Susan Schwartz und Ernst Vlcek
SunQuest Band 1
Fathomless
Fabylon
Version: 1.0
Shanija Ran muss Pläne zur Rettung...
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Susan Schwartz und Ernst Vlcek
SunQuest Band 1
Fathomless
Fabylon
Version: 1.0
Shanija Ran muss Pläne zur Rettung der Menschheit auf die Erde bringen, als sie auf der bizarren Welt Less strandet. Möglicherweise kann sie wieder starten, wenn sie den Schlüssel findet. Die Zeit, ihre Mission zu erfüllen, ist sehr knapp, denn die Passage steht bevor, eine besondere Sternenkonstella tion, die ein Tor zu einem fremden Universum öffnet – wo der Ewige, eine finstere Macht, darauf lauert, hierher zu gelangen. Der erste Band des sechsbändigen Zyklus um die Drei-Sonnen-Welt im Sternbild Schwan. Eine Welt, in der es keine elektronische Technik gibt, aber Psimagie – und tausende Völker der Milchstraße, denn wer hier ein mal gestrandet ist, kommt nie mehr weg. Susan Schwartz Jahrgang 1961, bürgerlich Uschi Zietsch, seit 1996 freiberuflich, seit 1987 zusammen mit ihrem Mann Gerald Jambor Inhaber des Fabylon-Verlags, hat seit der Erstveröffentlichung 1986 über einhundert Publikationen in verschiedenen Bereichen wie Heftroman, Science Fiction, Fantasy, Kinder bücher und TV-Erzählungen. Von 1992 bis 2003 war sie Mitglied des PER RY RHODAN-Teams. Ernst Vlcek Jahrgang 1941, prägte die PERRY RHODAN-Serie bis zu seinem Ausstieg 2004 als Exposé-Autor und mit zahlreichen Heftromanen, Taschenbüchern und Kurzgeschichten; hinzu kommen noch viele Publikationen zu Serien aus den Genres Fantasy und Horror, sowie eigene Kreationen wie die 2007 bei Fabylon erscheinende STERNENSAGA. Michael Wittmann steuert die Innenillustrationen zu diesem Band bei; er ist seit vielen Jah ren Illustrator u.a. für PERRY RHODAN, und darüber hinaus als Cartoo nist bekannt.
Einführung Zeit: Das Jahr 3218 christlicher Zeitrechnung. Die in den Weltraum strebende Menschheit ist vor zehn Jahren im Sternbild Schwan auf ein Fremdvolk getroffen, das die Bezeichnung Quinternen erhalten hat. Das Aussehen der Quinternen ist bis heute nicht bekannt, ebenso wenig ihre Lebensweise und ihr Heimatsys tem. Bisher haben die Menschen lediglich herausgefunden, dass die Fremdwesen eine Kollektiv-Intelligenz bilden und niemals einzeln, sondern nur in Gruppen von jeweils fünf Individuen auftreten. Dar auf bauen sich auch ihre Einheiten auf. Die erste Begegnung der Menschheit mit einer außerirdischen Intel ligenz verlief tragisch und endete mit einer blutigen Auseinander setzung, die ohne Verzögerung in den jahrelangen Krieg mündete. Kontaktversuche und Friedensangebote seitens der Menschen blie ben ohne Ausnahme unbeantwortet. Durch besondere Umstände sind die Befehlshaber der Menschen in den Besitz von Plänen der Quinternen gekommen. Der Inhalt ist gleichermaßen brisant wie erschütternd: Die Quinternen haben her ausgefunden, wo sich das Heimatsystem der Menschheit befindet – und bauen an einer Waffe, die die Erde samt Mond komplett zerstö ren könnte. Wie es aussieht, bleibt der Menschheit nicht mehr viel Zeit, um den Untergang abzuwenden.
Erster Teil
Susan Schwartz
Escensio
1. Shanija Ran schloss für einen Moment geblendet die Lider, als sich im All ein glühender Funkenball aufblähte und dann zerbarst. Wie ein kleiner Stern, der in der kalten Lautlosigkeit geboren wurde, ir gendwo dort draußen im Leerraum seinen winzigen Abdruck in die Ewigkeit setzte und nach einem Lebensalter von nur wenigen Se kunden wieder starb. Ein würdiges Grab, wenngleich nach einem viel zu frühen Tod. Rote und gelbe Fünkchen tanzten vor Colonel Rans Augen, wäh rend sie manuell einen neuen Kurs eingab. Ein paar Minuten Ge fechtspause wurden gewährt, aber mehr wohl nicht. Shanija akti vierte die Larking-Schaltung, die schwere Beschädigungen und Ma növrierunfähigkeit an ihrem Jäger simulierte, und stellte den Funk auf Hacker-Modus. »Mufflon ruft Steinbock. Kannst du mich hören?« »Aye-aye, gehe auf Scrambler-Drei«, krächzte es gedämpft aus dem Empfang, und kurz darauf auf dem sicheren Kanal: »Die Party scheint vorbei zu sein! Alle sind auf einmal weg, und ich kriege all mählich Platzangst. Oder wie das heißt, wenn man umgeben ist von zu viel Weite und zu wenig Leuten.« »Agoraphobie.« »Wie bitte?« »Gib mir deinen Zustandsbericht, Chuck.« »Ist Rot und Orange gut?« »Ich schätze Grün mehr.« »Das finde ich hier bedauerlicherweise nicht. Kann ich sonst etwas für dich tun?«
Shanija betrachtete in der Ortung die aus fünf Koordinaten heran rückenden Fünferstaffeln der Feinde, Verstärkung der vernichteten Einheiten, während Chucks taumelnder Jäger ins Sichtfeld des Fens ters kam und zum Augenkontakt beidrehte. Der Jackrabbit sah übel aus; er benötigte keine Larking-Tarnung. Chuck aber winkte grin send und hob den Daumen. Er war am Leben, seine gute Laune un gebrochen. Während des Gefechts ließ er niemals Trauer an sich her an und ging über Tod und Vernichtung hinweg, als spazierte er pfeifend über eine Wiese im Mai. Dafür hatte er schon zu viel gese hen, zu viele Kameraden verloren. Sie waren die Letzten der WILD RAMS, die noch übrig waren. Im merhin zwei mehr als von der Staffel des Feindes. Shanija Ran drängte Schmerz und Wut zurück. Sie hatte eine Ent scheidung zu fällen. »Zurück zur Basis, Steinbock«, befahl sie und nickte Chuck zu. »Hol das Letzte aus dem Jackrabbit raus.« Weil seit ihrer Einführung nur von »Jägern« die Rede war, hatte es sich einge bürgert, den kleinen Gefechtsmaschinen nur männliche Namen zu geben und sie in männlicher Form zu bezeichnen. Sie waren nach Ansicht des Militärs keine richtigen »Schiffe«, sondern mehr Pfeile, Giftstacheln; klein, aber gefährlich und nicht selten tödlich. Jeder Pi lot flog exklusiv seinen eigenen Jäger und hatte das Recht dazu, den Namen für das Gefährt, von dem sein Leben abhing, zu wählen. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, Colonel«, behauptete Chuck mit abwiegender Geste. »Ich könnte dir mit einer Notrepara tur immer noch Geleitschutz geben …« »Ich sagte, zurück zur Basis«, wiederholte Shanija. »Wenn du un bedingt den Helden spielen willst, lenke sie von mir ab, aber halte verdammt noch mal Sicherheitsabstand und geh kein unnötiges Ri siko ein! Gib deine restliche Energie auf den Schutzschild und lass dich auf keinen Kampf mehr ein. Sieh zu, dass du heil nach Hause kommst!« »Immer, wenn's am schönsten ist, muss ich heim! Und was tust du, wenn ich fragen darf?«
»Den Sturmvogel hat noch keiner eingeholt.« »Ach so, du willst wieder mal alle Orden für dich allein einheim sen!« Chuck zeigte ihr eine obszöne Geste, die sie ignorierte. Sein la chendes Gesicht machte deutlich, dass es nur einer seiner üblichen Scherze war, um die angespannte Situation etwas zu entschärfen. Shanija war noch nie darauf eingegangen, nicht einmal als Frisch ling, als er ihr statt der üblichen Kopfbedeckung zur Ausgehuniform eine alberne weiße Lämmchenhaube mit Öhrchen überreicht hatte. Es war ein stilles Spiel zwischen ihnen, ob es ihm jemals gelingen würde, sie zum unkontrollierten Lachen zu reizen. Oder einer sons tigen spontanen Reaktion. Bislang war es ihm nicht gelungen. Die Ortung meldete Alarm. Die Pause war vorüber. Die Einheiten der Quinternen würden in zwei Minuten in Schussreichweite sein. Shanija gab dem Gefechtsmodul PONG an ihrem Hals den Befehl, sich wieder mit der Schiffseinheit zu verbinden. Die Trennung der Gefechtseinheit vom zentralen Bordsystem hatte sich schon lange bewährt. Die mobilen hochleistungsfähigen Rechner waren in der Lage, menschliche Intuition mit systematischer Logik zu verbinden und daraus ungewöhnliche Strategien zu entwickeln. Außerdem waren sie durch die integrierte Funk- und Ortungseinheit unersetz lich im Bodeneinsatz. Das hatte bisher die Niederlage gegen die Quinternen verhindert. »Du hast deine Befehle, Steinbock«, wiederholte sie. »Überleg's dir noch mal, Mufflon«, meinte Chuck zögernd. Lance Corporal Charles »Chuck« Foster, seit Gründung der Special Mari nes Force WILD RAMS dabei. Er hatte sich nie dazu geäußert, als Sha nija vor fünf Jahren das Kommando erhielt, obwohl sie noch so jung und erst drei Jahre bei der Einheit gewesen war. Die Zeiten waren hart, auf der Erde wie im Weltraum. Shanija, auf den Straßen Wa shington-York-States aufgewachsen, hatte mehr Erfahrung als die meisten älteren Militärs, und sie war ein außergewöhnliches Talent. Als sie einst den WILD RAMS beitrat, war sie bereit, von Chuck zu ler nen; und er wiederum stellte fest, dass er keineswegs so abgebrüht
und allwissend war, wie er geglaubt hatte. Und nun waren sie beide die Letzten. »Wir haben gemeinsam eine Chance, die Basis zu errei chen«, fuhr er fort. »Wir stellen dort eine neue Einheit zusammen und …« »Negativ, Steinbock. Wir verlieren zu viel Zeit, und ich habe die Sprungkoordinaten von Deneb bald erreicht. Ich werde es schaffen. Sieh zu, dass du hier rauskommst, und halte die Stellung an der Ba sis.« »Aye-aye, Ma'am. Hals- und Beinbruch. Ich werde sie von dir ab lenken, um dir mehr Vorsprung zu verschaffen. Und dann pass auf dich auf, Lämmchen, wenn du allein da draußen bist.« Er war der Einzige, der sie so anreden durfte, in Erinnerung an seinen Streich zu Beginn. Andere, das wusste Shanija längst, bezeichneten sie hin ter ihrem Rücken gern als »Cold Angel«, aber es wagte natürlich keiner, sie direkt so anzusprechen. In dieser Situation war es fast eine liebevolle Geste von Chuck, Aufmunterung und Trost. »Werde ich«, versprach sie. »Alles Gute, Chuck. Und denk dran, zu besseren Zeiten sehen wir uns wieder.« Sie machten sich nur etwas vor; beiden war klar, dass es hier ende te. Der Zustandsbericht des Jackrabbit, den Shanija gerade erhalten hatte, ließ nicht darauf hoffen, dass er es jemals bis zur Basis schaf fen würde. Doch der Abschied sollte ein wenig versöhnlich und op timistisch sein; was ihnen eben noch blieb in der kurzen Zeit. Nie mals aufgeben, niemals die Fahne sinken lassen. Die akustische Warnung schallte durch die kleine Kabine. Die feindlichen Einheiten hatten gerade die zweite kritische Distanz un terschritten. Sie mussten sich beeilen. Chuck hielt erneut den Daumen hoch. »Das werden wir, Colonel, und dann wird gefeiert, mit Feuerwerk und allem. Und …« »Ja, Lance Corporal?« »Es war mir eine Ehre, Colonel. Du bist die Beste von allen. Warst
du immer.« Chuck salutierte mit ernstem Gesicht, und absolut mili tärisch, nicht auf seine sonstige ironische Weise. Shanija war unwillkürlich gerührt, doch sie ließ es sich nicht an merken. Chuck hätte ihr das nie verziehen. »Ich hatte den besten Lehrmeister«, gab sie ruhig zurück und erwiderte den Gruß. »Auch mir war es eine Ehre, Chuck.« »Tritt die Scheiß-Fünferbande fünffach in den Arsch!« Chuck schaltete die Verbindung ab und ging auf Notbeleuchtung. Sein Ge sicht wurde ein dunkler Schatten im matt rötlichen Licht. Shanija aktivierte eine scheinbar geheime Datenübertragung, die den Feinden deutlich machen sollte, dass Chuck für sie das primäre Ziel war, nicht der Sturmvogel. Gleichzeitig beschleunigte Chucks Jä ger und schlingerte davon. Je mehr Fahrt er aufnahm, desto stabiler wurde allerdings seine Flugbahn. In dem treuen alten Jackrabbit steckte doch noch etwas. Es reichte sogar für einige Flugmanöver, die anzeigen sollten, wie eilig Chuck es hatte, dem Feind zu entkom men und an sein Ziel zu gelangen. »Wir haben so gut wie keine Offensivbewaffnung mehr«, meldete das Gefechtsmodul. »Brauchen wir auch nicht«, antwortete Shanija. »Wir setzen den Flug fort, aber noch mit Larking-Effekt. Antrieb auf Sprung vorbe reiten, sobald wir die Deneb-Koordinaten erreicht haben. Von dort aus ist es nur noch ein Katzensprung nach … zur Erde.« Nach Hau se? Wirklich? Sie schob den Gedanken beiseite. Die Daten. Nur auf die kam es an. Chuck war es inzwischen gelungen, drei Einheiten zu sich zu lo cken, die ihn einzukreisen versuchten. Sie würden ihn nicht einfach abschießen; zuerst wollten sie wissen, was er Wertvolles bei sich führte. Das wiederum verschaffte Shanija Zeit, sich davonzuma chen. Die beiden verbliebenen Quinternen-Einheiten hatten es nicht eilig, zu ihr zu kommen, da der Sturmvogel scheinbar ziellos durch den Raum trieb. Noch konnten sie nicht abschätzen, inwieweit die Waffen einsetzbar waren. Die völlige Vernichtung der ersten Staffel,
obwohl zahlenmäßig dem Gegner weit überlegen, hatte sie augen scheinlich etwas vorsichtiger werden lassen. Es war eine unserer größten Schlachten, dachte Shanija. Und niemand wird es je erfahren. »Der Start ist vorbereitet«, meldete der Gefechtscomputer. »Alle Systeme bereit.« »Können wir eine Selbstzerstörungs-Simulation erzeugen?« »Ja, aber dann würden wir mindestens drei Minuten brauchen, bis wir ausreichend Energie für den Vollschub haben.« »Dreißig Sekunden gebe ich dir.« Kurzzeitig wurde es ganz still. Shanija hatte ebenfalls auf Notbe leuchtung umgeschaltet, so dass sie nahezu in Dunkelheit saß. Sie war ein Sandkorn in der eiskalten Schwärze; doch für sie war es im mer wieder ein erhebender, keineswegs einschüchternder Anblick. Sie fühlte sich wie eingebettet, selbst in diesem Moment. Im All kam sie sich niemals einsam und verloren vor. Routinemäßig überprüfte sie die Anzugsysteme. Sollte etwas schief gehen, konnte sie es eine Weile im All aushalten. So lauteten die Vorschriften. Aber dazu würde es nicht kommen, denn weit und breit gab es nur Quinternen. Niemand würde sich von der Basis aus auf die Suche nach den Jägern machen. Die Marines hatten ein Selbstmordkommando angenommen; seither waren sie völlig auf sich allein gestellt. Die Befehle waren eindeutig: Keine Gefangen nahme. Die Quinternen durften die Pläne nicht in die Hände be kommen. Trotzdem musste der Anzug wenigstens solange funktio nieren, bis Shanija abschätzen konnte, welche Chancen sie noch hat te. Ein Ventil war schnell geöffnet, wenn es keinen Ausweg mehr gab. »Negativ«, meldete PONG sich endlich nach zehn Sekunden. »Drei Minuten bis Vollschub.« »In Ordnung, dann manövrieren wir eben ganz offen. Einen klei nen Vorsprung haben wir ja noch. Warte auf mein Signal.«
Chuck hatte es schon ein gutes Stück weit geschafft. Wie lange es wohl brauchte, bis die Quinternen begriffen, dass sie einem nutzlo sen Wrack folgten? Shanija wusste, der Lance Corporal würde bis zum letzten Augenblick warten, um so viele wie möglich mitzuneh men, und dann die Selbstzerstörung aktivieren. Das war ganz ein fach, sobald sie per Codesetzung vorbereitet war. Ein kleiner Knopf druck, ein Stimmbefehl, ein Impuls an der Hand, was eben im Ge fecht noch möglich war. Dann ein kurzer Sternenblitz in der Dunkel heit, am besten gefolgt von weiteren Lichtgewittern, wenn die Fein de sich zu nah herangewagt hatten. Sicher ließ Chuck bereits seine Lieblingsmusik in voller Lautstärke durch die enge Kabine des Jä gers röhren, und wahrscheinlich hatte er den Helm geöffnet und sich seine letzte echte, kostbare Lunatica-Zigarre angezündet, die er sich für diesen Fall aufgehoben hatte; den Zeigefinger bereits höh nisch grinsend über dem Knopf schwebend. Das Einzige, wovor Chuck immer Angst gehabt hatte, war der untätige Ruhestand ge wesen, oder körperliche Versehrtheit, die ihm die Beweglichkeit nahm. Ein guter Augenblick zum Sterben also, genauso, wie er ihn sich gewünscht hatte. Chuck würde sich niemals die Frage Warum gerade jetzt? stellen. Er hatte die Einstellung, dass es gut war, so wie es war. Sein Pragmatismus war unerschütterlich; auch einer der Gründe, warum die WILD RAMS so verschworen und erfolgreich ge wesen waren. Waren … Shanija blieben noch zwei Fünfer-Einheiten auf den Fersen. Das sollte zu schaffen sein. Das Modul machte strategische Vorschläge und riet, nicht mehr zu lange zu warten. »Energie umleiten«, sagte Shanija schließlich. »Gib Gas.« Und der Sturmvogel zeigte, was in ihm steckte. Als der Feind merk te, dass er einer List aufgesessen war, hatte der kleine Jäger bereits vierzigtausend Kilometer Abstand zu ihm gewonnen. *
Die Deneb-Koordinaten rückten näher. »Sie kriegen mich nicht«, murmelte Shanija. »Nicht dieses Mal!« Es war also schon so weit gekommen, dass sie Selbstgespräche führte. Egal, sie war allein, niemand konnte sich darüber amüsieren. PONG zählt nicht als Gesprächspartner, auch wenn er ständig dazu lernte und in gewissem Rahmen fähig war, kreativ zu denken. Shanija trug ihn schon seit acht Jahren und hatte ihn immer wieder aufrüsten lassen; sie wollte kein neueres, modernes Gerät haben. Das Gefechtsmodul war auf sie eingestellt, kannte genau ihre Reak tionen und Vorgehensweisen. Diese individuellen Daten konnten nicht auf einen anderen Rechner übertragen werden. Es war eine Art von … emotionaler Bindung. Shanija konnte es nicht erklären; bislang hatte der Computer hervorragende Arbeit geleistet, denn sie lebte noch. Warum also auf ein System umsteigen, zu dem sie kein Vertrauen haben konnte, weil sie nicht sicher sein konnte, ob nicht doch irgendwo Fehler versteckt waren? Sie wusste genau, wozu PONG fähig war, und konnte sich auf ihn verlassen. »Es wird knapp«, meldete PONG. »Sie holen auf und gehen auf Abfangkurs.« »Schaffen sie nicht«, knurrte Shanija. »Niemand kriegt mich. Und zum Sterben ist es noch viel zu früh. Ich habe einen Auftrag zu erle digen, also werden wir uns anstrengen!« »Ich gehe auf Ausweichkurs und täusche neue Koordinaten vor«, sagte PONG prompt. »Möglicherweise fallen sie darauf rein.« Shanija betrachtete besorgt die Energieanzeigen. Wenn sie Pech hatten, reichte es nicht einmal mehr für den Sprung. Danach wäre es kein Problem mehr; die Blackhole-Zapfer brachten in der Röhre aus reichend Nachschub an Energieleistung her. Solange der Jäger sich in der »Rutschbahn« befand und nicht die richtige Abzweigung ver passte, konnte nichts schief gehen. Dies wäre der erste und wichtigs te Sprung, gefördert durch die besonderen Verhältnisse des hype renergetischen Phänomens im Erfassungsbereich von Deneb, das
den Jäger in Nullzeit Tausende von Lichtjahren weit transportierte. Solche Rutschpartien waren allerdings nur in größeren Leerräumen zu empfehlen, weil Eintauchen und Rückkehr ziemliche Strukturer schütterungen und Schwankungen mit sich brachten. Schwarze Lö cher, auch wenn sie noch so winzig sein mochten, waren »potenzier te Nachfolger des irdischen Nitroglyzerins«, wie Sergeant Con Gi ford einmal in Nostalgielaune bemerkt hatte: Unberechenbar, höchst empfindlich und verflucht gefährlich, wenn man etwas falsch mach te. Doch wenn diese Achterbahnfahrt gelang, ging es nach einer kur zen Orientierung im Einsteinraum und anschließendem sanftem Eintauchen noch einmal kurz in einer eher ruhigen Fahrt durch das zwischengelagerte Kontinuum des Hyperraums, quasi schon mit quietschenden Bremsen, und der Sturmvogel würde wohlbehalten in der Nähe des Sol-Systems wieder in den Normalraum schlüpfen, na hezu ohne Aufsehen zu erregen, und konnte die restliche Distanz mit dem konventionellen Triebwerk bewältigen – falls es dann noch funktionierte. Denn bis sie überhaupt bereit zum Sprung in die Röhre waren, musste Shanija ebenfalls konventionell fliegen, und das bedeutete Höchstleistung für den Antrieb. Nach der schweren Schlacht … »Empfange eine Strukturerschütterung«, meldete PONG. »Mehre re Explosionen. Wie ein farbenprächtiges kleines Feuerwerk, wenn mir die Metapher gestattet ist.« »Chuck«, flüsterte Shanija. »Du Teufelskerl, du hast tatsächlich noch einige mitgenommen.« Sie tippte hastig einen Code ein und überspielte die Daten in PONGS Speicher, wo sich Lance Corporal Charles Fosters Kennung zu denen seiner kurz zuvor gefallenen Ka meraden gesellte. Nur ein paar nüchterne Zahlen, mehr nicht, aber Shanija hatte das abstruse Gefühl, nicht mehr ganz so allein zu sein. Ihre Nachrufe würde sie später in ihrem Bericht darlegen; bis dahin aber, so empfand sie es, waren ihre Freunde und Kameraden noch nicht ganz tot. Sondern stille Begleiter, ganz nah bei ihr. »Feinde holen auf.«
»Ich weiß.« Der Antrieb packte es nicht mehr. Die Energieleistung sank rapide, und Shanija musste die Geschwindigkeit drosseln, um nicht in weni gen Minuten völlig ausgebrannt durch den Raum zu trudeln. Die Ortung meldete Gefechtsalarm. Und schon hatte der Feind Schnüffler ausgesetzt; Raketen mit langer Reichweite, die sich wäh rend eines Kampfs im Raum hartnäckig den Jägern an die Fersen hefteten. Eine einzelne konnte bei intaktem Sicherungsfeld nicht all zu viel Schaden anrichten, aber die Schnüffler waren in jedem Fall lästig und mussten abgeschüttelt werden. Shanija fluchte, für Aus weichmanöver hatte sie nicht mehr genug Energie. Und wahrschein lich wollte der Feind genau das mit den Schnüfflern testen. Zu dumm, dass sie keine Offensivbewaffnung mehr hatte. Immerhin ar beitete der Schutzschirm im grünen Bereich. Die erste Rakete schlug ein, und Shanija schüttelte es durch. Der Sturmvogel hüpfte und buckelte wie der digitale Mustang ihres Kindheitshelden Jack Tex, dann hatte er sich wieder gefangen. »Sie sind auf Gefangennahme aus«, stellte PONG fest. »Sie warten den Moment ab, wann sie sich gefahrlos nähern können.« »Was du nicht sagst.« Der zweite Einschlag. Das Schutzfeld fla ckerte kurz, baute sich dann aber wieder auf. Die dritte Rakete er reichte ihr Ziel nicht mehr und trudelte irgendwo im Raum ab. Shanija sah auf die Entfernungsanzeigen zu den Quinternen und zu den Deneb-Koordinaten. Und ließ eine Berechnung anstellen, ob sie es bei höchstmöglicher Geschwindigkeit schaffen konnte. Wenn das konventionelle Triebwerk ausfiel, würde sie vielleicht hilflos im Einflussbereich der Erde ankommen, aber für einen Notruf reichte es allemal. Die Hauptsache war, die Überlicht-Felder funktionierten, die die kleinen Schwarzen Löcher gefangen hielten, damit der Jäger überhaupt bis zur heimatlichen Zone flog. Dort gab es genug Raum verkehr und Relais, die ihren Notruf weitergeben konnten. Es wurde knapp, verdammt knapp. Mit Ächzen und Stottern könnte sie den Sprung gerade noch vor dem Eintreffen des Feindes
durchführen, aber dann durfte nichts mehr schief gehen. Eine gelbrote Sonne schob sich in Shanijas Sichtfeld, weithin flam mend wie ein Fanal. Sie näherten sich den Koordinaten, die Störfel der machten sich bereits in der Ortung bemerkbar. Am äußeren Fensterrand tauchte der Blaue Riese des Doppelsterns auf. Alles so greifbar nah … dann hatte sie die Barriere erreicht und durchflogen. Störungen, Ausfälle, Alarmmeldungen überschlugen sich. Der Jä ger wurde tüchtig durchgeschüttelt, aber er war dafür konstruiert, dies auszuhalten. Anpassen, biegsam sein, nicht starr und unnachgiebig. Hindurchschlüpfen, nicht viel mehr als ein Staubfussel in einem Sonnen strahl. Das Fenster war fast erreicht. Manche nannten es auch Schlund, weil bei Aktivierung der Sprungtriebwerke das Schiff förmlich ein gesogen wurde, in einen Schlauch, der sich unabhängig von Zeit und Raum durch das Universum zog, mit vielen Verzweigungen, wie ein Netz. Die Entdeckung des Phänomens hier an den »DenebKoordinaten« hatte seinerzeit das Augenmerk der Menschen vor wiegend auf den Schwan gerichtet; es bot unglaubliche Möglichkei ten der Überwindung gewaltiger Entfernungen. Als ob man einfach um die Ecke bog. Der einst frenetisch gefeierte Überlichtflug zur Überwindung des Einsteinraums in ein übergeordnetes Kontinuum verblasste dagegen und wurde heutzutage eher als normal betrach tet, obwohl auch das noch immer ein Wunder für sich war. Die Quinternen hatten diesen Zugang noch nicht gefunden; nur das hatte sie bisher daran gehindert, das Heimatsystem der Men schen zu finden. Aber wie es aussah, waren sie dem Ziel inzwischen sehr nahe gerückt. »Sie fallen zurück«, meldete PONG; kein Wunder, die QuinternenTechnik hatte sich dem Phänomen hinter der Barriere, die das Fens ter vor neugierigen Blicken verborgen hielt, noch nicht ausreichend angepasst. Wenn sie dem Sturmvogel zu nahe kamen, nahmen ihre hochsensiblen Maschinen möglicherweise Schaden. Innerhalb der Barriere war ohnehin keine Ortung mehr möglich. Eine Zwickmüh
le. »Wir haben es gleich …« »Nein«, sagte das Gefechtsmodul. »Was?« »Zu niedrige Geschwindigkeit, zu wenig Leistung. Wir können nicht mehr springen. Ich kann die Zapfer nicht aktivieren.« »Fuck!« Wenn sie allein war, gestattete sie sich solche Ausbrüche. Erst recht in dieser Lage. Shanija schlug mit der geballten Faust auf die Konsole. »Unsinn, wir sind fast da, die Quinternen sind abge schlagen, wir …« »Es tut mir leid«, sagte PONG mechanisch kühl. »Einen Scheiß tut's dir!« Shanija konnte ihre ohnmächtige Wut kaum mehr im Zaum halten. »Du hast keine Gefühle.« »Ich habe Parameter entwickelt, die eine Art Bedauern simulieren können. Ich weiß, dass die Situation aussichtslos ist, und das Ergeb nis ist auch für mich nicht zufrieden stellend. Mein Selbsterhal tungsprogramm sieht nicht vor, einfach aufzugeben und sich dem Nichts anzuvertrauen. Es ist mir nicht gleichgültig. Außerdem habe ich den eindeutigen Befehl, dein Leben zu schützen, was mir …« »Still!«, schrie Shanija. Sie überlegte fieberhaft, was sie noch tun konnte, während sie den Jäger verlangsamte und auf eine Bahn um die Zielkoordinaten schwenkte, darauf bedacht, dem Fenster nicht zu nahe zu kommen. Sie hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie mit ihren kleinen Schwarzen Löchern, über die sie keine volle Kontrolle mehr hatte, zu dicht herankam, ohne dass die Zapfer auf Leistung gehen konnten. Vielleicht wurde sie trotzdem eingeso gen. Vielleicht implodierte sie auch, und die vier kleinen Schwarzen Löcher in den Zapffeldern brachen aus und machten gemeinsame Sache und feierten eine ziemlich lange andauernde Party ungeahn ten Ausmaßes … Nicht Abschweifen, das bringt uns nicht weiter. Sie hatte höchstens zwei Minuten, bis die Quinternen merkten,
dass etwas nicht stimmte. Außerdem konnte sie sich nicht zu lange in dem Störbereich hinter der Barriere aufhalten, der auch ihre Sys teme nachhaltig schädigen würde. Es schien ganz so, als könnte nichts verhindern, dass Shanija Ran in Gefangenschaft geriet. Mit den Plänen über die Zukunft der Menschheit. Und … mit dem technischen Know-How, das dem Feind plötzlich das Fenster öffnen könnte. Alles würde sich be schleunigen. Die Quinternen würden den Krieg beenden, und zwar für immer und ewig. Shanija hatte nicht viel für die Menschheit im Allgemeinen übrig. Es gab nur wenig Grund zum Optimismus. Globale Arbeitslosigkeit, achtzig Prozent der Menschheit an der Armutsgrenze oder darunter, fünfzehn Prozent braver, aber neidischer Mittelstand, und vierkom maneun Prozent Reiche, und das restliche nullkommaeins Prozent waren Superreiche, die über das Wohl und Wehe aller entschieden und den Regierungen sagten, was sie zu tun hatten. Neun Milliar den Menschen, und kein Ende abzusehen. Was nützten da schon Stationen auf dem Mond und dem Mars, Expansionen nach außer halb des Sonnensystems und der bisher fruchtlose Versuch weiterer Besiedlungen mittels Terraforming? Ein paar, hieß es, überleben. Die Natur findet immer einen Weg, sagte man. Aber die würde es ja gar nicht mehr geben. Die Erde, der Mond, wahrscheinlich auch der Mars würden mit der Waffe des Feindes vollständig zerrissen und als winzige Staubkörner ins All geblasen. Shanija Ran hielt also wortwörtlich das Schicksal der Menschen in der Hand, denn nur sie konnte die Botschaft zur Erde bringen. Ein Wettrennen gegen die Zeit. Und eine Verantwortung, über deren Gewicht sie nicht nachdachte, nicht jetzt. Aber sie nutzte diese Kenntnis als Antrieb, um sich einen Ausweg einfallen zu lassen. Nicht zu versagen. »Uns bleibt noch etwa eine halbe Stunde«, drang PONGS Stimme in ihre Gedanken. Er hatte keine Vorschläge mehr zu machen. Es
war die Entscheidung der Kommandantin. Shanija hielt das rechte Handgelenk mit der Unterseite an die IDOptik des Moduls. Die militärische »Hundemarke«, der ID-Chip, war dort unter die Haut implantiert. »Sperre aktivieren«, sagte sie, »auf mein Kommando.« Sie zog einen Kristallspeicher aus dem Bordsystem und schob ihn in den Aufnahmeschlitz. »Jetzt«, sagte sie. Der Kristall verschwand im Inneren des Moduls, das sich naht los schloss. »Sperre aktiviert. Soll ich den Speicher herunter-« »Nur Aufbewahrung, kein Lesen oder Bearbeiten!«, unterbrach Shanija. »Zu Befehl. Was geschieht nun?« »Finde einen Weg, das Fenster zu öffnen und durch den Schlund zu gehen. Flieg zur Erde und bring den Kristall zum UNO-Penta gon. Genau wie geplant. Derjenige, der meine ID-Nummer hat, kann die Sperre auflösen.« »Darf ich darauf aufmerksam machen, dass dies deine Aufgabe ist?« »Ich weiß. Aber wir schaffen es nicht beide. Also werde ich soviel Zeit wie möglich für dich rausschinden, bis du weg bist.« »Ich begreife diese Strategie nicht. Was hast du vor?« »Ganz einfach. Ich steige in meinem schicken, neuen Anzug aus und präsentiere mich den Quinternen als Ziel. Natürlich musst du dafür an den Rand der Zone steuern …« »Negativ«, unterbrach diesmal PONG. »Keine Gefangennahme.« »Wer spricht denn davon? Ich habe einen Zeitzünder, der aus mir eine hübsche, kleine Bombe macht, sobald ich an Bord von einem dieser fünfzackigen Sterne bin.« Shanija checkte erneut die Anzug kontrollen, doch das Modul ließ sich nicht so leicht abweisen. »Negativ«, wiederholte es. »Diese Möglichkeit liegt außerhalb meiner Parameter.« Shanija blinzelte. »Was soll das heißen?«
»Diese Strategie ist mir nicht geläufig, und nach meinen Berech nungen …« »PONG, wir haben keine Zeit zum Diskutieren. Ich verstoße gegen keinerlei Vorschriften. Es hieß: Keine Gefangennahme, und dement sprechend verhalte ich mich.« »Negativ«, wiederholte PONG hartnäckig. »Die Quinternen könn ten dich paralysieren, dann kannst du den Zeitzünder nicht mehr betätigen. In deinem Kopf befinden sich zu viele wertvolle Informa tionen, die unter keinen Umständen in Feindeshand geraten dür fen.« »Also schön, ich sprenge mich vorher. Sobald du weg bist.« »Negativ.« »Verflucht noch mal, hör endlich auf damit!« »Ist das ein Befehl?« »Ja!« Das Gefechtsmodul schwieg. Der Sturmvogel verließ den Ortungsschutz der gelben Sonne und näherte sich wieder den feindlichen Einheiten. Shanija versuchte, ihn an die Grenze der Barriere zu steuern, aber weder die manuelle Steuerung noch die Systemanforderung funktionierten. Als sie den Schleusenmechanismus überprüfte, stellte sie fest, dass der Jäger vollständig verriegelt war. »Das nenne ich Meuterei«, knurrte sie. Sie erhielt keine Antwort. Shanija öffnete den Helm und rieb sich die Stirn. Hauchfeiner Schweiß bildete sich in den tiefen, nachdenklichen Furchen. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Sie konnte PONG vielleicht überlisten, aber das dauerte zu lang. Fieberhaft dachte sie nach, welche Mög lichkeit ihr blieb. Schließlich sah sie nur noch einen Weg. »Wie sieht es mit Überlicht aus? Haben wir wenigstens genug Energie, um ins Hyperkontinu um zu gelangen? Akustische Antwort.«
»Das ist hier nicht empfehlenswert«, sagte PONG. »Das ist zwar eine akustische Antwort, aber nicht auf meine Fra ge.« Shanija stöhnte und rieb sich jetzt die Schläfen. Die roten Signa le nahmen nun schon fast den ganzen Schirm ein. Auch der Feind würde sie bald wieder erfassen. »Können wir?« »Ja, wenn wir die Energiefelder einer Sonne nutzen …« »Prima, das ist genau das, was ich hören wollte.« Shanija richtete den Blick auf den Blauen Riesen. »Raus aus dem Feld, eintauchen und ab durch die Sonne«, befahl sie. PONG protestierte mit allen Gegenargumenten, die sein Hochleis tungsgehirn finden konnte, und das waren eine Menge. Angefangen damit, dass noch niemand so ein Manöver durchgeführt hatte. »Im Hyperraum geht das«, winkte Shanija müde ab. »Dort finden sich nur die Abdrücke des Einsteinraums, aber nicht seine Gesetz mäßigkeiten. Wir nehmen alle Energie, die wir haben, denn uns bleibt nur dieser eine Versuch. Wenn er schief geht, sind wir zwar erledigt, aber die Quinternen haben auch nichts. Wenn wir es nicht versuchen, sind wir hundertprozentig im Arsch. Also?« Das Gefechtsmodul musste einsehen, dass es keine Alternative gab. Eine winzige Chance, eins zu so und so vielen Millionen, aber warum nicht? Die Quinternen würden es wahrscheinlich nicht wa gen, ihr auf dieselbe Weise in den Hyperraum zu folgen. Und wenn doch, würden sie garantiert ihre Spur verlieren, wenn nicht sogar ihre Schiffe. Der Sturmvogel beschleunigte ein letztes Mal. Shanija überließ die Steuerung dem Gefechtsmodul, schloss den Helm und wartete ver bissen ab. Die Quinternen nahmen sofort die Verfolgung auf, und diesmal blieben sie nicht auf abwartender Distanz. Sie konnten nicht wissen, was Shanija vorhatte, aber sie wollten ganz offensichtlich kein Risiko mehr eingehen, dass sie im letzten Moment entwischte. »Zeig, was du kannst, mein Stolzer«, flüsterte die Colonel. Der Sturmvogel hatte sie noch nie im Stich gelassen. Er war schnell und widerstandsfähig, kaum jemals hatte er eine Reparatur benötigt,
und er hatte alle Aufrüstungen ohne aufzumucken hingenommen. Der einzige Jäger der Staffel, der von Anfang an dabei gewesen war. PONG hatte die akustischen Warnmeldungen abgeschaltet und die optischen auf ein Minimum reduziert. Es gab kein Zurück mehr; weshalb also das organische Besatzungsmitglied unnötig belasten? Es ist Wahnsinn, war das Letzte, was Shanija dachte.
2. Meistens erlebte man die Fahrt durch das Hyperkontinuum mit ab geschotteten Fenstern, weil sich herausgestellt hatte, dass die op tisch wahrnehmbaren Phänomene Wahnvorstellungen und Epilep sie auslösen konnten. Die Überlichtgeschwindigkeit war für das menschliche Auge nicht mehr erfassbar, dafür waren die Rezeptoren in ihrer Reaktionsfähigkeit nicht schnell genug. Es war ein ähnlicher Effekt wie bei den zweidimensionalen Filmen des zwanzigsten Jahr hunderts, wo sich die Speichenräder der Kutschen ab einer be stimmten Geschwindigkeit gegenläufig zur Fahrtrichtung zu drehen schienen. Umso weniger konnte mehrfache Überlichtgeschwindig keit verarbeitet werden, die für das menschliche Verständnis nach wie vor eine rein mathematische Größe war. Eine Maus, die Einzel bilder mit sehr hoher Geschwindigkeit erfassen konnte, hätte damit wahrscheinlich weniger Probleme gehabt. Die Wissenschaftler expe rimentierten seit Jahrhunderten, aber bei aller fortgeschrittener Gen technologie brachten sie kein »angepasstes« Auge zustande. Für Shanija war es nicht das erste Mal, dass sie »offen« eintauchte, allerdings noch nie bei einer Sonne wie dem Blauen Riesen. Dass das Manöver so nah an einer Sonne überhaupt funktionierte, war bisher nur in der Simulation getestet worden; also war dies eine Premiere, und dann noch dazu ausgerechnet an diesem Ort mit seinen hyper physikalischen Phänomenen. Dementsprechend bizarr empfand Shanija auch ihre optischen Eindrücke. Es war, als wäre sie in einem Negativ gelandet, und zwar sprichwörtlich – nämlich zweidimensional. Sie war darauf trainiert, sich auf jegliche Veränderungen umge hend einzustellen. Die Wahrnehmung des Hyperraums war nir gends dieselbe, mit Ausnahme vielleicht der verwischten, versetzten
Optik. Aber dass Shanija nun überhaupt kein räumliches Sehen mehr hatte, war für sie überaus irritierend. Der Blaue Riese war nicht mehr als ein dunkler Klecks auf einer mit chaotischen Strichen und Farben verschmierten Leinwand. Shanija merkte, wie ihre Augen zu tränen begannen, und musste fast pausenlos blinzeln. Gleichzeitig wurde sie von stechenden Kopfschmerzen geplagt, die ihre Sicht zusätzlich verschoben und grobkörniger machten. Da sie die Kontrolle des Schiffs ohnehin dem System überlassen hatte, versuchte sie sich zurückzulehnen und die Augen zu schließen. Aber zu diesem Zeitpunkt spürte sie ihren Körper schon nicht mehr, sie empfand keinerlei Gefühl; nicht nur in den Gliedmaßen, sondern überall. Es war nicht der Zustand des Gelähmtseins, das kannte sie von der Paralyse. Nein, ihr Körper war einfach nicht mehr da. Und ebenso war auch alles andere verschwunden; sie konnte nur noch den immer größer werdenden dunklen Fleck sehen, wie der Schlund eines riesigen Mauls, auf den sie zusteuerte, hilflos wie eine hypnotisierte Maus vor der Schlange. Das Gefühl des Nichts war dementsprechend unbeschreiblich. Es war auch nicht so, als hätten sich Geist und Körper getrennt, wie bei einer Todeserfahrung. Zum einen glaubte Shanija nicht daran, zum anderen hatte sie nicht das Gefühl, als würde sich ihr Geist schwebend entfernen; zumindest, stellte sie sich vor, müsste sie einen Blick nach unten werfen können. Es gab auch keinen Tunnel mit Licht oder irgendetwas anderes, nur den riesigen dunklen Fleck. Immer wieder versuchte Shanija, mit einer Hand das Gesicht zu berühren, mit den Fingern an den Lippen zu prüfen, ob sie sich be wegten, ob sie Atem ausstieß oder Worte. Aber es gelang ihr nicht, nicht einmal mit Vorstellungskraft. Sie hatte nur noch den Blick auf den Blauen Riesen und das Be wusstsein ihrer selbst. Alles andere war verschwunden, selbst der Kopfschmerz. Und die Erinnerungen waren weg, sie hatte keine Ahnung mehr,
wo sie war, und wie sie hierher gekommen war, und sie dachte vor allem darüber nicht nach. Mühsam raffte sie ein paar letzte Gedanken zusammen, um noch bei sich zu sein, sich selbst festzuhalten, während sie zusehends aus einander driftete. Das ist der Blaue Riese. Ich bin Shanija Ran, Colonel der WILD RAMS. Ich habe eine wichtige Mission, die ich … erfüllen muss? Die Mission … ist … ja. Das ist der … der … Blaue … Dings. Groß. Irgendwie. Ich bin Shanija. Das ist der … wo ich … Ich … bin … Ich … * »Falscher Austrittspunkt!«, meldete PONG mit seltsam schwanken der Stimme. »Alarm! Massive Maschinenausfälle, Reparatur unmög lich! Steuern ein System an, das extreme Anomalien aufweist! Besat zung muss sich auf Notausschleusung vorbereiten!« Shanija Ran blinzelte verstört und spürte plötzlich das Gewicht ih res Körpers, alles lastete schwer auf ihr, und sie bewegte vorsichtig die verkrampften Finger. »Was ist geschehen?« Der Sturmvogel wurde so heftig durchgeschüttelt, dass es sie trotz der Gurte aus dem Sitz hob. Eine klare Sicht war nicht möglich. Bol zen und Schrauben flogen um sie herum, ein Schirm war ausgefal len, der andere zeigte verzerrte Muster. Sämtliche Anzeigen standen auf Alarm, in der Gesamtübersicht waren einige Bereiche nicht mehr rot, sondern dunkel. Der Jäger war dem Tod geweiht. Aber warum?
»Wiederhole, wir sind in eine Anomalie geraten«, antwortete das Gefechtsmodul. »Wir wurden eingesogen und irgendwohin ge schleudert, ich versuche die Koordinaten festzustellen.« Shanija sah durch das Geschüttel hindurch verschwommen zwei Sonnen und einen großen Gasplaneten, auf den der Sturmvogel zu hielt. Eindeutig war das nicht mehr der Doppelstern bei den DenebKoordinaten. »Äh … da ist uns etwas im Weg …«, merkte sie an. Sie versuchte, Hand an die Steuerung zu legen, aber es war bei dem Rütteln unmöglich, sie zu halten. Noch weniger war es ihr möglich, gezielt irgendwelche Tasten oder Felder zu berühren. Sie konnte sich nur festhalten, während die Kabine des Jägers um sie herum auseinandergerissen wurde. Druck entwich in zischendem Dampf, Funken schlugen aus diversen aufgebrochenen Geräten, weitere Tei le rissen sich los und zischten an ihr vorbei. Der weißrote Gasriese kam rasend schnell näher. Es wurde hell, viel zu hell, denn hinter ihm kam plötzlich eine dritte, grellgelbe Sonne zum Vorschein. »Bring-uns-hier-raus-PONG!«, stieß sie abgehackt hervor. Sie rang nach Luft; die Systeme des Anzugs funktionierten nicht mehr rich tig. »Negativ«, erklärte das Modul. »Habe Position festgestellt. Das System ist bisher nur kartographisch bekannt und weist starke Ab weichungen von der Norm auf. Das Militär hat die Annäherung strikt verboten, aus gutem Grund, wie wir jetzt erkennen müssen. Wir werden durch eine mir unbekannte Kraft angezogen. Ich kann nicht mehr steuern. Abgesehen davon, dass der Schiffscomputer so wieso längst im Eimer ist, trallala.« »Was war das?« »Was war was?« »Was, beim Henker von Schastar, gibst du da von dir?« »Keine Ahnung, wovon du sprichst. Bereite dich lieber mal aufs Sterben vor. Soll übrigens eine einzigartige Erfahrung sein. Ich ver
stehe ja nichts davon, das ist alles ganz neu für mich. Juppidu.« Shanija überlegte, ob sie es riskieren konnte, den Anzug aufzuma chen. Doch den kostbaren Datenkristall einer offensichtlich überge schnappten Maschine zu überlassen, konnte sie noch viel weniger riskieren. So manch einer hätte diese Gedanken vielleicht für Margi nalien angesehen, da der Jäger samt Inhalt in den nächsten Minuten in der Atmosphäre des glühendheißen Gasriesen, der wie Jupiter des heimatlichen Systems beinahe eine Sonne geworden wäre, ver gehen würde. Aber solange Shanija lebte, würde sie kämpfen. Sie ließ die Verbindung von Handschuh und Ärmel aufschnappen und hielt das Handgelenk an die ID-Optik des Moduls. Vielmehr, sie be mühte sich, einigermaßen stillzuhalten. »Sperre öffnen«, befahl sie. »So schaust du aus!«, plärrte PONG fröhlich. »Der Kristall gehört jetzt mir! Mein Eigentum! Ätsch!« »Mach sofort auf, oder ich nehme dich auseinander!« »Versuch's doch! Schaffste nicht!« Shanija hatte keine Zeit mehr, mit einem verrückt gewordenen Computer zu streiten. Der Gasriese füllte das ganze Fenster aus, und es wurde allmählich heiß in der Kabine, ebenso im Anzug. Die Sau erstoffzufuhr sank. Sie hielt den Atem an, riss die Handschuhe her unter, öffnete den Halsring des Anzugs und die Verschlüsse über der Brust, darunter die der Uniform. Jede Bewegung war anstren gend, und sie war bald schweißgebadet. Sie packte PONG und presste ihn direkt auf ihr Brustbein. Wenn schon, dann würden sie alle gemeinsam untergehen, unauflöslich. »He!«, protestierte das Modul. »Das könnte ich als Nötigung aus legen!« Sein weiteres Gemaule verstummte, als Shanija den Anzug hastig wieder schloss und die Handschuhe überzog. Es war inzwischen glühendheiß, und sie hatte das Gefühl, als würden Flammenfinger gierig nach dem Jäger greifen. Der Systemcomputer gab mit sterben der Stimme noch einige Meldungen von sich, die völlig sinnlos wa ren. Eine Konsole fing zu brennen an.
Shanija bereitete sich aufs Sterben vor. Kein angenehmer Tod, den sie da vor sich hatte. Sie überlegte, die Sauerstoffzufuhr ganz abzu stellen, um sich im Stickstoff-Delirium den Schmerz zu erleichtern. Aber sie konnte sich nicht mehr koordiniert bewegen, und ihre Ge dankengänge wurden auch so schon zusehends unkonzentrierter. Erneut wurde sie von Halluzinationen überwältigt, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, als würde die Nase des Jägers abrupt nach un ten gedrückt, und der Gasplanet rückte ein wenig aus der Sicht. Und dann sah sie … ja, was? Etwas Kleines, Rundes, ein winziger Punkt vor dem Riesen und seiner Sonne, der rasch näherkam. Nein, es wa ren drei Punkte. Öde, kleine Steinbrocken, dachte Shanija, nur dumme Monde, Splitter irgendeines unbedeutenden Zusammenstoßes, die sich nicht trauen, ins All zu fliegen, zu nichts nutze. Das Denken schmerzte, doch es hielt sie wenigstens einigermaßen bei Bewusstsein. Der Jäger schien sich um sie her aufzulösen, zu ver schwimmen, zu gallertartigem Schleim zu zerlaufen. Als wäre er ein Vogel aus Gelee, der über offener Flamme langsam geröstet wurde. Sie sah sogar seine Flügel träge auf- und abschlagen, als wolle er sei nem Schicksal entfliehen. PONG trommelte gegen ihre Brust, sie hörte ihn fiepen und schreien. Sein Gewicht brannte fürchterlich, als erhielte sie wie ein Stück Vieh ein Abzeichen mit glühendem Eisen; oder als hätte jemand Säure über sie ausgegossen, die sich bis auf die Knochen in sie fraß, Haut, Fleisch und Muskeln zersetzend. Shanijas Mund schnappte auf und zu, aber sie brachte keinen Ton mehr heraus. Ein Kichern schallte in ihrem Inneren, als der Sturm vogel mit lahmen Schwingen unbeirrt auf die Punkte zuhielt. Sein langer, spitzer Schnabel wirkte wie ein Zielfernrohr, pendelte hin und her, entschied sich schließlich für den mittleren der drei Punkte, die inzwischen schon faustgroß waren. Die Lungen schrien nach Sauerstoff, doch Shanija empfand keine Furcht zu ersticken. Darüber war sie bereits hinaus. Ganz ihren Hal luzinationen hingegeben, den grausamen Schmerz auf ihrer Brust
ignorierend, genoss sie den letzten Ritt auf dem Sturmvogel, der im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend war.
