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NOCH EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE MARY ANNE WILSON Für Samantha zerbricht ein Traum als sie erkennt, dass ihre Ehe mit Nichotas nicht zu retten ist. Er kann einfach nicht an die Liebe glauben! Nach der Unterzeichnung der Scheidungspapiere passiert es dann: Noch einmal schlafen sie miteinander, bevor sich ihre Wege für immer trennen. Nicht ohne Folgen – Samantha bekommt ein Baby. Sie schwört sich, dass Nicholas es niemals erfahren soll! Doch als er sie dann kurze Zeit später überraschend besucht, sieht er sofort, was los ist. Und plötzlich ist Nicholas glühend eifersüchtig auf den Daddy von Samanthas Baby…
Neue Liebe – Neues Glück
IMPRESSUM ROMANA erscheint 14-täglich in der CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20.350 Hamburg, Axel-Springer-Platz l Redaktion und Verlag: Brieffach 8500; 20.350 Hamburg Geschäftsführung: Redaktionsleitung: Lektorat/Textredaktion: Produktion: Grafik: Vertrieb:
Thomas Beckmann Claus Weckelmann (verantwortlich für den Inhalt), Ilse Bröhl (Stellvertretung) Ilse Bröhl (Leitung), Liese-Lotte Stripling Christel Borges, Bettina Reimann, Marina Poppe (Foto) Bianca Burow, Tommaso Del Duca, Birgit Tonn Verlag Koralle Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Hamburg
© 2000 by Mary Anne Wilson Originaltitel: »That Night We Made Baby«; erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd. Toronto; in der Reihe: AMERICAN ROMANCE; Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam © Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA; Band 1256 (9/1) 2001 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg; Übersetzung: Patrick Hansen; Fotos: WEPEGE © CORA Verlag GmbH & Co. KG Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweißen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. ROMANA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Satz und Druck: Eisnerdruck, Berlin Printed in Germany. Aus Liebe zur Umwelt: Für CORAHomanhefte wird ausschließlich 100% umweltfreundliches Papier mit einem hohen Anteil Altpapier verwendet. Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Weitere Roman-Reihen im COHA Verlag: JULIA, BIANCA, BACCARA, TIFFANY, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL CORA Leser-Service Möchten Sie bereits erschienene Romane nachbestellen, oder haben Sie Fragen zum Abonnement? Dann wählen Sie bitte Ihre Service-Nummer: CORA Nachbestell-Service: Telefon (040)85.313.515 CORA Abonnenten-Service: Telefon (07.132)959.214 Sie erreichen die CORA Service-Nummern montags bis freitags von 9.00 bis 16.00 Uhr. Redaktion und Verlag: Fax (07.132) 95 92 16 http://www.cora.de Telefon Fax (040) 347-2 27 94 (040) 347-2 59 91
PROLOG September, Los Angeles, Kalifornien »Rücksichtslose Fahrweise, verbotener Fahrspurwechsel und Widerstand gegen die Staatsgewalt.« Nicholas Viera hatte achtunddreißig Jahre gelebt, ohne an glückliche Zufälle zu glauben. Aber das änderte sich, als er die hübsche Angeklagte sah, die vor dem Verkehrsrichter stand. Normalerweise betrat er den Teil des County-Gerichts nie. Verkehrsrecht war nicht sein Gebiet. Aber er war so sehr in Gedanken vertieft gewesen, dass er auf dem Korridor falsch abgebogen war, die falsche Tür aufgestoßen und den falschen Saal betreten hatte. Als die Anklage verlesen wurde, hob er den Kopf, und sein Blick fiel auf die Angeklagte, eine schlanke Blondine, die ihm den Rücken zukehrte. Und Nick wusste, dass es so etwas wie Glück doch gab. »Euer Ehren«, begann die Blondine mit leicht atemloser Stimme. »Ich fuhr einfach nur auf der falschen Spur, und dann machte dieser andere Wagen keinen Platz. Ich wollte ihn überholen, aber das ging nicht. Da dachte ich mir, wenn ich über den Parkplatz fahre, kann ich mich vor ihn setzen, auf die linke Spur wechseln und rechtzeitig abbiegen.« Nick stand an der Tür, und neben der Ernsthaftigkeit in der Stimme der Frau fielen ihm ihre schulterlangen Locken auf. Als er unwillkürlich einen Schritt nach vorn machte, wanderte sein Blick über die sanft geschwungenen Hüften und die endlos langen Beine. Die enge Bluse schmiegte sich an schmale Schultern, die immer wieder zuckten, während die Frau sich verteidigte.
»Das habe ich versucht, aber dass der Bordstein so hoch war, habe ich erst gemerkt, als es zu spät war.« Sie hob die Arme. »Sonst hätte ich doch gar nicht versucht abzubiegen. Ich habe ihn nicht gesehen, und dann…« »Miss Wells, bitte«, griff der Richter ein. »Laut Polizei haben Sie eine doppelte gelbe Linie überfahren, wären fast mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidiert und sind dann gegen den Bordstein geprallt. Als der Beamte vor Ort eintraf, haben Sie sich geweigert auszusteigen, obwohl Ihr Wagen nachmittags um vier, also mitten im Berufsverkehr, quer auf dem Wilshire Boulevard stand.« »Wie ich schon sagte, ich wollte auf den Parkplatz und habe den Bordstein nicht gesehen. Der Reifen ist geplatzt. Ich dachte, ich könnte weiterfahren, aber der Polizist schrie mich an und verwirrte mich.« Lächelnd ging Nick nach vorn. Er wollte sich diese Frau genauer ansehen, die nicht aufgab, obwohl sie in Los Angeles ein mittleres Verkehrschaos angerichtet hatte. »Aber Sie sind gefahren«, beharrte der Richter mit bewundernswerter Geduld. »Ihr Reifen ist geplatzt, also sind Sie verantwortlich.« »Sicher, aber wenn der andere Fahrer mich herübergelassen hätte, hätte ich das alles nicht tun müssen, und der Verkehr wäre normal weitergeflossen. Und der Polizist schrie mich die ganze Zeit an.« »Ja, das hat er wohl«, murmelte der Richter. »Aber Sie hätten auch einen kleinen Umweg in Kauf nehmen und einmal um den Block fahren können.« Nick stand fast neben dem Gerichtsdiener, und als er das Profil der tapferen Miss Wells sah, wurde ihm klar, warum der Richter sie nicht längst ins Gefängnis geworfen hatte. Die Frau war einfach wunderschön. Sie besaß eine kleine, vor Empörung leicht gerümpfte Nase und ein Kinn, das sie gerade genug anhob, um den Blick auf einen hin-
reißend geschwungenen Hals freizugeben. Ihm fiel auf, wie sich die Bluse bei jedem Atemzug über den festen Brüsten straffte. Dass sie nervös war, sah man nur daran, dass sie mit dem Medaillon an ihrem Hals spielte. Erst nach einer Weile schaffte er es, sich wieder auf ihre unglaublich erotische Stimme zu konzentrieren. »Ich hatte diesen wirklich wichtigen Termin und war schon spät dran«, erklärte sie gerade. »Haben Sie den Termin geschafft?« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Locken tanzten auf den Schultern. »Nein, Euer Ehren, das habe ich nicht.« Der Richter lehnte sich zurück. »Das ist schade. Möchten Sie sich jetzt schuldig oder nicht schuldig bekennen, oder bestehen Sie auf einem Verfahren vor einer Jury?« »Brauche ich vor einer Jury einen Anwalt?« »Nein, aber an Ihrer Stelle würde ich es in Betracht ziehen.« Nick hatte wahrlich genug zu tun und suchte keine neuen Mandanten, schon gar nicht im Gericht. Außerdem war er Strafverteidiger. Diese Frau war nur eine wild gewordene Autofahrerin. Er sah, wie sie zögerte, und mischte sich ein, obwohl er ahnte, dass er es nicht tun sollte. »Euer Ehren, darf ich vortreten?« Miss Wells drehte sich um, und zum ersten Mal sah Nick ihr Gesicht. Sie war etwa fünfundzwanzig, trug wenig oder gar kein Make-up und hatte unglaublich grüne Augen unter langen dunklen Wimpern. An der Nase saßen ein paar Sommersprossen, und der anmutige Mund war vor Überraschung halb geöffnet. »Und Sie sind?« fragte der Richter. »Nicholas Viera«, erwiderte Nick und legte eine Visitenkarte auf den Richtertisch. »Ich dachte mir, ich könnte…« Er drehte sich zu der Frau um. »… Miss Wells helfen.« »Ich verstehe nicht«, gestand die Frau.
»Mr. Viera ist Anwalt«, erklärte der Richter nach einem Blick auf die Karte. »Und ich biete an, die Angeklagte in diesem Fall zu vertreten.« Höchst begehrenswert zu sein, war kein strafbares Vergehen, aber wenn es das wäre, hätte selbst er für sie keinen Freispruch erreicht. »Ich habe dem Richter gerade erklärt, dass ich nur…« Nick hob eine Hand. »Wir reden noch darüber«, sagte er zu ihr, bevor er den Richter ansah. »Euer Ehren, könnten wir vertagen?« »Falls Miss Wells wünscht, anwaltlich vertreten zu werden, können wir…« Er sah seine Sekretärin an. »Wie sieht’s aus, Rhonda?« »Heute in einer Woche, Euer Ehren. Zehn Uhr.« »Wie wäre es damit?« fragte der Richter Nick. Nick sah Miss Wells an. »Okay?« Ihre Wangen röteten sich. Sie nickte. »Einverstanden.« »Bis dann, Miss Wells«, entließ der Richter seine schöne Verkehrssünderin. »Danke, Euer Ehren«, sagte Nick und eilte mit ihr hinaus, während der Richter sich dem nächsten Fall zuwandte. Auf dem Korridor drehte sie sich zu Nick um. Er starrte in die grünen Augen, und was er dabei empfand, ließ ihn beinahe zusammenzucken. Ihr Blick löste etwas aus, das er noch nie erlebt hatte. Das Verlangen, das ihn durchströmte, war so gewaltig, dass es ihn zutiefst beunruhigte. Sie strich sich über das Haar, und er sah die grünen Farbflecken an ihrer Handfläche. Dann befeuchtete sie sich die Unterlippe, und ihm wurde bewusst, dass er eine Frau begehrte, obwohl er noch nicht einmal ihren Vornamen kannte. Samantha Wells hatte nichts von Nicholas Viera gewusst,
bis der ungemein attraktive Mann im grauen Maßanzug an den Richtertisch getreten war. Aus Angst, den Führerschein zu verlieren, war sie völlig kopflos gewesen. Aber dann war er aufgetaucht. Ein Mann, dessen Selbstsicherheit selbst den Richter beeindruckte. Nicholas Viera. Als ihre Blicke sich trafen, ging ihr Atem schneller. Ihr Retter aus der Not war sexy, seine Ausstrahlung fast beunruhigend männlich. Zugleich wirkte er gelassen und selbst vor Gericht kein bisschen nervös oder angespannt. Jetzt stand sie mit Nicholas Viera auf dem Gerichtsflur. Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Viera, Combs und O’Neill. Nicholas Viera«, las sie halblaut. Darunter stand eine Adresse in Bei Air. Es war eine Karte von schlichter Eleganz, offensichtlich teuer, aus elfenbeinfarbenem Büttenpapier. Der Druck hatte vermutlich mehr gekostet, als sie im ganzen letzten Jahr auf ihrem Konto gehabt hatte. Sie betrachtete den Mann, dessen Name auf der Karte stand. Er war groß, und der perfekt sitzende Anzug betonte seine schlanke, athletische Figur. Er hatte ein markantes, glatt rasiertes Kinn, dunkle Augenbrauen und eine leicht schiefe Nase, die er sich vermutlich beim Football gebrochen hatte. Elegant, wohlhabend, selbstbewusst, wahrscheinlich Absolvent einer Elite-Universität, lebte er in einer ganz anderen Welt als eine nicht besonders erfolgreiche Kunstmalerin, die Mühe hatte, die Miete für eine Wohnung zu zahlen, die sie mit drei anderen jungen Frauen teilte. »Danke, dass Sie mich da herausgeholt haben«, sagte sie. »Einen schönen Tag noch.« »Wie?«
»Ich danke Ihnen.« Sie hob die Karte. »Möchten Sie die zurück, Mr. Viera?« »Nein«, erwiderte er. »Nennen Sie mich Nick. Und Ihr Name ist…?« »Samantha Wells.« »Miss Wells.« »Samantha, bitte.« »Sie sahen aus, als könnten Sie ein wenig Hilfe gebrauchen.« Sie lächelte. »Ein wenig Hilfe? Wohl eher eine komplette Anwaltskanzlei, aber ich kann mir nicht mal einen leisten.« Sie steckte die Karte ein und gab ihm die Hand. »Nochmals danke.« Er nahm sie, schüttelte sie jedoch nicht, sondern betrachtete ihre Handfläche. Als er lächelte, stockte ihr der Atem. »Also sind Sie nicht nur wegen eines Verkehrsvergehens hier, was?« »Wie bitte?« Seine Augen blitzten. »Ich verdiene eine Menge Geld damit, meine Mandanten zu durchschauen. Sie stehen wegen Banknotenfälschung vor Gericht, habe ich Recht? Obwohl Sie Schwierigkeiten mit der Tinte haben.« Sie spürte, wie ihr warm wurde, und ärgerte sich einmal mehr darüber, dass sie so schnell errötete. Die Farbe an ihren Händen war ihr immer noch peinlich. »Grün«, sagte er und strich mit der Fingerspitze über den blassen Fleck. »Nicht ganz die Farbe des Geldes, aber dicht dran.« Sie zog die Hand zurück und ballte sie hinter dem Rücken zur Faust. »Das Grün, das Sie sehen, ist die Farbe der Bäume im Nebel auf einer Insel im Füget Sound. Und ich habe hart gearbeitet, um sie so hinzubekommen, bevor ich ins Gericht musste.« »Oh, Sie sind Anstreicher in?« Sein Lächeln hatte noch nicht an Wirkung verloren, und
sie musste sich konzentrieren, um ihm sachlich zu antworten. »Nein, ich bin Künstlerin, jedenfalls versuche ich, eine zu sein. Landschaften, Seestücke, Porträts, wissen Sie? Deshalb hatte ich es so eilig, als ich… gegen den Bordstein gefahren bin. Ich wollte zu einem Galeristen wegen einer Ausstellung und wollte nicht zu spät kommen.« Sie verzog das Gesicht. Der Galerist war verreist und kam erst in zwei Wochen zurück. »Ich kam zu spät.« »Ich kenne einige Galeristen. Auf was malen Sie? Schwarzem Samt?« Sie lachte und hielt sich die Hand vor den Mund, bis er danach griff, sie behutsam nach unten zog, aber nicht wieder losließ. Sie spürte, wie seine Finger sich um ihre schlossen, und wehrte sich nicht dagegen, denn die Berührung gab ihr irgendwie Halt. »Es… tut mir Leid«, sagte sie und hatte plötzlich Mühe, den nächsten Atemzug zu machen. »Das muss es nicht«, erwiderte er. »Gehen wir irgendwohin, wo wir plaudern können.« »Hören Sie, Mr. Viera. Ich bin pleite. Ich bin eine arme Künstlerin, und wenn ich einen Anwalt bekomme, wird er ein vom Gericht gestellter Pflichtverteidiger sein müssen. Trotzdem danke für alles.« Er beugte sich zu ihr. »Habe ich etwas von Geld gesagt?« Seine Antwort verwirrte sie noch mehr. Bot er ihr außer dem Halt etwa auch noch Hilfe an? »Ich habe angenommen…« »Man nennt so etwas einen Pro-bono-Fall«, unterbrach er sie. »Es kostet Sie nichts. Damit tun wir Anwälte Buße für die Fälle, von denen wir wünschen, wir hätten sie übernommen.« Er lächelte verlegen. »Ich bin gut. Ich kann Ihnen helfen, es sei denn, Sie sind eine Serienmörderin.« Das Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Und selbst wenn Sie eine Serienmörderin wären, würde ich Sie
vermutlich freibekommen. Können wir jetzt irgendwo in Ruhe darüber reden?« Er war ein Fremder, aber Sam wusste, dass sie mit ihm gehen würde. Sie wusste, dass er ihr helfen würde. Und noch etwas wusste sie. Nicholas Viera würde ihr Leben verändern.
1. KAPITEL Neun Monate später Malibu, Kalifornien Nick fühlte sich so elend, wie er es zuletzt als Kind im Internat getan hatte. Er hatte seinen letzten Termin an diesem Tag abgesagt, war nach Hause gefahren, hatte das vom Arzt verschriebene Medikament genommen und sich um kurz nach sieben mit seiner Erkältung im Bett verkrochen. Er hatte keinen Blick für den Ozean gehabt, der sich vor dem Fenster erstreckte, sondern war sofort eingeschlafen. Aber irgendwann in der Nacht war es mit der erholsamen Ruhe vorbei. Der Traum kam, der Traum von Sam und ihm. Seit sie gegangen war, hatte er oft von ihr geträumt, und war am Morgen darauf rastlos und zerschlagen aufgewacht. Aber diesmal war es anders. Vielleicht lag es am Medikament. Die Bilder vor seinen Augen waren klar und deutlich, nicht verschwommen wie sonst immer. Sam war von einem Tag zum anderen in sein Leben getreten und hatte es auf den Kopf gestellt. Und dann war sie ebenso plötzlich wieder verschwunden, und er hatte vergeblich versucht, sie zu vergessen. Aber jetzt hatte ihr Anblick sich in seine Seele eingebrannt. So sehr, dass er sich fragte, ob der Traum Wirklichkeit war und sein Leben nur ein Traum. Sam mit den goldenen Locken, der schlanken Anmut, den grünen Augen. Die Faszination, die er damals bei ihrer ersten Begegnung im Gerichtssaal verspürt hatte, war noch da. Und dann war sie plötzlich fort. Jäh aus seinen Armen ge-
rissen. Keine Wärme mehr. Kein Einssein. Kein Sichverlieren. Nur die Kälte, die sie vertrieben hatte, als sie gekommen war. Die zurückkehrte, als sie ging. Das Telefon läutete, und Nick zuckte hoch. Er wischte sich über das verschwitzte Gesicht und riss mit zitternder Hand den Hörer von der Gabel. Es war der Auftragsdienst, der ihm die Anrufe der letzten Stunden vorspielte. Nur einer hatte angerufen. Sein Scheidungsanwalt. Und es ging um Samantha. »Nick, hier ist Jerod Danforth«, begann die Aufzeichnung. »Die Papiere sind fertig. Komm doch in der Kanzlei vorbei, um sie zu unterschreiben. Damit ist die Scheidung so gut wie durch. Nur ein paar Minuten. Ganz einfach. Huf mich an, ja?« Nick legte auf und ließ sich aufs Bett fallen. Verdammt, das war das Letzte, was er jetzt brauchte. Das endgültige Aus für eine Ehe, die in etwa so dauerhaft wie ein Blitzschlag gewesen war. Intensiv und blendend, einen Moment lang, dann vorbei, als hätte es ihn nie gegeben. »Ganz einfach«, hatte Danforth gesagt. Nein, bei Sam war nichts einfach gewesen. Ihre erste Begegnung nicht, und auch nicht, als sie ihn vor sechs Monaten verlassen hatte. Na gut. Er würde zu Danforth gehen und einen Schlussstrich unter die Verrücktheit ziehen, die Sam in sein Leben gebracht hatte. Als er sich wieder aufsetzte, spürte er den Trennungsschmerz wie ein Ziehen in seinem Körper. Ja, er musste vergessen, dass es jemals geschehen war. Er musste Sam vergessen. Er stand auf und eilte ins Badezimmer. Und unter die kalte Dusche. Samantha wollte gerade aus ihrem Hotelzimmer in Brentwood gehen, als das Telefon läutete. Sie eilte zurück.
