geburtstagsgeschenk. Hier, nimm!« Rick beobachtete nervös seine Freundin, die sich eifrig daran machte, die Schleife von der dunkelblauen Schachtel abzustreifen. Sie öffnete fast andächtig das Behältnis, riss die Augen auf und unterdrückte einen Freudenschrei. »Rick! Um alles in der Welt … Nein!« Tränen traten in ihre rehbraunen Augen und sie fiel ihrem Freund um den Hals. »Das ist doch nicht dein Ernst?«
»Doch, mein Schatz. Du hast in den letzten Wochen so oft davon gesprochen und jetzt wollte ich dir endlich diesen Wunsch erfüllen. Und da dachte ich mir, ich überrasche dich an deinem Geburtstag damit!« Glenda bedeckte sein Gesicht mit tausend Küssen. Sie war überglücklich über sein Geschenk: zwei goldene Verlobungsringe! »Endlich, mein Schatz!«, sagte Glenda und wischte sich ein paar Freudentränen aus den Augen. »Ich habe so lange darauf gewartet, dass du …« »Ich weiß.« Rick nickte wortlos und Glenda, die ihren Freund bereits seit sechs Jahren kannte, bemerkte den flüchtigen Schatten, der sein Gesicht streifte. »Was ist mit dir? Ist irgendetwas passiert?« »So könnte man es nennen.« Er löste sich aus der Umarmung und hängte Hut und Trenchcoat an den Kleiderständer. »Willst du darüber reden?« Rick nickte abwesend und schlurfte in das kleine, aber gemütlich eingerichtete Wohnzimmer, das in dunkelbraunem, altenglischem Stil gehalten war. Ächzend ließ er sich in einen breiten Ledersessel fallen. »Es hat einen Toten gegeben«, erklärte er schließlich. Glenda erschrak. »Wen?« Rick erzählte es ihr und sie kuschelte sich daraufhin verunsichert an ihn. So blieben sie eine Weile lang schweigend sitzen und genossen gegenseitige die Wärme ihrer Körper. Plötzlich versteifte sich die junge Frau mit den schwarzen, schulterlangen Haaren und atmete tief ein. »Der Mond ist soeben aufgegangen«, flüsterte sie und blickte gedankenverloren an ihrem Verlobten vorbei in unendlich weite Fernen. »Ich spüre es. Irgendetwas kommt auf uns zu. Etwas, von dessen Ausmaß wir uns keine Vorstellung machen können …«
* In jener Nacht blieb es still und friedlich. Auch in den nächsten Tagen und Wochen ereignete sich nichts Ungewöhnliches mehr. Ted Whistler wurde in aller Abgeschiedenheit bestattet und die Vorfälle um ihn gerieten langsam wieder in Vergessenheit – bis zu jener Vollmondnacht, vier Wochen nach dem mysteriösen Todesfall. Rick Croydon und seine Verlobte Glenda Morris waren gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig zu Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Das durchdringende Schrillen der Klingel schreckte Rick aus seinen Träumen. Seinem Gefühl nach hatte er vor nicht einmal einer Minute die Augen geschlossen. Eine Verwünschung vor sich hinmurmelnd, tastete er im Dunkeln nach seiner Verlobten, doch das Bett war leer. »Glenda?« Er erhielt keine Antwort. Eilig machte er Licht und unterdrückte ein Gähnen, als es abermals Sturm klingelte und jemand heftig gegen die Haustür hämmerte. »Schon gut, schon gut, ich komme ja schon«, knurrte Rick, zog sich in aller Eile seine Hose an und schlüpfte in bequeme Hausschlappen. Wo steckt denn Glenda?, durchzuckte es ihn. Der nächtliche Besucher ließ nicht locker. Im Gegenteil. Jetzt brüllte er verzweifelt Ricks Namen und seine Stimme klang, als habe er etwas Furchtbares erlebt. Croydon riss die Tür auf und fröstelte, als ihn die kühle Nachtluft streifte. Er betrachtete misstrauisch den Mann, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte. Es war Paul Higgins, der Wirt des kleinen Gasthauses am Markt. Den Mantel hielt er vor der Brust geschlossen
und zitterte am ganzen Leib. Ruckartig hob er den Kopf und setzte zwei‐, dreimal an, bevor er sagte: »Rick! Endlich!« »Was ist passiert?«, wollte der junge Konstabler wissen und gab den Weg frei. Dankbar trat der vollkommen verwirrte Mann ein. »Ich … Ich habe einen Toten entdeckt«, sprudelte es aus ihm hervor. »Wann?« »Vor wenigen Minuten erst, kurz nach Mitternacht.« Rick warf einen raschen Blick auf die Standuhr in seinem Wohnzimmer. Es war jetzt noch nicht ganz ein Uhr. Was war seitdem passiert? »Erzähl mir bitte alles von Anfang an«, forderte Rick seinen Besucher auf und bot ihm an, Platz zu nehmen. »Einen Whisky, Paul?« Der Wirt nickte eifrig, dann setzten sich beide an den massiven Wohnzimmertisch. Higgins nahm einen kräftigen Schluck. Als er Ricks durchdringenden Blick bemerkte, fuhr er fort. »Kurz vor Mitternacht habe ich meinen Laden geschlossen und bin mit Ken noch einmal Gassi gegangen.« Rick nickte. Ken, das war Pauls ganzer Stolz – sein Schäferhund. »Es war neblig und aus dem angrenzenden Wald erklang kein einziges Geräusch mehr. Ich habe sehr wohl bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte und Kens Fell begann sich plötzlich zu sträuben, so als wittere er eine Gefahr. Dann hörten wir den grauenhaften Schrei, der zunächst nicht enden wollte und schließlich abrupt abbrach.« »Was geschah dann?« »Obwohl Ken anfangs keinen Schritt weiterlaufen wollte, suchten wir die Stelle, von wo wir den Schrei zu hören geglaubt hatten und fanden …« Paul Higgins drehte nervös seinen Hut zwischen den Händen. »Und fanden einen Toten. Es handelt sich um Edward
Feller, einer meiner Gäste, der kurz vor Mitternacht das Lokal verlassen hatte. Sein Gesicht war grauenhaft verzerrt, seine Augen weit aufgerissen, als sei er kurz vor seinem Tod dem Leibhaftigen begegnet. Und sein Hals …« »Der wies blaue Striemen und seltsame Einstiche auf«, ergänzte Rick mit einem bitteren Geschmack im Mund. »Stimmt, woher weißt du das?«, fragte Higgins erstaunt. »Erinnerst du dich noch an Ted Whistler, den Landstreicher? Bei ihm verhielt es sich genauso.« »Also läuft ein Massenmörder in Hillsbury herum!«, entfuhr es Higgins. »Ganz so dramatisch würde ich es nicht sehen, Paul«, schwächte Rick ab und wechselte das Thema. »Was hast du unternommen, nachdem du den Toten entdeckt hast? Du sagtest, es sei kurz nach Mitternacht gewesen. Jetzt ist es schon knapp ein Uhr.« Higgins’ nächste Worte ließen Rick zusammenzucken. »Ich habe den Mörder gesehen.« »Wie bitte?« Croydon machte große Augen. »Und das sagst du erst jetzt? Los, raus mit der Sprache!« »Es war …« Paul zögerte. »Es war eine Frau. Sie trug ein weißes Nachthemd und hatte lange, schwarze Haare. Ich sah sie nur von hinten und ich habe Ken gleich hinterhergehetzt, damit er sie aufhält.« »Und?« »Nur Minuten später hörte ich, wie Ken kläglich zu winseln begann. Er knurrte, dann jaulte er nur noch und kreischte wie ein kleines Kind, Rick! Ich habe von einem Hund noch nie im Leben solch wehklagende, verängstigte Laute gehört. Und dann war es mit einem Schlag still. Totenstill. Ich habe es mit der Angst zu tun bekommen und bin einfach weggerannt, so schnell ich konnte. Jetzt sitze ich hier und möchte dich bitten, nach dem Toten und vor
allem«, Paul Higgins schluchzte, »nach meinem Hund zu sehen.« Rick Croydon erhob sich schwerfällig und klopfte dem Wirt mitfühlend auf die Schulter. »Geh nach Hause, Paul«, sagte er beruhigend, konnte jedoch ein ängstliches Vibrieren in seiner Stimme nicht vermeiden. »Ich rufe gleich Jeff Harper an. Wir werden zusammen nach dem Rechten sehen und melden uns dann bei dir.« Paul nickte. Rick ließ sich noch kurz die Stelle beschreiben, an der Higgins den Toten entdeckt hatte und wählte anschließend nervös die Telefonnummer seines Freundes.