Einen Moment lang musste sie das Bewusstsein verloren haben, denn plötzlich war der Mond, auf den Sturmvogels Schnabel zeigte, sprunghaft nah und gar nicht mehr so klein. Riesig, vielmehr. Um nicht zu sagen: Gewaltig. Größer als der Ausschnitt des Fensters. Und er war … wie lächerlich … grün und weiß, wie weiße Schokola de mit Minzfüllung. (Eine Erinnerung an ihre Kindheit, eine der we nigen wirklich süßen, für die sie heute noch schwach werden konn te. Was gäbe sie jetzt um ein Stückchen … aber bald würde sie ja hineintauchen.) Und mit ihr ein blauer Vogel aus Gelee, der mit an gelegten Flügeln auf Sturzflug ging … Und Feuer fing. Der Sturmvogel öffnete den Schnabel und stieß einen schrillen Todesschrei aus, als seine brennenden Schwingen sich auflösten, verkohlte und glühende Stückchen verwehend, und dann war der Sturz nicht mehr aufzuhalten. Wie aus weiter Ferne hörte Shanija sich schreien, aber nur in ihrem Verstand. Wie schon einmal, es war zehntausend oder mehr Jahre her, verlor sie jegliches Körpergefühl, doch diesmal war es kein Nichts, sondern eine lodernde Hölle, durch die sie wie ein Katapult geschleudert wurde, fort vom Sturmvogel, den sie in einer lodern den Flammenwolke unter sich wegsacken sah, und dann hörte sie noch ein seltsames Puff, oder Fluff, egal, denn danach verschwand das Chaos dort draußen hinter einer grauen Wand, die nichts, aber auch gar nichts mehr hindurchließ. Schlagartig wurde es still, und auch die Hitze war fort. Doch sie fiel noch immer. Shanijas Verstand bemerkte träge aus der Ferne, wie ihre Arme um sich schlugen, an ihrem Körper, den sie nicht mehr spürte, her umzerrten und rissen, und dann flogen irgendwelche Teile durch die Gegend. Der Anzug, schloss sie scharfsinnig und war stolz, wie klar sie noch immer denken konnte. Irgendetwas zischte, und ein
wohliger, angenehmer Schleier legte sich über ihr Denken, erfüllte sie mit glückseliger Euphorie, während sie in weiter, sehr weiter Ferne ein dröhnendes Krachen und Bersten und Splittern und Krei schen hörte, und dann gab es einen abrupten Schlag, der alles aus löschte.
3.
2. Dianoctum/11. Lunarium/ 3891. Quartennium Shanija Ran begriff, dass sie noch lebte. Eindeutig. Sie spürte jeden einzelnen Muskel, jeden Knochen, der nur durch überdehnte Sehnen daran gehindert wurde, vom Rest des Skeletts abzufallen. Die Augenlider waren dick verklebt, und sie brauchte eine Weile, bis ihre ungeschickten, leicht zitternden Finger die Kruste entfernt hatten. Blinzelnd sah sie sich um; zunächst verschwommen, doch schließlich konnte sie fokussieren und erkennen, was sie umgab. Sie lag in der Überlebenskapsel. Und die befand sich nicht irgend wo schwerelos im Raum, sondern eindeutig auf hartem, unbewegli chem Grund. Die Schwerkraftverhältnisse waren überraschend ver traut; Shanija fühlte sich nicht leichter oder schwerer als sonst. An scheinend war sie auf diesem merkwürdigen Mond gelandet. Ein Hoch auf die Mechanik, dachte sie erstaunt. Alles hatte versagt, sämtliche High-Tech, der Stolz der Menschheit – bis auf diese letzte Notfalllösung. Genau auf dieser scheinbar sim plen Mechanik hatte der Haupt-Konstrukteur der Jäger damals ve hement bestanden: eine Entriegelung des Sitzes, einhergehend mit einer zeitgleichen Absprengung des Kuppeldachs des Jägers und Auslösung einer Schleudervorrichtung, die den Sitz wie ein Kata pult aus der Kabine warf. Bereits bei dem Abwurf wurde mittels langer Reißleine die Halterung der flexiblen, wabenförmigen Über lebenskapsel gelöst, die sich im Bruchteil einer Sekunde aufblies und vollständig um Sitz und Passagier schloss, gleichzeitig eine in die Hülle integrierte mehrstündige Sauerstoffzufuhr aktivierend.
Damit konnte man aus nahezu jeder Höhe den Aufprall überleben und erstickte zumindest nicht sofort. Dass es selbst in einer völlig chaotischen Situation funktionierte, hatte Shanija soeben erfahren. Ein dreifach Hurra auf diesen klugen Mann, der sich nicht nur auf HighTech verlassen wollte, sprudelte es in ihren Gedanken. Ihr Puls raste. Sie schälte sich aus den Resten des nutzlosen Anzugs und atmete ein paar Mal tief durch. Möglicherweise war trotzdem gleich alles vorüber, sobald sie die Kapsel öffnete und nach draußen trat. Dass die Schwerkraftverhältnisse erdähnlich waren, musste nicht bedeu ten, dass es auch für Menschen atembare Luft gab. Oder überhaupt irgendwelche Verhältnisse, mit denen ein Mensch zurechtkommen konnte. Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die schmerzende Stirn. Die Erinnerung seit dem Eintauchen ins Hyperkontinuum und an den Sturzflug hierher war nur verschwommen, und sie tat sich schwer, einen Gedanken festzuhalten und sich zu konzentrieren. Sie betrach tete ihre Hände, betastete die Haut. Alles schien vertraut zu sein. Und doch … sie hatte keine Erklärung dafür, aber etwas hatte sich verändert. Sie wusste, sie war Shanija Ran, vor knapp dreißig Jahren in Wa shington-York-State geboren; im Alter von sechzehn Jahren, nach dem der erste Anlauf mit Vierzehn wegen des Vetos ihrer Eltern fehlgeschlagen war, von der Militärakademie aufgenommen; der Be ginn einer schwierigen, aber steilen Karriere, die im Kommando über die WILD RAMS gipfelte. Sie war der jüngste Colonel des gesam ten Militärs und Sonderbeauftragte des Militärpräsidenten der Cyg nus-Basis und hatte bisher jeden Auftrag erfolgreich erfüllt. Es war ihr auch diesmal wieder gelungen, den Quinternen zu ent kommen. Das ursprüngliche Ziel, die Erde, hatte sie zwar nicht er reicht, und sie war irgendwo in einem als verboten bezeichneten System havariert. Aber wie durch ein Wunder hatte sie bisher alle Prüfungen und Widerstände überlebt, und ihre Mission war da durch noch nicht gänzlich verloren.
Und doch … etwas stimmte nicht. Sie war nicht so wie vorher, ob wohl mit dem Schrecken und ein paar Prellungen und kleinen Wun den davongekommen. Immer mehr Erinnerungen kehrten zurück, aber nicht das Gefühl. Es war nicht so, dass sie etwas verloren hätte. Sie empfand … anders. Ohne es erklären zu können. Unsinn, ermahnte sie sich, das ist immer noch der Schock. Immerhin hast du einen Höllenritt hinter dir, das kann nicht spurlos an dir vorüber gehen, auch wenn du es gern hättest. Aber du bist keineswegs so maschi nenhaft perfekt, wie du immer vorgibst. Solche Gedanken waren wenig nutzbringend. Es war besser, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – festzustellen, wo sie war, und sich an die Möglichkeiten zur Weiterreise zu machen. Na schön, vielleicht kann ich den Sturmvogel irgendwie reparieren und notdürftig starten, überlegte sie. Es sind schon andere Wunder gesche hen. Sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, was sie dort draußen erwarten mochte. Nun hatte sie es so weit geschafft; sie war weniger denn je bereit, möglicherweise gleich sterben zu müssen. Welch eine Ironie wäre das zudem … Kurz entschlossen drückte sie die Entriegelung, und die Kapsel sprang auf, zog sich zischend von ihr zurück und fiel langsam in sich zusammen, wie ein großer Ballon, dem die Luft ausging. Gleichzeitig wurde sie von einer Brise wunderbarer, sauerstoffrei cher Luft überflutet. Shanija schloss geblendet die Augen, beschatte te sie mit einer Hand und blinzelte dann vorsichtig unter halb geöff neten Lidern hervor. Gleichzeitig atmete sie genussvoll ein, öffnete die oberen Verschlüsse der Montur und bewegte fächelnd den Kra gen, um auch ihre verschwitzte Haut atmen zu lassen. Sie fühlte, wie ihre Kräfte rasch zurückkehrten. Die Luft war lau und ange nehm, durchsetzt mit fremden Gerüchen, die ihre Nase irritierten; die Lungen allerdings freuten sich über den hohen Sauerstoffgehalt und blähten sich in einem tiefen Einsaugen auf, was Shanija für einen kurzen Moment schwindeln ließ; wie jemanden, der aus
großer Höhe mit dünner Luft plötzlich in den mit Ozon angereicher ten Wald eines abgeschiedenen Tals versetzt wurde. Keuchend stieß sie den Atem aus und verharrte still. Der Ausblick überwältigte selbst sie, obwohl sie es sich schon lange abgewöhnt hatte, staunend durch die Wunder des Universums zu wandeln. Dazu hatte sie niemals Zeit, stets war sie von Pflicht und Verantwor tung getrieben. Unbeschwertheit und Unbedarftheit war das Privi leg der Kinder, wie sie eines hätte sein können; ihr war es vorenthal ten worden, aber genau deswegen sollten alle anderen Kinder die Möglichkeit dazu erhalten. Dafür kämpfte Shanija, stand sie ein – dass die Menschheit eines Tages lernte, sich das Staunen und die Neugier eines Kindes zu bewahren, und gleichzeitig den Weg zur Reife fand, die in Harmonie gipfeln sollte. Auch wenn sie keine hohe Meinung von der Menschheit im Allgemeinen hatte, machte sie nicht den Fehler, alle über einen Kamm zu scheren und jeden Einzelnen gleichermaßen von vornherein zu verurteilen. Es gab im mer noch Hoffnung, im Kleinen hatte sie es bereits erlebt. Dieser Idealismus war Shanijas starker Antrieb, der sie so ehrgeizig und konsequent, manchmal sogar kompromisslos und ohne zu weichen zielstrebig vorangehen ließ, auch wenn sie die Umwelt dabei nicht selten vor den Kopf stieß und als kaltschnäuzig und spröde galt. Na türlich wusste niemand von dieser romantischen Ader, die sie in ei nem unzerstörbaren Safe im Innern ihrer Seele verwahrte. Das ging nur sie selbst etwas an, vor allem, seit sie sich ein einziges Mal eine Schwäche erlaubt hatte. Das durfte nie mehr geschehen. Doch hier konnte sie ihre Fassungslosigkeit nicht zurückhalten, denn einen solchen Himmel hatte sie noch nie gesehen, und sie hatte das Gefühl, als ginge ein Feuerwerk in ihrem Kopf los. An der lin ken Seite hing riesig und dunkel glimmend der Gasriese, gut ein Drittel des Himmels ausfüllend; knapp daneben ging der gelbe Son nenball in einem flammenden Horizont unter, und in weiter Ferne, ebenfalls im Sinken begriffen, strahlten dicht nebeneinander eine ru binrote und eine orange glühende Sonne. Der Himmel, hinter dem sie das All erahnte, war über ihr von einem tiefen Violett, gen Hori
zont zu überfließend in fast alle Farben des Regenbogens, mit wal lenden Schleiern und vereinzelten Wolkenfetzen, die von weiß bis gletscherblau leuchteten. Alle Farben schienen intensiv und leuch tend zu sein, und Shanija war nicht sicher, ob sie die richtigen Be zeichnungen dafür gefunden hatte oder ob ihr überlastetes Gehirn ihr nicht möglicherweise einen Streich spielte, die überbordenden Sinneseindrücke in etwas übersetzte, das es verstand und kannte, und mit gespeicherten Daten ersetzte, was nicht definiert werden konnte. Das Wort Fremd bekam hier eine ganz neue Dimension, selbst im Vergleich zu den Quinternen. Erst nach einiger Zeit fand Shanija wieder zu sich und musste sich zwingen, sich auf das Notwendigste zu konzentrieren. Sie sah sich endlich auf der Welt um, auf der sie gelandet war. Eine leicht ge wellte Steppe umgab sie, von demselben trostlosen Ocker, wie sie es auch im Wasteland außerhalb der Metropole WY-State kannte, ge sprenkelt mit fahl-grünen Tupfern, unterbrochen mit dornigem Ge strüpp, Kakteengewächsen und grauen Bäumen mit kraftlosen Blät tern. Kaum erheiternder war der chaotische Müllhaufen, der wie ein auf den Boden gepfropftes Krebsgeschwür mit tastenden Metasta senfingern aussah, an dessen Rand – immerhin nicht mitten darin – die nach dem Aufprall übers Land hüpfende Wabenkapsel schließ lich ausgerollt war. Als der Wind kurz drehte, wehte er Shanija einen Pesthauch von Verwesung, Krankheit und Fäulnis entgegen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und kämpfte gegen den Brechreiz an, während sie mit tränenden Augen, sei es von dem Ge stank oder aus Kummer, vielleicht auch beides, die Überreste des einst stolzen, treuen Sturmvogels betrachtete, der ganz in der Nähe lag. In hunderte Trümmer verteilt, die teilweise schon von dem Müllhaufen verschluckt worden waren, lag der Jäger zur Unkennt lichkeit zerschmettert auf dem Boden der fremden Welt. Da war ab solut nichts mehr zu retten oder jemals wiederherzustellen. Endsta tion.
* Einen Moment lang drohte Shanija, die Fassung zu verlieren. Der Sturm an Emotionen, den sie in den letzten Stunden durchlebt hatte, wollte nun mit zerstörerischer Gewalt über ihr zusammenzuschla gen. Irgendwann war es genug, auch der psychisch stabilste Mensch konnte so viel auf einmal nicht verkraften. Warum, fragte sie sich, hatte sie überhaupt überlebt? Nur um zu der Erkenntnis zu kom men, dass der Untergang der Menschheit nicht aufzuhalten war, egal welche Anstrengungen sie unternahm? Trotz ihres starken Wil lens und ihres Ehrgeizes waren ihr Grenzen gesetzt, auf die sie kei nen Einfluss hatte. Vielleicht war sie sogar schuld an der Havarie, weil sie den Jäger irrsinnigerweise durch die Blaue Sonne steuern ließ, aber es hätte schließlich auch gut gehen können … und das war es gewissermaßen ja auch, wenn man es von dem Standpunkt aus betrachtete, dass sie am Leben war. Diese neuerliche Ironie aber, die Erkenntnis mit wachem Verstand zu erhalten und damit leben zu müssen, war noch grausamer, als es der schnelle Tod in einer gifti gen Atmosphäre nach Öffnen der Kapsel gewesen wäre. Sollte sie nun bis zu ihrem natürlichen Tod hier herumsitzen und sich grä men, dass sie bald der letzte überlebende Mensch sein würde, der noch irgendwo im All existierte? Dass sie dem Genozid entgangen war, nur um einsam und verloren fern von allem dahinzuvegetie ren, was man sentimental als Heimat bezeichnen wollte? Shanija war versucht, in ihrer Verzweiflung zu versinken, sich ein fach fallen zu lassen und alles aufzugeben, weil nichts mehr einen Sinn hatte. Hinlegen und sterben, was das Einfachste wäre, den Le benswillen aufzugeben – dann dauerte es nicht mehr lange, bis der Tod einen erlöste. Es nutzte schließlich nichts, bis zum Äußersten stur zu sein. Irgendwann musste man einsehen, dass man an seine Grenzen gestoßen war und es nicht mehr weiterging. Verloren, aus und vorbei. Ignoranz war da wenig hilfreich, verlängerte den Schmerz eher nur. Vernunft war angebracht.
Es hatte bisher in Shanijas Leben erst ein einziges Mal eine ähnli che Situation ganz ohne Hoffnung gegeben. … genau. Plötzlich straffte sich Colonel Shanija Rans Haltung, und das Feuer kehrte in ihre grünen Mandelaugen zurück. Mit einer ruckartigen Bewegung öffnete sie den streng zurückgekämmten Zopf und be freite die langen, rotbraunen Haare, schüttelte sie aus, schleuderte damit den Ballast und das schwere Gewicht der vergangenen Stun den von sich. Sie klopfte sich den Staub aus dem dunklen militäri schen Overall und schnippte Fussel von den Rangabzeichen auf der Schulter und dem Emblem ihrer Einheit vorn an der Brusttasche. Sie korrigierte den Sitz der Kleidung, ließ allerdings die oberen Ver schlüsse offen. Ich habe damals nicht aufgegeben, und ich hatte Recht, denn ich habe überlebt, was unmöglich schien, und ich war die Erste und Einzige, die das jemals geschafft hat. Das war eine weitaus schlimmere Hölle als das, was ich hier erlebt habe. Ich bin havariert, na und? Dies ist eine Welt mit guten Lebensbedingungen. Ich werde nicht das einzige We sen mit Intelligenz sein, das sich hier aufhält. Schon allein, wenn ich mir den Müllhaufen hier anschaue; der kann schließlich nicht von selbst hier her gelangt sein. Ich werde denjenigen finden, der solchen unglaublichen Mist produziert, und dieser wird mir zumindest weiterhelfen zu jeman dem, der mich von hier wegbringt. Oder ich finde sonst einen Weg, um meine Botschaft zur Erde zu transportieren. Ich lebe, ich bin unverletzt, und ich bin dafür ausgebildet, mich in allen Situationen zurechtzufinden. Dies ist nicht das Ende. Nur ein kleiner Umweg. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als sie ein rasen der, stechender Schmerz aufkeuchen ließ. Sie griff sich an die Brust, versuchte umgehend, entsprechend ihres Trainings, sich mit Atem technik zu beruhigen, den Schmerz in den Griff zu bekommen und auszuschalten, aber er steigerte sich zu entsetzlicher Pein, schlimmer als alles, was sie je erlitten hatte. Shanija verlor die Kontrolle, schrei end brach sie in die Knie und krümmte sich vornüber, die Hand im mer noch an die Brust gepresst. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz bei lebendigem Leibe ausgerissen, und versuchte den her
vorbrechenden Blutstrom aufzuhalten, zu verhindern, dass etwas ihren Brustkorb von innen aufbrach, sich gewaltsam seinen Weg nach draußen freikämpfte, wie ein Vogel aus dem Ei. Mit verschwimmenden Augen blickte sie nach unten, doch da war gar kein Blut, nicht ein Tropfen, und doch kämpfte etwas um seine Freiheit, stieß gegen den Widerstand, der es festhielt, und wand sich, sie konnte es ganz genau spüren, wie es gegen ihre Finger trommelte. Schließlich schlug es ihre Hand beiseite, und Shanija sah, wie etwas zu Boden fiel, während gleichzeitig zu ihrem fassungslo sen Erstaunen der Schmerz verschwand. Und fort war, ohne Nach hall, als wäre er nie gewesen, obwohl sie wenige Sekunden vorher noch das Gefühl gehabt hatte, jeden Moment daran sterben zu müs sen, weil die Pein unerträglich war. Ihr Atem ging immer noch keuchend, und sie schloss energisch den Mund, um Haltung zu gewinnen. Sie rieb sich die Augen und starrte auf das kleine Ding im Staub vor ihren Knien, das sich dort krümmte und wand, wie ein Würmchen, aber mit Schuppen, Za cken und Hörnern, und einem Paar Beine, und … winzigen Flügel chen. Shanija war fassungslos. Das Ding sah aus wie ein kleiner Schmuckdrache aus Jade oder Gold, wie ein Anhänger, der als Glücksbringer auf chinesischen Märkten angeboten wurden. »Kch-ch«, hustete das glitzernde Ding von unbestimmbarer Farbe und Konsistenz. Es spuckte und spotzte, eine kleine gespaltene Zun ge schoss aus dem Maul, aus den Nüstern quoll Dampf, und dann rülpste es in einer Flammenwolke. Es stellte sich auf die Beine, machte einen Buckel, wölbte den Hals und den Schwanz und wirkte so geradezu imponierend, abgesehen von seiner Größe. Es schlug rubinrote Augen auf und glotzte zu Shanija hoch. »Hä?«, machte der kleine Drache. Er blinzelte, bewegte den Kopf, um sich zu betrachten, wobei er beinahe einen Knoten in seinen lan gen Hals geschlungen hätte, und blickte schließlich wieder mit leicht schief gelegtem Kopf zu Shanija.
»Das träum ich jetzt, oder?«, stieß er krächzend hervor. Dann zog er die über seinen Augen wie Brauen gewölbten Barteln zusammen. »Moment mal, wieso kann ich träumen?« Shanija schüttelte den Kopf. »Ich bin es, die träumt.« »Augenblick.« Der Drache benutzte den Schwanz als Stütze und hob ein Beinchen, das sowieso mehr wie ein Arm aussah, mit erho benem krallenbewehrten Zeigefinger, was besagen sollte: Warte bit te, ich bin gleich soweit. »Da ist was, das blockiert mir …« Er würgte, hustete, und dann rülpste er etwas aus seinen Eingeweiden hoch und spuckte es auf den Boden. Ein länglicher Kristallzapfen. Shanija erstarrte. »PONG?«, flüsterte sie ungläubig. »Was?« Der kleine Drache kratzte sich umständlich am Kopf, hin ter einem abstehenden Zackenkamm. »Meinetwegen, ein Name ist wie der andere. Also nenne mich ruhig Pong.« Das würde wohl etwas länger dauern. Shanija setzte sich etwas be quemer hin und entlastete die Knie. »Pong«, sagte sie ruhig. »Hast du eine Ahnung, wer ich bin? Kannst du dich an irgendwas erin nern?« »Nee, ich fühl mich, als wär ich grad erst geboren, so ganz neu und frisch, du verstehst.« Der Drache schnüffelte mit gerunzelten Nüstern unter einer Achsel, probierte dann ein paar wacklige Schrit te und bewegte die zierlichen Hautflügel. Plötzlich stockte er und richtete die rubinroten Augen erneut auf Shanija, und sein mit spit zen Zähnen bewehrter Unterkiefer klappte nach unten. »Da hol mir doch einer ein Fass Schmieröl«, stieß er fassungslos hervor. »Colo nel, bist du das? Aber … wo sind wir denn hier? Und was ist mit mir … oh, Halt. Ich glaube, ich habe einen Weg zu den Datenbanken ge funden. Einen Moment, bitte, ich rufe ab … dauert nicht lange …« Shanija wartete geduldig. Sie hatte Zeit, zumindest während des spektakulären Sonnenuntergangs, wenngleich sie kaum einen Blick dafür übrig hatte. Wie es aussah, konnte sie das noch an beliebig vielen Abenden nachholen. Sie zuckte zusammen, als Pong, der völ lig erstarrt und mit erloschenen Augen wie eine Statue verharrt war,
plötzlich wieder zum Leben erwachte und schallend lachte. Tränen lachte, dicke, ölig glänzende Drachentränen, die über seine schuppi gen Wangen liefen, auf den Boden fielen und durch den Staub kul lerten. Er verstummte erst, als er merkte, dass Shanija nicht mitlach te. Nicht einmal einen Mundwinkel verzog. »Du musst zugeben«, stieß er dann immer noch prustend hervor, »das ist 'ne ziemlich irre Geschichte.« Dem stimmte sie ausnahmsweise zu. »Und was ist nun das Ergeb nis deiner Analyse?« »Jessas, nun sei doch nicht so schrecklich sachlich!«, beschwerte sich Pong. »Ich meine, schließlich erwacht einer wie ich nicht jeden Tag zum Leben! Das ist alles so unglaublich neu für mich … ein Grund zum Feiern!« »Hurra«, bemerkte Shanija kühl. Ihr Blick glitt zu den Überresten des Sturmvogels, die an manchen Stellen immer noch qualmten. Pong wurde augenblicklich ernst, als er ihrem Blick folgte. »Du hast Recht, meine Euphorie ist hier nicht angebracht«, sagte er nun völlig nüchtern und ohne Schnoddrigkeit. »Nachdem ich Zu griff auf mein früheres Ich habe, lerne ich schnell dazu. Also. Ich werde dir berichten, was ich, soweit die Daten noch vorhanden sind, in Zusammenhang bringen kann.« Er räusperte sich und musste einen weiteren Kicheranfall unterdrücken; so ganz hatte er sich noch nicht in der Gewalt. Shanija sah es ihm nach, schließlich war dies eine extreme Situati on, für sie beide. Pong war vor allem einzigartig, das größte Wunder an diesem bizarren Tag; dass er Schwierigkeiten hatte, sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit mit seinem neuen Ich auseinanderzuset zen, war kein Wunder. »Während des Flugs durch das Hyperkontinuum gerieten wir in eine Anomalie«, fing Pong einigermaßen sachlich an. »Der Hyper flug durch die Sonne hat sie wohl ausgelöst. Was genau passiert ist, kann ich nicht mehr nachvollziehen, da meine Hardware dabei eini gen Schaden genommen hat und ich nur noch über unzureichende
Daten verfüge. Mehr oder minder Datensalat, alles wirr durcheinan der, kein Durchblick mehr. Hihi … äh …« Der kleine Schmuckdra che unterbrach sich kurz und raste einige Runden im Kreis, bis er sich wieder gefasst hatte. Dann fuhr er genauso monoton wie zuvor fort: »Durch diese Anomalie wurden wir auf einen anderen Kurs ge schleudert, der uns hierher brachte, ins Drei-Sonnen-System. Meine Datenbank weiß darüber folgendes: Vor fünfhundert Jahren wurde das System von uns mit Sonden untersucht, aber nachdem seltsame Dinge geschahen, die natürlich nicht öffentlich gemacht und vom Militär geheim gehalten wurden, wurde HD 188753, wie es offiziell heißt, zur Sperrzone erklärt. Seither gibt es keine weiteren Daten.« »Wo befindet sich das System?« »Einhundertneunundvierzig Lichtjahre von der Erde, immer noch im Schwan. Ein gewaltiger Sprung für uns hierher, nur leider immer noch zu weit von unserem eigentlichen Ziel entfernt. Aber was rede ich da, unser Ziel könnte der Mond nebenan sein und wäre uner reichbar, weil der Sturmvogel sich nie mehr in die Lüfte erheben wird.« Pong wedelte mit den Ärmchen und hüpfte in Wellenlinien auf und ab. »Und jetzt willst du wissen, wieso ich lebendig wurde, stimmt's? Frag mich! Los, frag mich! Bitte, bitte, frag mich doch!« Shanija verdrehte die Augen. Aber natürlich wollte sie es wissen. »Warum bist du am Leben?« »Keine Ahnung!«, brüllte Pong strahlend. »Ich kann nur vermu ten! Ist das nicht großartig? Grandios? Einfach unglaublich? Meine Theorie fußt auf reiner, unbeweisbarer Spekulation! Ich kann mich zu hundert Prozent irren! Oder auch nur zu neunzig, oder fünfzig …« Er raste wieder im Kreis und brachte eine neue Variante dazu, indem er Schlangenlinien einbaute. »Es muss irgendwie mit meiner organischen Komponente zusammenhängen, und durch die unmit telbare Verbindung zu dir, da ist irgendwas auf mich übergesprun gen, ich kann es nicht erklären. Ha, noch so etwas! Ich kann etwas nicht erklären! O Mann, am Leben zu sein ist großartig! Kein Wun der, dass ihr Menschen so daran hängt, es ist einfach …«
»Unglaublich«, wiederholte Shanija müde. »Genau! Das ist das Wort! Stell dir vor, ich habe mindestens fünf Sekunden lang nicht gewusst, was ich sagen soll! Habe überlegt und gerechnet, aber … nix! Leeres Hirn!« Er klopfte sich an den Schädel. »Eine wahre Wucht, oder?« »Nun …« »Aber jetzt sage ich dir das Unglaublichste überhaupt: Wegen die ses organischen Dingsbums, das aus mir wurde, bin ich der einzige Computer auf diesem Planeten, der funktioniert! Na ja, mit kleinen Fehlern, aber …« »Was«, unterbrach Shanija langsam, »soll das heißen?« »Ja, weißt du, die Sache ist so …« Pong zog die Bartelbrauen düs ter zusammen und wand sich, sprichwörtlich. Er schaffte es inzwi schen, sich nur auf seinen Schwanz zu stützen, und verschränkte die kleinen Krallenhände ineinander. »Die Besonderheit dieses Systems, soviel kann ich dir anhand dessen verraten, was ich in meiner Da tenbank gefunden habe und mir anhand der neuen Informationen zusammenreime: Hier gibt's keine Elektronik. Geht nicht. Funktio niert nicht. Jede Technik, die über Mechanik hinausgeht, hat keine Energie. Deswegen wurde das System wohl zur Sperrzone. Ich schätze mal – ha! Schon wieder so ein wunderbares Wort! – also, wie es aussieht, hätten wir dem System auch nicht mehr entkommen können, wenn der Sturmvogel nicht beschädigt gewesen wäre. Irgen detwas gibt es hier, ein x-dimensionales Feld oder so was, durch die besondere Konstellation der Sonnen und des Planeten, das uns ein gesaugt und hierher transportiert hat. Dann, paff, waren alle Syste me hinüber, die Energie weg, und zwar für immer, und ich wurde deswegen zu Pong, dem Drachen. Völlig irre, oder?« Er deutete auf Shanijas Ausschnitt. »Ich bin auf immer mit dir verbunden. Fühl mal.« Ihre Stirn runzelte sich, doch ihre Hand zuckte hoch, und sie taste te über ihr Brustbein. Tatsächlich, das fühlte sich an wie eine Narbe … ein Relief. Ein Narbentattoo. Die Konturen waren erhaben, aber
das Innere schien zusätzlich nach innen gedrückt. Ihre Finger fuhren Linien und Furchen nach. Der Abdruck des kleinen Drachen. »Dann wirst du …« Pong nickte heftig, bis in die Schwanzspitze. »Wenn ich mich dar auf niederlasse, verschmelze ich wieder mit dir, oder was auch im mer. Dann sehe ich aus wie ein tolles, in deine Haut implantiertes Relief. Wetten?« »Es wird also jedes Mal so entsetzlich schmerzen?« »Nein, ich glaube, das war nur beim ersten Mal. Wie Geburtswe hen oder so. Mir hat es auch ziemlich wehgetan. Aber dieses Relief sieht heil aus, die Haut ist glatt und unverletzt, und ich glaube, ich habe den Dreh schon raus.« Shanija hob eine Hand. »Damit will ich mich jetzt nicht befassen. Pong, du scheinst nicht begriffen zu haben, was du vorhin von dir gegeben hast.« »Ich kapiere was nicht? Na hör mal, das geht aber jetzt zu weit!« »Denk nach! Du hast gesagt, dass hier keinerlei elektronische Technik funktioniert, richtig?« »Richtig. Kein Strom. Nicht mal eine Glühlampe. Und erst recht kein Atomkraftwerk. Kannst du alles vergessen. Es sei denn, du machst was mit Dampfmaschinen, was nicht unbedingt empfehlens wert für den Raumflug ist.« »Aber das bedeutet …« »… dass wir nie wieder von hier weg können. Ganz recht.« Shanija Ran ließ langsam den Kopf sinken. * Der Gasriese wanderte über den Himmel, wobei er sich entfernte und etwas mehr Sicht auf die Sphären freigab. Die gelbe Hauptson ne war längst untergegangen, von dem Doppelstern war noch ein
entferntes Glimmen zu sehen. Aber richtig dunkel wurde es nicht, denn die Lichtschleier nahmen an Intensität zu, und der nahe Planet strahlte matt-rotes Licht ab. Das Violett des Himmels wich einem tiefen Schwarzblau mit rötlich schimmernder Oberfläche, wie glän zend poliert. Den Blick auf den Sternenhimmel gab es hier wohl nicht. Pong zupfte vorsichtig an Shanijas Ärmel, die seit einiger Zeit schweigend dasaß, ab und zu in den Himmel und übers Land schaute. »Hab ich was Falsches gesagt?« Es war seltsam, aber sie fühlte sich getröstet. Sie war nicht mehr so allein, es gab einen Gesprächspartner, der vielleicht ein wenig selt sam war, aber immerhin ein Stück Heimat und Vergangenheit dar stellte. Das machte alles leichter, obwohl es nichts an den Tatsachen änderte. Zum ersten Mal huschte so etwas wie ein Lächeln über Sha nijas Gesicht. »Nein.« »Aber … was ist dann los? Ich merke doch, dass was nicht stimmt. Meine ganze Fröhlichkeit ist futsch. Das macht mich echt traurig.« Als Shanija die Hand ausstreckte, ringelte Pong sich darum, die Arme auf die Innenfläche gestützt, und reckte fragend seinen Kopf auf langem Hals zu ihr hoch. Shanija empfand ein leichtes Kribbeln, nicht unangenehm. »Du fühlst dich hier wohl, stimmt's?« »Ja, schon. Ich meine, ich habe noch nicht sehr viel gesehen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, als gehörte ich hierher.« »Ich nicht, Pong. Ich gehöre nicht hierher. Und ich … habe etwas zu tun. Eine Mission zu erfüllen. Ich muss zur Erde. Aber wie soll ich das schaffen, wenn keine höherentwickelte Technik möglich ist?« »Ah. So. Verstehe. Das … ist ein Konflikt, oder?« Pongs Gesicht war lang und fragend. Obwohl er das Wissen der ganzen Mensch heit in sich trug – zumindest noch fragmentarisch – war er so unbe darft und neugierig wie ein Kind. Unschuldig. Sie nickte.
»Also … du willst unbedingt weg, und ich … kann wahrscheinlich nicht. Ich glaube nicht … Mann, hört das nie auf? Ich glaube etwas? Ist das geil!« Pong geriet ganz durcheinander in seinen widerstrei tenden Gefühlen und hechelte einige Sekunden lang ratlos, bevor er weiterfuhr: »Ich meine, ich kann wahrscheinlich nur hier so existie ren, wie ich jetzt bin. Anderswo … eher nicht. Falls … ich dann überhaupt noch in irgendeiner Form existieren kann.« Er rieb den stachligen Kopf an Shanijas Handgelenk; fehlte nur noch, dass er schnurrte wie eine Katze. »Aber ich kann auch nicht ohne dich sein, Boss. Das weiß ich genau, ich kann es sogar fühlen. Was können wir da tun?« »Momentan gar nichts«, antwortete Shanija niedergeschlagen. »Ich sitze hier fest, möglicherweise für immer.« Aber Herumsitzen und Trübsal blasen brachte sie auch nicht wei ter. Vor allem, da sie Essen und Trinken musste, um am Leben zu bleiben. Da sie nicht müde war und die Nacht hell genug, war es das Beste, wenn sie sich jetzt auf den Weg nach Irgendwohin mach te. Der Mond ist rund, machte sie sich in grimmigem Sarkasmus Mut. Wenn sie stur in eine Richtung ging, kam sie irgendwann an einen Ort. Es gab immer einen Pfad. Als sie nach dem Kristallspeicher greifen wollte, wuselte der kleine Schmuckdrache wieselflink von ihrer Hand und warf sich darüber. »Nix da!«, rief er erbost. »Das ist meins! Jawohl, es kam aus mir!« »Weil ich es dir gegeben habe«, versuchte Shanija es mit Vernunft. »Du solltest es nur aufbewahren. Es gehört immer noch mir.« »Paragraphenreiterei!«, schimpfte Pong. »Ist meins, bleibt meins!« Er kauerte wie ein Märchendrache auf seinem Schatz, seine Augen glühten durch die Dämmerung, und er knurrte beharrlich wie ein Hund, der seinen Knochen verteidigt. Er schien darin keinerlei Spaß zu verstehen. »Und wo willst du es aufheben?«, fragte Shanija behutsam, die einsah, dass sie mit Gewalt nicht weiterkam. Natürlich könnte sie den kleinen Kerl einfach wegschnipsen und sich den Kristall neh
men. Aber Pong war jetzt ein Teil von ihr, nicht irgendeine aus ei nem Loch gekrochene Ratte, die ein Stück Käse stibitzen wollte. »Ich, ähm, äh …« Pongs Drachenkörper durchlief eine Farborgie in Wellen von oben nach unten, bis er schließlich fahlbleich wurde. Re signiert ließ er den Kopf hängen und zog einen Flunsch. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich bewahre diesen wirklich sehr wertvollen Kristall genau hier oben, in meiner Brusttasche auf, wo er dir ganz nahe ist. Du hast ihn sozusagen immer im Blick. Ich gebe dir den Auftrag, darauf aufzupassen, dass er niemals verloren geht, dass ihn niemand stiehlt, oder dass sonst etwas damit passiert. Alles hängt davon ab. Verstehst du?« Pong hob zaghaft den Kopf. Dann nickte er langsam. »Du wirst der Hüter des Kristalls sein«, setzte Shanija hinzu, »wie es sich für einen Drachen gehört. Aber wenn ich ihn von dir verlan ge, wenn ich ihn brauche, wirst du ihn mir geben. Freiwillig. Ich werde ihn nur dann verlangen, wenn er seinen Zweck erfüllen soll oder wenn Gefahr droht. Das verspreche ich dir. Aber wenn es so weit ist, darfst du nicht zögern. Haben wir uns verstanden?« Pong überlegte einen Augenblick. Dann glitt ein rosiges Strahlen über sein Gesicht, und er grinste breit mit spitzen Zähnen. »Abge macht!«, rief er und streckte eine krallenbewehrte Klaue aus. Shanija reichte ihm den kleinen Finger, und er packte ihn an der Kuppe und schüttelte ihn mit erstaunlicher Kraft. Mit sehr erstaunlicher Kraft. Beinahe hätte er Shanija daran hochgehoben. Er gab den Kristall frei, und Shanija verstaute ihn wie verabredet in der kleinen Brusttasche. Pong flatterte derweil mit den Flügeln und hob schließlich ab. »Levi tation! Wie der Affenkönig! Wahnsinnsgeil!«, jubelte er begeistert und taumelte, ein wenig ungelenk, aber zusehends sicherer, auf Sha nijas Ausschnitt zu. Kurz darauf spürte Shanija einen kurzen Druck auf der Brust, und als sie über das Dekollete strich, spürte sie die Er hebung. Pong fühlte sich glatt und fest wie ein echter Schmuckdra che an. Ein in die Haut implantiertes Schmuckstück. »Dann wollen wir mal«, gab Shanija sich selbst einen Ruck und er
hob sich. In diesem Moment kam Bewegung in den dunklen Müllhaufen hinter ihr. »O nein«, stieß sie hervor, während sie sich langsam umdrehte. »Das wird jetzt wirklich grotesk.«
4. Knirschend, ächzend und stöhnend erwachte der Müllhaufen zum Leben. Nicht etwa irgendetwas, das darin lebte und nun im Schutz der Nachtdämmerung hervor gekrochen kam. Nein – der rostende Schrott, dazu stinkende, verwesende organische Reste, verrottende Möbel und Kleidung; das gesamte auseinander gefallene Erbroche ne einer Zivilisation zog sich langsam zusammen, als wären irgend wo an dem unförmigen, untrennbar ineinander verkeilten Me tallskelett Muskeln befestigt, und richtete sich auf. Wuchs in den düster strahlenden Himmel und verdeckte ihn, als er mindestens zwanzig Meter hoch über Shanija aufragte. Er stieß Geräusche aus, die aus seinem Inneren kamen und sich als atonale Mischung aus organischem und anorganischem Chaos zu sammensetzte, abgehackt in stotterndem Stakkato. Shanija hielt sich die Ohren zu und gab Fersengeld, um aus dem Schatten und der Reichweite dieses unnatürlichen Dings zu kommen. Vielleicht wür de es in sich zusammenfallen, wenn es die Kräfte verließen, und al les, was nicht schnell genug wegkam, unter sich begraben, zu einer breiigen Masse zerschlagen, die vom organischen Moder absorbiert wurde. Darüber nachzudenken, was genau sich hier abspielte, hatte kei nen Sinn; dies war ein Hindernis, vielleicht sogar ein Gegner, dem Shanija sich nicht stellen konnte. Desorientiert, ohne Waffen, ohne überhaupt irgendein Hilfsmittel, blieb ihr nur die Flucht. Sie konnte ohne Übertreibung von sich behaupten, schon eine Menge gesehen zu haben, was die meisten Straßenbewohner von WY-State in ihrem ganzen Leben nicht erfuhren, selbst wenn man alle zusammenfasste. Aber das hier übertraf wirklich alles. Wahr scheinlich, schoss es Shanija durch den Kopf, war sie längst tot, und
dies hier, weil sie an nichts von all dem glaubte, war weder Himmel noch Hölle, Nirwana oder Limbo. Wahrscheinlich kamen Seelen wie die ihre hierher, die irgendwo im All verloren gingen, weil sie nie genug Glauben besessen hatten, um in ein Leben nach dem Tode aufgenommen zu werden. Die eine willkommene Beute für Seelen fänger waren, die sich einen Spaß daraus machten, diese verirrten Seelen ordentlich aufzumischen. Und ihnen zu beweisen, dass es eben mit dem Tod nicht vorbei war, auch wenn die Agnostiker zu Lebzeiten alles strikt verleugnet hatten. Während sie rannte, hörte Shanija, wie sich der riesige Müllhaufen hinter ihr in Bewegung setzte. Etwa fünfundzwanzig Meter entfernt. Stampf. Pause, Knirschen, Knacken, Kreischen. Stampf. Höchstens noch achtzehn Meter. Nicht gut. Shanija war eine trainierte Läuferin, aber nie rekordverdächtig gewesen. Sie konnte jeden Marathonlauf mitmachen und danach noch eine Stunde lang durchs Wasser krau len. Sie war ausdauernd. Aber zu langsam, viel zu langsam für die ses Ungetüm hinter ihr, das überhaupt nicht existieren dürfte. Dass sie selbst trotz aller Bedenken doch noch lebte, war allmäh lich nicht mehr von der Hand zu weisen, denn sie hörte ihren keu chenden Atem und spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Und sie roch den bestialischen Gestank des Mülls, der sie bereits von allen Seiten umhüllte, und sie sah den Schatten, der schon wieder bedroh lich über sie fiel. Der Gasriese am Himmel war plötzlich weg, ausge löscht, und Shanija rannte nahezu in Dunkelheit, während in weite rem Umkreis um sie herum das Land kränklich fahl leuchtete. Und dann war sie auf einmal nicht mehr allein. Sie unterdrückte einen in stinktiven Aufschrei, als es plötzlich um sie herum zu wimmeln und zu wuseln begann, wie Ratten, und sie glaubte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie war noch klein gewesen, vielleicht fünf Jahre alt, als sie sich in den engen, grauen, stinkenden Straßen mit den riesi gen Häuserblocks, die nur ein winziges Stück grauen Himmel frei gaben, verirrt hatte. Immer tiefer war sie hineingeraten in die Get tos, wo Leute lebten, die noch ärmer waren als Familie Tovan; Barn und Raja, die Eltern, und Aaron, der ältere Bruder, und Klein-Shani
ja, um die sich kaum jemand kümmerte, weil sie nie erwünscht ge wesen war. Und dort waren auch die Ratten gewesen, manche klein und zierlich, aber es gab zudem furchterregende Exemplare von der Größe eines Hundes, und alle hatten sie es auf das weinende Mäd chen abgesehen, das fremden Geruch mit sich brachte, nicht hierher gehörte und trotz der abgerissenen Kleidung frisch und sauber wirkte. Jung und zart. Eine willkommene Abwechslung auf dem Speiseplan. Nicht jetzt, dachte Shanija energisch. Sie hatte sich geschworen, nie mehr von ihren Erinnerungen beherrscht zu werden. Alles hatte sie abgelegt, als sie dem Militär beigetreten war, sogar den Familienna men. Wenn sie nun noch ein bisschen mehr ablegen musste, um auf die ser Welt zu überleben, dann sollte es eben so sein. Sie ignorierte die wimmelnde Bande und rannte weiter. Diese Wesen ignorierten allerdings nicht Shanija. Sie rückten im mer näher an sie heran, und die Frau konnte funkelnde rote und orangene Äuglein ausmachen, wie kleine Lichtpunkte in einem bräunlichen Teppich, der Wellen schlug. Eine Variante des Fliegen den Teppichs, der sich auf dem Boden fortbewegte … Shanija stieß einen wütenden Schrei aus und schlug um sich, als die ersten an ihr hochsprangen, sich in den Stoff krallten und wieselflink nach oben krabbelten. Sie streifte die lästigen, aufdringlichen Biester ab, aber wenn zwei abfielen, sprangen zehn nach. Inzwischen war die Masse bereits im ganzen Schattenbereich auseinander gequollen, den der unermüdlich dahinstampfende Müllhaufen warf. Es mussten Tau sende sein, die sich augenscheinlich jedoch nicht aus dem Schatten ins nächtliche Licht hinauswagten. Der unermüdlich ausschreitende Müllhaufen unterdessen hatte Shanija noch nicht erreicht, allerdings gelang es ihr auch nicht, aus seinem Schatten zu kommen. Als hätte er sich ihrer Geschwindigkeit angepasst. Immer mehr der kleinen Biester krochen an ihr hoch, fingen an, sie
wie einen lebenden Mantel einzuhüllen. Shanija wurde es übel vor Ekel, denn diese Tiere waren nahezu haarlos, faltig und fettig, mit jeweils zehn klebrigen Zehen und kleinen dünnen Krallen, und sie stanken nach faulen Eiern. Immerhin taten sie ihr bis jetzt nichts, kratzten oder bissen nicht und zeigten sich nicht aggressiv. Trotz dem schlug Shanija weiterhin um sich, stolperte dabei immer öfter über die Masse an Leibern zu ihren Füßen, die zusehends in die Höhe wuchs. Die Fortbewegung wurde schwerer. Als das Stampfen des stinkenden Schrotthaufens hinter ihr erstarb, blieb auch Shanija stehen und drehte sich langsam um. Das Monstrum verharrte, ein riesiger Berg vor dem Gasplaneten, dessen mattrötliche Außenränder an seinen Flanken hervorloderten. Das Innere des Haufens glühte und leuchtete in vielen Punkten, von denen sich einige bewegten. Soweit der Schatten reichte, war der Bo den mit einer mehrstufigen Masse der Rattenwesen bedeckt. Shanija hatte vergessen, nach den Tieren zu schlagen, und zwei von ihnen hatten je eine Schulter erobert und sabberten ihr Hals und Ohren voll, mit zähem, klebrigem Rotz, und pfiffen mit schrillen Stimmchen. Der Gestank machte Shanija schwindlig, und sie musste ihren ganzen Willen zusammennehmen, um nicht einfach loszukot zen. Sie wusste, sie würde sich hinterher keineswegs besser, sondern noch schlimmer fühlen. Alles scharte sich um sie; wenn sie jetzt weiterging, wäre jeder Schritt eine mühsame Qual, wie das Durchschreiten von Strom schnellen. Und dann kamen die nächsten Wesen. Handgroße, amei senähnliche Insekten wuselten mit langen dünnen Beinen über die Rattenartigen hinweg, und ehe Shanija sich versah, krochen sie ebenfalls an ihr hoch. Sie kauerten sich auf die Ratten, und Shanija hörte das Knispern und Klacken ihrer Kauwerkzeuge, und ein selt sames Schnarren und Zirpen. Lange Fühler tasteten über ihre Wan gen, und sie stand starr, den Mund fest verschlossen, die Augenlider halb gesenkt. Nicht einmal der Gestank der Ratten war so abstoßend wie das Tasten dieser Fühler, das Hochstemmen der mit Haken ver sehenen Beine, das unentwegte Klacken der Kauwerkzeuge. Und
dann hörte sie es … Müssen bauen müssen stark machen brauchen essen nahrung baustoff gutes material was greibar müssen essen gutes essen warmes fleisch brau chen vorrat neue brut wächst und wächst komm komm brauchen dich alle zusammen stark und mächtig komm komm nie mehr müde traurig ängst lich hungrig komm komm … Shanijas Kopf senkte sich leicht, ihre Augen verloren jeglichen Glanz. Ameisen und Ratten stützten sie, als sie die Arme bewegte, und halfen ihr, die Beine zu heben, eins nach dem anderen, Fuß vor Fuß, auf den Abfallriesen zu. Die Ameisen betrillerten ihren Kopf, die kleinen Ratten wuselten an ihrem Körper auf und ab, mit ihren Füßen trommelnd. Als Shanija nur noch wenige Meter von einem Säulenbein aus Me tallrohren und organischen Fäden entfernt war, schossen aus dem Inneren des wibbelnden Haufens zwei lange Tentakelfäden hervor, wie Froschzungen, umschlangen die Frau blitzschnell und rissen sie an sich.
