John Saxon EWIGE SCHREIE
Sowas kann einem schon Alpträume bescheren: Eine seit Jahrhunderten verlassene Burg inmitten ...
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John Saxon EWIGE SCHREIE
Sowas kann einem schon Alpträume bescheren: Eine seit Jahrhunderten verlassene Burg inmitten von Sümpfen. Ein Folterkeller, der noch immer deutlich vor Augen führt, was damals hier geschah. Und eine Leiche, schrecklich zugerichtet − die kaum zwei Wochen tot ist. Wie normal und nüchtern nimmt sich dagegen die Gesellschaft aus, die in diese düstere Kulisse eindringt: Ein Filmteam, das mit Leuchten, Kameras und unzähligen Kabeln der Burg allen Schrecken zu nehmen scheint. Bis die Schatten der Vergangenheit zu neuem Leben erwachen. Und die Männer und Frauen am eigenen Leib erfahren, daß das Böse stärker ist als alle Vernunft. Der Horror beginnt. Und die Schreie der Qual währen ewiglich ... Ihr DÄMONEN-LAND-Redakteur
Dieser Roman erschien erstmals 1966 als HORROR-expert Taschenbuch Nr. 4
Wie lange kann ein Schrei widerhallen? Wie lange braucht ein alter Fluch, um Mauern zu durchdringen? Der Schall pflanzt sich in der Luft mit einer Geschwindigkeit von rund dreihundertzweiunddreißig Metern pro Sekunde fort − und aus diesem Grund müßte ein Schrei verstummen, kaum daß er die Kehle einer angstgepeinigten Kreatur verlassen hat. Doch dieser Schrei schien innerhalb der alten Mauern in alle Ewigkeit widerzuhallen. Der Geruch des Bösen schwebte in der Luft, dieser staubigen, stickigen Luft, die man beinahe als eine kompakte Masse bezeichnen konnte. Sie ließ sich nur schwer atmen und zog die Luftröhre zusammen. Fledermäuse sind an sich keine bösen Geschöpfe, sondern nur Mäuse mit Schwingen, Insektenfresser. Aber weil sie Kreaturen der Nacht sind, scheinen sie die Verkörperung des Bösen zu sein und das Unheimliche, Drohende mit sich zu tragen. Und hier gab es viele, viele Fledermäuse, die sich wie Schwärme seltsamer Früchte an den Balken festhielten, und ihre Exkremente türmten sich wie rasch wachsende Stalagmiten am Boden auf. Brach die Dunkelheit an, dann glitten sie geisterhaft durch die zerbrochenen Fenster, um über den Sumpf zu schweben und in der Luft ihre Nahrung zu suchen. Manchmal hörte man noch andere Geräusche: das Knistern verfaulender Balken, das Rascheln einer verwitterten Tapete, die sich längst von der Wand gelöst hatte und
vom Wind bewegt wurde. Doch über all diesen Geräuschen und der gespenstischen Umgebung herrschte der Schrei. Jener Schrei, der dreihundert Jahre alt war.
Das ist schon eine gottverlassene Gegend, dachte Mulgannon, als er vom Seeufer aus in das Binsengestrüpp einbog, das dem Ufer in einer Breite von einer Viertelmeile vorgelagert war. Ein schlüpfriger Pfad, nicht direkt morastig, was er aber im Regenwetter zweifellos sein würde. Sein zottiger Bart vermischte sich mit den langen dünnen Haarlocken, die von seinem Kopf herunterfielen. Ein verwettert aussehender Anorak bedeckte seinen Oberkörper; darunter trug er Bluejeans. Seine sockenlosen Füße zierten derbe Sandalen mit Zehenlöchern, und er trug einen Rücksack auf dem Rücken. In dem Rucksack waren Flaschen, die melodisch klirrten. Einen jungen Mann wie ihn konnte man in den meisten Städten Englands, der Vereinigten Staaten oder Europas antreffen. Doch hier in Spanien gab es nicht viele seinesgleichen, denn die spanische Polizei vertrat die Ansicht, daß die sonnenhungrigen und kapitalkräftigen Touristen an solchen schäbig gekleideten Erscheinungen Anstoß nahmen. Die Beatniks, die Trogs, die ganze skeptische Generation der sechziger Jahre, die die alten Werte über Bord geworfen hatten und nun, auf der Suche nach neuen Werten, wie Landstreicher herumzogen. Tramps oder Pilger, das kam ganz auf den Standpunkt an. Mulgannon würde sich, hätte man ihn danach gefragt, als Dichter bezeichnet haben, als einen wandernden Poeten, möglicherweise sogar als einen fahrenden Sänger, obwohl er für den Augenblick seine Gitarre in Jerez verkauft und dafür Fla-
schen erstanden hatte. Er stampfte den schmalen Weg hinauf. Ein Reiher flatterte plötzlich auf und flog, grau und schemenhaft, über den dunkel werdenden Himmel. Er hatte einen Fisch in seinem langen Schnabel, und während er flog, hob er den Kopf und verschluckte den Fisch. Vielleicht hatte der Reiher beim Schlucken die Augen geschlossen − und so sah er nicht die große Adlereule, die unerwartet von unten her auf ihn zuflog und sich in einer raschen tödlichen Attacke in seine Brust krallte. Beide Vögel sanken mit wilden Flügelschlägen in den Sumpf. Sie verschwanden in den Binsen, und Mulgannon glaubte, eine Bewegung der Halme zu sehen, die Zeugen eines unerbittlichen Kampfes waren. Dann stieß der Reiher einen schrillen Todesschrei aus. Und dann war alles still, bis auf das Quaken der Frösche und das Summen der Insekten, deren Heimat das Binsengestrüpp der Sumpflandschaft war. Mulgannon war von diesem Geschehen stark beeindruckt und beschloß, seine Gefühle in Verse zu kleiden. »Der Reiher fing den Fisch«, sagte er und notierte die gleichen Worte auf einem schmierigen Blatt Papier. Der Reiher fing den Fisch. Die Adlereule fing den Reiher. Einer ist des anderen Dämon − und wer bin ich?« Dies war einer jener Augenblicke, in denen er das Gefühl hatte, daß seine Wanderschaft sich lohnte. Er sah sich als Teil des Universums, sah in seiner Person ein Wesen, das eine größere Bestimmung hatte ... Und während er ein Bein vor das andere setzte, wußte er noch nicht, wessen Kreatur er bald sein würde und wie lange seine eigenen Schreie widerhallen sollten. Kein Zweig der Straßengabelung sah vielversprechend aus. Keine der beiden Straßen deutete daraufhin, daß sie unlängst
benutzt worden war. Aber sie müssen schließlich irgendwohin führen, dachte Mulgannon, und irgendwo am Straßenrand werde ich eine Unterkunft finden. Hier in diesem salzgewürzten Sumpfgebiet brauchte man für die Nacht eine Unterkunft. Der Boden war zu feucht und die Nachtluft zu kühl, als daß man hätte ruhig schlafen können, ohne Angst vor einer Lungenentzündung zu haben. Er warf ein Geldstück in die Höhe, sah nach, auf welche Seite es gefallen war, und bog dann nach links ab. Und links war immer der Pfad der dunklen Mächte, des Todes, Terrors und jener nicht mit Worten zu schildernden Wesen, die keine Barmherzigkeit kannten. Mulgannon war seit zwei Jahren auf der Straße. Seit der Zeit, als er wegen einer simplen Party von der Universität Redbrick verwiesen worden war. Allerdings hatte der Tee, der auf dieser Party getrunken wurde, andere Inkredenzien als normaler gehabt. Seit jener Zeit war Mulgannon auf der Wanderschaft. Meistens war er allein gewandert, und die Dunkelheit hielt für ihn keinen Terror bereit. Er hatte schon auf Friedhöfen geschlafen, einmal sogar in einer Grabkammer. Es machte ihm sogar Spaß, an irgendeinem unheimlichen Ort zu übernachten. Doch als er diesmal mit seiner Hand den massiven Klopfer der alten eisenbeschlagenen Tür anhob und ihn niederfallen ließ, da hatte er das Gefühl, die gleiche Strecke davonhasten zu müssen, die er gekommen war. Denn der Türklopfer löste ein donnerndes Echo aus. Es war wirklich ein Donner, der noch immer dröhnte, als der Türklopfer längst wieder in Ruhestellung war. Es war ein unnatürliches und daher unheimliches Geräusch, so als führe die Tür einen Raum von ungeheuren Ausmaßen. »Wer bist du eigentlich?« fragte er sich selbst. »Ein Mann oder eine Maus?«
Er wartete auf eine Antwort und ließ noch einmal den Türklopfer aufschlagen, als er nichts hörte. In einem Haus von dieser Größe − er hatte es vorhin nur schemenhaft im Sternenlicht gesehen − mußte letzten Endes doch irgend jemand zu Hause sein ... Oder war es in dieser Jahreszeit grundsätzlich verlassen? Wieder klopfte er, heftiger als zuvor. Und da sah er, daß die Tür sich einen Spaltbreit geöffnet hatte. Die Angeln knarrten rostig, als er sich gegen das alte Holz stemmte und die Tür so weit zurückdrückte, daß er hineingehen konnte. Es roch nach Moder − eine feuchte Luft, die seine Kehle und seine Lunge reizte. »Jemand zu Hause?« rief er. Die Worte hallten aus der Dunkelheit zurück. Das Echo schien ihn zu verspotten, und sein Instinkt sagte: »Lauf − lauf, solange du es noch kannst!« Aber seine Vernunft sagte: »Hier ist ein leeres Haus, vielleicht das einzige in mehreren Meilen Umkreis. Wenn du weitergehst, wirst du draußen in der Nässe übernachten müssen.« So ging Mulgannon weiter ins Haus hinein und fand schließlich eine muffig riechende Couch, die immer noch ein besseres Bett war als der blanke Fußboden. Die Sherryflaschen, die er in der Bodega in Jerez gekauft hatte, klirrten leise, als er den Rucksack ablegte. Er ergötzte sich an dem süßen Kuß des Weins und machte es sich auf der alten Couch bequem, deren Spiralfedern protestierend quietschten. Er mußte husten, als eine Staubwolke aufstieg und Motten an seinem Gesicht vorbeihuschten. »Besser als draußen im Sumpf«, sagte er laut. »Eine ganze Portion besser als draußen im Sumpf.« Und das Echo sagte: »Sumpf-Sumpf-Sumpf ...« Er trank eine ganze Flasche, beträchtlich mehr als die gewohnte Menge, und die Wärme begann sich in seinem Magen
auszubreiten und dann von seinem ganzen Körper Besitz zu ergreifen. Kurze Zeit später wurde er angenehm müde und fühlte sich in dem alten Haus fast heimisch und geborgen. Er kuschelte sich tiefer in das muffige Polster der Couch. Wie konnte ich nur Angst haben? dachte er. Angst war ein Anachronismus, der noch aus der Steinzeit stammte, als die Höhlenmenschen sich nicht in die Dunkelheit wagten, weil dort die fürchterlichen Raubtiere auf Beute aus waren. Arme alte Höhlenbewohner, die nicht einmal eine weiche Couch gehabt hatten ... Er lachte leise. »Ha-Ha-Ha-Ha! «echote die Dunkelheit.“Ha-Ha-Ha-Ha ... « Und dieses Echo war länger und lauter als sein eigenes Lachen. Mitten im Traum hörte er einen Schrei, kein Gelächter, sondern einen Schrei, der einfach kein Ende zu nehmen schien. Es war, als habe dieser Schrei sich von allein entwickelt − als sei er schon immer hier gewesen. Eine fürchterliche Angst packte ihn und rüttelte ihn buchstäblich hellwach. Er wollte sich von der Couch wälzen − und stellte fest, daß er nicht mehr auf der Couch lag! Das Gelächter echote wieder, und in dem Gelächter hörte er den Schrei, den schrecklichen Schrei, der kein Ende nahm. Jetzt begannen wilde Schmerzen in seinem Körper zu wühlen. Er konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Doch selbst diese Schmerzen wären erträglich gewesen, hätte es nicht den Schrei gegeben. Würde doch endlich dieser Schrei aufhören ... Er öffnete zögernd die Augen, blickte sekundenlang gehetzt umher und wußte, was für ein Haus das war. Dann wurde er in einen Abgrund neuer Qualen gestürzt, als ihm die Erkenntnis kam, daß das Schreien nie aufhören würde.
Denn die Schreie kamen über seine eigenen Lippen.
»Morast, Morast, schöner Morast«, sagte Petronella Grant. Sie sagte es ohne Grazie und Humor, sondern eher mit einer eisigen Wut, die einem Zuhörer die Ohren schmerzen ließ. Die riesigen breiten Räder der Sumpffahrzeuge wühlten sich durch die Salinen und Lagunen von Las Marismas und schleuderten verfaulte Pflanzenteile in die Luft. Der Modergeruch vermischte sich mit dem Öl- und Auspuffgestank. Max Grant wandte seinen Blick langsam seiner schönen, doch kühlen Frau zu. »Es dauert nicht lange«, sagte er entschuldigend. »Eine Minute ist schon zu lange, Max. Kannst du nicht riechen? Gott, es ist beinahe, als würde man in einem Abwasserkanal frühstücken. Du hättest wenigstens in eines von diesen Dingern eine Klimaanlage einbauen lassen sollen.« »Diese Art Klimaanlage wird nicht hergestellt, mein Liebling, und ...« »Und sag' nicht › Liebling ‹ zu mir, das kann ich nicht ausstehen ... Gib mir mal eine Zigarette. Nein, eine türkische Zigarette. Wirst du denn nie etwas begreifen?« Heimie Weiss, der große Fahrer mit dem bulligen Genick, saß am Steuer, fuhr stur weiter und tat, als habe er kein Wort gehört. Aber er dachte insgeheim: Wäre sie meine Frau, würde ich sie übers Knie legen und windelweich schlagen. Aber wo käme ein Mann wie Max Grant hin, der ein großer Direktor war und dem die Wonder-Film-Gesellschaft so gut wie gehörte, wenn der alte Fattie im zweiten Fahrzeug anderer Meinung gewesen wäre? Wie konnte er sich das von dieser kleinen Hexe nur alles bieten lassen? Und eine Hexe ist sie, dachte Heimie. Vielleicht auch nicht. Er hätte ja selbst nichts
dagegen gehabt, in ihrem dunklen Haar zu wühlen und ein wenig Gefühl in diese tiefblauen, sich nie verändernden und stets verächtlich blickenden Augen hineinzubringen. Aber das war eine Sache, die er niemals tun würde. Er war zu lange mit Max zusammen gewesen, hatte mit ihm in Korea gekämpft, und man machte sich einfach nicht an die Frau eines Kriegskameraden heran. Das Hämmern der Maschinengewehre wäre immer lauter gewesen als die Matratzenfedern, und man hätte keine Küsse, sondern nur K-Rationen geschmeckt. Aber warum nahm Max das auf sich? Was veranlaßte ihn, sich diesem Flittchen zu unterwerfen? Was Frauen betraf, war Max der unglücklichste Bursche, dem er je begegnet war. Fünf Frauen − und jede so sauer wie eine Zitrone. Eine Zitronenpresse hätte ihm nicht schlimmer mitspielen können. Diese Landschaft hat noch etwas Ursprüngliches, dachte Max Grant. Seine graublauen Augen blickten ständig umher, selbst als Petronella ihn mit ihren stachligen Bemerkungen piekte. Die Marismas hätten überall in der Welt sein können − in der ersten Zeitendämmerung, als Erde, Himmel und Wasser voneinander getrennt worden waren. Max Grant dachte einen Moment dran, das Gesamtkonzept seines Films zu ändern und ihm einen anderen Titel zu geben − vielleicht › Dämmerung der Menschheit ‹ oder so ähnlich. Die ersten Saurier schritten durch die Sumpflandschaft, und ein Mann, der nackt, beharrt und zitternd in der Höhle hockte, konnte der Held der Handlung sein. Aber er verwarf diese Idee, kaum daß sie ihm gekommen war. Denn vorsintflutliche Tiere wie Dinosaurier bedeuteten Modellarbeit und Studioaufnahmen. Doch Max Grant hatte eine Schwäche für Außenaufnahmen. »Nichts sieht wirklichkeitsgetreuer aus als die Wirklichkeit selbst«, war eine seiner Lieblingsredewendungen. Es war dieser Standpunkt, der ihn mit seinem Wonder-FilmTeam in diesen öden Teil der Welt geführt hatte. Die Marismas
waren genau richtig. Die breite Sumpflandschaft am Guadalquivir war der perfekte Background für die Story, die er verfilmen wollte, die Story von einer kleinen Gruppe Spanier, die gegen die eingedrungenen Mauren kämpfte und im Sumpfgebiet ein kleines Königreich gegründet hatte, in dem sie noch frei und unabhängig leben konnten. Noch ein paar Erkundigungen, ein wenig Planung seitens des Teams, und dann würden sie nach Sevilla oder Cordoba zurückkehren, um mit Volldampf an dem endgültigen Drehbuch zu arbeiten − und an der Rollenbesetzung. »Genau solche Gegenden«, stichelte Petronella, »lassen eine Ehefrau an eine Scheidung denken.« Ihr Gesicht blieb bei diesen Worten ausdruckslos, aber sie freute sich insgeheim über die Wirkung dieser Stichelei. Es war fast zu leicht mit Max; man konnte ihn mit Nadeln spicken wie eine Wachspuppe. Er verteidigte sich nicht. Er saß nur da und ließ es mit sich geschehen. Und sie sah es immer ausgesprochen gern, wenn er sich innerlich verkrampfte, wenn dieser leiderfüllte Blick in seinen Augen sichtbar wurde ... Wie ein Pferd, dachte sie, oder wie ein Hund, der um so anhänglicher wird, je häufiger man ihn verprügelt. Natürlich war die Gefahr nicht zu unterschätzen. Schließlich keilte ein Pferd aus, biß ein Hund um sich, und ein Mann konnte einem plötzlich den Rücken zukehren. Sie strapazierte seine Nerven bis zum äußersten, spottete, stichelte ... und dann goß sie wieder Öl auf die Wogen, beruhigte ihn und spielte liebes Frauchen − bis zum nächsten Mal, wenn sie ihn wieder peinigen mußte. Oh, heute nacht soll er für diesen verdammten Morast büßen, in dem wir herumkutschieren, dachte sie böse. Im zweiten Fahrzeug saß der Engländer mit den Tränensäcken unter den Augen. Sein Blick schweifte ernst über die anscheinend flache Landschaft. Er labte sich, wie Max Grant, ebenfalls an dieser Ursprünglichkeit. Ja, hier ließ sich schon etwas machen ...
Schon fielen ihm alle möglichen Szenen ein; Szenen, die nicht verfilmt werden würden, aber den Keim dessen enthielten, was schließlich das Licht der Leinwand erblicken würde. Er seufzte und zündete sich eine kleine, billige Zigarette an. Es würde ein wunderbarer Film werden, ein Heldenepos − Sumpfbewohner gingen auf langen Stelzen durch den Morast. Ja, eine Schlacht, in der alle Teilnehmer auf Stelzen gingen, war schon etwas ... Bei diesen Gedanken bewegte sich automatisch seine rechte Hand in die Tasche und brachte eine flache Flasche zum Vorschein. Er setzte die Flasche an seine Lippen, neigte fast feierlich den Kopf zurück und ließ einen kleinen Schluck Brandy die Kehle hinunterlaufen. Trinken, trinken, trinken, dachte Francisco Perez. Mehr konnte man von diesen Filmleuten wohl auch nicht erwarten. Trinken und reden, endloses unwichtiges Gerede über Ideen und Ideen über Ideen. Er hätte nie zusagen sollen. Er kaute auf einer Laranga Lonsdale-Zigarre herum, die er selten anzündete, und sein dickes Doppelkinn sank auf seine schweißfeuchte Brust herab. Er ärgerte sich über seine Bereitschaft, das Filmprojekt unterstützen zu wollen. Jetzt war es zu spät. Wie ein Narr hatte er sich Honig ums Maul schmieren lassen. Man hatte ihm erfolgreich eingeredet, daß sein › ungeheurer Einfluß ‹ manch einen Weg ebnen würde. Und er hatte sich geschmeichelt gefühlt ... Ja, und dafür bekam er nur fünfundzwanzig Prozent der Nettoeinkünfte. Da hätte er lieber zwanzig Prozent vom Bruttoeinkommen fordern sollen. Und er hätte das zweifellos auch getan, wäre nicht die Frau gewesen. Die großen Augen, die vielsagenden Blicke, das Lächeln, das so undurchsichtig war und doch so eindeutig › später ‹ zu sagen schien. Als dann alles unterschrieben und versiegelt war und er sie endlich allein vorfand, hatte sie ihn betrogen. Er hatte genießen
wollen, wofür er bezahlt hatte, und er hatte nur Gelächter geerntet, kaltes Gelächter. Na, sie hätte mit ihm zur Zeit der Inquisition leben sollen! Da würde sie ihr Lachen todsicher bereut haben. Er kaute ärgerlich auf seiner Zigarre herum und schwor, daß er vor nichts zurückschrecken würde, um den vollen Wert seines Geldes zu genießen. Vielleicht konnte er ihnen später noch ein Hindernis in den Weg legen, wenn die Profite gemacht und der Film aus dem Land gebracht werden sollte. Dann handelte es sich um Exportware, und er hatte eine Menge Einfluß, was den Export des Landes betraf. Dieser Gedanke beruhigte ihn wie Balsam; er entspannte sich auf seinem Sitz und begann, über Petronella Grants wohlgeformte Figur nachzudenken. Was man auch sonst von ihr halten mochte, sie sah unverschämt gut aus. Gela Tyrrel saß auf dem Vordersitz des zweiten Wagens neben dem Fahrer und hatte sich in ihr Notizbuch vertieft. Sie war froh, nicht im ersten Wagen zu sitzen, obwohl das in ihrer Eigenschaft als Max Grants Sekretärin und Vertraute der richtige Platz für sie gewesen wäre. Vorne sitzen und sich die Hexe anhören − das war ihre geistige und manchmal auch mündliche Bezeichnung für Petronella − wäre unerträglich für sie gewesen. Sie fuhr mit ihren Fingern durch das kurze blonde Haar. Sie trug Shorts, ein Buschhemd und praktische Knöchelschuhe an ihren Füßen, denn in diesen Marismas mußte es nur so vor Blutegeln wimmeln. Wer Gela Tyrrel in diesem Augenblick betrachtete, der wußte nicht, daß sie sich einmal an der Wahl von › Miß Welt ‹ beteiligt hatte. Auf diese Weise hatte sie Max auch näher kennengelernt. Er war von ihrer heiseren Stimme und ihrem verschmitzten Lächeln sofort eingenommen gewesen und hatte sie zum Star machen wollen. Und als Gela, deren Name tatsächlich Angela war, zum ers-
tenmal vor der Kamera stand, da hatte sie auch geglaubt, daß ein Star aus ihr werden würde. Doch als sie ihren Text aufsagen sollte, verhedderte sie sich. Auch beim zweitenmal. Immer. Sie sah wie ein Star aus − aber sie war kein Star. Traurig packte sie ihre Koffer, um nach Nordhampton zurückzukehren, als Max Grant sie zurückhielt. »Sie sind doch Sekretärin, nicht wahr?« sagte er zu ihr. »Sie haben sogar ein Diplom. Wenn Sie als Sekretärin arbeiten wollen, können Sie genausogut hierbleiben. Eine Woche Probe, okay?« Es gab kein Mädchen weit und breit, das ihren Sekretärinnenjob so ernst nahm wie Gela Tyrrel. Für Max Grant hätte sie einfach alles getan. Aber sie hatte nirgendwann Gelegenheit, mehr für ihn zu tun, als ihm eine gute Sekretärin zu sein. Denn immerhin hatte er sich nicht von romantischen Gefühlen leiten lassen, als er ihr den Job anbot. Max hatte privat nie Interesse an ihrer Person gezeigt, und doch war sie ihm nach wie vor blindlings ergeben. Sie hätte auch keine Sekunde gezögert, seine Frau zu werden. Warum sah er das nur nicht? Warum entzog er sich nicht diesen weiblichen Folterknechten und suchte bei ihr die Wärme und die Geborgenheit, die er wirklich verdiente? Sie konnte ihm doch alles geben ... Der Fahrer hatte eine Hand auf ihr Knie gelegt und ließ sie, als könnte es gar nicht anders sein, immer höher gleiten. Ohne ihn anzusehen, stach sie ihm mit dem angespitzten Bleistift in den Handrücken und hörte ihn einen unterdrückten Fluch ausstoßen. Liam O'Hagan sog verstohlen an seinem Handrücken. War sie nur stockfrigide, fragte er sich, oder hatte sie etwas gegen ihn. Wieder und wieder hatte er es bei ihr versucht, aber sie hatte alle Bemühungen ignoriert. Er war einer dieser kleinen, dunkelhaarigen Iren − von jener Art, die immer etwas beweisen will, vielleicht, daß ihre Seele
größer war als ihre äußere Erscheinung ... Er hielt stets und ständig nach Prügeleien und Frauen Ausschau. Meistens bekam er beides. Schon als Jüngling in Cork wurde es ihm in einem Maße zuteil, daß sein Name in den Beichtstühlen der Kirchen widerhallte. Schließlich entwischte er auf einem Frachter im letzten Augenblick einem Aufgebot erzürnter Väter. Seit jener Zeit war er in der ganzen Welt herumgebummelt, − ein nachgemachter Casanova mit einer Menge natürlichem Charme und einem langen Sündenregister, was die Frauen betraf. Jetzt wollte er Gela haben, und je mehr sie sich vor ihm zurückzog, um so mehr begehrte er sie. Ich werde sie schon noch bekommen, dachte er, wenn es sein muß, dann mit Gewalt. Er hatte eine Menge Minderwertigkeitskomplexe, die abreagiert werden mußten. Unter den Rädern der Wagen war nun ein härterer Boden, denn sie rollten eine sanfte Anhöhe hinauf. In der dritten und letzten schwerfälligen Maschine sah Niko Kovacs die ersten beiden Wagen abrupt anhalten. »Was ist denn los?« fragte er in die Luft hinein. In seinem knochigen Balkangesicht arbeitete es. Viele Leute im Filmgeschäft − besonders Niko Kovacs persönlich − sahen in ihm den besten Kameramann der Welt. Er hatte nämlich das, was einen wirklichen guten Kameramann ausmachte: ein visuelles Auge. Er konnte im besten Sinne des Wortes optisch sehen. Seine Filme waren vollendete Kompositionen von präzisen Einstellungen; man konnte sagen, daß seine Bilder wirklich lebten. Ein Film aus seiner Kamera war ein Erlebnis. Seine nervösen Finger zupften endlos an seinem dünnen, herabhängenden Schnurrbart, als die Fahrzeuge sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnten oder mit ihren breiten Rädern über flache Tümpel hinwegglitten. Das wird eine Katastrophe, dachte er − wie immer vor der
ersten Klappe. Das wird furchtbar werden ... Farbe − ja, die Farbe war gut. Das würde eine sehr gute, sehr stimulierende Farbe. Das Glitzern des Wassers unter dem Nebelschleier, die ölige Glätte hier und da, die alle Regenbogenfarben hatte. Aber der Kontrast. Um Himmels willen, wie sollte ein Kontrast entstehen? Großaufnahmen − o ja, Großaufnahmen und ein paar Vögel kurz eingeblendet. Aber was sonst noch? Er sah in dieser Gegend einen Film von fünf Minuten Länge − und was kam dann? Wie sollten die restlichen anderthalb Stunden die Leinwand bereichern? Max sollte schleunigst für ein abwechslungsreiches Drehbuch sorgen. Eine gute Story, das war es. Vielleicht sollte der Film mit der Schöpfungsgeschichte beginnen. »Am Anfang war der Morast ...« Er war erregt und deprimiert zugleich, als sein Buggy hinter den anderen halten mußte. Und dann stieß Niko Kovacs einen seiner seltenen Entzückensschreie aus. »Hurra, ich hab's!« Er hatte seinen Kontrast gefunden.