* Jeff war natürlich alles andere als begeistert, als er von Rick aus dem Schlaf gerissen wurde. Nachdem dieser ihn jedoch kurz aufgeklärt hatte, worum es sich handelte, versprach er, auf dem schnellsten Wege vorbeizukommen. Rick Croydon hastete in den ersten Stock, in das gemeinsame Schlafzimmer, wo auch seine Dienstkleidung lag. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er daran dachte, dass Glenda noch immer verschwunden sein konnte. Der junge Konstabler stürmte in das nach wie vor hell erleuchtete Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen, als er seine Verlobte erkannte, die zusammengekauert wie ein Baby und splitterfasernackt auf dem Bett lag. Sie schlief tief und fest, so als hätte sie nichts von allem mitbekommen. »Glenda!«, rief Rick erleichtert. »Glenda. Schatz! Wo warst du?« Die junge Frau brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin, woraufhin Rick bemerkte, dass eine Packung Schlaftabletten auf dem Nachtkästchen lag. Eilig öffnete er die Schachtel und atmete beruhigt aus, da Glenda lediglich eine Pille geschluckt hatte. Er
wusste, dass er innerhalb der nächsten acht Stunden mit seiner Verlobten kein vernünftiges Gespräch führen konnte. Das Medikament war hoch wirksam. Zärtlich hüllte Rick seine Geliebte in die Decke, streifte sich hastig seine Kleidung über und noch während er sich die Schuhe band, klingelte es bereits unten an der Tür. Es war Jeff Harper. Er hatte zwar dunkle Ringe unter den verschlafenen Augen, strotzte jedoch vor Tatendrang. »Bist du noch nicht fertig?«, frotzelte er. Rick brummte etwas Unfreundliches in seine Bartstoppeln, denn Zeit zum Rasieren war ihm nicht mehr geblieben. In seinem Mini fuhren er und der Mediziner zu der Stelle, an der Paul Higgins die Leiche des Mannes gesehen zu haben glaubte. Die Nacht war kühl und nebelig und obwohl Rick das Licht abblendete, hatte er das Gefühl, in eine undurchdringliche Waschküche hinein zu fahren. Unter den Reifen schmatzte und gurgelte der aufgeweichte Boden. »Hier muss es irgendwo sein«, sagte er einen Atemzug später und hielt den Wagen an. Der Motor erstarb, eine gespenstische Stille umgab die beiden Männer. Das Zuschlagen der Wagentüren klang wie das Bellen zweier Schüsse. Dann schalteten sie ihre Taschenlampen an, deren bleiche Strahlen bereits nach wenigen Metern von den Nebelschwaden verschluckt wurden. Vorsichtig setzten Rick und Jeff einen Fuß vor den anderen und leuchteten die Umgebung so gut aus, wie es ihnen bei den Witterungsverhältnissen nur möglich war. »Rick!«, stieß Harper plötzlich hervor. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.« Der junge Konstabler trat neben den Mediziner. Der gebündelte Schein ihrer Taschenlampen riss die Umrisse einer menschlichen Gestalt aus der Dunkelheit, die reglos und mit grotesk verrenkten
Gliedern auf dem feuchten Waldboden lag. In dem künstlichen Licht sah das angstverzerrte Gesicht des Toten mit dem weit aufgerissenen Mund Furcht erregend aus. »Brrr …«, machte Rick und schüttelte sich. »Wieder die gleiche Todesart und wieder haben wir Vollmond. Ist diese Leiche ebenfalls blutleer?« »Ich verwette mein Mittagessen darauf«, knurrte Harper. Er kniete sich neben dem Toten nieder und untersuchte ihn kurz. »Bingo. Der Mann hat keinen einzigen Tropfen Blut mehr in den Adern.« »Was bezweckt der Mörder damit, seine Opfer ausbluten zu lassen?« »Frag mich was Leichteres«, entgegnete Jeff knapp. »Was jetzt?« »Immerhin haben wir eine Spur«, erklärte Rick und erzählte Jeff von Paul Higgins’ Schäferhund, den er der vermeintlichen Mörderin hinterhergehetzt hatte. »Dann nichts wie los!«, rief Harper aufgeregt. »Vielleicht hat Ken ihr dermaßen in den Hintern gebissen, dass wir noch irgendwelche Spuren von Kleidung oder gar Blut finden!« »Wir werden sehen.« Rick zweifelte daran, dass die Angelegenheit wirklich so einfach zu lösen war. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die beiden Männer die Stelle fanden, an der sich der Schäferhund einen verzweifelten Kampf mit der Mörderin geliefert haben musste. Jeff Harper bekreuzigte sich mehrmals, während Rick seine Beklemmung herunterzuschlucken versuchte. »Mein Gott!«, hauchte der Konstabler beim Anblick dessen, was die beiden Taschenlampen aus der Dunkelheit rissen. Ken, der Schäferhund, hatte den fliehenden Mörder tatsächlich eingeholt – und seinen unerschrockenen Einsatz mit dem Leben bezahlt. Überall lagen seine Körperteile herum. Jemand hatte den Hund im