5. Mit einem Ruck kam Shanija Ran wieder zu sich und blinzelte ver stört. Sie hing in Fesseln, im Müllhaufen, der seinen Weg fortgesetzt hatte und alles in sich hineinschlang, was in erreichbarer Nähe war. Sie zerrte an Armen und Beinen, doch die teils organischen, teils aus Ketten bestehenden Fesseln saßen fest an einem Metallgerüst. Selbst der Kopf war fixiert, sie konnte ihn nur zur Seite und leicht nach oben drehen. »Verdammt!«, fluchte sie. So schnell gab sie nicht auf, wandte alle Tricks an, die sie gelernt hatte. Doch vergeblich. Die Ameisen und die Ratten, oder wer auch immer, hatten ganze Arbeit geleistet. Wenn niemand sie befreite, würde sie hier hängen, bis sie verrottet war. Wahrscheinlich konnte sich nicht einmal ihr Skelett aus den Fesseln lösen. Shanija hörte, wie das Leben in den fauligen Eingeweiden des Haufens wibbelte, überall knusperte, patschte, trippelte, knisterte und knarzte es. Eine in sich geschlossene Ökologie, eine unterwegs alles fressende, alles vernichtende Maschine, die wer weiß wie viele Kreaturen beherbergte. Vorangetrieben von einem Kollektivbe wusstsein und in Symbiose lebend, brachten die verschiedenen We sen den Abfallhaufen vorwärts, konnten ihm jede beliebige Form ge ben, bauten aus den zivilisatorischen Resten eine fantastische Kon struktion, die ihn wie ein lebendiges Wesen erscheinen ließen. So zumindest reimte Shanija es sich zusammen, auch wenn selbst diese einigermaßen vernünftig scheinende Erklärung noch viel zu märchenhaft war. Für sich betrachtet eine bewundernswerte Leis tung, wenn man keinen empfindlichen Magen hatte und auf Dreck und Gestank stand. Doch es war für sie unannehmbar, dass sie an dem Massen-Orga
nismus nunmehr teilhaben sollte, ihn bereichern und ergänzen durch wertvolle Proteine, Kohlenhydrate, Vitamin- und Mineralstof fe. Spätestens, wenn die Sonne aufging und der Müllhaufen wahr scheinlich wieder in sich zusammensank, würde sie zu Brei zer quetscht und absorbiert – also musste sie zusehen, dass sie vorher freikam. Sie zappelte und wand sich, wiederholte alle Tricks und versuchte, neue zu erfinden, zu variieren. Zäh und ausdauernd kämpfte Shani ja um ihre Befreiung. Endlich schaffte sie es einigermaßen, den Kopf freizubekommen, wobei ihr die um den Hals gewundene Schlinge nicht gerade Behagen bereitete, und ihre rechte Schulter rutschte aus der Verschnürung. Um sich einen besseren Überblick zu verschaf fen, drehte Shanija die Schulter, blickte nach oben – und starrte in ein Paar dunkelblaue, blitzende Augen. * Sie sah aus wie eine Menschenfrau; es schien alles an ihr dran zu sein, was anhand der engen, ausgeschnittenen Ledermontur nicht schwer zu erkennen war. Ihre langen blonden Haare waren zu einer aufwändigen Zopffrisur zusammengebunden, und sie mochte etwa Mitte Zwanzig sein. Ihre vollen Lippen in dem kräftigen, bäuerlich schönen Gesicht öffneten sich zu einem breiten Lächeln. »Vélkômen à Less«, sagte sie und deutete, soweit es ihr möglich war, mit ausholender Geste um sich und auf den Boden. Sie war ähnlich wie Shanija verschnürt, lediglich der linke Arm war bis zum Ellenbogen beweglich. Ihre Stimme klang leicht rau, und sie amü sierte sich vermutlich schon eine Weile über Shanijas unbeholfene Befreiungsversuche und ihre Flüche. »Less«, sagte Shanija verdutzt, weil sie ein bekanntes Wort hörte. Obwohl ihr der Rest des Satzes auch seltsam vertraut vorkam. »Wenn Less hier dieselbe Bedeutung hat wie bei uns, ist das kein be sonders stolzer Name für einen bedeutungslosen Steinklumpen.«
Die Menschen hatten selbst den schrundigen Kratern, Gebirgen und Tälern auf dem irdischen Mond und dem Mars großartige Namen vergeben, um ihren Wert zu erhöhen. Dieser Mond immerhin bot angenehme Lebensbedingungen – und sollte so gering sein? Die junge Frau zeigte nun ihre ebenmäßigen weißen Zähne in ei nem trockenen Lachen. Sie schien Shanija ebenso sinngemäß zu ver stehen wie umgekehrt. Sie deutete zum Gasriesen. »Fathom«, erklär te sie. »Verstehe.« Unwillkürlich musste Shanija auch lächeln. »Fathom less, unermesslich, ja, so könnte man sagen.« Ihre Mitgefangene nickte und zwinkerte mit einem Auge. »Wenn du mir jetzt noch erklärst, wieso ich hier ganz vertraute Worte höre und den nicht minder vertrauten Anblick einer mensch lichen Frau vor mir sehe, fange ich vielleicht doch an, Hoffnung zu schöpfen, dass ich nicht für immer hier bleiben muss«, fuhr Shanija fort. »Vee vél fendûn weeg peruunderstaad.« Der Tonfall der jungen Frau klang entschlossen und überzeugt, und sie deutete auf Shanija und sich, dann auf ihre Mundbewegungen. Shanija nickte. Sie war darauf trainiert, sich schnell in fremde Sprachen einzufühlen. Sie deutete auf sich und sagte: »Shanija Ran.« Ihre Mitgefangene vollzog dieselbe Geste. »Asanfirigylwyddinmala.« »Ahh … aha«, machte Shanija zögernd. Die blonde Frau lachte ansteckend. Dann hob sie die freie Hand und sagte langsam und deutlich: »Ås'mala.« »As'mala?« »Yep!« Sie schlug leicht klatschend mit der linken gegen eine Ver strebung. »Fein, fein!« In diesem Moment erwachte Pong. Bevor Shanija recht begriff, was vor sich ging, hatte er sich mit einem leisen, nicht im geringsten schmerzhaften Flopp von ihr gelöst und hockte auf ihrer Schulter. »Was ist denn hier los?«, rief er und rieb sich die Augen. »Hab ich
etwa was Entscheidendes verpennt?« Er entdeckte As'mala und stieß ein pfeifendes Geräusch aus. »Scharfe Puppe!« »Pong!«, fuhr Shanija ihn ungehalten an. »Was gibst du da bloß von dir?« »Wieso? Das hab ich von Chuck. Und Con Giford hat es auch mal gesagt, als … upps …« Pong hielt sich die Krallenhand vor die Schnauze und kicherte. Dann wuselte er zu der blonden Frau hin auf, die ihn mit amüsiertem Gesichtsausdruck betrachtete. »Ver stehst du mich?«, zwitscherte er. »Pettit bördy«, antwortete As'mala. Sie berührte Pong mit ihrer frei en Hand im Nacken hinter den Stacheln, und er gackerte, während eine Farborgie über ihn hinweglief. Sie wechselten noch ein paar Worte hin und her, und schon bald darauf schnatterten sie in lebhaf ter, schneller Unterhaltung. Vereinzelte Wortfetzen konnte Shanija aufschnappen, aber es war bei weitem nicht genug, um den Sinn zu begreifen. Noch nicht. Schließlich krabbelte Pong wieder zu ihr hinunter und setzte sich auf Shanijas Schulter. »Einfache Parameter, du wirst es schnell ler nen«, bestätigte er. »Aber das ist auch kein Wunder.« »Sag schon!«, drängte Shanija. »Nur Geduld.« Pong grinste genüsslich in Gelb und Grün. »Wir haben die ganze Nacht Zeit – oder auch Noctum, wie man hier dazu sagt. Vor morgen früh haben wir keine Chance, uns zu befreien. Ich kann da auch nichts machen, weil die organischen Teile der Fesseln dich sofort erwürgen würden, sobald ich mich dran zu schaffen ma che. As'mala ist nämlich die Beste im Schlösser knacken, wie sie mir versichert hat …« »Mit anderen Worten, sie ist eine Diebin«, unterbrach Shanija. »Wie du das sagst, bekommt dieses Wort so einen negativen Bei klang«, murrte Pong. »Sie ist weit gereist und weiß eine Menge. Also ein echtes Glück, dass wir auf sie getroffen sind.« Shanija betrachtete ihre Fesseln. »Ja. Großartig.«
Pong ließ sich davon nicht stören, er war viel zu sehr im Fluss. »Dass dieser Mond hier Less heißt, hast du ja schon mitbekommen. Oh, sieh mal, und da kommen Meat und Meadow!« Der kleine Dra che deutete aufgeregt zum Himmel, über den gerade ein buntes Paar Trabanten zogen – in Rot und Grün erstrahlend. Passende Na men, bemerkte Shanija ironisch für sich. Die Trabanten mussten reich an Erzen sein. Und offensichtlich hatten sie es ziemlich eilig, denn sie rasten geradezu über den Himmel, man konnte ihnen bei der Bewegung zusehen. »Ein Mond mit Monden.« »Jawoll, klein, aber fein. Der Gasplanet …« »… heißt Fathom, auch das weiß ich schon.« »Dann fehlt ja nicht mehr viel. Die Mondbrüder von Less sind Ha des und Orcus, dort und dort.« Er deutete nacheinander Richtung Osten und Nordwesten, wo Shanija jeweils einen rötlichen und einen gelblichen Punkt ausmachen konnte. »Auf ihnen ist kein Le ben möglich, heißt es. Woher die Hiesigen das wissen wollen, kann ich nicht sagen, doch dazu später. Die gelbe Hauptsonne, die uns in wenigen Stunden zum Anbruch des Diariums wieder beglücken wird, heißt Flavor, der Rote Zwerg des Doppelsystems Rubin, der Orangene Arausio. Das alles zusammen ergibt das System mit dem klangvollen Na men Dies Cygni.« Shanija fiel es schwer, sich zu beherrschen. »Lateinische und engli sche Namen«, sagte sie. »Ich kann es nicht glauben …« Pong musterte sie vergnügt. »Du hast in Geschichte aufgepasst?« »Ich wollte wissen, wie es früher war«, murmelte sie. »Und dann wollte ich in den Weltraum …« »Und nicht nur du! Und du vermutest richtig! Es ist wahr!«, ver kündete der kleine Drache mit angemessener Dramatik in der Stim me und zeigte sich in ergriffenem tiefem Rot. Laut trompetete er: »As'mala ist eine Nachfahrin der Besatzung
der Sunquest!« * Der 12. Oktober im Jahre 2132 war der bedeutungsvollste Tag für die Menschheit seit dem Beginn der Sesshaftigkeit. Das erste inter galaktische Raumschiff mit Hyperraumantrieb startete von dem Dock im Orbit der Erde in den Weltraum. Die mächtige, strahlende Sunquest war der ganze Stolz der Menschheit und ein großer Hoff nungsträger. Nahezu alle Nationen hatten sich an ihrem Bau betei ligt und stellten Besatzungsmitglieder: Wissenschaftler, Prospekto ren, Bodeneinsatztruppen, Techniker, Handwerker, Mediziner; ins gesamt fünftausend Personen einschließlich der militärischen Mann schaft. Ziel war das Sternbild des Schwans, in dem es unzählige Sys teme und interessante Objekte gab, die reichhaltige Erzvorkommen, möglicherweise neuartige Energiequellen und vielleicht sogar neue Lebensräume bieten konnten. Die ersten Sterne waren verhältnismä ßig nah mit nur knapp einhundert Lichtjahren Entfernung. Die Dau er der ersten Expedition war auf fünf Jahre festgelegt, die haupt sächlich der Erkundung und Errichtung von Stützpunkten an wich tigen Koordinaten dienen sollten. Nach zwei Jahren brach der über Relaisschaltung errichtete Kon takt zu dem Explorerschiff ab. Für immer. »Also soll ich tatsächlich glauben, dass die legendäre Sunquest hier havariert ist?«, unterbrach Shanija Pongs Wortschwall; die bisheri gen Daten waren ihr schließlich bekannt. Aber die Schlussfolgerung war neu … »Du bist auch hier«, meinte der kleine Drache leichthin. »Du und Vertreter hunderter weiterer raumfahrende Völker, die seit etwa ei ner Million Jahre hier runterkrachen. Wer dem System zu nahe kommt, hat verspielt. Wer hier lebenswerte Bedingungen vorfand, hat sich arrangiert und ausgebreitet. Da dies schon so lange ge schieht, weiß keiner mehr, wie es hier mal ursprünglich gewesen
ist.« »Das ist doch verrückt.« »Natürlich ist es das. Und trotzdem wahr. Es gibt keine Aufzeich nung darüber, dass jemals einem Wagemutigen der Start von hier gelungen wäre. Den Menschen von der Sunquest damals blieb des halb auch nichts anderes übrig, als sich wohnlich einzurichten. In zwischen gehören sie zu den Hauptvölkern, weil sie sehr fruchtbar sind und … nun ja, du weißt es ja selbst: Aufdringlich, ignorant und nervtötend. Sie knallten an einem strategisch wichtigen Punkt run ter, rissen umgehend das Ruder an sich und benannten alles neu, weil die bisherigen Bezeichnungen für sie unaussprechlich waren. Inzwischen hat sich sogar die Sprache durchgesetzt, wenngleich nach der langen Zeit verzerrt und vor allem mit anderen Sprachen vermischt.« Shanija schüttelte den Kopf. »Das wird doch immer absurder! Wie wollen sie denn alles an sich gerissen haben? Gibt es hier keine Re gierung? Warum haben die anderen sich das gefallen lassen?« Pong wackelte mit dem Kopf. »Der Beweis mit den Namen ist wohl deutlich, oder? Die Havarierten haben sich damals mit irgend welchen Typen zusammengetan, die man Bibliothekare nennt und die hier wohl was zu melden haben. Jedenfalls haben die verkündet, dass fortan ein neues System eingeführt würde, und damit war die Sache auch schon gegessen. Das scheint hier durchaus so üblich zu sein, Namen und Sprachen zu ändern, wenn eine ziemlich große, lärmende und sich wichtig machende Schar eintrifft. Den anderen, die schon vorher da waren, scheint es piepegal zu sein, solange sie mit Namen und Sprache zurecht kommen und man sie in Ruhe lässt. Denn: Nein, es gibt hier keine Zentralregierung oder Zentral ordnung, alles ist ein völliges Chaos, in dem jeder gerade macht, was er will, solange die anderen ihn lassen. Die Menschen haben zu Beginn mal ein paar kriegerische Eroberungen versucht, sind aber gescheitert, weil keiner Lust hatte, sich mit ihnen zu verbünden, und so haben sie es auf anderem Wege geschafft, vergleichsweise mäch
tig zu werden: Sehr zahlreich, wirtschaftlich erfolgreich, und so wei ter. Wobei jeder Mensch natürlich nur noch seine eigene Suppe kocht.« Das musste erst einmal alles verdaut werden, aber Shanija ver schob es auf später. Sie nahm es zunächst einfach als gegeben. »Wo her weiß As'mala das alles?« »Du und deine Vorurteile!«, schnaubte Pong. »Wieso erkennst du eine mehrere tausend Jahre alte Sprache wie Latein, hä? Du bist als rotznäsige Getto-Göre aufgewachsen!« Shanija senkte leicht den Kopf. Pong hatte Recht, sie verurteilte As'mala, ohne etwas über sie zu wissen, außer, dass sie eine weitge reiste Diebin war. Natürlich durfte es auch gebildete Diebe geben. »Frag sie, wie lange sie hier schon gefangen ist.« »Hab ich schon, und sie hat es mir gesagt, obwohl es ihr ziemlich peinlich ist. Seit gestern Mittag. Der Haufen muss danach einen ziemlich dicken Fang gemacht haben, weil er sich bald darauf an der uns bekannten Stelle niederließ, um erst mal eine Weile zu verdau en. Du und As'mala, ihr dient derzeit als Vorrat. Ihr werdet wohl noch nicht gleich verputzt, und ihr bleibt auch am Leben, bis man euch verspeisen will, damit ihr nicht so schnell verderbt.« »Wie beruhigend«, zischte Shanija. »Sehe ich das richtig? Momen tan können wir nichts tun, bis wir irgendwohin kommen, wo wir auf Hilfe hoffen können?« »So sieht es aus«, meinte Pong, und es klang fast bedauernd. »Gut, dann bring mir As'malas Sprache bei.« »Was?« »Fang an!« * Die Nacht verging schnell, und ebenso rasch lernte Shanija dazu. Sie würde noch eine Weile brauchen, bis sie mit den Schnalz- und Klick
lauten zurecht kam, aber für den alltäglichen Gebrauch würde sie sich bald fließend unterhalten können. Die Grammatik war ihr ver traut, es ging nur um die Wörter, und die saßen rasch. Mit Pongs Dolmetschervermittlung gelang ihr bald die erste Un terhaltung mit As'mala, die bestätigte, dass sie von der Besatzung der legendären Sunquest abstammte. Und Shanija erfuhr noch viel erstaunlichere Dinge. Auf Less war keine elektronische Technik möglich, das wusste sie bereits. Aber dafür hatte jedes Lebewesen, ob Intelligenz, Flora oder Fauna, die Gabe der Psimagie. Wobei vermutlich keine zwei Indivi duen über exakt dieselben Fähigkeiten verfügten. »Ich zum Beispiel«, erklärte As'mala, »kann jedes Schloss öffnen, egal auf welche Weise es gesichert ist. Das ist mein besonderes Ta lent, das mich letztlich in die Diebeszunft brachte.« »Diese Psimagie hat mich zum Leben erweckt!«, schnarrte Pong. »Und lässt den Müllhaufen durch die Gegend latschen.« Shanija ließ sich nicht anmerken, was sie davon hielt. »Dann müss te ich also auch eine Gabe haben?«, fragte sie lauernd. »Ja«, antwortete As'mala prompt. »Ich weiß, du glaubst mir nicht. Aber du wirst es feststellen, wenn sie eines Tages zutage tritt.« »Allerdings, ich glaube dir nicht, denn immerhin bist du nicht in der Lage, dich zu befreien«, erwiderte Shanija kühl. »Hast du schon genau hingesehen?« As'mala wedelte mit ihrer Hand. Zu ihren Füßen herab hingen lose die Ketten. Nun musste Shanija innerlich doch ein wenig schlucken. Wie hatte sie das ge schafft? »Das organische Zeugs kann ich nicht loswerden«, fuhr die Diebin fort. »Zumindest nicht diese Nacht, denn es ist erst der zwei te Vollmond, aber vielleicht morgen. Bei Tageslicht ist einiges an ders.« »Was gibt es für Möglichkeiten der Psimagie?«, wollte Shanija wis sen. Sie fühlte sich unbehaglich, denn möglicherweise hatte As'mala Recht. Es würde erklären, warum Shanija sich seit der Landung
nicht mehr ganz wie sie selbst fühlte. Es hatte sich etwas verändert, das sie schon die ganze Zeit beunruhigte, und es lag nicht nur an ih rer Verbindung zu Pong. Der Durchgang durch die Sonne hatte et was in ihr ausgelöst, das bei dem Eintritt in dieses System verstärkt und verfestigt worden war. »Alles«, gab As'mala grinsend Auskunft. »Es wird dir nicht scha den«, fügte sie tröstend hinzu. Offensichtlich konnte die Diebin Shanijas Gefühlszustand erken nen, obwohl sie seit der Kinderzeit eine undurchdringliche Maske zeigte und ihr Empfinden nie offenbarte. Sie musste ihr Vorurteil mehr und mehr revidieren. Die blonde Frau fuhr fort: »Telepathie, Telekinese, Hypnose, Schlösser knacken, Wasser zu Wein …« Ein fernes Summen erklang, aber Shanija achtete nicht darauf. Der wandernde Müllhaufen hielt sich stets so, dass Fathom immer in sei nem Rücken war und sein langer Schatten seinen Schritten voraus fiel. Unten wieselte und wibbelte es, Ameisen und Ratten waren eif rig mit dem Sammeln beschäftigt, und zwischendurch erklang das eine oder andere klägliche Quietschen. Es gab hier durchaus Leben und »Abfälle«. Möglicherweise näherten sie sich einer Zivilisation und konnten auf Hilfe hoffen. As'mala allerdings wurde plötzlich nervös, als das Summen lauter wurde. »Oh, sie schlüpfen«, stellte sie fest und fing hektisch an, an ihren Fesseln zu rütteln, die sich daraufhin eng zusammenzogen. Augenblicklich stellte sie ihre Bewegungen ein und erschlaffte, wor aufhin der Zug lockerer wurde. Shanija hatte dies mit zunehmender Nervosität beobachtet. »Wer schlüpft? Was ist los?« »Die Sch!tings«, antwortete As'mala mit einem Schnalzlaut. »Die Königin hat hier drin ihr Nest und wird von den Antiins ernährt. Sie legt Hunderte Eier, und daraus schlüpfen Arbeiterinnen, die sich umgehend auf die Suche machen.« »Nach Nektar, hoffe ich«, meinte Shanija.
»Schön wär's«, versetzte As'mala mit einem zitternden Klang in der Stimme. »Etwa Blut?«, rief Pong und klatschte begeistert in die Krallenhän de. »Ich hab keins!« Das Summen wurde ohrenbetäubend laut, und dann brachen sie aus den Eingeweiden des Schrotthaufens hervor. Handtellergroße Stechmücken mit zwei schmalen Flügelpaaren, riesigen schillernden Facettenaugen und fünf Zentimeter langen Stechrüsseln. Shanija brauchte keinen Dolmetscher, um As'malas Flüche zu verstehen. »Dammichnocheins!«, trompetete Pong. »Die saugen euch in Null kommanix leer! Aber keine Angst, Mädels, ich rette euch!« As'mala schlug bereits wild um sich, wohingegen Shanija nicht die geringste Chance hatte, sich zur Wehr zu setzen. Die ersten Stiche ertrug sie noch ruhig, aber dann begann sie genauso wie die Diebin zu schreien. In Scharen fielen die blutgierigen Monster über die Frauen her, die Stiche ihrer dicken Rüssel schmerzten, und das Anti gerinnungssekret, das sie in die Wunden träufeln ließen, brannte wie Feuer. Beide Gefangenen bluteten bereits aus mehreren Wun den, und der Geruch des süßmetallischen Saftes steigerte den Blut rausch und brachte die Insekten halbwegs zur Raserei. Sie behinder ten sich gegenseitig in ihrer Gier, fielen sogar übereinander her, während Schlauere neue Stiche setzten oder gierig an bereits geöff neten Wunden saugten. Der kleine Schmuckdrache gab sein Bestes. Er sauste unermüdlich zwischen den beiden Frauen hin und her, zerschmetterte die Mücken mit peitschenden Schwanzschlägen, schnappte zu und schlug mit blitzenden Krallen. Obwohl er kaum länger war als die Insekten, wütete er furchtbar unter ihnen, ohne dass sie sich gegen ihn zur Wehr setzen konnten. Er spie sogar Feuer. Zu Dutzenden stürzten die Blutsauger ab, nicht selten in Stücke gerissen, und lenkten einige der Brutschwestern ab, aber nicht alle. Es waren zu viele. Das Summen war zu einem unerträglichen, brau senden Lärm angestiegen, der sämtliche anderen Geräusche erstick
te. Die warmblütigen Rattenartigen hatten längst die Flucht ergriffen und sich ins Innere des Haufens zurückgezogen, wohingegen die Antiins reiche Ernte hielten, die Leichen aufsammelten und eifrig zum Hort zurückbrachten, um sie dem Kreislauf wieder zuzufüh ren. Die abgestürzten Mücken, die noch lebten, wurden kurzerhand mit den scharfen Kauwerkzeugen getötet. Shanija wurde schwindlig, und auch As'malas Bewegungen er lahmten sichtlich. Es war abzusehen, dass Pong es nicht schaffen konnte; auch ihn verließen allmählich die Kräfte, und er konnte nur noch Rauch husten. Der Kampf schien verloren. Mit aufgerissenen Augen starrte Shanija einer Mücke entgegen, die mit ausgestrecktem Stechrüssel genau auf ihr Gesicht zuhielt. In diesem Moment ging Flavor auf. Der erste gleißende Sonnen strahl tastete über den Horizont und schob sich rasch weiter nach oben. Schlagartig verschwand der nächtliche Schatten des wandeln den Abfallturms, verwandelte sich in den Tagschatten und wurde nach hinten geschleudert. Die mit schwirrenden Flügelpaaren herannahende Mücke erstrahl te im hellen Licht des Morgens, glitzerte und leuchtete in metalli schem Blau und Rot, und … zerplatzte. Shanija blinzelte verblüfft, doch es war keine optische Täuschung. Überall, wohin die Sonne traf, zerplatzten nun die Mücken wie zu stark aufgeblasene Luftballons. Die anderen flüchteten sich in die Schatten und beeilten sich, das Innere ihres Horts zu erreichen, wo niemals Tageslicht hinkam. Auch die Antiins strömten in Scharen zurück, und für einige Augenblicke stöhnte und zitterte der Turm, wackelte und bebte und kämpfte um sein Gleichgewicht, bis jeder an seinem verborgenen Platz war. Der Turm verharrte. Geisterhafte Stille kehrte in die schmerzenden Ohren ein. Bis Shanija ihr eigenes lautes Keuchen bewusst wurde. Über ihr hörte sie As'malas Stöhnen und war besorgt; seltsam, schon nach dieser kurzen Zeit fühlte sie sich der Schicksalsgefährtin ver
bunden. Sie hatten die Schrecken der Nacht gemeinsam durchlitten und einigermaßen überstanden. »Alles in Ordnung?«, krächzte sie. »Keine Sekunde zu früh«, antwortete As'mala und lachte heiser. »Pong, hilf mir mal, wir sollten keine Zeit mehr verlieren, bevor die Pignicks aufwachen.« »Wer … wer ist das schon wieder?« »Die Tagaktiven. Du möchtest ihnen nicht begegnen.« Shanija verdrehte den Kopf und schaute blinzelnd nach oben. Ihr Körper brannte, aus einigen Wunden sickerte immer noch Blut, der Rest klebte an ihr. Sie sah, wie Pong mit Zähnen und Klauen die or ganischen Fesseln bearbeitete, die sich im Tageslicht nicht mehr zur Wehr setzten. Shanija spürte, dass ihre Verschnürungen erstarrt wa ren und nicht mehr auf jede Bewegung reagierten. Kurz darauf war As'mala frei und kletterte langsam, ächzend, mit steifen Gliedern zu ihr herunter. Die blonde Frau war nicht weniger durchtrainiert als Shanija, hatte aber wohlproportionierte weibliche Formen und wirk te dadurch kräftiger als die schlanke, sehnige Shanija. Sie verstand es, sich vorteilhaft zu kleiden, das war auch bei der ziemlich in Mit leidenschaft gezogenen Lederkleidung noch erkenntlich. Sie strahlte trotz der Erschöpfung Selbstbewusstsein und eine seltsam heitere Zuversicht aus. Eine Abenteurerin und offensichtlich auch Kämpfe rin, die das Leben zu nehmen wusste. So jemandem war Shanija noch nie begegnet, nicht einmal innerhalb des Militärs. Die Men schen der Sunquest mussten von anderem Schlag gewesen sein. Keine Ahnung, wie As'mala sie befreite, die Diebin schien die Ket ten nur kurz zu berühren, aber kurz darauf fielen die Fesseln auch von Shanija ab, und sie hangelte hastig nach einem Halt. Ihre Mus keln zitterten, als sie sich an das Gestell klammerte, und ihr Puls schlag beruhigte sich erst nach einer Weile. Pong, der völlig er schöpft war, kroch ungelenk zu Shanija zurück, machte es sich an seinem Platz auf dem Dekollete bequem und fiel in Starre. Derweil setzte sich auch der Schrotthaufen wieder in Bewegung,
langsam und rasselnd, wie ein altersschwaches, aber unermüdliches Uhrwerk. »Was nun?«, flüsterte Shanija. Nun, da sie frei war, wollte sie weniger denn je irgendeine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich lenken. »Folge mir.« As'mala kletterte über den stinkenden Haufen, und Shanija beeilte sich, hinterher zu kommen. »Du kommst also von der Erde?«, fragte die blonde Frau unter wegs, augenscheinlich angetan. »Ich hab davon gehört, damals, als … ach, ist egal. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dasselbe wieder geschehen könnte.« »Ich bin allein und keineswegs gezielt hierher gekommen«, ant wortete Shanija. »Ein ziemlich verrückter Zufall.« »Es gibt keine Zufälle«, widersprach As'mala. »Deine Anwesenheit muss von Bedeutung sein.« »Meine Abwesenheit ist viel bedeutungsvoller«, versetzte Shanija. »Wahrscheinlich hast du das schon hundertmal gehört, aber ich muss hier weg, und das so schnell wie möglich.« Unwillkürlich tas tete sie nach der Brusttasche und fühlte erleichtert den Kristallspei cher. »Und diese Antwort wirst du wahrscheinlich noch öfter hören: Das geht nicht. Völlig unmöglich. In einer Million Jahre ist es nie mandem gelungen.« »Nun, dann hat meine Anwesenheit möglicherweise die Bedeu tung, dass ich den Gegenbeweis liefere.« As'mala wandte ihr das dreck- und blutverschmierte Gesicht zu und zeigte grinsend die Zähne. »Du gibst nicht so leicht auf, was? Und bissig dazu. Gefällt mir!« »Ich gebe niemals auf. Du hast ja keine Ahnung.«
6. Der flammende Sonnenball stieg höher, und der Himmel färbte sich von Rosa zum mit bläulichen Schlieren überzogenen Rot. Fathom hing halb unter dem Horizont, und etwas weiter nördlich kam der Doppelstern langsam zum Vorschein. Meat und Meadow waren so eben zur zweiten Runde über den Himmel aufgebrochen, funkelnde Punkte, die miteinander Fangen spielten. Ein fantastischer Himmel, selbst in einem Moment wie diesem. Es wurde angenehm warm, und eine laue Brise kam auf. Sie befanden sich in etwa fünfzehn Me tern Höhe über dem Boden, der Ausblick war dementsprechend hervorragend. Die Ebene erstreckte sich weit unter ihnen, Steppe und Buschland wechselten sich ab. Am Himmel kreisten in großer Höhe Flugwesen, weiter unten machten sich Vögel und Raubinsek ten Nektar und Beutetiere streitig. As'mala kletterte entgegengesetzt zur Sonne Richtung Westen. Shanija stellte keine Fragen; die Abenteurerin wusste sicherlich, was sie tat. Die Schiffbrüchige verharrte, als sie in südlicher Richtung, zwischen dem Gasriesen und den beiden fernen Sonnen, eine Sil houette ausmachte, die nicht natürlichen Ursprungs sein konnte. Schätzungsweise zehn Kilometer entfernt; allerdings waren die Luft verhältnisse hier sehr gut, die Sicht äußerst klar, es konnte also auch weiter weg sein. Shanija hielt As'mala auf. »Was ist das?«, fragte sie und deutete auf die Silhouette. »Eine Stadt, nicht wahr?« »Ja«, antwortete die Diebin. »Die Baronie Castata. Sehr rückständig, nichts für moderne Raumfahrerinnen.« »Aber wenn …« »Was auch immer du suchst, du wirst es dort nicht finden, Shani ja.«
As'mala verschwand um eine Ecke, und Shanija hörte ihren Fluch. Es war erstaunlich, was für ein Repertoire sie drauf hatte; dieser klang wieder ganz anders und nicht weniger deftig als die übrigen. Hier gab es noch eine deutliche sprachliche Hürde, aber Shanija hat te entschieden, nicht nachzufragen. Kurz darauf sah sie, was ihre Schicksalsgefährtin meinte: Sie wa ren nicht allein hier unterwegs. Wie Möwen einem Fischtrawler hin terher flogen, folgten Scharen von Tagedieben dem wandernden Müllhaufen, und nun glaubte Shanija endlich all die fantastischen Erzählungen der letzten Nacht. Es waren auch Menschen darunter, aber der Großteil der Beutesu cher setzte sich aus unglaublichen Wesen zusammen, die deutlich machten, dass das Universum voll war mit unterschiedlichem Le ben. Reptilien, Insektoide, Fellbedeckte, Vielarmige und -beinige, nicht einer glich dem anderen, aber eines hatten alle gemeinsam: Sie sahen aus wie der typische Abschaum jeder Zivilisation, der Aus satz am Rand der Gesellschaft. Heruntergekommen, gierig, ver schlagen, verzweifelt. Solange sie sich fortbewegen konnten, ver suchten sie ihrem Schicksal zu entkommen und irgendwann den großen Fang zu machen. »Der Müllhaufen scheidet immer wieder Unverdauliches aus, was nicht benötigt wird«, erklärte As'mala. »Und es ist tatsächlich schon vorgekommen, dass darunter ein Opal oder ein kostbarer Edelstein war, eben manches, das zu Geld gemacht werden kann.« »Vom Müllsammler zum Millionär«, murmelte Shanija. »Das Prin zip scheint universell zu sein.« Sie blickte As'mala an. »Kriegen wir Schwierigkeiten mit denen?« »Darauf kannst du wetten.« As'mala verstummte, als aus dem In neren des Schrottturms ein Grunzen und Quieken drang. Einen Mo ment lang huschte Panik über ihr Gesicht. »Aber nicht so viele wie mit denen«, stieß sie hervor und schickte sich an, nach unten zu klet tern. »Die Pignicks?«, fragte Shanija, und ein kalter Schauer lief ihr den
Rücken hinunter, als die scheußlichen Laute näher kamen, sich rück sichtslos und mit Getöse durch die Eingeweide des Müllhaufens drängten. Sie hatte genug von Überraschungen, und sie wollte nicht bis ins Detail herausfinden, was noch alles in diesem gigantischen Abfallberg lebte. Sie kletterte As'mala eilig hinterher, Muskel schmerzen und Erschöpfung ignorierend. Wann sie zuletzt geschla fen hatte, wusste sie nicht mehr. Seit einiger Zeit waren mehr als ein paar Minuten, in denen sie allerdings meistens bewusstlos gewesen war, nicht drin gewesen. »Was hast du nun vor?«, fragte sie As'mala, als sie sie eingeholt hatte. »Viel Auswahl haben wir nicht, oder?« Die junge Frau grinste schief. »Nein.« Shanija sah über die Schulter. Bisher hatten die Tagediebe sie noch nicht entdeckt. Sie waren damit beschäftigt, die ausgeschie denen Reste einzusammeln und sich gegenseitig streitig zu machen. Manche hatten Reittiere oder sogar einen angespannten Wagen da bei, andere waren mit Handkarten oder schäbigen Beuteln unter wegs, in die sie wahllos alles hineinstopften, um es vermutlich spä ter auszusortieren. Als von irgendwo ein faustgroßes glitzerndes Ding herabfiel und über den staubigen Boden kollerte, stürzten sie sich gleich zu zehnt darauf, und es entstand eine fürchterliche Schlä gerei; vermutlich nur um ein Stück Talmi. »Wir sollten versuchen, unbemerkt herunterzukommen, und uns dann auf den Weg zur Baronie machen«, schlug Shanija vor. »Alles andere verspricht noch weniger Erfolg, hier draußen gibt es nicht mal ausreichende Deckung.« As'mala seufzte. »Ich hatte eigentlich gehofft, dort nicht hingehen zu müssen …« »Ich fürchte, wir haben keine Wahl.« Shanija war schon auf dem Weg um den Turm und abwärts. Sie wollte an einem der unförmi gen Beine so weit wie möglich hinunterklettern und dann absprin gen. Inzwischen hatte sie einigermaßen Übung und fand sich beim
Klettern gut zurecht. Über die grässlichen Dinge, die ihre Finger da bei berührten, dachte sie nicht nach. Es war gut, dass sie selbst noch kein Teil davon war. Sie stieß einen keuchenden Laut aus, als sich plötzlich in ihrer Nähe eine rosafarbene Rüsselschnauze durch den Müll wühlte, schnüffelnd und leise grunzend. Unterhalb der beweglichen, feuch ten, borstigen Nase ragten gewaltige Hauer aus dem Ober- und Un terkiefer. »Verdammt«, flüsterte sie. »Schneller, As'mala, sie haben mich gewittert, gleich brechen sie durch …« Die beiden Frauen achteten nicht mehr auf sicheren Halt, sie ver trauten ihrer Erfahrung und rutschten und glitten so schnell es ging weiter nach unten, bis zu einem der unförmigen Säulenbeine. Von hier aus waren es immer noch mindestens acht Meter bis zum Bo den. Sie mussten verharren, wenn sich das Bein bewegte, und ka men erst beim Absetzen wieder vorwärts. Nur noch ein paar Meter, dachte Shanija, zwei oder drei, das reicht schon … As'mala verlor plötzlich den Halt, schlidderte an ihr vorbei hinun ter und fing sich gerade noch mit einer Hand an einer herausragen den Metallstange. Ein paar Sekunden pendelte sie gefährlich hin und her, dann hatte sie die zweite Hand oben und hielt sich. »Warte, bis er abgesetzt hat!«, rief sie zu Shanija hinauf, die sich beeilte, hinterher zu kommen. Das Grunzen und Quieken wurde zu sehends lauter, und in den Haufen kam immer mehr Bewegung. »Dann müssen wir springen!« »Verstanden«, ächzte Shanija, die sich soeben an einem hervor springenden, zersplitterten Knochen verhängt hatte, der zudem mit irgendeiner klebrigen Flüssigkeit, wie Leim, bedeckt war. Ganz in der Nähe schnüffelte wieder ein Rüssel. Sie ermahnte sich zur Ruhe und befreite sich mit einem scharfen Ruck, der wieder einen Riss in der Montur kostete. In diesem Moment setzte der Müllhaufen das Bein ab, und sie konnte nicht mehr warten. Mit aller Kraft stieß sie sich von dem Turm ab, hechtete durch die Luft, um so viel Abstand wie möglich zu bekommen, schlug einen Salto und sauste mit ru
dernden Armen wie ein Stein in die Tiefe. Kurz vor dem Aufprall entspannte sie sich, machte sich so locker und weich wie möglich, und zog die Beine leicht an, um den belastenden Stoß auf die Knie zu mildern. Ihre Stiefel würden gut abfedern, um ihre Knöchel brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Dennoch trieb ihr der Aufprall die Luft aus den Lungen, und sie ließ sich fallen, kugelte sich zusammen und rollte über den Boden. Als sie zum Stillstand kam und vorsichtig blinzelnd die Augen öff nete, kam As'mala gerade an, eine gewaltige Staubwolke aufwir belnd, überschlug sich ebenfalls mehrfach, fluchte dabei aber gehö rig. Noch bevor sie richtig gelandet war, rappelte sie sich auf, mit ei nem wilden Blick in den tiefblauen Augen. »Nur die Ruhe, ich bin's.« Shanija hob die Hände und stand lang sam auf, klopfte sich den Staub von der Montur, zog Müllfäden und stinkendes Zeug aus den Haaren und schüttelte sich dann, zugleich angewidert wie erleichtert. Alles war an dem Platz, wo es hingehör te; Knochen und Muskeln schmerzten noch ein wenig von der un sanften Landung, aber das würde sich rasch geben. As'mala sprang hoch und hüpfte mit wütendem Kreischen wie eine Wilde herum, zerrte an den Verschlüssen ihres Lederhemdes und zog schließlich ein fingerdickes, schleimiges, sich windendes Schneckenetwas mit klickenden Kauwerkzeugen aus ihrem Aus schnitt. »Au! Widerliches Scheißvieh! Das brennt vielleicht!« Sie schleuderte das Tier zu Boden und zertrampelte es, bis ihre Wut verraucht war. Dann tastete sie ihre vollen Brüste ab und rückte sie zurecht. »Glück gehabt«, brummte sie. »Alles noch dran, mein teu res Kapital.« Es war sicher nicht mehr als eine halbe Minute vergangen, doch Shanija drängte zur Eile, denn der Schrottturm bewegte sich weiter, und bald würden sie sich den nachfolgenden Tagedieben präsentie ren. Die wären sicherlich nicht erfreut über den Zuwachs der schein baren Konkurrenz. Sie packte As'malas Arm und zog sie mit sich.
»Komm schon, dort hinten ist eine Böschung, vielleicht schaffen wir es rechtzeitig.« Sie rannten los, in Richtung Castata. Bis zu den Büschen waren es ungefähr zweihundert Meter, normalerweise keine großartige Ent fernung. Aber die beiden Frauen waren von der Nacht ausgelaugt und entkräftet und dementsprechend langsam. Shanija hatte so sehr darauf gehofft, rechtzeitig außer Sichtweite zu sein, aber da kamen zwei Beutesucher aus dem Schatten des Turms, auf lamaartigen Ge schöpfen mit langen Peitschenschwänzen, die zügig im Rennpass dahinliefen. Sie entdeckten die Frauen und hielten auf sie zu. As'mala blieb abrupt stehen, und ihr Gesicht rötete sich. »Der Kerl da«, rief sie und deutete auf den Ersten, der dem anderen etwas vor aus war; ein schiefzahniger, heruntergekommener Mensch in Lum pen. Sein Kumpan war humanoid gebaut, hatte aber das glubschäu gige Aussehen und die dürren Extremitäten eines Geckos. »Der rei tet meinen Begger, ich erkenne ihn an der gelben Ohrquaste!« Die Augen der blonden Frau sprühten Funken. »Ich dachte, die Pignicks hätten ihn gefressen, dabei hat dieser Mistkerl ihn mir geklaut, und deswegen wurde ich auf dem stinkenden Scheißehaufen festgena gelt!« Außer sich vor Zorn lief sie dem herannahenden Tagedieb entgegen, eine schnelle Folge von Pfeiflauten ausstoßend. Der Begger rammte die Sohlen in den Staub und fing an zu bocken. As' mala war bereits bei ihm und sprang den überraschten Mann mit ei nem wütenden Schrei an, zerrte ihn von dem Tier und schlug ihn zu Boden. »He!«, schrie der glubschäugige Kumpan und winkte den ande ren. »Hierher, hierher!« Shanija war inzwischen stehen geblieben, die Hände in die Seiten gestemmt, und schnappte nach Luft. Der Schweiß rann in Strömen an ihr herab und sammelte sich in der Halsgrube. »Also schön«, seufzte sie. »Dann eben so.« Sie hätten es ohnehin nicht mehr in die Deckung der Büsche geschafft, ein Kampf wäre unvermeidlich ge wesen.
As'mala musste sich inzwischen beider Tagediebe erwehren, aber Shanija wusste bereits, dass sie mit ihnen zurechtkommen würde. Deshalb lief sie an ihr vorbei, den anderen entgegen, die auf bedroh licher Front näher rückten. Mit einer Waffe in der Hand wäre es ge gen die Übermacht leichter gewesen, aber es gab auch andere Mög lichkeiten. Shanija hörte As'mala hinter sich zuschlagen und die beiden Müll sammler ächzen; ihr Rücken war also erst einmal sicher. Mit halb zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die Wesen der ersten Reihe, studierte ihre Bewegungen, ihre Haltung, wer wem einen Schritt voraus war, ob bewaffnet oder nicht, und entschied sich dann für einen echsenartigen, grünhäutigen Muskelberg mit zähne starrender Schnauze und einer stachelbewehrten Keule in den Kral lenhänden. Sein Blick war kalt, emotionslos, und er kam zielstrebig, aber ohne sich zu verausgaben, näher. Die anderen hielten sich in zwischen leicht hinter ihm, wohl wissend, dass jede kleine Verlet zung hier draußen tödlich sein konnte. Sie ließen also ihm den Vor tritt, solange nicht ganz klar war, wie die Karten verteilt waren. Dies alles erkannte Shanija im Verlauf einer halben Minute; für einen militärisch nicht ausgebildeten Menschen wäre es nur ein chaotischer, Staub aufwirbelnder Haufen gewesen, der sich bedroh lich näherte. Doch die meisten waren keineswegs so mutig, wie sie sich gaben, sie vertrauten auf den Schutz der Masse und waren ein fach Mitläufer. Schließlich durfte man sich keine Beute entgehen las sen. Shanija setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung, rannte auf den grünen Riesen zu. Sie sah, dass dieser Wagemut sofort einige Tage diebe verunsicherte; sonst liefen die Opfer wohl vor ihnen davon. Das Echsenwesen verlangsamte nicht, auch seine gelbgrünen Augen blickten unverändert starr. Sicher rechnete es damit, dass Shanija im letzten Moment abdrehen oder sich auf einen der Schläger zur Lin ken oder zur Rechten stürzen würde, die mehr ihrer Größe entspra chen. Der Grüne hatte ja keine Ahnung, mit wem er sich anlegte.
Noch im Lauf bückte Shanija sich, schaufelte eine Handvoll Sand und schleuderte sie dem Grünen ins Gesicht, als sie nahe genug war. Dann wirbelte sie herum und trat in rascher Folge mit den schweren Stiefeln zu, seitlich an den linken Oberschenkel und dann ans Knie. Der Grünhäutige jaulte auf und knickte mit dem Bein ein. Nun kam Shanija an seinen Arm mit der Keule heran, die er in seiner Überra schung und plötzlichem Schmerz nicht eingesetzt hatte, versetzte ihm einen harten Schlag an den Unterarm, entwand ihm die Keule und hieb sie mit aller Kraft auf seinen ohnehin angeschlagenen lin ken Fuß, der nur von einem halb zerfetzten Schuh geschützt wurde. Seit Beginn des Kampfes waren nur wenige Sekunden vergangen, und vor allem lautlos. Nicht zögern, nicht weichen, ein Ungleichgewicht musste so schnell wie möglich beseitigt werden. Zuschlagen, dann atmen, und vielleicht irgendwann auch Fragen stellen. Der Riese brüllte vor Schmerz auf und taumelte zur Seite, aus sei nem Fuß spritzte grünes Blut. Shanija sprang außer Reichweite sei ner Arme, die Keule kreisend. Nun hatte sie eine Waffe, und keine schlechte. Das Verhältnis war schon sehr viel besser. »Wer will als Nächster?«, schrie sie in die zurückweichende, völlig überrumpelte Menge und spuckte den Sand zwischen ihren Zähnen aus. Anschei nend hatten diese Leute nicht oft mit einzeln auftretenden ausgebil deten Soldaten zu tun, geschweige denn, dass sie irgendeine Ah nung vom Kampf hatten. Bevor Shanija ihre weitere Strategie überlegen konnte, sah sie Be wegung in die hinteren Reihen kommen, wie eine Welle, die sich zu sehends aufbaute. Schreie wurden laut, und kurz darauf begriff sie, dass sich die Verhältnisse bereits wieder änderten. Aus dem wandernden Müllberg brachen nun die Pignicks mit trompetendem Quieken hervor, nahezu haarlose, warzige Nilpferd schweine mit gewaltigen Schädeln, langen kräftigen Beinen und muskelbepackten Körpern. Sie waren unglaublich schnell, und ihre kleinen dunklen Augen glühten mordlüstern. In ihren aufgerisse nen, von Hauern gesäumten Schnauzen hätte sich eine Familie
Sch!tings wohnlich einrichten können. Die Menge der Müllsammler fiel auseinander, jeder suchte sein Heil in der Flucht. Die Ersten waren schnell geschnappt, und ihre jämmerlichen Schreie klangen schrill über das Quieken und Grun zen hinweg. Shanija schüttelte es innerlich, als sie das Schmatzen und Reißen hörte, und sie gab ebenso wie die anderen Fersengeld, zurück zu As'mala. Die kam ihr bereits auf dem Begger entgegen und fuchtelte wild. »Schnell, rauf zu mir, das ist die einzige Chance!« Ein wieselflinker Lurchartiger kam auf dieselbe Idee. Er stürmte an Shanija vorbei auf den Begger zu und schien jeden Moment auf ihn springen zu wollen. As'mala aber stieß wieder einen schrillen Pfiff aus, und Shanija konnte sich gerade noch ducken, als der Begger mit seinem Peitschenschwanz ausholte und den Lurch weg fegte, der quakend durch die Luft kreiselte und auf zwei Fliehende stürzte. Er riss sie mit sich um, und bevor sie sich aufrappeln konn ten, war schon ein Pignick über ihnen. Shanija ließ die Keule fallen, packte As'malas Hand und schwang sich hinter ihr auf den Begger, der sofort ausscherte und kehrt machte. Die Abenteurerin trieb ihn an, denn die Pignicks holten be ängstigend schnell auf. Aber das Tier gab auch so sein Bestes, es wollte genauso wenig wie seine Reiterinnen gefressen werden. Die Stadt, auf die As'mala zuhielt, rückte tatsächlich schon etwas näher. Die verfolgenden Pignicks fielen deutlich zurück, aber sie ga ben noch nicht auf, und der Begger zeigte auch schon erste Anzei chen von Ermüdung; kein Wunder bei der doppelten Gewichtsbe lastung. »Wir müssen uns überlegen, wie wir …«, rief Shanija, doch As'ma la unterbrach sie und deutete nach vorn. »Schau!« *
Aus einer Senke erhob sich eine Staubwolke, die rasch näher kam. Und darin zeichneten sich die Silhouetten von Reitern ab. As'mala zügelte den Begger und blickte sich ratlos um. »Jetzt«, sagte sie langsam, und Shanija war erstaunt, dass sie weder fluchte noch tobte, sondern ganz ruhig sprach: »Jetzt haben wir verspielt.« Was war wohl das leichtere Los, den Reitern in die Hände zu fal len, oder den fürchterlichen Schweinen? »Ich sterbe kämpfend«, schnaubte Shanija. »Das ist vielleicht nicht nötig«, meinte As'mala. Der Begger trip pelte nervös und blökte, weil die Pignicks näher kamen; ebenso aber auch die Reiter. Shanija konnte sie nun erkennen; die meisten waren Menschen oder zumindest reichlich behaarte Menschenähnliche, mit Speer, Bogen, Armbrust und Schwert. Ihre Reittiere waren große, schwere Laufvö gel mit riesigen Schnäbeln von Raubvögeln; allerdings waren sie nicht befiedert, sondern bis auf den kahlen Rücken, auf den Sättel aufgebunden waren, mit langen gelben und roten Stacheln bedeckt. Sie stießen schrille, unangenehm klingelnde Laute aus, als sie sich den Pignicks näherten, und reckten angriffslustig die Hälse nach vorn. Ihre starken Vogelbeine besaßen sichelförmig gebogene, hand spannenlange Krallen, die vermutlich messerscharf waren. As'mala hatte Mühe, den bockenden Begger im Zaum zu halten, als die Reiterschar an ihnen vorbeirauschte und sich auf die Pignicks stürzte, die sich wütend zur Wehr setzten. Aber zum ersten Mal war das Kräfteverhältnis ausgeglichen. As'mala gab dem Begger die Zü gel frei, und er stürmte wieder los; die kurze Pause hatte ihm einige Kräfte zurückgegeben, und er galoppierte fleißig. »Vielleicht …«, fing die Diebin an, doch gleich darauf musste sie ihre Hoffnung auf geben: »Verdammt!« Die letzten Nachzügler kamen, fünf Reiter, in komisch anmutender blecherner Rüstung und mit stachelge schmückten Helmen. »Das sind die Anführer, stimmt's?«, äußerte sich Shanija ironisch. »Ja, leider.«
As'mala seufzte, während sie den Begger seitlich ausweichen ließ, aber drei der fünf Reiter scherten ebenfalls aus und kamen rasend schnell näher. Beinahe wären die beiden Frauen gestürzt, als sich ein Speer vor dem Begger zitternd in den Boden bohrte. Das erschrockene Tier machte einen Satz zur Seite und blieb dann mit bebenden Flanken und schäumendem Maul stehen. Es blökte kläglich und hob und senkte mit herunterhängenden Ohren den Kopf auf dem langen Hals, wie in Demut, als wolle es um Verge bung bitten. Shanija verstand nun seinen Namen. »Hat keinen Sinn«, bemerkte sie. »Ergeben wir uns, vielleicht lassen sie uns ja am Leben.« »Ganz sicher sogar«, knurrte As'mala. »Zumindest für eine Weile.« Bald darauf waren alle fünf Reiter bei ihnen und umringten sie; die Gesichter von den heruntergeklappten Visieren halb verdeckt. Ihre Rüstungen waren verbeult und alt, mit leuchtenden Farben be schmiert, aber die Waffen waren gepflegt, und ihre Haltungen drückten deutlich aus, dass sie Gebrauch davon machen würden. Einer von ihnen, mit grün gefärbtem Helmbusch, näherte sich aus dem Kreis. Er grinste As'mala aus lückenhaftem Gebiss an. »Hätte nicht gedacht, dass du dich hier noch mal blicken lässt«, sagte er. »Der Baron wird beglückt sein, und ich werde eine saftige Beloh nung erhalten.« »Aha«, murmelte Shanija ganz leise, und As'mala hob schwach grinsend die Schultern.
