Gerald Durrell
Eine Verwandte namens Rosy Eine fast wahre Geschichte
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Zu diesem Buch Man spricht so leichthin vom...
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Gerald Durrell
Eine Verwandte namens Rosy Eine fast wahre Geschichte
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Zu diesem Buch Man spricht so leichthin vom lachenden Erben, und jeder kennt das Sprichwort vom geschenkten Gaul. Was aber, wenn das Erbe eines verschollen geglaubten oder längst vergessenen Verwandten aus einem leibhaftigen Dickhäuter von gut einer Tonne Lebendgewicht besteht? Vor dieses Problem sieht sich Adrian gestellt, bei dem frei Haus und ohne Umtauschmöglichkeiten die langjährige «Lebensgefährtin» seines Onkels abgeliefert wird: ein Elefant namens Rosy. Die abenteuerlichen und komischen Geschichten, die Adrian mit seiner Verwandten erlebt, werden in diesem liebenswürdig-ausgelassenen Buch erzählt. Adrian begibt sich mit Rosy auf Wanderschaft, in der Hoffnung, einen Zirkus zu finden, dem er seinen Schützling anvertrauen kann. Allerdings hat die ganze Sache einen Haken. Denn Rosy ist zwar im allgemeinen brav und folgsam, hat aber eine Neigung, die ihren Besitzer in große Schwierigkeiten bringt: die unbesiegbare, fatale Neigung zu geistigen Getränken. Bier, Gin, edle Weine, billige Fusel – nichts dergleichen ist vor ihr sicher, und hat sie einmal getrunken, ist sie unberechenbar. Sie bringt Adrian damit in vertrackte (unangenehme) Situationen, so daß er am Ende verhaftet wird und in die Mühlen des Gesetzes gerät. Er soll für Rosys Untaten im Gefängnis büßen. Wie sich dann schließlich in einer turbulenten Gerichtsverhandlung doch noch alles zum Guten wendet, das soll hier nicht verraten werden. Nur soviel sei noch gesagt: wer Spaß an spritzig-komischen Episoden hat, wer besten englischen Humor schätzt und sich von einem Buch gern gefangennehmen läßt, der wird hier nicht enttäuscht. Gerald Durrell, 1925 in Jamshedpur/Indien geboren, ein Bruder von Lawrence Durrell, studierte in Europa Naturwissenschaften. Im Alter von 22 Jahren entschloß er sich, Tierfänger zu werden. Verschiedene Expeditionen führten ihn auf der Suche nach seltenen Tieren nach Britisch-Kamerun und Britisch-Guayana. Als er 1950 an Malaria erkrankte und einige Zeit aussetzen mußte, begann er zu schreiben und für den Rundfunk zu arbeiten. Seine Frau Jacqueline gab eine vielversprechende Karriere als Opernsängerin auf, um ihrem Mann überallhin folgen zu können. Von einer Expedition nach Paraguay brachten die beiden zweitausend südamerikanische Tiere heim.
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Die Originalausgabe erschien beim Verlag Collins, London, unter dem Titel «Rosy is My Relative» Aus dem Englischen übertragen von Anne Uhde Umschlagentwurf Horst Lemke Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juni 1972 Copyright © 1969 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Rosy is My Relative» © Gerald Durrell, 1968 Alle Rechte vorbehalten Satz Aldus (Linofilm-Super-Quick) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 480-ISBN 3 499 11.510
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Für
NOEL COWARD,
der eine Schwäche für Dickhäuter hat
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Viele Leser werden mir nicht glauben, was ich in diesem Buch erzähle, deshalb möchte ich hier darauf hinweisen, daß es sich um eine fast wahre Geschichte handelt. Rosy und Adrian Rookwhistle haben tatsächlich existiert – ich hatte sogar das Glück, Rosy selbst kennenzulernen. Und fast alle Ereignisse, die ich hier beschreibe, haben sich tatsächlich abgespielt. Ich habe sie nur hier und da ein bißchen ausgeschmückt. Danken möchte ich an dieser Stelle vor allem Eileen Molony. Sie hat mich auf Rosy und Adrian Rookwhistle aufmerksam gemacht und mir damit sozusagen die Feder in die Hand gedrückt. Ebenso möchte ich Lord Coutanche sowie Sir Robert Le Masurier, dem Bailiff von Jersey, und seinem Sekretär Cutland dafür danken, daß ich an den Gerichtsverhandlungen im Royal Court in St. Helier teilnehmen durfte und mir einen Eindruck von dem verschaffen konnte, was Schriftsteller gern etwas großspurig «Atmosphäre» nennen. Dankbar bin ich auch John Langin, der die entsprechenden Abschnitte meines Buches gelesen und mich in einigen juristischen Fragen beraten hat. Ich möchte jedoch betonen, daß meine Auslegung der Gesetze mit der in Jersey geübten Rechtsprechung nicht das geringste zu tun hat. Dank gebührt ferner Mr. Swanson, der mir erlaubte, einen Blick hinter die Kulissen des Royal Opera House zu tun, und Douglas Matthews von der London Library, der mir mit großer Mühe und Geduld Literatur über die Zeit, in der mein Buch spielt, herausgesucht hat. Ganz besonders möchte ich meiner Sekretärin Doreen Evans danken. Es ist ein glücklicher Zufall, daß sie, bevor sie zu mir kam, bei der Justizbehörde tätig war und mir deshalb bei der Arbeit viele wertvolle Hinweise geben konnte. Gerald Durrell
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Ein unglaublicher Onkel Adrian Rookwhistle ahnte nicht, was für ein Unheil auf ihn zukam. In Hemdsärmeln stand er vor dem Spiegel und schnitt Grimassen. Es war sieben Uhr. Jeden Morgen um diese Zeit stand er so in seiner Dachkammer und hielt Zwiesprache mit sich selbst. Der Spiegel war groß, hatte einen breiten Goldrahmen, und das bleigraue Glas war fleckig wie ein zugefrorener See nach einem langen harten Winter. Adrian und das Zimmer erschienen darin wie in Nebel getaucht – so als betrachte jemand das Ganze durch ein großes Spinnweb. Feindselig blickte Adrian den Mann im Spiegel an. «Dreißig Jahre!» sagte er vorwurfsvoll. «Dreißig Jahre… die Hälfte deines Lebens! Und was hast du bisher erlebt? Was hast du erreicht? Nichts.» Mürrisch blickte er in den Spiegel. Was er sah, gefiel ihm nicht: das widerspenstige dunkle Haar, das mit noch so viel Wasser nicht glatt anliegen wollte; die seelenvollen dunklen Augen und der große Mund. Ausgesprochen häßlich, stellte er fest. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, verzog den Mund zu einem möglichst höhnischen Grinsen, atmete kräftig durch die Nase und ließ eindrucksvoll die Nasenflügel beben. «Sir», schnaubte er zähneknirschend, «geben Sie die Dame frei, sonst sehe ich mich gezwungen, mich ernsthaft mit Ihnen zu befassen. Sie sind zwar ein Hohlkopf, aber es dürfte Ihnen immerhin bekannt sein, daß ich der beste Fechter außerhalb Frankreichs bin.» Er hielt inne und starrte sein Spiegelbild an. Er war natürlich nicht unvoreingenommen, aber wie der beste Fechter außerhalb Frankreichs sah er nicht gerade aus. Er sehnte sich schon seit langem nach einem Abenteuer – aber Menschen mit so einem Gesicht waren wohl keine beschieden. Einmal wäre es fast dazu gekommen (und er errötete noch heute, wenn er daran dachte): stürmisch hatte er zugepackt, als er seine große Stunde gekommen glaubte, und war dem (wie er meinte) durchgehenden Gaul eines Pferdeomnibusses in die Zügel gefallen. Es stellte sich dann allerdings heraus, daß er einen Feuerlöschwagen, der zu eiliger Hilfeleistung unterwegs war, aufgehalten hatte. Adrian hatte sich bei dieser Aktion das Bein gebrochen – eine lächerliche Kleinigkeit, verglichen mit der Verwarnung, die ihm der Magistrat zuteil werden ließ, und mit der betrüblichen Tatsache, daß das in Flammen stehende Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Adrian verdankte seine Existenz der Verbindung des Pfarrers Sebastian Rookwhistle mit Rowena Rookwhistle. Im Laufe einer langen und außerordentlich langweiligen Ehe, die ausschließlich Gottes Geboten gewidmet war, hatten ihn seine Eltern in einem Augenblick sündhafter Verwirrung gezeugt. Lange Zeit war Adrian der Überzeugung gewesen, sein Vater sei im ganzen Lande der einzige Mensch, der direkten Zugang zum Allmächtigen habe. Adrians Erscheinen war von seinem Vater mit einer gewissen Verlegenheit, von seiner Mutter mit der Miene frohgemuter Überraschung begrüßt worden. Aufgewachsen war er in Meadowsweet. Seine Kindheit war so mustergültig, so ereignislos und so öde gewesen, daß er sich an Einzelheiten kaum erinnerte. Meadowsweet war eines jener kleinen entlegenen Dörfer, in denen sich die Gespräche in Form von unartikulierten Grunzern um meteorologische und landwirtschaftliche Themen drehten. Daß die Kuh des Farmers Raddle einmal Zwillingskälber geboren hatte, blieb zehn Jahre lang die große Sensation des Dörfchens. Hier wuchs Adrian auf. Die einzigen Abwechslungen waren das Glockengeläut, die wöchentlichen Nachmittagstees im Pfarrhaus und die Besuche bei kranken Gemeindemitgliedern, die nicht mehr die Kraft hatten, sich gegen die lautstarke Nächstenliebe Pfarrer Rookwhistles zur Wehr zu setzen. Als Adrian zwanzig war, verließen seine Eltern, sozusagen wie aus heiterem Himmel,
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beide das irdische Jammertal. Der Allmächtige hatte es in einem Moment der Zerstreutheit versäumt, Pfarrer Rookwhistle davon zu unterrichten, daß die Brücke zwischen den beiden Dörfern Meadowsweet und Hellebore weggeschwemmt worden war. So stand Adrian ohne Vater, Mutter und Pfarrhaus da. An Ersparnissen war so gut wie nichts vorhanden; er mußte sich also nach einem Broterwerb umsehen. An einem hellen Sommertag des Jahres 1890 machte er sich daher, ausgerüstet mit dem Empfehlungsbrief eines väterlichen Freundes, auf den Weg in die große, weite, ratternde und rauchgeschwärzte Stadt und nahm eine Stellung in der höchst angesehenen Firma Bindweed, Cornelius & Chunter an, die die besseren Stände mit Gemüse und Obst belieferte. Hier war er nun schon zehn arbeitsreiche und ereignisarme Jahre bei dem fürstlichen Salär von fünfzehn Shilling pro Woche tätig. Aber seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, das Leben habe vielleicht noch anderes zu bieten als die Einbalsamierung im Mausoleum von Bindweed, Cornelius & Chunter. Allmählich konnte er nichts anderes mehr denken. Auch zu dem Mann im Spiegel sprach er jetzt darüber, während er im Zimmer hin und her ging und sich gelegentlich mit einem Seitenblick vergewisserte, daß er noch da war. «Andere Leute… andere Leute führen ein interessantes, aufregendes Leben. Denen passiert immer irgendwas… Abenteuerliches. Warum nicht mir, bitte schön?» Er baute sich vor dem Spiegel auf, kniff wieder die Augen zusammen und grinste höhnisch. «Ich habe Sie gewarnt, Sir», schnarrte er mit vor Erregung bebender Stimme. «Geben Sie die Dame frei oder, bei Gott! Sie werden es bereuen.» Seine Hand machte eine kurze, zustechende Bewegung und stieß an die Haarbürste, die polternd zu Boden fiel. Er war so ins Selbstgespräch vertieft, daß er das langsame, keuchende Stampfen, das einen der seltenen Besuche seiner Wirtin ankündigte, nicht wahrnahm und, als jetzt polternd an die Tür geklopft wurde, so zusammenschrak, daß er in Gedanken seinen Degen fallen ließ. «Sind Sie da, Mr. Rookwhistle?» erkundigte sich Mrs. Lavinia Dredge mit durchdringendem Bariton. Es klang, als habe sie nie erwartet, ihn ausgerechnet hier anzutreffen. «O ja, Mrs. Dredge», rief Adrian und warf hastig einen prüfenden Blick um sich. Hoffentlich fand sie nichts zu beanstanden. «Bitte, kommen Sie doch herein.» Mrs. Dredge stieß die Tür auf und lehnte sich dagegen. Sie keuchte wie ein Leviathan, der soeben aus einer Tiefe von mehreren hundert Klaftern zur Oberfläche aufgestiegen ist. Sie hatte den kräftigen Knochenbau eines besseren Ackerpferdes und schleppte einige Zentner weiches, qualliges Fleisch mit sich herum. Um die Massen im Zaum zu halten, bedurfte es einer sinnreichen Konstruktion aus Fischbein, Leinen und Gummi, und das war der Grund, warum es bei Mrs. Dredge mit jedem Atemzug beängstigend quietschte und ächzte. Das schwarze Haar war hochgesteckt und wurde von einem Wald von Haarnadeln festgehalten. Um den voluminösen Hals hingen pfundweise Ketten und Anhänger, die klirrten und klingelten, wenn sich der gewaltige Busen hob und senkte. Ihr Erscheinen am frühen Morgen erschreckte Adrian nicht wenig. Was hatte er nun wieder verbrochen? Er wußte genau, er hatte sich gestern abend beim Heimkommen die Füße gut abgetreten; das konnte es also nicht sein. Hatte er vergessen, die Katze hinauszulassen? Nein, das war es auch nicht. Hatte er die Badewanne nicht saubergemacht? «Wollten Sie… äh… zu mir?» sagte er. Eine höchst alberne Frage, in der Tat. Mrs. Dredge hätte wohl kaum ihre überquellenden Fleischmassen drei
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Treppen hinaufgewälzt, wenn sie nicht zu ihm gewollt hätte. Aber so kunstvoll war nun einmal die englische Konversation. Ja, räumte Mrs. Dredge jetzt ein, sie wolle zu ihm. Zunächst jedoch rümpfte sie Nase und Oberlippe und schnaubte so laut und heftig, daß ihr gutentwickelter Schnurrbart bebte. «Sie haben doch hier nicht etwa geraucht, Mr. Rookwhistle?» fragte sie ungnädig. «Nein, nein. Lieber Himmel, nein!» beteuerte Adrian und überlegte, ob die scharfen kleinen Rosinenaugen seine Pfeife irgendwo entdecken könnten. «So. Das freut mich», sagte Mrs. Dredge befriedigt und ächzte tief auf, was mehrere musikalische Wehklagen in ihrem Gestänge auslöste. «Mein Mann raucht niemals zu Hause.» Adrian wußte, seit er die ersten Worte mit Mrs. Dredge gewechselt hatte, daß ihr Mann tot war (wahrscheinlich erdrückt, nahm Adrian an). Mrs. Dredge jedoch glaubte fest an ein Weiterleben nach dem Tode und sprach von ihm stets, als weile er noch unter den Lebenden. Es war etwas beklemmend, und manchmal hatte Adrian die gräßliche Vorstellung, er werde eines Tages einem säuberlich mit Roßhaar und Glasaugen ausgestopften Mr. Dredge in der Diele oder auf dem Treppenabsatz gegenüberstehen. «Ich bin heraufgekommen, um Sie zu wecken», fuhr Mrs. Dredge fort. «Ich dachte, Sie hätten vielleicht verschlafen.» «Oh… vielen Dank, das ist sehr freundlich», sagte Adrian, verwirrt von dieser plötzlichen und bisher nie dagewesenen Hilfsbereitschaft. «Und außerdem», sagte Mrs. Dredge und sah ihn mit den kleinen schwarzen Augen durchbohrend an, «ist ein Brief für Sie gekommen.» Das war für Adrian die unwahrscheinlichste aller Nachrichten. Seit dem Tode seiner Eltern hatte er keinen einzigen Brief mehr bekommen. Seine wenigen Freunde wohnten so nahe, daß sie die Post nicht zu bemühen brauchten. «Ein Brief? Sind Sie ganz sicher, Mrs. Dredge?» fragte er betroffen. «Ja», erwiderte Mrs. Dredge fest. «Ein Brief an Sie. In einem Umschlag», fügte sie hinzu, als sei damit jeder Zweifel behoben. Adrian starrte sie an. Mit gerötetem Gesicht sagte sie beleidigt und von oben herab: «Mein Mann erhält täglich Briefe, ich werde also wohl wissen, wovon ich rede.» «Aber ja… selbstverständlich», sagte Adrian eilig. «Es kommt mir bloß so sonderbar vor. Wer mir nur schreiben mag? Vielen Dank jedenfalls, Mrs. Dredge, daß Sie extra heraufgekommen sind. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.» «Oh, bitte sehr», antwortete Mrs. Dredge leutselig und schwenkte ihren majestätischen Bug der Treppe zu. «Mein Mann sagt immer, man soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Bloß kommt man selber öfter dran und der Nächste nicht so oft.» Mit diesen Worten quietschte und ächzte sie die Treppe hinunter. Adrian schloß die Tür und nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Wer um alles in der Welt konnte ihm geschrieben haben? Langsam legte er Kragen und Schlips an, und während er mit den Armen in die Jacke fuhr, kam er zu dem Schluß, daß niemand außer Bindweed, Cornelius & Chunter sich in die Unkosten einer Briefmarke für ihn gestürzt haben konnte, und das womöglich, um ihm mitzuteilen, daß man seiner Dienste nicht länger bedürfe. Böser Ahnungen voll, stieg er nach unten und betrat die Küche, wo Mrs. Dredge sich wie allmorgendlich mit Töpfen, Pfannen und anderen Utensilien herumschlug, die den meisten Frauen Freude machen, von ihr jedoch als eine Phalanx unversöhnlicher Feinde betrachtet wurden. Adrian setzte sich an den Tisch und sah gleich den Umschlag, der neben seinem Teller lag und mit großen, gestochenen Buchstaben seinen Namen und seine Adresse trug. Mrs. Dredge nahm einen Topf vom Herd und schaufelte die verkohlten Reste einer
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Blutwurst auf seinen Teller. Beide husteten verstohlen, als ihnen der Qualm in die Nase stieg. «Mein Mann ißt Blutwurst sehr gern», sagte Mrs. Dredge nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. «Tatsächlich?» fragte Adrian und stocherte mit der Gabel in der schwarzen Masse herum. «Ja, sie ist sicher sehr gesund.» «Das will ich meinen… sie hält ihn auf den Beinen», sagte Mrs. Dredge befriedigt. Adrian schob sich von der glühendheißen ledrigen Masse eine Gabelvoll in den Mund und versuchte, ein entzücktes Gesicht zu machen. «Schmeckt gut, was?» Mrs. Dredge beobachtete ihn mit Argusaugen. «Köstlich!» sagte Adrian, der sich kräftig die Zunge verbrannt hatte. Mrs. Dredge ließ sich schwer auf ihren Stuhl fallen und schob den mächtigen Busen auf der Tischplatte zurecht. «Na?» fragte sie dann ermunternd und blickte auf den Brief. «Wollen Sie ihn nicht aufmachen?» «O doch, gleich», erwiderte Adrian. Ihm war die Lust vergangen, den Brief überhaupt zu öffnen. «Die Blutwurst ist wirklich ausgezeichnet, Mrs. Dredge.» Aber von gastronomischen Komplimenten ließ sich seine Wirtin jetzt nicht ablenken. «Kann ja was Wichtiges drinstehen», sagte sie. Adrian seufzte und nahm den Brief in die Hand. Sie gab ihm ja doch keine Ruhe, bis er ihn aufgemacht und ihr den Inhalt mitgeteilt hatte, das wußte er. Ihr Blick war noch immer auf ihn gerichtet. Er riß den Umschlag auf und entfaltete die beiden Bogen, die er enthielt. Gleich die ersten Worte verblüfften ihn: «Mein lieber Neffe.» Dunkel erinnerte er sich, daß, als er zehn Jahre alt war, sein Onkel Arnos eines Tages unangemeldet im Pfarrhaus erschien, begleitet von drei trübe blickenden Collies und einem grünen Papagei, der über einen reichhaltigen, aber ziemlich derben Wortschatz verfügte. Der Onkel war ein liebevoller und lustiger Mann; aber sein unvorhergesehenes Kommen und die sprachlichen Fertigkeiten seines Papageis hatten die christliche Nächstenliebe des Pfarrers Rookwhistle auf eine harte Probe gestellt. Der Onkel war ein paar Tage geblieben und verschwand dann ebenso plötzlich, wie er gekommen war. Der Pfarrer hatte später seinem Sohn anvertraut, Onkel Arnos sei das schwarze Schaf der Familie, es fehlte ihm an «moralischem Rückgrat», und da es sich allem Anschein nach um ein heikles Thema handelte, hatte Adrian nie wieder nach seinem Onkel gefragt. Er las den Brief mit wachsender Verblüffung und hatte plötzlich das sichere Gefühl, sein Magen drehe sich samt Blutwurst um. Mein lieber Neffe, Du wirst Dich wahrscheinlich jenes Tages nicht mehr erinnern, an dem wir uns vor Jahren in dem widerwärtigen Pfarrhaus, an dem Deine Eltern so hingen, kennenlernten. Ich habe von ihrem Ableben vernommen, freilich ohne allzu große Trauer, denn bei jeder Unterhaltung gaben mir beide, Dein Vater und Deine Mutter, doch immer wieder zu verstehen, daß sie keinen innigeren Wunsch auf der Welt hätten, als dieselbe zu verlassen und am Busen des Herrn zu ruhen. Jedenfalls hat es danach den Anschein, daß Du mein einziger lebender Verwandter bist. Soweit ich mich erinnere, warst Du damals ein recht netter Junge; doch weiß ich natürlich nicht, ob Deine Eltern Dir nicht vielleicht in ihren letzten Jahren den Kopf mit allerhand seltsamen Flausen
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und törichtem Zeug vollgestopft haben. Doch wie dem auch sei: ich bin an einem Punkt angelangt, da ich das Schicksal nehmen muß, wie es kommt. Der Quacksalber hier am Ort hat mich davon unterrichtet, daß ich nicht mehr lange zu leben habe. Der Gedanke erschreckt mich nicht sonderlich, denn ich habe mein Leben genossen und habe so gut wie alle reizvollen Sünden begangen. Was mir jedoch Sorge bereitet, ist das Schicksal meiner Partnerin. Sie ist nun seit achtzehn Jahren bei mir, und wir haben gute und böse Zeiten miteinander durchgestanden. Ich möchte daher nicht, daß sie nach meinem Ableben allein in der Welt dasteht, ohne einen Mann, der für sie sorgt. Ich schreibe ‹Mann› mit Vorbedacht, denn für ihre Geschlechtsgenossinnen hat sie nicht viel übrig. Nach langen Überlegungen bin ich zu dem Schluß gekommen, daß Dir als meinem letzten lebenden Anverwandten diese Aufgabe zufallen soll. Sie wird Deinen Beutel nicht allzusehr belasten. Wenn Du die Bankfirma Ammassor & Twist, 110 Cottonwall Street, aufsuchst, so wird man Dir bestätigen, daß dort auf Deinen Namen ein Betrag von 500 Pfund hinterlegt ist. Ich bitte dich, diese Summe für Rosys Unterhalt zu verwenden, damit sie in dem Stil weiterleben kann, den sie gewohnt ist. Szenen am Sterbebett sind immer recht unerfreulich. Daher schicke ich Rosy unverzüglich zu Dir, damit ihr mein Anblick, wenn ich den letzten Seufzer tue, erspart bleibe. Sie wird fast gleichzeitig mit diesem Brief bei Dir ankommen. Was immer Dein Vater von mir (sicher zutreffend) gesagt haben mag: diese meine letzte ist jedenfalls eine gute Tat in einem sonst angenehm liederlichen Leben. Dein Vater war zwar ein ziemlicher Schwachkopf, aber er hat sich stets der Unglücklichen angenommen, die allein auf der Welt waren, und ich kann nur hoffen, daß Du diesen Zug von ihm geerbt hast. Ich bitte Dich daher, tu für Rosy, was Du kannst. Ihr hat das alles einen ziemlichen Schock versetzt, und es wäre mir lieb, wenn Du Dich ihrer annehmen und sie in ihrem Kummer trösten würdest. Dein Dich sehr liebender Onkel Arnos Rookwhistle PS. Ich darf Dir etwas nicht verschweigen, woran ich, wie ich fürchte, zum Teil selbst schuld bin: Rosy hat leider eine Schwäche für das, was Dein Vater (dem es an abgedroschenen Phrasen nicht mangelte) den ‹Dämon Alkohol› nannte. Ich bitte Dich deshalb, auf ihren Alkoholverbrauch zu achten; wenn sie zuviel trinkt, ist nichts mit ihr anzufangen. Doch das geht ja leider vielen so. A. R.
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Gespannte Erwartung Für Adrian hatte sich die Welt verfinstert; eiskalt lief ihm der Schweiß, ohne Rücksicht auf das Gesetz der Schwerkraft, den Rücken hinauf und herunter. In seinen Ohren dröhnte es, und er hörte Mrs. Dredges Stimme nur undeutlich. «Na?» fragte sie. «Was steht drin?» Um Gottes willen, dachte Adrian, das kann ich ihr unmöglich sagen. «Es ist… äh… der Brief kommt… äh… von einem Freund meines Vaters», sagte er und suchte fieberhaft nach Ausflüchten. «Er dachte, es interessiere mich, was im Dorfe so vor sich geht.» «Nach zehn Jahren?» schnaubte Mrs. Dredge. «Da hat er sich aber Zeit gelassen, das muß man sagen.» «Ja… ja, das ist wahr. Viel Zeit», gab Adrian zu, faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Tasche. Mrs. Dredge war jedoch nicht bereit, sich mit einem kurzen Resümee zufriedenzugeben. Fing sie erst einmal an, vom tragischen Ableben ihres Mannes zu erzählen, so tat sie das nicht unter anderthalb Stunden. Die flüchtige Andeutung über den Inhalt des Briefes genügte ihr also keineswegs. «Na – und wie geht es denn allen?» erkundigte sie sich. «Oh», sagte Adrian, «recht gut – sie scheinen alle gesund zu sein.» Die kleinen schwarzen Augen fest auf ihn gerichtet, harrte Mrs. Dredge weiterer Einzelheiten. «Einige Leute, die ich kannte, haben geheiratet», fuhr Adrian eilig und angstvoll fort, «und… und einige haben Kinder bekommen.» In den Augen von Mrs. Dredge leuchtete ein Hoffnungsfunken auf. «Sie meinen, die, die geheiratet haben, haben Kinder bekommen, ja? Oder die anderen?» «Beide», sagte Adrian vorschnell. «Nein, nein – ich meine natürlich die, die geheiratet haben. Na, jedenfalls… jedenfalls sind sie alle ganz… ganz munter, und ich muß ihnen jetzt mal schreiben und gratulieren.» «Sie meinen, Sie wollen denen gratulieren, die geheiratet haben?» Mrs. Dredge war für Klarheit. «Ja», sagte Adrian bereitwillig. «Und den anderen, die Kinder bekommen haben, natürlich auch.» Mrs. Dredge seufzte. Wie konnte man eine Geschichte nur so verderben! Wäre das ihr Brief gewesen, so hätte sie seinen Inhalt nur portionsweise aufgetischt und Adrian eine Woche lang mit kleinen Informationshäppchen gefüttert. «Na schön», sagte sie philosophisch und hievte sich schwerfällig hoch. «Da haben Sie abends wenigstens was zu tun.» Hastig und noch völlig benommen von dem Schock des Briefes stopfte Adrian den wenig verlockenden Rest der Blutwurst in sich hinein, spülte ihn mit einem Schluck Tee hinunter und stand vom Tisch auf. «Sie wollen schon gehen?» fragte Mrs. Dredge mißbilligend. «Ja. Ich muß noch bei Mr. Pucklehammer hereinschauen», gab Adrian zur Antwort. «Mit dem sollten Sie sich gar nicht so viel abgeben», sagte Mrs. Dredge streng. «Der könnte auf einen ordentlichen jungen Mann wie Sie einen ganz üblen Einfluß haben.» «Ja, da mögen Sie wohl recht haben», sagte Adrian ergeben. Mr. Pucklehammer gehörte zu seinen besten Freunden, aber er hatte im Augenblick keine Lust, sich darüber auszulassen.
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«Kommen Sie nicht zu spät zum Essen», mahnte Mrs. Dredge. «Ich hab ein schönes Stück Dorsch gekauft.» Adrian fand zwar diesen Anreiz ziemlich dürftig, erwiderte jedoch eilig: «Nein, nein, ich werde pünktlich dasein», und floh aus dem Hause, bevor Mrs. Dredge ihn mit einem neuen Gesprächsthema aufhalten konnte. Mr. Pucklehammer war von Beruf Tischler und Sargmacher; seine geräumige Werkstatt lag etwa vierhundert Meter von Mrs. Dredges Haus entfernt. Adrian hatte ihn vor einigen Jahren wegen einer kleinen Reparatur an seinem großen Holzkoffer aufgesucht. Er und Mr. Pucklehammer hatten sofort aneinander Gefallen gefunden und waren die besten Freunde geworden. Adrian war sonst recht scheu und schloß sich nicht leicht an. Mr. Pucklehammer war für ihn bald so etwas wie sein Beichtvater geworden. Deshalb hatte er auch jetzt nur den Wunsch, so schnell wie möglich zu ihm zu kommen und ihn wegen des Briefes um Rat zu fragen, der die Grundfesten seiner kleinen ordentlichen Welt zu erschüttern drohte. Mr. Pucklehammer, da war er ganz sicher, wußte Rat. Während er eilig die Straße hinunterschritt, dachte er an seinen Vater und fand, er habe eigentlich doch recht gehabt mit seinem Urteil über Onkel Arnos’ Charakter. Wie konnte einer so etwas tun? Abgesehen von dem Geld (zugegeben, das war anständig), wie konnte jemand einem unschuldigen Neffen ohne weiteres eine Dame unbestimmten Alters mit einer Schwäche für die Flasche aufhalsen. So etwas war doch kaum zu fassen. Plötzlich kam ihm ein furchtbarer Gedanke, und er blieb so jäh stehen, daß ihm der Hut vom Kopf fiel. Dunkel erinnerte er sich, daß sein Vater einmal erzählt hatte, Onkel Arnos habe im Zirkus und auf Jahrmärkten gearbeitet, was, um Gottes willen, sollte er tun, wenn diese Rosy eine Akrobatin war oder – schlimmer noch – eins von diesen zweifelhaften Frauenzimmern, die in Glitzerhosen auf dem Pferderücken durch die Manege jagten? Es war schlimm genug, wenn einem plötzlich eine Akrobatin in den Schoß fiel, aber eine alkoholische Akrobatin: das war nun wirklich zu viel. Wie konnte sein Onkel ihm nur so etwas antun? Verzweifelt raffte Adrian seinen Hut auf und erreichte Mr. Pucklehammers Hof fast im Laufschritt. Mr. Pucklehammer saß auf einem gerade fertiggestellten Sarg und frühstückte gemütlich, einen Krug Bier und ein Käsebrot von ungewöhnlichen Ausmaßen in der Hand. Er war ein kleiner untersetzter Mann mit dem Gesicht einer freundlichen Bulldogge. In seiner Jugend war er unter anderem auch Champion im Ringkampf und Gewichtheben gewesen. Von den Anstrengungen dieser Karriere hatte er eine Muskelstarre zurückbehalten, so daß er sich heute, obwohl Muskeln und Sehnen knotig hervorstanden, nur mühsam bewegen konnte. «Hallo, mein Junge», rief er Adrian zu und schwenkte freundlich das Käsebrot. «Frühstückst du mit? Wie ist es mit einem Schluck Bier?» «Nein, nein», sagte Adrian atemlos und bleich vor Erregung. «Ich brauche Ihren Rat.» «Nanu?» sagte Mr. Pucklehammer und zog die Brauen hoch. «Was gibt’s denn? Du siehst ja aus, als war dir ein Gespenst begegnet.» «Ach… viel schlimmer, viel schlimmer», gab Adrian dramatisch zur Antwort. «Ich bin ein ruinierter Mann. Hier – lesen Sie das mal.» Er warf Mr. Pucklehammer den Brief zu. Mr. Pucklehammer betrachtete ihn interessiert. «Ja», sagte er dann, «aber ich kann nicht lesen. Irgendwie hab ich nie Zeit gehabt, es zu lernen. Immer gab’s was anderes zu tun. Lies du ihn mir vor.» Mit vor Erregung bebender Stimme las Adrian den Brief von Onkel Arnos vor. Er kam zum Ende und schwieg. Auch Mr. Pucklehammer schwieg; er hatte einen kräftigen Biß in
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sein Brot getan und kaute langsam und nachdenklich vor sich hin. «So», sagte Adrian schließlich. «Und was soll ich nun tun?» «Tun?» fragte Mr. Pucklehammer erstaunt und schluckte kräftig. «Wieso tun? Du tust genau das, was dein Onkel gesagt hat.» Adrian blickte seinen Freund betroffen an. Hatte Pucklehammer den Brief mißverstanden, oder war er von Sinnen? «Wie kann ich das?» sagte er mit erhobener Stimme. «Wie kann ich eine fremde Frau zu mir nehmen… eine fremde Frau, die auch noch trinkt? Das würde Mrs. Dredge niemals erlauben… und ich muß ja auch an meine Stellung denken. Mein Gott, wenn sie das erfahren, werden sie mir sofort kündigen. Und wenn sie nun so eine… so eine Akrobatin ist, was mache ich dann?» «Ich verstehe nicht, was daran so schlimm sein soll», sagte Mr. Pucklehammer gelassen. «So eine hab ich auch mal gesehen. Ganz schön stramm und knusprig war die. War über und über mit Flitterkram bedeckt. Süße Puppe, wirklich.» «Allmächtiger», sagte Adrian verstört. «Wenn sie bloß nicht so hier ankommt… in so einem Flitterkostüm…» «Also eins steht fest», sagte Mr. Pucklehammer nachdenklich. «Fünfhundert Pfund sind eine ganz schöne Summe – eine wirklich schöne Summe. Damit könntest du glatt deine Stellung aufgeben. Du hast doch oft gesagt, daß du dazu Lust hättest.» «Und was fang ich mit dem betrunkenen Frauenzimmer an?» fragte Adrian sarkastisch. «Nun, von hundertzwanzig Pfund im Jahr könnt ihr beiden bequem leben, und in vier Jahren machst du dann ein kleines Geschäft auf», meinte Mr. Pucklehammer. «Wenn sie früher auf dem Jahrmarkt war, dann könnt ihr ja ein Kasperletheater aufmachen. Ich hab noch ein paar Puppen, die würd ich dir billig überlassen.» «Ich habe nicht die Absicht, die nächsten vier Jahre mit einer strammen, flitterbehängten Trinkerin Kasperletheater zu spielen», sagte Adrian laut und mit Nachdruck. «Haben Sie keinen vernünftigeren Vorschlag?» «Ich weiß gar nicht, warum du dich überhaupt so aufregst», wies ihn Mr. Pucklehammer zurecht. «Du hast eine schöne Erbschaft gemacht und kriegst obendrein noch eine Frau. Viele junge Leute wären gern an deiner Stelle.» «Ich wollte, sie wären an meiner Stelle», sagte Adrian verzweifelt. «Wenn sie den Rest ihres Lebens mit einer betrunkenen Akrobatin verbringen wollen – meinen Segen haben sie.» «Nun – dein Onkel hat nicht gesagt, daß sie ständig betrunken ist», gab Mr. Pucklehammer zu bedenken. «Vielleicht ist sie sehr nett. Warum wartest du nicht erst einmal ab und siehst sie dir an, wenn sie kommt?» «Ich kann mir gut vorstellen, wie sie ist, und mir wird ganz übel, wenn ich daran denke», sagte Adrian. «Ich weiß ja nicht mal ihren Nachnamen.» «Hauptsache, du weißt ihren Vornamen», sagte Mr. Pucklehammer philosophisch. «Man ist dann gleich viel vertrauter, weißt du.» «Ich will aber nicht vertraut mit ihr sein!» schrie Adrian. Plötzlich kam ihm ein neuer entsetzlicher Gedanke. «Mein Gott! Was mache ich, wenn sie kommt und ich bin nicht da und Mrs. Dredge macht ihr auf?» «Ah ja, da hast du recht», überlegte Mr. Pucklehammer mit gerunzelter Stirn. «Das sollte man in der Tat vermeiden, wenn es geht.» Adrian ging mit großen Schritten auf und ab und suchte verzweifelt mit dem neuen Problem fertig zu werden, während Mr. Pucklehammer den Rest des Biers austrank und sich über den Mund wischte.
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«Ich hab’s», sagte Adrian schließlich. «Heute ist doch ihr Tag… heute besucht sie Mr. Dredge auf dem Friedhof und bleibt den ganzen Tag dort. Gewöhnlich kommt sie nicht vor Abend zurück. Wenn ich nun eine Nachricht ins Geschäft schicke, daß ich krank bin oder so, dann könnte ich den Tag über zu Hause bleiben und auf diese Rosy warten.» «Das ist eine gute Idee», stimmte Mr. Pucklehammer zu. «Hör zu, ich schicke Davey hin – er soll sagen, daß du dich nicht wohl fühlst. Laß nur, ich mache das schon. Du gehst am besten gleich wieder nach Hause und paßt dort auf. Wenn du mich brauchst – ich bin hier.» Adrian machte sich also auf den Heimweg und verwünschte den Tag, an dem er sich nach Abenteuern gesehnt hatte. Am Ende der Straße blickte er vorsichtig um die Ecke. Erleichtert sah er gleich darauf Mrs. Dredge in weitem schwarzen Krepp und mit einem roten Ungetüm von Hut auftauchen, in der Hand einen riesigen Rosenstrauch, die wöchentliche Gabe für Mr. Dredges Grab. Sie segelte wie eine aufgetakelte Fregatte die Straße hinunter und verschwand. Adrian schritt vor dem Haus auf und ab, den Kopf voll wilder und unausführbarer Pläne. Weglaufen – zur See, das nächste Schiff nehmen. Doch das war unmöglich, weil ihm schon auf dem Oberdeck eines langsam fahrenden Pferdeomnibusses übel wurde: sein Magen war also für eine nautische Laufbahn nicht geeignet. Oder sollte er sich als Mr. Dredge ausgeben und einfach behaupten, er – Adrian Rookwhistle – sei leider vor kurzem gestorben? Dieser Plan hatte viel für sich; aber er mußte zugeben, daß dazu jemand gehörte, der in der Kunst der Täuschung geschickter war als er. Es hat keinen Zweck, dachte er verzweifelt und wischte sich die feuchten Hände am Taschentuch ab. Ich muß einfach festbleiben, wenn sie kommt. Ich muß ihr sagen, daß ich ein junger Mann bin, der vorwärtskommen will, und daß ich unmöglich die Verantwortung für eine fremde Frau übernehmen kann. Ich werde ihr die fünfhundert Pfund geben, und dann soll sie sehen, wo sie bleibt. Und wenn sie nun in Tränen ausbricht und hysterisch wird? Oder noch schlimmer: wenn sie betrunken ist und handgreiflich wird? Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nein, er mußte festbleiben, freundlich, aber fest. Hoffentlich hatte er, wenn es soweit war, noch den Mut, freundlich, aber fest zu sein. Er schritt weiter vor dem Hause auf und ab. Als es Mittag wurde, befand er sich in einem Zustand solcher Erregung, daß ein herabfallendes Blatt ihn erschreckte wie ein Donnerschlag. Gerade war er zu dem Schluß gekommen, daß der Tod dieser Qual des Wartens vorzuziehen sei, als ein Fuhrwerk in die Straße einbog. Es war ein mächtiger Wagen, von acht erschöpften Pferden gezogen, die angetrieben wurden von einem untersetzten und cholerisch aussehenden Mann mit hellgelbem Hut und rotgelb karierter Weste. Adrian warf einen kurzen Blick auf den Wagen und überlegte einen Moment, was das riesige Gefährt wohl enthielt. Der Mann mit dem gelben Hut war offenbar fast am Ziel angekommen, denn er holte einen Zettel aus der Tasche und verglich ihn mit den Hausnummern, an denen er vorbeifuhr. Dann zog er zu Adrians Verblüffung vor Mrs. Dredges Haus die Zügel an und brachte das Gefährt zum Stehen. Was um alles in der Welt, überlegte Adrian, hatte seine sparsame Wirtin da eingekauft? Das Fuhrwerk war sehr groß, es konnte alles Menschenmögliche enthalten. Adrian ging ein Stückchen die Straße hinunter; dort stand der Kutscher und wischte sich das Gesicht mit einem großen Taschentuch. «Guten Morgen», sagte Adrian neugierig. Der Mann schob sich den Hut zurecht und warf Adrian einen vernichtenden Blick zu. «Morgen», sagte er unfreundlich. «Ein guter Morgen – ich für mein Teil möchte das bezweifeln.»
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«Wollten Sie… äh… haben Sie etwas für dieses Haus hier?» erkundigte sich Adrian. «Jawohl», erwiderte der Mann und blickte auf das Papier in seiner Hand. «Für einen Mr. Rookwhistle.» Adrian fuhr zusammen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. «Rookwhistle… sind Sie sicher?» fragte er, und ihm wurde schwach. «Ja», sagte der Kutscher. «Rookwhistle. Mr. A. Rookwhistle.» «Mr. A. Rookwhistle – der bin ich», stotterte Adrian. «Was haben…» «Aha», sagte der Mann und blickte ihn böse an. «Also Sie sind Mr. Rookwhistle, was? Nun – je eher Sie mir das Ding abnehmen, desto lieber ist es mir, das kann ich Ihnen sagen.» Er stampfte um den Wagen herum. Adrian folgte ihm bebend und sah, wie er sich mit den schweren Türen abmühte. «Was haben Sie denn bloß für mich?» fragte er verzagt. Statt einer Antwort schlug der Kutscher die schwere Doppeltür zurück und gab den Inhalt des Wagens Adrians ungläubigen und entsetzten Blicken frei. Im Wagen stand ein großer, runzliger und ungewöhnlich gutartig aussehender Elefant.
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Der Willkommenstrunk «Da ist sie», sagte der Kutscher befriedigt. «Sie gehört Ihnen.» «Das ist nicht möglich», sagte Adrian kraftlos. «Sie kann nicht mir gehören – was soll ich denn mit einem Elefanten?» « Sie, jetzt hören Sie mal zu.» Die Schärfe in der Stimme des Kutschers war nicht zu überhören. «Ich bin die ganze Nacht durch gefahren, um das Tier hier bei Ihnen abzuliefern. Sie sind Mr. A. Rookwhistle, also ist es Ihr Tier.» Adrian blickte den Mann verwirrt an. Er hatte an diesem Vormittag schon so viel durchgemacht, daß er sich jetzt fragte, ob vielleicht sein Verstand gelitten habe. Es war schlimm genug, sich mit einer Akrobatin abfinden zu müssen, da brauchte man ihm weiß Gott nicht noch einen Elefanten aufzuhalsen. Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Verdacht. «Wie heißt das Tier?» fragte er heiser. «Rosy», erwiderte der Kutscher. «Jedenfalls wurde mir das gesagt.» Als er seinen Namen hörte, begann der Elefant, sich sanft hin und her zu wiegen, und stieß dabei einen leisen Quiekser aus. Es war ein Brunstschrei wie aus einer Blechtrompete. Das Tier war im Wagen mit den Vorderbeinen durch zwei starke Ketten angeschlossen, die bei jeder Bewegung musikalisch klirrten. Jetzt streckte Rosy Adrian verliebt ihren Rüssel entgegen und stieß ein wenig Luft aus. O Gott, dachte Adrian. Da war mir eine betrunkene Akrobatin schon lieber gewesen! «Hören Sie mal», sagte er zu dem Kutscher, «was soll ich denn mit ihr anfangen?» «Das ist Ihre Sache, junger Mann», sagte der Kutscher sichtlich befriedigt. «Ich hatte bloß den Auftrag, sie abzuliefern, und das habe ich getan. Gefrühstückt hab ich auch noch nicht. Jetzt nehmen Sie sie also bitte aus dem Wagen, damit ich endlich weiterkomme.» «Sie können mich doch nicht hier auf der Straße mit einem Elefanten stehenlassen!» protestierte Adrian. «Warum nicht?» fragte der Kutscher ungerührt. «Ich kann sie doch hier nicht reinnehmen», rief Adrian, der Verzweiflung nahe und wies auf Mrs. Dredges zwei Quadratmeter großen Vordergarten. «Da geht sie doch gar nicht rein… und außerdem zertritt sie alle Pflanzen!» «Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie sie bestellten», gab der Kutscher zurück. «Ich hab sie ja gar nicht bestellt. Mein Onkel hat sie mir hinterlassen», sagte Adrian und merkte selbst, wie unwahrscheinlich die Geschichte sich anhörte. «Der hat wohl nicht viel für Sie übrig gehabt», sagte der Kutscher. «Hören Sie, seien Sie doch vernünftig», flehte Adrian. «Sie können mir doch nicht einfach einen Elefanten hinstellen und sich dann aus dem Staube machen!» «So, jetzt hab ich aber genug», sagte der Kutscher mit bebender Stimme. Sein Gesicht färbte sich tiefrot. «Ich habe den Transport von dem Tier übernommen. Ich gebe zu, das war unklug, aber es ist nun nicht mehr zu ändern. Die ganze Nacht war ich unterwegs. Bei jeder Kneipe hat sie beinahe den Wagen umgekippt. Es war die schlimmste Fahrt meines Lebens, und ich bin seit fünfundzwanzig Jahren Rollkutscher! Und jetzt will ich sie nur noch loswerden. Nehmen Sie sie also freundlichst heraus, damit ich weiterkomme.» Adrian überlegte fieberhaft. Selbst wenn es ihm gelang, das Tier in den Vordergarten zu zwängen: wie sollte er Mrs. Dredge das alles erklären? Daß sie nichts merkte, war nicht anzunehmen. Irgendwas mußte geschehen, denn der Kutscher blieb eisern und wurde von Minute zu Minute roter und energischer. Und dann kam Adrian die rettende Idee. Pucklehammer. Natürlich – Pucklehammers Hof. Dahin konnte man das Tier bringen.
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«Sagen Sie», bat er flehentlich, «könnten Sie sie ein Stück die Straße hinunterfahren? Da habe ich einen Freund, und der hat einen Hof. Da können wir sie unterbringen.» Der Kutscher seufzte tief. «Hören Sie mal! Ich habe Ihnen Ihren Elefanten abgeliefert. Ich habe nicht den Auftrag, ihn irgendwo anders abzuliefern.» «Es ist doch bloß ein paar Häuser weiter. Und Sie kriegen zwanzig Shilling dafür.» «Na schön, das ist was anderes», sagte der Kutscher und trat an die Doppeltür, hinter der Rosy gerade mit dem Rüssel ein paar Strohhalme vom Boden aufgegriffen hatte, um sich graziös damit zu fächeln. Er schlug ihr die Tür vor dem Rüssel zu, schrie « Hüh!», die Pferde zogen an, und der schwere Wagen rumpelte die Straße hinunter. Adrian lief aufgeregt nebenher und versuchte sich einzureden, daß Mr. Pucklehammer bei dem Gedanken, daß er einen Elefanten in seinem Hof haben sollte, in hellen Jubel ausbrechen würde. Er ließ den Wagen auf der Straße stehen und ging hinein. Mr. Pucklehammer saß immer noch auf dem Sarg und hatte einen weiteren Krug Bier in der Hand. «Hallo, mein Junge!» rief er freundlich. «Na – hast du deine Akrobatin schon?» «Pucklehammer», sagte Adrian kleinlaut. «Sie müssen mir helfen. Sie sind der einzige, zu dem ich kommen kann. Die Sache wird zum Albtraum.» «Nanu… was ist denn los?» «Er… sie… sie ist da», sagte Adrian. «Na, und wie ist sie?» erkundigte sich Mr. Pucklehammer interessiert. «Sie… Rosy…» sagte Adrian, «sie ist ein Elefant.» «Ein Elefant?» Mr. Pucklehammer stieß einen Pfiff aus. «Das ist allerdings ein Problem für dich.» «Das kann man wohl sagen», erwiderte Adrian heiser. «Ein Elefant. Soso», sagte Mr. Pucklehammer nachdenklich. «Ja, das ist wirklich ein starkes Stück.» «Ich bin ganz Ihrer Meinung», sagte Adrian. «Ich weiß absolut nicht, was ich mit ihr anfangen soll; ich weiß nur, daß der Unglücksmensch, der sie hergebracht hat, sie verständlicherweise so schnell wie möglich loswerden will. In Mrs. Dredges Garten hat sie keinen Platz, deshalb hab ich sie hierherbringen lassen. Kann ich sie eine Weile hier in Ihrem Hof unterstellen, bis ich weiß, was ich mit ihr mache?» «Jaja, natürlich», sagte Mr. Pucklehammer bereitwillig. «Hier ist ja reichlich Platz. Und einen Elefanten habe ich noch nie hier gehabt. Mal was anderes, nicht wahr?» «Gott sei Dank», sagte Adrian erleichtert. «Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.» Er ging auf die Straße zurück, wo der Kutscher sich wieder und wieder den Schweiß von der Stirn wischte. «Ist in Ordnung», sagte Adrian. «Sie kann hereinkommen.» Der Kutscher öffnete die Wagentür, und Rosy stieß beim Anblick ihrer Freunde einen kleinen Freudenquiekser aus. «So… hier sind die Schlüssel», sagte der Kutscher zu Adrian. «Für jedes Schloß einer.» «Ist sie zähm?» fragte Adrian vorsichtig. Ihm war bewußt geworden, daß er noch wenig Erfahrung im Umgang mit Elefanten besaß. «Ich glaube schon», sagte der Kutscher. «Das werden Sie ja auch bald selber feststellen!» «Vielleicht müßte ich ihr was zu fressen besorgen», meinte Adrian, «damit sie was zu tun hat. Was fressen eigentlich Elefanten?» «Rosinenbrötchen», sagte Mr. Pucklehammer, der Rosy mit wachem Interesse betrachtete.
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«Nun nehmen Sie doch Vernunft an», sagte Adrian gereizt. «Wo soll ich denn jetzt Rosinenbrötchen herkriegen.» «Wie wär’s mit Hafer?» schlug der Kutscher vor. «Nein, nein, sie fressen Rosinenbrötchen», beharrte Mr. Pucklehammer. «Mein Gott, hören Sie doch auf mit Ihren Rosinenbrötchen», rief Adrian ungeduldig. «Wir haben doch keine Brötchen.» «Na, dann vielleicht ein Käsebrot?» meinte Mr. Pucklehammer. «Ich geh eins holen, und dann werden wir ja sehen.» Gleich darauf kam er zurück mit einem großen Käsebrot und reichte es Adrian. Vorsichtig, das Käsebrot wie eine Waffe vor sich haltend, näherte sich Adrian dem grauen Koloß. «So, Rosy», sagte er halblaut. «Sieh mal her, was ich hier habe… so ein schönes Käsebrot… komm, sei ein braves Mädchen…» Rosy hörte auf, hin- und herzuschwanken, und beobachtete blinzelnd, wie Adrian näher kam. Als er in Reichweite war, streckte sie ihren Rüssel aus, packte überraschend geschwind und geschickt seinen Hut und drückte ihn sich auf das eigene kräftige Haupt. Erschreckt fuhr Adrian zurück, ließ das Brot fallen und trat dem Kutscher heftig auf den Fuß, was dessen Laune nicht gerade verbesserte. Adrian hob das Brot auf und versuchte es noch einmal. « So, Rosy, nun komm mal», sagte er mit leicht schwankender Stimme, «hier… so ein schönes Käsebrot.» Rosy streckte lässig den Rüssel aus, nahm das Brot aus Adrians zitternden Fingern und schob es sich ins Maul – es sah aus, als verschwände es in einem enormen Faß. Lautes Kauen und Schlucken zeigten an, daß das Käsebrot nicht verschmäht wurde. Adrian nahm die Gelegenheit wahr, kniete sich hin und öffnete die beiden Schlösser und entfernte die Ketten von Rosys Beinen. «So, das hätten wir», sagte er und kam rückwärts aus dem Wagen. «So, nun komm mal schön mit… sei ein braves Mädchen…» Rosy seufzte tief auf, nahm den Hut vom Kopf und fächelte sich damit Luft zu, machte aber keinerlei Anstalten, den Wagen zu verlassen. «Ich bin ja wirklich ein geduldiger Mensch », meinte der Kutscher, was gelinde gesagt eine Übertreibung war, «aber ich möchte doch feststellen, daß Sie mir hier auf den Füßen herumtrampeln, den Elefanten mit Käsebroten vollstopfen, während ich heute morgen noch keinen Bissen zu mir nehmen konnte.» «Aber ich versuche doch, sie herauszuholen», sagte Adrian gekränkt. «Zwingen läßt sich so ein großes Ding nicht.» «Hätten Sie gern ein Butterbrot und ein Glas Bier?» fragte Mr. Pucklehammer den Kutscher. Der Kutscher strahlte. «Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen», sagte er erfreut. «Wirklich… sehr freundlich ist das.» Der Kutscher und Adrian starrten Rosy an, sie schwankte wieder hin und her und stieß herzzerreißende Seufzer aus. Mr. Pucklehammer war ins Haus gegangen und kam jetzt zurück mit einem Butterbrot und einem schäumenden Bier. Die Freude des Kutschers war nichts im Vergleich zu der stürmischen Begeisterung, von der Rosy beim Anblick des Bierkrugs gepackt wurde. Ein durchdringender Trompetenton ließ Adrian zurückfahren, dann stampfte sie polternd aus dem Wagen hinaus auf die Straße. Mr. Pucklehammer war wie angewurzelt stehengeblieben. Rosy ergriff – immer noch unter lautem Trompeten – den Krug und goß sich den Inhalt in den faßartigen Schlund. «Na, das hätten wir», sagte der Kutscher. «Und mein Bier?»
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«Wenigstens wissen wir jetzt, daß sie Brot frißt und Bier trinkt», sagte Adrian. «Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in alle Ewigkeit davon leben wird.» Der Kutscher blickte ihn an. «Ich möchte ja nicht unfreundlich sein», sagte er und schnaubte durch die Nase, «aber im Augenblick steht mir mein Magen näher als der von Rosy.» Rosy streckte Mr. Pucklehammer den leeren Krug hin und folgte ihm erwartungsvoll in den Hof. Er war hier der einzige intelligente Mensch, der ihre Bedürfnisse erkannt hatte: den wollte sie nicht wieder aus den Augen verlieren. Leicht benommen schaukelte sie mit schweren, langsamen Schritten hinter ihm her, wobei ihr die Ohren laut an den Kopf schlappten und sie immer wieder kleine Freudentöne von sich gab. Jetzt war sie, unmittelbar hinter Mr. Pucklehammer, auf dem Hof angelangt; Adrian warf das starke Doppeltor hinter ihr zu, lehnte sich dagegen und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Der erste Schritt war getan. Rosy bekundete einiges Interesse an den Haufen weißgelockter Hobelspäne, den Holzstapeln und den langen Reihen neuer Särge; aber sie ließ dabei keinen Moment Mr. Pucklehammer aus den Augen, denn er war zweifellos der Rutengänger, der sie zur Bierquelle führen würde. Schließlich gelang es ihnen jedoch, ins Haus zu schleichen, ohne daß Rosy es merkte, und Mr. Pucklehammer stellte Bier und Butterbrot auf den Tisch, so daß sich auch die Stimmung des Kutschers merklich besserte. «Wirklich komisch von Ihrem Onkel, Ihnen so was zu hinterlassen», sagte er zu Adrian. «Komisch würde ich es nicht gerade nennen», erwiderte Adrian bitter. «Gott allein weiß, was ich jetzt mit ihr anfangen soll.» «Verkaufen», meinte der Kutscher und schenkte sich noch einmal Bier ein. «An einen Zirkus verkaufen. Das würde ich jedenfalls tun.» «Kann ich nicht», erklärte Adrian. «Das ist ja gerade das Schlimmste an der Sache. Mein Onkel hat mir fünfhundert Pfund hinterlassen, damit ich für sie sorge.» «Wieviel Rosinenbrötchen man dafür wohl kriegt?» meinte der Kutscher nachdenklich. «Ach, die fressen doch auch noch was anderes, nicht nur Rosinenbrötchen!» sagte Adrian kläglich. «Kohl und Gemüse und so was. Das müssen wir eben einfach ausprobieren.» «Nun mach dir mal keine Sorgen», redete ihm Mr. Pucklehammer zu. «Sie kann ja ein paar Tage hierbleiben – so lange, bis du weißt, was du tun willst. Ich kümmere mich schon um sie.» In diesem Augenblick war Rosy zu dem Schluß gekommen, daß die Särge, so interessant sie auch waren, auf die Dauer doch nicht genug boten. Sie trat ans Haus und spähte durch das Fenster, wo sie zu ihrem Entzücken ihre Freunde erblickte, die dort zusammensaßen und das heißgeliebte Getränk vor sich hatten. Die kleine Gruppe hatte etwas so Gemütlich-Freundliches. Anheimelndes, daß Rosy nicht widerstehen konnte. Sie fühlte sich angeregt. Sie war sicher, die drei hätten sie gern bei sich gehabt, und so klopfte sie leicht mit der Rüsselspitze ans Fenster – behutsam und damenhaft, um ihnen einen Wink zu geben, daß auch sie gern an dem fröhlichen Beisammensein teilnähme. Die Männer waren jedoch so vertieft in ihre Unterhaltung, daß sie nichts merkten. Das war nun wirklich nicht nett. Sie hatte schließlich eine lange, ermüdende Reise hinter sich und hatte als Erfrischung bisher nur ein einziges Bier bekommen, während die drei da zusammensaßen, frischweg tranken und sie nicht einmal dazu einluden. Rosy war sonst ein außerordentlich geduldiger Elefant, aber der Anblick des Kutschers, der sich gerade ein weiteres Bier einschenkte, war zuviel für ihre Langmut. Sie steckte die Rüsselspitze unter das Schiebefenster und zog kräftig. Mit einem ungeheuren Klirren und Krachen brach das ganze
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Fenster heraus. Begeistert von ihrem Erfolg, streckte Rosy den Rüssel durch die Fensterhöhlung und stieß einen lauten Trompetenton aus. Adrian war dem Zusammenbruch nahe. «Um Gottes willen, Pucklehammer, geben Sie ihr mehr Bier!» rief er. «Vielleicht ist sie dann still.» «Wenn sie so weitermacht», meinte der Kutscher freundlich, «dann werden Sie wohl die fünfhundert Pfund für Bier und Reparaturen loswerden.» Mr. Pucklehammer ging in die Küche und holte eine große Blechschüssel, die er bis zum Rande mit Bier füllte und in den Hof trug. Mit gellenden Jauchzern machte sich Rosy darüber her. Sie tauchte den Rüssel in die köstliche braune Flüssigkeit, saugte sie hoch und spritzte sie sich, mit dem Geräusch eines Miniaturwasserfalls, in den Schlund. Sehr bald war die Schüssel geleert. Rosy gab einige Rülpser zufriedenen Behagens von sich, schaukelte hinüber auf die schattige Hofseite und legte sich dort zur Ruhe. «So, jetzt muß ich aber gehen», sagte der Kutscher. «Vielen Dank auch noch.» «Aber bitteschön», sagte Mr. Pucklehammer. «Und Ihnen, Sir», sagte der Kutscher, zu Adrian gewandt, «Ihnen wünsche ich wirklich viel Glück. Ich glaube, Sie werden es brauchen können, wenn ich an die kleine Liebesgabe denke, die ich Ihnen da gebracht habe.»
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Auf der Wanderschaft Mr. Pucklehammer brachte den Kutscher bis ans Tor und kam dann ins Haus zurück. Adrian saß, den Kopf in die Hände gestützt, trübsinnig vor seinem leeren Bierkrug. «Ich kann einfach nicht mehr denken», sagte er verzagt. «Ich weiß absolut nicht, was ich tun soll.» «Trink noch ein Bier», sagte Mr. Pucklehammer freundlich. Er neigte zu einer einfachen und geradlinigen Lebensphilosophie. «Vor allem hör auf zu grübeln… es wird uns schon was einfallen.» « Sie haben gut reden.» Adrian konnte seinen Ärger nicht ganz verbergen. «Ihnen gehört Rosy nicht. Wir wissen noch nicht mal, Was sie frißt.» «Rosinenbrötchen», sagte Mr. Pucklehammer und beharrte eigensinnig auf seinem ersten Vorschlag. «Du wirst schon sehen, wie sie die frißt.» «Ob der Kutscher wohl recht hatte?» überlegte Adrian. «Wenn ich einen Zirkus fände, wo es ihr gutgeht, und dem Eigentümer die fünfhundert Pfund gäbe… meinen Sie, das wäre legal?» «Ob das legal wäre, weiß ich nicht», sagte Mr. Pucklehammer und spitzte die Lippen, «aber es wäre eine Lösung.» «Aber wo soll ich einen Zirkus finden?» fragte Adrian. «Als ich sieben oder acht war, habe ich zuletzt einen gesehen.» «In den Badeorten an der Küste», sagte Mr. Pucklehammer ohne Zögern. «Da gibt’s doch überall so Zirkusse und Jahrmärkte und so was.» «Bis zur Küste sind es fünfzig Meilen», gab Adrian zu bedenken. «Wie soll ich sie dahin kriegen?» «Zu Fuß», erwiderte Mr. Pucklehammer. «Wird ihr wahrscheinlich sehr guttun, so ein Fußmarsch. Denn weißt du, eins steht fest: hier kannst du sie nicht für immer unterbringen. Ich habe nichts dagegen, daß sie hier ist, das weißt du, aber einen Elefanten kann man auf die Dauer nicht auf einem Hof haben, ohne daß die Nachbarn anfangen, über einen zu reden. Die stecken sowieso ihre Nase in alles hinein.» «Na, ich sehe schon», meinte Adrian, «es bleibt mir nichts anderes übrig: ich muß Mrs. Dredge und im Geschäft erzählen, daß mein Onkel im Sterben liegt und daß ich eine Weile verreisen muß. Im Geschäft werden sie nichts dagegen haben… ich sollte sowieso ein paar Tage Ferien bekommen. Was glauben Sie, wie lange ich mit Rosy bis zur Küste brauche?» «Kommt ganz drauf an», sagte Mr. Pucklehammer. «Worauf denn?» fragte Adrian. «Wieviel Meilen kann denn ein Elefant am Tag laufen?» «Nein, das meine ich nicht», sagte Mr. Pucklehammer. «Ich meine, es kommt darauf an, an wieviel Kneipen du vorbeikommst.» «O Gott», ächzte Adrian. «Das hatte ich ganz vergessen.» «Weißt du was», schlug Mr. Pucklehammer vor, «du kennst doch den alten Ponywagen, den ich im Schuppen stehen habe? Wenn wir den ein bißchen herrichten und dann so eine Art Geschirr zurechtmachen, dann könnte Rosy den Wagen ziehen. Du packst deine Sachen hinten rein und etwas Bier und so…» «Bier nicht», fiel Adrian hastig ein. «Bei mir kommt Bier nicht in Rosys Nähe.» «Na schön, dann bloß was zu essen, und wenn du alles aufgeladen hast, geht die Reise los. Na?» Trotz aller Sorgen spürte Adrian, wie die Abenteuerlust wieder in ihm lebendig wurde.