wahrsten Sinne des Wortes auseinander gerissen. Hier fand sich ein Hinterlauf, dort ein Teil des Rumpfes. Sogar das viele Blut war noch deutlich sichtbar, das in den zum Teil gefrorenen Boden noch nicht eingesickert war. »Rick, sieh mal!«, keuchte Jeff und beleuchtete den achtlos ins Gebüsch geschleuderten Schädel des Tieres. »Was ist das?«, wollte Rick wissen und näherte sich dem Fundstück, obwohl sein Magen bereits zu revoltieren begann. »Sieht aus wie ein Stück Stoff«, kommentierte Harper. »Dann hatte Higgins mit seiner Beobachtung doch Recht«, hauchte Croydon und zog das blutbesudelte, ehemals weiße Stück Seide aus dem Maul des Hundes. »Er glaubt, eine Frau mit langen, schwarzen Haaren davonlaufen gesehen zu haben, die ein weißes Nachthemd trug …«
* Richard Croydon hatte den Rest der Nacht in Jeff Harpers Praxis verbracht, um unmittelbar die Obduktionsergebnisse mitdokumentieren zu können, die er für seine weiteren Ermittlungen unbedingt benötigte. Aber auch die erneute Untersuchung brachte keine neuen Erkenntnisse. Der Mord an Edward Feller blieb nach wie vor ungeklärt und der grauenvolle Tod des Schäferhundes gab unzählige neue Rätsel auf. Wenn Higgins tatsächlich eine Frau gesehen haben wollte, so musste er sich geirrt haben. Kein noch so kräftiger Mann – geschweige denn, eine Frau – würden jemals in der Lage sein, einen angreifenden Schäferhund im wahrsten Sinn des Wortes in der Luft zu zerfetzen. Die Reste des Kadavers verrieten eindeutig, dass der Hund mit brachialer, urwüchsiger Gewalt innerhalb von wenigen
Sekunden zerrissen worden sein musste. Und dafür konnte nur eine wilde Bestie in Frage kommen, aber kein normaler Mensch. Einzig das Stück Seide, das Croydon bereits in Folie eingeschweißt und auf dem Postweg nach London an New Scotland Yard geschickt hatte, war und blieb ihr einziger Anhaltspunkt. Vielleicht konnte man dort etwas Licht ins Dunkel bringen. Vollkommen übermüdet und übernächtigt machte sich Rick auf den Weg zu seinem kleinen Haus am Dorfrand von Hillsbury und ließ sich wie ein Stein ins Bett fallen. Glenda rührte sich noch immer nicht. Keine Minute später war auch Rick eingeschlafen. Bizarre Albträume quälten ihn, doch so sehr er sich auch dagegen sträubte, es gelang ihm nicht, sie abzuschütteln. Sein Unterbewusstsein gaukelte ihm die schrecklichsten Bilder und Visionen vor. Rick sah immer wieder die angstverzerrten, blutleeren Fratzen der beiden Toten vor sich, die plötzlich zu einem unwirklichen Leben erwachten und ihn höhnisch angrinsten. Aus ihren Oberkiefern wuchsen spitze, überlange Eckzähne, von denen literweise Blut tropfte, bis die rote, zähe Flüssigkeit über ihm zusammenschwappte und er darin zu ersticken drohte …
* Schweißgebadet schreckte Rick aus seinem unruhigen Schlaf hoch und setzte sich schwer atmend auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich sein Herzschlag beruhigte und er erkannte, dass er sich in seinem eigenen Schlafzimmer befand. Glenda!, schoss es ihm durch den Kopf und er drehte sich um. Doch neben ihm war das Bett leer. Mit einem leichten Schwindelgefühl stand er auf und atmete erst einmal tief durch, bis das Zimmer aufhörte, sich vor seinen Augen
zu drehen. Im nächsten Moment rannte er durch das Haus, immer wieder den Namen seiner Verlobten rufend. »Rick!«, hörte er die glockenhelle Stimme seiner Geliebten aus der Küche dringen. Der Geruch von Toast, Rührei mit Speck und Kaffee erfüllte die Luft. Der junge Mann blieb keuchend auf der Türschwelle stehen und bedachte Glenda mit einem besorgten und zugleich vorwurfsvollen Blick. »Verdammt, wo warst du heute Nacht? Weshalb hast du Schlaftabletten genommen?« Die schlanke, sportliche Frau mit den dunkelbraunen Augen lief lächelnd auf Rick zu und küsste ihn innig. »Ich habe Frühstück gemacht«, sagte sie lachend, die Fragen ihres Verlobten ignorierend. Etwas vor sich hinbrummelnd setzte sich der Konstabler an den Tisch und nahm einen tiefen Schluck Kaffee, den er mit reichlich Milch und noch mehr Zucker verdünnt hatte. Als er Glendas verwunderten Blick bemerkte, sagte er trocken: »Ich trinke meinen Zucker immer mit Kaffee.« »Was ist los mit dir, Darling?«, fragte sie besorgt. »Was los ist?«, echote Rick und stellte geräuschvoll die Tasse auf den Unterteller zurück. »Verrate du mir lieber, was du heute Nacht gemacht hast! Paul Higgins hat dermaßen Sturm geklingelt, dass selbst ein Toter wach geworden wäre!« »Rick, du weißt doch, dass ich seit kurzem bei Vollmond immer solche Probleme mit dem Einschlafen habe«, erklärte Glenda besänftigend. »Und heute Nacht war mir furchtbar schlecht. Also bin ich ins Bad gelaufen. Natürlich habe ich das Läuten gehört, aber ich hatte mir schon eine Tablette von dem Schlafmittel eingeworfen, das mir Jeff verschrieben hat und bin wie ein Stein ins Bett gefallen. Tut mir Leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.« »Entschuldige«, murmelte Rick kleinlaut. »Das habe ich bei dem
