Charlotte Engmann
Ein Schnitter namens Tod Version: v1.0 Lukas legte den Hörer zurück auf die Telefongabel, stand vom ...
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Charlotte Engmann
Ein Schnitter namens Tod Version: v1.0 Lukas legte den Hörer zurück auf die Telefongabel, stand vom Schreibtisch auf und trat an das Fenster seines Arbeitszimmers. Über dem Siebengebirge erklomm der zunehmende Mond das Firmament und tauchte die bewaldeten Hänge in silbernes Licht. Der rotblonde Vampir seufzte lautlos. Der Blick seiner wasserblau en Augen ging ins Leere. Seine Gedanken waren bei Perdita. Sie war nicht Fleisch von sei nem Fleisch, jedoch Blut von seinem Blut – und seine Tochter war die Gefangene des Schwarzmagiers und Nekromanten Waidinger. Seine beiden Spione – Wolf und Maxine – hatten berichtet, das siebzehnjährige Mädchen würde sich auf Burg Hohenstein frei be wegen, und das konnte nur heißen, dass Waidinger sie mit einem Zauberbann belegt hatte. Prüfend legte Lukas die Hand auf die Fensterscheibe. Die goldenen Tage des Oktobers waren vorbei, die Nächte bis Hallo ween waren gezählt. Mit jedem Tag, der verstrich – mit jeder
Stunde! – wuchs Lukas’ Überzeugung, in dieser magischen Nacht würde sich alles entscheiden. Der Duft von Orangen und heißem Sand riss ihn aus seinen Ge danken. Lukas drehte sich um. Vor dem Feuer im Kamin zog sich grauer Rauch zusammen. Ein Nebelfetzen wuchs zu einer mannshohen Kugel an. Der dunkle Schleier lüftete sich, gab den Blick frei auf einen Mann im hellen Umhang und verflüchtigte sich spurlos. »Bashar, mein Freund«, begrüßte Lukas den erwarteten Ankömm ling herzlich. Gerade noch hatten sie miteinander telefoniert, jetzt standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Willkom men auf Schloss Lohrberg. Wie war die Reise?« »So angenehm, wie sie auf den Schwingen eines Dschinns nur sein kann.« Lukas verließ den Platz am Fenster und begrüßte seinen Freund mit einer Umarmung und den traditionellen Küssen auf die rechte und linke Wange. Flüchtig musterte er Bashar. Bei ihrem letzten Treffen war der sy rische Magier nur ein Schatten seiner Selbst gewesen, ausgemergelt bis auf die Knochen, weil er seine Zauberkräfte über alle Maßen strapaziert hatte. Doch inzwischen hatte er sich gut erholt. Vielleicht ein bisschen zu gut. Das helle Hemd unter seinem Bur nus spannte über einem kleinen Bäuchlein, und das Gesicht wirkte leicht aufgedunsen. Das salz- und pfefferfarbene Haar und der grau weiße Bart waren sorgfältig gestutzt. In den dunklen Augen mischte sich das Feuer eines jungen Geistes mit der Weisheit eines mehr als zweitausendjährigen Lebens. Bashar nahm die Leinentasche, die er über die Schulter ge schlungen trug, und legte sie auf dem Couchtisch zwischen den beiden Sofas ab. »Nachdem du mir von deinen Befürchtungen bezüglich des Schwarzmagiers Waidinger berichtet hattest, habe ich einige Nach
forschungen angestellt«, sagte er. »Das Ergebnis birgt Sorge und Erleichterung gleichermaßen.« »Setzen wir uns«, schlug Lukas vor. »Kann ich dir etwas anbieten?« »Du meinst etwas anderes als Blut?« Lukas lächelte schief. »Zurzeit ist Wolf hier zu Gast. Und er hat ein paar Einkäufe gemacht, hauptsächlich Fleisch und ein bisschen Ge müse. Was Werwölfe halt so essen.« »Danke. Später vielleicht.« Aus der Leinentasche zog Bashar seine Unterlagen – alte Pergamente und moderne Computerausdrucke. »Seit jeher versuchen die Menschen – oder genauer: die magisch Be gabten unter ihnen – Geister und Dämonen in geeignete Behälter zu bannen. Die klassischen Beispiele sind die Büchse der Pandora oder Aladins Wunderlampe.« »Die sich in deinem Besitz befindet«, warf Lukas ein. »Ich besitze eine Wunderlampe«, korrigierte Bashar mit einem flüchtigen Lächeln. »Es gibt kein Patent darauf.« Er wurde wieder ernst. »Ob wir nun an die Prophezeiungen des Johannes über die vier Reiter der Apokalypse glauben oder nicht … Fakt ist, unser Feind Waidinger verfügt über zwei Spieluhren, in die er je einen Pest- und einen Kriegsdämonen gebannt hat.« »Inzwischen hat er auch Hunger.« Von seinem Schreibtisch holte Lukas den Kölner Stadtanzeiger vom letzten Wochenende. In einem reißerischen Artikel wurde darin berichtet, wie sich quasi über Nacht die Todesfälle in einer Klinik für Essgestörte gehäuft hätten. Polizei und Gesundheitsamt würden hektisch ermitteln, doch die Ursache für das Versagen jedweder medizinischer Maß nahmen war bisher unbekannt. »Wie wir erfahren haben, verfügt Waidinger über eine Spieluhr, die dazu geeignet ist, einen Hungerdämon zu bannen. Ich bin sicher, diese Todesfälle waren der Testlauf«, erklärte Lukas.
Kalte Schauer jagten über seinen Rücken. Die verheerende Macht der Dämonen Krieg und Pest hatte er am eigenen Leibe erlitten. Auf eine Wiederholung dieser Erfahrung legte er keinen Wert. »Wenn wir davon ausgehen, dass Waidinger die Macht über die vier Reiter der Apokalypse erlangen will, dann fehlt ihm noch Tod.« Bashar breitete seine Unterlagen aus. »Da der Tod allgegenwärtig ist und außerdem stets im Gefolge der drei anderen Dämonen er scheint, muss Waidinger ihn gesondert beschwören, ehe er ihn in eine Spieluhr bannen kann. Dazu muss er während eines Rituals die drei anderen Dämonen auf eine Menge Menschen hetzen.« »Wie viele Menschen?« »Tausende.« Lukas nickte betroffen. Er durfte, nein, er konnte nicht zulassen, dass Waidinger so viele Unschuldige für seine ehrgeizigen Pläne ermordete. Er musste diese Katastrophe unter allen Umständen verhindern. »Diese Voraussetzung schränkt die Wahl des Ortes erheblich ein«, fuhr Bashar mit ernster Ruhe fort. »Es müssen viele Menschen auf engstem Raum versammelt sein, ohne dass sie die Möglichkeit haben, den Dämonen zu entfliehen. Eine große Konzerthalle oder ein Sportstadion wären geeignet.« Lukas starrte auf die Zeitung. Eine eisige Hand schien sein Herz zu zerquetschen. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er schmeckte Galle in seinem Mund. Es gab noch einen viel besseren Ort, an dem Waidinger sein Ritual vollziehen konnte; einen Ort und Zeit, wo niemandem sein Tun auffallen würde, ehe es zu spät war. Und vielleicht nicht einmal dann. »In Schwarzenburg wird zu Halloween ein Vergnügungspark er öffnet«, sagte er mit tauben Lippen. »Wer im Kostüm kommt, zahlt die Hälfte. Man erwartet zehntausend Besucher, und es wird ein großes Rahmenprogramm angeboten, von Akrobaten-Auftritten bis Zaubershows.«
