Gilles Rozier Eine Liebe ohne Widerstand Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Roman
DuMont Fotografie: Brassai, »...
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Gilles Rozier Eine Liebe ohne Widerstand Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Roman
DuMont Fotografie: Brassai, »Kiki et son accordéonis au Cabaret des Fleurs«, 1932
ISBN 3-8321-7868-6
Eine skandalöse Liebe zu Zeiten des Krieges: aus Gleichgültigkeit wird brennende Leidenschaft zum polnischen Juden Herman. Eine Liebe ohne Widerstand erzählt von zwei Menschen, die alles teilen, die sich liebenden Körper, die Worte und die Sprache – das Deutsche und das Jiddische. Gilles Rozier erzählt von der Liebe zu den Büchern in der Sprache von Goethe und Goebbels, von der Liebe zum jüdischen Schneider aus Warschau im Kellerversteck und von der Liebe zwischen Anne und einem SS-Mann im Obergeschoss. Eine Liebe ohne Widerstand blickt zurück auf die Jahre unter deutscher Besatzung in einer französischen Provinzstadt. Dem Juden Herman wird für zwei Jahre, drei Monate und zwanzig Tage die Haut gerettet, verborgen in einem Keller hinter der geheimen Bibliothek mit den verbotenen deutschen Schriftstellern. Eine Liebe ohne Widerstand erzählt mit beißender Schnörkellosigkeit von gewohnheits-blinden Antihelden, die zu überleben suchen, und wirft dabei Licht in die geheimsten Schlupfwinkel des Verlangens und in die Abgründe der menschlichen Seele.
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Gilles Rozier wurde 1963 in Grenoble geboren. Während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Jerusalem lernte er Hebräisch und Jiddisch und arbeitete zunächst in einer Pariser Kaufhauskette als Einkäufer für Schreibwaren. Die Begeisterung für die jiddische Sprache führte ihn zur Promotion in jiddischer Literatur. Er ist Direktor des Hauses für jiddische Kultur in Paris, das die größte jiddische Bibliothek Europas beherbergt. Zuletzt erschienen von ihm Pardelà les monts obscurs (1999) und Moïse fiction (2001). »Zurzeit spreche ich Jiddisch. Ich habe das Deutsche verlernt, um die Sprache von Moyshe, meines in Auschwitz ermordeten Großvaters, zu lernen. Dennoch spreche ich die Sprache von Goethe und Goebbels gut. Mein Großvater väterlicherseits war Deutschlehrer.« Claudia Steinitz, geboren 1961, lebt in Berlin und übersetzte aus dem Italienischen und Französischen u. a. Gabriele D'Annunzio, Gerald Messadié und für DuMont Liebende von Alice Ferney (2001), Die Melancholie der Männer von Tonino Benacquista (2003) und Letzte Stunde von Christophe Dufossé (2003).
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Gilles Rozier
Eine Liebe ohne Widerstand Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Roman DuMont
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Wir danken der Französischen Botschaft in Berlin für ihre Unterstützung der Übersetzung.
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel Un amour sans résistance bei Denoël, Paris © 2003 Éditions Denoël
Erste Auflage 2004 © 2004 für die deutsche Ausgabe: DuMont Literatur und Kunst Verlag, Kohl Alle Rechte vorbehalten Ausstattung und Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg) Gesetzt aus der Walbaum BO Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8321-7868-6 5
Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden, auf kahler Höh. Ihn schilfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand. Heinrich Heine
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1 Wenn ich Ihnen erzählen soll, legen Sie Schumann auf, die Musik wird meine Erinnerungen wachrufen. Die Lieder1 ... Beginnen wir mit Schöne Wiege meiner Leiden. TAta, TAta, TAta, TAta, vier der schönsten Trochäen des deutschen Genies. Ich mache das große Licht aus. Wir lassen den Tee ein paar Minuten ziehen, einverstanden? Ich mag ihn mit einem Tropfen Milch, chinesischer Tee, die Kanne stammt von meiner Großmutter. Man sieht es der Kanne nicht an, aber sie ist sehr alt. Meine Großmutter hat sie zur Hochzeit von ihrer Patentante bekommen, die damals gerade aus Hongkong zurückgekehrt war, ihr Mann hatte dort für ein englisches Unternehmen gearbeitet. Meine Großmutter hat ein Jahr vor der Geburt meiner Mutter geheiratet, 1889, da sehen Sie, wie alt die Kanne ist ... Die Dicke in der Mitte ist meine Mutter. Links meine Schwester Isabelle und daneben ihr Mann Jean-Louis. Auf Isabelles Knien sitzt ihre Tochter France. Sie war damals höchstens ein Jahr alt. Rechts von meiner Mutter A.d. Ü.: Die kursiv gesetzten Wörter, Sätze und Gedichte stehen wie im Original. 1
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meine andere Schwester, Anne, ihr Mann war damals schon von der Résistance liquidiert. Der Größte, da, das ist François, Isabelles ältester Sohn, neben ihm steht Marcel, der zweite. Und der kleine Alfred. Da bin ich. Das Foto ist vor dem Haus meiner Mutter aufgenommen. Es war natürlich auch unser Haus, aber vor allem ihres. Die Außentreppe hat meine Mutter nach dem Krieg abreißen lassen, aber man sieht noch die Fenster und die Akazie. Mein Vater war Kriegsgefangener in Deutschland. Fotografiert hat Volker Hammerschimmel, ein SSMann. Er bumste meine Schwester Anne, verzeihen Sie den Ausdruck, aber ein anderer fällt mir dazu nicht ein. Sie brüllte vor Lust, oben im ersten Stock. Zur Begleitung der Hüftstöße des ›Boche‹ klirrte im Wohnzimmer leise der Kristallleuchter. Der Krieg war so trostlos, man musste sich irgendwie amüsieren. Meine Schwester war noch in Trauer, die Arme. Sie bumste, um zu vergessen. Sie fand es herrlich, den Feind in sich eindringen zu lassen, deshalb schrie sie es heraus. Sie glich ihrem Land: leicht zu haben. Nach der Befreiung hat ein Nachbar meine Schwester Anne unter dem Beifall des ganzen Viertels vergewaltigt. Das spielte sich vor dem Gartentor ab. Der Menschenauflauf hatte mich angelockt. Anne war völlig entstellt, ihr Kopf kahl geschoren. Sie wirkte geradezu dürr. Sie war nackt wie ein Wurm, ich sah sie zum ersten Mal 8
nackt, nicht nur die Schädelhaut, ihr Körper, vollkommen nackt. Der Nachbar hatte sich mitten auf der Straße auf sie gelegt. Vom Vergewaltiger sah man nur die Pobacken, zwei pralle Melonen, er war Regionalsieger im Skilanglauf. Meine Schwester hatte sich nie in meinem Beisein ausgezogen, wir waren eine Familie, in der man sich nicht entblößte, aber in meinem Kopf war sie jedes Mal nackt gewesen, wenn sie sich Volker hingab. Sie schrie so laut, es war, als hätte sie das Fenster im Obergeschoss weit geöffnet und ihre Brüste, ihren Bauch, ihr Geschlecht entblößt. Meine Schwester hat gesagt, diese Vergewaltigung nach Kriegsende habe sie traumatisiert. Der Mensch zeigt seltsame Reaktionen. Täglich, oft auch zweimal am Tag – niemals nachts, denn da schlief er in der Kaserne – es mit dem Stellvertreter des Führer auf Erden zu treiben hatte sie nicht schockiert, aber sich morgens, vor dem Aperitif, drei, vier lächerliche Mal von der Rute des Nachbarn penetrieren zu lassen, das hat etwas in ihr zerstört. Bei mir war es andersrum: Ich sah zu, wie der Skilangläufer auf dem Straßenpflaster meine nackte Schwester befummelte, und die Szene kam mir weniger grausam vor als die Schreie, die unserem Krieg den Takt gegeben hatten. Weil aber Anne und ihr SS-Mann dem Haus der Familie eine gewisse Straffreiheit garantierten, waren sie mir auch gelegen gekommen. Ich war also irgendwie auch Komplize des Verbrechens, für das Anne angeklagt war und das sie mit dieser öffentlichen Verge9
waltigung bezahlte. Nach der Befreiung war es nicht leicht, das Kommen und Gehen in dem Haus mit den roten Fensterläden während der Okkupation zu erklären, hinauf ins Obergeschoss, hinunter in den Keller. Meine Mutter verbrachte viel Zeit in der Küche neben dem Wohnzimmer im Erdgeschoß. Es war nicht viel, was sie in den Töpfen hätte brutzeln können, aber sie hielt an ihren Gewohnheiten von früher fest, wie ein Handamputierter im Geiste weiterhin den Zeigefinger bewegt, um einen Krümel vom Tisch zu wischen. Meine Mutter hielt sich in der Küche auf, meistens putzte sie. Wenn meine Schwester anfing zu brüllen, sah ich, wie sich der Gesichtsausdruck meiner Mutter änderte und sie im Takt der Schwingungen des Kristallleuchters mit dem Schwamm immer besessener putzte. Meine Mutter war nicht mehr die starke, autoritäre Frau, nicht mehr die Herrin im Haus, sondern eine Sklavin, die unter den Schlägen ihres Folterers den Rücken krümmte. Jeder Schrei meiner Schwester traf sie wie ein Knüppel. Wenn Volker kam, verließ ich das Haus. Ich wollte die Schmach nicht miterleben, dass der Feind seinen Samen in die blutsverwandten Eingeweide ergoss. Aber Volker schlich sich oft sehr diskret herein, so seltsam das erscheinen mag, und ich bemerkte seine Anwesenheit erst beim Klingen des Leuchters. Wenn ich den Mantel angezogen, die Schuhe zugebunden und mir vor dem Spiegel in der Diele die Haare gekämmt hatte, musste ich das erste Stöhnen meiner Schwester ertragen, noch ehe ich 10
das Gartentor erreicht hatte. Wenn ich das Haus verließ und die Vortreppe hinunterging, sah ich nach oben zum Küchenfenster und beobachtete die Haltung meiner Mutter, die mit erstarrtem Gesicht damit beschäftigt war, wie besessen die schon makellos glänzende Pfanne zu bearbeiten. Denn meine Mutter hat nie ein Wort gesagt. Sie hätte meine Schwester ohrfeigen, sie Dirne, Herumtreiberin, Soldatenflittchen, Hure im Sold der ›Boches‹ und was weiß ich noch alles nennen können, aber all diese Beschimpfungen blieben ihr tief im Hals stecken. Meine Mutter war außerstande, ihre Jüngste zu maßregeln. Sie hatte eine lockere Hand, und bei den anderen Kindern hatte sie ohne Zögern auch den Stock eingesetzt. Hatte sie geschworen, meine Schwester Anne nur zu berühren, um sie zu liebkosen? Sie hat ihr alles nachgesehen. Und Anne ließ nichts aus. Von Kindheit an machte sie, was sie wollte, ohne Vorhaltungen einstecken zu müssen. Sie zertrampelte die Blumen im Garten, aß die Himbeeren, ohne den anderen etwas übrig zu lassen. Oft stahl sie Fahrräder in der Nachbarschaft. Mit vierzehn brannte sie zum ersten Mal durch, um dem Sohn eines Straßenwärters zu folgen, der zur Weinlese in den Süden fuhr. Sie war keine Jungfrau mehr, als sie zurückkam, das habe ich in Mutters Gesicht gelesen. Mehrere Wochen lang fand ich unsere Mutter nervös, fast ängstlich, eines Tages aber, ganz plötzlich, hat sie ihr Lächeln wiedergefunden. Als ich meine Schwester Anne fragte, ob sie 11
wisse, weshalb unsere Mutter nicht mehr beunruhigt sei, hat sie gesagt Sie wird noch nicht sofort Großmutter. Nach ihrer Flucht ging Anne nicht mehr zur Schule, aber sie brauchte auch nicht zu arbeiten. Sie verbrachte die Abende mit Tanzen, die Vormittage mit Schlafen, die Nachmittage mit Flirten. Sie durfte tun, wonach ihr der Sinn stand. Deshalb kannte sie keine Grenzen. Dabei waren unsere Eltern mit Isabelle und mir sehr streng. Wir wurden ständig kontrolliert. Meine große Schwester hatte einen Jungen aus einem kleinen Nest in der tiefsten Gascogne kennen gelernt, die Fahrt dorthin dauerte im Zug wie mit dem Auto mindestens sechzehn Stunden. Sie hatte es eilig, ihn zu heiraten, um aus der Reichweite meiner Eltern zu kommen. An dem Tag, als das Foto gemacht wurde, war sie ausnahmsweise bei uns zu Besuch, zu Ostern glaube ich, aber schon am Abend fuhr sie wieder weg. Eigentlich sahen wir sie nie. Den Krieg haben wir ohne sie verbracht. Als das Staatsterritorium durch die Demarkationslinie zweigeteilt wurde, war sie nicht unglücklich darüber: Ein dicker Strich auf der Frankreichkarte trennte sie von uns, eine Grenze wie ein Cordon sanitaire. Ich dagegen blieb in der Schusslinie meiner Mutter. Ich war ziemlich gefügig. Mein Vater hatte während des ganzen Krieges das Weite gesucht, erst an der Front, dann gefangen in Deutschland, in der Nähe von Idar-Oberstein.
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Wäre unser Krieg anders verlaufen, wenn mein Vater nicht in Gefangenschaft gewesen wäre? Die Geschichte lässt sich nicht mit einem »wenn« umschreiben, bei all den Toten auf den Schlachtfeldern, bei Massenfluchten, Hungersnöten, Säuberungen und Vernichtungen. Aber mein Vater war auch vor dem Krieg nicht richtig anwesend. Er ging zur Arbeit und kam nach Hause, am Sonntag und an den Sommerabenden arbeitete er im Garten. Im Winter füllte er im Keller den Wein in Flaschen, sonntags ging er zur Messe und zum Abendmahl, ein Reflex aus Kindertagen. Morgens beim Aufstehen warf er uns ein »Wie geht's?« hin, ohne auf Antwort zu warten. Er war in seiner Welt, man wusste nicht recht welcher, hinter einer unsichtbaren, doppelt abgeschlossenen Tür, einem dünnen Schleier, stark genug, ihn unerreichbar zu machen. Wenn ich ihn als Kind mal gefragt habe »Woran denkst du, Papa?«, hat er gesagt Ich war gerade am Einschlafen oder Die Rosen sind schön rot dieses Jahr. Zu Weihnachten und Neujahr, wenn er den ganzen Nachmittag am Tisch sitzen geblieben war und so getan hatte, als würde er sich am Gespräch beteiligen, stand er plötzlich auf und erklärte, er werde Zwiebelsuppe kochen, auch ein Reflex, geradezu ein Instinkt, wie das Abendmahl, aber bestimmt ehrlicher, denn er tat es mit Herz und Inbrunst; Zwiebeln anbraten, Wasser, Weißwein, geröstete Brotscheiben, geriebener Käse, lieber Comté als Gruyère. Das ist besser und es ist französisch, das Ganze in den Ofen und vor 13
allem, vor allem siebenmal umrühren, um das geröstete Brot gut zu verteilen. Diese Suppe war ein Genuss, aber genügt der Geschmack eines Gerichtes, um sich an einen Vater zu erinnern? Meine Mutter war da. In meiner Kindheit, während des Krieges, nach dem Krieg auch, obwohl in diesem Danach nichts mehr so war wie vorher. Sie war ein Fels in ihrem Haus, als hätte man es um sie herum erbaut. Als die »Französische Freiwilligenlegion gegen den Bolschewismus« LVF gegründet wurde, war Annes Ehemann unter den ersten Freiwilligen in der Gegend. 1939 war er wegen seiner anfälligen Gesundheit nicht eingezogen worden, aber er wollte Frankreich dienen. Die LVF nahm auch Asthmatiker. Anne präsentierte sich ein paar Monate voller Stolz als Frau von, hielt sich für die Unterpräfektin und kaufte sich einen neuen Hut. Sie und ihr Mann hatten bei den Vichy-Leuten neue Freunde gefunden. Marschall Pétain hatte meiner Schwester die Vollmacht für unser Viertel übertragen. Über ihren Gatten als Mittelsmann verbreitete sie in der Nachbarschaft Angst und Schrecken. Sobald ein Nachbar oder ein Händler ihr nicht gehorchte, warf sie ihm einen finsteren Blick zu. Die Bestrafung des Aufsässigen ließ nicht lange auf sich warten. Eines Morgens frühstückten meine Schwester und mein Schwager auf dem Treppenabsatz 14
vor dem Haus. Es war ein schöner Tag, die Akazie stand in voller Blüte. Plötzlich hielt ein Auto vor dem Gartentor. Ein Mann mit unverhülltem Gesicht schwenkte eine Waffe. Tackatackatack. Er schoss auf das Paar. Den Ehemann traf er mitten in den Kopf und meine Schwester verfehlte er, aber es war zu spät, um noch mal zu zielen. Das Auto raste davon, Anne saß wie versteinert auf ihrem Stuhl, bespritzt mit dem Blut ihres Gatten. Mein Schwager hat nicht die Zeit gehabt, in den Ebenen Russlands zu erfrieren oder in die Miliz einzutreten, er hätte es getan, wenn er noch gelebt hätte, das ist sicher. Bei der Beerdigung hielt der Anführer von ich weiß nicht welcher Ortsgruppe eine Rede. Er versprach die Bestrafung der Schuldigen. Seine Worte über das AntiFrankreich dröhnten durch die Kathedrale. Anne war in Schwarz, ein Kleid mit Ärmeln bis zu den Handgelenken und steifem Kragen. Es war Sommer, Hundstage. Eine Woche später hatte Anne das Kleid der Jahreszeit angepasst, kurze Ärmel, tiefes Dekolletee. Ein paar Schnitte mit der Schere, drei Nähte, vier vergoldete Knöpfe reichten aus, um dem Trauerkostüm ein schickes Aussehen zu verpassen. Sie fing an, ständig auszugehen. Ihr Status als Kollaborateurswitwe ersparte ihr die Ausgangssperre. Sie besuchte Lokale, in denen sich höchst populäre Sänger an den Kriegsanstrengungen beteiligten, indem sie die Armee unserer Eroberer unter15
hielten. Sie kam oft betrunken im Morgengrauen zurück. Sie sprach laut, wenn sie aus dem Auto stieg, das sie heimbrachte, radebrechte manchmal ein paar Worte Deutsch, aber sie hat diese Sprache nie richtig sprechen gelernt. Ein paar Wochen später drang Volker in sie ein wie in Butter.
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Ich unterrichtete Deutsch, ein schöner Beruf. Eine schöne Sprache, ideal, um den Geist der guten Schüler zu schärfen. Ich liebte die deutsche Literatur. Ich hatte alles gelesen, Lessing, Goethe, Schiller und Kleist, Kant, Nietzsche, Hölderlin, die Gebrüder Grimm, Schelling, Brentano, von Arnim, von Chamisso, Hoffmann, Heine, Büchner, Lou Andreas-Salomé, Schnitzler, Hoffmannsthal, Rilke, Werfel, Wedekind, Lasker-Schüler, Trakl, Döblin, Kafka, Remarque, von Horvath, Jünger, Musil, Hesse, Wassermann, Zweig, Kästner, Benn, Brecht und so weiter. Meine Bibliothek gehörte zu den schönsten der Stadt. Thomas Mann nahm darin einen Ehrenplatz ein. Tristan, Tonio Kröger, Buddenbrooks, Königliche Hoheit, Joseph und seine Brüder, Der Zauberberg, Mario und der Zauberer, Doktor Faustus und vor allem: Der Tod in Venedig. Ich hatte 1930, ehe Mann von den Nazis auf den Index gesetzt wurde, in Heidelberg ein bei S. Fischer in Berlin erschienenes ledergebundenes Exemplar erworben. Dort habe ich ein Jahr deutsche Literatur studiert, um meine Kenntnisse zu vertiefen. Meine Kindheit war einsam und ohne Freunde. Auch in Deutschland suchte ich keine Gesellschaft, ich spazierte lieber ohne Begleitung herum und setzte mich auf eine Parkbank, um zu 17
lesen. Aber Hans-Joachim Friedberg, ein schöner, sensibler Junge, war mir unter den vielen Studenten der Literaturwissenschaft trotzdem aufgefallen. Die meisten saßen in den Hörsälen, weil die Eltern es so wollten. Sie ließen sich durch einen Unterricht schleifen, der sie nicht interessierte. Ihnen reichte es mitzuschreiben, was die Professoren sie lehrten. Ansonsten waren sie zum ersten Mal im Leben in gemischten Klassen und genossen ihre erste Verliebtheit. Die Jungen waren damit beschäftigt, mit den Mädchen zu flirten, und die Mädchen ließen es gern geschehen. Hans-Joachim war anders. Für ihn gab es weder Mädchen noch Jungen, nur Menschen, die mit der Empfänglichkeit für Kunst und Schönheit begabt waren oder nicht. Wir freundeten uns schnell an, weil wir uns an diesem Punkt trafen. Sein Vater hätte gern einen Mathematiker aus ihm gemacht, aber Hans-Joachim hatte sich durchgesetzt: Er hatte sich für Literaturwissenschaft eingeschrieben, weil die deutsche Sprache, ihr Gebrauch durch die Schriftsteller und die Welten, die sie uns wie auf einem Silbertablett darbot, verlockend genug waren, um sie ein Leben lang zu studieren. HansJoachim wollte Schriftsteller oder Theaterregisseur werden, vielleicht auch Lehrer für deutsche Literatur. Er träumte davon, die Hörsäle zu füllen, die Studenten würden kommen, um ihn zu hören, wie andere sich in Stadien drängen, um eine kollektive, mystische Erfahrung zu machen.
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Hans-Joachim hat mich die leidenschaftliche Liebe zu Thomas Mann gelehrt. Ich hatte fast alles gelesen, ehe ich ihn kennen lernte, aber er brachte mich dazu, den Zauberberg und die anderen Bücher wieder zu lesen oder vielmehr die Texte zu hören, denn abends in seinem Zimmer deklamierte er daraus nur für mich viele Seiten. Ich legte mich auf das Bett, das meinem glich (alle Zimmer waren gleich eingerichtet, obwohl wir nicht in demselben Gebäude wohnten; es kam nicht in Frage, ihnen eine persönliche Note zu geben, das große Deutschland hätte jeden Anflug von Fantasie verübelt). Er stellte sich in Pose, das geöffnete Buch in der gestreckten Hand, schlug mit der anderen den Takt und begann zu lesen. Musik, die Musik von Thomas Mann, wie ein Schubert-Quartett. Ich schwankte zwischen der Lust, die Augen zu schließen, um den Text besser zu genießen, und dem Verlangen, sie weit offen zu halten, denn Hans-Joachim war schön und ich betrachtete gern sein Gesicht, wie es durch die Wirkung der Literatur lebendig wurde. Er hatte stahlblaue Augen mit einem etwas dunkleren Strahlenkranz um die Pupille, und wenn er abends deklamierte, löste sich sein Blick zuweilen von dem Buch in seinen Händen und richtete sich lebhaft, begeistert auf mich. Seine Haut war glatt, eine zarte Hülle, wie die Haut eines gerade reifen Pfirsichs, der man ansieht, dass sie sich mühelos mit den Fingerspitzen ablösen lässt.
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Er las oft stundenlang. Mein Freund besaß eine geheimnisvolle Energie, er holte selten Luft, der Text sprudelte kristallklar, wie Mann ihn erdacht hatte. Wahrhaftig, Hans-Joachim hätte Schauspieler werden können. Nach mehreren Kapiteln hörte er plötzlich auf. Er blieb ein paar Sekunden stehen, bis die Noten und die Worte niedersanken, dann legte er sich neben mich aufs Bett. Lang ausgestreckt, mit leicht gebeugtem Nacken, weil sein Kopf an der einen Wand lehnte, starrte er auf das Tapetenmuster an der anderen. Sein Atem ging schnell. Er holte sich den ganzen Sauerstoff, der ihm während der Lektüre entgangen war. Langsam beruhigte sich seine Atmung und Hans-Joachim schlief ein. Wenn ich sicher war, dass er mich nicht mehr ertappen konnte, drehte ich den Kopf, um ihn schlafen zu sehen. Ich stahl ihm – nur mit Blicken – ein wenig von seinem Schlaf, den Bogen seiner braunen Wimpern, die Wölbung seines Mundes, dessen Karminrot sich vom orange-rosa Ton seiner Haut abhob. Ich hätte ihn die ganze Nacht lang so erforschen können, aber bei diesem heimtückischen Raub fühlte ich mich schuldig. Deshalb wandte ich mich nach einiger Zeit ab und bewahrte meinen ungestillten Hunger für mich. Unauffällig kehrte ich in mein Zimmer zurück, wie eine Natter glitt ich mit meinem Exemplar von Der Tod in Venedig in der Hand durch die Gänge und Treppenhäuser, um nicht den Zorn der Wachhabenden auf mich zu ziehen. In meinem Zimmer legte ich das Buch unter mein Kopfkissen. Um nichts in der Welt hätte 20
ich es geöffnet, lieber überließ ich meinem deutschen Freund das Glück, es mir darzubieten. Ich wusch mich, und der Waschlappen, mit dem ich meinen Körper rieb, war wie ein Instrument der Reinigung nach diesen Augenblicken schuldhafter Wonne, zugleich aber bedauerte ich, dass er den Abdruck einer wunderbaren Atmosphäre, eines köstlichen Augenblicks von meiner Haut wischte. Der Tod in Venedig, das waren in meinem Leben diese flüchtigen Augenblicke des Glücks in Heidelberg. Später, in meiner Höhle im besetzten Frankreich, habe ich Thomas Mann wiedergelesen; ich hörte die Stimme von Hans-Joachim, wenn ich die Zeilen überflog. Seine Bewegungen sehe ich nicht mehr vor mir, sie sind verblasst, nur ganz schwach spüre ich noch seinen Geruch. Wir haben uns nach meinem Jahr in Deutschland kaum geschrieben. Vielleicht wollten wir uns den Glanz dieser Monate bewahren. Nach der Kriegserklärung habe ich nicht in Erfahrung zu bringen versucht, was aus Hans-Joachim geworden ist. Er war Deutscher, ich liebte meine Heimat. Wir waren im Krieg. Er war der Feind.
Hans-Joachim begleitete mich, als ich Der Tod in Venedig kaufte. Der Buchhändler, ein alter Mann, der jede Zeile aus den Büchern, die er verkaufte, auswendig zu kennen schien, hüllte meinen Kauf in Seidenpapier, und 21
ich habe ihn bis zum Abend eingewickelt gelassen. Ich habe mit meinem Freund in der Mensa des Wohnheims gegessen. Dann sind wir in mein Zimmer gegangen, die Wachsamkeit der Aufsicht überlistend, er hat sich des Buches bemächtigt wie eines Objekts, das wir beide seit dem Morgen insgeheim begehrt hatten. Er hat es von dem Schleier befreit, der in lautlosem Flug auf den Boden sank. Hans-Joachim hat das Buch auf der ersten Seite geöffnet und angefangen vorzulesen. »Der Tod in Venedig, Novelle von Thomas Mann. Erstes Kapitel. Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße zu München aus allein einen weiteren Spaziergang unternommen.« Der Tod in Venedig wurde mein Lieblingsbuch. Als die Deutschen auch die Zone Sud besetzten, nahm ich es von meinem Nachttisch, sie hätten es nicht geschätzt. Es war nicht das einzige Buch, das aus meinem Zimmer verschwand. Ich brachte die Autoren, die auf dem Index standen, in den Keller. Heine, von Horvath, Arnold und Stefan Zweig, Wassermann, Werfel, Schnitzler, Thomas 22
und Heinrich Mann, die Feinde des Ewigen Deutschland. Weshalb sie das waren, habe ich nicht verstanden, Juden, glaube ich, oder verjudet, der Sinn dieser Worte war mir nicht ganz klar. Eigentlich war es mir ein Graus, etwas nicht zu verstehen, aber diese Zeit war voll Verwirrung und kurzlebiger Losungen. Ich habe nicht versucht, die Scheinargumente für dieses Verdikt zu erfahren, ich nahm es hin und verhielt mich entsprechend: Hinter dem Weinkeller richtete ich mir ein Lesezimmer ein. Mit Brettern, die in der Waschküche herumlagen, einem alten, wegen des abgenutzten Leders im Keller gelandeten Sessel und einer kleinen Schreibtischlampe schuf ich einen stillen Raum für mich und meine von den Nazis Ausgeschlossenen. Die Lampe verbreitete einen sehr engen Lichtkreis. Ich konnte nachts hinuntergehen und sie anschalten, sie beleuchtete meine Lektüre, aber jenseits des Umkreises von einem Meter blieb der Raum in Dunkelheit getaucht. Zu meinem Versteck gelangte ich durch eine kleine bogenförmige Öffnung in der dunkelsten Ecke des Weinkellers. Ich musste wie ein Tier auf allen vieren hineinkriechen. Den Eingang tarnte ich mit leeren Kisten, die ich leicht wieder davorschieben konnte, sobald ich drinnen war. Um die Sicherheit zu erhöhen, schloss ich die Öffnung mit großen Steinen, die ich Tag für Tag unauffällig gesammelt hatte, wenn ich auf dem Rückweg von der Schule an einer Baustelle vorbeikam. Wer hätte das Versteck meiner verbotenen Schriftsteller finden können? 23
Wer wäre auf die Idee gekommen, es im Haus einer Intrigantin zu suchen, die sich mit einem SS-Mann paarte? Ich stieg nur selten in den Keller hinunter. Gelegentlich am Sonntagvormittag, wenn die Familie in der Messe war (ich ging nicht mehr hin, zu unerträglich waren mir die hasserfüllten Reden des Pfarrers, der seinen Beruf verfehlt hatte), oder spät in der Nacht, wenn ich nicht einschlafen konnte. Ich brauchte mindestens zwanzig Minuten, um mich in meiner Bibliothek einzunisten: die Öffnung freilegen, hineinkriechen, die Tarnung aus Kisten und Steinen wieder errichten. Ich ging hinunter, wenn ich lange bleiben konnte. Wer wusste von der Existenz dieses Hinterkellers? Ich glaube, meine Schwester hat sich nie für das Untergeschoss interessiert, mein Vater war in Gefangenschaft, der Elektriker, der die Leitungen repariert hatte, ein Cousin mütterlicherseits, war 1940 bei Dunkerque gefallen. Und meine Mutter? Sie würde nicht reden. Das war nicht ihre Art. Sie ertrug die skandalösen Liebschaften meiner Schwester und schützte meine geheime Bibliothek. Ich weiß bis heute nicht, ob meine Mutter davon wusste, aber sie hatte mir beigebracht, nie zu denunzieren. Wenn wir uns zu sehr in die Angelegenheiten anderer einmischten, sagte sie immer: Kehre vor deiner eigenen Tür!