»Ja, hallo?« »Samantha, hier ist May Douglas.« Es war die Witwe, von der Sam das Cottage in Jensen Pass, einer Kleinstadt in Nordkalifornien, gemietet hatte. Das kleine Blockhaus, in dem Sam lebte und arbeitete, war ursprünglich für Mays Ehemann, einen Schriftsteller, gebaut worden und hatte einen herrlichen Blick auf den Pazifik. Nach der Trennung von Nick hatte Sam dort Ruhe und Frieden gefunden. May Douglas, die in einer Viktorianischen Villa lebte, zu der das Cottage gehörte, war eine großmütterliche Frau, die sich rührend um sie kümmerte. »Mrs. Douglas, wie schön«, antwortete Sam. »Ich hoffe, es gibt kein Problem.« »Natürlich nicht, Liebes. Owen geht es besser, aber er ist etwas mürrisch, weil ich ihm Medizin geben musste, die er hasst.« Bestimmt hatte die Lady nicht angerufen, um Sam von Owen zu erzählen. »Ach ja, haben Sie die Ausstellung bekommen?« erkundigte sich Mrs. Douglas, bevor Sam nachfragen konnte. »Der Galerist ist interessiert. Ich soll ihm noch ein paar Bilder bringen, dann wird er sich entscheiden.« »Sie werden ihm gefallen, Liebes, da bin ich sicher. Kommen Sie morgen zurück?« »Ja, am Nachmittag.« »Wunderbar. Ich mache uns Tee, und dann reden wir.« »Ich freue mich schon darauf«, sagte Sam. Sie wollte sich gerade verabschieden, als Mrs. Douglas noch etwas einfiel. »Oh, jetzt hätte ich fast vergessen, was ich Ihnen erzählen wollte. Ich war gerade im Cottage, um die Blumen zu gießen, als das Telefon läutete. Ich weiß, ich hätte es dem Anrufbeantworter überlassen können, aber das ist so unpersönlich, also habe ich abgenommen. Ich hoffe, das ist okay?«
»Natürlich. War es wichtig?« »Augenblick.« Sam hörte Papier rascheln, bevor ihre Vermieterin weitersprach. »Mal sehen, ob ich meine Handschrift lesen kann. Ja, es war die Sekretärin eines Mr. Danforth. Sie rief an, um Ihnen zu sagen, dass Sie die Scheidungspapiere jetzt unterschreiben können. Sie möchten sich bei ihm melden, um einen Termin zu vereinbaren.« Sam ließ sich aufs Bett sinken. Die Scheidung. »Sonst noch etwas?« fragte sie betrübt. »Nein. Aber sie hat mir erzählt, dass Sie nur drei Monate verheiratet waren. Warum haben Sie die Ehe nicht einfach annullieren lassen? Ich meine, drei Monate sind doch gar keine richtige Ehe.« Die alte Dame konnte nicht ahnen, wie Recht sie hatte. »Nick hat sich um alles gekümmert. Er ist Anwalt, und ich dachte mir, er wird schon wissen, was zu tun ist.« Sam schloss die Augen, riss sie jedoch sofort wieder auf, als sie Nick vor sich sah. Verdammt, seit sechs Monaten versuchte sie, ihn zu vergessen. Sie war in den Norden gezogen, um ganz von vorn anzufangen. Aber plötzlich war er wieder da, groß und schlank, mit einem Blick, der bis in ihre Seele zu dringen schien. Aber sie hatte sich getäuscht. In Wirklichkeit hatte er ihr nicht in die Seele schauen können. Er hatte sie gar nicht richtig gekannt. Er hatte mit ihr zusammen sein wollen, aber die Ehe, auf der sie bestand, hatte er nicht gewollt. Leider hatte sie das zu spät gemerkt. Das und viele andere Dinge. Sam schüttelte den Kopf, um die schmerzlichen Erinnerungen zu vertreiben. »Es ist sinnlos, in die Vergangenheit zu schauen«, sagte sie. Vor allen dann, wenn die Rückschau so weh tat. »Sie haben Recht, Samantha. Sie sind jung und haben so viel vor sich. Auf die Zukunft kommt es an.«
»Danke, Mrs. Douglas«, sagte Sam. »Wir sehen uns morgen.« »Gute Reise, Liebes. Und melden Sie sich doch gleich bei mir, damit ich weiß, dass Sie zu Hause sind.« »Das tue ich«, versprach Sam und legte auf. Die Scheidung war reine Formsache, mehr nicht. Aber das half nicht gegen die schmerzhaften Erinnerungen an jene Nacht, in der ihre Ehe zu Ende gegangen war. Nick hatte mit Greg O’Neill, seinem Freund und Partner, auf der dunklen Terrasse ihres Strandhauses in Malibu gesessen. Vom Wohnzimmer aus hatte sie jedes Wort gehört. »Mein Gott, Greg«, hatte Nick gesagt. »Da habe ich mir ganz schön was eingebrockt. Diese Ehe…« Sie hatte gehört, wie die beiden Männer mit den Gläsern anstießen. »Ich weiß nicht einmal, wie es dazu gekommen ist. Ich kannte sie erst zwei Wochen.« Sam versuchte, die Erinnerung wieder zu verdrängen, aber die Stimmen wollten nicht verstummen. »Du hast einen Richter bestochen, nicht wahr?« fragte Greg lachend. Sie stand nur wenige Schritte von der Terrassentür entfernt und wartete darauf, dass Nick in das Lachen einstimmte und sich alles als Scherz herausstellte. Aber Nick lachte nicht. »Bestochen? Nein, aber er war mir einen Gefallen schuldig. Leider… Wenn ich drei Tage hätte warten müssen, wer weiß?« »Du hättest es nicht getan?« fragte Greg. »Ich wäre zur Vernunft gekommen«, erwiderte Nick, und sie hörte es an seiner Stimme, dass er die Wahrheit sagte. »Die Ehe ist doch ein unnormaler Zustand. Möchte wissen, wer auf die Idee gekommen ist, dass zwei Menschen das ganze Leben miteinander verbringen können.« Sam hatte gewusst, dass es zwischen ihnen nicht zum Besten stand und sie in vielerlei Hinsicht noch Fremde waren. Sie war bei wechselnden Pflegeeltern aufgewach-
sen und hatte sich immer nach einer richtigen Familie gesehnt, aber jetzt war ihr klar, dass es die mit Nick nicht geben würde. So schmerzhaft es war, sie wusste, was sie tun musste. Wenn sie erst die Scheidungspapiere unterschrieben hatte, würde sie in ihr richtiges Leben zurückkehren und anfangen können, Nick zu vergessen… zum zweiten Mal.
2. KAPITEL Als Nick an diesem Nachmittag in Danforths Kanzlei eintraf, ging es ihm noch schlechter. Sein Körper schmerzte an Stellen, die er noch nie gespürt hatte, und jeder Schritt war eine Qual. Er nickte der Sekretärin zu und kniff die Augen zusammen, als es hinter der Stirn wieder zu hämmern begann. »Marge, ich brauche nur eine Minute seiner Zeit.« »Ich bin nicht sicher, ob er…« »Es wird nicht lange dauern«, unterbrach er sie und ging an ihr vorbei. Er klopfte an Danforths Tür. Sein Anwaltskollege öffnete ihm. »Ich habe dich nicht erwartet«, sagte er mit seiner dröhnenden Stimme, die vor Gericht so wirkungsvoll, im Moment jedoch schmerzhaft laut war. »Du hast nicht zurückgerufen.« Danforth trat zurück. »Aber komm erst einmal herein.« »Ich habe deine Nachricht erst heute Morgen bekommen«, murmelte Nick. »Also bin ich gleich…« Er verstummte, als er die Frau, von der er in der Nacht geträumt hatte, plötzlich in Fleisch und Blut vor sich sah. Ein paar lange Schritte, und er hätte Sam berühren können. Sam in einem figurbetonten blauen Sommerkleid. Die Locken waren fast alle verschwunden. Eine modisch kurze Frisur ließ ihr Gesicht noch anmutiger und die Augen noch
grüner erscheinen. War es doch nur ein Traum? Eine Halluzination, verursacht durch die Medikamente? Automatisch machte er einen Schritt nach vorn, blieb jedoch stehen, als die Erscheinung tief Luft holte und seinen Namen flüsterte. »Nicholas.« Er musste selbst durchatmen und antwortete ruhiger, als er es sich zugetraut hätte. »Sam. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du in Los Angeles bist.« »Ich… bin nur für ein paar Tage hier. Morgen fahre ich nach Hause.« Jetzt fiel es ihm wieder ein. Danforth hatte ihm ihre Adresse genannt. Jensen Pass, ein winziges Küstendorf nördlich von San Francisco. Und genau dort sollte sie sein, nicht hier, vor einem gewaltigen Schreibtisch aus Kirschholz, mit Papieren in der Hand, den erstaunten Blick auf ihn gerichtet, als wäre er ein Außerirdischer. Als Sam sich straffte, griff Danforth hastig ein. »Diese Situation ist für beide Parteien vielleicht peinlich«, sagte er. »Pass auf, Nick, ich schicke dir die Unterlagen morgen per Kurier ins Büro.« Nick brauchte frische Luft, aber er blieb. Es war höchste Zeit, diese Sache abzuschließen. Endgültig. »Nein, nicht nötig. Bringen wir es hinter uns. Hier und jetzt.« Er sagte es schärfer, als er beabsichtigt hatte, und ihm entging nicht, wie Sams Mund noch schmaler wurde. »Ich wollte gerade gehen«, erwiderte sie leise und senkte die Lider, um ihre Gefühle vor ihm zu verbergen. Während sie weitersprach, schob sie einige Papiere in einen Umschlag. »Ich bin hier fertig.« Ihre Stimme schien ein Echo zu haben. Natürlich konnte es in diesem luxuriösen Büro so etwas nicht geben. Nein, das Echo war in ihm. Sie sah Danforth an. »Ich werde sie lesen und schicke sie Ihnen so bald wie möglich zurück.« »Ich kann einen Kurier in Ihr Hotel schicken«, bot Dan-
forth an. »Rufen Sie einfach an, wenn Sie damit fertig sind.« »Ich reise gleich morgen früh ab, also schicke ich sie Ihnen zu.« »Habt ihr bei euch in… Jensen Pass einen Kurierdienst?« fragte Nick und verstand nicht, warum er so sarkastisch klang. Sie drehte sich zu ihm um, in einer Hand den Umschlag, die andere am Medaillon. Es hatte einmal ihrer Mutter gehört, und früher war sein Foto darin gewesen. »Keine Sorge, wir haben Strom, fließend Wasser, sanitäre Anlagen und einen Kurierdienst. Wir sind keine Hinterwäldler.« Er wusste nicht, was die Einwohner von Jensen Pass waren oder nicht waren. Er wusste nur, dass er immer sarkastischer wurde. »Du hast all den Luxus zurückgelassen, um die Papiere zu holen?« Sie starrte auf den Umschlag. »Nein, ich hatte keine Ahnung…« Sie strich sich mit der Zunge über die blassen Lippen, und der Anblick ging ihm so nah, dass er sich unwillkürlich räusperte, um nicht die Fassung zu verlieren. Was war los mit ihm? Es war, als könnte er Sam auf der Zunge schmecken. »Ich war in der Stadt, um eine Ausstellung zu arrangieren. Das mit der Unterschrift… war nur…« »Ein zusätzlicher Anreiz?« Ihre Stirn legte sich in Falten, und die Wangen röteten sich. »Wohl kaum«, entgegnete sie und hob das Kinn ein wenig. »Aber es ist ganz praktisch.« Plötzlich fühlten seine Beine sich an, als wären sie aus Gummi. Er tastete nach dem nächsten Stuhl und hielt sich an der
Lehne fest. Danforth sagte etwas, und Nick musste sich konzentrieren, um es zu verstehen. »Ich finde, Samantha hat Recht. Es ist wirklich praktisch, dass beide Parteien anwesend sind. Da können wir gleich alles erledigen«, schlug der Scheidungsanwalt vor. »Meinetwegen«, murmelte Nick. »Ich will nichts von Nick«, sagte Sam. »Also dürfte es keine Probleme geben. Ich verstehe nur nicht, warum wir keine Annullierung der Ehe beantragt haben.« Danforth sah Nick an. »Davon hast du mir nichts gesagt.« »Ich habe nicht daran gedacht«, erwiderte Nick und packte die Lehne noch fester. »Aber wenn Sam lieber eine Annullierung…« »Nein, nein«, unterbrach sie ihn. »Die Scheidung ist so gut wie durch. Alles andere wäre eine überflüssige Verzögerung.« Und Betrug, dachte Nick. Denn ihre Ehe war vollzogen worden. Immer wieder. Sex war so ungefähr das Einzige gewesen, was sie beide gewollt hatten. Abgesehen von der Scheidung natürlich. »Eine Scheidung ist in Ordnung«, sagte Sam, den Umschlag in der linken Hand, der ohne Ring. Der Ring mit dem einzelnen Brillanten lag dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. In der seitlichen Schublade seines Schreibtischs. Er hatte ihn nie wieder angesehen, seit sie fortgegangen war. »Aber ich muss die Papiere erst lesen, bevor ich sie unterschreibe.« »Natürlich«, sagte Danforth. Sam ließ das Medaillon los, legte die Hand in den Nacken, hob das Kinn noch ein wenig und gab dadurch den Blick auf ihren Hals frei. Schlagartig stieg in Nick die Erinnerung auf. Die Erinnerung daran, wie es war, ihre Haut an seiner zu fühlen, Hitze an Seide, ihren Puls an seinen Lippen. Er
räusperte sich. »Was macht die Arbeit?« Sie sah ihn an, und ihm wurde fast schwindlig. Lag es an der Grippe oder an ihren grünen Augen? »Ich arbeite gerade an mehreren Bildern. Gut möglich, dass sie für die Orleans-Serie ausgewählt werden. Das sind Kinderbücher«, erklärte sie. »Es geht um Ehre, Wahrheit, Loyalität… um gute Taten.« Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das gegen ihn gerichtet war. »Eine Serie?« »Fünf Titel sind geplant. Der Verlag hat ein paar von meinen anderen Illustrationen gesehen und fand sie gut.« Sie zuckte mit den Schultern. »Sehr gut sogar.« Einen Moment lang glaubte er, sie würde lächeln, und wappnete sich dagegen. Er erinnerte sich an ihr Lächeln und das, was es bei ihrer aller ersten Begegnung in ihm angerichtet hatte. »Offenbar bist du sehr gut«, murmelte er. »Das klingt, als würde es dir nicht schlecht gehen.« Er fragte sich, warum er sie hatte gehen lassen. Aber erst als Sam fortfuhr, kannte er die Antwort. »Ich arbeite gern bei Kinderbüchern mit.« Kinder. Das war einer der Gründe, an denen ihre Ehe gescheitert war. Sie hatten am Strand gesessen, abends, kurz vor Sonnenuntergang, und Sam hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, während sie auf den Horizont starrte. »Hier sollten Kinder aufwachsen.« Er hatte etwas Zustimmendes von sich gegeben, aber viel interessanter war ihr knapper blauer Bikini gewesen. Und wann sie ins Haus zurückkehren konnten, um endlich wieder miteinander zu schlafen. »Ich wollte meine Kinder immer am Meer aufziehen. Das war die schönste Zeit meines Lebens… oben in Jensen Pass. Der Ozean war für mich… Freiheit. Ich wusste, wenn ich einmal heirate, wollte ich wie er sein, und meine Kinder
sollten wie Fische im Wasser sein.« »Ein schöner Traum«, sagte er damals. »Das ist es, was ich will«, erwiderte sie. »Einen Ehemann und Kinder… eine Familie.« Er wollte nur sie, nicht ihre Träume. Er wollte keine Kinder, wollte sich nicht fesseln lassen. Sie wollte er, also hob er sie auf die Arme und trug sie ins Haus. Es war das letzte Mal gewesen, dass er sie berührt hatte. »Kinder«, wiederholte er jetzt, in Danforths Büro, in der Kanzlei des Scheidungsanwalts. »Es freut mich, dass es dir gut geht.« Er sah zur Seite und bereute zutiefst, dass er sich zu der Heirat hatte hinreißen lassen. Sie hatte es gewollt, und er hatte nicht an die Folgen gedacht. Sie waren einander fremd gewesen und waren es geblieben. Ehemann und Ehefrau, aber Fremde. »Und wie ist es dir ergangen?« wollte Sam wissen, und die Frage traf ihn unvorbereitet. Er wehrte sich gegen das Verlangen und die Sehnsucht nach ihr, die in ihm aufstieg, sobald er in ihrer Nähe war. »Ich arbeite viel«, wich er aus. »Natürlich«, sagte sie sanft. »Der Verteidiger der Schuldlosen. Der Retter derjenigen, die ihre Unschuld nicht beweisen können?« Sein Kopfschmerz verschlimmerte sich mit jedem Echo aus der Vergangenheit. Wie können Sie mich verteidigen, wenn Sie genau wissen, dass ich all das getan habe, was man mir vorwirft? Ich meine, ich wollte es nicht tun, aber ich bin trotzdem schuldig, hatte sie damals gesagt. Und jetzt kam seine Antwort so schnell und selbstverständlich wie vor so langer Zeit. »Jeder hat das Recht auf einen Verteidiger, und ich bin gut.« Er hatte dafür gesorgt, dass sie mit nicht mehr als einer Geldstrafe, einer Nach-
schulung und einem dreimonatigen Führerscheinentzug davonkam. Nach dem, was sie getan hatte, war das höchstens ein Klaps auf die Finger. »Ich habe dich vor dem Gefängnis bewahrt, oder?« »Sicher. Aber wie gesagt, ich war keine Serienmörderin.« »Du bist wie eine gefahren.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und konzentrierte sich auf Danforth. Aber es half nichts. Nicks Anblick schien sich ihr eingebrannt zu haben. Der dunkelblaue Anzug, das gestreifte Hemd mit der roten Krawatte. Das Haar war etwas länger als früher und aus dem markanten Gesicht gekämmt. Und aus den Augen, die sie so gut kannte. Eines war wie immer. Nick war verdammt sexy. Selbst dann, wenn es ihm nicht gut zu gehen schien. Noch immer wirkte er so auf sie wie damals, als er zum ersten Mal mit seiner leisen, rauen Stimme zu ihr gesprochen und sie sanft, wie zufällig berührt hatte. Sam holte tief Luft. Sie sollte sofort nach Hause fahren, doch das ging erst morgen. Bis dahin musste sie nur dieses Büro und Nick hinter sich lassen. »Mr. Danforth, Sie bekommen diese Papiere zurück, bevor ich morgen abfliege«, versprach sie. »Sehr schön.« Der Mann schien froh zu sein, dass sie ging, bevor es zur Explosion kam. »Wirklich sehr schön.« Sie griff nach ihrer weißen Tasche und wandte sich zum Gehen. Sie war fast an der Tür, als sie Nicks Stimme hörte. »Sam?« Sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. »Ja?« »Es tut mir Leid.« Reglos stand Sam da und wusste nicht, was sie tun sollte. Es tat ihm Leid. Aus irgendeinem Grund half ihr das, die Verwirrtheit zu überwinden und zum alten Zorn zurückzufinden. Sie dachte an den Moment, in dem ihr klar geworden war, dass ihre Ehe vorbei war. Dass Nick ihr
fremd geblieben war. Als sie an jenem Tag vom Strand nach Hause gekommen waren, hatten sie miteinander geschlafen. Leidenschaftlich, verzweifelt, zum letzten Mal. Danach hatte sie sich in ihre Malerei vertieft, und als der Abend angebrochen war, hatte sie Stimmen gehört. Sie wischte sich die farbverschmierten Hände ab und ging hinüber. Nick und Greg O’Neill saßen auf der dunklen Terrasse. »Mein Gott, Greg, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, hörte sie Nick sagen. »Erst diese Ehe, und jetzt… will Sam auch noch Kinder. Wenn es so weitergeht, will sie bald auch noch einen Jägerzaun und Gänseblümchen im Garten.« Greg lachte. »Du würdest gern alles rückgängig machen, was?« »Nur die Ehe. Gegen eine Affäre hätte ich nichts gehabt.« »Du liebst sie nicht?« fragte Nicks Freund. Sam hielt den Atem an, bis Nick antwortete. »Lieben? Ich begehre sie. Dagegen kann ich nichts tun. Aber Liebe? Die gibt es nicht.« Das war der Moment, in dem ihr Traum zerstoben war. Der Schmerz hatte sich seitdem nicht gelegt, und sie biss sich auf die Lippe. Sie hätte Danforths Büro auf der Stelle verlassen, wenn Nick geschwiegen hätte. Doch das tat er nicht. »Sam? Ich sagte, es tut mir Leid.« Sie atmete tief durch, um ihr hämmerndes Herz zu beruhigen, und zwang sich, über die Schulter zu schauen. Er saß noch immer auf dem Stuhl, die Hände auf den Oberschenkeln. Ihr tat es auch Leid. Dass sie sich nachts an ihn geschmiegt hatte, dass sie ihn berührt hatte, dass sie sich von ihm hatte berühren lassen. »Was tut dir Leid?« fragte sie mit gepresster Stimme.