Trubel heute Nacht ganz vergessen. Es ist im Moment … einfach alles zu viel für mich.« »Was ist passiert?«, wollte Glenda wissen und reichte Rick eine Scheibe Toast. Der junge Konstabler fasste kurz die grauenhaften Erlebnisse zusammen und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass der Schäferhund in den Klauen einer Bestie zerfleischt worden war. »Was mich allerdings etwas nachdenklich stimmt«, ergänzte er zögernd, »ist die Aussage von Paul Higgins. Er glaubt, den Mörder gesehen zu haben.« »Im Ernst?« Croydon nickte schwerfällig. »Er sah eine Frau mit langen, schwarzen Haaren davonlaufen, die ein weißes Nachthemd trug. Und im Maul des Schäferhundes fanden wir tatsächlich einen Fetzen davon.« »Und?« »Du besitzt doch auch ein solches Nachthemd«, begann Rick vorsichtig. »Wäre es nicht möglich …« Glenda stand abrupt auf und stemmte beide Hände in die Hüften. »Willst du damit vielleicht sagen, dass du mich verdächtigst? Weil ich ein weißes Nachthemd habe? Bei allem Respekt vor deinen Fähigkeiten als Polizist – aber jetzt gehst du eindeutig zu weit!« »Entschuldige, Schatz, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Das ist nur die Verzweiflung, dass ich in diesem Fall keinen einzigen Schritt weiterkomme. Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du dieses Nachthemd vielleicht vermisst oder es dir möglicherweise gestohlen wurde.« »Natürlich nicht! Und deshalb stempelst du mich gleich als Mörderin ab? Rick, du … du …« Wortlos wandte sich Glenda von ihrem Verlobten ab und begann weinend, das Geschirr zu spülen. Sie verabschiedete sich nicht
einmal von ihm, als Rick das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren …
* Nach einer Woche beruhigten sich die erhitzten Gemüter der beiden Verlobten wieder. Rick hatte sich mit einem riesigen Strauß Rosen in aller Form bei Glenda entschuldigt und diese hatte überglücklich seine Entschuldigung angenommen. Das Untersuchungsergebnis von New Scotland Yard war ebenfalls eingetroffen. Das Material, aus dem das Nachthemd bestand, war ein Allerweltsstoff und das analysierte Blut stammte zum Teil von Edward Feller, dem toten Gast aus der Schänke, zum anderen Teil von einem Tier, möglicherweise einem Hund. Aber das hatte sich Rick bereits gedacht. Wenn er doch nur hätte herausfinden können, wem das Nachthemd tatsächlich gehörte! Paul Higgins, der einzige Zeuge, der noch ein wenig Licht ins Dunkel hätte bringen können, hatte seine Kneipe für ein paar Wochen geschlossen und sich nach den schrecklichen Erlebnissen einen ausgiebigen Urlaub gegönnt. Ein Schild an der Tür seiner Gastwirtschaft kündigte an, dass er in vierzehn Tagen wieder zurück sein wollte. Zwei Wochen verstrichen, schließlich wurden es drei … Es war später Nachmittag und Rick Croydon befiel zunehmend ein ungutes Gefühl. Schließlich rief er Jeff Harper an und bat ihn, schnellst möglich im Revier vorbeizukommen. »Was hast du, Rick?«, wollte der Arzt kurze Zeit später wissen und bedachte den jungen Mann mit einem skeptischen Blick. »Ich mache mir Gedanken um Higgins«, gestand Croydon. »Er wollte doch längst von seinem Urlaub zurück sein. Er ist doch sonst nicht so unzuverlässig. Jeff, ich sage dir, hier stimmt etwas nicht!«
»Da könntest du Recht haben«, murmelte Harper nachdenklich und kratzte sich am Kopf. »Nur was wollen wir unternehmen?« »Wir statten seiner Kneipe einen Besuch ab.« »Tolle Idee«, meinte Jeff ironisch. »Wenn Higgins im Urlaub ist, dann kannst du dir die Finger wund klopfen, er wird nicht aufmachen!« »Und was, wenn er gar nicht weggefahren ist?«, schoss Rick seine nächste Frage ab. »Bei allen Heiligen, du siehst wirklich langsam Gespenster!«, stieß Jeff hervor. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Paul …« »Ich hoffe es, Jeff«, murmelte Rick und zog sich den Mantel über. »Ich hoffe es …«
* Rick parkte den Mini vor Paul Higgins’ Kneipe und sprang zusammen mit Jeff Harper aus dem Wagen. Die Scheinwerfer ließ er zur Sicherheit brennen, da die Dämmerung bereits angebrochen und die Straße nur unzureichend beleuchtet war. Überdeutlich bahnten sich die beiden Lichtstreifen ihren Weg durch den aufkommenden Nebel und rissen die hölzerne Eingangstür mit dem übergroßen, fast antiken Vorhängeschloss und das helle Pappschild mit der Aufschrift ›Wegen Urlaubs geschlossen‹ aus der Dunkelheit. »Los, Jeff!«, forderte der junge Konstabler seinen Freund auf. »Leuchte mal!« Harper knipste die Taschenlampe an und ließ den grellen Schein auf das Vorhängeschloss fallen. Rick konnte auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches erkennen. Mit geübtem Griff förderte er sein Spezialbesteck zutage, wählte das passende Instrument aus und machte sich am Schloss zu schaffen. »Das ist Einbruch!«, zischte Harper und blickte sich unwohl um.
»Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen«, meinte Rick lapidar. Im nächsten Moment schwang die Tür knarrend auf. Der Mief abgestandener Zigarettenrauch empfing sie.