7. »Also«, sagte Shanija langsam. »Noch mal von vorn.« Sie stand mit verschränkten Armen an den feuchten Mauervorsprung gelehnt und fixierte As'mala aus funkelnden grünen Augen. Während die Schlacht noch im vollen Gange war, hatten drei der Reiter, die Lanzenspitzen stets auf die Frauen gerichtet, Shanija und As'mala als Gefangene in die Stadt gebracht. Stadt – es war eher eine burgähnliche Festung wie aus dem irdischen Mittelalter, mit einer großen, hohen Ringmauer, Wachtürmen, einem Markt im Inneren, schäbigen Bretterverschlägen und kleinen, aneinander geschmiegten Stein- und Holzhäusern für die Einwohner und einem trutzigen Ge bäude für den Baron. Ein klobiger, viereckiger Kasten, rein funktio nal auf Kampf und Verteidigung ausgerichtet, mit hohen Wehrgän gen und Zinnen. Die Stallungen waren auf ebenem Boden innerhalb der starken Burgmauern untergebracht, ebenso die Schmiede und verschiedene Handwerkseinrichtungen. Der Eingang zur eigentli chen Festung war nur über eine schmale und steile Treppe erreich bar. Oben, so hatte Shanija erfahren, residierte der Baron mit seinem Hofstaat; sie fragte sich, wovon er in dieser Steppe lebte. Gefangene wurden ins Verlies gebracht, das in den unteren Ge wölben lag. Der Zugang erfolgte durch ein in den Boden eingelasse nes Fallgitter mitten im Fuhrweg zu den Stallungen und Unterstän den für die Wägen. Das runde, dicke Gitter hatte einen Durchmesser von mindestens drei Metern und musste von einem gorillaähnli chen, zweieinhalb Meter großen Tier mit stumpfem Blick aufgezo gen werden. Der Befehl dazu wurde ihm mit der Peitsche erteilt. Der durch die Misshandlung nahezu haarlose Rücken wies zahlreiche Narben, frische und schwärende Wunden auf. Das Affenwesen jaul te auf, als die Peitsche über seinen Rücken zischte, und zog an der
schweren Kette. Über eine Leiter ging es in die Dunkelheit hinab; wer das nicht mehr klettern konnte, wurde kurzerhand hinuntergeworfen. Unten verbreiteten blakende Fackeln ein dunstiges Licht in feuchte, modrig stinkende Gänge, an denen sich links und rechts entlang die Gitter mit den Verliesen reihten. Shanija fühlte sich an einen schlechten Holofilm aus ihrer Kindheit erinnert; damals hatte man gern archai schen Kitsch gezeigt, mit viel Gewalt und Folter. Sie hätte nie im Le ben geglaubt, dass sie sich eines Tages selbst einmal in einer solch grotesken Kulisse wieder finden würde – und noch dazu mit realem Hintergrund. Man sperrte die Frauen zusammen in ein feuchtes Gewölbe, aus gelegt mit muffigem Stroh, die Wände mit teils phosphoreszieren dem Schimmel bedeckt. Über ihnen rollten polternd Karren, und ge dämpfte Schreie und Knallen drangen durch die bröckelnden Mau ern. Decke, Wände und sogar der Boden zitterten leicht, wenn ein besonders schwerer Wagen darüber gezogen wurde. »Sehr viel kann ich dir nicht sagen«, meinte As'mala verlegen. »Wir haben Zeit«, versetzte Shanija. »Wie es aussieht, gibt es mo mentan hier unten nichts zu tun für uns. Also kläre mich auf, was du mit dem Baron zu tun hast, dass er eine hohe Belohnung auf dich aussetzt.« As'mala hockte niedergeschlagen auf dem Boden und nestelte an der Verschnürung ihrer Weste. »Na ja, ich war vor einiger Zeit mal hier, um das eine oder andere abzustauben.« »Was gibt es hier abzustauben?«, fragte Shanija erstaunt. »Es ist al les uralt und heruntergekommen!« »Das täuscht«, erwiderte die blonde Diebin. »Natürlich hält der Baron seine Untertanen kurz, aber er und sein Hofstaat leben oben in Saus und Braus. Er verlässt seine Burg nie, weil er sich alles so eingerichtet hat, dass es ihm an nichts mangelt.« »Und woher hat er den Reichtum?«
»Darüber gibt es verschiedene Gerüchte. Das Wahrscheinlichste ist, dass er oben Zwinger hat, wo Crystiden gehalten werden – das sind ganz eigenartige Wesen.« As'mala hob die Schultern. »Ich hab nie eins gesehen, aber es heißt, dass man von ihnen wertvolle Kris talle ernten kann, die natürlich sehr selten sind.« »Wie bitte?« »Wenn man sie quält«, erzählte As'mala, »scheiden sie ein Sekret ab, so wie wir Schweiß, über die Hautporen. Dieses Sekret … wächst und kristallisiert schließlich. Nach einer gewissen Reifungsphase werden die Kristalle abgebrochen oder ausgerissen. Das setzt die Crystiden wiederum unter Schmerz und Stress, und sie bilden neues Sekret.« »Das ist … abscheulich«, sagte Shanija angeekelt. »Ich nehme an, der Baron ist ein Mensch?« As'mala nickte. »Ich habe die Kristalle gesehen«, fuhr sie fort. »Oben. Die Räume sind prachtvoll damit ausgestattet. Obwohl das Gebäude keine richtigen Fenster hat, ist es innen zauberisch hell, in vielen Farben.« »Und das hat deine diebische Ader zum Pulsieren gebracht.« »Natürlich. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen. Ich bin eine ehrliche Diebin, nehme nur soviel, wie ich brauche, und würde niemals Leute berauben, die dadurch ihre Existenzgrundlage verlie ren. Das machen Zinswucherer und Geschäftsleute, die sich als ehr bare Mitglieder der Gesellschaft ausgeben.« Shanija winkte ab. »Solche Argumente kenne ich, As'mala, erspar mir das. Solange du deine Finger von meinen Sachen lässt, mische ich mich nicht in deine Angelegenheiten ein.« As'mala hob eine blonde Braue, schwieg jedoch dazu. Schließlich fragte Shanija: »Was macht er mit den Juwelen? Ver kauft er sie?« »Ja, der Baron treibt regen Handel. Mit Juwelen und mit Sklaven.« »Sklaven auch noch? Ich nehme zurück, was ich vorhin gesagt ha
be. Du hast jedes Recht der Welt, den Mistkerl auszurauben. Schade, dass es dir nicht gelungen ist!« »Oh, aber das ist es, deswegen … wollte ich mich mal wieder ein wenig in dieser Gegend umsehen, ob ich einen seiner Transporte er leichtern könnte. Aber der Baron scheint doch ein wenig nachtra gend zu sein. Deswegen bin ich ja gestern in diese dumme Lage ge raten.« Shanija blickte verwundert. »Was hast du ihm noch angetan?« As'malas Zähne blitzten durch die Dunkelheit. »Hinter vorgehalte ner Hand wird er jetzt sicher Baron Castrata genannt.« »Du machst keine halben Sachen, wie?« Shanija näherte sich ihr in teressiert und ging neben ihr in die Hocke. »Wie kam es dazu?« As'mala hob die Schultern. »Ich bin kein Kind von Traurigkeit, aber ich wähle aus, wer meinen kostbaren Körper berührt, schließ lich habe ich nur den einen.« Sie sah zu Boden. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein sadistischer, widerlicher Fettsack er ist, dem Quälen und Töten das reine Vergnügen bereitet, einfach so. Ich hätte ihn vernünftigerweise umbringen sollen, aber ich wollte ihn damit leben lassen.« Shanija nickte anerkennend. Die junge Frau gefiel ihr immer bes ser. »Was wird er dir antun?«, fragte sie behutsam. »Er wird mich eine Weile wie die Crystiden leiden lassen und mich dann auseinander nehmen. Wenn ich Glück habe, sterbe ich schnell.« Keine gute Aussicht. »Und ich?« »Du?« As'mala blickte ehrlich erstaunt. »Er wird dich eine Weile als Sklavin halten und dann verkaufen, wenn er keinen Spaß mehr an dir hat.« »Ich als Sklavin?«, spottete Shanija. »Ich bin dafür geeignet, in sei ne Mannschaft einzutreten, aber als Sklavin tauge ich kaum.« Die blonde Diebin musterte sie mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Es ist dir nicht bewusst, oder?«
»Was?« »Niemand sieht dich hier als Kriegerin, Shanija. Sondern als schö ne Frau.« »Ach, Unsinn«, wehrte Shanija ärgerlich ab. Sie stand auf, ent spannte die Füße und machte ein paar Dehnungs- und Lockerungs übungen. »Verstehe.« As'mala erhob sich ebenfalls. »Es hat dir noch nie ei ner gesagt.« »Was gesagt?« »Dass du schön bist. Diese Haare … deine grünen Mandelaugen. Deine feine Haut, die schmalen Gesichtszüge. Du siehst edel wie feingemeißelt aus. Nicht so grob wie ich.« Shanija lachte trocken. »Ich bin in der Gosse aufgewachsen und sehe jetzt kaum appetitlich aus.« »Deine Vorfahren müssen irgendwann edle Leute gewesen sein.« As'mala ließ nicht locker. »Ich habe noch nie jemanden wie dich ge sehen, und diese Barbaren hier noch weniger. Dreckig sind wir alle, aber das kann man abwaschen. Der Baron wird mir danken, dass ich dich in seine Fänge geleitet habe, bevor er mir Zunge und Augen ausreißt.« »Genug!« Shanija hob die Hände. »Wir werden es nicht darauf an kommen lassen.« Sie ging zu dem Gitter und rüttelte leicht daran. Eine Weile spähte sie durch den Gang. »Niemand da«, sagte sie nach einer Weile. »Also, dann los.« Sie wies auffordernd auf das Schloss. »Du beherrschst Schlösser, also mach dich endlich an die Arbeit, damit wir hier raus können!« As'mala näherte sich ihr. »Wozu sollte das gut sein?«, fragte sie. »Wir können aus Castata nicht entkommen, ohne dass sie es mer ken.« »Wie bist du damals entkommen?« »Das war etwas anderes. Durch mein Attentat herrschte völliges Chaos, und ein … äh … Verbündeter ließ die Gefangenen frei.«
»Dann machen wir heute dasselbe. Was ist los mit dir? Sonst gibst du doch auch nicht so schnell auf.« As'mala wich Shanijas Blick aus und druckste ein wenig herum, bis sie damit herausrückte: »Heute ist der dritte volle Lunarium. Das wirkt sich meistens … ein bisschen negativ auf meine Kräfte und meine Glückssträhne aus.« »Was für ein Quatsch!« Aber die Diebin schüttelte den Kopf. »Nein, das ist hier so. Bei be stimmten Konstellationen kann es passieren, dass die Psimagie bei dem einen oder anderen nicht funktioniert.« »Ach, und du meinst, das ist ein Grund, den Kopf hängen zu las sen?« Shanija packte As'mala am Kragen und zog sie dicht an sich. Sie war ein Stück größer als die Diebin und spielte diesen Vorteil nun aus, ebenso den ihrer Autorität. »Du öffnest jetzt das Schloss, dann besorgen wir uns Waffen und mischen das Kaff hier auf, und anschließend verschwinden wir, verstanden?«, knurrte sie um eine Oktave tiefer als sonst, im düsteren Alt. »Und wenn deine Psimagie versagt, machst du es eben auf die althergebrachte Weise auf, wie ein gewöhnlicher Dieb!« Sie ließ As'mala los, wandte sich ab und ging in den hinteren, dunklen Teil des Gewölbes. Den Geräuschen ent nahm sie, dass die verdutzte junge Frau sich tatsächlich an die Ar beit machte, und nickte mit grimmigem Lächeln. Dann versuchte sie, immer noch abgewandt, Pong zu wecken. Erst nach einer gan zen Weile regte sich der kleine Schmuckdrache und blinzelte ver schlafen zu ihr hoch, öffnete den Rachen und klappte ihn wieder zu, als sie ihm bedeutete, still zu sein. Verwundert blickte er sich um. Dann leuchteten seine Rubinaugen auf, als Shanija ihm den Daten kristall zeigte. »Verschlucke ihn«, wisperte Shanija. »Bewahre ihn, bis ich dir was anderes sage.« »Iiihh«, machte Pong und runzelte die Nase. »Das Ding ist halb so groß wie ich und sperrig. Muss das sein?« »Ja. Still jetzt, tu, was ich dir sage, dann geh wieder schlafen.«
»Aye-aye, Boss. Manchmal bist du aber auch so was von – hmpf …« Shanija stopfte ihm den Kristall ins plappernde Maul, schob ihn tief in den Rachen, und Pong blieb nichts anderes übrig als zu schlu cken. Mit Leichenbittermiene sah er sie an, dann ringelte er sich wie der in das Medaillon und erstarrte zu dem Relief-Tattoo. As'mala schwitzte, schimpfte und fluchte; offensichtlich waren ihre Kräfte tatsächlich geschwächt. Das konnte aber auch an dem aufreibenden Abenteuer liegen. Trotzdem konnte sie das Schloss schließlich öffnen und wirkte stolz, als sie mit einladender Geste die Zellentür aufschob. Nach allen Seiten sichernd, schlüpften die beiden Frauen hinaus und huschten den halbdunklen Gang entlang.
8. Shanija Ran wunderte sich, dass sie beide die einzigen Gefangenen waren, aber auch dafür hatte As'mala eine Erklärung: »Wahrschein lich haben sie heute alle Kerker geleert, anlässlich des vorüberzie henden Müllhaufens. Das passiert regelmäßig bei ähnlichen Ereig nissen, denn das ist sozusagen die Vorhut. Bald werden Händlerka rawanen nachkommen. Die Gefangenen werden jetzt alle in der Hal le für Fleischbeschau untergebracht, wo sie für den Markt ein wenig aufgepäppelt werden. Dann verkauft der Baron die Brauchbaren als Sklaven und veranstaltet mit seinem dekadenten Hofstaat fröhlichen Spaß mit den restlichen armen Tröpfen. Was letztendlich natürlich keiner überlebt. Wir beide sind sozusagen die Ersten der neuen Fül lung. Noch vor dem Abend werden weitere aus dem Haufen der Müllsammler dazukommen. In den nächsten Tagen wird dann über legt, was mit uns passiert.« Shanija schüttelte den Kopf. Die WILD RAMS hatten Despoten und Patrone schon aus weit geringeren Gründen ausgeräuchert. Wenn ihre Truppe hier wäre, würde Baron Castrata noch ganz andere Bein amen bekommen … »Schöne Aussichten«, stellte sie fest. »Was ich nicht verstehe: Wie so vertrauen sie darauf, dass du hier unten bleibst? Sie müssen von deinen Fähigkeiten doch wissen.« »So einfach macht man sich hier nicht vom Acker«, versetzte As' mala. »Und sie werden die Mauerwachen verstärkt haben, damit ich nicht wieder durch Zufall entkommen kann, wie das letzte Mal.« »Uns wird schon was einfallen«, meinte Shanija zuversichtlich. »Ich bin bisher überall rausgekommen.«
»Vergiss es. Von Less kommst du nicht weg. Je schneller du dich damit abfindest, umso besser.« Shanija funkelte As'mala an. »Ich habe mich noch nie mit etwas ab gefunden.« »Dann wirst du hier etwas dazulernen«, erwiderte As'mala gleich mütig und ließ sich diesmal nicht im Geringsten beeindrucken.
Immerhin hatten die Wachen die Leiter nicht weggezogen. As'mala wunderte sich nicht darüber. »Die schlecht bezahlten und wie Skla ven behandelten Schergen des Barons tun gerade das Notwendigste«, erläuterte sie. »Nicht einen Handschlag mehr. Nie mand befiehlt, die Leiter wegzutun, also bleibt sie stehen. Solange, bis es doch einmal einem Gefangenen gelingt, hier auszubrechen. Aber anscheinend ist das bisher nicht vorgekommen.« »Kein Wunder.« Shanija wagte sich bis zur Hälfte nach oben und sicherte vorsichtig. »Erstens ist man hier auf dem Präsentierteller, sobald man das Gitter öffnet, und zweitens – wie wollen wir es auf bekommen?« »Da scheitern selbst meine Künste«, meinte As'mala leise. »Ich habe Kraft, aber nicht genug, um das Gitter anzuheben. Das schaffen wir auch nicht zu zweit.« Shanija grübelte. Am Rand sah sie das Affenwesen kauern. Der Einpeitscher war nicht zu sehen. Natürlich bestand Hoffnung, dass er inzwischen irgendwo einen über den Durst trank, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Sie deutete nach oben. »Was ist mit dem Goril la?«, flüsterte sie. »Können wir irgendwie Einfluss auf ihn nehmen? Oder ist er zu dumm dafür?« Die junge Frau stutzte zuerst und musste nachfragen, weil sie das Wort für das Tier nicht kannte. »Ein Versuch wäre es wert«, wisper te sie dann zurück. »Soll ich mit ihm reden?« »Pass aber auf den Einpeitscher auf …«
Die Diebin war bereits an ihr vorbei hinaufgeklettert, wobei sie ständig nach allen Seiten sicherte. Viel schien derzeit nicht los zu sein dort oben, es waren auch keine Geräusche in der Nähe zu hö ren, nur gedämpft vom Markt. Wenn das noch eine Weile so blieb … As'mala hatte kleine Steinchen gesammelt und warf sie auf das Af fenwesen, um es auf sich aufmerksam zu machen. Es dauerte eine ganze Weile, bis es die Kiesel überhaupt bemerkte. Dann kratzte es sich leise grunzend, mit halb geschlossenen Augen. As'malas Lippen formten lautlos einen Fluch und sie setzte die Versuche fort. Endlich fuhr der Gorilla hoch und schnaubte unwillig, mit geblähten Nüs tern. »He, Gickwick«, flüsterte die Diebin, oder so ähnlich. Shanija, die dichtauf war, verstand sie kaum. Die Gefährtin lockte das Tier mit allerlei sanften, seltsam klingenden Schnalz- und Zirplauten. Das Affenwesen richtete seine stumpfen dunklen Augen auf das Gitter. As'mala holte aus ihrer Lederweste etwas, das wie ein ver steinerter Kuchenkrümel aussah, und warf es dem Tier zu. Gickwick griff sofort danach, hielt es an die große, flache Nase und schnüffel te. Er steckte sich den Krümel in den Mund und kaute schmatzend. Dann rückte er näher an das Gitter heran. Die Ketten um Hals und Füße rasselten. As'mala hatte noch Nachschub und lockte den Gorilla immer nä her zu sich heran. »Was trägst du da eigentlich mit dir herum?«, zischte Shanija, denn der Affe fing schon an zu sabbern. »Habe ich immer bei mir«, antwortete As'mala gelassen. »Unent behrliches Rüstzeug für Diebe. Macht Haustiere zu guten Freun den.« »Verstehe.« Gickwick hatte das Gitter erreicht und streckte einen dicken Finger hindurch, leise schnatternd bettelnd. »Gleich ist es soweit«, frohlockte As'mala.
In diesem Augenblick erklang ein sausender Ton, dann knallte und klatschte es, und Gickwick brüllte auf. As'mala und Shanija mussten sich die Ohren zuhalten und wären beinahe die Leiter hinuntergestürzt. Hastig drückten sie sich in den Schatten und verharrten still. »Auf deinen Platz!«, erklang oben eine barsche Stimme, und die Peitsche sauste ein zweites Mal auf den Rücken des gepeinigten Tiers nieder. »Kann man dich nicht mal einen Moment aus den Au gen lassen, du Blödian?« Die beiden Frauen warfen sich halb verzweifelte, halb wütende Blicke zu und kletterten die Leiter hinunter, um eine neue Strategie zu planen. »Es hilft nichts, ich muss Pong wieder wecken«, sagte Shanija »Ich hoffe, er hat sich inzwischen einigermaßen regeneriert. Er muss das in die Hand nehmen.« »Ist denn Verlass auf ihn?«, fragte As'mala kritisch. »Wir haben nicht viele Alternativen, oder? Aber wenn es dich be ruhigt: Ja, auf ihn ist Verlass. Er war mal mein Gefechtscomputer und ist darauf programmiert, mir zu gehorchen.« »Dein was?« »Schon gut. Vertrau mir einfach.« »Sagte der Fuchs zum Hasen.« * Pong schob den Drachenkopf durch eine Lücke im Gitter und sah sich um. Der Einpeitscher streckte sich und drehte sich der Mauer zu. Ansonsten war hier alles still und verlassen. Vom Markt dran gen Lautfetzen von Geschrei und Getöse herüber, die jedoch nicht näher kamen. Der kleine Drache schlängelte sich durchs Gitter, ohne dass es der Einpeitscher bemerkte, der sich gerade an der Mauer er leichterte, und wieselte dann hastig Richtung Markt. Niemand entdeckte Pong, als er wie ein Gecko die senkrechten
Häusermauern entlang sauste, dicht unter den Dächern. Interessiert sah er eine Menschenmenge am Marktplatz versammelt. Die Scher gen des Barons waren soeben im Triumph aus siegreicher Schlacht zurückgekehrt, mit jeder Menge getöteter Pignicks, auf die sich die Metzger und jammernde Bettler stürzten, und dazu kamen zahlreich gefangene Beutesucher. Einige von ihnen wurden in Schandgeigen den Schaulustigen vorgeführt, und sie schrien und spuckten die joh lenden Leute an. Soviel Pong verstehen konnte, riefen sie einen ge wissen »Herrn der Fäulnis« an, den sie wohl als eine Art Gott ver ehrten – was der Drache ziemlich unappetitlich fand – und herbeiru fen wollten, um alle verachtenswerten Menschen Castatas ins Ver derben zu stürzen. Das Volk ergötzte sich daran. Endlich einmal eine Abwechslung der Tristesse, ein öffentliches Vergnügen, das nicht nur dem Baron vorbehalten war. Andere waren heute an der Reihe, gedemütigt und geschlagen zu werden, unterdrückt und verspottet. Kinder warfen faules Obst auf die Gefangenen und sangen Spottlieder. Am Rande der Menge bemerkte Pong einige menschenähnliche Gestalten, deren Köpfe mit Kapuzen bedeckt waren. Sie beobachte ten die Vorgänge aufmerksam, blieben jedoch unbeteiligt. Irgendet was ging von ihnen aus, das in Pong eine Art Beunruhigung auslös te, doch er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Die öffentliche Schau würde wohl noch eine Weile dauern, dem nach war jetzt die günstigste Gelegenheit für einen Ausbruch. Pong rief sich As'malas Wegbeschreibung in Erinnerung und huschte über die Straße. An einer Ecke in der Nähe befand sich ein Kräuterund Medizinladen. Für den dünnen, beweglichen kleinen Drachen war es kein Problem, eine Ritze in der morschen Tür zu finden, durch die er passte. Innen roch es stark nach allerlei Gewürzen und Alkohol. »O Mann, mehr gibt's hier nicht?«, stöhnte Pong, als er die vielen Regalreihen mit Gläsern, Töpfen und Schachteln sah. Immer hin hatte As'mala sich ungefähr an den Standort des Pülverchens er innern können, als sie es zuletzt hier gekauft hatte. Der Drache saus te zu einer Regalwand, die hinter riesigen Körben mit getrockneten
Kräutern halb versteckt war, und suchte dann Brett für Brett ab, bis er endlich an einer Holzschachtel das gewünschte Zeichen fand. Er konnte das Schriftsymbol nicht lesen, aber As'mala hatte es ihm auf gezeichnet. Vorsichtig entnahm Pong ein Papiertütchen, umschlang es mit dem Schwanzende und eilte wieder nach draußen. »Das Mä del ist ein Profi«, murmelte er anerkennend. »Fast so ein gutes Ge dächtnis wie meins.« Ohne Umwege wuselte er Richtung Verlies zurück und schlich sich, indem er seinen Körper die Farbe des Bodens annehmen ließ und sich so flach wie möglich machte, an Gickwick heran, der trau rig mit zwei Steinchen zu seinen großen haarigen Füßen spielte. Sein Wächter hatte sich an einer anderen Mauer hingekauert und war eingeschlafen, neben ihm lag ein leerer Krug. Als Pong zu dem Mann kroch, um sich davon zu überzeugen, dass er nicht nur döste, und am Rand des Kruges schnüffelte, schüttelte es ihn, und ein Farbschauer überlief ihn kurzzeitig. Allein schon vom Restdunst des Gesöffs konnte man betrunken werden. Er näherte sich erneut dem Affenwesen und kletterte behutsam an ihm hoch. Es war so abgestumpft, dass es nicht einmal darauf rea gierte. Pong runzelte angewidert die Schnauze, als er die große, ver krustete, übelriechende Ohrmuschel vor sich sah, in die er gut hin einpasste. Er öffnete das Tütchen und pustete das feine weiße Pulver in Gickwicks große Nasenöffnung. Hoffentlich hatte As'mala sich mit der Wirkung nicht getäuscht. Das Mittel sollte das Affenwesen aufputschen und seinen Geist öffnen, es empfänglich machen für das, was der Drache ihm zu sagen hatte. Vorsichtig ringelte Pong sich um die Ohrmuschel und fing an, wie As'mala es ihm beigebracht hatte, mit leisen Klick- und Schnalzlau ten zu dem Tierwesen zu sprechen. Es besaß so viel rudimentäre In telligenz, dass es nicht instinktiv nach dem Ohr schlug, als die Ein flüsterungen begannen, sondern lediglich leicht die Haltung verla gerte und den Kopf hob. Es atmete tief durch die Nase ein und schnaubte.
Pong beobachtete zwischendurch seine Augen und sah, dass all mählich Leben in sie einkehrte. Verstehen. Und Zorn. * Die beiden Frauen warteten reglos und flach atmend, darum be müht, kein Geräusch zu versäumen, keine Regung Gickwicks. Hof fentlich wirkte die Strategie, und schnell, denn irgendwann würde sicher wieder jemand vorbeikommen. Der Gorilla enttäuschte sie nicht. Plötzlich stand er auf und kam langsam zum Gitter. Für ein so großes, schweres Wesen konnte er erstaunlich leise auftreten. Sein Herr schnarchte selig und gänzlich ahnungslos. Shanija und As'mala warfen sich hoffnungsvolle Blicke zu, als sich die langen, kräftigen Finger durch die Gitter schoben. Grunzend spannte das Tierwesen die gewaltigen Muskeln an, dann riss es das schwere Teil mit einem Ruck aus der Verankerung. Der Lärm weck te den Einpeitscher, doch As'mala war bereits unterwegs. Furchtlos sprang sie über den Rand des Lochs, eilte zu Gickwick und machte sich an seinem Fuß zu schaffen. Der betrunkene Mann kam auf die Beine, blinzelte träge, griff aber nach seiner Hellebarde, die zugleich als Stichwaffe diente. »Was …« As'mala sprang nach oben und griff nach dem Halsring des riesi gen Affen, der ihr dabei verdutzt zusah, denn dies ging ihm alles zu schnell. In seinen Pratzen hielt er immer noch das Gitter. »Na warte«, knurrte der Einpeitscher, der zusehends zur Besin nung kam. Mit gesenkter Hellebarde und wildem Blick stürmte er heran. As'mala ließ sich fallen und hob die Hände. Grinsend zeigte sie Gickwick den offenen Halsring und zog gleichzeitig mit dem Fuß
die Beinkette von ihm weg, die ebenfalls offen war. Der Einpeitscher wollte sich auf As'mala stürzen, doch in diesem Moment begriff das Gorillawesen, dass es frei war, und das Leben kehrte endgültig in seinen Blick zurück. Ein wilder Funke entzünde te sich in den dunklen Augen, der sich schnell zur Raserei steigerte. Gickwick schob sich vor As'mala, öffnete das zähnestarrende Maul und brüllte seinen Peiniger zornentbrannt an. Der Mann stoppte im Lauf, als wäre er gegen eine Mauer gerannt, ließ die Hellebarde fal len, sank auf die Knie und hielt sich schreiend die Ohren zu. Noch während Gickwick brüllte, packte er mit beiden Schaufelhänden zu, hob seinen Peiniger hoch und schleuderte ihn mit voller Kraft durch die Luft an die gegenüberliegende Mauer. Ein hässliches, knacken des Geräusch ertönte, die Schreie des Mannes verstummten abrupt, und er fiel leblos zu Boden, nicht viel mehr als ein formloser Klum pen Fleisch voll zertrümmerter Knochen. Shanija sprang neben As'mala nach oben, und die beiden Frauen ergriffen augenblicklich die Flucht, gefolgt von Pong. Gickwicks Ge brüll hatte die Burgwachen alarmiert, und sie kamen mit gezückten Waffen angerannt und schrien drohend den Gorilla an. Doch nun war er frei, keine wehrlose Kreatur mehr. Er packte das Gitter und warf es auf die vordersten Wachen, die darunter begraben wurden. Dann stürzte er sich auf die anderen, um Rache zu nehmen.
9. Pong hatte es sich bereits an seinem Ruheplatz bequem gemacht; er war so müde, dass er nicht einmal ausführlich von seinem Abenteu er berichten wollte, sondern nur kurze Stichpunkte zum Besten gab. »Deine Kräfte funktionieren wieder«, sagte Shanija unterwegs zu As'mala, während sie Richtung Markt liefen, um sich dort nach ei nem Lauftier für die Flucht umzusehen. »So schnell, wie du die Ket ten gelöst hast …« »Das dürfte gar nicht sein«, erwiderte die Diebin. »Ich habe nur eine Erklärung dafür: Hier gibt es gerade sehr starke psimagische Strömungen, die meine Schwäche ausgleichen.« »Ist das gut oder schlecht?« »Für den Moment war es gut. Aber ich befürchte, dabei wird es nicht bleiben. Wir sollten zusehen, dass wir von hier so schnell wie möglich verschwinden. Vor allem, wenn diese Strömungen auch auf Gickwick wirken. Möglicherweise macht er dann alles platt …« Shanija warf einen Blick zum Himmel. Die Monde hatten ihre Bahn fast vollendet, Flavor war auf dem Weg Richtung Westen, und Fathom flammte als rotes Fanal fast im Zenit. Leuchtende Wolken rasten am Himmel entlang, stellenweise rötlich flackernd. In der Ferne strahlten die Doppelsonnen wie Juwele. Die Schiffbrüchige schmeckte Metall in der Luft, und ihre feinen Armhärchen stellten sich wie elektrisiert auf. »Ich spüre es auch«, flüsterte sie mehr zu sich selbst. Das beunruhigte sie. Sie spürte etwas in sich, das sich reg te und danach drängte, freigelassen zu werden. Hoffentlich wurde sie nicht davon überwältigt, nicht gerade hier und jetzt. As'mala sah sich überall nach angebundenen Reittieren um; sie achtete dabei auf Deckung, aber die Aufmerksamkeit der Menge
war nur auf die Gefangenen gerichtet, die sich zum Teil schreiend im Staub wälzten, die Augen bis zum Weiß verdreht, und Schaum spuckten. Die Schergen des Barons taten nichts, um sie aufzuhalten, sondern schlugen mit Stangen und Stöcken auf sie ein, um sie noch mehr zu reizen und verrückt zu machen. »Er wird kommen!«, schrie ein Geknechteter in der Schandgeige; ein humanoides Wesen, dessen haarloser Kopf jedoch von einer di cken warzigen Haut bedeckt war, deren Auswüchse abwechselnd aufplatzten und ein weißliches Sekret absonderten. »Er ist schon fast da!« Zwei andere wiegten sich in Trance, sangen monoton: »O Herr der Fäulnis, erlöse uns, steige herauf aus den Untiefen deines Seins und stehe deinen treuen Dienern bei!«, und stampften dazu mit den Füßen im Takt. »Verdammt«, zischte As'mala. »Das sieht schlecht aus, sehr, sehr schlecht.« Sie sah Shanija eindringlich an. »Scheiß auf Reittiere, wir sehen zu, dass wir die Mauer zwischen uns und diese Wahnsinni gen da bringen!« »Was hast du für Sorgen?«, fragte Shanija verwundert. »Die rufen doch nur irgendeinen bescheuerten Götzen an, das ist auf der Erde auch nicht anders. Das haut aber nie hin. Wenn es jemals einen Gott gegeben hat, interessiert er sich schon sehr lange nicht mehr für weltliches Treiben.« »Du vergisst, wo du bist«, sagte As'mala grimmig und deutete auf eine Leiter, die an einen mehrere Meter hohen Strohhaufen gelehnt war. »Die schnappen wir uns, damit kommen wir auf die erste Zin ne. Der Rest ist leicht.« »Was hat das mit Less zu tun?« Shanija ließ nicht locker. »Hier mag vieles ungewöhnlich sein, aber ein ›Herr der Fäulnis‹? Das ist doch Humbug, oder?« Aber As'mala schüttelte den Kopf, und ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel offen, dass sie nicht flunkerte. Sie war panisch, und das beunruhigte Shanija noch mehr, denn dass die Diebin sich nicht
von Furcht beherrschen ließ, hatte sie ausreichend bewiesen. »Du meinst, die … rufen ihn wirklich …« »Das ist die starke psimagische Strömung, ja. Sie bündeln ihre Kräfte und erschaffen ihn durch ihren wahnsinnigen Glauben.« Sie hatten die Leiter erreicht und schleppten sie gemeinsam zur Mauer. Die Vorstellung auf dem Marktplatz erreichte inzwischen den Hö hepunkt. Die Menge klatschte begeistert, als sich die Gefangenen immer mehr in Hysterie steigerten, und schien As'malas Furcht nicht zu teilen. Doch dann wichen die Vordersten schlagartig auseinander, als sich die Luft vor den Gefangenen plötzlich verdichtete und einen Wirbel bildete. Zuerst nur eine schmale Säule, verbreiterte sich der Wirbel rasch zu einer Windhose, rasend schnell rotierend, durch setzt mit gelbem Sand. Die Wächter merkten endlich, dass sie zu weit gegangen waren, und versuchten die Betenden zu trennen, zerrten sie abseits, schlu gen sie bewusstlos, doch es war zu spät. Ein Mensch in einer Schandgeige hob den Kopf gen Himmel, der sich unmittelbar über dem Marktplatz mit rasch zuziehenden Wolken verdüsterte, die ebenfalls zu rotieren begannen. Tränen zeichneten nasse Bahnen über die staubigen Wangen des Mannes, und er jubelte: »Es ist voll bracht! Er kommt! Wehe, wehe euch allen, ihr Dummköpfe, ihr schaulustigen Narren, nun werdet ihr für all eure Sünden bestraft!« Ein brausender Wind fegte über den Platz, am Himmel blitzte und donnerte es. Die Menschenmenge fiel auseinander und ergriff die Flucht, behinderte die Wachen, stürmte mitten durch die Schar der Gefangenen. Panik brach aus, denn inzwischen konnten es alle spü ren – eine gewaltige Konzentration der Psimagie, ausgehend von dem immer schwärzer werdenden Wirbel, der zugleich alles einsog, was ihm zu nahe kam. Shanija starrte wie gebannt auf die Staubsäule, die sich schon fast bis in den Himmel erhob, um sich mit den Wolken zu vereinigen.
Sie verspürte einen unerklärlichen Zwang, auf das unnatürliche Phänomen zuzugehen. Sie konnte As'mala nicht mehr hören, die er schrocken etwas rief und dann versuchte, sie festzuhalten. Unbe wusst griff ihre Hand wie eine eiserne Klammer zu und schüttelte die Gefährtin von sich ab. Shanijas Augen flackerten, das Grün darin verblasste. In abwesender Trance ging sie an den Fliehenden vorbei auf den Wirbel zu, um den herum die Anbeter tanzten und jubilier ten. Die Schergen hatten die Kontrolle völlig verloren und versuch ten, wenigstens einen Teil der Gefangenen aus der Gefahrenzone zu bringen. Shanija streifte im Vorübergehen die Kutte eines Zuschauers, merkte es jedoch nicht. Sie bekam auch nicht mit, dass der Verhüllte zusammenzuckte, die Hand in den Arm des ebenfalls vermummten Begleiters krallte und zischte: »Als hätte mich ein Blitz gestreift! Ich konnte ungeheure Energie spüren, und Hitze! Sieh doch nur, diese Frau!« Niemand hinderte Shanija, als sie immer weiter auf den Wirbel zu schritt, alle waren zu sehr mit sich beschäftigt. As'mala konnte sie nicht mehr erreichen, die entgegenkommende fliehende Masse ver sperrte ihr den Weg. Um Shanija hatte sich bereits alles gelichtet. Plötzlich ertönte ein donnernder Schlag, wie von einer Explosion, und eine Druckwelle warf Shanija bis zu einer Hausmauer zurück. Sie stieß ein Ächzen aus und blieb benommen liegen. Nur noch halbwegs bei Bewusstsein sah sie, wie der Wirbel Formen und Kon turen annahm, sich immer mehr verdichtete, und schließlich schälte sich eine über fünf Meter hohe braune, ständig verschwimmende und neue Konturen annehmende Gestalt heraus, wie ein riesiger Haufen – Scheiße, vermengt mit Lehm und faulenden organischen Resten, und auch genauso stinkend. Wer zu nahe am Geschehen war, übergab sich augenblicklich unkontrolliert. Kein Wunder, dass dieses Wesen, erschaffen aus den psimagischen Gebeten seiner An hänger, »Herr der Fäulnis« genannt wurde. Das war er in der Tat. An seinem unförmig auseinanderquellenden Leib öffneten sich mehrere Löcher, und er stieß mit nach Tod und Verwesung riechen
der, heißer Luft ein orkanartiges Gebrüll aus, das Shanijas Ohren zum Klingeln brachte und sie für ein paar Augenblicke taub machte. Ohne weitere Vorbereitung begann der Herr der Fäulnis sein Zerstö rungswerk, wobei es ihm egal war, ob er dabei auch einen seiner Anhänger zertrat. Er schleuderte Fuhrwägen durch die Luft, brachte mit wenigen Schlägen die Mauer neben dem Tor zum Einsturz, walzte Hütten und Häuser platt. As'mala hatte sich endlich zu Shanija durchgekämpft und rüttelte sie am Arm. »Komm zu dir!«, schrie sie sie an. Shanija blinzelte, schaute zu ihr auf, sah, wie sich As'malas Lippen bewegten, und hörte wie aus weiter Ferne den Schall ihrer Worte, ohne ihn zu begreifen. Endlich fand sie zu sich und ließ sich von der Gefährtin aufhelfen. As'mala deutete hinter sich. Shanija sah oben am Eingang der Trutzburg einen fetten, nur mit dünnen Kleidern bedeckten Mann, der wild mit der Hand fuchtelte und vermutlich Befehle brüllte, dem weit geöffneten Mund nach zu urteilen. Von überall her strömten seine Schergen. Zum Teil konnten sie sich nur humpelnd fortbewegen. Das waren vermutlich diejenigen, die sich Gickwick entgegengestellt hatten. Unwillkürlich blickte Shanija zum Torweg, auch dort ein einziges Feld der Verwüstung. Da der Gorilla nirgends zu sehen war, setzte er sein Zerstörungswerk wohl in den Stallungen und Vorratsgewölben fort. Und hier am Marktplatz wütete das schlammige Monster, sich ebenfalls Richtung Burg vorarbeitend. Die Luft war mit entsetzli chem Gestank erfüllt, wobei die olfaktorischen Sinne durch die per manente Überreizung inzwischen schon abgestumpft waren. »Wir müssen weg, Shanija!«, rief As'mala. »Einen Fluchtweg ha ben wir auch!« Sie wies auf das Loch in der eingestürzten Wehr mauer. »Und wenn wir Glück haben, finden wir unterwegs ein oder zwei geflüchtete Reittiere!« Shanija folgte ihr langsam, zögerlich. Sie spürte noch immer die starke Anziehungskraft und war nicht sicher, ob sie genug Willen aufbrachte, den Ort zu verlassen. Sie hätte das As'mala gern gesagt,
aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Und auf einmal hatte sie das Gefühl, als würde sich das Zeittempo ändern. Mit einem einzigen Schritt tauchte sie in die Welt der Zeitlu pe ein, alles um sie herum verlangsamte sich. Die Luft wurde dick und träge, die Sicht verschwommen – mit Ausnahme des Herrn der Fäulnis, der plötzlich in ganz anderem Licht erschien. Sein riesiger Körper schien übersät zu sein mit grünen und gelben Kristallen, die ein helles Streulicht verbreiteten. Er bewegte sich weiterhin schnell und zerstörerisch. Und dann waren da noch … Kuttenträger. Fünf oder sechs, selt sam scharf in den Konturen, wie herausgestanzt. Sie trugen alle die selben dunklen, bodenlangen Umhänge mit Kapuze, und waren wohl humanoid, weil sie aufrecht gingen und zwei Arme hatten, aber mehr war nicht zu erkennen. Trotzdem fielen sie Shanija auf, denn eine seltsame Ausstrahlung strömte von ihnen aus, wie eine silbrige Aura. Und sie beobachteten eindeutig sie, nicht das Unge heuer, das konnte sie spüren. Wer ist das?, wollte sie As'mala fragen, doch die Gefährtin war nur noch ein verwaschener Fleck, seltsam in die Breite gezogen. Der Boden bebte, als der Herr der Fäulnis näher kam. Er hatte schrecklich gewütet, mindestens ein Viertel von Castata war bereits zerstört, und er würde nicht aufhören. Für einen Augenblick war Shanija hin und her gerissen, was sie tun sollte. Einerseits hatte der Baron ein solch unrühmliches Ende verdient, und Orte wie dieser sollten ohnehin von der Landkarte getilgt werden. Aber hier gab es auch Kinder, Arme und Unschuldige. Auch wenn sich ihr Schicksal dadurch nicht verbessern würde, ein solches Ende wäre zu grausam gewesen. Ich muss etwas tun, dachte Shanija. Und ich weiß auch, dass ich es kann. Sie spürte, wie das Fremde in ihr sich aufbäumte und immer stärker auf Freilassung drängte. Nach wie vor wehrte sie sich dage gen, weil sie wusste, dass sie dann die Kontrolle über sich verlieren würde, und das ließ sie normalerweise niemals zu. Sie hatte vor al
lem keine Ahnung, was geschehen würde, wenn sie das tollwütige Etwas in sich herausließ. Es wäre besser gewesen zu fliehen, aber das schaffte sie nicht mehr. Shanija stand unter einem Bann, konnte nichts dagegen ma chen. Entscheide dich!, fauchte eine Stimme in ihrem Inneren. Leben oder Tod, du hast genau noch zwei Atemzüge! Der Herr der Fäulnis verdeckte inzwischen die Sicht mit seiner ge waltigen Masse, die seit Beginn der Zerstörung zugenommen hatte. Ein weiteres Monster aus Abfall, erschaffen von Tagedieben, die kei nerlei gesellschaftlichen Rechte mehr hatten. Shanija stieß den Atem aus und öffnete die Arme. Dann ließ sie das Toben in ihrem Inneren frei. * Ein kurzer, scharfer Ruck durchfuhr sie, und ihre Augen färbten sich orange. Dann schoss ein Lichtstrahl aus ihr, genau durch Pongs Relief-Tattoo hindurch. Die Luft fing an zu knistern, feine Blitze zuckten durch den Staub, wurden rasch dichter, stärker und nah men an Intensität zu. Shanija bekam dies wie aus weiter Ferne mit, als unbeteiligte Zu schauerin, und sah mit Staunen, wie sich vor dem Monster zischend und knallend ein energetischer, grell strahlender Drache aufbaute, eine -zigfach vergrößerte Kopie Pongs. Der Herr der Fäulnis ver harrte, möglicherweise überrascht, als ihm unerwartet gewaltige Psimagie entgegenschlug. Dann öffnete der nunmehr ebenfalls fünf Meter hohe Drache den Rachen und stieß einen gewaltigen Flam menstoß aus. Die Kraft floss aus ihr heraus, unaufhaltsam. Shanija hatte das Ge fühl, in tausend Stücke zerrissen zu werden, doch zufrieden sah sie, wie der Feuerstoß das Faulmonster verbrannte, zerschmolz und in
eine Schlammpfütze zerlaufen ließ. Und dann war alles vorbei. Der ganze Vorgang hatte nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert, aber Shanija war es wie eine Ewig keit vorgekommen. Der Drache erlosch, in die Zeit kam wieder Be wegung, Shanijas Augen nahmen ihre normale Farbe an, und es zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Von Krämpfen geschüttelt und völlig entkräftet wand sie sich auf dem Boden und bemerkte es kaum, als As'mala bei ihr eintraf und versuchte, sie aufzurichten. Die Diebin war leichenblass und sah Shanija fast furchtsam an. »Was hast du da getan …«, flüsterte sie fassungslos. Um sie herum herrschte noch immer völliges Chaos, doch schon bald würden die Ersten nach der Ursache für den plötzlichen Wandel suchen. As'ma la packte Shanija unter den Achseln und zog sie mit sich, in den Schutz eines dunklen Hauseingangs. Shanija war schweißüberströmt, und ihre Zähne klapperten immer noch. An Flucht war jetzt nicht zu denken. »Ich … ich glaube, ich st erbe …«, stieß sie abgehackt hervor. »K-k-keine Kraft mehr …« »Du wirst nicht sterben«, widersprach As'mala fest. »Nicht weit von hier ist das Haus eines Kurpfuschers, dort bringe ich dich jetzt hin. Ein kräftiger Schluck Starkmacher, und du bist gleich wieder auf den Beinen.« Shanija schaffte es, einen Arm um As'malas Schulter zu legen, und sie stolperten und taumelten wie Betrunkene durch die Gassen, da durch fielen sie in dem Durcheinander erst recht nicht auf. »Da wa ren Leute …«, wisperte Shanija unterwegs. »Mit Kutten und Kapu zen … ganz seltsame, mit starker Psimagie …« »Gewiss nicht so stark wie deine«, brummte die Diebin, die sich im Augenblick nicht dafür interessierte. Sie schleppte die Gefährtin in eine Seitengasse und machte sich schließlich an dem Schloss einer Eingangstür zu schaffen. »Verflucht, es geht wieder nicht«, schimpf te sie. Anscheinend gab es keine psimagischen Strömungen mehr. Shani ja konnte es nicht feststellen, sie fühlte sich völlig taub und leer.