»Dass ich nicht das war, was du brauchtest.« »Das ist nicht deine Schuld. Du hast dich eben nicht als der Mann entpuppt, für den ich dich gehalten habe«, sagte sie leise. »Ich habe mir etwas vorgemacht.« Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Sie verließ Danforths Kanzlei, ohne nach links oder rechts zu sehen. Erst am Fahrstuhl hatte sie wieder das Gefühl, atmen zu können. Obwohl zwischen Nick und ihr inzwischen zwanzig Meter und drei geschlossene Türen lagen, glaubte sie, seine Nähe zu spüren. Sechs Monate hatte sie ohne ihn gelebt. Es war nicht das Leben, das sie sich erträumt hatte, aber es war ruhig und friedlich gewesen. Und jetzt brachte eine einzige flüchtige Begegnung sie aus dem mühsam wiedergewonnenen Gleichgewicht. »Mrs. Viera?« Sie zuckte zusammen. So hatte sie seit Monaten niemand mehr genannt. Die Fahrstuhltür war offen, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon so dastand und warum der ältere, ganz in Schwarz gekleidete Gentleman in der Kabine sie lächelnd betrachtete.
3. KAPITEL Einen Moment lang glaubte Sam, sie hätte sich nur eingebildet, ihren erheirateten Namen gehört zu haben. Bis sie den Fahrstuhl betrat und der ältere Gentleman sie erneut ansprach. »Sie sind doch Mrs. Viera, nicht wahr?« »Entschuldigung, kenne ich Sie?« »Simon Curtis«, murmelte er. »Wir sind uns auf einem Empfang bei Richter Wagner begegnet. Am Unabhängigkeitstag im letzten Jahr.« Sie erinnerte sich an ein Feuerwerk und Musik und viele
Leute, aber nicht an den alten Herrn. »Natürlich«, erwiderte sie höflich. »Wie geht es Ihnen?« »Ein junger Kollege braucht meinen Rat. Und wie geht es Ihnen?« »Gut«, log sie. »Und was macht die Malerei?« »Der geht es auch gut, danke. Vielleicht stelle ich bald in der Berry Gallery aus.« »Wie schön.« Simon Curtis war sichtlich beeindruckt. »Ich habe mir dort eine Ausstellung angesehen. Meine Liebe, es ist ein angemessener Ort, um Ihre Werke zu präsentieren.« »Ich hoffe sehr, dass es klappt.« »Ihr Mann muss sehr stolz auf Sie sein.« Er lächelte charmant. »Als ich Sie beide auf der Party sah, wusste ich gleich, dass Sie zusammengehören.« Seine Worte trafen sie wie ein Schlag. Sie starrte auf die Leuchtziffern über der Tür, während die Kabine nach unten glitt. »Wir lassen uns scheiden«, sagte sie, und in dem engen Raum klang es noch schrecklicher als sonst. »Oh, das tut mir Leid. Ich dachte nur… Es tut mir wirklich Leid.« »Das konnten Sie ja nicht wissen«, murmelte sie. Der Fahrstuhl hielt in der zweiten Etage, die Tür ging auf, aber Mr. Curtis stieg nicht gleich aus. »Meine Liebe, es war schön, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, Sie haben mit Ihrer Kunst großen Erfolg und finden, was Sie suchen.« Sie umklammerte den Umschlag mit den Scheidungspapieren so fest, dass sie ihn fast zerknüllte. »Danke«, erwiderte sie, obwohl sie gar nicht mehr sicher war, was sie überhaupt suchte. Er machte eine altmodische Verbeugung und stieg aus. Die Tür schloss sich hinter ihm, und Sam war allein, sehr
allein. Sie hatte nicht oft geweint, seit sie Nick verlassen hatte, aber jetzt brannten ihre Augen. Als der Fahrstuhl auf dem Parkdeck hielt, eilte sie zu ihrem Mietwagen. Sie warf ihre Handtasche und den Umschlag auf den Beifahrersitz und drehte den Zündschlüssel. Doch der sonst so verlässliche Motor des blauen Kleinwagens ließ sie im Stich. Sie versuchte es dreimal. Ohne Erfolg. Sam fluchte. Und erschrak, als jemand an die Scheibe klopfte. Sie schaute zur Seite. Dieser Tag wurde immer schlimmer. Es war Nick. Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, die Scheibe herunterzukurbeln. »Ich dachte, du wärst längst weg.« »Ich auch«, murmelte sie und schlug mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. »Das verdammte Ding springt nicht an.« Er musste lächeln. Wie gut er das kannte! Sam brauchte nur in einen perfekt laufenden Wagen einzusteigen, und schon versagte das zuverlässigste Gefährt. »Entschuldige die Frage, aber… hast du noch Benzin im Tank?« »Den habe ich gerade erst gefüllt.« »Steht der Hebel auf Parken?« Sie warf einen Blick zwischen die Sitze. »Auf P wie Parken.« Er ging in die Hocke. »Und der Schlüssel…?« »Ja, es ist der richtige Schlüssel«, antwortete sie gereizt. »Okay«, sagte er und dachte daran, wie sie geschlagene fünf Minuten in seinem Jeep gesessen und sich gewundert hatte, warum der Schlüssel nicht ins Zündschloss passte. »Es ist der Wagenschlüssel, nicht der vom Hotelzimmer. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich versuchen würde, eine Plastikkarte hineinzustopfen.« »Guter Punkt«, sagte er sanft.
»Deine Schlüssel sahen damals alle gleich aus, und jeder Wagen, den du fuhrst, war so verdammt kompliziert. Ich bin eben technisch völlig unbegabt.« »Das erklärt nicht, warum du deine Reifen am Bordstein zum Platzen bringst.« »Ein einziges Mal.« »In letzter Zeit keine Festnahmen wegen Verkehrsgefährdung mehr?« Sam starrte Nick an und fühlte sich in die Vergangenheit versetzt. Sie hasste es, so hilflos zu sein, und war sich bewusst, wie nah ihr seine Hände waren. Hände, die sie einst so zärtlich gestreichelt hatten und jetzt auf der Scheibe lagen. »Ich wurde nicht festgenommen.« »Weil ich dich davor bewahrt habe.« Erst jetzt bemerkte sie, wie blass er war. »Bist du krank?« »Ich habe mich schon mal besser gefühlt.« »Warum fährst du nicht nach Hause? Du siehst nicht gut aus, und ich muss die Mietwagenfirma anrufen.« »Es ist nur eine leichte Grippe. Nichts Dramatisches.« »Na ja, du siehst jedenfalls schrecklich aus«, sagte sie, obwohl er selbst so ungemein attraktiv war. Sie griff nach der Handtasche und nahm die Wagenpapiere heraus. »Hier muss doch irgendwo ein Telefon sein.« Sie spürte, wie er sich kurz aufrichtete, und als sie den Kopf drehte, hielt er ihr ein Handy hin. »Bitte«, sagte er, als sie zögerte. »Garantiert keine Bakterien.« Sie nahm es und rief die Mietwagenfirma an. Als sie erfuhr, dass sie frühestens in zwei Stunden einen Ersatzwagen bekommen würde, verzichtete sie und erklärte, dass sie ein Taxi nehmen würde. Sie klappte das Handy zu. »Um diese Zeit in L. A. ein Taxi…« Er schüttelte den Kopf. »Das wird nicht leicht.« Sie nahm die Tasche und stieg aus. »Ich habe es schon
mal geschafft.« »Stimmt.« Sie musterte ihn, und jetzt fielen ihr Dinge auf, die sie in Danforths Büro nicht bemerkt hatte. Die winzigen Falten um die Augen, der müde Blick und die Tatsache, dass er keine Krawatte trug. Er sah wirklich nicht gesund aus. Dass sie sich um ihn sorgte, ärgerte sie. »Danke für deine Hilfe.« Sie gab ihm das Handy zurück und zuckte zusammen, als seine Finger ihre streiften. »Darf ich dir etwas vorschlagen?« Er lehnte sich mit der Hüfte gegen ein graues Mercedes-Cabrio. »Was denn?« »Ich bin mit dem Wagen hier. Ich fahre dich ins Hotel. Dann brauchst du auf der Jagd nach einem Taxi nicht dein Leben zu riskieren.« Sie antwortete nicht sofort. »Ich weiß nicht…« »Ich werde dich nicht anhusten. Versprochen.« »Du siehst wirklich schlimm aus«, sagte sie. Er lächelte matt. »Danke, das brauchte ich«, sagte er und wurde wieder ernst. »Du dagegen siehst fantastisch aus. Offenbar bekommt dir das Leben in der Kleinstadt.« »So klein ist Jensen Pass gar nicht«, widersprach sie. »Und du solltest dich hinsetzen.« »Das werde ich… sobald du dich entschieden hast, ob ich dich fahren soll.« Sie hatte ihn noch nie krank erlebt. Nun ja, vielleicht waren sie einfach nicht lange genug zusammen gewesen. »Vielleicht sollte ich lieber fahren.« Zu ihrem Glück lächelte er nicht wieder, sondern rieb sich das Gesicht. »Ich fahre«, sagte er und kniff die Augen zusammen, als täte ihm das grelle Licht auf dem Parkdeck weh. »Kommst du?« »Ja.« Er drehte sich um und öffnete die Beifahrertür des Mercedes Cabrios. Der schnittige Wagen passte zu ihm. Sie
hätte wissen müssen, dass es seiner war. »Neuer Wagen?« fragte sie. »Ja. Und ich möchte, dass er noch eine Weile heil bleibt.« »So schlecht fahre ich nun auch…« Er berührte sie an der Schulter. »Steig ein. Ich möchte mich jetzt nicht mit dir über deine Fahrkünste streiten.« Seine Finger waren heiß an ihrer Haut, und sie warf ihm einen nervösen Blick zu, bevor sie auf den Ledersitz glitt. Als er sich ans Steuer setzte, umgab sie ein Duft, den sie schon fast vergessen hatte. Die Männlichkeit, die er verströmte, verschmolz mit dem milden After Shave, das er immer trug. Sie versuchte, nicht zu tief einzuatmen, als könne der Duft ihr zu Kopf steigen, und starrte auf die Konsole zwischen den Sitzen, um sich abzulenken. Zwischen all dem Wurzelholz und Leder fiel ihr etwas Goldglänzendes auf. Sie sah genauer hin. Es war ein Etui, eine winzige Schachtel wie die, in denen man Ringe verschenkte. Hastig schaute sie zur Seite. Aber nicht schnell genug. Nick hatte es bemerkt, sagte jedoch nichts. Ein Ring. Warum war die Vorstellung, dass es in Nicks Leben eine andere Frau gab, für sie so unerträglich? Sie war nicht so naiv gewesen, anzunehmen, dass er lange allein bleiben würde. Und sie selbst gehörte ja nicht mehr in sein Leben. Sobald die Papiere unterschrieben waren, gab es nichts mehr, das sie verband. Aber es tat weh, dass er sich so bald nach ihrer Trennung in eine neue Beziehung gestürzt hatte. Vielleicht war er deshalb trotz seiner Grippe bei Danforth gewesen, um die Scheidung zu beschleunigen. »Wohin?« fragte er, und fast wäre sie zusammengezuckt. Sie nannte ihm ihr Hotel. »Es geht dir also gut?« sagte er, nachdem er sich in den dichten Nachmittagsverkehr eingefädelt hatte.
»Ja. Und dir?« »Ebenfalls. Ich habe viel zu tun.« »Du magst es, wenn du viel zu tun hast.« »Manchmal.« Er rieb sich den Nacken und drehte den Kopf langsam hin und her. »Heute hätte ich es gern etwas ruhiger gehabt.« »Warst du den ganzen Tag im Gericht?« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ja. Ich hatte drei Termine. Bei einem davon habe ich komplett versagt. Der arme Kerl muss vor Gericht, obwohl ich es hätte verhindern können.« Sam kam das so bekannt vor. Es war wie im letzten Sommer. Nick war erschöpft von einem harten Tag im Gericht, und sie hörte ihm geduldig zu, bis er sich den Ärger von der Seele geredet hatte. Nein, daran wollte sie nicht denken. Die Vergangenheit war endgültig vorüber. Jetzt zählte nur noch die Gegenwart. »Ich bin sicher, du erreichst einen Freispruch für ihn«, sagte sie. »Selbst wenn er ein Serienmörder ist.« »Er ist kein Serienmörder«, erwiderte Nick. »Was hat er getan? Einbruch, Raubüberfall, Brandstiftung?« »Scheckbetrug.« »Oh.« Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Dabei verstand sie gar nicht, was sie daran so komisch fand. »Oh? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Sie sah ihn an und war verblüfft, wie angespannt er wirkte. An seiner Wange zuckte ein Muskel, und die Falten an den Mundwinkeln waren tiefer als sonst. Seine Miene war völlig humorlos. In ihr erstarb jedes Lachen. »Was willst du von mir hören, Nick?
Soll ich fragen, ob er unschuldig ist? Das ist dir doch sowieso gleichgültig, oder etwa nicht? Ich war auch nicht unschuldig.« »Nein, das warst du wohl nicht. Oder etwa doch?« »Nein, ganz sicher nicht. Ich habe es nicht absichtlich getan, aber ich habe es getan. Ich hatte einen guten Grund, es zu tun, aber darauf kommt es nicht an, nicht wahr?« Vor ihnen kam der Verkehr zum Stillstand. »Wir haben für fast alles, was wir tun, gute Gründe, aber das bewahrt uns nicht davor, manchmal große Fehler zu begehen«, sagte er. Sie wandte den Blick ab. Seine Worte klangen wie eine Anklage, aber das konnte er nicht wissen. »So einzigartig bin ich doch nicht, oder?« »Unterschätz dich nicht«, murmelte er. Sie schaute wieder zu ihm hinüber. Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht, und sie sah, dass seine Haut von einem feinen Schweißfilm bedeckt war. »Nick, geht es dir nicht…?« Er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Das Geräusch ließ sie verstummen, und in genau diesem Moment ertönte irgendwo eine Sirene. »Genau das fehlte mir noch«, entfuhr es ihm. Er hielt an. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie in einem Stau steckten, und sich ein Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene zwischen den haltenden Fahrzeugen hindurchschlängelte. Die Sirene wurde leiser, als die Polizei in westlicher Richtung verschwand. Nick griff nach seinem Handy. Sam wusste nicht, wen er anrief, aber sie hörte, wie er ihren Standort durchgab und fragte, was los war. Er lauschte kurz, klappte das Handy zu und legte es wieder auf die Konsole. »Was ist denn?« fragte sie und beugte sich vor, um nach vorn auf die verstopfte Straße zu starren.