Luft
vermischt
mit
kaltem
»Mann, stinkt das!«, stieß Rick angewidert aus und drehte den Kopf zur Seite. »Du hast vollkommen Recht.« Jeff witterte ein paar Atemzüge lang mit der Nase. »Mein Gott! Da stimmt tatsächlich etwas nicht!« »Jetzt rieche ich es auch«, flüsterte Croydon und schüttelte sich. Eine eigenartige Erregung ergriff ihn. »Leuchte mal die Gaststube aus! Schnell!« Der bleiche Strahl der Taschenlampe geisterte über leere Tische und auf den Kopf gestellte Stühle und erreichte schließlich den Tresen. Harpers Hand, die die Lampe hielt, zitterte merklich, als er den Strahl nach oben wandern ließ. Da prallte er entsetzt zurück und stieß einen heiseren Schrei aus! Auch Richard Croydon, der in seiner Laufbahn als Polizist schon einiges gesehen hatte, spürte, wie ihm die Knie weich wurden. An einem robusten Holzbalken, der hinter dem Tresen die Decke stützte, baumelte ein Mann in der Luft. Es handelte sich um niemand anderen als Paul Higgins. Doch das, was Rick und Jeff so entsetzte, war die Tatsache, dass Higgins an den Füßen gefesselt und mit dem Kopf nach unten aufgehängt worden war – wie ein Stück Vieh, das ausgeweidet und geschlachtet werden sollte. »Bei allen Heiligen!«, entfuhr es dem Mediziner, der sich wie immer in solchen Situationen bekreuzigte. »Das … Das ist wirklich das Werk des Satans!« Rick schluckte seine Beklemmung hinunter, nahm seinem Freund die Taschenlampe aus den zitternden Händen und trat zögernd
näher. Unbarmherzig beleuchtete der fahle Schein das bleiche, schreckverzerrte Gesicht des Toten mit den weit aufgerissenen Augen, in denen selbst jetzt noch der Wahnsinn zu lodern schien. Am schlimmsten jedoch war der Zapfhahn, mit dem man normalerweise ein Fass Bier anstach und der hier auf grauenhafte Weise zweckentfremdet wurde …
* In dieser Nacht hatte Rick so schlecht geschlafen wie niemals zuvor in seinem Leben. Wie gerädert verließ er am nächsten Morgen das Haus, fuhr jedoch nicht wie gewohnt zum Revier, sondern schlug einen ganz anderen Weg ein. Sein Ziel war die kleine Kirche am Rand von Hillsbury. Rick parkte den Mini vor der alten, verwitterten Mauer des Dorffriedhofs, drückte das stählerne Portal auf, dessen protestierendes Quietschen in seinen Ohren schmerzte und steuerte direkt auf den Haupteingang des Gotteshauses zu. Pater John Killian, ein alter Mann mit schlohweißen Haaren, einem Rauschebart und hellgrauen, listigen Augen, eilte ihm bereits geschäftig entgegen. Er trug die übliche schwarze Kluft mit der langen, dunklen Sutane. »Guten Morgen, Konstabler!«, rief er freudestrahlend aus. »Was verschafft mir die Ehre Ihres frühen Besuches?« »Können wir … drinnen reden?«, fragte Rick leise und deutete auf das Kirchengebäude. »Aber natürlich, bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit.« Killian überließ Rick den Vortritt und führte ihn in sein Büro. »Auch eine Tasse?«, fragte er, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Danke, ich bevorzuge Kaffee«, erwiderte Croydon und betrachtete leicht angewidert den Früchtetee, den Killian mit Genuss
schlürfte. »Sie sehen aus, als bedrücke Sie etwas. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, bot Pater John Killian an, der niemals schlechte Laune zu haben schien. »In der Tat, da gibt es wirklich etwas«, begann Rick vorsichtig. »Lassen Sie mich raten: Es geht um die rätselhaften Morde in den letzten Vollmondnächten, nicht wahr?« »Ganz genau!«, entfuhr es Rick überrascht. »Woher wissen Sie …?« »Hillsbury ist klein, da bleibt kein Vorfall lange geheim. Sie wissen doch, die Menschen hier sind sehr abergläubisch und reden viel.« »Natürlich«, seufzte Croydon resigniert und blickte seinem Gegenüber tief in die Augen. »Ich komme mit meinen Ermittlungen einfach nicht weiter, Pater. Der Dreh‐ und Angelpunkt ist diese eigenartige Höhle, die – schon seit ich denken kann – von den Menschen gemieden wird. Was ist ihr Geheimnis?« Killian atmete tief durch und lehnte sich zurück. »Auf Anhieb kann Ihnen leider auch nichts Genaues sagen, tut mir Leid. Ich habe mich selbst nicht noch ausreichend damit beschäftigt.« »Gibt es denn keine Aufzeichnungen darüber? Bücher, Schriftstücke, alte Chroniken, in denen man nachlesen kann, was es mit der Höhle sich hat?« »Doch, Mister Croydon, die müsste es mit Sicherheit noch geben.« »Hätten Sie die Güte, diese zu suchen und mir zukommen zu lassen?«, bat Rick. »Das wird aber ein wenig dauern. In dieser Kirche befinden sich über fünftausend alte Bücher, Chroniken und Folianten, die ich erst einmal sichten müsste.« »Es wäre wirklich sehr wichtig.« Rick zögerte kurz. »In vier Tagen haben wir wieder Vollmond. Ich möchte gerne Schlimmeres verhindern.«
»Ich verstehe Sie sehr gut, junger Freund.« Der alte Mann nickte ernst und raunte: »Auch ich habe mir bereits Gedanken über die mysteriösen Morde gemacht …« »Und?« »Ich glaube, dass irgendetwas oder irgendjemand einen uralten Fluch wieder zum Leben erweckt hat. Und dass das, was wir gerade durchmachen«, Killian blickte sich ängstlich um, »erst der Anfang von etwas unvorstellbar Grausamen sein wird.« Rick fröstelte bei den eindringlichen Worten des Paters, an deren Wahrheitsgehalt er plötzlich nicht mehr den geringsten Zweifel hatte …
* Pater John Killian versprach Rick, sich so bald wie möglich bei ihm zu melden, wenn er etwas über die seltsamen Vorfälle herausgefunden hatte und verabschiedete sich bestimmt, aber freundlich von dem jungen Konstabler. Croydon fuhr zunächst ins Revier, erledigte dort den üblichen Bürokram und beschloss, bereits am frühen Nachmittag Feierabend zu machen, da es heute überhaupt nichts für ihn zu tun gab. Kein Diebstahl im Krämerladen, keine Schlägerei – nicht einmal die Nachbarskatze musste gerettet werden, weil sie wieder einmal auf einen Baum geklettert war und von selbst dort nicht mehr herunterkam. »Rick! Darling!«, begrüßte ihn Glenda überschwänglich, als er unerwartet früh das Haus betrat. Innig fanden sich ihre Lippen und verschmolzen zu einem leidenschaftlichen Kuss. Schließlich löste sich Rick aus der zärtlichen Umarmung und stiefelte ins Wohnzimmer. »Schlechte Neuigkeiten?«, wollte Glenda wissen und setzte sich