Ein Mann in der Robe eines Schwarzmagiers würde ebenso wenig auffallen wie die Verkörperungen von Pest, Krieg und Hunger. Die Dämonen würden eine Schneise des Todes durch die Besucherrei hen ziehen, ehe auch nur eine Menschenseele merken würde, was vor sich ging. »Du meinst Schwarzenburg im Rheinland, nicht wahr?«, hakte Bashar nach. »Die Stadt, die zu Burg Hohenstein gehört.« »Gehörte. Nach Reinhards Tod hat sich die Bevölkerung gegen den letzten Fürsten von Schwarzenburg erhoben und den überzeug ten Nazi an die Alliierten ausgeliefert. Seither regiert ein Stadtrat, doch ich befürchte, die Stadt wird weiterhin dunkle Geschichte schreiben.« Es war wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Jahr hundertelang hatte der Schwarzmagier Reinhard von Hohenstein in einer Burg am Rande der Stadt gelebt, und um seine widernatürli che Existenz zu verbergen, hatte er die lokalen Fürsten als Ma rionettenherrscher gegängelt. Unter der geheimen Herrschaft des ruchlosen Magiers hatte sich in Schwarzenburg so ziemlich jedes Verbrechen der deutschen Geschichte ereignet, das Mittelalter und Neuzeit zu bieten hatten. Hexenverfolgung, Ketzerverbrennung, schwerer Menschenhandel und wiederholte Pogrome waren nur einige der finsteren Höhepunkte. Um die schaurige Vergangenheit aufzuarbeiten und das schlechte Image der Stadt zu verbessern, wollte man jetzt eine Art GruselVergnügungspark eröffnen, eine wüste Mischung zwischen Phan tasialand und Heimatmuseum. Dass der Schuss – wie typisch für die Stadt – nach hinten losging, bewies ein landesweiter Aufschrei der Empörung. Aber Schwarzenburg hatte sich durchgesetzt. Zu Halloween würde der Horrorpark seine Tore öffnen und Waidinger die perfek te Bühne für ein weiteres düsteres Kapitel der Stadtgeschichte liefern …
* In den frühen Morgenstunden kehrte Wolf mit Maxine zurück und bestätigte Lukas’ Befürchtungen: Was immer Waidinger plante, es würde im Horrorpark zu Schwarzenburg stattfinden. »Wir sind ihm bis zum Rand des Vergnügungsparks gefolgt«, be richtete Wolf. Im Schneidersitz ließ er sich vor dem Kamin nieder, mit dem wärmenden Feuer im Rücken und in einigermaßen sicherer Entfer nung zu Lukas. Mit dem Aufgang des fast vollen Mondes hatte sich sein schmächtiger Leib in den muskelbepackten Körpers eines Schwerathleten verwandelt. Dicke Muskelstränge hatten an Ober schenkeln und -armen die beenge Kleidung gesprengt. Eine strup pige, dunkle Mähne und ein buschiger Vollbart gaben ihm eine un gepflegte, verwilderte Erscheinung, die von einem starken Kör pergeruch noch verstärkt wurde. »Das Gelände wird von hohen Zäunen geschützt«, erklärte er, »aber Waidinger hat einen Schlüssel für den Hintereingang.« »Eher einen Zauberspruch«, warf Bashar ein. Der syrische Magier war auf dem braunen Ledersofa zurückge sunken. Sein Kopf ruhte auf dem oberen Rand des Rückenpolsters, und seine Augen waren geschlossen. Doch während sein Körper entspannt ruhte, war sein Verstand hellwach. »Wie auch immer«, ließ Maxine ihr hohes Stimmchen erklingen. Die Gremline stellte den runden Aschenbecher, der auf dem Couchtisch stand, auf den Kopf und nahm auf dem Sessel-Ersatz Platz. Mit den fiesen, schuppig-schleimigen Wesen aus dem be rühmten Kinofilm hatte sie nichts gemein. Bis auf ihre Miniaturgrö ße von zwanzig Zentimetern und die spitzen Ohren wirkte sie wie eine ganz normale Menschenfrau. Eine Lederkappe, die ihren roten
Schopf bedeckte, und ein hellgrauer, ölverschmierter Overall gaben ihr das Aussehen einer Mechanikerin für Modell-Flugzeuge. Sie fuhr fort. »Wir sind Waidinger quer durch den Horrorpark ge folgt bis zu einem Bereich, der unter dem Titel Burg Hohenstein ge führt wird. Dort steht eine Art mittelalterlicher Burg: Ein hoher, viereckiger Turm, ein großes Haupthaus und ein rechteckiger Platz, der von einer Burgmauer und drei kleinen Türmen eingefasst wird.« »In dem Turm befindet sich ein Fahrgeschäft«, übernahm Wolf. »In dem Haupthaus gibt es ein Restaurant und ein Gruselkabinett zur Schwarzenburger Geschichte im Mittelalter.« »Wie ich die Schwarzenburger kenne, vor allem über das Raub rittertum, die Kunst der Folter und allerlei Hinrichtungsarten.« Lu kas stand von dem Sofa auf und begann, zwischen Sitzecke und Schreibtisch unruhig auf und ab zu laufen. »Ist der Zugang zum Burghof durch ein Tor gesichert?« »Mehr oder minder. Es gibt zwei Torflügel, die auch schließen, aber es fehlt jede Art von Verriegelung«, antwortete Wolf. »Wahr scheinlich wird das Tor nur geschlossen, wenn der ganze Bereich wegen Wartungs- oder Reparaturarbeiten gesperrt werden muss.« Bashar setzte sich auf und schaute Maxine fragend an. »Was meinst du, könnte man die Tore mechanisch verriegeln?« »Sie gehen nach außen auf. Man könnte sie mit Keilen blockieren, aber es würde nicht lange halten«, antwortete die Gremline. »Also brauchen wir einen Sperrzauber«, überlegte Bashar. »Außerdem müssen wir die Besucher aus der Gefahrenzone bringen.« »Wie stellst du dir das vor? Es wird von Sicherheitspersonal und Angestellten nur so wimmeln«, wandte Wolf ein. »Warum greifen wir Waidinger nicht direkt in Burg Hohenstein an? Im Horrorpark ist es viel gefährlicher, und wir haben keine zweite Chance, sollte der Nekromant erfolgreich sein.« Lukas fluchte kurz, aber heftig. »Burg Hohenstein ist zu gut gesi
chert. Du darfst nicht vergessen, der Schwarzmagier Reinhard hatte Jahrhunderte lang Zeit, seinen Unterschlupf gegen Angriffe aller Art zu sichern – weltlicher wie übernatürlicher. Die Zauber, die mit sei nem Tod erloschen sind, wird Waidinger erneuert haben, während die uralten Bannkreise sowieso unversehrt geblieben sind.« Lukas lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und krallte die Finger um die Kante der Tischplatte. Vor fünfzig Jahren hatte Reinhard ihn mit den dem gleichen Zauberbann belegt, der jetzt Perdita zu blindem Gehorsam zwang. Damals sollte Lukas seinen Freund Bashar töten, doch der Syrer hatte den Zauber rechtzeitig durch schaut und gebrochen. Gemeinsam hatten sie sich gegen Reinhard gewandt und mit vereinten Kräften den Schwarzmagier vom Leben zum Tode befördert. Doch einen direkten Angriff gegen seine Burg hatten sie damals nicht gewagt und würden es heute auch nicht versuchen. »Und wenn wir ihn auf dem Weg zum Horrorpark abpassen? Ihm kurz hinter Hohenstein einen Hinterhalt legen?«, schlug Wolf vor. »Zu unsicher. Wir wissen nicht, wann er die Burg verlässt. Und tagsüber verfüge ich nicht über die Hälfte meiner Kräfte«, sagte Lu kas ruppig. Nur ungern sprach er über die Unzulänglichkeiten, die er den Sonnenstunden verdankte. Er fixierte die drei Anwesenden nacheinander mit festem Blick. »Außerdem will ich Perdita nicht in Gefahr bringen. Lieber riskiere ich ein paar Menschenleben, als meine Bluttochter zu verlieren.« Mit Nachdruck fügte er hinzu: »Ich hoffe, ihr seid der gleichen Ansicht.« Wolf grinste frech, und Maxine zuckte ungerührt mit den Schultern. Nur Bashar räusperte sich kritisch. »Ich würde es vorzie hen, wenn es gar keine Opfer zu beklagen gäbe.« »Damit kann ich leider nicht dienen. Ich glaube nicht, dass Waidinger unser Wiedersehen überleben wird.« Lukas stieß sich von der Tischplatte ab. Das Schlachtfeld war bestimmt, ebenso die Stunde ihres Kampfes.
Nun galt es, sich gründlich vorzubereiten. Und wenn sich am Ende der Halloweennacht die Tore der Unterwelt wieder schlossen, soll ten sie sich auch hinter Waidinger schließen.