»Auf dem Freeway ist etwas passiert. Die Polizei hat die ganze Gegend abgesperrt. Wir kommen hier nicht weiter.« »Was ist denn passiert?« »Wahrscheinlich eine Festnahme oder eine der Verfolgungsjagden, die im Fernsehen live übertragen werden.« »Vielleicht ein neuer Mandant für dich«, sagte sie. Er schien das nicht komisch zu finden. »Ich gehöre nicht zu den Anwälten, die hinter Krankenwagen herfahren, um die Unfallopfer dann vor Gericht zu vertreten«, sagte er scharf und wandte sich ihr zu. Sie fürchtete schon, er würde den Arm um sie legen, doch er packte nur die Lehne, um nach hinten zu schauen. »Wir werden einen Umweg nehmen müssen«, knurrte er und bog in eine Seitenstraße ein. Sie beobachtete ihn aufmerksam, und ihr entging nicht, wie er sich immer wieder die Schläfe massierte. »Nick, du bist krank. Lass mich fahren.« »Ich bin krank, aber nicht verrückt«, entgegnete er lächelnd. »Außerdem bin ich am Verdursten.« »Dann halt irgendwo für einen Drink, und ich nehme ein Taxi.« Sie näherten sich einigen Restaurants. »Keine schlechte Idee«, sagte er und fuhr langsamer. Sekunden später hielt er vor einem kleinen italienischen Restaurant. »Okay. Ich kann mir vom Restaurant aus ein Taxi rufen.« Er packte das Lenkrad mit beiden Händen. »Wie du willst. Aber lass uns erst einmal hineingehen, ja?« Sie nickte und stieg aus. Er folgte ihr. Er berührte sie nicht, aber sein Arm streifte ihren, als sie zum Eingang gingen. »Komm.« Es war ein Restaurant aus der guten, alten Zeit, aus ver-
wittertem Backstein, mit einer Einrichtung aus Holz und Kopfsteinpflaster vor der Tür. Es war ganz anders als die kühle Eleganz der Top-Adressen, die sie während ihrer Ehe so oft besucht hatten. Und auch anders als das schicke Restaurant in der Nähe des Gerichts, in dem sie bei ihrer ersten Verabredung essen gegangen waren. Danach hatte Nick mit ihr schlafen wollen. Sie hatte es auch gewollt. Nach nur vier Stunden mit ihm. So groß war die Macht, die dieser Mann über sie besaß, wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Das italienische Restaurant, das sie jetzt mit Nick betrat, lag in einem gemütlichen Halbdunkel. Von überall her stieg ihr der würzige Duft leckeren Essens in die Nase, aus verborgenen Lautsprechern kam leise Musik, und die wenigen Gäste unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Ein Mann verbeugte sich vor ihnen. »Willkommen. Zwei?« »Ja«, bestätigte Nick, und der Mann führte sie zu einem Tisch an einem Kamin, in dem kein Feuer brannte. Sie nahmen einander gegenüber Platz, Nick legte sein Handy auf den Tisch und lehnte sich zurück. Er wirkte erschöpft und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Eine Flasche Cabernet und Eiswasser«, sagte er, ohne den Kellner anzusehen, der neben seinem Stuhl wartete. »Sofort, Sir«, antwortete der junge Mann und eilte davon. Fast hätte Sam Nick gefragt, wie er sich fühlte, aber sie biss sich auf die Zunge. Es ging sie nichts an. Er ging sie nichts an. Erneut wäre sie fast zusammengezuckt, als Nick etwas sagte. »Entspann dich, ich beiße nicht.« Sie hob den Blick und war froh, dass er nicht lächelte. Er runzelte auch nicht die Stirn, sondern schaute über ihre Schulter. Bevor sie sich umdrehen konnte, erschien der Kellner mit
einer Flasche Wein und einer Karaffe Eiswasser. Er goss einen Schluck in Nicks Weinglas, wartete auf sein Nicken und schenkte beide Gläser voll. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er und verschwand. Nick griff in seine Tasche und holte ein Fläschchen heraus. Er schüttelte sich eine Tablette in die Hand, hob sein Wasserglas und steckte die Tablette in den Mund. Er nahm einen Schluck und stellte beides ab. »Der Wein hier ist gut«, sagte er und nahm das Glas. »Probier ihn.« »Nein, danke, ich muss los.« Sie zeigte auf das Handy. »Ich rufe mir ein Taxi.« Er griff nach dem Handy, doch anstatt es ihr zu geben, legte er die Hand darauf. »Geh nicht.« Er zog die Hand zurück, damit sie es nehmen konnte, und trank einen Schluck Wein. »Entschuldige. Na los, ruf an.« Sie zögerte. Er war so blass. »Nick, wenn es dir nicht gut geht, kann ich noch ein paar Minuten bleiben.« Sie wusste nicht, warum sie das sagte. Sie sollte aufstehen und weggehen. »Ich kann bleiben, bis du wieder fahren kannst, falls du mich brauchst.« »Falls ich dich brauche?« Er griff wieder nach seinem Glas. »Dazu ist es zu spät«, murmelte er und kniff die Augen zusammen. Dann sagte er etwas, und zwar so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie es richtig verstanden hatte. »Ich habe nie aufgehört, dich zu brauchen.«
4. KAPITEL Sam traute ihren Ohren nicht. »Was hast du gerade gesagt?« fragte sie Nick. »Ich sagte, es ist zu spät.« Er nahm einen Schluck Wein. »Und das ist es.« Der Wein erwärmte ihn, und das war die
einzige Wärme, die er im Moment fühlte. »Warum? Was dachtest du denn, was ich gesagt habe?« »Ich dachte…« Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich muss ein Taxi rufen.« Er wollte nicht, dass sie ging. Sie durfte es nicht. »Warum darf ich nicht?« fragte sie, und ihm wurde klar, dass er ausgesprochen haben musste, was ihm durch den Kopf ging. Offenbar war er kranker, als er ahnte, oder das Medikament trübte seinen Verstand. »Natürlich darfst du gehen. Aber probier doch erst einmal den Wein. Er schmeckt sehr gut.« Sie betrachtete das Glas, das sie bisher nicht angerührt hatte. »Wein ist Wein.« »Da irrst du dich gewaltig. Dieser hier ist ausgezeichnet.« Sam strich mit der Fingerspitze über den Rand des Glases, hob es jedoch nicht, sondern sah sich in dem kleinen Raum um. »Warst du schon mal hier?« »Ich weiß es nicht, aber es kommt mir irgendwie bekannt vor. Oder es ähnelt vielen anderen Restaurants.« Er nahm noch einen Schluck. »Irgendwann sehen sie alle gleich aus.« »Du isst noch immer nicht zu Hause?« »Möglichst nicht«, erwiderte er und dachte daran, wie sie jedes Essen hatte anbrennen lassen. »Was machen deine Kochkünste?« »Ich kann jetzt Wasser kochen«, sagte sie, und als ein Lächeln über ihr Gesicht huschte, hielt er den Atem an. »Was für ein Fortschritt.« »Und es werden immer mehr. Wasser kochen, Toast toasten, Orangensaft aus Konzentrat machen.«
Er konnte den Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen. Ihr Lächeln hatte die Augen erreicht und brachte ihn auf verrückte Ideen. Es versetzte ihn zurück in eine Zeit, in der er ihr Lächeln erwidern und ihr zärtlich über die Wange streichen konnte. In eine Zeit, in der sie den Wein kaum angerührt hätten, sondern nach Hause gefahren wären, um sich bis weit in die Nacht zu lieben. Nick wusste nicht, ob er auch diesmal ausgesprochen hatte, was er dachte. Aber sie hob keine Hand, um ihn zu ohrfeigen, sie lachte nicht und sie rannte auch nicht aus dem Restaurant. »Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Orangensaftkonzentrat.« Sie hob ihr Glas und nippte daran. »Mit der Mikrowelle komme ich noch immer nicht klar.« Er nahm sein Glas zwischen die Hände und musterte sie. »Autos und Mikrowellen«, murmelte er. »Und Geschirrspüler und Wäschetrockner.« »Hör auf«, sagte er sanft. »Womit?« »Dich klein zu machen. Warum sagst du nicht, dass du Bilder malst, die… den Betrachter verzaubern?« Ihre Augen wurden ein wenig größer. Ja, er hatte es laut ausgesprochen. Und das war gut so, denn er meinte es. Ihre Bilder hatten ihn verzaubert, wie ihre Schöpferin auch. »Findest du?« »Ja, das finde ich.« Er leerte das Glas. »Du bist eine begabte Künstlerin.« Verlegen senkte sie den Blick. »Eine am Hungertuch nagende Künstlerin«, erwiderte sie. Ihr Gesicht begann, vor seinen Augen zu verschwimmen, bis sie fast so rätselhaft und faszinierend aussah wie ihre Bilder. »Brauchst du Geld?« »Das war nur eine Redewendung«, versicherte sie rasch.
»Es geht mir gut. Ich will weder Unterhalt noch eine Abfindung.« Er hatte sie nicht kränken wollen. »Ich weiß. Ich dachte nur… als wir uns kennen lernten, warst du mittellos, und als du gingst, hast du kaum etwas mitgenommen.« »Ich bin so gegangen, wie ich gekommen bin.« »Ich möchte nicht, dass es dir an etwas mangelt.« Wenigstens das konnte er für sie tun. »Solange es Erdnussbutter gibt, werde ich nicht verhungern. Ich habe ein Dach über dem Kopf und Hoffnungen für die Zukunft.« Sie hob das Kinn. »Es geht mir gut.« »Bist du glücklich?« Wieder hatte er spontan genau das Falsche gesagt. Es musste an dem verdammten Medikament liegen. Aus seinen Gedanken wurden Worte, bevor er es verhindern konnte. Er hatte sie gekränkt, das sah er daran, wie vorsichtig sie ihr Glas abstellte. »Ich muss los«, sagte sie. »Bist du das wirklich?« Er musste es wissen. »Bin ich was?« »Glücklich.« »Ja, ich bin glücklich. Es ist alles in Ordnung. Und jetzt gehe ich. Danke für den ausgezeichneten Wein.« Sie legte die Stirn in Falten. »Und du solltest dir auch ein Taxi nehmen.« »Ich schaffe es schon«, sagte er. Das war gelogen, aber er würde nicht zugeben, dass sie schon wieder vor seinen Augen verschwamm. »Ich kümmere mich um die Rechnung, dann fahre ich.« Sam wollte weg. Sie wollte nicht mehr hören, dass ihre Bilder verzauberten. Sie wollte nicht gefragt werden, ob sie Geld brauchte oder glücklich war. Und sie wollte erst recht nicht, dass Nick sie so ansah, als wäre das, was sie sagte, das Wichtigste auf der Welt. Sie wollte gerade aufstehen, als der Kellner erschien und
ihnen aufzählte, was für Spezialitäten es heute gab. Der Mann sah sie erwartungsvoll an, den Block in der Hand, und erst da merkte sie, dass er auf ihre Bestellung wartete. »Ich… ich muss gehen. Tut mir Leid.« Er sah Nick an. »Und Sie, Sir?« »Nichts. Nur die Rechnung, bitte.« Sie warf Nick einen Blick zu. Er sah wirklich nicht gut aus. Sein Gesicht war noch immer blass, und er kniff die Augen zusammen, als täte ihm selbst das Halbdunkel weh. »Hast du noch Kopfschmerzen?« »Ein wenig. Ich hasse es, krank zu sein.« Jede andere Fast-Exfrau hätte genickt und gesagt, dass sie sich daran erinnerte, aber Sam hatte Nick noch nie krank erlebt. Ihre gemeinsame Zeit war so kurz gewesen, dass es viele Dinge gab, die sie nie miteinander geteilt hatten. »Es tut mir Leid, dass du krank bist.« Sie wusste nicht, was sie tun sollte. »Mir auch.« Er verzog das Gesicht. »Ich möchte etwas wissen«, sagte er und drehte das leere Glas zwischen den Händen. »Was?« »War es das wert?« »Was?« »Wir. Alles.« Er beugte sich vor. »Würdest du… alles noch einmal so machen?« Hätte er sie geliebt, wäre sie mit ihm durch dick und dünn gegangen. Aber jetzt, da sie wusste, was sie wusste? »Hätte es ein anderes Ende genommen?« fragte sie. »Wie meinst du das?« entgegnete er so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Was… was hätte es gebraucht, um dieses Ende zu vermeiden?« Dieses Gespräch war unsinnig. Es weckte Erinnerungen, die sie vermeiden wollte. Aber sie konnte nicht anders. »Nichts«, sagte sie bitter. »Nichts hätte dieses Ende ver-
meiden können. Unsere Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, Nick.« »Wie zum Teufel meinst du das?« Eine Ehe ohne Liebe hatte keine Zukunft, doch das sagte sie nicht. »Wir haben nichts aufgebaut, wir haben einfach in den Tag hinein gelebt. Wir haben nur… existiert.« »Existiert? So nennst du das, was wir hatten?« »Es tut mir Leid. Ich wollte nicht darüber reden. Dir geht es nicht gut, und ich muss zurück ins Hotel.« »Immer bist du die, die geht«, erwiderte er. »Ja, das stimmt wohl«, flüsterte sie. »Ich muss.« Seine Miene verhärtete sich. »Weißt du was? Ich habe vergessen, warum du mich damals verlassen hast. Du warst einfach fort.« »Nicht, Nick.« »Was…nicht?« »Dreh den Spieß nicht um. Wir sind nicht vor Gericht. Ich bin keine Zeugin, die du im Kreuzverhör aus der Fassung zu bringen versuchst.« »Ich bringe dich aus der Fassung?« »Nein… ja… du…« Sie biss sich auf die Lippe. »Es gab mal eine Zeit, da dachte ich, ich könnte dich…« Er machte eine viel sagende Pause. »Aus der Fassung bringen.« Sie warf ihm einen Blick zu und hoffte, dass er streng genug ausfiel. »Und hör auf damit.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Womit?« »Mich wie eine dumme Zeugin zu behandeln, mit der du deine Wortspielchen abziehen kannst.« »Ich habe dich für manches gehalten, aber nie für eine dumme Zeugin.« Es wurde immer schlimmer. Die Anspannung war so gewaltig, dass sie Magenschmerzen bekam. Ruckartig stieß sie sich vom Tisch ab und stand auf. Ohne Nick anzusehen, eilte sie nach hinten, um den Waschraum zu suchen.
Sie hätte im Wagen bleiben und auf das Ersatzgefährt warten sollen. Sie hätte nicht in Danforths Kanzlei gehen sollen. Verdammt, sie hätte gar nicht nach Los Angeles kommen dürfen. Ein Fehler nach dem anderen, und jetzt bezahlte sie dafür. Sie tastete sich den kaum beleuchteten Korridor entlang, fand den Waschraum und schaltete das trübe Licht ein. Als es flackernd aufleuchtete, schloss sie die Augen. Alles, was sie für wahr gehalten hatte, war eine Lüge. Sie war noch längst nicht über Nick hinweg. Und sie war auch nicht immun gegen ihn, in keiner Hinsicht. Sie brachte es nicht einmal fertig, wieder nach vorn zu gehen und mit ihm zu reden, bis das Taxi kam. Sie war dumm gewesen, als sie ihm das erste Mal begegnet war, und sie war es noch immer. Sie entdeckte ein Telefon an der Wand und wollte gerade hingehen, als es an der Tür klopfte. Als sie sie öffnete, stand der Kellner vor ihr. »Madam, der Gentleman an Ihrem Tisch«, flüsterte er diskret. »Es… geht ihm nicht gut. Ich glaube, wir haben ein Problem.« Sam folgte ihm den Korridor entlang und sah, wie zwei Männer Nick festzuhalten schienen, damit er nicht umfiel. Sie eilte durch den Raum und griff nach seiner Hand. Erschreckt stellte sie fest, wie kalt und feucht seine Haut war. »Nick, was ist?« fragte sie besorgt. Seine braunen Augen zuckten in ihre Richtung, schienen sie jedoch nur undeutlich ausmachen zu können. »Verdammt, ich…« Er strich sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich…« Vorsichtig löste er sich von den beiden stützenden Helfern und tastete nach der Stuhllehne. Dann ließ er sich ganz langsam darauf sinken.
Erschöpft stieß er den Atem aus, während er sich nach vorn beugte und das Gesicht in den Händen verbarg. Er war wirklich krank. »Brauchst du einen Arzt?« Sie ging neben ihm in die Hocke und hätte ihn fast wieder berührt. »Nein… ich… ich…« Er holte tief Luft. »Lass mir nur… etwas Zeit.« Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Er war nicht einmal in der Lage, einen vollständigen Satz zu bilden. Der Mann war betrunken! Sie wusste nicht, wie er das gemacht hatte, aber er war so betrunken, dass er nicht mehr stehen konnte. »Du bist betrunken«, sagte sie zu ihm und setzte sich auf ihren Stuhl. Er hob den Kopf, und sein Blick wirkte noch benebelter als zuvor. »Betrunken? Nein… Vom Wein? Ich… mir… ist schwindlig… bin krank.« Er runzelte die Stirn. »Ich wollte nur… aufstehen und bin dabei…« »Nick, du bist betrunken«, wiederholte sie sanft. »Wohl kaum.« Er schüttelte den Kopf und griff nach dem Fläschchen, das er auf dem Tisch gelassen hatte. »Ich bin krank.« Dann versuchte er vergeblich, den Deckel abzuschrauben, um noch eine Tablette zu nehmen. »Krank… sehr krank«, murmelte er. »Grippe… oder so etwas.« Seine Zunge wurde immer schwerer. »Etwas? Du meinst betrunken.« »Krank«, beteuerte er. »Sehr sogar.« »Okay, krank. Aber wie viel hast du heute schon getrunken?« »Nichts. Ich habe nicht mal zu Mittag gegessen.« Er kniff die Augen zusammen. »Alles… ist so verschwommen.« »Kann ich etwas tun?« erkundigte sich der Kellner. »Vielleicht einen schwarzen Kaffee?«
Sam starrte Nick an, als er den Mann fortwinkte. »Ich fahre dich nach Hause«, sagte sie. »Was immer du hast, du musst dich ausschlafen.« Ob nun krank oder betrunken, sein Blick wurde nervös. »Du fährst… meinen Wagen?« »Komm schon, Nick, Ich fahre viel besser als früher«, versicherte sie ihm. »Ich war schon… eine ganze Weile nicht mehr vor Gericht. Ich werde ganz vorsichtig sein. Außerdem bist du versichert.« »Die würde ich lieber nicht… in Anspruch nehmen«, murmelte er. »Na ja, wir können ein Taxi nehmen und deinen schönen Wagen allein hier zurücklassen… oder du lässt dich von mir nach Hause fahren.« Er sah sie an, als hätte sie vorgeschlagen, ein Raumschiff zu besteigen. »Nick, du kannst unmöglich selbst fahren. Und wenn ich du wäre, würde ich meinen Wagen nicht unbeaufsichtigt in Los Angeles herumstehen lassen.« »Weißt du was, Sam?« keuchte er. »Du hättest Anwältin werden sollen.« »Nein, danke. Davon gibt es wahrlich genug. Ich rufe uns jetzt ein Taxi.« Er presste beide Hände flach auf den Tisch. »Okay, okay, du hast gewonnen. Aber du fährst vorsichtig und… keine leichtsinnigen Wendemanöver?« »Und keine geplatzten Reifen.« Sie hob eine Hand. »Versprochen.« »Wenn ich nicht… so krank wäre…« Er setzte sich auf und schnappte nach Luft. »Okay.« Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, ihr sein geliebtes Auto anzuvertrauen. Also verschwendete sie keine Zeit mehr. »Gehen wir.« »Ich muss verrückt sein«, flüsterte er. »Du bist krank und angetrunken«, sagte sie, während sie Geld auf den Tisch legte. Dann streckte sie ihm eine Hand
entgegen. »Und wir brechen jetzt auf.« Er starrte auf ihre Hand, zögerte lange, und dann umklammerten seine kräftigen Finger ihre schmalen, als er sich vorsichtig erhob. Sie konnte fühlen, wie unsicher er auf den Beinen stand, und hielt den Atem an, als er den Arm um ihre Schultern legte und sich bei ihr anlehnte. Einen Moment lang kehrte sie in die Vergangenheit zurück und war versucht, die Nähe zu erwidern, die er ihr unfreiwillig gab. Aber dann war der Augenblick vorüber. Sie stützte einen Betrunkenen, der nach Hause gehörte. Einen Mann, der endgültig aus ihrem Leben scheiden würde, wenn er die Papiere unterschrieb. Einer der Kellner half ihr, Nick zum Ausgang zu bringen. »Ma’am, wir lassen Ihren Wagen vorfahren.« »Danke«, erwiderte sie. Kurz darauf standen sie vor dem Restaurant. Der Mercedes wurde gebracht, und sie löste sich von Nick, um einzusteigen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie fast die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Fürchtete sie etwa, ihm zu nahe zu kommen und seinen Duft einzuatmen? »Ma’am?« Sie drehte sich zum Beifahrersitz. Der Kellner hatte Nick in den Wagen geholfen und reichte ihr jetzt das Fläschchen hinein. »Vergessen Sie das hier nicht, Ma’am.« Sam nahm es und legte es auf die Konsole. Neben das Ringetui, an das sie gar nicht mehr gedacht hatte. Sie nahm einen Geldschein aus der Tasche und gab ihn dem Kellner. »Vielen Dank.« Er lächelte. »Hoffentlich wird alles wieder gut«, erwiderte er und schloss die Beifahrertür. Sie ließ den Blick über das Armaturenbrett wandern. Der Wagen war luxuriös und mit allem ausgestattet, was die Technik zu bieten hatte. Die unzähligen Schalter, Knöpfe
und Anzeigen verwirrten sie. Zum Glück steckte der Schlüssel im Zündschloss, und der Motor lief noch. Sie tastete nach dem Wahlhebel, schob ihn langsam nach vorn und nahm den Fuß von der Bremse. Der Wagen rollte an, sie gab behutsam Gas und lenkte den Mercedes auf die Straße. Nick seufzte, und sie sah kurz zu ihm hinüber. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf nach hinten gelegt. Plötzlich war ihr, als wären sie beide ganz allein auf der Welt, und sofort ging ihr Atem schneller. Sie schaute wieder nach vorn und versuchte, sich aufs Fahren zu konzentrieren. »Zum Glück ist nicht viel Verkehr«, sagte sie, um an nichts anderes zu denken. »Bitte… sei vorsichtig«, flüsterte er. Ihr ging auf, dass sie nicht einmal wusste, wo er wohnte. »Wohin?« fragte sie. »Malibu. Nach Hause.« Nach Hause. Er war also nicht aus dem Strandhaus ausgezogen, das sie zusammen mit ihm gesucht hatte. Ein Haus, das für sie dann doch nur eine Zwischenstation gewesen war. Wie die Häuser ihrer Pflegeeltern. Sie hatte es geliebt. Den Blick auf das Meer. Es war so hell und luftig gewesen. Hastig unterdrückte sie den nostalgischen Anflug. »Okay«, sagte sie und hoffte, dass sie es wiederfinden würde. Sie fuhr nach Westen und suchte nach einem Wegweiser zum Küsten-Highway, während Nick schweigend neben ihr saß. Als sie das Schild entdeckte und wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war, sah sie zu ihm hinüber. Doch bevor sie etwas sagen konnte, blitzte vor ihnen etwas auf. Entsetzt starrte sie auf den Wagen, der aus einer Seitenstraße schoss und ihr die Vorfahrt nahm.