Selbst im Tageslicht ging von dieser Burg etwas aus, das die Fröhlichkeit verscheuchte und über jede Stimmung einen dunklen Schatten warf. Sie stand in der Nähe eines jener zahllosen flachen Seen. Eine starr wirkende Festung, deren einzige äußere Dekoration ein kleiner Eckturm war − sicher der Glockenturm, denn er sah nicht so aus, als diene er einem anderen Zweck. Das Binsengestrüpp wucherte fast bis an die Mauern, und es war offensichtlich, daß der See früher einmal tiefer und die
ganze Burg von Wasser umgeben gewesen war. An der Mauer sah man noch eine horizontale Linie, die das ganze Bauwerk umgab. Dieses Wasserzeichen mußte noch aus jener Zeit stammen, bevor die ersten Entwässerungspläne entworfen wurden. Max Grant starrte das Bauwerk ungläubig an. Es entsprach so sehr seinen Vorstellungen von einer Festung, die eine kleine Gruppe von Männern verteidigte, daß es schwer war, sich vorzustellen, daß es tatsächlich etwas gab, was seinem Phantasiebild derart wunderbar glich. Er fürchtete direkt, daß die Burg verschwinden könne wie eine Fata Morgana, wenn er näher an sie heranging. »Es ist ... nicht zu fassen«, sagte er atemlos. »Fahren Sie weiter, Heimie, fahren Sie bis zum Tor. Wir wollen herausfinden, ob wir die Burg als Kulisse benutzen können.« »Wedeln Sie mit einem Dollarschein, dann stellt man uns diese Bruchbude zur Verfügung«, höhnte Petronella. »Für einen Dollarschein tut man in diesem Land restlos alles.« Max wollte eine Bemerkung über den Stolz der Spanier anbringen, jenen Stolz, der jeden Bettler in einen Aristokraten verwandelte, aber er unterließ es. Immerhin war Petronella selbst spanischer Abstammung. Sie hätte sich also in dieser Linie auskennen müssen. Doch nun wollte er sich auf diese so unerwartet in sein Blickfeld gerückte Burg konzentrieren. Er hatte sofort die Besonderheit dieses Bauwerks wahrgenommen, und die ersten Eindrücke waren immer noch die besten. Zerfall, dachte er, Zerfall, Einsamkeit und noch etwas, das er nicht genau bezeichnen konnte. Die Burg war größer als aus einiger Entfernung betrachtet, keine kleinere Festung im Sumpfgelände, sondern eine richtige Burg mit allen diesbezüglichen Eigenschaften. Wer sie gebaut hatte, mußte ein bedeutender Mann gewesen sein. Max schaltete das Funksprechgerät ein.
»Alle Fahrzeuge zur Burg«, befahl er. »Sicher ist sie wohnlich eingerichtet. Die Leute werden arm, aber stolz sein. Ein Maximum an Höflichkeit also.« Als der Wagen vor der Vordertür hielt, wußte Max Grant, was dieses Undefinierbare war, das er nicht hatte beschreiben können: eine Atmosphäre des Unheils ging von diesen Mauern aus. Später fragte er sich zerknirscht, weshalb er nicht das Signal zum Rückzug gegeben habe. Aber er spürte die Erregung eines Menschen, der genau das gefunden hatte, was er suchte. »Niemand zu Hause?« Der Donner des Türklopfers zeitigte keine Antwort, löste nur ein Echo und ein verstörtes Flattern von Flügeln aus. Aus dem zerbrochenen Fenster über der Tür kam ein schwarzer Vogel und flog eilig über die Sumpflandschaft davon. »Sieht aus, als wäre niemand zu Hause. Vielleicht ist die Burg längst verlassen. Aber Vögel scheinen noch darin zu hausen.« Auch Kovacs war abgestiegen und nähergekommen. »Warum gehen wir nicht einfach hinein, hm?« Gela Tyrrel spürte eine Trockenheit in ihrer Kehle, als sie loyal hinter Max stand. Sie hatte nicht den Wunsch, in diese düstere Burg zu gehen, nicht im mindesten. Sie hatte vielmehr das Verlangen, ins zwanzigste Jahrhundert zurückzulaufen, zurück zu den Fahrzeugen. Selbst Fatties Gesellschaft wäre ihr immer noch angenehmer gewesen. »Nun, ich weiß nicht«, murmelte Max Grant. »Wenn wir hineingehen und jemand zu Hause ist ...« Kovacs drückte gegen die eisenbeschlagene Tür, die mit leise knarrenden Angeln nachgab. »Sie wollen niemanden aussperren, das steht fest.« Über der Tür war ein Wappenzeichen, das man nur schwer erkennen konnte, weil es mit Moos überwuchert und im Laufe der Zeit verwittert war. Grant blickte zu dem Zeichen auf, während Kovacs der knarrenden Tür einen noch heftigeren Stoß
versetzte. »Sieht wie ein Schädel aus«, murmelte Grant. »Könnte uns einen Hinweis auf die Besitzer geben ... Welche Familie führt einen Schädel in ihrem Wappen?« Er sah sich nach Perez um und wunderte sich, daß dieser noch immer im Fahrzeug saß. Jetzt war die Tür offen, und der Kameramann war in das dunkle Innere getreten. »Teufel noch mal!« rief er aus. »Wie in einem Dracula-Film. Aber diese Kulisse ist vollkommen echt. Und wie echt sie ist ...« Seine Stimme klang begeistert, und seine Augen leuchteten mit der Glut eines echten Künstlers, als er sich umblickte. Seit Hunderten von Jahren schien hier keine Menschenhand etwas angerührt zu haben! Francisco Perez rief vom Wagen her: »Sie handeln denkbar falsch! Es wird Ärger geben. Unaufgefordert einzutreten, ist einfach ...« Er wischte sein schweißglänzendes Gesicht mit einem schon feuchten Taschentuch ab. Es war nicht so, daß er vor Eigentumsrechten Respekt hatte − seine eigenen Besitztümer ausgenommen −, sondern daß ein beklemmendes Gefühl von ihm Besitz ergriffen hatte. Max, er stand im Türrahmen, nickte mit dem Kopf. »Fattie hat recht«, sagte er zu Kovacs. »Das könnte Ärger geben. Am besten, wir verschwinden von hier. Kommen Sie schon, Niko, Sie haben einstweilen genug gesehen.« »Genug? Ich könnte eine Woche hier sitzen und starren. Oh, was für eine wundervolle Szene ...« »Gut. Gehen wir also. Wir werden herausfinden, wer der Besitzer ist, und uns eine ordnungsgemäße Genehmigung zum Betreten des Grundstücks einholen. Dann kommen wir wieder.« Die Wagen schlängelten sich hintereinander die schmale, kurvige Straße hinunter.
»Es hätte doch jemand da sein müssen«, beklagte sich Max Grant. »Selbst in dieser Wildnis. Vielleicht sind auch irgendwo ein paar Fischer oder Jäger in der Nähe ...« »Alle sind nicht so verrückt!« fauchte Petronella. »Das ist nichts weiter als eine Bruchbude, eine leere, stinkige, modrige Bruchbude, weiter nichts.« »Vielleicht wohnt dort vorn jemand, Max.« Heimie Weiss machte eine Handbewegung in die von ihm erwähnte Richtung. Über ein paar nicht sehr hohen Erlen konnten sie jetzt eine Reihe Dächer erkennen. »Ein Dorf ... Da finden wir bestimmt jemanden.« Max war wieder guter Laune. »Leg' ein wenig zu, Heimie. Mal sehen, was die Leute von dieser Burg halten.« Doch als die plumpen Fahrzeuge auf die Dorfstraße einbogen, hatten sie sofort das Gefühl, daß das Dorf ausgestorben war. »Na, wie gefällt dir das?« fragte Heimie Weiss mit einem mürrischen Unterton in der Stimme. »Seit Jahren verlassen.« Als der Wagen hielt, stieg Max langsam aus und blickte sich um. Es war ein kleines Dorf. Oder es war vielmehr ein kleines Dorf gewesen. Denn kein Dorf existiert ohne die Gegenwart des Menschen. Ohne sie waren Häuser nur Steinhaufen mit Dächern darüber. Wieder geriet Niko Kovacs außer sich vor Begeisterung. »Vollkommen«, sagte er atemlos. »Einfach vollkommen. In einem Studio hätten wir das nicht besser aufbauen können. Das hat uns der Himmel geschenkt!« »Der Himmel!« Petronella lachte schroff. »Wenn das › himmlisch ‹ sein soll, will ich nicht die Hölle sehen ... Max, warum verschwinden wir nicht endlich von hier? Ich bin sicher, daß mich ein Moskito gestochen hat.« Aber Max kümmerte sich nicht um sie. Er ging vielmehr von einem baufälligen Haus zum anderen und versuchte festzustellen, was hier vorgefallen war. Warum waren die Menschen verschwunden?
Ein Hinweis war eine Kaimauer, die in einer Seitenstraße begann und zu einem fast eine Meile vom Wasser des Sees entfernten Sumpf führte. Verfaulte Fischernetze lagen neben einer baufälligen Hütte. »Das kann ein Fischerdorf gewesen sein«, sagte Max Grant zu dem Engländer. »Dann sank der Wasserspiegel stark ab − wir haben das von der Burg aus gesehen. Und als der See zu weit entfernt war, verließen die Dorfbewohner ihre Heimat.« »Möglich.« Barker nickte. »Aber nicht sehr wahrscheinlich. Sie hätten in der Nähe des neuen Ufers neue Häuser bauen können. Aber nichts deutet daraufhin. Nein. Ich denke, die Leute haben das Dorf in Panik verlassen, und zwar schon vor langer Zeit. Wie Sie bemerkt haben werden, ist noch eine Menge Zeug vorhanden. Mobiliar, schwere Kochtöpfe und so weiter. Die spanischen Bauern sind keineswegs so reich, daß sie auch nur irgend etwas Wertvolles zurücklassen könnten. Und vor ein-, zweihundert Jahren waren sie noch bedeutend ärmer.« Max nickte. »Woran denken Sie dann? Eine feindliche Attacke?« »Wäre dem so gewesen, hätten die Feinde zweifellos alles niedergebrannt. Und außerdem wären die Leute nach einem feindlichen Überfall früher oder später wieder zurückgekehrt.« »Haben Sie sonst irgendeine Idee?« »Panik«, sagte Barker düster. »Eine plötzliche Panik suchte diese Leute heim und jagte sie Hals über Kopf davon. Ich kann mir nur einen Grund vorstellen: eine Seuche. Oder das Gerücht von einer Seuche.« Sie sahen sich das Innere der Häuser an, und Niko Kovacs rief sie plötzlich zu einer Hütte am Rand des Dorfes. »Wie wäre es hiermit?« fragte er aufgeregt. Auf einer vermoderten Pritsche in der aus zwei Räume bestehenden Hütte lag eine Leiche − oder eher ein Skelett, dem schon lange das Fleisch von den Knochen gefallen war.
Die Knochen waren noch mit ein paar Stoffetzen bedeckt, und auf einem Finger steckte ein schwarzer Ring, der früher einmal silbern geglänzt hatte. »Das beweist, daß es hier mal eine Seuche gegeben hat«, sagte Barker. »Diese Hütte am Dorfrand muß eine Art Quarantänestation gewesen sein. Die Seuche sollte sich nicht ausbreiten. Und als die Frau starb, bekamen es alle mit der Angst zu tun und verschwanden.« »Wer sagt, daß es eine Frau war?« »Die Kleidung deutet daraufhin. Der Fingerring. Und da liegt auch ein Ohrring ...« »Sehr gut, John.« Max nickte zustimmend. »Die Seuchentheorie scheint zu stimmen. Gehen wir hinaus. Wie verhält es sich eigentlich mit der Gefahr einer Ansteckung?« »Nicht nach all diesen Jahren. Und das kann − nach der Kleidung zu urteilen − zweihundert oder auch dreihundert Jahre zurückliegen.« Sie gingen wieder auf die Tür zu, und Max musterte verstohlen den Engländer, in dessen brandygetränktem Hirn offenbar allerlei Wissen aufgespeichert war. »Wir sollten dann kaum Schwierigkeiten haben, dieses Gelände für Filmaufnahmen zu mieten«, sagte er. »Wir werden bei der Behörde Erkundigungen einziehen. Im Archiv muß es noch alte Aufzeichnungen geben.« Als sie die Tür erreicht hatten, hörten sie hinter sich einen plötzlichen rasselnden Laut. Sie drehten sich wie auf Kommando um und hatten einen Moment den Eindruck, als sei das Skelett lebendig geworden − als wolle es die Pritsche verlassen und auf sie zukommen. Dann knickten zwei Beine der Pritsche gleichzeitig ein, die Knochen stürzten auf den harten Fußboden, und der Schädel rollte zwei Schritte weit, bevor er halt machte; die Augenhöhlen starrten sie warnend an. »Es hat sich bewegt«, sagte Kovacs heiser. »Es bewegte sich
und − und kam auf uns zu.« Der Engländer, den eine feine Schicht Alkohol von der rauhen Wirklichkeit isolierte, lächelte milde. »Die Beine der Pritsche knickten ein. Wahrscheinlich im hohen Maße wurmstichig. Liegt an der Vibration des Bodens, die von unseren Schritten ausgelöst wurde.« Er hustete diskret. »Vielleicht wäre es klüger, wenn wir diesen kleinen Zwischenfall nicht erwähnen. Ich meine, die anderen brauchen nichts davon zu wissen. Nicht nur die spanischen Bauern sind abergläubisch. Ich denke, meine Seuchentheorie sollte auch diskret bleiben.« »Gut gesagt.« Max nickte. »Schweigen wir also wie ein Grab, wie? Denken Sie daran, Niko.« »Aber sicher, sicher. Oder glauben Sie, ich würde etwas sagen, das mich hier am Filmen hindert? Kein Gedanke!«
Das Gesicht des Beamten hatte die gleiche Farbe wie die verstaubten Akten, die hinter ihm in Regalen aufbewahrt waren. Doch seine dunklen Augen glänzten lebensvoll und verbindlich. »Es war nicht einfach, Senor. Es war − kann ich Ihnen sagen − in der Tat überaus schwierig. Ich habe schon viele Nachforschungen betrieben, Senor, doch keine war so interessant wie diese. Nun, Ihre eigene Information gab einen äußerst wertvollen Fingerzeig.« Er nahm aus der Akte auf dem Eichentisch ein kleines Stück Pergament heraus und fragte: »Ist dies das Wappenzeichen, das Sie über der Tür gesehen haben?« »Das ist es!« rief Max. Es war hier in Farbe zu sehen, aber es bestand kein Zweifel, daß es sich um das Wappen handelte. Der Schädel ruhte auf drei horizontalen Pfeilen, und über dem Schädel waren drei sil-
berne Fische zu sehen. »Das Delmorte-Familienwappen«, murmelte der alte Mann. »Und Sie suchen die Delmorte-Burg. Wie merkwürdig, daß sie jemand nach einer so langen Zeit sucht ...« »Kennen Sie die Burg? Die Familie? Wie kann ich mit diesen Leuten Kontakt aufnehmen?! Wem gehört die Burg zur Zeit?« »Der Besitzer ist Conde Delmorte. Aber wenn Sie mit ihm Kontakt aufnehmen wollen, Senor, so sehe ich in dieser Hinsicht unüberwindbare Schwierigkeiten.« »Soso! Und wie sehen diese Schwierigkeiten aus?« Der Mann lächelte schwach und zeigte dabei seine langen gelben Zähne. »Er ist schon vor dreihundert Jahren gestorben, Senor.« Petronella wartete, bis sie sicher war, daß Max den Hotelkorridor entlangkommen würde, bevor sie auf Perez' Zimmertür zuging. Und sie ging absichtlich mit verstohlenen Schritten, die kaum einen Zweifel gestatteten. Francisco Perez hatte seine fette Hand auf ihre Hüfte gelegt; er atmete hörbar und schwer, als seine andere Hand nach ihrem Busen tastete. Er versuchte, sie noch einmal an sich zu ziehen, berauscht von ihrer unmittelbaren körperlichen Nähe. Sein Blut schien zu kochen. »Du darfst nicht gehen ... Nicht jetzt ... Nicht gleich. Du bist doch erst gekommen!« Ihre Augen lachten ihn an. »Danke für die Aspirintabletten, lieber Freund«, sagte sie und öffnete die Korridortür. Und ihre Rechnung ging genau auf. Sie trat in den Korridor, als Max in Höhe der Tür war. Zwei Knöpfe ihrer Bluse waren offen und ihr Rock ein wenig tiefer gerutscht. Sie sah die Qual in Max' Augen, als er stehenblieb, sah seine leicht geblähten Nasenflügel, die plötzlich resigniert erschlafften. Sie lachte insgeheim. »Oh«, girrte sie, »ich wußte nicht, daß du so rasch wiederkommen würdest ... Hattest du einen angenehmen Tag, mein
Liebling?« Sie folgte ihm in ihr eigenes Zimmer. »Was hat das zu bedeuten? Was hast du da drin getrieben?« »Au, du tust mir weh«, sagte sie kühl und sah, wie er seine schon ausgestreckte Hand wieder zurückzog. Sie schlenderte langsam quer durch das Zimmer und zeigte ihm die Wirkung ihrer Hüften unter dem hautengen Rock. Dann zog sie langsam ihre Bluse aus. Sie hatte nichts darunter an − auch nicht unter dem Rock, den sie einen Moment später an ihren schlanken Beinen herunterrutschen ließ. Sein Blick war glühend, hungrig und beschämt zugleich. Er schämte sich seinetwegen, schämte sich für sie. »Sie mal her.« Sie streckte ihre geöffnete Hand aus. »Ich habe mir nur ein paar Aspirintabletten geholt, weil ich wahnsinnige Kopfschmerzen habe. Und ich war nicht länger als zehn Minuten in seinem Zimmer. Fünf Minuten vielleicht.« Sie glitt langsam und katzenhaft näher. Sie sah, wie seine Augen ihren wohlgeformten Körper buchstäblich verschlangen. »Warum kannst du nicht ein wenig nett zu mir sein, Schatz?« girrte sie, ihren ganzen Körper bewegend. »Beispielsweise jetzt ...« Ihre kleinen, schmalen Hände verschränkten sich in seinem Nacken und zogen seinen Kopf herab, bis seine Lippen die ihren berührten. Sie zog ihn immer tiefer und tiefer, bis sie zusammen auf dem Teppich lagen. Und selbst als er sie leidenschaftlich zu lieben begann, lachte Petronella insgeheim, denn sie kannte die Qualen, denen seine Seele ausgesetzt war, wußte, daß er sich die eifersüchtige Frage stellte, wie lange sie wohl in Perez' Zimmer gewesen sein mochte. Aber er verfiel dem Rausch, den ihre körperliche Nähe stets in ihm auszulösen pflegte. Und in solchen Augenblicken wußte er, daß er sich nie von ihr trennen konnte. »Wieder zurück in die Sümpfe«, grunzte Liam O'Hagan. »Du machst Witze, Heimie!«
»Durchaus nicht«, erwiderte der große Fahrer, als sie die Ausrüstungsgegenstände zu den Sumpffahrzeugen trugen. Eine Gruppe zerlumpt aussehender Kinder sahen ihnen dabei zu. »Sieht aus, als hätte sich Max für die alte Burg entschieden.« »Was ist das eigentlich für 'n Kasten?« »Oh, sie scheint mal einem alten Grafen gehört zu haben. Soll ein ziemlicher Tyrann gewesen sein, hab' ich gehört. Sperrte alle ein, deren Nasen ihm nicht paßten. Ich denke, er wurde dann gestürzt, davongejagt oder was weiß ich. Die Burg wurde schon vor Jahrhunderten verlassen. Kein Besitzer also. Wir können uns dort aufhalten, solange es uns paßt.« »Wenn ich ein wenig mehr über diesen Fluch wüßte«, sagte Barker, »hätten wir eine bessere Ausgangsbasis. Aber ich denke, man kann genausogut einen Fluch erfinden ... Hatte der Count Delmorte irgendeine Eigenart? Hat er beispielsweise seine Seele dem Teufel verkauft?« »Der Faust-Stoff wurde schon mehr als einmal abgewandelt« wandte Max Grant ein. Sie saßen im Patio des Hotels und tranken Sherry. Das heißt, sie hatten beide Sherry bestellt, aber Max hatte den Verdacht, daß Barker, der Engländer, mit dem Kellner eine Vereinbarung getroffen hatte und bei jeder Runde einen Brandy serviert bekam. Niko trank Coca-Cola. »Wie dem auch sei«, sagte Max, »wir wollen uns hinsichtlich der Handlung auf kein starres Konzept festlegen. Zunächst einmal müssen wir alle Möglichkeiten untersuchen − die filmischen Möglichkeiten. Und dann können wir etwas daraus machen, indem wir diese Möglichkeiten in den Handlungsablauf einzubeziehen.« »Die alte Burg wird uns die Story erzählen«, warf Barker ein. Er fühlte sich angenehm ausgeglichen − wie immer, wenn er die erste Flasche Brandy intus hatte. Merkwürdig ist das, dachte Barker. Bald würden die Sümpfe dort draußen von einer Filmgesellschaft heimgesucht werden.
Regieassistenten, Kameraleute, Beleuchter, Ausrüstungsgegenstände im Wert von Millionen Dollar. Und all das hatte er mit seinem Drehbuch herbeigezaubert. Ohne Drehbuch keinen Film. Eine angenehme Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Er hatte seine Augen halb geschlossen und blickte zu Gela Tyrrel hinüber, die einen Notizblock auf ihren Knien liegen hatte und ihren Chef mit einem verehrenden, hingebungsvollen Blick ansah. Wie kann dieser Mann bloß so blind sein? dachte Barker. Er könnte doch mit diesem Mädchen machen, was er wollte. Und dabei kümmert er sich überhaupt nicht um Gela, die doch tausendmal mehr wert war als diese Hexe Petronella. »Also dann, Gela«, sagte Max. »Wir fahren bei Sonnenaufgang los. Sorgen Sie dafür, daß alle informiert sind und alles vorschriftsmäßig verpackt ist. Okay?« Gela Tyrrel stand gehorsam und eifrig auf. »Wird erledigt.« Max rief den Kellner heran. »Hallo! Bringen Sie uns noch ein paar Sektflaschen. Mal sehen, ob wir nicht Leben in dieses Kaff bringen können, ha?« Er blickte herum. »Wo sind denn Fattie und Petronella? Die waren doch eben noch hier, verdammt noch mal ...« Und seine Augen wurden düster. Fattie Perez und Petronella ... Wenn beide nicht da waren, dann hatte das etwas zu bedeuten. Seine Seele krampfte sich wie in einem wilden Schmerz zusammen. Sie wird mich noch einmal zum Selbstmord treiben, dachte er und brüllte: »Zum Teufel, wo bleibt der Sekt?!« Der alte Archivbeamte blieb in Höhe des Patios stehen, als er die Sektkorken knallen hörte und die Amerikaner trinken sah. Es war nicht der geeignete Moment, sich bemerkbar zu machen. Und bei der neuen Information, auf die er gestoßen war, handelte es sich im wesentlichen um eine Legende. Vielleicht interessierten die Leute sich nicht dafür. Er schob den Briefumschlag wieder in seine Tasche und ging weiter die Straße ent-
lang. Nein, eine Legende würde diese Amerikaner kaum interessieren. Sie wollten Tatsachenberichte, keine abergläubischen Stories eines alten Bauern, der sie von einem noch älteren Bauern gehört hatte. Aber vielleicht, dachte er, steckt etwas dahinter. Vielleicht eine Warnung ... Vielleicht ein paar Tips für die Geschichte, die sie zu verfilmen gedachten. Na ja, nur nichts überstürzen. Morgen war auch noch ein Tag. Manana ...