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Die Bücher, die in den Regalen meines Arbeitszimmers geblieben waren, öffnete ich hingegen nur noch, um meinen Unterricht vorzubereiten. Der Gedanke, dass es sich um autorisierte Literatur handelte, raubte mir jedes Vergnügen an Schiller, Goethe und all den anderen, die von Berlin und Vichy das Imprimatur erhalten hatten. Obwohl ich mich nicht am Kampf gegen die Besatzer beteiligte, interessierte sich mein Geist nur für die von der nationalsozialistischen Moral Ausgeschlossenen. Weiß der Himmel weshalb. Vielleicht aus Lust an der Heimlichkeit. Von klein auf hatte ich mir angewöhnt, alles zu verstecken: meine Leidenschaften, meine Ängste, meine Enttäuschungen. Meine Mutter war mein Vorbild gewesen. Bei uns entblößte man sich nicht. Deshalb war diese Schwarze Liste der Schriftsteller geradezu ein Glücksfall, der mir die Möglichkeit gab, einen stillen Raum zum Lesen zu schaffen, heimlich, und heißt das nicht in Freiheit? Ich hatte die Flüchtlinge auf Regalen angeordnet, Heine, dessen Statue in Frankfurt gestürzt worden war, auf einem bevorzugten Platz. Die meisten Bände waren in Leder gebunden, eine Marotte, ich mochte schöne Bücher. Ich hatte sie selbst zu der kleinen Werkstatt in einer dunklen Straße der Altstadt gebracht, nur den Tod in Venedig hatte ich schon in rötlichem Ledereinband gekauft, ein Jahr nach dem Erscheinen. Ich weiß nicht, wem er vor mir gehört hat. Das Vorsatzblatt trug noch die Spuren eines ex libris, das der Buch25
händler wohl herausgelöst hatte, ehe er das Buch zum Verkauf anbot. Wer hatte es in den Händen gehalten? Die dunklen Spuren des Klebstoffs auf dem Papier boten keinen ausreichenden Hinweis, um die Kindheit meines Buches zu erkunden. Wer hatte es zwischen andere Bände in sein Arbeitszimmer gestellt? Ein Bibliophiler, der überstürzt seine Sammlung auflösen musste? Ein alter Gelehrter, der bis ins hohe Alter eine monumentale Bibliothek angesammelt hatte, deren Schätze die skrupellosen Kinder gleich nach seinem Tod in alle Welt verstreuten? Ein Aristokrat, der Erbe eines Kurfürsten, dessen Schloss von Einbrechern leer geräumt worden war? Ich war froh, Der Tod in Venedig im Nachhinein vor einem fast sicheren Schicksal bewahrt zu haben: in den Flammen zu enden, auf einem der Scheiterhaufen, die die Deutschen auf öffentlichen Plätzen errichteten. Die Versuchung war groß, auf dem Weg in mein Literaturkabinett nach einer Flasche Romanée-Conti 1932 zu greifen, um ihren Inhalt während der Lektüre zu genießen. Ich habe es nur selten getan, aus Vorsicht, um bei der Familie kein Misstrauen gegen meine nächtlichen Aktivitäten zu wecken. Mit Freuden widerstand ich der Versuchung, ein Ritual zu entweihen, und überließ meinem Vater das Privileg des Weinkellers und das Amt, die Flaschen zu öffnen. Aber mein Vater war Deutschlands Gefangener, ab und zu habe ich eine Flasche ent26
korkt, um in Gedanken bei ihm zu sein, ich in der Tiefe eines Kellers voll deutscher Bücher, er im Dienste eines analphabetischen Bauern auf den Feldern der Pfalz. Mein Vater war der große Abwesende dieses Krieges. Wer weiß, wie sich die Familienangelegenheiten entwickelt hätten, wenn er bei uns geblieben wäre. Hätte meine Schwester für die Nazis die Beine breit machen können? Und ich, hätte ich da unten im Keller tun können, was ich gerade erzählen will? Aber ich schwatze dummes Zeug! Als mein Vater zurückkam, sechs Jahre, nachdem er uns mit seinem Gepäck auf dem Rücken Adieu gesagt hatte, traute er seinen Augen nicht. Seine Geburtsstadt war ausgeweidet und seine Familie machte nicht mehr viel her. Meine kleine Schwester Anne hatte mir nie sehr nah gestanden, aber der Krieg schleuderte uns Lichtjahre auseinander, danach war sie auf der Seite der Besiegten, ich irgendwie auf der Seite der Opfer, obwohl. Dass es im Keller unmöglich war, den Wein zu temperieren, und ich ihn mit den zwölf oder dreizehn Grad Raumtemperatur hätte trinken müssen, hat mir geholfen, dem Verlangen zu widerstehen, mich in Abwesenheit meines Vaters zu bedienen. Diese unterirdische Kühle hinderte mich auch daran, lange zu lesen, denn nach einer gewissen Zeit wurden meine Finger steif und meine Knochen sogen sich mit Feuchtigkeit voll. Im Winter war die Temperatur oben im Haus kaum höher, wir heizten mit dem geschlagenen Holz aus dem Garten, aber ein Großteil davon wurde beschlagnahmt, um die Gasgene27
ratoren der Autos zu füttern; wir saßen unter unseren Decken, die Füße an die Bettflasche gepresst, das Laken bis zur Nase hochgezogen. Im Keller wirkten zwei entgegengesetzte Kräfte auf mich ein: Unter dem Einfluss der Bücher entspannten sich meine Muskeln, vor Kälte und Feuchtigkeit verkrampften sie sich. In manchen Nächten ließ mich mein Geist die klimatischen Bedingungen vergessen und ich las bis zum frühen Morgen. In anderen packte mich die Kälte, ehe das Romangeschehen oder die Poesie mich entführen konnten, und ich musste das Versteck nach kaum einer Stunde mit erstarrtem Körper verlassen. Dann war es mir unmöglich, mich unter der Bettdecke aufzuwärmen. Die Feuchtigkeit war mir bis ins Mark gedrungen, und ich konnte nur auf den Morgen warten und versuchen, das Zähneklappern zu unterdrücken, um Claude nicht aus dem geräuschvollen Schlaf zu reißen. Denn ich war, wie man sagt, in den heiligen Stand der Ehe getreten. Etwas Heiliges hatte ich bei dieser Heiratsgeschichte nicht empfunden. Eher Mitleid, im Nachhinein. Claude und ich hatten geheiratet, ohne darüber nachzudenken, wie es bei jungen Leuten zu unserer Zeit üblich war. Als ich aus Deutschland zurückkam, unterrichtete ich halbtags am Mädchengymnasium der Stadt, so verdiente ich gerade genug, um meiner Mutter meinen Lebensunterhalt zu bezahlen, nur Anne hatte ein Recht auf freie Kost und Logis. Meine Mutter besorgte mir Privatunterricht: Ich übte mit Claude die starken Verben und deren Konjugation. Claude besuchte 28
eine halbwegs katholische Handelsschule, Saint-Pierre glaube ich, wenn es nicht gar Notre-Dame-du-BonSecours war. Während des Unterrichts lächelte mich Claude schüchtern an, antwortete eifrig auf meine Fragen und senkte den Blick, wenn die Mutter das Zimmer betrat, um uns Tee zu bringen. Claude interessierte mich kaum. Wir waren etwa gleich alt, wir hätten sonntags zusammen ins Rino gehen können, aber ich liebte meine Einsamkeit und brauchte niemanden, um die Wochenenden zu füllen. Ich schätzte die Scheine, die mir Claudes Mutter einmal im Monat gab: Wenn ich mit dem Geld in der Tasche hinausging, überquerte ich die Straße und betrat die beste Buchhandlung der Stadt. Ich tauschte das Geld in Literatur. Das war wie ein Zauber. Gegen Jahresende erklärte mir meine Mutter strahlend, dass ihre Freundin mit meinen Diensten überaus zufrieden sei. Ich verstand nur das, was diese Worte sagten: Ich unterrichtete Deutsch und Claude machte Fortschritte. Meine Mutter stellte mir Fragen. Was für einen Geschmack Claude habe und welche Augenfarbe? Ich war außerstande, darauf zu antworten. Ich hätte die fehlerlose Beherrschung der starken Verben erwähnen können und Claudes Schwierigkeiten – gleich denen der meisten Landsleute –, das berühmte »ch« auszusprechen, das zu nah am »seh« war, ein Detail, das mich immer wieder ärgerte. Für mich war es nämlich nicht dasselbe: Der zarte, keinem anderen gleichende Zungenrückenlaut, den das Pronomen ich zur Perfektion erhob, trug zur 29
Magie der deutschen Sprache bei. Ich hatte versucht, Claude zu korrigieren. »Schließen Sie die Augen, ziehen Sie die Schultern hoch, konzentrieren Sie sich und sagen Sie Ich.*- Ein weichliches Isch war zwischen den Lippen hervorgedrungen. Ich hatte den Rückzug angetreten. Das Wort Eichhörnchen wurde aus dem Lehrplan gestrichen – das Tier würde warten müssen, bis es korrekt benannt werden könnte. Den Menschen Claude versuchte ich nicht zu ergründen. Ich interessierte mich für die Bücher, die ich dank der Privatstunden kaufen und anschließend verschlingen konnte. Heute kommt es mir so vor, als habe mir Claude auf eine ganz eigene, diskrete Art den Hof gemacht. Damals aber habe ich nichts gesehen, ich wollte nichts sehen. Meine Mutter lud ihre Freundin zum Tee ein. Claude kam mit. Meine Mutter flüsterte mir zu, ich sollte mich von meiner besten Seite zeigen, lächeln, ein wenig romantisch wirken. Ich gehorchte. Nach dem Tee teilte mir meine Mutter mit, dass ihr diese junge Person gefalle. Ich brauchte eine Weile, ehe ich verstand, dass Claude dabei war, in meine Familie einzutreten, auf einen Platz, der mein Interesse oder mein Misstrauen hätte wecken müssen: in unserem Stammbaum neben mir. Ich hatte nicht daran gedacht zu heiraten. Ich hatte nichts gegen ein solches Unternehmen, solange mich eine Ehe nicht daran hinderte, Bücher zu lesen, und ich eine gewisse Distanz wahren konnte, denn ich hatte keineswegs die Absicht, zugunsten des Ehelebens 30
meinem Charakter oder gar meinen Leidenschaften zu entsagen. Ich erinnere mich nicht, dass ich dieses Thema vor der Hochzeit mit Claude berührt hätte. Wir gaben einander an einem Samstag im Sommer das Jawort; alles nicht sehr originell. Standesamt, Kathedrale, der Bischof im Spitzennachthemd, der Bräutigam im Schwalbenschwanz, die Braut in Weiß mit langer Schleppe, ein richtiges Pauschalpaket mit Festmahl, Walzer, Torte. Zürich als Ziel der Hochzeitsreise war mein einziger Beitrag zum Zeremoniell, ich wusste, dass Thomas Mann dort Zuflucht gefunden hatte, ich hoffte, ihn auf einer Cafeterrasse zu treffen. Ein paar Monate nach unserer Hochzeit nahmen mich meine Schwiegereltern nach einem Sonntagsessen beiseite. Ich fürchtete, das Gespräch könnte lange dauern: Ich wollte schnell zu meiner Lektüre zurück. Mir wurde bewusst, dass ich seit einigen Wochen Gegenstand zahlreicher Familiendiskussionen war, von denen sie mir nun berichteten. Mein Schwiegervater sprach über die Hochzeitsnacht und über Beziehungen. Ich fragte Welche Beziehungen? Ich hatte eingewilligt, sein Kind zu heiraten, aber ich hatte nicht geschworen, mich mit ihm zu paaren. Diese Geschichte mag unglaublich klingen. Aber ich versuche nur, die Tatsachen so getreu wie möglich wiederzugeben. Ich verstand nicht, weshalb meine Schwiegerfamilie ganz plötzlich eine so obszöne Haltung von mir erwartete, während alle Verhandlungen im Hinblick auf die Eheschließung mit unendlicher 31
Schamhaftigkeit, mit Euphemismen und Andeutungen geführt worden waren, bei einer Tasse Tee in zartem Porzellan. Wir hatten dabei viele Nusstörtchen gegessen. Plötzlich wurde in verschleierten Worten der Vorwurf gegen mich erhoben, dass ich mich nicht der Plattheit gefügt und mich nicht zu einer jener Szenen hingegeben hätte, die man auf bestimmten frivolen Karten sah, die die Schüler des Knabengymnasiums heimlich untereinander tauschten: Die Frau lag mit hochgeschlagenem Rock halb ausgestreckt auf einem Damastsofa und bot ihre kaum behaarte Vulva dem Appetit eines vor ihr stehenden Mannes dar, dessen Hose verdreht über den Knöcheln hing. Er stand mit dem Hintern zum Fotoapparat, sein Glied zweifellos der schmachtenden Beute entgegengereckt, aber das konnte der Betrachter nur vermuten, denn damals erlaubte man sich noch nicht, einen erigierten Penis zu zeigen. Ich hatte es abgelehnt, mich den gleichen Spielen hinzugeben wie diese Personen, brutale Kopulation zum Abschluss eines reichlich begossenen Mahles. Ich empfand zu viel Respekt für Claudes bürgerliche Erziehung, um an eine solche Kränkung zu denken und unsere Beziehung zu beschmutzen, ich hatte auf die Empfehlungen der Pfarrer gehört, die in meiner Kindheit Pflöcke gesetzt hatten, die Sünde des Fleisches, die Sünde des Fleisches, meine Kinder; aber ich verstand, dass die Welt etwas anderes von mir erwartete, und sah mich außerstande, es zu geben: Sex, Fleischeslust und vor allem Kinder. Ich 32
würde den Erwartungen nicht entsprechen können. Ich glaube, mein Begehren galt einzig den Büchern und der deutschen Sprache. Ich bevorzugte Claude bekleidet. Nacktheit interessierte mich nicht. Frisiertes Haar, Pfauen- oder Straußenfedern, besonders sorgfältig gepflegte Hände, das alles bedeutete mir nichts. Ich hätte eine Seele lieben können oder die Lust am Lesen, aber Claude las nicht, deshalb sprachen wir nur wenig. Claude war da. Wir trugen denselben Nachnamen, aber wir waren uns kaum ähnlich. Claude hatte die Ausbildung beendet. Die Deutschnote in der Prüfung war abscheulich, aber die anderen Fächer reichten für das Diplom und eine Stellung in der Buchhaltung einer Holztransportfirma. Wir wohnten bei meinen Eltern im Oberge-schoss, ein großes Schlafzimmer, daneben mein Arbeitszimmer und ein Bad, dafür zahlten wir Miete. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen auszuziehen, ich hatte dort meine Bibliothek. Claude verstand sich gut mit meinen Eltern, besser als ich mit meiner Schwester Anne. Das Zusammenleben verlief bestens, kein Wort lauter als das andere. Ich widmete meiner Umgebung die notwendige Zeit, allabendliches Essen am Familientisch, sonntags bei meinen Schwiegereltern. Ich verabschiedete mich, sobald die Kaffeetassen geleert waren. Immer mit größter Höflichkeit, um die Familie nicht zu verärgern, aber entschlossen, damit niemand den Mut fand, mir irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Niemand wagte 33
es. Ich war das intellektuelle Element der Familie, und diese Stellung füllte ich perfekt aus. Wer hätte sich darüber beklagen können? Meine Eltern hatten mein Studium unterstützt, bei meinen Schwestern, die einfach nicht lernen konnten, hatten sie nicht darauf bestanden. Sie hatten verbissen mit Claudes Eltern verhandelt und meine Diplome in die Waagschale geworfen; meine Schwiegereltern, Händler mit dem Drang nach Anerkennung, machten so Claudes mangelhafte Schulbildung wett, weshalb sie sich jetzt keinesfalls beschweren konnten. Sie konnten sich etwas auf ein eigenes Schrankfach im Lehrerzimmer des Mädchengymnasiums der Stadt und auf das mit dem Amt verbundene Prestige zugute halten, die Schule trug den Namen eines Helden der Republik des Geistes, sie waren überglücklich. Deshalb bedrängte mich mein Schwiegervater nicht länger, als ich ihm höflich zu verstehen gab, dass ich mein Maximum geleistet hätte, indem ich Claude heiratete, und dass man mich ansonsten bei meiner Literatur lassen solle. Claude war das jüngste von sechs Kindern. Die fünf Geschwister hatten dem Vater schon eine zahlreichere Nachkommenschaft beschert als jedem Zeitgenossen: dreißig Enkel. Vielleicht auch zweiunddreißig, ich habe sie nicht gezählt. Mein Schwiegervater ließ Claude und mich in Ruhe. Er sprach nicht wieder von Kindern. In 34
einer christlicheren Familie wäre das jüngste Kind im Kloster gelandet. In gewisser Weise war ich Claudes Priestertum. War das Fehlen von körperlichem Rontakt für uns beide natürlich? In unserer Hochzeitsnacht hatte ich nach einem Buch gegriffen, anstatt mich auszuziehen und mich der Lust des Fleisches hinzugeben. Claude hatte nichts gesagt, war lange im Bad geblieben und dann eingeschlafen, ehe ich mein Kapitel beendet hatte. An den nächsten Abenden machte Claude mit größter Selbstverständlichkeit Toilette, ohne die geringste Frustration zu zeigen. Wir waren Mann und Frau, die bloße Tatsache schien zu genügen. Ich hatte es gehofft, denn ich war außerstande, diesen fremden Körper zu berühren oder an mich heranzulassen. Der bloße Gedanke erfüllte mich mit Entsetzen, und ich war Claude dankbar, dass mir diese Prüfung erspart blieb. Ich hätte nicht sagen können, dass Claudes Körper mich abstieß, er weckte nichts in mir, weder Begehren noch Abneigung. Meine Gelüste lagen woanders. Und Claudes? Ohne das Bad übermäßig zu nutzen, gab sich Claude doch jeden Abend einem Ritual hin. Was auch geschehen mochte, wie spät es auch war, selbst an Heiligabend, Claude wusch im Waschbecken die Unterwäsche. Was war das für eine Angewohnheit, die man mir nicht eingetrichtert hatte? Ich hatte nie jemanden gesehen, 35
weder meine Mutter noch meine Schwestern, erst recht keinen Mann, der dies tat. Wir überließen es meiner Mutter, sich um die Wäsche zu kümmern. Ich sagte mir, diese kleine Zeremonie sei eine Eigenheit, eine persönliche Art, mit der eigenen Intimität und den Körperausscheidungen umzugehen, sie auszulöschen, um dem nächsten Tag seine Frische zu lassen. Meine Schwiegermutter beschäftigte eine Wäscherin. Wahrscheinlich hat Claudes schamhaftes Wesen schon von klein auf das Bedürfnis in ihr geweckt, sich vor den Indiskretionen einer Bediensteten zu schützen. Wir haben niemals über dieses Ritual gesprochen, ich habe nicht gefragt, woher es stammte, wir redeten nicht miteinander. Ich hatte mein Leben, Claude ein eigenes, unsere Wege kreuzten sich am Ende des Tages, wir verbrachten unsere Abende zusammen, ohne großes Interesse füreinander. Wir waren verheiratet. Wir hatten uns Treue und Beistand geschworen, aber wer hatte von Liebe gesprochen, von gegenseitiger Erforschung, von Bereicherung des einen durch den anderen? Claude hatte ganz bestimmt ein Innenleben, wer hat das nicht?, aber ich machte mir nicht die Mühe, es zu entdecken, lieber genoss ich den raschen Verfall von Gregor Samsa, nahm an der langsamen Agonie von Hans Castorp am Fuße seines Zauberberges teil oder beendete mit Mrs. C. vierundzwanzig Stunden ihres Frauenlebens.
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Befriedigte Claude sich selbst? Heute stelle ich mir diese Frage, zu jener Zeit dachte ich nicht daran. Ersetzte diese Zeremonie der Reinigung der Unterwäsche den leiblichen Rontakt mit einem begehrten Körper? Ich weiß nicht, ob Claude Gefallen an meiner Abwesenheit fand, um sich selbst die Erregung zu schenken, die ich nicht bot, um mit den Fingern den eigenen Körper zu berühren und fremde Hände, meine Hände zu simulieren. Ich sehe vielleicht so aus, als hätte ich mein Dasein der asketischen Lektüre geweiht, aber ich habe mir damals schon meine Ration Lust gegönnt. Wenn ich während des Krieges nachts aus dem Keller zurückkam, vor allem, wenn die Kälte mich von einem Buch fortgetrieben hatte, befreite ich gelegentlich ein allzu heftiges Verlangen, eine nicht zu unterdrückende Lust nach etwas Sinnlichkeit mit ein paar Handbewegungen unter den rauen Laken, die meine Mutter wohl von einem Kloster bekommen hatte, eine ihrer Tanten war Äbtissin in einem Franziskanerinnenkloster gewesen. Claude schnarchte neben mir, und ich versenkte mich in Gedanken in Der Tod in Venedig, ich dachte an den Jungen, den Gustav von Aschenbach durch die Gassen der Serenissima verfolgte, ich stellte ihn mir vor, die mandelförmigen Augen, den zarten Flaum auf seinem Arm, die unbehaarten, kräftigen Schenkel in der Lederhose. War es der junge Tadzio oder die Erinnerung an den, der mir einst in der dritten Etage eines Studentenwohnheims der Weimarer Republik den Text von Thomas Mann 37
vorgelesen hatte? Im Halbschlaf entwarf ich die Züge eines neuen Helden, halb Hans-Joachim, halb ein anderer, wie eine der Statuen vor den öffentlichen Gebäuden, die man kurz vor dem Krieg gebaut hatte, Gerichtsgebäude, städtische Badeanstalten und Gemeindeämter, eine Statue mit willensstarkem Rinn, entschlossenem Blick, kräftiger Brust. Aber die hartnäckige Erinnerung an die Orgasmen meiner Schwester und das Zittern des Leuchters im Salon, das ich am Tag hatte ertragen müssen, hinderte mich oft daran, Lust zu empfinden, widersetzte sich der Anmut des flüchtigen Geschöpfs, das durch den Himmel meines Bettes eilte, dieser Mischung aus dem Helden von Thomas Mann und meinem Jugendfreund. Schließlich triumphierten aber doch die Sätze aus dem Tod in Venedig, die jugendliche Stimme von HansJoachim, und verschafften mir Erlösung »... und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormännlich hold und herb, schön wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann ...«
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Die Besatzung und ihr Tross an Verpflichtungen hatten mich bald eingeholt. Anfänglich war ich wie viele Landsleute gewesen. Mit offenem Mund hatte ich die deutschen Truppen im Stechschritt durch die Hauptstraße der Stadt defilieren sehen, ihr Erobererschritt prügelte auf den Boden meines Vaterlands ein. Ihre arroganten Mienen hatten mir ebenso wenig gefallen wie später Volkers pralle, hemmungslose Männlichkeit. Sein Geschlecht stellte ich mir riesig und mächtig vor, maßlos im Verhältnis zur Realität, aber wie konnte er meiner Schwester so viel Lust verschaffen, wenn nicht mit einem Glied von außergewöhnlicher Größe und besonderer Inbrunst? Mir hatte auch missfallen, mit welcher Leichtigkeit sich Frankreich in die Unterwerfung unter den Erbfeind gleiten ließ. Die Lokalzeitung vollbrachte ein Meisterstück. Ihr zufolge schien die französische Armee am 13. Juni 1940 bei den Ardennen zu triumphieren. Am 17. erfuhr man, dass der Waffenstillstand in Rethondes unterzeichnet worden war, und drei Tage später bekundete die Zeitung ihre hohe Wertschätzung für den Feind vom Vortag. Aber was blieb ihr übrig? Was hatte ich selbst getan, um mich den Besatzern entgegenzustellen? Während des ›drôle de guerre‹ hatte der französische 39
Generalstab meine Fähigkeiten als Germanist in Anspruch genommen und mich die von der Nazipresse verbreiteten Informationen übersetzen lassen. Ein junger Soldat mit pausbäckigem Gesicht brachte mir am späten Nachmittag, wenn ich aus dem Gymnasium zurückkam, einen Stapel Dokumente. Militärischer Haarschnitt, eng anliegendes Hemd, durchdringend blaue Augen, Muskeln dicht unter der Haut. Ich las die Papiere und übersetzte nur die Passagen, die mir wichtig erschienen. Der Soldat wartete auf einem Stuhl vor der Tür meines Arbeitszimmers. Er sang mit tiefer, warmer Stimme Nocturnes von Chopin. Er hatte mich mit starkem ausländischem Akzent gefragt, ob mich sein Gesang störte. Ich hatte gesagt Im Gegenteil, ich liebe diese Melodien. Ich wollte hinzufügen Und Ihre Stimme. Der junge Mann wiegte mich in meiner Lektüre, Spalten voll gehässiger Worte über die Feinde des deutschen Volkes, immer die gleichen, die Engländer, die Franzosen, die Juden. Ich bekam endlose Widerwärtigkeiten zu lesen, ganze Seiten voller Hass, ein fortwährender Aufruf zum Mord. Die Juden bekamen besonders viel ab. Die Nazis wollten sie von der deutschen Nation trennen, wie man einen Tumor aus dem Körper schneidet. Die Reden, die ich übersetzen musste, waren mit obszönen Anspielungen gespickt. Man konnte meinen, die armen deutschen Frauen in den Straßen von München und Weimar riskierten ständig die Vergewaltigung, der Jude treibe sich fortwährend im nationalsozialistischen Geist herum und habe nur ein 40
einziges Ziel: Gretchen zu überfallen. Die Synagogen waren verrufene Absteigen, Freudenhäuser, jedem deutschen Mädchen drohte Gefahr, dort eingesperrt zu werden. Die Nazimoral verbot die Ehe ebenso wie alle sexuellen Beziehungen zwischen Ariern und Juden. Versteckte man einen Polizisten unter jedem Bett, um zu kontrollieren, dass das Gesetz nicht verletzt wurde? Wenn Claude jüdisch gewesen wäre, wenn wir in Deutschland gelebt hätten, hätten wir dann Beweise der Jungfräulichkeit vorlegen müssen, um dem Gefängnis zu entgehen? Wir hätten keine Schwierigkeiten gehabt, sie zu erbringen. Wenn ich meine Seiten fertig geschrieben hatte, stand ich manchmal nicht gleich auf. Ich blieb mit dem Füller in der Hand sitzen, den Blick auf die Tapetenblumen gerichtet, die Seele jenem Singen zugewandt, das von dem Jungen ausging. Ich ließ mich überwältigen. Nach einer Weile zog es meinen schlafwandelnden Körper hin zu dem jungen Mann. Ich legte den Füller hin, ich stand auf, ich öffnete die Tür, er straffte sich sogleich zur HabAcht-Stellung. Bei der Rückgabe des Pakets mit den Zeitungen und meinen Übersetzungen hatte ich oft Lust, sein tadellos gebügeltes Hemd zu öffnen, aber ich habe dieses Verlangen immer unterdrückt. Das war verboten.