5. KAPITEL »Oh nein!« schrie Sam auf und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Sie konnte nicht glauben, dass es keinen Zusammenstoß gab. Nur wenige Zentimeter vor dem anderen Fahrzeug, aber ohne quietschende Reifen, kam Nicks Wagen zum Halten. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, und Nicks schwere Stimme trug nicht gerade dazu bei, sie zu beruhigen. »Offenbar hast du dich nicht geändert.« Sie warf ihm einen Blick zu. Er hielt sich am Türgriff und der Konsole fest und versuchte, sich aufzurichten. »Alles in Ordnung. Es ist nichts passiert«, sagte sie. »Bleib sitzen und entspann dich.« »Das kannst du leicht sagen«, murmelte er und ließ sich zurücksinken, die Hände noch immer an Konsole und Tür. »Der Kerl muss ja lebensmüde sein. Kommt einfach aus der Seitenstraße gerast, und ich…« »Habe mich überhaupt nicht geändert«, knurrte er. Sie sah ihn nicht an, wollte an nichts anderes denken als daran, Nick heil nach Hause und ins Bett zu bekommen. Nein, nicht ins Bett. Als der Wagen vor ihr endlich weiterfuhr, folgte sie ihm, bis sie in nördlicher Richtung auf den vierspurigen Highway an der Küste einbiegen konnte. Nick schwieg, und sie war ihm dankbar dafür. Ohne weitere Ablenkung konnte sie sich auf die Strecke konzentrieren und stellte nach einer Weile fest, dass sie sich an den Weg zu seinem Haus erinnerte. Rechtzeitig entdeckte sie die Steinsäulen, die den Beginn der Nebenstraße markierten, die zum Ufer führte. Sie nahm sie und bog nach einer Weile auf den Weg ab, der zu dem Felsplateau führte, auf dem eine Hand voll Häuser standen. Vorsichtig umrundete sie einen Ausläufer des Hangs und dann sah sie Nicks Haus.
Sie hatte sich nie ausgemalt, wie sie reagieren würde, wenn sie das Haus wiedersah. Das letzte Mal hatte sie es durchs Rückfenster des Taxis gesehen, mit dem sie von hier fort und aus Nicks Leben gefahren war. Damals hatte sich die Sonne in den großen Fenstern gespiegelt. Jetzt ging sie gerade unter und tauchte das Holzhaus in ein warmes Licht, in dem die Fenster wie Gold schimmerten und die an ihnen haftenden Tropfen aus dem Meer glitzerten. Die Bäume daneben wiegten sich in einer leichten Brise. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr dieser Anblick so sehr ans Herz gehen würde. Es war, als würde sie von einer langen Reise heimkehren. Aber das war natürlich Unsinn. Sie kehrte nicht heim. Im Gegenteil, sie und Nick waren dabei, den Abschied endgültig und unumkehrbar zu machen. Sie sah sich im Wagen um, fand die Fernbedienung und betätigte sie. Das Garagentor hob sich langsam, und sie fuhr vorsichtig in den großen, gewölbeartigen Raum, der sich bis unter das Haus erstreckte. Sie hielt in respektvollem Abstand zur Wand, schaltete den Motor aus und drehte sich zu Nick. Sie hatte geglaubt, er wäre eingeschlafen, und zuckte zusammen, als sie direkt in seine geöffneten Augen schaute. Seine Miene war nicht zu entschlüsseln. »So, du bist heil zu Hause angekommen«, sagte sie und tastete nach dem Türgriff. »Ich fühle mich aber nicht so«, hörte sie ihn flüstern, als sie ausstieg. Sie wollte sofort zum Telefon eilen, um sich ein Taxi zu ordern, doch Nick hielt sie zurück. »Ich könnte… ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.« Seine Stimme war leise und schwach, trotzdem hallte sie durch das breite Gewölbe. Als sie sich umdrehte, stand er neben dem Wagen und hielt sich an der Beifahrertür fest. So fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
Sie wollte nicht ins Haus, sondern nur bis in den kleinen Vorraum an der Garage, in dem sich ein Telefon befand. Aber sie wusste, dass Nick es allein nicht einmal bis dort schaffen würde. Also zwang sie sich, zu ihm zu gehen. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, legte er den Arm um ihre Schultern. Sie schob ihren Arm um seine Taille und ignorierte das Gefühl von Nähe, das ihr fast den Atem raubte. Langsam ging sie mit ihm zur Tür und betrat das Haus durch den Vorraum. Ohne einander loszulassen, erreichten sie die Küche. Hier war sie selten gewesen, als sie hier gelebt hatte. Nur frühmorgens, wenn sie beide am Tisch gesessen und der aufgehenden Sonne zugesehen hatten. Die Erinnerung stimmte sie traurig, und sie wandte sich vom Fenster ab, um Nick zu der Schwingtür zu begleiten, die in den Wohnbereich führte. Der Schritt in den modern eingerichteten Raum war wie ein Sprung in die Vergangenheit. Die vom Fußboden bis zur Decke reichenden Glastüren standen einen Spaltbreit auf, hinter ihnen erstreckte sich die breite Terrasse über die gesamte Rückseite des Hauses. An den Glastüren hatte sie damals gestanden, als Greg mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihr vorbeiging und das Haus verließ. Nick war hereingekommen, und sie hatten sich schweigend angesehen. Dann hatte sie tief in ihrem Inneren die Worte gefunden, die den endgültigen Bruch einläuteten. »Du hast mir nie gesagt, dass du mich liebst«, flüsterte sie und erkannte ihre eigene Stimme kaum. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück. »Sam, du weißt, dass du mir viel bedeutest. Sonst wäre ich nicht hier.« »Du liebst mich nicht, habe ich Recht?«
Er kehrte ihr den Rücken zu und starrte hinaus. »Du bedeutest mir etwas. Aber lieben? Verdammt, ich weiß ja nicht einmal, ob es so etwas wie Liebe gibt.« Der Schmerz wurde noch größer, als sie daran dachte, wie sehr sie ihn hätte lieben können. Wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. »Warum hast du mich geheiratet?« wisperte sie. Er drehte sich wieder zu ihr um. »Ich hatte keine andere Wahl, oder?« Aber sie hatte jetzt eine. Und sie entschied, ihn zu verlassen. Jetzt, Monate später, sah sie, wie Nick sich schwerfällig auf das schwarze Ledersofa sinken ließ. Und wieder hatte sie die Wahl. Trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, tat er ihr Leid, als er sich vorbeugte und stöhnend die Hände vors Gesicht schlug. »Oh, Mann…« Sam stand vor ihm und wehrte sich gegen das Bedürfnis, ihm zu helfen. Sie musste weg von hier. Von ihm. »Ich rufe mir ein Taxi«, sagte sie. »Ich werde in der Küche telefonieren.« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und hob den Kopf. »Könntest… du mir meine… Medizin bringen, bevor du gehst?« bat er leise. »Und ein Glas Wasser?« »Sicher. Natürlich«, erwiderte sie und eilte davon, um die Medizin und ihre Sachen aus seinem Wagen zu holen. Sie ließ ihre Handtasche und die Dokumente im Vorraum, nahm aus der Küche eine Flasche Wasser mit und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Nick hatte sich auf der Couch ausgestreckt und den Kopf auf einen Arm gelegt. Seine Augen waren geschlossen. Sie begann, das Fläschchen aufzuschrauben, als sie den gelben Aufkleber sah. Nicht zusammen mit Alkohol einnehmen, da dies zu Schläfrigkeit, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht füh-
ren kann. Sie sah Nick an. »Nick, dieses Medikament…« Er bewegte sich, öffnete jedoch nicht die Augen. »Gegen… gegen Grippe… krank«, murmelte er. Sie hockte sich neben ihn. »Hier steht, dass du während der Einnahme keinen Alkohol trinken darfst, weil es Komplikationen geben kann.« Er lächelte schief. »Weil es… mich betrunken macht?« »Ja«, flüsterte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob das die einzige Nebenwirkung war. »Ich bin gleich wieder da.« Sie ging mit dem Medikament in die Küche und wählte die Nummer der Apotheke, die auf dem Etikett stand. Sie erklärte dem Apotheker, was geschehen war. Er stellte mehrere Fragen und versicherte ihr schließlich, dass Nick morgen früh möglicherweise einen Kater haben würde, dass ihm aber nichts Schlimmeres drohte, wenn er jetzt ansprechbar war. Sie dankte ihm, legte auf und kehrte zu Nick zurück. Er lag noch immer da und sah unglaublich friedvoll und zugleich sexy aus. Selbst in diesem Zustand verfehlte sein Anblick nicht die alte Wirkung auf sie, und sie war froh, dass er schlief. Sie wollte nicht in seine haselnussbraunen Augen schauen. Sie wollte weg und alles hinter sich lassen. Doch dann beugte sie sich über ihn und verstand nicht, warum sie es tat. »Leb wohl«, flüsterte sie, während sie ihn mit zitternden Fingern an der Schulter berührte. »Leb wohl.« Nick trieb auf einer Wolke. Nein, in einer Wolke. Alles um ihn herum war herrlich weich, nirgends gab es scharfe Kanten. Auch Sams Stimme war unglaublich sanft. Sie umgab ihn. Ein Flüstern, das ihn am ganzen Körper zu streicheln schien. Trotzdem verstand er nicht, was sie sagte. Dann spürte er eine Berührung, ihre Berührung, und er streckte die Hände danach aus. Und noch etwas war weich. Etwas, das sich mit Seide und Hitze verband.
Das Verlangen, das von Anfang an da gewesen war, durchströmte ihn. Er hielt sie in den Armen, und der Traum wurde so wirklich, dass er das Beben in ihrem Körper fühlen konnte. Dann war sie über ihm, und er ließ sich gehen. Er fand ihre Lippen, schmeckte ihre Zunge an seiner, und die Wirklichkeit wurde noch klarer und deutlicher. Traum oder nicht, er brauchte es und ließ sich immer weiter hineinfallen. Er nahm, was er kriegen konnte, und Sam wurde immer wirklicher. Ihr Mund an seinem, ihre Hitze überall um ihn herum, ihr Duft in seiner Nase, ihre Haut an seiner, bis sie eins zu werden schienen und nichts sie mehr trennte. Er träumte von Sam. Nichts anderes war wichtig, der Schmerz war verschwunden, die Vergangenheit war verschwunden, es gab nur noch Sam. Überall. Und eine Leidenschaft, die keine Grenzen mehr zu kennen schien. Sam war über ihm. Ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen, flimmerte wie eine Fata Morgana, während ihre Hände ihn streichelten. Das störende Hemd war plötzlich offen. Er fühlte ihre Haut an seiner und strich mit allen Fingerspitzen über ihren erhitzten Körper. Mit angehaltenem Atem spürte er, wie sie über seinen Bauch und dann nach dem Gürtel tastete. Dann lag sie neben ihm auf der Couch, gefangen zwischen seinem Körper und den Lederpolstern. Hastig zog er am Reißverschluss ihres Kleids. Selbst im Traum waren seine Finger ungeschickt. Dann war der Stoff verschwunden, und er fühlte sie. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte er sie wirklich. Sie und ihre heiße, seidige Haut. Er hörte, wie der zarte Stoff ihres BHs nachgab, als er daran zerrte. Und dann fühlte er ihre Brust in seiner Hand. Als er den Kopf senkte und die Knospe mit den Lippen umschloss, hörte er sie leise stöhnen. Der Laut hallte in ihm wider, erfüllte ihn mit Leben und vertrieb jeden ver-
nünftigen Gedanken aus seinem Kopf. Er schmeckte ihre Haut, liebkoste die Knospe mit der Zunge und kostete alles aus, was er mit der Kraft seiner Fantasie heraufbeschwor. Er strich mit der Zunge über ihre Haut, sog ihren Duft und ihren Geschmack in sich auf, während er träumte, wie sie an seinem Hemd zerrte, es auszog und in die Schatten um sie herum warf. Dann bog sie sich ihm entgegen, und er rollte sich herum. Dann lag sie unter ihm, nackt. Ihr Körper war im Schatten, aber er kannte jede Kurve. Ihre Beine schoben sich um seine, ihre Hände legten sich in seinen Nacken, sie drängte sich an ihn, und selbst im Traum fühlte er sein Verlangen pulsieren. Es war Freiheit und Sehnsucht zugleich, eine unglaublich wirksame Mischung, und er genoss beides. »Bitte«, glaubte er sie flüstern zu hören, und dann glitt er über sie und in sie, bis sie auch physisch eins waren. Er spürte eine Erfüllung, die bis in den letzten Winkel seiner Seele reichte, und wusste endlich, worin der Sinn seines Lebens bestand. Plötzlich drang ein leises Schluchzen an sein Ohr, und er murmelte etwas Tröstendes, bis der Traum sich in nichts auflöste. Sam konnte fühlen, wie ihr das Herz brach. Sie erstarrte, gefangen zwischen dem Leder der Couch und Nicks Haut. Sein Bein lag schwer auf ihrer Hüfte, und sie konnte nicht aufhören zu weinen. Sie liebte ihn noch immer. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie ihn immer lieben würde. Aber das hier würde sie mit ihm nie wieder erleben. Er begehrte sie jetzt, er brauchte sie, doch er liebte sie nicht. Könnten sie für immer so beieinander bleiben, wäre alles in Ordnung. Aber früher oder später mussten sie in die Realität zurückkehren. Sam schloss die Augen und lauschte seinem Herzschlag. Sie sog seine Nähe in sich auf, schloss sie in ihrer Seele ein, und als die Tränen getrocknet waren, stand sie leise
auf und schlüpfte in das Kleid, ohne vorher den BH anzuziehen. Aber sie konnte nicht einfach gehen. Also warf sie einen letzten Blick auf Nick. Er schlief friedlich, und sie beugte sich über ihn. Im Mondlicht wirkten seine Gesichtszüge noch markanter. Nur mit Mühe beherrschte sie sich und verzichtete darauf, ihn zu berühren. Dann ging sie durch die Schatten im Raum, doch vor der Tür zu dem Schlafzimmer, das sie beide einst geteilt hatten, zögerte sie. Sie brachte es nicht fertig hineinzugehen. Nach einer Weile machte sie kehrt, schlich ins Gästezimmer und holte von dort eine Decke, um sie über dem noch immer fest schlafenden Nick auszubreiten. Sie holte ihre Tasche und den Umschlag aus dem Vorraum und rief von dort ein Taxi. Dann zog sie die Scheidungsvereinbarung heraus und starrte ihn einige Sekunden lang an, bevor sie sie unterschrieb und wieder in den Umschlag steckte. Sie ging in die Küche, legte den Umschlag auf den Tresen und schlüpfte durch die Seitentür ins Freie. Es war vorbei… endlich und endgültig vorbei. Nick erwachte jäh, als das Licht der Morgensonne durchs Haus flutete. Er legte den Arm über die Augen und streckte sich, dankbar dafür, dass der Kopfschmerz verschwunden war. Dann ging ihm auf, dass er nicht wusste, wie er nach Hause gekommen war. Nein, das stimmte nicht. Er war mit Sam erst im Restaurant gewesen, danach im Wagen. Ruckartig setzte er sich auf. Sam. Die kühle Luft strich über seine Haut, und ihm wurde bewusst, dass er nackt war. Splitternackt. Sein Blick fiel auf die Kleidung, die vor der Couch auf dem Boden lag. Verstreut und unordentlich. Langsam ließ er sich zurücksinken, zog die Wolldecke ans Kinn und starrte an die Decke. Die Grippe, oder was immer
es gewesen war, war verschwunden. Kein Kopfschmerz mehr. Überhaupt keine Schmerzen mehr. Nur eine leichte Erschöpfung, die es ihm erleichterte, liegen zu bleiben und über die vergangenen Stunden nachzudenken. Sam war hier gewesen. Und er hatte sie begehrt. Nein, das musste ein Traum gewesen sein. Der Traum, den er immer wieder hatte. Nein, das hier war anders gewesen. Wirklicher. Er war in der letzten Nacht mit ihr zusammen gewesen. Er hatte ihre Stimme gehört, neben sich im Wagen. Wie von selbst zuckte sein Blick zu dem Medizinfläschchen auf dem Nachttisch hinüber. Er schlug die Decke zurück und stand auf. Er schwankte ein wenig, wartete, bis er einigermaßen sicher auf den Beinen stand, und ging zur Garage. Sein Mercedes war da. Offenbar war er nach Hause gefahren. Er konnte sich nur nicht daran erinnern. Er ging in die Küche und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Verdammt, er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sich seit gestern Abend abgespielt hatte. Er hatte Danforths Kanzlei verlassen, das wusste er noch. Dann war er mit Sam in das Restaurant gegangen. Aber ab da war alles nur noch verschwommen. Er nahm ein Handtuch, trocknete sich ab und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Auf dem Weg zur Couch trat er auf etwas und stieß einen leisen Laut aus. Als er nach unten sah, bemerkte er etwas, das auf dem polierten Parkett lag und in der Morgensonne glänzte. Er bückte sich, hob das Medaillon auf und sah plötzlich Sam vor sich, wie sie in Danforths Büro damit spielte. Wie von selbst schlossen sich seine Finger um das herzförmige Schmuckstück. Sam war wirklich hier gewesen. In diesem Haus. Doch als er sich daran zu erinnern versuchte, wurde alles verschwommen und zu einem Traumbild. Nick spürte, wie sein Herz schneller schlug. Konnte die Erinnerung an ei-
nen Traum so etwas auslösen? Als er die Küche wieder betrat, sah er einen Umschlag auf dem Tresen liegen. Schon bevor er ihn öffnete, ahnte er, was er enthielt. Die Scheidungspapiere. In seinem Magen zog sich etwas zusammen, als er auf Sams Unterschrift starrte. Sie hatte ihn nach Hause gefahren, ihren Namen unter die Vereinbarung gesetzt und war gegangen. So war es gewesen. Er hatte es nicht nur geträumt. Sein Fluch hallte durchs Haus. Er eilte ins Arbeitszimmer. Die Krankheit hatte ihn zurückgeworfen, er musste einiges nachholen. Sam war Vergangenheit. Ihre Ehe war endgültig vorbei. Der Fehler war korrigiert. Sam war fort. Für immer. Das Leben ging weiter.