»Castillo Delmorte«, sagte Max ergriffen, als das schweigende Bauwerk in Sicht kam. »Die Burg des Todes ... Das ist schon ein zugkräftiger Name − nicht wahr, mein Liebling?« Petronella antwortete nicht. Sie las − oder tat so − eine Reisebroschüre über die Bahamas. Ja, dort konnte man schon leben. Es gab Bars, Restaurants und bewundernde Männerblicke. Und jetzt mußte sie sich mit so einem Drecknest zufriedengeben! Na, warte, Max, das sollst du mir büßen! Es war, im Gegensatz zu ihrer ersten Besichtigung, noch früh am Tag und die Sonne heller. So sah die Burg nicht so düster und brütend aus. Sie war allerdings nach wie vor alt, zerbröckelnd und vom Staub der Jahrhunderte bedeckt. Das ganze Team versammelte sich in der Vorhalle, blickte neugierig herum, befingerte die alten Bilderrahmen und prüfte die Stärke des Mobiliars. Niko war der erste, der die Holztreppe hinaufstieg und dabei vorsichtig jede einzelne Stufe ausprobierte. »Okay«, sagte er fachmännisch, denn sein Vater war ein Zimmermann gewesen. »Die Treppe hält schon etwas aus. Man kann sie großartig ins Bild bringen. Alles hier kann man großartig ins Bild bringen. Die reinste Traumburg für einen Kameramann!«
Er war oben angekommen, als Max hinter ihm herstieg. Einen Moment später drehte Niko sich rasch um. Der durchs Fenster fallende Lichtschein zeigte sein blaß gewordenes Gesicht. Er winkte Max zu, und Max beeilte sich, die letzten Stufen hinter sich zu bringen. »Es ist besser, wenn die Frauen nichts davon sehen«, wisperte Niko, dessen Gesichtsmuskeln nervös zuckten. Er führte Max in Richtung des zerbrochenen Fensters. Und was anfangs ausgesehen hatte wie ein Lumpenbündel, war eine Leiche. Es war die Leiche eines Mannes, noch ziemlich jung an Jahren, der seine Hände wie im Schmerz zusammengekrampft hatte. Sein Mund war geöffnet − ein schrecklicher lautloser Schrei, der einen Augenblick lang von den alten Mauern widerzuhallen schien.
Und wenn man die Augenhöhlen der Leiche betrachtete, wußte man, weshalb der Rabe damals aus dem zerbrochenen Fenster geflogen war ... Max rief den Engländer heran.
»Sie kennen sich doch in Leichen aus, nicht wahr?« »Hmhm«, machte Barker. »Was halten sie denn von dieser hier?« Ein schwerer Todesgeruch schwebte über dem Treppenabsatz, als John Barkers Tränensackaugen auf die sterblichen Reste des Mannes gerichtet waren, der einmal Mulgannon geheißen hatte. »Er muß seit zwei, drei Wochen tot sein«, entschied er. »Nicht viel länger. Es ist ziemlich kühl hier, sonst hätte er aufgedunsener ausgesehen.« »Tja ... Aber was halten Sie nun von ihm? Wo kam er her? Was trieb er hier?« Der Engländer zuckte die Achseln. »Das lange Haar, der lange Bart ... Ich würde sagen, daß er ein Beatnik ist, ein Gammler oder wie man das im Augenblick nennt.« Er bückte sich und klappte den Anorak der Leiche auf. »Englische Kleidung. Aber das Etikett will nicht viel bedeuten. Der kann von wer weiß wo gekommen sein. Ich denke, er wanderte durch die Marismas. Möglicherweise schon längere Zeit. Ich nehme weiter an, daß er eine Unterkunft suchte und Hunger hatte. Möglich, daß er auch krank war und vor Schwäche nicht mehr weiter konnte ... Und darum starb er eben hier.« Obwohl seine Stimme gleichgültig und teilnahmslos klang, stellte sich John Barker im Geiste vor, wie es gewesen sein konnte. Der Herumtreiber stolperte durch das Sumpfgebiet. Plötzlich ein Hoffnungsschimmer, als er die alte Burg sah, die ihm wie die Rettung vorkam. Und dann die niederschmetternde Entdeckung, daß keine Menschenseele darin hauste. Er mußte die Treppe hinaufgestiegen sein in der Hoffnung, oben jemanden zu finden. Und von der Verzweiflung übermannt, war er dann gestorben. Gar kein schlechtes Material für eine Kurzgeschichte ... Er zog seine Taschenflasche, trank einen kräftigen Schluck und reichte sie Max. »Danke, ich kann einen Schluck gebrauchen«, sagte Max und
trank, um die Flasche an Niko weiterzureichen, der ebenfalls einen Schluck gebrauchen konnte. »Wenn die Mädchen das sehen, werden sie womöglich in Ohnmacht fallen. Wir müssen die Leiche irgendwo verschwinden lassen.« Am Ende des Treppenabsatzes war ein großer Wäscheschrank. Im oberen Fach lag vermoderte Wäsche, dort unten war genügend Platz. Die drei Männer zogen ihre Nasen kraus, als sie die namenlose Leiche zum Schrank trugen, sie hineinpackten und die Schranktür wieder schlossen. Max Grant schob den Riegel vor und verklemmte ihn derart, daß die Tür nicht so leicht geöffnet werden konnte. »Geben Sie mir noch mal die Flasche«, sagte er atemlos. Er kippte ein wenig Brandy in die Handfläche, um den Totengeruch zu vertreiben. »Nachts werden wir die Leiche irgendwie wegschaffen«, sagte er. »Mal sehen, was es sonst noch hier gibt ...« Am Ende des oberen Flurs waren Schlafzimmer mit hoher Decke. In jedem stand ein großes Bett mit hohen Eckpfosten und einem verschimmelten Baldachin darüber. »Der Count Delmorte muß ein reicher Mann gewesen sein«, sagte der Engländer. »Alles ist verschwenderischer ausgestattet als es im spanischen Mittelalter gemeinhin üblich war. Damals bevorzugte man eine mehr spartanische Einrichtung.« Von den Schlafräumen gingen sie zum anderen Ende des Flurs. Dort befand sich eine Gemäldegalerie, ziemlich schmal und für diesen Zweck nicht besonders hell. Dort hingen Bilder der Vorfahren von Count Delmorte. Einige dieser Bilder waren im Laufe der Jahre so dunkel und schimmelig geworden, daß man kaum erkennen konnte, was sie eigentlich darstellten. Doch ein Gemälde in Nähe der Treppe war in einem noch ganz guten Zustand, obwohl es an der unteren Ecke von grünem Schimmel überzogen war; ein Fle-
cken, der sich immer weiter ausbreiten würde. »Liegt am Luftzug«, erklärte der Engländer. »Der Luftzug weht von unten die Treppe hinauf; darum ist es bedeutend besser erhalten als die anderen.« »Ein Jammer«, entgegnete Max. »Siebzehntes Jahrhundert, würde ich sagen«, bemerkte Barker. »Und offensichtlich, wie ich schon vermutete, ein reicher Mann. Beachten Sie den Rubinring ... Stammt sicher aus Südamerika. Ein Teil der Beute jener alten spanischen Eroberer.« Während er weitersprach, konnte Max seine Augen nicht von dem Gesicht losreißen. Noch nie in meinem Leben, dachte er, habe ich ein Gesicht gesehen, das mich derart abgestoßen hat. Andererseits hätte er nicht genau sagen können, woran das lag. Es war ein sehr langes, schmales Gesicht mit einer hochrückigen Nase, das Gesicht eines Eroberers und Aristokraten. Die Lippen schienen schmal zu sein und hatten in ihren Winkeln ein kaum merkliches Lächeln. In den Augen blitzte eine Spur von schwarzem Humor. »Ich möchte nicht der Künstler gewesen sein, der ihn gemalt hat«, sagte Niko. »Dieses Lächeln ... Wenn ich ihn gemalt hätte, wäre ich nicht das Gefühl losgeworden, kein Honorar zu bekommen.« »Ein zäher Bursche«, gab Max zu. »Ich frage mich, ob wir aus seiner Lebensgeschichte etwas verwenden können.« »He, Max! Was treibst du eigentlich da oben?« Petronellas Stimme klang so ungeduldig wie immer, und ihrer Stimme folgte das Geklapper der Absätze auf der Eichentreppe. Und einen Moment später folgte diesem Geräusch ein anderes, schreckliches. Es war, als heule das ganze Gebäude seine Mißbilligung über die Eindringlinge hinaus. Tief aus seinem Inneren kam ein Rumoren, dessen Vibrationen die Bildergalerie zittern ließen, in der die Männer standen. »Zum Teufel, was -?«
Max hatte sich noch nicht einmal in Bewegung gesetzt, als die zweite Geräuschwelle heranzitterte. Es war ein Schrei, ein langgezogener Entsetzensschrei der Schrei einer Frau!
In dem schwachen Licht war Max schon die halbe Treppe hinuntergestiegen, als er sah, was geschehen war, und haltmachte. Er hätte ohnehin nicht mehr weiter gekonnt, denn vor seinen Füßen hörten die Stufen auf. Wo die letzten Stufen gewesen waren, war jetzt ein großes, eckiges Loch. Und in diesem Loch baumelte, den Kopf nach unten, Petronella. Ihr Kleid wurde nur von einem Nagel festgehalten. Ein Teil Stoff war ihr über den Kopf gerutscht. Sie schlug wild mit den Beinen um sich, und der winzige Slip, den sie immer trug, verbarg überhaupt nichts. »Nicht bewegen!« schrie Max. »Keine einzige Bewegung mehr!« Er konnte deutlich hören, wie ihr Kleid immer weiter einriß, und er wußte, daß sie sich nur noch ein paar Sekunden würde halten können. Er bückte sich so tief, bis er mit einer Hand nach ihrem Fußknöchel fassen konnte, der trotz seiner Aufforderung noch immer wild herumschlug. Er packte fester zu und hörte schon den letzten Stoffstreifen reißen. Petronella schrie immer noch, als er sie hochzog und neben sich auf die Beine stellte. »Es ist doch alles wieder in Ordnung, Liebling, alles in Ordnung«, versuchte er sie zu beruhigen. Als sie wieder aufrecht auf ihren Beinen stand, schloß sie ihre
Tränenschleusen und begann so wild wie eine Hexe zu kreischen. »Alles in Ordnung! Alles in Ordnung! Was bist du nur für ein Mann?! Ziehst deine Frau vor den Augen aller Leute aus!« Vorsätzlich bewegte sie ihren Körper, der so gut wie nackt war, und die Gesichter der Männer unten spannten sich in einer Sekunde jähen Verlangens. »Du nimmst mich in so eine verfluchte Absteige mit, die zusammenstürzt, wenn man mal ein bißchen kräftig mit dem Fuß auftritt! Dann ziehst du mich auch noch aus und sagst: › Alles in Ordnung! ‹ Hach, du bist ja so blöde und gemein ...« »Mrs. Grant«, sagte der Engländer geschmeidig, »ich denke, Sie würden eher Ihre Sittsamkeit verlieren wollen als denen da unten Gesellschaft zu leisten ...« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Fallgrube hinunter, und diesmal schrie nicht Petronella allein auf. Denn die Taschenlampe leuchtete in einen Schacht mit senkrechten Wänden und ungefähr zwanzig Meter Tiefe. Und auf dem Boden der Grube waren lauter Eisenspitzen, anderthalb Meter lang. Die Beobachter hielten wie auf Kommando den Atem an. Diese Eisenspitzen waren natürlich nicht zur Zierde da. Die Knochen von wenigstens drei Personen lagen auf diesen Spitzen − Leute, die in der qualvollen Agonie des Aufgespießtseins gestorben waren. Sie waren verfault oder von den Ratten gefressen worden. »Sehr einfallsreich gemacht«, sagte der Engländer mit so etwas Ähnlichem wie Ehrfurcht in seiner Stimme. »Die Falltür ist mit dem Treppenpfosten verbunden. Eine unvorsichtige Berührung, ein starker Druck vielleicht, und die Stufen rutschen nach unten.« »Eine wirklich raffinierte Falle«, grunzte Heimie Weiss. »Wie geht sie denn wieder zu?« »Den Treppenpfosten zurückdrücken, denke ich.« John Bar-
ker fummelte an dem Pfosten herum, und kurz darauf schwang der Treppenteil wieder in seine alte Position zurück und sah so sicher und solide aus, als könne er unmöglich nach unten wegrutschten. »Jetzt ist wieder alles sicher«, gab der Engländer bekannt. »Man muß nur darauf achten, daß man den Pfosten nicht berührt, sonst geht's wieder abwärts.« Er trat auf die unterste Stufe, um die Richtigkeit seiner Theorie unter Beweis zu stellen. Die Stufe gab nicht nach, doch keinem wäre es in den Sinn gekommen, seelenruhig die Treppe hinaufzugehen. »Es gibt todsicher noch andere Fallgruben«, murmelte Max Grant und zupfte nachdenklich an seinem Kinn. »Ganz bestimmt«, pflichtete ihm der Engländer bei. »Es muß sehr interessant sein, nach und nach alle zu entdecken. Eine Art Detektivspiel, bei dem jeder auf seine Kosten kommen würde ...« Petronella hatte sich wieder ihr zerrissenes Kleid übergestreift und starrte jetzt die Männer mit zornigen Augen an. »Ihr müßt einfach wahnsinnig geworden sein! Ich bleibe auf keinen Fall hier. Nicht in dieser alten Burg mit Falltüren. Nicht nach allem, was eben passiert ist!« Max' Gesicht wurde hart, als er sich nach ihr umdrehte. »Petronella, Liebling, das ist eine geschäftliche Angelegenheit.« »Ha!« »Hier liegt das Geld, für das du dir deine schönen Nerzmäntel und Diamanten kaufen kannst − und die hübsche Unterwäsche, die du jedem so bereitwillig zeigst.« »Unverschämtheit!« »Wenn es ums Geschäft geht, meine Liebe, dann bin ich hart. Steinhart. Dies ist die beste natürliche Kulisse, die ich je im Leben gesehen habe. Jeder Hollywood-Requisiteur kann solch eine Falltür in Auftrag geben, aber die wäre niemals so echt wie diese. Also bleiben wir hier am Schauplatz der Handlung, mein Herz.«
Seine Stimme klang so endgültig und entschieden, daß Petronella ihn nur anstarren konnte, als habe sie ihn noch nie im Leben gesehen. Gela griff, als perfekte Sekretärin, nach ihrem Arm und sprach: »Vielleicht kann ich Sie zu den Fahrzeugen begleiten, Mrs. Grant. Wir werden schon ein anderes Kleid für Sie finden.« Francisco Perez schwang seine Körperfülle in ihre Richtung. Seine Erregung angesichts der nackten Frau war unbeschreiblich. Sie wird jetzt in der richtigen Stimmung sein, dachte er gierig. Sie ärgert sich über ihren Mann und will sich an ihm rächen. Er wäre nur allzu bereitwillig das aktive Instrument ihrer Rachegefühle gewesen. Aber er mußte dieses andere Mädchen abschütteln, das ihn so gar nicht faszinierte. Ein langweiliges Ding, wenn er sie mit Petronella verglich. »Sie kennen alle Tricks, John«, sagte Max zu dem Engländer. »Was sollen wir jetzt machen?« »Wir suchen nach«, sagte der Engländer. »Wir suchen sehr langsam und gründlich nach.« Er war vollauf mit der Situation zufrieden. Endlich mal was Neues! Vor einer Stunde hatte er den letzten Schluck getrunken und es nicht für möglich gehalten, daß er es so lange ohne jeden Streß aushalten würde. »Alle Gegenstände, die beweglich sind«, sagte er bedachtsam, »können eine Fallgrube öffnen. Selbst Türen können so etwas ohne weiteres bewerkstelligen. Phantastische Möglichkeiten, wie? Eine belastete Stemplatte könnte beispielsweise nachgeben ... Selbstverständlich werden Dienerschaft und Herrschaft diese speziellen Platten genau gekannt haben und ihnen geflissentlich aus dem Weg gegangen sein. Kurz und gut, wir müssen auf Vorsprünge achten, was irgendwie schräge ist ... Und langsam und vorsichtig gehen. Augen auf! Das gilt für alle.« Die nun folgende Suche war die unheimlichste Angelegenheit, mit der Max Grant sich jemals beschäftigt hatte. Er
beschloß, das nie zu vergessen. Vielleicht konnte er das einmal in einen Film einbauen. Und dann die Atmosphäre der Angst, die alle umgab, die steifen Bewegungen, die zusammengekniffenen Augen. Wenn man diese Gefühle wirksam auf die Leinwand bringen konnte ... An Petronella dachte er überhaupt nicht. Hart, steinhart, wenn es ums Geschäft ging, das war seine Devise. Aber Petronella dachte an ihn, dachte an ihn mit bitterem Haß. Was bildete er sich eigentlich ein? Unterhielt sich in einer derart unverschämten Tonart mit ihr! Aber diesmal würde er schon sein Fett bekommen − und wie! Warte nur, Mäxchen, warte nur ... Ihr Lächeln wechselte von der Sekretärin auf den fetten Perez über, und als Gela in die Burg zurückeilte, lächelte Perez ebenfalls. Ein abgründiges, hungriges Lächeln. Aber sie hielt ihn zurück, als sie hinter die Fahrzeugreihe gegangen waren. »Nicht jetzt«, wisperte sie heiser, obwohl niemand in der Nähe war, der es hören konnte. »Jetzt ist nicht die richtige Zeit für so etwas. Aber heute nacht ... Ich werde noch von mir hören lassen.« Ihr Kleid öffnete sich ein wenig, und seine Augen blitzten gierig.
Der Engländer war enttäuscht. Er hatte nur zwei weitere Fallen gefunden; eine war eine gespannte Armbrust, die durch einen in einer Ritterrüstung eingebauten Meachanismus ausgelöst werden konnte, die andere war wieder eine Fallgrube. In beiden Fällen hatten Zeit und Witterungseinflüsse die Mecha-
nismen zerstört. »Dann bleibt nur noch der Keller«, sagte der Engländer, als die Gruppe wieder in die große Halle zurückgekehrt war. Er zündete sich nachdenklich eine seiner kleinen Zigarren an. »Es ist auch einigermaßen merkwürdig, daß wir nicht feststellen können, was die Räumung dieser Burg veranlaßt hat.« In einer mit Steinplatten ausgelegten Passage entlang der Rückseite der Burg hatten sie schon früher eine massive Tür entdeckt, hinter der sich eine steile, spiralförmige Steintreppe befand. Alle hatten ihre Taschenlampen angeknipst, aber sie zögerten einen Moment vor der ersten Treppenstufe. Die aus der Tiefe aufsteigende Luft war kalt und roch stärker als an anderen Plätzen der Burg nach Schimmel und Verwesung. Als sie langsam die Treppe hinuntergingen, stellten sie fest, daß an den Wänden breitblätterige Pilze wucherten, die bei einer Berührung wie welke Blätter zerkrümelten oder in großen Flocken auf die Steintreppe patschten. An den Wänden waren in bestimmten Abständen verrostete Fackelhalter. Auf diese Weise hatte man in längst verflossenen Zeiten die Treppe beleuchtet, die schließlich in einen Gang mündete. »Ich habe mir schon mehrere Gefängnisse von innen angesehen«, sagte O'Hagan, der ganz hinten ging, »aber hier drinnen möchte ich keine halbe Nacht verbringen.« Niemand lachte. Es wäre leichter gewesen, in einer Kirche zu lachen. Durch Gucklöcher blickten sie im Vorübergehen in die einzelnen Kerkerzellen. In den meisten Zellen war nichts zu sehen bis auf die an der Wand befestigten Fesseln, und in einer dieser eisernen Fessel hingen noch ein paar Knochenreste. »Das scheint alles zu sein«, sagte der Engländer, dessen Stimme wieder enttäuscht klang. »Irgendwie kommt mir das ...« Er sprach nicht mehr weiter, aber jeder wußte, was er meinte. Er hatte einfach mehr erwartet. Die Atmosphäre war ganz dazu
angetan, so daß es unmöglich schien, hier nicht mehr zu finden als die leeren Kerker mit den verrosteten Eisenfesseln und den Pilzen an den Wänden. »Moment mal«, sagte Max plötzlich. »Was ist mit dieser Endwand hier?« Max und der Engländer sahen sich die Wand genauer an, während Heimie Weiss und O'Hagan beklommen umherblickten. »Diese Mauer ist bestimmt noch nicht so alt wie die Burg«, sagte John Barker. Er rieb mit einem Finger daran. »Und sie wurde auch nicht von einem Handwerker mit den entsprechenden Fähigkeiten gebaut. Man hat den Eindruck, daß sie in Eile errichtet wurde − um vielleicht irgend etwas zu verbergen, wer weiß ...« Max Grants Augen funkelten vor Erregung. Endlich hatten sie doch etwas gefunden! »Wenn die Mauer etwas verbergen sollte, dann müßten wir dahinter auch etwas finden.« Verglich man dieses Werk mit der soliden Maurerarbeit der restlichen Burg, dann sah diese Mauer sehr schäbig und stümperhaft aus. Der Mörtel war hastig daraufgeklatscht worden, und die ganze Mauer stand nicht einmal senkrecht, sondern ein wenig schief. Grant hatte jetzt ein großes Taschenmesser in der Hand und stocherte damit im Mörtel herum. Es war weich und bröckelte unter der Messerklinge ab. »Überlasse das mir, Max«, sagte Heimie Weiss. Er brachte ein noch größeres Taschenmesser zum Vorschein, das auch einen Marlspieker hatte. Bald hatte er unter einem der oberen Steine ein Loch gestochert, in das er seine harten Fleischerhakenfinger hineinkrallen konnte. »Zurücktreten«, sagte er. »Vielleicht kippt gleich alles auf einmal.« Er setzte ein Bein zurück und ruckte heftig. Seine Prophezeiung war wohlbegründet. Mit einem lauten Gepolter und einem dicken Staubwirbel krachte die Wand zusammen. Die ganze Gruppe mußte halb die Treppe hinaufge-
hen und warten, bis sich der Staub verzogen hatte. Als es soweit war und sie zurückkehrten, um nachzusehen, was infolge der Zerstörung zum Vorschein gekommen war, da erwartete sie eine weitere Enttäuschung. Denn die Mauer war einfach zu dem Zweck errichtet worden, um eine weitere Tür zu verbergen, eine Tür, die ganz aus Eisen zu bestehen schien und ein Schloß hatte, das längst vom Rost zerfressen war. Doch Max Grants Augen leuchteten lebhafter denn je. »Perfekt!« rief er. »Einfach perfekt in jeder Beziehung! Sie brauchen sich die einzelnen Szenen zum Durchbruch gar nicht mehr auszudenken, John. Alles da, die geheimnisvolle verlassene Burg, das ausgestorbene Dorf, die Skelette ... und jetzt noch das Geheimnis der Tür hinter einer Mauer. Alles da! − Zum Teufel, wie bekommen wir die Tür nur auf?« »Ich habe ein ungutes Gefühl, was diese Tür betrifft«, sagte Barker. »Ein außerordentlich ungutes Gefühl.« Tatsächlich war die Stimmung des Engländers zunehmend düsterer geworden, seit sie in den Keller hinuntergestiegen waren. Die Suche nach den Fallen hatte ihm richtig Spaß gemacht, und er hatte sogar die feuchte Luft der Burg genossen. Atmosphäre, hatte er gedacht. Ja, Atmosphäre, hatte die Burg zweifellos. Aber unten, hier im Keller, da hatte sie ganz einfach zuviel Atmosphäre. »Ich würde nichts mehr anrühren«, sagte er. »Ha! ... Heimie, hole mal eine Brechstange vom Wagen. Wir brechen die Tür in Null Komma nichts auf ... John, Ihr Kummer ist, daß Sie schon lange nichts mehr getrunken haben. Darum läßt Ihr Unternehmungsgeist nach, so ist es.« »Wenn Sie wollen, mache ich die Tür auf.« Alle sahen verwundert O'Hagan an. Er hatte eine flache Tabakdose in der Hand. »Wie wollen Sie das machen?« fragte Max schroff. Er hatte den Iren noch nie gemocht und ihn in jeder Beziehung für zu frech und naseweis gehalten. Aber O'Hagan war ein guter Fahrer, nichts gegen diese Fähigkeit einzuwenden.
»Ein Souvenir aus Algerien«, erklärte Q'Hagan. »Eine kleine Plastikbombe im Taschenformat. Ich sprenge die Tür einfach auf. Moment, das werden wir gleich ...« Seine Augen glitzerten erwartungsvoll, als er ein fingerlanges Stück Plastik in das Schlüsselloch drückte. Er hatte auch zwei Sprengkapseln in der Tabakdose und drückte eine davon hinter der Plastikmasse her, nachdem er den Zünder mit seinen weißen Zähnen zurechtgebogen hatte. »Alles zurücktreten!« befahl er. Es war schön, das Kommando zu haben und den anderen die Richtung anzugeben. Die Detonation machte bedeutend weniger Lärm, als die anderen erwartet hatten. Jeder hatte sich innerlich schon auf ein Donnergetöse vorbereitet. Statt dessen gab es nur einen kurzen Knall und ein schwirrendes Geräusch, als ein Splitter durch die Luft und gegen die Wand sauste. Ein weißes Wölkchen züngelte aus dem Schloß, und O'Hagan rannte sofort auf die Tür zu, entschlossen, die Schatzkammer als erster zu betreten. O'Hagan wie immer als erster dort, wo es etwas zu holen gab. Die anderen rannten hinter ihm her, sahen ihn an der Eisentür herumhantieren und sie aufdrücken. Aber die anderen sahen O'Hagan nicht eintreten. Er stand wie angewurzelt im Türrahmen, hielt die Taschenlampe, leuchtete nur und blieb stehen, wo er stand. »Jesus, Maria und Josef, steht mir bei!« hörten sie ihn aufschreien. Das mochte das erste Gebet sein, das er gesprochen hatte, seit er den Katechismus beim Religionsunterricht in der Schule auswendig gelernt hatte. Gewiß hatte er noch nie mit einer größeren Inbrunst gebetet ...