Trotzdem konnte das Schloss nicht lange standhalten, als As'mala Geschick und Erfahrung einsetzte, und bald darauf tappten sie durch einen schmalen, dunklen Gang, in dem es muffig roch. »Er ist nicht da«, murmelte die Diebin. »Gut, das erspart Fragen. Außer dem habe ich kein Geld bei mir, nicht einmal eine Sichel.« Sie stieß die Tür zu einer Art Laboratorium auf und lud Shanija ächzend in einem verschlissenen, wenig einladenden Sessel ab. Dankbar rieb sie sich die Schulter und atmete durch. Der Raum war vollgestopft mit Testreihen, Zetteln und Büchern. Alles starrte vor Dreck, bis auf einen hohen, schweren Holzschrank mit zwei Glastüren, in dem fein säuberlich aufgereiht beschriftete Flaschen unterschiedlicher Größe und Formen standen, mindestens einhundert. »Was habe ich getan?«, fragte Shanija leise, während As'mala das Schloss zu dem Schrank knackte und nach dem richtigen Mittel suchte. Sie kauerte zusammengesunken im Sessel, zu schwach, um sich zu rühren. »Was ist mit mir passiert?« As'mala warf ihr einen undeutbaren Blick zu. »Ich weiß es nicht. Es gibt Legenden über eine solche Kraft, wie du sie gezeigt hast. Sie soll die stärkste von allen sein. Ich habe allerdings nie etwas drauf gegeben, weil es zu sehr wie ein Märchen klang.« »Du meinst, weil es energetisch war?« »Vermutlich. Vergiss das jetzt, wir sind noch immer in höchster Gefahr.« As'malas Gesicht hellte sich auf, als sie endlich das Gesuch te fand. Sie entkorkte das Fläschchen, schnupperte und nickte, bevor sie es zu Shanija brachte. Die machte ein misstrauisches Gesicht, aber die Gefährtin ließ kei ne Diskussion zu. Sie setzte das Fläschchen an Shanijas Lippen und zwang sie, den Inhalt zu schlucken. Einen Moment lang glaubte Shanija, es würde ihr die Eingeweide nach außen stülpen, und sie nahm sich zusammen, um nicht zu hus ten und sich gleichzeitig zu übergeben. Bald darauf aber fühlte sie sich tatsächlich besser, sie konnte sogar das Blut wieder in Armen
und Beinen zirkulieren spüren. As'mala hatte Recht gehabt, sie wür de nicht sterben. »Du könntest doch einfach abhauen«, sagte sie, als As'mala durch den Raum streifte und sich allerlei Zeug in die Taschen stopfte. »Klar, in der Stunde der Not lässt man einander immer im Stich«, brummte die Diebin. »Gesetz der ehrenwerten Bürger, oder?« »Wir kennen uns doch kaum.« »Dafür haben wir aber eine Menge gemeinsam erlebt und durch gemacht. Jetzt hör auf mit dem blöden Gequatsche und sieh zu, dass du auf die Beine kommst! Ich will weg hier, so weit fort wie möglich von dem Scheiß-Kastraten. Seine Rache für all das hier wird fürch terlich sein. Wenn die Leute schlau sind, hauen sie alle ab, und wir vorneweg.« Shanija bewegte vorsichtig die Arme und setzte sich auf. Dann blinzelte sie staunend, als sie plötzlich sah, dass noch jemand im Raum war. Ein niedliches, plüschiges, weißes Ding tauchte hinter ei nem Bücherstapel auf, mit einer rosa Knopfnase, langbewimperten dunklen Augen und Löffelohren. Es witterte aufgeregt in Shanijas Richtung, zeigte in einem fast menschlichen Grinsen Nagezähne und keckerte leise. Schwanzwedelnd kam es näher, und spontan streckte Shanija die Hand nach dem putzigen Tier aus. »Was bist du denn …« As'mala ließ alles fallen und war mit einem Satz bei ihr. »Shanija, nicht!«, rief sie und versuchte, Shanijas Hand beiseite zu schlagen. »Das ist ein Stoß-« As'malas Hand berührte Shanijas in dem Moment, als diese die schlanken Finger in das Nackenfell des Plüschtiers tauchte.
10. »Sie ist fort«, stellte ein Kapuzenwesen fest. »Wir haben ihre Spur verloren.« Sie steckten die Köpfe zusammen, oder was sich sonst unter den Kapuzen befinden mochte. Eine heisere Stimme sagte: »Ich hege kei nen Zweifel. Nach so vielen Jahren der Suche bin ich endlich am Ziel. Und das ausgerechnet hier, an diesem verrufenen Ort der Sün de! Andererseits: Welche Beweise braucht es denn noch? Sie ist es. Sie hat sich uns offenbart.« »Die Trägerin der Sonnenkraft«, flüsterte eine andere Stimme er griffen. »Ich danke Gott, dass ich dies persönlich erleben durfte!« »Gelobt sei der Herr, dass er uns erwählt hat«, wisperte eine vier te, sehr junge Stimme und setzte hastig hinzu: »Amen.« »Wie werden wir sie wieder finden?«, fragte die erste Stimme rat los. »Nun, da wir wissen, wer sie ist, ist dies eine leichte Aufgabe«, antwortete der Heisere. »Wir werden alle Wiedergänger informieren und auffordern, die Augen offen zu halten. Einer von uns muss um gehend zum Erhabenen Propheten und ihm ausführlich berichten. Er wird alles weitere veranlassen.« Sie fuhren zusammen, als sie ein seltsames Geräusch hörten und dann einen Schatten davonhuschen sahen. Erschrocken rückten sie dichter zusammen. »Einer der anderen!«, stieß der Heisere hervor. »Er hat den Schat tenweg gewählt, deswegen haben wir ihn nicht bemerkt. Wie viel mag er mitbekommen haben?« »Wird er die Erwählte in Gefahr bringen?« »Nicht, wenn er zu den Erlösern gehört. Zumindest vorerst nicht.
Aber er darf sie nicht vor uns in die Hände bekommen! Nun müssen wir schnell handeln.« »Falls er ein Warner ist, jedoch …«, sagte die vierte Stimme düster. Da sprach zum ersten Mal die fünfte Stimme, die bisher geschwie gen hatte. Sie klang sehr ruhig und selbstbewusst. »Ich kümmere mich darum. Einer von euch muss wie gesagt sofort zum Erhabenen Propheten …« »Das übernehme ich«, sprach Nummer Drei. »Niemand ist schnel ler als ich.« »… und ihr anderen«, fuhr Nummer Fünf fort, »sucht nach der Fährte der Frau. Wer auch immer uns belauscht hat, er wird nicht weit kommen, verlasst euch auf mich. Versucht nicht, Verbindung zu mir aufzunehmen. Ich melde mich bei euch.« Leise gingen sie auseinander und waren bald verschwunden, wie ein Schatten in der Mittagssonne. * »-teleporter«, vollendete As'mala den Satz. Es war nicht leicht, Shanija Ran außer Fassung zu bringen, aber diesmal war es soweit. Mit aufgerissenen Augen starrte sie die Ge fährtin an, während ihr Magen wütend revoltierte. Doch sie gab ihm nicht nach, dafür hatte sie jetzt keine Zeit. »Teleportation«, hauchte sie. Sie hatte einen sehr, sehr langen, an strengenden Tag hinter sich. Doch das hier war der Gipfel. »Ja, das ist ihr Trick: Niedlich aussehen, um zum Streicheln zu provozieren, aber bei Berührung zappen sie dich weg. Es gibt keine besseren Watchis.« Shanija merkte, wie die Sonne auf ihrer Haut am ungeschützten Rücken brannte. Ihre Augen weiteten sich erneut, als sie endlich be griff.
As'mala, die offensichtlich den Schock schon hinter sich hatte, grinste spöttisch. »Na?«, sagte sie belustigt. »Fällt es dir jetzt auch auf? Siehst du, dass uns beiden ganz deutlich etwas fehlt?« »Oh …«, machte Shanija und konnte den leicht verzweifelten Un terton in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
Zweiter Teil
Ernst Vlcek
Terra incognita
1. Ringsum schroffe Felsen. Ein Gebirge, das sich bis zu dreitausend Metern und mehr auftürmte und sich in seiner Mitte zu einem ge waltigen Talkessel weitete. Der Kessel war mit Wasser gefüllt und bildete einen großen See, mit einer Ausdehnung, dass das gegen überliegende Ufer kaum zu sehen war. Mit schmalen Stränden, die steinig und unwegsam waren. Aus der Mitte des Sees ragte der Mo nolith von gut und gern tausend Metern Höhe. In dieser ungastlichen Landschaft waren die beiden nackten Frau en unvermittelt aufgetaucht. Er konnte nicht glauben, was er sah. Das konnte doch nur eine Halluzination sein! So etwas war unmöglich. Er zwinkerte, um das Trugbild zu verscheuchen. Schüttelte den Kopf, um seine Sinne zu klären. Doch es half alles nichts. Die beiden nackten Frauen ver flüchtigten sich nicht wie ein Trugbild. Auf einmal waren sie da gewesen. Von einem Moment zum ande ren. Nur einen Steinwurf von ihm entfernt. Er war sofort hinter den Planken eines Wracks in Deckung gegangen, um nicht vorzeitig ent deckt zu werden. Es musste gut überlegt sein, was weiter zu tun war. Er wollte die Frauen schließlich keinesfalls verschrecken oder davonjagen, sondern – im Gegenteil – sie am liebsten einfangen und zu seinen Sklavinnen machen. Die Voraussetzungen dafür waren günstig. Denn nackt waren sie praktisch hilflos. Er durfte trotzdem nicht kopflos auf sie einstür men, immerhin waren sie zu zweit. Und die eine von ihnen, die et was kleiner als die andere war und jünger schien, wirkte kampfer probt. Sie hatte etwas Katzenhaftes an sich und bewegte sich ge schmeidig. Ihre langen, blonden Haare waren zu Zöpfen geflochten, und sie war wohlproportioniert. Sie hatte große, feste Brüste und
einen knackigen Arsch … er leckte sich die Lippen und grinste in nerlich über seine unverblümt derben Gedanken, die er sich hier sorglos leisten durfte. Die andere, größere und etwas reifer wirkende, war gertenschlank, hatte aber ebenfalls Rundungen am rechten Fleck. Über den herrli chen Brüsten hatte sie eine Art handtellergroße Tätowierung – oder ein Amulett? – in Form eines Drachen. Ihre leicht schräggestellten grünen Augen blickten sich wachsam um, dabei wirbelten ihre lan gen, braunen Locken im Wind und schimmerten im Gegenlicht leicht rötlich. Borschkoj war sicher, noch nie schönere und begehrenswertere Frauen gesehen zu haben – außer vielleicht Prinzessin Seiya. Aber die zählte nicht, war schließlich außer seiner Reichweite. Diese Kü ken dagegen waren ihm praktisch ausgeliefert. So völlig ohne ir gendwelche Hilfsmittel, er dagegen bestens bewaffnet. Die beiden Frauen unterhielten sich unbekümmert miteinander, ungeachtet ihrer Nacktheit. Er hatte bisher jedoch noch kein Wort verstanden, weil der Wind ihre Worte nicht bis zu ihm trug. Neugie rig schlich sich Borschkoj im Schutz des Wracks näher. »… haben wir also diesem … Plüschvieh zu verdanken, dass wir im Nirgendwo gelandet sind?«, hörte Borschkoj die eine mit eigen artigem Akzent sagen; es musste sich um die ältere handeln. »Tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig auf dich gehört habe, As'mala.« »Sowas kommt vor«, sagte die andere, As'mala genannte Frau. »Ärgerlich nur, dass bei dem Transport alles, was wir am Leibe hat ten, verschwunden ist. Nackt und unbewaffnet in der Fremde, das gefällt mir gar nicht.« »Wir haben Pong«, sagte die dunkelhaarige Frau. »Ja, und Pong hat etwas Wertvolles bei sich, das du ihm anver traut hast, nicht wahr?« Die Dunkelhaarige verzog die Miene, anscheinend fühlte sie sich unbehaglich. »Du hast das bemerkt?«
Die Blonde, As'mala, grinste. »Eine gute Beobachtungsgabe ist un abdingbarer Teil meines Berufs. Es war ein Kristall, soweit ich gese hen habe. Was hat es damit auf sich?« Die Ältere wich der Frage aus und fragte in ihrem seltsamen Ak zent: »Und du bist dir sicher, dass du diese Landschaft nicht kennst?« »Hältst du mich für blöd, Shanija?«, brauste As'mala auf. »Ich wer de wohl noch wissen, ob ich schon mal in diesem auffälligen Talkes sel mit See und Monolith in der Mitte war!« Borschkoj hatte genug gehört und überlegte, wie er vorgehen soll te. Er musste rasch handeln, das war klar. Also setzte er mit der Rechten die entsicherte Armbrust an und schwang mit der Linken die Skorre. Dabei handelte es sich um ein vierarmiges Wurfseil mit Gewichten an den Enden. Ein geschickter Werfer konnte damit seine Opfer über große Distanzen treffen und dingfest machen. Und Borschkoj war ein sehr geschickter Werfer. Die Große mit Namen Shanija sagte gerade mit ihrer merkwürdi gen Aussprache: »Der Talkessel scheint keinen Ausgang zu haben.« Da sprang Borschkoj hinter seiner Deckung hervor, die Armbrust auf As'mala gerichtet, die ihm als die Gefährlichere erschien. Bei seinem unerwarteten Anblick stießen die Frauen überraschte Laute aus und bedeckten instinktiv ihre Blößen. Borschkoj musste unwillkürlich grinsen; in ihrer Scham waren doch alle Frauen gleich. »Keine falsche Bewegung, sonst …«, herrschte er As'mala an und wog bedeutungsvoll die Armbrust in der Hand. An Shanija ge wandt, sagte er: »Es stimmt, dass kein Weg aus diesem Tal führt. Und ihr zwei Süßen gehört mir. Ihr seid dafür bestimmt, meine Sklavinnen und Gespielinnen zu sein.« »Wenigstens sind wir hier nicht allein«, bemerkte Shanija, völlig unbeeindruckt von Borschkojs Drohung. Sie hatte sich von ihrer Schrecksekunde schnell wieder erholt. »Und was bist du für ein ko mischer Kauz?« Solche Worte von einer nackten und hilflosen Frau konnte sich
Borschkoj nicht gefallen lassen. Die Skorre an einem der Gewichte haltend, schwang er sie über sich. »Streck die Arme über dem Kopf aus, Shanija!«, befahl er der Größeren und ließ As'mala dabei nicht aus den Augen. Als Shanija zögerte, wiederholte er mit Nachdruck: »Los, die Arme in die Höhe!« Zögernd hob sie die Hände. Borschkoj wollte gerade die Skorre schleudern, als etwas passierte, das ihn völlig aus dem Konzept brachte. »Das haben wir nicht vereinbart!«, erklang eine männlich ange hauchte Stimme aus Shanijas Richtung – obwohl da niemand war. Plötzlich aber löste sich die Drachentätowierung von Shanijas Brust und schoss auf ihn zu. Borschkoj schleuderte die Skorre, ohne zu zielen, so dass sie Shanija verfehlte und, anstatt sich um ihre Hand gelenke zu schlingen, gegen die Felswand hinter ihr prallte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie As'mala sich auf ihn zu beweg te. Er richtete die Armbrust auf sie. In dem Moment, als er abdrück te, landete der Drache in seinem Gesicht. Auf diese schmerzhafte Weise erfuhr Borschkoj, dass der erste Augenschein manchmal trog und mit dieser Tätowierung, oder was immer es sein mochte, nicht zu spaßen war. Und als ihm As'mala mit den Beinen voran gegen die Brust sprang, wurde ihm darüber hinaus klar, dass der Bolzen der Armbrust ins Leere gegangen war. Aber es kam noch schlimmer. As'mala schlug ihn zu Boden und entwand ihm die Armbrust. Dann kam Shanija ihr zu Hilfe, und ge meinsam drehten sie ihn auf den Bauch und die Arme auf den Rücken. Er spürte die Spitze seines eigenen Messers am Hals, und As'mala fragte: »Wie heißt du, Freundchen?« Borschkoj nannte seinen Namen. »Wir werden uns jetzt deine Kleider leihen, Borschkoj«, sagte As' mala. »Dann sehen wir weiter, was wir mit dir anstellen.« »Ich werde ja wohl nicht mehr gebraucht«, bemerkte der Drache, vermutlich der vorhin von Shanija erwähnte Pong, und verzog sich
wieder an seinen Platz. Borschkoj verfluchte sich, weil er nicht bes ser zugehört hatte. Im Handumdrehen war Borschkoj seiner Kleider entledigt, und die beiden Frauen hatten sie unter sich aufgeteilt. Shanija hatte ihn zudem noch mit seiner Skorre gefesselt. »Hab ich's mir doch gleich gedacht«, sagte As'mala mit breitem Grinsen und deutete mit der Dolchspitze zwischen seine unbedeck ten Beine. »Große Klappe, kleiner Muck!« »He, he …«, wollte Borschkoj aufbegehren. Aber Shanija fiel ihm ins Wort: »Verkenn nicht den Ernst der Lage, Borschkoj. Denn wenn du nicht spurst, könnte dein kleiner Muck ganz und für immer verschwinden.« Borschkoj schluckte. Ihm war der Ernst der Lage durchaus be wusst. Mit den beiden Weibern war nicht zu spaßen. * Shanija hatte Borschkojs grauen Umhang an sich genommen und ihn wie ein Wickelkleid um den Körper geschlungen. Er musste zu geben, dass sie aus dem hässlichen Teil ein überaus ansehnliches Kleidungsstück gemacht hatte; der raue, derbe Stoff wirkte an ihrem herrlichen Körper geradezu geschmeidig. Sie hatte sich mit der Armbrust bewaffnet. As'mala dagegen war in seine Kniehose geschlüpft und hatte das lederne Wams übergestreift; es sah überaus verführerisch aus, dass sie es nur bis auf halbe Höhe verschnürt hatte, so dass die Ansätze ihrer Brüste gut zur Geltung kamen. Das Unterhemd dagegen hatte sie naserümpfend von sich geschleudert. »Bah, was stinkst du, Borschkoj!«, rief sie dabei angewidert. »Ich kenne kein Tier, das eine so beizende Ausdünstung hat wie du.« Borschkoj schnupperte unter seiner linken Achsel. »Männlichherb«, konstatierte er mit Galgenhumor. Er dachte nicht daran, sich
von den zwei Hexen über Gebühr demütigen zu lassen. »Wenn dir mein Hemd nicht genehm ist, dann überlass es mir. Ich könnte es als Lendenschurz verwenden.« As'mala musste schallend lachen, und Borschkoj hoffte, dass er sie ein wenig für sich gewonnen hatte – zumindest für das Zugeständ nis eines Kleidungsstücks. Doch da schaltete sich Shanija dazwischen. »Wir könnten ins Ge schäft kommen, Borschkoj«, sagte sie mit einer Stimme, die ihn nichts Gutes ahnen ließ. »Dein stinkendes Hemd gegen einige Aus künfte. Einverstanden?« Borschkoj atmete auf. Wenn es weiter nichts war, mit Informatio nen konnte er gerne dienen. Aber sollte das wirklich alles sein? Sein Misstrauen wurde angeschürt. Er traute den beiden noch lange nicht. »Was wollt ihr denn wissen?«, erkundigte er sich vorsichtig. »Zuerst einmal: Wo sind wir hier?«, schoss Shanija ihre erste Frage ab. Sie machte eine umfassende Bewegung, die die gesamte Umge bung mit einschloss. »Wie heißt dieses Land? Wie heißen die Berge und der See? Wie der Monolith? Sind wir überhaupt auf dem Mond Less?« »Eine Menge Fragen auf einmal … aber ich kann sie beantworten.« Borschkoj durfte die Geduld der beiden nicht überstrapazieren. Sei ne Zeit würde schon noch kommen. Er machte eine ähnliche Hand bewegung wie Shanija und erklärte: »Natürlich bist du auf Less, wo sonst? Und das ist das Land Mandiranei. Alles hier heißt Mandira nei. Das Tal, die Berge, die es umschließen. Ebenso der See. Und na türlich auch der Monolith: Mandiranei!« »Was stellt dieser Monolith dar? Gibt es darin Leben?« »Das kann man wohl sagen. Mandiranei wird von mehr Leuten bevölkert, als die größte Stadt, die ich kenne, Einwohner hat. Es ist ein Stadtstaat, ein Königreich.« »Und wie kommt man über den See?« »Gar nicht. Wenn du nur die Hand ins Wasser streckst, ist sie weg.
Probier's ruhig aus.« Weder Shanija noch As'mala machten Anstalten, seiner Aufforde rung zu folgen. Stattdessen stellte Shanija ihre nächste Frage: »Ist die Gegend um den See auch bewohnt?« »Nein. Bis auf ein paar Ausgesetzte wie mich lebt hier niemand.« »Zu dir kommen wir noch, Borschkoj«, sagte Shanija. »Kennst du eine Möglichkeit, wie man in den Monolithen gelangen könnte?« »Es gibt unter dem See Zugänge, aber die ich kenne nicht. Drunten in der Tiefe, die man auch die Hölle nennt.« »Und was ist mit den Bergen?« »Was soll mit den Bergen schon sein?« Borschkoj zuckte mit den Achseln. »Die sind ein unüberwindliches Hindernis. Über die kommt man bestimmt nicht hinweg, das hat noch keiner geschafft.« »Du behauptest, es führt gar kein Weg aus diesem Talkessel hin aus?«, mischte sich jetzt As'mala ein. »Doch, doch, man gelangt auf dieselbe Weise raus, auf die ich her ein gelangt bin – unter Tage«, versicherte Borschkoj. »Warum redest du mal so, dann wieder so!« As'mala wurde wü tend. »Zuerst sagst du, dass du keine Zugänge in subplanetare Tun nel kennst – und jetzt erklärst du, dass du durch solch ein Tunnel system von draußen nach Mandiranei gekommen bist. Was stimmt nun?« »Ich sagte, dass ich vom Ufer des Sees keinen Zugang ins Laby rinth der Tiefe kenne«, verteidigte sich Borschkoj. »Würde ich einen solchen Weg kennen, glaubst du, ich wäre noch hier?« As'mala nickte versöhnlich. Sie schien Borschkoj verstanden zu ha ben. Er würde natürlich keine Sekunde länger hier in dieser Unwirt lichkeit bleiben, wenn er in den Monolith zurück könnte. »Aber es gibt unter dem Monolithen ein Netz von subplanetaren Gängen, die überall hin führen – auch aus dem Talkessel hinaus?« »Sag ich ja. Es ist nur eine Frage des Überlebens, ob man durch
kommt.« Shanija starrte wie hypnotisiert in die Mitte des Sees, wo der Mo nolith aus dem Wasser ragte: gut tausend Meter hoch und an der Basis etwa achthundert breit, schwarz und hellgrau gefleckt. »Dann also zum Monolith«, bestimmte sie. »Ich begleite euch gern, um euch von dort den Weg hinaus zu zei gen«, sagte Borschkoj eifrig. »Ich möchte auch zurück, nichts lieber als das. Aber ich fürchte, du stellst dir das zu einfach vor, Shanija.« »Wir könnten aus den Wrackteilen ein Gefährt bauen und damit über den See fahren«, überlegte Shanija. Borschkoj lachte spöttisch auf. »Ich habe es vorhin doch angedeu tet«, erklärte er. »Der See Mandiranei ist die Pforte zur Hölle. Hier tummeln sich mehr Ungeheuer als sonstwo auf Less.« »Der See wirkt recht ruhig«, meinte Shanija stirnrunzelnd. Tat sächlich war die Wasseroberfläche relativ glatt, bis auf leichte Wel len, die von einer sanften Brise verursacht wurden. »Dann beweise ich es dir!«, rief Borschkoj und richtete sich auf. Shanija entsicherte für alle Fälle die Armbrust. Borschkoj hob be schwichtigend die gefesselten Hände. »Ich bin nackt und gebunden, also nur nicht nervös werden!« Auffordernd sah er As'mala an. »Nimm einen Stein und wirf ihn so weit wie möglich in den See hinaus.« As'mala zuckte die Achseln, griff sich einen Stein und nahm Schwung. Als das Wurfgeschoss auf der Oberfläche auftraf, begann diese augenblicklich zu brodeln. Tierkörper peitschten durch die Luft, fielen übereinander her, rissen sich in Stücke und zerfleischten und verschlangen sich gegenseitig. Nach wenigen Sekunden war der Spuk so schnell wieder vorbei, wie er begonnen hatte. Nur die blutrot verfärbte Wasserfläche zeugte von dem eben stattgefunde nen Massaker. »Diese Bestien liegen ständig auf der Lauer«, erklärte Borschkoj. »Nur eine geringfügige Bewegung macht sie zu alles verschlingen
den Monstren.« »Was für ein Schauspiel!«, rief As'mala schaudernd aus. »Wir finden trotzdem einen Weg«, meinte Shanija bloß. »Ich möchte zuvor erst etwas über die Verhältnisse im Mandiranei-Mo nolith wissen. Und erzähl uns doch mal, auf welche Weise man dich hier ausgesetzt hat?« »Bevor ich weiterrede, möchte ich was zum anziehen«, verlangte Borschkoj. As'mala gabelte mit der Dolchspitze das Unterhemd auf und warf es Borschkoj zu. Dabei gab sie ihm zu verstehen, dass er vorerst noch gefesselt bleiben musste. Er machte keine Debatte zu diesem Thema und begann, mit einer geradezu artistischen Leistung, das Unterhemd als einen provisorischen Lendenschutz um seine Blöße zu binden. Jetzt fühlte er sich nicht mehr gar so unterlegen. Ihm war natürlich bewusst, dass die beiden Frauen einiges drauf hatten, aber man sollte ihn deshalb noch lange nicht unterschätzen.
2. »Also, Borschkoj«, wiederholte As'mala nachdrücklich. »Wie bist du hierher gekommen?« »Mit einer Fähre.« Als die beiden Frauen ihn verblüfft anschauten, grinste er – diese Wirkung hatte er beabsichtigt. »Die Mandiri be strafen manche Verurteilte, indem sie sie hier im Niemandsland aus setzen. Das ist quasi gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Aber ich hatte Glück. Bald nachdem ich hier von Bord geschmissen wur de, landeten wie aus dem Nichts die Armbrust, der Dolch und das Stilett vor meiner Nase.« »Wie soll ich mir das vorstellen?«, fragte Shanija. »Ganz einfach, was mit dir auch passiert ist. So, wie ihr beide plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht seid, sind es ebenso die Waf fen. Völlig unerwartet und unerklärlich. Ich sagte ja, dies ist ein Ort wie kein anderer.« Shanija und As'mala sahen einander an und dachten vermutlich dasselbe, das konnte er unschwer erraten: Wenn weitere Waffen aus dem Nichts auftauchten, könnte man sich besser ausrüsten, die Fäh re erobern und damit zum Monolithen fahren. »Glaubt nur nicht, da regnet es dauernd Schätze aus dem Nirgend wo«, führte Borschkoj deshalb weiter aus. »Wochen und Monate mag nichts passieren, und dann – plumps! – kriegst du Überraschungspost. In dem Fall ein Segen für mich.« »Damit dürfen wir sowieso nicht rechnen«, sagte Shanija einsich tig. »Mich interessiert jetzt eher die Fähre. Wie oft kommt sie?« »Die kreuzt dauernd hier auf – mindestens einmal am Tag«, er klärte Borschkoj. »Sie ist nicht besonders groß – vierzig Fuß, wenn es hoch kommt. Natürlich ist sie bestens gesichert, um heil über den
See zu gelangen. Der Rumpf ist rundum mit Eisen beschlagen, und in dem einzigen Aufbau gibt es keine Fenster, durch die man ein dringen könnte. Sie ist wie ein Blattfisch geformt. Ohne sichtbaren Einstieg, und die einzigen Öffnungen sind Schießscharten.« »Wie viel Mann Besatzung?« »Keine Ahnung … Es hat sich während der Fahrt niemand im Freien blicken lassen.« »Wie werdet ihr Gefangenen transportiert?« Borschkoj kicherte. »Das geschieht auf unangenehme Weise. An Deck stehen drei bewegliche Galgen. An diese hängen sie die Verur teilten an den gefesselten Armen. Wenn die Fähre das Ufer erreicht, gehen die Galgen in Pendelbewegung über. Bei ausreichendem Schwung wird das Seil ausgeklinkt, und der Ausgestoßene segelt in hohem Bogen durch die Luft und landet auf dem steinigen Boden. Ich hätte mir nach meinem Aufprall an einer Felswand fast sämtli che Knochen gebrochen. Es können immer nur drei Gefangene auf einmal transportiert werden. Gibt es mehr solcher armen Tröpfe, muss öfter gefahren werden.« »Und warum bist du einer von ihnen? Hast du Angehörige? Eine Frau? Gibt es jemand, der um dich trauert, Borschkoj?«, wollte As' mala wissen, aber Shanija unterbrach sie, um beim Thema zu blei ben. »Ankert die Fähre wahllos an verschiedenen Plätzen?«, fragte sie. »Nein, immer an derselben Stelle«, sagte Borschkoj. »Dann führ uns zu diesem Ankerplatz!« »So verschnürt kann ich kaum ein paar Meter gehen, geschweige denn bis zur Anlegestelle«, sagte Borschkoj. »Ihr müsst mir die Skor re abnehmen.« Er hielt As'mala demonstrativ die gefesselten Hände hin, weil er meinte, sie hätte mehr für ihn übrig. Diese sah Shanija an, und sie kamen überein, dass sie es riskieren konnten, den rund um fast wie ein Paket eingewickelten Mann zu befreien. »So ein übler Kerl scheint er doch gar nicht zu sein, und hässlich
ist er auch nicht«, fand As'mala. »Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte er mir schon gefallen …« Shanija verdrehte die Augen, gab aber nach. Nachdem er von der Skorre befreit war, schüttelte Borschkoj die Hände aus, und As'mala band sich das Würgelasso wie einen Gürtel um die Taille. Sie marschierten los. As'mala und Borschkoj voran, Shanija dahin ter, mit angelegter Armbrust, und ließ ihn nicht aus den Augen. »Wie lebt es sich denn in Mandiranei?«, erkundigte sich As'mala. »Wenn du kuschst, kannst du gut über die Runden kommen.« Borschkoj schnitt eine Grimasse. »Aber wehe, du wagst es, mal den Mund weiter aufzumachen. Dann geht es dir wie mir und du lan dest im Niemandsland.« »Schau, schau, ein rechtschaffener Rebell«, meldete sich Shanija spöttisch aus dem Hintergrund. As'mala winkte ab. »Erzähl weiter, Borschkoj«, forderte sie ihn auf. »Sind die Mandiri wohlhabend oder ein verarmtes Volk, das von seinem Herrscher ausgebeutet wird?« »Eigentlich sind die Mandiri insgesamt recht wohlhabend«, gab Borschkoj zu. »König Leeon ist kein Tyrann. Er presst sein Volk auch nicht aus, sondern schaut darauf, dass Armut nicht zu häufig vorkommt. Diesbezüglich kann man ihm nichts vorwerfen. Aber er nimmt den Leuten für den Wohlstand ihre Freiheit. Das ist, meiner Meinung nach, das Schlimmste, das man einem Souverän vorwerfen kann. Er trifft alle wichtigen Entscheidungen selbstherrlich und al lein … eigentlich hat seine Frau Randra das Sagen, was nichts besser macht. König Leeon hätte nach dem Gesetz längst schon abtreten und die Staatsgeschäfte seinem Sohn übertragen müssen. So will es die Verfassung. Aber Leeon, beziehungsweise seine Frau, missach ten die Bestimmungen und möchten die Tochter zur Königin ma chen. Dabei ist der ältere Sohn der rechtmäßige Thronfolger. Solches Unrecht schreit doch zum Himmel! Leeon ist jedoch keinen Argu menten zugänglich. Bei so etwas kann ich nicht einfach zusehen …
darum landete ich im Niemandsland, und Leeons verstoßener Sohn Tainon musste in den Untergrund flüchten.« »Ich nehme an, der Erbfolger Tainon hat noch nicht aufgegeben und wartet auf seine Chance«, warf Shanija ein. »Er wird sich lediglich holen, was ihm zusteht – den Thron!«, erei ferte sich Borschkoj. »Und wenn ich zurückkehre, werde ich ihn neuerlich unterstützen.« »Wie willst du das denn anstellen?«, wollte As'mala grinsend wis sen. Borschkoj sah sie verblüfft an. »Ich dachte, ihr wolltet mich mit nehmen!« Sein Blick wanderte zu Shanija. »Ich habe euch doch ge sagt, ich kann euch den Weg aus dem Tal zeigen – das war keine Lüge!« »In Ordnung, Borschkoj«, sagte Shanija. »Du wirst uns dabei hel fen, als Blinde Passagiere auf die Fähre zu gelangen, dann kannst du mitkommen.« »Gut, einverstanden«, stieß er erleichtert hervor. As'mala fragte: »Wie weit ist es noch zur Ankerstelle?« Borschkoj hatte mit zusammengekniffenen Augen auf den See hin ausgeblickt. Dann sagte er: »Wir sind gleich da – und die Fähre ist auch schon unterwegs!« * Shanija und As'mala folgten Borschkojs ausgestreckter Hand mit den Blicken. Er zeigte auf eine Stelle, wo der Monolith und der See zusammentrafen. Dort war vorerst nur eine winzige, ferne Rauch wolke vor dem Hintergrund des riesigen Monolithen zu sehen. »Die Fähre ist ein Dampfschiff«, erklärte Borschkoj unaufgefor dert. Weder Shanija noch As'mala sagten etwas darauf. Dass Qualm in
diesem Fall eine Dampfmaschine als Antrieb bedeutete, war sowieso klar. Während sie weitergingen, blickten die beiden Frauen immer wie der auf den See hinaus. Doch die Dampfwolke schien überhaupt nicht näher zu kommen. Die Fähre selbst war noch nicht zu erken nen. »Besonders flott ist das Schiff nicht gerade unterwegs«, meinte Shanija. »Das täuscht wegen der Entfernung«, sagte Borschkoj. »Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis man Einzelheiten erkennen kann. Übrigens sind wir jetzt fast am Ankerplatz. Gleich hinter dem Fels vorsprung.« Vor ihnen erstreckte sich eine felsige und enge Landzunge, zu hoch, um über sie hinweg zu klettern. Sie mussten sie einzeln um runden und dabei auf Felsbrocken balancieren, die halb aus dem Wasser ragten. As'mala ging voran. Sie wollte gerade die Kluft zwi schen zwei etwas weiter auseinander liegenden Felsen überbrücken, als ein Fangarm aus dem Wasser schoss und sich oberhalb des Knies um ihr ausschreitendes Bein schlang. As'mala schrie überrascht auf und kämpfte um ihr Gleichgewicht, als der Tentakel sie ins Wasser ziehen wollte. Ein zweiter Fangarm schoss aus dem Wasser und auf As'mala zu. Doch dieser erreichte sein Ziel nie, denn da griff Borsch koj, der gerade hinter ihr auf den Felsen balancierte, bereits ein. Er streckte die Hand aus, riss das Stilett aus einer Schlaufe von As'ma las Wams, und durchtrennte mit einem blitzschnellen Schnitt den peitschenden Fangarm. Dann bückte er sich und zerfetzte auch den anderen, der As'mala soeben in die Tiefe zerren wollte. Das Wasser begann zu brodeln und zu kochen, als Massen von Raubfischen sich unverzüglich auf das verwundete Seemonster stürzten. »Machen wir, dass wir rasch über diese Enge kommen, solange die Bestien beschäftigt sind!«, riet Borschkoj. Das ließ sich As'mala nicht zweimal sagen und brachte sich auf die
andere Seite in Sicherheit. Als sie alle die gefährliche Stelle über brückt hatten, hielt Borschkoj As'mala sein Stilett mit dem Griff vor an hin. »Danke für die Leihgabe«, sagte er grinsend. As'mala nahm das Stilett zögernd an sich – sie schien überrascht darüber, dass Borschkoj die Situation nicht zu seinem Vorteil ge nutzt hatte. Das ließ ihn offensichtlich in ihrer Achtung steigen. Sie erwiderte sein Grinsen. »Ebenfalls danke für meine Rettung.« »Das ist also die Anlegestelle der Fähre«, stellte Shanija fest, die sich umsah. »Da müsste sich doch was machen lassen …« Vor ihnen lag eine kleine, offenbar künstlich angelegte Bucht mit einer Hafenmauer aus übereinander geschichteten Felsen, die mehr als eine Mannshöhe aus dem Wasser ragte. Dazwischen erhoben sich in willkürlichen Abständen eine Reihe von Pfählen aus dem Wasser, insgesamt sechzehn, die bis zu fünf Meter hoch waren. Ihr Zweck war nicht ersichtlich; vielleicht sollte die Fähre mit Tauen daran festgezurrt werden, falls sie für längere Zeit anlegte. Als Shanija Borschkoj darauf ansprach, sagte dieser achselzu ckend: »Bei mir hat die Fähre nicht festgemacht. Wir wurden abgela den, dann dampfte das Boot umgehend wieder ab. Das Ganze hat nur wenige Augenblicke gedauert.« »Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen«, meinte Shanija. »Wie viele Leidensgenossen waren bei dir?« »Zwei. Die Galgen sind seit einiger Zeit meistens voll besetzt.« »Und was ist aus ihnen geworden?« »Die haben es nicht geschafft. Der eine flog zu kurz und landete im Wasser … mehr brauche ich dazu wohl nicht zu sagen. Der ande re wurde gegen einen der Pfähle geschleudert, rutschte ab und erlitt dasselbe Schicksal.« »Was haben wir denn da!«, rief As'mala staunend aus. Sie war weitergegangen und deutete nun auf den felsigen Boden, der über sät war mit unterschiedlich dicken Schnüren. Sie bückte sich und
hob ein Seil auf, das etwa zwei Meter lang war. »Borschkoj«, rief sie über die Schulter und spannte die Schnur über dem Kopf. »Was ist das?« »Wahrscheinlich Fesseln, die Gefangene abstreifen konnten. Oder die von den Fischen verschmäht wurden.« »Gut für uns, ein paar von denen wirken noch recht stabil.« As' mala wandte sich Shanija zu. »Was meinst du dazu, die Schnüre zu sammenzubinden, dass sie lang genug sind, um die Fähre zu errei chen? Mit einer Wurfschlinge an einem Ende könnten wir sie dann irgendwo am Schiff festmachen …« Shanija nickte. Sie blickte auf den See hinaus, wo die Dampfwolke, die die Fähre ausspuckte, sich kaum vergrößert hatte. »Gute Idee«, meinte sie zustimmend. »Wie es dann weitergeht, werden wir se hen, wenn die Fähre eingetroffen ist.« »Das könnte funktionieren«, sagte auch Borschkoj. »Nur Wurfsch linge benötigen wir keine. Stattdessen nehmen wir meine Skorre, die du als Gürtel benutzt.« »An die Arbeit«, entschied Shanija. Sie sortierten die längsten Schnüre aus, die mindestens zwei Meter maßen, und wurden ausreichend fündig. Nachdem sie einen genü gend großen Vorrat angesammelt hatten, begannen sie mit dem Zu sammenbinden. As'mala und Shanija blickten immer wieder auf den See hinaus, um zu prüfen, wie nahe die Fähre bereits gekommen war. Sie konnten beruhigt feststellen, dass ihnen bis zum Eintreffen noch genug Zeit blieb, ihre Vorbereitungen zu treffen. Immerhin war unter der hoch aufsteigenden Dampfwolke die Fähre bereits als kleines Objekt zu erkennen. Als jeder von ihnen ein Seil von etwa dreißig Metern Länge ge knüpft hatte, war die Fähre inzwischen deutlich zu erkennen. Und sie wurde umso rascher größer, je näher sie kam. Ihr schlanker, ho her Bug durchteilte das Wasser mit hoch aufschäumender Gischt, die sich vom Blut der sich zerfleischenden Wasserbewohner rot färbte. Unterhalb der Seelinie mussten sich unbeschreibliche Szenen
abspielen. Auch am Heck ging es nicht weniger blutig zu. Denn dort drehte sich ein mächtiges Schaufelrad für die Fortbewegung und wohl auch Stabilisierung der Fähre. Das Wasser spritzte hoch auf – und nunmehr war schon mit freiem Auge zu erkennen, wie Teile zerfetz ter Tiere durch die Luft flogen. Das ferne Stampfen der Maschinen im Rhythmus der ausgestoße nen Dampfwolken wurde nun hörbar. Ebenso das ruckartige Schau feln des Antriebsrades, das Rauschen des durchpflügten Wassers. Und jetzt wurde endlich sichtbar, dass die Fähre mit beachtlicher Geschwindigkeit dahinbrauste. Am Bug war ein Schild montiert, der wohl verhindern sollte, dass die Gischt gefräßige Monstren oder Teile von ihnen an Bord schwemmte. Vor diesem Schild, über den Bug hinaus, ragten drei Galgen empor. Und an jedem dieser Galgen baumelte ein Körper, der an den Handgelenken gefesselt war. Die Gestalten schwangen hin und her und stießen immer wieder zusammen. Hinter dem Schild gab es einen zylinderförmigen Aufbau, in dem drei Schlitze klafften – die Schießscharten! »Das wird schwierig«, kommentierte Shanija diese Tatsache. »Man wird versuchen uns abzuknallen, sobald man uns entdeckt hat. Selbst, wenn wir es an Bord schaffen.« »Nicht, wenn du mich als Ersten an Bord schickst und mir die Armbrust überlässt«, sagte Borschkoj. Shanija lachte auf. »Das könnte dir so passen, Bürschchen. Wenn wir dich zuerst an Bord schicken, schauen wir in die Röhre. Nein, du wirst der Letzte sein!« »Aber …«, wollte Borschkoj aufbegehren. Doch da mischte sich As'mala ein. »Shanija hat Recht. Zwar würde ich dir vertrauen, aber du darfst trotzdem nicht vor uns an Bord ge hen. Du musst das Seil mit der Skorre für jede von uns werfen. Wir können damit nicht umgehen.«
Borschkoj sah wohl ein, dass As'mala Recht hatte, fügte sich aber trotzdem nur murrend. Sie waren hinter den Pfählen in Deckung gegangen, um nicht vor zeitig entdeckt zu werden. Die Fähre fuhr endlich stampfend ins Hafenbecken ein. Das ge waltige Schaufelrad stoppte für einen Moment und begann dann, sich in die entgegen gesetzte Richtung zu drehen, so dass sich die Fahrt der Fähre verlangsamte. Schließlich kam sie ganz zum Still stand, und das Schaufelrad wurde angehalten. An Bug und Heck spritzte keine Gischt mehr, und die Monstren des Sees beruhigten sich. Jetzt setzte sich der Balken des linken Galgens in Bewegung und pendelte hin und her. Die verkommen wirkende Gestalt, die daran hing, begann zu jammern und zu heulen. »Los, As'mala«, befahl Shanija, »du machst den Anfang.« Sie hatten vorher den Zeitablauf und wie sie vorgehen wollten ab gesprochen, und Shanija hatte die Armbrust As'mala ausgehändigt. Mit der gesicherten Waffe in der Hand verließ die blonde Frau das Versteck und kletterte auf einen niedrigen Pfahl, sprang von diesem auf den nächst höheren, und von dort nach oben auf den dritten. Der winselnde Verurteilte wurde immer noch von dem pendeln den Galgen in zunehmenden Schwung versetzt. Als er beim nächs ten Mal in Richtung Land schwang, wurde das Seil, an dem er hing, ausgeklinkt, und er flog in hohem Bogen über As'mala, dann die Köpfe der anderen hinweg an Land. »Los, Borschkoj«, befahl Shanija. »Jetzt du!« Borschkoj rannte geduckt los, das lange Seil, an dessen Ende die Skorre befestigt war, in Händen haltend, und sprang auf einen Pfahl. Auch sein Gleichgewichtssinn ließ nicht zu wünschen übrig. Er schwang die Skorre ein paar Mal über dem Kopf, dann ließ er sie im richtigen Moment los. Sie segelte in Richtung des leeren Galgens und wickelte sich um den Querbalken. Borschkoj vergewisserte sich, dass die Skorre festsaß und warf das andere Ende des Seils As'mala
zu. Diese zauderte nicht lange und schwang sich am Seil zu der Fäh re hinüber. Sie glitt knapp über der Wasseroberfläche hinweg – et was mit einem zahnbewehrten Maul schoss aus dem Wasser, ver fehlte die erhoffte Beute jedoch knapp. As'mala landete hinter dem Schild, unter dem Galgen. Anschlie ßend schwenkte sie das Seil so lange, bis sich die Skorre löste und herabfiel. Sie fing sie geschickt auf und warf sie mitsamt dem Seil Borschkoj zu, der sie mit beiden Händen in Empfang nahm. Inzwischen war der nächste Galgen in Pendelbewegung versetzt worden. Nur wenig später wurde der zweite Verurteilte in Richtung Land geschleudert. Da war Shanija schon auf einen der höchsten Pfähle geklettert. Borschkoj schwang die Skorre mit kräftigen Bewe gungen und schleuderte sie in Richtung des zweiten freien Galgens. Dann warf er Shanija das andere Ende des Seils zu, genau so wie bei As'mala. Kaum hatte Shanija das Seil zu fassen gekriegt, spannte sie es und stieß sich ab. Doch ihre Sprungposition war nicht hoch genug. Sie merkte, dass sie ins Wasser eintauchen würde, wenn sie nicht am Seil ein Stück höher kam. So schnell sie konnte, hangelte sie sich hoch, konnte aber nicht verhindern, dass sie ein Stück ins Wasser eintauchte. Das war natürlich das Startsignal für die Seemonster. Das Wasser begann rings um Shanijas Beine zu sprudeln. As'mala hatte die Armbrust in Position gebracht und schoss auf gut Glück auf eine Stelle hinter Shanija. Sie traf, denn das Wasser färbte sich rot und schäumte daraufhin noch wilder auf. Shanijas Füße tauchten in diesem Moment unverletzt wieder aus dem Was ser auf, und sie schwang sich zum Galgen hoch, an dem sie sich mit kräftigem Griff festklammerte. Da blitzte es an einer Schießscharte des Aufbaus auf, und ein Schuss krachte. Man hatte sie entdeckt! Shanija kletterte zum Glück bereits den Galgen hinunter, und Borschkoj versteckte sich hinter ei nem Pfahl. As'mala war hinter dem Schild in Deckung gegangen. Jetzt lugte
sie hervor und erspähte in der Schießscharte, aus der der Schuss ge kracht hatte, den im Sonnenlicht kurzzeitig aufblitzenden Lauf der Waffe, als sie neu positioniert wurde. Die Diebin kontrollierte die Armbrust, und als sie feststellte, dass diese noch mit vier Bolzen ge laden war, legte sie an. Sie zielte kurz und drückte ab. Der Bolzen bohrte sich nur wenige Millimeter neben der Schießscharte ins harte Holz. As'mala ging wieder in Deckung. Nicht zu früh, denn der nächste Schuss knallte und bohrte sich in den Galgen, den Shanija als notdürftige Deckung nutzte. As'mala brachte die Armbrust neuerlich in Schussposition und drückte ab. Auch der zweite Bolzen blieb neben der Schießscharte stecken. Sie korrigierte rasch die Armbrust und drückte ein drittes Mal ab. Diesmal traf sie! Ein nicht enden wollender Schmerzens schrei drang aus dem Inneren des Aufbaus, und die Schießscharten wurden augenblicklich mit eisernen Schleusen geschlossen. Shanija hatte As'mala erreicht und auch bereits die Skorre vom Galgen gelöst. Sie schwang sie einmal über dem Kopf und warf sie Borschkoj zu, der sie geschickt auffing. Inzwischen war auch der dritte Galgen in Schwingung versetzt worden. Der Gefangene flehte sie mit schriller Stimme um Hilfe an. Doch sie konnten ihm nicht helfen. Er wurde bereits an seiner Fessel ausgeklinkt, flog jedoch zu kurz und fiel ins Wasser. Augenblicklich entstand an der Aufschlagstelle der nunmehr schon gewohnte mör derische Tumult. Nur Sekunden später war alles wieder friedlich und glatt. Die Maschinen der Fähre wurden stampfend in Gang gesetzt. Di cker Dampf qualmte aus dem Rauchfang. Das Schaufelrad setzte sich in Bewegung und drehte sich rückwärts. Die Fähre ruckte an. »Borschkoj!«, rief As'mala. »Mach schnell, bevor es zu spät ist.« Aber Borschkoj hatte Schwierigkeiten, denn einer der gerade abge worfenen Ausgesetzten hatte sich mit gefesselten Händen an sein Bein geklammert. Borschkoj versuchte, sich mit Tritten von ihm zu befreien. Aber der Verbannte ließ sich nicht abschütteln und bettelte:
»Lass mich nicht hier! Nimm mich mit!« As'mala hob die Armbrust und zielte zögernd auf den Verzweifel ten. »Lass Borschkoj zurück«, sagte Shanija emotionslos. »Wir brau chen ihn nicht mehr.« »Das ist nicht dein Ernst!«, stieß As'mala hervor. »Er wird uns in Schwierigkeiten bringen«, fuhr Shanija fort. »Ty pen wie ihn verraten ihre eigenen Kinder, um ihre Haut zu retten.« »Und wenn du dich täuschst?« »Ich dachte, du würdest mehr Menschenkenntnis besitzen«, sagte Shanija müde. »Oder bist du schon so verknallt in den Kerl, dass du blind für alles andere wirst?« »Ich hab dir schon mal gesagt, dass man sich in der Stunde der Not nicht im Stich lässt, erinnerst du dich?«, fauchte As'mala zornentbrannt. »Borschkoj hat uns hierhergebracht, geholfen auf die Fähre zu kommen und kann uns weiterhin nützlich sein. Er weiß möglicherweise wirklich den Weg aus dem Tal – und außerdem hast du ihm dein Wort gegeben! Gilt Ehre bei euch Militärs nichts mehr?« »Doch«, sagte Shanija tonlos. »Aber der Mann ist zu gefährlich, As'mala, und wir würden es beide noch bitter bereuen.« »Scheiß drauf! Ich gehe das Risiko ein und nehme ihn persönlich auseinander, wenn er sich als Arschloch erweist.« As'mala zielte und verschoss den letzten Bolzen auf den Arm des Mannes, der sich an Borschkoj klammerte. Sie hatte so gut gezielt, dass es nur ein Streifschuss war, aber es genügte, dass der Mann Borschkoj mit ei nem Aufschrei losließ. »Dafür opferst du den armen Tropf«, konnte sich Shanija einer An merkung nicht enthalten. »Du hättest beide geopfert.« Borschkoj fackelte nicht lange und schleuderte die Skorre Richtung Fähre. Er fand das Ziel, den Querbalken eines Galgens, mit dem ers
ten Wurf. Die Skorre wickelte sich darum und hielt. Borschkoj sprang von Pfahl zu Pfahl, bis er auf dem höchsten stand. Dann spannte er das Seil und schwang sich in sicherer Höhe zur Fähre herüber. »Danke, dass ihr mich nicht im Stich gelassen habt«, sagte er, als er bei den beiden Frauen angekommen war. Shanija schwieg. As'mala lächelte kurz. Er fuhr fort: »Jetzt sind wir erst mal in Sicherheit. Die Mannschaft wird kein Risiko eingehen, da wir nicht entkommen können. Aber wenn wir Mandiranei erreichen, wird die Hölle los brechen.« »Uns wird schon was einfallen«, beruhigte As'mala.