auf Ricks Schoß. »Wie man’s nimmt«, brummte er. »Du erinnerst dich doch noch an Paul Higgins, den Wirt?« Glenda nickte. »Er wurde tatsächlich in der letzten Vollmondnacht ermordet. Man hat ihn an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt und ihn wie ein Tier ausbluten lassen.« »Das ist ja schrecklich!«, hauchte die junge Frau und wurde blass. »Das mit seinem Urlaub war nur getürkt, damit er nicht zu früh gefunden wurde. Aber irgendetwas macht mich stutzig«, sinnierte Rick weiter. »Higgins war der einzige Zeuge, der nähere Angaben über den Mörder – oder die Mörderin – machen konnte. Und wenige Stunden später wurde er auf bestialische Weise zum Schweigen gebracht.« Glenda schwieg betroffen. »Aber ich habe heute Vormittag Pater Killian besucht«, erzählte Rick weiter. »Er hat mir versprochen, in alten Chroniken nachzuschlagen, was es mit dem Fluch und der verdammten Höhle auf sich hat. Vielleicht findet sich hier ein Anhaltspunkt, der mich weiterbringt.« »Du hast was?«, rief Glenda aufgebracht und sprang auf. »Nun ja, mit normalen Methoden komme ich nicht voran und da dachte ich mir, dass …« »Alles Humbug!«, wehrte sie ab. »Du glaubst doch wohl nicht an Gespenster?« »Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll«, flüsterte Rick und vergrub den Kopf zwischen den Händen. »Aber ich bin mir sicher, dass mir Pater Killian weiterhelfen kann.« »Hat er dir schon etwas erzählt?«, wollte Glenda wissen. Ihre Stimme klang jetzt wieder ruhig und beherrscht. »Nicht viel. Er meinte nur, dass ein uralter Fluch wieder zum
Leben erwacht sei. Und wenn ich so darüber nachdenke … Seit Ted Whistler vor der mysteriösen Höhle gefunden wurde, ist nichts mehr so, wie es vorher einmal war. Vielleicht war sogar er derjenige, der unwissend etwas in Gang gesetzt hat und dafür mit dem Leben bezahlen musste. Des Rätsels Lösung muss also in der Vergangenheit liegen!« »Du solltest dich etwas entspannen, Schatz«, gurrte Glenda Morris und begann aufreizend in den Hüften zu wiegen. Schließlich begann sie, Knopf für Knopf ihrer Bluse zu öffnen. Erschöpft schlief Rick ein paar Stunden später auf der Wohnzimmercouch ein und lächelte selig vor sich hin …
* Richard Croydon schlug die Augen auf, als ihm der grelle Schein der tief stehenden Herbstsonne ins Gesicht fiel. Es dauerte ein paar Minuten, bis er sich wieder erinnern konnte. Anzüglich lächelnd legte Rick die Decke beiseite, setzte sich gähnend auf und warf einen flüchtigen Blick auf die Standuhr im Wohnzimmer. Nur am Rande registrierte er die Uhrzeit. Er zog sich Hose und Hemd über und schlurfte in Richtung Bad, als er abrupt stehen blieb! Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Herbstsonne? Im Wohnzimmer? Um 10 Uhr 20? Rick atmete tief ein, als er die schreckliche Wahrheit erkannte. Das Sonnenlicht fiel doch nur am Vormittag ins Wohnzimmer! Und wenn es jetzt kurz vor halb Elf Uhr war, dann … Croydon begann zu zittern, als ihm bewusst wurde, dass er mehr als achtzehn Stunden geschlafen hatte! Fast einen ganzen Tag lang! Was mochte in der Zwischenzeit wohl passiert sein? In Rick keimte ein furchtbarer Verdacht auf.
»Glenda!«, brüllte er verzweifelt. »Glenda! Wo bist du?« Es dauerte eine kleine Weile, bis die schwarzhaarige Frau die Kellertreppe heraufstieg. Sie hielt einen Korb Wäsche in den Händen. »Rick, Darling! Hast du gut geschlafen?« »Viel zu gut«, knurrte er. »Warum hast du mich nicht geweckt?« »Du hast solch einen erschöpften Eindruck gemacht und da du in den letzten Tagen ohnehin so wenig Schlaf abbekommen hast, dachte ich mir …« »Schon in Ordnung«, wiegelte Rick ab und eilte ins Badezimmer, um wieder einen Menschen aus sich zu machen. Eine halbe Stunde später war er mit dem Ergebnis seiner kosmetischen Bemühungen halbwegs zufrieden und verabschiedete sich von Glenda. Sie hauchte ihm noch einen Kuss auf die Wange, drückte ihren warmen, anschmiegsamen Körper an den seinen …
* Mit quietschenden Reifen stoppte Croydon den Mini vor Pater Killians Kirche und stürmte über den Friedhof in Richtung Hauptgebäude. Rick drückte kraftvoll gegen die Tür, doch sie war verschlossen. Eine Gänsehaut lief ihm wie mit Spinnenbeinen über den Rücken, während er sein Spezialbesteck aus der Jackentasche holte und das altertümliche Schloss im Nu öffnete. Knarrend schwang das schwere Holzportal auf. Rick eilte zwischen den Bankreihen zum Altar, neben dem sich auch der Eingang zu Killians Büro befand. Was er dort vorfand, traf ihn wie ein Schock! Alle Schränke und Regale waren umgestürzt, der wuchtige Schreibtisch mit brachialer Gewalt auf die Seite gekippt worden.
Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von alten Büchern lagen über den ganzen Boden verstreut, zum Teil aufgeschlagen, zerfleddert oder vollständig zerrissen. Der junge Konstabler ließ den Blick über das Chaos schweifen und wurde bleich, als er ein Paar Schuhe unter einem Berg Bücher herausragen sah. »Pater Killian!«, rief er außer sich und bahnte sich einen Weg durch die unzähligen Folianten. Schwer atmend schaufelte er die Bücher beiseite und legte den Körper des Paters frei. Oder zumindest das, was der Mörder von ihm übrig gelassen hatte. »O Gott«, hauchte Rick, als er in das blutüberströmte Gesicht des Geistlichen starrte. Der Mörder hatte ihm die Kehle in voller Breite aufgeschlitzt. Rick verständigte seinen Freund Jeff, der unverzüglich die Obduktion des Geistlichen durchführen sollte. Vielleicht fanden sie jetzt endlich eine Spur …
* Der ganze Tag verstrich, ohne dass Richard Croydon einen klaren Gedanken fassen konnte. Und so machte er gegen achtzehn Uhr Feierabend, erkundigte sich bei Jeff noch nach dem Ergebnis der Obduktion und vernahm enttäuscht, dass auch John Killians Leichnam keinerlei verwertbare Spuren aufwies. Wütend trat Croydon aufs Gaspedal seines Mini, wobei der Motor wie ein waidwundes Tier aufheulte und fuhr wie ein Verrückter nach Hause. Die Begrüßung fiel entsprechend kurz und kühl aus. »Rick, was ist denn in dich gefahren?«, fragte Glenda verzweifelt. »Geht es dir nicht gut?« »Bitte lass mich einfach in Ruhe, okay?« Seine Verlobte kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass Rick jetzt