Auf den ersten Blick sah der Raum hinter der aufgesprengten Eisentür so aus wie ein Eßzimmer. In der Mitte stand ein Tisch,
und darum herum saßen die Speisenden. Einige lagen auch auf dem Boden. Es sah aus, als hätten sie geschlemmt und würden nun unter den Nachwirkungen leiden. Aber der Tisch war kein eigentlicher Tisch, und das Essen darauf war keine Mahlzeit für menschliche Wesen. Und die Tischgäste würden in dieser Welt nie mehr einen Bissen zu sich nehmen. Ein Totengeruch lastete in der Luft, ein fauler, modriger Totengeruch, der an den Eindringlingen vorbeischwebte und Übelkeit verbreitete. O'Hagan hatte schon kehrt gemacht, quetschte sich an den anderen vorbei, rannte zur Treppe und würgte und betete dabei. Die anderen standen da, starrten in die Grabkammer und nahmen jedes Detail jener Leute in sich auf, die vor dreihundert Jahren gestorben waren. »Eingemauert«, sagte der Engländer heiser. »Lebendig eingemauert. Das hat sich hier abgespielt.« Wie in vielen kirchlichen Grüften, so schien die Luft auch hier mumifizierende Eigenschaften zu haben. Die Leichen waren nicht verwest, Fleisch und Haut waren an den Knochen geblieben. Das waren keine Skelette, wie man sie sonst in Grabkammern sah, es waren vielmehr ausgedörrte Körper, Haare und Haut noch immer in Ordnung. Sie sahen wie die Gefangenen eines Hungerlagers aus, allerdings mit dem Unterschied, daß sie gut gekleidet waren. Alle, bis auf einen. Und der war völlig nackt. Er lag auf dem Tisch, der kein Tisch war, sondern eine merkwürdige Vorrichtung, über dessen Verwendungszweck sie nicht einmal Vermutungen anzustellen wagten. »Haben sie ihn − gegessen?« Heimle Weiss schluckte einige Male und fröstelte, »Jesus ...!« »Das bezweifle ich«, sagte der Engländer. »Bei dieser Eisentür und der Wand davor kann ihnen nicht viel Luft zum Atmen zur Verfügung gestanden haben, um ein Hungergefühl zu ver-
spüren. Sie müssen sehr bald erstickt sein ...« »Aber wer sind diese Leute?« fragte Max. »Warum wurde das getan?« Der Engländer trat nicht in die Grabkammer, aber er deutete auf einen Mann, dessen gespreizte Hand auf dem Tisch ruhte. Im Licht der Taschenlampe funkelte ein roter Stein an seinem Finger. »Sie haben oben das Gemälde gesehen. Der Mann hatte auch einen großen Rubinring am Finger.« Seine Lippen zuckten ein wenig, als er sarkastisch hinzufügte: »Ich denke, wir können sagen, daß wir wenigstens unsern Gastgeber gefunden haben. Ich nehme an, daß es sich um den letzten Count Delmorte handelt.« Und als er das sagte, füllte ein Schrei, der aus dem Nichts zu kommen schien, die Grabkammer aus. Ein Schrei, der der schrecklichste Laut war, den diese Männer jemals in ihrem Leben gehört hatten. Ein Schrei, der sowohl in ihrem Kopf als auch draußen hallte ... ein Schrei, der dreihundert Jahre alt war. Alle Männer gerieten zur gleichen Zeit in Panik. Wie auf Kommando. Noch immer mit dem fürchterlichen Echo dieses Schreis in ihren Köpfen, machten sie kehrt, rannten blindlings die Passage entlang an den Türen der Kerker vorbei und wie der Blitz die spiralenförmige Treppe hinauf. Wäre einer gefallen, hätten die anderen ihn zertreten. Aber niemand stürzte, und alle drei erblickten das Licht des Tages. Selbst die muffige Luft im Erdgeschoß war bedeutend besser als die modrige Kelleratmosphäre. Überall wäre eine angenehmere Atmosphäre gewesen, überall. »Jessas!« stieß Heimie Weiss hervor. »Nicht für eine Million Dollar würde ich noch einmal in den Keller gehen ...« »Gespenstisch«, pflichtete Max ihm bei. »Entschieden gespenstisch. Was halten Sie davon, John?« Der Engländer zündete sich eine schmale Zigarre an, bevor er antwortete. Das schwache Havanna-Aroma des billigen Krauts
befreite seine Lunge von dem Leichengeruch dieser fürchterlichen Grabkammer. »Die Umgebung ist zweifellos beeindruckend unheimlich. Wir hatten alle ein bißchen Angst. Und als wir diese Leichen sahen, waren wir zum Davonlaufen bereit, wenn nur jemand seinen Hut fallengelassen hätte.« »Niemand hat seinen Hut fallengelassen«, protestierte Heimie. »Aber jemand hat geschrien. Und solch einen Schrei möchte ich im Leben nicht mehr hören, kann ich nur sagen. Nie mehr!« »Da war ein Schrei, das stimmt«, sagte Max. »Ich hörte ihn buchstäblich direkt in meinem Kopf. Er hat mir wirklich Angst gemacht, muß ich sagen.« »Er hat uns allen Angst gemacht«, sagte der Engländer. »Aber wir müssen natürlich berücksichtigen, daß unsere Gemüter eine übernatürliche Manifestation erwarteten. Wir standen in der Dunkelheit, in dem alten Kellergewölbe. Unsere Nerven waren angespannt − jeder Laut hätte uns in Panik stürzen können, jeder Laut.« »Und was für ein Laut trieb uns in die Flucht?« Max war entschlossen, eine Erklärung zu finden − wenigstens eine unglaubwürdige Erklärung. »Alte Türangeln vielleicht«, sagte John Barker, der Engländer. »Verrostet ... Ich denke, jemand hat sich an die Tür gelehnt, und dabei quietschten die Angeln.« »Die Tür hat doch nicht gequietscht, als O'Hagan sie öffnete!« protestierte Heimie Weiss. »Sie hat bestenfalls leise geknarrt.« »Oh, er hat die Tür ja auch nicht ganz geöffnet, nicht wahr«, entgegnete Barker. »Das letzte Stückchen kann das verklemmteste gewesen sein und demzufolge am grausamsten gequietscht haben. Als wir zusahen, wie O'Hagan die Tür öffnete, erwarteten wir ein Geräusch. Und als wir praktisch im Türrahmen standen, waren wir nicht mehr darauf vorbereitet ...« Max Grant nickte zufrieden. »Ich denke, so kann es nur ge-
wesen sein. Es muß an der Tür gelegen haben ... Und ich bin dafür, daß wir noch einmal nach unten gehen und uns überzeugen. Wer kommt mit?« »Du machst wohl Witze, Max!« sagte Heimie Weiss, sein alter Kriegskamerad. Und in der Seele des Engländers wütete ein schrecklicher Konflikt. Eine quietschende Tür ... das war eine vernünftige Erklärung gewesen. Doch tief in sich spürte er, daß mehr dahintersteckte. In seinem Mund hatte er noch den Geschmack des Bösen, das mit der ersten Welle des Leichenhausgeruchs an ihm vorbeigerauscht war. Da unten lauerte etwas Böses; etwas, das noch lebendig war. Erinnerungen an eine lange Periode seines Lebens fluteten in sein Bewußtsein zurück, als er in der Passage stand. Von allen Leuten war er wohl die einzige Person, die für den Kampf gegen das gerüstet war, was sich hinter der Oberfläche dieser Burg des Todes verbarg. »Ich werde natürlich mitkommen«, sagte er mit ruhiger Stimme. Es war, wie Barker prophezeit hatte: als sie zu der Grabkammer zurückkehrten, und die Tür ganz öffneten, hörten sie wieder dieses Kreischen − doch jetzt nicht so laut, wie es schien. »Was glauben Sie, weshalb diese Leute eingemauert wurden?« fragte Max. »Ja, das war eine seltsame Methode«, murmelte Barker. »Eine Bestrafung, die bei ketzerischen Verleumdungen der Kirche zur Anwendung kam. Beispielsweise bei Nonnen, die über fleischliches Wissen von den Männern verfügten, Hexereien praktizierten oder die Existenz des Heiligen Geistes bestritten. Oder Mönche, die sich gleichermaßen schuldig gemacht hatten.« Max ging in der Kammer herum; seine Panik war vergessen, er hatte nur noch Interesse. »Keine Priester hier, soviel ich sehe, auch keine Nonnen. Also warum wurden diese Leute eingemauert?«
Der Engländer schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich denke, sie wurden hier hineingelockt. Unerwartet schlug die Tür zu − und dann wurde in aller Eile die Mauer hochgezogen.« »Und warum?« Barker deutete auf den Tisch in der Mitte der Kammer. »Sieht aus wie eine mittelalterliche Folterbank, wenn Sie mich fragen. Aber sie unterscheidet sich in mancher Hinsicht davon. Sieht so aus, als wäre der Count ein Liebhaber von Torturen gewesen. Vielleicht suchten ihn Freunde auf, fanden ihn tot vor und rächten ihn, indem sie die Folterknechte für immer von der Außenwelt abschlossen. Jedenfalls werde ich die Sache so in meinem Drehbuch beschreiben.« Er lächelte schief, fröstelte und sah, daß Max dasselbe tat. »Es ist kalt hier, nicht wahr?« »Kann man sagen.« »Das ist natürlich einer der Gründe dafür, weshalb die Leichen so gut erhalten sind − das und das Fehlen von Luft. Es kamen keine Bakterien hinein ... Haben Sie jetzt genug gesehen?« Max nickte. »Gut, dann gehen wir nach oben.« Sie gingen zur Treppe. »Das wird ein phantastischer Film«, murmelte Max. »Ein Horrorstreifen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat ...« Und er wußte noch nicht, wie recht er haben sollte.
Die Burg hatte viel von ihrer gespenstischen Atmosphäre eingebüßt, als die Filmleute ein dickes Starkstromkabel von dem Generator des hinteren Wagens in die Burg legten, alle möglichen Ausrüstungsgegenstände hineintrugen und an den Wän-
den die Scheinwerfer aufbauten. Aber Petronella war mit dieser Entwicklung ganz und gar nicht zufrieden. »Hierbleiben! Daß ich nicht lache. Die Nacht in dieser Leichenhalle verbringen, was? Ich denke, dein Verstand ist vom richtigen Kurs abgekommen, Max!« Aber dies war der harte, steinharte Max, mit dem sie sich jetzt unterhielt; der Max, den sie nicht kannte; der Max, der Filme machte. »Wir stellen Feldbetten auf, mein Kind. Die sind bequem genug. Schadet dir überhaupt nichts, wenn du eine Nacht hier verbringst ... Und wir haben schließlich Arbeit zu leisten, sehr wichtige Arbeit, falls dir das etwas sagt.« Und damit drehte er sich um und beaufsichtigte die Installation eines Reflexscheinwerfers. Petronella schäumte vor Wut und vergrub ihre langen Fingernägel derart in ihren Handballen, daß es fast blutete. Und doch war sie irgendwo in ihrer unruhigen Seele darüber froh. Denn nun hatte sie eine Ausrede, das zu tun, was sie ohnehin hatte tun wollen. Gela Tyrrel hielt ihren Notizblock bereit und ließ sich von einem wilden Gefühl der Freude emportragen. Endlich hatte Max es ihr einmal gegeben − endlich! Und jetzt würde diese infame Hexe ihn sicher verlassen. Sie würde ihm sein Benehmen, das doch nur korrekt war, niemals verzeihen. Wie schön! Gela war sehr, sehr glücklich und freute sich für Max − und ein wenig für sich selbst. Es wurde Abend, bevor alle Scheinwerfer und Mikrophone an Ort und Stelle waren. Sie standen nicht nur in der Halle, sondern in der ganzen Burg herum. Glühbirnen baumelten herunter, Kabel und Oberleitungen schwangen sich von Wand zu Wand. Einige der Schlafräume waren gesäubert worden; man hatte Feldbetten aufgestellt, und Gela Tyrrel präsidierte über einem Gasflaschenherd in der alten Küche. Der Herd hat zwei Bren-
ner. Manchmal blickte sie zu der großen Feuerstelle hinüber und dachte an die schwitzenden Köche vergangener Zeiten, die über einem Holzkohlenfeuer große Stücke Rind- und Lammfleisch grillten, um Meisterstücke der Küchenkunst zu liefern. In der Küche hingen zwei Glühbirnen, die manchmal, wenn der Generator aus dem Rhythmus kam, dunkler wurden und gelegentlich ganz ausgingen. In solchen Augenblicken kam auch ihr Herz aus dem Takt und flatterte seltsam − als sei das dunkler werdende Licht ein böses Omen, als bewege sie sich damit in jenen alten Zeiten zurück, in denen es in dieser Küche nur Schatten gegeben hatte. Sie warf einen großen Löffel Fett in die Schmorpfanne, als das Licht wieder schwächer wurde − und da berührte sie etwas! Gela konnte ihren Schreckensschrei nicht ganz unterdrücken − oder ihren Zorn. Denn als sie sich umdrehte, sah sie O'Hagans grinsendes Gesicht vor sich und spürte seine Hand auf einer ihrer Sitzflächen. »Verschwinden Sie!« fauchte sie ihn wütend an. »Machen Sie, daß Sie hier hinauskommen!« »Warum denn gleich so?« säuselte er. »So ein hübsches Ding wie Sie hat doch sicher etwas Besseres zu tun, als Spiegelei mit Schinken zu braten. Lassen Sie die Eier braten, meine Liebe, und gönnen wir uns ein bißchen Vergnügen.« Seine Hand glitt tiefer, unter ihr Kleid, und dann hoch und höher den Oberschenkel entlang. Und seine andere Hand tastete schon nach ihren Brüsten. »Ich schreie!« warnte sie ihn. »Kein Mensch würde das hören, mein Engel. Die Tür ist nämlich zu. Und es ist eine erstklassig dicke Tür. Komm, mein Kätzchen, nur ein wenig Frohsinn für einen Mann, der sich nach deinen Armen gesehnt hat.« Er riß sie an sich, ließ eine Hand ihren Rücken hinuntergleiten und hob von unten ihr Kleid an. Plötzlich arbeitete ihr Verstand eiskalt und klar. Hinter ihr in
der Pfanne bei den schmorenden Schinkenscheiben lag noch der Fettlöffel ... »Loslassen! Sie sollen mich sofort loslassen!« Und da schwang ihre Hand mit dem Löffel auch schon herum. Diesmal schrie Liam O'Hagan, verstört und schmerzerfüllt zugleich. »Na?« fragte sie. Er stolperte, noch immer schreiend, zurück. »Meine Augen! Heilige Maria, ich kann nichts sehen! Sie haben mich geblendet!« »Liebe macht blind«, sagte Gela sarkastisch. Ob blind oder nicht, jedenfalls fand Liam O'Hagan bequem die Tür und rannte in den Flur hinaus. Und als seine Schreie verstummt waren, hörte Gela einen Laut, der sie, in O'Hagans Kielwasser, selbst auf die Tür zustürzen ließ. Denn plötzlich war die ganze Küche von einem infernalischen Gelächter erfüllt, ein schadenfrohes, boshaftes Gelächter, das alles durchdrang. So als würde sie von der ganzen alten Burg ausgelacht.
»Mr. Barker«, fragte Gela, »glauben Sie, daß es hier spukt?« Und dann erzählte sie ihm von dem Gelächter. »Oh, das ist eine interessante Frage. Die Möglichkeit derartiger Erscheinungen ist eine sehr spekulative Angelegenheit. Wie auch immer, wenn es jemals irgendwo gespukt hat, dann in dieser alten Burg.« Er selbst gab keine weitere Erklärung ab, denn die Männer hatten beschlossen, kein Wort von dieser entsetzlichen Grabkammer zu sagen, um die Frauen nicht unnötig aufzuregen.
»Dieses Gelächter ...« Gela fröstelte. »Es war schrecklich. Aber diese ganze Burg ist schrecklich. Ich meine nicht den Schmutz, den Staub, den Geruch ... Das Gefühl ... dieses Gefühl, das einen so ... Oh, ich weiß es nicht!« »Ja, so ist es«, sagte der Engländer. Das Gefühl .... dachte er. Das Mädchen hatte vollkommen recht. Das Gefühl war da. Aber bildeten sie sich dieses › Gefühl ‹ nur ein, weil sie wußten, daß diese alte Burg ein Platz war, an dem man einfach das Gefühl hatte, sich in einer unheimlichen Umgebung zu befinden. War diese Umgebung zu Recht unheimlich? Doch welchen Einflüssen diese alte Burg auch immer ausgesetzt sein mochte, die Mahlzeit wurde durch nichts getrübt. Schinken und Eier mundeten, im Verein mit Kaffee und Whisky, ausgezeichnet. Alle befanden sich in Trinkerlaune, selbst Gela Tyrrel, die normalerweise ein Fruchtsaft-Girl war. Ein Batterietonbandgerät verbreitete Popmusik, die seltsam von den holzgetäfelten Wänden und Deckenbalken widerhallte. Niko Kovacs, der sich während des Tages mit einer Leica beschäftigt hatte, brachte das Bild des Counts mit nach unten und hängte es in der Nähe des Eßtisches auf. »Nur eine kleine Formsache«, grinste er. »Unser Gastgeber soll uns wenigstens beobachten können.« Er platzte förmlich vor Energie und Unternehmungsgeist. Er hatte mit seiner Kamera jeden Winkel der Burg aufgenommen, damit man später einen genauen Überblick hatte. Derartige Vorbereitungen konnten eine Menge Zeit sparen, wenn die tatsächlichen Filmaufnahmen begannen. Und Zeit war in dieser Branche bares Geld. John Barker stand jetzt auf und schlenderte auf das Bild zu. Er hatte während des Essens den Brandy keineswegs vergessen. Die Depressionen oder dumpfen Vorahnungen, die ihm im Laufe des Tages ziemlich hart zugesetzt hatten, waren verflogen. Später würden sie zweifelsohne wieder zurückkehren, a-
ber glücklicherweise gab es den Brandy, der sie wieder in die Flucht treiben würde. Nun hob er sein Glas. »Ich trinke auf unseren abwesenden Gastgeber ...« Er wollte schon › Gott segne ihn ‹ hinzufügen, aber diese Worte erstarben auf seinen Lippen. Denn bevor die anderen noch ›Auf unsern Gastgeber‹ sagen konnten, gab es eine Unterbrechung, eine plötzliche, entsetzliche, unerwartete Unterbrechung. Sie kam von der Tür her, die zum hinteren Flur führte, kam in Form einer Stimme. »Das ist sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte die Stimme. »Ich kann meinen Gästen nur ein Kompliment machen − die ersten Gäste nach einer so langen Zeit.« Eine Gestalt trat aus dem Schatten, und eine Frau begann laut zu kreischen. »Er ist es ... Er ist es, mein Gott! Der Mann auf dem Bild ...« Und die Augen, die vom Bild zur Wirklichkeit wanderten, hätten nicht unterscheiden können, was von beidem was war. Da waren die lange, hochrückige Nase, die dunklen brennenden Augen und das dünnlippige Lächeln. Selbst die Kleidung war die gleiche, die antike Kleidung der aristokratischen Spanier längst vergangener Zeiten. Und an einem seiner Finger funkelte ein roter Stein − ein Rubin. Er fing das Licht und glitzerte mit einer lebendigen Brillanz. Für einen langen schrecklichen Augenblick hatten alle das Gefühl, als wehe ein eisiger Wind durch die Halle, ein Wind, der einen unglaublich faulen Geruch hatte, einen Geruch, der mehr war als der Geruch des Todes.
Niemand machte auch nur eine Bewegung, niemand hätte sich bewegen können, als diese Gestalt aus der Vergangenheit
auf sie zukam. Eine unheimliche Drohung ging von ihr aus. Da stöhnte Petronella laut auf, fiel mit dem Oberkörper quer über die Tischfläche, und ihr langes schwarzes Haar breitete sich auf dem weißen Papiertischtuch aus. Diese Bewegung brach den Bann. »Um Himmels willen, was -?« Max Grant sprang auf die Beine, als Gela Petronella zu tätscheln begann, um sie wieder aufzuwecken. »Verzeihen Sie meinen unnötig dramatischen Auftritt«, sagte die Gestalt mit einer tiefen, melodischen Stimme. »Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen ... Ich kann kaum einer Versuchung widerstehen, tut mir leid ... Darf ich mich vorstellen? Der Conde Delmorte − zu Ihren Diensten.« »Damit wir uns richtig verstehen«, sagte Max, dessen Stimme vor Aufregung schrill klang. »Sie behaupten, ein Count Delmorte zu sein? Wie erklären Sie sich dann die Tatsache, daß der letzte Count vor dreihundert Jahren starb und keine Nachkommen hinterließ?« »In der Geschichte der meisten adligen Familien«, antwortete er geschmeidig, »kommen Zeiten, in denen es angebracht ist, so zu tun, als sei die Familie ausgestorben. Es gab nämlich eine Zeit, in der dem Namen Delmorte keinerlei Begeisterung zuteil wurde. Kurz und gut, wer einen Delmorte kannte, der kannte den Tod. Ich glaube, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben.« Niemand bestätigte es, doch jeder dachte es. »Wenn Sie ein echter Delmorte sind«, sagte Max, »dann gehört Ihnen diese Burg, und wir sind Eindringlinge. Das ist uns einigermaßen peinlich. Wie sollen wir uns entschuldigen?« Max verließ sich nun auf seinen Charme, zumal er wußte, daß eine Person aus Fleisch und Blut vor ihnen stand. Nur Barker, der Engländer, spürte nicht die belebende Wärme, die alle anderen durchflutete; eine Reaktion auf die Kälte der Furcht. Etwas aus seiner Vergangenheit war zurückgekehrt.
Er sagte nichts und hielt Abstand, als die anderen sich um den Count versammelten. Er fühlte nichts, nur eine instinktive Verachtung; eine Verachtung, die noch aus jener Zeit stammte, bevor sein kometenhafter Aufstieg am Himmel der Literatur begann. »Ich verbiete Ihnen einfach, sich zu entschuldigen. Sie haben in jeder Hinsicht korrekt gehandelt. Tatsächlich ist diese Burg schon längst aufgegeben worden, und ich besuche sie nur gelegentlich − meistens bei Nacht. Es sind noch immer jene in der Nähe, welche die Sünden der Väter und Söhne bis zur fünfzigsten Generation verfolgen. Ich habe deshalb den Hintereingang benutzt, weil ich die Lichter sah. Aus diesem Grund hielt ich es für angebracht, zunächst einmal nachzuprüfen für den Fall, daß es sich um Besucher handelt, mit denen ich mich nicht auf eine Stufe stellen möchte. Ihre Höflichkeit angesichts des Porträts meines Vorfahren hat mich auf angenehme Weise getäuscht.« Er lächelte, und sein Lächeln schien hypnotisch zu sein und sich im ganzen Raum auszubreiten. Max wandte sich dem Tisch zu, machte eine einladende Geste und sagte: »Wenn Sie einen Bissen mit uns essen wollen ... Vielleicht einen Drink?« Er nickte Gela Tyrrel zu, die dem Count sofort ein Glas Brandy anbot. Er hielt es unter seine Nase und schnupperte daran. »Ausgezeichnet«, lobte er. »Exzellent. Es ist lange her, seit ich zum letztenmal die Blume eines so hervorragenden Brandys genossen habe. Meine gegenwärtigen Umstände gestatten mir das nicht.« Er erhob sein Glas. »Nun möchte ich Ihren Toast erwidern. Auf meine Gäste! Mögen Sie lange bleiben und jeden Augenblick Ihres Aufenthalts im Castillo Delmorte. von Herzen genießen.« Er führte sein Glas an die Lippen und kippte dessen Inhalt mit einem einzigen gekonnten Schwung in seine Kehle. Max machte den Count mit den anderen Personen bekannt. Zunächst mit Petronella, die schon einige Zeit aus ihrer Ohn-
macht erwacht war. Der Count griff nach ihrer Hand und blickte ihr lange Zeit in die Augen, bis er sich vorbeugte und ihr die Hand küßte. »Petronella«, murmelte er. »Ein überaus hübscher Name − und wie passend für Sie. Sie erinnern mich in wunderbarer Weise an jemanden, den ich vor langer Zeit kannte. Sie sind natürlich Spanierin und entstammen − ich müßte mich sehr täuschen, wenn dem nicht so wäre − einer vornehmen kastilischen Familie, nicht wahr?« »Meine Frau stammt aus Mexico City«, warf Max Grant ein. Ihm gefiel nicht das plötzliche Glitzern in Petronellas Augen und die Art, wie sie mit ihrer kleinen roten Zungenspitze ihre Lippen benetzte. »Ah, ich bin Information.« Eine gewisse Verblüffung schwang in seiner Stimme mit, und Max hatte das Gefühl, daß dieser seltsame Mensch wahrscheinlich noch nie etwas von Mexico City gehört hatte − oder von Mexiko überhaupt. »Natürlich haben die Mexikaner eine große Menge spanischen Blutes in ihren Adern«, erklärte Max. »Aus der Zeit der Konquistadoren.« »Natürlich.« Der Count lächelte. »Meine eigenen Vorfahren, einige von ihnen fuhren mit Pizarro und Cortes ...« Er ging auf Gela zu, doch sein Blick haftete noch einige Zeit auf Petronella. Max' Sekretärin zollte er eine nur geringe Aufmerksamkeit, sah ihr nur kurz in die Augen und berührte dann ihre Hand nur flüchtig mit seinen Lippen. Ich interessiere ihn nicht weiter, dachte Gela, als seine trockenen Lippen die Haut ihrer Handoberfläche streiften. Ich habe nicht − das, was er sucht − was immer es auch sein mag. Dann begrüßte er die Männer mit einer tiefen, doch knappen Verbeugung − nur Fattie nicht. Für Francisco Perez hatte er das kürzeste und kühlste Kopfnicken übrig. Und das, obwohl Fattie untertänigst lächelte und eine überaus demütige Verbeugung machte.