3. Die Fahrt verlief wie erwartet ruhig. Shanija, As'mala und Borschkoj hatten ausreichend Gelegenheit auszudiskutieren, was sie nach der Ankunft in Mandiranei tun wollten, kamen aber zu keinem befriedi genden Ergebnis. Es hätte den beiden Frauen wenig geholfen gegen über den Mandiri zu beteuern, dass sie von außerhalb kamen und durch einen unfreiwilligen Teleportsprung hierher verschlagen wor den waren. Immerhin befand sich der Rebell Borschkoj in ihrer Be gleitung. Zwischen As'mala und Shanija herrschte eine spürbare Spannung, aber sie konzentrierten sich sachlich auf die Situation und ließen Borschkoj nicht merken, dass er die Ursache dafür war. »Was erwartet uns, wenn wir Borschkoj?«, erkundigte sich Shanija.
in
Mandiranei
einlaufen,
»Wir werden für die Mandiri gute Zielscheiben abgeben«, antwor tete Borschkoj lakonisch und schilderte die Verhältnisse, die auf sie zukamen. Demnach hatte die Fähre ihren Ankerplatz in einer großen Grotte mit mehreren Zufahrten und Seitenarmen. Dort waren Hunderte weiterer Schiffe verschiedener Größen untergebracht, die für unter schiedliche Aufgaben konstruiert waren. Es gab auch Schiffe für die Jagd auf Seemonster und Fische. Manche Arten galten bei den Man diri als begehrte Spezialitäten. Das Fischen war zwar eine gefährli che, aber sehr lukrative Tätigkeit. Jedenfalls gab es aus dieser Grotte keine Möglichkeit zur schnellen oder gar unbemerkten Flucht von der Fähre, denn sie wurde stets von starken Verbänden des Militärs bewacht. Die Mannschaft infor mierte die Wachen unter Garantie, noch bevor sie angelegt hatten.
»Die lachen sich über meine Armbrust kaputt«, endete Borschkoj seine Erzählung. »Das klingt nicht gerade ermutigend«, meinte As'mala und biss sich auf die Lippen. Sie verschwieg Borschkoj besser, dass es ohne hin keine Munition mehr gab. »Was meinst du, Shanija? Hast du eine Taktik?« Die Angesprochene zuckte bloß die Achseln. »Abwarten«, sagte sie nach einer Weile, was offensichtlich eine Bestätigung für ihre Ratlosigkeit war. In diesem Fall mussten sie sich den Gegebenheiten anpassen – und für As'mala war das gleichbedeutend mit Kapitula tion. Obwohl es den Anschein hatte, dass die Fähre in rasender Fahrt unterwegs war, schien sie dem Monolithen kaum näher zu kommen. Selbst als dieser bereits wie ein Gigant vor ihnen aufragte, waren an ihm noch keine Einzelheiten zu erkennen. Je näher sie kamen, ver stärkte sich jedoch der Eindruck, dass das gewaltige Gebilde aus ei nem Material wie Schlacke bestand, das an tausenden Stellen durch löchert war. Daran änderte sich auch beim Näherkommen nichts. Es kamen allerdings weitere Komponenten dazu. Aus dem Schlackegebilde kristallisierten sich Formen heraus, die zwar nicht immer geometrisch waren, aber eindeutig künstlichen Ursprungs. Rohre, dicke und dünnere, die sich in verschiedene Richtungen verzweigten und wieder in den Wänden verschwanden, umschlangen überall den Monolithen. Ihr Sinn und Zweck war nicht recht zu deuten, und Borschkoj konnte auch nicht sagen, warum es sich dabei handelte. Shanija tippte auf Belüftungssysteme. Es gab unzählige Öffnungen, die wie geplatzte Luftbläschen aus sahen, in allen Größen, sie reihten sich dicht aneinander, und alle hatten sie glatte, wie polierte Ränder. Was aus der Ferne wie hell graue Maserung ausgesehen hatte, entpuppte sich als Dampfwol ken, die aus Rohröffnungen ausgestoßen wurden. Diese verzogen sich durch die Luftströmungen und bildeten Nebelbänke über dem See, bevor sie sich verflüchtigten.
Ebenso zahlreich ragten Vorsprünge aus den Wänden. Auch sie in vielen Größen, die meisten davon oben abgeflacht wie Landeplatt formen. Und tatsächlich landeten und starteten von dort große bun te Vogelgebilde, die vom Start weg majestätisch die Lüfte durchteil ten und manchmal höher als der Monolith stiegen … bis fast zur Wolkendecke hinauf. Es handelte sich, wie sich bald herausstellte, um Drachenflieger, die von Mandiri gesteuert wurden. »Alle Versuche, die Berge damit zu überfliegen, sind aber bislang gescheitert«, erklärte Borschkoj. »Die Drachenfliegerei ist ein belieb ter, aber sehr gefährlicher Sport.« Über die Außenwände von Mandiranei bewegten sich auch Kabi nen senkrecht auf und ab. Dabei handelte es sich um Aufzüge, die die rascheste und beliebteste Art der Massenbeförderung darstell ten, wie Borschkoj erklärte. Andere Kabinen fuhren horizontal ent lang gespannter Schienen, und mit ihnen konnte man schneller auf die andere Seite von Mandiranei gelangen, als den Monolithen zu durchqueren. Dann ging alles sehr schnell. Die Zeit verflog, während Shanija und As'mala ihre Eindrücke verarbeiteten. Es herrschte ringsum re ger Schiffsverkehr mit der bekannten Begleiterscheinung einer scheinbar kochenden Wasseroberfläche, die von den aufgewühlten Wasserbewohnern gepeitscht wurde. »Hier geht es zu wie in einem Ameisenhaufen«, bemerkte Shanija, dann schob sich eine Decke aus porös wirkendem Material vor den Wolkenhimmel, und sie fuhren in die Grotte ein. Es war alles so, wie Borschkoj es ihnen geschildert hatte, nur eines hatte er nicht er wähnt, nämlich dass die Wände und die Decke in hellem Grün er strahlten. »Woher kommt dieses Leuchten?«, wollte As'mala wissen. »Von Zuchtpilzen«, erklärte Borschkoj. »Sie sorgen überall in Man diranei für die Beleuchtung – neben Feuerschein und Gaslichtern.« Entlang der Grottenwände lagen Schiffe aller möglichen Größen und verschiedener Formen vor Anker. Kähne und Schlepper, die be-
und entladen wurden. Kampfschiffe mit Schilden entlang der Reling und Kanonenrohren, die aus den Luken ragten. Shanija deutete auf diese Kolosse. »Anscheinend gibt es doch noch mehr Feinde als nur die Seemonster und innerstaatliche Rebellion.« Borschkoj rieb sich unbehaglich den Arm und schwieg. Andere Gefährte wiederum schienen dem Großfischfang gewidmet, denn sie hatten Harpunen an Bord. Die Fähre glitt mit verlangsamter Geschwindigkeit daran vorbei, tiefer in die Grotte hinein. Plötzlich sprang der Deckel des zylinderförmigen Aufbaus auf, und ein Kopf mit Helm erschien darin. Schultern und Arme, die eine doppelläufige Flinte auf die drei unerwünschten Passagiere richte ten, folgten. Dann tauchte ein zweiter Kopf in der Öffnung auf, mit einem Me gaphon vor dem Mund. »Wache! Wache!«, schallte es durch die Grotte und übertönte mühelos den übrigen geschäftigen Lärm. »Wir haben drei Verbrecher an Bord! Nehmt sie fest!« »Jetzt wird's heiß«, sagte Borschkoj. Er baute sich vorn am Bug auf und streckte sich herausfordernd. »Mach keine Dummheiten, Borschkoj!«, mahnte As'mala. »Wir sind nicht lebensmüde.« »Wollt ihr euch etwa wehrlos abknallen lassen?« »Wer sagt, dass sie das tun werden, wenn wir es nicht herausfor dern?« »Komm her, Borschkoj!«, herrschte Shanija den Rebellen an. »Wir wollen immerhin erfahren, ob man uns überhaupt eine Chance zur Anhörung gibt!« »Ich habe keine Aussicht auf Gnade!«, rief Borschkoj und lachte verbittert. »Ich bin bereits verurteilt. Warum sollte man mich scho nen?« »Wir beide, As'mala und ich, haben uns nicht zuschulden kommen lassen. Das ist leicht nachweisbar, da es kein schriftliches Urteil gibt.
Und du hast erstens versprochen, uns zu helfen, wenn wir dich mit nehmen – und zweitens, wieso wolltest du hierher zurück, wenn du nun doch sterben willst? Da hättest du genauso gut bleiben können, wo du warst. Sich hier wie eine Zielscheibe hinzustellen und abknal len zu lassen stempelt dich keineswegs zum Märtyrer oder Helden deiner Rebellion, sondern nur zum Idioten! Damit ist deinem Prin zen wohl kaum gedient.« Borschkoj drehte sich verblüfft zu ihr um. Dann ließ er ergeben die Schultern sinken, fiel förmlich in sich zusammen. Mit hängendem Kopf kehrte er zu ihnen zurück. Shanija nickte zufrieden. * Die Fähre steuerte auf eine Lücke am Pier zu. Dort war bereits eine Kompanie furchteinflößender Gestalten aufmarschiert. Keine Men schen, sondern Wesen mit Tiergesichtern, aufrecht gehenden, zwei beinigen Ebern ähnlich, wie Shanija fand, mit gebogenen Hörnern über der Stirn. Von kleiner, gedrungener Gestalt, wahre Muskelpa kete. Sie trugen Helme, Kettenpanzer und Schilde und waren mit Kurzschwertern und Speeren bewaffnet. »Okkuren!«, entfuhr es As'mala. »Das sind die grausamsten Söld ner, die ich kenne.« Die Fähre fuhr mit stark verlangsamtem Tempo in die Lücke ein. »Keine falsche Bewegung jetzt«, empfahl Shanija. »Sonst gibt es ein Blutbad. Wir werden uns ergeben und um Anhörung bitten, nur so haben wir eine Chance.« »Das heißt, du willst mich opfern«, sagte Borschkoj verbittert. »Ist es nicht so?« Shanija gab keine Antwort. As'mala sagte an ihrer Stelle: »Wir finden schon einen Ausweg für dich. Nicht wahr, Shanija?« »Mal sehen«, sagte die Erdgeborene ausweichend.
Die Fähre hatte kaum angelegt, als vor und hinter ihnen je zwei Soldaten an Bord sprangen und ihnen unter Grunzlauten und mit Bewegungen ihrer Speere bedeuteten, an Land zu gehen. »Sind Okkuren des Sprechens nicht mächtig?«, erkundigte sich Shanija, während sie die Fähre als Erste verließ, mit erhobenen lee ren Händen. Borschkoj folgte ihr, und As'mala bildete den Abschluss. Sie wur den sofort von den Söldnern in die Mitte genommen. Die Gruppe verließ die Hafengrotte durch einen Seitengang. Die dunklen Schlackewände waren hier grau marmoriert, an der Decke entlang breiteten sich die grünen Leuchtpilze aus. »Okkuren können sprechen, sind aber redefaul«, erklärte As'mala. »Schweig!«, erklang da die raue, bellende Stimme des Okkuren hinter ihr. »Oder du bekommst meine Speerspitze zu spüren.« Daraufhin ersparte sich As'mala weitere Erklärungen. Die Söldner trieben sie schnellen Schritts kreuz und quer durch ein Labyrinth von Gängen ins Innere des Monolithen, bis sie vor einer Tür Halt machten. Einer von ihnen betätigte eine Glocke, und kurz darauf sprang die Tür nach außen auf. Dahinter lag ein mittelgroßer Raum mit niedriger Decke, die von gelben Leuchtpilzen übersät war. In der Mitte stand ein großer, wuchtiger Tisch, hinter dem ein schwergewichtiger Mann lümmelte, die Beine auf die Tischplatte gelegt. Die Okkuren stießen die drei Gefangenen grob in den Raum. Einer meldete: »Die drei Lebensmüden hier sind ungefragt auf der Fähre aus dem Niemandsland mitgekommen, Hauptmann Fassal.« Der Angesprochene schwang die Beine auf den Boden und kam um den Tisch herum. Er war bestimmt zwei Meter groß und trug dieselbe Montur wie die Okkuren. Dann nahm er hintereinander drei Stühle, von denen eine ganze Reihe an der Wand standen, und stellte sie vor seinem Tisch auf. »Bringt sie her und bindet sie fest«, sagte er und deutete auf die
Stühle. Er nahm vom Tisch einen Beutel, öffnete ihn und holte ein Tier hervor, das wie ein großer Wurm aussah. Er hielt das Wesen an einem Ende hoch, vermutlich dem Schwanz, und es wand sich hef tig in der Luft. Mit einem hässlichen Grinsen fuhr er fort: »Ich möch te, dass ihr beim Verhör still gehalten werdet. Mein kleiner Freund Prixxel wird mich bei der Befragung ein wenig unterstützen.« Die Okkuren drückten As'mala, Shanija und Borschkoj auf die Stühle und fesselten sie daran. Auf einen Wink von Hauptmann Fassal entfernten sie sich bis auf fünf Posten aus dem Raum. »Und nun zu euch«, sagte der Hauptmann und beugte sich zu Shanija hinunter, die ganz links saß. Dabei hielt er ihr seinen sich schlängelnden »Freund Prixxel« vors Gesicht. »Prixxel ist ein Wahr heitsfinder, müsst ihr wissen. So lange jemand lügt, beißt er kräftig zu und spritzt ein schmerzhaftes Gift. Das Gift verliert erst seine Wirkung, wenn jemand die Wahrheit sagt.« Er sah nun Shanija di rekt an. »Was hast du mir für eine Geschichte zu erzählen? Wie kommst du ins Niemandsland zu den Ausgestoßenen?« Shanija schluckte, als der Prixxel vor ihrem Gesicht zischelte, und entschloss sich für die Wahrheit, so unglaublich sie für einen Mandi ri auch klingen mochte. »Mein Name ist Shanija Ran. Ich bin nicht von dieser Welt, nicht einmal aus diesem Sonnensystem«, begann sie ihre Erzählung, »son dern stamme aus dem Solsystem, das 149 Lichtjahre entfernt ist. Ich war mit meinem Raumschiff auf der Flucht. Um meinen Verfolgern zu entgehen, steuerte ich eine Sonne an und wollte auf diese Weise einen Distanzsprung erzwingen. Es kam jedoch zu einer unerklärli chen Anomalie, die mich in dieses Drei-Sonnen-System verschlug, das wir unter dem Begriff HD 188753 katalogisiert haben und das für uns als ›Verbotene Zone‹ gilt.« Shanija unterbrach sich und zuckte zurück, weil Prixxel plötzlich sein Maul so weit aufriss, dass eine Faust hineingepasst hätte. Darin waren vier Reihen kleiner, scharfer Zähne zu sehen. Und zwei län gere – vermutlich die Giftzähne.
Fassal nutzte die Gelegenheit, um spöttisch einzuwerfen: »Du hast eine blühende Phantasie. Aber damit regst du Prixxel nur auf. Erin nere dich besser an die Wahrheit.« Shanija setzte nach kurzem Überlegen ihre Geschichte wahrheits gemäß fort. Sie schilderte, wie sie nach ihrer Havarie auf Less Asan firigylwyddinmala, kurz As'mala genannt, kennengelernt hatte, eine Reihe von Abenteuern erlebt und schließlich von einer psimagisch begabten Kreatur ins Niemandsland von Mandiranei verschlagen worden war. Sie endete mit den Worten: »Wie wir auf der Fähre hierher gekom men sind, ist dir bekannt.« Prixxel riss sein unglaubliches Maul noch weiter auf, gerade so als wolle er Shanija in sich einsaugen. Die Mundöffnung war bereits so groß, dass Shanijas Kopf hineingepasst hätte – eine beängstigende Vorstellung. »Und diese Geschichte soll ich dir glauben?«, schrie Fassal zornig. »Schau nur, wie sich Prixxel darüber aufregt. Er soll dich mit seinem Gift an die Wahrheit erinnern …« »Nein!«, rief As'mala entsetzt. »Alles, was Shanija sagt, entspricht der Wahrheit!« Aber es nutzte nichts. Shanija schrie vor Überraschung auf. Prixxel hatte bereits zugeschlagen. Der unheimliche Wurm bohrte seine Zähne in die linke Wange, dann zog er sich wieder zurück. Die Stel le, wo Prixxels Zahnabdrücke zu erkennen waren, begann sich zu erst bläulich, dann violett zu verfärben. Shanija krümmte sich vor Schmerz und begann leise zu wimmern. »Deine Freundin hat gelogen«, sagte Fassal zu As'mala. »Prixxel hat das erkannt und ihr das Wahrheitsgift gespritzt.« »Dein Prixxel ist ein Versager!«, schrie As'mala außer sich vor Zorn. »Kein Wort von dem, was Shanija gesagt hat, war gelogen. Sie hat mir genau dieselbe Geschichte erzählt, und ich habe die Trüm mer ihres Schiffes selbst gesehen! Sie haben immer noch geraucht …«
Plötzlich zuckte Shanijas Körper, als habe der Blitz in sie einge schlagen. Sie gab ein langgezogenes, unmenschliches Geräusch von sich, das nicht ihrer Kehle zu entstammen schien. Ihr Kopf mit der violett verfärbten Gesichtshälfte wurde nach hinten geschleudert, so dass das Relief-Tattoo zu sehen war. »Pong …«, flüsterte As'mala entgeistert. Jetzt wurde deutlich, dass der einstige Gefechtscomputer dieses seltsame Geräusch von sich gab. Doch war das noch nicht alles. Pong pulsierte und wechselte rhythmisch die Farben. Fassal starrte mit wachsendem Staunen auf dieses Phänomen. Er schien nicht zu wissen, was davon zu halten war. Ob etwa von die sem Amulett eine Gefahr ausging. Aber er wollte auf Nummer Si cher gehen und befahl den Wachen: »Tötet sie! Alle drei!« Doch die rührten sich überhaupt nicht, wie gelähmt starrten sie auf den pulsierenden Drachen. As'mala begriff, warum Prixxel nicht erkennen konnte, dass Shani ja die Wahrheit sagte. Es lag an Pong, der offenbar störende Impulse ausgestrahlt hatte, die zudem die Okkuren in Bann geschlagen hat ten und den Gefangenen vorerst das Leben retteten. Prixxel schlän gelte wie wild, peitschte seinen Wurmkörper mit dem unnatürlich geweiteten Rachen wie von Sinnen. Fassal öffnete den Mund zur Wiederholung des Befehls. Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, und sein Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an. Denn in diesem Moment löste sich Pong von Shanijas Körper. Er war nicht mehr flach wie ein Amulett, son dern wurde zu einem winzigen, zweibeinigen Drachen, der mit schlagenden Flügeln auf Prixxel zuschoss und ihm geradewegs ins Maul flog. As'malas Miene war anzusehen, dass sie ahnte, was jetzt passieren würde. Pong war für Prixxel so unverdaulich, dass er platzte. Es zerriss ihn in unzählige kleine Fetzen, und seine Überreste besudelten alle in der Nähe; Fassal, Shanija, As'mala und Borschkoj. Sie waren grün
von Prixxels Blut und beklebt mit seinen Hautteilen und seinen In nereien. Pong allerdings kehrte unversehrt in Shanijas Ausschnitt zurück und ließ sich dort nieder, als sei nichts vorgefallen. Fassal heulte nach einem Moment der Schreckensstarre auf und zog sein Schwert. Er holte damit auf eine Art aus, die deutlich mach te, dass er Shanija köpfen wollte. Dazu kam er jedoch nicht mehr. Etwas Unglaubliches geschah, was selbst Shanija, die allmählich wieder zu sich kam, nicht entging. Wie As'mala und Borschkoj riss sie fassungslos die Augen auf. Fassal warf plötzlich einen Schatten. Und der Schatten führte den Schwertstreich tatsächlich, mit dem er Shanija köpfte. Und der Schatten des von Shanijas Rumpf getrenn ten Kopfes war zu sehen, wie er durch die Luft flog. Doch in Wirk lichkeit passierte das nicht! »Halt, Fassal!«, rief in diesem Augenblick eine helle, jedoch scharfe Frauenstimme, die keinen Widerspruch duldete. »Töte nicht diese unschuldige Frau!« In der Tür stand eine vornehm gekleidete junge Frau von höchs tens zwanzig Jahren. Sie hatte ein ebenmäßiges, fein geschnittenes Gesicht, lange schwarze Haare und braune Augen. As'mala schätzte, dass sie in etwa ihre Größe hatte. Einen Arm hatte sie abgewinkelt, darauf saß ein Gnom mit zu großem Kopf und derbem Gesicht. In ihrer Begleitung befand sich eine Gruppe bewaffneter Soldaten, die an ihr vorbei in den Raum ausschwärmten und die Okkuren, die sich allmählich aus ihrer Star re lösten, mit ihren Waffen in Schach hielten. »Aber Prinzessin Seiya …«, stammelte Fassal entgeistert. »Diese Frau ist alles andere als unschuldig! Und sie hat dafür gesorgt, dass mein treuer Prixxel sterben musste. Das kann ich nicht durchgehen lassen …« »Die Königstochter …«, wisperte As'mala, und Shanija nickte stumm. Borschkoj gab die ganze Zeit keinen Laut von sich; er schien es wohl für besser zu halten, so zu tun, als wäre er unsichtbar. »Lass es gut sein, Fassal«, sagte Prinzessin Seiya. »Ich nehme diese
Gefangenen ab sofort in meinen Gewahrsam. Gorelus hat es so be stimmt. Du hast nichts mehr mit ihnen zu schaffen.« Mit Gorelus war eindeutig der Gnom auf ihrem Arm gemeint, denn er drehte sich um, reckte Fassal das Gesäß entgegen und gab durch den Mund ein volltönendes Geräusch von sich, das wie ein Furz klang. »Sehr wohl, Majestät«, fügte sich Fassal zähneknirschend und ließ sich widerwillig zu einer angedeuteten Verneigung herab. »Nehmt diese geschundenen Leute mit«, befahl Prinzessin Seiya ihrer Leibgarde und rauschte davon.
4. Fassal und die Okkuren legten den königlichen Leibgardisten nichts in den Weg, als sie die drei Gefangenen von den Fesseln befreiten und abführten. Auf dem Gang trennte sich Prinzessin Seiya nach weiteren Anweisungen von ihnen und verschwand mit Gorelus und dem Rest ihrer Leute in eine andere Richtung. Die Gardesoldaten führten As'mala, Shanija und Borschkoj zuerst über eine mehrstöckige Treppe auf eine höhere Ebene. Nach Passie ren einiger Tore kamen sie in einen Abschnitt von Mandiranei, der sich vom Hafensektor durch verschwenderische Ausstattung, durch höhere und breitere Gänge unterschied. Außerdem sorgten nicht mehr Leuchtpilze für die Beleuchtung, sondern Gaslichter. Die Wän de waren poliert und durch Zierleisten geschmückt – die polierte Schlacke wirkte geradezu edel. Es gab jede Menge Nischen, die meistens der Unterbringung von Möbeln dienten. Spiegel und Bil der mit kostbar wirkenden Rahmen lockerten die Räume auf. In Ab ständen von zehn Metern sicherten Doppelposten die Gänge. »Sind wir hier im Bereich des königlichen Palastes, Borschkoj?«, erkundigte sich As'mala, bekam aber auch jetzt keine Antwort. Sie zuckte die Achseln und hakte nicht weiter nach. Vielleicht war der Rebell in Wirklichkeit gar keiner und besaß keinen Heldenmut. Kurz darauf wurden sie in einen Prunkraum geführt, in dem Prin zessin Seiya mit Gorelus sie erwartete. Sie trug den Gnom jedoch nicht im Arm, sondern hatte ihn in ei nem Hochsitz, wie man ihn für Kleinkinder verwendete, unterge bracht. Bei ihrem Eintritt gab Gorelus ein krächzendes Geräusch von sich, das wie eine Unmutsäußerung klang. Seiya hob erstaunt eine Augenbraue und fragte: »Wo habt ihr denn euren Freund gelassen?«
As'mala blickte sich nach Borschkoj um, konnte ihn aber nirgends sehen. »Er war doch gerade noch bei uns«, sagte sie verständnislos. »Den Eindruck hatte ich auch«, stimmte Shanija zu. »Ich kann mir nicht vorstellen, wo er abgeblieben sein könnte.« Gorelus fauchte wieder. Seiya klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und sagte an die beiden Frauen gewandt: »Euer Begleiter ist vermutlich ein Blender. Gorelus hätte das rechtzeitig erkannt, wenn wir euch begleitet hätten. Ich hätte nicht so sorglos sein dür fen.« »Was ist ein Blender?«, wollte Shanija wissen. »Jemand mit der Gabe, falsche Tatsachen vorzutäuschen«, antwor tete As'mala anstelle der Prinzessin. »Wenn Borschkoj ein Blender ist, wonach es aussieht, hat er uns geistig so beeinflusst, dass wir den Eindruck hatten, er sei noch bei uns, obwohl er sich längst aus dem Staub gemacht hat. Das kann schon vor dem Betreten der Pa lastzone gewesen sein, oder vielleicht noch viel früher.« Sie wich Shanijas Blick aus, der als »hab ich es dir nicht gesagt?« ausgelegt werden konnte. »Für jemand, der nicht von Less stammt, bist du überraschend gut informiert«, sagte Prinzessin Seiya. »Ich bin sehr wohl von hier«, erwiderte As'mala. »Nur Shanija Ran kommt von außerhalb.« Der Gnom Gorelus gab ein zufrieden klingendes Schnurren von sich, das wie die Bestätigung anmutete, dass As'mala die Wahrheit sagte. »Kann Gorelus Gedanken lesen?«, fragte As'mala gerade heraus. »Seine Fähigkeit ist etwas komplizierter«, antwortete Seiya. »Ich nenne ihn einen Schattenspieler. Das erkläre ich aber besser ein ande res Mal genauer.« Sie machte eine kurze Pause, um einen Heiler kommen zu lassen, der Shanijas misshandelte Wange behandeln sollte.
»Es geht schon«, wollte Shanija abwehren, aber dann ließ sie sich die Behandlung gern gefallen, und ihr schmerzverzerrtes Gesicht glättete sich etwas. Seiya fuhr währenddessen fort: »Zurück zu eurem Freund Borsch koj. Was hat er denn auf dem Kerbholz, dass er vor mir Reißaus ge nommen hat?« Shanija öffnete den Mund, As'mala kam ihr jedoch zuvor. »Er ist ein politisch Andersdenkender«, sagte sie, »und fürchtet vermutlich Repressalien.« »Ich bin nicht wie mein Vater … wie meine Mutter, müsste ich ei gentlich sagen …« Prinzessin Seiya ließ den Rest unausgesprochen. »Lassen wir das. Du musst mir unbedingt über das Leben im Kos mos berichten, Shanija Ran. Aber auch das wollen wir vorerst ver schieben.« Sie betrachtete die beiden Frauen naserümpfend. »Euer Aufzug ist unter jeder Würde. Und der Geruch, der euch anhaftet! Jetzt müsst ihr erst einmal ein Bad nehmen und euch neu einkleiden lassen. Dann unterhalten wir uns weiter.« Seiya klatschte in die Hände, und die Gardesoldaten nahmen Hal tung an. Sie befahl ihnen, Shanija und As'mala in die Obhut ihrer Zofen zu überstellen. Die beiden Frauen wurden in ein luxuriös aus gestattetes Bad gebracht, wo sich ihrer ein halbes Dutzend kichern der Mädchen annahmen, drei für jede von ihnen. »Warum hast du Prinzessin Seiya verschwiegen, dass Borschkoj ein Staatsfeind ist?«, fragte Shanija, während sie sich entkleiden lie ßen. »Weil ich nicht glaube, dass er für sie eine Gefahr darstellt«, ant wortete As'mala. »Ich möchte versuchen, ihn aufzustöbern und zur Rede zu stellen, bevor ich über ihn urteile. Erst dann bilde ich mir eine Meinung über ihn.« »Wie willst du ihn in diesem riesigen Termitenbau finden?«, fragte Shanija. »Du bist hier so fremd wie ich und hast keine Ahnung, wo du ihn suchen solltest.« »Ich werde mich rasch genug zurechtfinden. Schon vergessen, wer
ich bin?« »Sein Verhalten ist mehr als verdächtig. Ich weiß, dass du einen Narren an Borschkoj gefressen hast, aber geht das nicht allmählich zu weit?« »Noch nicht.« As'mala antwortete mit einem süffisanten Lächeln und stieg in die schäumende Badewanne. »Aber jetzt, in Erwartung sinnenfroher Genüsse, wollen wir doch nicht ausgerechnet über einen Mann streiten, oder?« Da zuckten auch Shanijas Mundwinkel endlich einmal, und sie gab nach. »Na schön. Ich vertraue dir.« Die beiden Frauen genossen ein ausgiebiges Bad und ließen sich danach von den Zofen salben und massieren. Jetzt erst merkte Sha nija, wie müde sie war und schlummerte ein. Erst ein Schrei und ein heftiger Schlag gegen das Brustbein ließ sie hochschrecken. Eine der Zofen hatte versucht, ihr Pong abzuneh men, doch der ließ sich das nicht gefallen und wehrte sich mit einem elektrischen Schlag. Die Zofe lief hysterisch schreiend davon. »Genug verwöhnt«, entschied As'mala und stieg von der Liege. Shanija tat es ihr gleich. Nachdem die Zofen sie abgerieben hatten, bewegten sie eine Schiebetür an der Wand. Shanija und As'mala staunten nur so, als die Schiebetür einen Schrank freigab, der mit Frauenkleidern vollgestopft war. Hier waren Gewänder für jeden Zweck vorhanden, teure Kostüme für festliche Anlässe ebenso wie saloppe Sportkleidung. Shanija wählte einfache Unterwäsche und für darüber ein beque mes und relativ elegantes Jagdkostüm. As'mala flippte förmlich aus, als sie ein reichhaltiges Sortiment an Lederbekleidung entdeckte und entschied sich für rosafarbene Reizunterwäsche und einen eng anliegenden Einteiler aus weichem Rauleder. As'mala sog den Duft ein, den eine Zofe ihr auftrug, und der sie wie eine Wolke umgab. »Ein bisschen aufdringlich süß«, konstatier te sie. »Mir war da Borschkojs herbe Männlichkeit fast lieber.«
Nachdem sie sich fertig eingekleidet hatten, wurden sie von einer Abordnung Leibgardisten wieder zu Prinzessin Seiya gebracht. * Die Prinzessin empfing die Frauen in einem luxuriös ausgestatteten Speisesaal. Von der Decke hing ein kristallener Gasleuchter, der ein warmes Licht spendete. In der Mitte stand ein Tisch, der mit einem reichhaltigen kalten Büffet gedeckt war. Bei Anblick dieser üppigen Köstlichkeiten wurden Shanija und As'mala von ihren knurrenden Mägen daran erinnert, dass sie schon eine Ewigkeit nichts zu sich genommen hatten. Rund um den Tisch standen sechs Stühle, zwei auf jeder Längsseite, je einer an den Kopfenden. Dazu kam noch ein Hochsitz mit Gorelus. Der Gnom rührte sich nicht. Er hatte die Au gen geschlossen und schien zu schlafen. »Oh«, machte Seiya bewundernd. »Jetzt, gewaschen und mit or dentlichen Kleidern, erkennt man erst, wie schön ihr seid.« »Das Kompliment kann ich nur erwidern«, sagte Shanija. As'mala hingegen hatte nur Augen für das Buffet. »Sieht das le cker aus!«, rief sie und beugte sich über die kunstvoll arrangierten Speisen. Sie griff wahllos ein Stück heraus und biss herzhaft ab. »Mhmm, das schmeckt!« »Schluck besser schnell runter«, ermahnte Seiya. »Meine Eltern ha ben nämlich ihren Besuch angesagt. Und die sind sehr konservativ. Erst wenn der König und die Königin das Buffet eröffnen, dürfen andere sich daran gütlich tun.« As'mala verschluckte sich an dem Bissen und begann zu husten. Und genau in diesem Moment gingen die Flügel einer Doppeltür auf, und das Herrscherpaar kam in den Speisesaal. Der König führte seine Gemahlin an der Hand zu einem Kopfende, dann begab er sich an die gegenüberliegende Seite und nahm dort Platz. Der König war schon sehr gebeugt und wirkte überaus gebrech
lich, und es hatte mehr den Anschein, dass er sich auf den Arm der Königin stützte, als dass er sie geleitete. Die Königin dagegen schwebte erhobenen Hauptes dahin, den Mund verkniffen, die Au gen wachsam in der Runde wandernd, die Hakennase in die Höhe gereckt. Shanija und As'mala, die noch immer heimlich kaute, ver neigten sich, so gut sie konnten vor dem Königspaar. »Das ist Shanija Ran, von der ich dir erzählt habe, dass sie eine Er denfrau ist, und ihre Gefährtin As'mala, die auf Less geboren wur de«, stellte Prinzessin Seiya die beiden Frauen ihrem Vater vor. König Leeon winkte ungeduldig ab und sagte missgelaunt, ohne den Blick vom Büffet zu lassen: »Sehr schön, gut, gut. Wir werden noch Zeit finden, uns über die Erde zu unterhalten. Aber das heben wir uns bis nach dem Krönungszeremoniell auf.« Ohne weitere Umstände griff er sich eine der Köstlichkeiten und knabberte daran. Es gab keine Bestecke und auch kein Gedeck. Es wurde auf so deftige Art gegessen, wie As'mala es liebte. Als Seiya ihr auffordernd zunickte, griff auch sie ungeniert zu. »Wir sehen dein Erscheinen als gutes Omen für die Inthronisie rung unserer Tochter an«, sagte König Leeon und blickte zu Shanija. »Gorelus hat mit seinem unbestechlichen Blick in die Zukunft eine günstige Konstellation gesehen.« »Das ist so nicht ganz richtig, mein König«, berichtigte Seiya. »Go relus kann nur …« Der König winkte ohne aufzublicken ab und sagte mit vollem Mund: »Papperlapapp. In drei Tagen schon werde ich ›meine Köni gin‹ zu dir sagen.« Selbst Königin Randra und die Prinzessin aßen unter Missachtung jeglicher Tischetikette mit den Händen, leckten die Finger schmat zend ab und reinigten sie mit auf dem Schoß liegenden Servietten, mit denen sie auch die Münder säuberten. Shanija sah eine Weile zu, zuckte dann die Achseln und beteiligte sich gelassen an dem unkon ventionellen Mahl. Die Königin versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, indem
sie Shanija über Mode und Klatsch auszufragen versuchte. Doch Shanija brachte diesen ungeschickten Anlauf zum Scheitern, indem sie sagte: »Tut mir leid, Königliche Hoheit, aber ich stehe in militäri schen Diensten, da sind Mode und Tratsch keine Themen.« »Und militärische Geheimnisse darf Shanija Ran nun einmal nicht ausplaudern«, scherzte Prinzessin Seiya. Der Rest des Dinners verlief in Schweigen. Immer wieder tauchten Diener auf, die abräumten oder neue Köstlichkeiten auftischten. Zu letzt winkte der König mit der Serviette. Daraufhin erschienen Die ner, jeweils mit einer Waschschüssel oder einem Handtuch in Hän den. Die anderen am Tisch bekamen die gleiche Betreuung. Der Kö nig wusch sich die Hände, trocknete sie ab und erhob sich. Königin Randra tat es ihm gleich und verließ mit ihm den Speisesaal. »Wir müssen die positiven Zeichen rechtzeitig nutzen«, murmelte der König im Hinausgehen. Damit war das Festessen beendet. »Der König ist schon ein wenig senil«, erklärte Seiya leicht betre ten, »darum besteht die Königin darauf, dass ich endlich den Thron besteige und die Staatsgeschäfte übernehme.« »Hast du nicht einen älteren Bruder, der eigentlich das Anrecht auf die Krone hätte?«, fragte As'mala unverblümt. Und obwohl Sha nija sie heftig in die Seite stieß, fuhr sie fort: »Oder wird die Thron folge in Mandiranei inzwischen anders geregelt?« »Du hast schon Recht«, stimmte Prinzessin Seiya unbehaglich zu. »Und ich möchte meinem Bruder, Prinz Tainon, die Krone auch gar nicht streitig machen. Doch meine Mutter ist überzeugt, dass Tainon kein guter Regent wäre und Mandiranei ins Verderben steuern wür de. Darum soll er übergangen werden. Das war nicht meine Ent scheidung. Ich muss mich fügen.« »Ich kann mir vorstellen, dass Prinz Tainon davon nicht besonders erbaut ist«, hielt As'mala am Thema beharrlich fest, obwohl Shanija ihr durch versteckte Zeichen zu verstehen gab, es zu wechseln.
»Tainon versucht natürlich mit allen Mitteln, meine Inthronisie rung zu durchkreuzen«, gab Seiya zu. »Aber auch, wenn es anma ßend klingt, wäre es besser für ihn, dem Anspruch zu entsagen. Mein Bruder ist für dieses hohe, verantwortungsvolle Amt vielleicht wirklich ungeeignet. Es ist sehr schwierig für mich.« Als As'mala et was erwidern wollte, kam ihr Seiya zuvor und bestimmte: »Ich möchte darüber jetzt kein Wort mehr verlieren. Könnten wir uns nicht erfreulicheren Themen zuwenden?« »Ja, ich bitte darum, das käme auch mir sehr entgegen«, sagte Sha nija mit einem vorwurfsvollen Seitenblick zu As'mala. * Nach dem Essen wechselten sie in einen Privatraum der Prinzessin, wo sie ungestört waren. Seiya hatte nicht einmal Gorelus hierher mitgenommen. Der Gnom hatte sich zwar hysterisch aufgeführt und sich nicht von ihr trennen wollen. Es schien so, dass er sie nicht mit Shanija und As'mala allein lassen wollte. Doch die Prinzessin hatte ihn mit der Versicherung beruhigt, dass ihre Gäste Freunde waren. »Ich fühle mich in Mandiranei von der großen Welt – vom Univer sum – total isoliert«, seufzte Prinzessin Seiya, als sie unter sich wa ren. »Ich habe nicht einmal eine Ahnung, was die aktuellen Ereignis se auf Less sind. Alles, was ich weiß, habe ich von Reisenden erfah ren, die es gelegentlich zu uns verschlagen hat. Aber auch von Schmugglern, die geheime subplanetare Verbindungswege nach draußen kennen. Über die Vergangenheit weiß ich besser Bescheid als über die Gegenwart. Und dieses Wissen habe ich aus den Ge schichtsaufzeichnungen, die vielleicht nicht objektiv sind.« Sie seufzte wieder. »Ich bin so gespannt, was du mir von der Erde zu er zählen hast, Shanija. Es ist aufregend für mich, als Nachfahrin eines Explorerschiffes mit einer Erdgeborenen von heute zu reden.« »Es gibt leider nichts Gutes zu berichten«, sagte Shanija. »Wir schreiben nunmehr das Jahr 3218 – also etwa tausend Jahre später,
als das Schiff gestartet ist –, und sind in einen schrecklichen Krieg mit einem kosmischen Feind verstrickt, den Quinternen. Dabei han delt es sich um eine Kollektiv-Intelligenz, die uns in vielerlei Hin sicht überlegen erscheint. Zum Glück hat sich dieser Krieg noch nicht bis zur Erde ausgebreitet. Bisher zumindest – doch das wird sich nun ändern.« Shanija kam zu dem Schluss, dass sie der Prinzessin die volle Wahrheit sagen sollte. Gorelus würde diese, auch wenn er im Mo ment nicht anwesend war, früher oder später sowieso erfahren. »Ich war Geschwaderkommandantin und habe meine gesamte Einheit verloren«, fuhr sie fort. »Mir wurde während der Flucht aber recht bald klar, dass ich es bis zur Erde nicht schaffen würde. Da ich im Besitz wichtiger Unterlagen bin, die dem Feind nicht in die Hän de fallen dürfen, musste ich mit einem gewagten Distanzsprung ver suchen, zu entkommen … Das ist mir zwar gelungen, aber ich wur de durch eine Anomalie hierher geschleudert und strandete auf Less.« Shanija merkte, dass Seiya mit offenem Mund an ihren Lippen hing und ihre Worte förmlich in sich aufsaugte. Sie entschloss sich dennoch zu einer Kurzfassung der Schilderung ihrer weiteren Erleb nisse, denn sie wollte nicht als Geschichtenerzählerin Ruhm erlan gen, sondern musste ihre Pflicht erfüllen. Deshalb schloss sie: »Wie auch immer ich es anstelle, ich muss so schnell wie möglich dieser kosmischen Falle entrinnen und zur Erde gelangen. Das hat bei mir absoluten Vorrang … um ehrlich zu sein, ist dies mein einziger Antrieb. Ich sorge mich um die Zukunft der Menschheit, die es ohne mich möglicherweise bald nicht mehr gibt.« Auf diese Eröffnung hin herrschte zunächst einmal Schweigen. Selbst As'mala, die diese Geschichte noch nicht so ausführlich ge kannt hatte, machte ein betroffenes Gesicht. Die Erde war weit fort, gewiss. Aber sie war der Ursprung der Menschheit … Shanija wollte sich nicht in den Vordergrund stellen. Aber sie musste deutlich machen, worum es ihr ging – und warum sie sich in
den Augen anderer vielleicht rücksichtslos verhielt. »Eine … eine sehr schwere Bürde«, sagte Seiya schließlich lang sam. »Wenn es nur das wäre!«, platzte As'mala plötzlich heraus: »In Shanija wohnt außerdem die Sonnenkraft!« Seiya war für einen Moment sprachlos, dann sagte sie ungläubig: »Ist das wahr? Gibt es diese mächtige Fähigkeit wirklich? Ich habe noch niemanden kennengelernt oder von jemandem gehört, der die Sonnenkraft besessen hat.« »Ich auch nicht«, gestand As'mala. »Ich vermute, Shanija hat diese Kraft beim Durchdringen der Grenze zum verbotenen System, in dieser Anomalie, erhalten. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie den Herrn der Fäulnis zu einer Schlammpfütze zerstrahlt hat.« »Wenn das stimmt … wer diese Kraft besitzt, ist … geradezu gott gleich, könnte man sagen«, stammelte die Prinzessin. »So fühle ich mich keineswegs, sondern bin froh, noch am Leben zu sein«, versuchte Shanija abzuschwächen. »Ihr Einsatz kostet mich soviel Kraft, dass es mich fast umbringt. Und sie hilft mir in keiner Weise, zur Erde zu gelangen.« »Wer weiß, wer weiß«, sinnierte Seiya. »Eines Tages, wenn es dar auf ankommt, könnte diese Fähigkeit der entscheidende Impuls für dich sein.« »Wie du selbst sagst, kennst du die Geschichte deiner Welt wie keine andere, Prinzessin …«, versuchte Shanija das Thema zu wech seln. Aber die Prinzessin gebot ihr mit einer Handbewegung Schwei gen. »Nennt mich Seiya … wie unter Freunden üblich.« »Ich fühle mich geehrt, Seiya,«, bedankte sich Shanija höflich und fuhr beharrlich fort: »Aber ich muss wissen, ob es irgendwelche Aufzeichnungen darüber gibt, ob es je gelang, das Dies Cygni-Sys tem zu verlassen. Das würde mir vielleicht einen Weg weisen, wie ich von hier wegkommen kann.«
Seiya dachte scharf nach, meinte aber dann mit leisem Kopfschüt teln: »Ich habe bestimmt noch nie von so einem Fall gehört. Das be sagt aber nicht, dass es das nicht schon einmal gegeben hätte. Ich bin nicht allwissend. Es könnte durchaus sein, dass sich im Zentralar chiv Hinweise auf ein solches Geschehnis finden. Vielleicht solltest du dorthin gehen. Im Zentralarchiv befindet sich das gesamte Wis sen von Less, die Aufzeichnungen werden seit vielen tausend Jahren geführt.« Shanija zögerte. »Habt ihr denn keine überlieferte Erinnerung? Keine Legenden, die den Absturz der Sunquest behandeln?« Seiya nickte. »Natürlich gibt es Aufzeichnungen über unsere Her kunft, und wie wir auf Less gestrandet sind. Wie unser Stadtstaat gegründet wurde. Aber was kann dir das … Augenblick.« Ihr Ge sicht hellte sich auf. »Da gibt es etwas, das könnte tatsächlich ein Hinweis sein.« »Und was?«, wollte Shanija ungeduldig wissen. »Die Legende über die Urmutter. Es heißt, dass sie zur Besatzung des Schiffes gehörte und heute noch, tausend Jahre nach dem Ab sturz, lebt! Das ist aber noch nicht alles. Entschuldige, in der Aufre gung ist mir das vorhin nicht eingefallen, weil ich die Zusammen hänge falsch gesehen habe, aber jetzt erinnere ich mich: Die Urmut ter soll nämlich über den Schlüssel für einen erfolgreichen Start aus Dies Cygni verfügen. Sie hat jedoch nur das Wissen, nicht aber die Möglichkeit, dieses Wissen zielgerichtet einzusetzen.« »Das ist der Hammer!«, rief As'mala begeistert aus. »Davon habe ich noch nie gehört.« »Es wäre ein Hammer, wenn wir die Urmutter in Mandiranei tref fen könnten«, berichtigte Shanija kühl und wandte sich wieder der Prinzessin zu. »Ich nehme nicht an, dass du mir ihren Aufenthaltsort geben kannst, Seiya.« Die Prinzessin schüttelte bedauernd den Kopf. »Das leider nicht. Die Geschichte der Urmutter ist möglicherweise nur eine Legende mehr, es gibt keinen Beweis. Aber bestimmt kann man auch über die
Urmutter und den Schlüssel im Zentralarchiv mehr erfahren. Wie es aussieht, führt kein Weg daran vorbei, Shanija. Tut mir leid, dass ich dir nicht mehr dazu helfen kann.« Shanija nickte. »Dann werde ich schnellstmöglich einen Weg aus Mandiranei suchen müssen – ich hoffe allerdings, du hast eine Weg beschreibung für mich?« »Natürlich«, lächelte Prinzessin Seiya. »Aber ich habe eine große Bitte: Bleib wenigstens bis zu meiner Krönung. Sie wird in drei Ta gen stattfinden. Danach werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um dir zu helfen.« Shanija zögerte. Sie konnte es der Prinzessin nicht verdenken, dass die Probleme der Erde für sie nicht so nahe liegend waren wie ihre Inthronisation. Sie musste ein schweres Amt annehmen und ein völ lig isoliert lebendes, großes Volk in Frieden regieren. As'mala blickte sie auffordernd an. »Ich begleite dich zum Zen tralarchiv«, schlug die Diebin vor. »Ich kenne mich auf Less besser aus als du, und du kämst mit mir sehr viel schneller voran, als al lein. Mit der Zeitersparnis holen wir die drei Tage ein, die wir hier verbringen und Seiya auf den Thron verhelfen.« Da stimmte Shanija zu.