einfach nur seinen Gedanken nachhängen und in Ruhe gelassen werden wollte. »Wenn ich dir doch nur helfen könnte«, flüsterte Glenda niedergeschlagen und Rick sah Tränen der Verzweiflung in ihren Augen schimmern. Der Konstabler atmete tief durch und nahm seine Verlobte fest in den Arm. »Ich mache mir Sorgen. Um dich und um die Stadt. In nicht ganz dreißig Stunden ist wieder Vollmond. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass sich morgen unser aller Schicksal entscheiden wird …«
* Ricks Gefühl täuschte ihn nicht. Als er am nächsten Tag das Revier betrat, wartete bereits ein kleines, schmächtiges Männchen auf einer der unbequemen Holzbänke im Gang auf ihn. »Mister Croydon?« »In Person.« »Ich habe einen Brief für Sie«, sagte der Postbote mit seiner hohen Fistelstimme, als überbrächte er ein vertrauliches Einschreiben der Queen und betonte: »Eigenhändig!« »Nun geben Sie schon her, Simmons.« Nachdenklich setzte sich Rick in sein Büro und öffnete vorsichtig den Umschlag. Drei Bögen marmoriertes Papier befanden sich darin und Ricks Hände begannen unwillkürlich zu zittern, als er den Absender der Zeilen erkannte. Es war Pater John Killian. Interessiert und schockiert zugleich begann er zu lesen, was der Geistliche ihm kurz vor seinem Tod noch geschrieben hatte: Mein lieber Mister Croydon, wenn Sie diesen Brief erhalten, werde ich bereits tot sein. Bitte vergeben Sie mir, dass ich mich nicht persönlich von
Ihnen verabschieden konnte, aber wie versprochen habe ich mich auf die Suche nach alten Aufzeichnungen gemacht, um Licht hinter das dunkle Geheimnis zu bringen, das die verfluchte Höhle am Waldrand umgib. Es ist jetzt später Nachmittag und ich bin endlich fündig geworden. Vor mir liegen zwei Folianten, die von meinen Vorgängern eigenhändig angefertigt wurden und die zweifelsfrei dokumentieren, was sich damals in Hillsbury zugetragen hat. Im Jahr 1705 trieb eine Vampirin in unserer Gegend ihr Unwesen. Ihr Name war Galina Moronis. Einmal im Monat schlug sie zu und suchte sich ein Opfer, dem sie das Blut aussaugte; Blut, das sie dringend benötigte, um ihr untotes Leben weiterführen zu können. Aber man kam ihr auf die Spur und stellte sie in jener besagten Höhle, die ihr als Unterschlupf diente. Einer meiner Vorgänger schnitzte einen Pfahl aus Eichenholz, den er in Weihwasser tauchte – übrigens die einzige Waffe, mit denen man dieser Art von Vampiren entgegentreten kann – und trieb ihr das Holz mitten ins Herz. Noch im Todeskampf sprach die Moranis einen Fluch aus. Eine Drohung, die sich jetzt, dreihundert Jahre später, erfüllen soll. Sie versprach, im Körper einer Frau wiedergeboren zu werden, die am gleichen Tag Geburtstag hat, an dem sie seinerzeit getötet wurde. Den Berechnungen meines Vorgängers nach muss es in jener Vollmondnacht vor drei Monaten passiert sein. Und sie drohte damit, eine Armee von Untoten um sich zu scharen, damit der gefährliche Vampirkeim sich immer schneller ausbreiten würde – zunächst in Hillsbury, dann in England und schließlich auf der ganzen Welt. Mister Croydon, bitte unterschätzen Sie diese neue Spezies Vampire niemals! Sie benötigen keinen Schlaf, sind gegen Silberkreuze, fließendes Wasser und Sonnenlicht gänzlich unempfindlich – doch sie dürsten einmal im Monat nach Blut, immer dann, wenn der Vollmond am Himmel steht. In der Zwischenzeit sind sie von normalen Menschen nicht zu unterscheiden. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen mit meiner kurzen Zusammenfassung helfen
konnte, aber ich werde diesen Brief – solange es noch hell draußen ist – zur Post bringen, damit Sie ihn auf jeden Fall erhalten, bevor es zu spät ist. Ich für meinen Teil fühle mit jeder Faser meines Körpers, dass man mir bereits auf der Spur ist. Um die Kirche herum höre ich schlurfende Schritte, bilde mir ein, dass mir immerwährend jemand über die Schulter starrt, während ich in den alten Büchern blättere. Doch wenn ich mich umdrehe, ist niemand im Raum, jedenfalls niemand, den ich sehen kann … Ich spüre jedoch deutlich die Anwesenheit des Bösen, höre das unterdrückte Atmen untoter Seelen, das Raunen geisterhafter Stimmen, erschauere unter den kalten Brisen, die durch das Gotteshaus wehen und weiß, dass man nicht zulassen wird, dass diese Folianten jemals in Ihre Hände fallen werden. Ich bete zu Gott, dass er mir beistehen wird, wenn sich die Dunkelheit wie ein Tuch über Hillsbury senkt und die Vampire auf dem Weg zu mir sein werden, um mich mit dem Tod dafür zu bestrafen, dass ich Ihnen helfe. Ich bete für Sie, dass Sie das Richtige tun werden, Mister Croydon. Das Schicksal der Menschheit liegt in Ihren Händen. Hochachtungsvoll John Killian Selten hatte Rick so gefroren wie in diesem Moment. Mit einem faden Geschmack im Mund faltete er das Papier zusammen und steckte es in das Kuvert zurück. Seine Gedanken rasten. Vampire! Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, dass es solche Fantasiegestalten wirklich gab! Andererseits fällt mir auch keine bessere Erklärung für die Vorfälle ein, dachte er. Rick ließ alles stehen und liegen und fuhr wie vom Teufel besessen nach Hause. Ungestüm riss er die Eingangstür auf, immer wieder laut nach seiner Verlobten rufend. Sein Brüllen steigerte sich zu einem Crescendo der Verzweiflung, doch niemand antwortete ihm. Gehetzt durchsuchte er alle Räume, doch Glenda Morris war