* Lukas lehnte sich in den Schatten des Kamins zurück. So konnte er vom Dach des Pallas aus die Umgebung beobachten, ohne selbst gesehen werden. Obwohl ihm und seinen Verbündeten nur wenig Zeit zur Verfü gung gestanden hatte, hatten sie ihre Vorbereitungen gründlich und umsichtig treffen können. Gestern Nacht waren sie in den Horror park von Schwarzenburg eingebrochen, und Bashar hatte den Nach bau von Burg Hohenstein mit unsichtbaren Bannsprüchen belegt. Außerdem hatten sie ihre Waffen versteckt und geeignete Posi tionen für ihren Angriff ausgewählt. Anschließend war Maxine allein zurückgeblieben, um im Laufe des Tages den Mystery Tower zu sabotieren. In diesem Turm wurden die Fahrgäste auf sechzig Meter Höhe gezogen, und dann ging es abwärts im freien Fall. Wie Lukas zufrieden feststellte, hatte die Gremline ihre Aufgabe erfolgreich erledigt. Das Fahrgeschäft war geschlossen worden, ohne das jemand zu Schaden kam. Und das sollte auch so bleiben. Er ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Die Anlage Burg Ho henstein lag am Rand des Vergnügungsparks, etwas erhöht auf einem Bergrücken. Jenseits der Burgmauer erleuchteten rote, gelbe und grüne Lichter die anderen Fahrgeschäfte. Das Blinken und Geflirre der sich hebenden und senkenden, der auf- und ab steigenden, sich drehenden, hüpfenden und kreisenden Lämpchen machte ihn schwindelig. Die kühle Nachtluft wurde verpestet von dem Gestank von Fritten und Hamburgern, von süßem Popcorn
und Zuckerwatte, von Softdrinks und Glühwein. Über die asphaltierten Wege schoben sich die Besucher, einige in normaler Herbstkleidung, die meisten mehr oder minder kostümiert mit roten Teufelshörnern, weißen Geisterkutten und schwarzen Zauberhüten. In der Minderheit, dafür umso auffälliger, waren aufwändige, teils recht authentische Verkleidungen als Ritter und Burgfräulein, als Hexen, Zombies und andere Schauergestalten. Dabei handelte es sich wohl um Vermächtnisse der Karnevalszeit oder von einem Ko stümverleih gemietet. Lukas lachte leise, als sein Blick auf eine weitere Gruppe Besucher fiel, die sich mit weiß geschminkten Gesichtern und schwarzer, altertümlicher Kleidung als Vampire verkleidet hatte. »Worüber lachst du?«, erkundigte sich Maxine, die auf dem Schornstein hockte. Um ihren Leib war eine lange Leine ge schlungen, die sie vor einem Absturz sicherte. »Da hinten ist noch eine Gruppe falscher Vampire«, erklärte Lu kas. »Mann, wenn wir damals so rumgelaufen wären, hätte uns die Inquisition sofort den Garaus gemacht.« »Lass sie doch. Je abwegiger die Vorstellungen, die die Sterblichen von uns haben, desto eher bleiben wir unerkannt.« Lukas nickte wortlos. Er hatte ja nichts dagegen, wenn die Leute absichtlich leichenblass und in Trauerkleidung durch die Gegend liefen. Ganz im Gegenteil, er hatte sogar Spaß daran. Mit einem amüsierten Grinsen meinte er: »Da hätte ich mich ja gar nicht verkleiden müssen.« Er blickte an sich herab. Wie üblich, wenn er in den Kampf zog, trug er braunes Leder und blaues Leinen. Ein besticktes Wams schmückte das Kettenhemd, das seinen Oberkörper schützte, und eine lederne Hose und kniehohe Stiefel bedeckten seine Beine. Ein schwarzer Edelstein funkelte auf dem Knauf seines Schwertes, und ein langer Dolch hing auf der anderen Seite im Waffengürtel. Histo risch war sein Aufzug alles andere als korrekt, doch zwischen den
kostümierten Besucherscharen fiel er nicht weiter auf. In der Menge unten im Burghof entdeckte er plötzlich Mignons vertraute Gestalt. Sie trug eine fesche Husarenuniform, die ihren knabenhaften Körper betonte. Eine enge, helle Hose steckte in hohen Lederstiefeln, und eine dunkle Jacke hing lässig über ihre Schulter. Der Säbel an ihrer Seite war keine Attrappe, sondern eine Waffe, die sie mit tödlicher Sicherheit zu führen wusste. Lukas biss die Zähne zusammen. Ein Messer bohrte sich in sein Herz und drehte sich mit grausamer Langsamkeit, während er beob achtete, wie Mignon tiefer in den Burghof trat. Er war sich ihrer Freundschaft und Zuneigung sicher gewesen, hatte ihr vertraut und Trost in ihrem Armen gesucht. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt war sie Waidingers Verbündete gewesen, hatte mit dem Schwarzmagier einen heimlichen Pakt ge schlossen, mit dem Ziel, die bestehende Hierarchie unter den Vam piren zu stürzen. Sie wollte die alten, erprobten Gesetze durch die Willkürherrschaft eines mächtigen Tyrannen ersetzen. Mignon folgte eine Gestalt im schwarzen Kapuzenumhang. Zuerst glaubte Lukas, unter der Kutte würde sich Perdita verbergen. Doch als die Kapuze zurückgeschlagen wurde, erkannte er den tot ge glaubten Vampir Joscha. Lukas zog die Augenbrauen hoch. Sie alle waren der Meinung ge wesen, der dunkelhaarige Maler wäre bei dem Brand in seinem Atelier umgekommen, aber offensichtlich hatte Waidinger ihn eben falls entführt. Durch Überzeugung, Erpressung oder mit der Macht eines Zauberbanns hatte der Schwarzmagier Joscha zu seinem Ver bündeten gemacht. »Es dauert nicht mehr lang«, sagte Lukas zu Maxine, während Mi gnon und Joscha in der Mitte des Burghofs stehen blieben. Er schaute nach dem Stand der Sterne, die am klaren Firmament wie Diamanten leuchteten. »Der Mond geht bald auf.« »Dann sag ich mal Bashar Bescheid.« Maxine griff nach der Leine,
die sie sicherte, und seilte sich den Kamin hinunter ab. Lukas legte einen Bolzen mit stählerner Spitze in seine Armbrust ein. Jetzt hieß es abwarten, bis der richtige Zeitpunkt zum Handeln gekommen war. Waidinger musste sich ungestört und in Sicherheit wähnen, bis es zu spät war, um das Ritual zu stoppen. In dem Moment würden sie zuschlagen, schnell und gnadenlos wie Falken auf der Jagd nach Hasen. Plötzlich strömte Kälte aus dem magischen Amulett auf seiner Brust und verriet die Ankunft des Schwarzmagiers, noch bevor Lu kas ihn im Burghof ausmachen konnte. In der Menge der Kostü mierten fielen die drei Gestalten in den schwarzen Kutten nicht wei ter auf. Kein einziger Besucher schenkte ihnen mehr als einen flüchtigen Blick. Erst als sich die drei Neuankömmlinge mit Mignon und Joscha in der Mitte des Hofes trafen, begannen sie, Aufmerksamkeit zu er regen. Der leichte Besucherstrom, der zwischen Eingangstor und Haupthaus dahinplätscherte, geriet ins Stocken. Kleine Grüppchen blieben stehen und schauten auf die fünf Gestalten in Erwartung einer Theatervorführung oder einer Showeinlage, wie sie in der Er öffnungsnacht überall im Horrorpark stattfanden. Hoch gewachsen und mager bis zur Auszehrung überragte Waidinger die Schar seiner gehorsamen Diener. Die Kapuze seiner Kutte lag auf seinen Schultern und gab den Blick auf das harte Gesicht mit den kalten, grauen Augen frei. Schwarze Handschuhe betonten, wie lang und schmal seine Hände waren. Er stellte den großen, rechteckigen Aktenkoffer, den er mit sich trug, vor seinen Füßen ab, öffnete ihn und holte eine Spieluhr her vor. Eine Tänzerin in einem schwarzweißen Harlekin-Kostüm war in ihren Pirouetten auf der Musikdose erstarrt. Wie Lukas am eigenen Leibe erfahren hatte, saß in dieser Spieluhr ein Krankheitsdämon gefangen, ein abstoßendes und gefährliches Wesen, das mit seinem Erscheinen die Pest unter den Menschen ver
breitete. Er legte die Armbrust auf seinen Knien ab und zog ein Päckchen aus seinem Stiefel. Waidinger reichte die Spieluhr einem seiner Diener. Es handelte sich um eine zierliche Gestalt, die in ihrer schwarzen Kutte förmlich ertrank. Lukas erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine zarte Hand, sah einen silbernen Ring mit einem grünen Stein aufblinken und wusste, er hatte Perdita gefunden. Erleichtert stieß er die Luft aus seinen Lungen. Auch wenn seine Bluttochter nicht gesund und munter war, so ging es ihr zumindest körperlich gut genug, um an diesem Ritual teilzunehmen. Sie war in Gefahr, aber nicht verloren. Waidinger nahm zwei weitere Spieluhren aus seinem Aktenkoffer: Die eine Tänzerin war mit einem knallroten Body und schwarzge punkteten Flügeln als Maikäfer verkleidet. Die andere trug eine Bauerntracht aus einer weißen Bluse, einem dunklen Mieder und eine bunten Rock. Die Maikäfer-Spieluhr erhielt Mignon, die andere Musikdose ging an Perditas Schwester Beate, die sich unter der letz ten Kutte verbergen musste. Nachdem Waidinger die Spieluhren mit den darin gebannten Dä monen an seine Dienerschar verteilt hatte, reckte er die Arme dem Himmel entgegen. In einer fremden Sprache intonierte er eine kurze Beschwörung. Auf den Kopfsteinen flammten magische Zeichen auf, drei ausgedehnte Kreise, die ein mehrere Meter großes Penta gramm umfingen. Unbekannte Symbole leuchteten in den Spitzen des Fünfecks und zwischen den Kreislinien. Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge. Die Leute gaben den Hof frei und wichen bis zur Burgmauer zurück, doch sie ahnten nicht die Gefahr, in der sie schwebten. Sie waren neugierig und ge spannt, aber nicht verängstigt. »Jetzt, Bashar«, murmelte Lukas. Als hätte ihn der syrische Magier gehört, drang aus dem Schorn stein unvermittelt ein bestialischer Gestank. Gedämpft hörte Lukas
ersticktes Keuchen und Husten. Immer mehr Menschen verließen die Gaststätte und das Museum, in denen sich ein unerträglicher Ge ruch ausbreitete. Ab jetzt lief die Zeit. Ein Mitarbeiter würde das Management rufen, leitende Angestellte würden zum Restaurant eilen und die unangemeldete Vorführung bemerken. Unliebsame Aufmerksam keit würde den Vorgängen zuteil werden, dabei wollte Lukas weder Zeugen noch potenzielle Opfer in der Burg. Der Vampir blickte auf die Uhr. Noch eine Minute bis Mond aufgang. Das Timing war perfekt. Sobald sich das volle Rund des Nachtgestirns über dem Pallas erhob, würde Wolf aus seinem Ver steck stürmen. Noch hielt ihn der Rest seines Verstandes hinter der Eingangstür zum Mystery Tower zurück. Doch mit dem Aufgang des Mondes würde er sich in eine reißende Bestie verwandeln, eine Furcht erregende Mischung aus Mensch und Wolf. Er würde sich auf Perdita stürzen, die ihm im Prater entkommen war und deren Duft noch in seiner Nase weilte. Unten im Hof begann Waidinger mit einer komplizierten Anru fung, während seine vier Diener an ebenso viele Spitzen des Penta gramms traten. Keiner von ihnen schien zu bemerken, dass die Be sucher aus dem Haupthaus strömten und mehr und mehr Leute den Burghof verließen. Wahrscheinlich wurden sie von den drei brennenden Kreisen geblendet, die das magische Ritual vor Stö rungen durch Menschen, Tiere und übernatürliche Kräfte schützten. Lukas brachte die Armbrust in Anschlag. Er musste nur den Abzug betätigen, und der Bolzen würde losschießen und sich in das Herz der Verräterin Mignon bohren. Plötzlich war er in Schweiß gebadet. Die Waffe zitterte in seinen unvermittelt feuchten Händen … Er konnte es nicht tun. Er konnte die einstige Freundin nicht töten, konnte sie nicht eiskalt aus dem Hinterhalt erschießen. Er musste sich ein anderes Ziel suchen.