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Der Waffenstillstand kam. Ich sah ein, dass der Soldat nicht mehr kommen würde, ich kannte nicht mal seinen Vornamen, aber ich bewahrte die Erinnerung an sein jugendliches Gesicht, an die unter der Uniformbluse hervortretenden Brustwarzen an Tagen großer Kälte (oder weckte ich irgendein Verlangen in ihm?) und an seine Bassstimme, in der die ganzen und die Achtelnoten flössen. Ich unterrichtete weiter im Mädchengymnasium, den Privatunterricht hatte ich seit meiner Hochzeit aufgegeben, ich gewöhnte mich an die Besatzung, an die unbesetzte Zone (die es nicht lange bleiben würde), an die Lebensmittelmarken. Claude und mir standen 250 Gramm Brot pro Tag zu, 200 Gramm Fleisch pro Woche (wobei wir nicht gleichgestellt waren: Männer hatten Anrecht auf größere Rationen als Frauen), außerdem Luftangriffe und Nächte im Luftschutzkeller. In unserem Viertel hatte jedes Haus einen Keller, sodass wir keine Nachbarn bei uns aufnehmen mussten. Wir waren zu viert, meine Mutter, meine Schwester, Claude und ich, der Weinkeller war groß genug, mein Lesekabinett blieb verschont. Ich sah die Besatzer in Uniform mit Hakenkreuzbannern defilieren, ich ging oft am Soldatenkino vorbei, ich flüchtete aus dem Haus, wenn sich Volker näherte, ich konnte mir nicht vorstellen, irgendetwas gegen diese ziemlich vereinnahmenden Besatzer zu unternehmen. Die 42
Résistance organisierte sich, aber das betraf mich nicht. Ich war weder jüdisch noch hing ich dem Kommunismus an. Mein Patriotismus war so wie bei den meisten: flau. Ich verabscheute Volker, das Knallen seiner Absätze auf den Treppenstufen aus Nussbaumholz, die schon vier Generationen meiner Vorfahren getragen hatten, ich hätte ihn eines Tages töten können, wenn er kam, um sich in meine Schwester zu ergießen, und ihn im Keller unter meiner Geheimbibliothek begraben, niemand hätte davon erfahren, ich hätte nur beim Raufkommen schmutzige Fingernägel gehabt, aber ich hätte sie vor dem Essen gebürstet, oder meine Schwester hätte Schwierigkeiten bekommen, sie wäre in Ravensbrück gelandet oder in einem Soldatenbordell an der russischen Front, sie hätte ihre Tage mit gespreizten Schenkeln auf einem räudigen Bett verbracht und die deutsche Jugend hätte sie bestiegen – nicht mehr als zwei Minuten pro Soldat sonst geht der ganze Tag drauf –, auch HansJoachim, der aus meiner Jugend, musste irgendwo an der Front sein. Ich war nicht darauf gekommen, mich auf diese Art am Kampf gegen die Besatzer zu beteiligen, aber wenn alle jungen Leute meiner Generation dem Deutschen, der ihre Schwester bumste, ganz diskret den Hals umgedreht hätten, wenn alle jungen Mädchen aus guter Familie nach dem Küchenmesser gegriffen hätten, um allen Volkers mit gut rasiertem Nacken die Halsschlagader durchzuschneiden, wären wir die Armee des Reiches im Handumdrehen losgeworden. 43
Ich ließ mich vom Alltag begraben. Geschäfte wechselten die Besitzer. Die Kurzwarenhandlung Bloch, der von der alten Madame Dreyfus geführte Schmuckladen »À l'émeraude« waren von Konkurrenten im Rausch des Nationalismus übernommen worden, niemand wusste, was aus den alten Besitzern geworden war, in Luft aufgelöst, Unkraut eroberte die Gärten ihrer Häuser mit den geschlossenen Fensterläden. Verbargen sie sich dahinter? Hatten sie anderswo bei Freunden Zuflucht gefunden, die Schweiz erreicht, oder lebten sie, wie die Presse gern behauptete, von den Unsummen, die sie auf Rosten der guten Franzosen angehäuft hatten? Wem glauben? Ab und zu sammelten die Deutschen am Schultor Schüler ein. Ich bin mehr als einmal Zeuge solcher Szenen geworden, denn die Fenster meines Klassenraums gingen auf den Eingang des Jungengymnasiums. Dutilleul, Marcellin, Garabédian, Proust, ich wusste nicht, dass sie Widerständler waren, aber sie wurden in Autos geladen und kehrten nicht zurück. Ich habe so getan, als bemerkte ich nichts, trotz der Pistolenschüsse, und der kleine Lachman, ich hatte ihn schon als Dreikäsehoch gekannt, er ist losgerannt, sie haben ihn mitten auf der Straße erschossen. Als der Schuss knallte, als Lachman zusammenbrach, hatten die Schüler ihre Nasen in den Heften. Ich las laut vor:
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Der du von dem Himmel bist Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest. Wie schön sie war, die Sprache von Goethe und Goebbels! Die Eltern von Lachman wohnten nicht weit von uns entfernt, wir haben sie nach dem Drama nicht besucht, für meine Schwester kam es nicht in Frage, sie musste ihren Rang als Würdenträgerin bewahren, aber meine Mutter und ich? Ich glaube, wir hatten einfach Angst, ihr Unglück würde auf uns zurückfallen, man würde uns sehen, wenn wir hingingen, um den Eltern eines Widerständlers unser Beileid auszusprechen. Und obendrein ein Jude. Als manche Autoren auf den Index gesetzt wurden, hat mir das nicht gefallen. Kameraden aus meiner Kindheit sind in die Illegalität gegangen, die Jungen wegen des Zwangsarbeitsdienstes, die Mädchen haben aus Liebe zu ihrem Verlobten oder zu ihrem Vaterland angefangen, auf Fahrrädern durch ganz Frankreich zu fahren, in deren Rahmen verschlüsselte Botschaften der Résistance steckten. Ich konnte nicht auf Thomas Mann verzichten, das war meine Toleranzschwelle gegenüber den Besatzern. Ich habe meinen kleinen unterirdischen Schmuggel organisiert, Widerstand ohne Waffen. 45
Es war an einem Vormittag. Die Besatzer besetzten uns schon seit geraumer Zeit. Ich erklärte Schülerinnen der neunten Klasse die Verwendung des Genitivs nach der Präposition während. Es klopfte an der Tür des Klassenraums. Der Direktor kam herein, Muller, ein vertriebener Elsässer, der den von Vichy entlassenen Valabrègue ersetzte. Dem Direktor folgten dichtauf zwei Deutsche in Gestapo-Uniform. Der Größere, blond, rotwangig und mit aggressivem Kiefer, wandte sich an mich und befahl mir, ihm zu folgen. Ich habe gesagt Mesdemoiselles, bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe meine Sachen in die Aktentasche geräumt, meinen Glencheckmantel mit dem Kaninchenkragen angezogen und bin unter dem leicht besorgten Blick des Direktors den beiden Männern gefolgt. Die Gestapo hatte eines der schönsten Häuser der Stadt besetzt, das vorher Sitz einer Regionalbank gewesen war, das Hôtel des Barres. Seit Beginn der Okkupation waren die einst sehr belebten Bürgersteige vor dem Gebäude, die von einer Geschäftsstraße zu einer anderen führten, so menschenleer, als fürchteten sich die Passanten, der bedrohlichen Adresse Place du Maréchal-Pétain Nr. 10 allzu nah zu kommen, aus der nach dem Krieg die Handelskammer an der Place du Général-de-Gaulle Nr. 10 wurde. Man machte einen Umweg, um nicht an den Mauern der Gestapo entlangzugehen und nicht aus Ver46
sehen bei einem von unwiderstehlicher Neugier gelenkten Blick durch ein Fenster Zeuge eines Geschehens zu werden, das man nicht sehen wollte. Man wusste, dass die Tresorräume im Keller der Bank in Zellen umgewandelt worden waren, in denen ein Aufenthalt nicht gut tat. Wenn man den Ort erwähnte, sprach man von den ›Barres‹: Der kleine Bergeron ist in die ›Barres‹ gebracht worden. Die vorgeladenen Personen betraten das Haus durch das große Tor, sie verließen es oft durch die Hintertür, in einem geschlossenen Lastwagen, mit unbekanntem Ziel. Ich kannte den Grund der Vorladung nicht, aber ich hatte große Angst, nie wieder vorn herauszukommen. Ich war nicht jüdischer Rasse, ich hatte niemals irgendeinen Rontakt mit der Résistance gehabt (meine Zurückhaltung im Hinblick auf Lachmans Eltern war nicht die einzige Vorsichtsmaßnahme gewesen), ich hatte peinlich genau die Ausgangssperre eingehalten, und wer konnte von der Existenz meiner geheimen Bibliothek wissen? Unterwegs hätte ich wegrennen können wie Lachman, um meiner Eskorte zu entkommen. Ich hatte eine winzige Chance, nicht unter den Kugeln ihrer Maschinenpistolen zu fallen, aber warum hätte ich es tun sollen? Ich hatte mir fast nichts zu schulden kommen lassen. Die wenigen hundert Meter, die meinen Klassenraum von den Gestapo-Büros trennten, waren endlos. Ich ging zwischen drei uniformierten Deutschen, ich mied die
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Blicke der Passanten, aus Furcht, einem bekannten Gesicht zu begegnen, alle oder fast alle in der Stadt kannten mich. Es würde höchstens ein paar Stunden dauern, bis mich die Gerüchte bei den Opfern und den Helden dieses schmutzigen Krieges einordneten. Ich gehörte mit einem Mal zu den Hitzköpfen, festgenommen, weil sie sich gegen die ›Boches‹ erhoben hatten. Ich hatte große Angst vor dem, was mich bei der Gestapo erwartete, aber ich empfand einen gewissen Stolz, während ich mir diese Identität zu Eigen machte, die über mich hereingebrochen war; meine Person weckte Blicke voll Entsetzen und Bewunderung. Ich stellte mir die Rechtfertigungen vor, die ich würde vorbringen müssen, um ein einwandfreies Verhalten zu beweisen, aber würde ich auch meine Willigkeit beweisen müssen? Nichts gegen die Besatzer zu sagen oder zu tun, das Fahrrad in der Garage stehen zu lassen, während die anderen sich dem Widerstand anschließen, das war etwas anderes als sich dessen vor dem Feind zu rühmen, um die eigene Haut zu retten, etwas ganz anderes. »Ich habe mich nicht gerührt, Herr Gestapo-Chef, ich habe Ihre Armee jeden Quadratzentimeter unseres Landes besetzen lassen ohne mit der Wimper zu zucken, ich schwöre es.« Würde ich dazu imstande sein? Wir gingen durch das Tor des Gebäudes, ich stieg die monumentale Treppe zur ersten Etage hinauf. Ich erinnerte mich, dass ich mit meinem Vater und meinen 48
Schwestern dort hochgegangen war, als wir das Kapital in Empfang nahmen, das meine Großmutter nach ihrem Tod hinterlassen hatte, eine erkleckliche Summe. Das war zu Zeiten der Bank. Sie setzten mich auf einen Stuhl vor die zweiflüglige Tür des Direktorenbüros, ein prächtiges Kunstwerk mit vergoldeten Zierleisten, das aus der Zeit Ludwigs XIV. stammte. Ich wartete eine Ewigkeit. Niemand dachte daran, mir etwas zu essen zu geben. Als der Abend kam, es war Winter, es wurde früh dunkel, aber ich hatte immerhin den ganzen Nachmittag gewartet, rief man mich ins Büro. Ich hatte es mit dem Ortskommandanten der Gestapo zu tun, einem höflichen, entschlossenen Mann. Meine beruflichen Fähigkeiten holten mich wieder ein. Ich erhielt den Befehl, mich den Besatzern für verschiedene Übersetzungs- und Dolmetschtätigkeiten zur Verfügung zu stellen, nicht viel, kaum ein paar Stunden pro Woche. Eine winzige Kollaboration, letztlich nicht mit meinem Schwager von der Legion zur Verteidigung Frankreichs zu vergleichen. Warum griffen sie so spät auf meine Dienste zurück, als die Alliierten schon in Nordafrika gelandet waren? Hatte ich die Möglichkeit abzulehnen? Ich habe es nicht gewagt, die Frage zu stellen, das zu entscheiden wäre zu Hause auch noch Zeit. Der Kommandant hat Deutsch mit mir gesprochen. Ich hatte nicht wenig Lust, ihm auf Französisch zu antworten, um mich selbst zu überzeugen und ihm klarzumachen, dass ich mein Land nicht vergaß, aber ich habe 49
mich nicht getraut. Schamhaftigkeit, Schüchternheit, Angst? Ich fürchtete mich davor, das Haus durch die Hintertür in einem geschlossenen Lastwagen zu verlassen. Es war auch ein Reflex, auf Deutsch zu antworten, eine zweite Natur, ich sprach diese Sprache so gern. Wie es den Raucher nach dem Gefühl verlangt, den Rauch seine Stimmbänder bearbeiten zu lassen, liebte ich es, ihre Laute durch meine Kehle toben zu lassen wie eine Horde wilder Pferde, vor allem jene, die es im Französischen nicht gab, Ich habe das nie getan, ich möchte doch etwas machen, was ich perfekt aussprechen konnte. So ging ich also in entgegengesetzter Richtung durch das Tor, ohne einen Blick für die Passanten. Ein paar Stunden später würden die Gerüchte davon berichten, dass ich zu den wenigen gehörte, die unbeschadet von einer Vorladung zurückgekehrt waren. Man würde sich fragen, wie ich den Maschen des Netzes hatte entkommen können. Man würde eine Parallele zu der Razzia gegen Untergrundkämpfer ziehen, die am nächsten Tag im Morgengrauen erfolgen würde, oder zur Verhaftung eines Kollegen, und man würde sich sagen, dass ich wohl ein paar Namen fallen gelassen hatte, wie sonst wäre ich durch das große Tor aus den ›Barres‹ herausgekommen. Um die Gerüchte zum Verstummen zu bringen, musste ich ein paar Krümel der Wahrheit fallen lassen, die ich 50
lieber für mich behalten hätte, denn ich hatte dem Gestapo-Rommandanten meine Dienste nicht verweigert, weder bei der Vorladung noch zu einem anderen Zeitpunkt. Ich sagte, dass ich keine Wahl gehabt hätte, so oder der geschlossene Lastwagen, anders gesagt: Der Kommandant hätte gedroht, meine Mutter und meine Schwester zu verhaften, trotz ihres Status als Witwe von, und sie irgendwohin zu schicken, in ein Bordell für Vichy-Legionäre in Sidi Bei Abbes oder anderswohin, weil die Alliierten Algerien schon zurückerobert hatten. Das war falsch, der Kommandant hatte mit nichts gedroht. Er hatte sehr zuvorkommend mit mir gesprochen. Ich hatte bei ihm eine gewisse Achtung für meine Person gespürt. Er hatte nichts davon gesagt, aber er schien meine Beherrschung seiner Sprache zu bewundern. Darauf hatte sich seine Achtung beschränkt. Ich hatte nicht, wie zu Zeiten der französischen Armee, das Anrecht auf einen Hausboten. Ich holte meine Lektüre einmal in der Woche ab. Manchmal musste ich lange warten, ehe Herr des Roulieres, ein Nachfahre von Hugenotten, dessen Name sich ohne Akzent schrieb, aber mit Akzent aussprach, mich empfing, um mir die zu übersetzenden Seiten auszuhändigen. Von seiner Seite kein Entgegenkommen. Eine typisch germanische Trockenheit, trotz seiner Ursprünge. Wollte er Jahrhunderte später das Schicksal rächen, das die älteste Tochter der Kirche seinen Urahnen angetan hatte?
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Wenn ich das Büro von Herrn des Roulieres verließ, ging ich durch das große Tor hinaus und durchquerte das riesige Gartenportal, das an Versailles erinnern sollte. Manchmal hatte ich Lust, die Verabredung zu vergessen, aber ich hielt sie mit mustergültiger Pünktlichkeit ein. Ich schämte mich, der Gestapo zu dienen, ich ertrug es kaum, diese ›Boches‹ bedenkenlos ihre Attribute des Dritten Reiches unter den Meisterwerken der Architektur des Grand siècle zur Schau zu stellen. Dennoch gestattete ich mir keine Minute Verspätung, obwohl ich wusste, dass ich auf Herrn des Roulieres würde warten müssen, manchmal mehrere Stunden. Meine Pünktlichkeit war mein Stolz, meine zugegeben sehr unauffällige Art des Widerstands. Ich wartete im Flur auf einem Holzstuhl, eine echte Prüfung, denn ich sah viel zu viele Menschen in diesem Schlauch vorbeikommen, alle nur denkbaren Störer der deutschen Ordnung, junge Leute, die nicht so schwach waren wie ich, oder von Geburt an Verdammte, irgendwo aufgespürte Juden, Zigeuner, die gleich wohnwagenweise festgenommen wurden. Ich hasste dieses lange Warten, ich tat, als wüsste ich nicht warum, bloß wegen der Demütigung, den Besatzern dienen zu müssen, aber es war noch etwas anderes: Meine Augen sahen die Menschen durch diesen Flur gehen, auf meiner Netzhaut setzten sich Gestalten, Mäntel, Gesichter fest, und je mehr dieser Bilder sich in meinem Kopf überlagerten, desto weniger würde ich sagen können, dass ich von 52
nichts wusste, widerrechtliche Verhaftungen, Prügel, Folter, Freiheitsberaubung, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, Ausflüge nach sonstwohin, ganze Familien, die man nicht trennen würde. Aber was tun, anstatt mit dem Hintern auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und auf die Bereitwilligkeit von Herrn des Roulieres zu warten (er ließ sich viel Zeit, um mich noch ein bisschen stärker zu demütigen, ich sah keine andere Erklärung für die Verspätung eines Nachfahren der Hugenotten)? Damals habe ich mir die Frage nicht gestellt, heute wundert mich das. Wie findet man sich mit einer Granate in der Hand wieder, um ein Bahngleis zu sprengen oder ein Magazin in eine graugrüne Patrouille zu leeren? Braucht man Mut, Unbekümmertheit oder einfach die Lust, sich der Routine eines von vornherein festgelegten Lebens zu entziehen? Monsieur, ich bin eingetaucht in die deutsche Sprache, um Goethe, Heine und die Brüder Mann zu lesen, nicht um Ihnen zu erlauben, Kinder vor ein Exekutionskommando zu stellen. Deshalb werde ich nichts für Ihren Dienst übersetzen. Oder ich hätte höflich das Büro verlassen können, ohne dem Rommandanten zu antworten, mit der Straßenbahn vom Hôtel des Barres bis zur Endhaltestelle und dann mit der Seilbahn zum Roche-Noire-Plateau fahren und verschwinden können. Oder einen Heuschnupfen simulieren und mich im Beisein der diensthabenden Gestapo-Männer in die Banner aus rot-weißem Raliko schnauzen, auf die riesige Hakenkreuze wie Brandzeichen aufgedruckt waren; sie 53
hingen auf beiden Seiten der Vortreppe von den Balkons des Hôtel des ›Barres‹ herunter und entstellten die Fassade. Stattdessen ging ich nach Hause zurück. Hatte ich Angst vor dem Tod, der Kälte, der Enge, dem Hunger? War es die Vorstellung, »in die Illegalität zu gehen«, die mich störte, das Gefühl, in den Augen einiger Menschen irgendwie zu verschwinden, in ihnen meine Existenz zu verlieren? Ich wusste es nicht, aber im Widerstand lebte man doppelt: Man hatte zwei Namen, zwei Identitäten, manchmal zwei Gesichter, fast zwei Körper. Die Frauen trugen dort Mützen und Hosen. War das nicht die Gelegenheit, jemand anderes zu sein, die Haut zu wechseln, die Frisur, die Haarfarbe, das Geschlecht und den Umgang? Auf nichts davon hatte ich Lust. Ich fühlte mich ziemlich wohl, wie ich war, meine Augen mein Kopf mein Körper waren mir recht, und störten mich die kleinen und großen Zugeständnisse meiner Schwester Anne wirklich so sehr? Wer war ich, wenn ich aufhörte, Deutsch zu unterrichten? Ich konnte mich nicht ins Eheleben flüchten, der einzige Freund, den ich je gehabt hatte, war Deutscher. Ich wollte vor allem, dass man mich in Ruhe lesen ließ, meine Kellernächte reichten mir aus. Ich konnte doch wohl ein paar Seiten pro Woche übersetzen, mal ein Propagandaflugblatt, mal die Rede des Obergruppenführers, das war Der Tod in Venedig allemal wert. Da oben, in den Bergen, hätte ich meine Bibliothek nicht gehabt. Und wie sollte ich in einem Ver-
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steck der Résistance meine Lieblingsautoren im Original lesen, wenn es darum ging, so viele Deutsche wie möglich zu erledigen und zur Buchführung Kreidestriche an die Mauer zu zeichnen? Kreide beschmutzt die Hände, sie quietscht auf der Tafel, aber diese Unannehmlichkeiten konnte ich ganz gut ertragen, solange es darum ging, einen Vers von Heine oder Schiller abzuschreiben. Das Büro von des Roulieres befand sich im Erdgeschoss, man musste daran vorbei, um in den Keller, den früheren Tresorraum, zu gehen. Im Laufe der Wochen durchschaute ich allmählich das Hin und Her der Nazis. Die Politischen wurden in den Keller gebracht. Oft hörte ich Schreie. Ich erbleichte, vor meinen Augen setzten die Deutschen ihren Weg fort, als wenn nichts wäre, als wenn man nicht in der Etage unter ihnen Männer und Frauen massakrierte, die oft kaum der Kindheit entwachsen waren. Die Juden, die Zigeuner (sie waren weniger zahlreich) verschwanden am Ende meines Flures, in einem Raum ohne Fenster zusammengefercht, dem einstigen Büro des Bankkassierers. Die Glastür mit der Sprechvorrichtung war durch eine Metalltür ersetzt worden. Ganze Familien gingen an mir vorbei, Vater, Mutter, Töchter, die Großmutter, Männer allein, auch Kinder ohne Eltern. Oft kannte ich die Gefangenen nicht. Das mussten Juden aus Paris sein, die sich in unserer 55
Gegend versteckt hatten. Man hatte sie in einem Speicher oder bei der Messe eines Klosters aufgetrieben, die Kinder in einer katholischen Adoptivfamilie. Es war bekannt, dass die Gegend mit Juden vollgestopft war. Ich hörte ein paar von ihnen Deutsch sprechen, andere einen Dialekt, den ich für Berlinerisch oder etwas Ähnliches hielt. Spanisch, Ungarisch, Tschechisch, Arabisch, auch Französisch, mit allen nur möglichen Akzenten. Einige hörte ich sogar ganz normal sprechen, aber die kannte ich meistens. Das waren unsere Juden, sie gehörten seit meiner Kindheit zu meinem Land. Ich fühlte mich nicht wohl, wenn ihr Mantelsaum meine Schuhspitzen streifte. Doktor Astruc, den ich nicht mochte, ein eingebildeter Mensch, Kahn, der Eigentümer des Kinos Excelsior, ein Emporkömmling, der den Aristokraten spielte, mit seiner Frau und seinen Zwillingen. Eines Morgens sah ich Madame Bloch vorbeigehen, die Kurzwarenhändlerin. Wo hatte sie sich all die Monate versteckt? Wenn ich als Kind meine Mutter in ihr Geschäft begleitet hatte, begeisterte sie sich stets an meinen blauen Augen, sie gab mir einen Lutscher und einen dicken Kuss auf die linke Wange. Sie drückte mich innig. Ich liebte ihre Wärme, ihren Zimtgeruch, ich wollte auch so riechen, ich liebte auch den Duft nach merzerisierter Baumwolle und Naphtalin in ihrem Laden. Meiner Mutter gefiel dieser Überschwang einer Verkäuferin nicht, ich las es in ihrem Blick. Sie hätte sich gewünscht, dass ich mich von ihren Küssen
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fernhielt, aber ich suchte bei Madame Bloch einen körperlichen Rontakt, den man mir zu Hause versagte. Glücklich drückte ich mich an ihren weichen Hals und bewahrte so lange wie möglich die Spuren ihres Lippenstifts auf meiner Wange und den Hauch ihres Parfüms auf meinem Mantelkragen. Ich wartete vor dem Büro von des Roulieres, als sich die Tür am Ende des Flures quietschend öffnete, die kleine, rundliche Frau kam heraus, wie aus dem Ei gepellt, geschminkt, mit Hut, sie verschwand nahezu unter einem dicken schwarzen Pelz mit rötlichem Schimmer. Zwei deutsche Soldaten rahmten sie ein, sie lief mit sicherem Schritt, in ihrem Gesicht war zu lesen, dass man ihr nichts vormachen konnte. Sie kam näher und ich fürchtete, sie würde mich erkennen. Ich wünschte mir, dass sich ein Loch unter mir auftäte und mich so lange verschlänge, bis sie vorüber wäre. Ich sah auf meine Fingernägel, tadellos wie üblich. Sie bemerkte meine Anwesenheit nicht, vielleicht erkannte sie mich nicht, ich war gewachsen. Die Soldaten sperrten sie in das Büro des Kassierers. Ich betete, dass sie dort bliebe, bis ich diesen Ort verlassen konnte. Ein paar Minuten später öffnete des Roulieres die Tür zu seinem Büro, er rettete mir das Leben. Ich fand alle möglichen Vorwände, um so lange wie möglich bei des Roulieres zu bleiben. Ich war plötzlich freundlich, geradezu liebenswürdig zu diesem Offizier, den ich nicht mochte und der mir gegenüber nur wenig
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Höflichkeit bezeugte, einfach nur, um nicht noch einmal Madame Bloch zu begegnen. Ich versuchte das Büro durch die andere Tür zu verlassen, ich wusste nicht, wohin sie führte, jedenfalls nicht in den Flur, den ich meiden wollte. Es war unmöglich. Des Roulieres versperrte mir den Weg und wies mit einer klaren Handbewegung auf den üblichen Ausgang. Glücklicherweise war der Flur leer. Ich wartete keine Sekunde. Ich habe noch oft an Madame Bloch gedacht. Sie ist nicht wieder aufgetaucht, ausgelöscht. Nach dem Krieg hat niemand mehr von ihr gesprochen. Ihr Geschäft hieß weiterhin »Zum Fingerhut«, aber es wurde von einer schnurrbärtigen Italienerin geführt. Später wurde daraus ein Schuhladen, dann eine Bank mit Tresorraum im Keller, aber ohne Zellen.
Der Krieg ging weiter, ohne dass man genau wusste, wer ihn gewinnen würde. Die Presse log, Radio London log vielleicht und sagte manchmal die Wahrheit, aber wie sollte man das wissen? Wir waren besetzt, und wir besetzten unsere Zeit mit allem Möglichen. Ich übersetzte, ich las, ich ging so oft wie möglich in den Keller, ich unterrichtete, ich hielt meine wöchentlichen Verabredungen ein, die Hakenkreuzwachen knallten die Absätze aneinander, wenn ich vorbeikam, ich gehörte zum Inventar der Gestapo, ich hätte gern mein Gesicht ver58
schleiert, um das Gebäude zu betreten, weniger um zu verschwinden, als um nicht zu sehen. Widerständler? Juden? Hast du die letzten Rennen gesehen? Ich habe niemanden rennen sehen. Nichts gesehen, nichts gehört. Im Flur vor dem Büro von des Roulieres glitten Schatten vorbei, jeder Mann, jede Frau war eine Platane am Rand einer Landstraße. Vom Sitzplatz im Bus sah ich sie aus dem Augenwinkel vorbeiziehen, aber mein Blick war anderswo, geradeaus, ich hatte nicht mal mehr den gewundenen Lauf der Vogesen als letzte Rettung, meine Augen verloren sich im Nebel, der an Wintermorgen von der Erde aufsteigt, nicht aufschauen und das Risiko eingehen, Gesichter zu erkennen. Was zählt, sind die Landschaften, nicht wahr? Sie sind da, meine Vorfahren haben seit Jahrhunderten dieselben gesehen, Kiefernwälder, Bergseen und die im Winter schneebedeckten Gipfel der Berge. Die Menschen gehen vorüber. Sie eilen ihrem Schicksal entgegen. Du hast noch nicht Atem geholt, da sind sie schon verschwunden, verschlungen vom Lauf der Zeit. Sie hinterlassen keine Spur in dieser Welt. Manche sterben friedlich im Bett, andere verschwinden etwas vor der Zeit. Das ist wie die Geburt, man kann sich die Stunde seiner Ankunft ebenso wenig aussuchen wie die der Abreise. Es hat schon immer Kriege, Ungerechtigkeiten, Opfer und Henker gegeben. Diese Madame Bloch war bei der Begegnung im Flur schon über fünfzig, also wäre sie heute in jedem Fall tot, denn kein Mensch wird hundertzwanzig Jahre alt. Die 59
Menschen geraten früher oder später ins Wanken und ihr Sturz zieht dich mit. Die Literatur gibt ihnen Halt. Ich wollte nicht wanken. Ist das der Grund, weshalb ich so gern las? Die Menschen an dem Ort wiederfinden können, wo man sie verlassen hat, sie am Ärmel packen, um ihr Verschwinden abzuwenden, und das Gleichgewicht wahren, mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Ich hatte noch ganze Bibliotheken zu lesen. Eines Tages tauchte der Soldat wieder auf, der Soldat, der mir während des ›drole de guerre‹ meine Ration Übersetzungen nach Hause gebracht hatte. Er stand da, vor mir. Die Eingangstür ging auf, man stieß eine Gruppe hinein, Juden. Das sah man. Sie waren nicht wie die anderen, ohne dass ich erklären könnte, woran ich das sehen konnte. Der junge Mann war in ihrer Mitte, in Zivil, größer als die anderen, majestätisch. Er dominierte. Ich habe ihn sofort erkannt. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit er mich zum letzten Mal besucht hatte. Zwei Jahre Besatzung, Erniedrigung, Verzicht und kleine Kompromisse, zwei Jahre Warten vor dem Büro von des Roulieres und vergebliche Versuche, keines der Gesichter wiederzuerkennen, die auf dem Flur vorbeizogen. Seite um Seite, für die Besatzer übersetzt, hatten diese Zeit überdeckt, auch seine Stimme, die vor meiner Tür Nocturnes sang. Mein Leben, ein Palimpsest: Ein bösartiger Schreiber hatte 60
eine Geschichte abgekratzt, um eine neue aufzuschreiben, und die erste war unleserlich geworden. Wo war er seit dem Waffenstillstand gewesen? Nach Hause zurückgeschickt, Gefangener in Deutschland? Ich hatte oft von ihm geträumt. Nackt, in Hab-Acht-Stellung, vor seiner Scham mit den Händen meine Übersetzungen umklammernd. Meine Finger strichen über die Schulterhöhle, seine Brust, die so fest war wie die Wange eines Pferdes, seinen Bauch, mein Zeigefinger kreiste, kreiste am Rand des Loches, mein Finger in seinem Nabel, mein zu einer Spitze gefeilter Nagel kratzte seine etwas körnige Haut, die Liebkosung wanderte zu Hüften und Po. Der Soldat blieb in Hab-Acht-Stellung, Befehl des Hauptmanns, trotz seiner Nacktheit und meiner Liebkosungen, nur ein leichtes Beben der Lippe, trotz Niederlage und Besatzung. Das war in meinen Träumen. Ich dachte, ich würde ihn nicht wiedersehen, und da war er, gerade, als ich auf des Roulieres wartete, mitten im Flur der Gestapo. Sein Gesicht in diesem grell erleuchteten Korridor war nicht wie in meiner Erinnerung. Der Mann sah mich nicht. Er war gealtert, eher gereift, sicher die Umstände dieser zwei Kriegsjahre, die doppelt zählten, er wirkte nicht mehr wie ein Kind, das man zu früh in eine Uniform gesteckt hatte. Seine Wangen waren eingefallen, aber seine Statur, sein rassiges Profil waren umso eindrucksvoller. Dieser Krieg hatte seinen Blick mit einem Stolz erfüllt, den ich nicht an ihm kannte. Ich starrte ihn unablässig an, er sah mich nicht, sein Blick 61
verlor sich in einem Anderswo, die anderen Juden um ihn herum existierten nicht mehr, er war allein mitten im Flur, vom Schicksal an diesen Ort gestellt.