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Nach so etwas hatte er sich doch immer gesehnt! Und was konnte denn schon abenteuerlicher sein, als mit einem Elefanten auf die Wanderschaft zu gehen? Zum erstenmal, seit er den Brief seines Onkels erhalten hatte, hatte er das Gefühl, die Sache sei vielleicht doch nicht ganz so schlimm, wie sie aussah. Etwas wie freudige Erregung ergriff ihn bei dem Gedanken, mit Rosy an die Küste zu wandern. «Vielleicht drei Tage bis zum Meer», überlegte er. «Dann brauche ich wohl noch mal zwei Tage, bis ich einen Zirkus finde. Na, alles in allem vielleicht zehn bis vierzehn Tage, das scheint mir reichlich, meinen Sie nicht auch?» «Ja», stimmte Mr. Pucklehammer zu. «Ja, das müßte hinkommen, wenn alles klappt.» «In Ordnung!» Adrian sprang auf und war für einen Moment wieder der beste Fechter außerhalb Frankreichs. «So wird’s gemacht!» «Recht so!» sagte Mr. Pucklehammer. «Ich würde gern mit dir kommen, aber ich kann die Werkstatt nicht allein lassen. Du wirst dich ganz bestimmt großartig amüsieren. Nun zur Sache: ich hol jetzt den Wagen raus und mach ihn sauber und gebe ihm noch etwas Farbe, dann kannst du ihn morgen haben.» Adrian ging ans Fenster und sah hinaus. Rosy lag friedlich da und schlief. Ab und zu zuckten die Ohren, und in ihrem Bauch grummelte es wie ferner Donner. «Sie muß was zu fressen haben!» sagte er besorgt. «Hören Sie doch bloß, wie ihr Magen knurrt. Das arme Ding.» «Reg dich nicht schon wieder auf», sagte Mr. Pucklehammer. «Darum werde ich mich schon kümmern.» Er ging mit Adrian hinaus in den Hof. Leise, um Rosy nicht zu wecken, zogen sie den alten Wagen aus dem Schuppen. «Da ist er», sagte Mr. Pucklehammer und blickte ihn an. «Der braucht bloß ein bißchen Farbe, und er ist wieder wie neu. Du kannst ihn schon mal abwaschen. Ich gehe inzwischen und hole was für Rosy zum Fressen.» Adrian ging ins Haus und holte sich zwei Eimer. Mit warmem Wasser und einer Scheuerbürste war er bald an der Arbeit und säuberte den Wagen gründlich von oben bis unten, wobei er leise vor sich hin pfiff. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er zusammenfuhr, als sich plötzlich ein warmer grauer Rüssel, der stark nach Bier roch, liebevoll um seinen Hals legte. Er wußte noch nicht, daß sich Elefanten, wenn sie wollen, trotz ihrer Größe leiser als eine Maus bewegen können. Rosy stand hinter ihm und blickte ihn zutraulich an. Nachdenklich blies sie ihm ihren Bieratem ins Ohr und ließ einen kleinen quiekenden Begrüßungslaut vernehmen. «Jetzt hör mal zu», sagte Adrian energisch und wand sich den Rüssel vom Hals,« das geht aber nicht. Du hast mir weiß Gott schon genug Scherereien gemacht. Nun geh brav da hinüber und schlaf dich aus, hörst du.» Als Antwort tauchte Rosy den Rüssel in einen der Eimer und saugte eine beträchtliche Wassermenge hoch. Dann zielte sie sorgfältig und spritzte das Wasser über die Seiten des Ponywagens. Noch einmal füllte sie den Rüssel und wiederholte die Prozedur. Adrian stand staunend daneben. «Nun», sagte er schließlich, «wenn du helfen willst – das ist natürlich was anderes.» Er hatte bald herausgefunden, daß er ihr nur die zu säubernde Stelle des Wagens zeigen mußte, dann stellte Rosy sich hin und spritzte Wasser darüber. Er selbst brauchte nur die Eimer zu füllen. Schmutz und Spinnweben waren durch das kräftige Spritzen bald verschwunden, und der Ponywagen war kaum wiederzuerkennen. In diesem Augenblick kam auch Mr. Pucklehammer zurück, einen vollen Sack auf dem Rücken.
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«Rosinenbrötchen hab ich nicht bekommen», sagte er bedauernd, da er seine Theorie nun nicht beweisen konnte. «Aber altes Brot habe ich mitgebracht.» Sie öffneten den Sack und entnahmen ihm zwei große braune Brotlaibe. Adrian, keineswegs überzeugt, daß sie diese etwas altbackene Gabe annehmen werde, hielt ihr die Brote hin, aber Rosy gab einen entzückten Laut von sich, ergriff beide Brote und verschlang sie begeistert und in Windeseile. «Gott sei Dank», sagte Adrian. «Damit ist die Ernährungsfrage gelöst.» Er kippte die restlichen Brote aus dem Sack, und Rosy fiel darüber her. «Na, ich muß wirklich sagen», rief Mr. Pucklehammer bewundernd aus, «der Wagen ist ja überhaupt nicht wiederzuerkennen!» «Die meiste Arbeit hat Rosy geleistet», sagte Adrian bescheiden. «Rosy?» fragte Mr. Pucklehammer. «Wie denn das?» «Na ja, sie hat mir geholfen. Sie hat immer Wasser darübergespritzt… deshalb ging es auch so schnell.» «Also sowas!» sagte Mr. Pucklehammer. «Ob sie wohl noch mehr solcher Tricks auf Lager hat?» «Darauf wollen wir es jetzt lieber nicht ankommen lassen», sagte Adrian hastig. «Vor allem muß ich wohl jetzt mal zur Bank gehen und die Sache mit dem Geld in Ordnung bringen, meinen Sie nicht auch?» «Ja, da hast du recht», sagte Mr. Pucklehammer. «Geh nur, ich bleibe mit Rosy hier und streiche inzwischen den Wagen.» Als Adrian nach ein paar Stunden wieder im Hof erschien, hörte er Mr. Pucklehammer lauthals singen. Rosy begleitete ihn mit freundlichen Quiekseinlagen. Sie lag auf dem Boden, und Mr. Pucklehammer lehnte an ihrer Schulter und sang ihr eine Serenade ins linke Ohr. Beide waren voller Farbspritzer; eine leere Schüssel mit Schaumresten und ein leerer Bierkrug verrieten Adrian, daß Rosy und Mr. Pucklehammer ihre Freundschaft kräftig besiegelt hatten. Angesichts des Zustandes der beiden war Adrian baß erstaunt darüber, wie prächtig der Wagen aussah. Offensichtlich hatte Mr. Pucklehammer seinem schlummernden künstlerischen Genius freien Lauf gelassen. Der Wagen selbst war hellgelb und die Deichseln feuerrot gestrichen. Die Radspeichen hatte er kunstvoll in Blau und Gold gehalten. Das Ganze war prächtig anzuschauen. «Hallo», sagte Mr. Pucklehammer und richtete sich unsicher auf. «Ich hab Rosy etwas vorgesungen… sie hat was für Lieder übrig. Na, wie findest du den Wagen?» «Prachtvoll!» sagte Adrian hingerissen. «Einfach wunderbar haben Sie das gemacht.» «Ja, ich hab’s immer gewußt, in mir steckt ein Künstler», meinte Mr. Pucklehammer resigniert. «Aber es bringt heutzutage nichts ein. Hast du das Geld bekommen?» «Ja, das hab ich», erwiderte Adrian. «Ich mußte einen Haufen Papiere unterschreiben, deshalb hat’s so lange gedauert.» «Ja», sagte Mr. Pucklehammer, zog seine Uhr hervor und starrte mit verschwommenen Augen auf das Zifferblatt. «Und nun würde ich an deiner Stelle mal nach Hause gehen und der guten Dredge das Nötige mitteilen.» «Da haben Sie recht, das muß ich wohl», seufzte Adrian. «Aber geben Sie bitte inzwischen Rosy nicht zu viel zu trinken, hören Sie, Sie wissen, was mein Onkel in seinem Brief darüber gesagt hat.» «Ein Schluck Bier hat noch keinem geschadet», sagte Mr. Pucklehammer entschieden. Adrian klopfte seinem Schützling, der wieder eingeschlafen war, auf den runden Schädel. «Nun gute Nacht, altes Mädchen», sagte er.
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Rosy öffnete etwas das eine Auge und blinzelte ihn verschmitzt an. Es sah fast so aus, als lachte sie und als wisse sie von seinen Plänen und sei vollauf damit einverstanden. Sie stieß einen kleinen Quiekser aus, schloß das Auge und schlief sofort wieder ein, während Adrian das Hoftor hinter sich schloß und sich wieder auf den Heimweg machte. Es kam genau so, wie er geahnt hatte: Mrs. Dredge war nicht so leicht abzufertigen. Sie war nicht bereit, sich ohne weiteres mit dem sterbenden Onkel zufriedenzugeben, und tat alles, um der unklaren Sache auf den Grund zu kommen. Bei diesen Bemühungen brachte sie sich und Adrian so völlig durcheinander, daß schließlich keiner mehr wußte, wovon der andere sprach. Endlich gab sie erschöpft ihre Attacken auf und erlaubte Adrian, dem der Kopf dröhnte, zu Bett zu gehen. Am nächsten Morgen packte er seine Sachen und ging die Straße hinunter zu Pucklehammers Werkstatt. Er hatte die Nacht über unruhig geschlafen und von Riesenherden betrunkener Dickhäuter geträumt, die Dutzende von bunten Ponywagen zertrampelten. So war er einigermaßen erleichtert, als Rosy ihn beim Betreten des Hofes mit einem freudigen Trompeten begrüßte, auf ihn zugeschaukelt kam und ihm zärtlich den Rüssel um den Hals legte. Es war wirklich reizend, wie zutraulich sie war; er fing an, sein Sorgenkind richtig gern zu haben. Mit Pucklehammers Hilfe packte er dann alles, was er auf der Reise brauchen würde, in den hinteren Teil des Wagens: einige Konservendosen und Einmachgläser für sich selbst, drei Säcke voll altem Brot für Rosy, Decken, ein Beil, einen Erste-Hilfe-Kasten mit geheimnisvoll aussehenden und vielversprechenden Mitteln, ein starkes Seil, eine Plane, die groß genug war, um Adrian und Rosy vor Regen zu schützen, wie Mr. Pluckhammer erklärte, Rosys Ketten, falls man sie fesseln mußte, ein Fäßchen Bier, gut getarnt, damit Rosy es nicht bemerkte, und schließlich ein Banjo, das er sich vor einigen Monaten zugelegt, aber noch wenig gespielt hatte, denn er konnte immer nur üben, wenn Mrs. Dredge ihren Mann auf dem Friedhof besuchte. Mr. Pucklehammer meinte, es sei eine glänzende Idee, das Banjo mitzunehmen. Nichts, sagte er, sei auf der Wanderschaft so schön wie Musik. Hatte man Bier und Musik, so konnte nichts schiefgehen. Endlich war der Wagen vollgeladen, und mit einiger Mühe gelang es ihnen auch, Rosy anzuschirren. Sie fand das Spiel ungemein interessant und stellte sich sehr gutwillig dabei an. Dann ergriff Adrian sie am Ohr und führte sie ein paarmal rund um den Hof, um sie an den Wagen zu gewöhnen. «So», sagte er schließlich, «jetzt können wir aufbrechen. Ich danke Ihnen wirklich sehr für Ihre Hilfe, Pucklehammer.» «Gern geschehen, gern geschehen», sagte Mr. Pucklehammer. «Zu schade, daß ich nicht mitkommen kann. Es wird bestimmt großartig, wart’s nur ab. Vergiß auch nicht, mir zu schreiben, hörst du? Damit ich weiß, wie es euch geht.» «Ja, das tu ich bestimmt», versprach Adrian. «Noch einmal herzlichen Dank.» Mr. Pucklehammer gab Rosy einen Abschiedsklaps auf die Flanke und öffnete das Tor. Rosy trottete hinaus, von Adrian geführt, und der Wagen klapperte hinterher. Mr. Pucklehammer blieb stehen und blickte ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Adrian führte Rosy, soweit es möglich war, durch die stilleren Nebenstraßen ; aber ganz ließ sich die Innenstadt nicht umgehen, ehe sie auf die offene Landstraße kamen. Seine Kenntnis von Elefanten und ihrer Wirkung auf den Alltag einer Stadt wurde auf diese Weise erheblich bereichert. Zum Beispiel stellte er bald fest, daß die meisten Pferde einem Nervenzusammenbruch nahekamen, sobald sie sich dem Elefanten gegenübersahen. Ob sie nun einen Omnibus oder eine Droschke zogen, sie verhielten sich alle ziemlich gleich: sie wieherten einmal durchdringend, bäumten sich auf und galoppierten dann wie rasend die
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Straße hinunter, während die entsetzten Kutscher verzweifelt an den Zügeln rissen. Rosy war darüber sehr erstaunt, denn sie war an vernünftige Zirkuspferde gewöhnt, mit denen sie sich immer gut vertragen hatte. Das unfreundliche Benehmen der Stadtpferde verwirrte sie und kränkte sie tief. Noch etwas lernte Adrian über Elefanten – und das kostete ihn zwanzig Shilling: nämlich daß sie Früchte und Gemüse schätzen. Er war gerade mit Rosy um eine Ecke gebogen, da sah er sich einem älteren Mann gegenüber, der eine hoch mit Obst und Feldfrüchten beladene Karre vor sich her schob. Rosy jaulte hocherfreut auf und beschleunigte ihre Schritte. Von Adrian und seinen beschwörenden Worten nahm sie überhaupt keine Notiz, sie hatte nur Augen für den Obstkarren, den das Schicksal ihr da beschert hatte. Der Besitzer des Karrens sah plötzlich einen Elefanten vor sich, der einen buntscheckigen Wagen zog und auf ihn zugerast kam, offenbar in der Absicht, ihn zu zerstampfen. Erwandte sich, ohne lange zu überlegen, um und floh schneller die Straße hinunter, als man es bei einem Manne seines Alters je für möglich gehalten hätte. Rosy stieß einen hellen Quiekser aus, den sie stets bei freudigen Anlässen von sich gab, hielt neben dem herrenlosen Karren an und machte sich trotz Adrians beschwörenden Protesten eilig daran, sich Früchte und Gemüse ins Maul zu schaufeln und tiefbefriedigt zu zerkauen. Adrian blieb nichts übrig, als dem Besitzer des Karrens nachzueilen, ihn zu beruhigen und ihm den Schaden zu bezahlen. Wenigstens hatte Rosy auf diese Weise eine vernünftige Mahlzeit bekommen, dachte er und hoffte, das würde sie für den Rest des Tages bei Laune halten. Damit hatte er recht, denn als Rosy die Mahlzeit beendet hatte, machte sie sich friedlich wieder auf den Weg und marschierte freundlich und geduldig weiter, während es in ihrem Bauch musikalisch rumpelte. Sie ließen die letzten Häuser hinter sich zurück, erreichten den Kamm eines Hügels und sahen die Stadt schimmernd unter sich liegen. Vor ihnen lag im hellen Sonnenschein das weite Land, ein Zauberteppich aus Wäldern und Feldern, gewundenen Flüssen und dunstigen Hügeln, und überall hörte man die Lerchen singen und den dumpfen Ruf des Kuckucks. Adrian zog tief die frische, nach Klee duftende Luft ein. «So, Rosy, da sind wir», sagte er. «Weit draußen – auf dem Lande. Ich glaube, das Schlimmste haben wir hinter uns, mein altes Mädchen.» Erst später sollte ihm aufgehen, daß er keine ahnungslosere Bemerkung hätte machen können.
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Die Schlacht bei Monkspepper Die Sonne schien warm, der Himmel war blau, ringsumher hatten Hecken und Büsche hellgrüne Röckchen aus jungem Blattwerk angelegt, und alles war zum Bersten angefüllt mit Frühling und Vogelsang. Es war einfach herrlich, auf den schmalen laubbeschatteten Pfaden zu gehen, zwischen Hängen voll buttergelber Schlüsselblumen, und dem Klappern der Räder und dem vertrauten Quietschen und Klirren des Geschirrs zu lauschen, während Rosy neben ihm durch den Staub schlurfte. Adrian zog bald sein Jackett aus und warf es hinten auf den Wagen. Nach einer halben Stunde folgten die Weste, der Zelluloidkragen und der schwarze Schlips, und in einem Anfall von wildem Übermut krempelte er sich auch noch die Hemdsärmel hoch. In seiner schwarzen Hose, den gestreiften Hosenträgern und dem steifen Hut, der ihm keck und schief auf dem Kopf saß, bot er einen ungewöhnlichen Anblick, aber das war ihm egal. Er war trunken vor Glück über alles, was es hier draußen auf dem Lande zu sehen und zu hören gab. Weit offen lag der Weg vor ihm, der zum Abenteuer führte. Mr. Pucklehammer hatte auch darin recht gehabt, daß Rosy gern Gesang hörte, das hatte Adrian bald festgestellt. Er schritt also fröhlich neben ihr her und sang ihr kleine Operettenlieder vor, die ihr offensichtlich gefielen. Nach einer Weile holte er sein Banjo heraus und begleitete sich. Wenn sein Spiel nicht gerade allerhöchsten Ansprüchen genügte, so war doch Rosy viel zu wohlerzogen, um darüber ein Wort fallenzulassen. Auf diese Weise verging die Zeit recht angenehm. Als es Mittag wurde, waren sie schon weit draußen. Adrian hatte sich zu Hause die Karte angesehen und eine Reiseroute ausgesucht, die durch abgelegene Gegenden und über Seitenwege führte, weil er keinerlei Aufsehen erregen wollte. Deshalb hatten sie, seit die Stadt hinter ihnen lag, keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Es war, als reisten sie allein durch einen unbewohnten Erdteil. So viel frische Luft war Adrian nicht gewohnt, und er begann allmählich hungrig zu werden. Rosy hatte es da leichter; sie riß sich einfach im Vorbeigehen einen Imbiß von den Hecken ab. Adrian brauchte jedoch etwas Solides. Und bald fand er auch den Platz, den er suchte: eine weite samtgrüne Wiese voller Gänseblümchen, die bis hinunter zum Flußufer reichte. Dort standen viele stämmige Eichen, deren schimmernde Blattkronen riesigen grünen Perücken aus der Pompadurzeit glichen und kühle blauschwarze Schatten auf das saftige Gras warfen. «Das ist das Richtige, Rosy», sagte Adrian befriedigt. «Hier bleiben wir erst mal und essen was.» Durch eine Lücke in der Hecke führte er Rosy zu einem weichen Wiesenplatz unter den Eichen. Sechs Fuß weiter sah man den Fluß, der sich behende zwischen schilfigen Ufern dahinschlängelte. Adrian schirrte Rosy ab und packte die Lebensmittel aus. Behutsam füllte er zwei große Bierkrüge aus dem Fäßchen; als Rosy das sah, stieß sie wieder ihren langen, aufgeregten Trompetenschrei aus. Adrian saß im Gras und verzehrte eine Fleischpastete, ein großes Stück Käse und einen halben Laib Brot – nach jahrelanger Kost bei Mrs. Dredge schmeckte ihm das alles wie Nektar und Ambrosia. Rosy untersuchte inzwischen die Eichen, riß einige tiefhängende Zweige ab, die sie verschlang, und rieb sich dann kräftig und ausführlich an den Baumstämmen, was ein Elsterpaar in Unruhe versetzte, das in den oberen Zweigen sein Nest gebaut hatte. Adrian lag mit halbgeschlossenen Augen im Gras, starrte durch das feine Muster der Zweige in den Himmel und fühlte, wie tiefer Frieden von ihm Besitz ergriff. Das ist ja alles gar nicht so schlimm, wie es zuerst aussah – es ist überhaupt nicht schlimm, dachte er. Herrlich ist es. Er gähnte genießerisch, schloß die Augen und schlief ein.
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Als er bald darauf erwachte, blieb er einen Augenblick betroffen liegen und lauschte; er wußte nicht, welches Geräusch ihn so plötzlich geweckt hatte. Er hörte in der Ferne die Elstern schelten, und hoch oben trillerte eine Lerche, aber was er im Ohr hatte, war ein ihm ungewohntes, gurgelndes, spritzendes Geräusch. Er setzte sich auf und blickte besorgt um sich. Rosy war nirgends zu sehen. Die schrecklichsten Befürchtungen überfielen ihn. Wo war sie hin? Trieb sie bei irgendeinem Bauern Unfug? Oder – um Himmels willen – hatte sie ein Wirtshaus gefunden? Er sprang auf und blickte sich in panischer Angst suchend um. Plötzlich erhob sich aus der Kühle des Flusses eine silbrig sprühende Fontäne, und Rosy tauchte auf. Sie lag auf der Seite im tiefen Wasser, und ihre sonst so graue dicke Haut schimmerte jetzt tiefschwarz. Da lag sie, wälzte sich begeistert hin und her, steckte ab und zu den Rüssel ins Wasser und brachte gluckernde Blasen hervor. Erleichtert trat Adrian ans Ufer und wurde von Rosy mit freudigen Juchzern begrüßt. «Ja, meine Gute», sagte er, «das magst du wohl, was? So ein schönes Bad.» Statt einer Antwort wälzte sich Rosy von der rechten auf die linke Seite, was ein mittleres Flußbeben zur Folge hatte, und verschwand für einen Augenblick fast unter der Wasseroberfläche. «Weißt du was, altes Mädchen», sagte Adrian, «ich hätte nicht übel Lust, zu dir ins Wasser zu steigen. Es ist wirklich verlockend.» Er sah sich verstohlen um, ob ihn auch niemand beobachtete, und legte dann schnell seine Kleider ab. Nur die Unterhosen behielt er aus Anstandsgründen an. Mit lautem Freudengeschrei lief er quer übers Gras und sprang in den Fluß. Das Wasser war eiskalt und erfrischend. Er kam hoch, spuckte, paddelte hinüber zu Rosy und kletterte ihr auf die Schultern. Rosy quiekte entzückt und strich ihm zärtlich mit dem Rüssel über das nasse Haar und Gesicht. «Ganz herrlich», sagte Adrian und gab ihr einen liebevollen Klaps aufs Ohr. «Wirklich wunderbar. Das war eine großartige Idee von dir, Rosy. Du bist tatsächlich ein intelligentes Geschöpf.» Er stellte sich vorsichtig auf die Füße und begann einen Tanz auf Rosys Breitseite, wobei er immer wieder «Herrlich, einfach herrlich!» ausrief, bis er schließlich ausrutschte und mit lautem Klatschen ins Wasser fiel. Keuchend und lachend kam er wieder hoch. Rosy sah ihn aus kleinen glitzernden Augen liebevoll an und spritzte ihm einen Rüssel voll Wasser über den Kopf. Eine halbe Stunde lang tollten sie so im Wasser herum, verscheuchten die Enten und Moorhühner und ärgerten einen Eisvogel, der am nahen Ufer sein Nest gebaut hatte. «Also im nächsten Dorf», sagte Adrian, als sie sich ins Gras gestreckt hatten, «da kaufe ich eine große kräftige Scheuerbürste. Und dann werde ich dich mal abseifen, meine Gute, bis du ganz wunderbar sauber bist.» Müde lagen sie beide auf der Wiese, dösten vor sich hin und ließen sich von der Sonne trocknen. Sie lagen so still da, daß der Fuchs die ganze Wiese überquert hatte und bis in ihre Nähe gekommen war, bevor sie ihn bemerkten. «Hallo», sagte Adrian. «Du bist aber ein feiner Kerl.» Der Fuchs blieb stehen, eine Pfote erhoben und die Ohren gespitzt. Rosy schlappte mit den Ohren und streckte neugierig den Rüssel aus. Der Fuchs jaulte erschrocken auf, sprang zurück, wandte sich schnell um und rannte die Uferböschung hinab, dann sprang er ins Wasser und schwamm eilig ans andere Ufer. Mit einem letzten bösen Blick auf Adrian und Rosy verschwand er durch die Hecke. «Na, sehr freundlich war er nicht, was Rosy?» meinte Adrian. «Nicht gerade besonders gesellig.»
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Er wollte eben Rosy einen kurzen, aber erschöpfenden Vortrag über Füchse halten, als Hörnerklang ertönte. «Allmächtiger!» rief Adrian, der ganz vergessen hatte, daß er in Unterhosen war. «Los… Schnell – ich muß mich schleunigst anziehen.» Er sprang auf und rannte hinüber zum Wagen, wo er seine Kleider ordentlich über die Deichsel gehängt hatte. Doch es war zu spät. Durch die einzige Öffnung in der großen Hecke, die das Feld umgab, brauste die Jagd heran, eine braunweiße Kaskade aufgeregt jaulender und heulender Hunde, gefolgt von rotberockten Jägern und Jägerinnen auf tänzelnden Pferden, deren Felle in der Sonne wie Kastanien glänzten. Schlimmer konnte es wirklich nicht kommen, dachte Adrian. Es war schon reichlich exzentrisch, sich von der berittenen Aristokratie auf einer großen Wiese mit einem Elefanten und einem buntscheckigen Wagen erwischen zu lassen. Wenn man dazu noch in Unterhosen dastand, wurde es eindeutig zuviel. Um die Sache noch schlimmer zu machen, wurde Rosy, die das Bad erfrischt hatte, beim Anblick der Jagdgesellschaft höchst munter. Vielleicht auch hielt sie den schrillen Klang des Jagdhorns für den drängenden Ruf eines anderen Elefanten, oder die Meute, die roten Röcke und das ganze bunte Durcheinander riefen ihr die glücklichen Tage des Zirkuslebens ins Gedächtnis. Sie stieß einen langen, fröhlichen Trompetenton aus, erhob sich und trottete über die Wiese den Jägern entgegen. Alle Hunde hielten erschrocken inne, und man sah ihnen an, daß sie dieses Spiel unfair fanden. Sie waren auf ein kleines rotes Tier angesetzt worden, und jetzt erhob sich vor ihnen ein grauer Koloß, wie man ihn nur als ganz junger Hund in seinen Träumen sieht. Jetzt hatten auch die prächtigen Pferde Rosy erblickt, und sie benahmen sich genauso wie die Droschkengäule in der Stadt. Nach wenigen Sekunden glich die Wiese einem blutroten Schlachtfeld. Die Rotröcke fielen wie Herbstlaub aus dem Sattel und lagen mit ausgebreiteten Armen und Beinen im Gras, während die erschreckten, reiterlosen Pferde wild hin und her galoppierten und durch die dichte Hecke zu entkommen suchten. Rosy war hingerissen. Sie war jetzt überzeugt, dies sei ein richtiger Zirkus und das wilde Durcheinander gehöre zur Vorstellung. Unter hellen Trompetenrufen jagte sie hinter den verängstigten Hunden her, immer im Kreis herum, und hielt nur gelegentlich an, um einem der wildgewordenen Pferde mit dem Rüssel einen Klaps zu versetzen. Adrian hockte in nassen Unterhosen hinter einem Baumstamm und wünschte nur eins: tot zu sein. Dies war einfach fürchterlich – vor allem, weil Rosy so selig war über das Getümmel und sich mit Feuereifer immer von neuem hineinstürzte. In Rosys Zirkustagen hatte die Schlußpointe einer ihrer Nummern darin bestanden, daß sie sich nach einigem Hin und Her des Zirkusdirektors bemächtigte und ihn in die Luft hob. Als daher jetzt die Hunde alle durch die Hecke verschwanden und die Pferde sich hysterisch zitternd in einer Ecke der Wiese zusammendrängten, kam Rosy zu dem logischen Schluß, dies sei das Ende ihres Auftritts. Blinzelnd sah sie sich um, und ihr Blick fiel auf den Master. Er lag noch immer am Boden, schlammbespritzt, und versuchte verzweifelt, sich den Zylinder vom Kopf zu zerren, der ihm beim Sturz über beide Ohren gerutscht war. Dies, dachte Rosy, mußte der Zirkusdirektor sein – ein verzeihlicher Irrtum, denn der Master war ein großer, stattlicher Mann, angetan mit prächtigem Rock und Zylinder; jetzt sah er allerdings etwas mitgenommen aus. Rosy trottete auf ihn zu, blieb stehen, trompetete einmal laut auf und schlang dann ihren Rüssel fest und liebevoll um seinen Körper und hob ihn hoch in die Luft. Dann hielt sie einen Augenblick inne, offenbar leicht erstaunt über das Ausblieben des Beifalls, der ihr sonst bei diesem Paradestück zuteil geworden war.
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Eine der Damen, Lady Petunia Magglebrood, war gerade etwas schwankend wieder auf die Füße gekommen, als vor ihren Augen der Master von einem Elefanten gepackt und hoch in die Luft geschwenkt wurde. Schrecken und Empörung über dieses Sakrileg ergriffen sie; ihr war zumute wie einem Kreuzfahrer, der zusehen muß, wie jemand mit einem Splitter vom Heiligen Kreuz ein Lagerfeuer entfacht. «Laß ihn herunter, du schreckliches Vieh!» schrie sie laut. «Laß ihn herunter!» Dann heulte sie noch einmal schrill auf und fiel in Ohnmacht. Rosy, die den Master noch immer hin und her schwenkte wie eine Riesenkatze ein rotes Mäuschen, blickte sich zweifelnd um. Der Schrei der Dame Petunia war zwar nicht das, was sie an Applaus gewohnt war, aber mehr war heute anscheinend nicht zu erwarten. Jetzt entdeckte sie Adrians bleiches Gesicht hinter einer Eiche, und so trottete sie auf ihn zu und legte ihm, gehorsam wie ein Jagdhund, der das erste Rebhuhn apportiert, den Master zu Füßen. Bei dem Aufprall rutschte ihm endlich der Zylinder vom Kopf und rollte über die Wiese. Jetzt erst sah man, daß der Master einen prächtigen schwarzen Schnurr- und Backenbart besaß und daß sein Gesicht die Farbe reifer Tomaten angenommen hatte, so daß man annehmen mußte, er sei entweder dem Schlage nahe oder er werde im nächsten Augenblick in Rauch aufgehen. Er saß keuchend im Gras, starrte Adrian an und gab ein Geräusch von sich, das man nur als ein unartikuliertes Gestammel bezeichnen konnte. «Äh… guten Tag», sagte Adrian, da ihm nichts Besseres einfiel. Er war nicht erstaunt, als das Gesicht seines Gegenübers sich fast schwarz färbte. Der Master rang mühsam nach Luft, bis es ihm endlich gelang, seiner Stimmbänder wieder Herr zu werden. «Was soll das heißen: guten Tag?» fragte er heiser drohend und seiner Stimme noch nicht ganz mächtig. «Diese dreckige, elende, verlauste, unförmige Kreatur da – gehört die Ihnen?» Er wies mit zitternden Fingern auf Rosy. Sie hatte ein paar lange grüne Gräser und Wiesenblumen ausgerissen, mit denen sie sich fächelte, um sich der Fliegen zu erwehren. «Ach, die…» sagte Adrian, als hätte er den Elefanten bisher gar nicht bemerkt. «Ja… ja, gewissermaßen gehört sie mir.» «So, und was zum Teufel denken Sie sich dabei, Sir?» brüllte der Master. «Sie trampeln hier mit dieser Mißgeburt durch die Wiesen… in diesem unerhörten Aufzug… Sie verjagen die Hunde… erschrecken die Damen… sogar die Pferde machen Sie kopfscheu… was soll das eigentlich heißen, Sir?» «Es tut mir entsetzlich leid», sagte Adrian reuevoll. «Wissen Sie, wir haben nur ein bißchen gebadet und hatten keine Ahnung, daß Sie hier entlangkommen würden.» «Gehört es zu Ihren Gewohnheiten», fragte der Master eisig, «in Gesellschaft eines Elefanten durch die Gegend zu ziehen, in anderer Leute Flüsse zu baden und die Lachse zu verscheuchen?» «Nicht gerade zu meinen Gewohnheiten», räumte Adrian beschwichtigend ein, «aber das zu erklären würde zu weit führen.» «Ich kann es Ihnen erklären», schrie der Master und sprang auf die Füße. «Sie sind ein Geisteskranker, Sir. Ein gemeingefährlicher Geisteskranker – das sind Sie. Durch die Gegend rennen, die Jagd stören, die Fische verscheuchen und womöglich auch noch die Vögel… so was bringt nur ein Geisteskranker fertig. Ich werde Sie und diese Mißgeburt da hinter Schloß und Riegel bringen, darauf können Sie sich verlassen. Ich werde Sie wegen widerrechtlichen Eindringens und Flurschaden verklagen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie fünf Jahre Zwangsarbeit kriegen. Vielleicht lautet die Anklage sogar auf Mordversuch, Sir, was würden Sie davon halten, he? Sobald ich ins Dorf zurückkomme, werde ich die Polizei
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auf Sie hetzen. Nehmen Sie das zur Kenntnis.» Adrian überlief es heiß und kalt. «Ich bitte Sie», sagte er, «es tut mir schrecklich leid… lassen Sie mich doch bitte erklären. Nämlich, Ihre Pferde und Hunde…» «Hunde?» zischte der Master wütend, und eine neue Blutwelle schoß ihm ins Gesicht. «Hunde? Meute, Sir, Meute!» «Gut, Meute. Ich wollte nur sagen: sie sind einfach nicht an Elefanten gewöhnt.» Der Master erstarrte. Er zog zitternd die Luft ein und warf einen Blick über die Wiese, wo die Jagdteilnehmer, noch immer in etwas aufgelöstem Zustand, sich allmählich erhoben hatten und nun die Suche nach den verängstigten Pferden begannen. «Ja, allerdings, an Elefanten sind sie nicht gewöhnt», sagte er laut und sarkastisch. «Und soll ich Ihnen mal ein Geheimnis anvertrauen, Sie Dorftrottel? SIE SOLLEN SICH AUCH GAR NICHT AN ELEFANTEN GEWÖHNEN!» Adrian mußte zugeben, daß daran etwas Wahres war. Der Master setzte sich die Überreste seines Zylinders auf den Kopf und wandte sich zum Gehen. «Sobald ich wieder im Dorf bin, lasse ich Sie und Ihren verdammten Elefanten verhaften, das sage ich Ihnen.» Dann humpelte er hinüber zu den anderen schlammbespritzten Jägern. Einer nach dem anderen bestieg sein Pferd, und bald waren sie verschwunden. Adrian wandte sich Rosy zu. «Jetzt hast du es», sagte er bitter. «Und gerade dachte ich, es wäre alles so schön. Alles hast du nun verdorben… sie lassen uns verhaften. Du kriegst sicher fünfhundert Jahre Zwangsarbeit, paß nur auf.» Er zog sich eilig an und spannte Rosy wieder ins Geschirr. «Wir wollen machen, daß wir so weit wie nur möglich vom Dorf wegkommen», sagte er, als sie die Wiese verließen. Sie kamen bald an eine Kreuzung mit einem Wegweiser. Links ging es zum Dorf Fennel und rechts zum Dorfe Monkspepper. Adrian wußte nicht recht, welchen Weg er einschlagen sollte; er hatte keine Ahnung, von woher die Jagdgesellschaft gekommen war. Sich selbst und vielleicht auch noch den Wagen konnte er vor dem Auge des Gesetzes verbergen, nicht aber Rosy. Er blickte den Weg nach Fennel hinunter und sah dort den Rand eines großen Waldes. Damit war es entschieden. In einem Wald konnte man jedenfalls versuchen, einen Elefanten zu verbergen. Er nahm also Rosy beim Ohr, um sie zur Eile anzutreiben, und sie machten sich auf den Weg nach Fennel.
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Lord Fenneltree hat einen Einfall Der Buchenwald war tief und hoch; bis zu den Knöcheln standen die grünen Baumstämme in einem Meer von Glockenblumen. Die Bäume wuchsen so dicht, daß man Rosy trotz ihres eindrucksvollen Umfangs nicht mehr sehen konnte, sobald Adrian auch nur dreißig Meter mit ihr in den Wald hineinging. Immerhin: Adrian wollte nichts riskieren. Je weiter sie die Jagdgesellschaft hinter sich ließen, desto wohler war ihm zumute. Sie kamen bald zu einem schmalen Pfad, der im rechten Winkel von der Landstraße abbog und sich tief im Wald verlor. Ihm folgten sie eine Weile. Oben in den Baumwipfeln gurrten die Holztauben, Kaninchen huschten über den Weg, und Eichhörnchen mit buschigen Schwänzen wie Rauchfahnen liefen an den Stämmen hoch und keckerten entrüstet, wenn Rosy und Adrian an ihnen vorbeikamen. Adrian fand langsam seinen Mut wieder. In diesem großen kühlen Forst würde sie gewiß niemand finden. Sie erreichten eine große Lichtung, auf der ein Schober mit den zerzausten Heuresten vom Vorjahr stand. Das Heu war warm und trocken und zum Schlafen hervorragend geeignet. Adrian spannte den Wagen aus und schob ihn mit Rosys Hilfe tief ins Unterholz, wo man ihn nicht sehen konnte. Dann packte er Eßsachen und Decken aus und trug alles hinüber zum Heuschober. Rosy folgte ihm nachdenklich; gleich darauf kehrte sie noch einmal um, ging zurück zum Wagen und erschien dann wieder, den Rüssel vorsichtig um das Bierfäßchen geschlungen. Warm in Decken gehüllt, auf einem Lager von süß duftendem Heu, lag Adrian da und verzehrte sein Abendbrot, während Rosy leise hin- und herschaukelnd neben ihm wachte. Der Mond blickte vom Himmel auf die beiden Wanderer herab; die Wiese lag in silbrigem Licht, und tief im Walde hörte man die Eulen rufen. Adrian wurde in der Morgenfrühe vom lauten Gesang der Vögel geweckt, der durch den ganzen Wald schallte. Die Wiese war weiß vom Tau und die Morgenluft recht kühl. Er und Rosy verzehrten als erstes ihr Frühstück und rundeten es mit einem Gläschen Bier ab – womit sie dem keineswegs empfehlenswerten Beispiel Mr. Pucklehammers folgten, der auch bereits sein erstes Bier zum Frühstück zu trinken pflegte. Dann wurde der Wagen angespannt, und in der strahlenden Morgensonne machten sie sich wieder auf den Weg. Überall wo Rosy ging, blieben große runde Spuren im taufeuchten Gras zurück. Sie hatten nun schon drei Felder überquert und waren noch niemandem begegnet außer einem Fasan, dessen Gefieder in der Sonne glitzerte. Schließlich kamen sie zu einer kleinen Lücke in der Hecke und standen wieder vor der Landstraße. Eben wollten sie ihren Weg auf der Straße fortsetzen, da hörte Adrian Pferdegetrappel. Hastig machte er Rosy, die sich erheblich leiser fortbewegte als er, ein Zeichen, stehenzubleiben, und spähte vorsichtig um die Hecke. Er fürchtete, eine ganze Kompanie berittener Polizisten auf sie zukommen zu sehen. Statt dessen erblickte er einen eleganten schwarzen Landauer mit vergoldeten Rädern und großen Wappen auf den Wagentüren, der von zwei herrlichen Grauschimmeln in scharfem Galopp gezogen wurde. Im Fond des Wagens saß ein Mann in weißen Kniehosen, blaßblauem Überrock und mit einem seidigglänzenden Zylinder. Adrian war so gebannt vom Anblick des Wagens, daß er nicht aufpaßte und Rosys Ohr losließ. Und da Rosy der Ansicht war, die Straße sei für alle da (auch für Elefanten), wollte sie aus dem Seitenweg, auf dem sie standen, in die Landstraße einbiegen. Wie Pferde auf sie reagierten, wußte Adrian inzwischen. Die beiden Grauschimmel hielten jäh an, bäumten sich auf den Hinterbeinen auf und versuchten dann verzweifelt, mitsamt dem Landauer durch die Hecke zu entkommen, während der Kutscher, der ganz blaß geworden war, sich bemühte,
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sie zu zügeln. «Was machen Sie denn da, Jenkins?» fragte der Herr im blauen Rock träge. «Entschuldigen Sie, Mylord», sagte der Kutscher. «Das Tier da ist schuld.» Der Mann im blauen Rock schob den glänzenden Zylinder ein wenig zurück. Ein eleganter Backenbart und lockiges kastanienrotes Haar kamen zum Vorschein. Er hatte ein langes, blasses und feingeschnittenes Gesicht mit großen strahlendblauen Augen. Daß der Landauer sich zu überschlagen drohte, schien ihn nicht im geringsten zu beunruhigen. In aller Gelassenheit zog er sein Monokel aus der Westentasche und klemmte es sorgfältig vors rechte Auge. Die Pferde waren mit den Köpfen schon in der Hecke und der Landauer schlingerte und schaukelte wie ein Schiff in schwerer See. «Beim Zeus!» sagte der Blauberockte und musterte Rosy. «Ein Elefant… ein veritabler Elefant. Erstaunlich… wirklich erstaunlich.» Adrian bemühte sich verzweifelt, Rosys Kopf wegzuschieben und sie zur Umkehr zu bewegen, aber sie wollte nichts davon wissen. «Sie da», sagte der Mann im Wagen, «ist das Ihr Elefant?» «Ja, leider ja… in gewisser Weise schon», sagte Adrian. Noch immer drängte er mit der Hand Rosys Kopf zurück. «Höchst erstaunlich», sagte der Herr gedankenvoll. «Sind Sie vielleicht zufällig der Mann, der die Monkspepper-Jagd durcheinandergebracht hat? Eigentlich müßten Sie es ja sein – wir werden doch wohl kaum noch einen zweiten Elefanten hier in der Gegend haben, oder?» «Ja, der bin ich, leider», sagte Adrian, «aber das Ganze war wirklich nichts weiter als ein schreckliches Mißgeschick. Wir hatten gar nichts Böses im Sinn, aber Sie sehen ja selbst, wie Pferde auf Rosy reagieren.» «Allerdings», meinte der Blauberockte freundlich, «die Wirkung ist in der Tat nicht zu übersehen. Dürfte ich Sie wohl bitten, das Tier etwas auf die Seite zu ziehen, damit wir vorbei können?» «Aber gewiß doch», sagte Adrian. «Ich werde mein Bestes tun.» Aber Rosy stand nun einmal auf der Straße und sah keinerlei Veranlassung, sich wieder aufs Feld zu begeben. Adrian versuchte alles mögliche, bis ihm schließlich eine Idee kam. Er lief nach hinten zum Wagen und füllte Rosys Krug mit Bier. Mit diesem Köder lockte er sie ohne Mühe hinter die Hecke, und als sie außer Sicht war, gelang es auch dem Kutscher, die Grauschimmel wieder in die Hand zu bekommen. Der Herr im blauen Rock beobachtete die Prozedur mit lebhaftem Interesse, und als Adrian zurückkam, klemmte er das Monokel noch fester und lehnte sich aus dem Wagen. «Sagen Sie mal, guter Mann», fragte er, «trinkt sie das Bier wirklich, oder badet sie nur mit ihrem Rüssel darin?» «Sie trinkt es», gab Adrian resigniert zur Antwort. «Bemerkenswert, höchst bemerkenswert. Ein biertrinkender Elefant.» «Es tut mir furchtbar leid, daß wir Ihre Pferde so erschreckt haben», sagte Adrian. «Aber Rosy hat es nicht böse gemeint.» «Macht nichts, macht nichts, guter Mann», sagte der Herr und winkte mit seiner schmalen Hand. «Das ist gar nicht weiter schlimm. Ein sehr interessantes Erlebnis. Trinkt sie außer Bier auch noch was anderes?» «Ja», sagte Adrian kurz. «Sie trinkt alles.» «Faszinierend», sagte der Mann und fügte zwinkernd hinzu: «Wenn meine Grauen schon so erschrecken, dann hätte ich ja nur zu gern gesehen, wie es gestern bei der Jagd zuging.»
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«Ja, das war in der Tat sehenswert», meinte Adrian grinsend. «Ich habe noch nie so viele Jäger auf einmal vom Pferd fallen sehen.» Der Herr im Landauer kicherte; dann nahm er seinen Zylinder ab, streckte die Hand aus und sagte: «Übrigens – ich bin Lord Fenneltree. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.» «Vielen Dank, Sir», stammelte Adrian. «Ich heiße Rookwhistle, Adrian Rookwhistle. Und das ist Rosy.» «Reizende Namen», sagte Seine Lordschaft. Adrian sah ihn verträumt ins Leere starren, und da er noch nie einem Lord begegnet war, wußte er nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Er war nicht ganz sicher, ob er mit diesen Worten entlassen worden war. Gerade wollte er den Hut ziehen und sich verabschieden, als der Lord mit einem Ruck wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, sein Monokel, wenn das überhaupt noch möglich war, noch fester ins Auge klemmte und Adrian durchdringend ansah. «Ich habe nachgedacht», sagte Lord Fenneltree stolz, als käme das bei ihm nur selten vor. «Sind Sie vielleicht gerade frei?» «Äh, ja…» sagte Adrian. «Ich bin auf dem Wege zur Küste.» «Formidabel! Formidabel!» sagte der Lord begeistert. «Was für ein glückliches Zusammentreffen.» «Ja?» fragte Adrian. «Warum, bitte?» «Wegen des Festes», sagte der Lord überrascht. «Das Fest, das mir seit einem Monat schlaflose Nächte bereitet.» «Aha, ich verstehe.» Adrian verstand kein Wort, wollte aber nicht unhöflich erscheinen. « Jenkins! Meinen Sie nicht, der Elefant wäre einfach pyramidal für das Fest?» fragte der Lord den Kutscher. Der Kutscher verzog keine Miene. «Ja, Mylord, wenn Sie meinen», sagte er hölzern. «Es ist schön, wenn jemand einem zustimmt», sagte der Lord strahlend zu Adrian. «Verzeihen Sie», sagte Adrian, «aber ich verstehe noch nicht ganz, was ich dabei soll.» «Das können wir hier nicht besprechen», sagte der Lord bestimmt. «Man kann im Wagen kein intellektuelles Gespräch führen, das ist zu anstrengend. Wenn Sie diese Straße ein Stück hinuntergehen, dann sehen Sie nach einer Meile mein Haus auf der linken Seite liegen. Bitte kommen Sie doch dorthin, mein Lieber, und bringen Sie Ihren Elefanten mit. Dann können wir beim Lunch über die Sache reden, ja?» «Sehr freundlich», sagte Adrian. «Gern geschehen», sagte der Lord. «Jenkins, nach Hause!» Der Landauer ratterte die Straße entlang, und Adrian ging leicht verwirrt auf die Wiese zurück, um Rosy wieder einzufangen. «Komische Sache, Rosy», sagte er, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten. « Erst bringst du einen Angehörigen des Hochadels beinahe um, und dann lädt er uns zum Essen ein. Jedenfalls hat er mich eingeladen, aber für dich wird wohl auch noch ein Kohlkopf oder so was abfallen. Was das nur für ein Fest sein mag, von dem er so viel redet? Ich weiß gar nicht, wie wir ihm da helfen sollten. Jedenfalls, mein gutes Mädchen, vergiß ja nicht, wo du bist, und benimm dich! Ich habe keine Lust, wegen Mordes an einem Lord verhaftet zu werden, hörst du?» Bald kamen sie an ein großes schmiedeeisernes Doppeltor zwischen zwei mächtigen Marmorpfeilern. Auf jedem hockte ein moosbedeckter Bronzehund und hielt Wache. Hinter dem Tor führte ein Weg durch einen schönen Park mit herrlichen Baumgruppen, und in der Ferne sah man die Fenster des Herrenhauses Fenneltree im Sonnenlicht blitzen. Aus dem Pförtnerhäuschen trat ein älterer Mann, zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete das
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Tor. «Morgen, Sir», sagte er und warf einen leicht beklommenen Blick auf Rosy. «Seine Lordschaft hat mir Bescheid gesagt.» Adrian und Rosy trotteten den langen gewundenen Weg hinauf; der Wagen klapperte hinter ihnen her. In der Nähe des Hauses gingen die Wiesen in kurzgeschorene Rasenflächen, Blumenbeete und Eibenhecken über, die kunstvoll zur Form von Pfauen, Einhörnern und anderen seltsamen Tieren zurechtgestutzt waren. Auf den Treppenstufen stand der Lord und wartete schon ungeduldig auf sie. Mehrere Diener und ein älterer kugelrunder Butler sahen Rosy mit kaum verhohlener Spannung entgegen. «So, da sind Sie ja», sagte Lord Fenneltree befriedigt. «Ausgezeichnet. Kommen Sie, guter Mann, wir wollen gleich etwas zu uns nehmen. Übrigens, was mag denn Rosy gern außer Bier?» «Oh, alles was es so gibt an Obst und Gemüse, Mylord.» «Raymond», wandte sich der Lord an den Butler, «bitte zeigen Sie Mr. Rookwhistle und Rosy den Weg zu den Ställen und sagen Sie den Gärtnern, sie sollen Obst und Gemüse hinschaffen.» Rosy wurde in einer großen Scheune neben den Ställen festgemacht. Die Gärtner erschienen mit ganzen Karren voller saftiger Früchte und Gemüse. Adrian lief das Wasser im Munde zusammen, und Rosy stieß begeistert eine Reihe schriller Juchzer aus. Vor ihr lagen Pfirsiche, Trauben, Möhren, Kohl und Erbsen, Äpfel, Birnen und Aprikosen. Während Rosy sich zielbewußt über diese Delikatessen hermachte, führte der Butler Adrian ins Haus und in einen Salon, wo Lord Fenneltree, umgeben von einem Rudel Hunde aller Größen und Rassen, auf einem Sofa saß und ihn schon erwartete. «Setzen Sie sich zu mir», sagte der Lord. «Gleich werden wir lunchen. Hat Rosy alles, was sie braucht?» «Ja, danke», sagte Adrian. «Sie frißt sich kugelrund. Wirklich sehr freundlich von Ihnen. Schließlich hätte sie Ihr Tod sein können. Ich bin Ihnen sehr dankbar.» «Nun», meinte der Lord, «wenn Sie mir so dankbar sind, dann können Sie mir vielleicht einen kleinen Gefallen tun.» «Aber bitte, gern!» sagte Adrian. «Es handelt sich um dieses verdammte Fest», erklärte der Lord und schloß die Augen, als bereite es ihm Qualen, auch nur daran zu denken. «Wissen Sie – ich habe eine Tochter, die nicht gerade abstoßend häßlich ist, wenn ich das selbst feststellen darf. Sie hat demnächst ihren achtzehnten Geburtstag, und da wollen wir dieses Fest geben, verstehen Sie? Nun ist meine Gattin leider etwas… ehrgeizig und nur schwer zufriedenzustellen, und sie will unbedingt eine Party, so extravagant und originell, daß sie alles, was bisher dagewesen ist, in den Schatten stellt. Die finanzielle Seite spielt dabei keine Rolle, aber etwas Originelles ist mir bisher noch nicht eingefallen, das heißt, bis Sie kamen.» «Ach so», sagte Adrian vorsichtig. «Und da kam mir der Gedanke, daß ein zahmer, biertrinkender Elefant auf so einem Fest doch wirklich etwas Originelles wäre. Finden Sie das nicht auch?» «Ja», sagte Adrian zögernd. «Bitte, guter Mann, widersprechen Sie mir nur, wenn Sie die Idee nicht für so originell halten», sagte der Lord ganz ernsthaft. «Doch, doch… wenn ich mir das so überlege, finde ich sie auch sehr originell», sagte Adrian. «Die Sache ist nur die: ich habe mich an Rosy schon so gewöhnt, daß sie mir gar nicht mehr so originell vorkommt.» «Ja, natürlich», sagte der Lord. «Also, ich hatte es mir so gedacht: ich würde sagen, wir
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stecken Rosy in ein Kostüm, das zu ihrer orientalischen Herkunft paßt, und dann reite ich auf ihr, in einem entsprechenden Kostüm, in den Ballsaal. Ich dachte an eine Verkleidung als Maharadscha. Wie gefällt Ihnen das?» «Doch», sagte Adrian, «das stelle ich mir wirklich sehr hübsch vor.» «Kapital!» rief der Lord strahlend. «Wir haben ungefähr eine Woche Zeit für die Vorbereitungen. Während dieser Zeit bitte ich Sie und Rosy, meine Gäste zu sein. Zum Glück sind meine Frau und meine Tochter in der Stadt, um noch allerlei Spitzen und Rüschen zu besorgen, und so können wir unser Geheimnis leicht hüten.» «Es wird sicher ein großer Erfolg», sagte Adrian. «Hoffentlich, lieber Mann, hoffentlich», sagte der Lord und erhob sich. «Und nun wollen wir erst einmal etwas essen. Kommen Sie.» Nach dem von Lord Fenneltree angekündigten leichten Lunch – Spargelsuppe, Scholle in Weißwein und Rahm, mit Trauben gedünstete Wachteln, Hirschsteak mit Kastanien gefüllt und schließlich Erdbeeren mit Schlagsahne – begannen sie mit den Vorbereitungen für das Fest. Der Lord war hingerissen von seiner originellen Idee und fest entschlossen, nicht zu sparen. Drei Schneider wurden damit beauftragt, für Rosy ein reichverziertes Kostüm anzufertigen, und drei Tischler zimmerten die Hauda, die Adrian vorgeschlagen hatte. Ihm war nicht ganz wohl gewesen bei dem Gedanken, daß Lord Fenneltree rittlings auf Rosys Nacken sitzen und sie antreiben wollte; ein Maharadscha müsse einen komfortablen Sitz haben, in dem er sich zurücklehnen könne, hatte er geraten, und einer seiner Untertanen (nämlich Adrian selbst) solle die Aufgabe übernehmen, Rosy in den Ballsaal zu lenken. Lord Fenneltree war von dieser Idee entzückt. Rosys Kostüm wurde geliefert, und es sah wundervoll aus. Es war aus dunkelblauem Samt und mit Hunderten von Ziermünzen und bunten Glasperlen versehen. Von der Goldstickerei, die es überall bedeckte, meinte Lord Fenneltree höchst befriedigt, das seien ja richtige Hindi-Schriftzeichen. Die ganze Pracht war so schwer, daß vier starke Männer nötig waren, um sie zu heben, und noch in einer Entfernung von zehn Schritt wurde man geblendet, wenn das Sonnenlicht sich in den vielen Glas- und Metallplättchen spiegelte. Auch die Hauda – mit Schnitzereien und oben mit einer Fransenblende verziert – war sehenswert: sie war rot, gelb und dunkelblau angemalt, genau wie Adrians Ponywagen, den Lord Fenneltree so geschmackvoll fand. Mit Metallplättchen waren auch hier orientalische Muster angebracht. Der Lord und Adrian waren von der ganzen Sache ehrlich begeistert. Dann ging es an die Vorbereitungen der Kostüme für Lord Fenneltree und Adrian. Es fanden zahllose Anproben statt und immer neue Versuche der mit Kreide und Maßband bewehrten Schneider, die nie zuvor solche Kostüme angefertigt hatten und ihrer Verwirrung nur schwer Herr wurden. Es kam hinzu, daß Lord Fenneltree ständig neue Wünsche äußerte und sein Kostüm immer wieder ändern ließ. Als einer der Schneider ihm einen roten Turban statt eines weißen vorlegte, brach der Lord in einen derart fürchterlichen Zorn aus, daß der arme Schneider einen Tag lang das Bett hüten mußte. Das Endergebnis war einfach überwältigend. Der Lord hatte sein Kostüm selbst entworfen, und da er nur sehr vage Vorstellungen von dem Aussehen eines Maharadschas besaß, hätte es vor dem Auge eines orientalischen Potentaten vermutlich nicht bestehen können: lange rote Pluderhosen, spitze persische Schnabelschuhe, die mit Metall- und Goldfäden durchwirkt waren, und ein imposanter dreiviertellanger grün-gelber Rock. Das Ganze wurde gekrönt von einem schneeweißen Turban mit vier vibrierenden Pfauenfedern darauf. Die Federn waren Adrians Idee gewesen; tagelang hatten die jüngeren Gärtner ihre freie Zeit damit verbracht, den unglücklichen Pfauen im Park aufzulauern und ihnen die Federn auszureißen. Adrians Kostüm durfte das des Maharadschas natürlich an Pracht nicht
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übertreffen, und er mußte sich deshalb mit einer kurzen, roten, goldbestickten Weste, weißen Pluderhosen und einem weißen Turban begnügen. Als die Kostüme schließlich abgeliefert waren, schlössen sie sich beide in Lord Fenneltrees Schlafgemach ein und zogen sie sich an. Sie sahen bemerkenswert aus, fand Adrian. Aber der Lord schien irgendwie nicht ganz zufrieden zu sein. Er betrachtete sich im Spiegel; irgend etwas fehlte noch. Nachdenklich strich er sich den Bart. «Wissen Sie, lieber Mann», sagte er dann, «da stimmt etwas nicht. Für einen Maharadscha sehe ich doch reichlich blaß aus, finden Sie nicht auch?» «Ja, vielleicht», gab Adrian zu. «Ich hab’s!» rief der Lord, dem der erlösende Gedanke gekommen war. «Korken!» Bevor Adrian etwas einwenden konnte, wurde der Butler in den Weinkeller geschickt, aus dem er gleich darauf mit mehreren Korken wiederkam. Zwei Diener schwärzten mit Hilfe eines Kandelabers die Korken, und Lord Fenneltree machte sich eifrig an die Arbeit. «So!» sagte er schließlich und wandte sich triumphierend um. «Wie sehe ich aus?» Adrian starrte ihn entgeistert an. Lord Fenneltrees Gesicht war jetzt tiefschwarz, und mit den großen blauen Augen und dem kastanienroten Backenbart sah er, um es schlicht auszudrücken, überraschend aus. «Wunderbar», sagte Adrian beklommen. «Nicht wahr, so eine Kleinigkeit, das macht doch sehr viel aus», sagte der Lord. «So, und jetzt kommen Sie dran!» Er hatte gerade Adrians eine Gesichtshälfte geschwärzt, da erschien der Butler. «Verzeihung, Mylord», sagte er. «Was denn, Raymond, was denn», sagte der Lord gereizt und hielt inne. «Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Mylady soeben gekommen ist.» Lord Fenneltree fuhr heftig zusammen und ließ den Korken fallen. «Allmächtiger!» rief er entsetzt. «Sie darf uns nicht so sehen, auf keinen Fall… Schnell, schnell, Raymond. Sagen Sie ihr, wir badeten gerade oder was Sie wollen. Sie darf unter keinen Umständen hier heraufkommen… Und vor allem, Raymond, sagen Sie ihr nichts von dem Elefanten.» «Ja, Mylord», sagte Raymond und ging hinaus. «Ich begreife gar nicht, wieso sie schon wieder da ist», sagte der Lord und riß sich den Turban vom Kopf. «Sie wollten doch erst übermorgen zurückkommen. Rookwhistle, sie darf auf keinen Fall erfahren, was wir vorhaben. Sie hat nämlich… sie hat sehr wenig Sinn für Humor, müssen Sie wissen, und sie würde es bestimmt nicht dulden. Also, mein lieber Mann: Schweigen wie das Grab, kein Sterbenswörtchen! Verstanden?»