5. Prinzessin Seiya war vollauf mit den Vorbereitungen für die Inthro nisation beschäftigt. Um die Zeit nicht nutzlos zu verbringen, bat Shanija sie um freien Zugang zum palasteigenen Archiv; vielleicht fand sie ja doch ein paar Hinweise. Seiya gab ihr ohne zu zögern eine schriftliche Erlaubnis, mit der sie sich bei den Verwaltern aus weisen sollte. As'mala war dies viel zu langweilig, außerdem machte sie sich Sorgen um Seiya. »Ich mag das Mädchen«, äußerte sie. »Ich glaube, sie wäre eine gute Königin. Daher sollte ich besser nach Borschkoj suchen und mich über den Stand der Rebellion informieren. Wenn schon, will ich mich auch nützlich machen. Schließlich werden wir als gutes Omen betrachtet, nicht wahr?« Shanija nickte. »Wahrscheinlich sind wir beide die einzigen, denen Seiya trauen kann, weil wir nicht am Thron oder Staat interessiert sind. Außerdem sind wir ihr das schuldig, schließlich hat sie uns das Leben gerettet und uns freundlich aufgenommen.« Sie rieb sich da bei die heilende Wange, deren Verfärbung inzwischen zurückgegan gen war. Die Abdrücke der Zähne waren fast nicht mehr sichtbar; wahrscheinlich würde es nicht einmal Narben geben. Die Heiler von Mandiranei verstanden ihr Handwerk. »Schön, dass wir endlich mal einer Meinung sind«, grinste As'ma la. Nach dem ersten Diarium ihrer Nachforschungen hatte Shanija keinerlei neue Erkenntnisse gewonnen und war fast geneigt, As'ma la zu unterstützen. Es war für sie völlig uninteressant, dass vor sie ben Generationen noch ein Tyrann namens Arcottur der III. in Man diranei geherrscht hatte, der von seinem Neffen Pringen erschlagen wurde, der wiederum einem Giftattentat durch seine Schwester
Nynne zum Opfer fiel … Shanija gönnte sich immer nur kurze Ruhepausen und vergrub sich immer tiefer in den Dokumenten, während As'mala diskrete Nachforschungen über Prinz Tainon und natürlich Borschkoj an stellte. Um sich frei bewegen zu können, hatte sie um eine Audienz bei Prinzessin Seiya gebeten und ihr Anliegen erörtert, dass sie gern die Mandiri kennenlernen und Erfahrungen sammeln wolle. »Oder gelte ich noch als Gefangene?« »Nein, nein«, versicherte Prinzessin Seiya schnell. »Du kannst dich überall in Mandiranei frei bewegen. Es ist nur … Es gibt in unserer Stadt Orte, die Fremden gefährlich werden können.« »Ich liebe die Gefahr und kann gut auf mich aufpassen. Hier im Palast fühle ich mich eingesperrt.« »Ich kann dich gut verstehen, As'mala.« Seiya überlegte wieder, bevor sie einen Entschluss fasste. »Machen wir es so: Ich stelle dir einen erfahrenen Begleiter zur Seite, der dir die Sehenswürdigkeiten zeigt und dich vor Gefahren bewahrt. Da du mittellos bist, be kommst du darüber hinaus ein großzügiges Taschengeld zur Verfü gung gestellt, damit du dir kaufen kannst, was dein Herz begehrt.« As'mala wusste, dass die Prinzessin es nur gut mit ihr meinte, wenn sie ihr eine Begleitperson mit auf den Weg gab. Darum be gehrte sie nicht weiter dagegen auf, sondern äußerte lediglich einen Wunsch: »Ich möchte vermeiden, von Männern belästigt zu werden. Deswegen wäre es mir lieb, wenn mein Begleiter gleichgeschlecht lich wäre.« Diesen Wunsch erfüllte ihr Seiya. Aber wenn As'mala glaubte, dass sie es mit einer femininen Altersgenossin zu tun bekommen würde, da hatte sie sich gewaltig getäuscht. »Ich bin Vosinna, deine Gesellschaftsdame«, stellte sich ihre Auf passerin lachend vor. »Ich soll dich auf deiner Exkursion durch Mandiranei behüten.« Vosinna war ein Schrank von einem Weib, einen halben Kopf grö ßer als As'mala und doppelt so breit. Sie hatte Oberarme, so dick
wie As'malas Schenkel, ein Gesicht wie eine geschnitzte Riesenkar toffel und Brüste so groß wie Kindsköpfe. Ja, und ihr Lachen klang wie das Geheul eines Blutdrachen. Sie trug eng anliegende Hosen und eine Bluse, die ihre muskulöse Gestalt unterstrichen, und einen knielangen und ärmellosen Umhang, der vorn offen war. »Sehr erfreut, Vosinna«, sagte As'mala und lehnte es ab, den ange botenen Händedruck zu erwidern. »Wann stürzen wir uns ins Ver gnügen?« Vosinna klatschte in die Hände, dass es As'mala fast das Trommel fell zerriss. »Meinetwegen kann es sofort losgehen!« * Vosinna hatte einen Doppel-Passierschein für sie beide, dessen zwei Teile durch eine Perforation zusammengehalten wurden. Ein Detail das sich As'mala merkte, weil es möglicherweise noch von Wichtig keit sein konnte. Sie nahm sich vor, überhaupt sehr aufmerksam zu sein, bei allem, was Vosinna betraf. Am Ausgang des Palastbereiches ließen sie die Torwachen bei Vorweisen dieses Papiers anstandslos passieren. Hinter dem Tor herrschte buntes Treiben. As'mala hatte das Gefühl, hier am Puls schlag des Lebens zu sein. In dem dichten Gedränge drohte sie ein paar Mal, erdrückt zu werden. Aber Vosinna verschaffte ihr immer wieder Luft. An einem Seiteneingang standen unzählige Menschen Schlange. Dazu erklärte Vosinna, dass sie alle Bittsteller waren, die aus den verschiedensten Gründen beim König vorsprechen wollten. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass König Leeon noch zu großen Entscheidungen fähig ist«, meinte As'mala. »Deine Meinung – die du besser für dich behältst«, mahnte ihre Begleiterin. »Du hast zwar nicht ganz Unrecht, aber es ist so: Im Zweifelsfall entscheidet Königin Randra eben im Namen des Kö
nigs.« Überall waren Händler unterwegs, die den Vorbeikommenden ihre Waren andrehen wollten. Bettler lungerten an den Tunnelwän den ebenso herum wie zwielichtige Gestalten, denen As'mala auf den ersten Blick ansah, dass sie Halsabschneider waren; Taschendie be, Betrüger und Mordbuben. Immer wieder wurden ihnen die verschiedensten Abwehrmittel gegen »Gesindel mit übernatürlichen Fähigkeiten« angeboten. Wie etwa psibegabte Tiere, die bei Annäherung eines solchen Bösewichts Alarm schlugen. Amulette, die sich bei Gefahr in Verzug verfärbten. Muscheln aus dem See Mandiranei, die zur Vorwarnung Sirenenge heul von sich gaben, oder gar Helme, die vor jeglicher Beeinflussung schützen sollten. »Wie schützt man sich in den Gängen von Mandiranei denn tat sächlich vor Dieben und anderen Halunken?«, erkundigte sich As' mala unschuldsvoll. »Am besten durch Einnahme bestimmter Arzneien, die taub und blind gegen jegliche Beeinflussung machen«, meinte Vosinna und fügte mit dröhnendem Lachen hinzu: »Und indem man seine Son nen und Kristalle an unerreichbarer Stelle des Körpers aufbewahrt.« »Zwischen den Beinen?«, fragte As'mala. Vosinna verneinte grölend, winkelte die Linke ab und meinte: »Unter der Achsel! Wer da hinlangt, den quetsche ich ein und bre che ihm die Hand.« Dieses Versteck war für As'mala leicht zu merken. »Und – hast du denn Kristalle bei dir?«, erkundigte sie sich hoffnungsvoll. »Wo denkst du hin!«, rief Vosinna belustigt aus. »Für deine An sprüche sollten Sonnen und ein paar Goldstücke reichen.« Immerhin bin ich der Prinzessin einige Goldstücke wert!, dachte As'ma la zufrieden. Sie waren ein so seltsames Paar, dass sie überall, wohin sie kamen, Aufsehen erregten. As'mala konnte sich nicht vorstellen, dass sich ir
gendein Gelegenheitsdieb mit Vosinna einlassen wollte. Schon ihr Anblick war abschreckend genug. Aber so sicher sie sich in ihrer Ge genwart fühlen konnte, so lästig war sie ihr auch. As'mala stand nicht der Sinn danach, wie irgendeine Touristin ihre Zeit mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten zu vertrödeln. Was interessierte sie das Grabmal von Abgageo dem Stifter? Oder die Zitadelle von Kakkarog, wo sich die benedeite Jungfrau von Raunstill den Gorgennonz geopfert hatte – zum Wohle von Mandi ranei? Diese Gorgennonz, so erfuhr As'mala, waren Monstren aus dem den Monolithen umgebenden See gewesen, die zu Amphibien mutiert waren und die Monolithen-Stadt gestürmt hatten; die Jung frau von Raunstill hatte mit ihrer übernatürlichen Gabe vorge täuscht, ihr Alpha-Tier zu sein und die Gorgennonz in einen tiefen Schacht gelockt, der in bodenlose Tiefen führte. Durch dieses Opfer hatte sie die Bewohner von Mandiranei gerettet und wurde darum von ihnen verehrt. Solcher und ähnlicher Mumpitz war As'mala so schnurzegal, dass es keine anständigen Worte dafür gab. Aber sie machte gute Miene zum bösen Spiel und ließ sich von Vosinna immer wieder Kleinig keiten um ein paar Halbmonde oder Sonnen kaufen, damit sie her ausfinden konnte, wie der Hünenfrau Geldspender unter der Achsel funktionierte. Aber sie kam hinter kein besonderes System. Das brachte sie zu dem Schluss, dass Vosinna unter der Achselhöhle einen simplen Geldbeutel trug. Sie besuchten auch einige Lokale, wo sie ihren Durst und Hunger stillten. Und jedes Mal suchte As'mala die Toilette auf, um die Ört lichkeiten zu erkunden. Eines dieser Örtchen erwies sich als schlichtweg ideal für ihre Zwecke. Es gab hier neben der eigentli chen Bedürfnisanstalt auch einen Massagesalon, der von einem bul ligen Garrochen betrieben wurde, der es spielend mit Vosinna auf nehmen konnte. Mit diesem unterhielt sich As'mala eine Weile ein gehend und klagte ihm ihr Leid über ein »romantisches Rendez vous«, das sie wegen Vosinna nicht werde einhalten können. Sie ka men überein, dass er ihrer »Gesellschaftsdame« auch gegen deren
Willen eine entspannende Massage zukommen lassen würde, damit As'mala zu ihrer Verabredung mit dem Herzliebsten gehen konnte. »Gibt es in Mandiranei keine Spielhöllen, wo man sein Glück ver suchen könnte?«, erkundigte sich As'mala danach wie nebenbei, als sie wieder unterwegs waren. »Sogar jede Menge«, war Vosinnas Antwort. »Aber es ist uns streng untersagt, in diesen Sündenpfuhl vorzudringen. Dort, im Un tergrund von Mandiranei, der Unterwelt, gedeiht das Übel weitaus mehr als irgendwo sonst auf Less.« Daraufhin musste sich As'mala einen Vortrag über die weise Ent scheidung des noch jungen König Leeon anhören, Glücksspiel, Pro stitution und alle Scharlatanerie in die Tiefen von Mandiranei zu verbannen. Wer sich dort hinunter wagte, tat dies auf eigene Gefahr und stellte sich außerhalb des Gesetzes. »Manche sagen zwar, dass der König damit dem Verbrechen erst Vorschub geleistet hat«, fügte Vosinna hinzu, »aber ich bin ganz sei ner Meinung, dass das Übel isoliert gehört.« Jetzt ein kleines Glücksspielchen …, dachte As'mala sehnsüchtig. Sie entschloss sich, bald zur Sache zu kommen. Einmal standen sie bereits an der Schwelle zur Unterwelt, denn Vosinna befahl ihr in aller Strenge: »Keinen Schritt weiter, sonst bist du dem Bösen verfallen!« Immerhin wusste As'mala ab diesem Zeit punkt, wo sich der Eintritt befand. Danach täuschte sie Erschöpfung vor und äußerte den Wunsch nach einer entspannenden Massage. Vosinna schien das nicht ein mal ungelegen zu kommen, weil sie sich ausrechnen konnte, dass sie, wenn sie As'mala in die Obhut eines anderen gab, dann für eine Weile nicht ihr Kindermädchen spielen musste. Und als As'mala sie sogar zu einem Masseur ihrer Wahl führte, folgte sie ihr nur zu ger ne. Sie erreichten den Massagesalon des Garrochen. »Handle wie abgemacht!«, befahl ihm As'mala. Der Garrochen-Masseur zögerte keine Sekunde lang, griff sich Vo
sinna und warf sie mit spielerischer Leichtigkeit aufs Massagebett, wo er sie festschnallte. As'mala hatte ihr aber zuvor schon zum rich tigen Zeitpunkt unter die Achsel gegriffen und den Geldbeutel an sich gebracht. Sie entlohnte den Masseur doppelt so hoch wie vereinbart und machte sich aus dem Staub. »Was hast du vor, du undankbares Luder?«, wetterte Vosinna hin ter ihr her. »Ich steige hinab in die Unterwelt!«, rief As'mala lachend über die Schulter. * Als As'mala das Tor passierte, war es, als dringe sie in eine andere Welt ein. Hier war es nicht so laut und hektisch wie in den oberen Bereichen, und es herrschte ein diffuses, schattenloses Licht, dessen Quelle nicht zu eruieren war. Eine Gestalt näherte sich ihr von links. Es war kein Mensch, son dern ein skelettartiges Echsenwesen, das sie keinem ihr bekannten Volk zuordnen konnte. »Du bist neu hier?«, zischelte die Echse. »Yoscan kann dich führen. Zu allen verbotenen Freuden, die du suchst.« »Ich suche jemanden«, sagte As'mala, ohne lange zu überlegen. »Sein Name ist Borschkoj. Er ist Mensch. Ein Mann.« »Yoscan wird ihn für dich finden«, versicherte die Echse. »Komm mit … folge mir …« Yoscan ging voran, ohne sich nach As'mala umzusehen. Diese Selbstsicherheit, die schon an Überheblichkeit grenzte, überraschte sie. Aber sie dachte nicht daran, dem Fremden blindlings zu folgen. »Wir vereinbaren einen Treffpunkt«, rief sie der Echse nach. »Was wäre ein beliebter Sammelplatz?«
Yoscan blieb stehen und drehte sich um. Er zischte verwundert, sagte aber zuerst nichts. »Barberors Elysium«, kam es dann verhal ten aus seinem halb geöffneten Echsenmund. »Ich bringe dich hin.« Yoscan ging wieder voran, und diesmal folgte ihm As'mala. Wenn er sie jedoch in irgendwelche dunkle Winkel verschleppen wollte, würde sie nicht mitmachen. Doch das hatte Yoscan nicht vor. Sie kamen in ein großes Gewölbe, aus dem etliche Gänge führten. Daneben gab es mehrere größere Zugänge zu Lokalen. Einer davon trug die rote Leuchtschrift »Barberors Elysium«. »Yoscan kommt wieder«, sagte die Echse, »und bringt für fünf Sonnen Nachricht über Borschkoj.« »Drei Sonnen.« »Vier!« »Abgemacht!« Yoscan verschwand, und As'mala betrat das Barberors Elysium. Im vorderen Teil herrschte normaler Betrieb, im hinteren wurde auf Teufel komm raus gezockt. As'mala bekam einen Platz an einem Kartentisch, nachdem sie ihre Barschaft gezeigt hatte. Das Spiel lief schlecht für sie, weil an diesem Tisch eindeutig falsch gespielt wurde. As'mala hütete sich jedoch, dies laut auszu sprechen. Sie wollte stattdessen aufhören, um nicht alles zu verlie ren. »Du kannst nicht einfach aufhören und damit unsere Runde sprengen«, sagte einer der Spieler, ein Bulle von einem Mann, des sen Gesicht von schwarzen Pigmenten übersät war. »Finde einen Er satzmann, dann kannst du gehen.« As'mala hatte keine andere Wahl, als zu bleiben. Obwohl sie ihre Einsätze äußerst niedrig hielt und kein Risiko einging, verlor sie weiterhin. Glücklicherweise tauchte endlich Yoscan auf und raunte ihr ins Ohr: »Habe Borschkoj gefunden. Folge mir.« »Ich habe eine wichtige Verabredung mit Borschkoj«, sagte As'ma
la, den Namen in der Hoffnung besonders betonend, dass er in die sen Kreisen nicht unbekannt war, und erhob sich. »Borschkoj, sagst du?«, fragte Schrotkorn-Gesicht nach. »Kein anderer!« »In Ordnung. Kannst gehen.« Das zeigte, dass Borschkoj hier unten jemand war, dem man Re spekt zollte. As'mala machte, dass sie so schnell wie möglich wegkam. Vor der Spielhölle stieß sie auf Yoscan, der ihr zuerst die vier Sonnen ab knöpfte und sie dann durch ein Labyrinth von Gängen führte, aus dem sie allein nie mehr herausgefunden hätte. Sie kamen schließlich zu einer Tür, an die Yoscan in einem be stimmten Rhythmus klopfte. Die Tür wurde von einem zwergenhaf ten Mann geöffnet. Er wechselte mit Yoscan einen kurzen Blick, und als dieser nickte, winkte er As'mala herein. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und sie war von absoluter Dunkelheit umgeben. Gleich dar auf verspürte sie an ihrer Rechten den Druck einer kleinen, schwit zenden Hand, die sie mit sich zog. Sie konnte diese Hand, die sie nur widerwillig hielt, aber nicht einfach abschütteln, denn sie war auf ihre Führung angewiesen. Nicht einmal der winzigste Lichtstrahl blinkte auf. Es herrschte ab solute Finsternis. Und ihr ekelte vor der Schweißhand des stummen Zwerges. »Wohin bringst du mich?«, fragte sie. Keine Antwort. Es ging ein paar Stufen in die Tiefe, dann nach links. Der Zwerg blieb stehen, und sie lief auf ihn auf. »Vorwärts«, krächzte der Zwerg und gab As'mala einen Stoß. Sie stolperte mit vorgehaltenen Armen durch die Dunkelheit. Hinter ihr fiel eine weitere Tür ins Schloss. As'mala war gefangen.
* Da war jemand hinter ihr. Sie konnte die Finsternis nicht mit den Augen durchdringen, aber sie spürte die Nähe eines anderen We sens. Es kam geräuschlos näher, nur das Fächeln der Luft verriet ihr die Bewegung. Borschkoj! Zuerst nur geahnt, war sie jetzt sicher. Sie erkannte ihn an seinem Geruch und staunte über sich selbst, wie vertraut er ihr war. Als hät te er ihr seinen Stempel aufgedrückt. Es war Borschkoj, der sich von hinten an sie anschlich. Ihr die Hände auf die Schultern legte. Sie mit dem Gesicht zu sich drehte und sie küsste. Zart zuerst, aber rasch leidenschaftlicher werdend, fordernd. Ihr Gewand fiel wie von selbst zu Boden. Zerrte sie es sich vom Körper, oder streifte Borschkoj es ihr ab? Sie wusste es nicht, war wie in einem Taumel. Während sie seine Lippen noch auf den ihren spürte, wanderten sie gleichzeitig über ihren Hals zu den Brüsten hinab. Die Illusion, die er ihr vermittelte, war perfekt. Obwohl sie wusste, dass er mit seiner übernatürlichen Fähigkeit ihre Sinne narrte, wurde sie von ei nem wilden, ungestümen Rausch erfasst, der das Tier in ihr weckte. Sie wurde zur begehrenden Raubkatze. Borschkojs Lippen waren nun überall gleichzeitig an ihrem Kör per. Er koste damit ihre Brüste, verursachte ihr im Nacken rieselnde Schauer, sie spürte sein Saugen am Nabel und seinen Atem über ih ren Venushügel wehen. Sie öffnete sich ihm schwer atmend. Doch ließ er sie zappeln, spielte mit ihrem Körper wie der Virtuose auf seinem Instrument. Bis er sich dann endlich ihrem Verlangen erbarmte. Es war, als schwebte sie, als trüge sie seine Männlichkeit in den Himmel empor, zu fantastischen Welten in unerklärliche Dimensio nen.
Ihre Hypersensibilität war ganz auf ihn, Borschkoj, fokussiert. In nicht enden wollenden Wellen durchströmte sie sein Atem, sie wur de prickelnd eins mit seinem Körper. Die Wellen eruptierten zu Feu erwerken, eine Explosion folgte der anderen … eine nicht zu enden scheinende Kettenreaktion … Und dann die erlösende Erschöpfung. Borschkoj streichelte sie. Er schien ein Dutzend Hände zu haben. Als wäre er nicht nur ein Liebhaber, sondern mehrere. Sicher, er täuschte ihr das nur vor, jedoch so gekonnt, dass die Illusion perfekt war. »Mann, o Mann«, äußerte sich As'mala begeistert und befreite sich von seinen Polypenarmen. »Wenn mir das Schäferstündchen mit dir entgangen wäre, da hätte ich was versäumt!« * »Wie findest du Prinzessin Seiya?«, fragte Borschkoj. Er lag nackt auf den Bett, As'mala im Arm, die sich in eine Decke gehüllt hatte. Es war kalt im Raum. Auf einem Kästchen neben dem Bett flackerte ein Öllicht. In seinem Schein warf Borschkojs Gesicht Schatten, die ihm ein diabolisches Aussehen verliehen. »Sie ist eben ein verwöhntes Prinzesschen«, meinte As'mala ach selzuckend. »Das wird sich bald drastisch ändern«, sagte Borschkoj und inha lierte den Rauch aus einer glimmenden Dose. Das entlockte ihm einen wohligen Seufzer. Er wollte die Glimmdose As'mala reichen, doch die lehnte ab. »Wie meinst du das?«, wollte sie wissen. »Was führst du im Schil de?« »Ich gar nichts!«, sagte Borschkoj mit Unschuldsmiene und grinste breit. »Es ist Prinz Tainon, der sein Schwesterchen um einen Kopf kürzer machen und selbst den Thron besteigen möchte.«
»Und was hast du damit zu tun?« Borschkoj antwortete mit einer Gegenfrage: »Würdest du mir einen kleinen Gefallen erweisen, As'mala?« »Du kannst alles von mir haben. Ich bin dir verfallen, Borschkoj.« Der Rebell nickte zufrieden. »Ich verlange nicht viel … Nur, dass du mir zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Seitentür des Palastes öffnest.« »Wann?« »Zur Krönung der Prinzessin werden die Palastglocken von ein mal bis zu zwanzig Mal geschlagen. Ich muss bei den Fünf Glocken schlägen in den Palast gelangen. Wirst du mir dabei helfen?« »Wie ich sagte, für dich tu ich alles, Borschkoj. Welche Tür soll es sein?« »Sie trägt die Bezeichnung Arme-Sünder-Pforte, weil die Verur teilten durch sie ihrer Strafe zugeführt werden. Wirst du das Tor für mich öffnen?« »So was ist für mich eine Kleinigkeit. Und was krieg ich dafür?« Borschkoj küsste und streichelte sie – auf seine ganz spezielle Art. Und als er sie schließlich nahm, war sie längst zu mehreren Höhe punkten gelangt. Als das Liebesspiel vorbei war, fiel ihr plötzlich Vosinna ein, und sie hatte es eilig, Borschkoj und die Unterwelt zu verlassen. Als sie den Massagesalon erreichte, hielt der Garroche ihre Auf passerin immer noch gefangen. As'mala hatte Mitleid mit ihr und befahl dem Garrochen, sie frei zu lassen. Doch Vosinna dankte es ihr schlecht. Sie packte As'mala am Hals und schüttelte sie unter Flü chen und Beschimpfungen so lange durch, bis die Abenteurerin das Bewusstsein verlor. Sie kam erst auf Vosinnas Rücken wieder zu sich, als sie von der Hünenfrau Huckepack in den Palastbezirk getragen wurde. Die Hü nenfrau entschuldigte sich allerdings für ihren Wutausbruch, aber As'mala winkte versöhnlich ab und versprach, Prinzessin Seiya
nichts davon zu verraten. Sie waren quitt. Borschkoj und Vosinna, dachte sie frivol. Beide ausprobiert – kein Ver gleich! Nachdem sie wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, suchte sie nach Shanija und fand sie im Archiv – wo denn sonst! Seiya war ebenfalls anwesend, wie passend. Sie zog beide beiseite, um ungestört reden zu können, und berich tete der Prinzessin: »Dein Bruder Tainon plant bei den Fünf Schlä gen der Krönungsglocke ein Attentat auf dich.« Seiya starrte sie ungläubig an. Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein«, sagte sie und wieder: »Nein.« Ihr Kopfschütteln wurde ent schiedener. »Nein, nein, dazu wäre Tainon nie imstande … das wür de er nicht tun! Ich bin seine Schwester …« »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte As'mala. »Ich habe diese Information von einem Helfer Tainons.« »Ich will es nicht glauben!«, beharrte die Prinzessin. Jetzt mischte sich Shanija ein. »Ich würde mich dennoch absichern, Prinzessin«, schlug sie vor. »Nur für alle Fälle.« Prinzessin Seiya dachte nach, dann sagte sie: »Ich werde Tainon auf die Probe stellen. Doch das geht erst kurz vor den Fünf Glocken schlägen. Erst ab diesem Zeitpunkt kann Gorelus die Schatten der Zukunft deuten.«
6. »Du hast Borschkoj getroffen!«, sagte Shanija ihrer Gefährtin auf den Kopf zu. »Ist es nicht so?« As'mala nickte mit anzüglichen Grinsen. »Ich hatte mit ihm den tollsten Sex meines Lebens.« Shanija seufzte. »Und was jetzt, As'mala?«, wollte sie wissen. »Stehst du zu Seiya? Oder hat Borschkoj dich auf seine Seite gezo gen?« »Habe ich Seiya gewarnt, oder nicht?« Shanija machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das besagt überhaupt nichts. Wenn du Borschkoj hörig bist, dann könntest du mit dieser Warnung Seiya auch in eine Falle locken.« Jetzt wurde As'mala wütend. »Was unterstellst du mir eigentlich! Für wie mies hältst du mich?« »Sag mir einfach, dass ich Unrecht habe. Dass du auf Seiyas Seite bist.« As'mala stieß die Luft hörbar aus, als müsse sie Dampf ablassen. Danach beruhigte sie sich ein wenig. »Ich habe gedacht, dass du mich inzwischen besser kennst, Shanija«, sagte sie mit einiger Ent täuschung. »Die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich möchte nicht, dass Seiya etwas zustößt. Ich möchte aber auch nicht, dass Borschkoj zu Schaden kommt.« »Und wie stellst du dir das vor?« »Ich glaube nicht, dass Borschkoj aus Überzeugung gegen Prinzes sin Seiya ist, sondern dass er sich von Prinz Tainon hat kaufen las sen.« »Was für einen Narren hast du nur an dem Kerl gefressen? Als ob das eine Rolle spielte!«
»Wenn ich Recht habe«, fuhr As'mala unbeirrbar fort, »und Borschkoj käuflich ist, dann könnte ihm Seiya ein Angebot machen, das ihn auf ihre Seite bringt. Ich muss deswegen noch einmal mit der Prinzessin reden. Was dagegen?« Shanija zuckte die Achseln. »Für der Weisheit letzten Schluss halte ich deinen Plan nicht gerade. Ich würde lieber einen anderen Weg gehen.« »Der militärische Weg ist hier aber nicht angebracht, glaub mir.« As'mala ließ sich von der Durchführung ihrer Idee nicht abbringen. Sie ersuchten um eine Audienz bei der Prinzessin und wurden so fort vorgelassen. »Was für einen Preis würdest du für dein Leben zahlen, Prinzes sin?«, fragte As'mala direkt. Seiya war etwas irritiert, antwortete jedoch: »Jeden …« »Das wollte ich hören«, sagte As'mala zufrieden. »Gib mir bitte einen Passierschein, damit ich in die Unterwelt gehen kann, um dein Leben zu erkaufen.« Seiya schien immer noch nicht ganz zu verstehen, aber sie ließ für As'mala den Passierschein ausstellen. Shanija begleitete die Gefährtin bis an die Grenze des Palastberei ches und wünschte ihr zum Abschied gutes Gelingen. »Ich sage dir, du machst einen Fehler, As'mala. Aber ich vertraue dir trotzdem … und dass es kein böses Erwachen für dich gibt.« »Das ist ein Wort!« Ihre Gefährtin zeigte ein breites Grinsen, wur de aber sofort wieder ernst. »Falls die Prinzessin zur Flucht gezwun gen wird, müsst ihr die Arme-Sünder-Pforte wählen. Ich werde da sein.« * Nachdem sie As'mala verabschiedet hatte, suchte Shanija wieder die Prinzessin auf. Die war gerade im Thronsaal vor versammeltem
Hofstaat bei Proben für das Krönungszeremoniell. Ein Hauptmann der Garde wollte Shanija nicht passieren lassen. Doch sie machte sich durch auffällige Gesten Seiya bemerkbar. Die Prinzessin bat um eine Pause und kam zu Shanija. »Haupt mann Korlenon«, wies sie den Gardemann zurecht, »diese Frau ist Shanija, die Vertrauensperson, die ich erwähnt habe, und sie darf immer passieren.« »Sehr wohl, Königliche Hoheit!« Katzbuckelnd trat der Mann zu rück. Seiya nahm Shanija beiseite und zeigte ihr den Thronsaal. »Siehst du den dünnen, blassen Mann in Gelb, der sich mit dem Bärtigen aus dem Weisenrat unterhält?«, fragte sie, und als Shanija bestätigte, fuhr sie fort: »Das ist mein Bruder Tainon. Sein Gesprächspartner ist Weisenrat Amphortor. Vermutlich ist er an dem Komplott beteiligt – sofern ein solches überhaupt geplant ist.« »Wir müssen in jedem Fall Vorkehrungen zu deinem Schutz tref fen«, sagte Shanija. »Noch besser wäre es, deinen Bruder sofort fest nehmen und verhören zu lassen.« »Kommt nicht in Frage!«, lehnte Seiya ab. »Ich muss mir zuerst Gewissheit über Tainons Gesinnung verschaffen. Erst wenn ich ihn des Verrates überführen kann, werde ich ihn zur Rechenschaft zie hen.« »Das könnte zu spät sein …« »Besprich dich mit Hauptmann Korlenon. Er ist über alles infor miert.« Seiya rauschte in ihrem schweren Prunkgewand zurück in den Thronsaal. In diesem Moment schlug die Krönungsglocke zum ersten Mal an. »Wir sollten uns unterhalten, Hauptmann«, wandte sich Shanija an den Gardeoffizier. »Ich weiß Bescheid. Folge mir!«, verlangte Hauptmann Korlenon knapp. Er führte Shanija in einen leeren Mannschaftsraum. »Welche Maßnahmen hast du zur Sicherheit der Prinzessin getrof
fen?«, wollte Shanija wissen. Der Hauptmann entrollte eine große Wandkarte, die den Palast als Risszeichnungen in mehreren Perspektiven zeigte. Er deutete auf ei nige rot markierte Punkte. »An all diesen neuralgischen Punkten werden Truppen von Gardisten abgestellt, alle bestens gerüstet und bewaffnet. Damit sind sämtliche Zugänge gesichert. Von welcher Seite die Putschisten auch kommen, wir werden ihnen einen heißen Empfang bieten und sie aufhalten, bis Verstärkung eingetroffen ist.« Der Hauptmann wies auf blaue Markierungen, wo seiner Aussage nach größere Kontingente von königlichen Soldaten stationiert wa ren. Er führte des Weiteren aus, dass die königliche Familie bei Alarm augenblicklich in ein Geheimversteck gebracht werden sollte, das er Shanija allerdings um keinen Preis verraten wollte. Shanija stellte noch verschiedene Detailfragen, war aber insgesamt mit den getroffenen Sicherheitsmaßnahmen zufrieden. Schließlich musste der Gardeoffizier, als Kenner der Örtlichkeiten, am besten wissen, welche Handlungen die effizientesten waren. Danach machte der Hauptmann mit Shanija einen Rundgang durchs Schloss und zeigte ihr die geplanten Positionen der Soldaten. »Wann sollen die Wachen stationiert werden?«, wollte Shanija wissen. »Kurz vor den Fünf Schlägen der Krönungsglocke«, war die Ant wort. »Warum so spät?« »Um die Putschisten nicht zu warnen.« Diese Antwort leuchtete ein. Wie zur Unterstreichung dieser Aussage schlug die Krönungsglo cke zwei Mal. *
Zuerst war es Shanija, als stünde die Zeit still, dann schlug die Krö nungsglocke plötzlich vier Mal. Nun wurde die Zeit auf einmal knapp. Seiya hatte die Proben für die Inthronisierung längst beendet, und Shanija hoffte, dass sie ihren Rat beherzigt und saloppe Kleidung angelegt hatte. Denn sie mussten mit allem rechnen, auch damit, dass alles nur ein Fehlalarm war. Aber das erschien Shanija als zu schön, um wahr zu sein. Die Atmosphäre knisterte vor Spannung. Unheil lag in der Luft. Shanija spürte es, gerade so, als verleihe ihr die Sonnenkraft, die sie angeblich in sich trug, die Gabe, drohende Ereignisse vorher zu erahnen. Shanija konnte sich im gesamten Palastbereich ungehindert bewe gen. Pong, den sie im Ausschnitt stets sichtbar trug, war ihr Erken nungszeichen und Permit zugleich. Das hatte Seiya so verfügt. Noch einmal schritt sie die neuralgischen Punkte ab, die Haupt mann Korlenon mit Soldaten besetzen wollte. Noch waren nirgends Wachen stationiert. Darum suchte Shanija den Hauptmann in dem Mannschaftsraum auf, von wo er das »Unternehmen Schattenspie ler«, wie Seiya die Aktion nach Gorelus benannt hatte, leitete. Als Shanija eintraf, hatte der Hauptmann gerade Besuch von ei nem Weisenrat. Sie erkannte ihn sofort. Es war jener Weisenrat, mit dem sich Prinz Tainon im Thronsaal unterhalten hatte. Bei ihrem Eintreffen verabschiedete sich der Mann. Sie ließ sich nicht anmer ken, dass sie ihn erkannt hatte. Sie wusste nun, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte. Nun mussten sie mit dem Schlimmsten rech nen … »Wann schickst du die Wachen auf ihre Posten?«, wollte Shanija von Korlenon wissen. »Nicht zu früh«, antwortete der Hauptmann unwirsch. »Sie stehen auf Abruf bereit. – Ich kann es übrigens nicht leiden, von Fremden kontrolliert zu werden. Schon gar nicht von Frauen.«
»Es geschieht zum Wohle der Prinzessin.« Nachdem Shanija den Mannschaftsraum verlassen hatte, begab sie sich zu Prinzessin Seiya. Sie war froh, dass die Prinzessin ihren Rat befolgt hatte und das Festkleid gegen einen Hosenanzug aus gro bem, widerstandsfähigem Tuch getauscht hatte. Statt Sandalen trug sie feste Stiefel. Ein Dutzend Gardesoldaten waren zu ihrem persönlichen Schutz anwesend; sie standen mit den Gesichtern zur Wand. Der Gnom Go relus saß in einem Hochsitz und schien vor sich hinzudösen. »Bin ich nicht ein folgsames Mädchen?«, sagte Seiya kokett und drehte sich im Kreis. »Ich fürchte, du wirst diese Kleidung für die Flucht bitter nötig ha ben«, sagte Shanija ernst. »Es gibt Verrat auf allen Linien.« Prinzessin Seiya blieb weiterhin unbekümmert. »Jetzt wird sich bald alles als Seifenblase erweisen«, erklärte sie voller Überzeugung. »Mein Bruder will mich mit den Eltern in den königlichen Gemä chern treffen. Er hat uns eine wichtige Eröffnung zu machen, wie er sich ausgedrückt hat.« »Es wäre besser, du würdest diesem Treffen fernbleiben«, riet Sha nija. »Ich muss erfahren, was an der Beschuldigung gegen meinen Bru der dran ist!« »Dann nimm wenigstens Gorelus mit.« »Das habe ich sowieso vor. Ich mache keinen Schritt ohne ihn.« Sie hob den Gnom liebevoll hoch und drückte ihn zärtlich an sich. »Und die Eskorte soll dich begleiten.« »Was bist du nur für eine Schwarzseherin, Shanija.« Die Prinzessin seufzte vernehmlich, lachte aber sofort wieder. »Aber ich hab etwas für dich, das dir gefallen wird.« Sie nahm einem der Gardisten eine Schatulle ab und klappte sie für Shanija auf. Das Kästchen war bis oben mit Edelsteinen, Gold und Sonnen gefüllt. »Mein Leben wäre mir noch mehr wert«, sagte
sie dabei. »Aber glaubst du, dass dieser kleine Schatz reichen wird?« »Ganz bestimmt«, versicherte Shanija. Der Inhalt des Kästchens war sicher mehr, als Borschkoj in seinem ganzen bisherigen Leben besessen hatte. Diesem Vermögen würde er nicht widerstehen kön nen. Falls As'mala Recht hatte. Ein Bote traf ein und richtete der Prinzessin aus, dass der König und die Königin sie in ihren Gemächern erwarteten. Es war kurz vor den Fünf Schlägen der Krönungsglocke. Sie brachen auf. Die Prinzessin, mit Gorelus auf dem Arm, ging voran, ihr dichtauf folgte Shanija. Dahinter kam die Eskorte, ein Dutzend Gardesoldaten, mit Lanzen und Schilden und Kurzschwer tern bewaffnet. Auf ihrem Weg kamen sie auch an zwei Posten vorbei, die Haupt mann Korlenon eigentlich mit Wachen hätte besetzen sollen. Aber es war weit und breit kein Soldat zu sehen. Shanija hätte diese Bestätigung ihres Verdachts nicht mehr benö tigt, aber sie wies Seiya darauf hin und wandte sich an die Gardis ten: »Was immer passiert, ihr habt einzig und allein das Leben der Prinzessin zu beschützen. Verstanden?«, Sie erreichten den persönli chen Bereich des Königs. Die Wachen öffneten sofort eine Doppel tür. Dahinter erwartete sie das Königspaar, auf einem Doppelthron sitzend, und Prinz Tainon, der lässig an der Seite des Königs lehnte. In seinen Augen lag ein Ausdruck des Triumphs. Er hatte die Rechte im Gürtel untergehakt, in Griffweite seines Dolchs. »Dein Bruder hat uns eine wichtiger Eröffnung zu machen«, ver kündete König Leeon zu Seiyas Begrüßung. Prinzessin Seiya achtete nicht auf ihren Vater, sie ignorierte auch ihren Bruder. Stattdessen hob sie den Gnom Gorelus auf ihrem Arm hoch und flüsterte ihm etwas zu. Daraufhin tauchten im Rücken des Königspaars und des Prinzen Schatten auf und begannen sich allmählich zu festigen. Schließlich waren nur noch zwei Schatten übrig: Prinz Tainons und Seiyas.
Das Schattenspiel simulierte einen Streit zwischen den beiden, ob wohl sie in der Realität selbst ganz ruhig standen. Es hatte etwas Ge spenstisches, Unheimliches an sich, auch weil der Streit der beiden Schatten völlig lautlos ablief. Plötzlich zückte Tainons Schatten einen Dolch und stach damit auf Seiyas Schatten ein. Immer wieder … fünf Mal … zehn Mal … Der Gnom Gorelus zeigte mit seiner ungewöhnlichen Fähigkeit auf, was passieren würde, wenn man den Dingen ihren Lauf ließ. Prinzessin Seiya schrie vor Entsetzen auf. »Was hast du denn, Schwesterherz?«, fragte der Prinz in gespielter Besorgnis und wollte auf sie zukommen. »Keinen Schritt weiter!«, befahl Seiya. Sofort stellten sich zwei Gardisten vor sie und bedrohten Prinz Tainon mit ihren Lanzen. Der zuckte erschrocken zurück. »Verriegelt die Tür!«, befahl Shanija diesmal, und zwei Soldaten liefen zum Eingang und versperrten ihn. »Du wirst mich nicht töten!«, schleuderte die Prinzessin ihrem Bruder entgegen. »Ich könnte Gleiches mit Gleichem vergelten, aber ich besudle mich nicht mit Blut.« »Aber Seiya … Schwester …«, versuchte Tainon Unschuld vor zutäuschen. Seiya zeigte auf die Wand hinter ihm, wo der Schatten des Prinzen in ständiger Wiederholung auf seine Schwester einstach. »Sieh die Botschaft des Schattenspielers. Schau nur genau hin!« Der Prinz drehte sich um, ebenso der König und die Königin. »Nichts wie weg von hier!«, sagte Shanija, und Seiya nickte stumm. Sie übergab den völlig erschöpften Gorelus einem der Sol daten, dann liefen sie los. Hinter ihnen war ein Krachen und Poltern zu hören, als die Solda ten des Prinzen die Tür eintraten. »Lasst sie nicht entkommen!«, hörten sie den Prinzen rufen. »Eine Handvoll Sonnen für ihren Kopf!«
»Das«, fand Shanija in einem Anflug von Galgenhumor, »ist ein er bärmlich geringes Kopfgeld! Was für ein Geizhals!« Seiya steuerte auf eine Wandtäfelung zu. Sie betätigte einen gehei men Hebel, und ein Stück der Wand glitt zur Seite. »Da hinein!« Als acht Gardisten im Geheimgang verschwunden waren, befahl sie dem Rest: »Haltet die Verfolger auf!« Shanija blieb dicht bei ihr, als sie durch die Geheimtür gingen, die Seiya von innen wieder verschloss. Zwei der Soldaten entzündeten Fackeln. Shanija empfand Bewunderung für Seiya, dass sie trotz ih rer Skepsis an alles gedacht hatte. »Wenn du mich eingeweiht hät test, hätte ich mir weniger Sorgen gemacht.« »Ich weiß. Tut mir leid, aber ich habe mit niemandem darüber ge redet.« Was im Grunde nur vernünftig gewesen war, wie Shanija unum wunden zugeben musste. »Jetzt sind wir erst einmal in Sicherheit«, sagte Seiya erleichtert, während sie sich in dem schmalen Gang nach vorn drängte. »Kann man durch die Geheimgänge auch zur Pforte der Armen Sünder gelangen?«, erkundigte sich Shanija. »Die geheimen Gänge führen zu jedem Punkt des Palastes – und etliche darüber hinaus.« »Dann bring uns zu dieser Pforte«, verlangte Shanija. »Denn dort wartet As'mala auf uns.« Hoffentlich!, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie wanderten scheinbar endlos durch schmale Gänge, krochen treppauf und treppab, zwängten sich durch enge Öffnungen und mussten sich Spinnen, Ratten und anderer Schädlinge erwehren. Endlich hielt Seiya an. Sie deutete auf eine scheinbar massive Holzwand. »Dahinter liegt die Arme-Sünder-Pforte, aber es wäre zu gefährlich, draußen zu warten. Es gibt jedoch ein Guckloch, durch das man alles beobach ten kann.« »Das genügt«, sagte Shanija und nahm den Beobachtungsposten
am Guckloch ein. Doch von As'mala und Borschkoj war vorerst nichts zu sehen. »Wie lange sollen wir denn noch ausharren?«, erkundigte sich Prinzessin Seiya nach geraumer Weile ungeduldig. »Ich möchte As'mala nicht im Stich lassen, außerdem müssen wir abwarten, wie die Rebellion verläuft«, sagte Shanija. Es gab aber noch einen weiteren Grund, warum Shanija sich in Geduld übte. Und dieser hieß Borschkoj. Eines war nämlich sicher – sie waren in nerhalb des Monolithen ihres Lebens nicht mehr sicher. Sie mussten aus Mandiranei fliehen. Und Borschkoj war der Einzige, der ihnen behilflich sein konnte … falls As'mala ihn für ihre Zwecke hatte kau fen können. Und falls er nicht geflunkert hatte, dass er den Weg kannte. Die Krönungsglocke schlug bereits sechs Mal. Shanija hatte die Hoffnung fast aufgegeben, As'mala je wiederzusehen. Da sah sie durch das Guckloch, wie sich die Pforte öffnete und As'mala und Borschkoj hindurchtraten. In den leuchtenden Augen ihrer Gefähr tin las sie den Grund, warum sie sich dermaßen verspätet hatte, und ihr Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. Im Stadtstaat herrschte Revolution, und As'mala vergnügte sich! »Aufmachen!«, befahl Shanija. As'mala und Borschkoj staunten nicht schlecht, als sich die Wand vor ihnen unvermittelt auftat und sie sich Shanija gegenübersahen.
7. As'mala hielt die Neuigkeiten nicht lange zurück: »Überall herrscht das reinste Chaos. Prinz Tainon stellt alles auf den Kopf, um seine Schwester zu finden, auf den Straßen wird gekämpft. Wie es aus sieht, hat der Prinz aber die Mehrheit der Soldaten hinter sich und wird siegen. Das Königspaar hat er in Gewahrsam genommen, heißt es, ihm sei nichts geschehen.« Sie sah Seiya an. »Es tut mir sehr leid, aber du kannst nicht mehr hierbleiben, das wäre dein Todesurteil. Nicht einmal im Untergrund wäre es sicher für dich. Der Kampf ist für dich verloren, aber wenigstens sind deine Eltern am Leben.« Seiya nickte langsam. »Ich musste wohl damit rechnen, dass für mich nur das Exil bleibt«, sagte sie leise. »Spätestens, seit Shanija mir zur Reisekleidung riet …« »Noch ist nicht alles verloren«, sagte Shanija ruhig. »Du musst für eine Weile hier weg, aber das heißt nicht, für immer. Du hast noch ein paar Getreue, und wenn du erst in Sicherheit bist, kannst du dar über nachdenken, was du tun wirst. Jetzt müssen wir schleunigst verschwinden, und damit kommst du wieder ins Spiel, Borschkoj.« »Der Weg durch die Tiefe könnte allerdings auch zu einem Todes marsch werden«, gab Borschkoj zu bedenken. »Das wird kein Spa ziergang. Möglicherweise noch gefährlicher, als wenn Seiya hier bleibt.« Er trug Wams und Kniehose aus Fischhaut, sowie Stiefel aus demselben Material. Unter dem Wams war ein Hemd mit Panzern von Schalentieren zu sehen. Die Armbrust hatte er auf den Rücken geschnallt, die Skorre um den Leib gebunden. Dazu hatte er noch einen Gürtel mit vier Wurfmessern und zwei Kurzschwertern umge schnallt. Seiya schüttelte den Kopf. »Meine Freundinnen haben Recht, ich muss es riskieren. Und wenn du allein durch die Tiefe hierher
durchgekommen bist, werden wir es alle miteinander doch leicht schaffen.« »Das glaube ich auch.« As'mala, die mit zwei Schwertern und Wurfmessern bewaffnet war, wirkte energiegeladen. Ein Duplikat ihres Waffengürtels überreichte sie Shanija. Prinzessin Seiya ließ sich die Schatulle mit dem Schätz reichen und öffnete für Borschkoj den Deckel. »Nimm eine Handvoll als Entloh nung«, sagte sie dabei. »Noch einmal so viel steht dir zu, wenn wir das Ziel erreicht haben.« Borschkoj griff gierig in das Kästchen und langte ordentlich zu – er hatte große Hände. Er schüttete alles in einen Beutel an seinem Gür tel. »Also dann, folgt mir. Der Gang dort führt in die richtige Rich tung, und wenn wir Glück haben, gibt es einen direkten Zugang in die Tiefe.«
Der Abstieg wurde bald beschwerlich. An manchen Stellen ver sperrten herabgefallene Balken und eingestürzte Mauern den Weg, so dass ein kräftiger Soldat vorangehen musste, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Borschkoj, der über einen hervorragenden Orientierungssinn ver fügte, fand mit Seiya zusammen den richtigen Zugang zur Tiefe, ohne dass sie das Netz der Geheimgänge verlassen mussten. Schließlich hielt die junge Prinzessin an und betätigte eine Mecha nik, woraufhin eine hölzerne Wand beiseite glitt. Dahinter tauchte eine riesige Gestalt auf, die sich mit einem infernalischen Kriegs schrei nach vorne stürzen wollte. Doch als sie Prinzessin Seiya erkannte, prallte sie zurück. Es war Vosinna, Seiyas treue Dienerin! »Verzeihung, Prinzessin, ich erwartete Prinz Tainons Leute …« »Schon gut, Vosinna, es ist überraschend, aber es tut gut, dich hier anzutreffen«, sagte Seiya erleichtert und trat hinaus. Sie rief entsetzt:
»Was ist passiert?« Als Shanija durch die geheime Öffnung in den Gang hinaus trat, sah sie, was Seiya meinte. Der Boden war mit Leichen gepflastert, Männer in Gardeuniformen und gemeine Soldaten. »Verräter in Prinz Tainons Diensten haben dir an allen wichtigen Punkten aufgelauert, Prinzessin. Wir mussten uns verteilen, obwohl wir ohnehin nur noch so wenige waren. Irgendwie ahnte ich, dass ihr hier rauskommen würdet, und ging mit. Wir haben die Mistkerle geschlagen, obwohl wir in der Unterzahl waren. Ich bin jedoch die einzige Überlebende.« »Ist gut, Vosinna.« Seiya klopfte ihr den Arm. »Du bist eine will kommene Verstärkung.« Der Gang war hier sehr breit und hoch. An einer Stelle sprühte Wasser von der Decke, das jedoch durch Löcher im Boden wieder ablief. Auf einer Seite versperrte ein großes, eisenbeschlagenes Tor den Weg. »Da geht es in die Tiefe«, erläuterte Borschkoj. »Ein Glück für mich war es damals, dass das Schloss uralt und morsch war, ich konnte die Tür einfach aufdrücken. Hoffentlich ist es nicht ausgewechselt worden.« Gleich darauf stellte er enttäuscht fest, dass das Schloss tatsächlich erneuert worden war und äußerst widerstandsfähig und stabil wirkte. Aber darüber konnte As'mala nur lachen. Schon nach einer Sekunde hatte sie das Schloss geöffnet, und sie zogen die Tür auf. Auf der anderen Seite gab es nach etwa fünfzig Metern eine Eng stelle. »Da müssen wir durch, und zwar schnell«, sagte Borschkoj, der nun das Kommando übernahm. »Denn die Wände sind mit der klebrigen Ausscheidung eines Raubtiers benetzt. Wer zu lange an ei ner Stelle steht, bleibt haften und ist verloren. Und natürlich ver sperrt er dann den Nachfolgenden den Weg.« Er deutete auf Vosin na. »Mit deiner Masse bist du am meisten gefährdet und musst da her den Abschluss bilden.«
Sie knurrte gutmütig und setzte sich an den Schluss. Borschkoj passierte als Erster den Engpass. As'mala blieb ihm auf den Fersen, dann folgten Seiya und Shanija. »Ist das eklig«, beschwerte sich die Prinzessin angewidert und ver gaß beinahe, weiterzugehen. As'mala und Borschkoj waren Shanijas Blicken bereits entschwunden. »Beweg dich, Seiya«, ermahnte Shanija eindringlich. »Wir dürfen nicht ins Stocken geraten, sonst kommen wir nicht mehr von hier weg. Gewöhne dich besser gleich daran, dass die verwöhnten Tage vorbei sind. Zimperlich darfst du nicht mehr sein, wenn du überle ben willst.« Seiya schaffte es schließlich, die Engstelle zu überwinden. Zuletzt brach Vosinna wie ein elementares Ereignis aus der Öff nung hervor. Der Gang verbreiterte sich wieder, und Borschkoj erhöhte das Tempo. Die Gardisten mussten neue Fackeln anzünden, und Borsch koj nahm eine davon an sich. Shanija hörte hinter sich den Gnom Gorelus wimmern, den einer der Gardesoldaten trug. Seiya nahm ihn an sich und redete auf ihn ein. Daraufhin verstummte Gorelus. Über die Wände huschten plötzlich Schatten, die von keinen Licht quellen geworfen wurden. »Was mag das zu bedeuten haben, Borschkoj?«, erkundigte sich Prinzessin Seiya. »Gorelus empfängt Impulse von irgendwelchen Wesen, die er in Schatten umsetzt. Hast du eine Erklärung dafür?« Borschkoj blickte sich im Gehen nach den Schatten um. Sie erin nerten Shanija an vier Meter lange Aale mit flinken Beinen. »Das sind Sharven«, erklärte Borschkoj. »Nehmt euch vor ihnen in Acht. Sie werden euch Trugbilder schicken und versuchen, euch in ihre Gewalt zu bringen, um euch ins Verderben zu ziehen. Sie bewe gen sich unter unseren Füßen durch den Boden. Man kann sie aller dings ziemlich leicht töten, wenn man ihrer Beeinflussung nicht un
terliegt.« Noch während Borschkoj sprach, hatte Shanija den Eindruck, dass sich die Umgebung veränderte. Eine breiige Schlammlawine schien sich von der Seite auf sie zuzuwälzen. Sie schüttelte den Kopf und zwinkerte. Damit konnte sie das Trugbild abschütteln und sah, wie sich vor ihr aus dem Boden ein knochiger Schädel mit weit aufgeris senem Maul erhob. Sie zog eines ihrer Schwerter und trennte den Schädel vom Rumpf. Sofort verschwand der geistige Druck wieder von ihrem Gehirn. Sie konnte klar sehen und erkannte, wie ringsum die Soldaten ver suchten, sich der überall aus dem Boden auftauchenden Sharven zu erwehren. Manche von ihnen stachen mit den Lanzen blindlings in den Boden und hatten teilweise Erfolg damit, denn einigen Einsti chen folgten Schmerzensschreie. Shanija sah aber auch, dass ein Gardist völlig bewegungslos, wie hypnotisiert, dastand. Vor seinem Gesicht pendelte ein knöcherner Sharvenschädel mit aufgerissenem Maul. Plötzlich zuckte der Shar ve nach vorne, das Maul stülpte sich über den Schädel des Soldaten, zog den Mann mit sich und verschwand mit ihm unter dem Boden. Borschkoj hatte seine Armbrust im Anschlag und feuerte Bolzen um Bolzen nach unten. Der Boden rings um ihn erbebte nach jedem Schuss, wurde förmlich von einem getroffenen Sharvenkörper ge sprengt. Und der Gang war erfüllt von den Schreien der sterbenden Kreaturen. Vor Shanija tauchte ein weiterer Sharve auf, und sie spaltete mit einem gewaltigen Hieb seinen Schädel. As'mala stieß ihr Schwert je des Mal in den Boden, wenn dieser sich durch einen angreifenden Sharven zu wölben begann. Und sie traf zielsicher, denn meistens stieß ein waidwunder, zuckender Sharvenkörper durch den Boden, der As'malas Schwert ein leichtes Ziel für den Todesstoß bot. Shanija blickte sich nach der Prinzessin um, die sie schutzlos glaubte. Doch darin irrte sie gewaltig. Seiya stand mit dem Rücken zur Wand, über die lautlos die zuckenden Schatten von Schlangen
ähnlichen glitten. Wenn in ihrer Nähe ein Sharve aus dem Boden brach, löste sich einer der Schatten von der Wand und verschmolz mit der Kreatur, die daraufhin von Krämpfen befallen wurde und zugrunde ging. Das war eindeutig Gorelus' Werk, ein Shanija bisher unbekannter Bereich seiner übersinnlichen Fähigkeit. Das letzte Bild des Kampfgeschehens war der entfesselten Vosinna gewidmet, die die Sharven reihenweise dadurch zur Strecke brachte, indem sie ihnen blitzschnell das Maul mit einer Faust verstopfte und den Körper mit dem Schwert in der freien Hand zerteilte. Dann war der Spuk auf einmal vorüber. Zwei Gardisten hatten im Kampf mit den Sharven den Tod gefunden. »Das war längst nicht die schlimmste Gefahr, der wir ausgesetzt sein werden«, verkündete Borschkoj. * Sie marschierten, bis Seiya Ermüdungserscheinungen zeigte. In ei ner kleinen Höhle machten sie daraufhin Rast, die Borschkoj zuvor auf ihre Sicherheit überprüft hatte. Er hatte auch einige Stücke von zerstückelten Sharven eingepackt und von den Soldaten tragen las sen. Diese briet er jetzt über den Flammen einer Fackel. Prinzessin Seiya weigerte sich zuerst, von den abscheulichen Tieren zu kosten, aber nachdem Shanija ihr versicherte, dass sie genießbar waren und auch gar nicht so schlecht schmeckten, probierte sie zaghaft. Nach dem ersten Bissen konnte sie nicht genug von dem Sharven-Fleisch bekommen. Sie ruhten erst kurz, als Borschkoj wieder zum Aufbruch mahnte. Zuvor gab er ihnen jedoch noch Instruktionen: »Wir kommen bald in ein Gebiet, das ich Strudelfalle nenne«, führte er aus. »Ich habe keine Ahnung, ob es sich dabei um ein auf der Lauer liegendes Tier handelt, oder um ein physikalisches Phänomen. Das ist auch piep
egal. Es zählt nur die Gefahr, die davon ausgeht. An einer Stelle des Weges gibt es keine feste Decke, sondern der Wasserspiegel des Sees spannt sich darüber. Irgendwelche Kräfte sorgen dafür, dass das Wasser nicht herabstürzt. Das bleibt so, so lange absolute Stille herrscht. Doch macht man das geringste Geräusch, bildet sich ein unglaublicher Strudel und saugt einen mit Urgewalt ein. Deshalb heißt das Motto: Absolute Stille!« »Und davor gibt es keine Gefahren, Borschkoj?«, fragte Shanija. »Nicht, dass ich wüsste.« Sie marschierten los. Nach einer Weile hörten sie über sich seltsa me Geräusche. Es klang, als hätte jemand starke Blähungen. Borschkoj packte plötzlich As'mala und rannte mit ihr los; Shanija folgte unverzüglich und zog Prinzessin Seiya mit sich. Im nächsten Moment gab es einen furchtbaren Knall und irgendeine Masse stürz te von der Decke und begrub zwei Gardisten unter sich. Es schien Shanija, als hätte ein riesenhaftes Tier gerade seine Notdurft verrich tet. Doch der stinkende Haufen selbst musste das Tier sein. Denn er zerfloss förmlich und versiegte im Boden. Von den beiden Gardisten aber fehlte jede Spur; sie waren absorbiert worden … »Ich dachte, es gäbe auf diesem Teilstück keine anderen Gefahren als die Strudelfalle!«, hielt Shanija Borschkoj vor. »Diese Gefahr gab es früher auch nicht«, verteidigte sich Borsch koj. »Die Verhältnisse ändern sich hier anscheinend ständig.« Es kam noch einmal zu einem Zwischenfall, der einem weiteren Soldaten das Leben kostete. Von der Decke tropfte Säure in unregel mäßigen Abständen, so dass sie sich im Zick-Zack durchschlängeln mussten. Man konnte sich allerdings ganz gut durch Schilde vor Treffern schützen. Außerdem war es abgesehen von einem unangenehmen Brennen kaum schmerzhaft, wenn man getroffen wurde. Doch alle konzentrierten ihre Aufmerksamkeit darauf, unbeschadet zwischen den Säuretropfen zu tänzeln.