Langsam schwenkte er die Armbrust herum. Perdita musste er Wolf überlassen, und Waidinger war durch seine Zauber geschützt, wie der Vampir aus leidvoller Erfahrung wusste. Beate war Perditas Schwester, und die brauchte er lebend. Nur ungern wollte er seiner Bluttochter gestehen müssen, ihre Schwester getötet zu haben. Blieb nur noch Joscha – der einzige Unschuldige und Unbeteiligte im Kampf zwischen Magiern und Vampiren. Unwillkürlich senkte Lukas die Armbrust, da er kein Ziel fand. Obwohl sie alle die Verbündeten oder die Sklaven des Nekromanten waren, wollte er keinen von ihnen töten. Da war seine Zeit abgelaufen. Der Vollmond erhob sich über die Burgmauer. Kaum erhellte er mit seinem kalten Licht den Burghof, drang aus dem Mystery Tower ein Furcht erregendes Heulen, wie von einem Rudel tollwütiger Wölfe. Der äußere Flammenkreis, der auf den Kopfsteinen leuchtete, wechselte die Farbe. Das zornige Rot verwandelte sich in ein mildes Blau. Die Flammen fielen in sich zusammen, der Kreis erlosch. Waidingers Stimme verstummte wie abgeschnitten. Aus dem Mystery Tower drang lautes Gepolter. Die Eingangstür bebte. Zum zweiten Mal erschallte wütendes Geheul. Ein schwerer Schlag ließ die Tür erzittern. Endlich gaben die Angeln nach, die Tür brach aus dem Rahmen und knallte zu Boden. Der Werwolf sprang über die Schwelle. Aus seinem zornigen Heu len wurde triumphierendes Gebell. Einen kurzen Moment lang verharrte die riesige Bestie vor dem Turm. Hörbar sog sie die Luft in die Nase, hungrig fletschte sie die Zähne. Lukas schoss auf die erste Kutte, auf die sein Auge fiel. Der Bolzen zischte durch die Nacht und traf Joscha mitten in die Brust. Lautlos stürzte der junge Vampir zu Boden. Erschreckte Schreie brandeten durch die Nacht. Die Besucher, die
dem Ausgang am nächsten waren, eilten durch den Torbogen ins Freie. Die anderen schoben und stießen diejenigen zur Seite, die ver stört wie erstarrt dastanden und teils entsetzt, teils fasziniert die Er eignisse verfolgten. Noch hielten sie das alles für einen geschmack losen Teil einer Vorführung. Im nächsten Moment wurden sie eines besseren belehrt. Mit einem gewaltigen Satz, halb Flug, halb Sprung, verließ Lukas das Dach. Der Schwung trug ihn vorwärts, mitten in das Penta gramm hinein. Ehe Waidinger oder Beate reagieren konnten, stand er bei Joscha. Er riss den Vampir hoch und zertrümmerte mit einem gewaltigen Schlag dessen Rückgrat. Mit einem vernehmlichen Knacken brach die Wirbelsäule. Wie eine Marionette, deren Fäden man zerschnitten hatte, fiel Joscha zu Boden. Lukas drehte sich genau in dem Moment um, als der Werwolf sein Opfer erreichte. Er riss die schmale Gestalt von den Füßen. Die Spieluhr wurde aus ihren Händen katapultiert und landete jenseits des Schutzkreises. Mit seinen riesigen Pranken zerfetzte Wolf die schwarze Kutte. Perditas Gesicht wurde sichtbar, von Angst und Entbehrung ge zeichnet. Mit der Kraft und Schnelligkeit eines Vampirs versuchte sie, die Attacken des Werwolfes abzuwehren. Fluchend griff Lukas nach seinem Schwert. Er hatte Beate mit Perdita verwechselt, sich von dem Smaragdring täuschen lassen. Jetzt stand er genau zwischen Waidinger und Beate – dem Meis termagier und seiner Schülerin. Kalt und höhnisch schallte Waidingers Lachen über den Burghof. Er wirkte weder verärgert noch überrascht. Stattdessen hob er die Hand, drehte die Handfläche von außen nach innen, und eine Kugel aus Feuer erschien zwischen seinen Fingern. Mit einer winzigen Be wegung schleuderte er den Feuerball auf den Werwolf. Die Flammen prallten gegen den mächtigen Leib, versengten die struppigen Haare und verbrannten die zähe Haut. Aufheulend ließ
der Werwolf von seinem Opfer ab. Die Torflügel schlossen sich mit einem lauten Rums. Ein flüchtiger Blick versicherte Lukas, dass sie jetzt allein waren. Sämtliche Besu cher waren aus Burg Hohenstein geflüchtet. Niemand würde ihren Kampf stören, denn Bashars Zauber sicherten das Tor, sodass keine sterbliche Seele mehr hinein oder hinaus konnte. Die Zeit schien still zu stehen. Angespannte Stille breitete sich über den Burghof aus, nur von dem leisen Jaulen des Werwolfes un terbrochen. Wachsam schwenkte er seinen mächtigen Schädel von Perdita zu Waidinger und zurück. Sein Instinkt trieb ihn, sich auf das Mädchen zu stürzen, doch gleichzeitig wusste er um die Gefahr einer neuen Feuerattacke. »So sehen wir uns wieder«, sagte Waidinger mit hochmütiger Ge lassenheit. »Zwar habe ich mit deinem Erscheinen gerechnet, Lukas, aber dein Auftritt war von überraschender Dummheit.« »So, meinst du?«, konterte Lukas unbewegt. Doch die Ruhe des Nekromanten missfiel ihm. Er hatte gehofft, Waidinger ein wenig zu erschüttern, ihn aus der Reserve zu locken. Aber offensichtlich hatte er seinen Gegner falsch eingeschätzt. Er warf einen schnellen Blick in die Runde. Seitlich hinter ihm stand Beate, in deren hochmütigen Blick sich langsam Unruhe und Furcht schlichen. Rechts von ihm wartete Perdita mit erschreckend leeren Augen auf die Befehle ihres Herrn und Meisters. Der Werwolf hatte ihre Kleidung zerfetzt, doch ihre Wunden waren längst wieder verheilt. Zumindest die körperlichen Verletzungen. Lukas biss sich auf die Lippen. Die Narben auf Geist und Seele würden nur langsam ver blassen. »Dein Schutzkreis ist zerstört, deine Opfer sind entkommen«, sag te er zu Waidinger. »Es wird schwer werden, jetzt noch einen Todes dämonen zu beschwören.«
»Lass das mal meine Sorge sein, Lukas!« Die grauen Augen des Magiers leuchteten wie Blitze in einer Sturmnacht. »Der Tod eines Vampirs, der Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat, wird mir den gleichen Dienst erweisen.« Zum ersten Mal ließ sich Mignon vernehmen, die zwischen Perdita und Beate Stellung bezogen hatte. Die Maikäfer-Spieluhr zitterte in ihren Händen, während sie mit rauer Stimme flehte: »Bitte, Lukas. Noch ist es nicht zu spät. Schließ dich uns an, und ge meinsam werden wir die Welt beherrschen.« Lukas schüttelte stumm den Kopf. Mignon hatte Unrecht: Es war zu spät. Er oder Waidinger, nur einer würde den Burghof lebend verlassen. Sie waren wie die beiden Pole eines Magneten, die sich gegenseitig abstießen. Zwischen ihnen konnte es keine friedliche Koexistenz geben. In einer fließenden Bewegung hob er den Arm und riss ihn gleich wieder runter. Das war das Zeichen für Bashar, Amira, den dienst baren Geist seiner Wunderlampe, zu rufen. Nur einen Herzschlag später materialisierte sich eine Frauenge stalt an seiner Seite, eine arabische Schönheit mit dem einzigen Ma kel, dass jede Farbe an ihrem Körper fehlte. Grau in Grau war ihre Erscheinung, als wäre sie einem Schwarzweiß-Film entsprungen. »Mignons Spieluhr!«, rief Lukas Amira zu. Ansatzlos wirbelte er herum. Zu schnell für Beates menschliche Augen erreichte er die Nekromantenschülerin und trat ihr die Spiel uhr aus den Händen. Im hohen Bogen flog die Musikdose dem Nachthimmel entgegen. Zur gleichen Zeit verwandelte sich Amira in einen Nebelstreif, der flink wie ein Kolibri Mignon umschwirrte. Doch die Vampirin war schneller. Wie ein Wirbelwind drehte sie sich um ihre eigene Achse, hob und senkte die Arme, damit ihre Hände mit der Spieluhr dem Nebelstreif entkamen.