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Pfauen und Pfirsiche Die ersten ernsthaften Bedenken, ob mit Rosy auf dem großen Fest auch alles glattgehen würde, kamen Adrian, als er Lady Fenneltree und ihrer Tochter Jonquil zum erstenmal gegenüberstand. Lady Fenneltree war von majestätischem Wuchs. Sie hatte dichtes, noch goldblondes Haar, ein edles Profil und die Augen einer gereizten Pythonschlange. Beim Reden sprach sie jede Silbe deutlich aus, damit jeder ihrer Wünsche auch ja verstanden wurde, und das in einer Lautstärke, als befehlige sie ein ganzes Dragonerregiment. Dabei hielt sie sich ein auffälliges, kostbares Lorgnon vor die Augen, was deren Bösartigkeit noch hervorhob. Adrian merkte, wie seine Stimmbänder unter dem starren Blick versagten. Jonquil hingegen glich sehr ihrem Vater: sie war schlank wie er, von den Extrakurven abgesehen, die er nicht besaß, und hatte die gleichen großen blauen Augen und kastanienroten Haare. Ihre zarte, unirdische Schönheit brachte ihn ebenso aus der Fassung wie Lady Fenneltrees durchdringender Blick. Als die beiden Herren, noch etwas zerrauft und im Gesicht noch schwärzliche Spuren ihrer Verwandlungsversuche, hastig den Salon betraten, musterte Lady Fenneltree sie drohend durch ihr Lorgnon. Adrian erbleichte. «Mein Herz – wie schön, daß du wieder dabist», sagte Lord Fenneltree mit matter Stimme. «Allzu begeistert scheinst du aber nicht zu sein. Du hast uns ja nicht einmal unten empfangen», sagte Lady Fenneltree kühl. «Und wer ist das?» «Ach so, ja», sagte der Lord. «Gestatte, mein Liebling, daß ich dir Adrian Rookwhistle vorstelle. Sein Vater war im College ein guter Freund von mir. Er… er kam gerade zufällig vorbei, und da habe ich ihn eingeladen, bis zu unserem Fest zu bleiben. Adrian, das ist meine Frau und das meine Tochter Jonquil.» «Guten Tag», sagte Lady Fenneltree in einem Ton, der Adrian verriet, daß selbst die Nachricht von seinem alsbaldigen Ableben sie ungerührt gelassen hätte. «Na», sagte der Lord und rieb sich die Hände, «und wie war es in der Stadt? Habt ihr euch gut amüsiert? Und schöne Sachen eingekauft?» «Rupert», sagte seine Frau, «würdest du es bitte unterlassen, mit uns wie mit schwachsinnigen Kindern zu reden. In der Stadt war es heiß und sehr anstrengend. Es würde mich mehr interessieren, wie weit deine Vorbereitungen für das Fest inzwischen gediehen sind.» Der Lord fuhr zusammen und schluckte. Adrian sank das Herz. Nach der kurzen Bekanntschaft mit Lady Fenneltree gab es für ihn keinen Zweifel mehr: sie war die letzte, die das Erscheinen eines Elefanten auf ihrer Party, wie prächtig er auch immer geschmückt sein mochte, begrüßen würde. Aber für solche Überlegungen war es nun zu spät. Er konnte nur stumm dastehen und abwarten, welche Erklärungen Lord Fenneltree abgab. «Vorbereitungen… o ja!» sagte der Lord, griff sich ans Revers und versuchte, ein möglichst verschmitztes und geheimnisvolles Gesicht zu machen. «Also die Vorbereitungen… ja, das kann ich dir leider nicht erzählen, mein Liebling. Ich kann dir nur versichern, daß alles sich gut anläßt… ausgezeichnet sogar. Es wird eine große, große Überraschung werden, mein Engel. Doch meine Lippen sind versiegelt. Nicht mit glühenden Zangen bekommst du ein Wort aus mir heraus.» Unter den gegebenen Umständen, dachte Adrian, ist das wohl auch das beste. «Soso!» sagte Lady Fenneltree, und das klang drohender und unheilvoller, als wenn ein Richter das Todesurteil verkündet. «Also gut… wenn du auf solchen Kindereien bestehst…
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Wenigstens scheinst du ja inzwischen nicht ganz untätig gewesen zu sein.» «Nein, nein», rief Lord Fenneltree beschwörend. «Auf mein Wort, meine Liebe – wir waren fleißig wie die Biber… tatsächlich, wie die Biber. Das Fest wird ein voller Erfolg, darauf gebe ich dir mein Wort.» Adrian verbrachte die nächsten beiden Tage in Angst und Bangen. Immer wieder beschwor er seine Lordschaft, Lady Fenneltree alles zu sagen; es war umsonst. Lord Fenneltree hatte zum erstenmal in seinem Leben eine originelle Idee gehabt und wollte sie unter keinen Umständen preisgeben. Er wußte, daß seine Gemahlin, wenn sie davon Wind bekam, bestimmt alles abblasen würde. Ging aber alles gut und wurde das Fest ein rauschender Erfolg, würde sie sich bestimmt nicht beklagen. Es war natürlich höchst schwierig, den Elefanten vor den allgegenwärtigen Augen Lady Fenneltrees zu verbergen. Zuerst fiel ihr auf, daß die Obstvorräte beträchtlich zusammengeschrumpft waren. Doch Lord Fenneltree (einer glücklichen Eingebung folgend) erklärte das mit dem plötzlichen Auftauchen einer neuen und besonders virulenten Käferart, und da Lady Fenneltree in Naturwissenschaften nicht gerade bewandert war, gab sie sich damit zufrieden. Sie entließ nur den Obergärtner. Als nächstes stellte sie fest, daß die meisten Pfauen im Park ohne Schwanzfedern über den Rasen schlichen. Lord Fenneltrees Behauptung, die Tiere seien in der Mauser, brachte ihm nur einen vernichtenden Blick ein, denn selbst Lady Fenneltree wußte, wann Pfauen mausern. Sie ließ die Wildhüter antreten, hielt ihnen eine Philippika und befahl ihnen, auf Pfauenfederndiebe zu achten und sie ohne Warnung niederzuknallen. Adrians Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Um Mitternacht mußte er immer aufstehen und Rosy auf der breiten Auffahrt spazierenführen, was angesichts der vielen bewaffneten Wildhüter keineswegs ungefährlich war. Von Rosy hatte er keinerlei Hilfe zu erwarten. Die vegetarischen Delikatessen waren inzwischen eine solche Selbstverständlichkeit für sie geworden, daß sie laut lostrompetete, wenn ihr die Pfirsiche ausgingen. Lord Fenneltree und Adrian lebten in ständiger Angst, daß Lady Fenneltree sich für diese ungewöhnlichen Töne zu interessieren begänne. Am Nachmittag vor dem Fest wäre fast alles herausgekommen. Während sie alle auf dem weichen Rasen hinter dem Haus Krocket spielten, trug der Wind von den Ställen plötzlich einen schrillen und entrüsteten Trompetenton herüber. Lady Fenneltree, die gerade die Kugel anstoßen wollte, hielt den Schläger an und starrte auf Seine Lordschaft, der – in dem verzweifelten Bemühen, Rosy zu übertönen – laut und falsch zu singen anfing. «Was war das für ein Geräusch?» fragte sie drohend. «Geräusch?» fragte der Lord und schlug mit unnötigem Schwung auf die Kugel ein. «Meinst du meinen Gesang, Liebste?» «Nein», erwiderte sie grimmig. «Ich habe nichts gehört», sagte der Lord. «Haben Sie etwas gehört, Adrian?» «Nein», sagte Adrian und wünschte sich weit, weit fort. «Ich habe nichts gehört.» «Es klang wie eine Trompete», sagte Lady Fenneltree, «oder wie ein Kornett oder wie sonst so ein ordinäres Musikinstrument.» Wieder verlieh Rosy ihrem Mißvergnügen durch einen hellen Entrüstungsschrei Ausdruck. «Da!» rief Lady Fenneltree. «Da ist es wieder!» «Ach das!» sagte Adrian verzweifelt. «Ich glaube, das kommt von der Jagd da drüben.» Lady Fenneltree war keineswegs überzeugt. Sie legte den Kopf auf die Seite und horchte, während Adrian und Lord Fenneltree angstvoll den Atem anhielten. Doch jetzt herrschte wohltuende Stille. Offenbar hatte der
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Pfirsichnachschub Rosy erreicht. «Übrigens… bei der Jagd fällt mir ein», sagte Lady Fenneltree zu ihrem Mann, «hast du gehört, Rupert, was da kürzlich in Monkspepper passiert ist? Ein Mann – offenbar ein Geisteskranker – ist mit einem großen, wilden Elefanten über die Jäger hergefallen.» Adrian rutschte der Schläger aus der Hand. Er fiel ihm schwer auf den Fuß. «Ach… tatsächlich?» sagte der Lord und bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. «Wie abscheulich.» «Und das schlimmste dabei war», fauchte Lady Fenneltree und versetzte der Kugel einen so heftigen Schlag, daß sie durch drei Tore schoß, «der Mann war splitternackt!» «Was du nicht sagst!» erwiderte Lord Fenneltree und schien die Überraschung selbst. Er warf einen Blick zu Adrian hinüber, der ihm diesen Teil der Geschichte vorenthalten hatte. «Empörend», sagte Lady Fenneltree. «Tatsächlich… splitternackt?» fragte der Lord augenscheinlich fasziniert. «Warum war er denn bloß splitternackt, und obendrein noch mit einem Elefanten?» «Leute der unteren Stände», belehrte ihn seine Frau, «bringen manches fertig, besonders wenn sie unter dem Einfluß von Alkohol stehen.» Jonquil hatte die ganze Zeit dabeigestanden und ins Leere gestarrt. Jetzt sah sie Adrian mit einem schmelzenden Blick an und sagte: «Ich habe noch nie einen nackten Mann gesehen.» «Jonquil!» rief Seine Lordschaft entsetzt. «Das will ich auch hoffen! Damit hat es noch reichlich Zeit.» Dieses Gespräch lenkte zwar Lady Fenneltrees Aufmerksamkeit von Rosys Protestrufen ab, stürzte aber Adrian in neue Panik. Er war überzeugt, daß Lord Fenneltrees originelle Idee zu einer Katastrophe führen würde. Abgesehen von allem anderen würde Lady Fenneltree angesichts der Tatsache, daß der junge Mann, der splitternackt die Jagdgesellschaft überfallen hatte, seit Tagen Gast in ihrem Hause war, nicht gerade in Begeisterung ausbrechen. Adrian trug dem Lord noch einmal seine Bedenken vor, doch der Lord beharrte auf seinem Plan. «Wäre es nicht das beste, wenn Rosy und ich uns aus dem Staube machten?» flehte ihn Adrian an. «Ich versichere Ihnen, wenn Lady Fenneltree alles erfährt, wird sie Feuer und Lava sprühen wie ein Vulkan.» «Unsinn», sagte der Lord gelassen. «Wenn sie den großartigen Einzug in den Ballsaal miterlebt, wird es ihr vor Begeisterung die Sprache verschlagen.» Adrian konnte sich nicht vorstellen, daß irgend etwas auf der Welt Lady Fenneltree die Sprache verschlagen würde. «Aber wenn sie erfährt, wer ich bin», protestierte er, «und die Sache mit Rosy und mit dem Obst und den Pfauenfedern… und…» Seine Stimme versagte. Die Vorstellung, daß Lady Fenneltree das alles auf einmal entdeckte, überwältigte ihn. «Machen Sie sich keine Sorgen», sagte der Lord freundlich. «Sie machen sich immer Gedanken. Das habe ich schon des öfteren festgestellt, und ich will Ihnen sagen, das ist nicht gut für die Nerven. Sie müssen doch schon gemerkt haben, daß meine Frau jede Situation sofort erfaßt. In dem Augenblick, wo Rosy in den Saal kommt, wird sie sich sofort sagen, daß in keinem anderen Haus weit und breit jemals ein Elefant auf einem Ball erschienen ist. Und ich sage Ihnen, lieber Freund, sie wird diesen Abend nie vergessen.» Damit sollte er recht behalten, nur nicht ganz so, wie er angenommen hatte. Der große Tag brach an, und das ganze Haus summte vor Aktivität. Der Ballsaal, in den Rosy einziehen sollte, war fünfzig Meter lang und zwanzig Meter breit. Von einer Steinterrasse gelangte man in ihn durch eine massive Eichentür. Über den Türflügeln hing
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wie ein Schwalbennest der Balkon, auf dem die Musiker spielen sollten. Vierundzwanzig Riesenkronleuchter in zwei langen Reihen erhellten den Saal und glitzerten wie umgekehrte Weihnachtsbäume. Der Fußboden war blankgebohnert und schimmerte wie ein dunkler See, und am anderen Ende des Saales, gegenüber der massiven Tür, waren lange weißgedeckte Tische aufgebaut. Darauf standen große silberne Fruchtschalen, Platten mit kaltem Rehrücken, Hummerschwänzen in Aspik, die wie große rote Fliegen in Bernstein schimmerten: gewaltige Pasteten mit herbstbrauner Kruste, gefüllt mit Huhn, Fasan und Wachteln; geräucherter Aal auf einem Bett aus Petersilie und Kresse; Räucherlachse, umgeben von Majonnaise mit schwarzen Kaviarperlen; und in der Mitte, als piece de resistance, ein ganzes Spanferkel, herrlich dekoriert mit einem roten Apfel in der Schnauze. Rings um diese Delikatessen standen große Bowlen mit Punsch, Silbereimer voll Champagnerflaschen, ganze Batterien von Rotwein- und Portweinflaschen für die Herren und frischer Saft aus Orangen, Zitronen, Pfirsichen, dazu verschiedene Eiscremes zur Erfrischung der Damen nach den anstrengenden Walzern und Polonaisen. Immer fieberhafter wurde die Tätigkeit im Hause. Adrian stand entweder im Stall, wo er Rosy Ermahnungen für ihren Auftritt erteilte, oder er schlich sich in den Ballsaal und blickte mit wachsender Angst, die ihm den Magen zusammendrückte, auf das spiegelblanke Parkett. Endlich rollten, klappernd und klirrend, über die mondbeschienene Auffahrt die ersten Wagen heran, denen stattliche bärtige Herren mit buntgekleideten und wohlduftenden Damen entstiegen. Die Musiker hatten ihre Plätze auf dem Balkon eingenommen und spielten zum Willkommen auf. Adrian hatte in seiner Verzweiflung schon ein Glas Punsch getrunken und verwünschte in Gedanken seinen Onkel, Lord Fenneltree und Rosy, die ihn in diese Lage gebracht hatten. Beim zweiten Glas wurde ihm schon etwas wohler, und erst recht beim dritten. Gerade hatte er beschlossen, Jonquil um einen Tanz zu bitten, als ein starker bärtiger Mann hereinkam und laut nach etwas zu trinken verlangte. Im ersten Augenblick erkannte Adrian ihn in all seinem Staat nicht, dann überlief es ihn plötzlich kalt. Der Mann, der da neben ihm stand, war der Master der Monkspepper-Jagd. Zum Glück war er gleich so mit seinem Punsch beschäftigt, daß er sich um die Umstehenden nicht kümmerte. Adrian hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht und schlich sich aus dem Saal. Hastig suchte er Lord Fenneltree und fand ihn auch, hatte aber einige Mühe, ihn von seinen Gästen wegzulotsen. «Was ist denn los?» fragte der Lord leicht gereizt. «Hören Sie bloß!» zischte Adrian. «Wissen Sie, wer gerade gekommen ist? Sie müssen die Sache aufgeben.» «Warum?» «Der Master der Monkspepper-Jagd!» «Aber das weiß ich doch», sagte Lord Fenneltree erstaunt. «Den habe ich ja selbst eingeladen.» Adrian war erschlagen. «Sie haben ihn eingeladen? Und was meinen Sie, wird er sagen, wenn er Rosy hier sieht?» «Haha», freute sich der Lord. «Deshalb habe ich ihn ja eingeladen.» «Sind Sie nicht bei Sinnen!» stöhnte Adrian verzweifelt. «Ist Ihnen denn nicht klar, daß Rosy ihn damals mit dem Rüssel hochhob und zu Boden schleuderte? Was, glauben Sie, wird er wohl sagen, wenn er sie hier wiedersieht?» «Nun, das stelle ich mir sehr amüsant vor», sagte Seine Lordschaft. «Er hat aber gesagt, er ließe uns beide einsperren!» «Oh, machen Sie sich nur keine Sorgen wegen des alten Knaben», sagte Lord Fenneltree
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obenhin. «Den werde ich schon zu besänftigen wissen.» Angesichts der völligen Unfähigkeit des Lords, Lady Fenneltree jemals zu besänftigen, konnte sich Adrian recht gut vorstellen, welche Wirkung solche Beschwichtigungsversuche auf den Jagdmaster haben würden. «Mein lieber Junge», sagte Lord Fenneltree, «Sie machen sich schon wieder Sorgen. Lassen Sie davon ab, ich flehe Sie an. Wir brauchen beide einen kühlen Kopf für unser Vorhaben… einen klaren und kühlen Kopf, verstehen Sie? In einer halben Stunde werde ich Sie rufen, dann kleiden wir uns um. Ich kann unseren Auftritt kaum noch erwarten.» Heiter lächelnd entschwand er ins Haus und ließ Adrian, der angsterfüllt nach Worten rang, allein zurück. Das Fest war nun in vollem Gange, und der Ballsaal glich einem großen bewegten Blumenbeet, als sich die Paare auf der schimmernden Tanzfläche drehten. Wein und Punsch flössen reichlich. Viele der Herren, die beim Kommen blaß und still ausgesehen hatten, waren jetzt rosig erhitzt, und wer schon rötlich angehaucht gekommen war, sah jetzt so tiefrot aus, als sei er dem Schlagfluß nahe. In den Ecken ließen sich die Damen erschöpft auf die Sitze fallen, bewegten heftig die Fächer und riefen mit klagenden Vogelstimmchen nach Eiscreme und erfrischendem Saft. Finster gestimmt ließ sich Adrian von einem Diener Champagner bringen und versuchte, die nächste halbe Stunde nicht mehr an das Kommende zu denken. Der Champagner schoß ihm jedoch eisig wie das Schicksal selbst in den Magen. Er überlegte gerade, ob er nicht lieber doch noch ein Glas Punsch trinken sollte, als plötzlich Lord Fenneltree wie aus dem Boden gewachsen neben ihm stand. «Die Stunde ist da», sagte er feierlich. «Jetzt gilt es, Triumphe zu feiern!» «Ich wollte, ich könnte das auch glauben», sagte Adrian bitter und folgte ihm nach oben. Im Schlafzimmer des Lords glitzerten die prachtvollen Kostüme unter dem Baldachin des Bettes; Butler und Diener standen aufgeregt bereit, um ihnen in den fürstlichen Staat zu helfen. Eine halbe Stunde später sah Lord Fenneltree so orientalisch aus, wie es bei einem Mann mit rötlichem Backenbart und blauen Augen nur möglich war. Sie schlichen die Treppe hinunter und erreichten die Ställe, wo Rosys Prunkanzug bereitlag und im Licht der Petroleumlampen funkelte. «So», sagte Lord Fenneltree begeistert. «Jetzt wird unser Star geschmückt, und dann kommt der große Auftritt. Ich kann es kaum erwarten, was für Gesichter sie machen werden.»
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Das Fest Adrian ging zu der großen Scheune und öffnete das Tor. Süßer Heuduft strömte ihm entgegen, daneben aber noch ein anderer, schärferer Geruch. Er runzelte die Stirn und kräuselte die Nase. Was konnte das sein? « Rosy!» rief er. Nichts rührte sich in der dunklen Scheune. Kein Freudenschrei, mit dem Rosy ihn sonst stets begrüßte. «Rosy – bist du da?» rief er besorgt. Plötzlich wurde die Stille von einem lauten, majestätischen Rülpser unterbrochen. Ein schrecklicher Verdacht stieg in Adrian auf, und im gleichen Augenblick erkannte er auch den Geruch: es war Rum. Er ergriff eine Laterne und stürzte in die Scheune. Da stand Rosy, elegant an die Mauer gelehnt, und rollte nachdenklich und gelegentlich rülpsend mit dem Fuß eine leere Flasche hin und her. Entgeistert starrte Adrian sie an. Er hatte keine Ahnung, wie sie zu dem Rum gekommen war. Während im ganzen Hause fröhlicher Festtrubel herrschte, hatte sich Rosy augenscheinlich in der einsamen Scheune still dem Trunk ergeben. Die Feststellung, sie wäre nicht fähig, aufzutreten, wäre eine Untertreibung gewesen. Sie war so selig betrunken, wie Adrian es noch bei kaum einem Menschen erlebt hatte. Jetzt nahm sie ein Büschel Heu und versuchte, ihn sich ins Maul zu schieben, was ihr nach mehreren mißglückten Ansätzen auch gelang. Nachdenklich kaute sie darauf herum und ließ dann einen leisen, damenhaften Rülpser hören. Plötzlich überkam Adriane eine ungeheure Erleichterung. Hier war die Rettung: Die liebe, süße, einzigartige Rosy hatte ihn fünf Minuten vor zwölf errettet. Wenn er auf diesen Einfall gekommen wäre, dann hätte er ihr die Flasche Rum selber gebracht! Er eilte aus der Scheune zu dem wartenden Lord Fenneltree. «So, jetzt müssen Sie die Sache aufgeben», sagte Adrian triumphierend zu ihm. «Sie ist blau.» «Blau… was heißt das?» fragte der Lord verwirrt. «Blau ist sie. Betrunken… beduselt… sternhagelvoll. Sie hat irgendwoher eine Flasche Rum bekommen und sie ausgetrunken.» «Guter Mann», stöhnte seine Lordschaft. «Soll das heißen, daß sie nicht auftreten kann? Aber das wäre ja eine Katastrophe.» «Ja», sagte Adrian lakonisch. «Nicht mal aufrecht stehen kann sie.» «Aber das ist ja nicht auszudenken! Nach all der harten Arbeit!» ächzte Seine Lordschaft. «Läßt sie sich nicht vielleicht stützen, wenn die Gärtner ihr von beiden Seiten beistehen?» «Nein», erklärte Adrian. «Ich sage Ihnen, sie kann nicht einmal gehen.» In diesem Augenblick trat Rosy schwankend aus der Scheune und stieß lässig die Flasche vor sich her. «Beim Zeus!» sagte der Lord. «Sie hat sich erholt.» Rosy befand sich in jenem bekannten seltsamen Zwischenstadium halber Nüchternheit, wie man es oft bei Betrunkenen erlebt. Das wollte jedoch Lord Fenneltree um keinen Preis wahrhaben. Während er und Adrian heftig weiterstritten, hatte Rosy ihr Kostüm entdeckt und schwankte mit einem vergnügten, wenn auch leicht überkippenden Quiekser darauf zu, legte sich hin und wartete, daß die Diener sie ankleideten. «Sehen Sie?» triumphierte der Lord. «Was habe ich Ihnen gesagt? Sie ist wieder völlig in Ordnung. Ich sage es ja, guter Mann, Sie machen sich immer zu viel Sorgen.» «Und ich sage Ihnen», erwiderte Adrian zornig, «sie ist voll wie eine Strandhaubitze. Wenn Sie sie in diesem Zustand in den Ballsaal lassen, lehne ich jede Verantwortung ab.»
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Lord Fenneltree näherte sich Rosy und tätschelte ihr zärtlich den Kopf. «Gute, alte Rosy!» sagte er. «Du wirst es schon schaffen, was?» Ein zarter Rülpser war die Antwort. Adrians Proteste nützten nichts: das schwere glitzernde Kostüm wurde ihr über den Rücken gebreitet, die Hauda wurde hochgehievt und festgezurrt. Lord Fenneltree stieg auf die Leiter und setzte sich oben bequem zurecht. «Nur zu, lieber Mann, verlieren Sie keine Zeit», sagte er zu Adrian. «Der große Augenblick ist da!» Mit einem Gefühl, als stiege er aufs Schafott, nahm Adrian auf Rosys Nacken Platz. Vielleicht, dachte er, bestand doch noch eine geringe Chance, Rosy schnell in den Ballsaal hinein- und wieder herauszulenken; damit wäre der Lord zufriedengestellt, und Rosy verschwände dann umgehend von der Bildfläche. Zum Glück gehörte Rosy zu den gutartigen Betrunkenen. Unter Adrians anfeuernden Rufen kam sie schwerfällig auf die Füße und blieb einen Augenblick schwankend stehen. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung und stapfte über die Auffahrt um das Haus herum zur Terrasse vor dem Ballsaal. Rosys Neigung, hin- und herzuschwanken, hinterließ deutlich sichtbare Spuren auf den Blumenbeeten. Doch schließlich erreichten sie die große Tür zum Saal, wo Butler und Diener, die Hand auf der Klinke, warteten. «Jetzt, Mylord?» fragte der Butler mit gedämpfter Stimme. «Jetzt!» sagte Lord Fenneltree, schob den Turban zurecht und lehnte sich königlich in der Hauda zurück. Butler und Diener öffneten die schwere Tür, und in diesem Augenblick hörte die Musik wie verabredet auf zu spielen. Die walzenden Paare hielten inne und blickten zur Tür, in der sich ihnen orientalischer Prunk, wenn auch in leicht schwankendem Aufzug, darbot. Rufe des Entzückens wurden laut, eilig stellten sich alle im Spalier auf, klatschen in die Hände und jubelten. «Na, los doch!» zischte Lord Fenneltree. «Hinein mit ihr.» Adrian sandte ein Stoßgebet zum Himmel, stieß Rosy kurz mit den Fersen an und wartete auf das Resultat. Rosy war einen Augenblick benommen von dem Glanz der großen Kronleuchter, doch jetzt erblickte sie, benebelt vom Rum, eine große bunte Menschenmenge – genau wie früher in ihrer Manege. Die Vorstellung konnte also beginnen. Rosy hatte nicht umsonst Artistenblut. Sie gab ein freudiges Trompeten von sich, riß sich zusammen und betrat den Ballsaal in flottem Trab. Und das war ihr Verderben. Das spiegelglatt gebohnerte Parkett wäre schon für einen nüchternen Elefanten ein schwieriges Gelände gewesen. Für einen Dickhäuter in Rosys Zustand war es eine Katastrophe. Ihre Hinterbeine, über die sie keine Gewalt mehr hatte, glitten unter ihr weg, so daß sie plötzlich und unerwartet auf ihrem Hinterteil saß. Auch jetzt noch hätte alles gutgehen können, wäre sie nicht gleich zu Anfang mit so viel Schwung in den Saal getreten. Jetzt schlitterte sie in Schußfahrt über das glatte Parkett, während Adrian sie wild an den Ohren riß in dem vergeblichen Bemühen, die rasende Fahrt aufzuhalten. Lord Fenneltree, der in der Hauda fast einen Salto machte, schrie unverständliche Befehle, doch es war alles, alles umsonst. Das Kreischen der Damen und die Schreckensrufe der Herren erfüllten den Saal, während Rosy, glitzernd wie ein Diamantenberg, immer schneller auf ihrem Hinterteil durch den Saal schoß und am unteren Ende gegen das aufgestellte Büfett krachte. Punsch, Champagner und acht verschiedene edle Weine ergossen sich über den Boden. Hirschkeulen, mit Eiscreme bespritzt, Früchte, Hummer, Aal und Lachs verteilten sich über dem Parkett. Das splitternde Krachen, mit dem Rosy zum Stillstand kam, erschütterte das Haus in seinen Grundfesten. Dann war Stille, eine entsetzlich lange Stille, die nur von Rosys zarten Rülpsern unterbrochen wurde. Es war wahrscheinlich das erste Mal, daß es Lady Fenneltree die Sprache verschlug. Ihr
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Mann hatte ihr etwas Originelles versprochen; aber an einen großen juwelenbehängten Elefanten, der mit zwei Asiaten auf dem Rücken den Ballsaal entlangschoß, hätte sie in ihren wildesten Träumen nicht gedacht. Bei Rosys Anprall waren die Verbindungsschnüre der Hauda gerissen, die Hauda war zu Boden gestürzt, und wie ein bunter Schmetterling aus einem Kokon kroch Lord Fenneltree aus ihrem Innern hervor. Mit zornigem Schrecken erkannte ihn seine Gemahlin, und unverzüglich fand sie ihre Sprache wieder. «Rupert!» bellte sie auf. «Was soll das bedeuten?» Eine etwas schwer zu beantwortende Frage, doch Lord Fenneltree tat sein Bestes. «Die Überraschung!» keuchte er unsicher lächelnd und wies auf das Chaos aus Wein und Speisen. «Das ist die Überraschung, die ich dir versprochen hatte, mein Liebling.» Lady Fenneltree bebte wie eine zu stark angeschlagene Harfensaite. «Überraschung?» röchelte sie. «Ja, mein Engel. Oder hast du schon einmal auf einem Ball in unserer Gegend einen Elefanten gesehen?» «Nein – und es dürfte auch klar sein, warum nicht!» schäumte Lady Fenneltree hochrot. «Schaff mir sofort das Tier hinaus!» Rosy saß immer noch gelassen auf ihrem Hinterteil. Sie hatte sich bei dem Stoß ein paar Abschürfungen geholt, doch das wurde reichlich aufgewogen durch die Tatsache, daß sie hier offenbar in ein Elefantenparadies geschlittert war. Überall Lachen köstlich berauschender Flüssigkeiten, dazwischen Delikatessen wie Hummer, Eiscreme und Wildpastete, die sie bisher nicht gekannt hatte. Glückselig langte sie mit dem Rüssel nach allen Seiten und ignorierte Adrian, der immer noch auf ihrem Nacken saß und sich verzweifelt bemühte, seinen Schützling zum Aufstehen zu bewegen. Plötzlich besann sich Rosy auf ihre gute Erziehung. Diese reizenden, gastfreundlichen Menschen hier hatten ihr dieses köstliche Festessen vorgesetzt, es war also nicht zuviel verlangt, wenn sie sie ein bißchen unterhielt. Sie saugte noch einen Rüssel voll Champagner in sich hinein und überlegte, welches von den vielen Kunststücken, die ihr beigebracht worden waren, das Zirkuspublikum am meisten entzückt hatte. Nach reiflicher Überlegung entschied sie sich dafür, aufrecht ‹bitte, bitte› zu machen. Das war keine sehr glückliche Idee. Adrian konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen, denn der Alkohol hatte Rosys Gleichgewichtssinn stark beeinträchtigt, und sie fiel mit donnerndem Gepolter auf den Rücken, wobei einer der Riesenkronleuchter sich aus der Decke löste und in tausend glitzernde Stücke zersprang. Dreihundertfünfzig große Kerzen landeten ebenfalls auf dem Parkett und brannten dort lustig weiter. Die verstörten Gäste liefen ziellos hin und her und schrien. Die Damen wurden ohnmächtig, kamen zu sich und wurden von neuem ohnmächtig. Die Herren hatten alle Hände voll zu tun, sie beim Umfallen aufzufangen. Rosy war freudig überrascht. Ihre Glanznummer war noch nie mit so viel Begeisterung aufgenommen worden. Sie rollte auf die Seite, rappelte sich hoch und blickte strahlend durch den verwüsteten Ballsaal. Jeder, so schien es, machte heute mit. Adrian hatte einen großen silbernen Eimer mit Eiswasser gepackt und über den Haufen hellbrennender Kerzen gegossen. Das Feuer war nun zwar gelöscht, aber der Saal war angefüllt mit beißendem Qualm. Lady Fenneltree, dem Schlagfluß nahe vor Zorn, hatte den Hausherrn bei seinem morgenländischen Kostüm gefaßt und schüttelte ihn hin und her. Dieser Anblick war so fesselnd, daß mehrere Damen beschlossen, aus der Ohnmacht zu erwachen. Es war, fand Rosy, eine überaus gelungene Party, ganz so, wie es sein sollte: es gab reichlich zu essen und zu trinken, und jeder machte mit. Schnell schleckte sie eine Portweinpfütze auf und überlegte, ob sie noch einmal ‹bitte, bitte› machen sollte. Aber sie
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fand, man sollte sich bei einem so dankbaren Publikum nicht wiederholen. Sie beschloß daher, sich auf den Kopf zu stellen, hatte aber damit nicht mehr Glück als mit ihrem ersten Kunststück und fiel schwer auf die Seite, wo sie einen Augenblick liegenblieb, einen gelinden Rülpser von sich gab und nicht recht wußte, was schiefgegangen war. Das Pech wollte es, daß in diesem Augenblick die Musik wieder einsetzte. Die Musiker waren zwar sehr erschrocken von dem Chaos, das unten entfesselt war, aber wenn Seine Lordschaft es so wünschte, stand es ihnen nicht zu, Kritik zu üben. Sie waren alle schon lange im Dienste der Familie; die Schlacht, die sich Lord und Lady Fenneltree da unten lieferten, und die Worte, die dabei fielen, gehörten besser in die Abgeschiedenheit des Schlafzimmers; jedenfalls war es mehr, als sie ertragen konnten. Hier mußte etwas getan werden, um den Abend zu retten; und so legten sie lustig mit einem Wiener Walzer los. Wie konnten sie auch ahnen, daß einer der Höhepunkte in Rosys Zirkuslaufbahn der Walzer – ihr Walzer – gewesen war. Den Rüssel um eine etwas ausladende, doch attraktive Blondine geschlungen, war Rosy seinerzeit behende und kraftvoll rund um die Manege gewalzt. Das alles fiel ihr ein, als sie jetzt die vertraute Melodie wieder hörte. Sie rappelte sich auf und blickte benebelt um sich. Und das Unglück wollte es, daß ihr Blick zuerst auf die Dame des Hauses fiel. Lady Fenneltree war in ihrer ausführlichen und ausgiebigen Beschimpfung des Stammbaums der Fenneltrees erst bis zum fünfzehnten Jahrhundert gekommen, als sie sich plötzlich hochgehoben und in einem – wie Rosy meinte – feurigen Walzer dahingewirbelt sah. Rosy hielt ihre gellenden Hilferufe für Zustimmung und walzte fröhlich weiter. Sie war mit sich zufrieden. Nie hatte sie so gut Walzer getanzt. Zwar krachte sie mehrfach schwer zu Boden, doch hielt sie Lady Fenneltree dabei stets so hoch, daß ihr nichts geschehen konnte. Die erste, etwas unsichere Runde um den Saal hatte sie hinter sich gebracht, gefolgt von den entzückten und entsetzten Blicken der Anwesenden, als die Musiker erkannten, daß ihre Klänge den Elefanten offenbar anfeuerten statt ihn zu beruhigen. Sofort hielten sie inne. Rosy war darüber ganz froh. Sie war nicht mehr die Jüngste, der Ballsaal war groß und Lady Fenneltree schwer. Rosy fand, sie habe nun genug zur Unterhaltung beigetragen. Jetzt konnte sie zum Finale übergehen. Sie bettete die ohnmächtige Lady Fenneltree zwischen einen Rehrücken, vierzehn Flaschen Champagner und die Reste eines Lachses, hob stolz den Rüssel in die Luft und stieß einen langen, hoheitsvollen Trompetenton aus. Die Wirkung auf die Gäste war verblüffend. Zweifellos ging die wilde Bestie, die Lady Fenneltrees Blut geleckt hatte, nun ernsthaft zum Angriff über. Einen Augenblick standen alle wie angewurzelt vor Schrecken, dann stoben sie auseinander und rannten wie aufgescheuchte Hasen durch den Ballsaal. Viele liefen nicht vor Rosy weg, sondern – wie es häufig geschieht in kritischen Momenten – ihr sozusagen direkt in die Arme, Unter ihnen war auch der Master der Monkspepper-Jagd, der für sein Gewicht Erhebliches an Geschwindigkeit leistete. Selbst in ihrem angesäuselten Zustand erkannte Rosy ihn sofort wieder und strahlte. Das war doch der freundliche Mann, der ihr so geholfen hatte, als sie auf der Wiese ihre Kunststücke zeigte! Mit entzücktem Aufschrei streckte sie, als er vorbeilaufen wollte, den Rüssel nach ihm aus und hob ihn hoch in die Luft. Adrian sah es kommen, daß es dem Master so ergehen werde wie Lady Fenneltree. Hier muß etwas geschehen. «Rosy!» brüllte er in das Pandämonium hinein. «Setz ihn ab!» Rosy, war erstaunt, denn sie war ja noch keineswegs fertig. Sie hatte als Höhepunkt den Master auf den Musikerbalkon setzen wollen. Doch sie wurde nun auch müde, und wenn Adrian wollte, daß sie den Master losließ, dann mußte sie ihm eben gehorchen. Sie entrollte also ihren Rüssel und ließ die zweieinhalb Zentner Lebendgewicht des Masters der Monkspepper-Jagd krachend auf den Boden fallen. Adrian schloß die Augen und wünschte sich weit unter die
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Erde. Als er sie wieder öffnete, stand Lord Fenneltree neben ihm und zupfte ihn am Ärmel. «Ach, mein Lieber», sagte Seine Lordschaft, «ich fürchte, Sie haben recht gehabt. Das Ganze war doch kein so guter Gedanke.» Adrian warf einen Blick auf den verwüsteten Ballsaal, auf die kreischenden Gäste, auf Lady Fenneltree, die ohnmächtig mit dem Kopf auf einem Lachs ruhte, auf den bewußtlosen Jagdmaster (vielleicht war er tot?) und auf Seine Lordschaft. Er hatte nicht mehr den Mut, ihm zu widersprechen.
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Dunkle Weissagungen Adrian konnte sich später nicht mehr darin erinnern, wie er es fertiggebracht hatte, mit heiler Haut aus Fenneltree Hall davonzukommen. Ganz dunkel wußte er noch, daß es ihm und Lord Fenneltree irgendwie gelungen war, Rosy aus den Trümmern des Ballsaals herauszulotsen und zu den Ställen zu bringen. Lord Fenneltree hatte es für ratsam gehalten, daß Adrian und Rosy «entwischten», bevor Lady Fenneltree oder der Jagdmaster oder gar beide wieder zu sich kamen. Und dann konnte er sich nur noch daran erinnern, wie er und Rosy die mondbeschienene Landstraße, die sie von Fenneltree Hall wegführte, entlang wanderten, hinter sich den klappernden bunten Wagen. Rosy, die unter einem starken Kater litt und sich nach Schlaf sehnte, seufzte verdrossen über so viel unangebrachten Tatendrang, von dem man doch nur Kopfschmerzen bekam. Adrian hatte auch Kopfschmerzen, allerdings aus anderen Gründen. Er hatte mit Rosy noch ein ernstes Wörtchen zu reden, wollte sich aber vorher möglichst viele Meilen von Lady Fenneltrees Zorn entfernen und trieb deshalb Rosy immer wieder zur Eile an. Die Nacht war herrlich, der Vollmond schien, der sternenbesäte Himmel sah aus wie ein Spinnengewebe voller Tautropfen, und obwohl es kalt war, wurde beiden vom raschen Gehen warm. Nachdem sie drei Stunden gewandert waren, meinte Adrian, nun seien sie wohl einigermaßen sicher, jedenfalls für diese Nacht. Doch ihm lag daran, ein Plätzchen zu finden, wo er und Rosy sich auch noch den folgenden Tag über verbergen konnten. Lady Fenneltree war eine Frau von eiserner Entschlossenheit. Sie würde bestimmt nicht ruhen und rasten, bis man ihn und Rosy aufgespürt, gefangengenommen und nach Fenneltree Hall zurückbefördert hatte. Und eine Gegenüberstellung mit Lady Fenneltree war wirklich das letzte, was er sich in diesem Augenblick wünschte. Die Straße führte zwischen weiten Feldern und kleinen Gehölzen hindurch. Dies war nicht die Landschaft, die ein Versteck bot, wie Adrian es suchte. Und nun ging es zu seinem Entsetzen auch noch bergauf durch ein ausgedehntes, unwirtliches Moor, wo es kaum möglich gewesen wäre, ein Hündchen zu verstecken, geschweige denn einen ausgewachsenen Elefanten. In der Hoffnung, sie würden jenseits des Moores einen Wald finden, schritt Adrian weiter kräftig aus. Doch das Moor schien größer und größer zu werden, und in dem kalten Licht der Morgendämmerung erstreckte es sich in alle Richtungen, so weit das Auge reichte, eine einzige purpurrote, braune und grüne Fläche. Es war ausgeschlossen, sich hier zu verstecken. Als die Sonne aufging, schien das Moor in Flammen zu stehen. Aus dem Heidekraut und dem Ginster reckten sich kleine kreisende Nebelfinger empor, die allmählich in dünne Schleier übergingen. Der Nebelvorhang verdichtete sich in Minutenschnelle und verbarg die ganze Landschaft. Schon in einer Entfernung von zehn Metern war Rosy nicht mehr zu sehen, doch sobald die Sonne höher stieg, würde der Nebel sicher verschwinden. Deshalb meinte Adrian, es sei besser, jetzt gleich Rast zu machen und etwas zu essen. Er führte Rosy von der Straße in eine kleine Mulde hinunter, holte seinen Kessel hervor und machte ein kleines Feuer, über dem bald das Wasser kochte. Er machte Tee und schnitt sich Brot und Käse ab. Dann gab er Rosy ein paar alte Brotlaibe, die sie jedoch verächtlich ansah und tief seufzend mit dem Fuß hin und her schob. Sie ging zum Wagen zurück und legte den Rüssel auf das Bierfäßchen. Zum erstenmal seit ihrer Bekanntschaft verlor Adrian die Geduld. Er sprang auf, lief zu ihr und schlug sie so heftig wie er konnte auf den Rüssel. Rosy war fassungslos über dieses lieblose Verhalten ihres angebeteten Beschützers. Sie schreckte zurück und stieß einen klagenden Schrei aus, der in gar keinem Verhältnis zu dem Schmerz stand, den ihr der Schlag bereitet hatte. Sie war verwundert und gekränkt; sie hatte doch nur einen kleinen Schluck Bier
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gewollt, um ihre trockene Kehle etwas anzufeuchten und ihre Kopfschmerzen zu lindern, und Adrian reagierte gleich wie ein Berserker. «Bleib ja von dem Bier weg, du… du verdammter Elefant!» schrie Adrian aufgebracht. «Das ist alles, was du im Kopf hast, saufen, weiter nichts als saufen.» Er warf eine Decke über das Bierfäßchen und ging düsteren Sinnes wieder zu seinem Feuer. Finster starrte er Rosy an. «Du wirst nicht eher Ruhe geben, als bis du mich ins Grab gebracht hast», sagte er bitter. «Erst dringst du in mein friedliches Leben ein und reißt es aus den Fugen, dann machst du die Pferde in der Stadt wild, bringst eine ganze Jagd durcheinander, tötest fast den Master, und dann zertrümmerst du eines der schönsten Herrenhäuser Englands, und schließlich umarmst du Lady Fenneltree mit deinem Rüssel und führst mit ihr einen Tanz auf, als wäre sie die nächstbeste Zirkuskünstlerin. Wahrscheinlich ist auf deinen Kopf schon eine Riesenbelohnung ausgesetzt worden. Und dann der Schaden, den du angerichtet hast: allein der Kronleuchter muß hundertfünfzig Pfund gekostet haben. Aber dir scheint das alles nichts auszumachen! Empfindest du auch nur das geringste Fünkchen Reue? Nein, du nicht! Du denkst bloß daran, wie du dich wieder besaufen kannst.» Er hielt inne und stocherte wütend im Feuer herum. Rosy schlappte mit den Ohren und schwenkte den Rüssel hin und her. Obwohl ihr die feineren Nuancen in Adrians Gardinenpredigt entgingen, war sie doch ein so empfindsames und kluges Tier, daß sie dem Ton seiner Stimme entnahm, wie verärgert er war. Sie liebte Adrian und hätte ihm gern geholfen. Ob sie es, um ihn von seinen Problemen abzulenken, vielleicht einmal mit einem kleinen Kopfstand versuchte? Sie war drauf und dran, als Adrian wieder zu reden anfing. Höflich hielt sie inne und hörte zu. «Ich will dir sagen, was ich jetzt mit dir mache, du verdammtes Vieh. Ich schaffe dich auf Biegen und Brechen an die Küste, und dort bekommt dich der erste beste, der dumm genug ist, dich zu nehmen. Und was dann mit dir geschieht, interessiert mich nicht… meinetwegen sollen sie mit dir machen, was sie wollen…» Adrian dachte einen Augenblick darüber nach, welches schreckliche Schicksal für Rosy wohl die gerechte Strafe wäre. «Und wenn sie dich zum Holzschleppen anstellen… mir soll’s recht sein. Ausstopfen sollte man dich und ins Museum stellen. Da wäre man jedenfalls vor dir sicher. Mir ist alles recht, Hauptsache du verschwindest aus meinem Leben.» Adrian holte tief Luft. Um ihm zu zeigen, daß sie aufmerksam zugehört hatte, schlappte Rosy mit den Ohren und gab einen halblauten Quiekser von sich. «Du brauchst dir überhaupt keine Mühe zu geben», sagte Adrian streng. «Ich bin fest entschlossen. Weil ich nämlich eines in meinem Leben ganz bestimmt nicht haben will – einen Elefanten, der einen unstillbaren Hang zum Alkohol hat, der durch die Gegend torkelt und, wo er geht und steht, nur Trümmer hinterläßt. Sobald wir die Küste erreicht haben, sind wir geschiedene Leute, verstanden? Ich habe mehr gelitten, als man einem normalen Menschen zumuten kann. Und deshalb muß ich dich loswerden, solange ich noch meine fünf Sinne beisammen habe. Und jetzt laß mich in Ruhe und friß dein Brot. Was anderes kriegst du nicht.» Adrian warf noch etwas Holz aufs Feuer und rollte sich in seine Decke. Er wollte, ehe der Nebel sich hob, noch eine halbe Stunde schlafen. Sein Körper und sein Geist waren jedoch so erschöpft, daß er sofort einnickte und traumlos zwei Stunden schlief. Als er aufwachte, war kein Nebel mehr zu sehen, und das ganze Moor lag im Glanz der Morgensonne. Er setzte sich auf und sah sich um, und was er sah, brachte ihn erschreckt auf die Füße. Keine zwanzig Meter entfernt stand an einem kleinen Bach ein buntbemalter alter Zigeunerwagen. Die Fenster waren mit rotweiß karierten Gardinen
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verhängt. Und an diesem Wagen lehnte Rosy mit still verzücktem Blick und rieb sich das Fell, so daß der ganze Wagen ruckelte und schuckelte. Aus seinem Innern drang eine schrille Stimme, die Rosys Rubbelgeräusche zu übertönen versuchte. «Fort mit euch, ich befehle es», gellte die Stimme. «Satanische Kräfte aus der Tiefe, hebt euch hinweg! Im Namen Nebukadnezars und der zehn Salomonischen Siegel, hinweg! Im Namen des Erasmus und des Drudenfußes…» «Rosy!» schrie Adrian. «Komm sofort hierher!» Rosy seufzte tief auf und gehorchte. Seit kurzem befahl ihr Adrian offenbar nur noch Dinge, die sie nicht gern tat. Adrian näherte sich der kleinen Treppe, die zu der Tür des Wagens hinaufführte. «Hallo!» rief er. «Sie da drinnen… es tut mir sehr leid…» «Hinweg!» schrie die Stimme. «Hinweg, Satanas…» «Ich bin kein Satan», rief Adrian gereizt. «Kommen Sie doch heraus und lassen Sie mich erklären…» «Nein, nein!» schrie die Stimme. «So fangt ihr mich nicht… Ich bin ein armes altes Weib, ihr wollt mich bloß herauslocken, um mir die Seele aus dem Leib zu reißen… Hinweg, sage ich!» «Ach, hören Sie doch bloß auf!» schrie Adrian ärgerlich. «Ich bin kein Satan, und an Ihrer Seele liegt mir nichts. Kommen Sie doch heraus, damit ich es Ihnen erkläre.» «Wenn Sie kein Satan sind», sagte die heisere Stimme, «wie können Sie dann so an meinem Wagen rütteln?» «Das war Rosy, mein Elefant», erklärte Adrian. «Sie hat sich an den Wagen gelehnt und sich das Fell gekratzt.» «Und das soll ich glauben?» fragte die Stimme. «Sie brauchen ja nur aufzumachen, dann sehen Sie sie selbst.» «Und woher soll ich wissen, daß es wirklich ein Elefant ist?» fragte die Stimme. «Ich habe noch nie einen gesehen.» Adrian holte tief Luft und schloß die Augen. «Madam», sagte er schließlich, «ich wollte nichts weiter, als mich entschuldigen, daß mein Elefant Sie belästigt hat. Wenn Sie die Entschuldigung eines Christenmenschen nicht annehmen wollen, dann tut’s mir leid. Und jetzt muß ich gehen. Leben Sie wohl.» «Nein, nein, gehen Sie nicht! Ich komme ja schon!» gellte die Stimme. «Ich hab noch nie einen Elefanten gesehen.» Lange Zeit geschah nichts. Adrian hörte nur ein Gemurmel von Zaubersprüchen und magischen Formeln hinter der Tür. Doch dann tat sich die Tür einen Spaltbreit auf, und ein kleines, wallnußartiges, von zotteligen grauen Haarsträhnen umrahmtes Gesicht spähte heraus. Es gehörte einer kleinen, alten Frau – der kleinsten, die Adrian je gesehen hatte. Sie sah genau aus wie eine Hexe. Sie hatte einen verblichenen schwarzen Samtrock an, eine fleckige rote Bluse und um die Schultern einen dicken schwarzen Wollschal. Sie musterte Adrian eindringlich und bewegte ununterbrochen ihren zahnlosen Mund. «Guten Morgen», sagte Adrian. «Na, wo ist er?» fragte die Alte. Adrian deutete auf Rosy, die sich gerade abmühte, einen Ginsterbusch mit Stumpf und Stiel auszureißen – in der irrtümlichen Annahme, er sei eßbar. «Oiiiiii!» rief die Alte verwundert aus. «Nein, so was… der ist aber groß! Nein, so was…» «Das ist Rosy, sie ist ganz zahm», sagte Adrian. «Sie hat sich an Ihrem Wagen ein bißchen das Fell geschubbert.»
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«So was habe ich noch nie gesehen», sagte die Alte. «Ein Wundertier, wirklich.» «Sie brauchen wohl nicht zufällig einen Elefanten für Ihre… äh… Arbeit?» fragte Adrian hoffnungsvoll. «Arbeit?» fragte die Alte und reckte sich entrüstet. «Ich arbeite nicht.» Sie kletterte wieder in den Wagen und kam gleich darauf mit einem großen Schild zurück, das sie an einen Haken neben der Tür hängte. «Hier – das bin ich», verkündete sie stolz und zeigte mit dem Daumen auf das Schild. «Die beste Hexe in der ganzen Gegend.» In leicht zittrigen Großbuchstaben war auf die Tafel geschrieben: DIE SCHWARZE NELLY
DIE MEISTERIN DER WEISSEN MAGIE
LIEBESZAUBER
BESCHWÖRUNGEN / BESPRECHUNGEN
WEISSAGUNG DER ZUKUNFT UND
VERGANGENHEIT
WARZEN WERDEN ZUVERLÄSSIG BESEITIGT
«Oh», sagte Adrian überrascht. Sie war also tatsächlich eine Hexe. «Wie außerordentlich interessant!» «Ja», sagte sie. «Ich hinauf dem Wege zum Jahrmarkt von Tuttlepenny, wollen Sie da auch hin?» «Nein, ich will zur Küste», sagte Adrian. «Nur weiß ich im Moment nicht genau, wo wir eigentlich sind. Könnten Sie mir sagen, wie ich am besten hinkomme?» «Wie wär’s mit einem kleinen Frühstück?» fragte die Schwarze Nelly. «Mit leerem Magen wandert’s sich schlecht.» «Vielen Dank, das ist sehr freundlich, aber ich habe gerade gefrühstückt», sagte Adrian. «Na – und ein Stückchen Kaninchenpastete?» fragte die Schwarze Nelly. «Wie wär’s damit? Kaninchenpastete, selbstgebackenes Brot und ein Becher Tee.» Beim Gedanken an Kaninchenpastete lief Adrian das Wasser im Munde zusammen. «Aber nur, wenn Sie wirklich genug davon haben», meinte er. «Übergenug!» sagte die Schwarze Nelly. «Sie machen das Feuer unter dem Kessel an, und ich hole die Pastete.» Bald saßen Adrian, Rosy und die Schwarze Nelly gemütlich beim Frühstück. Die Pastete war köstlich, die Kruste zart und fest, das rosige Fleisch lag in einem Jus so braun wie Bernstein, umgeben von duftenden Kräutern. Nie im Leben – nicht einmal in Fenneltree Hall – hatte er etwas so Delikates gegessen. Nach dem dritten Stück Pastete begann er, Rosy und ihre Untaten in milderem Licht zu sehen. Erquickt vom heißen Tee und der zarten Pastete saß er da und erzählte der Schwarzen Nelly von den Heimsuchungen und Mißgeschicken, die er erlebt hatte, seit Rosy bei ihm war. Er war erstaunt, als die Schwarze Nelly ausrief, so etwas Komisches habe sie selten gehört. Bei seiner Beschreibung vom Ball im Hause Fenneltree lachte sie Tränen, und wider Willen mußte nun auch Adrian lachen. «Du liebe Zeit!» keuchte die Schwarze Nelly und hielt sich die Seiten vor Lachen. «Oh, wie gern wäre ich da dabeigewesen!» «Ja, wenn ich jetzt dran denke – es war tatsächlich ziemlich komisch», sagte Adrian. «Aber als es passierte, fand ich es nicht so komisch.» Die Schwarze Nelly kicherte immer noch schrill vor sich hin und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann zog sie aus ihrem Rock einen Stapel fettiger, unsauberer Spielkarten hervor.
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«Hier. Passen Sie auf!» sagte sie. «Jetzt werde ich Ihnen die Karten legen und Ihnen sagen, was die Zukunft für Sie bereithält.» «Ich weiß gar nicht, ob ich das wissen will», sagte Adrian. «Unsinn», sagte die Schwarze Nelly bestimmt. «Natürlich wollen Sie das! Das will doch jeder. Los, heben Sie ab und legen Sie sechs Reihen zu sieben Karten aus.» Mit spitzen Fingern mischte Adrian die Karten, hob ab und legte die sechs Reihen aus. Die Schwarze Nelly deckte eine Karte nach der anderen auf, vertiefte sich in ihren Anblick und murmelte Unverständliches in sich hinein. «Ha!» sagte sie dann so plötzlich, daß Adrian zusammenzuckte und ihm ein Frösteln über den Nacken lief. «Was ist?» fragte er nervös. «Nichts», sagte die Schwarze Nelly. «Ich sehe überhaupt nichts. Ihre Zukunft liegt völlig im dunkeln.» «Na schön, dann lassen Sie’s nur», sagte Adrian erleichtert. «Nein, nein, es kommt ja schon», sagte die Schwarze Nelly. «Ich sehe Sie eine Seereise machen.» «Eine Seereise?» rief Adrian ungläubig. «Etwa mit Rosy?» «Und Gefahr sehe ich auch», sagte die Schwarze Nelly und senkte die Stimme zu heiserem Flüstern. «Gefahr und einen kleinen, dicken Mann. Der wird Ihnen allerhand Scherereien machen.» « Sehen Sie denn nicht auch was Gutes?» sagte Adrian kläglich. « Scherereien habe ich gerade genug gehabt.» «O doch, ich sehe auch was Gutes. Nur liegt es noch im dunkeln», sagte die Schwarze Nelly. «Ich bin nur froh, daß nicht bei allen meinen Kunden die Zukunft so im dunkeln liegt wie bei Ihnen, sonst käme ja nichts dabei heraus.» Sie steckte die Karten wieder ein, zog eine kurze schwarze Pfeife hervor und zündete sie an. «Hören Sie zu, junger Mann», sagte sie und paffte dicke graue Rauchwolken in die Luft, an denen man fast erstickte, «ich meine, sie machen sich jetzt besser wieder auf den Weg. Sie haben noch ein Stück Moor vor sich, völlig kahl und baumlos, da läßt sich ein Elefant schwer verstecken. Passen Sie auf: Sie bleiben erstmal auf dieser Straße, etwa sechs oder sieben Meilen, dann kommen Sie rechts zu einer Abzweigung. Es ist nur ein unebener Pfad, aber er führt durch Mulden und Talsenken, wo man sich eher verbergen kann. Nach etwa zwanzig Meilen kommen Sie an die Eisenbahnlinie, und gleich dahinter gabelt sich der Weg. Sie gehen nach links und kommen sehr bald an ein Wirtshaus, es heißt ‹Zum harfespielenden Einhorn›, und die Wirtsleute heißen Filigree, sie sind sehr nett und haben besonders Tiere gern. Da können Sie wahrscheinlich bleiben, bis sich die Aufregung um Sie gelegt hat. Sagen Sie nur, daß die Schwarze Nelly Sie geschickt hat.» «Sie sind sehr freundlich», sagte Adrian dankbar. «Ich danke Ihnen wirklich sehr.» «Na ja», meinte die Schwarze Nelly philosophisch, «wenn wir Leute von der Landstraße einander nicht helfen, dann sind wir verraten und verkauft.» Adrian spannte Rosy also wieder ein und sagte der Alten Lebewohl. «Nein, nicht Lebewohl!» sagte sie geheimnisvoll. «Wir sehen uns wieder – zur Perückenzeit.» «Was – wieso?» fragte Adrian verwirrt. «Nur ein Scherz», gab sie mit leichtem Spott zurück. «Auf Wiedersehen!» Adrian und Rosy machten sich auf den Weg durch das weite Moorland und erreichten
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mittags die Abzweigung, von der die Schwarze Nelly gesprochen hatte. Es stimmte, der Pfad führte in eine Niederung und schlängelte sich in sanften Windungen dahin, so daß man sich den Blicken seiner Verfolger leicht entziehen konnte. Sie nahmen ihren Mittagsimbiß an einem kleinen Teich ein, und etwas anderes als dieses Wasser bekam Rosy zu ihrer Entrüstung nicht zu trinken. Dann ging es weiter. Als die Sonne im Westen zu sinken begann, tauchte sie die Federwolken in Gold- und Purpurfarben. Rötliches Zwielicht hing über dem Moor. Kleine Fledermäuse huschten und flatterten über den Weg. Der Pfad stieg leicht an, und als sie die Höhe erreichten, sah Adrian unten im Tal glänzende Eisenbahnschienen, die den Weg kreuzten. «Da wären wir, Rosy», sagte er zufrieden. «Nun ist es nicht mehr weit.» Quietschend und knarrend schaukelte der Wagen hügelabwärts bis zu den Gleisen. Vorsichtig stieg Rosy über die Schienen. Langsam zog sie, wie ihr Adrian befahl, den Wagen hinter sich her, bis die Räder an die Schiene stießen. Dann schob Adrian die Schulter unter den Wagen und hob ihn an, wobei Rosy gleichzeitig vorn kräftig anzog. Der Wagen hob sich, hing einen Augenblick über der Schiene und sackte herunter. In diesem Augenblick wurde es Adrian klar, daß, wer auch immer diese Schiene gelegt hatte, sie offensichtlich und mit gezielter Bosheit als Ponywagenfalle konstruiert hatte, denn die Wagenräder waren nun zwischen den Schienen eingekeilt und ließen sich nicht mehr bewegen. Wenn Rosy vorn zog, knarrte die Deichsel so drohend, als ob sie gleich abbrechen wollte. Adrian blickte sich um und sah in einiger Entfernung neben den Gleisen die Reste einer alten Schwelle liegen. Die konnte man gut als Hebel benutzen, dachte er. Er befahl Rosy stehenzubleiben und ging hin, um die Schwelle zu holen. Als er umkehrte, hörte er in der Ferne den Zug herannahen. Er war so vertieft gewesen in seine Bemühungen, den Wagen von den Schienen zu schieben, daß er an die eigentliche Bestimmung der Schienen gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt schloß er aus dem Rattern der Wagen, daß der Zug schon in unmittelbarer Nähe war. In Schweiß gebadet rannte er mit der Schwelle weiter; die Schienen rüttelten und dröhnten. Er mußte den Ponywagen wegkriegen! Angstvoll hörte er den Lärm des Zuges lauter und lauter werden, endlich gelang es ihm, die Schwelle hinten unter den Wagen zu klemmen. Er schob seine Schulter darunter und stemmte. «Los, Rosy – los, zieh!» brüllte er, und Rosy machte einen Schritt und riß den Wagen mit sich. Er hob sich in die Höhe, schwankte einen Augenblick und war dann drüben, gerade als der Zug brüllend und fauchend wie ein tobender Drachen in die Kurve einbog. Geschafft! dachte Adrian triumphierend und wollte mit einem Satz von den Schienen springen, aber schon erfaßte ihn der Zug und schleuderte ihn beiseite wie eine Stoffpuppe. Blutend landete er im Heidekraut, während der Zug dahindonnerte, wie ein Meteor nach allen Seiten Funken sprühte und mit seinen erleuchteten Fenstern in der Ferne verschwand. Bewußtlos blieb Adrian liegen. Das blasse Gesicht blickte stumm hinauf zum sternenbesäten Himmel.