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4 Am Anfang, im Keller, das war nicht leicht. Ich hatte nie geplant, dort jemanden zu verstecken. Herman (so hieß der ehemalige Soldat) hatte keine Wäsche zum Wechseln. Er musste die ersten Tage auf der Erde schlafen, denn es gab kein Bett. Am schlimmsten war das Sanitäre. Er musste mir seinen Nachttopf überlassen, er schämte sich. Ich mochte es nicht besonders, aber hatten wir eine Wahl? Heute bringt mich die Schamhaftigkeit bei solchen Dingen zum Lachen, ein Nachttopf, durchdringender schlechter Geruch, das ist gar nichts, seither haben andere weit Schlimmeres erlebt, in einem Flugzeugwrack in den Kordilleren den Nachbarn aufgegessen, in einem Viehwaggon Pisse getrunken. Ich dagegen habe nur im Krieg Koteimer entleert. Ich weiß nicht mehr, wie er im Keller gelandet ist. Es ist zu schnell gegangen, die Bilder haben sich nicht eingeprägt. Ein Zusammentreffen von Umständen, ein SSMann, der sich abwendet, die Mittagspause des Beamten, der die Namen der Ankömmlinge in ein Register eintragen soll. Ich erinnere mich undeutlich, wie wir das Hôtel des Barres durch das große Tor verlassen, wie die Wachen die Hacken zusammenknallen und mir nicht der Sinn danach steht, mich über diese ulkige Szene zu amüsieren. Und wer weiß?, auch ein Gestapomann, der 63
im richtigen Moment die Augen zumacht und unsere Flucht deckt, weil Hermans Blick oder mein Hüftschwung ihm gefallen. Damals hing das Leben der Menschen von diesen Zufällen, so lächerlichen Schwächen, winzigen Ungehorsamkeiten ab. Ich brachte Herman nach Hause, meine Mutter war einkaufen, meine Schwester entehrte gerade im Obergeschoss die Familie, nur der große Spiegel in der Diele sah uns vorbeigehen, aber Spiegel haben kein Gedächtnis, die Geheimnisse gleiten über ihre Oberfläche, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich habe Herman in den Keller gebracht und bin zurück zur Gestapo gerannt. Ich musste ja wegen der Übersetzungen wieder zurück. Das war sehr riskant, was war nach unserer Flucht passiert? Hatten sie bemerkt, dass ein Jude fehlte? Hatten die Wachen unser Entkommen gemeldet? Fiebernd bin ich die Stufen des Hôtel des Barres hinaufgestiegen. Drinnen war der Strom der Juden aufgesaugt worden, der Flur war leer, sie mussten im ehemaligen Kassiererbüro eingesperrt worden sein, wenn man sie nicht gleich durch die Hintertür in die Lastwagen geladen hatte. Des Roulieres war zufrieden, mich bei einem Fehler ertappt zu haben, ich kam zu spät; ich habe mich nicht entschuldigt, habe die Dokumente genommen, die er mit der Verachtung des Siegers auf den Tisch geworfen hatte, und das Büro verlassen. Ich begann den Krieg, und das war gut. Ich leistete Widerstand, ich rettete einen Menschen, und was für einen, ich starb vor Angst, aber mein Leben bekam einen Sinn. Ich 64
konnte die Erniedrigungen von des Roulieres ertragen, das Hackenknallen der Wachen würde keine Ohrfeige mehr sein, ich würde den Opfern ins Gesicht sehen können. Der Junge mit den türkisblauen Augen unten im Keller rettete mir das Leben. Auf meine winzige Art trat ich in den Widerstand. Ich habe großes Glück gehabt, wenn ich es mir heute überlege. Die Nazis haben Hermans Abwesenheit nicht bemerkt, die anderen Juden haben uns nicht verpetzt, dabei sagte man, sie seien feige. Vielleicht haben sie aus Feigheit geschwiegen. Ich sammelte weiter mit Ameisenfleiß, aber jetzt brachte ich keine Bücher mehr in meine unterirdische Zuflucht. Auf dem Rückweg von der Schule las ich die Reste aus dem Abfall, die während des Krieges selten waren. Heute wirft man weg und weg und weg, man tut nichts anderes, das ist zu einer Hauptbeschäftigung geworden: wegwerfen; aber damals verbrachten alle ihre Zeit damit zu flikken, zu stopfen, wiederzuverwenden und sogar die kaputten Teller zu kleben. Wir trennten die Pullover auf, ich reglos, die Arme etwa dreißig Zentimeter weit gespreizt, und meine Mutter um meine Hände kreisend, während sie an der Weste zog, die sich langsam auflöste. Dann legte sie das so gewonnene Knäuel ins Wasser, um die 65
Wolle zu glätten und neu zu verstricken. Der Pullover (sie sagte Pullowor), den ich mit fünfzehn getragen hatte, ergab mindestens vier Hemdchen für die Kinder meiner Schwester Isabelle. Und wenn ich meine Hände nicht zur Verfügung stellen konnte, weil ich Hausaufgaben hatte, oder später, als meine Mutter sich nicht mehr traute, weil ich erwachsen war, benutzte sie eine Stuhllehne im Wohnzimmer, aber das ging weniger gut. Meine Schwester Anne konnte nie länger als zwei Minuten stillsitzen, bei ihr war es vergebliche Liebesmüh, das hatte meine Mutter schnell eingesehen. Wir mussten den Komfort des Kellers verbessern, aber die Mülltonnen waren im Krieg fast ebenso leer wie die Teller. Es kam nicht in Frage, eine Matratze hinunterzutragen, dazu hätten meine Kräfte nicht ausgereicht und ich konnte niemanden ins Vertrauen ziehen. Also sammelte ich Lumpen, Wollreste, Stroh und wir nähten nachts im Keller. Herman war Schneider. Das heißt, er war etwas ganz anderes, aber er hatte seit seiner Kindheit mit der Nadel gearbeitet. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass seine kräftigen Hände zu solcher Genauigkeit fähig waren, wenn sie nach einem Stück Stoff griffen. Wir haben nächtelang genäht. Er nahm lange Fäden, ging mit Schwung in die zusammenzusetzenden Stücke, dann zog er die Nadel mit sicherer Bewegung hindurch, ohne dass sich der Faden je 66
verknotete. Durch die dicksten Gewebe kam er mühelos mit einem einzigen Stich. Ich saß neben ihm, umklammerte ein anderes Stück unseres Werkes und schaffte ein paar Stiche, ein paar unregelmäßige Zentimeter, während er eine tadellose Naht von mehreren Metern vollendete. Ich brachte hier und da aufgelesene Stofffetzen und wir nähten sie an das schon Fertige. Was halten Sie von diesem Lappen neben dem Leinenfetzen? Ich hätte es hierhin gesetzt, in Verlängerung des beigefarbenen Stoffes. Wir unterhielten uns, während wir im Halbdunkel nähten. Er fragte mich über die Bücher aus, die ich gelesen hatte, ich antwortete, er sagte mir, welche er kannte. Er stellte die Fragen, er sprach. Zwischendurch verebbte das Gespräch. Manchmal begann er zu singen. Seine warme Stimme hüllte mich ein wie zu Zeiten des ›drôle de guerre‹. Oft nähten wir schweigend im Licht der kleinen Leselampe. Wir konzentrierten uns auf unsere Arbeit, er vor allem, denn ich schaute ihn immer wieder verstohlen an. Ich sah ihn so gern. Auf dem Weg hinunter in den Keller kam ich an der Singer-Nähmaschine meiner Mutter vorbei. Die Arbeit wäre schneller gegangen, wenn wir sie hätten benutzen können, aber sie hätte mich um die Nächte gebracht, in denen ich voller Glück dem Ballett von Herman dem Schneider zusah. 67
Wir waren stolz auf die Matratze, die wir aus nichts für ihn genäht hatten, der Bezug ähnelte den Frankreichkarten mit Departements in allen Farben, die an den Wänden der öffentlichen Schulen hingen; heute sagt man glaube ich Patchwork, eine lustige Geografie für uns ganz allein. Ich entwendete zwei Hemden aus dem Schrank meines Vaters, meine Mutter öffnete ihn nicht mehr, und wenn er aus der Gefangenschaft zurückkehrte, würde man sich da an die Anzahl von Hemden erinnern, die er vor dem Krieg zurückgelassen hatte? Ich schenkte Herman einmal abgelegte Unterwäsche von mir und einmal von Claude. Ich stellte ihn mir gern unter der Hose abwechselnd als Mann und als Frau gekleidet vor, das war ein diskretes Mittel, ihn zu demütigen, der Krieg war ein bequemer Vorwand, aber ich wollte eine gewisse Macht über ihn behalten, ihm das Leben erleichtern, aber nicht zu sehr, so, wie man bei einem Kanarienvogel tut, als vergesse man, das Wasser in seinem Käfig zu wechseln, nur damit er sich nicht ordentlich waschen kann. Ich hätte noch viel Schlimmeres tun können, denn er war mir ausgeliefert. Ich konnte ihn jederzeit aus dem Keller jagen, ihn an die frische Luft setzen und den Hunden überlassen. Wenn Herman überleben sollte, musste er im Keller bleiben. Ich hatte ihn gefangen, eine sanfte Gefangenschaft, denn er war mir ja freiwillig gefolgt, um der 68
Gestapo zu entkommen. Ich musste mir nicht die geringste Mühe geben, ihn zurückzuhalten: Die Umstände sorgten dafür, dass er unter meiner Fuchtel blieb. Aber ich übertreibe, ich habe die Situation nicht ausgenutzt. Erst jetzt wird mir meine damalige Macht bewusst. Herman schrieb sich mit einem n, darauf legte er großen Wert. Ich brauchte lange, ehe ich es einsah. Für mich war es ein deutscher Name. In Polen hießen viele Juden Herman. Herman war Jude. Ich war noch nie einem Juden so nah gekommen, abgesehen von Madame Bloch, manchmal, bei einem feucht duftenden Kuss. Mein Lieblingshermann vor ihm war Hermann Hesse gewesen. Vor allem wegen des Steppenwolf. Der war im ersten Stock geblieben, in der offiziellen Bibliothek. Dank Herman entdeckte ich ihn wieder. Ich hatte ihn fast vergessen, so eingequetscht zwischen Leiden des jungen Werther und Prinz von Homburg. Wie gesagt, mit den Offiziellen schmollte ich. Thomas Mann hatte aufgehört, mein Leben zu beherrschen. Ich holte Hermann aus der Bibliothek, ich gewährte ihm einen Platz auf meinem Nachttisch. Wenn ich oben war, hatte ich Claude neben mir, ich dachte an den im Keller verborgenen Herman und tröstete mich mit den Seiten von Hesse. Ich verbrachte trotz allem den Abend mit Hermann, mochte er sich auch mit zwei n schreiben, es war eine Art, die Heimlichkeit offen zu leben. 69
Ich habe gesagt, dass Herman mir ausgeliefert war, aber war es nicht das Gegenteil? Die Verwirrung, in die mich der junge Soldat während des ›drole de guerre‹ gestürzt hatte, machte sich wieder bemerkbar, als er sich im Keller einrichtete. Ich liebte diesen Mann. Das Halbdunkel des Kellers verbarg ihn vor mir und vervielfachte mein Verlangen, wie in den Geisterbahnen, wo die Erregung aus dem Dunkeln kommt. Aber er? Er war mir dankbar, dass ich ihn gerettet hatte, reichte das aus, um ihn zu erobern? Würde er mich eines Nachts berühren? Heute erinnere ich mich nicht mehr, wie Herman so lange im Keller bleiben konnte. Zwei Jahre, drei Monate und zwei Wochen Nachttopfleerung zweimal am Tag. Und niemand hat etwas bemerkt. Claude vielleicht, aber das werde ich nicht mehr erfahren. Der Mensch, der mir bestimmt war und an dessen Seite ich lebte, ohne ihn je zu berühren, hat sich am 8. Februar 1944 das Leben genommen, ich weiß nicht weshalb. Claude hinterließ keinen Abschiedsbrief. Als ich eines Nachts aus dem Keller kam, fand ich den nackten, reglosen Körper auf dem Bauch liegend und in seinem Blut schwimmend auf dem Ehebett. Die Leiche stellte ihren Hintern förmlich zur Schau, ich sah ihn zum ersten Mal, ich weiß, das mag unglaublich erscheinen, aber das ist die nackte Wahrheit, ich schwöre es. Es war kein Verlust, dass ich Claude nie nackt gesehen hatte: Der Hintern war nicht 70
schön, er weckte in mir kein Verlangen, so weich ausgebreitet zwischen den Hüften und den Schenkeln, mit einem diskreten, aber störenden Haarbüschel, das aus dem Anus wuchs, vielleicht hatten mich auch die Umstände dieser makabren Entdeckung bei der Rückkehr aus dem Keller jedes Begehrens beraubt. Ich empfand den verschwommenen Wunsch, Claude zu umarmen, es wäre zum ersten Mal eine aufrichtige Regung gewesen, aber es war zu spät, Claude hatte diese Kränkung nicht verdient. Im Badezimmer trocknete die frisch ausgewrungene Unterwäsche auf dem Handtuchständer. Welche Verzweiflung hatte diesem diskreten, allzu verschlossenen Geschöpf den Geschmack am Leben geraubt? Ich hatte nichts getan, um Claude dabei zu helfen, sich zu öffnen und zu entfalten, dabei wäre es meine Aufgabe gewesen. Im Gegenteil, ich hatte den Menschen an meiner Seite sich in Einsamkeit verschließen lassen und um jeden Preis vermieden, seine Frustration durch diese Ehe wahrzunehmen. Ich habe ein bisschen gelogen. Ich habe gesagt, dass Claude nicht versucht hätte, sich mir zu nähern, aber ich habe dafür gesorgt, dass es so war. Ist es nicht unglaublich, dass man sich in der Hochzeitsnacht in ein deutsches Buch vertieft? Claudes Körper zog mich nicht an, ich habe alles getan, um ihn auf Abstand zu halten, jeden Kontakt zu vermeiden.
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Dieser nackte Körper, den ich erst entdeckte, als das Leben aus ihm gewichen war, beschmiert mit fast schwarzem Blut, war er die einzige hinterlassene Botschaft von der nie begonnenen Trauer um unser Liebesleben? War dieser Selbstmord ein Verschwinden, ein Geschenk, das mir Claude machte, die Erlaubnis, mich ganz und gar Hermans Rettung zu widmen? Dieser Selbstmord mitten im Krieg war schon ein bisschen anstößig. Claude hätte die Selbstopferung nutzen können, um gegen die Besatzer zu kämpfen, sich im Stadttheater bei einem Chansonabend mit Charles Trenet in die Luft zu sprengen, im Zuschauerraum inmitten der Fritze und Milizionäre. Wir haben mehr als zwei Jahre Besatzung einer neben dem anderen (warum sagt man, wenn es sich um einen Mann und eine Frau handelt, eigentlich nicht »eine neben dem anderen«?) verbracht, und niemals habe ich Claudes Meinung zum Thema Besatzung und Widerstand erfahren. Wir haben nicht darüber gesprochen, wir haben über gar nichts gesprochen, nicht mal, am allerwenigsten über die am Trockenständer hängende Unterwäsche. Ich beschränkte mich darauf, sie zu bemerken, wenn ich ins Badezimmer kam. Es gelang mir nicht, darüber hinwegzusehen. Sie verunzierte den Raum, ein ständiger Vorwurf, Flagge auf Halbmast, wie die Aufschrift »Schutzkeller 50 Personen«, die noch bis in die siebziger Jahre auf den Häusern in 72
der Avenue de la République zu lesen war, ehe die Versicherungsgesellschaft als Eigentümerin die Fassaden neu verputzen ließ. Die Luftschutzkeller wurden umgebaut. Ich habe meinen immer noch, meinen Schutzkeller 1 Person, der mir im Magen liegt, und Claudes Selbstmord, der mir auf ein Eckchen meines Gewissens drückt. Warum soll ich mich schuldig fühlen für diesen Fehler, der mich seit fast sechzig Jahren verfolgt? Ich gehörte nicht zu den Janitscharen, die über das Leben wachen. Wir waren beide Protagonisten dieser Heirats- und Ehegeschichte von zwei Menschen, die acht Jahre im selben Bett schlafen ohne einander zu berühren und am selben Tisch frühstücken ohne miteinander zu sprechen. Als uns unsere Eltern die Heirat vorschlugen, hatte ich gesagt »Warum nicht?«, es erinnerte mich an das Schiff des Kapitän Char-cot, von dessen Antarktisexpeditionen mir mein Vater in meiner Kindheit erzählte, aber Claude hat auch nicht abgelehnt oder irgendeine Bedingung gestellt. Ein Ehevertrag ist dazu da, dass man seine Hoffnungen äußert, oder nicht? Wenn man mir gesagt hätte, dass Claude etwas von dieser Vereinigung erwartete, Erotik, Konversation, hätte ich nicht zugestimmt, ich hätte versprochen, Claude jahrelang kostenlos Deutschunterricht zu geben, wenn es darum gegangen wäre, mit Anstand aus der Geschichte rauszukommen. Ich bin du bist er ist und wir bleiben gute Freunde; Ich weiß nicht was soll es bedeuten dass ich so traurig bin 73
und wir reden nicht mehr darüber. Ich liebte Claude weder mit dem Verstand noch mit den Sinnen, ich erinnere mich nicht, dass mir auch nur die geringste Liebe oder irgendein Bedürfnis nach sexueller Beziehung entgegengebracht wurde. Nichts. Unsere Ehe war eine ruhige Ebene, eine Landschaft ohne Unebenheiten oder Windböen, ohne Vergnügen oder Anmut. ›Sans souci‹, wie der Palast von Friedrich II. von Preußen. Nichts. Das ist das richtige Wort, Ludwig XVI. schrieb es am 14. Juli 1789 in sein Tagebuch. Nichts. Und am nächsten Tag, nichts. Ebenso am übernächsten. Warum also dieser Selbstmord ohne Grund und ohne Erklärung? Nur um mir das Schuldgefühl einzuflößen, das ich vorher nicht verspürt hatte? Ich weiß keine Antwort. Wenn Claude so gern mit mir schlafen, sich berühren lassen und mich berühren wollte, warum gab es dann keine Auflehnung gegen meine Gleichgültigkeit, womöglich eine eheliche Vergewaltigung, das soll häufig vorkommen, und es wäre weniger brutal gewesen als dieser Mord. Dieser Selbstmord ist ein Rätsel geblieben und er lastet auf mir. Schon unsere Ehe war ein Rätsel, aber dieses störte mich nicht. Ich fand mich damit ab. Erst später ist diese unangenehme Empfindung gewachsen, ein Schuldgefühl, das dich nicht mehr loslässt, wenn es dich einmal ergriffen hat. Im Krieg erleichterte Claudes Verschwinden mein Leben, ich konnte nachts mehr Zeit im Keller bei Herman verbringen. Aber nach der Befreiung, als das normale Leben versuchte, in seine Bahn zurückzukeh74
ren, als sei nichts geschehen, nach der Vergewaltigung meiner Schwester Anne, der Rückkehr meines Vaters, machte mir der Unterricht keinen Spaß mehr, all die Geschichten aus dem Krieg sind wieder hochgekommen, und eine Frage hat mich pausenlos verfolgt: »Warum?« Warum hat sich Claude das Leben genommen? Warum habe ich es nicht kommen sehen? Bei der Beisetzung waren die Eltern, in Schwarz, die Brüder, die Schwestern, die Neffen und Nichten; es war eine große Beerdigung mit großen Anzeigen in der Lokalpresse. Sogar die Schule hatte sich einen kleinen Rasten geleistet, um mir durch die Zeitung ihr Beileid auszudrücken, aber in den Schulfluren, im Lehrerzimmer war nicht einer, weder von den Kollegen noch von den Schülerinnen, zu mir gekommen, um mir auch nur ein Wort zu sagen. Jeder Tag brachte sein Maß an Dramen mit sich, sie hatten mildernde Umstände, aber war es so schwierig, mich für ein paar Sekunden beim Unterarm zu nehmen, um mir Sympathie zu bezeugen, von Mitgefühl gar nicht zu reden? Denn diese Leiche in meinem Bett, ein Mensch, an dessen Seite ich acht Jahre meines Lebens verbracht hatte, das war keine Kleinigkeit. Schließlich wusste niemand, dass wir uns nie berührt hatten, oder konnte man das fehlende Verlangen in meinem Gesicht lesen? Heutzutage, wo man alles sagt und alles wissen will, wäre es vielleicht so, aber was 75
interessierte die Franzosen 1942, als sie sich angewöhnt hatten, die Augen vor so vielen Dingen zu verschließen, dass die Ehe von Jean und Marie Dingsbums nicht vollzogen wurde? Ich habe getan, als berührte mich die Gleichgültigkeit meiner Umgebung nicht. Ich habe nicht sofort darunter gelitten. Natürlich gab die Kirche vor, nicht zu wissen, dass es Selbstmord war. Es wurde ja so viel gestorben während des Krieges. Mein Schwiegervater ging zum Bischofssitz, er kannte Gott und die Welt, er blieb zwei Stunden im Büro des Bischofs, und als er wieder herauskam, war Claude einer Lungenentzündung, hämorrhagische Variante, erlegen. Die Messe konnte beginnen. Ich musste die hasserfüllte Predigt des Priesters über mich ergehen lassen. Er hat es wahrhaftig fertig gebracht, Claudes Selbstmord den Juden in die Schuhe zu schieben, der Atmosphäre der Wollust, die sie Frankreich seit Jahrzehnten aufzwangen. Wirklich ein starkes Stück, dieser Priester. Irgendjemand hat ihm später das Fell über die Ohren gezogen und die Soutane gleich mit. Ein Widerständler hat ihn am Tag der Befreiung mit einer Maschinengewehrsalve vor seiner Kirche umgelegt. Sein Körper ist auf eine der Steinbänke gesunken, die wie Stützen der Fassade aussehen sollten, so als hätte er sich nach einer erschöpfenden Eucharistie ganz selbstverständlich dort niedergelassen, aber aus seinem Gesicht sprach Fas76
sungslosigkeit. Man sah, dass er tot war, denn seine Soutane war von Kugeln durchlöchert. Fast wie der Heilige Sebastian, und auch noch tot. Ich brachte es nicht fertig, mich an diesem Tag darüber zu freuen, ich hatte andere Sorgen, und amüsiert man sich denn über einen Mord, auch wenn er wohlverdient ist?
Abgesehen von dem leeren Platz neben mir im Bett hat Claudes Verschwinden in meinem Leben nur wenig geändert. Ich habe alle Sachen im Schrank aufgehoben. Ehe-leute leeren irgendwann die Regale, weil sie den Anblick der Dinge nicht ertragen, die sie an ihre verstorbene Liebe erinnern, aber ich empfand keinen Kummer, meine Trauer war nur Schein, leicht zu ertragen, die Kleidung konnte weiter im Schrank hängen, sie störte mich nicht. Ich habe sie nicht weggeräumt. Es ist immer noch alles da, Sie können es überprüfen, völlig verstaubt, weil ich Kleidersäcke nicht ausstehen kann. Der Keller ist auch noch wie damals. Ich habe die Bücher nach dem Krieg nicht hochgeholt. Das Lesekabinett ist unverändert, wie auch die Erinnerung an die Vergangenheit und an die Zeit echten Glücks in meinem Leben. Das ist mein Museum, meine Berggasse. Dort ruhe ich aus, wenn ich das Leben ungerecht finde, nicht jedes Mal, sonst würde ich alle Tage dort verbringen.
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Hatte der Priester Unrecht? War Claudes Selbstmord nicht dem Juden anzulasten, den ich unten im Laderaum versteckte? Unwichtig, dass Herman Jude war. Er war ein Mann. Er beklagte sich nicht, im Keller zu sein. Er las viel. Das Tageslicht kam durch ein winziges Kellerfenster herein, das wir aus Sicherheitsgründen teilweise zugestopft hatten. Die Öffnung lag an der Hinterseite des Hauses, die Trennmauer zum Garten der Christophes war nicht weit weg, niemand ging diesen engen, dunklen Weg entlang. Der moosige Boden sah keine Sonne, und auch durch das Fensterchen drang kein einziger Strahl. Herman lernte in diesem Halbdunkel ganze Gedichte von Heine auswendig, um sein Gedächtnis zu trainieren. Er sprach kein Deutsch, verstand es aber gut. Das lag an dieser Sprache, die ich bei der Gestapo für Berliner Dialekt gehalten hatte. Herman sprach Jiddisch. Ich hatte geglaubt, die Juden sprächen die Sprache des Landes, in dem sie lebten, wie Madame Bloch, die Kurzwarenhändlerin. In Polen sprachen die Juden aber kein Polnisch und auch nicht Hebräisch. Jiddisch. Eine Sprache, wer weiß woher, und ich verstand sie. Man hätte es für leicht verfälschtes Deutsch halten können, hier und da Worte, die von woanders kamen, auftauchten wie Flaschenteufel, und amüsante, irgendwie lächerliche Redewendungen. Eigentlich kannte Herman Heines Gedichte schon auswendig, aber auf jiddisch. Er rezitierte sie mir:
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A fichtnboim schtajt ansam In zufn ergezwi Im schlefert: in de kalte schnej Dekt wi a dek im zi. Er chulemtfun a palme Wus schtajt in misrech-land In trojert schtill un ansam Dort of a felsnwant. Ich kannte das Gedicht auswendig und rezitierte es oft. Ein Fichtenbaum steht einsam. Aber es war in einer anderen Sprache, so nah, so fern. Ich verstand beinah jedes Wort, aber es brachte mich zum Lachen, war so komisch entstellt. Ich hörte Herman rezitieren, im Dunkel des Kellers erkannte ich kaum sein Gesicht, ich roch seinen Duft, den Duft des Seifenstückchens, das ich hatte entwenden können, versetzt mit einem Hauch von ihm selbst. Seine Leidenschaft für dieses Gedicht war deutlich zu hören. Ich hätte seinen Kopf zu mir ziehen mögen, um ihn zu küssen. Ich blieb reglos, scheinbar aus Stein, innen aus Feuer, und ich wiederholte dieselben Verse, wie Heine sie geschrieben hatte: Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden, auf kahler Höh. 79
Ihn schilfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand.