»Was ist verkehrt?« flüsterte Max in Barkers Ohr. »Dieser Fattie ist ein Bauer«, antwortete der Engländer im gleichen Flüsterton. »Ja, aber ...« »Seine Art von Aristokratie assoziiert sich nicht mit Bauern.« »Aha. Und wir? Ich kann Ihnen verraten, daß ich wahrhaftig nicht viel blaues Blut in meinen Adern habe.« »Wir sind Ausländer. Zu einem Ausländer ist man immer höflich, selbst wenn der Ausländer auch ein Bauer ist.« »Verstehe.« Und trotz dieser Mißachtung seiner Person benahm Fattie Perez sich am ehrerbietigsten und hochachtungsvollsten. Er schwänzelte ständig um den Count herum und erinnerte insofern an einen Hund, der von seinem Herrn gestreichelt werden wollte. Denn Francisco Perez war ein Snob. Wie so viele Menschen, die aus armseligen Anfängen zu Macht und Reichtum gekommen waren, wollte er nun mit aller Gewalt auch von jenen anerkannt werden, die so unerreichbar hoch über ihm gestanden hatten. In den Städten öffnete Geld die meisten Türen. Aber nicht hier − nein, hier anscheinend nicht. »Sie sind so elegant gekleidet, Don Pedro«, kommentierte Petronella. »Oh, ich wollte, jeder würde so gekleidet sein wie Sie.« »Wir besaßen im Spanien der Vergangenheit Lebensart«, entgegnete der Count. »Natürlich kann man mich − wie ich bereits andeutete − als einen verhältnismäßig armen Mann bezeichnen. Glücklicherweise konnte ich einen sehr großen Teil der Garderobe aus der Vergangenheit hinüberretten, und ich trage diese Kleidung aus ökonomischen Gründen.« »Wenn Sie diesen Ring verkaufen würden, Don Pedro«, mischte sich Fattie Perez ein und richtete den Blick seiner gierig funkelnden Augen auf den Ringfinger des Counts, »dann würden Sie sich viele Anzüge kaufen können.«
Der Count verzog zwar nicht die Mundwinkel, aber seine Stimme war eisig, als er antwortete: »Ein Hidalgo verkauft nicht ... besonders dann nicht, wenn es sich um kostbare Familienerbstücke handelt. Ein Hidalgo ist keine Krämerseele.« Fattie Perez duckte sich und fuhr mit dem Taschentuch über seine Stirn. Don Pedro wandte sich mit einem charmanten Lächeln an Petronella. »Ich besitze, so glaube ich, verschiedene Kleider aus der Vergangenheit, die Ihnen ausgezeichnet passen dürften. Ich darf Ihnen verraten, daß sie einst von der schönsten Frau der Welt getragen wurden. Ehre, wem Ehre gebühret ...« Gott, dachte Gela, sie zerfließt ja wie Butter in der Sonne, kaum daß Don Pedro sie ansieht! Je aufmerksamer der Count Petronella behandelte und je leidenschaftlicher ihre Augen glühten, um so stärker fielen Gela die altbekannten Kummerfalten in Max' Gesicht auf. Und doch, dachte Gela, ist diese Hexe diesmal keine Hexe aus reiner Boshaftigkeit. Sie quälte den armen Max diesmal nicht absichtlich, aber es kam auf dasselbe heraus. Don Pedro aß nichts, aber er trank mehrere große Brandy, die ihm absolut nichts ausmachten. Dafür nahm seine Höflichkeit zu, und seine Sprechweise, die anfangs ein wenig schleppend gewesen war, wurde leicht und fließend. Plötzlich stand er auf. »Und jetzt müssen Sie unbedingt in den Genuß der Gastfreundschaft von Castillo Delmorte kommen!« Er klatschte scharf in die Hände, worauf die Tür auf der Hofseite der Burg geöffnet wurde. Zwei Männer traten in den Lichtschein, und Don Pedros Gäste hielten allesamt den Atem an. Einer der beiden war der größte Mann, den jeder von ihnen in seinem Leben gesehen hatte, ein gewaltiger Gigant mit einem Watschelgang, einem zottigen Bart und einem leeren Idiotengesicht. Der andere Mann war im krassen Gegensatz zu ihm
sehr klein und sehr dünn. Er hatte eine Stupsnase und flinke, schlaue Augen. Sie standen am Rand des Lichtscheins, − zwei monströse Gestalten, die von einem Kostümfest zu kommen schienen. Sie trugen eine dunkelrote Dienerkleidung, die aus der gleichen Epoche stammte wie die Kleidung des Counts. »Meine Diener«, erklärte Don Pedro. »Juan und Juanito. John und Little John ... Bringt uns Wein. Vom besten selbstverständlich.« Die beiden grotesken Gestalten verschwanden wieder im Schatten. »Arme Burschen«, sagte der Count, obwohl seine Stimme nicht die Spur von Mitgefühl verriet. »Sie sind seit Hunderten von Jahren in der Familie, sie und ihre Väter, und die Väter ihrer Väter ...« »Warum › arme Burschen ‹?« fragte Max. »Sie sind stumm. Völlig stumm. Ein Erbleiden. Natürlich ist das auch von Vorteil, denn ein Dienstbote sollte schlecht sehen und überhaupt nichts hören können.« Trotz Don Pedros seltsamen Dienern wurde die Party lebhafter. Er hatte die Fähigkeit, die Unterhaltung auf merkwürdige Seitenwege zu lenken. Und für Francisco Perez war das eine doppelte Tortur. Er wurde von dem Count völlig ignoriert − und desgleichen von Petronella Grant. Als sie zusammen tanzten, gab er sich alle Mühe, Petronella als seine Partnerin zu sichern. »Heute nacht«, flüsterte er ihr zu. »Du hast mir versprochen, daß es heute nacht sein wird ...« Sie lachte ihm ins Gesicht und beendete den Tanz. Und einen Augenblick später lag sie in den Armen Don Pedros und tanzte mit ihm so leidenschaftlich, wie es noch niemand bei ihr beobachtet hatte. Petronellas Gesicht sah verklärt aus; es war, als lebe sie plötzlich in einer anderen und reicheren Welt.
Max Grants Gesicht war eine von tiefem Leid gezeichnete Maske, aber Petronella kümmerte sich nicht um ihn. »Max«, wisperte Heimle Weiss ihm ins Ohr. »Ja?« »Ich habe das Gefühl, daß das Tonbandgerät bald einen kleinen Defekt haben wird. Richtig?« »Richtig.« Heimie Weiss verschwand einen Augenblick. Dann verstummte die Musik, und in der Halle war es einige Sekunden lang unnatürlich still. »Quetzalcoatl«, hörte der Engländer den Count sagen. »Nun seine Verehrer verfügten über beachtliche Erfahrungen ...« Dann dämpfte er seine Stimme, aber seine letzten Worte blieben in John Barkers Gedächtnis haften. Quetzalcoatl, dachte er, der aztekische Vogelgott des Blutopfers, der Torturen und Leiden. Dann war die Party abrupt zu Ende. Der Count verabschiedete sich, ein wenig überstürzt sogar, ging auf die Hintertür zu und lehnte jede Begleitung strikt ab. »Ich wohne in einem anderen Gebäude nicht weit von hier«, sagte er. »Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Meine Männer werden sich um Ihre Wünsche kümmern. Betrachten Sie das Castillo Delmorte als Ihr eigenes.« Mit einem ausholenden Schwung seines Mantels war er verschwunden.
In jener Nacht schliefen einige ruhig, andere unruhig und manche überhaupt nicht. Die Räumlichkeiten des Castillo Delmorte waren gespenstisch. Für Francisco Perez war es eine Nacht der wilden Qualen.
Jede Minute dachte er an Petronella Grant, dachte an ihr Versprechen und wie sie es gebrochen hatte. Er wälzte sich auf seinem Feldbett herum, das unter der Last seines schweren Körpers so laut ächzte wie seine Seele. Und er kam nicht umhin, auch an den Count zu denken. Diese eisige Verachtung in seinen Augen, dieses überlegene Getue, diese hochtrabende Art! Und doch war er ihm ausgeliefert. Er hatte versucht, gegen diesen Bann anzukämpfen und sich nicht so servil zu geben. Aber die Gewohnheiten seiner Jugend waren noch zu stark in ihm lebendig. Unter Don Pedros Patrizierblick wurde er sofort kleinlaut und häßlich, daß er das Gefühl hatte, ihm die Stiefel küssen zu müssen. Mein Gott, und dabei war dieser Count nur ein armer Schlucker gegen Francisco Perez. Und dann hatte ihn der Count auch noch in den Augen der Frau herabgesetzt, die sich ihm versprochen hatte. Dieser niederträchtige Halunke! Perez konnte nicht einschlafen. Es war eine Qual ohne Ende. Und schließlich konnte er diese Pein nicht mehr länger ertragen. Er richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Er hatte einen Entschluß gefaßt und würde ihn in die Tat umsetzen. Sie hat es mir versprochen, dachte er gierig, als er seinen seidenen Hausmantel anzog. Sie hat es mir versprochen, und ich werde sie beim Wort nehmen, ob ihr das nun paßt oder nicht! Für einen großen, dicken Mann bewegte Francisco Perez sich erstaunlich leise. Barfuß und verwirrt vor Leidenschaft und brennendem Verlangen schlich er den Flur entlang und fluchte wegen des verräterischen Knarrens der alten Fußbodenbretter. Nun ja, hier knarrte so viel, daß es auf ein bißchen mehr oder weniger nicht ankam. Als er sich der Tür zu Petronellas Raum näherte, begann sein Herz schneller zu klopfen. Plötzlich blieb er reglos stehen und starrte ungläubig auf die
düstere Gestalt, die unvermutet vor der Tür aufgetaucht war. Sein fettes Gesicht verzog sich wie ein mißratener Pfannkuchen, als er seinen aristokratischen Rivalen erkannte. Für einen Moment stieg in ihm wie eine Stichflamme der Ärger hoch, und in diesem Moment hätte er sich beinahe auf den Count gestürzt. Dann winkte ihn der Count schweigend, aber unmißverständlich befehlend, zu sich. Und der Untertanengeist von Generationen ließ Francisco gehorchen. Draußen summte der Generator, nachts nur mit halber Kraft, und das Licht im Flur war trübe. Doch er erkannte das Gesicht des Counts so deutlich, als wäre es von innen erleuchtet ein blasses, ätherisches Licht, das nichts mit Elektrizität gemeinsam hatte. Besonders die Augen leuchteten, hatten einen Glanz, der paradoxerweise dunkel war, so als gebe es ein dunkles Licht. Und dieses dunkle Licht bohrte sich förmlich in sein Gehirn hinein und hakte sich darin fest. Dann machte der Count kehrt und ging mit einer langsamen Würde den Flur entlang. Francisco Perez folgte ihm mit hängendem Kopf schleppenden Schritten. Er konnte dem hypnotischen Kommando des Counts keinen Widerstand leisten. Sie gingen die Treppe hinunter in die Halle, der Count voraus, Perez hinterher. Als sie sich der Tür auf der Rückseite näherten, schwang sie von allein auf. Der Count schlug den Weg zum Kellereingang ein. Jetzt ahnte Perez etwas und begann leise zu wimmern. Aber seine Füße bewegten sich weiter, so als hätten sie sich selbständig gemacht, er folgte dem Count Delmorte, wohin er ihn immer führen mochte. Die Gruft war hell; überall brannten Kerzen. Und die Leichen waren entfernt worden. Wäre Perez schon einmal hier unten gewesen, hätte er die Leichen gesehen, würde er jetzt gewußt haben, was ihre Abwesenheit bedeutete. Aber er war nicht mit den anderen in den Keller gegangen und konnte jetzt nur fassungslos umherbli-
cken. In der Mitte des Raums befand sich eine merkwürdig aussehende Apparatur. Er hatte Angst, aber er konnte nicht sagen, wovor. Er wußte nur, daß dies ein Ort des Schreckens war. »Beschäftige dich mit ihm Juanito«, sagte der Count mit leiser Stimme. Und von hinten streckten sich ein paar mächtige Hände nach Francisco Perez aus, hoben ihn trotz seiner Körperfülle mit einem Ruck vom Boden auf und trugen ihn zu dem seltsamen Tisch in der Mitte. Nun schien der Bann, dem er verfallen gewesen war, gebrochen zu sein. Er konnte sich jetzt wehren und machte von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch. Doch er hätte seine Kraft getrost sparen können, denn in den Pranken des Dieners Juanito war er so hilflos wie ein Baby. Brutal wurde er auf den Tisch zurückgeschleudert, und der kleine Diener half dem großen, der seine Hände und Fußknöchel in Eisen legte. »Was was soll das?« wimmerte Perez. »Was machen Sie mit mir?« »Erraten Sie das nicht?« »Was wollen Sie von mir, Don Pedro?« »Nur Ihr Leben, Perez, nur Ihr nutzloses, selbstsüchtiges, habgieriges Leben. Ich werde es Ihnen abnehmen − und das wird sehr schmerzlich sein.« Und kein Schatten des Zweifels war in den dunklen glitzernden Augen, keine Gnade und keine Barmherzigkeit.
»Sie sind ein grober, ehrloser Bursche, Perez, ein Tölpel, ein Nichts sind Sie. Dennoch sind für Todgeweihte gewisse Höflichkeiten am Platze. Sie sollen genau wissen, weshalb sie ster-
ben ... Diese Ansicht hat mein Cousin, der Großinquisitor, schon immer vertreten. « »Es gibt keinen Großinquisitor«, krächzte Perez. »Seit Hunderten von Jahren gibt es keinen mehr! Und Ihr Cousin ist − « Seine Augen weiteten sich, bis überall um die Pupille herum das Weiße zu sehen war, und sein Mund klappte plötzlich begreifend auf. »Sie − Sie sind jener Delmorte, dessen Name nie erwähnt wurde«, stieß er hervor. »Sie sind der Folterer!« Der Count lächelte sein schlangenhaftes Lächeln. »Dann scheint die Geschichte mich nicht ganz vergessen zu haben«, sagte er. »Es gibt also noch eine gewisse Gerechtigkeit in der Welt.« Fatties Lippen bewegten sich wie zwei miteinander kämpfende Würmer. »Im Archiv hat man es den Filmleuten nicht erzählt. Aber ich hörte die Geschichte ...« Tränen rannen ihm über die Wangen, als er sich seine Angst aus der Seele zu jammern versuchte. »Ich wollte nicht hierher kommen. Ich wollte es nicht.« »Aber Sie sind gekommen. Ihre Habgier veranlaßte Sie dazu − und das Verlangen nach der Frau eines anderen Mannes.« Er machte eine Geste in Richtung des kleinen Dieners, und der Mann drückte langsam auf einen Hebel. Perez brüllte laut, als zwischen seinen Hüften etwas hochruckte. Dann spürte er Eisen auf seinem Körper und einen Schmerz, der alle Schmerzen, denen er im Leben ausgesetzt gewesen war, noch bei weitem übertraf. Doch kurz bevor er ohnmächtig wurde, ließ der Schmerz nach. Zitternd blickte er in das bleiche Gesicht seines Vernichters, und die Tränen kullerten wieder über seine Wangen. »Ein Gentleman würde nicht geschrien haben«, tadelte ihn der Count. »Ein Hidalgo würde niemals geschrien haben ... Aber natürlich sind Sie nur ein Bauer, ein gemeiner Bauer.« »Ich bin reich«, sagte Perez heiser. »Sehr reich. Verschonen Sie mich, dann bekommen Sie von mir eine Million Pesetas ...
zehn Millionen!« »Die Seele eines Krämers«, sagte der Count verächtlich, als ein weiterer Aufschrei eine neue Schmerzenswelle in einem anderen Teil von Perez' Körper beantwortete. »Die Seele eines Krämers. Sie glauben, daß man alles kaufen kann, wie? Aber bevor Sie sterben, werde ich Ihnen noch das Gegenteil beweisen. Wenn Ihre geldgierige, schmutzige Seele durch Schmerzen gereinigt worden ist, werden Sie wissen, daß man sich nicht alles kaufen kann. Und mit diesem Gedanken werden Sie sterben, Perez.« Mit einer Geste zu Juan gestattete er Perez' schmerzverkrampften Muskeln, sich zu entspannen. »Bis zur Morgendämmerung ist noch viel, viel Zeit«, sagte er. »Wir können in Ruhe alle Vorrichtungen meiner Apparatur ausprobieren. Wir wollen einmal feststellen, ob der Folterer noch immer über eine gewisse Geschicklichkeit verfügt und der Geist von Quetzalcoatl noch immer über die Lande schreitet.« »Quetzalcoatl?« Perez konnte noch Fragen stellen, während die Schmerzen wie flüssiges Blei durch seinen Körper fluteten. Vielleicht dachte er insgeheim, den Mann von seinem Vorhaben ablenken zu können, wenn er nur lange genug redete. »Sie sind so dumm und unwissend wie ein Tölpel«, sagte der Count. »Quetzalcoatl ist ein großer Gott der Azteken ... der Geist der Schmerzen und Leiden.« Die Stimme des Counts klang irgendwie verklärt, als er diesen Gott erwähnte. Seine Gedanken wanderten in jene Zeiten zurück, als das Castillo Delmorte noch keine Ruine, sondern das Herz eines kleinen Imperiums gewesen war. Es war die Stadt Technochtitlan gewesen, später Mexico City genannt, in der ein Delmorte einen alten Priester von Quetzalcoatl kennenlernte. Er bemühte sich sein Leben lang, ihm alle Geheimnisse seines esoterischen Kults zu entlocken und diese Geheimnisse in einem großen schwarzen Buch niederzuschreiben. Von diesem Priester erhielt er auch einen großen roten Stein, der in einer mystischen Verbindung mit dem gefiederten
Gott der grausamen, stolzen und blutdürstigen Azteken stand. Für die Konquistadoren war er eine Kuriosität, eine von vielen seltsamen Erscheinungen in diesem fremden, reichen und feuchten Land. Allerdings nicht so interessant wie das Gold, das bedeutend wichtiger war und dem der Zweck dieser Fahrten und Eroberungen zugrunde lag. Wäre er nicht von einem Fieber geschwächt gewesen, würde er sich kaum die Mühe gemacht haben, diese Notizen zu machen; denn ein Konquistador war von Natur aus kein Schreiberling. Das schwarze Buch und der rote Stein kamen nach Spanien zurück. Beides wurde unter einer Staubschicht begraben und geriet in Vergessenheit, bis der eigenwillige kluge Pedro, Neffe des Konquistadors, ungefähr siebzehn Jahre alt war. Die Worte in diesem schwarzen Buch lösten in seinem Gehirn etwas aus. Es war etwas, das ihn lange und unbequeme Reisen zur Neuen Welt unternehmen ließ. Dort stellte er Nachforschungen über das Volk der Azteken an und beschäftigte sich intensiv mit dem, was von jenem Quetzalcoatl-Kult noch übriggeblieben war. Es folgten zehn Jahre freiwilligen Exils, Jahre des Forschens und Studierens, Jahre des sich Vertiefens in alte Geheimnisse. Es gab dunkle, mit Blut besiegelte Pakte und Nächte der Schmerzen und Qualen für andere Menschen. Schließlich waren alle Arbeiten erledigt, und der Mann, der jetzt Don Pedro Conde Delmorte war, kehrte nach Spanien zurück, um nach dem Muster seines düsteren Schicksals zu leben, das er sich erkoren hatte. Für Bewohner eines Dorfes in den Marismas waren die Leute verhältnismäßig wohlhabend. Neben dem Fischfang betrieben sie ein recht einträgliches Schmuggelgewerbe. Selbstverständlich zahlten sie ihrem Herrn dafür Tribut. Dieser Tribut hatte nicht immer die Form von Geld oder Materialien. Dies war ein Feudalland, und was der Conde forderte, bekam er auch − sei es, was es sei.
Sie kamen meistens nachts, die blassen, verstörten Mädchen mit ihren Vätern, die nicht genau wußten, ob sie verängstigt oder stolz darauf waren, daß ausgerechnet ihre Töchter für den Dienst bei Count Delmorte ausgesucht worden waren. Sie kamen nachts, und wann sie wieder die Burg verließen, wußte im Dorf keine Menschenseele. Die Verbindung eines Mädchens mit seiner Familie brach ab, sobald sich das Tor der Burg hinter ihm geschlossen hatte. Man sprach davon, daß der Conde die Mädchen, wenn er sich genug an ihnen ergötzt hatte, in die Stadt schickte, wo sie irgendeine gutbezahlte Stellung bekämen. Man sagte aber auch, daß die Mädchen, wenn sie die Burg wieder verließen, in einem Kloster aufgenommen wurden. Doch niemand wußte es genau. Die Erkundigungen führten nie weiter als bis zum Burgtor. Die Eltern der Mädchen kamen nie durch das Tor, denn der Conde hatte aus Mexiko ein paar dunkelhäutige Männer mitgebracht, die kein Spanisch sprachen, aber um so besser alle Besucher abwimmeln konnten. So ging das viele Jahre − Jahre, in denen das blasse Gesicht des Conde nicht zu altern schien. Im Dorf lebte auch ein Alkalde namens Diego. Seine Frau war gestorben, und er hatte eine Tochter, ein schlankes, liebreizendes Kind. Es war so gut wie unvermeidlich, daß sie eines Tages zum Conde gerufen wurde. Und als sie zur Burg gegangen war, da war Diego fest entschlossen, sie wiederzusehen. Er hatte nicht die Absicht, sich vor dem Burgtor abweisen zu lassen. Er fuhr nachts mit seinem Boot bis an die Burgmauer heran, kletterte an der Stange eines Enterhakens hinauf und begann verstohlen, die Räume zu durchsuchen. Schließlich kam er in das Kellergewölbe. Und da konnte er sie klar und deutlich hören − die Schreie seines eigenen Fleisches und Blutes. Und er stürmte wie eine Furie in die Folterkammer.
Das Mädchen war an diesen furchtbaren Tisch gefesselt, und ihr nackter Körper zuckte und wand sich. Hinter ihr saß der Conde, ein schwaches Lächeln im Gesicht, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, seine glitzernden Augen auf das nackte Mädchen gerichtet. Diego sprang auf ihn los. Er wollte den Conde umbringen, das war sein erster und einziger Gedanke. Doch sein kurzes Zögern an der Tür gab den anderen Männern in der Folterkammer Zeit, sich auf ihn zu stürzen. Während seine Tochter noch immer vor Schmerzen schrie, wurde er niedergeschlagen und gefesselt. »Ausgezeichnet«, sagte der Conde. »Ich glaube, dies wird mir mehr Freude machen als alles, was ich bisher auf diesem Gebiet genossen habe ... Ich hätte schon früher daran denken sollen.« Als seine Leute mit der Folterung fortfuhren, war es der ohnmächtige Zorn des Vaters, an dem der Conde sich berauschte. Diego hatte seinen Kopf zur Seite gewandt, um die Mißhandlungen seiner Tochter nicht sehen zu müssen. Aber kräftige Hände drehten sein Gesicht in Richtung der Folterbank, und Finger öffneten seine Augen, so daß er alles beobachten mußte, was die abgründige Phantasie des Conde sich einfallen ließ. Und als das Mädchen sich zu Tode gestöhnt hatte, wurde Diego selbst zur Folterbank geschleppt. »Nein«, sagte der Conde nach kurzem Überlegen. »Genug für heute. Bewahrt ihn für morgen nacht auf. Er scheint ein angenehm zäher Bursche zu sein ...« So wurde Diego in einen der Kerker gebracht und an die Wand gekettet. »Das war ein Fehler«, sagte der Conde zu Perez. »Ich hätte von einem Bauern nie einen derart heftigen Widerstand erwartet. Dieser Diego tat etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte ... Er war nur an einem Handgelenk gefesselt, und er nagte es buchstäblich durch, um sich von der Fessel zu befreien.
Und weil auf Grund einer unverzeihlichen Nachlässigkeit die Tür des Kerkers nicht verriegelt war, konnte er entkommen. Er kehrte in sein Dorf zurück ...« Der Conde schürzte seine Lippen. Diese Erinnerung war ihm offensichtlich unangenehm. »Sie rückten heran, aber sehr verstohlen. Und plötzlich überschwemmten sie die ganze Burg. Meine Wachtposten hielten ihrem Ansturm nicht lange stand und wurden erschlagen. Doch ich, Juan und Juanito schlugen uns bis in diese Kammer durch, in der ich gerade einen meiner Mexikaner bestraft hatte.« »Wir schlossen die Tür und sie machten sich nicht die Mühe, sie einzuschlagen. Sie verriegelten die schwere Eisentür von außen. Ich war mir natürlich darüber im klaren, daß dies ihre Rache sein sollte. Der Rest dürfte Ihnen bekannt sein. Sie bauten außen eine Mauer auf, und wir erstickten. Aber ich nehme an, daß ich wie ein wahrer Edelmann starb − mit Würde.« »Wahnsinn!« ächzte Perez. »Ja, Sie sind wahnsinnig − nicht tot. Sie leben ... leben ...« »Ich vergaß zu sagen, daß diejenigen, denen Quetzalcoatl sein Wissen und seine Macht verleiht, niemals wirklich tot sind«, erklärte der Conde. »Dieser Ring ist die Garantie.« Er betrachtete bewundernd den Ring, der mit einem Glanz leuchtete, der nicht vorn Kerzenlicht ausgelöst wurde. »Das ist ein Teil des Zwecks und tieferen Sinns dieser Tortur, verstehen Sie?« Seine Stimme klang sanft, als er Juan befahl, die Winde fester anzuziehen. »Die Anwendung der Tortur entzieht dem Opfer, wenn richtig ausgeführt, die Lebenskraft, und überträgt sie auf den Folterer. Ja, das ist der tiefere Sinn.« Jetzt ruckten Fattie Perez' dicke Schenkel auf und nieder − eine neue Foltervorrichtung war in Tätigkeit gesetzt worden. Hatte Perez gedacht, daß die Schmerzen nicht mehr schlimmer werden könnten, so sah er sich getäuscht. »Eine geniale Erfindung, wie?« sagte höhnisch der Conde. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und erzählte weiter. »Nun, obwohl mein Körper vorübergehend erstarrt war, lebte mein
Geist fort. Ich konnte herumstreifen. Unglücklicherweise konnte ich nicht auf alles, was ich sah und in Erfahrung brachte, spontan reagieren. Allerdings nur bis zum Eintreffen Ihrer Kollegen vom Film ...« Ein häßlicher Laut kaum aus Fatties Körper. »Vielleicht«, fuhr der Conde fort, »beruhigt es einen Emporkömmling wie Sie zu erfahren, daß Ihre Qualen meine Lebenskraft erhalten, die bis zur Ankunft der Filmleute gefährlich tief abgesunken war. Und so, Francisco Perez, wird Ihr verabscheuenswürdiger gesellschaftlicher Ehrgeiz für alle Zeiten gestillt sein. Sie hatten die Ehre, einen Conde mit neuer Lebenskraft zu versorgen.« Juans kleines, verzerrtes Gesicht leuchtete vor Eifer, als er ein gabelartiges Folterinstrument in Höhe von Fatties Augen brachte. Doch dessen Augenlider zuckten nicht mehr. Der Conde war enttäuscht. »Zu spät«, seufzte er. »Er ist tot ... Sein Herz taugte wohl nicht mehr viel ... Und diese Menge Fett ...« Er zuckte die Achseln und sank in den Sessel zurück. »Aber das ist nicht mehr so wichtig. Weg mit ihm. Beeilt euch. Es ist schon spät.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, bis es an einen Kater erinnerte, der eine Portion Schlagsahne geschleckt hatte und nun mit sich und der Welt vollauf zufrieden war.