Unvermittelt erklangen die ersten Töne des Liedes Maikäfer flieg. Lukas erstarrte. »He, Wolf!« Waidinger griff in seinen Aktenkoffer. »Fang!« Er zog einen gelbschwarzen Salamander hervor und schleuderte ihn dem Werwolf entgegen. Das kleine Tier prallte gegen das struppige Fell und klammerte sich an die langen Strähnen, die sofort Feuer fingen. In Windeseile hüllten die Flammen den Werwolf ein. Ein unmenschlicher Schmerzensschrei gellte durch die Nacht, und von unsäglichen Qualen gepeinigt schlug Wolf auf die Flammen ein, die der Teufelssalamander entzündet hatte – vergeblich! Innerhalb von Sekunden umfing ihn eine weiß brennende Lohe. Der Gestank von verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch erfüllte den Burghof. Abrupt verstummten die Schreie. Was von Wolfs Körper übrig war, fiel zu Boden, zu einem schwarzen Klumpen Schlacke und Asche verbrannt, an dem sich der Teufelssalamander gütlich tat. Übelkeit schüttelte Lukas. Der ätzende Gestank brannte in seiner Nase, doch die Empfindung drang nicht bis in seinen Verstand vor. Der Schock über den plötzlichen und entsetzlichen Tod seines Ver bündeten betäubte ihn schier. Zum ersten Mal schwemmte eiskalt die Angst über ihn hinweg. Hatte er Waidinger wirklich so sehr unterschätzt? Der Schrecken saß tief, sodass er nicht bemerkte, wie Beate seine Erstarrung ausnutzte und die Spieluhr auffing, die er aus ihren Händen getreten hatte. Ebenso entging ihm, wie sich Amira in eine Frau zurückverwandelte und auf weitere Befehle wartete. Erst Mignons Schreckensschrei zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Während Wolf den Tod in den Flammen des Teufelssalamanders
gefunden hatte, war Mignons Spieluhr der Dämon Krieg entstiegen. Als rötlicher Rauch hatte er seinen Weg aus der Musikdose ge funden, um sich auszudehnen, sich zu verdichten und die Gestalt eines Ritters in blutroter Rüstung anzunehmen. Auf Waidingers Zauberwort hin wandte sich der Kriegsdämon Mignon zu – und ergriff Besitz von ihr. Wie ein Vorhang aus Rauch umfing er ihren Körper. Kurz flimmerte ihre Gestalt, ein verzweifelter, ohnmächtiger Schrei drang aus ihrer Kehle, dann verwandelte sich ihre Erscheinung. Die Spiel uhr fiel aus ihren verkrampften Händen. Eine braunrote Rüstung, eng wie eine zweite Haut, überzog ihren Körper, während ihr Gesicht von dem hässlichen und grausamen Antlitz des Krieges ent stellt wurde. Ein mächtiges Breitschwert erschien in ihren Händen. Lukas zog blank. Er klammerte die Hand so fest um den Schwert knauf, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken, doch entschlossen suchte er einen si cheren Stand. Was er zu vermeiden versucht hatte, war jetzt einge treten: Er hatte Mignon verloren! Im Zuge von Waidingers perfidem Spiel hatte sie ihr Leben ge lassen. Jetzt galt es nur noch, ihrer leeren Hülle den letzten Frieden zu schenken. Er packte sein Schwert mit beiden Händen. Schon einmal hatte er diesen Kriegsdämon besiegt, und er würde es wieder tun. »Nicht so hastig«, rief ihn Waidinger an. Er winkte Beate, und mit einem überheblichen Lächeln zog das Mädchen die zweite Spieluhr auf. In ihren Augen glänzte der Hoch mut und machte Lukas klar, sie hatte niemals unter dem magischen Bann des Nekromanten gestanden. Sie war Waidingers willige Dienerin und würde es für immer bleiben. Mit der letzten Drehung des Schlüssels setzte sich die Spieluhr in Gang. Die Melodie von »Oh, du lieber Augustin« erklang. Weißer Rauch quoll aus der Musikdose und überdeckte mit seinem widerli
chen Gestank den beißenden Geruch von verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch. Innerhalb eines Augenblickes verwandelten sich die Rauchschwaden in den Schwarzen Tod, in die Verkörperung der Pest: Ein Mantel aus Finsternis umwehte ein kalkweißes Skelett, an dem dunkerrote Hautfetzen und gelbliche Fleischstücke hingen. »Mit wem willst du es diesmal aufnehmen?«, rief der Schwarzma gier siegessicher lachend. Mit einem Zauberwort rief er den Teufelssalamander zurück in seine Dienste. Die kleine Höllenkreatur rannte los und zog einen neuen Flammenkreis um das Pentagramm, ehe er in dem Aktenkof fer des Schwarzmagiers verschwand. Lukas suchte Amiras Blick und wies mit einem Nicken auf die von Krieg besessene Mignon. Der Lampengeist verwandelte sich in eine kampfbereite Sarazenin. Ein spitzer Helm schützte ihren Kopf, maß gefertigte Eisenplatten ihren Körper. Mit leichter Hand schwang sie zwei Krummsäbel, Abbilder jener Waffen, unter denen die Kreuz ritter ihr Leben gelassen hatten. Ohne zu zögern griff sie den Kriegsdämon an. Er konterte ihre flinken Schläge mit übernatürlicher Kraft. »Worauf wartest du?«, höhnte Waidinger, als er Lukas’ Zögern be merkte. »Oder willst du der Lampenschlampe die ganze Arbeit überlassen?« Lukas ersparte sich eine Antwort. Er hatte darauf gewartet, dass der Schwarze Tod von Beate Besitz ergriff, so wie Krieg Mignon übernommen hatte. Aber das würde nicht geschehen, wie er jetzt er kannte. Waidinger ging davon aus, dass der Pestdämon stark genug war, Lukas ohne die Hilfe einer menschlichen Hülle zu besiegen. Doch Lukas würde dem Schwarzmagier seinen Irrtum schon deut lich machen und griff an. Sein Schwert fuhr auf das Skelett nieder, durchtrennte den dunklen Umhang, zerschnitt die morschen Knochen. Vergeblich …
Kaum waren die Wunden geschlagen, verheilten sie wieder. Die Knochen fügten sich zusammen, der Mantel aus Finsternis schloss sich um die schaurige Gestalt. Die schnellen, schweren Hiebe, die je den menschlichen Gegner – und auch jeden Vampir – mit tödlicher Sicherheit gefällt hätten, blieben vergebens. Die blitzende Klinge völlig ignorierend trat der Pestdämon auf den Vampir zu. Dürre Finger gruben sich in Lukas’ Seiten. Spitz wie Dornen durchdrangen sie das Kettenhemd und bohrten sich in den Körper des Vampirs. Lukas schrie auf. Hitze jagte durch seinen Körper, gefolgt von brennenden Schmerzen. Sein Magen rebellierte. Vor seinen Augen tanzten rotschwarze Kreise. Unter ihm zerfloss der Schwarze Tod zu einem schleimig-rau chigen Nebel. Die graugelben Schwaden umfingen seinen Körper, krochen über seine Beine, seine Brust, seine Arme. Mörderische Hitze durchflutete Lukas, während die Pest von ihm Besitz ergriff. Der Vampir brach zusammen. Er spürte, wie der Tod mit kalten Fingern nach ihm griff. Und diesmal gab es keine Freundin, die ihm ein Opfer zuführte. Kein Mädchen wie Perdita würde für ihn das junge Leben lassen und als Vampirin zu einer neuen Existenz erwa chen. Nur noch verschwommen nahm Lukas wahr, wie das Lied der Spieluhr verklang. Die Tänzerin stand still, die beschwörende Musik verstummte. Nachdem der Dämon sein Opfer gefunden hatte, kehrte er in sein Gefängnis zurück. Die erste Spieluhr zerbrach mit einem vernehmlichen Knacken. Waidinger keuchte überrascht. »Wie …?« Lukas lachte heiser. Mit jeder Sekunde erholte sich sein Körper von der tödlichen Krankheit. Das brennende Fieber erlosch, die Schmerzen verstummten. Ein Hustenreiz schüttelte seinen Leib. Blu tiger Schleim löste sich aus seiner Lunge und klatschte auf das Kopf steinpflaster.