Herman hatte lange eine Ausgabe von Heines Gedichten in der Innentasche seines Mantels, die er busem-keschene nannte, bei sich getragen. Das war sein Herzensbuch. Er musste sich davon trennen, als Marschall Pétain das Judenstatut verkündete, er vermied verräterische Zeichen. Herman sagte mir, dass sein Buch unter dem Dach in einem Haus in der Rue Marceau Nr. 6 versteckt war, wo er damals gewohnt hatte, in einer Mansarde bei Madame Pelloux. Den Großteil seiner Bibliothek hatte er in Paris gelassen, ein Freund hatte in einem Kohleofen die wenigen Bücher verbrannt, die er zum Zeitpunkt der deutschen Invasion besaß. Es blieb ihm nur dieser Heine, der vielleicht noch bei Madame Pelloux war. Seltsamerweise kannte ich diese Person. War das so seltsam? Die Stadt war ja klein. Ich hatte ihre Tochter als Schülerin in der achten Klasse. Als Herman demobilisiert wurde, hatte er sich ein Zimmer in der Stadt gesucht, er wollte nicht gleich wieder nach Paris gehen, sondern lieber abwarten, 80
was kommen würde. Später rieten ihm seine Freunde, nicht zurückzukehren, unsere Stadt lag zwar in der besetzten Zone, aber in der Provinz fand man leichter zu essen und gegebenenfalls ein Versteck. Die Berge waren nicht weit weg. Madame Pelloux war kein schlechter Mensch, ihr Mann war Anfang der dreißiger Jahre gestorben, an den Folgen eines Gasangriffs in Verdun, sie sorgte allein für ihre einzige Tochter Monique. Nach dem Judenstatut hatte sie das Zimmer weiter an Herman vermietet, nicht alle taten das. Herman war bei ihr verhaftet worden, eines frühen Morgens, an dem Tag, als ich ihn bei der Gestapo gefunden hatte, aber er glaubte nicht, dass Madame Pelloux ihn denunziert hatte. Eher der Nachbar, Monsieur Besson, Literaturlehrer, einer meiner Kollegen am Knabengymnasium. Ein sehr wohlerzogener Mann. Ich erinnere mich an keine Reaktion, als wir in der Zeitung das Statut entdeckten, das der Marschall den Juden auferlegt hatte. Ich glaube, wir haben es als eines der zahllosen Gesetze hingenommen, die zu Beginn der Besatzung verkündet wurden. Es gab mindestens eins pro Woche, das sich auf unser Alltagsleben auswirkte. Das Judenstatut betraf uns nicht, wir hatten keinen Umgang mit Juden. Ich machte bei dieser Gelegenheit sogar erstaunliche Entdeckungen, Bekannte, bei denen ich es nie geahnt hätte, sehr anständige Leute, Beaucaire, der Apotheker in der Rue des Carmes, Lyon, ein 81
Richter am Amtsgericht. Er war mit einer Kinderfreundin meiner Mutter verheiratet, aber sie hatten sich aus den Augen verloren, Véronique Lecœur, die meine Mutter Vonique nannte, ich weiß nicht warum. Nichts unterschied diese Juden von den anderen Einwohnern der Stadt, höchstens vielleicht, dass sie uns fern standen, denn wir hatten ihre Kinder weder beim Katechismus getroffen noch in den Privatschulen, die wir besuchten, oder bei den Pfadfindern. Ich sage Die Juden, die Juden, aber was bedeutet das? »Die Juden in Polen sprachen Jiddisch.« Was weiß ich denn davon? Ich habe es in keinem Buch gelesen, nur Herman hat es mir gesagt. Für ihn war es eine Tatsache, weil in seiner ärmlichen Warschauer Gasse Jiddisch gesprochen wurde. Und woanders, in Krakau, in den vornehmen Vierteln, in den Kurorten? Ich habe irgendwo gelesen, der große polnische Dichter Julian Tuwim sei Jude gewesen. Wie wurde er dann ein großer polnischer Dichter? Indem er mit seiner Großmutter Jiddisch sprach? Ich wollte dieses Buch von Heine zurückholen. Ich brauchte diesen Kriegsschatz unbedingt. Ich sagte Herman nichts, weil ich ihn überraschen wollte. Es dauerte lange, bis ich eine Taktik ersonnen hatte. Madame Pelloux oder Monique durften auf keinen Fall ahnen, dass ich Herman kannte. Ich wusste, wie ich in 82
das Haus gelangen konnte, Monique war ja meine Schülerin, ich würde mühelos einen Vorwand finden, aber wie sollte ich in die Dachkammer gelangen? Die Tür war sicher verschlossen, vielleicht war das Zimmer sogar nach Hermans Verhaftung neu vermietet worden. Monique hatte bisher nie meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie war eine gewöhnliche Schülerin. Deutsch war für sie ein Unterrichtsfach, man musste es halt lernen, und sie tat nur das Notwendigste, um eine durchschnittliche Note zu erhalten. Meine Kollegen gaben für die anderen Fächer die gleiche Beschreibung: ein Mädchen ohne Leidenschaften, blass, ein bisschen einsam, etwas zu sehr von der Mutter umsorgt, die für ihre Tochter keinerlei Ehrgeiz hegte. Nichts, was mein Interesse rechtfertigen konnte. Aus bloßer Berechnung begann ich sie im Unterricht vorzuziehen. Ich verbrachte mehr Zeit mit ihren Arbeiten und hob lieber die guten Ideen hervor als ihre Schwerfälligkeit. Ab und zu bat ich sie am Ende des Unterrichts zu mir, um ihr zu sagen, dass ich mich über ihre Fortschritte freute. Dieser neue, auf sie gerichtete Blick wirkte sich schon bald auf ihr Verhalten aus. Zuerst war sie verwirrt und schien nicht zu wissen, wie sie mit ihrem Auftauchen aus dem Schatten, an den sie sich gewöhnt hatte, umgehen sollte. Aber wie jedes menschliche Wesen in einem solchen Fall, begann sie bald auf meine unverhoffte Aufmerksamkeit 83
zu reagieren. Ihre Begeisterung für die deutsche Sprache nahm zu. Zur allgemeinen Überraschung wurde sie eine der eifrigsten Schülerinnen der Klasse, sodass ich sie schließlich trotz ihrer Pickel und der Zöpfe voller Schuppen weniger unansehnlich fand. Ich hatte ein erstes Ziel: mich zum Tee bei ihrer Mutter einladen zu lassen. Dann würde ich mir überlegen, wie ich in die Höhen des Hauses käme. Monique erleichterte mir die Aufgabe. Das Gedicht Das Mädchen aus der Fremde von Schiller, das wir im Unterricht besprochen hatten, gefiel ihr sehr. Ich hatte das Kind mit meinem Erwachsenenblick erweckt, sodass sie sich schließlich, dieser Gedanke freute mich, mit dem jungen Mädchen im Gedicht identifizierte. Beseligend war ihre Nähe Und alle Herzen wurden weit, Doch eine Würde, eine Höhe Entfernte die Vertraulichkeit. Sie bat mich, ihr einen Band mit Schillers Gedichten zu borgen. Ich willigte ein und sagte mir, dass ich wohl einen Weg finden würde, diese Leihgabe auszunutzen, um meinem Ziel näher zu kommen. Ich lieh ihr ein in gotischer Schrift gedrucktes Exemplar, erschienen 1934 in Berlin, zu Ehren des Wohltäters der deutschen Literatur, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Dr. Joseph Goebbels. Kollegen hatten es mir zur Hochzeit geschenkt. 84
Ein paar Wochen später rief ich unter dem Vorwand, den Gedichtband von Schiller dringend zu brauchen, an einem Sonntag bei ihnen an; natürlich wartete ich, bis Madame Pelloux und ihre Tochter von der Messe zurückgekehrt waren. Ich ließ mich für den Nachmittag zum Tee einladen. Das Haus war ein wenig düster, passend zu der Vorstellung, die ich mir von der Einrichtung gemacht hatte, in der ein Gasopfer des Ersten Weltkrieges verstorben war, Spitzendeckchen, traurige Vorhänge. Eine Kachel schmückte die Diele. Darauf stand: »Wo der Teufel versagt, die Frau es vermag.« Ich sagte Madame Pelloux, wie sehr ich ihre Tochter schätzte, das war nicht ganz richtig, aber das Buch von Herman zu beschaffen war mehr wert als die Wahrheit. Monique erblühte unter den Strahlen meines vorgeblichen Interesses, ihre Mutter verkündete mir ihr Glück, ihre Tochter wie verwandelt zu sehen. Auch wenn sie gar nichts von der deutschen Dichtung verstand, ich würde Herman sein Buch wie eine Kriegstrophäe bringen, an jenem Tag würde ich mich mit der Jakobinermütze schmücken. Jeder würde dabei auf seine Rosten kommen. Im Verlauf der Plauderei erfuhr ich, dass Madame Pelloux mit Monique allein im Haus wohnte. Sie hatte Hermans Zimmer nicht wieder vermietet. An einem Februarnachmittag, an dem ich meine letzte Unterrichtsstunde in Moniques Klasse gegeben hatte, bat ich sie unter dem Vorwand, ihr neue poetische Lektüre 85
empfehlen zu wollen, nach dem Unterricht dazubleiben. In der Zeit der Romantik hätten die übermächtigen Gestalten Goethes und Schillers (ich musste Heine unterschlagen, um mich nicht zu gefährden) einige in Rhythmus und Empfindungsvermögen sehr bemerkenswerte Werke in den Hintergrund gedrängt, Müller, Bürger und ein paar andere. Wir begannen uns darüber zu unterhalten. Eigentlich war es ein Monolog, denn Monique war keine Gesprächspartnerin für eine solche Diskussion. Ihre Kenntnis der Sprache war zu begrenzt, als dass sie die Literatur hätte genießen können. Sie war überglücklich, weil ich sie auserwählt hatte. Sie glaubte zu existieren. Ich hielt sie arglistig zurück und erwartete die Dunkelheit. Nach einer Stunde, in der ich mich zwang, meine Begeisterung für bestimmte Gedichte zu äußern (es war etwas obszön, diese Gefühle einer mir so fern stehenden Person zu offenbaren, die ich im Grunde gar nicht kennen lernen wollte), drehte ich den Kopf zum Fenster und tat, als wunderte ich mich über die hereinbrechende Nacht. Monique verstand mein Unbehagen nicht, ich erklärte ihr, dass ich Angst hätte, nach Hause zu gehen, weil zwei Wochen zuvor eine Nachbarin vor dem Tor des Stadtparks, an dem ich entlanggehen müsse, tot aufgefunden worden sei, mit einer Kugel im Leib. Niemand wisse, ob der Mörder ein angetrunkener deutscher Soldat gewesen sei oder ein bei seiner Sabotage gestörter Terrorist (ich kannte Monique nicht gut genug, um den Begriff Widerstandskämpfer zu 86
verwenden). Monique bot mir an, bei ihr zu übernachten, man müsse nur die Straße überqueren, ich hätte nichts zu befürchten, und das Zimmer in der zweiten Etage stehe seit dem Auszug von Monsieur Herman leer. Ich war wie ein Jagdhund, der ein Rebhuhn im Laub rascheln hört: Er spitzt das Ohr und hebt das Maul. In seinem Auge erwacht der Appetit der Jagdgöttin Diana, seine Nase wird feucht. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, als ich ganz beiläufig fragte Monsieur wer? Monique sagte Der Mieter meiner Mutter, ein Herr, der schon lange nicht mehr zum Schlafen nach Hause gekommen ist. Sie hatte Hermans Namen ohne jede Regung ausgesprochen, ohne mit der Wimper zu zucken, es war seltsam, dieser Name in ihrem Mund, so völlig neutral. Hatte das junge Mädchen nie für den Untermieter geschwärmt? Wie hatte sie jeden Tag dem Charme dieses großen Juden mit den blauen Augen, der tiefen Stimme, den breiten Schultern und den großzügigen Händen widerstehen können? Wie konnte ich wissen, was sie für ihn empfand? Ich habe mich nicht getraut, ihr diese Frage zu stellen, ich unterrichtete sie in der deutschen Sprache. Offiziell kannte ich diesen Herman nicht, der hinter den Gittern der Gestapo verschwunden war. Ich sagte Das kann ich nicht tun, man kann nie wissen, vielleicht kommt er gerade heute Abend zurück. Sie sagte Nein, das ist unmöglich. Ich sagte Warum? Sie errötete. Ich meine, es ist schon dunkel, wenn er hätte kommen wollen, wäre er schon da. Sie wusste, ohne es auszu87
sprechen, dass man von der Gestapo nicht zurückkehrte. Wo aber vermutete sie ihn? In einem Kerker, in einem Arbeitslager? Ganz sicher nicht in meinem Keller, bekleidet mit meiner Unterwäsche oder der von Claude, Heine im Original genießend. Ich tat, als würde ich Moniques Einladung widerwillig annehmen. Madame Pelloux verhielt sich geradezu, als hätte Ludwig XIV. beschlossen, die Nacht bei ihr zu verbringen, als käme Nofretete zum Abendessen. Das Mahl war frugal, wir waren im Krieg und Madame Pelloux gehörte nicht zu denen, die sich auf dem Schwarzmarkt versorgten, aber aus jeder Handbewegung sprach übertriebene Ehrerbietung. Eine Bezahlung für mein Essen lehnte sie ab, nahm aber schließlich die Brotmarken an, die ich ihr aufdrängte. Ich war normalerweise geizig mit diesen Coupons, denn ich musste zwei Personen von meiner Ration ernähren, aber das war nicht der richtige Moment zum Knausern, ich war kurz vor dem Ziel. Wir haben während des Essens von allem Möglichen gesprochen, bloß nicht vom Krieg. In jenen Zeiten mieden Menschen, die sich kaum kannten, das Thema. Ein Satz konnte aufgebauscht oder verfälscht werden und Anlass für Missverständnisse liefern, schon ein Komma konnte entlarven. Wir haben uns über die Umgebung der Stadt unterhalten, über Ausflüge, die man bei schönem Wetter machen konnte, den Schnee, der im letzten Winter so reichlich gefallen war, die Straßenbahn und die Autos mit 88
Gasgeneratoren. Madame Pelloux erzählte von den Wintersonntagen in ihrer Jugend. Aufstieg bis zum Frühlingskreuz, Skier auf der Schulter, Picknick am Fuße des Kreuzes, dann die große Abfahrt ins Tal. Rückkehr mit der Straßenbahn gegen vier Uhr und eine kräftige Zwiebelsuppe vor dem Einschlafen. Gegen neun habe ich mich unter dem Vorwand verabschiedet, ich müsse bis zum nächsten Tag einen ganzen Stapel Klassenarbeiten kontrollieren. Madame Pelloux sagte, mein Zimmer sei nicht geheizt, ich werde in der Kälte kaum arbeiten können. Ich antwortete Daran bin ich gewöhnt, in diesen Zeiten. Sie versicherte, dass ich mich wegen der Nacht nicht zu sorgen brauche, Monique werde mir eine Wärmflasche bringen. Sie führte mich in die zweite Etage. Dort öffnete sie die einzige Tür, Hermans Zimmer, eine Mansarde, deren Dachluke wahrscheinlich zur Straße ging. Sie ließ mich einen Moment allein, um Nachthemd, Handtuch und Waschlappen zu holen. Sie bot mir an, etwas später einen Kräutertee heraufzubringen, ich nahm an, um sie nicht zu kränken, sagte aber, dass ich wohl doch keine Arbeiten mehr korrigieren würde, also der Tee ... Ohne auf meine Worte zu hören, ging sie hinaus und bat Monique, sofort Tee und Wärmflasche vorzubereiten. Sie wünschte mir eine gute Nacht, gleich darauf kam Monique mit dem Heizungsersatz. Ich hatte einen Nachttopf zur Verfügung, denn die Toiletten waren im Hof, der an Saint-Louis grenzte. Die plötzliche Nähe zu einer Schülerin und ihrer Mutter war etwas unange89
nehm, aber in Sachen Nachtgeschirr kannte ich angesichts der täglichen Leerung von Hermans Topf kein Schamgefühl mehr. Um einen Mann mit all seinen organischen Funktionen zu betreuen, die er nicht hatte ablegen können, als er den Keller betrat, hatte ich Mauern aus Verschwiegenheit errichten müssen. Manchmal träumte ich, dass es praktischer gewesen wäre, eine Schlange zu retten: Ich hätte alle zehn Tage eine Maus gefangen und die Schlange damit gefüttert, sie hätte die nächsten zehn Tage mit Verdauen verbracht, geräuschlos, in einer Kellerecke, und am Ende hätte ich ein kleines trockenes Bällchen gefunden, eine geruchlose Zusammenballung von Knochen und Fell, die sie ausgeschieden hätte. Ich hätte ihr sogar eine Decke aus den Mausefellen nähen können, alles wird wiederverwendet. Monique wünschte mir eine gute Nacht und ging hinaus. Sie wäre gern länger geblieben, um noch ein paar Minuten meiner Gesellschaft zu erhaschen. Ich tat, als wäre ich blind für ihr Verlangen. Ich schloss die Tür hinter ihr, ich hatte die ganze Nacht, um das Buch von Heine zu finden. Ich begann meine Suche, durchstöberte das Zimmer und achtete darauf, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, ich hatte ja gesagt, ich würde früh zu Bett gehen. Ich fing mit den abgelegensten Ecken an, Herman hätte das Buch nicht in eine Schreibtischschublade gelegt. Bald fand ich einen schmalen Band hinter einem Dachbalken. Aber es war nicht in Jiddisch, sondern in den gleichen Buchstaben geschrieben, wie sie 90
das Portal der Synagoge in der Rue Thiers umgaben, Hebräisch. Herman musste sich geirrt haben. Er hatte versehentlich Heine vernichtet und ein Gebetsbuch aufgehoben. Oder seine Erinnerung trog ihn, der Heine musste woanders sein (es schien mir ausgeschlossen, den größten deutschen Dichter zu verbrennen). Ich hielt das Buch in Händen und schlug es auf. Die hebräischen Lettern waren verdreht, barock, eigentlich recht schön, aber ich ertrug es kaum, sie nicht entziffern zu können. Warum mussten die Juden unbedingt dieses veraltete Alphabet bewahren, wenn nicht aus okkulten Gründen, wo sich doch die zivilisierte Welt schon lange auf die lateinischen Lettern geeinigt hatte? Ich untersuchte das Buch weiter und stellte fest, dass die Seitenzahlen auf dem Kopf standen. Noch ein Zeichen der unheimlichen Fremdheit dieser Juden, mit den Füßen an der Decke zu zählen. Allerdings hielt diese Erklärung nach der ersten Überraschung nur wenige Sekunden. Natürlich, die Buchstaben standen auch auf dem Kopf, ich hielt das Buch falsch herum. Ich hatte aus Gewohnheit den Einband nach links aufgeklappt, aber Hebräisch schrieb sich ja von rechts nach links, also war es logisch, das Buch andersherum aufzuschlagen. Die Juden schrieben ihre Zahlen also nicht kopfüber, es war viel schlimmer: Sie öffneten ihre Bücher verkehrt herum. Ich nahm das Buch andersrum in die Hand, das Gefühl war unangenehm, wie ein Anschlag auf meine Erziehung, auf die großen Männer, die die Kultur Europas, Frank91
reichs, Deutschlands und anderer Länder ausmachten, Montaigne, Luther, Hugo, Leibniz, Spinoza, Goethe und Heine selbst. Ich hatte in der Presse gelesen und in der Kirche gehört, der Talmud sei ein perverses Buch, offenbar hatte ich eine Art Talmud in der Hand, wie konnte Herman, ein so empfindsamer Mensch, sich nur mit einer derartigen Lektüre beschäftigen? Wo war ich? In einem Zimmer, das nicht meins war, im Haus einer Schülerin, in den Händen den auf Hebräisch geschriebenen Talmud eines Juden, den ich liebte. Ich habe das Buch an meine Brust gedrückt wie einen Körper, den man umarmen will. Ich umarmte mehr Leere als Körper, aber es war trotz allem ein bisschen was von Herman. Meine Fingerspitzen waren eiskalt. Ich begann zu zittern. Ich musste mich hinlegen, um noch etwas von der warmen Bettflasche zu haben. Ich trank den Tee, ein kleiner heißer Trost in meiner Verwirrung, ich zog das Nachthemd an, wem gehörte es? und glitt in das gewärmte Bett. Dann griff ich wieder nach dem komischen Buch und schlug es auf. Gegenüber der Titelseite entdeckte ich einen Hinweis in lateinischer Schrift: Heinrich Heine Gedichte Verlag Neuland (S.J. Imber), Wien, 1920
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Das war Hermans Heine. Jiddisch wurde also wie Hebräisch geschrieben, von rechts nach links, mit hebräischen Lettern. Aber wieso konnte es dann wie Deutsch klingen? Ich blätterte in den Seiten, die mir nichts weiter verrieten. Es war mir unerträglich, nicht darin lesen zu können, die Juden regten mich auf mit ihrer Geheimschrift. Vor Enttäuschung löschte ich schließlich das Licht, konnte aber nicht einschlafen. Die dunklen Lettern verfolgten mich. Trotzdem tat ich mir noch etwas Gutes, ehe ich einschlief. Hatte ich dieses flüchtige Vergnügen nicht verdient? Am nächsten Tag sah ich sicher nicht sehr frisch aus, als ich mich nach dem Frühstück von Madame Pelloux und Monique verabschiedete. Ich hatte am Vormittag keinen Unterricht, deshalb ging ich nach Hause. Meine Mutter wienerte die Küche, sie sagte, sie habe sich Sorgen gemacht, weil ich am Vorabend nicht nach Hause gekommen sei, es sei nicht meine Art zu verschwinden, ohne Bescheid zu sagen. Ich sagte ihr nicht, wo ich geschlafen hatte. Sie fragte nicht weiter, ich war erwachsen. Sie stellte sich vielleicht vor, dass ich ein Verhältnis hatte, das war mein Recht, die Trauerzeit war offiziell beendet, und das Benehmen meiner Schwester Anne ließ mir einen gewissen Spielraum. Es ist nicht, was du denkst. Ich habe die Nacht nicht in den Armen eines geliebten Wesens verbracht, ich habe nur versucht, einen Teil von seinem Geheimnis zu durchdringen. 93
Herman hatte sich wohl auch gefragt, warum ich ihn in der letzten Nacht nicht besucht hatte, aber er würde warten müssen, ehe er eine Antwort erhielt, ich konnte an diesem Morgen nicht in den Keller gehen, weil meine Mutter in ihrer Küche war. Meine Schwester schlief sicher noch, aber sie würde bald aufwachen. Herman musste sich bis zum Abend gedulden, ehe ich sein Nachtgeschirr leerte, ich hatte am Vortag daran gedacht, ihm eine großzügige Portion Essen zu bringen, mit der er mühelos noch einen Tag durchhalten konnte. Ich bin in mein Zimmer gegangen, habe die Tür abgeschlossen, den Heine auf meinen Schreibtisch gelegt, den Larousse encyclopédique auf der Seite Hebräisches Alphabet geöffnet und zu entschlüsseln begonnen. Ich habe Hermans Buch irgendwo aufgeschlagen, es war die Seite 46. Der rechte Zeigefinger klebte unter dem ersten Buchstaben. Mit dem linken suchte ich den Zwillingsbruder in der Tabelle des Larousse: Schin, wie »seh«. Dann ajin, »e«. Nunn, »n«. Ajin, »e«. Nach ein paar Minuten hatte ich das erste Wort.
Scheue. Dann das zweite: wig. Bald darauf hatte ich den ersten Vers: scheue wigfun majne lajdn. Sehr rasch folgte die erste Strophe, die ich auf ein Blatt Papier übertrug, um sie in einem Zug zu lesen:
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Scheue wig fun majne lajdn Scheuer kwer fun majn ruh Scheue schtot, ich mus sich schajdn Saj gesunt! Winsch ich dir zu. Ich hatte dieses Lied in der zehnten Klasse gelernt, ich erinnerte mich, dass ich es für die Abiturprüfung hatte auswendig lernen müssen. Ein Lied von Liebe und Wehmut, ein Mann verlässt seinen Geburtsort und seine Geliebte. Die deutschen Worte fielen mir ein, ich rezitierte sie leise:
Schöne Wiege meiner Leiden, Schönes Grabmal meiner Ruh, Schöne Stadt, wir müssen scheiden Lebe wohl! ruf' ich dir zu. Die Melodie, die Robert Schumann zu diesem Lied komponiert hatte, ging mir durch den Kopf, es ist die, die wir vorhin gehört haben. Schöne Wiege meiner Leiden ... Als ich mir die Melodie ins Gedächtnis rief, sah ich auch Bilder eines Konzertes vor mir, das ich mit Hans-Joachim 1930 in der Nähe von Heidelberg besucht hatte. Der 95
Sänger, eine schöne Baritonstimme, angegrautes Haar, die Hand auf dem Rand des Flügels, schloss nach jedem Lied die Augen, als wollte er sich vor dem nachfolgenden sammeln. Seine Art, sich ernst zu nehmen, war geradezu komisch, aber wir waren in Deutschland, dort war Musik eine ernste Angelegenheit, sicher zu ernst, man durfte nicht lachen. Die Pianistin war sehr jung, vielleicht zwanzig, und das Publikum, abgesehen von HansJoachim und mir, deutsche Aristokraten. Das Konzert wurde im Musiksalon eines Schlosses mitten in einem Wald gegeben. Ich erinnere mich nicht mehr, wie es dazu gekommen war, dass wir dieses Konzert besuchten, war vielleicht einer unserer Professoren ein Verwandter der Baronin mit Emufedern, die uns empfing? War die Pianistin eine Freundin von Hans-Joachim? Dieses Detail ist auf den Wegen meiner Erinnerung verloren gegangen. Ich erinnere mich an die Ankunft im Dunkeln. Wir waren zu Fuß gekommen, ein Marsch von einer guten Stunde. Vor dem Schloss warteten prächtige Wagen, jeder mit seinem Chauffeur. Das war sehr einschüchternd. Wir waren wie »die armen Neffen zu Besuch beim reichen Onkel«, ein Ausdruck meiner Mutter, der mir einfällt, wenn ich an diesen Abend denke. Ich erinnere mich vor allem an Hans-Joachims Schenkel, der meinen berührt hat, und an den Sänger mit seinem Getue.
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Die Musik ist mir noch gegenwärtig, denn mein deutscher Freund hat mir eine Schallplatte geschenkt, die ich so lange auf dem Grammophon meiner Eltern abgespielt habe, bis man sie nicht mehr anhören konnte, so abgenutzt war sie. Schöne Wiege meiner Leiden. Vor kurzem habe ich mir wieder dieselbe Aufnahme gekauft, aber als CD, ich habe sie gerade gespielt. Eine remasterisierte Aufnahme, oder so ähnlich, repasteurisiert. Ein Techniker hat Stunden vor dem Computer verbracht, um jedes Knistern zu entfernen, der Verkäufer, bei dem ich sie erstanden habe, hatte eine Urkunde für die Restaurierung von Tondokumenten; er hat mir erklärt, dass die Knistergeräusche Clicks (oder Rucks, ich habe sie in keinem Wörterbuch gefunden) heißen. Zum Repasteurisieren werden die Clicks mit einem Mausklick rausgeworfen und tock! oder eher klick! die Platte knistert nicht mehr, es bleibt die Musik. In meiner Jugend knisterte die Platte. Rann man nicht eine knisternde Version bekommen, Herr Spezialist? Da hatte ich etwas Unanständiges gesagt. Ich wollte die schöne Wiege meiner Leiden, die authentische, das schöne Grabmal meiner Ruh, dieselben, mit ihren Clicks, den Salon in Baden-Württemberg und die herablassenden Baroninnen, die mitgeliefert werden. Und Hans-Joachim neben mir, sein Schenkel an meinem. Der Dichter hat sich von seiner Geburtsstadt verabschiedet, Schöne Stadt, wir müssen scheiden. Ich aber habe Hans-Joachim keine gute Reise gewünscht.
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Unser Briefwechsel ertrank in den Stürmen der dreißiger Jahre, und ich habe nie erfahren, was aus ihm geworden ist. Das zweite Rätsel.
Ich konnte Heine in Jiddisch lesen. Ich wagte nicht, es zu rezitieren, es war zu neu, wie sollte ich wissen, ob meine Aussprache richtig war? Ich war immer sehr anspruchsvoll, was Fremdsprachen anging, bei den anderen und bei mir, Berufskrankheit. Ich wiederholte die Strophe mehrmals, bis ich sie auswendig konnte. Ich bereitete mich für Herman vor. Ich wollte ihm dieses Gedicht als Opfergabe darbringen. In der Zeitung sah man oft Fotos von Kindern, die ein Dankeswort für den Marschall rezitierten. Plötzlich war ich wieder zehn Jahre alt und bereitete mich auf meinen gefangenen Helden vor. Ich hatte den Vormittag damit verbracht, die Strophe zu entziffern, aber ich stolperte über die Worte, ich hatte den deutschen Rhythmus im Kopf, die Musik von Heine und die Noten von Schumann, und die jiddischen Verse schienen sie nicht zu respektieren. Am Nachmittag im Gymnasium suchte Monique meinen Blick, um unsere 98
Vertrautheit zu unterstreichen. Am Anfang der Stunde habe ich ihr zugelächelt und sie dann für den Rest der Stunde gemieden: Familie Pelloux lag hinter mir, ich brauchte sie nicht mehr. Trotzdem würde ich weiterhin Interesse für Monique bekunden, um nicht unter ihrer Enttäuschung zu leiden. Neid und Eifersucht haben die Kerker dieses skrupellosen Krieges gefüllt. Ich habe abends allein mit meiner Mutter gegessen. Anne war unterwegs. Sie musste Danielle Darrieux empfangen, die strahlend von ihrer Berlinreise zurückgekehrt war, womöglich ging es an diesem Abend auch um eine andere, ähnlich bedeutsame Teilnahme an den Kriegsanstrengungen. Wir sprachen über dies und jenes. Sie fragte nach der Schule, ich antwortete. Ich erkundigte mich, ob sie Nachricht von Papa habe. Sie hatte keinen Brief erhalten, aber der letzte war gerade fünf Tage alt. Mein Vater schien gut in Form zu sein. Er bekam genug zu essen, das war wichtig. Zurückkehren würde er nicht so bald, zu gesund: Nur Kranke wurden nach Hause geschickt. Wir verzichteten wegen der Knappheit auf den Abendkaffee. Meine Mutter war keine Kräuterteetrinkerin, deshalb verkauften wir die Lindenblüten, die wir im Garten sammelten. Ich bot ihr an, den Abwasch zu erledigen. Sie ging hinauf und legte sich hin. In Deutschland hat mein Vater eine Geliebte gehabt. Nach ein paar Wochen im Lager war er zu einem Bauern 99
geschickt worden, um bei der Landarbeit zu helfen. Da dessen Hof weit vom Lager entfernt war, wohnte mein Vater bei ihm und musste sich regelmäßig bei den für die Gefangenenüberwachung zuständigen Behörden melden. Ende 1943 wurde der deutsche Bauer eingezogen. Seine Söhne waren schon lange an der Front. Mein Vater blieb mit der Bäuerin zurück, um den Hof in Gang zu halten, und nach einer Weile landete er in ihrem Bett. Natürlich hat mein Vater diese Geschichte nicht erzählt, als er zurückkam. Er hat uns gesagt, dass das Leben nicht rosig gewesen sei, dass ihm sein Haus und auch seine Berge gefehlt haben. Die Deutschen, denen er zugeteilt war, benahmen sich wie Bauernlümmel. Bei ihnen wurde direkt vom Tisch gegessen. Die Teller waren Löcher in der Tischplatte, die man mit Essen füllte. Kein Abwasch, vor der nächsten Mahlzeit nur kurz mit dem Lappen über den Tisch und gut war es mit der Hygiene. Aber das war eine harmlose Prüfung verglichen mit dem, was andere erleiden mussten. Bis dahin war alles wie in der Geschichte aus dem kleinen Stoffbuch meiner Kindheit. Meine Eltern nannten es das Lappenbuch, ein Begriff aus dem Dialekt ihrer Großeltern. Darin sah man auf einer Seite ein Schwein, auf der nächsten eine Ruh, das Schaf, den Hühnerhof mit Hennen, Hahn und Küken, eine blonde Bäuerin, die mit munterem Schritt und einem Korb unter dem Arm auf die Felder ging, einen kleinen Jungen, der glücklich lächelnd die Eier aufsammelte. Das Buch lud seine jun100
gen Leser nicht in das Bett der Bäuerin ein, um zu erfahren, was mein Vater dort getan hatte. Das Ende der Geschichte habe ich erst viel später erfahren, nach dem Tod meiner Mutter. Ich suchte einen Gebrauchtwagen. Ich hatte mit einem alten einarmigen Versicherungsvertreter zu tun. Um den Kindern Angst zu machen, erklärte man ihnen, er habe seinen Arm verloren, als er ihn aus dem Autofenster streckte. Ich habe ihm ein 204er Coupé abgekauft, ich hatte keine Kinder, es war ideal. Beim Verkauf bot er mir ein Glas Chambolle-Musigny an, das war vor Einführung des Alkoholtests. Er erklärte mir, er habe meinen Vater gut gekannt. Sie waren in derselben Einheit. Dann waren sie zusammen im Lager, und er erzählte mir die ganze Geschichte. Ich habe nicht so getan, als würde ich sie kennen, er wäre enttäuscht gewesen, und ich wollte ihm einen Nachlass auf die Autoversicherung entlocken, aber ich habe den Gleichgültigen gespielt, nach dem Motto, jeder sieht zu, wo er bleibt. Den Arm hatte der Vertreter schon 1940 verloren. Ich habe unsere beiden Teller abgewaschen, während ich wartete, dass meine Mutter einschlief. Ich habe sie so gründlich getrocknet wie nie zuvor, es war nicht mehr die geringste Spur von Feuchtigkeit auf dem Porzellan, tadellos, Profiarbeit. Ich bin leise zum Treppenabsatz hinaufgegangen, weil ich Mamas Zimmer vom Erdgeschoss aus nicht sehen konnte. Das Licht war gelöscht, ich sah es unter der Tür. Ich bin wieder hinuntergegangen, habe die Kellertür geöffnet und mit meinem Er101
satzschlüssel von innen abgeschlossen. Es war völlig dunkel, aber ich kannte den Weg auswendig, fünfzehn Holzstufen, die letzte höher. Ich durchquere den Weinkeller, taste mit der linken Hand die Flaschenhälse entlang, ich erreiche die hintere Mauer, den Kistenstapel. Ich lege das Loch frei, keine Ungeduld, die Kisten können knacken, hoffentlich kommt meiner Mutter nicht eines Tages die Idee, sie im Ramin zu verbrennen, vorsichtig die Steine auf den Boden legen, wo sind die Kisten, keinen Stein drauflegen. Ich öffnete das Loch, kroch durch die Öffnung, ohne mich um meinen hellen Anzug zu kümmern, im Halbdunkel würde man nichts sehen. Herman erwartete mich stehend. Eine Kerze brannte hinter ihm, ich sah ihn wie ein Schattenspiel. »Wo waren Sie?« »Meine Mutter ist erst spät zu Bett gegangen.« »Ich habe auf Sie gewartet.« »Gestern war ich verhindert. Ich musste bei einer Schülerin ein Buch abholen.« Ich wollte das Gedicht für später aufheben, den passenden Moment auswählen, aber der Vorwurf in Hermans Stimme beschleunigte mein Handeln, das Gedicht ist mir entschlüpft:
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Scherte wig fun majne lajdn Scheuer kwer fun majn ruh Scheue schtot, ich mus sich schajdn Saj gesunt! winsch ich dir zu. Er schwieg. Lachte los voll verletzender Ironie. »Wer hat Ihnen das Gedicht beigebracht? Was ist das für eine Aussprache?« »Spricht man es nicht so aus?« »Kommt drauf an, in Warschau nicht. Vielleicht in Vilnius, aber auch da nur der Rektor der Fakultät für protestantische Theologie!« Schajne wig fin mane ladn Schajner kajwer fin man rih Schajne schtut, 'ch mis sech schadn Sa gesint! winsch ich dir zi. Dieser Jude in seinem Kellerloch sah nur meine komische Aussprache. Das riesige Opfer, das ich ihm brachte, ließ ihn gleichgültig. Ich holte das jiddische Buch aus meiner Tasche und warf es enttäuscht auf den Tisch. Es war dunkel, Herman konnte das Buch nicht auf den ersten Blick erkennen. Hier, für Sie, lag hinter einem Balken rum. Herman nahm das Buch. Er entfernte sich, um näher an die Kerze zu kommen, drehte mir fast den Rücken zu. 103
Er öffnete das Buch, liebkoste eine Seite. Kein Lachen, keine Vorwürfe mehr. Ich glaube, er war bewegt. Er schwieg. Seine Hände zitterten etwas. Er drehte sich um, er sah mich an. Er weinte nicht. Ich wollte, dass er weinte. Er umarmte mich voller Leidenschaft. Ich glaube, in diesem Moment liebte er mich. Wir haben uns direkt auf dem Boden geliebt, um die Geräusche zu ersticken. Ich habe sein Geschlecht verschlungen, er ist in mich eingedrungen. Dieser Jude in mir, das war so gut. Dieser Mann für mich ganz allein. Seine Hände umklammerten meinen Po, seine Zunge überschwemmte mein Ohr. Er war gerade brutal genug, um mich zu beherrschen, aber aufmerksam für mein Verlangen. Nie hatte ich solche Erfüllung erlebt, die Lenden entflammt von der Lust, die Claude mir nicht gegeben hatte, meine Haut durchkribbelt von feinen Stichen, ich verspürte ein unbekanntes Glück: So lange wartete ich schon auf diesen Mann. Weder mein Vater noch einer meiner Lehrer oder Hans-Joachim, der mir nie mit einer sinnlichen Regung begegnet war, erst recht nicht mein Schuldirektor oder der Pfarrer beim Katechismus hatten diesen Platz der Erwartung eingenommen. Herman war gekommen, ich hatte ihn spontan entführt, nur mein Verlangen nach ihm hatte mein heldenhaftes Tun gelenkt, die Flucht vor der Gestapo, das Einrichten im Keller, die Übersetzung von Heine, ich hatte es geschafft, ihn zu mir kommen zu lassen, wenngleich sich durch nichts vorhersagen ließ, dass meine 104
Person so wilde Lust auslösen konnte. Seine Art, mich zu lieben, ließ keinen Zweifel zu: Er bemächtigte sich meines Körpers als Herr, mit dem Appetit eines Kannibalen, keine Parzelle blieb verschont, meine Schenkel mein Schamhaar meine Brustwarzen. Ich ließ mich verschlingen, weil es sein musste. Ich war ein lebendiges Wesen. Endlich.