6. KAPITEL San Francisco, vier Monate später Das Läuten des Telefons in der luxuriösen Hotelsuite in San Francisco war so dezent wie die Farben und Muster im Wohnzimmer. Nick war jetzt seit zwei Tagen hier, hatte fast nonstop gearbeitet und wollte gerade aufbrechen, um einen wichtigen Zeugen zu befragen. Verärgert nahm er ab. »Viera.« »Gut, dass ich dich noch erwischt habe«, sagte Greg, und seine Erleichterung war nicht zu überhören. »Du bist schwer zu erreichen. Wenn ich anrufe, bist du nie da, und dein Handy ist auf Voice-Mail geschaltet.« »Stimmt. Was gibt’s?« Nick wusste, dass er gereizt klang, und ärgerte sich darüber. Aber er hatte nicht besonders gut geschlafen, und die Arbeit wuchs ihm langsam, aber sicher über den Kopf.
»Keine Aussage. Der Zeuge kneift.« »Verdammt«, knurrte Nick, bevor er sich vorbeugte und den freien Handballen an die Stirn presste. »Bist du ganz sicher?« »Er will keine einzige der Fragen beantworten, die du ihm geschickt hast. Also müssen wir wieder ganz von vorn anfangen.« Nick warf den Stift auf die Tischplatte und stieß die angehaltene Luft so heftig aus, dass es zischte. »Okay. Ich fliege nach Hause.« »Nicht so schnell, Nick. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, du sitzt fest.« Nick schaute aus dem Fenster. Es lag zehn Stockwerke über der Stadt, aber von der war kaum etwas zu erkennen. Dichter Nebel nahm ihm jegliche Sicht auf das Häusermeer. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie das Wetter sich verschlechterte. Fast die ganze Nacht hatten ihn Träume gequält, die einfach nicht aufhören wollten. Er war müde. Hundemüde. »Der Flughafen ist geschlossen«, fuhr Greg fort. »Also ruh dich aus, atme tief durch und flieg erst wie geplant morgen Nachmittag nach Hause. Selbst aus der Entfernung klingst du ein wenig gestresst.« Das war er auch, sehr sogar, aber er hasste es, untätig in einem Hotelzimmer herumzusitzen. »Ich rufe dich später an. Vielleicht hebt sich der Nebel ja doch noch, und ich kriege eine Spätmaschine. Dann schlafe ich an Bord.« »Weißt du was, Nick? Bleib vorsichtshalber bis morgen. Vielleicht überlegt der Zeuge es sich ja doch noch anders. Oder du lässt dir ein paar andere Fragen einfallen, und er akzeptiert sie. Dann hättest du die Reise nicht umsonst gemacht.« Nick wollte weg von hier. Er wollte abreisen und nie mehr zurückblicken. Aber alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen, und in seinem ganzen Berufsleben
hatte er noch nie aufgegeben, bevor ein Fall vollkommen hoffnungslos war. »Okay, Greg, du hast Recht. Ich bleibe erst einmal hier, lasse mir ein paar neue Fragen einfallen und melde mich bei dir, bevor ich morgen nach Hause fliege.« »Du solltest dir etwas Schlaf gönnen.« Er wünschte, das könnte er. »Du hast leicht reden«, knurrte er. »Ich melde mich.« »Okay. Pass auf dich auf«, sagte Greg und beendete das Gespräch. Nick legte auf und starrte auf den Stapel Papiere vor ihm. Was er jetzt brauchte, war nicht Arbeit, sondern frische Luft. Vielleicht sollte er sich einen Mietwagen nehmen und ein wenig durch die Gegend fahren. Plötzlich erschien ihm die Vorstellung, für eine Weile nichts zu tun, ungemein reizvoll. Also öffnete er seinen Aktenkoffer und legte die Papiere hinein. Erst als er ihn wieder zuklappen wollte, fiel sein Blick auf den kleinen Umschlag im Seitenfach. Es war ein schlichter, unauffälliger Umschlag, braun, mit einer kleinen Ausbeulung. Niemandem wäre er einen zweiten Blick wert gewesen, aber Nick wusste, was er enthielt. Und er wusste auch, dass er schon wieder vergessen hatte, ihn abzuschicken. Er hatte nicht an das denken wollen, was in dem Umschlag steckte… Sams Medaillon. Nick nahm den Umschlag aus dem Aktenkoffer und starrte auf den Empfänger, den er darauf geschrieben hatte. Samantha Wells. Ihr Mädchenname. Und die Adresse in Jensen Pass. Er betrachtete ihn noch ein wenig, dann warf er ihn zurück in den Aktenkoffer, klappte ihn zu und verstellte das Kombinationsschloss. Danach ging er ins Schlafzimmer, streifte unterwegs die Schuhe ab und steuerte das Bett an. Die Lust auf einen Ausflug war ihm vergangen. Er zog das weiße Hemd aus, warf es ans Fußende und legte
sich lang aufs Bett. Ruhe, sagte er sich. Einfach nur Ruhe. Er brauchte nicht unbedingt Schlaf, sondern nur Ruhe. Er schloss die Augen, atmete mehrmals tief durch, machte es sich so bequem wie möglich, und bevor er sich versah, befand er sich mitten in dem Traum. Dieses Mal ging es viel schneller und unvermittelter als sonst. Er driftete nicht hinein, bis Sam langsam Gestalt annahm, sondern sie war sofort da. Ganz nah bei ihm, und er streckte die Arme nach ihr aus. Er verlor sich in ihr. Nichts anderes war wichtig. Nur sie. Sam. Er spürte die Anspannung, die Ungeduld, doch anstatt mit ihr zusammen die ersehnte Erfüllung zu finden, wurde er jäh aus dem Traum gerissen. Es war seine eigene Stimme, die laut an sein Ohr drang. »Sam.« Nick stieß einen leisen Fluch aus, stand auf, eilte ins Bad und drehte die Dusche auf. Er zog sich ganz aus und stellte sich unter den kalten Strahl. Der tat seinem Körper gut, half aber nicht gegen die seelische Pein. Sosehr er es auch versuchte, irgendetwas in ihm schien Sam und die Vergangenheit mit ihr nicht loslassen zu können. Es war verrückt, vollkommen unlogisch. Aber seit er diese Frau kannte, hatte er immer wieder verrückt und vollkommen unlogisch auf sie reagiert. Er griff nach einem Schwamm und rieb damit über seine Haut, bis sie schmerzte. Er wünschte, er könnte nach Hause fliegen. Aber was sollte er dort tun? Seit Sam ihn, als er krank gewesen war, in sein Haus in Malibu gebracht hatte, fand er selbst zu Hause keine innere Ruhe mehr. Im Gegenteil, dort schlief er sogar noch schlechter als anderswo. Nein, nach Hause zu fliegen war keine Lösung. Als er aus der Duschkabine stieg, wusste er, was er tun musste. So irrsinnig es auch klang, Sam war die Einzige, die ihm wieder zu einem erholsamen Schlaf verhelfen konnte. Also rief er die Rezeption an und fragte, wie weit Jensen Pass von
der City entfernt war. Siebzig Meilen und leicht zu finden, sagte man ihm. Nick zögerte einen Moment, bevor er darum bat, seine Rechnung fertig zu machen und einen Mietwagen vor den Eingang zu bringen. Er würde nach Jensen Pass fahren, Sam das Medaillon geben und hoffen, dass das ihn von seinen Qualen erlöste. Dann würde er sich ein Hotelzimmer am Flughafen nehmen, die neuen Fragen für die Zeugenbefragung ausarbeiten und morgen wie geplant abreisen. Bis er aufbrechen konnte, dauerte länger als erwartet, aber am späten Nachmittag saß er in dem gemieteten Cabrio, den Aktenkoffer mit dem Umschlag auf dem Beifahrersitz, und ließ San Francisco hinter sich. Es war ein warmer, sonniger Tag. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Nur ein paar weiße Wolken segelten über den azurblauen Himmel. Er fuhr langsamer, als er ein altes Schild entdeckte, das in Richtung Küste zeigte. Jensen Pass, gegründet 1810, 2000 Einwohner. Gleich hinter der Kurve lag der Ort an einer kleinen Bucht. Vom Hafen aus breitete er sich nach beiden Richtungen und am Hang aus. Er war größer, als Nick erwartet hatte, sah mit den weißen Holzhäusern, kleinen Geschäften und verstreuten Rasenflächen aber sehr malerisch aus. Nick hielt an einer Tankstelle, stieg aus und ging zu der Tankwartin in dem blauen Overall. Als das junge Mädchen ihn bemerkte, strahlte sie ihm entgegen. »Hallo. Sehr, sehr heißer Wagen«, sagte sie mit einem bewundernden Blick auf das Cabrio. »Danke. Vielleicht können Sie mir helfen. Ich brau-
che eine Wegbeschreibung.« »Wohin wollen Sie denn?« fragte sie. Nick nannte ihr die Adresse auf dem Umschlag, und sie überlegte kurz. Dann schnippte sie mit den Fingern. »Ach ja, genau. Das ist das Haus von Mrs. Douglas. Sie hat die große viktorianische Villa, die an Halloween immer richtig gruselig wirkt.« »Das kann nicht sein. Ich suche eine Samantha Wells, nicht Douglas.« »Ja, Samantha. Ich wusste nicht, dass sie Wells heißt. Sie hat das Gästehaus gemietet.« »Wie komme ich dorthin?« fragte Nick. »Zwei Meilen geradeaus. Dann halten Sie nach einem Schild Ausschau, auf dem Gull’s Nest steht. Dort biegen Sie ab. Dann vielleicht noch eine halbe Meile, und Sie können es gar nicht verfehlen. Das Haus ist ganz weiß, mit einem Staketenzaun darum. So richtig altmodisch, wissen Sie.« Das passte zu Sam. Hundertprozentig. Altmodisch. »Danke.« Er saß schon wieder im Auto, als das Mädchen neben der Fahrertür auftauchte und ihn neugierig musterte. »Sie gehören zur Familie?« fragte sie. »Wie bitte?« »Na ja, sind Sie mit Samantha verwandt? Oder ein Freund?« »Ein Freund«, antwortete er und wünschte, er wäre es. Aber mit Sam einfach nur befreundet zu sein, war ein Ding der Unmöglichkeit. »Danke für Ihre Hilfe«, knurrte er und startete den Motor. Er gab mehr Gas als nötig und fuhr in nördlicher Richtung von der Tankstelle. Mit Sam befreundet. Er lächelte verkniffen und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Er war müde, und sein Verstand funktionierte nicht richtig.
Bekäme er doch nur eine einzige Nacht mal ordentlich Schlaf, ohne die Träume, würde er vielleicht wieder einen klaren Gedanken fassen können. Aber dazu musste er die Sache mit Sam zu Ende bringen. Während die Gegend immer ländlicher wurde, warf er einen Blick auf den Aktenkoffer. Fast hätte er deshalb das handgeschnitzte Schild übersehen, das auf die Abzweigung nach Gull’s Nest hinwies. Es war eine schmale Allee, kaum mehr als ein von Bäumen gesäumter Feldweg, und in deren Schatten waren die zahllosen Schlaglöcher und Querrinnen schwer zu erkennen. Dann sah er das Haus. Es war eine viktorianische Villa, alt, strahlend weiß, mit aufwendigen hellblau gestrichenen Verzierungen. Links und rechts davon erstreckten sich hinter dem Zaun grüne Weiden. Kaum hatte er in der mit Kies bestreuten Einfahrt gehalten, ging auch schon die Tür auf, und eine Frau trat auf die Veranda. Sie war klein, trug einen zerbeulten und ausgefransten Strohhut und hielt eine Harke in der Hand. Sie musste über siebzig sein, bewegte sich jedoch wie eine viel jüngere Frau, als sie die Stufen hinabkam, um ihn zu begrüßen. »Sir, kann ich Ihnen helfen?« »Mrs. Douglas?« »Die bin ich. Wer sind Sie?« »Nicholas Viera. Ich suche Samantha Wells.« »Nicholas Viera.« Sie kniff die Augen zusammen. »Sie sind ihr Ex, nicht wahr?« Er hasste die Bezeichnung, nickte jedoch. »Wir sind geschieden.« »Was tun Sie hier?« fragte sie. »Samantha hat nichts davon gesagt, dass sie Sie erwartet.« »Ich bin spontan gekommen. Ich war in San Francisco und…« Warum musste er sich vor dieser Frau rechtfertigen? »Ist sie hier?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage. »Sie sind Anwalt, richtig?« »Ja, aber…« »Kennen Sie sich mit Landschaftsschutz und Baurecht aus? Ich habe da nämlich diesen Nachbarn, der sein Land aufteilen und Fertighäuser aufstellen will. Ich will ihn daran hindern, wissen Sie. Juristisch.« »Tut mir Leid. Ich bin Spezialist für Strafrecht. Ich verteidige Kriminelle.« »Na ja, was er vorhat, ist kriminell«, murmelte sie. »Ma’am, könnten Sie mir jetzt sagen, wo ich Samantha finde?« Sie sah ihn an. »Sicher, aber ich weiß nicht, ob ich es tun sollte.« Sie legte den Kopf schräg und die Stirn in Falten. »Was wollen Sie von ihr?« »Ich muss ihr etwas geben. Ein Medaillon, das sie verloren hat.« »Haben Sie noch nie etwas von der Post gehört?« Er atmete tief durch. »Ich war in San Francisco und dachte mir, ich bringe es ihr selbst, damit es nicht ein zweites Mal verloren geht. Es ist das Einzige, das ihre Mutter ihr hinterlassen hat, und…« »Ja, das ist so traurig. Das arme Mädchen. Na ja, das wissen Sie sicher. All die Pflegeeltern… Sie muss sich so allein gefühlt haben.« Sie lächelte betrübt. »Als Kind ist sie immer von ihren Pflegeeltern im Ort weggelaufen und hat sich hier versteckt. In dem Cottage, in dem sie jetzt wohnt.« Nick verlor langsam die Geduld. Dass diese Frau mehr über Sam wusste als er, ärgerte ihn. »Also wohnt sie jetzt hier?« »Ja.« Sie zeigte auf einen schmalen Weg, der von der Einfahrt abging. »Dort unten.« »Danke.« Er ging zum Wagen. »Mr. Viera?«
Nick drehte sich um, die Hand schon am Türgriff. »Was denn?« Sie zögerte. »Nichts. Schon gut.« Er stieg ein und sah zu Mrs. Douglas hinauf. »Viel Glück mit Ihrem Nachbarn.« »Wenn Sie von einem Anwalt hören, der so einen Fall übernehmen würde, sagen Sie es mir?« »Ja, Ma’am, das mache ich.« Langsam fuhr er an einer Reihe von Apfelbäumen entlang, bis das Gästehaus vor ihm auftauchte. Es war zweistöckig, aber klein, mit weißen Holzwänden und hohen Bogenfenstern. Die Veranda verlief um das ganze Cottage. Am Geländer und der Treppe blühten bunte Blumen. Es sah aus wie eins der Häuser auf Sams Bildern. Verzaubert. Wie aus einem Märchen. Dies war also ihr neues Zuhause. Nick hielt an der Treppe, stieg aus und stellte fest, dass er sich an der Rückseite befand. Das Cottage lag mit der Front zum Meer, und dort war auch der eigentliche Eingang. Da niemand zu sehen war, steuerte er den Weg an, der ums Haus führte. Samantha stand auf dem Rasen und schaute aufs Meer hinaus. Die leichte Brise ließ das gelbe Sommerkleid um ihre Schenkel wehen, und sie drückte den dünnen Stoff an ihren Körper. Das Gras war kühl und feucht unter ihren bloßen Füßen. Sie hatte in den letzten Monaten oft an Nick gedacht, und als plötzlich eine Stimme ihren Namen rief, wunderte es sie gar nicht, dass sie ihn zu hören glaubte. »Samantha?« Sie drehte sich nicht nach der Stimme um. Sie wünschte, es wäre ein Traum, und wusste doch, dass es keiner war. Aber sie würde es schaffen. Sie war stark genug, sich ihm zu stellen. Als er ein zweites Mal ihren Namen rief,
holte sie tief Luft und drehte sich langsam um. Monatelang hatte sie sich genau diese Situation ausgemalt. Trotzdem stockte ihr der Atem, als sie ihn plötzlich vor sich sah. Es war später Nachmittag, und die Sonne stand schon so tief, dass Schatten auf seinem Gesicht spielten und es noch kantiger und markanter wirken ließen. Er trug ein weißes Shirt mit kurzen Ärmeln und eine alte, abgetragene Jeans, die perfekt an ihm saß. Er erschien ihr schlanker und viel ernster, als sie ihn in Erinnerung hatte. Und er hielt etwas in der Hand. »Du bist es wirklich«, hauchte sie. Er schwieg, bis er zwei Schritte vor ihr war. »Ja, ich bin es.« »Wie bist du hergekommen?« Er zuckte mit den Schultern. »Mit dem Wagen. Ich habe mich durchgefragt. Ganz einfach.« »Und hierher, zum Cottage? Normalerweise lässt Mrs. Douglas niemanden auf ihr Grundstück.« »Sie hat versucht, mich aufzuhalten, aber ich war hartnäckig. Es war nicht einfach.« Sein Blick passte nicht zu seinem belanglosen Geplauder. »Was willst du hier?« fragte sie nervös. Er hielt ihr etwas hin. Einen braunen Umschlag. »Was ist das?« »Das gehört dir.« Sie nahm den Umschlag und war froh, dass ihre Hand nicht zitterte. Der Rock wehte wieder um ihre Beine, als sie ihn losließ. Sie achtete nicht darauf, sondern ließ den Inhalt des Umschlags auf die Handfläche gleiten.