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‹Zum harfespielenden Einhorn› Als Adrian die Augen öffnete, war ihm, als läge er auf glühenden Nadeln. Sein Körper schmerzte heftig, der rechte Arm war verletzt. Über ihm schaukelten die Sterne ganz merkwürdig hin und her, was er sich nicht erklären konnte, bis er plötzlich merkte, daß er im Wagen lag und der Wagen langsam die dunkle Straße entlangzuckelte. Wie war er bloß hierher gekommen? Nach längerem Überlegen kam er zu dem Schluß, es könne nur Rosy, die kluge, treue Rosy, gewesen sein, die ihren verletzten und bewußtlosen Herrn aufgehoben und in den Wagen gelegt hatte. Er versuchte sich aufzurichten, doch ein heftiger Schmerz ließ ihn ohnmächtig werden. Als er zu sich kam, stand der Wagen still, und über seinem Kopf hing schief und seltsam ein großes Schild mit der Aufschrift ‹Zum harfespielenden Einhorn›, und dieses seltene Phänomen konnte man auch im Bild darauf bewundern. Während er in Gedanken über Rosys Klugheit staunte, hatte diese sich auf ihren Rüssel verlassen und auf den Biergeruch, der ein Wirtshaus verriet. Adrian biß die Zähne zusammen und kletterte vom Wagen herunter. Bestimmt war sein rechter Arm gebrochen, aber auch seine Beine versagten ihm den Dienst, als wäre er betrunken. Als Rosy ihn sah, stieß sie einen entzückten Quiekser aus und schlappte mit den Ohren. Adrian betrachtete das Wirtshaus, einen langgestreckten Holzbau mit einem braunen Strohdach, das darauf saß wie die Kruste auf einer Pastete. Aus den Fenstern schien helles Licht. Unsicher schwankend taumelte Adrian über die Straße und lehnte sich gegen die Tür. Wieder wurde ihm schwach, und er fürchtete, von neuem ohnmächtig zu werden, bevor er noch hinter diesen freundlichen Fenstern war. Er packte den großen Messingklopfer und donnerte an die Eichentür, dann glitt er neben dem Türrahmen nieder und versuchte, der aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden. Jetzt hörte er drinnen Schritte, ein Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür wurde weit aufgerissen. Vor Adrian stand einer der dicksten Männer, die er je gesehen hatte. Er war in Hemdsärmeln und Hosen und trug an den Füßen ein Paar große Pantoffeln, bestickt mit Sonnenblumen und Chrysanthemen. Er hatte ein großes rundes Babygesicht, und seinen gewaltigen Schädel umgab ein Heiligenschein blaßgoldenen Haares. Sein Doppelkinn ruhte auf einem wohlgerundeten Schmerbauch, um den ihn jede Kropftaube hätte beneiden können. Er starrte Adrian, der blutbefleckt und mit zerrissener Kleidung vor ihm hockte, eine kleine Weile an, ohne daß er die Miene verzog, und sagte mit heller, süßer Flötenstimme: «Guten Abend. Kann ich etwas für Sie tun?» «Unfall», stammelte Adrian. «Vom Zug erwischt. Draußen Rosy.» Und damit kippte er vornüber. Das Wirtshaus und der dicke Mann verschwanden im Dunkel. Geschickt fing ihn der Dicke auf, schlang die Arme um ihn und hob ihn so mühelos auf, als trage er ein Federgewicht. Er wandte sich um und trug Adrian hinein. Die Vordertür führte in eine riesige fliesenbelegte Küche; hinten glühte ein Holzfeuer in einem großen Herd und spiegelte sich in vielen Reihen blanken Kupfergeschirrs. Der Dicke legte Adrian auf ein breites Roßhaarsofa, löste ihm den Kragen und trippelte dann behende hinüber zum Schanktisch am anderen Ende des Raumes. Hier goß er Brandy in einen Becher, ging zum Sofa zurück, hob Adrians Kopf und flößte ihm etwas davon ein. Adrian hustete, schluckte und öffnete die Augen. «Aha», sagte der Dicke mit seiner Flötenstimme, «so ist’s recht. Nun bleiben Sie nur schön liegen, ich hole nur etwas zum Zudecken.» Adrian sah sich blinzelnd in der riesigen Küche um. Der Brandy wärmte ihm den Magen
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und linderte ein wenig die Schmerzen, die ihn noch immer durchzuckten. Gleich darauf kam der Dicke mit einem gewaltigen Federbett zurück. «Das ist schön warm», sagte er mit heller Stimme und deckte Adrian sorgfältig zu. «Echte Gänsedaunen, das Wärmste, was es gibt. Hab ich immer mitgehabt, als ich in Tibet war.» Trotz seines jämmerlichen Zustandes mußte Adrian lächeln, wenn er sich den dicken Mann unter dem Federbett vorstellte. «Das ist wirklich nett von Ihnen», sagte er. «Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe mache.» «Aber gar nicht», flötete der Dicke. «Es ist mir eine Freude, Sir. Noch einen Schluck Brandy?» Er hielt ihm den Kopf, und Adrian schluckte den Rest. «Wirklich etwas sehr Gutes, so ein Brandy», sagte der dicke Mann weise. «Kam regelmäßig per Schiff aus Frankreich, als ich in Ägypten war.» «Es tut mir leid, Ihnen noch mehr Mühe zu machen», sagte Adrian schwach, «aber draußen steht Rosy.» «Ach so, du liebe Zeit», sagte der Dicke, «das haben Sie ja schon gesagt, bevor Sie vorhin ohnmächtig wurden; ich hatte es bloß vergessen. Sehr unrecht von mir. Die arme Kleine…» Behende wandte er sich um und schwebte zur Tür. «Hören Sie, es ist…» begann Adrian, aber der Mann war schon verschwunden. Eine Weile war es still, und dann hörte man Rosy trompeten. Es war ein Laut der Freude, nur in einer völlig neuen Tonart. Hoffentlich bedeutete es Gutes. Vielleicht hielt sie den Dicken für einen zweiten Elefanten, wer weiß… Die Tür sprang auf, und der dicke Mann erschien wieder; das Babygesicht strahlte. Mit gefalteten Händen und leuchtenden Augen kam er zum Sofa getänzelt und sah Adrian an. «Ein Elefant!» gurrte er selig. «Ein richtiger, lebendiger Elefant. Mein lieber Freund, Sie hätten mir überhaupt nichts Schöneres mitbringen können. Einen Elefanten habe ich seit Nagarapore nicht mehr gesehen. Und… Rosy heißt sie, nicht wahr? Sie mag mich auch! Sie hat mir den Rüssel um den Hals gelegt!» «O ja, sie ist sehr zutraulich», sagte Adrian. «Ich weiß noch», sagte der Dicke versonnen, «damals hatte ich hundertundeinen Elefanten. Ach, waren das glückliche Tage. Die Tigerjagden, der Prunk und die Pracht der Feste…» «Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie unterbreche», sagte Adrian, «aber wäre es wohl möglich, einen Arzt für mich zu holen? Ich glaube, ich habe mir den Arm gebrochen.» «Aber ja, mein Lieber, selbstverständlich – alles was Sie wollen», sagte der Dicke eifrig. « Sie müssen aber ganz still liegenbleiben. Der Arzt kommt her. Sam wird gleich wieder hier sein, dann bringen wir das alles in Ordnung. Würden Sie mir inzwischen wohl erlauben, daß ich Ihren Elefanten in unsere Scheune bringe?» «Aber natürlich», sagte Adrian. «Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.» «Ich habe zu danken», sagte sein Gegenüber ernsthaft. «Ihre Fesseln sind hinten im Wagen», sagte Adrian. «Und ob Sie ihr wohl irgendwas zu fressen geben könnten?» «Machen Sie sich darum gar keine Gedanken!» sagte der Dicke. «Ich werde mich um alles kümmern.» Er ging hinaus, und Adrian hörte ihn draußen in seiner Fistelstimme mit Rosy reden. Gleich darauf ratterte der Wagen hinten ums Haus, und nach zehn Minuten kam der Dicke zurück und tänzelte mit einwärts gerichteten Taubenfüßen über die Küchenfliesen,
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anzusehen wie eine große, weiche, rosa Wolke von Güte. «Noch einen Brandy?» flötete er. «Gut gegen die Schmerzen.» Höchst bedächtig füllte er zwei Gläser und reichte eines Adrian. «Auf Ihr ganz spezielles Wohl. Mr. äh… hmmm…» sagte Adrian. Mit tassenrunden Augen starrte ihn der Dicke an. Er glich zum Verwechseln einem Riesenbaby, dem jemand eine Sicherheitsnadel in den Popo gejagt hat. «Aber, mein lieber Herr», sagte er schrill, «wie ungezogen von mir – ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Das lag an der Freude über den Elefanten, glauben Sie mir. Mein Name ist Peregrine Filigree, zu Diensten.» Und er verbeugte sich so tief, wie es der gewaltige Bauch zuließ. «Adrian Rookwhistle, zu Ihren Diensten», sagte Adrian, der ebenfalls nicht unhöflich erscheinen wollte. «Ausgezeichnet», sagte Mr. Filigree. «Ganz ausgezeichnet. Jetzt brauchen wir nur noch auf Sam zu warten. Haben Sie übrigens Hunger?» «Nein, eigentlich nicht», sagte Adrian. «Ich kann doch nichts essen, ich fühle mich zu schlecht.» Mr. Filigree trippelte hinüber zu einem breiten Ledersessel und zwängte sich hinein. «Nun, mein lieber Herr», sagte er feierlich und schob die feisten Fingerchen ineinander, «bevor Sie ohnmächtig wurden, sagten Sie, Sie hätten einen Krug gezischt. Auf dieser Welt ist ja nichts unmöglich, das weiß ich wohl, aber ich bin doch auf die näheren Einzelheiten neugierig.» «Es war kein Krug, sondern ein Zug, der vorbeizischte», berichtigte Adrian und erzählte dann weiter von seinem Mißgeschick. Ihm war jetzt angenehm warm und schläfrig zumute, und die Schmerzen schienen gar nicht mehr zu ihm zu gehören. Überdies war ihm der Alkohol zu Kopf gestiegen, denn Mr. Filigrees Brandy hatte es in sich. «Erstaunlich», meinte Mr. Filigree, der mit großen runden Augen zuhörte. «Wirklich erstaunlich. Ich erinnere mich, als ich den Bau der Großen Transsibirischen Eisenbahn überwachte, da hatten wir die größten Schwierigkeiten mit Wölfen. Sie fraßen nicht nur die Arbeiter, wissen Sie, sie wurden auch oft auf den Schienen eingeklemmt. Ganze Rudel Wölfe. Ja, ja.» «Inneressant», sagte Adrian etwas mühsam artikulierend. «Inneressant.» «Da!» quiekte Mr. Filigree auf einmal. «Hören Sie!» Adrian hörte schwaches Pferdegetrappel auf der Straße. «Das wird Sam sein», meinte der Dicke strahlend. Er sprang auf und flog wie ein losgelassener Luftballon quer durch die Küche. Dann riß er die Haustür auf. «Sam! Sam!» rief er laut in die Nacht. «Komm schnell mal her, wir haben einen Elefanten!» Dann trippelte er zurück zu Adrian und sah ihn glücklich an. «Nein, wie ist das bloß aufregend», sagte er. Aus irgendeinem Grunde hatte sich Adrian Sam als großen, dünnen und melancholischen Jungen vorgestellt, im Gegensatz zu Mr. Filigrees babyhafter Rundlichkeit. Ob der Brandy daran schuld war, daß er jetzt eine ganz andere Erscheinung vor sich sah? In die Tür trat jedenfalls ein schlankes, junges Mädchen von etwa dreiundzwanzig Jahren. Selbst der lange Rock und der warme Schal, den sie um die Schultern gelegt hatte, konnten den Reiz der anmutigen Gestalt nicht verbergen. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, ein kleines Stupsnäschen, kurzes kastanienfarbenes Haar und sehr große Augen – grün mit Goldpünktchen, wie er später feststellte. Sie blieb in der Tür stehen und sah Adrian erstaunt an. Ächzend und mit schmerzverzogenem Gesicht schob Adrian das Federbett zurück und
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versuchte auf die Füße zu kommen. «Nein, nein, nein», protestierte Mr. Filigree besorgt. «Sie dürfen sich nicht bewegen! Sam, der arme Herr hier ist vom Zug erfaßt worden. Und er hat uns einen ganz wunderbaren Elefanten mitgebracht.» Das Mädchen zog langsam die Handschuhe aus und trat dann näher. Adrian kam es vor, als schwebe sie durch die Küche; doch daran war wohl der Brandy schuld. «Was redest du denn da, Vater?» fragte sie. «Er hat einen Elefanten!» sagte Mr. Filigree triumphierend, als sei damit alles erklärt. «Stell dir das vor, Sam. Ein richtiger Elefant, hier bei uns!» Das Mädchen seufzte ungeduldig auf und streckte dann Adrian die Hand hin. «Ich bin Samantha Filigree», sagte sie mit einem Lächeln, das Adrian ganz ohne Grund bis zu den Haarwurzeln erröten ließ. «Mein Vater spricht immer nur in Rätseln. Vielleicht können Sie mir die Auflösungen dazu geben.» Die Augen fest auf Mr. Filigrees erregt wogendes Bäuchlein gerichtet, erzählte Adrian noch einmal von seinem Unfall. Samantha zog scharf die Luft ein, als er geendet hatte, dann drehte sie sich um und sah ihren Vater vielsagend an, der unsicher mit den Händen fuchtelte und rot anlief. «Und was hast du nun inzwischen getan?» fragte sie. «Getan?» sagte Mr. Filigree wie die gekränkte Unschuld selbst. «Nun, alles habe ich getan, mein Kind. Ich habe ihm Brandy gegeben und den Elefanten in die Scheune gebracht.» «Aber Vater», sagte Samantha, «du bist wirklich hoffnungslos. Hier liegt der arme Junge und ist womöglich schwerverletzt, und du schwatzt hier von Elefanten.» «Na ja, ich wollte nichts unternehmen, bevor du kamst, mein Kind, nicht wahr», sagte Mr. Filigree beschwichtigend. «Du kannst so etwas ja immer viel besser als ich.» Samantha warf ihm einen strengen Blick zu und wandte sich zu Adrian. «Ich werde sofort den Arzt holen», sagte sie. «Aber zuerst will ich einmal sehen, wie es um Sie steht.» Sie schob das Federbett zurück und begann Adrian so geschickt und sachlich zu untersuchen, als sei er eine Hammelkeule. Adrian unterdrückte mit Mühe ein Aufstöhnen, als sie vorsichtig seinen rechten Arm zu bewegen versuchte. «Ja», sagte sie schließlich, ging hinüber zu der schweren Eichenkommode, zog eine Schublade heraus und entnahm ihr eine große Schere. «Ihr Arm ist gebrochen. Wahrscheinlich haben Sie sich auch eine Rippe verletzt, und sonst noch einige Wehwehchen.» Sie kam zum Sofa zurück und wirbelte die Schere mit behenden Fingern durch die Luft. «Hören Sie», sagte Adrian ängstlich und blickte mißtrauisch auf das blitzende Instrument, «meinen Sie nicht, wir sollten warten, bis der Arzt…» «Ach was, Unsinn», sagte Samantha kühl. «Ihr Jackett muß herunter, bevor der Arm noch mehr anschwillt. Wenn wir es einfach ausziehen, tut es viel zu weh, deshalb müssen Sie Ihr Jackett opfern, da hilft nichts.» Geschickt und – zu Adrians Staunen – ohne daß es ihm weh tat, schnitt sie den Ärmel auf und nahm dann die gleiche Operation an dem Oberhemd vor. «So», sagte sie befriedigt. «Nun bleiben Sie ganz still liegen. Ich gehe jetzt und hole den Arzt.» «Noch einen Brandy?» fragte Mr. Filigree, der seine medizinischen Fähigkeiten von seiner Tochter nicht in den Schatten stellen lassen wollte. «Ich weiß noch, daß beim Pyramidenbau in Ägypten die Sklaven wie die Fliegen herunterfielen – da haben wir ihnen
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auch immer einen Schluck Brandy gegeben.» «Er kann noch einen haben», bestimmte Samantha, «aber du mußt nüchtern bleiben, Vater. In einer halben Stunde bin ich wieder da.» Sie nickte Adrian zu und schwebte hinaus in die Nacht. «Ich versichere Ihnen», sagte Mr. Filigree und reichte Adrian ein Glas Brandy, «ich bin in meinem ganzen Leben niemals betrunken gewesen.» Er warf einen verstohlenen Blick auf die Tür und goß sich dann ebenfalls ein Gläschen ein. «Frauen», flötete er vor sich hin, «Frauen verlieren bei Krisen leicht die Nerven und sagen dann Dinge, die sie gar nicht meinen.» Durstig goß er den Brandy hinunter. « Samantha ist ein gutes Kind, aber wenn sie die Nerven verliert, hat sie manchmal eine recht… eine recht scharfe Zunge. Nicht wahr, Sie verstehen, was ich meine?» Adrian hatte zwar den Eindruck, als sei Samantha keineswegs nervös gewesen, sondern habe sich der Lage durchaus gewachsen gezeigt, aber er wollte ihrem Vater nicht widersprechen. Mr. Filigree zwängte sich wieder in seinen Sessel, lehnte sich zurück und strahlte Adrian an. «Ich sage Sam immer», meinte er und hob mahnend den Zeigefinger, « wenn man sich nach der Heiligen Schrift richtet, kann man nicht fehlgehen. ‹Nach einem Eisenbahnunglück sollst du des Brandys genießen!› steht, glaube ich, irgendwo bei Nebukadnezar. Aber Frauen begreifen ja so was nicht.» Er leerte sein Glas, sah schnell zur Tür und lehnte sich dann so weit vor, wie es der Bauch zuließ, wobei er Adrian fest anblickte. «Wissen Sie eigentlich», sagte er betont, und seine Stimme quiekte im Falsett, «daß Frauen sich nicht an die Vergangenheit erinnern können?» Adrian war jetzt eingehüllt in warmen Brandynebel und konnte Mr. Filigrees Ausführungen nicht mehr ganz folgen. «… bitte?» fragte er. «Frauen», wiederholte Mr. Filigree feierlich, «können sich nicht an die Vergangenheit erinnern.» «Na, die Frauen, die ich kenne, erinnern sich noch an die geringste Einzelheit», sagte Adrian bitter. «Ach!» rief Mr. Filigree und drohte wieder mit dem Finger. «Vielleicht an die unmittelbare Vergangenheit, aber an die weiter zurückliegende nicht. Niemals.» «Na, bis wohin sollen sie denn zurückgehen?» fragte Adrian und schloß die Augen. «Ein Mann kann sehr weit zurückdenken», trillerte Mr. Filigree. «Aber die Intelligenz der Frauen ist begrenzt, und das erschwert mir die Sache so sehr.» «Tatsächlich?» fragte Adrian schon halb im Schlaf. «Ja», sagte Mr. Filigree und schenkte sich eilig von neuem ein. «Und wenn sie sich dann erinnern, ist es meist irgendeine alberne Einzelheit. Welche Farbe man bei Hofe trug, oder wer wessen Liebhaber war oder so was.» Adrian dachte angestrengt über diese Behauptungen nach, während Mr. Filigree ihn besorgt beobachtete. «Wissen Sie was», sagte Adrian plötzlich und öffnete die Augen. «Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie eigentlich reden.» Mr. Filigree seufzte vorwurfsvoll; sein Doppelkinn und sein Bauch vibrierten. «Sie sind nicht Sie selbst», sagte er sorgenvoll. «Morgen, wenn es Ihnen bessergeht, werde ich Ihnen alles erklären. Nun schlafen Sie mal. Der Arzt muß gleich hier sein.» «Danke», sagte Adrian erleichtert, schloß die Augen und fiel sofort in tiefen und friedlichen Schlummer.
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Goldspuren und Polizei Adrian lag im Bett und betrachtete zufrieden die holzgetäfelten Wände und Decken des kleinen, von der Morgensonne durchfluteten Zimmers. Seit seiner Ankunft im ‹Harfespielenden Einhorn› war eine Woche vergangen, und heute fühlte er sich zum erstenmal richtig wohl. Am ersten Abend war Samantha mit Dr. Hunchmould, einem kleinen gedrungenen Mann, zurückgekommen. Der Doktor hatte einen Gang wie eine aufgezogene Puppe und pfiff beim Atmen durch die Nase wie ein Blasebalg. Während ihm Samantha geschickt zur Hand ging und Mr. Filigree sinnlos um ihn herumtänzelte, hatte er Adrian entkleidet, untersucht, einen langen Schnitt im Schenkel mit drei Stichen genäht, die Rippen verbunden und den gebrochenen Arm vom Handgelenk bis zum Ellbogen in Gips gelegt. Das alles war recht schmerzhaft, und als der Arzt fertig war, war Adrian erschöpft. Mr. Filigree – voller Freude, daß er sich weiter nützlich machen konnte – hatte ihn wie ein Kind auf die Arme genommen und die schmale Treppe hinauf in ein kleines Schlafzimmer getragen, das dicht unter dem dicken Strohdach lag. Hier wurde er ins Bett gelegt. Von den nächsten beiden Tagen wußte Adrian wenig. Er merkte nur, daß Samantha eigentlich immer da war; sie schob ihm die Kissen zurecht, hielt ihm den Kopf, wenn er sich in einem großen rosengeschmückten Nachttopf erbrechen mußte, und gab ihm kühle Getränke, wenn das Fieber stieg. Ob und wann sie überhaupt jemals schlief, wußte er nicht, denn immer, wenn er die Augen öffnete, saß sie geduldig auf dem Stuhl an seinem Bett und zog die Nadel durch eine Stickerei. Jetzt, wo es ihm besser ging, kam es ihm erst zum Bewußtsein, wieviel Mühe er ihr gemacht haben mußte. Er krümmte die Zehen und schob sie an eine kühle Stelle im Bett. Dabei streckte er sich vorsichtig aus, bereute das aber im gleichen Augenblick, da es ihn noch überall schmerzte. Jetzt ging die Tür auf, und Samantha kam mit dem Frühstückstablett herein. «Guten Morgen», sagte sie mit freundlichem Lächeln. «Wie geht’s denn heute?» «Oh, viel besser», sagte Adrian und wurde rot wie stets, wenn sie die großen grünen Augen auf ihn richtete. «Ich glaube, ich sollte doch aufstehen. Ich habe Ihnen schon viel zuviel Mühe gemacht.» «Unsinn», sagte Samantha kurz und setzte ihm das Tablett auf das Bett. « So, nun essen Sie erstmal die Eier, sie sind ganz frisch. Vater ist im Dorf gewesen und hat sie mitgebracht.» «Was macht Rosy?» fragte Adrian besorgt. «Der geht es sehr gut», erwiderte Samantha und hob die Augenbrauen. «Warum auch nicht.» «Ja… sie kommt im allgemeinen mit Frauen nicht besonders gut aus», erklärte er. «Mit mir kommt sie aber sehr gut aus», sagte Samantha, «und Vater, den betet sie an. Ich glaube, im Grunde hält sie ihn für eine Art Elefanten.» Sie blieb neben ihm sitzen, während er sein Frühstück verzehrte und den Tee trank. Dann nahm sie das Tablett vom Bett und schob ihm die Kissen zurecht. «Heute kommt der Doktor und zieht die Fäden», sagte sie dann. «So lange bleiben Sie also noch liegen – bis er gesagt hat, ob Sie aufstehen können.» «Samantha… bitte», sagte Adrian, «ich möchte Ihnen etwas sagen. Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit?» Sie musterte ihn aufmerksam. «Sie sehen ein bißchen erhitzt aus», sagte sie. «Hoffentlich haben Sie kein Fieber?» «Nein, nein», sagte Adrian. «Ich hab nur etwas auf dem Herzen.» Samantha setzte sich wieder auf den Stuhl und faltete die Hände im Schoß.
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«Nun?» sagte sie fragend. Und Adrian erzählte – zuerst noch stammelnd, dann aber ganz flüssig, denn Samantha hörte mit größter Aufmerksamkeit zu und unterbrach ihn nicht. Er berichtete, wie er Rosy geerbt hatte und was für eine Spur der Vernichtung sie seitdem hinter sich gelassen hatten. Doch statt des Entsetzens, das er erwartet hatte und das bei einer so gewagten Erzählung einer jungen Dame wohl angestanden hätte, sah er, wie Samantha immer mehr mit dem Lachen kämpfte; ihre Lippen zuckten, und ihre Augen leuchteten. «So also liegen die Dinge», schloß er. «Wahrscheinlich sucht mich schon die Polizei. Gott weiß, was sie mit mir machen, wenn sie mich erst haben. Und zu leugnen ist da nichts. Rosy ist ein Beweisstück, das nicht mal ein Polizist übersehen könnte. Ich muß also schleunigst an die Küste und sehen, daß ich sie loswerde. Solange Sie mich hier im Hause haben, bin ich eine Gefahr für Sie. Ich glaube, so etwas nennt man Begünstigung oder Beihilfe.» Samantha lachte hell auf. «Wunderbar», sagte sie entzückt. «Also nicht nur ein verwundeter Krieger, sondern auch noch ein gesuchter Verbrecher. Einfach himmlisch.» «So komisch ist das gar nicht», sagte Adrian gekränkt. «Nein, da haben Sie ganz recht», sagte Samantha und versuchte möglichst mitfühlend auszusehen. «Aber wissen Sie, ich würde mir nicht allzu viele Sorgen machen. Kein Mensch weiß, daß Sie hier sind, und Rosy ist ja in der Scheune gut versteckt. Vater und ich müssen sie nur abends, wenn niemand uns sieht, ein bißchen hinten auf der Wiese spazierenführen. Vater verbringt sowieso den größten Teil seiner Zeit bei ihr; er ist gerade dabei, ihr die Fußnägel zu vergolden. So, nun bleiben Sie ganz ruhig liegen und machen Sie sich keine Gedanken. Wir wollen erstmal abwarten, was der Doktor sagt.» Dr. Hunchmould kam, trat an Adrians Bett, pfiff vor sich hin, schnaubte ein wenig. Er drückte hier und da ein wenig, entfernte dann die Fäden, deckte ihn wieder zu und rieb sich die Hände. «Nun – wenn Sie wollen, können Sie aufstehen», verkündete er. «Aber noch vorsichtig, bitte. Leichte Kost und vorläufig noch Schonung. Keine Anstrengungen.» «Wann kann wohl der Gipsverband herunter?» fragte Adrian. «Er wiegt ein paar Zentner.» «Oh – frühestens in vier Wochen», sagte Dr. Hunchmould. Als er gegangen war, stand Adrian auf und zog sich mit einiger Mühe an. Die Beine waren noch recht schwach, und der ganze Körper war steif, aber endlich war er doch fertig und stieg vorsichtig die knarrende Treppe hinunter in die große Küche, wo Samantha, angetan mit einer bunten Schürze, den Kochlöffel über mehreren kupfernen Pfannen und Töpfen schwang, denen köstliche Düfte entstiegen. Adrian blieb einen Augenblick am Fuß der Treppe stehen und sah ihr zu. Es stimmte wirklich: sie schwebte. Sie war genauso grazil und leichtfüßig wie ihr Vater. Das Licht des Herdfeuers spielte in ihrem Haar und gab ihm die kupferne Tönung des Kochgeräts. «Hallo», sagte er. Sie wandte sich um und lächelte ihn an, und wieder fühlte er, wie sich ihm der Magen zusammenzog und ihm das Blut ins Gesicht stieg. «Hallo», sagte sie. «Nun, und wie fühlen Sie sich?» «Noch ein bißchen wacklig», erwiderte er. «Kann ich Ihnen irgendwie helfen?» «Nein», sagte sie. «Vergessen Sie ja nicht, was der Doktor gesagt hat. Wenn Sie Lust haben, können Sie ja mal zu Vater und Rosy in die Scheune gehen.» Adrian wäre lieber bei ihr geblieben, machte sich aber doch auf den Weg und ging durch
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die Hintertür der Wirtschaft über den grobgepflasterten Hof in die Scheune. Von drinnen kam die helle, flötenschrille Stimme des dicken Wirts, der mit Rosy eine einseitige Unterhaltung führte. «Und dann standen wir auf einmal an dem riesigen Rohrdickicht, und mittendrin saß der Tiger. Nun war der Elefant, den ich ritt, ein wirklich schönes und tapferes Tier – natürlich nicht so schön und so tapfer wie du. Der Tiger sprang zu, und der Elefant schlug ihn mit einem Hieb seines Rüssels zu Boden.» Ganz im Banne dieser Schilderung betrat Adrian die Scheune, wo Rosy in einer Ecke angekettet war, neben sich einen Haufen süßduftenden Heus. Vor ihr stand ein großer Holztrog voll Mohrrüben, Äpfeln, gehacktem Spinat und anderen Köstlichkeiten, die sie sich gerade genießerisch ins Maul stopfte. Zu ihren Füßen kauerte Mr. Filigree, in der einen Hand einen Pinsel, in der anderen einen Topf mit Goldfarbe. Rosys Fußnägel leuchteten golden in der dämmerigen Scheune. Als sie Adrian kommen sah, stieß sie vor Freude einen so lauten Trompetenton aus, daß der nichtsahnende Mr. Filigree jäh auf den Rücken fiel und den Farbtopf umstieß. «Hallo, Mr. Filigree!» sagte Adrian. «Hallo, Rosy!» «Oh, lieber Freund», piepste Mr. Filigree; er lag auf dem Rücken im Heu und strampelte hilflos mit Händen und Füßen. «Wie schön, daß sie wieder auf den Beinen sind. Würden Sie mir wohl bitte aufhelfen? Es gibt gewisse Stellungen, bei denen es mir Schwierigkeiten bereitet, mich ohne Hilfe zu erheben.» Adrian streckte die Hand aus, ergriff Mr. Filigrees rundliche Finger und zog. Unter Niesen und Schnaufen kam dieser auf die Füße. «Nun, wie finden Sie Rosy?» fragte er dann. «Ist sie nicht eine Schönheit mit diesen Fußnägeln?» «Ganz bestimmt», sagte Adrian. « So elegant hat sie nicht ausgesehen, seit wir aus Fenneltree Hall fort sind.» «Zu schade, daß sie keine Stoßzähne hat!» sagte Mr. Filigree klagend. «Meine Elefanten hatten alle Stoßzähne. Wir bohrten dann Löcher in diese (ganz schmerzlos, nicht wahr) und setzten Diamanten und Rubine hinein. Das sah fabelhaft aus.» «Du liebe Zeit – sie richtet auch ohne Stoßzähne schon genug an!» meinte Adrian und klopfte Rosy auf den Rüssel, mit dem sie ihn liebevoll umschlungen hielt. «Aber Sie scheinen ja großartig mit ihr auszukommen.» «Ja, ja», flötete Mr. Filigree freudig. «Wir haben eine besondere Beziehung zueinander. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie eine Reinkarnation meines Lieblingselefanten Poo-Ting wäre. Wenn wir bloß einen Tiger hier hätten, dann könnte ich das sofort feststellen.» «Ja», sagte Adrian ergeben. «Aber mir scheint, das Leben ist wirklich schwierig genug, auch ohne Tiger.» «Sicher, da mögen Sie recht haben», stimmte Mr. Filigree ihm zu. «Nur will man ja gern die letzten Zweifel beseitigen. Das hätte ein großartiges Schlußkapitel gegeben.» Samantha hatte Adrian schon erzählt, daß ihr Vater fest an die Seelenwanderung glaubte und sich an die meisten seiner Reinkarnationen in allen Einzelheiten erinnerte. Er schrieb seit zwanzig Jahren an einem Werk über seine früheren Existenzen, das jetzt schon achtundvierzig Bände stark war. Daß er es jemals beenden würde, war nicht wahrscheinlich, denn ihm fielen fast jeden Tag neue Details ein, die dann ein neues Kapitel erforderten. «Es wäre doch wirklich fabelhaft», sagte Mr. Filigree sinnend, «wenn man ein beglaubigtes Dokument über Rosy hätte, das sie als Reinkarnation von Poo-Ting bestätigte.» «Das ist wohl nicht gut möglich», meinte Adrian.
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«Nein, nein, sicher nicht», sagte Mr. Filigree. «Aber nun, mein lieber Freund, wie rücksichtslos von mir, Sie hier mit Reden festzuhalten, wo Sie sich doch noch ruhig verhalten sollten. Kommen Sie, wir gehen hinein und trinken einen Brandy.» Er ging voran und hinterließ bei jedem Schritt einen goldenen Fußabdruck. «Samantha!» rief er flötend in die Küche. «Ich bin ganz sicher, Rosy ist Poo-Ting.» Er hielt dramatisch die Hände hoch und blieb stehen, um die Wirkung dieser Mitteilung auf seine Tochter zu beobachten. «Ja? Wie schön», sagte Samantha und lächelte ihm zu. «Nun brauchst du nur noch einen Tiger, um es zu beweisen, was?» «Genau das habe ich gerade eben zu Adrian gesagt!» rief Mr. Filigree begeistert aus. «Nicht wahr, Adrian, das habe ich eben gesagt? Jetzt brauchen wir bloß noch einen Tiger, habe ich gesagt.» «Ja. Und ich habe gesagt», erwiderte Adrian und ließ sich erleichtert in einen Stuhl sinken. «Es sei gerade schlimm genug mit Rosy, da brauchten wir wirklich nicht auch noch einen Tiger.» Samantha trat an seinen Stuhl heran, und ihre grünen Augen musterten ihn aufmerksam. «Fühlen Sie sich auch wohl?» fragte sie. «Ja. Nur bin ich noch nicht ganz so stark, wie ich glaubte», sagte Adrian. Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die Stirn, und Adrian schloß die Augen und wünschte, sie möge sie niemals wegnehmen. «Vater», sagte sie scharf, «du hast ihn zu sehr aufgeregt. Komm, bring ihm einen Brandy.» «Genau das wollte ich gerade tun», sagte Mr. Filigree würdevoll. «Nicht wahr, Adrian? Ich habe doch gerade gesagt, wir wollen hineingehen und einen Brandy trinken.» «Na schön, nun hör auf mit Reden und hol auch einen», sagte Samantha. «Das Mittagessen ist gleich fertig.» Mr. Filigree füllte zwei große Gläser mit Brandy, brachte Adrian eines und klemmte sich dann in seinen Lieblingssessel. Dort saß er und sah die beiden still und voll strahlender Güte an. «Wissen Sie», sagte er zu Adrian, «ich glaube, ich werde ein Kapitel über Rosy schreiben, oder vielmehr über Rosy als Poo-Ting. Das läßt sich natürlich nicht beweisen – aber wie viele wissenschaftliche Fakten lassen sich schon beweisen. Es steht schon in der Genesis: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, und manche sind erwiesen und andere nicht.» «Ja», gab Adrian höflich zu, «da mögen Sie recht haben.» «Ich weiß es», sagte Mr. Filigree ernsthaft. «Hören Sie… es wird Ihnen vielleicht seltsam vorkommen, wenn Sie mich so ansehen, aber ich war auch einmal ein Kerzendreher, zur Zeit Richards III. und hatte eine Katze namens Tabitha. Sie war ein großes, lustiges Tier, weiß wie ein Schneeball. Und eines Tages vergoß ich aus Versehen etwas heißes Wachs, und ein Tropfen davon fiel auf ihren Schwanz. Sie war natürlich außer sich, das gute Kätzchen. Als das Schwanzhaar dann wieder nachgewachsen war, da war es völlig schwarz. Eine weiße Katze mit schwarzem Schwanz. Und ob Sie es glauben oder nicht, vor kurzem war ich unten im Dorf, und da kam eine große Katze auf mich zu und rieb sich an mir und wollte mich gar nicht wieder loslassen. Es war ganz klar, daß das eine Reinkarnation von Tabitha war.» «Wirklich?» meinte Adrian, dessen Interesse jetzt erwachte. «Ja», sagte Mr. Filigree. «Eine sehr schöne, große graue Katze. Ich habe mich dann erkundigt: sie hieß Henry.»
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«Ja… aber wenn sie grau war und Henry hieß…?» sagte Adrian verwirrt. «Oh – die Farbe kam vermutlich vom Alter», sagte Mr. Filigree mit einer Handbewegung, die solche Kleinigkeiten abtat. «Und der Name – die Leute geben doch Tieren oft ganz törichte Namen. Aber daß es meine Tabitha war, daran bestand gar kein Zweifel. So schlagende Beweise habe ich nicht oft erlebt. Und sie erkannte mich ja auch sofort.» «Die Tatsache, daß er in der einen Hand einen Lachs und in der andern einen Eimer mit Austern trug, hatte natürlich gar nichts damit zu tun», warf Samantha trocken ein. Sie füllte drei Teller mit Fleisch und Gemüse und setzte sich an den langen Tisch. «So, bitte – nun wollen wir essen, bevor es kalt wird.» Adrian setzte sich an den Tisch und merkte plötzlich, daß er sehr hungrig war. Das Gericht duftete köstlich, und zwischen dem bunten Gemüse lagen kleine Fleischklößchen, die in der Sauce glänzten wie Perlmutt. Mr. Filigree sprach mit heller Trillerstimme weiter und erklärte, woran man eine Reinkarnation sofort unmißverständlich erkennen könne. Adrian nickte, sagte in regelmäßigen Abständen «Hmmm» und aß heißhungrig seinen Teller leer. Als mit Hilfe einiger Brotkrusten die letzten Saucenreste von den Tellern entfernt worden waren und alle sich satt und zufrieden zurücklehnten, klopfte es plötzlich an die Tür. Samantha erhob sich, ging ans Fenster und spähte durch die Gardine. «Adrian», sagte sie hastig, «schnell nach oben. Polizei.» Adrian stand stolpernd auf und blickte sie entgeistert an. «Schnell», rief sie mit blitzenden Augen. «Und nehmen Sie Ihren Teller mit!» Blindlings ergriff er den Teller und eilte die Treppe hinauf. Oben auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und horchte mit angehaltenem Atem. Sein Herz pochte laut. Es klopfte noch einmal an die Haustür. Adrian kam es vor, als schlüge jemand Nägel in seinen Sarg. «Ich komme», hörte er Samantha laut und fröhlich rufen. Er sah, wie sie die Haustür öffnete, und drückte sich in den Schatten, um zu lauschen.
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Abschied «Guten Morgen. Miss Filigree?» fragte eine tiefe Stimme, als Samantha die Tür öffnete. «Ja», sagte sie. «Sergeant Hitchbrisket», sagte die Stimme, «von der Polizeiwache in Moleshire. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?» «Gewiß», sagte Samantha freundlich. «Wir haben gerade gegessen, aber kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?» «Das ist wirklich sehr freundlich», sagte Sergeant Hitchbrisket und folgte ihr in die Küche. Er hatte ein knochiges Wieselgesicht und dichtes schwarzes Haar, das er in der Mitte sorgfältig gescheitelt trug. Er nickte Mr. Filigree höflich zu. Der kleine Gastwirt saß mit offenem Mund am Tisch und bemühte sich, den Wirbel der Ereignisse zu erfassen. «Guten Morgen, Sir», sagte der Polizist. «Schönes Wetter heute, was?» «Sehr schön», sagte Mr. Filigree eifrig und strahlte über das ganze Gesicht. «Nehmen Sie Platz, Sergeant», sagte Samantha und stellte eine Tasse Tee auf den Tisch. «Und dann sagen Sie uns, was wir für Sie tun können.» Der Sergeant knöpfte seine Rocktasche auf und entnahm ihr ein großes abgenutztes Notizbuch und einen Bleistift. Er leckte zuerst an dem Bleistift und dann an seinem Daumen, bevor er das Buch durchblätterte, um seinem Gedächtnis aufzuhelfen. Beim Lesen bewegten sich seine Lippen. «Also die Sache ist so, Miss», sagte er schließlich. «Wir sind auf der Suche nach einem Verbrecher, und ich habe mir gedacht, Sie könnten uns vielleicht behilflich sein.» « Das glaube ich kaum», sagte Samantha mit entwaffnendem Lächeln. «Wir kennen so wenige Verbrecher.» Der Polizist lief rot an. «Ich meine… ich dachte, Sie könnten uns vielleicht ein paar Hinweise geben, die zu seiner Festnahme führen könnten.» «Aber selbstverständlich», sagte Samantha und sah ihn freundlich an. «Wir sind jederzeit bereit, der Polizei zu helfen. Vater, würdest du wohl die Teller hinausbringen, während ich mit dem Sergeanten rede?» «Natürlich, mein Kind», flötete Mr. Filigree und trottete mit den Tellern hinaus. «Mein Vater», sagte Samantha halblaut, «ist nämlich außerordentlich empfindlich, und ich möchte nicht, daß er sich aufregt.» «Ja, natürlich», sagte Sergeant Hitchbrisket verständnisvoll. «Wissen Sie, ich bin eigentlich wegen Ihres Vaters gekommen.» «Ach», sagte Samantha schwach. «Warum denn? Was hat er getan?» «Aber gar nichts, gar nichts», beteuerte der Polizist eilig. «Getan hat er gar nichts, nur gesagt.» «Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz», sagte Samantha und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen fragend an. «Die Sache ist die, Miss. Dieser Verbrecher, den ich jetzt mal Mr. X nennen will, ist hier in der Gegend herumgezogen, und zwar mit einem Elefanten.» «Mit einem Elefanten?» rief Samantha mit großen Augen. «Ja, mit einem Elefanten», wiederholte der Sergeant und warf einen Blick in sein Notizbuch, um sich seiner Sache zu vergewissern. «Und gesucht wird er wegen tätlicher Beleidigung der Monkspepper-Jagdgesellschaft und wegen Sachbeschädigung und tätlicher Beleidigung im Haus von Lord Fenneltree.» «Großer Gott!» sagte Samantha. «Wie kommt er denn bloß dazu?» «Ja, das mögen Sie wohl sagen, Miss», sagte Hitchbrisket bekümmert. «Aber was in
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einem Verbrecher vorgeht, das weiß keiner. Jedenfalls, er wurde zuletzt auf dem Wege in diese Gegend gesehen, Miss. Und nun war doch Ihr Vater heute morgen im Dorf und hat sich mit Bill Plungemusket unterhalten – Sie wissen, das ist der Geflügelfarmer, und dem hat er erzählt, er hätte jetzt einen Elefanten. Und weil es unwahrscheinlich ist, daß hier mehr als ein Elefant herumläuft, wollte ich mal herkommen und mich erkundigen.» Samanthas Herz sank, aber sie brachte er fertig, überrascht und erstaunt zu fragen: «Mein Vater hat gesagt, er habe einen Elefanten?» «Ja», erwiderte der Sergeant fest. «Jedenfalls hat das Bill Plungemusket gesagt.» Samantha runzelte die Stirn. «Ich verstehe nicht, was er da gemeint haben kann», sagte sie. Und plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. « Ach j a – natürlich!» rief sie aus. «Jetzt weiß ich es.» Sie versuchte hell aufzulachen, lief zur Tür und rief: «Vater! Bitte komm doch mal einen Augenblick her.» Adrian, der immer noch lauschend oben stand, war bei diesen Worten einem Herzanfall nahe. Er war ungeheuer erleichtert gewesen, als Samantha ihren Vater fortgeschickt hatte; daß sie ihn jetzt wiederkommen ließ, obwohl der Hüter des Gesetzes noch da war, schien ihm unglaublich töricht. Mr. Filigree, strahlend wie ein feister kleiner Cherub, kam herein. «Vater», sagte Samantha, «Sergeant Hitchbrisket interessiert sich sehr für Elefanten.» «Nein – tatsächlich?» flötete Mr. Filigree entzückt. «Das ist aber wirklich nett, eine verwandte Seele zu treffen. Ich habe geradezu eine Leidenschaft für Elefanten, müssen Sie wissen. Wie heißen Ihre denn?» «Eigentlich habe ich gar keine», sagte der Sergeant. «Die Sache ist…» «Ach, Sie Ärmster!» unterbrach ihn Mr. Filigree. «Das ist wirklich schlimm, eine Leidenschaft für Elefanten zu haben und keinen einzigen zu besitzen. Ich hatte damals einhundertundeinen.» «Einhundertundeinen Elefanten?» Der Polizist glaubte nicht recht zu hören. «Ich versichere Ihnen, es waren einhundertundeiner», sagte Mr. Filigree, «und der beste von allen war Poo-Ting. Den hätten Sie bloß mal sehen sollen, wie er einen Tiger tötete. Ein Genuß, sage ich Ihnen, ein wirklicher Genuß.» «Gewiß, ja.» Sergeant Hitchbrisket räusperte sich. «Und wann war das? Ich meine, wann hatten Sie alle diese Elefanten?» «Einen Augenblick.» Mr. Filigree legte die Stirn in Falten, man sah ihm an, wie er sich konzentrierte. «Ich glaube, es war vierzehnhundert-siebzig.» «Vierzehnhundertsiebzig?» fragte der Sergeant verstört, den Bleistift gezückt. «Vielleicht auch vierzehnhunderteinundsiebzig», räumte Mr. Filigree ein. «Ich weiß es nicht mehr ganz genau.» «Es war während einer der früheren Inkarnationen meines Vaters», sagte Samantha honigsüß. «Aha. Hm. Ja», sagte der Polizist. «Inkarnationen. So.» «Ja. Ich war in Nagarapore», teilte ihm Mr. Filigree ernsthaft mit. «Kolossal interessant war das Leben dort, das können Sie mir glauben. Ganz abgesehen von den Elefanten und den Tigerjagden, wissen Sie… ich wurde jedes Jahr mit Gold und kostbaren Steinen aufgewogen. Fabelhaft war das.» Sergeant Hitchbrisket klappte sein Notizbuch zu, steckte es zusammen mit dem Bleistift in die Tasche und erhob sich rasch. «Höchst interessant, Sir», sagte er. «Höchst interessant. Aber ich glaube, ich brauche Sie jetzt nicht länger zu stören.» «Ich verspreche Ihnen», sagte Samantha, «wir werden uns sofort mit Ihnen in
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Verbindung setzen, wenn wir irgend etwas hören.» «Vielen Dank, Miss», sagte der Sergeant und sah sie an. «Aber bitte sehr», erwiderte sie liebenswürdig. «Der Polizei muß man immer behilflich sein.» «Ja. Nun, dann guten Tag, Sir. Guten Tag, Miss», sagte Sergeant Hitchbrisket und stolperte hinaus. Samantha schloß die Haustür und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung dagegen. «Es war vierzehnhunderteinundsiebzig», sagte ihr Vater bestimmt. «Jetzt ist es mir eingefallen. Ruf ihn zurück.» «Nein, nein, er weiß jetzt alles, was er wissen muß», sagte Samantha. «Aber Vater, du mußt wirklich im Dorf nicht solche Geschichten erzählen, hörst du?» «Das sind keine Geschichten», sagte Mr. Filigree gekränkt. «Nein, natürlich nicht», meinte Samantha, «aber weißt du, die Leute im Dorf glauben einfach nicht an die Seelenwanderung so wie du, und deshalb finden sie so was leicht ein bißchen komisch. Versprich mir, daß du nicht wieder hingehst und dort irgendwas von Elefanten erzählst.» «Na schön, mein Kind, du hast wohl recht.» «Natürlich habe ich recht», sagte sie. «Du kannst dir damit die größten Scherereien aufhalsen.» Sie trat an die Treppe und blickte hinauf. «Adrian, Sie können kommen!» rief sie. «Er ist weg.» Adrian kam bleich die Treppe herunter und wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch. «Sie waren wunderbar», sagte er. «Mir fiel eine Zentnerlast von der Seele.» «Eigentlich müssen wir uns bei Vater bedanken», meinte sie trocken. «Es ist wirklich ein glücklicher Zufall, daß eine seiner Inkarnationen in Indien stattfand.» «Ja, aber Sie sehen, ich hatte doch recht», sagte Adrian jetzt. «Ich sagte Ihnen schon heute morgen, ich bin eine Gefahr für Sie, solange ich hier bin, und nun haben Sie die Sache noch verschlimmert, weil Sie ihn angelogen haben.» «Unsinn», sagte Samantha. «Kein Mensch wird erfahren, daß Sie hier sind.» «Über kurz oder lang wird das doch jemand herauskriegen», sagte Adrian. «Und dann sitzen Sie ebenso tief drin wie ich, und das wäre mir ganz schrecklich.» «Ach was», sagte Samantha. «jetzt hören Sie auf mit den Dummheiten. In diesem Zustand können Sie noch nicht reisen, und den Gipsverband dürfen Sie erst in vier Wochen abnehmen. Sie brauchen nichts zu tun, als sich hier ganz still zu verhalten, bis es Ihnen bessergeht.» «Versprechen Sie mir, daß ich gehen kann, sobald es mir bessergeht?» fragte Adrian. Samanthas grüne Augen blickten ihn seltsam an, und sie antwortete: «Wenn Sie sich wieder wohl fühlen und wenn Sie dann unbedingt abreisen wollen, kann ich Sie nicht halten.» «Ach, es geht doch nicht darum, daß ich abreisen will», stammelte Adrian. «Es geht doch nur darum, daß ich Sie oder Ihren Vater nicht in Schwierigkeiten bringen will.» «Nun, wir werden ja sehen», sagte Samantha. «Und wenn Sie absolut etwas tun wollen, dann können Sie mir jetzt beim Abwaschen helfen.» Die nächsten zwei Wochen waren ein Albtraum. Jedesmal wenn Mr. Filigree im Dorf einkaufen ging, fürchtete Adrian, ihn in Begleitung mehrerer freundlicher Polizisten zurückkommen zu sehen, denen er Rosy zeigen wollte. Nachts lag er wach und sah Samantha wegen Begünstigung und Beihilfe festgenommen und in einem riesigen, düsteren Gefängnis verschwinden, wo sie in einer feuchten Zelle dahinwelkte, bis das
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kastanienfarbene Haar weiß wurde und sie einsam und elend für immer die Augen schloß. Die Tatsache, daß er von allen wahrscheinlich die härteste Strafe zu erwarten hatte, machte ihm wenig Sorgen. Aber der Gedanke an Samantha im Gefängnis ließ ihn in Schweiß gebadet aufwachen. Denn er wußte jetzt, daß er sie tief und unauslöschlich liebte, und das war natürlich für sein gemartertes Hirn ein weiteres Problem. Selbst wenn er den Mut hätte, ihr seine Liebe zu gestehen: wie konnte ein mit einem gefährlichen Elefanten umherziehender Verbrecher es jemals wagen, ein Mädchen wie Samantha um ihre Hand zu bitten? Schließlich konnte er es nicht länger aushalten. Eines Morgens ging er früh hinunter und traf Samantha in der Küche. Ihr Haar glänzte wie eine neugeprägte Kupfermünze. «Guten Morgen», sagte sie und lächelte. «Ich bin gleich fertig.» «Ich muß mit Ihnen sprechen, Samantha », sagte Adrian entschlossen. Sie wandte sich um und sah ihn fragend an. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und die kleinen Goldpünktchen in ihren grünen Augen glitzerten und tanzten. Adrian schluckte. Seine festen Vorsätze kamen ins Wanken. Sie war so schön, so begehrenswert… wie konnte er daran denken, sie zu verlassen! «Hören Sie», beharrte er. «Ich muß mit Ihnen reden.» «Na, na», sagte sie neckend. «So energisch heute morgen?» «Ich habe beschlossen», sagte Adrian und versuchte, seiner Stimme einen männlichen und festen Klang zu geben, «ich habe beschlossen, heute abend aufzubrechen.» Samanthas Augen weiteten sich. «Heute abend!» sagte sie. «Nun… Sie müssen es am besten wissen.» Sie wandte sich der großen Bratpfanne zu, in der die Spiegeleier wie kleine Sonnen lagen und brutzelten. «Ich gehe doch nicht, weil ich gern möchte», sagte Adrian verzweifelt. «Aber je länger ich hierbleibe, um so größer ist die Gefahr, daß man mich findet. Das müssen Sie doch einsehen.» «Mein lieber Adrian», erwiderte Samantha ruhig und machte sich mit abgewandtem Rücken am Herd zu schaffen, «mich geht das alles doch gar nichts an.» «Samantha… bitte verstehen Sie mich doch: ich muß einfach Rosy loswerden», sagte Adrian unglücklich. «Wenn sie nicht mehr bei mir ist, dann kann mich niemand mit den Vorfällen bei der Jagd und im Schloß in Verbindung bringen. Und die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, ist, daß ich sie irgend jemandem an der Küste aufhalse.» «Haben Sie schon einmal etwas von einem Hausgeist gehört?» fragte Samantha. «Hausgeist?» sagte Adrian. «Nein. Was ist denn das?» «Hexen hatten in alten Zeiten immer einen Hausgeist», erklärte Samantha. «Er folgte ihnen überall hin und verrichtete auch oft die schmutzige Arbeit. Manchmal war es eine Katze oder sonst ein Tier. Also ich glaube, Rosy ist Ihr Hausgeist. Wenn die Hexe jemanden nicht leiden konnte, so hexte sie ihm den Hausgeist an, und wo er ging und stand, sah er dann den schwarzen Hund oder den kleinen Affen oder sonstwas.» «Oh», sagte Adrian. «Wie interessant.» «Der Betroffene wurde dann schließlich wahnsinnig», erklärte Samantha heiter. « Deshalb habe ich das Gefühl, daß Rosy Ihr Hausgeist ist. Wahrscheinlich hat sich Ihr Onkel in seiner freien Zeit als Zauberer betätigt.» «Nun, jedenfalls… diesen Hausgeist muß ich loswerden», sagte Adrian fest. Samantha warf den Löffel hin und drehte sich mit einem Ruck um. Ihre Augen waren so groß und hellgrün, wie er sie noch nie gesehen hatte, und die kleinen Goldflecken tanzten gefährlich.
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«Sie… Sie sind einfach gemein», sagte sie mit hochrotem Gesicht. «Ich… aber… was habe ich denn getan?» Adrian war ganz entsetzt über ihren Zorn. Sie war doch sonst so ruhig! «Ist Ihnen nicht Rosy von Ihrem Onkel hinterlassen worden?» fragte Samantha. «Ja.» «Hat er Ihnen nicht Geld hinterlassen für ihren Unterhalt?» «Ja.» «War nicht Ihr Onkel Ihr letzter lebender Verwandter?» «Ja.» «Nun, dann ist, streng genommen, Rosy Ihre Verwandte, und Sie haben nicht das mindeste Recht, hier von verkaufen zu reden, als sei sie eine alte Standuhr oder sonstwas. Schämen Sie sich!» Adrian stand mit offenem Mund da und starrte Samantha verwirrt an. «Na schön», sagte sie, nahm ihre Schürze ab und warf sie auf einen Stuhl. «Tun Sie, was Sie wollen. Wenn Sie es für richtig halten, eine Verwandte als Sklavin zu verkaufen, dann wäre es mir lieber, Sie wären bald aus dem Hause.» Sie drehte sich um, lief durch die große Küche und klapperte die Treppe hinauf. Adrian hörte, wie oben die Tür ihrer Schlafkammer zuschlug. Er stand noch immer verstört am Herd, bis ihm plötzlich ein Geruch von verbrannten Spiegeleiern in die Nase stieg und er hastig die Pfanne vom Feuer zog, wobei er sich die Finger verbrannte. Jetzt kam Mr. Filigree ins Haus gewatschelt. Der Geruch stieg ihm in die Nase; er schmatzte leicht und hob erfreut den Kopf. «Hmm», sagte er. «Frühstück.» «Sie werden sich selber bedienen müssen», sagte Adrian kurz. «Samantha hat sich oben eingeschlossen.» «Na ja», meinte Mr. Filigree mit der Ruhe des Philosophen. «So was kommt vor, lieber Freund.» «Was kommt vor?» fragte Adrian ergrimmt. «Ach, allerhand», meinte Mr. Filigree obenhin und wedelte mit der Hand. «Streit. Wortwechsel. Tränen. Zorn. Immer auf und ab, verstehen Sie.» «Ja, ich verstehe. Aber ich mach’s nicht mit», sagte Adrian. «Ich gehe.» «Wissen Sie was», sagte Mr. Filigree erstaunt und besah sich die Bratpfanne. «Ich glaube, die Eier sind verbrannt.» «Ja. Und daran ist Ihre Tochter schuld», erwiderte Adrian. «Zweifellos», meinte Mr. Filigree. «Immerhin… dies eine hier scheint der Katastrophe entgangen zu sein. Wollen wir uns das teilen?» «Nein», sagte Adrian. «Ich gehe jetzt packen.» Das Packen mit nur einem Arm war schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte; aber irgendwie brachte er seine Kleider dann doch in den Koffer. Er kochte noch immer vor Zorn über Samanthas Ausbruch. Sie war hier ganz entschieden zu weit gegangen. Schließlich wollte er ja Rosy um ihretwillen loswerden, nicht wahr? Ganz allein sie hatte er dabei im Auge, und sie benahm sich, als habe sie einen verbrecherischen Sadisten vor sich. Aber er würde es ihr zeigen. Zu seinem großen Kummer mußte er feststellen, daß er mit dem Gipsverband Rosy nicht anschirren konnte. Er mußte Mr. Filigree um Hilfe bitten. «Hören Sie, mein lieber Freund», sagte Mr. Filigree und zog die Riemen an, die den Wagen mit der rundlichen Rosy verbanden, « meinen Sie, daß es klug ist, was Sie
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vorhaben?» «Nun fangen Sie bloß nicht auch noch an», sagte Adrian. «Samantha hat mir gerade genügt.» «Ich will mich nicht einmischen», sagte Mr. Filigree reuevoll, «aber es scheint mir doch, daß es für Sie schwer sein wird, Rosy an- und auszuspannen. Mit ihrem Arm.» «Ich werd schon jemanden finden, der mir hilft», sagte Adrian. Als alles fertig war, blieb er einen Augenblick unentschlossen stehen. Mr. Filigrees runde blaue Äuglein sahen ihn unsicher an. «Wollen Sie… hm… wollen Sie sich gar nicht von Samantha verabschieden?» flötete er dann. Das war wirklich das letzte, was sich Adrian im Augenblick wünschte, aber Mr. Filigree blickte ihn so flehentlich an wie ein Riesenbaby, das um die Flasche bettelt. Da konnte er einfach nicht nein sagen. Er ging also zurück ins ‹Harfespielende Einhorn› und stieg die Treppe hinauf. Vor Samanthas Zimmertür blieb er stehen und räusperte sich. «Samantha!» rief er laut und befehlend. «Ich bin es, Adrian.» «Ich hatte Sie auch nicht für Rosy gehalten», kam Samanthas Stimme durch die Tür. «Ich breche jetzt auf», sagte Adrian und beschrieb mit der Hand einen kühnen Bogen, um die weite Entfernung anzuzeigen, die er heute noch zurücklegen wollte. «Ich wollte nur adieu sagen.» «Adieu», sagte Samantha überaus freundlich. «Und vielen Dank für alle Mühe», fügte Adrian hinzu. «O bitte», sagte Samantha. «Wenn Sie mal wieder vom Zug überfahren werden und es ist gerade hier in der Nähe, kommen Sie gern herein.» «Ja. Schön. Ich gehe jetzt», sagte Adrian. Schweigen. «Ich breche so früh auf», rief er, «weil wir noch einen langen Weg vor uns haben.» «Schreien Sie doch nicht so durch die Tür», sagte Samantha. «Na schön. Dann gehe ich jetzt», sagte Adrian. «Ja», gab Samantha honigsüß zurück. «Beeilen Sie sich nur, sonst ist der Sklavenmarkt vorüber.» Kochend vor Wut über die unfaire Bemerkung stolperte Adrian die Treppe hinunter und ging hinüber zur Scheune. «Leben Sie wohl, Mr. Filigree», sagte er. «Ich bin Ihnen wirklich unendlich dankbar für alles. Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder.» «Aber ganz gewiß, ganz gewiß, lieber Freund», beteuerte Mr. Filigree ernsthaft. «Das läßt sich gar nicht vermeiden. Man muß nur irgendein Erkennungszeichen haben, wissen Sie. Wenn ich dann zum Beispiel ein Käfer bin und Sie sind der Premierminister, dann würden wir uns doch nicht erkennen, wenn wir kein Erkennungszeichen hätten, nicht wahr? Wenn ich dann vielleicht über ein wichtiges Staatsdokument krabble, dann könnten Sie mich womöglich ahnungslos vernichten. Wir wollen es so machen: wenn wir uns in einem späteren Leben wiedertreffen, werde ich zu Ihnen sagen: Erinnern Sie sich an das ‹Harfespielende Einhorn)? Und Sie sagen dann: Ja, ich erinnere mich. Einverstanden?» Adrian hätte gern erwidert, es werde Mr. Filigree vermutlich – falls er einmal als Käfer über Staatspapiere krabbeln sollte – Schwierigkeiten machen, den Premierminister zu fragen: Erinnern Sie sich an das ‹Harfespielende Einhorn›? aber er wollte den Abschied nicht weiter hinauszögern. Er nickte also bereitwillig, ergriff Rosys warmes, ledriges Ohr und trieb sie an. Als er hundert Meter gegangen war, blieb er stehen und wandte sich um. Das Wirtshaus
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‹Zum harfespielenden Einhorn› lag unter dem dicken Strohdach wie eine schwarzweiße Schildkröte unter dem goldfarbenen Panzer. Er glaubte, an der Gardine von Samanthas Fenster eine Bewegung zu sehen, doch sicher war er nicht. Mit einem Seufzer packte er Rosys Ohr von neuem, und sie setzten ihren Weg fort.
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Rosy sticht in See Eine schlimmere Woche als die nun folgende hatte Adrian niemals erlebt. Sich tagsüber verborgen halten zu müssen und nur nachts wandern zu können, war schon schlimm genug, doch die Schwierigkeiten beim An- und Ausspannen waren schier unüberwindlich. Auch fehlte ihm Samantha auf Schritt und Tritt, und alle zehn Minuten bereute er es bitter, daß er je das ‹Harfespielende Einhorn› verlassen hatte. Endlich konnte er es mit dem Gipsverband nicht länger aushalten. Er machte Rosy in einem Walde fest, wo es rundherum reichlich Futter gab, und begab sich in die nächste Stadt zu einem Arzt, der seinen Arm untersuchte. «Es ist beinahe vier Wochen her», berichtete Adrian. «Und der Arzt, der den Verband machte, hat gesagt, ich könnte ihn in vier Wochen abnehmen.» «Schön», sagte der Arzt. «Das ist Ihre Sache. Wenn Sie wollen, nehme ich den Verband ab, aber Sie werden mit dem Arm noch sehr, sehr vorsichtig umgehen müssen.» Er schnitt den Gipsverband auf, und Adrian hatte das Gefühl, es sei eine Riesenlast von ihm gefallen. Der Arm war zwar noch steif, schmerzte aber nicht, wenn er ihn bewegte; der Bruch war also geheilt. Er eilte zu Rosy zurück, und als der Abend kam, machten sie sich von neuem auf den Weg – mitten in einen Sonnenuntergang hinein, der wie ein Pfau in allen Farben leuchtete. In der Morgendämmerung befanden sich die beiden Wanderer auf einem engen Pfad, der über weites Hügelland führte. Überall standen große grüne Büschel von Federnelken mit Hunderten von Blütenköpfen. Und plötzlich, auf der Höhe der Hügel, sah sich Adrian am Rande eines steilen Kliffs, von dem aus er tief unten das Meer erblickte; glänzend im frühen Sonnenlicht, murmelten die kleinen Wellen am steinigen Strand. Die Gegend war nicht gerade sehr dazu geeignet, Rosy zu verstecken, aber Adrians Stimmung hatte sich allmählich gehoben; sie waren nun schon recht weit entfernt von Fenneltree Hall und auch vom ‹Harfespielenden Einhorn›. Hier schien es ihm einigermaßen sicher. Er lag lang ausgestreckt auf den weichen Federnelken und überlegte, was jetzt zu unternehmen war. Wenn er lange genug diesem Strand folgte, kam er sicher zu irgendeinem kleinen Badeort, und dort fand er gewiß einen Zirkus oder sonst einen Unternehmer, der ihm Rosy und ihr Legat abnahm. Dann hatten seine Sorgen ein Ende. Erleichtert schloß er die Augen und war fast eingeschlafen, als eine schrille Stimme laut «Ahoi!» rief. Wie angestochen fuhr Adrian hoch und blickte sich wild um. Keuchend und mit beiden Händen winkend kam die Schwarze Nelly auf ihn zu. «Ahoi!» rief sie und strahlte ihn an. «Da sind wir.» «Hallo», sagte Adrian erstaunt. «Was machen Sie denn hier?» «Augenblick», keuchte die Schwarze Nelly. «Muß nur mal Luft holen.» Sie setzte sich auf den Boden und fächelte sich kräftig Luft zu. Dann sagte sie mit mildem Vorwurf: «Sie haben aber Rosy nicht sehr gut versteckt. Mein Wagen steht da drüben, und ich konnte sie deutlich gegen den Himmel sehen. Ich dachte erst, sie sei ein großer Felsbrocken, bis sie sich dann bewegte.» «Ich dachte, wir wären hier einigermaßen sicher», sagte Adrian und warf einen Blick ringsum. «Wo wollen Sie hin?» fragte die Schwarze Nelly. «Ja, ich weiß selber nicht recht», gab Adrian zur Antwort. «Ich wollte an der Küste entlang weiterziehen, bis ich einen Ort finde, und dann wollte ich sehen, ob ich einen Zirkus
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finde, der mir Rosy abnimmt.» «Hmmm», sagte die Schwarze Nelly, zog ihre kleine Pfeife aus der Tasche und zündete sie an. «Kennen Sie die Gegend hier?» «Nein, gar nicht», sagte Adrian. «Schön», sagte die Schwarze Nelly und wies mit dem Mundstück der Pfeife in die Gegend. «Ich würde Ihnen raten, gehen Sie da hinunter. Der Weg führt nach Sploshport-onSolent. Das ist ein hübscher kleiner Ort, und dort können Sie die Fähre zur Insel Scallop nehmen.» «Aber was soll ich denn auf einer Insel?» fragte Adrian verblüfft. «Und ob die Rosy mit auf die Fähre lassen?» «Reden Sie nicht, sondern hören Sie zu», sagte die Schwarze Nelly bestimmt. «Die Insel ist ein beliebter Ferienort. Da gibt es allerhand Jahrmärkte und ähnliches, und wenn es irgendwo einen Zirkus gibt, dann dort. Das ist hier in der Gegend Ihre einzige Chance, Rosy loszuwerden. Und wegen der Fähre: was meinen Sie denn, wie die Zirkusse hinüberkommen?» «Ja, daran hatte ich nicht gedacht», gab Adrian zu. «So», fuhr die Schwarze Nelly fort, «und wenn Sie jetzt ein gutes Tempo beibehalten, dann können Sie in Sploshport noch die Abendfähre erreichen. Wenn Sie dann drüben sind, müssen Sie einen Freund von mir besuchen. Er heißt Ethelbert Cleep.» «Ethelbert Cleep?» fragte Adrian ungläubig. «Für seinen Namen kann er nichts», sagte die Schwarze Nelly scharf. «Rookwhistle wird ja auch manchen Leuten komisch vorkommen.» «Ja, das ist wahr», sagte Adrian. «Und was soll ich bei Ihrem Freund tun?» «Erzählen Sie ihm Ihre Geschichte. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt. Und dann befolgen Sie meinen Rat», sagte die Schwarze Nelly. «Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen», sagte Adrian dankbar. «Ja, übrigens: wie ist es Ihnen im ‹Harfespielenden Einhorn› ergangen?» fragte die Schwarze Nelly und sah ihn prüfend an. «Ach – sie waren sehr nett zu mir», sagte Adrian errötend. «Ganz prachtvolle Leute, wirklich.» «Besonders Samantha, was?» fragte die Schwarze Nelly. «Oder kam sie Ihnen etwa vor wie ein Flittchen? Na?» «Ein Flittchen?!» wiederholte Adrian empört. «Also hören Sie… Samantha war… sie ist doch…» «Schon gut», sagte die Schwarze Nelly freundlich und stieß eine Rauchwolke aus. «Ich weiß schon, was Sie meinen. Aber wenn Sie die Fähre noch erreichen wollen, müssen Sie sich sputen.» Sie erhob sich, klopfte Rosy liebevoll auf den Rüssel und grinste Adrian an. «Wiedersehen. Grüßen Sie Ethelbert», sagte sie und hüpfte über Blumen und Moos zurück zu ihrem Wagen wie ein kleiner, emsiger Maulwurf in einem Ozean von Grün. Eilig spannte Adrian Rosy an und trabte mit ihr über die Hügel hinunter, bis der schmale Pfad nach vielen Windungen in eine richtige Straße mit Häusern mündete. Die Häuser nahmen zu, und schließlich stand Adrian mit Rosy im Zentrum von Sploshport-on-Solent. Er merkte sofort den Unterschied zwischen Sploshport und einer richtigen, großen Stadt. Hier waren Pferde und Menschen seit vielen Jahren an seltsame Tiere und Gefährte gewöhnt. Niemand wandte auch nur den Kopf, als Adrian und Rosy mit dem klappernden Wagen durch die Straßen zogen, und die Pferde hier trabten an ihnen vorüber, als existierten sie gar nicht.