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Eine Zeit lang rückte die Literatur in unserer Beziehung in den Hintergrund. Heine, Mann, Rilke und die anderen warteten geduldig auf ihren Regalbrettern. Wir hatten Besseres zu tun: Liebe. Sobald ich nachts in den Keller kam, legte Herman mich auf die Matratze, er hatte sein Verlangen einen ganzen Tag lang gezügelt. Er zog mich aus, drang in mich ein, ich war wie ein aufgespießtes Huhn, das in die Flammen gehalten wird, und ich liebte es. Ich wollte die rohe Lust. Schreie hätten uns vernichten können, sie zu unterdrücken war eine Qual: Ich wünschte mir, gar nichts zu kontrollieren, weil es gut war und weil es besser gewesen wäre es hinauszuschreien. Ich dachte an meine Schwester, unter Volkers Körper aus-gebreitet wie eine Sau. Ich stellte sie mir eher auf dem Bauch vor, wirklich wie Vieh, die Brüste auf der Matratze zusammengedrückt, Volker lag auf ihr, wühlte ohne Zurückhaltung in ihr. Wie konnte sich ein SS-Mann zurückhalten? Meine Schwester erschütterte die Wände des Hauses mit ihren Orgasmen und ich musste meinen Körper schweigen lassen, biss in die Flickendecke und mein Stöhnen verendete in einem Murmeln. Meine erstickten Schreie wurden zu Schluchzern und Schweiß. Nach der Liebe war mein Körper klitschnass. Auch Herman schwitzte, er hielt sich nicht zurück. Welche 106
Paarung war die abartigere? Die von Anne und Volker oder meine mit Herman? »Das Nazigesetz verbietet unsere Liebe.« »Ich weiß.« Er hatte Liebe gesagt. »Haben Sie keine Angst?« »Mein Körper ist klitschnass vor Entsetzen.« »Ihnen droht den Tod.« »Ihnen auch.« »Aber mir droht er auch ohne Sie.« »Na gut, dann sehen wir ihm jetzt gemeinsam ins Gesicht.« In anderen Zeiten hätte unsere Liebe auf mir gelastet wie eine Sünde, dieser Jude, mit dem ich mich paarte, während sich Claude die Adern aufgeschnitten hatte, aber ich war geradezu stolz darauf. Claude war nah, direkt hinter der Wand, zumindest in der Erinnerung, aber unser Zusammenleben ohne Schweiß ohne Leidenschaft ohne Penetration war Lichtjahre von der Glut dieses Kellers entfernt. Waren alle Juden so wunderbare Liebhaber wie Herman? War diese Begabung zum Sex ein Ergebnis ihrer Verfolgung und Vernichtung? Oder war Herman ein Liebhaber wie jeder andere, aber es blieb ihm nichts 107
anderes mehr als diese Liebe in der Tiefe des Kellers und ein paar zu korrigierende Verse von Heine. Die Heimlichkeit vervielfachte die Empfindungen. Der Zwang, den Orgasmus schweigend zu genießen, belastete mich, aber wurde diese erzwungene Stummheit nicht durch das Zeremoniell aufgewogen, das mich zum Höhepunkt führte? Durch ein Mauseloch klettern, unter die Erde abtauchen, Steine und Kisten umstapeln, sich auf eine zusammengestückelte Matratze legen lassen und vor allem in diesem Wust von der Erdkugel verschwinden, die Erde verschlang uns, nicht mehr existieren, tot sein für die anderen, aber zehntausend Mal lebendiger für sich selbst, alles vergessen, die Schülerinnen die Klassenarbeiten das chinesische Porzellan und die Brüsseler Spitze, Heine, Hölderlin, sich auf den bloßen Boden legen, was sage ich Boden? die Erde, meine Erde Frankreich, aber in der Tiefe eines Kellers, ihre Frische an meinem Bauch spüren, die gestampfte, geschlagene, erniedrigte Erde unter meinen Handflächen spüren, sie beschmutzt und sie reinigt mich, ich koste sie mit der Zungenspitze, ich lecke an ihr, noch einmal, sie ist bitter, sie ist gut. Der Keller war eine Höhle, in der nichts geschehen konnte, denn die Welt wusste nichts von unser Vereinigung. Herman wurde nicht gesucht, der Gestapo-Schreiber hatte ihn noch nicht in seine Register aufgenommen, als ich ihn entführte. Meine Schwester schützte uns, dank Volker. Ich hatte gut daran getan, den Kerl nicht kaltzumachen, auch wenn es mich juckte, 108
so oft ich ihn sah. Man ahnt oft nicht, welchen Dienst man sich erweist, indem man gewisse Dinge nicht tut. Der Krieg verging. Die Alliierten landeten in Nordafrika, meine Schwester setzte ihren Verkehr mit Volker unbeeinträchtigt fort, die Deutschen besetzten die freie Zone, die Widerständler leisteten Widerstand, die Ganoven verkauften Butter, Eier und Rase zu unerschwinglichen Preisen, die ich mit meinem Lohn des französischen Staates nicht bezahlen konnte, ich musste mich mit den offiziellen Rationen zufrieden geben, die ich teilte. Herman verschimmelte in der Tiefe des Kellers, er war ausgebleicht, soweit ich das im Halbdunkel bemerkte, und wenn der Krieg noch lange dauern sollte, würden Pilze aus ihm wachsen und meinen Büchern wäre das gleiche Schicksal beschieden. Herman machte stundenlang Gymnastik, um sich zu beschäftigen, um nicht zu erfrieren und um mich weiterhin zu verführen, denn ich wollte seinen Körper und er wusste es. Seine Haut wurde blass wie Chicorée, aber sie straffte sich über den Muskeln, obwohl ich ihm nur wenig Proteine von der Jagd nach Lebensmittelmarken mitbrachte. Ich liebte ihn. Ich glaube, sonst hätte ich es nicht gekonnt. Es war ja viel Arbeit, sich um ihn zu kümmern, die unaufhörliche Sorge, tun, als wenn nichts wäre, aber immer ein Auge nach hinten, um mich zu vergewissern, dass mich Anne oder Volker nicht in den 109
Keller gehen sahen, nichts in meinem Verhalten durfte seine Anwesenheit verraten. In der Schule sahen mich die Kollegen so wie immer, gutmütig, noch ein bisschen in Trauer und mit zwei Leidenschaften: die Literatur und die deutsche Sprache. Wenn manche von ihnen auf Abstand gingen, dann lag es wohl an meiner Spezialisierung, die in jener Zeit weniger unverfänglich war als Griechisch oder Mathematik, und nicht an meiner Liebe, die geheim bleiben musste. Wenn ich nicht so gern mit Herman geschlafen hätte, hätte ich ihn mir irgendwann vom Halse geschafft, davon bin ich überzeugt. Ich hätte eines Tages vergessen, die Kellertür zu schließen, ich hätte den Heine in Jiddisch mit hochgenommen und auf dem Küchentisch liegen lassen, wenn Volker, seine Hose zuknöpfend, in die Küche gekommen wäre, ich hätte den vollen Nachttopf meines Juden auf die Ablage in der Toilette gestellt. Volker hätte die Judenscheiße erkannt und seine kleinen Kameraden zu Hilfe geholt, um das Haus zu durchsuchen. Sie hätten Herman schließlich gefunden und sie hätten ihn mitgenommen. Oder ich hätte eines Nachts gebrüllt, während er mich liebte, einmal für all die Male zusammen, bei denen ich hatte schweigen müssen, das ganze Viertel wäre herbeigerannt, sie hätten gedacht, jemand würde im Keller ein Schwein schlachten. Aber es wäre nur ein weiterer Jude gewesen, den man einladen und in einem Waggon verschwinden lassen konnte, auch wenn er nichts besaß, was man sicherstellen konnte, kein Silberzeug, keine in 110
der Matratze versteckten Dollar oder Stoffballen, um den Töchtern der Hausmeisterin Kleider zu nähen, nicht mal Goldzähne, zu jung, nur ein altes unleserliches Buch, das 1920 in Wien erschienen war. Ich hielt aus Egoismus durch. Ich konnte nicht auf ihn verzichten. Eine wahrhafte Liebe. Und er, liebte er mich? Ja, an dem Abend, als ich ihm sein Buch zurückgebracht hatte. Hat er danach verstanden, dass er nur überleben konnte, wenn er meine Liebe nährte? Meine Finger haben in unseren Nächten jede Parzelle seines Körpers erforscht, ich hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt, wenn man mir die Augen verbunden und mich aufgefordert hätte, ihn durch Berühren zu identifizieren, kleine Blindverkostung, aber er hatte mir wenig über sein Leben erzählt. Geboren in Warschau direkt nach dem Krieg (dem ersten). Nach Frankreich gekommen, um zu studieren, aber keine Zeit dazu, man muss Paris genießen, die großen Boulevards, das Kino, leben, aber auch essen, also überleben, die großen Boulevards am Abend, aber die Nähmaschine den ganzen Tag, Stücklohn. Der Chef ein entfernter Cousin. Die Eltern in Polen geblieben. »Sind Sie verheiratet?« Keine Antwort. Der Krieg, 1. September 1939, er sorgt 111
sich um die Eltern, geht zum Militär, wird in die Provinz geschickt, die anderen Ausländer kommen an die Front, er nicht, wer weiß weshalb, Zufall, Faktotum für den Nachrichtendienst, so ein großer Kerl, schon erstaunlich, vielleicht wegen der etwas schwächlichen rechten Lunge, als Laufbursche bringt er Post, die zu übersetzenden Dokumente, wem? Ihnen! Mehr werde ich nicht erfahren, der Rest ist Liebe auf dem Erdboden, ohne ein Wort, Ruhe, wir lieben uns. Und Literatur, Schiller, Heine. Genau, dieses Buch, ganz dünn, kein richtiges Buch, eher ein Heft, vierundfünfzig Seiten, von rechts nach links zu lesen. Gegenüber der Titelseite hatte ich schon die Anmerkung in lateinischen Buchstaben gefunden: Verlag Neuland (S.J. Imber), Wien. Auf derselben Seite, etwas weiter oben, stand auf Jiddisch: Sh. Y. Ymbers bibliotek (Ibersezungen fun der veltliteratur) Wer war dieser S.J. Imber, der sich damit beschäftigte, die »Weltliteratur« ins Jiddische zu übersetzen? Ich brannte darauf es zu erfahren, aber würde ich seinen Namen in einem Lexikon aufspüren? Ich habe in meiner Larousse-Enzyklopädie gesucht und nichts gefunden: Sie interessierte sich nicht für unbedeutende Intellektuelle aus Mitteleuropa. Ich habe in der Universitätsbibliothek 112
unter dem Vorwand gestöbert, eine seltene Ausgabe der »Wahlverwandtschaften« zu suchen. Die großen deutschen Enzyklopädien sprachen ebenso wenig von diesem Imber, Verleger aus Wien. Im Bibliothekskatalog habe ich die Angaben zu einem Juedischen Lexicon in fünf Bänden entdeckt, erschienen in Berlin von 1927 bis 1930. Vielleicht würde ich die Spur dieses Mannes mit dem Himbeernamen in diesem Lexikon finden, aber es war sehr unwahrscheinlich, dass man es mir ausleihen würde, wenn ich dem Bibliothekar die Signatur gab. Wenn es nicht aus dem Bestand genommen war, würde man mir erklären, es sei verloren gegangen. Ich habe es nicht mal versucht. Der Bibliothekar kannte mich gut, ich legte keinen Wert darauf aufzufallen. Ich erfuhr nichts anderes über diesen Imber. Er reizte mich nur ein paar Tage, ich ließ mich von den bewegten Nächten im Keller und dem Entziffern von Heine in Jiddisch verschlingen. Bald las ich es mit weniger Mühe und ich lernte die zweiundvierzig Lieder auswendig, die in dem Buch enthalten waren. Ich kannte sie schon auf Deutsch, nun war ich imstande, sie zweisprachig zu rezitieren, zweifellos der Einzige auf der Welt. Nach dem Krieg hätte ich mich an einen Zirkus verkaufen können, seltener als die bärtige Frau, weniger Furcht erregend als der Mann ohne Gliedmaßen. Ich hatte noch ein paar Indizien zu diesem S. J. Imber gefunden. Am Ende des Buches machte der Verleger Werbung für seine anderen Publikationen. In derselben 113
Sh.Y. Imbers bibliotek hatte er Der sozialism un dem mentschns neschomme von Oscar Wilde (ich hatte Mühe gehabt, den bekannten Briten unter »Oskar Ouayld« zu erkennen) und Di kunstfun derzejlen von Jakob Wassermann, aber auch zwei seiner eigenen Werke herausgebracht: Viktoria, Untertitel »Anmerkungen über die Novellen von Knut Hamsun« und Vald oys, vald ayn, Gedichte. Er kündigte weitere Texte an, Neuauflagen seiner eigenen Werke (wo waren sie vorher erschienen?), zahlreiche Übersetzungen und eine Abhandlung: »Das poetische Erbe Oscar Wildes«. Herr Himbeere (später erfuhr ich, dass Imber auf jiddisch Ingwer hieß) bezeugte großes Interesse für Oscar Wilde. Ich wunderte mich, dass ein jüdischer Dichter irgendeine Verwandtschaft mit einem Schriftsteller empfinden konnte, der wegen anstößigen Verhaltens in den viktorianischen Kerkern gelandet war. Ich hatte nie etwas von Oscar Wilde gelesen, der in den von mir besuchten religiösen Lehreinrichtungen verboten war. Ich nahm mir vor, es später zu tun, nach dem Krieg vielleicht, wenn die deutsche Literatur ihre erdrückende Umklammerung lösen würde, aber ich habe es nie getan: Ich bin jungfräulich, was das Werk Oscar Wildes angeht. Viel später fiel mir dieser Imber wieder ein. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Krieg habe ich auf einem Trödelmarkt ein seltsames Lexikon jiddischer Schriftsteller in vier Bänden gefunden, erschienen in den zwan114
ziger Jahren in Vilnius. Ich hatte seit dem Krieg kein Jiddisch mehr gelesen, das Lexikon kostete fast nichts, wen konnte es schon interessieren? Ich habe es gekauft. Auf dem Vorsatzblatt waren zwei Stempel. Auf einem stand »M. Cymbalista – Damenkonfektion«. Auf dem anderen »Internierungslager Beaune-la-Rolande«. Als ich darin blätterte, langsam, um die Namen der Schriftsteller zu entziffern, ich gab mir Mühe, mich an die eckigen Buchstaben zu erinnern, fiel mein Blick auf den Artikel über Imber. Es gab sogar zwei, Shmaryahu und Shmuel-Yankev. Letzterer war 1889 in Sosov in Galizien geboren (ich hatte Schwierigkeiten, das Nest in einem Atlas zu finden), er hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeit lang in Wien gelebt, wo er verschiedene Gedichtsammlungen und seine Übersetzungen publizierte. Der Artikel zählte alle Veröffentlichungen auf, die in dem Buch standen, das ich mehr als zwanzig Jahre vorher in den Händen gehalten hatte. Der Aufsatz über Oscar Wilde war unveröffentlicht geblieben. Ich erfuhr, dass eine seiner bekanntesten Sammlungen Roysenbletter war, erotische Gedichte, 1914 in Vilnius erschienen. Ich hätte diese »Rosenblätter« gern gelesen, aber ich hatte keine Möglichkeit, sie mir zu besorgen. Bei mir in der Provinz fand man keine Bücher auf Jiddisch. In Paris, New York oder Tel Aviv hätte ich diese Sammlung vielleicht finden können, aber was würde ich gewinnen, wenn ich diese Gedichte las? Der Krieg war vorbei. Im Keller gab es nur noch Ratten. 115
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Alles wurde schwieriger, als die Engländer sich in den Kopf setzten, die Stadt zu bombardieren. Ihre Angriffe galten einer Fabrik am Stadtrand, die Panzerketten herstellte, und der mit ›Boches‹ voll gestopften Kaserne im Stadtzentrum, zwischen unserem Haus und dem Gymnasium. Bei der Fabrik trafen sie schon mit den ersten Abwürfen ins Schwarze. Es war nachts, wir hatten zuerst das Dröhnen der Flugzeuge gehört, ein dumpfes, gleichmäßiges Geräusch, kurz darauf ertönten die Sirenen der Stadt. Die Feuerwehr war drei Häuser entfernt, das Heulen ihrer Sirenen betäubte das ganze Viertel. Die ersten Bomben fielen, ich erfuhr erst später, dass es Bomben waren, sie waren weit weg, von der Entfernung gedämpfte Explosionen. Vor allem die Sirenen machten uns Angst. Meine Mutter kam in mein Zimmer Schnell, in den Keller, beeil dich. Ich überholte meine Schwester auf der Treppe. Ich tat, als hätte ich große Angst, ich zeterte und redete auf meine Mutter ein, damit Herman begriff, dass ich in Begleitung war. Wir setzten uns in den Weinkeller auf den Erdboden. Ich bat den Himmel, dass Herman sich nicht rühren möge, meine Mutter und meine Schwester durften nichts von seiner Anwesenheit bemerken. Ich sprach ohne Pause, um Lärm zu machen und Hermans Geräusche zu über116
decken. Aber Herman machte kein einziges, er verkroch sich in seinem Loch, ich stellte ihn mir ausgestreckt auf seiner improvisierten Matratze vor, still und regungslos wie die Figur in einer Basilika. Der Alarm war nur kurz, aber die Bombardements fingen an den folgenden Tagen wieder an. Die Kaserne war nur ein paar hundert Meter vom Haus entfernt, die für sie bestimmten Bomben fielen ganz in der Nähe. Im Keller klirrten die Flaschen in den Metallfächern, wie der Kristallleuchter bei den Spielen von Anne und Volker. Anne war mit uns unter der Erde, ein paar Kisten trennten sie von meinem Liebhaber, aber sie wusste es nicht, ihrer riskierte sein Leben in der Kaserne unter den Bomben der Engländer. Während des Alarms hatte ich immer nur Herman im Sinn, so nah, dass ich seinen Atem spürte. Am nächsten Tag sagte er mir, dass er immer an mich gedacht hatte, er gestand mir, dass er einen Alarm mit der Hand in der Hose verbracht hatte: Wenn er schon in einem Keller ersticken würde, sollte es wenigstens in meiner Gesellschaft sein. In einer Nacht bebte die Erde besonders stark und ein Teil der Kellerdecke stürzte über den Weinregalen ein. Wein lief aus, Staub füllte den Raum, wir erstickten fast und wateten durch einen Schlamm von ›ChassagneMontrachet premier cru‹, ich hatte nur die eine Befürchtung: Herman würde husten und sich verraten. Ich habe 117
gesagt Gehen wir hoch, lasst uns hier nicht wie Ratten bleiben, der Alarm war vorbei, aber ich musste noch meine Mutter und meine Schwester los werden, während Herman zusah, wie er so gut wie möglich Luft bekam. Ein anderes Mal ertönten die Sirenen mitten am Tag, ich war gerade dabei, Klassenarbeiten zu korrigieren, im Keller traf ich Anne und Volker, ihn hatte ich gar nicht kommen gehört, ich bin fast gestorben bei der Vorstellung, dass Volker und Herman im selben Keller saßen. Nach ein paar Minuten stand meine Entscheidung fest: Wenn Volker Herman entdeckte, würde ich ihn töten. Ich meine Volker. Ich hatte keine Wahl. Ich träumte während des ganzen Alarms davon, wenn meine Schwester nicht im Keller gewesen wäre, hätte ich es getan, ich hätte eine Flasche auf seinem Kopf zerschlagen, ich hätte ihn mit Wein erledigt, einen Schlag Chassagne, um ihm den Kiefer auszurenken, ein Santenay in den Nacken, ich hätte ihn mit dem Korkenzieher gekillt, stecht an das Fass, das Blut wäre rausgeschossen, der Wein auch, ein wahrer Jungbrunnen. Meine Schwester war da, ich habe gar nichts gemacht. Volker ist nach dem Alarm in die Kaserne zurückgegangen, er hat seine Ration nicht verpasst gekriegt, Anne ihre auch nicht. 118
Die Bombardements dauerten zwei Wochen. Es gab Tote, Verletzte, Vermisste. Die Résistance hatte die tolle Idee, die Kaserne in die Luft zu sprengen, ich weiß nicht, ob die Operation langfristig geplant war oder spontan beschlossen wurde, um die Bombardements zu beenden. Ich war am Vormittag in der Schule und habe unterrichtet, Konjugation des Verbs haben, fünfte Klasse, die Fenster des Klassenraums zersplitterten, wir hatten panische Angst, immer diese Angst, wir hörten nicht auf Angst zu haben in diesem Krieg, die Hälfte meiner Schüler weinte, manche hatten Glas ins Gesicht bekommen, sie bluteten, einige hatten die Besinnung verloren, die Stadt war in Panik. Der Direktor befahl uns, sofort nach Hause zu gehen, er wusste nicht, was geschehen war, aber er fürchtete Repressalien der Deutschen, Geiselnahmen aus den Reihen der Lehrerschaft oder der Schüler. Das Gymnasium blieb mehrere Tage geschlossen. Dann nistete sich die Knabenschule bei uns ein, weil man ihre Räume beschlagnahmt hatte, um die Soldaten unterzubringen. Wir mussten den Unterricht teilen, Jungs vormittags, Mädchen nachmittags. Schüler waren erschossen worden, auch mehrere Lehrer, und der Direktor der Knabenschule verschwand in den ›Barres‹. Zur Abschreckung. Warum wurden nie Frauen als Geisel genommen? Weil sie noch kein Wahlrecht hatten? Mein Direktor wurde befördert: Er herrschte über die Schuljugend der Stadt, alle Geschlechter gemischt.
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Überstürzt verließ ich die Schule und rannte nach Hause. Dort waren meine Mutter und meine Schwester, zerstörte Fenster, inzwischen hatten wir erfahren, dass es die Kaserne war, gesprengt, zweifellos die Résistance. Volker war bei Anne gewesen und gerade zu seiner Einheit zurückgekehrt; wieder er, immer er, der Entsetzliche, er hatte überlebt, Glück, immer Glück, die Explosion hatte ihn wohl seiner Kraft beraubt, puff! Schwellkörper auf der Flucht, Erschlaffung um den Preis des Lebens, ich hoffte, er werde wegen Desertion erschossen, aber das war vergeblich: Wir durften uns nicht auf die Deutschen verlassen, um ihn loszuwerden. Wollte ich ihn verschwinden sehen, musste ich mich selbst darum kümmern. Ich musste bei Anne und meiner Mutter bleiben. Ich hatte nur den Wunsch, in den Keller zu gehen, um mich zu vergewissern, dass Herman nichts passiert war, und ihn wegen meines Wohlergehens zu beruhigen. Ich durfte es nicht vor dem Abend. Ich versuchte mich den Tag über zu beschäftigen, irgendwas finden, Arbeiten korrigieren, Unterricht vorbereiten. Anne wartete auf Nachricht von ihrem ›Boche‹. Liebte sie ihn wirklich? Ich hatte geglaubt, er sei ein Spielzeug für junge Witwen, eine Klapper für überreife Mädchen, aber sie schien wirklich besorgt um ihn. Ich hingegen musste Sorglosigkeit mimen, ich bin ruhig, denn ich warte auf keine lebende Seele, unerschütterlich, fast gefühllos, ich habe niemanden im 120
Leben, nicht den Schatten einer Liebe, am wenigsten im Keller unter deinen Füßen Mama unter deinen Absätzen Schwester, ist er in dieser Minute tot, der Mann, den ich liebe, ich brauche seinen Körper wie du den von Volker, aber ich liebe auch seine Seele, auch wenn man uns jeden Tag in Zeitungen Radio und der Ausstellung im Palais Berlitz einhämmert, dass die Brüder Lissac nicht die Brüder Isaac sind, dass das Kaufhaus Vuitton für Juden und Hunde verboten ist und dass die Seele eines Juden nicht liebenswert sein kann. Und die Seele eines SS-Manns, wie ist das, sag mal? Wenn er stirbt, sterbe ich. Das ist nicht wie nach Claudes Tod. Danach lebte ich weiter, denn Claude war keines meiner lebenswichtigen Organe. Herman, das bin ich. Seine Augen sein Mund sein Akzent sein Penis sein Heine in frühgermanischem Kauderwelsch, das man zwitschert, als spräche man Deutsch, während man koscheres Fleisch kaut, seine gute Laune sogar den ganzen Tag im Halbdunkel, während ich im Tageslicht, in der Sonne, im Trubel, traurig bin. Herman heitert mich auf, er nimmt mir den Kummer, er verbrennt mich, er sticht mich mit seiner Nähmaschine, ein Saum von oben nach unten, bbbbbrrrrrrrrrr, meine Haut zieht ganz rasch unter dem Langarm vorbei, ich habe eine Naht, die Narbe zieht sich über meinen Körper, sie infiziert sich, ich liebe ihn, seine Verbrennungen sind gut, sie erfüllen mich mit Licht.
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Am späten Nachmittag hielt ich es nicht länger aus, zu Hause zu bleiben und vor Sorge zu vergehen, ich schwang mich auf mein Fahrrad, ich fuhr durch die Stadt, die Vororte, die Felder, um Zeit zu verbringen, müde zu werden, zu warten. Er war im Verlauf dieses Tages beinahe durchgedreht, als er wie ein Löwe in seinem Käfig herumlief. Er hatte seine gute Laune verloren, seine Geduld hatte Grenzen, ich entdeckte sie. Ich liebte ihn in diesem Zorn. Er brannte darauf zu wissen, was geschehen war. Ich habe gesagt Die Kaserne ist in die Luft geflogen, aber Volker lebt noch. Er hat geantwortet Jetzt werden Sie in die Luft fliegen. Er hat auf die Matratze gezeigt. Furcht und Erwartung hatten ihm Appetit gemacht. Ich war sein Frischfleisch, ein zum Fraß vorgeworfener Antilopenschenkel. Jetzt konnte sich der Löwe an meinem vor Lust geweiteten Körper ergötzen. Nach ein paar Wochen setzte die Literatur ihren Anspruch im Keller wieder durch. Wir haben zwar nicht aufgehört uns zu lieben, aber wir begannen wieder zu sprechen, vorher, nachher. Wir tauchten aus mehreren Wochen schweigender Leidenschaft auf. Was waren wir zusammen? Er hatte Mein blaues Klavier von Else Lasker-Schüler entdeckt. 122
Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Und kenne doch keine Note. Es steht im Dunkel der Kellertür Seitdem die Welt verrohte. Es spielten Sternenhände vier - Die Mondfrau sang im Boote – Nun tanzen die Ratten im Geklirr. Zerbrochen ist die Klaviatur ... Ich beweine die blaue Tote. Ach liebe Engel öffnet mir - Ich aß vom bitteren Brote – Mir lebend schon die Himmelstür – Auch wider dem Verbote. »Mein blaues Klavier.«
»So sollen Sie mich nicht nennen!« »Man bloje pjane.« »Ich bin nicht Ihr blaues Klavier.« »Irgendwie schon. Sie erscheinen am Abend, wenn ich einen Tag lang Trübsal geblasen habe. Sie erzählen nichts von Ihrem Leben da oben, im Tageslicht.« »Es ist so unwichtig.« »Mögen Sie Ihren Beruf nicht?« »Doch, sehr. Aber was zählt, ist der Moment, wenn ich 123
hier ankomme; zu Ihnen kriechen, Sie sehen, uns beieinander wissen, hören, was Sie gelesen haben, Werfel, Kafka und heute Else Lasker-Schüler. Aber ich bin nicht Ihr blaues Riavier. Das Gedicht ist zu traurig.« »Kafka lese ich immer weniger. Er empfiehlt sich nicht in einem Keller, man könnte verrückt werden. LaskerSchüler ist schon verrückt, das ist etwas anderes. Verstehen Sie, mein blaues Klavier?« Herman las. Am Tage aß er meine Bücher, und mich verschlang er bei Nacht. Manche deutschen Wörter verstand er nicht, er fragte mich am Abend nach ihrer Bedeutung. Ich hätte ihm ein Wörterbuch borgen können, aber ich mochte das Gefühl, unverzichtbar für ihn zu sein. Tugend, Schicksal, Friedhof, Mond. Wie sagt man auf Jiddisch? Tsidkes, gojrl, bejs-ojlem, lewune. Dem Hebräischen geraubte Wörter. Warum hatten sich die Juden diese seltsamen Wörter gesucht, wo sie doch im Deutschen vorhanden waren? »Sie haben es schon gesagt: eben weil sie Juden sind.« »Und, ist Tugend vielleicht ein jüdisches Attribut? Ist auch der Mond jüdisch?« »In gewissem Sinne, vielleicht.« »Wohl seine verborgene Rückseite.« »Nein, nur die Art der Juden, ihn zu betrachten.« 124
Die Juden hatten sich das Deutsche angeeignet, sie hatten es verbogen, gebeugt, verwandelt, um es in ihre Weltsicht zu übernehmen. Ich verstand diese Sicht nicht, denn Herman konnte nicht darüber sprechen. Er war ein einfacher Warschauer Schneider, der kaum die Schule besucht hatte. Was er wusste, hatte er sich selbst beigebracht. Ganz allein hatte er die Literatur entdeckt, durch geliehene Bücher aus Arbeiterbibliotheken, in die auch andere kleine Schneider am Abend nach der Arbeit kamen, um die Zeitung zu lesen oder um jiddische Übersetzungen von Jules Verne und Knut Hamsun auszuleihen. Oder Heine. Die Religion kannte er nicht. Ich war noch bei dem Kapitel, in dem die Juden Christus getötet hatten, auf der Seite, an die die Katecheten für die Kinder meiner Generation ein Eselsohr gemacht hatten, und dann fand ich mich in einer Kellerecke mit einem Nachfahren dieser Mörder wieder, aber Christus oder Moses (er sagte, Moses habe nicht existiert, das sei Geschwätz der Rabbiner) waren ihm so was von egal: Er schwor einzig auf die Literatur. »Gott, Gott, Sie haben immer nur dieses Wort im Mund. Lassen Sie mich in Frieden mit Ihren Fragen über den Gott der Juden. Ich bin in einer jüdischen Welt aufgewachsen, Warschau, wir mussten kilometerweit laufen, um einen Polen zu sehen. Überall Juden, in der Straßenbahn, auf den Cafeterrassen, in den Parks und den Werkstätten. Auf den Hinterhöfen nur jüdische 125
Kinder. In zwanzig Jahren in Warschau habe ich nicht viel von Gott gehört. Wir haben die Zeit nicht damit verbracht, an ihn zu denken oder ihn anzusehen, wie ihr, an seinem Kreuz drei Meter über dem Boden. Die einen beachteten die Gebote, die anderen nicht.« »Aber diejenigen, die sie beachteten, waren doch Gläubige!« »Ich weiß nicht. Der Bart meines Großvaters ging fast bis zum Boden, aber er hat nie mit mir über Gott gesprochen. Er hat mich gefragt, ob ich auch getan habe, was sich gehört. Das war das Wichtigste für ihn: tun, was sich gehört. Koscher essen, den Sabbat einhalten, Kinder bekommen, viele Kinder, denn das erste Gebot sagt, ihr sollt fruchtbar sein und euch mehren, die Thora studieren und die Gebete lernen.« »Und die Gebete, darin war doch von Gott die Rede?« »Vielleicht. Ich kann kein Hebräisch. Ich spreche Jiddisch. Got war schon in Ordnung, aber der Adonoj der Gebete war so weit weg.« »Wozu sind die ganzen Gebete dann gut?« »Um zu wissen, wie spät es ist, Morgen, Mittag und Abend. Ihr habt die Kirchenglocken, die alle Viertelstunde läuten. Aber wir waren zu arm, um eine Uhr zu besitzen, und in meinem Viertel gab es keine Kirche, es gab ja nur Juden! Also wurde gebetet. Sobald ich ein bisschen Geld hatte, um mir eine Uhr zu kaufen, habe ich mit dem Beten aufgehört. Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich meinem Vater gestanden habe, dass ich in einem 126
polnischen Lokal gegessen hatte. Er hat mich geohrfeigt. Die kräftigste Ohrfeige, die er mir je gegeben hat. Für ihn war ich kein Jude mehr.« »Und jetzt beten Sie nicht mehr?« »Ich habe aufgehört, als ich sechzehn war. Ich wollte gern etwas anderes sein als ein Jude, jemand Normales, ein Bewohner dieser Welt, auf den man nicht heruntersieht, aber es hat mich wieder eingeholt, am anderen Ende Europas, bei Madame Pelloux. In meinem Bett. Papiere bitte/Hier im Keller habe ich wieder angefangen zu beten. Ich bin wieder ein Jude, nicht wahr? Ich darf nicht das Gefühl verlieren für die Tage, die vergehen. Also nur ein Gebet, ein kleines Schma Jisruel am Morgen und am Abend. Mittags verzichte ich darauf.«
Und ich, was war ich? Weniger gut als ein Schma Jisruel? Ich kam jede Nacht zu ihm, aber meine Anwesenheit hinderte ihn nicht, das Gefühl für die Tage zu verlieren, er brauchte seine Gebete. Damals habe ich mich nicht getraut, ihn danach zu fragen. Ich habe nur noch daran gedacht, dass der Jude, der mich so leidenschaftlich umarmte, morgens und abends auf Hebräisch betete, komische Beschäftigung für einen komischen literarischen Salon, eine kleine Verrücktheit mehr in diesem Krieg. Ich wollte ihn den ganzen verdammten Tag lang für mich haben, im hellen Tageslicht, 127
und nicht nur nachts in der Kellerecke. Er könnte auf der Uhr nach der Zeit sehen, den Verlauf der Tage auf einem Wandkalender verfolgen wie alle anderen, ohne sein exotisches Getue und das Schaukeln nach vorn und hinten, Kafka lesen. Er würde morgens, mittags und abends mit mir schlafen. Ich würde sein Schma Jisruel sein, wie er es nannte. Aber das war eine andere Verrücktheit.