Waidinger eilte zu Beate und entriss ihr die zerbrochene Spieluhr. »Was hast du getan?«, brüllte er seine Schülerin an, hob die Hand und versetzte ihr zwei schallende Ohrfeigen. Beate schrie auf. Schützend hob sie die Arme vor ihr Gesicht. »Ich habe getan, was Sie gesagt haben«, wimmerte sie. »Ich habe mich genau an die Anweisungen gehalten.« »Und wie erklärst du dir das?« Zornentbrannt schleuderte Waidinger die Spieluhr zu Boden. Die Tänzerin zerschellte in tausend Stücke. »Antibiotika«, krächzte Lukas zur Antwort. Mit eiserner Willenskraft zwang er sich auf die Füße zurück. Über laut vernahm er das Pochen der lebenden Herzen von Waidinger und Beate. Der Drang, sich auf das Mädchen oder den Mann zu stürzen, war schier übermächtig. Dennoch blieb er nach außen hin ruhig, während er die leere Tablettenschachtel aus seinem Stiefel zog. Er hatte aus seinen Erfah rungen gelernt und sich mit Antibiotika voll gepumpt, bevor er das zweite Mal dem Schwarzen Tod entgegengetreten war. Mit zittern den Händen warf er Waidinger die Schachtel vor die Füße. »Die moderne Medizin lässt grüßen«, höhnte er. Während Waidinger entgeistert auf die leere Packung starrte, wag te Lukas einen hastigen Blick in die Runde. Perdita hatte die dritte Spieluhr wieder an sich genommen und harrte ihres Einsatzes. Bashar war im Eingang zum Haupthaus erschienen; seine Hände umklammerten die Wunderlampe, mit deren Hilfe er über Amira gebot. Der Lampengeist selbst war verfangen in einem tödlichen Tanz gegen den Kriegsdämon. Längst hatten die beiden Geistwesen den engen Schutzkreis gesprengt und jagten einander nun über den Burghof. Dank der widernatürlichen Mischung aus Vampirfähigkei ten und Dämonenkräften trieb Mignon Amira gnadenlos vor sich
her. Plötzlich fegte ihr Breitschwert die beiden Krummsäbel zur Seite und traf die Gegnerin mit mörderischer Gewalt. Die graue Gestalt des Dschinns waberte wie eine Rauchwolke, durch die der Wind pfiff. Ihre Erscheinung verlor an Substanz, wurde leicht und durch sichtig. Wieder und wieder landete Mignon Treffer, die Amira die ma gische Kraft raubten. Dem Dämonenwesen hilflos unterlegen wurde der Lampengeist in die Ecke getrieben. Lukas überlegte fieberhaft, ob er sie unterstützen oder lieber auf Waidinger Acht geben sollte. Da duckte sich Amira unter dem nächsten Schlag hinweg, tänzelte leichtfüßig zur Seite und zog in einer machtvollen Bewegung ihre Schwerter durch. Mignons Kopf wurde von den Schultern getrennt. Das Haupt wir belte durch den Nacht, doch noch ehe es den höchsten Punkt der Flugbahn erreichte, zerfiel es zu Staub. Der kopflose Körper sackte zu Boden und zerbröselte zu einem Häufchen Asche. Einen Augenblick lang stand der Dämon seiner sterblichen Hülle entledigt da. Im nächsten Moment aber warf er sich Amira entgegen. Ihre Schwerter glitten durch ihn hindurch, ohne ihn zu verletzen. Als würden sich zwei Rauchwolken vereinigen, verschmolz der Dämon mit dem Lampengeist. Grauer Dunst und roter Qualm, ihrer menschlichen Gestalt beraubt, wogten umeinander. Waidinger hob die Hand, rief ein Zauberwort. Eine Windböe fegte über den Burghof, erfasste die beiden Geistwesen und wirbelte sie auseinander. Die Rauchschwaden wehten davon, zerfaserten, lösten sich schließlich gänzlich auf. Die zweite Spieluhr zerbrach mit einem vernehmlichen Knacken. Gleichzeitig tönte ein metallisches Klingen über den Burghof. Am
Eingang des Haupthauses schrie Bashar erschrocken auf, als die Wunderlampe in seiner Hand rot aufglühte. Innerhalb eines Augen blickes zerschmolz sie zu einem goldenen Fluss, der sich durch Bashars Finger brannte und mit einem satten Klatschen zu Boden tropfte. Der Magier krümmte sich zusammen. Unsägliche Qualen – gebo ren aus den zerstörten Händen und dem Verlust des Lampengeistes – raubten ihm die Stimme. Sein Mund formte lautlose Schreie, wäh rend er die Hände gegen seinen Leib presste …
* Wie eine gigantische Flutwelle spülten Schrecken, Zorn und Angst über Lukas hinweg. Sein Körper schien in Flammen zu stehen, gepeinigt von Gefühlen, die ein fühlendes Herz in den Wahnsinn treiben konnten. Doch so schnell, wie die Emotionen aufgebrandet waren, so schnell versiegten sie. Lindernde Kälte und beruhigende Leere umhüllten Lukas’ Herz und brachten seinen Verstand auf Hochtouren. Er hob sein Schwert vom Boden auf. »Perdita, jetzt!«, befahl Waidinger seiner Sklavin. Das Mädchen drehte den Schlüssel ihrer Spieluhr ein letztes Mal. Eine alte, von den Menschen längst vergessene Melodie erklang. Doch Lukas erkannte das Lied, das als Ballade in die deutsche Dichtung Einzug gehalten hatte: »Mutter, ach, Mutter, es hungert mich. Gibt mir Brot, sonst sterbe ich.« Wie bei den anderen Dämonen zuvor, quoll Rauch aus der Musik dose. Diesmal verdichtete er sich zu einer ausgemergelten Männergestalt mit langen, strähnigen Haaren und großen, hungrigen Augen. Unsicher, wen er zuerst angreifen sollte, zögerte den Dämon – sein
letzter Fehler. Lukas sprang auf ihn zu. Obwohl geschwächt durch den Angriff der Pest, war er immer noch zu schnell für Waidinger und seine Ge hilfen. Er entriss dem Schwarzmagier den Koffer und warf ihn dem Dämon entgegen. Reflexartig fing das Geistwesen das Geschoss auf. Der Teufelssala mander fiel heraus und – seiner Natur folgend – klammerte sich an dem Hungerdämon fest. Flammen loderten Geistwesen.
auf,
umfingen
und
verschlangen
das
Die dritte Spieluhr zerbrach mit einem vernehmlichen Knacken. Mit einem siegessicheren Grinsen wandte sich Lukas an Waidinger. Schon wollte er über den Schwarzmagier triumphieren – da ging ein kühler Wind über den Burghof. Das Schutzamulett, das auf Lukas’ Brust ruhte, wurde immer käl ter, bis es eisig auf seiner Haut brannte. Wolken zogen über das Firmament, verdichteten sich zu einer schwarzen Decke, die das Licht der Sterne und des vollen Mondes verschluckte. Die Lichter und der Lärm des Horrorparks drangen nur noch gedämpft über die Burgmauer, um schließlich ganz zu verstummen. Atemlose Stille breitete sich aus. Die Luft knisterte wie elektrisch aufgeladen. Der Boden vibrierte, erst verhalten und kaum spürbar, dann immer stär ker. Lukas spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufstellten. Auf Waidingers Gesicht leuchtete der Triumph, gepaart mit kaum gezügelter Erwartung und Vorfreude. Doch auch Sorge malte sich den grauen Augen ab. Für einen Moment verspürte Lukas eine Art Verbundenheit wie eine perverse Freundschaft. Waidinger hatte sein Ziel erreicht. Die Vernichtung von Krieg, Hunger und Pest rief den Tod herbei – ein Dämon, furchtbarer und mächtiger als seine drei Vorgänger würde gleich Gestalt annehmen.