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Ein paarmal mußte Adrian nach dem Weg fragen, doch schließlich fand er sich mit Rosy unten am Hafen und sah dort die ‹Sploshport Queen› wie einen gigantischen Käfer vor Anker liegen und bedächtig in der Abendsonne schaukeln, während das Wasser gegen die Schaufelräder schwappte. Aus dem grün-goldenen Schornstein drang dicker Qualm und zeigte an, daß das Schiff unmittelbar vor der Abfahrt stand; Menschen eilten den Laufsteg hinauf und hinunter und schoben sich über die Decks. Adrian machte Rosy an einem Laternenpfahl fest und drängte sich durch die Menge bis zu einem Mann, den er für einen Matrosen hielt; er saß auf einem Poller und kaute Tabak mit dem stumpfen, glasigen Blick einer hochbetagten Kuh. Adrian sprach ihn schüchtern an. «Können Sie mir wohl helfen?» fragte er bittend. «Ich möchte mit der Fähre hinüberfahren und habe einen Elefanten mit Wagen bei mir. Wen muß ich da fragen?» Der Matrose hörte auf zu mahlen und dachte lange nach, bis ihm schließlich die Antwort einfiel. «Mich nicht», sagte er. «Nein, das habe ich auch nicht angenommen. Ich dachte, Sie könnten mir sagen, an wen ich mich wenden muß.» Der Matrose kaute, überlegte und raffte sich von neuem zu einer Antwort auf. «Elefanten», verkündete er heiser, «das gehört zur Ladung.» «Ja… und?» drängte Adrian. «Ladung – Kapitän oder Erster Offizier», sagte der Matrose und fiel nach dieser ungewöhnlichen Leistung tabakkauend zurück in die vorherige Trance. Adrian kämpfte sich über den Laufsteg an Deck der ‹Sploshport Queen›. Um ihn herum drängten und stießen sich große Familien mit zahlreichen aufgeregten Kindern, alle ausgerüstet mit Spaten und Sandeimern. Schließlich fand er die Treppe, die zur Brücke führte. Er lief eilig hinauf und stieß oben heftig mit jemandem zusammen, der nach unten wollte. Nachdem Adrian sich entschuldigt und dem Mann wieder auf die Füße geholfen hatte, stellte es sich heraus, daß er ausgerechnet den Kapitän der ‹Sploshport Queen› vor sich hatte, einen kleinen, eiförmigen und so reich mit Goldschnüren behängten Herrn, daß die Uniform darunter nur noch zu ahnen war. Er trug einen grauen Spitzbart und vibrierte vor Energie wie ein ganzer Bienenschwarm. Jetzt klopfte er sich den Staub ab und musterte Adrian eingehend von oben bis unten mit dem Interesse eines Kannibalen beim Anblick eines gutgenährten Missionars. «Falls dies versuchte Meuterei sein sollte, junger Mann», sagte er halblaut und nicht unfreundlich, «so wären Sie vielleicht entschuldigt. Aber ich möchte Ihnen doch zu bedenken geben, daß es nicht der beste Anfang für eine Freundschaft ist, wenn man einen Menschen umwirft und dann auch noch auf ihm herumtrampelt.» «Es tut mir schrecklich leid», sagte Adrian. «Ich dachte, Sie wollten schon ablegen, und ich war so in Eile. Ich habe nämlich einen Elefanten mit Wagen bei mir, den ich gern an Bord bringen möchte, wenn ich darf.» Der Kapitän schnippte ein Stäubchen von seinem Ärmel und blickte Adrian von neuem prüfend an. «Ich kann ja wohl noch dankbar sein», sagte er mit leichtem Seufzer, «daß ich nicht Ihrem Elefanten unter die Füße geraten bin. Wo ist das Tier?» «Unten am Kai», erwiderte Adrian. «Die Überfahrt kostet fünf Pfund», sagte der Kapitän. «Gut», sagte Adrian. «Hauptsache wir dürfen mit.»
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Land in Sicht Adrian hätte nicht gedacht, daß ihm die kurze Seereise auf der ‹Sploshport Queen› so viel Spaß machen würde. Er hatte Rosy an einem Poller angekettet, wo sie hoffentlich nichts anrichten konnte. Dann ging er nach unten in den Speiseraum und besorgte für sich und sie je einen Krug Bier, für Rosy Brötchen und für sich selbst ein Sandwich. Während sie das verzehrten, lehnte er an der Reling und freute sich über den Sonnenuntergang und das Licht, das auf den Wogen schimmerte, so daß sie aussahen wie große Ballen Seide, die auf dem Ladentisch entrollt werden. Rosy nahm das neue Abenteuer gelassen hin. Zunächst zeigte sie lebhaftes Interesse für die See – Adrian nahm an, sie hielt die ganze Flüssigkeit für trinkbar und womöglich sogar für berauschend. Als sie jedoch feststellte, daß sie das kostbare Naß vom Deck aus nicht erreichen konnte, fand sie sich damit ab und verfiel in ihr übliches Hin- und Herschaukeln, wobei sie die Augen halb geschlossen hielt. Als sie die Insel erreichten, war es ganz dunkel geworden. Adrian ging mit Rosy die kopfsteingepflasterten Gassen entlang und mußte hin und wieder anhalten, um nach dem Weg zu fragen. Schließlich lag die kleine Stadt hinter ihnen, und sie waren in den Dünen angelangt. Hier stand mitten im Sand, wie ein seltsames Stück Treibgut, ein kleines verwittertes Haus, das aus angeschwemmtem Holz zusammengebaut schien. Die Fenster waren erleuchtet, und trotz des Rauschens der See vernahm man die melancholischen Klänge einer Tuba. Der Spielende war offenbar nicht gerade ein Meister auf dem Instrument, und Adrian brauchte einen Augenblick, um die Melodie zu erkennen. Ringsumher gab es nichts als Dünen, keine andere Behausung war zu sehen. Dies mußte also das Haus von Ethelbert Cleep sein. Er stapfte mit Rosy durch den knirschenden Sand und klopfte an die Tür. Die Tuba muckte einmal kurz auf wie eine leidende Kuh und schwieg dann still. Gleich darauf hörte er Schritte, die sich der Tür näherten. «… überhaupt keinen Sinn für die Kunst!» rief eine Stimme. «Nichts als Spießer, die Krach machen und mich beim Üben stören! Wer ist da? Wer ist da?» Adrian räusperte sich. «Ich bin Adrian Rookwhistle», rief er. «Adrian? Hab ich recht gehört – ein Junge?» «Ja», sagte Adrian, da ihm nichts Besseres einfiel. Die Tür flog auf, und auf der Schwelle stand ein kleines Männchen, schmal und winzig wie ein Sperling. Ungläubig sah Adrian ihn an. Er trug eine lange, dicke, senffarbene Strickjacke, die ihm fast bis zu den Knien reichte und mit großen, goldgehämmerten Knöpfen verziert war, dazu perlgraue samtartige Hosen und schwarz weiße Schuhe von merkwürdiger Machart. Das dichte strohfarbene Haar glich einem verwehten Heustapel nach dem Sturm, und in den Ohrläppchen steckten zwei große Perlen – nie hatte Adrian größere gesehen. Das auffallendste in dem schmalen bleichen Gesicht waren die klugen dunklen und wie Schmetterlinge flatternden Augen, mit denen er Adrian, herausfordernd an die Tür gelehnt, musterte. «Mein lieber Junge… was sagten Sie, wie Sie heißen?» «Adrian. Adrian Rookwhistle. Die Schwarze Nelly hat mich an Sie verwiesen.» «Zu reizend von ihr», sagte die Erscheinung am Türpfosten. «Das ist eine Frau, die wirklich Verständnis hat für die Nöte eines Mannes. Wirklich reizend.» «Sie sind doch Ethelbert Cleep, nicht wahr?» fragte Adrian. «Ja», sagte Cleep schelmisch lächelnd. «Meine Freunde nennen mich Ethel. Aber kommen Sie doch herein und frieren Sie nicht hier draußen. Kommen Sie, kommen Sie.» «Ja, aber Rosy…?» sagte Adrian.
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«Rosy?» fragte Cleep konsterniert. «Sie sind doch nicht etwa so geschmacklos, eine Frau mitzubringen?» «Nein», sagte Adrian und zeigte hinter sich auf den Sand. «Das da… das ist Rosy.» Ethelbert Cleep spähte hinaus, und im gleichen Moment hob Rosy, die wußte, was sich gehörte, den Rüssel hoch und gab in hohem Falsett einen Trompetengruß von sich. Ethelbert quiekte überrascht in der gleichen Tonlage auf und trat einen Schritt zurück. «Was ist denn das?» fragte er flüsternd. «Das ist Rosy. Mein Elefantenmädchen», sagte Adrian. Ethelbert Cleep preßte die zarte, mit Ringen geschmückte Hand auf die Brust, als drohe ihm ein Herzanfall. «Mein lieber Junge… ist das für mich?» fragte er. «Ich bin von Ihrer Großzügigkeit ganz überwältigt, aber ein so üppiges Geschenk kann ich wirklich nicht annehmen.» «Nein, nein», beruhigte ihn Adrian. «Wenn ich mal eben hereinkommen darf, kann ich Ihnen alles erklären.» Er machte Rosy fest und trat ins Haus Das ganze Haus bestand aus einem einzigen großen Raum. An dem einen Ende führte eine kleine Treppe hinauf zu einem Hängeboden, auf dem sich hinter diskret zugezogenen bunten Chintzvorhängen Ethelberts Schlaf gemach befand. Der ganze Raum unten stand voll von Stühlen, die mit Schondeckchen versehen waren, von gebrechlichen Tischchen mit Glaskästen voll ausgestopfter Vögel, die schon etwas mitgenommen schienen, und ähnlicher Nippsachen, die Ethelbert vermutlich ans Herz gewachsen waren. Man konnte sich kaum bewegen, ohne etwas umzustoßen. Er selbst hatte sich mit den Jahren eine fledermausähnliche schwebende Art der Fortbewegung zugelegt, um seine Kunstwerke unversehrt zu lassen. Auch jetzt flatterte er durch das Zimmer, setzte sich auf ein Sofa und klopfte auf das Kissen, das neben ihm lag. «Kommen Sie und setzen Sie sich zu mir, mein lieber Junge, und erzählen Sie mir alles», drängte er. Adrian wand sich vorsichtig durch das Nippesgewirr und nahm in sicherer Entfernung vom Hausherrn Platz. «Ja, also», begann er. «Die Sache ist so…» «Einen Augenblick», unterbrach ihn Cleep. «Erst eine kleine Erfrischung.» Behende trippelte er durch das Zimmer und verschwand hinter einem japanischen Wandschirm mit Riesendrachen, die alle aussahen, als litten sie an schwerer Unterfunktion der Schilddrüsen. Mit einem Krug und zwei Gläsern tauchte er wieder auf, füllte Adrians Glas, drückte es ihm in die Hand und klopfte ihm zärtlich die Wange. «So, jetzt also», sagte er und setzte sich wieder auf das Sofa. Adrian roch an dem Wein. Er schien harmlos zu sein. «Ja, Herzblatt, den mache ich jedes Jahr aus Holunderbeeren vom Festland», sagte Ethelbert Cleep. «Unglaublich kräftigend. So, und nun Ihre Geschichte. Ich bin außerordentlich gespannt.» Adrian berichtete von all seinen Abenteuern, und Ethelbert Cleep war ein wirklich idealer Zuhörer. Er vergaß sein Glas, das er in der Hand hielt; die Augen wurden runder und runder, und manchmal gab er ein Kichern von sich wie ein kleines Schulmädchen. «Mein bester Junge », sagte er, als Adrian geendet hatte, « das ist wirklich eine ungewöhnlich interessante Geschichte.» «Nun ja, so hört es sich vielleicht an; nur wenn man sie durchmacht, nimmt sich das alles anders aus», sagte Adrian bitter. «Aber die Schwarze Nelly hat mir ja gesagt, ich sollte Ihnen alles erzählen und mich dann auf Ihren Rat verlassen.»
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«In jeder Hinsicht, hoffe ich», sagte Ethelbert neckisch. «Aber nun warten Sie mal. Warten Sie mal. Ich muß nachdenken.» Er leerte sein Glas und zog aus der Tasche seiner scheußlichen Jacke eine bestickte Kappe mit Troddeln, die er sich fest auf den Kopf drückte. Dann schloß er die Augen und lehnte sich zurück. «Wissen Sie…» begann Adrian. «Sch-sch», machte Cleep, ohne die Augen zu öffnen. Etwa fünf Minuten lang blieb Adrian ruhig sitzen, trank seinen Wein und beobachtete den Hausherrn, der dasaß wie in Trance. Wer weiß, ob die Schwarze Nelly recht getan hatte, als sie ihn zu diesem merkwürdigen Männchen schickte. Es sah eher aus, als stehe noch weiteres Unheil bevor. «Ich hab’s!» sagte Ethelbert Cleep plötzlich, zog sich die Kappe vom Kopf und steckte sie wieder in die Tasche. «Hören Sie zu, lieber Junge. Unten in der Stadt gibt es ein Theater – sogar ein recht vornehmes, sage ich Ihnen. Das Städtchen wird ja leider immer mehr zum Badeort, wissen Sie. Schrecklich.» Er schauderte und schüttelte sich bei der gräßlichen Vorstellung des mondänen Badelebens und schenkte sich noch ein Glas Wein ein: «Ich kann Ihnen sagen, lieber Junge: diese Menschenmengen, diese Massen von gräßlich schwitzenden Familien, die hierherkommen… man kann sich das wirklich kaum vorstellen.» «Ja… und das Theater?» fragte Adrian. «Ach ja. Also das Theater ist erst kürzlich erbaut worden, und zwar von einem gewissen Emanuel S. Clattercup, einem ziemlich üblen Faulpelz, der nie etwas anderes getan hat, als andere Leute zu betrügen. Jetzt meint er, es sei an der Zeit, eben diese Leute mit Kultur zu versorgen. Natürlich mit Kultur, an der etwas zu verdienen ist.» Er nippte an seinem Glas und blickte Adrian strahlend an. «Aber was hat das alles mit mir zu tun?» fragte Adrian. «Moment, Moment», sagte Cleep. «Da nun Clattercup das Theater gebaut hat – um der Kultur willen – , hätte man doch wohl annehmen können, daß er als erstes ein Stück aussucht, mit dem vor allem Theaterleute wie ich etwas anfangen können. Zum Beispiel Othello. Ich bin als Desdemona kaum zu übertreffen.» «Ja», sagte Adrian. «Das glaube ich gern.» « Oder Romeo und Julia. Meine Julia gehört zu meinen allerbesten Rollen, und außerdem könnte das Theater dabei viel Geld sparen, denn da ich nicht gerade ein Schwergewicht bin, braucht für mich nie der Balkon verstärkt zu werden. Und was tut dieser Spießer, dieser Clattercup? Womit eröffnet er die Saison? Sie werden es nicht glauben. Mit Ali Baba und die vierzig Räuber.» «Nun», meinte Adrian, «für einen Ferienort kommt mir das aber auch ideal vor. Das ist doch ein sehr bunter und lustiger Auftakt, finden Sie nicht?» «Liebster, bester Adrian», sagte Cleep und schloß schmerzerfüllt die Augen, «ich darf Sie doch Adrian nennen, nicht wahr? Zwischen Lustigkeit und Kultur besteht ein ganz erheblicher Unterschied. Die beiden Dinge sind keineswegs identisch.» «Nun, ich verstehe wohl wenig von solchen Sachen», sagte Adrian. «Ich dachte nur, es müßte sicher den Kindern Spaß machen. Aber vor allem sehe ich noch immer nicht, was das alles mit mir zu tun hat.» «Hören Sie zu», sagte Cleep. «Clattercup, dieser Kretin, ist ungefähr so altruistisch wie ein Aasgeier. Wenn Sie ihn dazu bewegen können, daß Rosy bei der Vorstellung mitmacht, und die Sache ein Erfolg wird und wenn Sie ihm dann die fünfhundert Pfund – oder den Rest davon – anbieten, wird er sie Ihnen ganz gewiß abnehmen.»
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«Was Sie nicht sagen!» sagte Adrian begeistert. «Das ist ja eine vortreffliche Idee.» «Ich habe immer vortreffliche Ideen, mein Lieber», sagte Cleep. «Ich schlage vor, daß Sie über Nacht hierbleiben und daß wir dann morgen zusammen zu Clattercup gehen.» «Großartig», sagte Adrian. «Ich bin Ihnen wirklich kolossal dankbar.» «Ich selbst habe eine kleinere Rolle in dem Stück», sagte Cleep leicht errötend. «Es ist zwar nicht das, was ich mir erträume, aber man muß schließlich leben, nicht wahr, mein Herzblatt!» Sie führten also Rosy in den Schuppen, in dem Ethelbert seinen Holunderwein herzustellen pflegte, nachdem sie zuerst sorgsam jedes Gefäß, das auch nur einen Rückstand Alkohol enthielt, entfernt hatten. Dann stiegen sie im Hause die kleine Treppe hinauf, und Ethelbert zog den buntgeblümten Vorhang zurück. Auf der einen Seite des kleinen Bodenraums stand ein riesiges Messingdoppelbett mit bunter Decke, auf der anderen Seite eine recht unbequem aussehende schmale Bettstelle. «Bitte, suchen Sie sich eins aus», sagte Ethelbert. «Ich schlafe aber immer in dem Doppelbett.» «Vielen Dank», sagte Adrian. «Wissen Sie, äh… ich bin ein sehr unruhiger Schläfer. Ich nehme dann lieber das andere.» «Wie Sie wollen», sagte Ethelbert frohgemut. «Ganz wie Sie wollen, mein Lieber.» Das letzte, was Adrian vor dem Einschlafen sah, war Ethelbert Cleep in langem weißem Nachthemd, japanischem Kimono und mit einer Troddelmütze auf dem Kopf. Dieses Bild würde er so bald nicht vergessen. Als er am nächsten Morgen erwachte, war Ethelbert schon auf und hatte ein reichhaltiges Frühstück zubereitet. Auf dem Tisch stand eine große, noch vulkanisch blubbernde Schüssel voll Porridge mit Zucker und Sahne, ein großer Teller mit Speck, zart und knusprig braun wie Herbstlaub, darüber Spiegeleier und Berge von saftigen Pilzen wie lauter kleine Regenschirme. «Der Tag muß mit einem ordentlichen Frühstück anfangen», sagte Ethelbert ernst. «Man muß ja auch an die Kunst denken, und wenn man sich richtig in seine Rolle hineinversetzen will, gehört sehr viel geistige und physische Energie dazu, finden Sie nicht?» «Ja », stimmte Adrian mit vollem Munde zu. «Was für eine Rolle spielen Sie denn eigentlich?» «Oh, eine Haremsdame», sagte Ethelbert, ohne eine Miene zu verziehen. «Eine recht anstrengende Rolle.» Als sie das Geschirr gespült hatten, legte Ethelbert seine Überkleider – einen Umhang und eine riesige Sportmütze – an; dann spannten sie Rosy vor den Wagen und machten sich auf den Weg in die Stadt. Adrian war überrascht, als er das Theater erblickte. Ethelbert hatte ihm zwar schon davon erzählt, aber ganz so groß hatte er es sich doch nicht vorgestellt. Die Fassade mit den dorischen Säulen, Strebepfeilern und gotischen Fenstern verriet, daß Mr. Clattercup hier offenbar selbst als Architekt gewirkt hatte. «Na, was habe ich Ihnen gesagt?» triumphierte Ethelbert, als er Adrians Staunen sah. «Mein lieber Junge – um dieses Theater würde man sich sogar in einer Großstadt reißen. Und ich werde Ihnen auch noch ein Geheimnis verraten.» Er hielt inne und sah sich vorsichtig um. Außer Rosy war niemand in Hörweite. Er beugte sich vor und flüsterte Adrian ins Ohr: «Es hat eine Drehbühne!» Dann trat er einen Schritt zurück, um die Wirkung seiner Mitteilung auf Adrian zu prüfen. «Eine Drehbühne?» fragte Adrian erstaunt. «Der Mann muß verrückt sein.» «Ist er ja auch, lieber Junge», sagte Cleep. «Das mit der Drehbühne ist aber tiefstes
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Geheimnis, hören Sie. Wir wollen die Zuschauer bei der Premiere überraschen. Sie dürfen keiner Seele etwas davon sagen.» «Gut, aber ich glaube, er ist verrückt», sagte Adrian. «Das muß ihn doch einen Haufen Geld gekostet haben.» «Ahh», sagte Cleep und machte eine Handbewegung, die das ganze architektonische Monstrum umfaßte, «dies hier ist Clattercups letztes Werk. Dies ist das Denkmal, das er sich gesetzt hat, um in die Geschichte einzugehen. So, und nun warten Sie hier draußen mit Rosy, mein Junge. Ich gehe hinein zu ihm.» Adrian und Rosy warteten geduldig etwa eine halbe Stunde lang auf der Straße, bis Ethelbert herausgeflattert kam, gefolgt von einem kleinen rundlichen Mann in Cutaway und gestreifter Hose. «Adrian», sagte Ethelbert, «dies ist Mr. Emanuel S. Clattercup, unser Mentor.» «Freut mich, Sie kennenzulernen!» sagte der Mentor. «Sehr erfreut», sagte Adrian und schüttelte ihm die Hand. «Ich höre, Sie suchen Arbeit», sagte Clattercup und blickte etwas unruhig auf Rosy. «Ja, wenn es geht», sagte Adrian. «Ich dachte, wo Sie doch Ali Baba aufführen, da wäre vielleicht ein bißchen orientalischer Prunk ganz passend, und Rosy ist an Geschirr und so was durchaus gewöhnt.» «Aha», sagte Clattercup. «Na ja, das ist ja auch klar, nicht wahr, wo sie doch aus… äh… stammt, nicht wahr.» «Sie ist auch ruhig und benimmt sich tadellos», sagte Adrian und errötete nur wenig bei dieser faustdicken Lüge. «Ich bin sicher, Ihre Aufführung kann dadurch nur gewinnen. Sie hat so ein gewisses Etwas.» «Ein Je ne sais quoil» warf Ethelbert Cleep ein. «Was soll das heißen?» fragte Clattercup mißtrauisch. «Es ist Französisch und heißt, ich weiß nicht was», erklärte Ethelbert. «Was soll das heißen, Sie wissen nicht was?» fragte Clattercup. «Das heißt, es ist Französisch und bedeutet: ‹Ich weiß nicht was›», sagte Ethelbert. Clattercup starrte ihn lange an. «Ich hab verdammt noch mal keine Ahnung, wovon Sie eigentlich reden», sagte er schließlich. Ethelbert hob die Augen zum Himmel. «Und einige fielen auf steinigen Boden», zitierte er. «So – und was wollen Sie dafür haben?» wandte sich Clattercup jetzt an Adrian. «Kulturvorstellungen kosten einen Haufen. Ich schwimme nicht gerade in Moneten, verstanden?» «Nun, ich dachte nur an ein bescheidenes Entgelt – soviel, daß ich meine Unkosten und Rosys Futter bezahlen kann», sagte Adrian. «Und sie liefern natürlich die Kostüme», fügte Ethelbert, zu Clattercup gewandt, hinzu. Clattercup steckte sich eine große Zigarre an und versank einige Minuten lang hinter den Rauchwolken in tiefes Nachdenken. «Kostet es viel, sie zu füttern?» fragte er dann und wies mit dem Daumen auf Rosy. «Hm… na ja, allerhand», meinte Adrian. «So. Na, nun hören Sie mal zu», sagte Clattercup. «Ich werde ihr Futter bezahlen, und ich werde Ihren Aufenthalt bezahlen, bis wir sehen, wie die Sache geht. Dann, wenn es ein Erfolg wird, sehen wir weiter. Fairer kann ich ja wohl nicht sein.» «Gut», sagte Adrian erfreut. «Ich bin damit einverstanden.» «Um zwei Uhr nachmittags kommen Sie zur Probe», sagte Clattercup.
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«Gut, ich komme», sagte Adrian. «Also bis dann», sagte Clattercup. Er wandte sich um und ging ins Theater zurück. «Lieber», sagte Ethelbert begeistert, «ist das nicht wundervoll? Jetzt gehen wir nach Hause und feiern. Und dann kommen wir kurz vor zwei wieder her, und ich zeige Ihnen das Theater von innen.»
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Die gelungene Probe Sie kehrten also in Ethelberts Cottage zurück und feierten. Es gab Äpfel für Rosy und eine Flasche Holunderwein für Adrian und Ethelbert. Damit auch die Musen nicht zu kurz kamen, spielte Ethelbert auf der Tuba das schöne alte Lied Wenn ich ein Vöglein war. Danach aßen sie zu Mittag und eilten dann zurück ins Theater. Rosy wurde hinten im Kulissenschuppen angebunden und mit Heu und Mangold versorgt. Dann führte Ethelbert Adrian ins Theater. «Ich bin noch nie in einem Theater hinter den Kulissen gewesen», sagte Adrian. «Nein, wirklich, lieber Junge? Dann ist es Zeit, daß Sie es kennenlernen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.» Ethelbert entschwebte in den dämmrigen Hintergrund, und Adrian hörte das Klicken von Lichtschaltern. Vor ihm lag plötzlich, prächtig wie ein Hochzeitskuchen, der Sultanspalast in seinem ganzen papiernen Glanz. Adrian blickte in die Mitte der Bühne und in den dunklen Zuschauerraum. Undeutlich sah er die Parkettreihen und die Logen an den Seiten. Er staunte über die großen, flachen Bilder und Wandteile, die hoch über der Vorbühne, für das Publikum unsichtbar, an Schnüren und Drähten hingen und darauf warteten, im richtigen Augenblick von den Bühnenarbeitern heruntergelassen zu werden. «Und das hier ist die Drehbühne.» Ethelbert stand vor dem Sultanspalast, hob sich auf die Zehenspitzen und drehte eine kleine Pirouette. « Wir haben drei Szenen darauf, und wenn man da drüben an dem Hebel zieht, dreht sich alles im Kreis. Spart eine Menge Arbeit und Lauferei.» «Fabelhaft», sagte Adrian. «Kommen Sie doch, Lieber, kommen Sie!» sagte Ethelbert und flatterte in die Kulissen zurück, wo er das Licht ausmachte, so daß der Sultanspalast in staubiges Dunkel stürzte. Dann eilte er weiter durch Berge von Requisiten und Dekorationen, die überall herumlagen, und Adrian folgte ihm. Jetzt standen sie in einem langen schmalen Gang, der zu beiden Seiten mehrere Türen aufwies. Ethelbert schwebte bis zu einer Tür am Ende des Korridors und lehnte sich malerisch dagegen. «Dies, mein lieber Junge, ist meine Garderobe», sagte er und deutete auf eine weiße Karte mit der sonderbaren Aufschrift ETHELBERT CLEEP – LIEBLINGSFRAU DES SULTANS. Er öffnete die Tür und führte Adrian in einen kleinen, trüben Raum, dessen eine Wand ein großer, von Gaslampen erleuchteter Spiegel einnahm. In der Ecke stand ein halboffener Schrank mit verschiedenen exotischen und orientalischen Kostümen und einer Anzahl durchsichtiger Schleiergewänder. Auf einem Sofa an der anderen Zimmerseite lag eine sehr große, stattliche, rothaarige Dame, die – man sah es deutlich – nichts anhatte als einen vermotteten Morgenmantel, der mit Straußenfedern besetzt war. Sie lag dort hingegossen wie eine Steinfigur auf einem mittelalterlichen Grab; doch die an den Busen gepreßten Hände hielten keinen geweihten Gegenstand, sondern eine halbgeleerte Schnapsflasche. Sie schnarchte rhythmisch, aber damenhaft-diskret vor sich hin. «Um Gottes willen», sagte Ethelbert. «Es ist mal wieder soweit.» Er flatterte durch den Raum, entwand der Schlafenden die Flasche und klopfte ihr leicht auf die Wangen. «Honoria», sagte er dringend. «Liebe Honoria, bitte wach doch auf!» Die so liebevoll angesprochene Dame rührte sich und gab einen halb unterdrückten Fluch von sich. «Das ist Honoria», sagte Ethelbert über die Schulter zu Adrian. «Honoria Loosestrife.
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Sie spielt die männliche Hauptrolle.» «Männliche Hauptrolle?» fragte Adrian verblüfft. «Ja», sagte Ethelbert. «Sie spielt sie ausgezeichnet.» Adrian ließ sich auf einen Stuhl fallen und betrachtete Ethelbert mit offenem Mund. «Also das verstehe ich noch nicht ganz», sagte er. «Sie spielen die Hauptfrau des Sultans, und sie – » er wies dabei auf Honoria, deren üppiger Alabasterbusen sich inzwischen vorgewagt hatte – «sie spielt die männliche Hauptrolle?» «Ja, natürlich, Dummchen», sagte Ethelbert. «Das ist doch immer so in Pantomimen.» «Oh», sagte Adrian verwirrt. «Bei dem Gedanken wird mir ganz schwül.» «Daran werden Sie sich bald gewöhnen», meinte Ethelbert. «Es ist wirklich nur eine Frage der Gewöhnung.» Er ging an einen Tisch in der Ecke, auf dem eine Schüssel und ein Krug mit Wasser standen, tauchte ein großes Tuch hinein und legte es Honoria auf die Stirn. «Hau ab. Laß mich in Ruhe», röchelte sie. «Aber, aber, meine Beste», sagte Ethelbert. «Du mußt zur Probe wieder auf den Beinen sein. Du kennst doch den Alten.» Er preßte einen guten halben Liter Wasser aus dem Tuch über Honorias Gesicht und wandte sich dann an Adrian. «Sie ist so ein lieber Kerl», sagte er, «nur hat sie, wie soll ich sagen… sie hat eben eine Neigung zu Stimulantien.» «Ja, das sehe ich», sagte Adrian. «Die hat Rosy ja auch.» Schwerfällig setzte sich Honoria auf und blickte mit trüben Augen um sich. Der Morgenrock hatte sich bis zur Grenze des Erlaubten verschoben, so daß Adrian eilig die Augen abwandte. «So – das ist recht», sagte Ethelbert aufmunternd. «Na, geht’s schon besser?» «Nein», sagte Honoria mit einer Grabesstimme, die an die tieferen Lagen von Ethelberts Tuba erinnerte. «Mir ist schrecklich zumute. Ganz schrecklich.» «Nun ja», meinte Ethelbert philosophisch, «Gin auf nüchternen Magen ist ja vielleicht auch nicht die allerbeste Weise, den Tag zu beginnen.» «Niemand liebt mich», jammerte Honoria, und zu Adrians Verlegenheit und Entsetzen füllten sich ihre Augen mit dicken Tränen, die über das Gesicht kullerten und dann den fülligen Busen hinunterrollten. «Aber nicht doch, mein Täubchen», sagte Ethelbert. «Sie alle beten dich an.» «Nein, das ist nicht wahr», schluchzte Honoria. «Sie sind alle eifersüchtig auf mich und meine Kunst. Alle miteinander.» Ethelbert seufzte tief auf und hob die Augen gen Himmel. «Adrian», sagte er, «würden Sie wohl so lieb sein und hinter dem Bühneneingang eine Tasse Tee für Honoria holen? Das wird ihr helfen.» Honoria hielt sich die Stirn und griff sich mit der anderen Hand dramatisch an die Brust. «Nichts kann mir helfen», verkündete sie mit tiefer Stimme. «Nichts als der Tod.» Da der Morgenrock nun kaum noch etwas von ihren üppigen Reizen verhüllte, ergriff Adrian eilig die Flucht. Nach längerem Suchen fand er in einem Glasgehäuse voller Schlüssel einen kleinen bärtigen Zwerg, der ihm nach einigem Zureden einen großen Becher mit Tee zuschob, mit dem Adrian in den Garderobenraum zurückkehrte. Überrascht sah er, daß die Stimmung inzwischen umgeschlagen war. Der alkoholische Trübsinn war von Honoria gewichen. Sie wälzte sich auf dem Sofa und kicherte vor Lachen über einen Scherz, den Ethelbert zum besten gegeben hatte. «Nein, o nein, Ethelbert», sagte sie und wischte sich die Augen. «Du
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bist wirklich ein ganz Schlimmer.» «Langeweile kennen wir nicht, was?» sagte Ethelbert und drückte ihr den Becher mit Tee in die Hand. Sie nippte daran und sah Adrian abschätzend an, dann zog sie den Morgenrock enger um sich und richtete sich hoheitsvoll auf. «Wer ist das?» fragte sie. «Adrian», erwiderte Ethelbert. «Er und sein Elefant machen bei der Aufführung mit.» «Tarach!» sagte Honoria mit soviel Ingrimm, daß Adrian zusammenfuhr. «Das hat uns gerade noch gefehlt – ein Elefant. Meine besten Sätze gehen sowieso schon im Lärm dieser lächerlichen Zimbeln unter, auf denen Clattercup besteht. Und das Orchester spielt absichtlich falsch, damit alle meine Solonummern danebengehen. Und jetzt kriegen wir auch noch einen Elefanten, der auf der Bühne herumtrampelt und zweifellos überall riesige Dunghaufen hinterläßt…» «Aber nein», beteuerte Ethelbert in überzeugendem Ton. «Der hier ist die Sauberkeit in Person.» Adrian dämmerte es allmählich, wie man Honoria am besten zu nehmen hatte. «Als Mr. Clattercup mich anstellte», sagte er, «hat er mir ausdrücklich gesagt, der männliche Hauptdarsteller sei so ausgezeichnet, daß nur die allerbesten… äh…» «Requisiten», half Ethelbert ein. «Requisiten – ja, also daß nur die allerbesten Requisiten gut genug wären, um ihm den richtigen Rahmen zu geben.» Honorias Augen weiteten sich. «Wirklich? Das hat er gesagt?» fragte sie. «Ja», sagte Adrian leicht errötend. «Erfolg», seufzte Honoria. «Endlich Erfolg .’Mein lieber Junge, selbstverständlich können Sie Ihren Elefanten mitbringen.» Sie neigte graziös den Kopf. «Danke», sagte Adrian. «Und ich verspreche Ihnen, ich werde ihn nicht an die Wand spielen.» «Ich danke Ihnen sehr», sagte Adrian überaus höflich und völlig unbesorgt, denn auch jemand mit so viel Temperament wie dieser männliche Hauptdarsteller würde es, das wußte er, schwer haben, Rosy in den Hintergrund zu drängen. «Kommen Sie, Adrian», sagte Ethelbertjetzt. «Wir müssen zu Clattercup und feststellen, was Sie und Rosy eigentlich tun sollen.» Der Rest des Nachmittags war recht anstrengend. Mr. Clattercup, der Regisseur, schien keinen blassen Schimmer zu haben, was man auf einer Bühne machen konnte und was nicht; und je mehr er tobte und schrie und sich die Haare raufte, um so größer wurde die allgemeine Verwirrung. Die Haremsdamen wurden handgreiflich, als sich herausstellte, daß Clattercup die Hälfte von ihnen hinter einem orientalischen Gitter aufstellen wollte, wo niemand im Publikum sie erkennen konnte. Darsteller, die nach rechts abgingen, stießen mit denen zusammen, die von rechts auftraten, und am Spätnachmittag herrschte ein solches Chaos, daß die weibliche Hauptdarstellerin (ein schmales, kleines, blondgelocktes Ding, nicht verwandt mit Mr. Clattercup, doch offenbar recht intim mit ihm) hysterisch wurde und versehentlich die Lieder der männlichen Hauptrolle übernahm. Das rief bei Honoria einen wirklich überwältigenden Wutanfall hervor, und die ganze Bühne war jetzt in einem solchen Aufruhr, daß Clattercup eine Pause von zehn Minuten einlegen mußte, in der sich alle zu kurzer Erholung in ihre Garderoben zurückzogen. Während dieser Pause rief Clattercup Adrian zu sich auf die Bühne. «So, nun kommen Sie mal mit», befahl er. «Sehen Sie hier, das ist der Sultanspalast.» Er schritt durch die Kulissen weiter in das nächste Szenenbild. Es bestand aus einem nicht sehr solide aussehenden großen Felsen und einer Anzahl schwermütig gebeugter
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Palmen. Der Felsen, so erklärte er, war der Eingang zu Ali Babas Höhle. «Ich werde Ihnen zeigen, wie das funktioniert», sagte er stolz. «Hier steht Ali Baba, sehen Sie… und dann drückt er hier auf den kleinen Knopf im Boden – hier, diesen – und sagt: ‹Sesam, öffne dich›.» Mr. Clattercup ließ seinen Worten die Tat folgen. Der Felsen dachte nicht daran, sich zu rühren. «Wo zum Teufel ist der verdammte Maschinist?» schrie Mr. Clattercup. «Er soll die verdammte Höhle aufmachen!» Der erschöpfte Maschinist erschien, machte sich an den Drähten und Stangen zu schaffen und erreichte endlich, daß sich der Felsen unter gefährlichem Kreischen und Quietschen wie ein Kleiderschrank auftat. Heftig atmend schritt Clattercup durch die Öffnung in das nächste Szenenbild, die Höhle. Hier standen große Kisten, aus denen Haufen künstlicher Juwelen quollen, und außerdem natürlich die unvermeidlichen vierzig mächtigen Krüge, in denen sich vierzig Räuber verbergen sollten. «Da, schauen Sie her», sagte Clattercup. « Sie sehen, ich habe an nichts gespart.» «Ja», sagte Adrian. «Wirklich sehr eindrucksvoll.» «So, nun will ich Ihnen zeigen, wo Sie und der Elefant hereinkommen.» Und damit begab sich Clattercup zurück in den Sultanspalast. «Hier. Wenn der Sultan das erstemal auftritt. Hier soll der Elefant hereinkommen und dann da drüben stehenbleiben. Er zieht natürlich einen Wagen, und der Sultan sitzt in dem Wagen.» «Verzeihung», sagte Adrian, «wäre es nicht besser, der Sultan säße in einer Hauda?» «Was ist das?» fragte Clattercup mißtrauisch. «Ach, das ist so eine Art Gestell, das die Elefanten auf dem Rücken tragen.» Clattercup dachte nach. «Nein», sagte er schließlich bedauernd. «Zu gefährlich. Mein Sultan ist der beste Bariton von hier bis Winklesea. Wenn er herunterfällt und sich ein Bein bricht, dann ist die ganze Vorstellung hin. Nein, wir müssen beim Wagen bleiben.» «Ich führe also Rosy einfach von dort drüben über die Bühne bis hierher?» Adrian versuchte, sich das Bild einzuprägen. «Nein», sagte Clattercup. «Sie führen sie gar nicht. Der Sultan lenkt sie, von seinem Wagen aus.» «Ja, ich bin aber nicht ganz sicher, ob Rosy damit einverstanden sein wird. Sie ist daran gewöhnt, daß ich ihr die Befehle erteile.» «Natürlich. Immer neue Schwierigkeiten», sagte Clattercup erbittert. «Diese verdammte Aufführung hat mir mehr zu schaffen gemacht als alle anderen zusammen. Aber Sie will ich nicht auch noch auf der Bühne haben. Können Sie nicht da drüben stehenbleiben und sie von da aus dirigieren?» «Wenn es so geräuschvoll zugeht wie auf der Probe», sagte Adrian, «dann wird sie mich wohl kaum hören.» «Das ist Ihre Sache», sagte Clattercup. Er ging einige Augenblicke mit großen Schritten auf und ab und musterte den Sultanspalast mit bösen Blicken. Dann blieb er stehen und rief triumphierend: «Ha, ich hab’s. Wir stellen hier noch eine vergoldete Säule auf, verstehen Sie? Die ist hohl, und da stecken wir Sie hinein. Wir machen ein kleines Loch, durch das Sie den Elefanten rufen können. Klar?» «Hmmm», sagte Adrian mit leichtem Zweifel in der Stimme. «Das ginge vielleicht.» Er erinnerte sich allzu deutlich an Fenneltree Hall und war keineswegs überzeugt, daß
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die Sache gutgehen würde. «Könnten wir es wohl vorher mal ausprobieren, um ganz sicher zu gehen?» «Natürlich», sagte Clattercup. «Proben sind sehr wichtig. Ich lasse sofort die Säule aufstellen.» Eine halbe Stunde später stand in dem Sultanspalast eine weitere große, schmucke Säule. Rosy, vor einen kleinen Wagen gespannt, stand in den Kulissen, und Adrian saß in der Säule, flehte zu den Göttern und wartete auf sein Stichwort. Als die letzten Töne der Eröffnungsserenade verklungen waren und die Massen sich umwandten und riefen: «Hier kommt der Sultan!» – dies für den Fall, daß jemand im Publikum den Sultan sonst für den Briefträger hielt – zischte Adrian aus seiner Säule: «Los, Rosy, komm!» Rosy schlappte mit den Ohren, gab einen kleinen Freudenschrei von sich und trottete auf die Bühne. Sie wußte, wo Adrian war, denn sie hatte ihn in der Säule verschwinden sehen, und sie erkannte seine Stimme. Sie stellte sich also an der Säule auf und beklopfte sie zärtlich mit dem Rüssel. «Steh still!» zischte Adrian streng. Rosy gehorchte, schlug sanft mit den Ohren und blinzelte erfreut in den hell erleuchteten Bühnenraum. Zu Adrians Überraschung verlief die ganze Sache ohne Zwischenfall, ebenso wie der Rest der Probe. Clattercup war so begeistert von Rosy, daß er Adrian eine Zigarre spendierte. Jubelnd zogen Adrian, Rosy, Ethelbert und Honoria über die Dünen zurück in Ethelberts Haus. Rosy wurde weidlich gelobt und erhielt eine üppige Mahlzeit und einen Krug Bier. Dann folgte im Hause ein festliches Essen mit Holunderwein, Bier, frischen Austern, Kibitzeiern und Bergen rosiger Krabben. Erst nach Mitternacht, als Honoria, begleitet von Ethelbert, lautschallend zum viertenmal Näher mein Gott zu dir gesungen hatte, sanken alle todmüde ins Bett.
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Die mißlungene Premiere Die nächsten drei Tage waren angefüllt mit Proben, Proben und nochmals Proben. Adrians Stimmung stieg, denn entgegen all seinen Erwartungen benahm sich Rosy geradezu mustergültig. Sie war sogar manchmal – und das lag an Mr. Clattercups ungewöhnlicher Art der Regie – auf der Bühne die einzige, die wußte, was sie tat. Honoria hatte eine wahre Leidenschaft zu Rosy ergriffen. Rosy sei, behauptete sie in ihren rührseligen Augenblicken, das einzige Wesen, das sie wirklich verstehe. Sie verbrachte viel Zeit mit ihr, verwöhnte sie mit Zuckerstückchen und erzählte ihr aus ihrem Leben. Endlich kam der Tag der Premiere. Das Theater schwirrte vor Leben. Kurz vor der ersten Vorstellung saßen Ethelbert, Honoria und Adrian zusammen in der Garderobe und warteten auf ihr Stichwort. Honoria hatte seit dem frühen Morgen ein Glas nach dem anderen geleert – «zur Feier der Premiere», wie sie sagte. Ethelbert hatte wiederholt daraufhingewiesen, daß sie die Premiere noch nicht hinter sich hätten und daß es wohl auch kaum dazu käme, wenn Honoria sich weiterhin beduselte. Worauf sich Honoria zu ihrer ganzen Höhe aufrichtete und verkündete: «Daß die Premiere noch nicht hinter uns liegt, ist mir völlig klar… Worauf es ankommt, das ist der Geist der Aufführung.» Angetan mit dem reichgeschmückten Gewand des Ali Baba, hatte sie sich in der Garderobe malerisch mit schief sitzendem Turban auf der Couch niedergelassen und eine neue Flasche Gin in Angriff genommen, deren Pegel mit beängstigender Geschwindigkeit sank. «Liebling», flehte Ethelbert. «Du solltest es lassen. Die Kunst deiner Darstellung könnte darunter leiden.» «Die Kunst meiner Darstellung», sagte Honoria und rülpste diskret, «hat noch… noch niemals darunter gelitten.» «Und vergiß nicht – es ist niemand da, der für dich einspringen könnte.» «Einspringen?» sagte Honoria verächtlich. «Der wahre Künstler gibt seine Rolle nie ab.» Gluck-gluck-gluck machte die Flasche. «Ich glaube, ich kümmere mich mal um Rosy», meinte Adrian. «Vielleicht hat sie auch Lampenfieber.» «Mein lieber Junge, werden Sie nicht auch noch nervös», bat Ethelbert. «Sie haben doch nichts zu befürchten – Sie befinden sich ja in der Säule.» «Ja, gewiß. Aber nervös bin ich trotzdem», sagte Adrian. «Es ist jetzt bald soweit», sagte Ethelbert. «Würden Sie ein Engel sein und mir den Diamanten in den Nabel stecken? Ich selbst kann es nicht, ich bin so kitzlig.» Adrian nahm den großen glitzernden Stein und klebte ihn mit Hilfe von etwas Gummilösung in Ethelberts Nabel. «So», sagte er. «Und jetzt gehe ich zu Rosy.» «Ich gehe zu Rosy», schluckte Honoria und erhob sich etwas unsicher. «Wir beide sind ja schließlich die Stars des Abends. Da gehört es sich wohl, daß ich… daß ich ihr Glück wünsche zu ihrer Premiere.» Leicht schwankend verließ sie die Garderobe und schloß die Tür hinter sich. «Meinen Sie, sie wird es schaffen?» fragte Adrian. «O ja», erwiderte Ethelbert. «Wir kennen das: wenn sie um diese Zeit noch bei Bewußtsein ist, schafft sie es. Sagen Sie mal, Adrian: finden Sie, daß der Schleier mir steht?»
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Adrian betrachtete den Schleier und zögerte. «Inwiefern steht?» fragte er vorsichtig. Ethelbert errötete. «Ich meine, sehe ich anmutig damit aus?» Adrian hielt es für besser, sich nicht zu weit vorzuwagen. «Also», sagte er, «für das Publikum schon.» Ethelbert hantierte noch immer an seinem Kostüm herum und Adrian sah ihm zu, bis ihm Rosy wieder einfiel. «Honoria bleibt aberlange», sagte er. «Wahrscheinlich probiert sie ihren ersten Auftritt bei Rosy aus», meinte Ethelbert und tupfte noch etwas Mascara auf eine schon überladene Wimper. «Ich geh lieber mal hin», sagte Adrian. «Wir kommen in zehn Minuten dran – hoffentlich hat Rosy nicht ihr Kostüm aufgefressen oder sonst was Dummes angestellt.» Er trabte durch die düsteren, staubigen Bühnengänge hinaus in den großen Schuppen, wo Rosy zwischen lauter alten Kulissen ihr Domizil hatte. Hier saß Honoria auf einem Heuhaufen und sang mit tremolierender Altstimme: «Sie ist mein Elefant, mein Ele-Elefant, Als Königin bekannt, im Bühnenzauberland.» Rosy stand neben ihr, hörte hingerissen zu und schwenkte mit dem Rüssel die leere Ginflasche im Takt hin und her. «Honoria!» stammelte Adrian, von Entsetzen gelähmt. «Sie haben ihr doch hoffentlich keinen Schnaps gegeben?» «Hallo, Adrian», sagte Honoria mit holdem Lächeln. «Sind wir schon dran?» «Haben Sie Rosy Schnaps gegeben?» schrie Adrian. «Nur ein Schlückchen, zur Feier», sagte Honoria. «Nur une goutte, wie die Franzosen sagen.» «Aber Sie wissen doch, wie Alkohol auf sie wirkt», rief Adrian angstvoll. «Wieviel hat sie wirklich getrunken?» Er hatte Rosy die Flasche aus dem Rüssel genommen und hielt sie Honoria entgegen, die sie trüben Auges anblickte. «Bloß… bloß ein Tröpfchen», sagte sie und zeigte mit dem Finger etwa die halbe Flaschenhöhe an. «Ich trinke halt so gern in Gesellschaft.» Adrian musterte Rosy. Sie strahlte ihn an, wackelte lustig mit den Ohren und rollte neckisch ihren Rüssel auf und ab. Sie sah nicht schlecht aus – gar nicht zu vergleichen mit damals, vor der Katastrophe in Fenneltree Hall. Vielleicht hatte Honoria doch selbst mehr getrunken, und Rosy hatte tatsächlich nur genippt. «Komm her», sagte Adrian entschlossen, packte Rosy am Ohr und trabte mit ihr rund um den Schuppen, wobei er sie kritisch beobachtete. Es war kein Zweifel, sie konnte noch gerade und aufrecht gehen. Sie blinzelte zwar etwas verschmitzt und nahm die Sache offenbar überhaupt nicht ernst, aber sonst war ihr nichts Übles anzumerken. «Honoria, gehen Sie lieber schon in die Kulissen», sagte Adrian. «Sie kommen gleich dran.» Undeutlich hörte man jetzt das Orchester (das aus drei älteren, etwas abgetakelten Musikern bestand) mit einem donnernden Marsch einsetzen. Wenn der Marsch zu Ende war, sollte der Vorhang aufgehen. Honoria war es nach zwei vergeblichen Versuchen gelungen, sich von ihrem Heuhaufen zu erheben; gefolgt von Adrian und Rosy schritt sie majestätisch durch die Kulissen. Hinter der Bühne stand der Wagen, den Rosy ziehen sollte, und daneben der Sultan. «Was ist denn los?» fragte der Sultan aufgebracht. «Ich warte hier schon eine Ewigkeit.» «Verzeihung», sagte Adrian und schirrte Rosy hastig an.
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«Ich dachte schon, Sie verpassen den Einsatz», sagte der Sultan. «Allerhand Leute sind heute abend da. Die halbe Insel ist gekommen.» Er wies mit dem Finger auf den Vorhang. Dann kletterte er in den Wagen und setzte sich bequem zurecht. «Sitzen Sie bequem?» fragte Adrian. «Ja, bequem wie in Abrahams Schloß.» Adrian lief über die Bühne zu seiner Säule. Das Orchester hatte gerade den Marsch beendet, als er in die Säule stieg und die Tür hinter sich zuzog. Dann ging rauschend der Vorhang auf, und er spürte die Woge der Begeisterung, die vom Zuschauerraum her über die Rampe flutete; er hörte das Rascheln, Atmen, Husten wie lauter Geräusche im nächtlichen Wald. Da draußen im Dunkel, jenseits des Orchestergrabens, saßen vierhundert Zuschauer Schulter an Schulter und harrten des Kommenden. Die Musik setzte ein, und unter knallendem Beifall erschien jetzt Honoria, leicht schwankend, auf der Bühne und sang ihre erste Nummer. Danach war Rosy dran. Adrian war jetzt nicht mehr bloß nervös, er war in heller Panik. «Hier kommt der Sultan!» riefen alle, wie hundertmal geprobt. Adrians Stimme war ins Falsett übergeschlagen. Piepsend rief er: «Los, komm, Rosy!» Erstaunt und erleichtert sah er, daß Rosy auf die Bühne geschaukelt kam und ganz richtig wie vorgeschrieben bei der Säule stehenblieb. Die Reaktion der Zuschauer war überwältigend, ein vielstimmiges «Ahh» brauste wie Meeresbrandung. Rosy war entzückt von dieser Begrüßung; sie hob den Rüssel und stieß einen kurzen schrillen Trompetenton aus. «Bravo, Mädchen», sagte Adrian. «Nun steh aber auch schön still.» Rosy blieb während der ganzen Szene still stehen, wiegte sich nur hin und wieder von einer Seite zur anderen, steckte den Rüssel durch Adrians Guckloch in der Säule und blies ihm liebevoll ihren schnapsgeladenen Atem entgegen. Der Höhepunkt der Szene war geschafft: Adrian war sehr erleichtert, denn jetzt wurde die Bühne gedreht und ein Szenenwechsel vorgenommen, und damit hatte Rosy ihren Abgang. Sie trat erst beim Finale wieder auf. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Honoria gab gerade ihre letzten Worte von sich und sprach mit Stentorstimme zu Mr. Clattercups Freundin: «Nun ziehe ich aus, das Glück zu suchen, und dann kehre ich wieder und führe dich heim als meine liebe Braut.» Mit diesen Worten schritt sie hinüber auf die rechte Seite der Bühne. Sie war noch nicht dort angelangt, als sich die Bühne langsam zu drehen begann, und im gleichen Augenblick wußte Adrian, daß er verloren war. Er hatte nicht daran gedacht, Rosy mit den Tücken der Drehbühne vertraut zu machen. Rosy erwachte aus ihren Ginträumen und sah und spürte, daß sich der Boden unter ihren Füßen wie durch ein Wunder rückwärts bewegte. Sie gab einen kleinen, aber eindeutig erschreckten Quiekser von sich und machte zwei, drei hastige Schritte nach vorn. «Steh still, du Närrin!» zischte Adrian, aber jetzt drehte sich die Bühne schon ganz schnell, und Rosy verlor den Kopf und fing an zu rennen, um mit ihr Schritt zu halten. Sie erreichte daher das nächste Szenenbild zugleich mit Honoria und überholte sie dort auf halbem Wege. In heller Panik klammerte sich der Sultan am Wagen fest und jammerte: «Verflucht, verflucht, verflucht.» Der Bühnenmaschinist verlor beim Anblick der durchgehenden Rosy völlig den Kopf und warf die Schalter in den Rückwärtsgang. Jetzt drehte sich die Bühne in der entgegengesetzten Richtung, und Rosy, die sich so leicht nicht geschlagen gab, machte kehrt. Das hatte zur Folge, daß die Deichseln des Wagens, in dem
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der Sultan saß, wie Streichhölzer brachen. Der Wagen machte eine kurze, aber elegante Wendung, dann flog er krachend gegen die Maschinerie und den Mann, der die Hebel bediente. Jetzt war der Tumult vollkommen. Irgendwelche technische Vorrichtung schien plötzlich außer Kraft gesetzt, jedenfalls drehte sich die Bühne immer schneller und schneller, und Rosy rannte immer wilder und wilder. Sie galoppierte durch die Wüstenkulissen, zertrampelte sämtliche Palmen, brach in die Marktszene ein, warf hier mit Donnergepolter die Stände um und stürmte dann quer durch den Sultanspalast und warf alle Säulen um, auch die, in der Adrian steckte. Honoria hatte die lebhafte Bewegung auf der Bühne zunächst dem Alkohol, den sie genossen hatte, zugeschrieben. Jetzt ergriff aber auch sie Panik, und sie rannte los, in entgegengesetzter Richtung wie Rosy. Vor den wie benommen starrenden Zuschauern liefen in schneller Folge drei Szenen ab, in denen Rosy und Honoria, jede in anderer Richtung, über die Bühne rasten, ohne daß das Ganze irgendeinen Sinn zu haben schien. Adrian war es gelungen, sich aus seinem Säulengefängnis zu befreien. Er rannte hinter Rosy her. Die Bühne drehte sich jetzt zum Ruhme ihrer Hersteller mit einer Geschwindigkeit von etwa fünfzig Stundenkilometern und schleuderte dabei eine Anzahl Requisiten in die Gegend. Eine Palme landete im Orchester, und ganze Partien des Sultanspalastes krachten ins Parkett. Jedesmal, wenn Adrian Rosy fast eingeholt hatte, prallte er mit Honoria zusammen; und wenn sie ihre Glieder wieder beisammen hatten, war Rosy schon wieder ein ganzes Stück weiter. Mr. Clattercup hatte die ganze Zeit bebend vor Wut in den Kulissen gestanden. Als er jetzt jedoch mit ansehen mußte, wie seine männliche Hauptdarstellerin und Rosy und Adrian einen Marathonlauf veranstalteten, war das zuviel für ihn. Mit einem Satz sprang er auf die Drehbühne und packte Adrian, der gerade vorbeischoß. «Bring sie zum Stehen!» brüllte er Adrian an. «Was glauben Sie denn, was ich die ganze Zeit tue?» bellte Adrian, stieß ihn beiseite und rannte weiter hinter Rosy her. Clattercup, dem Schlagfluß nahe, ergriff ein starkes Stück Holz, das einst zum Sultanspalast gehört hatte, rannte in der entgegengesetzten Richtung um die Bühne and versetzte Rosy, als sie vor ihm auftauchte, einen Schlag auf den Rüssel. Das hätte er nicht tun sollen. Rosy hatte sich nach Kräften bemüht, mit der so plötzlich in Bewegung gesetzten Umwelt Schritt zu halten, und jetzt stand auf einmal ein Fremder vor ihr und schlug sie auf den Rüssel. Sie hatte sich mühevoll darauf konzentriert, bei der schnellen Drehung Schritt mit der Bühne zu halten, und sie war nicht gesonnen, sich von jemandem, der gar nicht dazu gehörte, aus der Fassung bringen zu lassen. Sie packte daher Mr. Clattercup ohne viel Federlesens und warf ihn in hohem Bogen in den Orchestergraben, wo der Dirigent durch den Aufprall zu Boden stürzte und die große Trommel einen bleibenden Schaden davontrug. Inzwischen hatten drei Bühnenarbeiter alles mögliche versucht, Sultan, Wagen und Maschinerie voneinander zu trennen, was ihnen schließlich auch gelang. Doch als sie sich jetzt an den Schaltern zu schaffen machten, hatte das nur zur Folge, daß sich die Bühne von nun an womöglich noch schneller drehte. Rosy stand an der äußeren Peripherie und wurde durch das erhöhte Tempo wie eine Kugel aus der Kanone beiseite geschleudert – glücklicherweise nicht in den Zuschauerraum, sondern in den Bühnenhintergrund, wo sie Kulissen, Aufzüge und sechs Scheinwerfer mit sich riß. Sie war so schnell und so gründlich verschwunden, daß Adrian zweimal vergeblich durch die Ruinen des Sultanspalastes, der Wüstenszene und des Marktbildes irrte, bevor er merkte, daß sie gar nicht mehr auf der Bühne war. Er sprang mit einem Satz hinter die Kulissen und suchte fieberhaft nach ihr. Vielleicht lief sie inzwischen schon durch die Straßen der Stadt – er wagte es sich nicht
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auszumalen. Zu seiner Erleichterung fand er sie dann im Schuppen, wo sie atemlos und zitternd an die Wand gelehnt stand und in stummer Erwartung die leere Ginflasche hochhielt. Adrian fiel neben ihr auf den Heuhaufen nieder und ließ den Kopf in die Hände sinken. Nun war alles zu Ende. Undeutlich hörte er das Schreien und Rufen der Zuschauer und das Sausen und Surren der tobenden Drehbühne. Aus war es mit der Hoffnung, daß Mr. Clattercup Rosy in seine Truppe aufnehmen werde. Ach, und nicht nur das: zu all ihren Untaten war nun noch eine weitere gekommen. Wenn doch nur Samantha da wäre, um mich zu trösten, dachte er sehnsuchtsvoll. Plötzlich stand Ethelbert neben ihm. Sein Schleier war zerrissen, der Diamant fehlte im Nabel, und er rang nach Luft. «Ach, mein Bester», stöhnte er, «was für eine Tragödie. Es war ja wirklich nicht Ihre Schuld oder die Schuld unserer süßen Rosy hier, aber ich fürchte, davon wird sich Clattercup kaum überzeugen lassen. Er ist wieder zu sich gekommen. Adrian: ich rate Ihnen, fliehen Sie. Fliehen Sie mit Rosy, und zwar sofort.» «Was hat das für einen Sinn?» sagte Adrian erschöpft. «Und wohin könnten wir schon fliehen?» «Traumjunge», sagte Ethelbert gebrochen. «Fassen Sie sich. Machen Sie, daß Sie fortkommen, solange das noch möglich ist. Wenn Sie jetzt gleich zum Hafen hinuntergehen, erreichen Sie vielleicht gerade noch die ‹Queen› zum Festland. Kümmern Sie sich nicht um Ihre Sachen, die schicke ich Ihnen nach.» «Was hilft das schon?» jammerte Adrian. «Man wird mich ja doch verhaften, da kann ich ebensogut hierbleiben.» «Hören Sie mal!» sagte Ethelbert, «Sie sollten doch auch etwas an Ihren Elefanten denken.» «Ausgerechnet ich soll das tun?» sagte Adrian bitter. «Sie denkt ja auch nicht an mich.» «Wollen Sie denn, daß Rosy erschossen wird?» fragte Ethelbert. «Erschossen?» stammelte Adrian erschrocken. «Man wird sie doch nicht erschießen. Sie hat doch gar keine Schuld.» «Man wird sie erschießen!» wiederholte Ethelbert düster, als er sah, daß seine Worte Eindruck machten. «Wahrscheinlich schon beim Morgengrauen, wenn Sie nicht sofort die Flucht ergreifen.» «Aber das ist doch unsinnig!» wandte Adrian hilflos ein. «Kein Mensch kann sie auch nur einen Augenblick verantwortlich machen…» «Wollen Sie jetzt mit Reden aufhören und sich endlich auf den Weg machen?» fauchte Ethelbert. «Also gut.» Adrian gab nach. Er lief zur Tür des Requisitenschuppens, öffnete sie weit und ergriff Rosys warmes Ohr. Sie traten hinaus und machten sich in forschem Trab auf den Weg. «Adieu, mein Goldjunge!» rief Ethelbert und winkte mit beiden Händen. «Adieu – ich schicke Ihnen die Sachen nach. Gott sei mit euch!» Adrian blickte sich nicht um. Sie ließen die lärmenden Zuschauer und die zertrümmerte Bühne hinter sich und trabten müde durch die stillen Straßen zum Hafen.