Ihr Medaillon. Sie sah Nick an, dann auf das Schmuckstück, dessen Gold im Sonnenschein glänzte. »Ich… dachte, ich hätte es verloren. Wo hast du es gefunden?« »Auf dem Fußboden in Malibu. Du musst es verloren haben, als du mir ins Haus halfst.« Er zögerte. »Wir müssen darüber reden, Sam.« Ihre Hand schloss sich um das Medaillon, so fest, dass es ihr fast in die Haut schnitt. »Warum?« »Ich habe nicht daran gedacht, dass sich das Medikament nicht mit Alkohol verträgt. Ich dachte, ich wäre einfach nur betrunken. Es tut mir Leid, dass ich dir das zugemutet habe.« Mit angehaltenem Atem wartete sie auf den nächsten Satz. Würde er sagen, das es nie hätte passieren dürfen? Nein, er schüttelte den Kopf. »Ich vertrage nicht viel Alkohol, erst recht nicht, wenn ich ihn mit Medikamenten kombiniere. Am nächsten Morgen brummte mir der Schädel. Ich schätze, ich muss mich bei dir entschuldigen.« Nein, nur das nicht. »Das musst du nicht.« »Doch. Ich hätte deine Fahrweise nicht kritisieren dürfen. Mein Wagen ist heil geblieben.« Der Hauch eines Lächelns umspielte den Mund. »Du fährst viel besser als früher.« »Danke.« »Ich hatte eine Grippe. Habe ich dich angesteckt?« Als sie hierher heimgekehrt war, hatte sie sich elend gefühlt. Seelisch wie körperlich. Es hatte über eine Woche gedauert, war dann verschwunden, aber seitdem immer wiedergekommen. »Ich war eine Weile krank.« »Oh, Sam, das tut mir auch Leid.« Diesmal lächelte er richtig. »Verdammt, warum entschuldige ich mich dauernd? Das
ist nicht meine Art… war es nie, aber… bei dir ist es anders. Bei uns war vieles anders.« Er schien nicht über die Nacht sprechen zu wollen, die sie zusammen in Malibu verbracht hatten. Ihr bedeutete sie alles, ihm offenbar nichts. Sein Lächeln verschwand, als er den Blick über ihr Cottage und die Umgebung wandern ließ. »Nett«, sagte er schließlich. »Danke.« Sie lockerte den Griff um das Medaillon. »Du hättest nicht extra herzukommen brauchen.« »Ich weiß. Mrs. Douglas hat mich gefragt, ob ich noch nie etwas von der Post gehört habe.« »Sie ist… sehr direkt.« »Stimmt.« Er sah sie wieder an. »Gefällt es dir hier, Sam?« »Ja.« »Und du bist früher deinen Pflegeeltern weggelaufen und hast dich hier versteckt?« Davon hatte sie ihm nie etwas erzählt. »Was?« »Deine Torwächterin Mrs. Douglas hat es erwähnt.« Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Musste er sie auch noch daran erinnern? »Du hattest ein recht ausführliches Gespräch mir ihr, was?« »Du kennst sie schon lange?« »Erst seit ich das Gästehaus gemietet habe. Ich glaube, damals war es ihr Mann, der mich immer nach Hause geschickt hat.« Sie hatte kaum Erinnerungen an ihre Kindheit, nur an die viel zu vielen Abschiede. Die Familien, in denen sie zeitweilig gelebt hatte, verschwammen im Gedächtnis. Nur das Cottage, in dem sie ab und zu Zuflucht gefunden hatte, stand deutlich heraus. Dann war Nick in ihr Leben getreten. Das Haus in Malibu. Und der nächste Abschied. »Danke für das Medaillon«, sagte sie rasch. »Es ist alles, was mir aus der Vergangenheit geblieben ist.« Sie steckte
es ein. Die Nachmittagssonne erhellte sein Gesicht, und sie konnte die Narbe sehen, nach der sie ihn nie gefragt hatte. Instinktiv wandte sie sich ab und schaute aufs Wasser hinaus. »Du hattest eine schwere Kindheit, nicht wahr?« Sie wollte kein Mitleid von ihm. »So schlimm war sie gar nicht«, log sie. »Ich habe es überlebt.« »Ja, ich schätze, das hast du«, erwiderte er sanft. Wenn er nicht über ihre letzte gemeinsame Nacht sprechen wollte, würde sie es auch nicht tun. Monatelang hatte sie an sie gedacht und Schlaf darüber verloren. Und jetzt? Es war ihm egal. Er würde gehen. Einfach so. Sie wünschte, so könnte es auch für sie sein. Sie wusste, dass sie ihn wieder sehen musste. Irgendwann. Wenn sie gefestigter war, würde sie ihn anrufen. »Du hast in San Francisco zu tun?« fragte sie. »Ja«, sagte er, machte jedoch keine Anstalten zu gehen. Sie fühlte, wie dicht er hinter ihr war. Sie nahm ihren Mut zusammen und drehte sich um. Da stand er, die Hände in den Jeanstaschen, ein kleines Handy am Gürtel, und wippte langsam auf den Fußballen. »Was noch?« fragte sie. »Nur eins.« Er lächelte nicht, und je länger sie ihn ansah, desto mehr schien sein Gesicht vor ihren Augen zu verschwimmen. »Ja?« »Die Nacht in Malibu… als ich betrunken oder benommen oder beides war…« Sie blinzelte und brachte kein einziges Wort heraus, während der Boden unter ihr zu schwanken schien. »Sam, wegen dieser Nacht…« begann Nick, und in diesem Moment spürte sie, wie sie nach vorn fiel, direkt in seine Arme.
7. KAPITEL Nick hatte sich einfach nur für sein Verhalten in jener Nacht entschuldigen und dann verabschieden wollen. Aber dazu kam er gar nicht. Er machte einen Schritt auf sie zu, sie wurde weiß wie ein Laken und taumelte in seine Arme. »Sam?« Sie rang nach Luft, den Kopf an seiner Schulter. »Sam, was ist?« Ihre Stimme war gedämpft. »Jetzt muss… ich mich entschuldigen. Es tut mir… so Leid.« »Was hast du?« fragte er, während eine Vielzahl von Empfindungen auf ihn einstürmte. Ihr Duft, ihre Wärme, der Druck ihres Körpers an seinem. Wie sehr hatte er das alles vermisst. Er schloss die Augen und wehrte sich gegen seine Reaktion auf sie. »Sam?« »Ich… bin nur… es tut mir Leid«, wiederholte sie und legte die Handflächen an seine Brust, um sich von ihm abzustoßen. Bisher war sie blass gewesen, jetzt sah sie aschfahl aus. »Ich bin okay.« Er ließ sie nicht los. »Du siehst schrecklich aus.« Sie hob den Blick, und in dem weißen Gesicht wirkten die Augen noch grüner als sonst. »Danke, genau das wollte ich hören.« »Du bist blass.« Er legte eine Hand an ihre Wange und nahm sie auch nicht fort, als sie zusammenzuckte. »Du musst dich setzen.« Sie biss sich auf die Lippe. »Lass mich einfach nur los.« Er zögerte, dann wich er langsam zurück. Warum fiel es ihm so schwer? Und warum schien es plötzlich kälter geworden zu sein? »Du wolltest mir noch etwas sagen, nicht wahr?« Obwohl er bezweifelte, dass sie wirklich wieder okay war, antwortete er ihr. »Ich wollte mich nur dafür entschuldigen,
dass ich mich in Malibu nicht von dir verabschiedet habe. Es war alles so… verschwommen.« »Wie meinst du das?« fragte sie ein wenig atemlos. »Na ja, ich erinnere mich daran, dass wir in dem Restaurant waren… dass du mich heimgefahren hast… dass wir im Haus waren… und dann nichts mehr. Vielleicht gehört auch Gedächtnisverlust zu den Nebenwirkungen des Medikaments.« Sie starrte ihn an. »Du… weißt nicht mehr, was passiert ist?« Nick schüttelte den Kopf. »Nein, und ich glaube, ich will es auch nicht. Auf dem College war ich nicht gerade amüsant, wenn ich zu viel getrunken hatte.« Sie stieß den angehaltenen Atem aus, und er fürchtete schon, sie könnte wieder einen Schwächeanfall erleiden. »Du erinnerst dich daran, wie du nach Hause gekommen bist?« »Vage, irgendwo im Hinterkopf, aber…« Er zuckte mit den Schultern. Von seinem erotischen Traum würde er ihr ganz sicher nichts erzählen. »Das war’s… aber ich wollte einfach herkommen und dir etwas sagen… Ich hoffe, du findest dein Glück und hast ein gutes Leben.« Sie zögerte und sagte etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. »Vielleicht… können wir irgendwann über alles reden. Später, meine ich. Wenn du mal Zeit hast.« Nein, dachte er, niemals. Er konnte nicht in ihrer Nähe sein und nichts fühlen. Selbst jetzt war ihm, als wäre er ihr in die Arme gefallen. Sie wiederzusehen war keine gute Idee. »Ich glaube nicht.« »Warum nicht?« Er sprach aus, was gesagt werden musste, um diese Sache ein für alle Mal zu beenden. »Es gibt keinen Grund, das hier in die Länge zu ziehen, oder?« »Du wolltest es wirklich beenden, was?«
»Wie?« »Das hast du doch zu Greg gesagt. Dass die Ehe nicht das war, was du wolltest. Dass ich heiraten wollte, nicht du.« Er hatte getrunken an dem Abend, aber er erinnerte sich an das Gespräch. War sie etwa dabei gewesen? »Wovon zum Teufel redest du?« »Von der Wahrheit. Du und Greg habt euch auf der Terrasse betrunken, und du hast alles bereut.« »Du hast uns belauscht?« Sam kehrte ihm die Schulter zu und schaute zum weit entfernten Horizont hinüber. »Nein, nicht belauscht. Aber ich habe euch gehört.« Nick starrte auf ihr Haar, das im Schein der Sonne wie gesponnenes Gold leuchtete. Er hatte ihr nicht wehtun wollen. Niemals. »Das wusste ich nicht. Ich wollte es auch nicht.« »Du hast fast geschrien, Nick. Es war nicht zu überhören. Außerdem spielt das jetzt doch keine Rolle mehr, oder?« Das hier lief nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Einfach nur zu beteuern, dass es ihm Leid tat, reichte nicht mehr. »Was hast du noch gehört?« »Alles. Genug.« »Warum hast du mir nichts gesagt?« »Das habe ich… als du hereinkamst.« Sie sah ihn nicht an. »Ich habe dich gefragt, warum du mich geheiratet hast, und du konntest mir nicht antworten. Ich habe dich gefragt, ob du mich jemals geliebt hast. Erinnerst du dich?« Ja, er erinnerte sich. Er erinnerte sich daran, wie er sie angesehen hatte. Er hatte gewusst, wie sehr er sie begehrte, aber nicht, wie er ihre Fragen beantworten sollte. »War das ein Test? Einer, den ich nicht bestanden habe?« »Nein, ich wollte nur die Wahrheit, und du hast sie mir gegeben.« »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich gar nichts ge-
sagt.« »Ganz genau.« Sie drehte sich zu ihm um. »Du brauchtest gar nichts zu sagen.« »Sani, was wolltest du hören? Du warst mir wichtig, und ich habe dich geheiratet. Ich habe es freiwillig getan, aber das bedeutete nicht, dass ich dich glücklich machen konnte. Ich hatte nie ans Heiraten gedacht, aber plötzlich waren wir es. Du hattest etwas Besseres verdient.« »Ich hatte einen Ehemann verdient«, sagte sie gepresst. »Ich bekam eine als Ehe getarnte Affäre. Und die ist vorbei. Du hast Recht, sie ist vorbei. Man muss dazulernen. Schlafe mit jemandem, aber heirate ihn nicht gleich. Das ist doch die Lektion, oder?« »Sam, hör auf«, bat er leise. Ihre Bitterkeit traf ihn ins Herz. »Nun ja, das hätte alles billig gemacht. Billig, aber wenigstens nicht kompliziert«, sagte sie, und ihre Blässe kehrte zurück. »Es hätte keine Scheidung gegeben, und alles wäre für uns einfacher gewesen.« Er machte einen Schritt auf sie zu, griff jedoch nicht nach ihr, sondern stand nur da. Herzukommen war ein Fehler gewesen. Wie hatte er nur glauben können, dass er dadurch Frieden finden würde. »Sam, tu uns das nicht an.« »Was? Die Wahrheit sagen?« Sie schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit ist, dass wir geschieden sind«, sagte er und erschrak über seine Offenheit. »Dass du dein Leben hast und ich meins. Dass wir unsere Zeit zusammen hatten und sie jetzt vorüber ist.« Sams Erleichterung darüber, dass Nick sich an ihre letzte gemeinsame Nacht nicht erinnerte, verflog schlagartig, als ihr eine erschreckende Tatsache aufging. Obwohl er sie nie geliebt hatte, liebte sie ihn. Und ihre Beziehung war unwiderruflich zu Ende. »Ja, ich nehme an, das ist wahr.«
Er beugte sich vor. »Also lebe wohl und viel Glück, Sam. Ich hoffe, du wirst glücklich.« So höflich. So endgültig. So zivilisiert. »Danke, dass du mir das Medaillon gebracht hast«, sagte sie und erstarrte, als Nick vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Sie blinzelte heftig, doch es half nicht. Sie fühlte, wie ihre Beine nachgaben, und hielt sich an ihm fest. »Oh… nein«, flüsterte sie und krallte die Finger in sein Hemd. »Es… tut mir… Leid.« »Lässt du dir jetzt endlich von mir helfen?« Sie zögerte, aber sie wusste, dass sie es ohne ihn niemals bis ins Haus schaffen würde. »Hilf mir einfach nur hinein… dann komme ich allein zurecht.« Nick war froh, dass er sie nicht zwingen musste, sich von ihm helfen zu lassen. Er legte den Arm um ihre Schulter, und ihm fiel auf, wie schlank sie geworden war. Dass sie perfekt an seine Seite passte, ignorierte er. Langsam gingen sie auf das Cottage zu. Die Blumen am Fuß der Veranda nahm er kaum wahr, während die Treppenstufen unter ihrem Gewicht knarrten. Er drückte den Messinggriff hinunter und schob die Tür auf, stützte Sam auf dem Weg ins Haus und führte sie zu einer Couch mit blau karierten Polstern. Dort sah er zu, als sie sich seufzend darauf sinken ließ. »Ich rufe einen Arzt.« »Nein, ich brauche keinen Arzt«, protestierte sie, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Du bist krank.« »Nein, nein, nicht krank. Ich… habe nur vergessen, etwas zu essen, und mein Blutzucker… Ich bleibe nur eine Weile hier sitzen, und dann esse ich etwas.« Hinter einem offenen Durchgang lag ihr Atelier. Er sah die Bilder, die an der Wand lehnten, und die Staffelei, die so aufgestellt war, dass durch die Fenster das Tageslicht auf sie fiel. In der Luft lag der Geruch von Farbe und Verdünner.
Eine Tür führte in die Küche. »Na gut. Wie wäre es mit Tee? Der Pfefferminztee, den du früher so sehr mochtest?« Sie saß reglos da, aber ihre Augen waren klar. »Nein, danke. Es geht schon, wirklich. Bitte, geh jetzt.« »Was möchtest du essen?« fragte er. Er würde nicht einfach davongehen und sie so zurücklassen. »Ich will nicht, dass du…« Sie biss sich auf die Lippe. »Etwas Wasser wäre nicht schlecht.« »Wasser und Essen«, sagte er und griff nach ihrer Hand. Wieder zuckte sie zusammen, wehrte sich jedoch nicht, als er sie umdrehte. »Mach sie auf.« Sie gehorchte. Zum Vorschein kam eine Handfläche mit gelben Farbflecken. »Was hast du gemalt?« Sie betrachtete die Hand. »Haar. Blondes Kinderhaar, das in der Sonne aufzuleuchten scheint.« Er erwiderte nichts, sondern ging zur Küche. »Erdnussbutter«, rief sie ihm nach. Erblieb stehen. »Erdnussbutter.« »Und einen Apfel.« »Ein Sandwich und einen Apfel?« »Nein, das ganze Glas Erdnussbutter und einen in Stücke geschnittenen Apfel. Die Erdnussbutter steht neben der Spüle, und der Apfel ist in der Schale auf dem Tisch.« »Okay.« Er verschwand in der Küche, schnitt den Apfel klein und sah in das Erdnussbutter Glas. Es war halb leer. »Brauchst du einen Löffel?« rief er hinüber. »Nein.« Nick wollte gerade nach dem Teller mit dem Apfel greifen, als ihm etwas auf der Fensterbank über der Spüle auffiel. Die kleine Flasche ging zwischen den Muscheln, die dort aufgereiht waren, fast unter. Nur der rosafarbene Deckel stach hervor.
Ein Wort auf dem Etikett ließ ihn genauer hinsehen. Pränatal. Er stellte das Glas mit der Erdnussbutter hin, nahm die Flasche und überflog den Text auf dem Aufkleber. Pränatale Vitamine. Vitamine für die Schwangerschaft. Wozu brauchte Sam so etwas? Als er sich umdrehte, stand sie in der Tür. Kein Wind bauschte den Rock. Die Wahrheit war nicht zu übersehen. Eine Wahrheit, bei der es ihm kalt über den Rücken lief. Er starrte auf ihren sanft gerundeten Bauch. Sam war schwanger. Warum war er nie darauf gekommen, dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gab? Sie war schön, sexy, begehrenswert. Sie war nicht dazu geschaffen, allein zu bleiben. Hatte sie ihm nicht oft genug von dem Traum erzählt, den sie als Pflegekind gehabt hatte? Dem Traum von der eigenen Familie und den Kindern, die sie sich so sehr wünschte. Von all dem, was ihm für sein eigenes Leben immer unnötig erschienen war. Jetzt hatte sie ihren Traum verwirklicht. Und er war so sehr mit seiner eigenen Reaktion auf Sam beschäftigt gewesen, so verwirrt, dass er es nicht bemerkt hatte. Er konnte einfach nicht aufhören, sie anzustarren. Sie musste schon schwanger gewesen sein, als sie sich in Danforths Kanzlei begegnet waren. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er sagen sollte. Also drehte er sich um und schaute aus dem Fenster. Vermutlich lebte sie mit dem Vater des Kindes hier. Wie lange mochte sie schon mit ihm zusammen sein? Er hörte, wie sie nach der Erdnussbutter griff und sich an den Küchentisch setzte. Als er sie ansah, tauchte sie gerade ein Stück Apfel in das Glas.