Und er würde unter den Sterblichen wüten, aber auch unter den Untoten und den Unsterblichen. Blindlings würde er seine Opfer fordern, wenn man ihn nicht in seine Schranken verwies. Lukas und seinen Gefährten blieb keine Wahl: Waidinger musste den Tod in die Spieluhr bannen, ehe sich der Kampf zwischen Schwarzmagier und Untoten entscheiden durfte. Der Vampir trat in die fünfte Spitze des Pentagramms, wo Mignon gestanden hatte. Die Schutzkreise glühten im gespenstischen Grün, das Fünfeck in der Mitte des Pentagramms verdunkelte sich. Die Kopfsteine verschwanden in der Dunkelheit, der Boden schillerte und bewegte sich, als wäre die Stelle mit schwarzer Tinte oder Erdöl übergossen. Aus den verkohlten Überresten seines Koffers holte Waidinger die vierte Spieluhr. Auch auf dieser Musikdose drehte eine Tänzerin ihre Pirouetten, doch ihre Hände hielten eine lange Sense. Ein schwarzer Umhang wirbelte anmutig um ihre schlanke Gestalt. Gebieterisch hob Waidinger die Arme, intonierte mit fester Stimme seine Beschwörungen. Lukas starrte wie gebannt auf das Geschehen. Aus dem schillernden, wogenden Fleck aus Dunkelheit wuchs eine Erscheinung empor. Zuerst ähnelte sie einem schwarzen Zy linder, der rasch in die Höhe schoss, dann schälte sich immer stärker eine Gestalt im schwarzen Umhang heraus. Als würde die Tinte trocknen, erloschen der Glanz und die fließenden Bewegungen des Materials. Die Erscheinung streckte die Arme aus, sodass seine mannshohe Sense sichtbar wurde. Kalt und tödlich glänzte das Sensenblatt. Waidinger drehte die Spieluhr auf, und wie erwartet erklang eine Melodie. Sie stammte aus dem dreißigjährigen Krieg: »Es ist ein Schnitter, heißt der Tod. – Hat G’walt vom großen Gott. – Heut wetzt er das Messer, – Es schneidt schon viel besser, – Bald wird er drein schneiden, – Wir müßens schon leiden. – Hüt dich, schöns Blü
melein!« Der Dämon Tod wandte sich Waidinger zu, und mit einer leichten Neigung des Hauptes erkannte er seinen neuen Herrn an – und dem Befehl des Nekromanten gehorchend, nahm er eine menschliche Hülle in Besitz …
* Perditas Welt bestand allein aus grauem Nebel, der ihre Sicht verschleierte, ihre Ohren verstopfte und auch ihre anderen Sinne wortwörtlich benebelte. Manchmal drang eine herrische Stimme durch die drückenden, grauen Schwaden, und sie hatte gelernt, den Befehlen zu gehorchen. Tat sie es nicht, wurde der Nebel noch di cker und schwerer. Wie Watte füllten dann die bleiernen Wolken ih ren Kopf, erschwerten ihr das Denken und erdrückten ihren Verstand. Deshalb war es besser, sie tat, was man ihr befahl – so wie jetzt! Widerstandslos ließ sie sich von der schwarzen Gestalt umarmen. Der dunkle Mantel umfing sie mit fiebriger Kälte. Der graue Nebel wurde verdrängt und durch ölgetränktes Wasser ersetzt. Ihre Hände schlossen sich um einen Stab – nein! – den hölzernen Stiel einer schweren Sense. Da zerriss die Dunkelheit. Perdita sah einen Fremden auf sich zu stürmen, Schwert und Dolch hoch erhoben. Rotblonde Haare um wehten ein von Hass verzerrtes Gesicht, seine blauen Augen blitzten vor Wut. Seinen Körper schützten ein Kettenhemd, eine eisenbe schlagene Lederhose und hohe Stiefel. Instinktiv riss Perdita die Sense hoch und wehrte den Angriff ab. Stahl klirrte auf Stahl. Die Wucht des Schlages jagte Schmerzen ihre Arme herauf, und sie taumelte zurück. Wieder fuhr das Schwert auf sie nieder, dicht gefolgt von dem
Dolch und einer neuen Schwertattacke. Hastig wich sie zurück und wechselte den Griff um ihre Waffe, um die größere Reichweite auszunutzen. Schwungvoll ging sie selbst zum Angriff über. Doch Schwert und Dolch fingen die Sense ab. Wieder schoss die Wucht der Schläge durch ihre Arme. Plötzlich zuckte der Dolch schlangengleich zurück und wieder vorwärts. Die lange, schmale Klinge bohrte sich in ihre Brust. Stechende Schmerzen verschlugen Perdita den Atem. Obwohl die Wunde sofort verheilte, verlangsamten sich ihre Bewegungen um den entscheidenden Bruchteil einer Sekunde. Das Schwert des Angreifers kam frei, durchbrach ihre Verteidigung und traf ihr Bein. Perdita wankte, fing sich im letzten Augenblick und sprang zur Sei te. Um Haaresbreite zischte die feindliche Waffe an ihr vorbei. Tief in ihrem Innern erwachte rasender Zorn. Mit siedender Hitze schwemmte er über sie hinweg, ließ sie Schmerzen und Angst vergessen. Die Sense in ihrer Hand verwandelte sich in einen Send boten der Vernichtung. Unglaublich schnell und gezielt führte sie ihre Angriffe, fegte sie die gegnerischen Waffen zur Seite. Die Sense traf ihren Feind, schnitt durch das Kettenhemd wie durch Butter und trennte den Arm von seiner Schulter. Das Schwert klirrte zu Boden, der abgetrennte Arm zerfiel zu Staub. Blut strömte aus dem offenen Stumpf, und der Fremde schrie auf. Todesangst flutete über sein Gesicht. Ohne zu zögern, hieb Perdita nach seinen Beinen. Ihr Gegner stürzte zu Boden, gefällt wie ein Baum unter der Axt eines Wald arbeiters. Perdita triumphierte. Der Duft des Blutes schrie nach ihrer Auf merksamkeit. Sie ließ die Sense fallen und stürzte sich auf ihr Opfer. Hungrig presste sie die Lippen auf die nährende Quelle, gierig trank sie das Blut. Sein kaltes Blut …
Und der graue Nebel zerriss! Entsetzt starrte Perdita auf Lukas, der reglos vor ihr lag. Es war sein Blut, das wärmend und belebend durch ihre Adern pulsierte, während sich seine Existenz dem Ende zuneigte. Er war es, den sie tödlich verwundet hatte. »Nein!«, schrie sie gequält auf. Tränen füllten ihre Augen. Fassungslos krächzte sie: »Was habe ich getan?« Ein gequältes Lächeln erschien auf Lukas’ Zügen. Mit letzter Kraft legte er den linken Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich herab. »Trink, meine Tochter«, flüsterte er, »und lebe für mich.« Weinend schlug Perdita ihre Fangzähne in seinen Hals und saugte die letzten Tropfen aus dem sterbenden Vampir. Ihre Tränen tropf ten erst auf seine kalte Haut und dann auf das harte Kopfstein pflaster, nachdem Lukas von Lohrberg zu Staub zerfallen war. Die junge Vampirin erhob sich. Sie fühlte, wie Waidingers Bann wie eine gelöste Kette von ihr abfiel. Zum ersten Mal seit Wochen klärte sich ihr Blick, und sie nahm ihre Umgebung bewusst und deutlich war. Sie befand sich in einem Burghof, einem modernen Abklatsch von Burg Hohenstein. Ganz in ihrer Nähe standen der Schwarzmagier Waidinger und ihre Schwester Beate. Im Eingang zum Haupthaus kniete der syrische Magier Bashar, und eine winzige menschliche Gestalt schien seine Hände zu verbinden. Die Puzzleteile fügten sich zusammen und ergaben ein klares, schreckliches Bild. Doch das Entsetzen über ihre eigene Tat war zu groß, um es zu fassen. Perdita fühlte, wie ihr Herz brach und blutete, wie eine Stimme in ihrem Innern verzweifelt schrie und weinte. Aber die überwäl tigenden Gefühle blieben tief in ihr verschlossen, durchbrachen nicht die Oberfläche zu ihrem Denken und Handeln. Still hob sie die Sense auf. Eine schwarze Kutte umhüllte ihren Körper, doch sie konnte spüren, das Material war nicht von dieser Welt. Sie wusste nicht genau, woraus es bestand. Doch in einem war