Darum bemerkte auch niemand, wie sich an einer Stelle der scheinbar massiven Wand eine Öffnung auftat, aus der etwas Lan ges, Pulsierendes und Klebriges herausschoss. Es wickelte sich um den Leib eines Gardisten, zog ihn kraftvoll mit sich und verschwand mit ihm in der Öffnung, die sich danach mit schmatzendem Ge räusch wieder schloss. Borschkoj blickte herausfordernd zu Shanija. Diesmal sie konnte sie ihm keinen Vorwurf machen. Über diese Gefahr konnte er nicht Bescheid gewusst haben, denn die »Chamäleonzuge« hätte ihn ge nauso treffen können. Der Mann blieb unvermittelt stehen und drehte sich um. »Ab jetzt absolute Stille!«, verkündete er und setzt sich wieder in Bewegung. Er ging auf den Zehenballen, wie auf rohen Eiern, dachte Shanija. Der Boden wurde weich, so dass man sich völlig lautlos vorwärts bewe gen konnte. An manchen Stellen gab es jedoch sumpfige Pfützen, denen man ausweichen musste. Würde man hineintreten, gäbe es ein schmatzendes Geräusch … Prinzessin Seiya hatte wieder Gorelus auf den Arm genommen, weil er leise wimmerte. Ihre Umarmung wirkte beruhigend auf ihn, so dass er verstummte. Auch der Gnom schien zu wissen, obwohl er scheinbar vor sich hindämmerte, worauf es ankam. Es herrschte eine unheimliche Stille, die so vollkommen war, dass man die berühmte Stecknadel auf den Boden fallen gehört hätte. Shanija blickte zur Decke hoch, die über ihr noch geschlossen war. Aber weiter vorn gab es eine helle, gläsern wirkende Stelle, die bläu lich schimmerte. Je näher Shanija kam, desto deutlicher wurde, dass es sich um eine Wasseroberfläche handelte, auf die die Schwerkraft aus irgendeinem Grund verkehrt wirkte. Der Boden wurde sumpfiger, und es kostete Mühe, von einer trockenen Stelle zur nächsten zu gelangen – und zwar lautlos! Wenn jetzt einer einen Niesanfall bekommt, sind wir alle erledigt, dachte Shanija. Und hoffte in Gedanken gleichzeitig, dass auf so banale
Weise keiner von ihnen den Tod finden würde. Wenn schon, dann Heldentod!, war der Leitspruch der Weltraumsoldaten. Shanija gelangte jetzt in den Bereich der Strudelfalle. Angespannt setzte sie einen Fuß vor den anderen. Plötzlich fiel aus dem Wasser dach ein Gegenstand herab und schlug eine Armlänge von Prinzes sin Seiya entfernt ein. Es war eine große Muschel, die ein klatschen des Geräusch verursachte. Seiya zuckte erschrocken zusammen, ver ursachte aber kein Geräusch. Wieder fiel etwas aus dem Wasserdach und sorgte für Wellenkrei se, die sich in der über ihnen liegenden Wasserfläche ausbreiteten. Diesmal war es ein skelettierter Fischkopf. Was immer da oben lauerte, hatte vermutlich eine Bewegung im Tunnel festgestellt und machte jetzt die Probe aufs Exempel. Es regnete nun immer öfter Gegenstände herab, alle möglichen Skelette, aber auch Steine. Die Aufprallgeräusche, die sie verursach ten, lösten keine Reaktion aus. Doch wenn sie einen von ihnen ge troffen hätten, wäre das wie ein Alarmsignal für den oder das über ihren Köpfen Lauernde gewesen, davon war Shanija überzeugt. Borschkoj und As'mala hatten fast schon die andere Seite erreicht. Auch Shanija und Seiya waren bald in Sicherheit. Da begann sich Gorelus zu bewegen. Gleich darauf zauberte er wirbelnde Schatten an die Wand. Shanija erkannte sofort, was diese darstellten: Er proji zierte eine in Aktion befindliche Strudelfalle! Das konnte nur bedeu ten, dass das Unheil in Bälde über sie hereinbrechen würde! Während Shanija noch überlegte, ob sie den anderen eine War nung zurufen sollte und damit das Unheil auslösen würde, handelte Vosinna. Die Hünenfrau hatte sich zurückfallen lassen und stand nun allein im Zentrum des Wasserdaches. Auch sie hatte Gorelus' Warnung gesehen und richtig gedeutet. Jetzt rief sie mit donnernder Stimme: »Lauft Leute, lauft! Rennt um euer Leben!« Shanija, ohnehin fast aus dem Gefahrenbereich, sprintete sofort
los, umfasste dabei Seiyas Körper und nahm sie mit sich. Mit der si cheren Felsendecke über sich, drehte sich Shanija um. Sie sah, wie sich eine Wasserhose über Vosinna bildete und sich rasend schnell auf sie herab senkte. Der Wasserwirbel erfasste sie und schloss sie ein. Shanija sah, wie Vosinnas Gestalt wirbelnd em por gerissen wurde und verschwand. Es gelang noch zwei Gardisten, dem Wasserstrudel zu entrinnen. Einer davon war jener, der das Schatzkästchen trug. Die anderen verschwanden in den tosenden Wassermassen. »Warum hat dieser weibliche Koloss denn geschrien?«, ärgerte sich Borschkoj. »Sie hat nur auf Gorelus' Vision reagiert, mit der er das Unglück voraussagte«, erwiderte Prinzessin Seiya. »Wer weiß, ob damit nicht erst ausgelöst wurde, was dein Gnom prophezeite«, hielt Borschkoj Seiya vor. Shanija fragte sich, ob es tatsächlich so gewesen sein konnte, wie Borschkoj es darstellte. Es war jedenfalls ein interessanter Aspekt, ob man mit der Prophezeiung einer Katastrophe diese nicht erst recht auslöste. Wenn Gorelus geschlafen und keine Vision von sich gege ben hätte – wäre es dann möglicherweise gar nicht zu dem Desaster gekommen? Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Ein sinnloses Dre hen, wie der Hund, der dem eigenen Schwanz nachjagt. Da Prinzessin Seiya über Müdigkeit und Schmerzen in den Beinen klagte, machten sie Rast an einer Stelle, hinter der sich der Tunnel dreifach teilte. »Wie lange noch bis zum Ausstieg aus der Hölle?«, wollte Shanija wissen. »Drei Viertel des Weges haben wir hinter uns«, sagte Borschkoj unwirsch. »Aber glaub nicht, dass das letzte Stück ein Spaziergang wird.«
8. As'mala wartete eine Gelegenheit ab, um Borschkoj unbeobachtet zuraunen zu können: »Wie steht's um deine Libido? Wird sie durch die Gefahr angeregt, oder ist sie eingeschlafen?« »Weck nicht das Tier in mir«, erwiderte Borschkoj gepresst. »Oh, zeig mir das Tier. Hier wird es doch irgendwo ein Plätzchen geben, wo wir ungestört sein können …« Borschkoj nickte. Er tat sehr geschäftig, dann erhob er sich, zünde te eine der Fackeln an und verkündete: »Ich bin mir über die weitere Streckenführung nicht ganz im Kla ren. Darum werden As'mala und ich auf Erkundung gehen. Oder gibt's da irgendwelche Einwände?« »Ihr werdet doch hoffentlich zurückkommen?«, meinte Shanija scheinbar scherzhaft, mit einem besorgten Blick auf As'mala. Dieser wurde klar, dass Shanijas Besorgnis nicht gespielt war. »Ich wäre schön dumm, würde ich auf die zweite Hälfte meiner Belohnung verzichten«, sagte Borschkoj. »Überhaupt jetzt, wo wir das Freie bald erreicht haben.« »Wir werden wiederkommen«, versicherte auch As'mala. »Und wenn ich Borschkoj herprügeln muss.« Sie stieß Borschkoj in die Sei te und folgte ihm zur dreifachen Gabelung des Tunnels. Als die an deren sie nicht mehr hören konnten, fragte sie: »Welcher Tunnel ist der Richtige?« »Der linke«, antwortete Borschkoj und ging in die rechte Abzwei gung. Er blickte sich aufmerksam um, leuchtete in alle Winkel, teste te die Trittfestigkeit des Bodens und klopfte mit dem Schwert die Wände ab. »Ich glaube, hier ist die Luft rein.« Er hatte kaum ausgesprochen, da sprang As'mala ihn von vorne
an und umklammerte mit ihren Beinen seine Hüften. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und saugte sich förmlich an seinem Mund fest, als wolle sie ihn verschlingen. Mehr brauchte Borschkoj nicht, um auf Touren zu kommen … Eine ganze Weile später ließ As'mala erschöpft von ihm ab. Sie verspürte eine große Enttäuschung, weil der Liebesakt nicht so ge wesen war, wie sie ihn sich erhofft hatte. Borschkoj hatte sich nur als ganz gewöhnlicher Liebhaber gezeigt, ohne Pep und Raffinesse. »Warum hast du mir deine Spezialität diesmal vorenthalten?«, fragte sie gekränkt. »Du weißt, wie heiß es mich macht, wenn du mit mir spielst und überall gleichzeitig an mir dran zu sein scheinst.« »Tut mir leid«, entschuldigte sich Borschkoj, »aber es hat nicht funktioniert. Ich bin völlig ausgelaugt und muss meine Fähigkeit erst wieder auftanken.« As'mala erwiderte darauf nichts, obwohl sie seine Antwort als un befriedigend empfand. Sie glaubte ihm nicht, dass er zu ausgelaugt war, um sein Blender-Spiel durchzuführen. Warum belog er sie? Sparte er sich seine Kräfte auf? Sie verließen den Tunnel. Borschkoj meinte, dass er zum Schein auch noch die anderen beiden Tunnel testen müsse. »Mach nur«, sagte sie und kehrte zu den anderen zurück. Sie wa ren nicht mehr viele, sondern ziemlich dezimiert worden. As'mala trauerte am meisten um Vosinna. Sie hatte diesen Koloss von Frau gemocht. »Was glaubst du, As'mala?«, fragte Shanija. »Können wir Borsch koj nunmehr trauen? Hat Prinzessin Seiya ihn auf ihre Seite ge bracht?« »Du meinst, ob sie Borschkoj kaufen konnte«, berichtigte As'mala; sie war noch immer schlechter Laune und wollte das aller Welt zei gen. »Ich würde sagen, dass er unter keinen Umständen auf den Rest seines Lohns verzichten möchte.« »Aber wird er auch seinen Teil der Abmachung erfüllen?«
»Da fragst du ihn am besten selbst. Er hat mir bloß gesagt, dass er sich zu schwach fühlt, den Blender rauszulassen.« Shanija grinste plötzlich. »Ah, verstehe, darum deine schlechte Laune.« »Worum geht es denn?«, erkundigte sich Seiya. »Könnte mich bitte jemand aufklären?« As'mala versicherte der Prinzessin, dass es nichts von Bedeutung sei und es sich nur um eine Privatsache zwischen ihnen beiden handle. Seiya hatte keine Gelegenheit mehr zu insistieren, denn da kam Borschkoj zurück. »Jetzt bin ich sicher, dass wir den linken Tunnel nehmen müssen«, meinte er. * Die beiden verbliebenen Gardisten hießen Ormog und Neimen. Or mog war der Träger des Schatzkästchens, Neimen wurde von Seiya mit der Betreuung Gorelus' beauftragt. As'mala betrachtete den Gnom, während er von dem Soldaten behutsam getragen wurde und fand, dass er sich wieder gut erholt hatte. Sie empfand so etwas wie Bewunderung für den Schattenspieler, andererseits aber auch Mitleid. Es war erstaunlich, über was für Fä higkeiten er verfügte – und wer wusste schon, was noch alles in ihm steckte. Vielleicht hatte nicht einmal Prinzessin Seiya alle Facetten seines Könnens erfahren. Andererseits war Gorelus eine Figur voller Tragik: Auf sich selbst gestellt nicht lebensfähig und daher ständig auf die Liebe und Für sorge anderer angewiesen. Was denn, was denn!, rief sich As'mala selbst zur Ordnung. Was war denn auf einmal mit ihr los, dass sie zu grübeln und zu philoso phieren anfing? Das war doch sonst nicht ihre Art! Leben und leben lassen, war stets ihr Motto gewesen, und jeder musste selbst sehen,
wo er blieb. War das eine Alterserscheinung. Ein Reifezeugnis gar? Der Verlust der Leichtigkeit und Unbekümmertheit? Sie ahnte, dass dies irgendwie mit der Umgebung zu tun hatte und mit Borschkojs ablehnendem Verhalten … Hier unten in der Tiefe war der Tod so allgegenwärtig, dass er einen jederzeit erwischen konnte. Und Borschkoj … nun, der hatte Leben und Tod in der Hand. Von ihm hing letztlich alles ab – ob sie durchkommen oder auf der Strecke bleiben würden. Wenn sie es recht bedachte, waren inzwischen ziemlich viele auf der Strecke geblieben … As'mala versuchte, die schwermütigen Gedanken abzustoßen. Aber das wollte ihr einfach nicht gelingen. Sie war deshalb froh, als Borschkoj eine Warnung durchgab und sie ablenkte: »Vor uns liegt eine Gefahrenzone, in der jeder auf sich selbst aufpassen muss«, ver kündete er. »Es ist im wahrsten Sinne ein Balanceakt, der vor allem Selbstbeherrschung verlangt.« »Was ist denn das?«, rief Shanija dazwischen und deutete nach vorn. Nur einen Steinwurf entfernt endete der Tunnel an einem Ab grund. Über diesen spannten sich einige Bögen von etwa zehn Mannslängen. Jeder Bogen hatte einen Durchmesser von Armlänge und wirkte spröde und brüchig. Darunter war absolute Finsternis – wie ein See aus Schwärze. »Das ist ein Teil des Gerippes des größten Tieres, das jemals auf Less gelebt hat!«, erklärte Borschkoj. »Beeindruckend, nicht wahr? Aber das ist noch nicht alles. Danach müssen wir durch den so ge nannten Echodom. Wer da mit heilem Geist hindurchkommt, wird mit einem unglaublichen Erlebnis belohnt.« »Können diese Bögen uns tragen?«, erkundigte sich Prinzessin Sei ya unsicher. »Als ich sie das letzte Mal bestieg, haben sie noch gehalten«, mein te Borschkoj belustigt. Er wandte sich an Ormog, den Träger der Schatulle. »Willst du nicht lieber mir den Schatz anvertrauen? Wenn du abstürzt, schau ich durch leere Finger.«
Seiya gab ihm durch einen Wink zu verstehen, dass er Borschkojs Wunsch nachkommen solle. Dann wandte sie sich an Neimen und verlangte, dass er ihr Gorelus überlasse. Es war dem Gnom anzu merken, dass er sich in Seiyas Armen geborgener fühlte, und auch die Prinzessin zeigte sich sogleich selbstsicherer, als er sich an sie schmiegte. Was für eine seltsame Symbiose besteht nur zwischen diesen ungleichen Wesen?, fragte sich As'mala und musste sich erneut zur Ordnung ru fen. Das war schon wieder so eine tiefgründige Frage, die hier nicht angebracht war. Borschkoj betrat einen der Rippenbögen und balancierte gekonnt darüber. Der Knochen knarrte und ächzte unter Borschkojs Gewicht, trug ihn aber. Shanija folgte, als Borschkoj die Mitte mit der höchs ten Stelle erreicht hatte. Auch sie hatte keine Mühe, das Gleichge wicht zu bewahren. »Folge du Shanija nach, Seiya«, verlangte As'mala, als der nächste an der Reihe war. Es beruhigte sie, dass auf der anderen Seite Shani ja zu ihrem Empfang bereit stand. Sie winkte auffordernd. Seiya be wegte sich sehr vorsichtig über den Abgrund, blieb immer wieder stehen. Aber sie schaffte es. Erst als Seiya die andere Seite erreicht hatte, folgte As'mala. Sie spürte sofort, dass der Bogen in Schwin gungen geraten war. Und wie er mit jedem ihrer Schritte stärker zu vibrieren begann. Sie rief den beiden Soldaten, die hinter ihr warte ten, eine Warnung zu und beeilte sich, sicheren Boden zu erreichen. Dann drehte sie sich um. Der erste Soldat, der ihr folgte, hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, so stark waren die Schwingungen be reits. Aber auch er schaffte es. Jetzt war nur noch Neimen übrig. Die Schwingungen des Bogens machten ihm offenbar solche Angst, dass er außerstande war, ihn zu betreten. »Geh einfach über den anderen Bogen, Neimen«, rief Ormog ihm zu. Neimen befolgte diesen Ratschlag. Der andere Bogen geriet nicht
in Schwingungen. Neimen kam bis zur Mitte und lachte erleichtert. In diesem Augenblick gab es ein hässliches Geräusch, dann brach der Knochen durch, und der Bogen fiel in sich zusammen. Neimen stürzte in den See aus Schwärze und verschwand darin. »Weiter«, verlangte Borschkoj ungerührt. »Von nun an müsst ihr wieder absolute Stille bewahren. Im Echodom wird jedes Geräusch tausendfach verstärkt.« Der Tunnel weitete sich zu unglaublicher Höhe, und es entstand tatsächlich der Eindruck eines mächtigen Doms. Von der Decke hin gen Tropfsteine, oder wuchsen vom Boden empor. Etliche dieser Stalagmiten und Stalaktiten waren bereits zusammengewachsen und bildeten kompakte Säulen. Die auf einschließlich Gorelus sechs Personen geschrumpfte Grup pe bewegte sich angespannt vorwärts, sehr darum bemüht, nur kein Geräusch zu verursachen. As'mala blickte sich suchend nach möglichen Gefahren um. Da fiel ihr Blick auf einen der herabhängenden Tropfsteine, an dem sich ein Wassertropfen bildete. Drei Mannslängen tiefer gab es eine Pfütze. Unter normalen Umständen war ein fallender Tropfen ein völlig be deutungsloses Ereignis. Aber im Echodom konnte es fatale Auswir kungen haben! Der Tropfen hing immer noch an dem Stalaktiten, aber er hatte schon beängstigende Größe angenommen. As'mala blickte nach vorn. Sie hatten bereits die Mitte der Tropfsteinhöhle erreicht. Sie schritt schneller aus, stieß Shanija und Prinzessin Seiya an und machte sie mit Gesten auf das bevorstehende Ereignis aufmerksam. In diesem Moment löste sich der Tropfen, und As'mala rannte los. Shanija und Seiya folgten ihr auf dem Fuße. Borschkoj begann, nach dem er die erste Überraschung überwunden hatte, ebenfalls zu lau fen. Nur der Gardist Ormog, der gerade eine besondere Formation bewundert hatte, erfasste die Lage nicht schnell genug. Der Tropfen tauchte platschend in die Pfütze ein. Es gab ein schwaches Echo. Irgendwie fing es aber das Echo der trappelnden
Schritte auf und erzeugte ein weiteres, doppelt so starkes Echo, und das Echo dieses Echos verschmolz zu einem weiteren Echo von zu nehmender Lautstärke. Und so ging es weiter, bis der Echodom von einem infernalischen Stakkato unentwirrbaren Rauschens erfüllt war, der die Stalagmiten und Stalaktiten zum Schwingen brachte … Das Sammelsurium von Geräuschen hatte bald eine solche Intensi tät erreicht, dass As'mala meinte, das Trommelfell müsse ihr plat zen. Die Schwingungen des Schalls erreichten ein solches Volumen, dass sie es schmerzhaft körperlich spürte. Ihr Kopf dröhnte von ei nem anschwellenden Hämmern, dass sie meinte, der Schädel würde ihr auseinandergerissen. Sie sah, dass Prinzessin Seiya aus Mund und Nase blutete, ebenso Shanija und Borschkoj. Vermutlich sah sie selbst nicht besser aus. Und Gorelus' Augen quollen auf einmal aus den Höhlen. Es waren nur noch ein paar Meter bis zum Ausgang des Doms. Da zerbrach unter den mörderischen Schwingungen ein herabhän gender Tropfstein. As'mala erreichte in diesem Augenblick den Ausgang. Sie blickte sich um und sah die anderen hinter sich heranstürmen. Nur Ormog war nicht bei ihnen. Er war weit zurückgefallen, be wegte sich nicht mehr. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Sein Schädel blähte sich zu doppelter Größe auf … und platzte. As'mala wandte sich hastig ab, um nicht alle Einzelheiten dieses grauenvollen Bildes sehen zu müssen, schluckte den Brechreiz ener gisch hinunter und bog in einen Seitengang ein. Nach kurzer Zeit herrschte erlösende Stille. Die tödlichen Geräusche des Doms klan gen nur noch schwach und wie aus weiter Ferne. Und bald hörte As'mala gar nichts mehr außer einem Rauschen und Pfeifen, das wahrscheinlich von ihrem Kopfschmerz herrührte. Sie wollte anhalten, nach Seiya sehen, doch Borschkoj setzte den Weg einfach fort, als wäre nichts weiter geschehen. As'mala war sich im Klaren darüber, dass er sie wahrscheinlich nicht hören würde, wenn sie ihm nachrief, denn in ihren Ohren klingelte es immer noch
gewaltig. Hoffentlich war sie nicht endgültig taub geworden! Aber an den Mimiken der Gefährtinnen konnte sie erkennen, dass auch sie nichts hören konnten und darüber erschrocken waren. Sie gesti kulierten eine Weile, was sie tun sollten, doch da war Borschkoj schon fast außer Sicht, und sie folgten ihm wütend.
Nach einer Weile kehrte das Gehör allmählich wieder zurück, und auch der Kopfschmerz ließ nach. Vor ihnen wurde es hell, und Borschkoj trat den Fackelstummel aus. Dadurch wurde der Blick frei auf eine phantastische, glitzernde Kristallwelt, die aus dem Hintergrund von einer fernen Lichtquelle durchflutet wurde. Dieser Schein brach sich in Myriaden Kristallen und wurde von unzähligen Spiegelflächen reflektiert. Ganz be stimmt das einmalige Erlebnis, von dem Borschkoj gesprochen hat te! As'mala hatte ihm schon beinahe verziehen, als sie sah, in welch merkwürdiger Haltung er sich vor ihnen aufbaute, als sie ihn er reichten. Ihr kam ein schrecklicher Verdacht. »Das ist der Vorhof zur Freiheit«, eröffnete er ihnen. »Aber für euch ist hier Endstation.« Gorelus begann daraufhin zu zittern und zu wimmern – und eine Fülle von wirbelnden Schatten ringsum zu werfen. Und zu allem Überdruss begann auch noch Pong zu randalieren. »Ich will sie haben!«, kreischte er, löste sich von Shanija und wiesel te auf ihre Schulter. »Ich will die Kristalle!«
9. Gorelus' Schattenspiele brachen sich wie der Lichtschein in den Kristallen und Spiegelflächen, so dass sie zu fast unkenntlichen Puzzleteilen zerbrachen. »Was redest du da für einen Scheiß, Borschkoj?«, fragte As'mala und wollte sich ihrem Geliebten nähern. Aber kaum hatte sie einen Schritt auf ihn zu getan, war er nicht mehr auf seinem Platz, sondern meldete sich mit einem spöttischen Lachen aus fünf Metern Entfer nung – wo er aber gar nicht zu sehen war. Er wechselte in der Folge ständig den Standort. Während er noch an einer Stelle zu sehen war, ertönte seine Stimme bereits von ganz woanders. Dafür hatte er also beim letzten Stelldichein seine Kräfte aufgespart! »Es ist so, wie ich gesagt habe: Jetzt wird abgerechnet«, sagte er und tauchte hinter einem emporstrebenden Kristall auf. »Leider hat es so lange gedauert, bis ich diese Idioten endlich alle los war. Eine Heidenarbeit und sehr anstrengend für meine Kräfte, einen nach dem anderen durch scheinbare Unglücksfälle verschwinden zu las sen. Aber was tut man nicht alles für seinen Glauben. Ihr wolltet mich kaufen? Aber ich bin nicht käuflich! Ich habe meine Ideale – und mich Prinz Tainon angeschlossen. Ihm gehört meine Treue, ihm habe ich mich mit meinem Leben verpflichtet. Mein Lohn ist nicht in Gold und Edelsteinen zu messen. Das hier«, rief er und hob das Schatzkästchen hoch, »nehme ich bloß als Zubrot.« »Das kannst du nicht ernst meinen«, sagte As'mala. »Du hast ge sagt, du magst mich … wir waren uns ganz nah …« »Zuneigung?« Borschkoj spie das Wort förmlich aus. »Wie könnte ich mehr als Verachtung für dich empfinden! Du bist doch nur eine billige Hure, die jeder haben kann.« Das war zu viel für As'mala. Sie zückte das Schwert und stürzte
sich mit einem Aufschrei auf ihn. Doch ihre Klinge traf nur auf Kris tall. Borschkoj erschien im nächsten Moment links von ihr. As'mala wirbelte herum, aber ihr Schwert traf wieder nur ins Leere. »Lass dich nicht narren, As'mala.« Shanija hatte ebenfalls ihr Schwert gezückt und stellte sich schützend an Prinzessin Seiyas Sei te. »Achte auf die Schatten, die Gorelus projiziert. Sie geben Aus kunft über Borschkojs Standort. Seine Waffen nützen ihm jetzt gar nichts, solange er zu feige ist, sich einem ehrlichen Kampf zu stellen. Wir können rechtzeitig ausweichen, und er kann nicht lange genug verweilen, um zu zielen.« Aber das war leichter gesagt als getan, wie Shanija zugeben muss te. Denn die Schattenbilder, die Gorelus schickte, waren durch die Kristalle verzerrt und zerstückelt. Der Gnom erkannte selbst, wie wenig ihnen seine Fähigkeit nützte und beklagte das mit zitternder Stimme. Shanija glaubte links von sich einen Schatten zu sehen und stieß ihre Klinge hinein. Aber Borschkojs Hohngelächter kam von ganz woanders. Wütend schlug sie nach Pong auf ihrer Schulter. »Willst du nicht endlich was unternehmen?« Gleichzeitig suchte sie mit ge zücktem Schwert und in geduckter Haltung nach Spuren von Borschkoj. »Was machst du da eigentlich?« »Diese Kristalle, kannst du's denn nicht spüren? Diese faszinieren de Ausstrahlung?«, brabbelte Pong mit schriller Stimme. »Ich muss sie haben. Ich brauche sie! Ich will sie jetzt sofort!« »Bist du übergeschnappt?«, schrie Shanija außer sich. Sie glaubte von hinten eine Bewegung zu spüren und wirbelte herum. Im selben Moment dachte sie jedoch an eine Finte von Borschkoj und drehte sich noch einmal um hundertachtzig Grad, um wieder in ihre Aus gangsstellung zurückzukommen. Und jetzt stach sie zu. Ein überraschter Ausruf, dann sagte Borschkoj von anderer Stelle: »Gar nicht schlecht, Shanija. Aber jetzt mache ich Ernst.« Shanija machte einen Ausfallschritt und lief im Zick-Zack um eine Kristallstruktur herum. Sie stieß fast mit As'mala zusammen, die ihr
Schwert gerade wuchtig auf den Riesenkristall niedersausen ließ. Dabei lösten sich unzählige kleine Splitter, die funkelnd durch die Luft wirbelten. Borschkojs Abbild spiegelte sich kurzzeitig darin, und As'mala nahm die Verfolgung auf. Für einen Augenblick brachte sie den Blender tatsächlich in Bedrängnis. »Fang sie mir!«, hörte Shanija Pong fordern. »Diese sind es! Schnell, schnell, bevor's zu spät ist!« Shanija war selbst schon fast dem Wahnsinn nahe; ohne weiter nachzudenken, griff sie im Verlauf von wenigen Sekunden in den funkelnden Splitterregen, fing drei Bruchstücke und drückte sie ge gen Pong. Dieser gab ein jappendes Geräusch von sich, das höchstes Glück ausdrückte. Shanija kümmerte sich nicht weiter darum, sondern rannte an Seiyas Seite zurück. Ihr stockte der Atem. Borschkoj war schneller gewesen, hatte As' mala ausgetrickst und stand jetzt vor Prinzessin Seiya. Er hatte ihr die Hände um den Hals gelegt und drückte zu. Sie wehrte sich fah rig und röchelte. Gorelus versuchte verzweifelt, Borschkojs Hände vom Hals der Prinzessin zu lösen, riss und zerrte, aber darüber konnte Borschkoj nur lachen. Und da ging eine Veränderung mit Gorelus vor sich. Er blähte sich auf wie ein Luftballon und stülpte sich wie eine zweite Haut über Borschkojs Kopf. Nun bekam dieser keine Luft mehr. Er lief blau im Gesicht an und ließ Seiya los. Die Prinzessin taumelte zurück, und Shanija wollte sich mit erho benem Schwert auf Borschkoj stürzen, doch Seiya wehrte schwach krächzend ab. As'mala, die von der anderen Seite herankam, ver harrte ebenfalls. Gorelus umschloss eine immer größer werdende Fläche von Borschkojs Körper. Borschkoj schien am Ende seiner Kräfte. Mit ei ner letzten gewaltigen Anstrengung gelang es ihm dann, Gorelus
abzustreifen. Der bis über seine Grenzen aufgeblähte Zwerg zer sprang wie eine Seifenblase und besudelte die Kristalle in weitem Umkreis. Als sei dies ein Initialfunke, veränderten sich die Kristalle plötz lich, verformten sich zu bizarren Gestalten und formierten sich zu einem Kreis, der die vier Menschen einschloss. Ein groß gewachse ner Mann aus Kristall überragte alle anderen. Er schien so etwas wie der Herr der Kristalle zu sein, der seine Kristallarmee befehligte, denn auf seinen Wink hin rückten sie vor. Zu seinen Füßen eine knurrende Kreatur, wie ein Zerberus. Über all knisterte und knarrte es, während sich die Kristallwesen drohend näherten und den Ring enger zogen. Shanija sah nur noch einen freien Spalt, der aus dem Kreis führte. Doch vor dem Durchgang stand Borschkoj. Das Schatzkästchen hielt er in der einen Hand, das Schwert in der anderen. Er holte zum töd lichen Streich gegen Seiya aus, die wie gelähmt dastand. »Jetzt …«, begann er, während Shanija und As'mala sich gleichzei tig anschickten, sich ihm entgegenzuwerfen. Doch in diesem Moment legte Seiya den Kopf in den Nacken, rief voller Schmerz Gorelus' Namen, und dann … Aus ihrem Mund drang plötzlich eiskalter Nebelhauch. Sie hob den Kopf wieder und hauchte Borschkoj an, der mitten in der Bewe gung – zu Eis erstarrte. Er stand unverändert mit erhobenem Schwert und Schatzkassette da, während sich über seinem Körper Schicht um Schicht Eis bildete. Seiya atmete röchelnd, und ihrem Mund entströmte immer noch eiskalter Dunst, der alles ringsum erstarren ließ, wohin er traf. Auch die bedrohlichen Kristalle verharrten und wurden mit einer Eis schicht überzogen … wurden zu Eis. Als Prinzessin Seiya sie mit dem nächsten Atemzug anhauchte, zerbarsten sie in klirrender Kälte und rieselten als feiner Eisschnee hernieder. Der Weg war frei. Hinter einer Biegung strömte Tageslicht herein – jene Lichtquelle, die diese fantastische Kristallwelt erhellt hatte.
As'mala ließ das Schwert sinken und stolperte auf das Licht zu. Shanija führte Prinzessin Seiya am Arm durch den Tunnel aus Kris tallen. Sie blickte ein letztes Mal hinter sich. Dort stand Borschkoj immer noch in derselben Haltung, in der ihn Seiyas kalter Hauch er wischt hatte. Er würde bis in alle Ewigkeit in dieser Stellung verhar ren. * Begierig atmeten sie die würzige Luft einer blühenden Landschaft ein. Noch konnten sie es nicht fassen, der Hölle der Tiefe entkom men zu sein. Hinter ihnen lagen die Berge mit ihren schroffen, unüberwindli chen Felswänden, die Mandiranei einschlossen. Vor ihnen grüne Hügel mit sanften Hängen, der Horizont vom Abenddunst verhan gen. Die Luft war erfüllt vom Konzert der Insekten und Vögel. Nir gendwo Anzeichen von Gefahr. Keine gefräßigen Raubtiere weit und breit. Und keine Menschen und andere Intelligenzwesen, die ih nen nach Hab und Gut und dem Leben trachteten. Es dämmerte bereits, und der Himmel leuchtete in allen Farben des Spektrums. »Was für ein Idyll«, sagte Shanija inbrünstig. »Wenn man das so sieht, kann man nicht glauben, dass Less irgendwelche Schrecken hervorgebracht haben könnte.« As'mala pflichtete der Gefährtin bei. Sie sah grau und müde aus, voller Schmutz- und Blutspuren. Shanija nahm an, dass sie selbst keinen besseren Anblick bot. Seiya stand abseits, und sie ließen sie in Ruhe mit ihrer Trauer um Gorelus. Pong hatte Shanijas Schulter verlassen, hockte an einem Felsvor sprung in der untergehenden Hauptsonne und spielte verträumt mit den Kristallen.
Shanija musste unwillkürlich schlucken, als sie sah, dass es vier waren, aber sie nahm es für den Moment hin. »Tut mir leid wegen Borschkoj«, sagte sie zu As'mala. As'mala machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nicht das erste Mal, dass ich auf einen Blender hereinfalle.« Sie lachte kurz über ihr Wortspiel. »Ich komme schon drüber weg. Immerhin war nicht alles schlecht, was er getan hat.« Sie grinste anzüglich. »Diese Erinnerung trage ich gern mit mir herum. Es wird anderen künftig nicht leichtfallen, mich zufriedenzustellen …« Shanija schüttelte den Kopf. Dann fragte sie: »Was wirst du jetzt tun?« »Mich bei dir entschuldigen, weil du Recht hattest in Bezug auf Borschkoj, und dich zum Zentralarchiv begleiten, wie ich es verspro chen habe.« As'mala zögerte kurz. »Ist es wirklich so ernst mit der Erde?« »Ja.« »Hier wird in absehbarer Zeit auch etwas Ernstes passieren, habe ich läuten hören. Etwas, das man die Passage nennt. Die einen be haupten, dann wird das System untergehen, die anderen, dass wir das absolute Glück finden werden. Es gibt natürlich noch mehr Theorien.« As'mala rieb sich das Kinn. »Ich weiß nicht, was dran ist, aber für einen Zufall ist mir das alles ein bisschen zu viel.« »Du siehst einen Zusammenhang?«, meinte Shanija zweifelnd. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass deine Anwesenheit gerade jetzt von Bedeutung sein muss, vor allem wegen deiner Sonnenkraft. Ich bin neugierig und will wissen, wie es weitergeht. Ich habe das Zentralarchiv sowieso noch nie gesehen, also ist es die beste Gele genheit, mit dir dorthin zu gehen und nach der Vergangenheit zu forschen. Und … die Zukunft zu sichern. Meine, deine … wie auch immer. Du kannst also weiter auf mich zählen.« »Danke.« Shanija war aufrichtig erfreut. As'mala ging zu Seiya und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Das Leben geht weiter«, versuchte sie die Prinzessin aufzurichten. »Eines Tages, wenn du wieder stark genug bist, wirst du nach Man diranei zurückkehren und dir holen, was dein Bruder dir genom men hat.« »Ach, was ist schon mein Bruder Tainon«, seufzte die Prinzessin. »Er kann mir nicht viel anhaben. Gorelus stand mir viel näher, denn er wurde gleichzeitig mit mir aus meiner Mutter Leib geboren …« Das saß! Shanija und As'mala sahen einander konsterniert an. Darauf wäre im Leben keiner gekommen! »Nun«, meinte As'mala leicht verstört. »Das ist erst recht ein Grund, dir die Königskrone zu holen, die dir zusteht.« »Ja«, sagte Prinzessin Seiya abwesend. »Ich sollte mir von Prinz Tainon zurückholen, was er mir genommen hat.« »Darin werden wir dich nach Möglichkeit unterstützen«, sagte Shanija. »Aber ich denke, bis zu deiner Rückkehr nach Mandiranei wird noch einige Zeit verstreichen. Wenn du willst, kannst du uns zum Zentralarchiv begleiten. Vielleicht findest du dort Unterstüt zung oder einen Weg, wie du zu deinem Recht kommst.« »Wohin sollte ich sonst schon gehen …«, sagte Seiya verloren und unglücklich. »Ich besitze nichts, bin ganz allein und zum ersten Mal außerhalb von Mandiranei … ich kenne diese Welt hier nicht.« »Na, da seid ihr ja schon zu zweit«, meinte As'mala mit einem iro nischen Seitenblick auf Shanija. »Also dann, abgemacht, du kommst mit uns.« Am farbenprächtigen Himmel tauchte ein Vogel auf und zog seine Kreise. Shanija fiel Pong wieder ein, der immer noch selbstvergessen spielte. »Pass auf, dass du deinen Schatz nicht mit dem Speicherkris tall verwechselst!«, mahnte sie. Tatsächlich sahen sich die glitzern den Steine sehr ähnlich. »Du weißt, wie wichtig die darin enthalte nen Informationen für die Erde sind.«
»Das weiß ich besser als du«, sagte Pong keck. »Was willst du mit den Kristallen überhaupt anfangen?« »Mir gefallen sie halt. Ein Drache bewacht immer einen Schatz.« Der Widerschein der Kristalle überschüttete seinen Körper mit Wel len aus Licht und Farben. »Außerdem können wir so den Datenspei cher gut tarnen, Kristalle sind schließlich ein wertvolles Zahlungs mittel. Und diese hier haben eine tolle Schwingungsfrequenz, die mich ganz kirre macht.« »Oder irre. Pack lieber zusammen und komm her, wir wollen wei ter«, forderte Shanija ihn auf und winkte ungeduldig. Der kreisende Vogel sank allmählich tiefer, wie um die kleine Gruppe näher zu betrachten, die auf ihn vielleicht einen ungewöhn lichen Eindruck machte. »Komm ja schon«, maulte Pong und raffte die Kristalle an sich. In diesem Moment erklang ein Rauschen, ein großer Schatten fiel über den kleinen Drachen, packte ihn blitzschnell mit gebogenen Krallen und flog mit ihm davon. Schneller, als Shanija für einen Atemzug brauchte. Pong hatte nicht einmal Zeit zu einem Hilferuf. Bald war der Vogel nur noch ein ferner Punkt. Für Shanija Ran stürzte die Welt zusammen. »Jetzt ist alles verlo ren«, brachte sie nur hervor. Sie war außerstande, ihre Emotionen zu zeigen, die sie in diesem Moment bewegten. Sie hätte sonst toben und schreien müssen. »Nicht unbedingt«, drang As'malas Stimme in ihren benebelten Geist. »Die Art, wie der Vogel sich Pong geschnappt hat, lässt dar auf schließen, dass es ein dressierter Diebesvogel ist. Das bedeutet, er wird aufpassen, dass die Kristalle unterwegs nicht abhanden kommen – und dasselbe gilt für Pong.« Shanija verstand die Worte, aber sie waren kein Trost für sie. Sie stand kurz davor, die Nerven zu verlieren. Seiya schlug vor: »Wir sollten seiner Flugrichtung folgen, dann werden wir irgendwann auf denjenigen stoßen, der ihn auf Raubzug
geschickt hat.« »Sicher«, stimmte As'mala zu. »Bis dahin kann Pong auch gut auf sich selbst aufpassen, er ist schließlich ein gewitztes Kerlchen. Die starke Verbindung, die ihr beide habt, wird dich zu ihm führen, Sha nija, früher oder später. Gibt jetzt nicht gleich auf.« Shanija riss sich zusammen. Ihre Lebensgeister erwachten wieder. »Dann sollten wir uns nicht mehr aufhalten«, sagte sie entschlos sen. »Ich muss Pong und den Speicherkristall wiederfinden, und das so schnell wie möglich! Das Schicksal der Menschheit hängt davon ab.« ENDE
Glossar Geld auf Less – Auf Less ist der Tauschhandel vorherrschend, aber es gibt auch Münzen aus einfachem Metall, die nur Nennwert ha ben: Die Sichel (für 2-4 bekommt man einen Eintopf), den Halb mond (= 10 Sicheln; Grundlohn eines Tagelöhners sind 1-2 Halb monde), und die Sonne (= 100 Halbmonde). Richtig Geschäft wird aber mit Edelmetallen und -steinen gemacht. HD 188753 – Ein 149 Lichtjahre entferntes Planetensystem mit drei Sonnen. Ein jupiterähnlicher Gasriese umkreist einen Gelben Zwerg, der außerdem von einem Doppelstern, einem Roten und Orangen Zwerg, umkreist wird. Hier befindet sich Less, die Welt der Drei Sonnen, im System Dies Cygni. Larking-Effekt – Simulation, die schwere Beschädigungen an ei ner intakten Flugeinheit vorgaukelt. Der Name stammt vom Vogel Lerche, der sich nähernden Fressfeinden mit scheinbar gebrochenem Flügel vom Nest hüpfend entfernt. PONG – Positronisch-Organisches-Nano-Gehirn; ein hoch entwi ckeltes, tragbares Computermodul, das vor allem im Militär einge setzt wird. Durch die Nano-Bausteine kann sich das Modul mit na hezu jedem System verbinden, sich einhacken und diverses mehr. Sternbild Schwan – Der Schwan (Cygnus) ist ein auffälliges Stern bild am Sommer- und Herbsthimmel. Die hellsten Sterne bilden ein markantes Kreuz, weshalb er als Gegenstück zum Kreuz des Südens auch als Nördliches Kreuz bezeichnet wird. Das Sternbild symboli siert einen fliegenden Schwan. Der hellste Stern, Deneb, symbolisiert den Schwanz, und Albireo den ausgestreckten Hals. Im zentralen Stern γ Cygni setzen die geschwungenen Flügel an, die gleichzeitig dem Querbalken des Kreuzes entsprechen.
Durch den Schwan zieht sich das helle Band der Milchstraße, so dass das Sternbild reich an ungewöhnlichen Sternen und nebligen Objekten ist. Von Cygnus A, einer 650 Millionen Lichtjahre entfernten aktiven Galaxie, geht die zweitstärkste kosmische Radiostrahlung des Him mels aus. 8.200 Lichtjahre entfernt befindet sich ein außergewöhnlicher Dop pelstern: der Hauptstern wird von einem Schwarzen Loch begleitet und bildet zusammen die kosmische Röntgenquelle Cygnus XI. Sunquest – Das erste, größte und mächtigste (und bislang einzige seiner Art) Fernraumschiff mit Hyperraumantrieb, das die Weltna tionen gemeinsam erbauten. Die Sunquest war nicht nur der Hoff nungsträger für neue Pfründe und Kolonien, sondern auch ein deut liches politisches Zeichen für ein friedliches Miteinander. Der Start vom Raumdock im Jahr 2132 verlief erfolgreich, doch als zwei Jahre später für immer der Kontakt abriss, galt die Mission als gescheitert. Viele Legenden bildeten sich seither um das Schicksal der Sunquest und ihrer 5000 Mann Besatzung. Ein etwa dreißig Meter langes Mo dell, das auch betreten werden kann, steht im Oldworld-Guggen heim-Museum in WY. Washington-York-State – Die größte Metropole an der Ostküste der Vereinigten Staaten, verschmolzen aus der ehemaligen Regie rungshauptstadt und New York. Registrierte Einwohnerzahl vierzig Millionen, aber die Dunkelziffer liegt vermutlich doppelt so hoch. Kurzbezeichnung: WY(-State). WILD RAMS – 3207 gegründete Eliteeinheit der Marines, ausschließ lich für Spezialeinsätze gedacht. Durch waghalsige Einsätze im Krieg gegen die Quinternen erhält die Einheit bald einen legendären Ruf.
Vorschau Der Ewige von Stefanie Rafflenbeul und Jana Paradigi
Shanija, As'mala und Seiya sind auf der Suche nach dem entführten Pong mit dem unersetzlichen Datenkristall. Wenn Pong nicht gefun den und der Kristall geborgen werden kann, ist für die Menschheit alles verloren. Die Spur führt die Gefährtinnen ins Verkehrte Land, das von ei nem schrecklichen Fluch beherrscht wird, und entdecken einen Ver sammlungsplatz der Wahrheitssuchenden, wo es angeblich auf jede Frage eine Antwort gibt. Dabei begegnen sie Mun, dem ersten menschlichen Adepten der geheimnisvollen Gilde der Wissensträ ger, die im Dienst der mysteriösen Bibliothekare des Zentralarchivs steht, und dem Abenteurer Darren Hag, der mehr ist, als er vorgibt zu sein. Shanija hat nur eine vage Hoffnung, die legendäre Urmutter zu finden, aber selbst dieser zaghafte kleine Schimmer ist besser als nichts. Allerdings bleibt ihr Weg nicht unbeobachtet, und eine Sekte des Ewigen plant einen Anschlag auf die Trägerin der Sonnenkraft, der nicht fehlgehen kann …