verschwunden. Rick ließ sich resignierend in den Wohnzimmersessel fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Schultern zuckten. Nur wenige Sekunden später erhob sich der junge Konstabler abrupt und hetzte die Treppe hinauf zum Dachboden des Hauses. Er wusste, dass dort eine alte Truhe von Glenda stand, in der sie viele Gegenstände aus ihrer Kindheit und Jugend aufbewahrte und wie kostbare Schätze hütete. Aber er brauchte und wollte Gewissheit. Die beiden Vorhängeschlösser waren seinen ungestümen Kräften nicht gewachsen. Hastig klappte Kick den Deckel der Truhe hoch – und zuckte zurück! Ganz oben lag ein weißes Seidenkleid, Glendas Nachthemd. Es war an unzähligen Stellen zerrissen und über und über mit Blut bespritzt, das längst verkrustet und in den Stoff eingetrocknet war. Also doch!, schoss es Rick durch den Kopf, gegen eine aufsteigende Ohnmacht kämpfend. Mit fahrigen Bewegungen schleuderte er das Kleid zur Seite und musste schlucken, als er die beiden uralten Folianten sah, die ebenfalls mit Blut besprenkelt waren. Pater Killians Chroniken, die ihm niemals in die Hände fallen sollten! Tränen schossen Rick in die Augen, als er beide Bücher aus der Truhe nahm, wie gelähmt ins Wohnzimmer hinab torkelte und sich teilnahmslos auf die Couch setzte. Wie in Trance blätterte er die uralten Aufzeichnungen durch. Manchmal musste er die Seiten auseinander reißen, da sie am Buchschnitt mit Blut verklebt waren. Doch schließlich wurde er fündig. Er überflog den Bericht über die Pfählung der Vampirin im Jahre 1705. Da blieb sein Blick an einer uralten Kohlezeichnung hängen, die das Antlitz der Vampirin zeigte. Sie musste damals eine wunderschöne Frau gewesen sein. Jung, verheißungsvoll, mit ebenmäßiger Haut, sinnlichen Lippen und
dunklen, unergründlichen Augen. Ihr schulterlanges, pechschwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein Vlies aus Seide. Erst als Tropfen Wasser auf die Seite des Buchs fiel und Rick erkannte, dass es sich um eine seiner Tränen handelte, erwachte er aus seiner Starre. Zärtlich ließ er seine Finger über die Zeichnung gleiten – und obwohl er wusste, dass das Bild dreihundert Jahre alt war, zeigte es doch niemand anderen als Glenda …
* Rick wusste nicht, wie lange er schweigend vor dem Buch sitzen geblieben war, unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, seine Augen leer und teilnahmslos. Die Lippen bildeten einen schmalen Strich und die Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel bildeten tiefe Furchen. Er spürte einfach nichts mehr. Sein Herz schien zu einem eisigen Klumpen erstarrt zu sein. Schließlich erhob sich Rick schwerfällig, stieg apathisch in seinen Mini und fuhr zu Killians verwaister Kirche. Dort schnitzte er mit seinem Taschenmesser einen spitz zulaufenden Pfahl aus Eichenholz, tauchte ihn in Weihwasser und machte sich wieder auf den Weg. Er wusste, wo er Glenda finden würde: in der alten, verfluchten Höhle am Waldrand. Rick war nicht einmal überrascht, als er den großen Stein verschoben vor der Öffnung zur Höhle vorfand. Er warf noch einen letzten Blick zum Himmel, sah, dass die Abenddämmerung in wenigen Minuten hereinbrechen würde und knipste seine Taschenlampe an. So leise wie möglich zwängte er sich durch die schmale Öffnung. Der blasse Strahl wanderte über den staubbedeckten Boden und blieb an einer Gestalt hängen, die auf der Erde kniete und andächtig etwas Sand zwischen ihren Fingern
hindurch rinnen ließ. Abrupt drehte sich die junge Frau herum und starrte Rick an. »Du weißt es also?« In ihrer Stimme lag keinerlei Überraschung. Es klang eher wie eine Feststellung. »Warum, Glenda?«, fragte Rick nur. »Ich … Ich konnte nichts dafür. An meinem letzten Geburtstag spürte ich, dass irgendetwas – nein, irgendjemand – von mir Besitz ergriff und mich dazu zwang, all diese schrecklichen Dinge zu tun. Ich habe mir sofort von Jeff Harper ein Schlafmittel verschreiben lassen, damit dieser Fluch nicht von mir Besitz ergreifen konnte, aber es half nichts.« »Warum hast du mich nicht getötet?« »Warum, Rick?« In Glendas Augen traten Tränen der Verzweiflung. »Weil ich dich liebe! Bitte geh! Jetzt sofort, bevor die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwindet! Ich kann sonst für nichts mehr garantieren!« »Wo ist die Leiche von Galina Moranis?«, ignorierte Rick die Warnung seiner Verlobten. »Nachdem sie den Landstreicher angelockt hatte, saugte sie ihm das Blut aus und somit konnte ihre Seele von mir Besitz ergreifen. Anschließend zerfiel ihr Skelett zu Staub. Sie lebt jetzt in mir weiter.« Glendas Tränen rannen jetzt die Wangen hinab. »Aber du musst jetzt gehen, Rick, bitte!« Croydon schüttelte den Kopf und zog den Eichenpfahl unter seiner Jacke hervor. »Ich kann nicht gehen«, sagte er heiser. »Ich muss den Fluch beenden und das Leben der Vampirin ein für alle Mal auslöschen!« »Dazu musst du mich töten, Rick!«, rief Glenda verzweifelt und wich ängstlich zurück. »Du wirst doch nicht …« Plötzlich erstarrte sie. Ihr Körper bäumte sich wie unter Stromstößen auf, ihre Hände verkrampften sich zu Klauen und die
Augen begannen in einem grellen Rot zu leuchten. Im nächsten Moment riss sie fauchend den Mund auf und entblößte ein Paar spitze Eckzähne. Croydon wusste, was das bedeutete. Die Sonne war soeben untergegangen. »Rick, du hattest deine Chance«, drang die raue, unbarmherzige Stimme der uralten Vampirin aus Glendas Kehle. »Du hättest fliehen sollen, solange dir noch Zeit dazu blieb. Doch jetzt – jetzt wirst du einer von uns!« Ansatzlos schnellte Glenda nach vorne, kreischte wie eine Furie, die Krallen gierig nach ihrem Opfer ausgestreckt. Rick wich bis an die Wand zurück, hob den Eichenholzpfahl, doch noch immer weigerte sich etwas in ihm, die Frau zu töten, mit der er den Rest seines Lebens hatte verbringen wollte. Möglicherweise gab es doch noch eine winzige Chance, sie von dem Fluch zu befreien. Ja, er musste sie lebend fangen und auf dem schnellsten Wege zu Jeff bringen! Vielleicht konnte er ihr helfen! Er spürte, dass er gegen die höllischen Kräfte der zähnefletschenden Bestie nicht mehr lange ankämpfen konnte. Es gelang ihm gerade noch, den Kopf zur Seite zu drehen, so dass die zuschnappenden Eckzähne der Furie an seinem Hals abrutschten. Trotzdem lief ein dünner Blutsfaden in seinen Hemdkragen, Blut, das Glenda sofort witterte und noch gieriger und gefährlicher werden ließ. In Panik riss Rick den geweihten Eichenholzpfahl hoch, jetzt doch entschlossen, zuzustoßen und dem grausamen Treiben der Vampirin ein schnelles Ende zu bereiten … Doch sein Arm wurde mit unvorstellbarer Gewalt festgehalten und nach hinten gedreht. Der Schmerz, der durch Ricks Schulter zuckte, zwang ihn dazu, die Waffe fallen zu lassen. Ruckartig drehte er seinen Kopf herum und starrte in ein Gesicht, das er hier niemals vermutet hätte.
»Jeff!«, rief Rick erleichtert aus. »Hilf mir! Wir müssen Glenda …« Doch die letzten Worte blieben ihm im Hals stecken, als sein Freund seinen Mund öffnete und den Blick auf zwei nadelspitze Vampirzähne freigab … ENDE