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Die Hüter des Gesetzes Der Lärm und die Aufregungen hatten ebenso wie der Gin ihre Wirkung auf Rosy nicht verfehlt. Mit gelegentlichen fröhlichen Quieksern lief sie neben Adrian her und stolperte nur ein- oder zweimal über ihre eigenen Füße. Adrian war jetzt alles einerlei: ihm lag nur daran, Rosy an Bord zu bringen, und er war froh, daß die ‹Sploshport Queen› noch am Kai lag. Eilig machte er Rosy an einem Poller fest, rannte an Deck und fand zum Glück den Kapitän, ohne lange suchen zu müssen. «Oh», sagte der Kapitän und trat einen Schritt zurück. «Wollen Sie mich schon wieder über den Haufen rennen?» «Nein», sagte Adrian. « Wir möchten nur gern mit Ihnen zum Festland zurückfahren – ich und mein Elefant.» «Dann waren Sie aber nicht sehr lange hier», meinte der Kapitän. «Nein. Wir konnten hier keine richtige Arbeit finden.» «Na, dann nur an Bord», sagte der Kapitän. «Wir legen gleich ab.» Adrian holte Rosy und führte sie über den Laufsteg aufs Vorderdeck, das sie schon kannte. Sie waren gerade dort angekommen, als der Erste Offizier vom Kai aus Adrian etwas zurief. Adrian befahl Rosy stehenzubleiben und lief hinunter, um die Fahrkarten zu lösen. Das erwies sich jedoch als höchst leichtsinnig. Rosy hatte sich jetzt von ihrer Panik auf der Drehbühne erholt und war müde geworden, was nach dem Ginkonsum nicht weiter verwunderlich war. Sie schob sich langsam über das Deck und blickte über die Reling, wobei sie sacht von einer Seite zur anderen schaukelte und von Zeit zu Zeit halblaut vor sich hin quiekste. Dann wandte sie sich um und wollte über den Laufsteg zurückgehen, um Adrian zu suchen; ihr Schritt war jedoch unsicher, sie rutschte aus und fiel gegen die Reling, deren Stärke zwar menschlichen Ansprüchen genügte, nicht aber dem Lebendgewicht von einigen Tonnen Elefantenfleisch: sie gab nach und brach durch. Adrian kam den Laufsteg heraufgerannt und sah gerade noch, wie Rosy, alle vier Füße in der Luft, über Bord fiel und mit dem Knall eines Kanonenschusses ins Meer klatschte, aus dem eine sieben Meter hohe Wassersäule emporschoß. Nun wußte Adrian zwar seit dem Unglückstag der Monkspepper-Jagd, daß Rosy Wasser sehr gern hatte; aber es war ja doch ein erheblicher Unterschied zwischen dem seichten Flüßchen von damals und dem fünf Faden tiefen Wasser der See. Er stürzte zu dem Loch in der Reling und riß sich im Laufen die Jacke herunter – bereit, Rosy nachzuspringen und sie zu retten. Erst später wurde ihm klar, wie schwierig solche Rettung für ihn gewesen wäre, hätte Rosy nicht schwimmen können. Er blickte hinunter in das dunkle Wasser und sah, daß Rosy aufgetaucht war und mit erhobenem Rüssel der offenen See zuschwamm. Das war fast noch schlimmer, als wäre sie ertrunken. «Komm zurück!» schrie Adrian. «Rosy, komm zurück!» Aber Rosy durchpflügte stampfend die Wellen und steuerte auf die Hafenausfahrt zu. Es blieb tatsächlich nichts anderes übrig, dachte Adrian erbittert, als ins Wasser zu springen und sie zu retten. Er holte tief Luft und sprang über Bord. Das ölige Wasser war unangenehm kalt. Spuckend und schluckend kam er an die Oberfläche und machte sich eilig an die Verfolgung. Er mußte sich gewaltig anstrengen und hatte nach einiger Zeit das Gefühl, seine Lungen seien nahe am Bersten, aber schließlich holte er Rosy ein. «Du Närrin!» japste er. «Du schwimmst in die falsche Richtung!» Rosy war entzückt, ihn zu sehen; sie gab einen kleinen Begrüßungsschrei von sich und schlang den Rüssel zärtlich um seinen Hals, so daß Adrian tief unter Wasser gedrückt wurde. Er machte sich von ihr frei und kam keuchend und halb erstickt wieder hoch.
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«Du verdammter Elefant!» schimpfte er und rang nach Luft. Dann packte er sie am Ohr und steuerte sie, wie ein winziger Schlepper einen großen Ozeandampfer, auf den Strand zu. Nach einiger Zeit waren sie an einer breiten, flachen Treppe angelangt, die vom Wasser zum Kai führte. Hier kletterten sie mit einiger Mühe an Land. Als sie an Bord gingen, war ringsum kaum jemand zu sehen gewesen; inzwischen aber hatte sich, wie das bei solchen Ereignissen üblich ist, in Windeseile eine Menschenmenge angesammelt, darunter auch ein großer und kriegerisch aussehender Polizist. Adrian schleppte sich, die Hand immer noch an Rosys Ohr, die Stufen hinauf und begann dann, sich das Wasser aus dem Haar zu streifen. Die Hände auf dem Rücken, trat der Polizist gewichtig auf ihn zu; seine Uniformknöpfe glitzerten im Lampenlicht. «Guten Abend, Sir», sagte er. «Guten Abend», erwiderte Adrian. Von gut konnte hier wohl kaum die Rede sein. «Ist das vielleicht Ihr Elefant, Sir?» fragte der Polizist. «Oder haben Sie ihn bloß gerettet?» «Nein, es ist meiner», sagte Adrian. «Aha», sagte der Polizist. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, blätterte langsam darin und leckte sich zwischendurch den Zeigefinger. «Sie sind wohl nicht zufällig Mr. Adrian Rookwhistle, Sir?» erkundigte er sich. «Doch, der bin ich», gab Adrian resigniert zu. «Aha », sagte der Polizist und lächelte ihm väterlich zu. « Dann sind Sie wohl so gut und kommen mal eben mit auf die Wache, Sir. Es gibt da ein paar kleine Fragen zu klären. Ihr Elefant hat ja schon allerhand Aufsehen erregt, wie wir hören.» «Hören Sie, Wachtmeister», sagte Adrian, «ich kann das alles erklären.» «Sagen Sie kein Wort!» ertönte plötzlich eine schneidende Stimme aus der Menge. Adrian sah sich erstaunt um und entdeckte, daß dieser Rat von einem kleinen rundlichen Mann kam. Er trug einen verblichenen Cutaway, einen Zylinder, den offenbar ein schwerer Pferdewagen mehrfach überfahren hatte, ausgebeulte Hosen und riesige Gummistiefel, deren Spitzen himmelwärts wiesen. Der starke Bauch wölbte sich unter einer Weste aus Maulwurfsfell. Über der stachelbeerroten Hakennase blickten zwei scharfe blaue Augen unter buschig-weißen Brauen. Das Kerlchen war nicht größer als ein Zwerg, aber von beachtlicher Korpulenz; doch er ging jetzt so drohend auf den Polizisten zu, daß der Hüter des Gesetzes sofort Haltung annahm und einen Schritt zurücktrat. «Kein Wort mehr!» sagte der Kugelrunde zu Adrian und hob gebieterisch den Zeigefinger. Sein Auftreten war so eindrucksvoll, daß die Zuschauer, die bisher lachend und schwatzend dagestanden hatten, plötzlich still wurden. Der Kleine rückte sich den Zylinder zurecht und tat einen kräftigen Schnaufer. Er war offensichtlich seiner Wirkung bewußt und wünschte sie voll auszukosten. Als der schäbige Hut zufriedenstellend saß, steckte der kleine Mann die Finger tief in die Westentasche und zog eine große zerbeulte Schnupftabaksdose hervor. Rosy sah es und streckte – in der Annahme, er habe da etwas Eßbares für sie – vorsichtig schnüffelnd den Rüssel aus. «Hinweg», sagte der Dicke kühl und warf ihr einen scharfen Blick zu, und zu Adrians Überraschung rollte Rosy den Rüssel ein und machte ein so peinlich-verlegenes Gesicht, wie es nur Elefanten fertigbringen. Es war klar: auch bei ihr hatte der Dicke seine Wirkung nicht verfehlt. Er öffnete jetzt die Schnupftabaksdose, die daraufhin ein paar zartklingende Takte von God Save the Queen erklingen ließ, entnahm ihr mit spitzen Fingern eine Prise und placierte den Tabak vorsichtig auf dem linken Handrücken in der Delle zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit der rechten Hand schloß er
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die Dose und steckte sie wieder in die Tasche; dann führte er die linke vorsichtig an die Nase und sog tief den Tabak ein. Ringsum herrschte tiefes Schweigen. Alle, auch der Polizist, sahen ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er zog ein paarmal die Luft ein, dann begann sein ganzer Körper leicht zu zittern, und schließlich nieste er dann genießerisch und gab dabei einen helljaulenden Ton von sich, so daß alle Umstehenden, auch Rosy, ein paar Schritte zurückwichen. Darauf zog er ein enormes Seidentaschentuch heraus und schneuzte sich mit einem Trompeten, das eines Elefantenbullen würdig gewesen wäre. Als das Tuch wieder in der Tasche verstaut war, schob er den Hut zurecht, der durch die Gewalt des Niesens verrutscht war, und blickte den Polizisten unter buschigen Brauen bedeutsam an. «Inspektor», sagte er, «Sie waren soeben Zeuge eines Vorfalls, den zu sehen viele Menschen zehn Jahre ihres Lebens geben würden.» «Jawohl», sagte der Polizist. «Ich bin aber nur Wachtmeister, Sir.» «Auf den Rang kommt es hier nicht an», belehrte ihn der Kleine. «Wichtig ist nur, daß man eine Heldentat auch zu würdigen weiß, wenn man sie zufällig erlebt.» «Jawohl, Sir», sagte der Polizist hölzern. « Schon die Bibel lehrt uns, daß wir Herr sind über die Vögel in der Luft und die Tiere auf den Feldern», sagte der Kleine mit großer Geste. «Ja, gewiß. Wird wohl so sein, wenn Sie das sagen», räumte der Polizist ein. «Ja, allerdings. Und das bezieht sich auch auf den Elefanten.» Er legte den linken Arm um Adrians triefende Schultern und spreizte die rechte Hand, als sei er im Begriff, einen Tennisball aufzufangen. «Freunde!» rief er mit durchdringender Stimme. «Dieser tapfere junge Mann hier hat dem Gebot der Bibel Folge geleistet und sich, ohne zu zögern oder an sein eigenes Leben zu denken, in die brüllende Brandung gestürzt, um eine arme Kreatur vom Tode zu erretten.» Daß das Hafenwasser in öliger Glätte vor ihnen lag, tat der Dramatik seiner Worte keinen Abbruch. «Ist unter euch allen ein Mann», rief er den Frauen zu, die ihn umdrängten, «der es auf sich genommen hätte, eine so edle Tat zu vollbringen?» «Entschuldigen Sie, Sir», sagte jetzt der Polizist. «Ich weiß, es war eine sehr edle Tat, die der junge Mann vollbracht hat, aber er und der Elefant werden gesucht.» Der Kleine blähte sich wie eine Kropftaube und spießte den Polizisten mit seinem Blick auf. «Ich bin Sir Magnus Ramping Fumitory», sagte er laut und rückte sorgfältig den Hut zurecht. «Da Sie seit Jahren mit den Gerichten zu tun haben, dürfte Ihnen mein Name nicht unbekannt sein.» «Jawohl, Sir», sagte der Polizist resigniert und griff an den Helm. «Ich habe von Ihnen gehört.» «Schön, und jetzt möchte ich wissen, ob Sie tatsächlich vorhaben, diesen jungen Mann, diesen Helden der Tiefe festzunehmen.» «Also, Sir… in gewisser Weise schon», sagte der Polizist. «Er soll ja bloß mit dem Elefanten mal eben auf die Wache kommen und uns ein paar Informationen geben. Es handelt sich um eine Beschwerde.» Sir Magnus lächelte ingrimmig. «Was für einen ungeheuerlichen Mißbrauch treiben Sie da mit der Sprache Shakespeares», sagte er bedeutsam. «Nun gut, Hauptwachtmeister, ich weiß, Sie haben Ihre Pflicht zu tun, wie fehl am Platz sie hier auch sein mag. Ich erlaube Ihnen also, diesen
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jungen Helden festzunehmen, und ich werde mein möglichstes tun, Sie vor der Wut des Volkes zu schützen. Denn es ist ja wohl sonnenklar, auf welcher Seite die Sympathien liegen.» Das Volk horchte gespannt, hatte aber wie üblich nicht viel Ahnung, worum es eigentlich ging, und murmelte Zustimmung. Sir Magnus dankte mit einem Neigen des Kopfes wie ein Dirigent dem Orchester nach einer schwierigen Passage und wandte sich zu Adrian. «Junger Mann, kommen Sie», sagte er. «Ich werde Sie persönlich auf die Polizeiwache begleiten, und wenn man Sie dort festnimmt – wenn jemand es wagt, die Unmenschlichkeit soweit zu treiben, Sie festzunehmen und unter Anklage zu stellen, dann werde ich, Sir Magnus Ramping Fumitory, Ihre Verteidigung übernehmen.» «Sehr liebenswürdig», sagte Adrian. Er war nun völlig verwirrt und hatte keine Ahnung, ob er unter Arrest stand oder nicht. «Ja, dann kommen Sie doch bitte jetzt mit», sagte der Polizist. «Wenigsten werden sie bei uns eine Tasse Tee kriegen.» «Vielen Dank», sagte Adrian klappernd. Ihn fror bis ins Mark. Für eine Tasse heißen Tee war er zu allem bereit. «Sagen Sie kein Wort. Keine Silbe», warnte ihn Sir Magnus, «bis wir auf der Wache sind und feststellen, was für lächerliche Anschuldigungen man eigentlich gegen Sie vorbringt.» Adrian packte also wieder Rosy am Ohr, Sir Magnus schritt gravitätisch neben ihm, der Polizist ging auf der anderen Seite, und die raunende Menschenmenge schob sich hinterher, bis sie auf der Wache ankamen. Hier bedurfte es einiger Mühe und mehrerer Brotlaibe, um Rosy zu bewegen, im Hof stehen zu bleiben. Drinnen in der nüchternen Wachstube saß der diensthabende Wachtmeister, ein Mann mit kupferrotem Gesicht und eindrucksvollem Schnurrbart, und blickte Adrian wie ein gutmütiges Walroß entgegen. «Guten Abend, Sir. Sie sind Mr. Adrian Rookwhistle?» «Ja», sagte Adrian. «Mehr dürfen Sie im Augenblick keineswegs zugeben», ermahnte ihn Sir Magnus streng. «Also, Mr. Rookwhistle, uns liegen hier mehrere Klagen gegen Sie vor. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie jetzt sagen, protokolliert wird und in der Verhandlung gegen Sie vorgebracht werden kann.» Er hielt inne und blickte Adrian bedeutsam an. «Es handelt sich um folgendes. Sie werden beschuldigt, am 20. April in der Grafschaft Brockelberry auf den Wiesen nahe der Monkspepper Road öffentliches Ärgernis dadurch erregt zu haben, daß Sie ein wildes Tier losließen und es dadurch ermöglichten, daß Hubert Darcey, Jagdmaster, durch eben dieses wilde Tier schwere Körperverletzungen erlitt. Ferner werden Sie beschuldigt, am Abend des 5. Juni öffentliches Ärgernis dadurch erregt zu haben, daß Sie ein wildes Tier an einem der Öffentlichkeit zugänglichen Ort, nämlich dem Alhambra-Theater, losließen und es dadurch ermöglichten, daß Mr. Emanuel S. Clattercup, der Theaterdirektor, durch eben dieses wilde Tier schwere Körperverletzungen erlitt.» Der Wachtmeister schwieg, warf einen Blick auf seine Notizen und sah Adrian mit ermunterndem Lächeln an. «Das ist im Augenblick alles, Sir», stellte er fest. «Lächerliche, falsche Beschuldigungen», rief Sir Magnus, nahm seinen Zylinder ab und hieb ihn auf den Schreibtisch des Wachtmeisters. «Lassen Sie nur, mein Junge, ich werde Sie bald aus dem üblen Netz befreien, mit dem diese hinterwäldlerischen Analphabeten Sie
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und dieses noble Tier einzufangen gedenken.» «Es tut mir leid, Sir», sagte der Wachtmeister, der Sir Magnus’ Suada gar nicht beachtete, « aber ich muß Sie erstmal hierbehalten, denn Sie sollen morgen früh dem Magistrat vorgeführt werden.» «Das ist ja ganz schön und gut», sagte Adrian. «Aber was soll aus Rosy werden?» «Aus Ihrem Elefanten, Sir?» fragte der Wachtmeister. «Hmm, das ist wirklich nicht ganz einfach. Unsere Zellen sind nämlich ein bißchen klein, wissen Sie.» «Sie könnte ja draußen im Hof bleiben, wenn sie nur was zu fressen kriegt.» «Dafür werde ich sorgen, Sir», sagte der Wachtmeister, ergriff einen neuen Bogen, leckte an seinem Bleistift und sah Adrian fragend an. «Also was frißt sie, Sir?» «Naja…wenn Sie einen halben Sack Mangold oder Rüben auftreiben könnten (Mangold mag sie lieber), einen Haufen Heu, einen halben Sack Äpfel, einen halben Sack Karotten, einen halben Sack Brot…» Der Wachtmeister richtete sich ergrimmt auf. «Ich möchte nicht hoffen, daß Sie Ihren Spott mit mir treiben wollen, Sir??!» «Nein, nein», sagte Adrian tiefernst. «Sie hat tatsächlich einen ganz kolossalen Appetit.» «Na schön… ich werde sehen, was ich tun kann, Sir», sagte der Wachtmeister. «Wenn Sie jetzt bitte noch Ihre Taschen ausleeren und den Inhalt mit mir zu Papier bringen wollen. Natürlich bekommen Sie alles wieder.» Adrian leerte seine Taschen, und der Wachtmeister tat alles in einen großen braunen Umschlag, den er im Schrank einschloß. «Bitteschön, Sir», sagte er einladend wie der Empfangschefin einem Luxushotel, «wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen. Ich zeige Ihnen, wo wir Sie unterbringen.» Sir Magnus drückte Adrian die Hand. «Nur keine Sorgen, mein Junge», sagte er. «Morgen in aller Frühe komme ich und sorge dafür, daß Ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Betrachten Sie das Ganze als einen häßlichen, aber schnell vorübergehenden Traum.» «Ja, so kommt es mir auch allmählich vor», sagte Adrian bedrückt. Er folgte dem Wachtmeister durch den Korridor, bis sie vor einigen kleinen Zellen standen. Nach dem Lärm und dem durchdringenden Alkoholgeruch zu urteilen, beherbergte man hier Leute, die Rosy jederzeit und gern zu ihren Freunden gezählt hätte. Der Wachtmeister schloß eine Tür auf und führte Adrian in einen winzigen weißgekalkten Raum mit einer Holzpritsche und einem kleinen Gestell, auf dem eine große Waschschüssel samt Krug stand, beide blau und rot geblümt. «So, da wären wir, Sir», sagte der Wachtmeister. «Nun schlafen Sie sich erst mal richtig aus. Morgen früh sehen wir uns wieder.» Er schloß die Tür und schob den Riegel vor. Langsam zog Adrian seine durchnäßten Kleider aus, legte sich auf die schmale, harte Pritsche und starrte an die Decke. Ein Jahr Zwangsarbeit ist mir sicher, dachte er, aber das machte ihm merkwürdigerweise nicht allzuviel Sorgen. Was ihn quälte, war der Gedanke an Rosy und was aus ihr werden sollte, und ebenso der Gedanke, daß er dann auch Samantha erst nach einem Jahr wiedersehen würde. Bis dahin wohnte sie womöglich längst woanders, und er würde sie nicht wiederfinden, oder – noch schlimmer – sie war vielleicht mit irgendeinem Grobian verheiratet, der ihre Vorzüge überhaupt nicht zu schätzen wußte. In der Einsamkeit der Zelle stand Adrian die Zukunft so deutlich vor Augen, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach: der Magistrat hatte Rosy zum Tode verurteilt. Im Morgengrauen erklang im Gefängnishof das Stiefelgetrappel des Erschießungskommandos, von dem das Urteil vollstreckt werden sollte. Die Gewehre krachten, Rosys schwerer Körper
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schlug, aus vielen Wunden blutend, dumpf auf die Steine. Inzwischen war Samantha unwiderruflich mit einem ungeschlachten, dichtbehaarten Stallknecht verheiratet, der sie jeden Samstag verprügelte; wenn Adrian sie wirklich je wiedertraf, so war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, und auch die Goldpünktchen in ihren Augen waren erloschen. Seine lebhafte Phantasie war die ganze Nacht emsig am Werk und ließ ihn keine Ruhe finden. Frühmorgens erschien ein kräftiger Polizist mit einem Becher Tee und einem großen Kanten Schwarzbrot, und Adrian merkte, daß er nicht nur Hunger hatte, sondern daß seine Kehle völlig ausgedörrt war. Er konnte nur noch krächzen. «Was macht Rosy?» fragte er den Polizisten besorgt. «Oh, um die brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Sir», sagte der Polizist heiter. «Die achtet schon darauf, daß sie nicht zu kurz kommt. Der Wachtmeister war nahe daran, den Verstand zu verlieren, so viel wollte sie fressen. Großartiges Vieh, dieser Elefant, alles was recht ist, Sir.» «Ja, das ist sie wohl», stimmte Adrian zu. « Sie haben schon allerhand mit ihr mitgemacht, was?» fragte der Polizist. «Ja», sagte Adrian kurz angebunden. Er hatte keine Lust, die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. «Wann gehen wir zum Magistrat?» «Um zehn Uhr, Sir.» «Ach bitte», sagte Adrian, «ob Sie mir wohl ein Rasiermesser leihen könnten? Ich habe meins nicht bei mir.» «Gewiß doch», sagte der Polizist freundlich und ging hinaus. Gleich darauf kam er mit einem großen Rasiermesser zurück und blieb im Raum, während Adrian sich wusch und rasierte. Dann nahm er das Messer wieder an sich und verschwand. Ich muß über meine Verteidigung nachdenken, dachte Adrian. Er ging mit großen Schritten in der Zelle auf und ab und entwarf eine Rede; zuweilen blieb er stehen und gestikulierte wild vor den Wänden, um die unerbittlichen Geschworenen zu überzeugen, daß er und Rosy sich nicht des geringsten Vergehens schuldig fühlten. Am Schluß seiner Rede mußte er jedoch zugeben, daß sein Plädoyer, wenn es überhaupt eines war, auf recht tönernen Füßen stand. Es war klar: er mußte auf Sir Magnus bauen, der offenbar der Polizei wohlbekannt war, denn die feindseligen Blicke, die die Beamten ihm zuwarfen, waren kaum zu übersehen. Zweifellos hatte er viel Erfolg bei Gericht. Doch in seinem Fall, dachte Adrian, würde es auch der gewiegteste Anwalt schwer haben, die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. Um zehn erschien der Polizist wieder. In der einen Hand trug er ein Paar drohend klirrende Handschellen. «So, jetzt ist es Zeit, Sir», sagte er fröhlich. «Es ist nur ein paar Schritt weit – aber wenn Sie bitte so freundlich sein wollen, Sir. Reine Formsache. Bitteschön – wenn Sie das hier überstreifen wollen.» Adrian hielt ihm die linke Hand hin, der Polizist legte ihm die Fessel an und schloß dann das andere Ende ums eigene Handgelenk. «So, das hätten wir», sagte er ganz väterlich. «Sitzt wie nach Maß geschneidert, was?» «Muß Rosy auch mit?» erkundigte sich Adrian. «Nein, Sir», sagte der Polizist. «Das ist nicht nötig. Sie ist eher… na, eine Art Beweisstück, wissen Sie. Das brauchen wir erst in der Verhandlung.» Sir Magnus wartete schon in der Wachstube. Zylinder und Mantel und die seltsamen Schuhe sahen bei Tageslicht noch mitgenommener aus als am Abend vorher. Auch sah man jetzt, daß einige Motten so töricht gewesen waren, sich an seiner Maulwurfsweste den Magen zu verderben.
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«Ah, mein lieber Adrian», rief er und schwenkte freundlich den Spazierstock. «Hoffentlich hatten Sie eine gute Nacht? Ich fürchte, die Unterbringung hier läßt in mancher Beziehung zu wünschen übrig.» «Oh, es war ganz bequem», sagte Adrian, «nur konnte ich nicht recht schlafen.» Sir Magnus warf ihm unter den weißen Brauen einen fast drohenden Blick zu. «Sie haben kein Vertrauen zu mir?» fragte er scharf. «Aber doch… natürlich», sagte Adrian erstaunt. «Nun, dann brauchen Sie sich auch nicht aufzuregen», sagte Sir Magnus. Er nahm seinen Zylinder und setzte ihn sich mit liebevollem Schwung und reichlich schief auf den Kopf. «Kommen Sie», sagte er. «Gehen wir an die Luft.» Er verließ die Polizeiwache mit forschem Schritt wie der Anführer einer Parade; der Polizist und Adrian folgten ihm unter musikalischem Kettengeklirr. Zum erstenmal wurde es Adrian klar, wie sich Rosy in Fußketten fühlen mußte. Auf der Straße wandten sich die Leute um, und Adrian wurde roter und roter und schrumpfte förmlich zusammen. Er war heilfroh, als sie endlich beim Magistrat ankamen. Aus irgendeinem Grunde hatte sich Adrian vorgestellt, ihm werde jetzt vom Magistrat der Prozeß gemacht, hier werde er verurteilt und dann in Ketten hinausgeführt werden. Erstaunlicherweise funktionierte die Justiz jedoch nicht ganz so schnell und vorbildlich. Der Magistratsrichter – der eigentlich wie der Prototyp des Verbrechers aussah, fand Adrian – hörte geduldig zu, als der Polizist, der Adrian festgenommen hatte, seine Aussage machte. Der Polizist – der im Polizeichor den Baß sang – las alles langsam und mit gewichtiger Stimme aus seinem Notizbuch ab und betonte jedes Wort deutlich und mit Wohlbehagen. «Polizeiwachtmeister Emanuel Dray, Polizeiwache 124 in Scallop. Am Abend des 5. Juni ging ich am Kai von Scallop entlang, als meine Aufmerksamkeit auf eine Menschenmenge gelenkt wurde, die dort zusammengelaufen war und sehr erregt schien. Als ich an die Landungsbrücke kam, sah ich den Beschuldigten zusammen mit einem großen, nicht identifizierbaren Gegenstand, der sich nach näherer Betrachtung als ein Elefant erwies, im Wasser herumplanschen. Da mir bekannt war, daß ein Mann mit einem Elefanten wegen gewisser Vorfälle in der Grafschaft Brockelberry gesucht wurde, kam ich zu dem Schluß, daß dieses der Gesuchte sein mußte. Als er mit dem Elefanten an Land kam, ging ich auf ihn zu und fragte ihn, ob ihm der Elefant gehöre.» Hier hob der Richter die Augenbrauen und räusperte sich; es klang wie das trockene Rascheln einer kleinen Eidechse, die durch welke Blätter huscht. «Hören Sie, Wachtmeister», sagte er, «warum haben Sie ihn gefragt, ob der Elefant ihm gehöre? Wenn Sie jemanden zusammen mit einem Elefanten im Hafen herumplanschen sehen, so dürfte es doch wohl erwiesen sein, daß der Elefant ihm gehört.» Der Wachtmeister, leicht aus der Fassung gebracht, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Ja, Sir», sagte er errötend, «ich dachte, es sei ja auch möglich, daß der Mann den Elefanten nur retten wollte.» Der Richter seufzte resigniert. «Sehr unwahrscheinlich, diese Hypothese», sagte er. «Bitte fahren Sie fort.» Wachtmeister Dray brauchte einen Augenblick, um die Stelle in seinem Notizbuch wiederzufinden. Dann räusperte er sich, warf den Kopf zurück wie ein Chorknabe und fuhr fort: «Der Beschuldigte sagte: ‹Ja, er gehört mir.› Ich fragte ihn, ob er Adrian Rookwhistle
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heiße, worauf er antwortete: ‹Ja, der bin ich.› Ich ersuchte ihn, mit mir auf die Wache zu kommen und einige Fragen aufzuklären. Darauf sagte er: ‹Hören Sie, Wachtmeister, ich kann das alles erklären.›.» Wachtmeister Dray hielt inne und blickte den Richter höchst befriedigt an. Nach seiner Ansicht war dies ein klares Schuldbekenntnis. «Ja, und?» fragte der Richter kühl. «Ja, und?» sagte der Wachtmeister etwas bestürzt, weil seine Worte nicht gezündet hatten. «Dann habe ich ihn mit auf die Wache genommen. Dort hat man ihn verwarnt und ihm die Beschuldigung vorgelesen.» «Aha. Danke, Wachtmeister», sagte der Richter. Der Wachtmeister verließ den Zeugenstand mit dem schweren Tritt eines müden Ackergauls. Der Richter blätterte in seinen Notizen und blickte dann auf. Jetzt erhob sich der Polizeiinspektor und sagte: «Ich beantrage, Sir, daß der Beschuldigte in Haft bleibt und in einer Woche dem Magistratsgericht vorgeführt wird.» Der Richter warf einen fragenden Blick auf Sir Magnus Ramping Fumitory, der während der ganzen Vernehmung anscheinend fest geschlafen hatte. Jetzt erhob er sich, zog seine Schnupftabakdose aus der Tasche und klopfte sanft mit dem Zeigefinger darauf. «Sir, was meine Freunde von der Polizei» (hier wurde ein deutlich hörbares Grollen von Seiten des Inspektors durch einen Blick des Richters im Keime erstickt) «gegen meinen Klienten vorgebracht haben, sind nichts als lächerliche, falsche Anschuldigungen.» Er warf die Arme hoch. « Sir Magnus », unterbrach ihn der Richter, « wir alle kennen Ihre Redegabe und beneiden Sie darum. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß Ihr Klient zur Zeit noch nicht angeklagt ist.» «Ja, Sir», erwiderte Sir Magnus. «Dieser edle Jüngling, der, wie Sie freundlicherweise betonten, noch nicht angeklagt ist, gegen den bis jetzt keinerlei Schuldbeweis vorliegt, soll, wenn meine Freunde von der Polizei ihr Vorhaben durchsetzen, eingekerkert werden, abgeschnitten von Freunden und Verwandten, abgeschnitten vom fröhlichen Leben ringsum, abgeschnitten vor allem von der prachtvollen stummen Kreatur, die in Zeiten der Not sein einziger Trost ist, ja – abgeschnitten, möchte ich sagen, von…» «Sir Magnus», unterbrach ihn der Richter scharf, «ich wäre dankbar, wenn Sie zur Sache kämen. Was wollen Sie beantragen?» «Kaution», sagte Sir Magnus mit fulminanter Geste, bei der versehentlich eine kleine Handvoll Schnupftabak über den Tisch verstreut wurde. «Mein Klient ist weder ein Landstreicher», rief er tönend, «noch ein Vagabund, noch ein Zigeuner, noch ein Vagant, noch ein Herumtreiber, er ist auch kein Abenteurer…» Der Richter verlor jetzt die Geduld. «Sir Magnus», sagte er laut, «wir sind hier nicht zusammengetreten, um ein Synonymlexikon herauszugeben.» Sir Magnus ließ sich nicht beirren. «Kurzum», fuhr er fort, «mein Klient steht nicht mittellos da, er ist durchaus in der Lage – ja sogar willens – , eine Kaution zu stellen. Es steht also nichts im Wege, ihn, und sei es auch nur vorübergehend, auf freien Fuß zu setzen.» «Das genügt», sagte der Richter säuerlich. «Ich habe Sie wohl verstanden.» Er lehnte sich zurück und musterte Adrian kühl und nüchtern. «In der Regel folgen wir in Fällen wie dem vorliegenden dem Ersuchen der Polizei.
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Dieser Fall hat jedoch eine Reihe ungewöhnlicher Aspekte. Ich bin also damit einverstanden, daß Ihr Klient gegen eine Kaution von fünfzig Pfund auf freien Fuß gesetzt wird.» «Ich bin Ihnen unendlich dankbar, Sir», sagte Sir Magnus und verneigte sich tief. Dann öffnete er sorgfältig seine Schnupftabakdose, fegte den auf den Tisch verstreuten Tabak zurück in die Dose, die dazu God Save the Queen spielte, und schloß sie wieder. Adrian verstand jetzt überhaupt nichts mehr. Er war der Meinung, es sei ein Wunder geschehen und er sei nun entlassen und zu nichts weiter als fünfzig Pfund Geldstrafe verurteilt worden. Der Gerichtsdiener blickte ihn starr an. «Aufstehen, Rookwhistle», sagte er. Etwas schwankend erhob sich Adrian. «Adrian Rookwhistle, Sie verpflichten sich gegen eine Kaution von fünfzig Pfund, am nächsten Dienstag vor dem Magistrat hier zu erscheinen. Haben Sie verstanden?» fragte der Richter. «Ja», erwiderte Adrian. Etwas benommen, aber erleichtert, verließ er den Raum. Er war frei, Rosy war frei, und wenn er Glück hatte, würde er Samantha sehr bald wiedersehen. Nach all den schrecklichen Ereignissen war dies ein Moment des Triumphes, der ausgekostet werden mußte. Als sie auf die Straße traten, ergriff er Sir Magnus’ Hand und schüttelte sie immer wieder. «Verehrter Sir Magnus, wie soll ich Ihnen danken? Wären Sie mit Ihrem brillanten Kopf nicht rechtzeitig erschienen, um mich und Rosy zu retten, so wäre uns ein schreckliches Schicksal nicht erspart geblieben. Ich kann Ihnen nie genug danken.» Sir Magnus löste sich von ihm mit dem Blick eines schwerleidenden Mannes, den ein lebhafter junger Hund anspringt, und trat einen Schritt zurück. «Wovon reden Sie eigentlich?» fragte er und sah Adrian unter seinen dichten Brauen durchdringend an. «Na, von dem Urteil», sagte Adrian. «Von welchem Urteil?» «Ja… ich… sie haben mich doch freigelassen. Sie haben mir bloß eine Geldstrafe von fünfzig Pfund aufgebrummt.» Sir Magnus schloß schmerzlich die Augen und ging ein paar Schritte auf und ab. Dann baute er sich vor Adrian auf, blickte ihn fest an und klopfte ihm mit der Tabaksdose auf die Brust. «Versuchen Sie», sagte er sarkastisch, «sich nicht ganz so idiotisch anzustellen wie die Hüter der Ordnung da drinnen. Ich habe Sie gegen Kaution freibekommen. In einer Woche müssen Sie vor dem Magistrat erscheinen. Der Magistrat verweist Sie an das Schwurgericht, und dort werden Sie verurteilt oder freigesprochen.» «Oh», sagte Adrian kleinlaut. «Das wußte ich nicht.» Sein Glück war von kurzer Dauer gewesen. Jetzt war alles wieder dunkel, und die Ängste kehrten zurück. Rosy wurde im Morgengrauen erschossen, und Samantha schloß eine unglückliche Ehe. «Was», sagte er trübe, «soll ich nun tun?» «Was Sie tun sollten?» Sir Magnus lief hochrot an und blubberte wie ein entrüsteter Truthahn. «Ich habe nicht weit von hier ein kleines Anwesen. Sie holen jetzt Rosy und begeben sich mit ihr zu mir. Und wenn Sie etwas Mut gefaßt haben, werden wir dort Ihre Verteidigung vorbereiten.» «Sehen Sie», sagte Adrian hilflos, «ich verstehe überhaupt nicht, wie das Gesetz eigentlich funktioniert.» «Können Sie auch nicht», gab Sir Magnus kurz zurück. «Schließlich verstehen das nicht
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einmal wir, die wir das Gesetz anzuwenden haben. Von Ihnen kann man es also kaum erwarten.» «Es ist so, wie wenn man Eisenbahn fährt», sagte Adrian. «Man muß sich auf den Lokomotivführer verlassen.» Sir Magnus nahm eine kräftige Prise Tabak. «Keine Sorge», sagte er dann. «Bei einer Eisenbahnfahrt ist das wichtigste, daß man an der richtigen Station aussteigt.»
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Das Labyrinth der Rechtsprechung Sir Magnus’ «kleines Anwesen» erwies sich als ein Herrenhaus im Tudorstil mit großem Garten. Es lag draußen vor der Stadt hoch über dem Kliff. Rosy wurde in einem großen Schuppen bei den Pferdeställen untergebracht, und Adrian bezog die Residenz von Sir Magnus. Sir Magnus war, gelinde gesagt, ein sehr anstrengender Gastgeber. Zunächst hatte er eine ausgesprochene Leidenschaft für Cherry Brandy, den er unaufhörlich konsumierte, wobei er darauf bestand, daß Adrian mithielt, und er mischte ihn auch gern mit den unterschiedlichsten Essenzen, um zu sehen, welche Wirkung er damit erzielte. Die immer erstaunlicheren Varianten dieses Getränks setzten Adrians Magen erheblich zu, und er stellte bald fest, daß ein Gebräu aus Bier, Milch und Cherry Brandy, literweise genossen, für ihn nicht das richtige war. Sir Magnus schien auch ohne Schlaf auszukommen. Die ersten drei Tage bestand er darauf, daß Adrian ihm seine Abenteuer immer und immer wieder erzählte, während er in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging oder am Tisch stand und eine neue Mischung probierte. Gegen zwei oder drei Uhr morgens fiel Adrian dann mehr tot als lebendig ins Bett, und kaum hatte er die Augen geschlossen, stand Sir Magnus – in einem faszinierenden Nachtgewand, reich mit Spitze besetzt – neben ihm und rüttelte ihn wach, damit er irgendwelche Teile des Berichts noch einmal wiederholte. Am vierten Morgen schleppte sich Adrian zum Frühstück hinunter; sein Kopf klopfte noch vom Cherry Brandy, und er konnte vor Müdigkeit kaum aus den Augen gucken. Am Tisch saß Sir Magnus, rosig und frisch wie nach einem langen und erholsamen Ferienaufenthalt, und verzehrte ein gigantisches Omelett. «Was wir also zunächst tun müssen», sagte Sir Magnus, als sei die Unterhaltung von gestern abend überhaupt nicht unterbrochen worden, «wir müssen jeden, aber auch jeden als Zeugen laden, der Ihnen auf Ihrer abenteuerlichen Wanderung über den Weg gekommen ist.» «Ich kann wirklich nicht einsehen, wozu das gut sein sollte», sagte Adrian mutlos. «Nachdenken», sagte Sir Magnus und streute eine Handvoll schwarzen Pfeffer auf eine Gabelvoll Omelett, die er sich dann in den Mund schob. «Denken Sie an die Geschworenen, mein Junge.» Adrian, dem beim Anblick des gekochten Eies schon wieder übel wurde, mochte nicht an die Geschworenen denken. «Was ist denn mit ihnen?» fragte er. Sir Magnus lehnte sich zurück, wischte sich den Mund mit der Damastserviette, zog die Tabaksdose heraus, schnupfte eine Prise, nieste vulkanisch, schneuzte sich dann und sagte, genießerisch seine Worte auskostend: «Das englische Gesetz basiert – und das ist das Schöne daran – auf zwei völlig unlogischen Maximen. Erstens: jeder glaubt, er werde von den Geschworenen verurteilt, was natürlich barer Unsinn ist. Verurteilt wird man vom Richter, der die Geschworenen instruiert. Betrachten wir jetzt mal die Geschworenen selbst. Man geht hier von dem sonderbaren Grundsatz aus, daß zwölf Leute besser sind als zwei oder sechs oder vier. Niemand aber denkt daran, daß zwölf Schwachköpfe viel gefährlicher sein können als zwei. Nach meiner Erfahrung sind alle Richter und alle Geschworenen Schwachköpfe. Der regelrechte Durchschnittsverbrecher hat demgegenüber gar keine Chance, und der Unschuldige ist schon verloren, bevor er den Gerichtssaal betritt.» Adrian war verwirrt. «Ich dachte immer, es sei ein ganz faires System», sagte er.
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«Ungefähr so fair wie ein besonders bösartiges Rugby-Match», sagte Sir Magnus kühl. «Ich begreife aber noch immer nicht», sagte Adrian, «was es mir nützen soll, wenn wir einen Haufen Leute aus allen Windrichtungen hierher holen.» Sir Magnus nahm noch eine Prise Schnupftabak und nieste. «Das, mein lieber Junge, liegt daran, daß Sie das Problem nicht richtig sehen. Stellen Sie sich vor, ich wäre ein Schäferhund.» Er beugte sich vor und starrte Adrian unter seinen buschigen Brauen bissig an, was ihm bestenfalls das Aussehen eines boshaften Terriers verlieh. Adrian versuchte jedoch gehorsam, sich ihn als Schäferhund vorzustellen. «Und nun stellen Sie sich vor, die Geschworenen seien die Schafherde. Und wenn ich Schafherde sage, so ist das für die Gesamtintelligenz der Geschworenen schon ein beträchtliches Kompliment.» Er schwieg und betrachtete einen Augenblick nachdenklich die große Flasche Cherry Brandy, die auf dem Büfett stand; dann warf er einen Blick auf die Uhr und seufzte. «Ich bin also der Schäferhund, die Geschworenen sind die Schafe, und der Richter ist der Schafdieb.» Bei den letzten Worten sank seine Stimme zu einem zischenden Flüstern herab. Er stand auf und ging neben dem Frühstückstisch auf und ab. Dann fuhr er plötzlich herum und stand vor Adrian. «Also: was hat jetzt zu geschehen? Ich als Schäferhund habe den Schafdieb zu zerreißen und alle meine kleinen Geschworenenlämmchen in den Pferch des richtigen Beschlusses zu führen. Haben Sie verstanden, was ich meine?» «So ziemlich», sagte Adrian. «Aber so kann man doch mit einem Richter nicht umgehen?» «Richter», sagte Sir Magnus kühl, «sind nichts als unerfahrene Advokaten.» Adrian war zwar der Meinung, Sir Magnus habe hier das Wesen des Gesetzes reichlich summarisch wiedergegeben; da er aber selbst keine Erfahrung hatte, konnte er das nicht beweisen. Sir Magnus war an die Eßzimmertür getreten, hatte sie aufgerissen und bellte: «Screech!» Ein kahles, verschrumpftes Etwas erschien und dienerte sich zur Tür herein. «Hier ist Screech», sagte Sir Magnus. «Er wird die nötigen Briefe schreiben an alle Leute, die ich als Zeugen vorlade. Sie werden heute morgen mit mir zusammen die Sache durchgehen und ihm die Einzelheiten mitteilen.» «Schön», sagte Adrian. «Alles, was Sie wollen.» Es war ihm plötzlich eingefallen, daß er an Samantha schreiben und sie als Zeugin vorladen konnte. Der Gedanke durchwärmte ihn von oben bis unten. Sir Magnus warf jetzt einen Blick auf die Brandy-Flasche, als sähe er sie zum erstenmal, und sagte: «Man kann jedoch eine solche Arbeit nicht mit leerem Magen beginnen. Kommen Sie, trinken Sie einen Cherry Brandy.» «Nein, vielen Dank, lieber nicht», sagte Adrian. «Wenn wir jetzt alle die Briefe schreiben wollen, will ich lieber einen klaren Kopf behalten.» «Ganz wie Sie wollen», sagte Sir Magnus und mischte sich selbst einen reichlichen Drink aus Cherry Brandy, irischem Whisky und Zitronensaft, kippte ihn hinunter und schüttelte sich. «Interessant», sagte er halblaut mit geschlossenen Augen. Dann wandte er sich an den Schreiber. «Sie kennen Ihre Arbeit, Screech», bellte er. «Mr. Rookwhistle wird Ihnen die Einzelheiten sagen, und ich erwarte, daß sämtliche Briefe um zwölf in der Post sind.» «Gewiß, Sir Magnus», dienerte Screech. «Gern. Gewiß.» Sir Magnus schlenderte hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Adrian war nun allein
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mit Screech und stellte bald fest, daß er einen gewissenhaften Mann vor sich hatte, der eine gestochene Handschrift schrieb; nur als Persönlichkeit glich er einem in Klebstoff getauchten Wattebausch. Um zehn Minuten vor zwölf war auch der letzte Brief – der Brief an Samantha – fertig geschrieben; und als Sir Magnus ins Zimmer gestürmt kam, packte Screech seine Sachen zusammen und schlich unterwürfig hinaus. «Ich finde», sagte Sir Magnus, «Sie sehen etwas mitgenommen aus. Ich kann es nicht zulassen, daß Sie als mein Parademandant in einem so kläglichen Zustand vor Gericht erscheinen.» Adrian unterdrückte ein Gähnen. «Ich glaube, mir fehlt nichts als Schlaf.» «Unsinn!» sagte Sir Magnus. «Anregung fehlt Ihnen. Ohne Schlaf kann man auskommen, aber ohne Stimulantien nicht.» Adrian überlegte lustlos, was Sir Magnus wohl unter Stimulantien verstand. «Ja, vielleicht haben Sie recht», sagte er friedfertig. «Ich würde vorschlagen, daß wir – Sie, Rosy und ich – nach dem Essen etwas an die frische Luft gehen», sagte Sir Magnus und rieb sich die Hände. «An die Luft?» fragte Adrian erstaunt. «Ja. Wir werden einen langen Marsch am Strand entlang machen.» «Halten Sie das wirklich für eine gute Idee…» begann Adrian, aber Sir Magnus unterbrach ihn. «Eine glänzende Idee», sagte er selbstzufrieden. «Ein kleiner Imbiß und dann ein tüchtiger Spaziergang – Sie werden sehen, wie gut Ihnen die Seeluft tut.» Der kleine Imbiß bestand aus je einem Dutzend Austern, einem Pilzsouffle, leicht und hellgelb wie ein Wölkchen, einem korallenrosa Roastbeef mit brauner Sauce und vielerlei Gemüsen und einem Dessert, dessen Grundsubstanz Cherry Brandy zu sein schien, dazu reichlich Sahne. Danach machten sie sich auf den Weg zum Strand und nahmen Rosy mit. Übersatt und todmüde konnte Adrian kaum die Augen offenhalten; trotzdem hatte er den Eindruck, daß ihm dieser Spaziergang in den Augen der einheimischen Bevölkerung nicht das mindeste nützte. Sir Magnus schien weder Augen noch Ohren für das Aufsehen zu haben, das die drei Spaziergänger überall erregten. Er hatte sich den Spazierstock über die Schulter gelegt und den Griff um Rosys Rüssel gehakt, und so schritten die beiden friedlich nebeneinander her. Trafen sie auf eine Gruppe Kinder, so griff Sir Magnus mit fürstlicher Geste an seinen Zylinder, dann zog er Rosy am Stock näher heran und ließ die Kinder Rüssel und Beine des Elefanten anfassen und bestaunen. Rosy war, wie die meisten gutartigen Tiere, der Ansicht, ein menschliches Wesen könne nichts Böses tun; sie freute sich über die Kinder und schnüffelte zart und behutsam mit dem Rüssel, den sie zu anderen Zeiten so gut als Waffe der Zerstörung zu benutzen wußte, an den sommersprossigen Gesichtern, den Zöpfen und schmutzigen Händchen herum. Nachdem sie vierzehnmal die Promenade auf und ab gegangen waren, kehrten sie um fünf zu Adrians großer Erleichterung nach Hause zurück, setzten Rosy im Stall ab und gingen in die Bibliothek, um Tee zu trinken. Aus irgendeinem Grunde schien der Spaziergang Sir Magnus tief befriedigt zu haben. Adrian kämpfte sich durch mehrere Meter von braunem Toast mit Butter, knusprigen Erdbeertörtchen und dicken Scheiben von dunklem Obstkuchen, würzig duftend wie ein ganzer Winterwald, hindurch und hörte dabei Sir Magnus zu, der ihm einen Vortrag über Sinn und Funktion des Gesetzes hielt. Neun Zehntel davon gingen über seinen Horizont hinaus. «Bitte», sagte er schließlich, «ich wüßte gern, warum Sie mit dem Spaziergang so zufrieden waren.»
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Sir Magnus hielt die Cherry-Brandy-Flasche in der Hand, goß vorsichtig etwas in seine Teetasse, besah sich die Mischung und rührte sie sinnend um. Dann wandte er sich mit der Miene eines Onkels, der zu einem kleinen, etwas zurückgebliebenen Neffen spricht, an Adrian und sagte ölig: «Es mag Ihnen noch nicht aufgegangen sein, mein Lieber, daß die Wege des Gesetzes alles andere als glatt und eben sind. Uns haben heute viele Leute gesehen; sie haben beobachtet, wie wir still und friedlich in Rosys Gesellschaft spazierengingen. Rosy hat sich tadellos benommen. Mit bewundernswerter Überwindung hat sie überall die kleinen Rotznasen liebkost und beschnüffelt. Sie können sicher sein: auch in der kleinsten Hütte wird man heute einmütig davon sprechen, wie zutraulich und lieb Rosy mit den Kindern umgegangen ist.» Er hielt inne und schob sich ein Erdbeertörtchen in den Mund. Kauend und etwas undeutlich fuhr er dann selbstzufrieden fort: «Einerlei, woher die Geschworenen kommen: das erste, was sie bei ihrer Ankunft hören werden, ist ein Bericht darüber, was für ein zahmes und gesittetes Wesen Rosy ist.» Adrian war entsetzt. «Ich habe immer gedacht, das wichtigste bei den Geschworenen sei, daß man sie nicht beeinflussen darf.» Sir Magnus richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter dreißig auf und blickte Adrian hoheitsvoll an. Seine Stimme klang barsch, als er sagte: «Man darf die Geschworenen nicht vorsätzlich korrumpieren. Das verstieße gegen jede Ethik.» «Ja», sagte Adrian, «das habe ich auch gedacht.» «Da es um die geistige Substanz der Geschworenen jedoch kläglich bestellt ist», fuhr Sir Magnus geschmeidig fort, «darf man ihnen sagen, was sie denken sollen.» Er goß noch einmal etwas Cherry Brandy in seine Tasse, schwenkte sie und leerte sie auf einen Zug.
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Die Mühlen des Gesetzes Adrian wurde von Tag zu Tag mutloser. Immer wieder erklärte er Sir Magnus, daß die Briefe gewiß vergeblich geschrieben worden seien und daß die meisten dieser Zeugen zu seiner Verteidigung wohl kaum etwas beitragen könnten. «Das überlassen Sie nur mir, mein Junge», sagte Sir Magnus. «Diese Miss Filigree hier – wie steht’s mit ihrem Vater?» «Um Gottes willen. Nein, den brauchen Sie nicht.» Adrian wurde ganz blaß vor Schreck. «Der redet über nichts als über seine Reinkarnationen.» «Ausgezeichnet», sagte Sir Magnus. «Seelenwanderung ist genau das richtige, um die Geschworenen ein bißchen durcheinanderzubringen. Schreiben Sie also der jungen Dame, sie soll ihren Vater mitbringen.» Adrian war verzweifelt. Trat Mr. Filigree als Zeuge auf, so brachte das Adrian garantiert lebenslänglich ein. Aber es war nichts zu machen; und bald kam auch ein kühles, kurzes Briefchen von Samantha des Inhalts, daß sie und ihr Vater sich bereit erklärten, als Zeugen auszusagen. «Mit vorzüglicher Hochachtung» lautete die Schlußformel. Nach und nach trafen die ersten Zeugen ein. Mr. Pucklehammer erschien in hellgelb und schwarz kariertem Anzug und mit einem steifen braunen Hut, entzückt, Adrian und Rosy wiederzusehen. Die Schwarze Nelly hatte man erst nach einiger Mühe aufgetrieben. Honoria und Ethelbert genossen die dramatischen Umstände, und Honoria vergoß – vor allem nach einigem Ginkonsum – Ströme von Tränen, wenn sie daran dachte, daß man Rosy erschießen und Adrian für immer einsperren würde. Sir Magnus, selbst ein beachtlicher Schauspieler, war tief beeindruckt von ihrem Bühnenschmerz, und wenn er sich mit Honoria zusammentat, konnte sich Adrian zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, daß hier eine Opernprobe, aber keine Strafverteidigung vorbereitet wurde. Dann kamen die beiden Filigrees. Samantha war kühl und wunderschön, sie schüttelte Adrian ernst die Hand und sagte, wie sehr sie sich freue, Rosy wiederzusehen – eine Bemerkung, die Adrian bis ins Mark traf. Mr. Filigree schwamm in Seligkeit, denn er hatte nie zuvor das Meer gesehen (außer in einer früheren Inkarnation) und tanzte entzückt am Strand entlang wie eine große, runde Qualle. Immer wenn Sir Magnus ihm Fragen vorlegen wollte, war er verschwunden; dann wurden Leute zum Suchen ausgeschickt, und er mußte seine Lieblingsbeschäftigung unterbrechen, die darin bestand, Rosy im seichten Wasser zu waschen und mit den Kindern am Strand Sandburgen zu bauen. Im Mittelpunkt all der Zeugen bewegte sich Sir Magnus, brüllte wie ein Stier oder gurrte wie eine Taube und hielt die Fäden des Ganzen fest in der Hand. Screech lief untertänig hinter ihm her, und wenn er eifrig Notizen machte, kreischte seine Feder über das Papier wie ein aufgescheuchter Rabe. Adrian hatte ein paarmal vergeblich versucht, Samantha allein zu sprechen. Sie blieb höflich und zurückhaltend, und er wurde mit jedem Tage unglücklicher. Als der Tag der Verhandlung kam, war er der völligen Verzweiflung nahe, während Sir Magnus kampflustig wie ein Weihnachtsputer herumlief, erhebliche Mengen an Cherry Brandy zu sich nahm und vor penetranter Zuversicht schier aus den Nähten platzte. Der Verhandlungsraum beim Magistrat war von schulmäßiger Nüchternheit gewesen, und Adrian hatte angenommen, das Gericht werde in einem ähnlichen Raum tagen. Er war sehr erstaunt, als man ihn jetzt in einen prächtigen Saal führte. Stuhl und Tisch des Richters waren aus schwerem, geschnitztem Eichenholz, verziert mit Blättern, Eicheln und kleinen
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lachenden und tanzenden Engeln. Sogar der Zeugenstand war vorn mit Schnitzwerk verziert. Die hohe weiße Zimmerdecke hatte ein blaugoldenes Basrelief. Es wurde nur halblaut gesprochen, doch spürte man deutlich geschäftiges Leben und Treiben. Sir Magnus hatte gerade festgestellt, daß Screech die Hälfte der Notizen zu Hause gelassen hatte, worauf er einen solchen Tobsuchtsanfall bekam, daß Adrian für das Leben des armen Schreibers fürchtete. Er redete auf Sir Magnus beschwichtigend ein und merkte daher erst nach einigen Minuten, daß sich der Saal zu füllen begann und die allgemeine Erwartung noch zunahm. Eben war ein sehr großer, vierschrötiger Mann eingetreten. Sein Talar umhing ihn in langen Falten wie die Flügel einer Fledermaus, und die Perücke saß etwas schief über dem vierkantigen Gesicht mit dem bläulichen Kinn, den seelenvollen braunen Dackelaugen und dem schmalen, nach unten gezogenen Mund. Wäre seine Robe nicht gewesen, so hätte man ihn für den magenkranken Beerdigungsunternehmer einer Stadt, in der nie jemand starb, halten können. «Wer ist das?» fragte Adrian. «Der?» sagte Sir Magnus und warf unter seinen buschigen Brauen einen scharfen Blick auf den eben Eingetretenen. «Das ist Sir Augustus Talisman. Der Staatsanwalt.» «Der will mir aber gar nicht gefallen», sagte Adrian. «Was – der alte Gussy gefällt Ihnen nicht?» sagte Sir Magnus erstaunt. «Der ist wirklich ganz nett, glauben Sie mir. Aber wenn man sein Leben lang nichts tut als Leute anklagen, dann muß man schließlich so aussehen.» «Wer ist der Richter?» fragte Adrian. «Ah», sagte Sir Magnus zufrieden, «da haben wir Glück gehabt. Wir haben den alten Trottel bekommen.» «Trottel?» sagte Adrian. «Ein seltsamer Name für einen Richter.» «Aber was denn», sagte Sir Magnus ungeduldig,« so wird er doch bloß genannt. Er heißt in Wirklichkeit Lord Crispin Toddel.» «Das verstehe ich nicht», sagte Adrian verwirrt. «Gott im Himmel, Junge», sagte Sir Magnus, «das liegt doch auf der Hand! Trottel! Er ist der beste Richter im Bezirk – er versteht mit Sicherheit alles falsch. Deshalb sieht ja auch der Staatsanwalt so deprimiert aus. Und deshalb nennen wir ihn Trottel.» «Soll das heißen», fragte Adrian entgeistert, «daß er nicht versteht, was er tut, obwohl er Richter ist?» «Was er tut, ist schon in Ordnung», erwiderte Sir Magnus. «Nur tut er immer das Gegenteil von dem, was andere Richter tun. Soviel ich weiß, hat er mehr Unschuldige ins Gefängnis gebracht als sonst ein Richter.» «Na, ich verstehe nicht, wie mir das nützen soll», sagte Adrian. Sir Magnus seufzte wie ein Mann, der es eine Weile mit einem Schwachsinnigen – zwar nicht gern, aber einigermaßen geduldig – aushalten muß. «Schauen Sie», sagte er freundlich. «Der Richter ist gleich zu Anfang verwirrt. Verstanden?» «Ja», sagte Adrian gehorsam. «Nun, wenn der Richter schon durcheinander ist, bevor er noch richtig anfängt, dann haben wir schon halb gewonnen», erklärte Sir Magnus. «Er wird dann nämlich die Geschworenen durcheinanderbringen. Und ich bringe dann alle zusammen durcheinander.» «Ich begreife aber nicht…» begann Adrian. «Sie haben keine Ahnung, was Sie alles erreichen können, wenn Sie genügend Verwirrung stiften», sagte Sir Magnus. «Es ist genau wie ein Rauchvorhang in der
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Schlacht.» «Oh», sagte Adrian. «Ich glaube, jetzt verstehe ich.» Aber er machte sich innerlich darauf gefaßt, daß ihm Sir Magnus’ Verteidigung mindestens zehn Jahre Haft einbringen werde. Der Justizbeamte erhob sich. «Alles aufstehen», rief er mit hoher Fistelstimme. Scharren und Rascheln erfüllte den Saal, als sich jetzt alle erhoben. Eine Tür ging auf, und ein kleiner, greisenhafter Mann in roter Robe trat ein, setzte sich auf den schweren geschnitzten Stuhl und blickte sich um. Er sah aus wie ein erstaunter Maulwurf. Alle setzten sich wieder, man hörte Räuspern und Papierrascheln. Der Justizbeamte erhob sich von neuem und sprach: «Hohes Gericht. Verhandelt wird in Sachen der Krone gegen Adrian Rookwhistle.» Er blickte Adrian an, der ebenfalls aufgestanden war. «Adrian Rookwhistle, Sie werden beschuldigt, am 5. Juni im Alhambra-Theater in Scallop öffentliches Ärgernis in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Ort, nämlich dem besagten Alhambra-Theater in Scallop, erregt zu haben und einem gewissen Emanuel S. Clattercup schwere körperliche Verletzungen zugefügt zu haben, und zwar mit Hilfe eines großen ungezähmten Dickhäuters, nämlich eines Elefanten, der dem besagten Clattercup in dem besagten Alhambra-Theater die Verletzungen beibrachte. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht schuldig?» Adrian war von der Verlesung der Anklageschrift so benommen, daß er den Beamten nur anstarren konnte. «Nicht schuldig», sagte Sir Magnus. «Nicht schuldig», wiederholte Adrian. Der Justizbeamte setzte sich. Ein kräftiger und freundlicher Wachtmeister, der neben Adrian auf der Anklagebank saß, stieß ihm leicht den Finger in die Seite. «Setzen Sie sich», flüsterte er. Adrian lehnte sich über die Bank. «Was kommt jetzt?» fragte er Sir Magnus. Sir Magnus nahm eine Prise Schnupftabak und nieste so vehement, daß der ganze Saal zusammenschrak. «Jetzt ödet uns der alte Gussy eine Weile an», sagte er. «Sie können sich ausruhen. Schlafen Sie ruhig ein bißchen.» Der Richter hatte seine Blicke im ganzen Saal umherschweifen lassen, um festzustellen, woher das Niesen gekommen war. Endlich faßte er Sir Magnus ins Auge und sagte: «Sir Magnus.» «Ja, Mylord?» sagte Sir Magnus, stand auf und verneigte sich mit gespielter Ehrerbietigkeit. «Es ist mir bekannt», sagte der Richter, «daß Sie dem Schnupftabak zugetan sind. Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie mich wissen ließen, ob wir ständig von diesem Geräusch unterbrochen werden sollen, das Sie anscheinend bei jeder Prise von sich geben müssen.» «Ich bitte um Verzeihung, Mylord», sagte Sir Magnus. «Ich werde es beim nächstenmal unterdrücken.» «Ich bitte darum», sagte der Richter. Dann blickte er den Staatsanwalt an und sagte: «Sir Magnus ist mit der Reinigung seiner Nasengänge jetzt fertig; Sie können also beginnen, Sir Augustus.» Sir Augustus Talisman senkte den Kopf und fingerte an den Ärmeln seines Talars und an dem Papierhäufchen herum, das vor ihm auf dem Tisch lag. Dann wandte er sich um und
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flüsterte mit seinem Schreiber. Der Schreiber verschwand unter dem Tisch und tauchte mit fünf oder sechs schweren Folianten wieder auf, die er neben Sir Augustus auf den Tisch legte. In jedem Band steckten lange rosa Papierstreifen. Inzwischen waren sowohl Sir Magnus wie auch der Richter, nachdem das Problem des Schnupftabaks zufriedenstellend gelöst war, leicht eingenickt. Noch einmal schob Sir Augustus seinen Talar zurecht, räusperte sich, griff sich an den Kragen und begann seine Rede. «Mylord», sagte er mit honigsüßer Stimme, «der Fall, der heute zur Verhandlung steht, ist – das darf man wohl sagen – ungewöhnlich. So ungewöhnlich, daß ich viel Zeit und Geduld darauf verwenden mußte, in den Gesetzen unseres Landes einen Präzedenzfall zu finden.» Hier hielt er inne und legte die Hand liebevoll auf den Stapel ledergebundener Bände vor sich. «Um mich kurz zu fassen», fuhr er dann fort, « – denn ich habe nicht die Absicht, Euer Lordschaft kostbare Zeit zu vergeuden (und bin auch nicht der irrigen Ansicht, Sie wünschten hier etwas anderes als Kürze und Prägnanz) – , möchte ich betonen, daß das Bubenstück (und wenn ich Bubenstück sage, so ist das keineswegs eine zu harte Bezeichnung), daß also dieses Bubenstück einen der ungewöhnlichsten Fälle darstellt, die mir in meiner langen Gerichtspraxis vorgekommen sind.» Er schwieg und blickte auf seine Notizen. Nachdenklich klopfte der Zeigefinger auf das Papier. Sir Magnus schien in tiefen und ungestörten Schlummer versunken zu sein. Adrian hatte gehofft, er werde an dieser Stelle aufspringen und laut protestieren; es geschah jedoch nichts, und Adrian war enttäuscht. «Der Angeklagte Adrian Rookwhistle», fuhr Sir Augustus fort, «hat dem Vernehmen nach von seinem Onkel eine ausgewachsene Elefantenkuh geerbt. Ihr Name ist dem Vernehmen nach Rosy, und um Verwechslungen vorzubeugen – und selbstverständlich mit Erlaubnis Eurer Lordschaft – , werde ich mich hier dieses Namens bedienen. Am Abend des 31. Mai kam Rookwhistle in Scallop an. Am folgenden Tage machte er sich auf den Weg zum Alhambra-Theater, wo er sich bei Mr. Clattercup, dem Eigentümer, um eine Stellung bewarb. Mr. Clattercup war der Meinung, das Auftreten eines zahmen – hier, Mylord, möchte ich das Wort zahm besonders hervorheben – Elefanten in seiner Aufführung (ich glaube, es handelte sich um Ali Baba und die vierzig Räuber) werde für das Publikum von großem Reiz sein; er stellte deshalb Rookwhistle und den Elefanten ein. Für die Aufführung dieser Pantomime hatte Mr. Clattercup erhebliche Geldsummen aufgewendet. Wie erwartet, war das Theater am ersten Abend ausverkauft – besucht von den Bewohnern unserer Stadt, denen Kultur noch wahrhaft am Herzen liegt. Die Hälfte der ersten Szene ging ohne Zwischenfall über die Bühne. Dann jedoch verlor Rookwhistle, der nach Aussagen unserer Zeugen dem Alkohol zugesprochen und auch dem Elefanten Alkohol zugeführt hatte, die Gewalt über das Tier, und es lief Amok.» Adrian stieg die Röte ins Gesicht bei diesem Schimpf; wieder blickte er zu Sir Magnus hinüber, der jedoch friedlich weiterschlief. «Mylord, ich habe hier vor mir (mit den Einzelheiten will ich Sie nicht aufhalten) eine Liste dessen, was der besagte Elefant an Schaden angerichtet hat; die Liste beschränkt sich jedoch auf Schäden an Bühneneinrichtungen und Kulissen. Wir kommen jetzt zu dem Körperschaden, den das Tier verschiedenen Personen zugefügt hat. Der erste Geiger des Orchesters hat mehrere Schwellungen und Schnittwunden davongetragen, als er von einer Palme getroffen wurde, die der Elefant hinunterschleuderte. Der Dirigent erlitt eine schwere Gehirnerschütterung, und Mr. Clattercup, der Theaterbesitzer, hat nicht nur schmerzhafte Hautabschürfungen, sondern auch noch einen Beinbruch erlitten, denn der blindwütige und tollgewordene Elefant schleuderte ihn von der
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Bühne hinunter in den Orchestergraben.» Hier gab der Richter einen halblauten Gickser von sich – von dem man nicht recht wußte, ob es ein Kichern oder ein Schluckauf war. «Mylord», sagte Sir Augustus mit der Stimme eines Grabredners, «ich werde beweisen, daß der Angeklagte Rookwhistle schon seit längerer Zeit mit diesem Tier durch das Land zog und überall Unheil anrichtete; daß er also die Anstellung im Alhambra-Theater durch arglistige Täuschung erschlich, indem er vorgab, das Tier sei zahm, während er wissen mußte, daß es sich hier um ein widerspenstiges und störrisches Tier handelte, eine Gefahr für jedermanns Leben und Eigentum.» Adrian war so aufgebracht über diese Verdrehung der Tatsachen, daß er sich über die Anklagebank lehnte und Sir Magnus kräftig schüttelte. «Ah», sagte Sir Magnus munter, «Gussy ist wohl fertig, was? Haben Sie gehört, was er gesagt hat?» «Ja!» fauchte Adrian. «Er verdreht alles und stellt die Dinge so dar, als seien Rosy und ich schuldig.» «War zu erwarten», sagte Sir Magnus. «Dafür wird er ja bezahlt.» «Aber können Sie denn nicht mal was sagen?» drängte Adrian. «Können Sie nicht mal aufstehen und dem Richter sagen, daß das alles gar nicht stimmt?» «Nur keine Panik, mein Junge», sagte Sir Magnus. «Vergessen Sie nicht: die Spinne braucht Stunden, um ein Netz zu weben, das man mit dem kleinen Finger zerstören kann.» Damit mußte Adrian sich zufriedengeben. Sir Augustus raschelte in seinen Papieren und schob seinen Talar zurecht. Adrian musterte die Geschworenen. Sie gefielen ihm nicht: alle hatten trübe Augen und sahen säuerlich und mitleidlos aus. Einige schienen gleich zu Anfang in Trance gefallen zu sein, die anderen blickten heimlich auf die Uhr und dachten offenbar an gar nichts. Sie sahen aus, als seien sie bereit, Adrian sofort und auf der Stelle zu verurteilen, sei es aus Mißgunst oder weil sie so schnell wie möglich hier fertig zu werden wünschten. «Ich rufe jetzt den ersten Zeugen auf», sagte Sir Augustus. «Sir Hubert Darcey.» «Sir Hubert Darcey!» rief der Justizbeamte. Sir Hubert betrat den Gerichtssaal mit langen Schritten wie zu einer Militärparade. Mit dem mächtigen Schnauzbart sah er noch furchteinflößender aus, als Adrian ihn in Erinnerung hatte. Er stapfte in den Zeugenstand und leistete den Eid mit der Miene eines Mannes, für den die Aufforderung, nichts als die Wahrheit zu sagen, einer persönlichen Beleidigung gleichkam. «Sie sind Hubert Darcey, wohnhaft in Bangalore Manor in Monkspepper?» fragte Sir Augustus. «Jawohl!» donnerte Sir Hubert. «Sir Hubert», sagte der Richter, «ich wäre Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie Ihre Aussage mit etwas weniger Lautstärke machen könnten. Die Akustik ist hier nämlich so, daß, wenn Sie mit voller Lungenstärke sprechen, mein Tisch und Stuhl ganz ungewöhnlich stark erschüttert werden.» «Sehr wohl, Mylord!» bellte Sir Hubert. «Sie sind der Meister der Monkspepper-Jagd, nicht wahr?» fragte Sir Augustus. «Jawohl. Seit zwanzig Jahren.» «Und Sie erinnern sich an den 20. April?» «Und ob», sagte Sir Hubert. «Äußerst lebhaft.» «Würden Sie dann so gut sein und seiner Lordschaft und den Geschworenen in Ihren eigenen Worten berichten, was damals vorgefallen ist.»