Ich habe nicht gewartet, bis ich ihn ins Erdgeschoss hinaufholen konnte, um ihm einen Heiligenkalender zu schenken. Meine Mutter hatte in diesem Jahr zwei bekommen, ich nahm mir einen davon für Herman, in der Hoffnung, er werde aufhören zu beten. »Ein glückliches 1943« stand in großen Lettern darauf. Herman hat sich bedankt, als ich ihm den Kalender gab, es war kein so schönes Geschenk wie der Heine auf Jiddisch, wir haben uns trotzdem an diesem Tag geliebt, aber das hatte nichts mit dem Kalender zu tun. Das Jahr verging. Am 28. Dezember habe ich Geburtstag. Ich würde ihm den Kalender von 1944 bringen, den ich irgendwo aufgetrieben hatte, noch ein Kriegsjahr, wenigstens eins, das die Preußen nicht kriegen, hätte meine Großmutter gesagt. Herman hatte alle Tage auf dem Kalender durchgestrichen. Ich hatte ihm das Datum meines Geburtstags gesagt, er gratulierte mir und las mir ein Ge128
dicht von Heine vor, erst auf Deutsch, dann auf Jiddisch, ich kann es immer noch auswendig, ich sage es Ihnen auf, wie er es mir geschenkt hat. Aus meinen Tränen sprießen Viel blühende Blumen hervor, Und meine Seufzer werden Ein Nachtigallenchor. Und wenn du mich lieb hast, Kindchen, Schenk' ich dir die Blumen all', Und vor deinem Fenster soll klingen Das Lied der Nachtigall. Sogar auf Jiddisch erinnere ich mich noch daran. Ich habe Ihnen ja gesagt, ich bin eine Jahrmarktattraktion. Os mane trern waksn Fil blijende blimen afir, Zi nachtigal-gesangen wert jeder safz fin mir In west mich lib hubn, kind mans, schenk ich dir di blimen al, infar danfenster soi klingen dus lidfin de nachtigal.
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Das ist ein trauriges Gedicht. Vielleicht eine Mutter, die sich über ihr Kind beugt. Es ist vielleicht dumm, aber ich nahm dieses Gedicht als Liebesbeweis. Das war doch hübsch, nicht wahr, wie mir dieser Kellerjude seine Tränen schenkte? Nachdem er das Gedicht rezitiert hatte, legte er den Finger auf den Heiligenkalender, beim Datum 28. Dezember. »SS Unschuldige Kinder«. Die Kalender sind später korrigiert worden. Das muss gegen Ende der sechziger Jahre gewesen sein. Den Autoren ist wohl die Ungeheuerlichkeit bewusst geworden. Damals, als Herman den Finger unter den 28. Dezember legte, um es mir zu zeigen, hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Mein Katechismus kam mir wieder hoch, König Herodes, die Treibjagd auf das göttliche Kind in seinem Stall zwischen Esel und Ochsen, die es mit ihrem Atem wärmten, das vom König befohlene Massaker an den kleinen Jungen von Bethlehem und in ganz Judäa. Gleichzeitig sah ich Volker die Treppe hinaufgehen zu meiner Schwester mit den gespreizten Beinen. Er knallte schamlos seine Stiefelabsätze auf die Stufen, das Nussbaumholz trägt sicher noch Spuren der Eisenbeschläge. Ich glaube, ich habe zum ersten Mal eine kleine Befreiung erlebt, als ich dreißig Jahre später auf dem Kalender neben dem Datum des 28. Dezember »Tag der Unschuldigen Kinder« gelesen habe, das Erste, wonach ich unwillkürlich schaute, sobald ich dem Briefträger sein Weihnachtsgeld gegeben 130
und das obligatorische Geschenk der Post erhalten hatte; aber gleich danach habe ich wieder voller Wehmut an den Moment gedacht, als Herman seinen Finger auf den Kalender gelegt hatte. Um mich zu trösten, an einem solchen Tag das Licht der Welt erblickt zu haben, hat er gleich darauf seine Lippen auf meine gedrückt und meinen Mund erobert. Wirklich ein komischer Geburtstag, dieser Tag, an dem mir bewusst wurde, dass man am 28. Dezember in der Abkürzung die Straflosigkeit des Grauens feierte, die Gefühle bei diesem endlosen Kuss und dann die Liebe auf dem Strohlager in der Kellerecke.
Hatte ich einen einzigen Grund, mich über diesen Juden ohne Gott zu beklagen? Ich hegte keinerlei Leidenschaft für die Theologie. Hätte ich einen langbärtigen Rabbi aus den Fängen der Gestapo gerettet, um ihn in meinem Keller zu verstecken? Nein. Ich mochte den unvermeidlichen Geruch nach altem Bock nicht, der auch von dem gepflegtesten Bart ausgeht, diese buschigen Haare, die ein Gesicht bestenfalls wie einen Schamhügel, schlimmstenfalls wie den Abstellraum eines Wirtshauses aussehen lassen. Ich hatte Herman wegen seiner Nocturnes trällernden Stimme und der Brustwarzen unter dem Uniformhemd gerettet. Dass er Jude war, interessierte mich nicht besonders. Aber vielleicht habe ich ihn auch im Gedenken an die Kurzwarenhändlerin gerettet. 131
Ich weiß nicht, ich weiß es nicht mehr, es ist so lange her, ich war jung. Muss ich unbedingt auf diese Frage antworten? Ich habe in den Zeitungen gelesen, lange nach dem Krieg, denn direkt danach sprach man nicht über solche Dinge, dass ein Pfarrer aus dem Aveyron mehrere Jahre lang einen Rabbiner im Werkzeugschuppen des Friedhofs hinter seiner Kirche versteckt hielt. Im Gegenzug für Stillschweigen, Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf lehrte der Rabbiner den Pfarrer Hebräisch. Sie lasen zusammen die Bibel. Der Vertrag war klar: ein Vers für einen Kanten Brot. Wollte der Pfarrer weitergehen, noch einen zweiten Vers lesen und die Erklärung des Rabbiners hören, dann hatte dieser Anrecht auf ein zweites Stück, sonst war Schluss. Das hing natürlich nur vom Willen des Pfarrers ab. Der Rabbiner war ihm ausgeliefert. Er ist verrückt geworden. Am Tag der Befreiung sprach er zu den Alliierten aramäisch. Der Pfarrer hat eine Medaille bekommen: Er hatte einen Juden gerettet. Die Juden haben ihm gedankt. Es wurden Reden gehalten, Leute kamen sogar aus Israel angereist. Dabei hatte er es getan, um seinen Interessen zu dienen, seine Wissenslücken zu schließen. Aber als man ihm die Medaille ansteckte, wusste niemand mehr, wer Held oder Verräter, wer feige und wer mutig gewesen war. Das war eine Zeit, da man Schwarz oder Weiß zu sehen glaubte, aber man sah gar nichts, nur Grau, eine Nacht, in der alle Hunde grau sind.
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Ich habe niemals Provision genommen wie die Verkäuferinnen in großen Kaufhäusern, die nach Umsatz bezahlt werden, oder der Pfarrer im Aveyron. Das alte Wort für Provision, ›guelte‹, habe ich irgendwann im Wörterbuch entdeckt. Das Wörterbuch behauptet, es komme vom deutschen Wort Geld. Das könnte man wirklich annehmen. Aber der Redakteur hat während des Krieges keinen Juden in seinem Keller versteckt. Guelte kommt aus dem Jiddischen, das ist ganz klar. Die Erfinder der Kaufhäuser waren Blochs, wie die Kurzwarenhändlerin, Kahns, Meyers, Baders. Man sagt es auf deutsch, um vornehm zu tun. Es gab keinen Vertrag zwischen Herman und mir. Wer hat bei dem Austausch gewonnen? Herman hat zwei Jahre, drei Monate und zwanzig Tage seine Haut gerettet, beinahe hätte er sie ganz gerettet, und ich habe die Liebe kennen gelernt. Wenn sich Herman mir verweigert hätte, hätte ich ihn aus dem Keller vertrieben? Ein bisschen dalli! Zisch ab, wenn du mir nicht mehr dienen kannst! Das wäre gemein von mir gewesen, und gefährlich: Man hätte erfahren, dass ich einen Juden versteckt hatte, ich hätte die ›Barres‹ und alles andere riskiert. Jetzt kann ich Jiddisch, ich bin imstande zu erklären, dass guelte von kommt, aber ich habe kaum jemanden, mit dem ich es sprechen könnte. Dabei ist sprechen einfacher, da gibt es kein Problem mit den Buchstaben. Ich werde doch nicht nach New York umzie133
hen, nur um es nicht zu verlernen. Einmal habe ich eine Polin kennen gelernt. Ihre Eltern waren vor dem Krieg Hauswarte im jüdischen Viertel von Lublin gewesen. Sie hatte ihre ganze Kindheit im Hof hinter ihrem Haus mit jüdischen Kindern gespielt und sprach fließend jiddisch. Meistens verschwieg sie es, aber mit mir sprach sie gern, vielleicht, weil ich nicht jüdisch war. Sie fand auch, dass ich einen komischen Akzent hätte. Es ist doch nicht meine Schuld, wenn ich mein Leben lang Deutsch unterrichtet habe. Und auch noch gern. Herman war unvorhersehbar, immer ein bisschen abwesend, außer wenn er mich umarmte. Wenn er das deutsche Gedicht laut las (ziemlich leise trotz allem, um nicht bemerkt zu werden), erschien er mir weit weg, im Orient, umgeben von Kamelen und Palmen, und wir waren ein bisschen wie in dem Gedicht: Ein Fichtenbaum steht einsam, ich der Fichtenbaum, er die Palme. Der Fichtenbaum ist männlich, die Palme aber weiblich. Von ihm habe ich gelernt, dass dieses Gedicht durch einen Text des Talmud inspiriert wurde, eine traditionelle jüdische Legende. Dieser Gedanke schockierte mich. Heine, der große deutsche Dichter, war Jude. Ich wusste es, ich hatte nicht daran gedacht, ehe ich Herman kennen lernte. Ich musste mich damit abfinden. Der Talmud. »Eine Sammlung von Gesetzen und Legenden.« »Man sagt oft, es sei ein gefährliches Buch.« »Man ver134
sucht darin zu klären, ob das Ei der Henne von Groynem, das in Yankls Scheune gefunden wurde, Groynem oder Yankl gehört. Ist das vielleicht gefährlich? Darin steht, dass Moses stotterte, weil er sich als Kind Glut in den Mund gesteckt hat. Es ist ein Gesetzbuch, eine Märchensammlung. Das ist die gefährliche Waffe, von der Sie sprechen.« Ich habe nicht geglaubt, was Herman über den Talmud sagte. Man hat nicht ein Buch auf öffentlichen Plätzen verbrannt, nur weil es Geschichten von Eiern und Hühnern erzählte.
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Nach der Sprengung der Kaserne wurde die Jagd auf Widerstandskämpfer in der Region verstärkt. Die Nazis hängten Plakate mit Fotos und Namen der gesuchten Terroristen aus. Sie hatten alle Galgengesichter und Namen, bei denen man sich die Zunge brach. Zylbersztajn, Szulc, Sztokfisz. Die Herren sz. Juden. Und mittendrin, eines Tages, Friedberg, wie Hans-Joachim, aber mit einem anderen Vornamen, Jean. War HansJoachim Jude? Dieser Gedanke war mir nie gekommen. Er war so deutsch, so schön. Wenn er Jude war, konnten sie ihn nicht an die russische Front geschickt haben, drohte er dort nicht meine Schwester Anne zu besteigen, wenn sie als Prostituierte dorthin gebracht würde, nach Volkers Tod, man kann ja noch träumen. Ich hatte diese Jugenderinnerung ganz tief begraben. Ich hatte mir eine beruhigende Geschichte erzählt, Hans-Joachim in der Hitler-Jugend, Hans-Joachim als Soldat im Dienste des Lebensraum, Hans-Joachim an der russischen Front. Stattdessen hatte er Deutschland vielleicht 1933 oder 1936 verlassen, spätestens 1938. Oder er war in Heidelberg geblieben und wer weiß, was aus ihm geworden ist. Wenn er geflohen ist, wohin ist er gegangen? Nach Amerika? Er sprach kein Englisch. Also nach Frankreich? Ich habe mir das Gesicht auf dem Plakat genauer 136
angesehen, das Foto war unscharf, ich war außerstande, jemanden zu erkennen. War er das, dieser schlecht rasierte Jean Friedberg? Die Deutschen konnten schwerlich einen deutschen Vornamen auf einen Steckbrief schreiben, das wäre wie das Eingeständnis ihres Wahnsinns gewesen. Ich habe auf das Gesicht auf dem Foto gestarrt. Es konnte seines sein, aber das Foto war so dunkel, wie sollte man das erkennen? Versteckte sich Hans-Joachim irgendwo in der Gegend? Auf dem Roche-Noire-Plateau, hinter den letzten Bauernhöfen, war der Wald sehr dicht. Zwischen den Bäumen standen noch die Holzhütten, in denen die Waldarbeiter während des Einschlags gewohnt hatten. In meiner Kindheit hatten wir dort bei unseren Sonntagsspaziergängen Halt gemacht, um unseren Proviant zu verzehren. Heute gibt es sie nicht mehr. Sie sind zerfallen, Dach und Wände sind eingestürzt, das Holz, aus dem sie gebaut waren, ist verfault, zur Erde zurückgekehrt. Wenn man gründlich sucht, findet man noch einen geschmiedeten Nagel oder einen vergessenen Blechtopf. Während des Krieges standen diese Hütten noch. Ich nahm mir vor, einmal zum Roche-Noire-Plateau hinaufzugehen, um Klarheit zu haben. Ich hätte meine Nachforschungen diskret betrieben, ich kannte dort eine frühere Klassenkameradin meiner Schwester, aus der etwas Besseres geworden war als aus ihr. Ich hätte Hans137
Joachim wiederfinden können, aber was hätte ich mit ihm gemacht? Ihn auch in den Keller gebracht? Es gab nicht genug Platz für zwei. Und sie hätten sich gegenseitig umgebracht, meine beiden Liebsten, wie zwei große Hirsche gekämpft, um über die Herde zu herrschen. Hans-Joachim hätte sich nicht unter der Erde verstecken wollen. Er hatte sich der Résistance angeschlossen. Er kämpfte stolz. Er war Deutscher. Wenn ich ihn darum gebeten hätte, hätte er seinen Landsmann im Obergeschoss liquidiert. Hans-Joachim, mein Freund, mein einziger Freund, rette mich aus den Krallen dieses SS-Manns, ein Axthieb in den Rücken, wenn er sich auf meiner Schwester rekelt, nicht zu stark, um Anne nicht mit demselben Hieb zu durchbohren, oder im Duell, auf preußische Art, wie du willst. Ich hätte ihn nur darum bitten müssen, er hätte es getan. Herman? Er hat nie daran gedacht, aus seiner Höhle hervorzukommen, erst recht nicht, wenn es darum gegangen wäre, Volker umzulegen. Ich habe ihm nicht vorgeschlagen zu fliehen. Ich hätte bestimmt einen Kontakt für ihn herstellen können, mit meinem Kollegen Viallet, Lehrer für Griechisch und Latein. Damals ahnte ich es nur. Später erhielt ich die Bestätigung, Gefährte der Befreiung, wirklich klasse. Über Viallet hätte ich Herman einen Weg nach draußen öffnen können, um loszugehen und Brücken zu sprengen. Aber ich wollte ihn für mich. Ein richtiger Held war er allerdings nicht in seinem Loch. Ich
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habe Liebe gesagt, auch Faszination, aber ich habe nicht von Bewunderung gesprochen. Als mir der Versicherungsagent meinen Vater mit der bayerischen Bäuerin unter die Nase rieb, hätte ich meinen Satz fortsetzen sollen, einfach nur um sein Gesicht zu sehen: »Jeder sieht zu, wo er bleibt. Ich persönlich habe während des Krieges einen Juden gefangen gehalten, um ihn nach Belieben aufs Kreuz legen zu können. Ich habe ihn mit der Pipette gefüttert, ein Stückchen Brot gegen ein Trillern. Fleisch war teurer.« Dieser Versicherungsmann war komisch. Es war unfair gegen das Andenken meines Vaters, mir diese Geschichte zu erzählen. Ich hätte ihm das Auto nicht abkaufen sollen. Er gehörte zu den zweifelhaften Gestalten, von denen mein Vater gesagt hätte: »Dem würde ich keinen Gebrauchtwagen abkaufen.« Ich habe das Auto gekauft. Ich habe damit nicht mehr Scherereien gehabt als mit einem anderen, also. Diese Art, mich über die jiddische Sprache zu informieren, war auch eine Möglichkeit, meine sprachliche Ausbildung zu ergänzen, wie man heutzutage sagt. Wie der Pfarrer aus dem Aveyron mit seinem Rabbi. Bei ihm war es die Theologie, bei mir die Sprachwissenschaft. Nach dem Krieg hätte ich für die Gerichte dolmetschen können, für alle entkommenen Juden, die in Scharen aus Polen und Russland herbeiströmten, auf der Flucht vor 139
irgendetwas, um irgendwohin zu gehen, Verlauste, die kein Wort Französisch sprachen. Wo haben Sie Jiddisch gelernt? In einem Keller, während des Krieges, ich hielt dort einen Lehrer gefangen. Ich werde es Ihnen erklären. Ich erkläre es Ihnen hiermit. Aber nach dem Krieg hatte ich keine Lust darauf, es darzulegen. Ich wollte HansJoachim, Herman, Volker, Annes Geschrei im Obergeschoss, ihr Schluchzen bei ihrer Vergewaltigung mitten auf der Straße und die Amtssiegel am Haus während mehrerer Monate gern vergessen. Das war nicht leicht zu erklären, nach der Befreiung, der SS-Mann im Obergeschoss und der Jude im Keller. Und dann der SS-Mann auch im Keller. Denn ich habe weder Kontakt zur Kindheitsfreundin meiner Schwester aufgenommen noch Hans-Joachim auf dem Roche-Noire-Plateau gesucht. Ich habe weiter davon geträumt, dass er sich in der Gegend versteckt hält, ich habe ihn mir ganz in meiner Nähe vorgestellt. Wenn ich auf meinem Fahrrad, dessen Rahmen keine verschlüsselten Nachrichten für die Résistance enthielt, durch die Straßen der Stadt fuhr, beobachtete mich Hans-Joachim aus einem Mansardenfenster oder durch ein Gullygitter. Ganz einfach, er lebte in aller Öffentlichkeit, mit falscher Identität, Henri-Jacques Fédeau, dieselben Initialen, um nicht durch die gestickten Taschentücher verraten zu werden; er sah mich vorbeigehen, aber ich sah ihn nicht. Er war da, ein paar Meter entfernt, er konnte sich nicht zu erkennen geben, weil
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Krieg war. Er erinnerte sich an mich, die Universität, Heidelberg, Thomas Mann und das Schloss der federgeschmückten Baronin. Er hätte gern meinen Vornamen geschrien, ich hätte den Kopf gedreht, ich hätte seine Stimme allein an diesem Schrei seines Herzens erkannt, ich wäre zurückgerannt und wir hätten uns wiedergefunden, mitten auf der Straße in meiner Geburtsstadt, wo alle mich kannten, mehr als zehn Jahre, nachdem wir uns in Heidelberg getrennt hatten. Aber Hans-Joachim konnte nicht schreien. Selbst in der Öffentlichkeit, mit einer falschen Identität, war er geknebelt, wie Herman in der Tiefe des Kellers. Hans-Joachim ist nie gekommen. In der Gegend oder nicht, tot oder lebendig, ich habe ihn nicht wiedergesehen. Als ich mir nicht mehr vorgestellt habe, er würde vom Roche-Noire-Plateau herunterkommen, um mich von Volker zu befreien, habe ich mich auf niemanden mehr verlassen. Ich habe den SS-Mann mit einem Axthieb umgelegt, wie ich es angekündigt hatte. Ich weiß nicht, was mich gepackt hat, man musste ihn doch erledigen, oder? Anne war dringend gerufen worden, um Cocteau im Stadttheater zu begrüßen. Volker kreuzte wie üblich auf. Meine Mutter war mit dem Fahrrad weggefahren, sie hatte sich meines geborgt, eine Cousine, die auf dem Land lebte, hatte ihr ein Kaninchen versprochen, sie wollte es am folgenden Sonntag zubereiten. Ich stand in 141
der Küche. Ich hatte Wasser aufgesetzt, um mir einen Kräutertee zu kochen, einmal ist doch noch keine Gewohnheit, ich wartete, dass es kochte, und bewunderte den großen Kirschbaum im Garten, sogar im Krieg trug er wunderbare Früchte, meine Mutter machte ›clafoutis‹, Kirscheierkuchen mit wenig Mehl, heute würde man es Gratin von roten Früchten nennen, weil es vornehmer klingt; damals konnten wir den Geschmack der gekochten Kirschen gar nicht genießen, wir dachten nur an das Mehl und die Eier, die so schmerzhaft fehlten. Ich habe den SS-Helm die Vortreppe unter dem Fenster heraufkommen sehen und mit einem Mal war das Maß voll, jetzt reicht's, ich musste die Familie um jeden Preis davon befreien. Diese Entscheidung, vielmehr diese Eingebung, drängte sich förmlich auf, so eine Situation würde nicht wiederkommen, ich mit Volker dicht bei dicht (nicht zu dicht allerdings). Ich hatte keine Zeit, um einen Blumentopf auf seinem Kopf zu zerschmettern, mit dem Helm wäre er vielleicht auch nicht gestorben, außerdem gab es Nachbarn. Ich wollte ihn vor mir haben, ihm ordentlich eine reinhauen, auch wenn er zwei Köpfe größer war als ich. Mein Blut stockte, als ich die Tischschublade aufzog, ich zitterte, aber es ging ganz schnell, keine Zeit, mir zu sagen, es ist verrückt es ist nicht möglich, ich riskiere mein Leben, ich habe das Hackmesser genommen, mit dem meine Mutter die Hühner und Enten tranchierte, von denen jeder weiß, dass sie weiterrennen, wenn man sie geköpft hat, offenbar die 142
Reflexe, und in dem Moment, wo Volker im Türrahmen auftauchte, habe ich ihm einen Schlag mitten in die Stirn versetzt, da hast du's mein Hühnchen. Volker ist ohne ein Geräusch zusammengesunken, es ist so einfach, einen Menschen zu töten. Es floss nur wenig Blut, das war einfacher mit dem Saubermachen hinterher. Was aßen die SS-Leute nur, dass sie so trübes Blut hatten? Ich hatte mit sicherer Hand getötet. Volker war vor meinen Füßen zusammengeklappt, zitternd wie ein Blatt im Wind. Jetzt auf einmal ergriff mich die Angst, brach in mich ein, erfüllte mich vom Fußboden bis zur Decke. Wie Espenlaub zitterte ich. Was für ein Vergnügen lag darin, Volker kaltzumachen? Keins. Tot war Volker noch störender als lebendig. Auf zwei Beinen (und selbst auf allen vieren, wenn er sich auf meine Schwester wälzte) hatte er das Haus vor indiskreten Blicken beschützt. Tot brachte er uns alle in Gefahr. Ich konnte ihn nicht aus dem Haus schaffen, die Nachbarn. Erst mal habe ich ihn ausgezogen, eine SS-Uniform kann noch nützlich sein. Sein Glied war normal groß, ich war überrascht, geradezu enttäuscht, man macht sich ja so seine Vorstellungen. Ich habe ihn in ein Laken gewickelt, um nicht zu viel Dreck zu machen, und zur Kellertür geschleppt, da musste ich ihn zurückhalten, damit er nicht zu schnell hinunterpolterte, ich habe den Eingang zum Versteck freigeräumt, bin erst selbst reingekrochen, dann habe ich Volker an den Füßen hinterhergezogen. Herman rechnete nicht damit, mich zu sehen, draußen war es noch hell. 143
Voilà, habe ich gesagt, jetzt müssen wir ihn nur noch vergraben, ich gehe eine Schaufel holen. Herman verstand nicht, was dieser nackte Körper hier sollte. Er starrte auf den tätowierten Totenkopf auf der Schulter der Leiche ohne zu reagieren. »Ich stelle Ihnen Volker vor, er gehört gewissermaßen zur Familie, der Liebhaber meiner Schwester. Ich weiß nicht, ob er Heine gelesen hat, ich habe es immer vermieden, mit ihm zu reden, aber jetzt ist es zu spät, er wird Sie nicht mehr mit seinem Schnarchen stören.« »Was wollen Sie mit ihm anstellen?« »Ich habe es Ihnen doch gesagt, wir werden ihn vergraben. Vielmehr Sie. Ich muss wieder hoch, um das Haus in Ordnung zu bringen. Er hat ein bisschen geblutet.« Herman erwies sich als vollkommen passiv, und dieses eine Mal ergriff ich die Initiative. Ich habe eine Schaufel und die SS-Uniform in den Keller gebracht, die Blutflecken würde man später mit Wasser und Seife entfernen müssen, ich konnte sie schlecht in die Reinigung bringen. Ich bin mit dem Scheuertuch durch Erdgeschoss, Küche, Flur und über die Kellertreppe gegangen. Ich war noch nicht fertig mit Saubermachen, als meine Mutter zurückkam. Sie hat gefragt Was ist denn mit dir los? Ich wollte lügen, irgendwas erfinden, eine Schrulle, Putzvirus, aber sie sah Volkers Helm auf dem Büffet in der Diele neben der großen Fayenceplatte ihrer Groß144
mutter liegen, sogar einen doppelten Helm, SS-Mann und Liebhaber ihrer Tochter: Er wiederholte sich im Spiegel. Ich hatte ihn dort vergessen. Der Helm war unbeschädigt, Volker hatte ihn gerade abgenommen, als ihn der Hieb traf. »Du hast ihn getötet?« »Ja.« »Wo ist er?« »Unwichtig.« »Und Anne?« »So ein SS-Mann, das wird geboren, das lebt, das stirbt.« Meine Mutter würde nichts sagen. Frau gewordene Neutralität. Volker hat sich verflüchtigt, sein Verschwinden ist ein niemals aufgeklärtes Geheimnis geblieben. Die Deutschen hatten an andere Sachen zu denken. Die Alliierten waren kaum mehr als hundert Kilometer entfernt, man musste Prioritäten setzen: Koffer packen, Rückzug sichern und die letzten Juden deportieren. Ein paar Soldaten desertierten, vielleicht hatte Volker dasselbe getan. Meine Schwester raste vor Wut. Volker war abgehauen, ohne sich zu verabschieden. Was für ein Affront von diesem ›Boche‹. Nach ein paar Tagen sah ich, dass sie sich wie ein Flittchen in den Hüften wiegte. In nicht mal einer Woche hatte sie einen anderen gefunden, LVF-Veteran wie ihr verstorbener Ehemann, der wie 145
durch ein Wunder die Ostfront überlebt hatte, er hinkte, Kriegsverletzung, aber seine Fähigkeiten waren intakt, nach dem Japsen meiner Schwester zu urteilen. Herman hatte mir gehorcht. Er hatte Volkers Körper vergraben, wie ich ihm befohlen hatte. Zuerst war er widerspenstig, er wollte nicht mit dem SS-Mann zusammenwohnen, aber der Keller war der einzige Ort, an dem man in diesem Haus einen Körper verschwinden lassen konnte. Auf dem Dachboden hätte Volker binnen kurzem das ganze Viertel verpestet, im Garten war es undenkbar, auch wenn man hoffen konnte, dass sich die Erde unter dem Kirschbaum das Fleisch des Fritzen mit einem Bissen einverleiben, die Wurzeln des Baumes schließlich sein Skelett einkapseln würden. Herman wollte mich überzeugen, ihn im Weinkeller zu vergraben, auf der anderen Seite der Zwischenwand, aber das war gefährlicher. Als er einsah, dass ich unnachgiebig blieb, tat er, was ich ihm gesagt hatte. Die Zeit arbeitete für mich, denn Volker würde bald anfangen sich zu zersetzen. Der Kellerboden war weich, unser Haus stand in einer Flusswindung auf angeschwemmter Erde, ein Blick in den Garten bestätigte die geologische Diagnose: Die Vegetation war üppig, man spuckte einen Kirschkern ins Gras 146
und konnte vier Jahre später genug für Dutzende Gläser Konfitüre ernten. Vor dem Krieg verbrachte mein Vater seine Zeit mit dem Beschneiden der Bäume, wenn der Winter zu Ende ging, und wir verbrannten das Holz in den Öfen im Haus und waren fast Selbstversorger; deshalb war es während der Feindseligkeiten bei uns ein kleines bisschen wärmer als bei den anderen, allerdings wurde unser Holz zum Teil beschlagnahmt. Das war schon was, dieses Haus, ein Familienerbstück, 1905 von meinen Großeltern mütterlicherseits auf Brachland erbaut, das von Gemüsegärten umgeben war. Im Laufe der Jahre hatte sich die Stadt ausgebreitet. Andere Häuser waren gebaut worden, auf den mit Lauch und Salat bepflanzten Beeten wuchs ein kleinbürgerliches Stadtviertel, Lehrer, Beamte, ein paar Geschäftsleute. Die Juden wohnten weiter im Zentrum, zwischen Avenue Victor-Hugo und Place Giraudy, Bürgermeister im Zweiten Kaiserreich, manche sagten auch Place Yihoudi. Seit der Besatzung war es der Platz der geschlossenen Fensterläden. Die Wohnungstüren waren versiegelt, die Eigentümer ausgeflogen. In die Schweiz gegangen, in Keller verkrochen wie Maulwürfe oder in die ›Barres‹ gebracht und dann nichts mehr. Und ich mit meinem Juden im Keller. Vor dem Krieg dachte ich nie an die Juden, jedenfalls fast nie, obwohl, wenn ich über die Place Giraudy ging, sah ich durch die hohen Fenster auf die großen Kristalllüster in den Wohnungen und dachte unwillkürlich, dass diese Häuser von Juden bewohnt 147
wurden, aber das war alles, weiter nichts. Mit Herman im Keller wurde es zu einer Obsession, und das ist es geblieben. Ich habe diesen Juden in mir, jetzt, diesen Herman, und für immer. Er hat mir obendrein auch noch seine Sprache aufgehalst. Als wir Volkers Loch wieder verschlossen hatten (ich hatte Herman geholfen), sagte ich Wir könnten hier Salat pflanzen, wie in guten alten Zeiten. Herman ergänzte »Chicorée«. Und Champignons, schön weiß, wir würden bei der nächsten Landwirtschaftsmesse die Medaille für die weißesten Champignons bekommen, wenn schon kein Rriegskreuz. Wir hatten mühelos die fruchtbare Erde umgegraben, auf der wir so oft gelegen hatten, um uns zu lieben. Wir hatten unseren kleinen Acker bearbeitet. Volker war keine Messe wert, er war gestorben wie eine Ruh im Schlachthof, ein Axthieb und Schluss, ohne ein Muh. Ich erinnere mich noch an das Geräusch seines Körpers, als er auf dem Nussbaumparkett in der Diele zusammensank. Flof. Volker hat sich verflüchtigt, niemand hat erfahren, wohin er verschwunden ist, ich habe es bis heute verschwiegen. Da drüben in Deutschland hat eine Mutter nie erfahren, was aus ihrem Sohn geworden ist, eine Ehefrau hat Jahre darauf gewartet, dass ihr Gatte heimkehrt, jemand klopfte, sie zuckte zusammen und verkniff sich nur mühevoll den Satz Das ist Volker, aber sie machte hastig auf, voller Hoffnung, es war der 148
Briefträger, die Milchfrau, der Waschpulver-vertreter von Henkel, der Seife aus tierischen Fetten ver-kaufte, der Gasmann, niemals Volker. Seine Kinder waren ganz klein, als er zur SS ging. Ein Junge und ein Mädchen, oder zwei Jungen, unwichtig, blond, so blond, gallertartig vor lauter Blondheit; übrigens hatte die Mutter Glückwünsche vom Führer persönlich erhalten für die Blondheit ihrer Kinder, sie hatte den Brief mit Kaiseradler und Hakenkreuz eingerahmt und über den Ramin gehängt, in dem nie Fleisch gebraten wurde, weil das schlecht roch. Sie hat den Rahmen abgenommen, als die Russen kamen, und auf dem Dachboden versteckt, eine der Erinnerungen, die ihr von ihrem kurzen Leben mit Volker bleiben würden. Die Kinder, Helmut und Ursula, erzählten überall, ihr Vater sei in den Krieg gezogen, zum Kreuzzug, man hatte ihnen nicht gesagt, dass er bei der SS war, und im Unterschied zu manchem ihrer kleinen Kameraden, deren Väter zurückkehrten, würden sie nie die Uniform der Schutzstaffel in einem Schrank auf dem Speicher entdecken, wenn sie Kleider der Großmutter suchten, um sich zu verkleiden. Und sie würden nie erfahren, dass ihr Vater zur deutschen Elite gehörte, zur Herrenrasse, gute Familienväter, mustergültige Ehemänner, die Juden zu Tausenden mit einer Kugel in den Nacken am Rand eines Grabens töteten, zu diesen Helden, die Feuer an eine Kirche legten, nachdem sie die ganze Bevölkerung eines Dorfes darin eingesperrt hatten, um ihren Nachkommen eine strahlende Zukunft in einer 149
von Unrat gereinigten Welt zu sichern, und sich ein gutes, frisches Bier leisteten, wenn sie nach einem harten Arbeitstag nach Hause kamen. Volkers Kinder würden die durchschnittlichen Schuldgefühle der jungen Deutschen der Nachkriegszeit entwickeln, zu diesem Volk zu gehören, das um jeden Preis ein anderes verschwinden lassen wollte, aus unerfindlichem Grund, vielleicht nur, weil dieses andere eine sehr ähnliche, aber nicht so vornehme Sprache sprach, verständlich, aber so wenig preußisch, und weil man diesen philologischen Bastard beseitigen musste, dieses zu andere Andere. Helmut und Ursula würden nicht das gute mächtige enorme grauenvolle Schuldgefühl der Kinder von SSMännern entwickeln, jenen SS-Männern, die ihren geliebten Kindern Geburtstagskarten schickten Ich liebe dich, dein Vati, wenn sie von der Arbeit kamen, und bei der Arbeit hatten sie zwanzig Zigeuner, fünfzig Juden und zehn Homosexuelle liquidiert, oder auch zwanzig Waggons mit Zigeunern, fünfzig Waggons mit Juden und zehn Waggons mit Homosexuellen, sie wussten nur noch die Zahl, nicht die Maßeinheit, aber was soll's, Hauptsache, die Summe stimmt. Wie viele Menschen hat Volker während des Krieges getötet, wie viele Jungen hat er gefoltert, wie viele Mädchen hat er vergewaltigt? Wie viele Schwestern hat er gebumst?