sie sich sicher: Der Todesdämon, der von ihr Besitz ergriffen hatte, war immer noch in ihr – und ihr Untertan! »Ausgezeichnete Arbeit«, lobte Waidinger seine vermeintliche Sklavin. »Und jetzt töte Bashar und dieses Ungeziefer von Gremlin!« Perdita ignorierte seinen Befehl. Mit stetem Schritt näherte sie sich dem Schwarzmagier. Unvermittelt schien er die veränderte Situation zu begreifen. Sein Körper verkrampfte sich, Unruhe flackerte in seine Augen. »Töte Bashar!«, wiederholte er den Befehl mit wachsender Unsi cherheit in seiner Stimme. »Perdita! Gehorche mir und töte Bashar!« Unbeirrt ging sie weiter, während er zögernd zurückwich. Doch sie war schneller, hob ihre Waffe und schlug zu. Die Sense des Todes durchschnitt die Schutzzauber, mit denen sich der Schwarzmagier vor Angriffen schütze. Die Schneide fuhr in seine rechte Schulter, zog sich durch seinen Brustkorb, legte Mus keln, Sehnen und Knochen frei. Sie zerteilte die Lunge und das grau same Herz, ehe sie einen Fingerbreit über seiner Leber seinen fau ligen Leib verließ. Während Waidingers sterbliche Überreste zu Boden sackten, hob Perdita die Spieluhr auf. »Hinein mit dir!«, befahl sie dem Dämon Tod. Sie spürte, wie die fiebrige Kälte ihren Körper verließ, wie die ölige Dunkelheit vollständig von ihr wich. Die Sense löste sich auf, verpuffte wie ein Nebelstreifen im Wind. Perdita schaute ihre Schwester an. Beate war totenblass. Hochmut und Missgunst, mit denen sie ihre jüngere Schwester immer betrachtet hatte, waren aus ihrem Blick verschwunden und wurden durch blanke Angst ersetzt. Die Vampirin lächelte traurig. Sie trat zu Beate und zog den silber nen Ring mit dem Smaragd von deren Finger. Nachdem sie ihn an ihren eigenen Ringfinger gesteckt und einmal umgedreht hatte, er
schien ein kleiner, grünlich leuchtender Dschinn. »Sammel die Spieluhren ein und auch Lukas’ Asche!«, trug sie dem dienstbaren Geist auf, ehe sie sich erneut Beate zuwandte. »Was wird mir geschehen?«, jammerte ihre Schwester. »Was hast du vor? Wir sind doch Schwestern! Bitte, tu mir nichts!« »Ich kann nichts versprechen«, sagte Perdita tonlos. Sie wollte jetzt nicht über ihre Schwester nachdenken. Sie wollte nur noch nach Hause, zurück nach Schloss Lohrberg. Doch zuerst mussten sie ihre Spuren verwischen, die Verwundeten einsammeln und die Leiche ihres Feindes fortschaffen. Sie würde später Zeit haben, über die Zukunft ihrer Schwester zu entscheiden …
* Perdita beendete das Telefonat und legte den Hörer auf. Über die weite Fläche des Schreibtisches hinweg lächelte sie Joscha an, der vorsichtig auf der rechten Couch Platz nahm. Zusammen mit einem niedrigen Glastisch bildeten die beiden braunen Ledersofas eine gemütliche Sitzgelegenheit zwischen Schreibtisch und Kamin. Ein knisterndes Feuer erfüllte Lukas’ Arbeitszimmer mit Wärme und sanftem Licht, doch es konnte die düstere Kälte in Perditas Herzen nicht vertreiben. »Wie geht es dir?«, fragte sie den jungen Maler teilnahmsvoll. Ein kleiner Teil von ihr freute sich, dass er Halloween überlebt hatte, wenn auch schwer verletzt. Doch mit jeder Nacht, die sie Jo scha mit ihrem Blut nährte, schritt seine Genesung weiter voran. Die gebrochenen Wirbel heilten, die zerrissenen Muskeln und Sehnen fügten sich zusammen, die Lähmung wich aus seinen Gliedern. »Ich fühle mich gut«, antwortete Joscha auf Perditas Frage.
Demonstrativ reckte und streckte er sich, ehe er sich mit einem Ni cken zum Telefon erkundigte: »War das Bashar?« »Ja. Jakob ist gerade aus dem Koma aufgewacht. Wie wir erwartet haben, verschwand mit Waidingers Tod die Wirkung des Schlafzau bers. Maxine und die anderen Gremlins können es kaum erwarten, dass er in die Werkstatt zurückkehrt.« Einen Monat lang hatte der Spieluhrenmacher im Koma gelegen, nachdem ihm Beate auf Waidingers Befehl hin einen Geist auf den Hals gehetzt hatte. »Und wie geht es Bashar?«, hakte Joscha nach. »Werden seine Hände heilen?« »Ich hoffe es.« Im Schutz der Schreibtischplatte ballte Perdita die Fäuste. Nur die Zeit konnte erweisen, ob sich Bashar von den Verletzungen erholen würde, die das schmelzende Metall der Wunderlampe seinen Händen zugefügt hatte. Aber würde er sich je mit dem Verlust sei ner Freundin Amira, dem Lampengeist, abfinden? Unwillkürlich suchten Perditas Augen die Urne, die auf dem Ka minsims stand. Ihr stellte sich die gleiche Frage wie Bashar: Würde sie über Lukas’ Verlust hinwegkommen? Die letzten Nächte hatte sie in einer Art gefühlloser Trance ver bracht, hatte getan, was getan werden musste, hatte sich um die Dinge gekümmert, die nun ihrer Sorge oblagen. Doch ihr Herz war stets kalt und stumm geblieben. Ihre Schwester Beate, die jetzt als ihre Dienstbotin auf Schloss Lohrberg lebte, begegnete ihr mit furchtsamer Scheu, und selbst Jo scha hatte sich besorgt zu ihrem gewandelten Wesen geäußert. Ein Klopfen an der Tür verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit, und kühl rief sie ihre Schwester herein. In den vergangenen Tagen hatte Beate an Gewicht verloren, sie sah krank, blass und mager aus. Nervös rang sie die Hände unter
der weißen Schürze, die Perdita von ihr zu tragen verlangte. Ein Spitzenhäubchen und ein schwarzer Rock komplettierten das Ko stüm eines Hausmädchens. »Herr Friedrich von Düsseldorf wünscht dich zu sprechen«, meldete Beate, ehe sie hastig zur Seite wich, damit der angekündigte Besucher eintreten konnte. »Hallo Perdita«, grüßte der alte Vampir, den Perdita vor ungefähr einem Monat in Düsseldorf kennen gelernt hatte. Wie beim ersten Mal trug er einen dunklen Maßanzug, ein schwerer Siegelring fun kelte an seiner rechten Hand, die er der Jüngeren zum Gruß entbot. »Mein aufrichtiges Beileid. Lukas und ich waren zwar keine Freunde, aber auch mich trifft sein Verlust. Immerhin kannten wir uns schon eine ganze Weile.« Er lächelte sie an. »Und ich denke, es wäre in seinem Sinne, wenn ich mich jetzt deiner annähme.« »Das glaube ich kaum«, entgegnete Perdita ruhig, ohne sich ihre plötzliche Besorgnis anmerken zu lassen. Friedrich hatte ihren Tod verlangt, weil Lukas sie ohne die Erlaub nis der anderen Untoten zum Vampir gemacht hatte. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass der Düsseldorfer inzwischen eine freundli chere Meinung von ihr hatte. Außerdem hatte Lukas ihn nicht leiden können. Friedrich runzelte die Stirn. Auf seinen schmalen Lippen schien eine heftige Reaktion zu liegen, doch seine Stimme war gelassen. »Nun, ein junger Vampir wie du kann nicht lange allein überleben. Also schlage ich vor, du begleitest mich nach Düsseldorf.« Er nickte Joscha auffordernd zu. »Und du auch!« »Danke, aber nein«, lehnte Perdita mit Nachdruck ab. »Ich komme allein zurecht. Und Joscha ist so lange Gast auf Schloss Lohrberg, wie er es wünscht.« In Friedrichs Augen trat ein zorniger Glanz. Seine Hände streckten sich zu langen Krallen. Aus seinem Kiefer wuchsen Fangzähne her vor. Von einem Moment zum anderen wurde deutlich, er war nicht
nur ein alter, sondern auch ein mächtiger Vampir, mit dem man sich besser nicht anlegte. »Widersprich mir nicht, junges Fräulein!«, zischte er drohend. »Ab sofort untersteht ihr beide meiner Obhut und Autorität. Ihr tut, was ich euch sage.« Flüchtig spürte Perdita den kalten Atem der Angst in ihrem Nacken, dann strömte die Dunkelheit aus ihrem Herzen. In ihrer Seele erwachten die Kräfte des Todes, die im Horrorpark von Schwarzenburg von ihr Besitz ergriffen hatten. Das Braun ihrer Haa re, das Grün ihrer Augen, das Rot ihrer Lippen verblassten. Ein Mantel aus Finsternis legte sich um ihre Schultern. In ihren Händen erschien eine tödlich glänzende Sense. »Dies ist mein Erbe«, sagte sie mit Grabesstimme, »und niemand wird es mir streitig machen. Auch du nicht, Friedrich, denn auch du wandelst im Schatten des Todes!« Entsetzt wich der vampirische Herr von Düsseldorf vor ihr zu rück. Seine Lippen bewegten sich tonlos, und seine Hände schlugen das Zeichen gegen das Böse. Joscha keuchte erschrocken auf und starrte sie mit großen Augen an, vor Schrecken wie erstarrt. Ein nachsichtiges Lächeln legte sich auf Perditas Lippen. Die Angst der beiden linderte die Qual in ihrem Herzen, und der Mantel aus Finsternis brachte die Schmerzen um Lukas’ Verlust zum Ver stummen. Willig öffnete sie sich der Dämonenmacht und umarmte ihre neue Existenz als Sendbotin des Todes … ENDE