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«Jawohl», sagte Darcey mit gedämpftem Brüllen. «Prachtvoller Morgen war das, Mylord, und die Meute hatte im Eichwald hinter Monkspepper schon aufgenommen…» «Was aufgenommen?» erkundigte sich der Richter. «Die Fährte», sagte Darcey. «Was für eine Fährte?» fragte der Richter interessiert. «Die von dem Fuchs», sagte Darcey. «Interessant, diese ländlichen Gepflogenheiten», sagte der Richter sinnend. «Bitte fahren Sie fort.» «Nun, wir folgten der Spur durch den Eichwald, die Monkspepper Road entlang und dann auf eine Wiese am Flußufer. Ich möchte hier betonen, daß es zu dieser Wiese nur einen einzigen Zugang gab; sie war völlig eingeschlossen von einer hohen und dichten Deckung.» «Deckung, sagten Sie?» fragte der Richter zurück. «Ja», sagte Darcey. «Ich glaube, Mylord», sagte Sir Augustus, da er den Eindruck gewann, daß dieser Zeuge kaum eine brauchbare Aussage versprach, «ich glaube, der Zeuge meint eine dichte Hecke. Deckung ist der Jägerausdruck für eine dichte Hecke.» «Ich dachte, es sei die Bezeichnung für eine Art Schutzwehr.» «Es ist dasselbe Wort, aber es bezeichnet verschiedene Dinge», sagte Sir Augustus. «Ich danke Ihnen», sagte der Richter. «Nun», sagte Darcey, «die Meute drang durch die Deckung in die Wiese ein, und wir folgten nach. Das erste, was ich dort sah, war ein recht vulgär aussehender Wagen, bunt angemalt, wie Zigeuner sie benutzen. Dann kam plötzlich zu meiner Überraschung hinter den Bäumen ein Elefant hervor. Natürlich erschrak die Meute, und die Pferde scheuten so, daß selbst geübte Reiter wie ich darauf nicht gefaßt waren und abgeworfen wurden. Ich fiel recht unglücklich auf den Kopf, und nur mein Zylinder rettete mich vor dem Schlimmsten. Bevor ich mich jedoch von ihm befreien konnte, packte mich der Elefant, schleppte mich über die Wiese und schleuderte mich zu Boden, und zwar zu Füßen des Angeklagten, der, wie ich zu meinem Entsetzen feststellen mußte, nichts anhatte als ein paar nasse Unterhosen.» «Warum trug er denn nur Unterhosen?» fragte der Richter fasziniert. «Er sagt, er habe mit dem Elefanten im Fluß gebadet, Mylord, und dabei hat er natürlich die Lachse verscheucht.» «Haben Sie Verletzungen erlitten bei diesem Vorfall?» fragte der Richter. «Glücklicherweise nur einige kleine Abschürfungen.» «Ich habe diesen Zeugen vorgeladen, Mylord», sagte Sir Augustus, «um zu beweisen, daß der Angeklagte sehr wohl wußte, daß der Elefant gefährlich war, denn hier hatte er ja schon vor dem Abend im Alhambra-Theater Menschen überfallen und verletzt.» «Ja, ich verstehe», sagte der Richter und schien im Zweifel. Sir Augustus setzte sich. Der Richter blickte Sir Magnus an, der immer noch zu schlafen schien, und sagte: «Wie ist es, wollen Sie sich hier anschließen und den Zeugen ebenfalls vernehmen?» «Ja, Mylord», sagte Sir Magnus und erhob sich langsam. Er sah Darcey durchbohrend an und fragte: « Sie sagen, Sie haben nur einige kleine Abschürfungen davongetragen?» «Ja.» «Hatten Sie ein gutes Pferd?» fragte Sir Magnus unerwartet. Darcey lief rot an. «Ich züchte die besten Pferde im Lande!» bellte er. «Aber das Pferd war vielleicht nicht besonders gut zugeritten?» erkundigte sich Sir Magnus.
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«Es ist ein ausgezeichnetes Jagdpferd», schnappte Darcey, «und kein Zirkuspferd, das den Umgang mit Elefanten gewohnt wäre.» «Damit würden Sie also sagen, daß es ganz normal war, wenn Ihr Pferd scheute und Sie abwarf?» sagte Sir Magnus. «Selbstverständlich», gab Darcey zurück. «Die Abschürfungen kamen also daher, daß Sie vom Pferd gefallen sind?» fragte Sir Magnus. Darcey sah ihn böse an. «Jedenfalls haben Sie uns das doch soeben selbst gesagt», sagte Sir Magnus mit seidenweicher Stimme. «Ich sehe nicht recht ein, wohin diese Fragen führen sollen», sagte der Richter. «Mylord», sagte Sir Magnus, «ich möchte nur dem Gericht und den Geschworenen» (er warf den Geschworenen einen Blick zu, der sie geradezu elektrisierte) «vor Augen führen, daß die kleinen Abschürfungen, die der Zeuge erlitt – ich gebrauche hier seine eigenen Worte – , darauf zurückzuführen sind, daß er vom Pferd abgeworfen wurde und daß sie mit dem Elefanten überhaupt nichts zu tun hatten.» Sir Augustus erhob sich. «Mylord», sagte er, «es geht nicht darum, daß der Zeuge die Abschürfungen durch den Fall vom Pferd erlitt. Er wäre ja nicht vom Pferde gefallen, wenn ihn der Elefant nicht bedroht hätte.» «Hat der Elefant ihr Pferd angegriffen?» fragte Sir Magnus Darcey. «Nein», erwiderte Darcey unwillig. «Er hat nur trompetet.» «Trompetet?» fragte der Richter. «Interessant. Ich habe noch nie einen Elefanten trompeten hören. Wie klingt das eigentlich?» «Ein quiekendes Geräusch, Mylord», erklärte Sir Magnus und warf einen Blick auf die Geschworenen. «Ich denke jedenfalls, es ist damit klar erwiesen, daß der besagte Elefant an den Schäden, die der Zeuge erlitt, nicht schuldig war. Das ist doch auch Ihre Ansicht, Mylord, nicht wahr?» «Ja, ja. Das steht außer Frage», sagte der Richter und machte sich Notizen. Sir Augustus warf Sir Magnus einen giftigen Blick zu. Nach seiner Meinung war dieser Punkt durchaus noch nicht erhärtet, aber wenn der Richter anderer Ansicht war, mußte er es im Augenblick auf sich beruhen lassen. «Keine weiteren Fragen», sagte Sir Magnus und nahm befriedigt wieder Platz mit einer Miene, als habe er den Fall bereits gewonnen. Die Geschworenen waren sichtlich beeindruckt. «Ich möchte mir vorbehalten, diesen Zeugen etwas später noch einmal zu befragen», sagte Sir Augustus. «Gewiß, Sir Augustus», sagte der Richter bereitwillig. Er beugte sich einen Augenblick über seine Notizen und blickte dann Sir Magnus an. «Ein quiekendes Geräusch, sagten Sie?» fragte er. «Ja, Mylord», sagte Sir Magnus. «Ungefähr wie ein Griffel auf einer Schiefertafel.» Sorgfältig schrieb der Richter dieses zoologische Detail in sein Notizbuch. «Ich möchte jetzt Lady Berengaria Fenneltree hören.» Lady Fenneltree, in dunkelrotem Samt und kleinem Strohhut mit schwarzem Schleier, segelte in den Gerichtssaal wie eine stolze Fregatte. Sie leistete den Eid, schob ihren Schleier zurück und nickte dem Richter zu, als wolle sie sagen: Sie können jetzt anfangen. Über ihre Personalien gab sie mit klarer und laut hallender Stimme Auskunft. Ihr Auftreten war so eindrucksvoll, daß auch die weniger aufmerksamen Geschworenen sich zurechtsetzten und ihr zuhörten.
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«Lady Fenneltree», sagte Sir Augustus jetzt, «erinnern Sie sich an den Abend des 28. April?» «Dieser Abend», gab Lady Fenneltree hoheitsvoll zur Antwort, «ist unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingekerbt.» Ihre Stimme klang hart und kristallklar wie Eiszapfen, wenn sie vom Dach abbrechen. «Wollen Sie dem Gericht erzählen, warum dem so ist?» Sie wandte sich halb um und starrte den Richter mit einem Blick an, der ihn am Sitz festnagelte; dann schob sie ihre Finger ineinander und begann: «Am 28. April war der achtzehnte Geburtstag meiner Tochter.» «Hat das etwas mit dem Fall zu tun?» erkundigte sich der Richter. «Man hat mich ersucht, den Fall mit meinen eigenen Worten wiederzugeben», sagte Lady Fenneltree zurechtweisend. «Durchaus, durchaus.» Der Richter machte eine kleine fahrige Geste und schrieb ein paar Worte auf seinen Zettel. «Es war also der achtzehnte Geburtstag meiner Tochter», fuhr Lady Fenneltree fort, «und wir hatten ihr zu Ehren einen Ball geplant, zu dem wir natürlich eine Anzahl Gäste eingeladen hatten. Ich kann wohl sagen – » hier erlaubte sie sich ein kleines boshaftes Lächeln – «daß jeder, der bei uns einen Namen hat, eingeladen war. Ich hatte meinen Mann gebeten, sich zur Unterhaltung etwas Originelles einfallen zu lassen, vielleicht etwas Humoristisches zur Erbauung der Gäste. Er beteuerte mir, es sei alles gut vorbereitet, er wünsche es jedoch geheimzuhalten. Ich hatte mit meiner Tochter einige Tage in der Stadt verbracht, um Besorgungen zu machen. Bei meiner Rückkehr fand ich den da im Hause.» Sie machte eine geringschätzige Kopfbewegung zu Adrian hin. «Mit seinem Elefanten?» fragte der Richter. «Ja, leider», sagte Lady Fenneltree. Das schien dem Richter, den der Fall brennend interessierte, einiges Kopfzerbrechen zu machen. « Wie hat er ihn denn die Treppe hinauf- und heruntergebracht?» erkundigte er sich eindringlich. Sir Augustus sprang auf. «Mylord», sagte er, «ich glaube, es muß hier gesagt werden, daß der Angeklagte seinen Elefanten in den Stallungen untergebracht hatte, wovon Lady Fenneltree nicht unterrichtet war.» «Ach so», sagte der Richter. «Das ist etwas anderes.» Er blickte Sir Magnus an, der für ihn eine Autorität auf dem Gebiet der Dickhäuter darstellte, und fragte: «Können Elefanten Treppen steigen?» «Zweifellos», sagte Sir Magnus. Lady Fenneltree war gereizt über die Unterbrechung und riß jetzt das Wort wieder an sich. «Jedenfalls hatte mein Mann den Elefanten in den Ställen untergebracht, wovon ich, wie Sir Augustus schon sagte, nicht unterrichtet war. Er hatte sich eine völlig absurde Sache ausgedacht, die ich, wäre sie mir zur Kenntnis gelangt, sofort untersagt hätte. Er und dieser – dieser Rookwhistle wollten sich als Inder verkleiden und mit dem Elefanten in einer Hauda in den Ballsaal einziehen.» Der Richter beugte sich vor und starrte die Zeugin verwirrt an. «Ich dachte immer, eine Hauda sei so ein Ding, das die Elefanten auf dem Rücken tragen…?» «Das stimmt», sagte Lady Fenneltree fest. «Ja… wie haben sie denn bloß den Elefanten in die Hauda gebracht?» fragte der Richter verzweifelt. Sir Augustus sprang hastig auf, als er merkte, daß Lady Fenneltree zu einer kurzen, scharfen Replik ansetzte.
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«Mylord», sagte er, «Lord Fenneltree und der Angeklagte kleideten sich in indische Gewänder, setzten dem Elefanten eine Hauda auf den Rücken, legten eine Leiter an, stiegen hinauf und ritten in dieser Hauda in den Ballsaal.» Der Richter blickte ihn an, schluckte und gab ein paar erstickte Laute von sich, wobei er wie von einem Fieberanfall geschüttelt wurde. Erst nach Sekunden sah man, daß er lachte. Er wischte sich die Augen und beugte sich vor. «Weniger indisch wie kindisch! Was, Sir Augustus?» Es half nichts, er konnte sich immer noch nicht fassen. «Hahaha», sagte Sir Augustus betont höflich. «Sehr komisch, Mylord.» Eisiges Schweigen hing über dem Gerichtssaal, während der Richter mit dem Lachen kämpfte. Endlich trocknete er sich die Augen, schneuzte sich und winkte Lady Fenneltree freundlich zu. «Bitte, fahren Sie fort, Madam!» «Meine Gäste erfreuten sich an den schlichten, doch angemessenen Lustbarkeiten, die wir ihnen zu bieten vermochten», sagte Lady Fenneltree etwas säuerlich, «als plötzlich die große Tür zum Ballsaal aufsprang, der Elefant hereinstürzte und bis zum Ende des Saales schlitterte.» «Schlitterte?» erkundigte sich der Richter interessiert. «Schlitterte», wiederholte Lady Fenneltree unbeirrbar. Der Richter blickte Sir Augustus an und sagte: «Ich glaube, ich habe die Zeugin nicht ganz verstanden.» «Er schlitterte… auf dem Parkettfußboden, Mylord», sagte Sir Augustus. «Schlitterte», sagte der Richter nachdenklich vor sich hin und sah dann Sir Magnus an. «Können Elefanten schlittern?» fragte er. «O ja, Mylord – bei genügendem Anlauf und glattem Boden kann zweifellos auch ein Elefant schlittern», sagte Sir Magnus. «Sollte er denn schlittern?» fragte der Richter und sah Lady Fenneltree an. «Ob er sollte oder nicht, tut hier doch wohl nichts zur Sache», erwiderte sie spitz. «Er schlitterte jedenfalls geradewegs ins kalte Büfett hinein. Mein Mann in seinem albernen Aufzug saß in der Hauda und fiel mit ihr herunter. Ich ging auf ihn zu und fragte, was er sich dabei gedacht habe, einen Elefanten in meinen Ballsaal einzulassen.» «Das war eine vernünftige Frage», sagte der Richter, dem Lady Fenneltrees Intelligenz Eindruck zu machen begann. «Und was antwortete er darauf?» «Er sagte, er habe mich überraschen wollen», erwiderte Lady Fenneltree gallenbitter. «Nun», sagte der Richter kritisch, «das war jedenfalls eine ehrliche Antwort. Eine Überraschung war es doch wohl, nicht wahr?» «Ich habe mir an jenem Abend unaufhörlich den Kopf zerbrochen und nach einem Wort gesucht, das diesem Vorfall gerecht würde», sagte Lady Fenneltree. «Auf das Wort (Überraschung) wäre ich, das muß ich sagen, nicht gekommen, und ich schmeichle mir, über einen recht umfangreichen Wortschatz zu verfügen.» «Da kann ich Ihnen nur zustimmen», sagte der Richter. «Kann ich jetzt fortfahren?» fragte Lady Fenneltree. «Und wenn möglich ohne weitere Unterbrechungen?» «Selbstverständlich, selbstverständlich», sagte der Richter. «Bitte, fahren Sie fort. Was geschah dann?» Er beugte sich leicht vor und blickte Lady Fenneltree aufmerksam an, wie ein Kind, dem ein Märchen erzählt wird. «Die Speisen waren natürlich ruiniert», fuhr Lady Fenneltree fort. «Der Elefant war völlig wild geworden, tobte herum und suchte nach jemandem, den er verschlingen könnte.
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Ich machte meinem Mann sanfte Vorhaltungen wegen seiner törichten Idee, ein wildes Tier in den Ballsaal zu bringen. Plötzlich riß der Elefant einen meiner kostbaren Kronleuchter von der Decke, dann stürzte er sich auf mich und packte mich mit dem Rüssel.» «Guter Gott», sagte der Richter. «Und was haben Sie da gemacht?» Lady Fenneltrees Stimme stieß durch den Saal wie das Trompetensignal beim Angriff der Kavallerie. «Da ich nur eine schwache Frau bin, wurde ich ohnmächtig.» «Was blieb Ihnen als Dame auch übrig», sagte der Richter. «Das muß ja wirklich schrecklich für Sie gewesen sein.» Lady Fenneltree senkte leicht den Kopf und bemühte sich vergeblich, wie ein scheues Reh auszusehen. «Als ich wieder zu mir kam», fuhr sie dann fort, «lag ich auf einem Rehrücken und mit dem Kopf auf einem Lachs.» «Es will mir scheinen», sagte der Richter leicht verstört, «als seien zahllose Tiere in diesen Fall verwickelt. Sir Augustus, wußten Sie, daß wir es mit so vielen Tieren zu tun haben würden?» Sir Augustus schloß einen Augenblick die Augen und sagte dann: «Ja, Mylord. Das Reh und der Lachs waren allerdings tot.» «Ach ja, natürlich, in einem Ballsaal», sagte der Richter. «Da mußte der Lachs ja tot sein. Falls sich dort nicht ein Springbrunnen oder so etwas befand.» «In unserem Ballsaal gibt es keinen Springbrunnen», sagte Lady Fenneltree. «Na, sehen Sie?» sagte der Richter triumphierend. «Ganz klar, daß er tot sein mußte.» «Der Lachs war kalt», sagte Lady Fenneltree. «Weil er tot war?» erkundigte sich der Richter. Mit leidendem Blick erhob sich Sir Augustus von neuem. «Lady Fenneltree hatte zur Erlabung der Gäste einen großen gekochten Lachs auf die Tafel stellen lassen », sagte er. « Die Tafeln und Platten waren von dem Dickhäuter verwüstet worden, der Lady Fenneltree ergriff und sie, nach dem Tanz mit ihr, bewußtlos niederlegte, so daß ihr Kopf auf dem Lachs ruhte.» «Phantastisch», sagte der Richter hingerissen. «Ich wüßte nicht, wann ich je einen so interessanten Fall erlebt hätte. Bitte, erzählen Sie weiter, Lady Fenneltree.» «Als ich wieder zu mir kam, lag mein Kopf auf dem Lachs. Ich sah gerade noch, wie der Elefant Sir Hubert Darcey packte und ihn auf den Boden schmetterte – zweifellos in der Absicht, ihn zu töten.» Adrian hatte für Lady Fenneltree nie besonders viel übrig gehabt. Diese ausgekochte Lüge jedoch war zuviel. Sir Magnus wollte offenbar nichts unternehmen, also mußte er das tun. «Das ist gelogen!» schrie er und sprang auf. «Rosy hat noch niemals jemandem etwas angetan. Sie sind eine ganz gehässige alte Kuh!» Eine Woge der Erregung und Bewunderung lief durch den Saal. Lady Fenneltree warf Adrian einen verächtlichen Blick zu und wandte sich an den Richter. «Mylord, ist es bei Ihnen üblich, daß Zeuginnen als Kuh bezeichnet werden?» «Nein, üblich nicht», sagte der Richter zerstreut. «Aber nun sagen Sie mir bloß, was hat nun wieder die Kuh damit zu tun? In diesem Fall kann man sich ja vor Tieren kaum retten!» Sir Augustus kam wieder auf die Füße. Er sah aus wie Horatio, als ihm der Geist erschienen war. «Mylord, ich glaube, die Zeugin hat zur Genüge bewiesen, daß es sich bei diesem Elefanten um ein großes, bösartiges, ungezähmtes und unzähmbares Tier handelt, dem noch
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der natürliche Instinkt des wilden Tieres und die Lust des Tötens innewohnt.» «Blödsinn!» rief Adrian laut. «Halten Sie bloß den Mund», sagte Sir Magnus, der kurz aufgewacht war. «Wenn Sie so schreien, richten Sie mehr Schaden als Nutzen an. Überlassen Sie die alte Kuh mir.» Sir Augustus hatte Adrians Ausbruch mit peinlicher Höflichkeit überhört. «Mylord», sagte er jetzt, «ich denke, ich habe es Ihnen und den Herren Geschworenen bewiesen, daß der Mann, in dessen Obhut sich dieses wilde Tier befand – Adrian Rookwhistle – , es zweimal zuließ, daß der Elefant ausbrach und wild wurde. Es ist außerordentlich bemerkenswert, und wir haben der gütigen Vorsehung in der Tat dafür zu danken, daß niemand dabei ums Leben kam.» Befriedigt nahm er wieder Platz, und langsam erhob sich Sir Magnus. Er lächelte Lady Fenneltree schelmisch zu, und seine Augenbrauen hoben und senkten sich fragend, als er jetzt sagte: «Lady Fenneltree, Sie haben uns rückhaltlos und wahrheitsgemäß von den Vorfällen am Abend des 28. April berichtet?» Lady Fenneltree warf ihm einen stechenden Blick zu. « Selbstverständlich», sagte sie. «Was Sie durchmachen mußten, war schrecklich, ja einfach grauenvoll», fuhr Sir Magnus vorsichtig fort. «Trotzdem aber legten Sie Mut und Entschlossenheit an den Tag – seit eh und je die Eigenschaften der echten Britin, um die uns die ganze Welt beneidet.» Hinten im Saal klatschte jemand in die Hände, wurde jedoch sofort zur Ordnung gerufen. «Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?» fauchte Adrian. Sir Magnus lächelte unbeirrt und zog die Schnupftabaksdose aus der Tasche. Als er den Blick des Richters auffing, steckte er sie wieder ein. «Nun sind da noch einige Kleinigkeiten, die Sie uns vorenthalten haben», fuhr er dann fort, «und wenn ich so sagen darf, so beweist das eine Bescheidenheit, die echt weiblich und in meinen Augen überaus reizvoll ist.» Lady Fenneltree neigte hoheitsvoll das Haupt. «Zum Beispiel», sagte Sir Magnus mit einem Blick auf die Geschworenen und machte eine weit ausholende Handbewegung, «haben Sie uns nichts über ihre Vorfahren verraten. Sie sind, wenn ich nicht irre, eine geborene Plumbdragon?» «So ist es», sagte Lady Fenneltree. «Lord Plumbdragon war mein Vater.» «Aha. Nun – die Plumbdragons und die Fenneltrees gehören doch seit etwa vierhundert Jahren zum aristokratischen Rückgrat unseres Landes, nicht wahr?» «Ja», sagte Lady Fenneltree. Sir Magnus ließ seine Blicke langsam über die Geschworenen schweifen. «In all diesen Jahrhunderten herrschten die Plumbdragons und die Fenneltrees über weite Gebiete unseres Landes und nahmen sich der gewöhnlichen Sterblichen so treulich und gewissenhaft an, wie es ein Vater mit seinen Kindern tut. Stets waren sie ihren Untertanen der Inbegriff schlichter Bescheidenheit, wie sie uns Lady Fenneltree hier im Gerichtssaal bewies, ein Muster an Aufrichtigkeit, Fairness und vor allem an Wahrheitsliebe. Für mindere Erdenbürger wie Sie und mich gab es kein leuchtenderes Vorbild als die Geschlechter der Plumbdragons und der Fenneltrees. In grauer Vorzeit, als die Menschheit sich noch keiner so würdigen und hochherzigen Gerichtshöfe wie des unsrigen hier erfreute, wer war da unser Stecken und Stab, bei wem suchten wir, die einfachen Bürger, Rat und Hilfe, wer ließ uns Mitgefühl und aufrichtige Teilnahme angedeihen – die Eigenschaften, die unser Land erst zu dem gemacht haben, was es heute ist? Zu wem, frage ich, blickten wir jederzeit und unbeirrt auf? Zu den Plumbdragons und Fenneltrees dieser Welt.» Sir Augustus witterte Unrat, wußte aber nicht recht, wo er ihn suchen sollte. Er erhob
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sich und sagte: «Mylord, was der Herr Verteidiger sagt, ist zwar äußerst interessant, aber ich weiß offen gesagt nicht, was es mit unserem Fall zu tun hat.» «Mylord», sagte Sir Magnus, «ich weiß sehr wohl, daß mir die Verteidigung des Angeklagten obliegt. Trotzdem möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als habe eine Zeugin von mir harsche Worte zu fürchten – noch dazu eine Zeugin von jenen hervorragenden Eigenschaften, von denen ich soeben sprach.» «Aber Sir Magnus, Sie haben ja der Zeugin noch kaum irgendwelche Fragen gestellt», wandte der Richter ein. «Kein Mensch kann behaupten, Sie hätten sie unsanft behandelt.» «Es liegt mir daran, Mylord, daß auch die Herren Geschworenen über diesen Punkt beruhigt sind.» Sein Blick strich über die Jury wie die glühende Flamme eines Schneidbrenners. « Wir alle sind bestrebt, die Wahrheit zu finden, nicht wahr? Deshalb sind wir hier versammelt; und ich möchte noch einmal betonen, was wir alle wissen: daß aus dem Munde einer so edlen und schlichten Aristokratin nichts als die lautere Wahrheit kommen kann.» «Mein Gott, sie steht doch unter Eid», sagte der Richter leicht gereizt. «Das dürfte doch wohl genügen. Ich glaube, wir kämen schneller voran, wenn Sie, statt hier Vorträge zu halten, der Zeugin jetzt Ihre Fragen vorlegten, Sir Magnus – möglichst ohne dabei noch weitere Tiere zum Vorschein zu bringen.» «Ganz wie Sie wünschen, Mylord.» Sir Magnus wandte sich um und lächelte Lady Fenneltree geradezu zärtlich an. «Ihre Erinnerung an den Abend des 28. April scheint bemerkenswert klar zu sein», sagte er. «O ja – vollkommen klar», gab Lady Fenneltree zur Antwort. «Sie werden mir die Frage verzeihen», fuhr Sir Magnus fort. «Für eine empfindsame und gesittete Frau muß der Vorfall außerordentlich schrecklich gewesen sein; es wäre also verständlich, wenn Ihr Erinnerungsvermögen Sie in einigen Punkten im Stich ließe.» «Sir Magnus», sagte Lady Fenneltree spitz, «es steht dahin, ob ich alle die Eigenschaften besitze, von denen Sie sprachen. Eine jedenfalls besitze ich, und sie läßt mich niemals im Stich. Ich habe eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe.» «So ausgezeichnet», sagte Sir Magnus halblaut vor sich hin, «daß es Ihnen entging, daß in Ihren Ställen ein Elefant residierte.» Lady Fenneltree blickte ihn giftig an und sagte bissig: «Ich pflege meine Tage nicht in den Ställen zu verbringen. Außerdem hatte mir mein Mann verschwiegen, daß er dort einen Elefanten versteckt hielt.» «Ah ja, natürlich», sagte Sir Magnus nachsichtig. «So etwas kann jeder einmal übersehen, nicht wahr?» Er blickte die Geschworenen an, als erhoffe er von ihnen Verständnis für Lady Fenneltrees Versagen, und fuhr dann fort: «Kehren wir zurück zum Abend des 28. April. Sie sagten, der Elefant schlitterte in den Ballsaal, warf die Tische mit den Speisen und Getränken um, tobte dann herum und suchte, wie Sie sagten, nach jemandem, den er verschlingen könne. Ihre Erinnerung an diesen Teil der Geschichte ist doch ganz klar, nicht wahr?» «Völlig klar», sagte Lady Fenneltree mißtrauisch. «Später, sagten Sie, seien Sie wieder zu sich gekommen und hätten gerade noch gesehen, wie der Elefant vorsätzlich versuchte, Sir Hubert umzubringen?» «Ja.» «Sie hatten den Eindruck, dies sei ein durch nichts gerechtfertigter Angriff von einem zügellosen und gefährlichen wilden Tier?» «Ja.»
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«Sie hatten gerade selber ein schlimmes Erlebnis mit dem Elefanten gehabt, der sie hoch in die Luft gehoben hatte, und Sie wurden daraufhin ohnmächtig, was bei einer Dame natürlich durchaus verständlich ist. Als Sie wieder zu sich kamen, ruhte also Ihr Kopf auf einem Lachs?» «Ja», sagte Lady Fenneltree. «Haben Sie Schwellungen oder Abschürfungen von diesem kurzen Zusammenstoß davongetragen?» «Nein. Ich kann das nur darauf zurückführen, daß das Tier mich Gott sei Dank nicht weiter belästigte und sich statt dessen auf Sir Hubert stürzte.» «Unersättlich scheint er also nicht zu sein, der Elefant», sagte Sir Magnus. «Sonst hätte er wohl das eine Opfer erst erledigt, bevor er sich dem nächsten zuwandte, nicht wahr?» «Nun, so war es jedenfalls», sagte Lady Fenneltree. Sir Magnus seufzte, zog gedankenlos die Schnupftabaksdose aus der Tasche, führte sich Tabak in die Nase und nieste. «Sir Magnus», sagte der Richter, «ich hoffe, ich brauche Sie nicht noch einmal zu ermahnen.» «Ich bitte um Verzeihung, Mylord», sagte Sir Magnus. «Meine Erregung hat mich übermannt. Es widerstrebt mir aufs äußerste, Lady Fenneltree der Vernehmung im Zeugenstand aussetzen zu müssen. Für eine wahrheitsliebende und gesetzestreue Frau wie sie muß das ein entwürdigendes Erlebnis sein.» Er klappte die Tabaksdose zu, steckte sie in die Tasche und wandte sich wieder Lady Fenneltree zu. Eine leichte Veränderung war mit ihm vorgegangen; er war jetzt aufmerksam und quicklebendig wie ein kleiner, lebhafter Terrier vor dem Karnickelbau. «Wir haben also festgestellt, nicht wahr, Lady Fenneltree, daß Sie ungewöhnlich gut beobachten und daß Ihre Erinnerung an den fraglichen Abend völlig klar ist. Und selbstverständlich ist Ihre Aufrichtigkeit über jeden Zweifel erhaben.» Er warf einen kurzen, ermunternden Blick auf die Geschworenen, die alle unwillkürlich nickten. «Ich brauche Sie deshalb nicht mehr lange aufzuhalten», fuhr er fort. «Ich habe nur noch eine Kleinigkeit und wäre Ihnen wegen der Herren Geschworenen dankbar, wenn wir das noch aufklären könnten.» Er hielt inne und blickte auf seine Notizen. Jeder Anwesende, auch Lady Fenneltree, war sich darüber klar, daß er darin nicht las. Die Pause machte er nur um der Wirkung willen: sie war eine weit offene Falle. Lady Fenneltree wußte, sie wurde da in irgend etwas hineinmanövriert… ihre aristokratische Nase witterte Gefahren, aber sie wußte nicht, aus welcher Richtung sie kommen würden. Endlich blickte Sir Magnus auf und hob mit entwaffnend liebreizendem Lächeln die schneeweißen Brauen. «Sie sagten, der Elefant sei den Ballsaal entlang geschlittert, geradewegs in das kalte Büfett hinein?» fragte er. «Das habe ich bereits gesagt», gab Lady Fenneltree zur Antwort. Sir Magnus blätterte in seinen Notizen und fragte dann: «Und dann tobte er herum?» «Ja.» «Und auf dieser Bahn der Vernichtung riß er auch den Kronleuchter herunter?» «Ja.» «Der Ballsaal in Ihrem Haus ist doch sicher ziemlich groß?» fragte Sir Magnus. «Ja, sehr groß. Es ist ein prachtvoller Raum», sagte Lady Fenneltree. «Und soviel ich weiß, hat er an dem einen Ende einen kleinen Balkon?» «Ja, dort saßen die Musiker», erwiderte Lady Fenneltree.
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«Dann darf man also annehmen», sagte Sir Magnus seidenglatt, «daß in einem so prächtigen Saal die Decke sehr hoch ist.» «Ich glaube, unser Ballsaal ist fünfzig Fuß hoch», gab Lady Fenneltree selbstgefällig zur Antwort. «Und haben Sie schon einmal einen Elefantenrüssel gemessen?» fragte Sir Magnus. Das Schweigen, das darauf folgte, war fast zu hören. Außer dem Richter und den Geschworenen erkannte plötzlich jeder im Saal den Weg, den Sir Magnus eingeschlagen hatte. «Ich hatte selten Gelegenheit, Elefantenrüssel zu messen», sagte Lady Fenneltree würdevoll. «Diese seltene Gelegenheit hat sich mir in den letzten zehn Tagen geboten», sagte Sir Magnus, «und ich habe durch Versuche festgestellt, daß es für einen noch so bösartigen Elefanten ganz unmöglich ist, einen Kronleuchter zu erreichen und herunterzureißen, der in einer Höhe von fünfzig Fuß über ihm hängt.» Er schwieg und zog seine Perücke zurecht. Dann sagte er halblaut und voller Teilnahme: «Lady Fenneltree, Sie haben Fürchterliches durchgemacht. Es ist nur allzu verständlich, daß einer Frau von so zarten Anlagen wie den Ihren unter solchen Umständen ein derartiger Irrtum unterläuft.» Der plötzliche Übergang im Ton von Härte zu teilnehmender Milde verwirrte Lady Fenneltree. Sie ging in die ihr gestellte Falle und sagte mit geneigtem Kopf: «In diesem einen Punkt könnte ich mich geirrt haben.» «Wie überaus bedauerlich», erwiderte Sir Magnus geschmeidig, «denn wie Sie selbst sagten, haben Sie eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. In diesem einen Punkt jedoch – und wer verstünde das nicht! – haben Sie sich geirrt. Der Rest ihres Berichts entspricht hingegen völlig der Wahrheit, und niemals würde ich mir erlauben, am Wort einer Dame zu zweifeln.» Er verbeugte sich leicht und nahm wieder Platz. «Was zum Teufel soll das heißen?» fragte Adrian. «Ich begreife nicht, was das mit unserem Fall zu tun hat.» Sir Magnus warf ihm unter den dichten Augenbrauen einen frostigen Blick zu. «Sehen Sie sich doch die Geschworenen an», sagte er kurz. Adrian blickte hinüber und sah, daß die zwölf Gesichter Lady Fenneltree gierig anstarrten. Da vor ihnen saß eine Frau, eine Aristokratin, eine Person, die nach allen Regeln und Anschauungen unfehlbar sein mußte, und durch irgendeinen Zaubertrick hatte Sir Magnus erreicht, daß die Unfehlbarkeit von ihr abfiel und sie sich in nichts mehr von ihren Nachbarn unterschied. Daß dieser Gedanke in allen zwölf Gehirnen wie Hefe aufging, konnte man sehen. Adrian war erstarrt. «Hören Sie», flüsterte er. «Es ist aber doch wahr, Rosy hat den Kronleuchter heruntergebracht!» Sir Magnus holte seine Tabaksdose heraus, öffnete sie vorsichtig und blickte dann Adrian an. «Sie müssen Ihre Worte mit Bedacht wählen», sagte er gelassen. «Das eben hat Lady Fenneltree nicht getan. Ja, Rosy hat den Kronleuchter heruntergebracht, aber sie hat ihn nicht heruntergerissen.» «Ich verstehe nicht, wo da der Unterschied liegt», sagte Adrian. «Reden Sie nicht soviel», sagte Sir Magnus. «Der Kronleuchter interessiert mich gar nicht. Mir lag einzig und allein daran, die gehässige alte Kuh, wie Sie sie sehr richtig nannten, in ein zweifelhaftes Licht zu stellen.»
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Lady Fenneltree verließ jetzt den Zeugenstand und warf einen letzten bösen Blick auf Sir Magnus. Dann erhob sich Sir Augustus. «Mein nächster Zeuge ist Lord Fenneltree», sagte er mit stiller Verzweiflung in den Zügen. Lord Fenneltree schlenderte sorglos-liebenswürdig herein und trat in den Zeugenstand, als beträte er seinen altvertrauten Klub. Er strahlte über das ganze Gesicht, winkte Adrian zu, klemmte sich sorgfältig das Monokel ins Auge und leistete den Eid. Nachdem Sir Augustus in seiner Einleitung jeden Zweifel über die Identität des Zeugen beseitigt hatte, räusperte er sich und blickte ihn gefühlvoll an. «Lord Fenneltree, am 21. April trafen Sie den Angeklagten, Adrian Rookwhistle, auf einem Wege nicht weit von Ihrem Hause.» «Vollkommen richtig, mein Lieber», sagte Lord Fenneltree und nickte. « Sie schlugen ihm vor, er und sein Elefant sollten eine Weile in Fenneltree Hall Wohnung nehmen, damit der Elefant an den Geburtstagsfeierlichkeiten für Ihre Tochter teilnehmen könne.» «Ja», sagte Lord Fenneltree. «Das Wesentliche haben Sie erfaßt. Ja.» «Lord Fenneltree», sagte Sir Augustus mit der Miene eines Mannes, der seinen Zeugen gründlich vorbereitet hatte, «es stimmt doch, daß der Angeklagte Ihnen niemals zu verstehen gegeben hat, der fragliche Elefant könne eine Gefahr für Leben und Eigentum bedeuten?» «Nein», sagte Lord Fenneltree nachdenklich, «gesagt hat er das eigentlich nicht, das stimmt. Aber warum sollte er es auch sagen?» «Lord Fenneltree», fiel Sir Augustus hastig ein, «ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nur mit Ja oder Nein auf meine Fragen antworteten. Eine ausführlichere Erwiderung könnte die Geschworenen nur verwirren.» Hier öffnete Sir Magnus ein Auge und gab einen kurzen verächtlichen Grunzer von sich. «Als Sie den Elefanten in den Ballsaal hineinführten, was passierte da?» fragte Sir Augustus. Lord Fenneltree schwieg. «Aber ich bitte Sie, Sir», sagte Sir Augustus mit leichter Schärfe, «Sie werden doch noch wissen, was passiert ist, als Sie den Elefanten in den Ballsaal führten?» Lord Fenneltree sah den Richter hilflos an. «Es ist sehr schwierig, so eine Frage entweder mit Ja oder Nein zu beantworten. Kann ich nicht ein anderes Wort benutzen?» «Aber gewiß doch», sagte der Richter. «Darf ich vielleicht die Frage wiederholen», sagte Sir Augustus. «Was geschah, als Sie den Elefanten in den Ballsaal führten?» «Chaos», sagte Lord Fenneltree und lächelte vergnügt. «Bitte, was verstehen Sie unter Chaos?» «Ach, eigentlich alles, was einem so einfällt», sagte der Lord. «Sie warf sämtliche Tische um, der Kronleuchter fiel herunter, sie tanzte einen Walzer mit meiner Frau – übrigens sehr reizend – , und dann nahm sie den alten Darcey und feuerte ihn auf den Boden. Glauben Sie mir: hätte meine Frau sich nicht so entrüstet, so wäre die ganze Sache ein prächtiges Vergnügen gewesen.» Sir Augustus wandte sich an den Richter. «Mylord», sagte er, «ich denke, ich habe jetzt bewiesen, daß dieser Elefant ein wildes und ungezähmtes Tier ist und daß Adrian Rookwhistle das auch wußte. Und daß er ihn ohne Rücksicht auf Personen und Eigentum ständig durch das Land streifen ließ.» Er warf Sir Magnus einen leicht besorgten Blick zu und fragte: «Hat mein Herr Kollege noch Fragen an den Zeugen?»
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«Nein», erwiderte Sir Magnus und winkte großartig ab, «im Augenblick habe ich keine Fragen mehr. Ich möchte mir jedoch vorbehalten, diesen Zeugen später noch einmal ins Kreuzverhör zu nehmen.» Sir Augustus sprang auf. «Einspruch, Mylord!» rief er. «Das wäre ein Verstoß.» «Es ist tatsächlich etwas ungewöhnlich, Sir Magnus»,sagte der Richter. «Ja, Mylord, das weiß ich wohl», gab Sir Magnus zu. «Ich glaube jedoch, wenn Sie meine anderen Zeugen angehört haben, werden Sie einsehen, daß Lord Fenneltree auch zu unserer Seite des Falles noch einiges beizutragen hat.» «Na schön», sagte der Richter. «Dies eine Mal. Und jetzt möchte ich vorschlagen, daß wir die Verhandlung unterbrechen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe jetzt Hunger. Wir vertagen bis zwei Uhr.» Sir Magnus beugte sich ein wenig vor und sagte: «Mylord, die Verpflegung im Gefängnis ist nicht gerade die ideale Kost für einen Feinschmecker. Darf ich Sie deshalb ergebenst bitten, meinem Klienten zu erlauben, daß er mit mir zum Essen kommt?» «Sie verlangen wirklich recht ungewöhnliche Dinge, Sir Magnus», sagte der Richter streng. «Nun, es kann ja wohl nichts schaden, also meinetwegen. Nur bringen Sie ihn sicher zurück.» «Ich danke Ihnen sehr, Mylord.» Alle Anwesenden erhoben sich, der Richter kletterte aus seinem hohen Stuhl und verschwand durch die Tür in seinem Arbeitszimmer. «Nun, mein lieber Junge, das war ein sehr erfolgreicher Morgen», sagte Sir Magnus und führte sich einen Teelöffel voll Schnupftabak in die Nase, worauf er laut und kräftig nieste. «Kommen Sie, jetzt gehen wir essen.» «Ich verstehe gar nicht, warum Sie so zufrieden sind», sagte Adrian. «Soweit ich sehe, hat jeder heute morgen nichts als Unsinn geredet, und der Fall ist dadurch nicht weitergekommen. Und der Staatsanwalt hat ganz eindeutig gelogen.» «Mein lieber Junge, Sie sind ein Unschuldslamm», sagte Sir Magnus. «Warten Sie nur bis heute nachmittag, dann sind wir dran mit Lügen.»
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Das Urteil Sie gingen quer über die Straße in eine kleine Wirtschaft mit schweren dunklen Deckenbalken, wo sie ein reichliches Mahl zu sich nahmen, das von mehreren Flaschen Bier eingeleitet wurde. Es folgten braunknusprige Lammkoteletts, die um den Knochen ein Ballettröckchen aus Papier trugen, grüne Spargelspitzen in Butter, sahniges Kartoffelpüree und reichlich zarte Erbsen. Dann gab es Kirschtorte und eine Käseplatte mit so reifen Käsesorten, daß man sie schon ahnte, bevor sie hereingebracht wurde. «Warum haben Sie gesagt, daß Sie Lord Fenneltree noch einmal befragen wollten?» fragte Adrian gegen Ende des Mahls. Sir Magnus placierte ein grüngoldenes Stück Stilton auf einem Bröckchen Brot und schob es sich in den Mund. «Weil ich annehme, er ist als Zeuge nützlicher für die Verteidigung als für die Anklage», sagte er kauend. «Er ist aber doch ein Belastungszeuge», wandte Adrian ein. «Das bildet er sich ein», verbesserte ihn Sir Magnus. «Und das glaubt auch der Staatsanwalt, aber ich sage Ihnen, wenn irgendeiner diese Sache für Sie gewinnt, dann ist es er.» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «So – schnell noch ein Glas Bier, dann müssen wir wieder hinüber.» Nach der Pause rief Sir Augustus Mr. Clattercup in den Zeugenstand. Es war keine sehr glückliche Wahl, denn Clattercup dürstete nach Adrians und Rosys Blut; er hatte keinen anderen Wunsch, als beide verurteilt zu sehen, ohne Rücksicht auf Kosten und Mittel. Aber trotz allem waren die Geschworenen doch stark beeindruckt von seinem enormen Gipsbein und den beiden Krücken, mit denen er in den Saal humpelte. Zwei Polizisten mußten ihm in den Zeugenstand und wieder heraus helfen. Als Mr. Clattercup seine Aussage beendet und unter lautem Stampfen den Gerichtssaal verlassen hatte, erhob sich Sir Augustus und strich seinen Talar glatt. Nachdenklich, fast liebevoll zog er den Bücherstapel auf dem Tisch etwas näher heran und ließ die Hand darauf ruhen. «Mylord», begann er, «ich denke, diese Aussagen haben genügt, um Ihnen zu beweisen, daß wir es hier, wie ich eingangs sagte, mit einem sehr ungewöhnlichen Fall zu tun haben.» «Ja », sagte der Richter, der jetzt nach dem Essen rosig angehaucht und wohlwollend aussah. «Er wäre auch ungewöhnlich, wenn nicht so viele Tiere darin vorkämen.» «Bevor die Verteidigung das Wort ergreift – wenn sie überhaupt noch das Wort ergreifen will – , möchte ich hier einen oder zwei Parallelfälle anführen, die ich gefunden habe.» Sir Augustus öffnete einen der großen Folianten, die vor ihm lagen, und fuhr langsam mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang. «Hier haben wir zum Beispiel», sagte Sir Augustus, «den Fall der Krone gegen Pigwhistle aus dem Jahre 1884, wo der Angeklagte ein starkes Arbeitspferd in seiner Obhut hatte und das Pferd nicht nur den Hut, sondern dazu auch die Perücke einer älteren Dame fraß. Der Richter entschied in diesem Verfahren, daß der Angeklagte die geradezu morbide Neigung des Pferdes zu Blumen sehr wohl kannte und deshalb an dem Vorfall schuld war, da er zugelassen hatte, daß der Gaul sich der Dame auf Reichweite näherte. Das scheint mir eine sehr gute Parallele zu dem Fall zu sein, mit dem wir uns heute beschäftigen.» «Ja – ganz gut, ganz gut», sagte der Richter. «Aber wenn nun der Mann das Pferd unter Kontrolle hatte und die Frau von sich aus zu nahe an das Pferd herantrat, was dann?» «Gewiß», sagte Sir Augustus beflissen. «Ich glaube, ich habe hier noch einen besseren Fall – das Verfahren der Krone gegen Clutchpenny, 1894. Dort hatte der Angeklagte einen kräftigen Bullen…» Der Richter unterbrach ihn. «Wäre es nicht vielleicht möglich, Parallelfälle zu finden,
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die keine Tiere aufweisen? Es ist einigermaßen verwirrend, sich zwischen Lachsen und Pferden und Bullen und Elefanten zurechtzufinden.» Sir Augustus schluckte. «Leider, Mylord, ist es nicht ganz einfach, Parallelfälle zu finden, in denen keinerlei Tiere vorkommen.» «Ich habe nie gewußt, daß unser ganzes Rechtssystem mit Tieren aus Wald und Feld durchsetzt ist», sagte der Richter verärgert. «Bitte, fahren Sie fort.» Sir Augustus las weiter. Eine Viertelstunde lang zitierte er aus den dicken Büchern, die vor ihm lagen, Präzedenz- und Parallelfälle, von denen kein einziger, wie Adrian fand, mit seinem Fall das mindeste zu tun hatte. Endlich schlug Sir Augustus zögernd und fast widerwillig den letzten Band zu. «Ich bin sicher, Mylord», sagte er aufatmend, «daß wir damit die letzten Zweifel beseitigt haben, die bisher vielleicht den Herren Geschworenen noch zu schaffen machten.» «Ich wäre glücklich, wenn die Herren Geschworenen alles verstanden hätten. Doch bevor Sie wieder Platz nehmen, Sir Augustus, erklären Sie mir doch bitte noch einmal, wie sich das mit dem Mann und der Pythonschlange verhielt.» «Ich glaube, ich habe keine Chance mehr», sagte Adrian zu Sir Magnus. Das massenhafte Beweismaterial, das Sir Augustus vorgelegt hatte, schien ihm keinen Zweifel daran zu lassen, daß seine Sache verloren war. Sir Magnus öffnete das eine Auge, blinzelte Adrian zu und sagte: «Vergessen Sie ja nicht: Bücher sind wie Werkzeug. Alles hängt davon ab, wie man sie benutzt. Man kann sich mit dem Hammer auch auf den Finger schlagen.» Er beugte sich vor und tätschelte etwas, was Adrian bisher nicht gesehen hatte. Unter Sir Magnus’ Tisch stand ein mächtiger Lederkoffer. Er mußte in der Pause Screech danach ausgeschickt haben. Adrian hatte keine Ahnung, was darin war. «Ach, der liebe, alte Gussy», sagte Sir Magnus zufrieden und stapelte seine Notizen vor sich auf, als sei er im Begriff, Spielkarten auszuteilen. «Er hatte von vornherein keine Chance.» «Keine Chance…?» fragte Adrian. «Wieso – seine Argumente waren doch nicht zu widerlegen. Wir können nicht leugnen, daß Rosy das alles angerichtet hat, nicht wahr? Ich meine, sie hat es natürlich alles nicht gewollt, aber immerhin, getan hat sie es doch.» «Abwarten», sagte Sir Magnus und erhob sich zu seiner vollen Höhe. Er verbeugte sich gegen den Richter hin und lächelte den Geschworenen liebenswürdig zu. Dann sagte er: «Mylord, mein Herr Kollege hat bereits zutreffend festgestellt, daß wir hier einen ungewöhnlichen Fall vor uns haben.» Er hielt inne, zog den großen Koffer unter dem Tisch hervor, öffnete ihn und entnahm im langsam und vorsichtig etwa ein Dutzend mächtige Folianten, die er lächelnd Stück für Stück wie einen Festungswall auf dem Tisch vor sich aufbaute. «Alle diese Bücher», sagte er und tätschelte den Stapel liebevoll wie einen Pferdehals, «enthalten Präzedenzfälle, die eindeutig beweisen, daß mein Mandant nicht schuldig ist. Da aber seine Unschuld den Herren Geschworenen längst völlig klar ist, brauche ich Sie mit all diesen Einzelheiten nicht zu ermüden.» Er nahm die Bücher und legte sie Stück für Stück in den Koffer zurück. Die Geschworenen waren tief beeindruckt. «Meine Herren Geschworenen», fuhr er dann fort, «vor Ihnen steht der Angeklagte Adrian Rookwhistle. Es dürfte jedermann klar sein, daß er ein gerader, ehrlicher, aufrechter junger Mann ist – ein junger Mann mit der einen Eigenschaft, die wir alle bewundern und die so wenige von uns besitzen. Er hat Mut. Wer von Ihnen allen, meine Herren, wäre freiwillig bereit, sich in die tobende
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See zu stürzen, um eine stumme Kreatur zu retten? Ich sagte bereits: die Unschuld meines Klienten liegt auf der Hand. Das wissen Sie, und das weiß auch ich. Sie wissen auch ohne Zweifel, worum es hier geht und was wir zu entscheiden haben: ob der fragliche Elefant tatsächlich das wilde, ungezähmte und zügellose Tier ist, als das man ihn hingestellt hat. Hierzu möchte ich einige Zeugen aufrufen, um Ihnen über diesen Punkt Klarheit zu verschaffen. Mr. Pucklehammer, bitte!» Mr. Pucklehammer betrat den Zeugenstand, lächelte Adrian zu und machte ihm Zeichen der Ermutigung; dann leistete er den Eid und wandte sich aufmerksam Sir Magnus zu. «Mr. Pucklehammer», begann Sir Magnus, «soviel ich weiß, waren Sie mit dem Angeklagten zusammen an dem Tag, als der Elefant bei ihm abgeliefert wurde.» «Ja, das stimmt», sagte Mr. Pucklehammer. «Er hat ihn zu mir in den Hof meiner Werkstatt gebracht.» «In den Hof?» fragte Sir Magnus. «Wollen Sie uns sagen, welchen Beruf Sie ausüben?» «Ich bin Sargmacher und Tischler», sagte Mr. Pucklehammer. «Aha. In Ihrem Hof befinden sich also vermutlich die verschiedensten accoutrements Ihres Handwerks, nicht wahr?» «Wie bitte?» sagte Mr. Pucklehammer. «War Ihr Hof angefüllt mit Särgen und ähnlichen Gegenständen der Tischlerei?» fragte Sir Magnus. «Ja». «Ich habe mir oft überlegt», sagte der Richter nachdenklich, «wie eigentlich so ein Sarg hergestellt wird.» «Ich bin ganz sicher, Mylord», sagte Sir Magnus liebenswürdig, «daß der Zeuge nach Schluß der Verhandlungen gern bereit ist, für Sie speziell einen Sarg zusammenzuzimmern, um das zu demonstrieren.» «Zu liebenswürdig», sagte der Richter. «Sie sagten also», fuhr Sir Magnus fort, «Rosy wurde zu Ihnen in den Hof gebracht. Während sie nun bei Ihnen war – ich glaube, sie blieb zwei Tage, nicht wahr? –: welche Attitüde hat sie da eingenommen, können Sie uns das sagen?» «Meistens Brot», sagte Mr. Pucklehammer. «Aber dann fanden wir heraus, daß sie auch Gemüse gern aß.» «Nein, nein, das meine ich nicht», sagte Sir Magnus. «Ich meine, was für ein Betragen hat sie an den Tag gelegt?» «Sie war wundervoll», sagte Mr. Pucklehammer begeistert. «Sie ist ein ganz reizendes Tierchen.» «Sie hat Ihnen also keinerlei Kummer bereitet, als sie bei Ihnen im Hof war?» «Nicht den geringsten», sagte Mr. Pucklehammer. «Sie war ein Goldstück. Und dazu so hilfsbereit. Sie hat auch den Wagen mit gewaschen.» «Wieso mit gewaschen?» fragte der Richter dazwischen. «Wir haben den Wagen gewaschen, wissen Sie, und da hat Rosy ihn zum Abspülen mit Wasser bespritzt.» «Erstaunlich», sagte der Richter. «Ist Ihnen jemals ein Elefant begegnet, Sir Magnus, der einen Wagen waschen konnte?» «Nein, Mylord, niemals», sagte Sir Magnus freundlich. «Aber ich glaube, Elefanten sind überaus gelehrige Tiere.» «Erstaunlich», sagte der Richter. «Bitte, fahren Sie fort.» «Sie hat also in den zwei Tagen, die sie bei Ihnen verbrachte, weder Ihnen noch Ihrem Eigentum irgendwelchen Schaden zugefügt?»