Der größte Teil des Vormittags war schon vergangen, bevor man von der Abwesenheit Francisco Perez' Notiz nahm. Ein unpopulärer Mensch wird selten so rasch vermißt wie ein populärer, weil man ihm wegen seiner Abwesenheit dankbar ist und keinerlei Erkundigungen nach dem Grund einzuziehen pflegt. Aber als Heimie Weiss berichtete, daß Perez' Kleidung noch
immer neben dem Bett läge, da konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß irgend etwas nicht stimmte. Max gab Anweisung, die Burg zu durchsuchen, während er selbst das Gepäck des Finanziers inspizierte, um nachzusehen, ob etwas fehlte. »Kein Hausmantel, kein Pyjama und keine Unterhose«, sagte er mit wachsendem Befremden zu den anderen. »Das scheint zu beweisen, daß er aus irgendeinem blödsinnigen Grund mitten in der Nacht aufgestanden ist.« »Oh, vielleicht wollte er nur einen kleinen Spaziergang machen«, sagte Petronella leichthin. »Vielleicht ging er hinaus und verirrte sich in der Dunkelheit.« »Fattie? Du machst wohl Witze! Fattie würde nicht mal eine Straße überqueren, wenn ihm ein Wagen zur Verfügung stünde!« Der Engländer kam der Antwort am nächsten. »Was ist mit dem Kellergewölbe?« fragte er düster. »Zum Teufel, warum sollte Fattie ausgerechnet in diesen verdammten Keller gehen?« »Keine Ahnung ... Aber wenn, dann könnte er die Treppe hinuntergestürzt sein. Vielleicht liegt er da ... Ich sehe mal nach.« Der Gedanke an den Keller war sofort in seinem Gehirn aufgeblitzt, als er vom Verschwinden Perez' hörte. Möglich, daß sein Unterbewußtsein stets an den Keller gedacht hatte, seit er unten gewesen war und die schreckliche Kammer gesehen hatte. »Ja, Sie könnten schon recht haben. Okay, ich komme mit ... Bewaffnen wir uns mit Taschenlampen.« Wieder hatte der Engländer das Gefühl, als sei die Luft des Kellers mit einer fast greifbaren unheilvollen Atmosphäre geschwängert. Aber die anderen schienen es diesmal nicht zu bemerken. Niko ging hinter Max, und zu dritt gingen sie die Passage entlang, prüften die Türen der einzelnen Kerker und
leuchteten hinein. Nur am Ende − vor dem Schutthaufen und der Eisentür der Grabkammer − verlangsamten sich ihre Schritte, wurden ihre Stimmen unwillkürlich leiser. Die hellen Taschenlampen suchten den Raum ab, und er war wie immer. Die finsteren Mumien befanden sich auf den alten Plätzen; ihre zusammengeschrumpfte Haut sah aus wie altes Sämischleder. Und von Francisco Perez war keine Spur zu sehen. »Wie wir gesehen haben, ist er nicht hier«, sagte Max erleichtert. »Gehen wir wieder nach oben.« Aber der Engländer drehte sich an der Tür noch einmal um. Irgend etwas hatte sich verändert ... nur ein klein wenig. Er wußte nicht, was es war, verwarf diesen Gedanken und folgte den anderen zur Treppe. »Für mich ist alles klar«, sagte Max, als sie wieder in der Halle waren. »Aus einem mir unbekannten Grund verließ Fattie während der Nacht die Burg. Also gehen wir hinaus. Wir alle. Wir werden überall nachsehen.« Nur der Engländer folgte nicht dem Team. Denn der Gedanke, der ihm in der Folterkammer gekommen war, nahm jetzt Form und Gestalt an. Und wenn das zutraf, dann war in dieser alten Burg die schrecklichste Form des Bösen beheimatet. Gela Tyrrel war mit ihren Gedanken nicht so recht bei der Sache, als sie sich durch Schilf und Binsen bewegte und mit einem langen Stock in jedem dicken Büschel stocherte. Sie dachte, wie immer, an Max, grübelte und hoffte. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich der Tatsache bewußt wurde, daß ihr Nachbar auf der linken Seite Liam O'Hagan war − Liam, dessen Gesicht noch die Brandblasen von dem heißen Fett hatte. Zu ihrer rechten Seite war das Wasser des morastigen Sees. Der Boden stieg ein wenig an und war mit dichten Sträuchern
bewachsen. Sie mußte die Zweige zur Seite drücken, um weiterzukommen, und gelegentlich zupfte ein dorniger Ast an ihrem Rock. Sie dachte schon an eine Umkehr, denn Fattie wäre nie so weit in die Nacht hinausgegangen, als sie zu ihrer Linken etwas rascheln hörte. O'Hagan stand plötzlich wie ein Geist vor ihr und sah sie an. »Na, na, na«, sagte er leise. »Sieh mal einer an, meine Herzdame ohne Bratpfanne und flüssigem Fett ...« Dann sprang er sie mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit an und packte sie. »Warum sind Sie nicht mal 'n bißchen nett zu mir?« fragte er mit einem harten Lächeln. »Na los, Schätzchen, ausziehen! Tempo!« »Damit werden Sie nicht davonkommen.«. »Da mach' dir nur keine Sorgen. Ich komme schon davon − selbst wenn das noch ein weiteres geheimnisvolles Verschwinden zur Folge haben sollte. Also, ziehst du den Rock freiwillig aus? Oder soll ich ...« Ihre Lippen zitterten, als sie ihm ins Gesicht blickte. Sie sah kein Mitleid darin, keine Hoffnung auf Gnade. Seine Finger drückten tief in das Fleisch ihrer Arme. Er wechselte abrupt den Griff, packte eine Brust mit den Fingern und drückte hart zu. Dieser Giftzwerg bringt mich noch um, dachte sie. Er würde sie nehmen und sie dann umbringen. Und anschließend gab es im Castillo Delmorte ein weiteres ungelöstes Geheimnis. »Nicht«, bat sie in seinem schmerzhaften Griff. »Bitte ... Ich − ich will es tun.« Triumph leuchtete in seinen Augen, und sein Atem keuchte hörbar. »Beeilung«, sagte er, »Beeilung, Schätzchen.« Ihre Hände fummelten an den Druckknöpfen ihres Rocks herum. In dem Moment, als das erste Bekleidungsstück zu Boden rutschte, hielt er sie eine Armlänge von sich und nickte anerkennend. »Warum nicht gleich so?«
Sie zog ihre Beine aus dem heruntergerutschten Rock. Es waren hübsche, schlanke Beine. Jetzt ließ er sie wenigstens los und beobachtete sie wachsam. Und er hob die Hände, um seinen Gürtel aufzuschnallen. Seine Hose war schon halb unten, als sie Initiative ergriff. Mit einer Geschwindigkeit, wie sie nur die Panik hervorbringen kann, griff sie nach ihrem Stock und schlug zu. Sie hätte gar nicht besser zielen können. Es war ein von unten heraufgeführter Hieb, der auf O'Hagan eine verheerende Wirkung hatte. Er krümmte sich zusammen und ächzte: »Dafür bringe ich dich um ... Ich bringe dich um!« Sie rannte, spürte nicht die zurückschnellenden Zweige in ihrem Gesicht, kümmerte sich nicht um ihre Nacktheit und wußte nur, daß sie laufen mußte, wenn sie nicht sterben wollte. Sie rannte blindlings und begriff allmählich, daß sie eine völlig falsche Richtung eingeschlagen hatte. Das Castillo Delmorte war hinter ihr. Vor ihr waren nur der Sumpf und das Wasser. Der Boden war jetzt eine schlammige Oberfläche, die ölig gurgelte, wenn sie einen Fuß aufsetzen wollte, und der faule Gestank schnürte ihr die Kehle zusammen. Einmal rutschte sie aus, stürzte, und ihre langen, weißen Beine glitten tief in den schwarzgrünen Morast, der an ihnen zu zerren schien, als sie sich auf den festeren Boden wälzte und sich hochzog. Als sie weiterhetzte, sah der Morast, der an ihren Beinen klebte, wie ein Paar lange schwarze Strümpfe aus. Und die Entfernung zwischen ihr und Liam O'Hagan verringerte sich mehr und mehr. Sie wagte gar nicht mehr, sich noch einmal umzublicken. Und jetzt war vor ihr nur der See mit seinem Binsengestrüpp. »Warum machst du es uns so schwer?« hörte sie ihren Verfolger keuchen. »Du kommst ja doch nicht mehr weiter.« Er ging langsamer. Sie wußte, daß es jetzt kein Entkommen gab. Er hatte sie. Wenigstens hatte sie es ihm nicht leicht gemacht. Außer O'Hagan war niemand in der Nähe. Es würde keine
Zeugen geben, keine Beweise ... Er bog etwas nach rechts ab, um ihr endgültig den Weg abzuschneiden, denn sie war in weiten Kurven durch den Morast gelaufen und hatte jeden Orientierungssinn verloren. In dem knietiefen. Wasser kam er jetzt hinter ihr her und kicherte spöttisch. Aber er kicherte nicht mehr lange. Denn plötzlich war das Wasser nicht mehr knietief, sondern es reichte ihm bis zum Bauch und dann auch schon bis zur Brust. Und es war kein Wasser mehr. Der warme, unnachgiebige Schlamm hielt ihn nun fest, zerrte ihn nach unten. Seine Gier und seine Leidenschaft verflüchtigten sich und wurden von einer eisigen Furcht abgelöst. Gela hörte seinen heiseren Schrei. Als sie sich umdrehte, konnte sie nur noch seinen Kopf über der Schlammfläche sehen und seine Arme, die wild herumschlugen. Sein Kopf verschwand einen Moment, und als er wieder auftauchte, war er eine schwarze, gesichtslose Masse − wie ein alter Baumstumpf, der sich plötzlich hervorgeschoben hatte. Und dann war auch sein Kopf verschwunden. Nur ein Gurgeln kennzeichnete die Stelle, an der er versunken war. Aber es war nicht O'Hagans Tod, der Gela einen langen, schrillen, endlosen Schrei ausstoßen ließ. Dieser Entsetzensschrei hallte noch wider, als Max Grant durch das Wasser auf sie zuplatschte und neben ihr stehenblieb. Und als sie schrie, streckte sie eine Hand aus. So stand sie in dieser Haltung völlig erstarrt da; eine Statue, die mit einer Hand auf etwas deutete. »Ich habe ihn mit der Hand berührt«, keuchte sie, als sie endlich sprechen konnte. »Mit der Hand ... Im Wasser stieß ich gegen etwas, spürte etwas, und als ich mit der Hand ...« Sie begann wieder zu schreien. Max Grant führte sie, auf sie einredend, ans feste Ufer, nach-
dem er mit einem Stock die Stelle gekennzeichnet hatte, an der jetzt Francisco Perez lag. Er schwamm dicht unter der Oberfläche, ein schlaffes Etwas, an dem kaum noch etwas Menschliches zu erkennen war.
»Das ist einfach Mord, John! Das dürfen wir nicht vergessen. Und Fattie Perez war ein ziemlich großes Tier, müssen Sie wissen.« »Ich weiß«, erwiderte der Engländer. »Aber als ich sagte: › Vergessen wir das, Max ‹, sprach ich nicht über den Tod. Ich sprach vielmehr über diese alte Burg. Und ich denke, wir sollten jetzt verschwinden − wir alle, Max. Ich würde auch nicht die Absicht haben, noch einmal zurückzukehren.« »Sie sind ja verrückt! Der beste Platz, den ich in meinem Leben jemals für Außenaufnahmen gefunden habe. Und Sie wollen mir einreden, daß wir alle verschwinden müssen! Nein, John, nein. Wenn wir morgen den ganzen Tag arbeiten, haben wir die erforderlichen Szenen im Kasten. Aber wenn's erst richtig losgeht, kommen wir wieder. Und wenn alle Personen vollzählig sind, dann wird gleich alles ganz anders aussehen.« Die Leiche von Francisco Perez lag auf dem harten Boden neben der Burgmauer zu ihren Füßen. Sie war mit einem Tuch zugedeckt. Und dafür konnten alle Anwesenden nur dankbar sein. Selbst Max' starker Magen hatte sich bei Fatties Anblick glatt umgestülpt. »Zum Teufel, warum hat er das gemacht?« fragte Max jetzt. »Wer?« »O'Hagan natürlich. Es muß O'Hagan gewesen sein. Der Mann war ja wahnsinnig. Zuerst Fattie, dann das Mädchen ...«
»Wie kommen Sie auf die Idee, daß es O'Hagan war?« »Sehen Sie mal, John, wer könnte es denn sonst gewesen sein? Ich? Sie? Petronella vielleicht? Niko? Heimie? O'Hagan, sage ich.« »Vielleicht.« Die Stimme des Engländers klang nicht sehr überzeugt. Er schien etwas anderes sagen zu wollen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Ich kann nicht früher sprechen, bis ich einen Beweis habe, dachte er. Nach einem Augenblick: »Wie dem auch sei, ich gebe zu, daß es sich um einen Mord handelt. Und ein Mord muß bekanntlich der Polizei gemeldet werden. Aber ich bin nach wie vor der Meinung, daß wir von hier verschwinden sollten, und zwar sofort.« Aber Max war steinhart. Er würde die Burg nicht früher verlassen, bis die schon begonnenen Arbeiten abgeschlossen waren. Und er wurde − das war einigermaßen seltsam − von Petronella unterstützt. »Dieser flotte alte Count wird heute abend wiederkommen, und ich möchte ihn brennend gern wiedersehen«, erklärte sie. »Er hat so etwas an sich ...« Der Engländer verließ in einem Wagen, mit Heimie Weiss am Steuer, das Burggelände. Fattie Perez auf dem Rücksitz war nur ein längliches Päckchen, nichts weiter. In Barkers Tasche war ein unentwickelter 35 mm-Film aus Nikos Kamera. Mit dem Beginn der Abenddämmerung senkte sich gleichsam ein Hauch von gespannter Erwartung über die alte Burg. Niko hatte seine Szenenkameraarbeit beendet, und Max hatte nur noch ein, zwei Details, die er überprüfen wollte. Und am folgenden Tag würden alle Arbeiten, die zur Zeit anlagen, beendet sein. Jetzt war die Tür der großen Halle geöffnet. Sie genossen die kühle Abendbrise gemeinsam mit den Drinks, für deren angenehme Temperatur eine tragbare Kühlbox sorgte. Sie hatten schon früh zu Abend gegessen, eine Mahlzeit, die − zu Max' Erstaunen − Petronella zubereitet hatte. Es hatte nur Fleisch aus
der Dose, Früchte aus der Dose und Schlagsahne aus einer anderen Dose gegeben, aber Max konnte sich nicht entsinnen, daß Petronella während all dieser Monate etwas derart Nützliches getan hatte. War es ihr in den Sinn gekommen, plötzlich ganz auf › Hausfrau ‹ zu machen? Wie dem auch sei, dazu fehlte noch einiges. Der Generator surrte zufrieden vor sich hin. Die Glühbirnen zogen eine Menge Motten an, und gelegentlich flatterte eine Fledermaus durch die offene Tür, flitzte mit einer unglaublichen Geschicklichkeit herum, bis sie dann die Treppe hinauf und durch das zerbrochene Fenster wieder hinaushuschte. Die Sonne war im Westen verschwunden, als Gela, Niko und Max an der Tür saßen und gemächlich an ihren Drinks nippten. Max wirkte nervös, rutschte auf seinem Stuhl herum und beobachtete verstohlen Petronella und deren ungewohnt häusliches Benehmen, als sie das benutzte Geschirr in die Küche trug. Niko hatte sich schon lange nicht mehr bewegt. Er hatte seine Augen halb geschlossen und beobachtete das prächtige Farbenspiel der Abendröte über den Marismas. Eine Art Verzweiflung packte ihn bei diesem Anblick, denn kein Farbfilm konnte diese zarten Nuancen und diese hauchdünnen Nebelschleier so einprägsam wiedergeben. Plötzlich stellte Max abrupt die Frage: »Ob er heute nacht kommen wird?« »Wen meinen Sie?« »Diesen alten Raben, meine ich, den Count.« »Er hat es doch versprochen − nicht wahr?« sagte Gela. »Ich denke, er wollte ein paar altmodische Kleider für Ihre Frau mitbringen.« Max richtete seinen Oberkörper steil auf und schlug ärgerlich mit der Faust in die andere Handfläche. Aber er sagte nichts mehr. Petronella hatte das letzte Geschirr gespült und abgetrocknet und ging beschwingten Herzens in die große Halle.
Max füllte gerade die Gläser nach. »Für mich einen Brandy«, sagte sie leichthin, und Max zuckte so plötzlich herum, daß ihm die Flasche aus der Hand glitt und auf dem Boden zersplitterte. »Nervös?« fragte sie mit einem trillernden Lachen. »Ich dachte, ein Max Grant ist niemals nervös ...« Er krauste die Stirn, griff nach einer anderen Flasche und füllte ein Glas für sie. »Wir machen uns um den Engländer Sorgen«, sagte er. »Zeit, daß er wiederkommt.« »Wahrscheinlich beantwortet er der Polizei Fragen bezüglich Fattie Perez«, entgegnete Petronella. »Und wie ich die spanische Polizei kenne, wird er morgen noch immer im Revier sitzen.« Sie trank durstig. »Wie war's mit ein bißchen Musik? Mir ist heute abend wahnsinnig lustig zumute. Veranstalten wir doch einen kleinen Ball.« Als sie das sagte, schienen hundert Violinen einen langen und gequält klingenden Akkord zu wimmern − die Melodie eines Tanzes, der auf dieser Erde noch nie gespielt worden war. »Ich werde dafür sorgen«, sagte die Stimme des Count Delmorte, »daß meine Diener diese Türangeln einfetten. Ein ganz unmögliches Geräusch − ganz dazu angetan, meine Gäste auf das gröbste zu beleidigen.« Wieder stand er im Schatten der zum Burghof führenden Tür, und sein langer dunkelroter Mantel hing von seinen Schultern herab wie ein Paar angelegte Flügel. Sein Lächeln war so höflich wie immer, seine Verbeugung genauso gekonnt wie tief. Petronella spürte eine seltsame kribbelnde Erregung, denn sie war die erste Person, auf die er zuging. Gela beobachtete diese Szene und spürte eine schreckliche innere Unruhe. Die Türangeln hatten nicht so widerlich gekreischt, als vor wenigen Minuten Petronella eintrat. Warum kreischten sie jetzt?
War dieser Schrei, dieser Schrei einer unendlichen Qual, überhaupt von den Türangeln gekommen? Oder hatte dieses entsetzliche Gewimmer eine andere Quelle? Sie wünschte jetzt verzweifelt, in Begleitung des Engländers davongefahren zu sein. In der Stadt ging der Engländer ungeduldig um den Wagen herum und feuerte Heimie Weiss zu größerer Eile an. »Es hat keinen Sinn, Mr. Barker. Eine gebrochene Achse ist nun mal eine gebrochene Achse, die geschweißt werden muß, bevor wir uns auch nur einen Schritt von der Stelle bewegen können.« Schwitzend und ölverschmiert hantierte er mit einem Schraubenschlüssel an den Hinterrädern herum. »Ich habe Max von Anfang an gesagt, daß es riskant sei, die Wagen nach Europa mitzunehmen. In den Everglades in Florida, nur dort findet man die richtigen Mechaniker für diese Wagen.« Barker begann mit sich ständig steigender Ungeduld auf dem Hof der Garage auf und ab zu gehen. Dieser Hof war zumindest eine Zuflucht vor der Angst. Er machte sich keine Sorgen um seine eigene Person, wohl aber dachte er an die anderen, die auf der Burg zurückgeblieben waren. »Wie lange?« fragte er. »Wenn Sie sich drei, vier Stunden schlafen legen, werden Sie nichts versäumen.« Während Heimie weiterarbeitete, verließ der Engländer den Hof und ging auf die Hauptstraße. Besorgnis und Furcht begleiteten ihn. Ich hätte auf der Burg bleiben sollen, dachte er, denn wenigstens ich kenne das ganze Ausmaß der Gefahr, dieser unglaublichen unheilvollen Gefahr, die alle lebenden Seelen im Castillo Delmorte bedroht. Denn in seiner Tasche waren die Abzüge von Nikos Bildern. Und einer dieser Abzüge bestätigte die Wahrheit dessen, was er bereits vermutet hatte. Das Foto zeigte die Grabkammer des alten Counts an dem Tag, an dem sie deren Tür geöffnet hatten. Deutlich zu sehen
war die mumifizierte Hand des Grafen, die auf dem Foltertisch lag. Diese Erinnerung war deshalb in ihm lebendig geblieben, weil er den roten Stein am Finger hatte glitzern sehen. Als sie an jenem Tag in der Kammer nach Perez suchten, war ihm ein Unterschied aufgefallen. Doch erst, als er das Foto sah, wußte er, um welch einen Unterschied es sich handelte. Denn an jenem Tag hatte die Hand des Counts nicht auf der Folterbank geruht. Und hätte jemand die Glieder verändert, wären sie gebrochen. Als John Barker das Foto sah, wußte er sofort, mit was oder mit wem er es zu tun hatte. Und er wußte auch, daß es nur eine Möglichkeit gab, die Menschen, die sich im Castillo Delmorte aufhielten, zu beschützen Alte Erinnerungen fluteten in sein Gedächtnis zurück, als er leise durch das Tor der kleinen, schäbig aussehenden Kirche ging. Irgendwo schlug eine Uhr Mitternacht.
»Nun ist die wahre Geisterzeit der Nacht«, zitierte Max Grant. »Wenn Grüfte gähnen und die Hölle selbst haucht Pest in diese Welt ...« »Treffend«, strahlte der Count. »Sehr treffend und amüsant.« »Shakespeare«, sagte Max Grant, ein wenig schwankend, denn er hatte kräftig getrunken. »Aus › Hamlet ‹.« Der Count krauste ein wenig die Stirn und lächelte dann. »Ja, natürlich. Ihr englischer Dramatiker. Ich habe von ihm gehört.« Grant lachte explosiv. »Count, sie überraschen mich. Sie haben von ihm gehört, he?« Er fühlte sich jetzt entspannt und fast zufrieden. Ihm war eine großartige Idee gekommen, eine Idee, die in seinem Geist leuchtete wie ein Sonnenuntergang an der Riviera.