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Volkers Kinder haben das alles nicht erfahren, weil die Uniform ihres Vaters in Frankreich geblieben ist, nicht im Keller bei der Leiche ihres Vaters, woanders, wo? Hätte ich Volkers Skelett nach dem Krieg ausgraben und Frau Hammerschimmel zurückschicken sollen, die Knochen sorgsam in eine große Kiste sortiert und der Schädel obendrauf, diskrete und feinfühlige Erinnerung an die Tätowierung, die Volker auf der Schulter trug, und an das elegante Abzeichen, das seinen Helm zierte?
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8 Herman fand sich nicht mit dem unter ihm vergrabenen SS-Mann ab. Er schlief nicht mehr, in wenigen Tagen wurde er sehr nervös, er, der sein Eingeschlossensein so geduldig ertragen hatte. Die Erde brannte ihm unter den Füßen. Es tat mir schon leid, dass ich ihn gezwungen hatte, diese Anwesenheit zu ertragen. Leben auf einem Friedhof. Wir schliefen nicht mehr miteinander, Herman hatte keine Lust mehr, er schien mich nicht mehr zu begehren, ich habe versucht ihn zu erregen, ohne Erfolg. Sein Glied hing zwischen meinen Händen, zwischen meinen Lippen, und er wartete etwas gereizt, dass ich aufgab. »Ich kann nicht mehr mit diesem Toten leben.« »Vergessen Sie ihn, er ist nicht mehr da. Er hat niemals existiert.« »Ich spüre ihn ununterbrochen. Er macht mich verrückt. Es stinkt nach Tod. Sehen Sie, die Erde ist nicht mehr so glatt wie vorher, sie hat einen Buckel, man sieht genau, wo er vergraben ist. Bald tauchen die Dämonen auf.« »Was erzählen Sie da?« »Haben Sie nachts noch nie diese Lichtchen auf den Friedhöfen gesehen? Als ich klein war, habe ich ab und 152
zu meine Großmutter auf dem Dorf besucht. Sie wohnte neben dem Friedhof und ich trieb mich nachts dort rum.« »Das sind Irrlichter.« »Dämonen, ich sage es Ihnen.« Seltsamer Aberglaube bei einem Mann, der Heine liebte. Herman erstickte. Die Alliierten waren ungefähr hundert Kilometer entfernt, die ›Boches‹ zogen sich zurück. Herman drohte, den Keller zu verlassen, einfach so, mitten am Tag, er würde eines Morgens die Treppe hochgehen und meine Schwester bitten, ihm eine Schale Kaffee aufzuwärmen. Ich sagte Sie sind verrückt. Er antwortete Und einen SS-Mann in diesem Keller zu vergraben ist nicht verrückt? Es wurde unmöglich, ihn am Hinausgehen zu hindern. Ich dachte, ich könnte bis zur Befreiung der Stadt ein anderes Versteck für ihn finden, aber dazu musste er das Haus verlassen. Die Nachbarn lagen auf der Lauer, man erfuhr alles, wir hatten ja schon Glück gehabt, dass uns niemand gesehen hatte, als ich Herman gerettet und in den Keller gebracht hatte. Die alte Christophe war jetzt im Spätsommer von morgens bis abends auf ihrem Balkon. Herman konnte tagsüber nicht hinausgehen, und nachts war es gefährlich, denn es herrschte immer noch Ausgangssperre. Ich hätte mir gewünscht, dass er 153
im Keller bliebe, aber er verweigerte sich mir, es nützte nichts, ihn eingesperrt zu halten. Ich willigte ein, ihn hinauszulassen. Ich dachte an die SS-Uniform. So viele Leute kamen wegen Anne ins Haus. Herman würde abends entkommen können, in der Dämmerung, das war der Moment, wo die alte Christophe ihre Suppe löffelte, die anderen Nachbarn würden wegen der Uniform keinen Unterschied machen. Ich schlug es ihm vor. Herman war der Keller so unerträglich, dass er einwilligte. »Werden wir uns woanders als in diesem Keller wiedersehen? Werden Sie noch mit mir schlafen?« »Frankreich wird bald frei sein.« Genau das fürchtete ich. Herman würde mir nichts mehr schulden, würde er mich noch lieben? War es so wichtig, dass er mich liebte? Die Befreiung würde nichts Gutes bringen, sie würde uns zwangsläufig trennen. Ich habe ihm geholfen, Volkers Uniform anzuziehen. Sie war gut geschnitten. Ich könnte nicht sagen, dass sie ihm gut stand, aber die Nähte waren fest und sauber. Die Nazis verwendeten große Sorgfalt auf die Bekleidung ihrer SS. Ich habe gehört, dass der Hersteller einen guten Designer hatte, die Firma Boss. Dass Hugo in punkto Eleganz mit den größten Couturiers Frankreichs mithalten kann, verdankt er seinem Vater, den Hitler dafür sorgen ließ, dass die SS von Dunkerque bis Kreta ordentlich gekleidet war. Er konnte mit Hunderttausenden 154
Uniformen seine Kollektionen entwerfen, seine Schablonen präzisieren, seine Nähmaschinen erproben. Dem Führer, die dankbare Haute Couture. Herman in Volker, das war unerträglich, vor allem der Helm. Als er mein Erschrecken sah, setzte Herman noch eins drauf. Er stand stramm, knallte die Hacken aneinander und begann im Stechschritt durch den Keller zu marschieren. Volker lag direkt darunter. Ich stopfte Hermans Kleidung und Schuhe in einen Sack und versteckte ihn unter einem Baum am Flussufer, nicht weit von einer Brücke, ein ziemlich einsamer Ort. Ich erklärte Herman, wie er dorthin kam, es war einfach. Als es gegen acht Uhr zu dämmern begann, verließ Herman den Keller. Es war etwas später als geplant, meine Schwester hatte im Wohnzimmer herumgetrödelt, ehe sie hoch in ihr Zimmer ging. Meine Mutter war in der Küche geblieben, aber sie würde weiter schweigen, das war sicher. Herman ist die Treppe hochgekommen, hat die Diele durchquert, ist an der Küche vorbeigekommen. Respektvoll hat er meine Mutter gegrüßt, die entsetzt war, einen SS-Mann aus dem Keller auftauchen zu sehen, der nicht Volker war, der wiederauferstandene Volker, aber nicht genau er, nicht ihr SS-Mann, der, an den sie sich zwangsläufig gewöhnt 155
hatte, ein anderer, größer, schöner. Es war nicht der Zeitpunkt für Erklärungen. Herman ist rausgegangen. Aus dem Wohnzimmerfenster habe ich gesehen, wie er vorsichtig die Gartentür geöffnet hat. Er hat sie ganz ruhig geschlossen, sich umgedreht und seinen Weg fortgesetzt, ich habe nur noch seinen braunen Nacken gesehen, ein echter SS-Mann, zum Verwechseln ähnlich. Er ist nach rechts gegangen, wie ich ihm gesagt hatte, und an der Straßenecke verschwunden. Meine Mutter wienerte. Sie ging die Kellertür zumachen und steckte den Schlüssel in ihre Tasche. Sie stellte keine Fragen, weder an diesem Tag noch an den folgenden. Sie ist vierundzwanzig Jahre später gestorben, ohne dass wir jemals von dem SS-Mann gesprochen haben, der durch den Flur gegangen ist. Das war meine Mutter, eine Maschine, die die Wirklichkeit verschlang, ohne sie je wieder auszuspucken, eine große Kiste, die ihr Leben damit verbrachte, sich mit allem zu füllen, was sie glaubte verstecken, vergraben zu müssen, all die brennenden Wahrheiten, die ein Leben säumen und die vergänglich sind, wenn man sich ihrer nicht bedient. Meine Mutter ist an Darmkrebs gestorben, sie wäre gern im Garten des Hauses beigesetzt worden, das ihre Eltern in der Flussschleife gebaut hatten, aber das Gesetz verbot es; in Friedenszeiten, was man eben Frieden nennt, äußeren Frieden, gibt es Friedhöfe für die Toten. Die Keller wurden nicht ihrer jahrhundertealten Nutzung zurückgegeben, denn man bewahrt dort keine Kartoffeln 156
mehr auf, man kauft sie nach Bedarf im Supermarkt. Weinkeller und Waschküchen sind zu nichts mehr gut, sie füllen sich mit alten Sachen, die man eines Tages wieder auszugraben hofft, aber wenn man es tut, sind sie verfault, riechen nach Salpeter und sind reif für die Müllhalde. Die Waschküche des Familienhauses wird nicht mehr genutzt. Geblieben ist nur das große Steinbecken, in dem meine Großmutter die Wäsche wusch, aber mit Wasser hat es sich seit Jahrzehnten nicht mehr gefüllt. Wir haben einen Wasserhahn angebracht, um den Garten zu gießen. Das Becken ist mit einem Waschbrett abgedeckt und darauf steht ein winziger Waschkessel, nicht der, in dem meine Großmutter die Wäsche kochte, der ist seit der Erfindung der Waschmaschine irgendwo verschwunden, sondern ein Spielzeug, das meine Mutter geschenkt bekam, als sie klein war; das einzige Teil, das von einem ganzen Puppenhaus übrig geblieben ist, der kleine Waschkessel, darin werden die Schlüssel versteckt und die halbe Stadt weiß, dass die Schlüssel in dem kleinen Waschkessel sind, man muss nur den Deckel abnehmen und dann den Metallpilz, der für die Verteilung des Wassers sorgte, und die Schlüssel liegen ganz unten. Während der Besatzung war der kleine Kessel auch schon da, aber auf einem Regal über dem Becken, weil darin noch Wäsche gewaschen wurde, und die Schlüssel lagen in dem Kessel. Man fürchtete sich vor vielem während des Krieges, aber nicht davor, dass ein Fremder nachts in das 157
Haus eindringen könnte. Ich hatte ein bisschen Angst, ein Dieb könnte kommen, runter in den Keller gehen und Herman entdecken, aber ich konnte meine Mutter nicht bitten, die Schlüssel aus dem kleinen Waschkessel zu nehmen, er war immer dort gewesen, mein Wunsch wäre aufgefallen. Nachdem Herman in seiner SS-Uniform das Haus verlassen hatte, habe ich ihn mir weiter auf dem Weg vorgestellt, den ich ihm beschrieben hatte. Rue Matignon, links in die Rue Mordillât, geradeaus bis zur Place du Sacré-Cœur, dann die Rue des Bons-Enfants, den Sandweg in Höhe der 18, den Treidelpfad, den Baum, den Sack. Herman zieht sich im Dunkeln aus, er entledigt sich dieser Mörderhaut, die ihm das Leben rettet, und kehrt in seine Menschenkleidung zurück. Herman steht in Unterwäsche am Flussufer. Trägt er an diesem Abend meine oder die von Claude? Es ist Sommer. Die Mondsichel spiegelt sich verzerrt im dunklen Wasser. Zart beleuchtet sie Hermans Körper, den ich nie in diesem vorteilhaften Licht gesehen habe, ich kenne ihn nur in der Tiefe eines Kellers, wo es stickig riecht, nach Staub und gestampfter Erde. Am Flussufer riecht es nach taufrischem Gras, nach Minze und Nussbaumblättern. Und der Fluss fließt. Die Sommerwärme bringt in diesem Bergland die Wasserläufe nicht zum Versiegen, sie lässt die Gletscher schmelzen und der Fluss führt das schlam158
mige Wasser, das von den Gipfeln kommt, Geäst, Baumstämme, manchmal auch Leichen, in dieser Zeit, da es leicht ist, seine Rechnungen zu begleichen. Herman hat den Weg nicht bis zum Ende zurückgelegt. Die Fernsteuerung hat nicht funktioniert, wie ich es erhoffte, das System ist unterwegs ins Stocken geraten. In der Rue des Bons-Enfants, vor der Nummer 12, ist er zusammengebrochen, niedergemäht von einer Maschinengewehrsalve. Ein Angriff der Résistance, die ein paar Tage vor der Befreiung noch einen SS-Mann erlegen wollte. Ein Mann hat geschossen, ein anderer ist gefallen. Jean Friedberg vielleicht an einem Ende der Waffe, Herman am anderen, erschossen, niemand weiß warum. Vierzig Jahre lang habe ich versucht, für ihn die Anerkennung »Gestorben für Frankreich« zu erhalten, ohne Erfolg. Ich weiß nicht, warum ich so viele Jahre gebraucht habe, mich gegenüber den Behörden geschlagen zu geben, denn diese Anerkennung hätte niemandem genützt, Herman starb ohne Kinder, soviel ich weiß. In welche Schublade des Ministeriums für ehemalige Kriegsteilnehmer gehört ein Jude, der in SS-Uniform liquidiert wurde? Der Krieg ist kein Karneval. Jeder hat darin seinen Platz und muss sich daran halten. Die Résistance leistet Widerstand, der Jude taucht unter, die Schwester macht die Beine breit und erwartet den Deutschen, und ich, ich trieb zwischen diesen Personen hin und her, ein 159
von Fäulnis angefressener Ast, dem Fluss überlassener Holzstamm. Ich habe mitten im Krieg eine Liebe gefunden, wie ich sie nie zuvor kennen gelernt hatte. Ich habe sie in den letzten Stunden der Besatzung verloren. Das ist absurd. Und wenn Herman überlebt hätte? Wäre ich mit ihm zusammengezogen? Noch absurder. Herman endete im Fluss. Ich war nicht kaltblütig genug, sofort seine Leiche aufzulesen, um ihm ein anständiges Begräbnis zu geben. Man muss sich den Zusammenhang vorstellen, wer hätte sich getraut, eine SSLeiche aufzulesen und zu riskieren, das gleiche Schicksal zu erleiden. Nicht jeder, der es gern wäre, ist eine Antigone. Erst nach der Befreiung habe ich die ganze Geschichte erzählt, und auch da war es nicht leicht, denn das Land duldete nur eine Wahrheit, die der Helden, der Sieger, der Widerstandskämpfer der ersten Stunde, die niemals so viele Anhänger hatten wie 1945. Nach dem Krieg habe ich auf die Kurzwarenhändlerin gewartet, Madame Bloch, aber sie ist meines Wissens nicht zurückgekehrt. Ich habe lange die Gewissensbisse in mir bewahrt, dass ich sie gehen ließ, und ich traute mich nicht, die Erinnerung zu beschwören. Ich dachte nicht an sie, aber die Händlerin blieb in mir hocken, in einer Ecke, bereit aufzuspringen. Ich dachte nur an Herman, ein bisschen an Hans-Joachim. Ich habe lange Sodbrennen gehabt, das war wohl Madame Bloch.
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Ich habe weiter Deutsch unterrichtet, was konnte ich denn sonst? Meine Mutter ist gestorben, mein Vater ist gestorben, meine Schwester Anne hat sich im Auto auf einer Fernstraße umgebracht, sie wollte einen Lastwagen überholen, aber ein anderer kam ihr entgegen, sie hat ihn voll abgekriegt, ihr Auto hat sich in den Grill des Lasters geschoben, der Fahrer hatte einen gewaltigen Schreck, vielleicht hat ihn der Tod meiner Schwester, die mit vollem Tempo über diese Landstraße fuhr, sogar lebenslang traumatisiert. Ich wohne im Haus meiner Mutter. Ich kann es nicht ebenso ausfüllen wie sie, es ist zu groß für mich, nur das Schlafzimmer, das Arbeitszimmer und das Bad im Obergeschoss, ein bisschen die Küche. Das Wohnzimmer im Erdgeschoss versinkt im Staub, die anderen Zimmer auch. Sie dämmern dahin und erwachen einmal im Jahr, wenn meine Schwester Isabelle, für ihr Alter noch sehr rüstig, obwohl sie sechs Jahre älter ist als ich, zu Allerheiligen mit ihren Kindern und Enkeln hier ankommt. Jetzt, wo ihre Eltern und ihre Schwester auf dem Friedhof liegen, verpasst Isabelle diesen Pilgergang um keinen Preis. Sie ist das Haupt einer schönen, sehr lebendigen Familie, die man gern anschaut. Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren pensioniert. Nach dem Mai 68 wurden gemischte Schulen eingeführt. Ich habe der halben Stadt Deutsch beigebracht. Meine ersten 161
Schüler sind auch schon Rentner. Manchmal sehe ich Ehemalige im Fernsehen, andere schicken mir einmal im Jahr Grußkarten. Ich hatte sogar vor gar nicht so langer Zeit einen Minister, sein Vater war während der Besatzung Milizionär der Vichy-Regierung, die politische Ader setzt sich von einer Generation zur nächsten fort. Mit den Jahren ist die Erinnerung an Madame Bloch wieder aufgetaucht. Ich habe ihre Spuren gesucht. Was war mit ihr geschehen, nachdem ich ihr zum letzten Mal in den ›Barres‹ begegnet war? Ich kam nicht in die Archive, mehrere Jahrzehnte für die Öffentlichkeit gesperrt. Ende der siebziger Jahre las ich in der Zeitung einen Artikel über ein Buch, das gerade erschienen war, das ›Mémorial de la déportation des Juifs de France‹, eine Art Adressbuch, das die deportierten Juden auflistet. Den Namen von Madame Bloch habe ich nicht gefunden. Ich wusste nicht, wo ich suchen sollte, denn von unserer Stadt hatte man sie wohl nach Drancy oder in ein anderes französisches Internierungslager gebracht. Es gibt mehr als 75000 Namen in diesem Buch und Hunderte Blochs. Ich habe Jahre damit verbracht, die Seiten des Buches zu durchsuchen, in der Hoffnung, sie zu entdecken. Blaywas Joseph Blazer David 162
Bloch Jacques Bloch Joseph Bloch Toni Blochowa Max Block Marcel Blum Johanna Blum Leopold Blum Samuel Blumenfeld Oscar Diese Seiten mit Namen erinnerten mich an die Liste der starken Verben, die ich im Gymnasium gelernt hatte: backen beginnen beißen bergen bieten binden bitten blasen bleiben braten brechen
buk begann biß barg bot band bat blies blieb briet brach
gebacken begonnen gebissen geborgen geboten gebunden gebeten geblasen geblieben gebraten gebrochen
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Während ich die Listen überflog, fiel mein Blick auf den Eigentümer des Wörterbuchs der jiddischen Literatur, das ich in meiner Bibliothek hatte. Moszek Cymbalista, geboren in Mogielnica am 2. März 1902, polnischer Nationalität. Deportiert am 28. Juni 1942 von Beaune-laRolande im Loiret. Der Artikel teilt mit, dass dieser Konvoi aus 1038 Deportierten bestand. Bei der Befreiung gab es 35 Überlebende. Im selben Zug, vielleicht im selben Waggon, gab es einen Blök mit k, Jeches mit Vornamen, geboren in Warschau am 12. Juni 1905. An jedem 10. August gehe ich ans Flussufer, dorthin, wo sich Herman hätte umziehen sollen, nachdem er den Keller verlassen hatte. Ich setze mich auf die feuchte Erde, ich sehe stundenlang die schlammigen Fluten vorüberziehen, ich bleibe da. Das ist meine kleine Zeremonie für Herman, mein kleines Schma Jisruel, wie er sagte. Bald kann ich es nicht mehr, man ist so alt wie seine Gefäße. Dann werde ich an ihn denken, ohne das Zimmer zu verlassen. Die hohen Äste der Akazie werden mir helfen, die Erinnerung an ihn zu beschwören. Das Haus verändert sich. Bei jedem Besuch machen Isabelles Kinder etwas mehr Durcheinander. Das Bild meiner Mutter verblasst in den Mauern ihres Hauses. Wehmütig, ich? Der Keller hat sich nicht verändert. Die 164
Möbel, die Bücher, die gestampfte Erde. Die Luft da unten ist sehr trocken, alles ist hervorragend konserviert. Ich nehme an, dass meine Neffen hinuntergestiegen sind, als sie klein waren, um sich Angst zu machen. Ein Glücksfall für Kinder. Sie haben mir nichts gesagt, haben mir keine Fragen gestellt. Später, nach meinem Tod, werden sie versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Vielleicht nicht alle, einige werden nichts wissen wollen. Werden sie so weit gehen, den Boden im Keller aufzugraben? Einer von ihnen wird im Irrenhaus landen, oder eins ihrer Kinder, irgendeiner in der Familie muss ja für die anderen büßen. Da ist noch ein Platz auf dem Friedhof, in der Familiengruft für sechs Personen. Sie hat schon meine Großeltern mütterlicherseits, meine Eltern und eine Tante, die jung gestorben ist, aufgenommen. Meine Schwester Anne wurde neben ihrem Ehemann in der Gruft der Schwiegerfamilie beigesetzt. Isabelle wird sich bei ihrer Familie im Südwesten begraben lassen. Claude ist bei meinen Schwiegereltern, auf der anderen Seite des Friedhofes. Sie warten nur noch auf mich. Aber was habe ich mit diesen Leuten zu tun? Mein Platz ist neben Herman, nirgendwo. Ich habe ein Testament auf einen Zettel gekritzelt. Mein Besitz für Isabelle und ihre Kinder, ein kleines bisschen mehr für Alfred, weil er mein Patenkind ist. Und mein Körper zu Rauch. Ich habe um die Einäscherung gebeten, das wird mein letztes Gedenken an Madame Bloch sein. 165
Literaturverzeichnis Johann Wolfgang Goethe: Wandrers Nachtlied. JeanPierre Lefebvre (Hrsg.), Anthologie bilingue de la poésie allemande, Gallimard, Pléiade, Paris 1995, S. 394-395. Heinrich Heine: Ein Fichtenbaum steht einsam. JeanPierre Lefebvre (Hrsg.), a. a. O., S. 681. Übersetzt ins Jiddische von Ruvn Ayzland, Di verk fun Haynrik Hayne, zekster Band: dos buk fun lider, Yidish, New York, 1918, S. 112. Heinrich Heine: Schöne Wiege meiner Leiden. Heines Werke, Erster Teil: Buch der Lieder, Deutsches Verlagshaus Bong & Co, Berlin, S. 90. Übersetzt ins Jiddische von Naftole Gros, Di verk fun Haynrik Hayne, a. a. O., S. 46. Heinrich Heine: Aus meinen Tränen sprießen (»Lyrisches Intermezzo«, II). Heines Werke, Erster Teil, a.a.O., S. 124. Übersetzt ins Jiddische von Naftole Gros, Di verk fun Haynrik Hayne, a.a.O., S. 99. Else Lasker-Schüler: Mein Blaues Klavier. Jean-Pierre Lefebvre (Hrsg.), a. a. O., S. 900-903. Thomas Mann: Der Tod in Venedig. S. Fischer Verlag, Berlin, 1922. Friedrich Schiller: Auszug aus Das Mädchen aus der Fremde. Jean-Pierre Lefebvre (Hrsg.), a. a. O., S. 448-451. Zentaur 04•11•06
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