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«Nicht den geringsten», sagte Mr. Pucklehammer entschieden. «Ich sagte Ihnen ja, Rosy ist schüchtern wie ein Mäuschen. Sie würde niemals absichtlich jemanden etwas zuleide tun.» «Ich danke Ihnen », sagte Sir Magnus und warf Sir Augustus einen fragenden Blick zu, aber der Staatsanwalt, der von der Pucklehammer-Episode gar nichts geahnt hatte, wußte jetzt nicht, wie er den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen sollte, und schüttelte deshalb nur trübsinnig den Kopf. «Als nächste Zeugin bitte ich Emily Nelly Delilah Trickletrot», sagte Sir Magnus laut. «Wer ist denn das, um Gottes willen?» fragte Adrian leise. «Die Schwarze Nelly», gab Sir Magnus zurück. Die Schwarze Nelly, die aussah wie ein munterer, aber etwas mottenzerfressener kleiner Vogel, kam herein, kletterte in den Zeugenstand und spähte mit einiger Mühe über den Rand. Sir Magnus begann mit dem Verhör. «Sie trafen den Angeklagten Rookwhistle mit seinem Elefanten, als Sie zum Jahrmarkt von Tuttlepenny unterwegs waren, nicht wahr?» «Stimmt», sagte die Schwarze Nelly fröhlich. «Und Sie sind von Beruf Wahrsagerin?» fragte Sir Magnus. «Hexe bin ich», gab die Schwarze Nelly zurück. Erstauntes Rascheln wurde im Saal hörbar. Die Geschworenen blickten voller Spannung auf die Schwarze Nelly. «Hexe?» fragte der Richter. «Jawohl, Hohes Gericht», sagte die Schwarze Nelly unbeirrt. «Ich betreibe weiße Magie, und mein Name ist Schwarze Nelly.» «Ich finde das äußerst verwirrend», sagte der Richter zu Sir Magnus. «Könnten Sie es vielleicht etwas erhellen?» «Gewiß Mylord. Wir wissen, es gibt zwei Arten von Hexen. Die schwarzen tun Böses oder stehen doch im Ruf, Böses zu tun, und die weißen tun Gutes. Die Zeugin gehört zu den weißen Hexen, und zu ihrem Beruf gehört auch die Wahrsagerei.» «Benutzen Sie dabei eine Kristallkugel?» fragte der Richter gespannt. «Ja, zuweilen, aber nicht immer», sagte die Schwarze Nelly. «Ich hatte auch mal eine», sagte der Richter verträumt. «Aber mir hat sich darin nie etwas gezeigt.» «Das ist eine Frage der Konzentration», belehrte ihn die Schwarze Nelly. «Versuchen Sie es doch mal mit einem Diamantring.» «Mit einem Diamantring? Tatsächlich?» fragte der Richter. «Das sollte man einmal ausprobieren.» «Darf ich fortfahren, Mylord?» fragte Sir Magnus nachsichtig. «Aber ja, bitte. Selbstverständlich», sagte der Richter. «Als Sie nun den Angeklagten und seinen Elefanten trafen, was passierte da?» «Ich schlief gerade», erzählte die Schwarze Nelly. «Und auf einmal fing mein Wagen an zu wackeln.» «Mir scheint, wir bekommen jetzt reichlich viele Vehikel in den Fall», sagte der Richter klagend. «Dieser Wagen ist doch bisher noch nicht vorgekommen, oder?» «Nein», gab Sir Magnus zu. «Der Wagen gehört der Zeugin, Mylord.» «Und warum hat er gewackelt?» fragte der Richter. «Weil der Elefant sein Fell daran schubberte», sagte die Schwarze Nelly. «Schubbern sich denn Elefanten an Wagen?» erkundigte sich der Richter bei Sir Magnus.
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«Ja, Mylord. Alle Dickhäuter neigen dazu, geringe Hautreizungen durch Reiben an einer rauhen Fläche zu lindern, wenn sie eine solche finden», gab Sir Magnus zur Antwort. «Nun, wir lernen bei diesem Fall wirklich eine Menge über Elefanten», sagte der Richter befriedigt. «Bitte, fahren Sie fort.» «Als Sie dann aus Ihrem Wagen herauskamen, hat der Elefant Sie da angegriffen?» fragte Sir Magnus. «Gott behüte», sagte die Schwarze Nelly. «Der kann ja keiner Fliege was zuleide tun. Wir haben dann alle zusammen gefrühstückt.» «Er hat also weder Ihren Wagen beschädigt, noch hat er versucht, Ihnen etwas anzutun?» fragte Sir Magnus. «Nein, ganz gewiß nicht. Er ist ja zahm wie ein Kaninchen.» «Ich danke Ihnen», sagte Sir Magnus und blickte wieder fragend zu Sir Augustus hinüber. Aber Sir Augustus hatte das Gefühl, er werde sich hier in einen Wirrwarr von weitschweifigen Einzelheiten über Hexenkunst verstricken, und verzichtete auch diesmal auf das Kreuzverhör. «Ich bitte jetzt Mr. Peregrine Filigree», sagte Sir Magnus. Mr. Filigree schwebte mit strahlendem Lächeln herein, zwängte sich mit einiger Mühe in den Zeugenstand und winkte Adrian mit seinen dicken Händen zu. «Hallo, Adrian!» rief er. «Nun, wie geht’s?» Der Richter sah ihn streng an und sagte: «Mr. Filigree, ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie sich auf Ihre Zeugenaussagen beschränken und nicht mit dem Angeklagten zu plaudern anfingen.» «Oh, ich bitte um Entschuldigung, Mylord», sagte Mr. Filigree verschüchtert. Der Justizbeamte hielt ihm die Bibel zur Vereidigung hin. «Sie haben wohl nicht zufällig eine Gebetsmühle hier?» fragte Mr. Filigree. «Was ist denn das?» fragte der Richter. «Eine Gebetsmühle, Mylord, wird, soweit ich weiß, vielfach in Tibet und ähnlichen Orten benutzt, wo der Buddhismus die vorherrschende Religion ist», berichtete Sir Magnus. «Wieso brauchen Sie eine Gebetsmühle?» fragte der Richter. «Ich bin Buddhist», gab Mr. Filigree zur Antwort. «Also, Sir Magnus», sagte der Richter, «das scheint mir denn doch etwas zu viel verlangt, daß jetzt, zu so später Stunde, jemand auf die Suche nach einer Gebetsmühle gehen soll. Ich bin auch gar nicht sicher, daß es dem Gesetz entspräche.» Sir Magnus wandte sich an den Zeugen. «Mr. Filigree, würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, den Eid auf die Bibel zu leisten und so zu tun, als sei sie eine Gebetsmühle?» «Aber gern, wenn ich Ihnen damit helfen kann», sagte Mr. Filigree bereitwillig. «Nun», meinte der Richter, «dann können wir wohl fortfahren.» «Mr. Filigree», begann Sir Magnus, «am Abend des 29. April kamen der Angeklagte Adrian Rookwhistle und sein Elefant im Wirtshaus ‹Zum harfespielenden Einhorn› an – das ist die Wirtschaft, die Sie mit Ihrer Tochter betreiben, nicht wahr?» «Ja, das stimmt.» Mr. Filigree strahlte über das ganze Gesicht. « Es war eine ganz wundervolle Überraschung.» «Möchten Sie vielleicht dem Gericht mit Ihren eigenen Worten erzählen, was dann geschah.» «Ja, sehr gern», sagte Mr. Filigree. Er faltete die feisten Hände zum Gebet und blickte den Richter aus seinen runden Äuglein an. «Wissen Sie, ich hatte nämlich seit vielen Jahren keinen Elefanten gehabt.»
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«Würden Sie uns diese sonderbare Feststellung etwas näher erklären?» fragte der Richter. «Ja, gern», sagte Mr. Filigree. «Sehen Sie, ich hatte früher einmal hundertundeinen Elefanten; der beste war natürlich Poo-Ting. Aber das ist sehr lange her.» «Sir Magnus, habe ich recht verstanden, daß der Zeuge unter Eid aussagt, er habe früher hundertundeinen Elefanten besessen?» «Jawohl, Mylord.» «Sir Magnus, ich habe doch den Eindruck – bitte verbessern Sie mich, wenn ich mich irre – , daß der Angeklagte mit dem einen Elefanten schon erhebliche Schwierigkeiten gehabt hat. Wie ist es möglich, daß dieser Zeuge einhundertundeinen Elefanten halten konnte?» «Mylord, ich glaube, der Zeuge hielt diese Elefanten in Indien während einer früheren Inkarnation», sagte Sir Magnus höflich. «Aber darauf kommt es hier nicht eigentlich an. Ich habe diesen Zeugen nur berufen, weil er sehr viel Erfahrung mit Elefanten hat.» Der Richter war jetzt noch verwirrter als die Geschworenen. «Ja», sagte er. «Er ist dann wohl sozusagen Sachverständiger, nicht wahr?» «Genau das, Mylord. Sie haben recht.» Die Geschworenen flüsterten und tuschelten untereinander. Dann erhob sich der Obmann. «Verzeihung, Mylord», sagte er, «dürfen wir wohl in einem Punkt um eine Erklärung bitten?» «Gewiß doch», sagte der Richter unsicher. «Ich möchte auch noch einige Punkte aufgeklärt haben. Was möchten Sie wissen?» «Wir verstehen das nicht ganz… mit der Inkarnation.» «Eine verständliche Frage», sagte der Richter und blickte Sir Magnus erwartungsvoll an. «In einigen Teilen der Welt», hub Sir Magnus an, «wo die Menschen nicht dem Christentum, sondern dem Buddhismus anhängen, gehört es zu ihrem Glauben, daß jeder Mensch mehrere Leben lebt.» «Ja, das stimmt», sagte Mr. Filigree. «Wir haben daher großes Glück insofern, als es uns gelungen ist, Mr. Filigree in dieser Verhandlung als Zeugen zu hören. Ich möchte sogar noch weitergehen und behaupten, daß dies wahrscheinlich die ungewöhnlichste Aussage ist, die jemals vor einem Geschworenengericht gemacht wurde. Sie alle profitieren von Mr. Filigrees in vielen Jahren angesammelten Kenntnissen, und Sie haben es gehört, meine Herren Geschworenen, diese Kenntnisse stützen sich nicht auf eine flüchtige Bekanntschaft, nicht auf die Kenntnis eines einzelnen Dickhäuters, nein: der Zeuge besaß huntertundeinen Elefanten. Sie werden begreifen, daß ein Mann, der mit einhundertundeinem Elefanten Umgang gehabt hat, hervorragend geeignet ist, uns arme Sterbliche, die wir niemals einen einzigen Elefanten unser eigen nennen durften, in dieser Sache zu beraten.» Der Obmann hatte einigermaßen verblüfft zugehört. Er öffnete ein paarmal den Mund wie ein erschöpfter Goldfisch und nahm dann wortlos wieder Platz. «Mr. Filigree», sagte Sir Magnus, «ich habe soeben den Geschworenen dargelegt, daß Sie über besonders gute Kenntnisse in allen Dingen verfügen, die Elefanten betreffen. Ich möchte Sie jetzt bitten, dem Gericht zu erzählen, welchen Eindruck Sie von dem hier in Frage stehenden Elefanten Rosy hatten.» « Oh, Rosy – Rosy ist einer der süßesten und liebreizendsten Elefanten, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe», quiekte Mr. Filigree mit heller Stimme, wobei sein Gesicht immer roter wurde. «Sie ist wirklich hinreißend. Wenn sie überhaupt einen Fehler
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hat, so ist es nur eine Kleinigkeit – sie hat keine Stoßzähne.» «Wieso ist das ein Fehler?» fragte der Richter. «Weil man keine Löcher hineinbohren kann», gab Mr. Filigree zur Antwort. «Sir Magnus», sagte der Richter, «ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie Ihre Zeugen etwas im Zaum zu halten versuchten, Sie bringen dauernd Sachen vor, die mit dem Fall überhaupt nichts zu tun haben.» «Gewiß, Mylord. Ja», sagte Sir Magnus. «Ich wollte wirklich nichts Schlechtes über Rosy sagen», sagte Mr. Filigree ernsthaft und hob die Hand. «Sie würden sie also nicht bösartig bezeichnen?» setzte Sir Magnus die Vernehmung fort. «Bösartig!» rief Mr. Filigree und lief tiefrot an. «Rosy und bösartig! Ich habe selten einen so lieben und gutartigen Elefanten gekannt wie sie.» «Ich danke Ihnen», sagte Sir Magnus. «Wir wissen Ihre Aussage sehr zu schätzen, denn sie basiert auf einer ungewöhnlich reichen Erfahrung mit Elefanten.» Sir Augustus hätte auch hier lieber auf ein Kreuzverhör verzichtet. Da ihm aber nun schon zwei Zeugen durch die Finger geschlüpft waren, hielt er es für besser, nicht einfach zu resignieren. Er erhob sich, sah Mr. Filigree durchbohrend an und sagte mit schneidender Stimme: «Mr. Filigree – Sie müssen doch zugeben, daß Ihre Aussage für uns, sofern wir nicht an Reinkarnation glauben, völlig wertlos ist, nicht wahr?» «O nein, nein, durchaus nicht», flötete Mr. Filigree. «Sie können ja nichts dafür, wenn Sie nicht daran glauben. Sehen Sie, ich habe einen Beweis – einen ganz eindeutigen Beweis. Das ist meine Katze. Ich habe Adrian schon davon erzählt. Das ist wirklich ein sehr gutes Beispiel.» «Sir Augustus», sagte der Richter, «ich weiß nicht warum, aber jedesmal, wenn Sie einen Zeugen vernehmen, kommt irgendein neues Tier zum Vorschein. Ich finde das einigermaßen verwirrend.» «Ja, Mylord», sagte der Staatsanwalt, «ich habe aber hier nur klarzumachen versucht…» «Sie machen es keineswegs klar», sagte der Richter kurz. «Nun haben wir es glücklich auch noch mit einer Katze zu tun.» «Es war ein prachtvolles Tier», warf Mr. Filigree ein. «Sie hat mich sofort erkannt.» «Die Katze hat nicht das geringste mit dem Fall zu tun», sagte der Richter. «Sie weichen mit Ihrer Befragung viel zu weit ab, Sir Augustus.» «Wie Euer Lordschaft wünschen», sagte Sir Augustus mühsam beherrscht. «Ich habe keine weiteren Fragen.» Er setzte sich und warf finstere Blicke auf Sir Magnus, der sich mit geschlossenen Augen und glücklichem Lächeln in seinen Sitz zurücklehnte. «Der Zeuge kann gehen», sagte der Richter. Er blätterte in seinen Notizen und sah dann Sir Magnus an. «Wollen Sie noch weitere Zeugen aufrufen, Sir Magnus?» fragte er. «Ja, Mylord. Noch einige.» Der Richter sah auf seine Uhr. «Ich wäre Ihnen dankbar, wenn es etwas schneller ginge», sagte er. Die nächste Zeugin, die Sir Magnus aufrief, war Honoria, und Adrians Mut sank, als er ihren Namen hörte. Er hatte jedoch keinen Grund zur Sorge: sie war glänzend. Erst später erfuhr er, daß man ihren Auftritt den anderthalb Flaschen Gin verdankte, die sie sich vorher zugeführt hatte. Sie stand hoch aufgerichtet im Zeugenstand, der prachtvolle Busen bebte sichtbar in dem tiefen Ausschnitt, an dem sehnsuchtsvoll die Augen sämtlicher
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Geschworenen hingen. Sie gab sich abwechselnd tief seelenvoll und bebend erregt. Ihre Hymne auf Rosy und auf die Freundschaft mit Rosy war ein absolutes Meisterstück. Sie bebte am ganzen Körper, Tränenströme rannen ihr über die Wangen, als sie schilderte, wie allein durch ihre Schuld das Theater zerstört worden war, denn sie hatte Rosy den Gin gebracht. Als sie zum Schluß kam, war bei den Geschworenen kein Auge mehr trocken, und selbst der Richter schnaubte und schneuzte sich kräftig, bevor er Honoria entließ. Ihr folgte Ethelbert. Er bestätigte Honorias Aussage und fügte noch einige Schnörkel hinzu. Einmal wurde er verwarnt, weil er den Richter «lieber Junge» nannte; doch hatte niemand im Gericht Zweifel an seinem guten Willen und seiner Aufrichtigkeit. Sir Magnus hatte auch noch Samantha vernehmen wollen, doch da hatte sich Adrian widersetzt. Samantha im Zeugenstand, dem Kreuzfeuer von Sir Augustus ausgesetzt: das war undenkbar. Er hätte sich gar nicht zu sorgen brauchen, denn nach dem vergeblichen Versuch, Mr. Filigree ins Kreuzverhör zu nehmen, saß Sir Augustus zusammengesunken wie eine traurige Krähe auf seinem Platz und schüttelte jedesmal den Kopf, wenn man ihn fragte, ob er noch Fragen habe. Als Ethelbert den Zeugenstand verlassen hatte, erhob sich Sir Magnus und sagte: «Mylord, ich denke, jetzt wird das Bild, das wir vor uns sehen, allmählich klar, nicht wahr?» «Ja… Sie mögen recht haben, Sir Magnus», sagte der Richter zweifelnd. «Ich denke, es kann jetzt kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der fragliche Elefant zu den reizendsten und fügsamsten seiner Art gehört. Wo er einigen Schaden anrichtete, geschah das, soviel ist ganz klar, versehentlich, und ihn trifft dafür nicht die geringste Schuld, ebensowenig wie seinen Eigentümer.» «Nun, Sie mögen vielleicht glauben, diesen Punkt genügend erhärtet zu haben, Sir Magnus», sagte der Richter. «Ich bin da aber nicht Ihrer Ansicht.» «Sehr gut, Mylord», sagte Sir Magnus bereitwillig. «Dann möchte ich das Gericht noch um einen Augenblick Geduld bitten und Lord Fenneltree noch einmal aufrufen.» Wiederkam Lord Fenneltree freundlich lächelnd in den Saal geschlendert, trat in den Zeugenstand, polierte sein Monokel, klemmte es ins Auge und blickte sich zufrieden um. «Wie nett», sagte er. «Ich dachte nicht, daß ich noch einmal wiederkommen dürfte.» «Lord Fenneltree», begann Sir Magnus, «bitte rufen Sie sich noch einmal den Abend des 28. April ins Gedächtnis zurück. Das Fest zu Ehren des Geburtstags Ihrer Tochter.» «Ja, ja», sagte Lord Fenneltree. «Ich weiß schon. Ich erinnere mich ganz deutlich.» «Ihr Plan war es, zusammen mit dem Angeklagten auf dem Elefanten in den Ballsaal zu reiten, nicht wahr?» «Ja, so ist es», sagte der Lord. «Hat der Elefant vor diesem Abend irgendwelche bösartigen Eigenschaften an den Tag gelegt?» «Was – Rosy?» fragte der Lord. «Nein, selbstverständlich nicht. Großartiges Vieh.» Sir Magnus lächelte zufrieden. «Und am Abend des Festes», fuhr er fort, «ließ der Angeklagte da irgendwelche Bedenken laut werden in bezug auf Ihr Vorhaben?» Lord Fenneltree lachte. «Bedenken? Er war ein einziges Nervenbündel. Der Junge macht sich überhaupt viel zuviel Sorgen, wissen Sie. Immer Sorgen und Skrupel. Ich habe ihm oft gesagt, wie aufreibend das ist.» «Mit anderen Worten», sagte Sir Magnus, «er sagte also zu Ihnen, er halte es für riskant, den Elefanten in den Ballsaal zu bringen?» «Ja, sehr oft. Durchschnittlich zehnmal pro Tag sagte er das», erwiderte Lord Fenneltree.
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«Und aus welchem Grunde?» fragte Sir Magnus. «Ach, wissen Sie, er dachte wohl, die Sache würde meiner Frau nicht gefallen. Meine Frau schüchtert viele Leute ein», sagte Lord Fenneltree. «Das kann ich mir gut vorstellen», meinte Sir Magnus trocken. «Er hat also vor dem Festabend mehrmals versucht, Sie zur Aufgabe Ihres Vorhabens zu bewegen?» «Ja, das stimmt.» «War er auch am Abend des Festes noch besorgt?» «Besorgt ist wirklich sehr milde ausgedrückt», sagte Lord Fenneltree. «Und als er dann feststellte, wie betrunken Rosy war, hatte ich die größte Mühe, ihn zu überreden, daß wir unseren Plan doch noch ausführten.» «Aha. Ich verstehe», sagte Sir Magnus ganz sanft. «Der Angeklagte wollte also schon vor dem Festabend die ganze Sache fallenlassen; und am Abend des Festes, als er herausfand, daß das Tier berauscht war, versuchte er erneut und mit allem Nachdruck, Sie zu überreden, den Plan aufzugeben.» Pause. Lord Fenneltree brauchte eine Weile zum Nachdenken. Die Frage war neu und originell und hatte ihm einen Aspekt gezeigt, der ihm bisher entgangen war. «Wenn ich es mir jetzt recht überlege», sagte er schließlich, hauchte auf sein Monokel, rieb es blank und klemmte es wieder ins Auge, «so war eigentlich ich an der ganzen Sache schuld.» «Rupert!» tönte Lady Fenneltrees Fanfarenstimme aus dem Gerichtssaal. «Paß doch auf, was du da sagst!» «Wer unterbricht da?» fragte der Richter und blinzelte kurzsichtig in den Zuschauerraum. «Die Frau des Zeugen, glaube ich, Mylord», sagte Sir Magnus tief befriedigt. «Mylord!» dröhnte Lady Fenneltrees Stimme. «Mein Mann wird in die Irre geführt!» «Wollen Sie, bitte, still sein, Madam!» rief der Richter. «Nein, ich will nicht still sein!» schrie Lady Fenneltree zurück. «Ich habe im ganzen Leben noch keinen so lächerlichen Richter gesehen! Ich habe nicht die Absicht, ruhig dabeizustehen, wenn vor unseren Augen ein Fehlurteil gesprochen wird!» «Aber, aber, Liebling!» rief Lord Fenneltree und machte ein paar beschwichtigende Handbewegungen. «Nun reg dich doch nicht auf! Sei ganz ruhig.» «Ich will aber nicht ruhig sein!» heulte Lady Fenneltree. «Hören Sie, Lady Fenneltree, der Fall ist wirklich verwickelt genug. Sie brauchen ihn nicht noch weiter zu komplizieren», sagte der Richter. «Sie haben ihn kompliziert!» schrie Lady Fenneltree. «Madam», sagte der Richtereisig, «wenn Sie sich jetzt nicht hinsetzen und ruhig sind, lasse ich Sie aus dem Gerichtssaal entfernen.» Lady Fenneltree ergriff ihren Sonnenschirm und hielt ihn wie einen Speer vor sich. «Das tun Sie auf eigene Gefahr!» rief sie. «Schaffen Sie die Frau hinaus», ordnete der Richter erregt an. Zwei kräftige Polizisten gingen auf Lady Fenneltree los. Mit einer für ihren Umfang bemerkenswerten Geschicklichkeit tänzelte sie drei Schritte zurück und stach dann mit dem Sonnenschirm zu. Die Spitze traf den größeren der beiden Polizisten leicht nördlich vom Nabel, und er fiel, nach Luft ringend, zu Boden. Dann schwenkte sie herum und versetzte dem anderen Polizisten mit dem Schirm einen Schlag in den Nacken. Es dauerte mehrere Minuten, bis die beiden Männer sie überwältigt hatten und ohne weitere Umstände aus dem Saal schleiften. Die Geschworenen sahen der schmachvollen Prozedur mit angehaltenem Atem und glänzenden Augen zu. Das letzte, was man von Lady Fenneltree hörte, als sie
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hinausgeschleppt wurde, war ihr schriller Schrei: «Rupert, daß du dich nicht unterstehst, noch irgend etwas zu sagen!» «Lord Fenneltree», sagte der Richter förmlich, «ich bitte Sie um Verzeihung, daß wir uns gezwungen sahen, auf diese Weise mit Ihrer Frau umzugehen.» «Aber ich bitte Sie, mein Lieber», sagte Lord Fenneltree. «Ich bin voller Bewunderung. Ob ich wohl nachher, bevor ich gehe, die Namen der beiden Polizisten haben könnte?» «Darf ich nach diesem unglücklichen Zwischenfall jetzt fortfahren, Mylord?» fragte Sir Magnus. «Ja, bitte, fahren Sie fort», sagte der Richter. «Wir wissen jetzt also», sagte Sir Magnus und sah Lord Fenneltree dabei an, «daß Sie in Wahrheit schuld sind an dem Unheil, das der Elefant an dem Ballabend bei Ihnen angerichtet hat.» «Ja», sagte Lord Fenneltree. «Sie haben es völlig richtig ausgedrückt, und mir jedenfalls tut es aufrichtig leid, daß die Sache für den armen Adrian so hat enden müssen. Er ist ein reizender junger Mann, und der Elefant war ganz bezaubernd.» «Ich danke Ihnen, Lord Fenneltree», sagte Sir Magnus. «Ich habe keine weiteren Fragen.» Er setzte sich, zog mit der Miene des Siegers seine Schnupftabaksdose heraus und stopfte sich eine Prise Tabak in die Nasenlöcher. Dann nieste er laut und triumphierend und lächelte Sir Augustus gewinnend an. «Also, hm – ja. Und Sie, Sir Augustus?» fragte der Richter. «Haben Sie noch etwas vorzubringen?» Der Staatsanwalt, der immer mehr in sich zusammengesunken war, erhob sich jetzt, bebend vor kaum verhohlener Empörung, und sagte mit zitternder Stimme: «Mylord, ich habe meinem vorherigen Resümee wenig hinzuzufügen. Hoffentlich, kann ich hier nur sagen, hoffentlich hat die Vernehmung so vieler zweifelhafter Zeugen meinem Herrn Kollegen in den Augen der Herren Geschworenen keinen Abbruch getan. Weiße Hexen, Wanderschauspieler von zweifelhaftem Herkommen und Leute, die an Reinkarnation glauben: ich möchte doch annehmen, sie alle dürften der Verteidigung eher schaden als nützen.» Sir Magnus erhob sich. «Wenn ich einen Augenblick unterbrechen darf», sagte er, «so möchte ich darauf hinweisen, daß sich unter den weißen Hexen, Wanderschauspielern und Leuten, die an Reinkarnation glauben, auch Lord Fenneltree befand.» Er setzte sich. Der Staatsanwalt warf ihm einen so bösartig-sengenden Blick zu, daß Adrian erstaunt war, als sich Sir Magnus nicht umgehend in ein schwarzes Rauchwölkchen auflöste. «Ich denke», sagte Sir Augustus, «die Herren Geschworenen können nur zu einem Urteil kommen: daß der Angeklagte Adrian Rookwhistle schuldig ist.» Wieder stand Sir Magnus auf. «Ich glaube, Mylord, meine Herren Geschworenen, die Sache ist nun völlig klar. Wir haben gehört, wie alle Zeugenaussagen den ehrenhaften Charakter des Angeklagten und seines stummen Gefährten bekräftigten.» Der Obmann der Geschworenen hatte schon ein paarmal den Mund auf und zu gemacht. Er stand jetzt auf. «Was ist denn nun schon wieder?» fragte der Richter ungeduldig. «Verzeihung, Mylord», sagte der Obmann. «Der Elefant, von dem hier die Rede ist: ist das derselbe, der in der letzten Woche häufig am Strand herumgelaufen ist?» «Ja», sagte Sir Magnus. «Nichts macht Rosy so viel Freude wie das Spiel mit den
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Kinderchen unten am Wasser.» Der Obmann setzte sich wieder und beriet flüsternd mit den anderen Geschworenen. Sir Magnus beobachtete sie mit einem väterlich-zufriedenen Lächeln und sagte dann milde: «Mylord, ich habe alles Vertrauen zu dem gesunden Verstand der Herren Geschworenen. Sie werden das rechte Urteil fällen.» «Ja, nun – natürlich», meinte der Richter, der leicht erregt in seinen Notizen blätterte. Dann wandte er sich an die Geschworenen und sagte: «Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mit dem Flüstern aufhörten und mir jetzt Ihre Aufmerksamkeit schenkten.» Wieder erhob sich der Obmann. «Verzeihung, Mylord», sagte er höflich, «aber wir haben unser Urteil bereits gefällt.» «Was haben Sie?» fragte der Richter gereizt. «Ich muß doch noch zusammenfassen.» «Ach so. Sehr wohl, Sir», sagte der Obmann und setzte sich wieder. Der Richter räusperte sich, blickte auf seine Notizen, lehnte sich zurück und schloß die Augen. «Was Sie hier zu entscheiden haben», begann er, «ist die Frage, ob der Angeklagte Adrian Rookwhistle schuldig ist oder nicht.» Er öffnete die Augen und blickte die Geschworenen triumphierend an. «Das kann man als die wesentlichste Frage des Falles bezeichnen, nicht wahr? Bevor Sie sich jedoch endgültig für schuldig oder nicht schuldig entscheiden, gibt es noch einige Punkte, die der Klärung bedürfen. Wir haben viele Zeugen gehört.» Hilflos wühlte er in seinen Notizen. «Sehr viele Zeugen haben wir gehört. Ja. Manches sprach für den Angeklagten, manches gegen ihn. Es ist nun nicht meine Aufgabe, Ihnen zu sagen, was Sie denken sollen. Ich habe Sie nur anzuleiten, Ihnen auf den rechten Weg zu helfen. Sie haben durchaus das Recht, den Angeklagten für schuldig zu halten, auch wenn er nicht schuldig ist. Andererseits dürfen Sie ihn auch für nicht schuldig halten, selbst wenn er schuldig wäre. Das ist eben das Schöne an unserer Justiz. Ich bin hier nur als Berater, der Sie durch den Irrgarten des Gesetzes zu führen hat.» Er schwieg und räusperte sich leise. Wieder blätterte er nachdenklich in seinen Papieren, von denen mehrere unbeachtet zu Boden fielen. «Wir haben nun eindeutig vernommen, daß Adrian Rookwhistle, der verantwortliche Besitzer des Elefanten, es zugelassen hat, daß der Elefant mehreren Menschen erheblichen körperlichen sowie auch Sachschaden zufügte. Es kann Ihrem Scharfsinn jedoch nicht entgangen sein, daß diese Aussagen durch andere Aussagen aufgehoben wurden, welche zweifelsfrei bewiesen, daß der fragliche Elefant keineswegs bösartig war und daß der Angeklagte ohne jede Absicht in diese beklagenswerte Situation geraten ist.» Der Richter schwieg und blickte den Obmann der Geschworenen scharf an. «Können Sie meinen Ausführungen folgen?» fragte er. Die Geschworenen nickten wie ein Mann. «Es ist nun Ihre Pflicht», sagte der Richter und hob leicht den Finger, «auf nichtschuldig zu erkennen, wenn Sie meinen, daß der Angeklagte Adrian Rookwhistle – äh – hmm – ja, also daß er nicht schuldig ist. Andererseits, wenn Sie ihn für schuldig halten, so ist es Ihre Pflicht, ihn ohne Rücksicht – äh – hmm – ohne Zögern und Zaudern schuldig zu sprechen und dabei, wie gesagt, alle Aspekte des Falles zu berücksichtigen. Es gibt hier zahlreiche Punkte, die Sie zu bedenken haben – sorgfältig zu bedenken haben. Zum Beispiel das eine, was mir selbst durchaus nicht klar ist: ob Elefanten Alkohol trinken dürfen. Ferner wollen Sie vielleicht auch den Punkt, den ich für ganz entscheidend halte, noch einer gründlichen Erwägung unterziehen: das Schlittern des Elefanten auf dem Parkett. Nun haben wir zu diesem Punkt eine juristische Autorität – Sir Magnus – gehört, und er hat uns versichert, daß
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Elefanten tatsächlich über Parkett schlittern können. Wenn wir dies als Tatsache akzeptieren, so kommen wir zwangsweise zu dem Schluß, daß der fragliche Elefant tatsächlich über das Parkett geschlittert ist und, wie uns Sir Augustus so plastisch vortrug, dabei erheblichen Schaden anrichtete. Dann kommen wir zu dem Zigeunerwagen. Hier können Sie sich, einzeln oder auch zusammen, die Frage vorlegen: hat sich der Elefant tatsächlich nur an dem Wagen das Fell geschubbert, oder war dies ein unprovozierter Überfall? Die Tatsache, daß die Zeugin im Wagen dabei nicht zu Schaden gekommen ist, darf Sie in Ihrem Urteil nicht beeinflussen. Sie kann durchaus das Opfer eines Überfalls gewesen sein, den sie als einen solchen nicht erkannte. Oder es war, wie die Verteidigung behauptet hat, tatsächlich so, daß sich der Elefant nur geschubbert hat. Vor Ihnen, meine Herren Geschworenen, liegt jetzt eine schwere Aufgabe. Sie haben den Vertreter der Anklage und auch den Herrn Verteidiger gehört. Jetzt ist es an Ihnen, alle vorgelegten Einzelheiten zu wägen und sie in einem Ganzen zusammenzufassen. Ich habe nur die Aufgabe, die juristische Seite des Falles zu erhellen. Ich fordere Sie daher jetzt auf, hinauszugehen und alle Einzelheiten ruhig zu bedenken. Und wenn Sie dann zu einem Schuldspruch kommen, wird niemand Sie schelten. Andererseits, wenn Sie in voller Kenntnis aller Einzelheiten den Angeklagten für nicht schuldig befinden, kann kein Mensch mit dem Finger auf Sie zeigen. Zusammenfassend kann ich nur noch sagen, daß ich hoffe, ich habe Ihnen bei der Rechtsfindung ein wenig helfen können. Jetzt ziehen Sie sich bitte zurück, um über das Urteil zu beraten.» Der Obmann der Geschworenen erhob sich. «Wir haben beschlossen, uns nicht zurückzuziehen, Mylord», verkündete er. «Das ist ganz außergewöhnlich», sagte der Richter. «Sie brauchen doch Zeit zur Beratung und Überlegung.» «Wir haben schon überlegt, Mylord», sagte der Obmann. «Nun», sagte der Richter, «und wie lautet Ihr Urteil?» «Wir möchten nur noch über einen Punkt völlige Klarheit haben, Mylord, bevor wir unser Urteil verkünden. Der Elefant, über den hier verhandelt wurde – ist das ganz bestimmt derselbe, der diese Woche mit meinen Kindern am Strand gespielt hat?» «Sir Magnus», sagte der Richter, «ich glaube, diese Frage können Sie am besten beantworten.» «Ja», sagte Sir Magnus. «Wenn Sie Kinder haben, die in den letzten Tagen unten am Strand spielten, dann haben sie ganz bestimmt mit dem Elefanten gespielt, über den hier verhandelt wurde.» « Gut», sagte der Obmann. « Dann lautet unser Urteil: Nicht schuldig.» Die Zuschauer brachen in lauten Beifall und Händeklatschen aus, an dem sich auch der Richter geistesabwesend beteiligte. Als der Applaus verklungen war, räusperte sich der Richter und blickte Adrian an. «Adrian Rookwhistle », sagte er laut, «das Gericht hat Sie für schuldig befunden, die gegen…» «Verzeihung, Mylord», sagte der Obmann. «Wir haben ihn für nicht schuldig befunden.» «Nein, tatsächlich?» sagte der Richter. «Gut. Das Gericht hat Sie für nicht schuldig befunden. Ich verurteile Sie daher…» Er hielt inne und besann sich. «Ich spreche Sie daher frei von den gegen Sie erhobenen Beschuldigungen.» Er blickte die Geschworenen an. «Sie, meine ehrenwerten Herren Geschworenen, haben Ihre Aufgabe einwandfrei erfüllt. Ich entlasse Sie hiermit und absolviere Sie für das kommende Jahr von den Pflichten eines
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Geschworenen.» Er wühlte zerstreut in seinen Papieren und beugte sich dann zu dem Justizbeamten vor. «Haben wir noch mehr Fälle auf der Tagesordnung?» fragte er flüsternd. «Nein, Mylord», sagte der Beamte. «Das war der letzte.» «Schön», sagte der Richter. Er setzte sich aufrecht hin, blickte Adrian an und sagte: «Noch eins. Ob Sie mir wohl eine kleine Bitte erfüllen würden?» «Gewiß, Mylord, gern», sagte Adrian. «Ich möchte – ich würde sehr gern den Elefanten einmal sehen», sagte der Richter und fügte schüchtern hinzu: «Ich habe nämlich noch nie einen Elefanten gesehen, wissen Sie.» «Aber selbstverständlich, Mylord», sagte Adrian. «Ich gehe jetzt sofort zu ihr und bringe ihr die Freudenbotschaft. Wenn Sie vielleicht mitkommen wollen?» «Oh, ausgezeichnet», rief der Richter. «Ich bin in wenigen Minuten draußen, Mr. Rookwhistle.» Er sprang von seinem Stuhl auf, als sich das Gericht erhob, und trippelte eilig zu Tür hinaus.
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Ende gut, alles gut Adrian war noch immer leicht benommen, als er, getragen von einer Woge freundlichen Wohlwollens, das Gericht verließ. An einem Arm hielt ihn Sir Magnus fest, am anderen Lord Fenneltree. Mr. Filigree und Ethelbert tänzelten voraus und gerieten jedermann in den Weg. Schließlich standen sie alle draußen auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude, und dort stand auch Samantha. Sie lächelte Adrian zu und sagte: «Ich freue mich so, daß man Sie freigesprochen hat.» «Ja, wirklich?» fragte Adrian. «Ja», sagte sie. Adrian blickte ihr in die großen grünen, goldgepunkteten Augen und fühlte, wie er über und über rot wurde. «Ich – ich bin so froh, daß Sie sich freuen», sagte er hilflos. Jetzt errötete auch Samantha. «Ja, ich freue mich sehr», sagte sie. «Wenn Sie beide sonst nichts mehr zu bereden haben», sagte Sir Magnus, «möchte ich vorschlagen, daß wir bei mir zu Hause einkehren und zur Feier des Tages ein Gläschen trinken.» Samantha wandte sich jetzt ihm zu. « Sir Magnus, wir sind Ihnen wirklich außerordentlich dankbar für das, was Sie für Adrian und Rosy getan haben.» «Ach was, Unsinn. Eine Bagatelle», wehrte Sir Magnus ab. «Wissen Sie», sagte Lord Fenneltree, «ich habe das Gefühl, als hätte ich kaum etwas zu Ihrer Verteidigung beigetragen.» Hier wurde Ethelbert von einem solchen Lachkrampf gepackt, daß er sich an Honoria festhalten mußte. «Wenn Sie nichts dagegen haben, mein lieber Junge, möchte ich gern ein paar Tage mit Ihnen kommen – einerlei, wohin Sie gehen», sagte Lord Fenneltree zu Adrian. «Meine Frau hat dann etwas Zeit, sich wieder zu sammeln, verstehen Sie?» «Nun, wohin ich gehe, das weiß ich», sagte Adrian entschlossen. «Ich gehe wieder zurück ins ‹Harfespielende Einhorn›, das heißt, natürlich nur, wenn die Besitzer mich haben wollen.» «Ja, und Rosy?» fragte Mr. Filigree besorgt. «Sie bringen doch auch Rosy mit, nicht wahr?» «Wenn ich darf, gern», sagte Adrian und blickte Samantha an. «Ich denke, wir werden schon Platz für euch beide haben», sagte Samantha. «Sie haben nicht zufällig ein kleines Winkelchen, wo ich mich eine Weile aufhalten könnte?» fragte Lord Fenneltree und sah Samantha ernsthaft durch sein Monokel an. «Wissen Sie was!» rief Mr. Filigree mit hoher, erregter Stimme. «Wir gehen alle zusammen zu uns nach Hause! Da haben wir reichlich Platz für uns alle, und dann feiern wir dort.» «Das ist eine glänzende Idee», sagte Sir Magnus. «Die ‹Sploshport Queen› läuft in Kürze aus», sagte Lord Fenneltree. «Wir gehen alle an Bord und fahren hinüber, und drüben nehme ich die Damen in meinen Landauer, und die Herren nehmen den Zug.» «Ich glaube nicht, daß in einem Zug Platz für Rosy ist», meinte Adrian. «Nein, Sie alle fahren voraus, und ich komme zu Fuß mit Rosy nach.» «Unsinn, mein Junge.» Sir Magnus machte eine abwehrende Geste mit dem Stock. «Ich
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bin doch gut befreundet mit dem Stationsvorsteher. Wir werden Rosy ganz sicher irgendwie in den Zug bringen, wenn auch vielleicht nicht in ein Erster-Klasse-Coupe.» Jetzt erschien auch der Richter, der zu Adrians Erstaunen einen großkarierten Anzug trug und aussah, als habe er ihn versehentlich angezogen. Adrian erklärte ihm, was sie vorhatten, und der Richter blickte Samantha nachdenklich-verlangend an. «Sie möchten sich uns wohl nicht anschließen und auch mit ins ‹Harfespielende Einhorn› kommen, Mylord?» fragte Samantha taktvoll. «Ach, mein liebes Kind, das wäre ganz wunderbar», sagte der Richter erfreut. «Ich bin nämlich zufällig für die nächsten Tage frei, und Ruhe und Landluft würden mir außerordentlich guttun.» «Ausgezeichnet», sagte Sir Magnus. «Dann habe ich gleich Gelegenheit, den nächsten Fall mit Ihnen zu besprechen.» «Ich bin nicht sicher, ob das ganz das Richtige wäre», sagte der Richter. «Nun, es hätte doch gar keinen Zweck, daß Sie mitkommen, wenn Sie nicht über den nächsten Fall mit mir reden wollen, Mylord», sagte Sir Magnus. «Ja, dann… das ist freilich etwas anderes, dann ist es sicher in Ordnung», meinte der Richter. Honoria, die Schwarze Nelly und Samantha blieben bei Lord Fenneltree, und Adrian – der sich nur zögernd von ihnen trennte – ging mit Sir Magnus, Lord Toddel, Mr. Pucklehammer, Ethelbert und Mr. Filigree zurück zu Sir Magnus’ Haus. Sobald sie dort angekommen waren, eilte Adrian als erstes in den Stall, wo ihn Rosy mit freudigen Quieksern begrüßte. «Na, du ganz schlimme alte Säuferin!» rief er zärtlich, umarmte ihren Rüssel und drückte ihn fest an sich. «Sie haben uns freigesprochen, hast du gehört?» Rosy hatte zwar bis zur Verhandlung nicht gerade schlaflose Nächte verbracht, aber als sie Adrians gute Laune sah, quiekte sie noch einmal auf und schlappte lebhaft mit den Ohren. «Kolossal», sagte der Richter. Er war Adrian in den Stall gefolgt und stand jetzt neben Rosys linkem Hinterbein. Staunend sah er an ihr hoch. «Sir Magnus hat ganz recht gehabt mit dem Rüssel. Damit hätte sie nie den Kronleuchter erreichen können.» «Das ist ja ihr Schwanz, was Sie da haben», sagte Adrian. «Der Rüssel ist hier vorn.» «Oh», sagte der Richter. Er suchte in seiner Tasche und zog ein Lorgnon hervor, durch das er interessiert Rosys Hinterteil musterte. «Sie haben recht», sagte er dann. «Hier unten sind Haare dran.» Er ging um Rosy herum und betrachtete sie durch das Lorgnon. «Fabelhaft», sagte er. «Wirklich fabelhaft.» «Kommen Sie, kommen Sie», rief Sir Magnus ungeduldig von der Stalltür her. «Wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir das Schiff.» Adrian ergriff Rosy am Ohr und begab sich mit ihr und seinem Gefolge hinunter zum Hafen. Die Überfahrt verlief ruhig – bis auf die Shanties, die Sir Magnus und der Richter mit lauter Stimme von sich gaben. Als sie dann landeten, blieben die Damen bei Lord Fenneltree, und die anderen gingen eilig zum Bahnhof. Hier erreichte Sir Magnus mit einigem Stimmaufwand und beträchtlichen Überredungskünsten, daß an den Drei-Uhrfünfundvierzig-Zug nach Monkspepper ein offener Güterwagen angehängt wurde, in dem man Rosy ohne Schwierigkeiten unterbrachte. «So», sagte Sir Magnus und sah den Stationsvorsteher an. «Und nun noch Stühle, Bert. Stühle.» «Stühle, Sir Magnus?» fragte der Mann verwirrt. «Was für Stühle denn?»
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«Na, Stühle, Menschenskind. Zum Sitzen. Aus dem Warteraum.» «Aber fahren Sie denn nicht im Coupe, Sir Magnus?» fragte der Stationsvorsteher. «Nein, ganz selbstverständlich nicht», sagte Sir Magnus. «Ein Wagen, der für Rosy gut genug ist, ist auch für mich gut genug. Ich brauche bloß noch einen Stuhl, das ist alles.» Etwas betreten ließ der Stationsvorsteher aus dem Wartesaal zwei Stühle und eine Bank herbeischaffen, die neben Rosy im Güterwagen aufgestellt wurden. Ethelbert, Mr. Pucklehammer und Adrian setzten sich auf die Bank, Sir Magnus zwängte sich stirnrunzelnd auf den einen Stuhl, und der Richter nahm auf dem anderen Platz. Sir Magnus praktizierte sich eine extra große Prise Schnupftabak in die Nase, nieste gewaltig und sagte dann: «Los, Bert. Nun können Sie uns abfahren lassen.» Daß sie schon zwanzig Minuten Verspätung hatten und die Fahrgäste recht unruhig waren, schien er gar nicht zu bemerken. Der Stationsvorsteher fuhr sich über die Stirn, stieß einen lauten Pfiff aus, winkte mit der grünen Fahne, und der Zug setzte sich in Bewegung und schunkelte ratternd aus dem Bahnhof hinaus in die helle sonnige Landschaft. Es war ein herrlicher Sommertag, das Land glänzte grün und golden, und der Himmel war blau wie die Augen einer Siamkatze. In zwei kurzen Stunden legten sie die Strecke zurück, die Adrian mit Rosy so mühsam zu Fuß hinter sich gebracht hatte. An der kleinen Haltestelle nahe dem Dorfe Person’s Farthing stiegen sie aus und gingen zu Fuß die anderthalb Meilen zum ‹Harfespielenden Einhorn›. «Mein lieber Junge. Ich hatte ja keine Ahnung, daß hier so viel Landschaft ist. Und all die grünen Blätter!» sagte Ethelbert tief erstaunt. «Ja, aber in Papua sind die Blätter noch viel größer.» Mr. Filigree streckte die feisten Ärmchen aus, um die Größe der Blätter in Papua anzudeuten. «Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht wie mir», sagte Sir Magnus zu Mr. Pucklehammer, «aber ich habe das Gefühl, ich würde ein Fläschchen Bier jetzt nicht ablehnen.» «Mir geht’s genauso», stimmte Mr. Pucklehammer zu. «Nach meiner Erfahrung gibt es im Leben allerhand Dinge, die man ablehnen sollte, und andere, die man nicht ablehnen sollte. Nun, und ein Glas Bier gehört zu den Dingen, die man niemals ablehnen sollte.» Lord Toddel ging neben Rosy und sah sie prüfend an. «Wissen Sie was», sagte er, «wenn ich meine Augengläser nicht habe, weiß ich immer noch nicht recht, was hier hinten und was vorn ist.» «Hinten und vorn wovon?» fragte Sir Magnus. «Von Rosy», erwiderte der Richter ernsthaft. Mr. Filigree tänzelte auf der Straße herum. «Ich hoffe sehr», flötete er, «daß Samantha etwas zu essen hat für uns. Zu trinken ist genug da, das weiß ich.» «Nun, solange wir genug zu trinken haben, macht alles andere gar nichts», sagte Sir Magnus. «Ob Sie vielleicht zufällig auch Cherry Brandy im Hause haben?» «Aber ja, natürlich, Cherry Brandy haben wir sogar eine ganze Menge», sagte Mr. Filigree erfreut. «Ich habe vor langer Zeit einmal drei Faß bestellt, aber leider fand sich kein Mensch, der ihn trinken wollte.» «Da sieht man’s wieder», sagte Sir Magnus, führte sich Tabak in die Nase und nieste kräftig. «Guter Geschmack ist heute selten geworden.» Endlich bogen sie um die letzte Ecke, und vor ihnen lag das Wirtshaus wie eine freundlich schnurrende Hauskatze unter dem warmen Strohdach. «Hurra!» schrie Ethelbert übermütig, dem offenbar die Landluft zu Kopf gestiegen war. «Da sind wir!» Die Tür des Wirtshauses öffnete sich, und Lord Fenneltree erschien mit Samantha.
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«Nun, wie war die Fahrt?» rief der Lord. «Wunderbar!» bellte Sir Magnus und schwenkte zur Begrüßung seinen Stock. «Es ist viel netter, in einem offenen Güterwagen mit einem Elefanten zu fahren als in einem Erster Klasse-Coupe mit lauter Hornochsen.» «Oder Hornkühen!» rief der Richter und wollte sich ausschütten vor Lachen. Mr. Filigree blickte Samantha besorgt an. « Sam, mein Kind, haben wir genügend zu essen im Haus?» «Oh, da sei nur unbesorgt, Vater», sagte Samantha. «Lord Fenneltree war wirklich außerordentlich liebeswürdig. Wir haben unterwegs angehalten, und er hat darauf bestanden, eine ganze Menge guter Sachen zum Essen einzukaufen.» Sie führte die anderen hinters Haus auf die Wiese; dort war ein langer, schneeweiß gedeckter Tisch aufgestellt, der fast zusammenbrach unter der Last der Speisen. Es gab eine Platte mit kalten gebratenen Rebhühnern, eine Schüssel voller Kibitzeier, Berge von Austern, einen mächtigen geräucherten Schinken, zartrosig wie ein Wölkchen bei Sonnenuntergang, und ein kaltes Roastbeef, das zweifellos von dem größten Bullen der Gegend stammte. «Das ist wirklich außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, Lord Fenneltree, wo ich doch gegen Sie gewonnen habe», sagte Adrian. «Guter Mann», erwiderte der Lord ernsthaft, «wenn Sie verloren hätten, dann hätte ich das alles nicht besorgen können. Aber ich dachte, ein kleiner Imbiß könnte uns nach der Reise nicht schaden.» Sir Magnus war mit Kauen beschäftigt und hatte den Mund voll Austern und Kibitzeier. «Mein Glück wäre vollkommen», sagte er, «wenn ich ein kleines Gläschen von dem Cherry Brandy haben könnte, von dem uns Mr. Filigree erzählt hat.» «Aber gewiß, gewiß doch.» Mr. Filigree wischte sich die Krumen vom Mund, trippelte ins Haus und kam gleich darauf mit einem Fäßchen zurück. Als es geöffnet war, setzte sich Sir Magnus als Wachtposten daneben. Die Schatten über der smaragdgrünen Wiese wurden länger und länger, und heiterer Frieden senkte sich auf die kleine Gesellschaft. Mr. Pucklehammer summte leise vor sich hin und schwang sein Bierglas im Takt dazu. Die Schwarze Nelly hatte gerade einen heftigen Schluckauf überwunden und las jetzt Honoria aus der Hand. Die Karriere, die sie ihr prophezeite, hätte selbst Sarah Bernhardt erblassen lassen. Lord Fenneltree lag unbeweglich im Gras, blickte zum Himmel auf und hörte dem Richter zu, der ihm einen langen und komplizierten juristischen Vortrag hielt. Adrian saß Samantha gegenüber und sah der Sonne zu, die durch die Blätter schien und ihrem rotgoldenen Haar kleine Lichter aufsetzte. Ihre Schönheit überwältigte ihn; er stand unter dem Vorwand auf, nach Rosy sehen zu wollen, und ging hinüber in die Scheune. Rosy hatte eine Weile an der Gesellschaft teilgenommen; als sie jedoch feststellte, daß die Delikatessen auf dem Tisch ihr nicht zusagten und daß Adrian ihr nicht mehr als drei halbe Liter Bier zugestand, war sie in die Scheune hinüber getrottet, wo sie sich mit Möhren und Mangold tröstete. Adrian trat in die Scheune und besah sich seinen großen grauen Schützling. Rosy blinzelte ihm zu, schlappte mit den Ohren und gab einen leisen Begrüßungsquiekser von sich. «Ja, du hast es gut», sagte Adrian bitter und ging mit großen Schritten in der Scheune auf und ab. «Dir fehlt nichts, wenn du nur genug zu fressen hast, und dann noch möglichst viel zu trinken. Und ich? Hast du vielleicht auch mal an mich gedacht?» Er machte eine dramatische Pause und sah Rosy an. Ihr Magen gab ein paar musikalische Töne von sich; sie streckte den Rüssel aus und berührte zärtlich Adrians Haar.
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«Da draußen sitzt sie nun», fuhr Adrian fort. «Für mich hat sie überhaupt kein Gefühl. Nicht ein einziges ermutigendes Wort. Ich glaube nicht, daß wir hierbleiben können. Wirklich nicht.» Rosy seufzte tief auf. «Na ja – vielleicht einen Tag oder so können wir noch bleiben.» Bei dem Gedanken, sich wieder von Samantha zu trennen, wurde ihm ganz schwach. «Wenn ich doch bloß wüßte, was mit ihr los ist! Sie tut, als ob ich dies alles angestellt hätte und nicht du. Und außerdem sind wir ja jetzt frei… Was soll das also alles?» Rosy hatte eine große Rübe vor sich liegen, die sie behutsam mit dem Vorderfuß hin und her rollte; sie ließ jetzt einen leisen Quiekser hören, um Adrian zu zeigen, daß sie aufmerksam zuhörte. «Nein», sagte er entschlossen. «Wenn wir hierbleiben, müssen wir klare Verhältnisse schaffen. So etwas von Undank… Das lasse ich mir nicht gefallen.» Rosy spürte Adrians Ärger, aber sie wußte auch, daß er sich nicht gegen sie richtete, deshalb blieb sie ganz gelassen. «Ich werde ganz streng mit ihr sein.» Adrian richtete sich auf und streckte gebieterisch das Kinn vor. «Ich werde ihr sagen, daß sie sich wie ein Kind benimmt. Jawohl, das werde ich.» Er blickte Rosy triumphierend an, und sie stieß einen kleinen zustimmenden Grunzer aus. «Mit Frauen muß man fest umgehen», erklärte Adrian. «Das haben wir bei Lady Fenneltree gesehen. So muß man sie behandeln. Sie kriegen sonst zu leicht Oberwasser.» Freilich, selbst in seiner Erregung fand Adrian wenig Ähnlichkeit zwischen Samantha und Lady Fenneltree. «Ich gehe jetzt, Rosy, und werde die Lage ein für allemal klären. Sonst bleibe ich keine Nacht mehr unter diesem Dach.» Adrians plötzliche Entschlußkraft war auf den Umstand zurückzuführen, daß er Samantha vorher eine ganze Weile beobachtet und gesehen hatte, wie sie mit Sir Magnus lachte und flirtete, wie ihre schneeweißen Zähne beim Lächeln glänzten und wie ihr Haar in der Sonne schimmerte. Dabei hatte er versehentlich Sir Magnus’ Bierkrug geleert, der kräftig mit Cherry Brandy versetzt war. Er ging mit festen Schritten zur Tür und warf Rosy noch einen düsteren Blick zu. «Ich werde sehr bald zurückkommen und dir meine Entscheidung mitteilen», verkündete er. Als er jetzt zu den anderen zurückging, bemühte er sich, so hart und unerbittlich auszusehen wie Sir Magnus bei der Vernehmung eines gegnerischen Zeugen. Die Schwarze Nelly informierte gerade Honoria, sie sehe sie als Ehefrau eines sehr reichen Mannes mit vierzehn Kindern. Mr. Filigree kroch auf dem Gras herum und unterhielt sich eingehend und flüsternd mit einem Hirschhornkäfer. Sir Magnus hatte den Arm um Mr. Pucklehammers Schulter gelegt, und beide sangen laut und herzhaft ein altes Soldatenlied, während Ethelbert dazu einen orientalischen Bauchtanz beisteuerte (oder was er dafür hielt). Lord Fenneltree lag immer noch unbeweglich im Gras und hörte Lord Toddel zu. «Wo ist Samantha?» bellte Adrian, das heißt, er hatte bellen wollen, mußte sich aber mehrfach räuspern, bevor er die Worte herausbrachte. Honoria sah sich erstaunt um. «Samantha? Ich denke, sie wird ins Haus gegangen sein.» «Gut», fauchte Adrian, stolperte dabei aber beinahe über Mr. Filigree, als er mit langen Schritten auf das Wirtshaus zuging. Er trat in die große Fliesenküche mit den dunklen Dachbalken und der Reihe freundlich schimmernder Töpfe und Krüge. Samantha stand am Fenster und blickte hinaus. Adrian ging durch die lange Küche auf sie zu und blieb hinter ihr
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stehen. Er räusperte sich und sagte dann mit durchdringender Stimme: «Samantha, ich habe mit Ihnen zu reden.» «Ach, seien Sie doch still!» sagte Samantha böse. «Mit diesem Ton kommen Sie bei mir nicht weit», sagte Adrian. Mit napoleonischer Geste steckte er die Hand in sein Jackett. Mit gerötetem Gesicht und verdächtig glitzernden Augen drehte sich Samantha um und sah ihn an. «Wenn Sie jetzt nicht den Mund halten und hinausgehen, weiß ich nicht mehr, was ich tue!» sagte sie laut. «Na, na», sagte Adrian und trat etwas zurück. «Sie benehmen sich wie ein Kind.» «Und Sie», fuhr ihn Samantha an, «Sie sind betrunken!» «Ich bin nicht betrunken», erwiderte Adrian beleidigt. «Ich bin genauso nüchtern wie alle anderen.» «Sie sind betrunken», sagte Samantha scharf. «Sonst hätten Sie gar nicht gewagt, diesen Ton mir gegenüber anzuschlagen… als ob… als ob Sie mit einem Pferd redeten!» «Mit einem Pferd!» wiederholte Adrian empört. «Ich habe noch nie mit Ihnen wie mit einem Pferd gesprochen!» «Doch! Als ob ich ein altes Pferd wäre, so haben Sie mit mir gesprochen!» Und mit diesen Worten brach sie zu Adrians Entsetzen in Tränen aus. «Oh, Samantha!» flehte er tief bekümmert. «Es tut mir so leid… bitte verzeihen Sie mir doch… nur bitte weinen Sie nicht!» «Ich weine ja gar nicht», sagte Samantha unter strömenden Tränen. «Na, was tun Sie denn sonst? Baden Sie etwa?» sagte Adrian mit dem Witz der Verzweiflung. Samantha sah ihn verlegen an und fing dann unter Tränen an zu lachen. «Schafskopf», sagte sie zärtlich. Adrian war zumute, als habe jemand mit glühendem Speer sein Herz durchbohrt. «Oh, Samantha», sagte er. «Ich habe dich doch so lieb.» Samantha sah ihn eine kleine Weile an und sagte dann: « Das ist schön. Dann geht’s uns beiden ganz gleich.» Adrian hatte das Gefühl, als habe ihn ein Ballon hoch in die Stratosphäre gehoben. « Soll das heißen», fragte er ungläubig, «daß ich… daß du… daß du und ich… daß du…» «Nun, du hast dir ja lange genug Zeit gelassen, um es mir zu sagen», sagte Samantha. «Ich… Willst du damit sagen, daß ich… daß du…» Samantha sah zu ihm auf. «Weißt du, wenn du weiter so stotterst, dauert es zu lange bis zu den Flitterwochen.» Adrian zog sie an sich. Er küßte erst den warmen Mund, und dann küßte er die Tränen fort – nie hatte eine Frau größere und schönere Tränen vergossen – und dann noch einmal den Mund, weil er einfach nicht glauben konnte, daß die Lippen wirklich wie Rosenblätter geschmeckt hatten. «Soll das heißen, daß du mich heiraten willst?» fragte er leise. «Nun, dir mag es vielleicht neu sein», sagte Samantha, «aber als ich dich an dem Abend nach dem Zugunfall bei uns auf dem Sofa liegen sah, da beschloß ich, dich zu heiraten.» Adrian sah sie fassungslos an. Dann küßte er sie noch einmal. «Ich muß es jemandem erzählen», sagte er. Er lief durch die Küche und aus der Hintertür hinaus ins Freie. «Hoi!» rief er laut. Die leicht benebelte kleine Gruppe unter den Eichen fuhr zusammen. Auch Lord Fenneltree setzte sich auf.
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«Ich heirate Samantha!» schrie Adrian. «Und das haben Sie jetzt erst gemerkt?» fragte Sir Magnus mit kühlem Erstaunen. «Aber… Woher wußten Sie es denn?» fragte Adrian verwirrt. «Das werde ich Ihnen nicht sagen», gab Sir Magnus zurück. «Es gibt Berufsgeheimnisse, über die man besser nicht spricht.» «Sie wollen Sam heiraten?» fragte Mr. Filigree und erhob sich mit einem Ruck auf die Füße, wobei er die Unterhaltung mit dem Hirschhornkäfer völlig vergaß. «Wenn es Ihnen recht ist», sagte Adrian. «Recht ist!» sagte Mr. Filigree. «Das ist doch eine wunderbare Neuigkeit! Dann kommt doch Rosy in die Familie.» «Sie haben nicht zufällig Champagner da?» fragte Adrian beschwingt und voller Glück. «Glänzende Idee», sagte Sir Magnus. «Es gibt nichts Besseres zum Anstoßen als Champagner und Cherry Brandy.» Jetzt machten sich alle auf den Weg in die große Küche. Mr. Filigree holte den Champagner; er war zwar etwas warm, aber deshalb nicht weniger willkommen. Honoria und die Schwarze Nelly küßten Samantha herzlich, und dann brach Honoria in Tränen aus. «Warum weinst du denn?» erkundigte sich Ethelbert. «Bei Hochzeiten weine ich immer», schluchzte Honoria würdevoll. «Aber das hier ist doch gar keine Hochzeit», sagte Ethelbert. «Doch, es ist beinahe eine Hochzeit», sagte Honoria schluckend. Die Gläser wurden gefüllt, und Sir Magnus brachte einen Toast auf das glückliche junge Paar aus, in den alle begeistert einstimmten. Adrian war eben im Begriff, Samantha zum vierzigstenmal zu küssen, als ihm plötzlich Rosy einfiel. «Um Gottes willen», sagte er. «Rosy habe ich ja total vergessen. Sie muß doch auch einen Festtrunk haben.» «Arme Kleine», trillerte Mr. Filigree. «Laßt nur, ich werde sie holen.» Er entschwebte nach draußen. Lord Fenneltree stand neben Samantha und sagte: «Ich hoffe, Sie werden mir erlauben, daß ich manchmal hereinschaue, wenn Sie erst verheiratet sind?» «Sie werden uns immer ein lieber Gast sein», sagte Samantha. «Und Sie alle natürlich auch.» «Ja, natürlich. Jederzeit», sagte Adrian. In diesem Augenblick erschien Mr. Filigree. Er rannte, so schnell es seine Körperfülle zuließ, und keuchte atemlos: «Adrian! Adrian, komm schnell!» «Was ist denn los?» fragte Adrian erschrocken. «Rosy!» schrillte Mr. Filigree. «Sie hat sich das Fäßchen Cherry Brandy geholt und ist damit ausgerückt!» Allmächtiger, dachte Adrian. Jetzt fängt alles von vorne an. Sir Magnus, energisch wie immer, nahm die Sache in die Hand. «Los, wir müssen sie kriegen, bevor sie zu weit weg ist. Los!» Er stürzte mit wehenden Rockschößen hinaus, dicht gefolgt von Honoria, der Schwarzen Nelly, Ethelbert, Mr. Pucklehammer und Lord Toddel. Die Nachhut bildete Mr. Filigree. Adrian wandte sich um und blickte Samantha an. «Bist du ganz sicher, daß du mich heiraten willst?» fragte er. «Ja. Ganz sicher», erwiderte sie. «Trotz Rosy?» «Nein, eigentlich gerade wegen Rosy», sagte sie lächelnd. Adrian küßte sie rasch.
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«Dann mußt du mich einen Augenblick entschuldigen», sagte er. «Ich muß schnell meine letzte lebende Verwandte einfangen.» Und er lief mit großen Sprüngen nach draußen.
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