Ob er den Count überreden konnte, in seinem Film sich selbst zu spielen? Dieser alte Teufel hatte einen scharfen Geist, und wenn er noch nie in seinem Leben gemimt hatte, so war das überhaupt kein Nachteil. Nicht die Schauspieler machten die Filme, sondern die Regisseure. Und Max Grant war der Überzeugung, daß er aus jedem Tölpel einen Schauspieler machen konnte, wenn dieser soviel Verstand hatte, sich nach seinen Regieanweisungen zu richten. Noch hatte sich weder an seinem noch im Gehirn des Engländers die entsprechende Story kristallisiert, aber bei diesem Hintergrund mußte es eine Story über den Count sein. Der Count würde sich einfach selber spielen. Und obwohl er ihm noch nicht die entsprechende Frage gestellt hatte, zweifelte Max nicht an seiner Antwort. Ein Mann, der so arm war wie dieser abgewirtschaftete Edelmann, würde die Gelegenheit beim Schopf packen. Leichtes Geld. Es war praktisch alles klar, und Max tat es nur leid, daß der Engländer in diesem Augenblick nicht anwesend war, um sofort mit der Gehirnarbeit am Drehbuchkonzept zu beginnen. Morgen, dachte er, werde ich mich mit John Barker zusammensetzen und über den geschäftlichen Teil reden. Das würde ein Knüller werden, ein richtiger Knüller. »Mitternacht«, sagte lächelnd der Count. »Die geeignete Zeit für das, was ich tun möchte.« Er klatschte dreimal in seine schlanken Hände, worauf Juanitos riesige Gestalt in den Hintergrund der Burg watschelte. Bei seiner Rückkehr trug er eine große Truhe aus dem Holz des Kampferbaums. Seine mächtigen Pranken hielten die Truhe so leicht wie einen Schuhkarton. »Für Sie, Lady Petronella.« Der Count machte eine tiefe Verbeugung, als der Riese die Truhe vor Max' Frau abstellte. Petronella klappte den Deckel auf und stieß einen Schrei des Entzückens aus. Langsam und zärtlich zog sie ein Kleid aus Samt und Seide aus der Truhe und hielt es hoch. Der Geruch
des Kampferholzes erfüllte die Luft um sie herum. Es roch nach einer alten Vergangenheit. »Das Kleid wurde noch nie getragen«, erklärte der Count. »Die Frau, für die es bestimmt war, starb kurz vor seiner Vollendung. Sie hatte, so glaube ich, Ihre Größe.« Petronella hielt das Kleid einen Augenblick an sich. Es war alt, sehr alt und seit über dreihundert Jahren außer Mode. Es war ein Stück Geschichte, die winzigen Stiche der Stickereien waren Handarbeit, und der Stoff war auf Webstühlen gewebt, die längst zu Staub zerfallen waren. »Es ist herrlich!« war alles, was Petronella sagen konnte. Sie streichelte den Stoff zärtlich mit einer Hand. »Es wurde für eine Prinzessin der Azteken gemacht«, sagte der Count. »Eine Prinzessin, die meinen Ahnen heiraten sollte.« »Und − und was geschah?« »Vielleicht erzähle ich Ihnen das später; aber jetzt ... Warum ziehen Sie das Kleid nicht einmal an? Sie würden mir einen Anblick bieten, um den die Welt mich beneiden würde. Eine Erinnerung an eine Zeit, die längst vergangen ist ...« Als Petronella auf die Treppe zuging, hatte Gela Tyrrel das unbändige Verlangen, hinter ihr herzurufen: »Nein! Tun Sie es nicht! Tragen Sie nicht dieses Kleid!« Aber sie schwieg und wußte nicht, wovor sie sich fürchtete. Ihr Instinkt sagte ihr lediglich, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, daß irgend etwas Schreckliches passieren würde. Niko Kovacs sah Petronella als erster zurückkehren und klappte vor ehrlicher Bewunderung den Mund auf. Max sah ihn starren, drehte sich langsam um und sah, was Niko sah. »Donnerwetter«, sagte er atemlos. »Das glaube ich einfach nicht.« Langsam, als wäre sie ihr ganzes Leben lang in Prunkgewändern Treppen hinuntergestiegen, nahm Petronella Grant die Stufen. Sie schien die Treppe hinunterzuschweben; ihre Beine
waren unter den schweren Samtfalten unsichtbar. Der Count hatte nur zu recht: das Kleid war Petronella auf den Leib geschneidert. Und das Kleid paßte grandios zu ihrer Erscheinung. Mit stolz erhobenem Kopf, jetzt gekrönt von einer Mantilla und einem mit Juwelen besetzten Kamm im Haar, bewegte sie sich wie eine Prinzessin, die eigens zum Tragen von Purpur und Schmuck geboren war. Um ihren Hals herum glitzerte eine fremdartige Kette mit grünen Steinen, und an ihren Fingern waren Ringe, die Max Grant nie zuvor gesehen hatte. »Um Himmels willen, wo hast du das alles her?« platzte Max heraus, als Petronella die letzte Stufe genommen hatte und auf sie zugeschwebt kam. Sie antwortete nicht, wandte aber ihr Gesicht, das plötzlich irgendwie geadelt schien, dem Count zu und sagte artig: »Eine fürstliche Gabe.« »Nur eine wahre Prinzessin ist dieser Gabe würdig«, erwiderte der Count mit einer Verbeugung. Der Count und Petronella taten, als stünden sie ganz allein in der Halle. Lange Zeit starrte sie der Count gierig und bewundernd an. »Tlalzacatl«, murmelte er. »Die Tochter Montezumas. Schönste und grausamste von allen ...« Er machte einen Kniefall vor ihr und küßte ihre Hand.
»Schnitt!« rief Max. »Phantastisch! Perfekt ... oh, einfach unübertrefflich. Pet, du wirst ein Star! Du wirst einfach der Star! Und das habe ich nie zuvor bemerkt. Mein Gott, ich muß blind gewesen sein!« Langsam und königlich schenkte Petronella ihm die Gunst ihres Blicks, und es war, als habe sie ihn noch nie im Leben ge-
sehen. Ihre Augen, hart wie Stein, blickten ihn leidenschaftslos an; kein Lächeln umspielte ihre Lippen. Lange Zeit schien sie wirklich eine Person aus tiefster Vergangenheit zu sein, eine Aztekenprinzessin, eine spanische Lady, kalt, leer und eitel. Und dann verwandelte sie sich wieder in Petronella. »Du bist ja total besoffen«, sagte sie schroff. »Marsch, ins Bett mit dir!« Als sie sprach, wallte plötzlich Musik auf. Das war keine Tonbandmusik, sondern Musik, die Juan und Juanito, Don Pedros Dienstboten, angestimmt hatten. Der kleine Mann sägte mit dem Bogen einer kurios verdreht aussehenden Fiedel, und der Riese spielte auf einer dünnen und schrill klingenden Flöte, während er zur gleichen Zeit mit den Knien zwei Zimbeln zusammenschlug. Der Count und Petronella glitten in einen Tanz, der gleichsam nobel und ungezwungen war, der die Naturen der Alten und der Neuen Welt in volle Harmonie brachte. Es war ein Tanz, der jedem Beobachter unter die Haut gehen und ihn schneller atmen lassen mußte. Max' Gesicht lief rot an, als die Musik und die Bewegungen der beiden Tänzer immer wilder wurden. Die schrillen Piepser der winzigen Flöte und das klägliche Gewimmer der Fiedel erfüllten die Halle − und Petronella hatten nur Augen für den Count und sonst niemanden. »Jetzt ist es genug!« schrie er plötzlich mit einer so heiseren, röchelnden Stimme, daß die Musiker schwiegen und der Tanz mitten in einem Schritt endete. Max zwang seine aufgeputschten Gefühle unter Kontrolle. Es war ein Kunststück, aber er brachte es fertig. »Sie müssen mir verzeihen, Don Pedro«, sagte er. »Meine Frau wird langsam müde. Eigentlich müßte sie schon längst im Bett sein.« Der Count verbeugte sich, aber er sah dabei nicht Max, sondern Petronella an. »Selbstverständlich. Ich bitte zehntausend-
mal um Verzeihung. Aber ich habe so selten Gelegenheit, mich einem Tanz hinzugeben, so daß meine Freude darüber meine Manieren zurücktreten läßt. Wie Sie sagten, es ist spät. Und es wird auch Zeit für mich ... Ich hoffe, Gelegenheit zu haben, unsere Bekanntschaft zu einem späteren Zeitpunkt zu erneuern.« Max kam sich vor wie ein taktloser Tölpel und sagte unsicher: »Nun ja, natürlich, Count, natürlich. Jederzeit, jederzeit.« »Bis morgen abend«, sagte Petronella, als der Count sich vor ihr verbeugte und − von seinen beiden Dienern gefolgt und sich noch mehrmals verbeugend − zur Tür ging. Dort verbeugte er sich noch einmal ein wenig tiefer und verschwand so rasch und geräuschlos, daß man den Eindruck hatte, er wäre niemals dagewesen. Max wandte sich an Petronella. »Und du kannst jetzt wieder nach oben schweben und diesen Firlefanz abnehmen!« schnaufte er. »Was für eine Kette! Nimmst von diesem alten Fakir 'nen Haufen Flitterkram an. Wie kommst du eigentlich dazu?!« Ihre Lippen bewegten sich boshaft, als sie die Kette mit den grünen Steinen befingerte. »Ich wollte, mein lieber Mann wäre in der Lage, mir so einen ›Flitterkram‹ zu schenken!« »Willst du damit sagen, daß die Kette echt ist?« Er streckte eine Hand aus. Petronella ruckte ihren Oberkörper zurück, so daß Max' Arm nicht mehr lang genug war. »Leute wie der Count pflegen keinen › Flitterkram ‹ zu schenken. Das mußt du noch lernen.« »Das hat er dir nicht umsonst gegeben«, sagte Max, mit kreideblassem Gesicht. »Nein ... Pet, wie kannst du nur ...? Mein Gott ... Das kann doch nicht wahr sein, Pet ... Oh, Pet ...!« Sein Wutausbruch wurde zu einem demütigen Winseln und Bitten. Die Verachtung in ihren Augen peinigte ihn wie tausend Nadelstiche. Aber Petronella drehte ihm den Rücken zu und ging wortlos die Treppe hinauf. Schweigen war die grausamste Antwort von
allen ... »Sie schlafen jetzt«, sagte Don Pedro in der Dunkelheit. »Sie schlafen jetzt alle. Geh und hole mir das Mädchen. Noch blühen die Stunden der Dunkelheit, genügend Stunden.« Juanito gab eine Art Truthahnkollern von sich, das seine Sprache war. »Nein. Das andere Mädchen. Nicht unsere Prinzessin. Für die Prinzessin ist noch nicht Zeit. Bringe mir das andere Mädchen, die Engländerin. Wir haben schon lange kein Mädchen mehr auf dem Tisch gehabt. Ich frage mich, ob die Mädchen noch immer so gut Schmerzen ertragen können.« Es war halb zwei Uhr vorbei. Über der Burg wartete eine Eule auf die Rückkehr der Fledermäuse von ihrem nächtlichen Beuteflug über dem Sumpf.
In Gela Tyrrels entzückendem kleinen Traum war Max Grant zu ihr gekommen, um ihr endlich zu gestehen, daß er sie liebe, sie brauche, sich von Petronella scheiden lassen und sie heiraten wolle. Und er bestätigte ihr seine Gefühle mit nachdrücklicher Leidenschaft; seine Hände glitten über ihren Körper, sie wehrte ihn ab − nur per forma und längst bereit, sich ihm hinzugeben, längst der Beginn einer süßen Kapitulation. »Nicht so stürmisch, Max«, bat sie ihn im Traum, »und nicht gleich alles überstürzen. Wir haben viel Zeit, du und ich. Haben wir noch ein wenig Geduld, um so schöner ...« Aber Max' Hände bewegten sich noch leidenschaftlicher über ihren Körper. Und letzten Endes hatte sie längst den Entschluß gefaßt, sich nicht mehr zu wehren. Sie entspannte sich, um sich in die letzte süße Etappe ihres Traums gleiten zu lassen. Aber diese Süße kam nicht.
Es kam der Schmerz. Und plötzlich war aus dem Liebestraum ein Alptraum geworden. Statt Max' zärtlich tastenden Händen glitten plötzlich die Pranken Juanitos über ihren Körper. Und über ihr war das lange, kalt und unbarmherzig blickende Gesicht des Counts. Gela wunderte sich über die schreckliche Realität dieses Alptraums, wunderte sich über den Schrei, der sich ihrer Kehle zu entringen schien, wunderte sich über die seltsame Steinkammer, in der sie plötzlich lag. Und sie war völlig nackt, was sie nicht einmal in ihrem Liebestraum gewesen war. Sie war auf dieses merkwürdige Lager gefesselt. Beine und Arme wurden ihr von Riemen, die an Handgelenken und Knöcheln befestigt waren, weit auseinandergezogen. Sie schrie wieder und sah, wie sich die dünnen Lippen des Counts zu einem befriedigten Lächeln verzogen, als er sich über sie beugte. Seine Hand fiel schwer auf ihre Brüste; die Hand war kalt und trocken − wie eine Schlangenhaut. Sie sah das rote Glitzern des Rubinrings auf seinem Finger. Und als sie auf den Ring starrte, sah sie darin ein anderes Gesicht, einen Vogelkopf, der nicht menschlich war, aber menschliche Züge hatte. Die auf ihren Brüsten liegende Hand des Counts begann jetzt zu drücken, bis die Brustwarze, die zwischen seinen Fingern herausragte, ganz weiß geworden war. Es war qualvoll, und diese Qual steigerte sich noch, als sich kleine Räder zu drehen begannen und ihre Beine weiter auseinanderzerrten. Sie schrie, und je lauter sie schrie, um so zufriedener lächelten die Lippen des Counts. Seine Augen leuchteten, und ihr Licht schien heller zu werden, je stärkere Schmerzen sie spürte. Als wäre er eine Batterie und sie der Generator, der diese Batterie auflud. »Warum?« wimmerte sie. »Warum tun Sie das? Was soll das bedeuten? Aufhören ... Aufhören! Bitte, aufhören ...!« Und plötzlich verzerrte sich das Gesicht des Counts wie in Qualen. Er taumelte von dem Tisch zurück und griff mit einer
Hand nach seinem Hals. Gelas letzte Erinnerung galt seinem Ring, diesem glühenden roten Ring an seinem Finger. Und als Gela von der Dunkelheit umfangen wurde, schien sein Feuer erloschen zu sein. Als sie wieder die Augen öffnete, war es taghell. Sie lag in ihrem eigenen Bett. Alle Muskeln taten ihr weh. Das Bettlaken war schweißgetränkt. Als sie sich aufrichtete, spürte sie nur eine unendliche Erleichterung. Also war es doch nur ein Alptraum gewesen. Der Engländer muß ziemlich kräftig an der Flasche gezogen haben, dachte Heimie Weiss sarkastisch, als er ihn mit schlingernden Schritten und einem zerfurchten Gesicht auf sich zukommen sah. Er hatte Barker selten in einem so miserablen Zustand gesehen. Heimie Weiss konnte natürlich nicht wissen, wo John Barker in jener Nacht wirklich gewesen war, oder was er getrieben hatte. Als das Amphibienfahrzeug über die Marismas zurückschlitterte, war Barker eingeschlafen. Aber die Hand hatte er in seine Tasche geschoben und um jene Dinge geschlossen, die er mitgebracht hatte; die kostbaren Dinge, die vitalen Dinge, die Dinge, die so wichtig waren, wie das seine Nachtschwester gewesen war. Max Grant war verwundert − und wütend. In einer sich immer weiter ausdehnenden Spirale hatte er − einen halben Tag, wie es schien − die alte Burg umkreist. Und noch immer hatte er nicht die ›zweite Wohnung‹ des Counts gefunden. Aber sie konnte nicht so weit von der Burg entfernt sein. Dieses alte Ekel war zu Fuß gekommen, und es gab auf dem Gelände um die Burg herum nicht viel festen Boden. Zum Teufel, wo wohnte er eigentlich? Max wollte ihn aufsuchen. Er hatte zwei gute Gründe. Erstens wollte er ihn zur Unterzeichnung des Vertrages bewegen, und zweitens wollte er ihm die Nase einschlagen, weil er Petronella all diesen Flitterkram gegeben hatte. Und Flitterkram mußte es sein. Wenn das echt war, dann verschenkte es kein Mensch so ohne weiteres. Keine Halskette mit
vierzig Smaragden, jeder davon über zehn Karat. Und was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein, indem er der Frau eines anderen Mannes so unverschämt den Hof machte? Mein Gott, was ging hier eigentlich vor? Der Finanzier Francisco Perez tot. Ein Fahrer tot. Ein Mädchen fast vergewaltigt − und seine eigene Frau verrückt nach einem so blödsinnigen spanischen Hidalgo! Nur der Gedanke, daß sie noch heute die Burg verlassen würden, milderte seinen Zorn ein wenig. Geschäft war Geschäft, da durfte man an nichts anderes denken. Und darum beschloß er auch, dem Count nicht diese dämliche lange Schnauze einzuschlagen, sondern ihm einen Vertrag vorzulegen. »Max, ich muß mit Ihnen reden. Auf der Stelle.« Der Regisseur erschrak über die tiefen Furchen im Gesicht des Engländers, als dieser am Nachmittag zurück in die Burg gekommen war. »Sicher, John. Wir packen zwar jetzt, aber ich denke, daß ich ein, zwei Minuten Zeit für Sie habe.« »Wir packen? Wir fahren ab? Na, Gott sei Dank, kann ich da nur sagen!« Der Engländer schien zutiefst erleichtert. Oben auf der Galerie hörte Petronella diese Worte. Abfahren? Jetzt? Ohne daß sie noch einmal den Count sah? Ihr Gesicht verzog sich zu mürrischen Linien. Das kam ja überhaupt nicht in Frage! »Gehen wir nach draußen«, schlug Barker vor. »Da hört uns niemand.« »Ist das so wichtig? Na ja ...« Max Grant folgte dem Drehbuchautor in das Licht der Nachmittagssonne hinaus. Die Burg sah von außen zerfallen aus, alt und vermodert − aber nicht drohend. »Zunächst einmal«, sagte der Engländer, »ist Ihnen gestern nacht etwas aufgefallen?« »Aufgefallen? Nun, der Count tauchte mit seinen beiden
Witzbolden auf.« »Weiter nichts?« »Er machte Petronella den Hof und noch so einiges mehr. Ehrlich gesagt, ich hätte ihn beinahe in den Hintern getreten. Abgesehen davon ... O ja, Gela hatte einen Alptraum. Sie hat wohl geträumt, daß sie von dem Count und seinen schrägen Vögeln gefoltert wurde.« Max lachte kurz auf und krauste dann die Stirn. »Komisch ist, daß Gela noch nie unten im Kellergewölbe war. Wir haben doch auch diese Grabkammer mit keinem Wort erwähnt, nicht wahr! Und doch konnte sie diese Kammer genauestens beschreiben. Komisch, nicht? Gedankenübertragung vielleicht?« Der Engländer preßte seine Lippen zusammen und sagte: »Ich glaube nicht, daß es ein Alptraum war.« »Na, hören Sie ...« »Ich glaube, daß das alles wirklich passiert ist.« Max' Kinnlade klappte herab. »Jetzt schneien Sie mich aber mächtig ein, John. Wie könnte das jemals etwas anderes als ein Alptraum gewesen sein? Und wenn es keiner war − wie ist sie dann entkommen? aus der Folterkammer, meine ich.« »Ich habe sie gerettet«, antwortete der Engländer ruhig. »Jetzt aber mal langsam, alter Junge. Sie waren fast hundert Meilen von diesem alten Burgkasten entfernt.« »Das stimmt.« »Bitte, was konnten Sie da tun, um Gela zu retten?« »Ich konnte beten, Max. Beten.« »Was?« »Ich habe die ganze Nacht in einer Kirche verbracht und gebetet.« Das Gesicht des Engländers nahm einen ganz seltsamen Ausdruck an, der sowohl stolz als auch demütig wirkte. »Es gibt etwas«, sagte er, »das Sie nicht von meiner Person wissen, Max; das nur wenige wissen.« »So?«
Er legte eine Pause ein, und seine nächsten Worte fielen dramatisch in einen Teich des Schweigens. »Ich bin ein ordinierter Priester Gottes, Max Grant. Ein Priester.« »Teufel, ich will doch gleich verdammt sein!« war Max' instinktive Antwort. Und gleich darauf entschuldigte er sich verlegen. »Ich meine ... Teufel noch mal, John ... Jessas! ... Ich fluche in Ihrer Gegenart schlimmer als ... Sie sagen, Sie sind ein Priester?« »Ich wurde zum Priester ordiniert, aber ich war auch zum Schriftsteller geboren. Und der Schriftsteller war stärker. Er gewann. Auf der Oberfläche jedenfalls. Ein unterdrückter und ein befreiter Instinkt. Ein Hin und Her, kann man sagen. Für dieses spezielle Problem war die Flasche noch immer die klassische Lösung. Wollen wir den Ursachen meines Versagens ausweichen, Max. Tatsache ist, daß ich noch immer ein Priester bin. Kein Priester mit einer Soutane. Ein Priester schlechthin.« »Und ich habe Sie immer für einen schwulen Bruder gehalten«, murmelte Max verblüfft. »Keine Frauen, meine ich. Mein Gott, das tut mir wirklich leid, John. Nichts für ungut.« »Was Sie von mir gehalten haben, ist jetzt unwichtig. Wichtig ist nur, daß ich in meiner Eigenschaft als Priester gewisse Pflichten zu erfüllen habe und über gewisse Kräfte verfüge. Und diese Kräfte sind jetzt nötig. Wenn es irgendwo in der Welt einen Ort gibt, der einen Priester nötig hat, dann ist es diese Burg des Todes.« Max konnte nur einen befremdeten Grunzlaut von sich geben, als er versuchte, die Zusammenhänge zu begreifen. »Hier haust der Teufel«, sagte der Engländer ruhig. »Der Teufel haust in dieser Burg und muß ausgetrieben werden!«
»Der Folterer«, sagte der Engländer.
»Sie nannten ihn den Folterer. Ich war in der Lage, in der Stadt den größten Teil der Geschichte zu erfahren, als ich erst einmal genau wußte, was ich suchte. Er muß einer der übelsten Subjekte in der Geschichte gewesen sein; ein Mensch, der sich völlig den fragwürdigen Idealen der Pein und der Grausamkeit widmete.« Sie waren jetzt wieder in der Burg, und der Engländer schilderte den anderen den Grund des plötzlichen Aufbruchs. Niko hörte skeptisch zu, und Heimie Weiss beschäftigte sich mit dem Zusammenrollen der Kabel. Gela Tyrrel, deren Gesicht sich bei jeder Bewegung vor Schmerz verzog, hörte aufmerksam zu. »Es begann in Mexiko, denke ich«, sagte John Barker. »Er war dort. Er war einer der Konquistadoren. Er dürfte an dem Quetzalcoatl-Kult beteiligt gewesen seilt, und zwar aktiv. Ein Kult der Azteken. Und nach allem, was Sie erzählt haben, Miß Tyrrel − ich denke an diesen Ring −, wurde er geweiht und damit Herr über Leben und Tod.« »Aber das war doch ein Alptraum«, protestierte Niko. »Sehen Sie sich ihre Handgelenke an, ihre Fußknöchel«, sagte der Engländer unerschüttert. »Das sind richtige Druckstellen − von Fesseln oder von Riemen. Sie sahen den Ring ...« Seine Lippen wurden schmal. »Taumelte der Count und griff nach seinem Hals?« Gela nickte, noch immer sprachlos vor Verwunderung und den Nachwirkungen der Angst. »Ich kann nur hoffen, daß ich kräftig genug zugeschlagen habe«, murmelte John Barker. »Zugeschlagen?« wiederholte Max. »Der Teufel besitzt nicht alle Kräfte«, kam die Antwort. »Er besitzt eben nur die Kräfte des Bösen. Meine Gebete haben sich als stärker erwiesen.« Petronella trat ein, blieb einen Moment stehen, musterte alle mit schweigender Verachtung und ging die Treppe hinauf.
»Alles gepackt und fertig?« rief Max hinter ihr her. Schweigen war die Antwort auf seine Frage. Er wandte sich wieder dem Engländer zu. »Das begreife ich nicht ganz, John. Sie sprechen von dem Count und jener Leiche in der Folterkammer, als wären beide die gleiche Person.« »Sie haben nicht genau zugehört, Max. Es handelt sich um die gleiche Person.« »Aber er ist doch seit über dreihundert Jahren tot! Wie wollen Sie eine Mumie zum Leben erwecken?« »Der Ring. Der Ring von Quetzalcoatl. Die Kräfte in diesem Ring sind fast unendlich. Ich habe Ihnen die Fotos gezeigt, Max. Sie werden zugeben, daß die Hände bewegt wurden ...« Er stand abrupt auf. »Aber diese Erklärungen tun jetzt nichts zu Sache. Wir müssen weg von hier, weg. Später werde ich noch einmal zurückkehren und diesen bösen Geist bannen. Wenn das getan ist und die armseligen Gebeine christlich beerdigt worden sind, wird das Böse in dieser Burg nicht mehr sein Unwesen treiben können. Kommen Sie jetzt.« Als sie zur Tür gingen, hörten sie in der oberen Etage ein wildes Gelächter. »Petronella scheint nicht mit unserem Vorhaben einverstanden zu sein«, entschuldigte sich Max. »Sie ist nun mal auf eine weitere Begegnung mit diesem Count erpicht. Ich bezweifle sehr, daß sie Ihnen auch nur einen Bruchteil Ihrer Erklärungen glaubt, John. Bei dieser Gelegenheit − ich weiß selber nicht, was ich davon halten soll. Nichts für ungut.« Das Gepäck wurde auf die Fahrzeuge geladen. Petronella kam aus der Burg und schleppte die Truhe aus Kampferholz und reichte sie mit einem seltsamen Lächeln Heimie Weiss an. Niko fuhr an O'Hagans Stelle. Er setzte sich zurecht und drückte auf den Starter. Nichts geschah. Heimie versuchte in seinem eigenen Fahrzeug dasselbe und hatte genausowenig Erfolg. Petronella begann zu kichern. Max drehte sich auf dem Absatz nach ihr um, und sein Verdacht wurde zur Gewißheit.
»Du alte Hexe!« sagte er barsch. »Du hast am Motor herumgespielt, wie? Oh, du dumme Hexe, du blödes Luder, du verkorkstes Ding, du ...« Sie lachte noch lauter und schriller. Es war ein Gelächter, das hart an Hysterie grenzte. »Ich bin verabredet, wie du dich erinnern wirst!« rief sie dabei. »Und ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine Verabredung nicht einhalten.« Und dann sprang sie so rasch, daß Max sie nicht zurückhalten konnte, vom Wagen und rannte in die düstere Burg zurück. Eine dunkle Wolke schob sich vor den letzten kleinen Halbkreis der Abendsonne, und in der Ferne hörte man den Donner rollen. Die Kampferholztruhe war zwar aufgeladen, aber es war nichts darin. Die Kleider waren bei Petronella. Sie hatte sich gerade ein Kleid ausgesucht und zog es mit feierlichen Bewegungen an. Die Kabel waren weggeräumt, auch die Scheinwerfer, und es gab in der Burg keine elektrische Beleuchtung mehr. Dafür hatte sie vier Kerzen angezündet und jeweils zwei vor dem hohen Wandspiegel aufgestellt. Dann vertiefte sie sich in die Betrachtung ihres Kleides und ihrer eigenen egoistischen Person. Und sie fühlte sich ganz wie eine Prinzessin, als sie sich das Smaragdhalsband anlegte. So etwas steckt mir im Blut, dachte sie. Don Pedro hatte es sofort gespürt. Eine Prinzessin, dachte sie. Eine Prinzessin der Azteken ... Sie wußte wenig von dieser ausgestorbenen Rasse, deren Geschichte die Geschichte Mexikos war. Sie wußte aber von den Menschenopfern, den hohen Pyramiden, den Blutaltären und den Priestern, die Menschenherzen aus zuckenden Leibern rissen. Sie war eine von ihnen. Tief in meinem Herzen, dachte sie jetzt, habe ich es schon immer gewußt. Und was die verrückten Theorien des ebenso verrückten Engländers anging, so waren das die reinsten Märchen. Wie konnte der Count tot und im Keller vermodert sein? Sie hatte mit ihm getanzt. Sie hatte ihn in ihren Armen gehalten − Arme, die Fleisch, Blut und Leidenschaft waren.
Sie hatte gute Lust, in den Keller zu gehen, sich diese Mumie zu schnappen und sie hinter ihnen herzuwerfen − nur so zum Spaß. Vielleicht würde sie das auch tun, wenn der Count kam. Vielleicht taten sie es gemeinsam. Sie konnte sich deutlich den Schock und die Furcht in ihren Gesichtern vorstellen. Es war ein angenehmer Gedanke. »Geheiligter Boden ist der einzige Ort, auf dem wir hoffen können, sicher zu sein«, sagte John Barker mit ernster Stimme. »Es gibt keine Kapelle in der Burg, das habe ich sofort feststellen können.« »Und in dem verlassenen Dorf ist eine Kirche«, sagte Heimie mit schwerer Stimme. »Sie sieht schon ziemlich baufällig aus, aber es ist eine Kirche, denke ich.« Der große Fahrer wußte nicht recht, was er von allem halten sollte. Doch Max schien es zu wissen − und wenn bei Max alles okay war, dann war auch bei ihm alles okay. Sie ließen die Fahrzeuge stehen und gingen den schlüpfrigen Pfad hinunter: der Engländer, Niko, Max, Gela und Heimie Weiss. Max' Gesicht war sehr blaß, und er drehte sich ständig um, blickte zu der dunklen Silhouette der Burg am Abendhimmel zurück. In einem Fenster waren die Kerzen zu sehen, die Petronella angezündet hatte. »Ich hätte sie nicht zurücklassen sollen«, murmelte Max. »Nein, nein ... Sie ist meine Frau. Und wenn ich sie im Stich lasse ... Nein. Ich muß noch einmal zurück!« »Halten Sie ihn fest, Heimie!« befahl der Engländer mit einer Stimme, die Heimie gehorchen ließ, ehe er sich dessen noch richtig bewußt wurde. Die kräftigen Hände des Fahrers umschlossen Max' Arme. »Komm mit uns, Petronella«, sagte er mit leiser Stimme. »Mach es uns nicht so schwer ...« Tränen liefen ihm über die Wangen, und wenn Petronella sie gesehen hätte, würde sie sicher ihren Spaß daran gehabt haben. Die Kirche war einmal ein erhabenes Gebäude gewesen; jetzt
bestand sie nur noch aus hohen Mauerresten und vermoderten Balken, die wie Knochenstümpfe in den Himmel ragten. Doch als sie durch die Tür gingen und sich dem alten steinernen Altar näherten, spürte John Barker ein wunderbares Gefühl der Erleichterung. Hier würden sie sicher sein. Der geweihte Boden existierte noch, obwohl die Kirche an sich nur noch eine Ruine war. »Bitte«, sagte Max, »laßt mich noch einmal zur Burg gehen ... Petronella ...« »Ich glaube nicht, daß sie in Gefahr ist«, entgegnete der Engländer und zog aus seinen Taschen, was er aus der Stadt mitgebracht hatte. »Die Gefahr, in der wir uns befinden, ist ungleich größer. Der Count wird Petronella nichts tun. Die beiden sind von der gleichen Art.« »Wie meinen Sie das, John?« »Es gibt zwei Menschenarten − solche, die leiden, und solche, die Leiden zufügen. Sie sollten wissen, daß Ihre Frau zu den Folterern gehört. Petronella und der Count sind aus dem gleichen Guß. Nehmt jetzt das hier.« Er gab jedem ein kleines billiges Kruzifix, das er mit einer klaren Flüssigkeit beträufelte. »Weihwasser«, erklärte er. »Zusätzlicher Schutz ... Nun müssen wir beten.« Sie knieten in den Ruinen einer Kirche vor einem vergessenen Altar; sie beteten, beteten inbrünstiger als jemals in ihrem Leben. »Was ihr auch tut«, warnte Barker, »entfernt euch nicht vom Altar. Was immer geschieht, was immer ihr seht oder hört − entfernt euch nicht vom Altar.« Und dann konnten sie nur abwarten.
Petronella hielt einen fünfarmigen Kerzenleuchter in ihrer linken Hand, als sie herumstreifte und ihre Einsamkeit in der alten Burg genoß. Eine Einsamkeit, die bald in süßester Weise enden würde. Am Fuß der Treppe drückte sie heftig auf den Pfosten, um in den mit Eisenspitzen gespickten Schacht hinunterzublicken. Ohne Mitleid blickte sie auf die gebleichten Knochen herab. Die Erregung ließ ihr Herz schneller schlagen, als sie den Pfosten in die alte Position rückte und die Falltür sich schloß. Dann ging sie weiter, betrachtete das Porträt des Count Delmorte und den Ring mit dem großen roten Stein an seiner Hand. »Ich werde diesen Ring von ihm bekommen«, sagte sie laut. »Ich werde ihn dazu bringen, daß er mir diesen Ring gibt.« Und als sie diese Worte sprach, hörte sie den bekannten willkommenen Schrei; jenen Schrei, der von den Türangeln herrührte oder das Echo dreihundert Jahre alter Schmerzensschreie war. Lächelnd drehte sie sich nach der Tür um. Zunächst erkannte sie den Count Delmorte kaum. Sein Körper war gebeugt, und seine Beine, die gestern nacht so leichtfüßig getanzt hatten, schleppten fast über den Boden. Sie rannte auf ihn zu. »Don Pedro ... Was ist geschehen?« Sein Gesicht schien eingefallen zu sein und sah wie zerknittertes Pergamentpapier aus. Der große rote Stein seines Fingerrings glühte nur schwach im Kerzenlicht. Er stammelte krächzend: »Ich brauche Hilfe ... Sie müssen mir helfen.« Seine Hand, jetzt wie eine Klaue aussehend, drückte ihren Arm. Petronella stieß einen Schmerzensschrei aus. Bei diesem Laut richtete sich sein Körper sofort ein wenig auf, und in seine Augen kehrte ein Flackern von Leben zurück. Aber seine Lippen strafften sich, als seine Hand von ihrem
Arm abfiel. »Nein«, murmelte er. »Du nicht ... Du nicht, meine Prinzessin der Azteken. Andere Schmerzen. Es muß andere Schmerzen geben ... Es muß Leiden geben, damit ich lebe.« Sie begriff den Zusammenhang nicht, aber ihr Instinkt verstand. Und der gleiche Instinkt sagte ihr, was sie zu tun hatte. Sie klatschte in ihre Hände. Als die beiden Diener heranwatschelten, deutete sie auf die Treppe. »Euer Herr gibt euch den Befehl, zur Bildergalerie hinaufzugehen!« Sie verstanden ihre Geste, wenn nicht die Worte, und sie gingen zur Treppe. Aber Petronella hatte den Treppenpfosten schon erreicht, und als die Füße der beiden die untere Stufe berührten, sackte sie unter ihrem Gewicht durch. Ihre Münder formten einen wortlosen Schrei, als sie stürzten. Petronella hielt den Leuchter in die Höhe, als sie an den Rand der fürchterlichen Grube trat und auf die spitzen Eisenpfähle hinunterblickte. Die Schritte des Counts waren schon schneller und jugendlicher. Als er neben Petronella stand und auf die beiden Gestalten blickte, die sich in schrecklichen Qualen wanden, schien neue Lebensenergie in ihn zu strömen. Der Count seufzte tief auf. »Du hast rasch gehandelt, meine Prinzessin der Azteken. Du hast sehr rasch gedacht. Jetzt verfüge ich wieder über einige Kräfte. Doch wer wird unsere Hochzeitsmusik spielen ... Es waren nützliche Diener, und sie werden schwer zu ersetzen sein. Aber das macht nichts.« Plötzlich umschlangen sie seine Arme − die Umarmung, auf die sie so sehnlich gewartet hatte, war nun Wirklichkeit geworden. Seine kalten, trockenen Lippen preßten sich auf die ihren. Diese Lippen waren, wie Petronella es schon gewußt hatte, nicht weich, feucht und sentimental, sondern so glatt wie weicher Gummi. »Das geht sehr rasch bei Ihnen, Mylord Count«, sagte sie tadelnd. »Darf nicht einmal eine Prinzessin die Situation unter
Kontrolle halten, hm?« Er lachte laut und trocken. »Tlalzacatl«, stieß er hervor, »Tlalzacatl kehrt zurück ... Oh, meine liebliche Prinzessin der Azteken ...« »Wer war sie?« fragte Petronella. »Wie ist sie gestorben? Das Mädchen, dessen Kleid ich trage.« Für einen Moment wurden die Augen des Counts von einem Schleier der Erinnerung überzogen. »Der schönste, grausamste und vollkommenste aller Töchter Montezumas, der Priesterin Quetzalcoatls. Meine Braut ...« »Die Braut Ihres Vorfahren«, korrigierte ihn Petronella. »Sie dürfen sich nicht zu sehr mit einem Mann identifizieren, der längst tot ist, Count.« »Nein ... Nicht zu sehr ...«Er lächelte plötzlich. »Sie starb sehr qualvoll, sehr schön und qualvoll. Sie war eine große Lebensquelle.« »Erzählen Sie es mir, Count. Wie starb sie?« »Sie starb auf dem Altar, dem großen Altar zu Tenochtitlan. Wir zogen sie aus und legten sie mit weichem Leder, das nicht die Schönheit ihrer Haut beeinträchtigte. Als ich ihren Ring auf meinem Finger hatte und ihre Lebenskraft die meine war, da begannen wir mit der Tortur ... Ah, wie sie schrie ...!« Der Count lachte, doch als sie sich von der Treppe entfernten, spürte sie, daß seine Kräfte wieder nachließen. »Ist alles in Ordnung?« »Noch nicht ganz. Juan und Juanito ... Sie hatten nicht viel zu bieten. Sie starben zu rasch, zu rasch ...« Sein Gesicht war schon wieder eingefallen und pergamenten. »Ich brauche mehr«, sagte er. »Ich muß mehr haben. Du mußt mir helfen. Du mußt ...« Wieder umklammerten seine Finger ihre Arme. Und plötzlich schien sie die kleinen Messer zu spüren, die auf dem Altar von Tenochtitlan in ihr Fleisch drangen. Lange Zeit hatten sie in der alten zerfallenen Kirche ge-
schwiegen. Sie knieten vor dem steinernen Altar. Donner rollte über den Himmel; gelegentlich und unvorhergesehen zuckte ein Blitz auf, der ihre Gesichter in ein steinernes Relief zu verwandeln schien. »Gleich Mitternacht«, murmelte der Engländer. »Nur noch vier Stunden bis zur Morgendämmerung. Nur noch vier Stunden.« Und während er das sagte, hallte das Trappeln von Füßen durch das leere Dorf. Es wurde ständig lauter und vermischte sich mit Wehklagen. Es waren auch die Schreie von Männern, dabei die riefen: »Tod« und »Auf zur Burg! Räuchert ihn aus!« Der Tumult zog direkt an der Kirchentür vorbei, und sie hätten den Mob sehen können − doch als der nächste Blitz niederzuckte, waren die grasüberwachsenen Straßen völlig leer. »Wir müssen beten«, sagte der Engländer ernst. »Für die Ruhe all dieser unglücklichen Geister.« Es war kurze Zeit still, und dann hörten sie deutlich die Schritte zweier Personen. In der Ferne war ein schwaches, flackerndes Leuchten zu sehen. »Max!« rief eine Stimme. »Max, komm zu mir! Ich brauche dich!« »Petronella!« Grant wollte aufspringen, doch Heimies große Faust hatte seinen Fußknöchel gepackt und hielt fest. »Lassen Sie mich los!« schrie er. »Da draußen ist meine Frau!« »Wir dürfen uns nicht vom Altar entfernen«, sagte Heimie Weiss ruhig. Er wußte nicht, was er von allem halten sollte. Aber er hatte zu dem Engländer eine Menge Vertrauen und hielt Max' Fußknöchel nur noch fester. Das flackernde Licht wurde heller. Dann erschien die Gestalt Petronellas im Türrahmen. Sie hielt einen Leuchter mit brennenden Kerzen in der Hand. »Was hast du denn, Max? Warum kommst du nicht, wenn ich dich rufe?« Sie lachte, ein Lachen, das zu ihrem Kleid paßte.
Hinter ihr stand die düstere Gestalt des Counts. Der Engländer war die einzige Person, die die müde Haltung des Counts zur Kenntnis nahm. Er zog daraus seine eigenen Schlüsse und sah einen kleinen Hoffnungsschimmer. »Wenn du nicht kommst, Max, wirst du leiden müssen ...« Max wand sich auf dem Fußboden der Kirche inmitten des Unkrauts, das zwischen den Steinplatten wucherte. »Laß mich los!« zischte er Heimie zu. Sein Gesicht war eine schmerzverzerrte Maske. »Du hast dich immer auf mich verlassen können, Max«, sagte Heimie. »Du kannst dich auch jetzt auf mich verlassen.« Petronella kam ein wenig näher und lachte wieder. »Du wirst leiden müssen, sagte ich ... Wie ist dir wohl zumute, wenn dir deine Frau direkt vor deinen Augen vormacht, was du unter einem Ehebruch verstehst?« Max begann laut zu stöhnen und wälzte sich vor Qual auf dem Boden. »Mein lieber Count«, sagte Petronella. »Finden Sie nicht auch, daß ich ungewöhnlich hübsche Beine habe?« Sie hob ihren Rock an. Der Count kniete vor ihr nieder und küßte ihre Füße. Der Spanier wurde sichtlich lebendiger, als Max Grant stöhnte, schrie und bettelte. In seinen Augen war wieder Feuer, als er seine Lippen zu Petronellas Knien hinauf bewegte. »Und was ist mit meinem Oberschenkel, Don Pedro? Haben Sie jemals etwas so Perfektes gesehen?« Max schrie jetzt, schrie um so lauter, je höher Petronella ihr Kleid anhob. In dem flackernden Kerzenlicht war jede Phase dieser grotesken, unzüchtigen Werbung zu sehen. Petronellas lange, schlanke Beine schimmerten wie Alabaster, und die Glut des roten Steins am Finger des Counts war so hell, als befände sich eine Glühbirne darin. Als Max' Qualen unmenschlich geworden waren, erloschen plötzlich die Kerzen. Von Petronella und dem Count waren nur
das Echo ihrer Schritte und ein sich entfernendes Gelächter zu hören. »Sie sind − weg!« Gela Tyrrels Stimme klang ungläubig. »Das war der Rest des heiligen Wassers«, erwiderte der Engländer. »Unsere letzte Verteidigung. Und wenn sie wiederkommen ...« Beinahe genau über ihnen schmetterte ein lauter Donnerschlag, und die ersten dicken Regentropfen zerplatschten auf den Steinplatten.
In der großen Burghalle blickte Petronella dem Count Delmorte tief in die Augen. »Das wolltest du doch, nicht wahr? Das war es, was du brauchtest?« Er nickte ernst. »Die größte aller Torturen ist die geistige Tortur. Denn jede Qual ist im Geist beheimatet, und wenn direkt der Geist herangezogen werden kann, dann ist man nicht auf die primitiven Mechanismen der Folterkammer angewiesen. Du bist meine Meisterin, Prinzessin.« Er hob sie auf, trug sie ohne jede Anstrengung die breite Treppe hinauf, den Flur entlang und in ein Schlafzimmer. »Dies war mein eigenes Zimmer, als ich hier lebte«, sagte er. »Hier brachte ich die Mädchen aus dem Dorf her, bevor ich sie in den Kerker schaffen ließ.« »Du bist nicht tot, Pedro«, sagte sie. »Und ich will einen lebenden Count.« Ihre schlanken Finger glitten über seinen Körper. Er preßte sie an sich, aber sie drückte ihn zurück. »Nichts überstürzen. Wir haben die ganze Nacht. Erzähle mir doch etwas von diesen Dorfmädchen. Erzähle mir, was du mit ihnen gemacht hast − oder besser gesagt: was der alte Count mit ihnen
machte.« Ein grausames Lächeln umspielte seine reptilienhaften Lippen, als er ihr mit ruhiger Stimme einen ganzen Katalog bestialischer Boshaftigkeiten schilderte. Und Petronella hatte verzückt die Lippen geöffnet. Sie rutschte auf dem breiten, verstaubten Bett hin und her und konnte nicht genug hören. »Wundervoll ... wundervoll ... Und das werden wir alles wiederholen, nicht wahr, Pedro? Irgendwie werden wir das können, du und ich.« »Wir werden es tun.« Ihre Hand griff nach der seinen. »Laß mich den Ring tragen«, bat sie. Der Count zögerte und streifte den Ring dann langsam von seinem Finger. »Wir sind von der gleichen Art − du und ich. Zwischen uns muß Vertrauen herrschen.« Sie nahm den Ring und blickte in seine glühenden Tiefen. »Ist er das?« fragte sie ergriffen. »Ist er da drin?« »Er ist überall.« Petronella starrte verklärt. Die rote Tiefe war wie ein Ozean, auf dem ein schnabelnasiger, gefiederter menschlicher Kopf schwamm. Der Stein strahlte Hitze aus und noch etwas, das mehr als Hitze war: ein elektrisierendes Gefühl der Macht. Sie streifte den Ring auf. »Mit diesem Ring habe ich das Gefühl, als würde mir die ganze Welt gehören, als könnte ich alles tun, alles, alles ...« Seine Hände streckten sich gierig nach ihr aus. »Jetzt können wir nur noch eins tun«, sagte er heiser, »und du weißt, was es ist.« Sie lachte abrupt, kokett, warf sich rücklings quer über das Bett und landete auf der anderen Seite auf dem Fußboden. »Zuerst mußt du mich fangen!« schrie sie entzückt. Und eine wilde Jagd begann, eine wilde, ausgelassene gespenstische Jagd. Treppauf und treppab, durch alle Schlafräume und sonstigen Zimmer. Ihr wildes Gelächter hallte durch
die Gänge. Doch endlich war Petronella des Spiels müde. Außer Atem ließ sie sich rücklings in der Halle auf den Boden fallen und zog ihr Kleid in die Höhe. »Jetzt, Pedro«, keuchte sie. »Jetzt!« Sie sah, wie er sich nach ihr bückte, und im gleichen Augenblick begann draußen ein Vogel zu trillern. Bei diesem Laut schien sein Körper zu erstarren. Er blickte ungläubig zu den Fenstern. Die erste graue Frühdämmerung war am Himmel zu sehen. »Der Morgen«, krächzte er. »Der Morgen ... Ich muß zurück.« »Wohin?« fragte Petronella. Taumelnd ging er auf die Tür im Hintergrund der Halle zu. »He! Komm zurück!« Petronella richtete sich unbefriedigt auf und starrte befremdet ihrem fliehenden Liebhaber nach. Aber dann sprang sie wie von einer Feder geschnellt hoch und nahm seine Verfolgung auf. Noch einmal die gleiche wilder Hetze, die Passage entlang und dann durch die Tür am Ende, die zum Keller führte. Aber diese Jagd hatte nichts mit dem erotischen Eifer der ersten gemeinsam − wenigstens nicht auf der Seite des Counts Delmorte. Er schleppte sich breitbeinig dahin, und sein Rücken begann sich immer stärker zu krümmen, als er tolpatschig die Treppe hinunterstolperte. Petronella hatte vor der Verfolgung instinktiv den Leuchter in die Hand genommen. Die Kerzen flackerten in dem kalten Luftzug des Kellers, als sie die spiralenfömige Steintreppe hinunterging. In dem Korridor, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, rannte der Count nicht mehr, sondern schleppte sich mit ruckartigen Schritten vorwärts. Als er sich dem Ende des Korridors, der Folterkammer näherte, stürzte er auf Hände und Knie. Petronellas eigene Schritte verlangsamten sich als die Luft sich mit einem faulen, pestilenzartigen Geruch zu füllen be-
gann. Es stank nach in Verwesung übergegangenem Fleisch, stank nach Tod und Fäulnis. Ihr Liebhaber hatte indessen fast die Tür erreicht, als seine Arme einknickten und er mit dem Gesicht auf den Boden fiel. Seine Arme streckten sich vor, tasteten nach der Tür, die er nicht erreichen konnte, nach dem Zufluchtsort, der nie mehr der seine sein würde. Seine langen Finger krümmten sich und zuckten noch ein letztes Mal. Dann lag die in roten Samt gehüllte Gestalt völlig still. Entsetzt, aber fasziniert ging Petronella langsam auf die am Boden liegende Gestalt ihres dämonischen Liebhabers zu. Zögernd streckte sie einen Fuß aus und hatte irgendwie Angst, ihn anzusehen. Aus einem Augenwinkel registrierte sie die Tatsache, daß der Ring mit dem roten Stein auf ihrem Finger nicht mehr glühte, daß er so gut wie völlig schwarz aussah. Doch dann wälzte sie die Gestalt mit dem Fuß herum. Waren das die Lippen, die sie noch vor kurzem geküßt hatten? War diese zerknitterte Pergamentmaske das Gesicht des Count Delmorte? Und wo war der geheimnisvolle Glanz seiner tief eingesunkenen Augen geblieben? Ganz gewiß hatte sie dieses verwesende Fleisch, dessen Gestank die Luft um sie herum verpestete, niemals in ihren Armen gehalten! »Nein!« schrie sie auf. »O nein ... nein ... nein!« Und der Leuchter rutschte aus ihrer kraftlosen Hand, als sie kehrt machte und sich, in der Dunkelheit ständig stolpernd, zur Treppe hastete. Es war jetzt eine Dunkelheit, die freundlicher war als das Licht. Blindlings rannte sie in die Halle, schien nicht zu wissen, was um sie herum vorging. Dann rannte sie auf die Treppe zu. Ihre Gesichtsmuskeln zuckten, aus ihren Augen strömten Tränen, die sie entweder um sich selbst oder um ihren verlorenen Count Delmorte vergoß.
Unvermeidlicherweise griff ihre tastende Hand nach dem Treppenpfosten, als sie ihren Fuß auf die erste Stufe gesetzt hatte, und die Eisenspitzen des Todes in der Fallgrube streckten sich ihrem letzten Opfer entgegen ... Im Kellergewölbe erfaßten die Flammen des Kerzenhalters, den Petronella vor Entsetzen hatte fallen lassen, den Mantel des Counts, breiteten sich blitzschnell in dem alten Holzwerk aus, prasselten und entfalteten sich zu einem größeren, gierigen Leben.
Als sie die Ruinen der Kirche verließen, konnten sie das Feuer sehen und hatten kleinen Zweifel über seine Herkunft. »Petronella!« schrie Max mit heiserer Stimme und rannte in Richtung der Burg. Diesmal hielt ihn niemand zurück, aber es versuchte auch niemand, mit ihm Schritt zu halten. Er stand vor der Burgmauer, als sie ihn endlich einholten, und starrte mit hohlen Augen in das flammende Inferno. Niemand konnte die Burg betreten, niemand konnte herauskommen. Und niemand konnte etwas tun. »Feuer − der große Reiniger«, sagte der Engländer mit milder Stimme. »Wir können wenigstens um das Heil ihrer Seelen beten.« Gela Tyrrel war neben Max getreten. Ihre Hand streichelte die seine, und ihr Mund sprach tröstend auf ihn ein. Sie spürte in ihrer Seele einen wundervollen Frieden und eine Gelöstheit, die sie schon lange nicht mehr gekannt hatte. Heimie Weiss hatte die letzten Reparaturen beendet. Die Amphibienfahrzeuge waren wieder startbereit. »Wir können rollen«, gab er bekannt. »Du brauchst nur das Zeichen zu geben, Max.«
Max warf einen letzten Blick auf das Castillo Delmorte und drehte sich dann nach den Fahrzeugen um. Der Schmerz war schon aus seinem Gesicht gewichen, und seine Augen schienen auf ein neues Ziel gerichtet zu sein. »John«, sagte er zu dem Drehbuchautor, »sobald wir in der Stadt sind, können Sie das Manuskript in Angriff nehmen.« »Das Manuskript?« In den Tränensackaugen des Engländers spiegelte sich Verwunderung. »Natürlich das Drehbuch! Und das ist praktisch so gut wie fertig. Wir bauen die Story genauso auf, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt hat. Klar? Einfach so wie die Wirklichkeit.« Er stieg auf, und Gela folgte seinem Beispiel. Niemand hatte es ihr gesagt, aber sie wußte instinktiv, daß sie jetzt immer an Max' Seite sein würde. »Anfahren!« sagte Max unternehmungslustig. »Wir haben einen Film zu machen!« ENDE
Fahren Sie gern aufs Land? Unbeschwert durch Wälder und Wiesen streifen, alte Dörfer mit Fachwerkhäusern besuchen ... schön, was? Es sei denn, Sie kommen nach Gehrdorf. Nun, äußerlich werden Sie keinen Unterschied zu Dutzenden anderer abgelegener Dörfer sehen. Vielleicht erscheint es Ihnen seltsam, daß Sie keine Menschenseele auf den Straßen sehen. Und kein einziges Kind. Vielleicht fällt ihnen auch der Hauch des Bösen auf, der über den Häusern schwebt. Und dann sehen Sie die Villa. Ein prächtiger Bau. Aber verflucht. Sehen Sie, die Selbstmordrate in Gehrdorf ist ungleich höher als in anderen Gemeinden. In den letzten drei Jahren erhängten sich hier achtunddreißig Menschen. Das heißt ... Selbstmord kann man es nicht gerade nennen. Die Leute gingen nicht freiwillig in den Tod. Sie sind neugierig geworden? Gut. Nun begehen Sie aber um Himmels willen nicht den Fehler, persönlich Gehrdorf zu besuchen. Es genügt, Hugh Walkers nächsten Roman zu lesen. Das werden Sie zumindest überleben ...
DIE GELBE VILLA DER SELBSTMÖRDER Ein Roman von Hugh Walker