Er spürte, wie sein Schock sich legte. Sam hatte ihr eigenes Leben. Das Leben, das sie immer gewollt hatte. Nur ohne ihn. »Geht es dir besser?« fragte er. »Ja, danke.« »Du…« Er schaffte es nicht, den Blick von ihr loszureißen. »Wo ist er?« »Wie bitte?« »Dein Mann. Wo ist er?« Sie stellte das Glas ab und starrte auf das Stück Apfel in ihrer Hand. »Mann?« »Schon gut. Ich bezweifle, dass er mich kennen lernen möchte.« Nick ihn jedenfalls nicht. »Ich fahre jetzt besser. Morgen wird ein langer Tag. Ich wollte dir nur das Medaillon bringen.« Automatisch tastete sie danach. Ihre Wangen waren gerötet. »Wie immer viel beschäftigt«, sagte sie leise. Wie aufs Stichwort läutete sein Handy. »Ja?« »Nick? Hier ist Greg.« Er wandte sich ab, als er sah, wie Sam eine Hand auf den Bauch legte. »Was gibt es?« fragte er, während er sich an den Türrahmen lehnte und die Augen schloss. »Möglicherweise findet die Zeugenanhörung doch morgen statt. Aber sie brauchen die überarbeiteten Fragen. Ich habe versprochen, dich zu fragen.« Nick konnte sich kaum auf die Arbeit konzentrieren. »Was meinst du?« Greg zögerte. Dass Nick nicht sofort eine Entscheidung traf, überraschte ihn. »Warum nicht? Sieh einfach zu, was du aus ihnen herausbekommen kannst. Was haben wir zu verlieren?« »Du hast Recht.« »Okay«, sagte Greg. »Bleib in San Francisco und über-
arbeite die Fragen. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.« »Bis dann.« Nick klappte das Handy zu, holte tief Luft und drehte sich um. Aber Sani war nicht mehr da. Die Verandatür stand offen. Eine milde Brise wehte herein. Er ging hinaus. Sam saß mit angezogenen Beinen auf der obersten Stufe und hatte den Kopf auf die Knie gelegt. »Das war Greg«, erklärte er. Sie antwortete nicht. Er wusste, dass er jetzt gehen sollte, aber erst musste er noch etwas sagen. Er ging zu Sam und blieb hinter ihr stehen. »Du bist also schwanger?« Die Frage klang selbst in seinen Ohren unglaublich dumm. Natürlich war sie schwanger. Hätte die Brise das weite Kleid nicht um ihre Figur wehen lassen, hätte er es gleich gesehen. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und nickte. »Ja.« »Warum hast du mir bei Danforth nicht erzählt, dass du schwanger bist?« Sam starrte auf den Horizont. Ihre Augen brannten. Es war ein unangenehmes Gefühl, aber nicht annähernd so unangenehm wie die Tatsache, dass Nick dicht hinter ihr stand. Warum sprach sie es nicht einfach aus? Nick, das Baby ist von dir. Es wäre ehrlich und direkt, aber etwas in ihr ließ es nicht zu. Sie brachte den einfachen Satz nicht heraus, obwohl sie ihn in den langen, einsamen Nächten immer vor sich hin gesprochen hatte. Sie wusste genau, was sie sagen musste und was sie nicht sagen durfte. Sie hatte sich lange genug den Kopf darüber zerbrochen. Aber das spielte in diesem Moment keine Eolle. Die Wirklichkeit war erschreckender, als sie es sich jemals hätte ausmalen können. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das mulmige Gefühl im Magen war so heftig, dass ihr fast übel wurde. Nick glaubte, sie wäre mit einem anderen Mann ins Bett gegangen. Dass sie schon schwanger gewesen war, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Und dass sie es ihm
verheimlicht hatte. Aber in der Sekunde, in der sie von dem Kind unter ihrem Herzen erfahren hatte, hatte sie sich vorgenommen, es Nick zu erzählen. Wie konnte sie ihm denn auch verschweigen, dass er Vater wurde? Natürlich hatte sie geahnt, dass er nicht begeistert sein würde. Dass ein Kind für ihn keine Bereicherung, sondern ein Ärgernis und ein Problem sein würde. Sicher würde er ihr finanzielle Unterstützung anbieten. Er wusste, was sich gehörte. Aber sie hatte entschieden, keinen Cent von ihm anzunehmen. Aber auf die Idee, dass er sein Kind für das eines anderen Mannes halten würde, wäre sie nie gekommen. Aber warum sollte er etwas anderes annehmen? Schließlich erinnerte er sich nicht daran, was sich in jener Nacht zwischen ihnen beiden abgespielt hatte. Soweit er wusste, waren sie seit über einem Jahr nicht mehr zusammen gewesen. Nein, er musste oder vielleicht wollte er auch lieber glauben, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hatte und schwanger geworden war. Es war einfacher für Nick. Und es tat ungeheuer weh. »Sam, wie konntest du so einfach dastehen und mir und Danforth verschweigen, dass du ein Kind bekommst?« fragte er eindringlich. »Ich…« Sie wusste nicht mehr, was sie sagen oder nicht sagen sollte. »Wo ist dein Mann?« Offenbar konnte er sich nicht vorstellen, dass das Baby von ihm war. Wie denn auch? Er erinnerte sich nicht an ihre allerletzte gemeinsame Nacht in Malibu. »Ich…« Nein, es ging nicht. Sie riss die Augen auf und stellte entsetzt fest, dass die Welt sich um sie zu drehen schien. Angst stieg in ihr auf. Wenn nun mit dem Baby etwas nicht in Ordnung war… »Ich gehe ins Haus und lege mich eine Weile hin«, sagte sie leise. »Fahr du ruhig und
tu, was du tun musst.« Nick blieb, wo er war, und kniff die Augen zusammen. »Wo zum Teufel ist dein Ehemann?«
8. KAPITEL Wo war Sanas Ehemann? Nick wollte es wissen. »Weg«, antwortete Samantha nur. Und das war die Wahrheit. Er stellte sich vor sie und versperrte ihr den Weg ins Haus. »Es geht dir nicht gut, und ich rufe jetzt deinen Arzt.« »Nein, bitte. Ich kann selbst anrufen und…« »Ich rufe an«, beharrte er. »Wie heißt er?« Sie atmete tief durch, aber ihr wurde immer schwindliger. Und die Angst um das Baby wuchs. »Dr. Barnet. Seine Nummer klebt am Telefon in der Küche.« »Bleib hier auf der Treppe sitzen. Ich bin gleich wieder da.« Dann war er fort. Sekunden später hörte sie ihn telefonieren. Er kam wieder auf die Veranda, und sie wusste, dass er hinter ihr stand. »Der Doktor will dich sprechen«, sagte er. Sie stemmte sich hoch, drehte sich um und nahm die Hand, die er ihr anbot. Ihre Finger schlossen sich um seine, als er ihr in die Küche half. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken, und Nick reichte ihr den Hörer. »Dr. Barnet?« »Sie haben Probleme, Samantha?« »Mir ist schwindlig, und ich habe wacklige Beine.« »Schmerzen?« »Nein.« »Ausschlag?« »Nein, nur das Schwindelgefühl.«
»Wann haben Sie zuletzt gegessen?« »Ich hatte gerade einen Apfel und Erdnussbutter, aber ich habe nicht gefrühstückt.« »Okay, essen Sie noch etwas, legen Sie die Beine hoch und rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. Und kommen Sie morgen zu mir. Mal sehen…« Er schwieg einen Moment. »Ich habe morgen einen Kaiserschnitt, aber… gegen vier habe ich Zeit und kann Sie untersuchen.« »Danke«, erwiderte Sam und reichte Nick den Hörer. Er nahm ihn und sprach hinein. »Was denken Sie?« Nick lauschte kurz, dann nickte er. »Okay, das ist machbar. Morgen um vier. Danke.« Er beendete das Gespräch. »Du sollst mehr essen, dich ausruhen und morgen zu ihm kommen«, sagte er zu Sam. »Ich weiß.« »Wo ist dein Schlafzimmer?« Sie schaute zu ihm hinauf. »Was?« »Du sollst dich ausruhen.« »Nick, nein, das brauchst du nicht zu…« »Stimmt, aber ich tue es trotzdem.« »Ich bin doch nicht behindert.« Sie erhob sich, hielt sich an der Rückenlehne fest, bis sie sicher auf den Beinen stand, und drehte sich zu ihm um. »Siehst du, ich bin okay.« Er schwieg, als sie den Stuhl losließ und langsam zur Tür ging. Ohne Vorwarnung gaben ihre Knie nach, und schon war Nick bei ihr und hob sie mühelos auf die Arme. »Sicher, du bist okay«, murmelte er. »Setz mich ab«, bat sie, hatte jedoch nicht die Kraft, seine Hilfe abzuwehren. Er ignorierte sie. »Wo ist dein Schlafzimmer?« »Oben.« Er trug sie die Treppe hinauf. Als sie die Augen schloss, wurde die Erinnerung daran, wie Nick sie in Malibu vom Strand ins Haus getragen hatte, klarer als je zuvor.
»Welches Zimmer es ist, brauche ich wohl nicht zu fragen«, knurrte er, und sie schlug die Augen wieder auf. Nein, das brauchte er nicht, denn hier oben gab es nur ein einziges Zimmer. Zwischen den beiden Mansardenfenstern mit Blick auf den Ozean stand ihr Messingbett. Der Holzboden knarrte unter Nicks Schritten. Draußen wurden die Schatten schon länger, als er Sam auf die hellblaue Tagesdecke legte und sich aufrichtete. »Der Doktor hat gesagt, du sollst essen. Was möchtest du?« »Die Erdnussbutter und den Rest des Apfels«, sagte sie. Er nickte und ging zur Treppe. Sam wartete, bis er unten war, dann griff sie nach dem Telefon neben dem Bett. Hastig wählte sie die Nummer von Mrs. Douglas, erreichte jedoch nur den Anrufbeantworter. Sie hatte ihre Vermieterin bitten wollen, zu ihr zu kommen, damit Nick widerspruchslos abfuhr. Aber die Hoffnung konnte sie wohl begraben. Sie ließ den Kopf aufs Kissen zurückfallen, eine Hand über den Augen, die andere schützend auf dem Bauch. Sie versuchte, ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen. Wenn es ihr gelang, würde sie vielleicht glauben, das alles nur ein Traum war. Dann würde sie morgen früh aufwachen, und Nick wäre nie hier gewesen. Irgendwann würde sie ihn anrufen und ihm von dem Baby erzählen. Sie streckte die Beine aus und drehte sich zur Wand. Dies war nur ein Traum wie all die anderen, die sie gehabt hatte. Erinnerungen stiegen in ihr hoch. An die Heirat vor dem Friedensrichter, den Ring, den Nick ihr auf den Finger geschoben hatte, den Kuss danach. Und daran, wie sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Freundinnen hatten sie gewarnt, dass das erste Mal enttäuschend sein würde, dass sie es bereuen würde, wenn sie damit bis zur Hochzeitsnacht wartete. Aber die Freundin-
nen hatten sich geirrt. Es war explosiv gewesen, fast schmerzhaft, aber so erfüllend, wie sie es nicht für möglich gehalten hatte. Nick über ihr, in ihr, während sein Atem mit ihrem verschmolz. Die Worte, die er ihr keuchend ins Ohr flüsterte… »Sam?« Die Stimme kam nicht aus der Vergangenheit, sondern war hier und jetzt. Neben ihr. Sie drehte sich und sah, wie Nick ein Tablett auf den Nachttisch stellte. »Ein Erdnussbutter-Sandwich, noch mehr Erdnussbutter, ein Apfel und etwas Milch«, sagte er. Sie setzte sich auf. »Danke«, sagte sie und nahm den Teller, den er ihr reichte. Sie war froh, dass er nicht das Licht eingeschaltet hatte. Die Schatten waren freundlicher, denn in ihnen war Nicks Gesicht nicht gar so deutlich zu erkennen. Sie nahm ein Stück Apfel, tauchte es in die Erdnussbutter und knabberte daran. »Erdnussbutter habe ich seit der Militärschule nicht mehr gegessen. Ich glaube, es war damals eine Strafe.« Er setzte sich auf die Bettkante. »Ich wusste gar nicht, dass du auf einer Militärschule warst.« Sie teilte das Sandwich. »Ich wusste nicht, dass du als Kind so oft ausgerissen bist.« Er zeigte auf das Sandwich. »Iss. Ich rede.« Sie nahm einen Bissen. »Auf der Militärschule war ich während der drei Jahre der vierten Ehe meiner Mutter. Oder waren es die vier Jahre ihrer dritten Ehe?« Sie hatte seine Eltern nie kennen gelernt. Vermutlich wussten sie gar nichts von ihr. »Wie oft war sie verheiratet?« Er runzelte die Stirn. »Fünfmal, glaube ich. Ich habe seit Jähren keinen Kontakt mehr zu ihr. Vielleicht hat sie seitdem wieder ein paar Mal geheiratet.«
»Das wusste ich nicht.« »Mein Vater ist etwas konservativer. Nur drei Ehen. Ich glaube, seine letzte Frau, meine Stiefmutter, ist dreißig Jahre jünger als er.« »Siehst du ihn oft?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.« Sie konnte sich nicht vorstellen, Eltern zu haben, und sie nie zu sehen. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, ein Kind zu haben, das seinen Vater nicht kannte, und fragte sich, ob Nick es überhaupt kennen lernen wollen würde. »Das ist traurig«, sagte sie, während sie den Teller abstellte und nach dem Glas Milch griff. »Wünschst du dir denn nie, richtige Eltern zu haben?« Er schmunzelte, aber es klang bitter. »Oh, es sind meine richtigen Eltern, aber ehrlich gesagt, ich kann auf sie verzichten.« Sie nahm einen Schluck Milch. »Meine Eltern waren weg, bevor ich wusste, wie es ist, einen richtigen Vater und eine richtige Mutter zu haben.« »Du hast nie darüber gesprochen. Und ich wollte dich nicht fragen.« »Ich erinnere mich nicht daran.« Sie berührte das Medaillon an ihrem Hals. »Eine Sozialarbeiterin hat mir erzählt, dass sie umkamen, als ich anderthalb Jahre alt war. Danach kam ich in Pflege. Adoptiert werden konnte ich nicht, weil das Jugendamt nach Angehörigen suchte. Und als sie feststellten, dass es keine gab, war ich zu alt für eine Adoption.« »Wie alt warst du, als du dich hier versteckt hast?« »Zwölf, Die Pflegefamilie war ganz okay. Aber sie hatten eigene Kinder, und ich fühlte mich wie eine Außenseiterin. Ich kam hierher, setzte mich ins Gras und betrachtete das Cottage, nie die Villa.« Sie nippte an der Milch. »Das reicht«, flüsterte sie und leerte das Glas.
Er nahm es ihr aus der Hand und stellte es aufs Tablett. Dann schaltete er die Nachttischlampe an, und sie sah, wie er sich gegen das Fußteil aus Messing lehnte. »Wir haben nie viel geredet, nicht wahr, Sam?« »Jedenfalls nicht über unsere Eltern, das stimmt. Und auch nicht über die Zukunft.« Sie strich über ihr Kleid. »Ein großer Fehler, was?« »Ein sehr großer Fehler.« Er stand auf und ging ans Fenster. »Aber wir haben ihn nun einmal gemacht und sind beide ohne allzu großen Schaden davongekommen. Und haben unsere Lektion gelernt.« »Welche Lektion?« Er drehte sich zu ihr um. »Ich habe gelernt, dass ich kein guter Ehemann bin. Ich habe immer geahnt, dass die Ehe nichts für mich ist. Aber ich musste wohl erst heiraten, um sicher zu sein, dass ich einen miserablen Ehemann abgebe. Vermutlich liegt es an meinen Erbanlagen.« »Was ist mit Kindern?« fragte sie zu ihrer eigenen Überraschung. »Kinder?« Er schnaubte. »Ich wäre ein katastrophaler Vater. Natürlich würde ich für sie aufkommen, mehr aber auch nicht. Kinder?« wiederholte er. »Nein, danke.« Das war die Antwort, die sie erwartet hatte. Trotzdem traf sie jedes seiner Worte wie ein Schlag. »Du willst also keine Kinder?« fragte sie und hatte Angst, in Tränen auszubrechen. Das durfte sie nicht, aber irgendwie waren ihre Hormone außer Kontrolle geraten. »Ich würde mich keinem Kind antun«, sagte er. »Nein, was mich betrifft, können alle anderen sich gern fortpflanzen. Ich habe nichts dagegen und wünsche dir und deinem Ehemann alles Glück der Erde.« Die Tränen waren nicht mehr zurückzuhalten. Sie ran-
nen ihr über die Wangen, und sie holte tief Luft, aber sie schluchzte trotzdem und griff nach der Schachtel mit den Papiertüchern. »Heh, tut mir Leid, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen.« Nick hockte sich neben sie und gab ihr ein Tuch. »Ich habe dir nur erzählt, wie ich darüber denke. Es ist nicht wichtig.« »Es ist wichtig«, widersprach sie. »Sehr wichtig sogar.« »Nein, Sam. Bei mir ist es reine Theorie. Du dagegen bist mitten in der Praxis. Du wirst bald Mutter.« Sie schluchzte auf, und Nick rückte näher an sie heran. »He, bitte, hör auf damit.« Sie hatte nie vor ihm geweint, nicht einmal an jenem Abend, an dem sie sich endgültig von ihm getrennt hatte. Als er ihr über die Wange strich, zuckte sie zurück. »Nicht«, bat sie und wischte mit dem zerknüllten Papiertuch über die Augen. »Es tut mir Leid. Es… liegt daran, dass ich… schwanger bin. Meine Gefühle liegen bloß, und… alles ist so durcheinander und…« Sie schnappte nach Luft. »Erst falle ich fast in Ohnmacht, und jetzt weine ich. Das ist nicht meine Art. Ich meine, ich…« »Schon gut.« »Ich bin okay«, beteuerte sie. »Wirklich, ich bin okay. Und du kannst jetzt gehen.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß, du hast zu arbeiten. Danke für alles.« Plötzlich fragte er sich, ob Sam den Mann, den Vater ihres Babys, schon vor ihrer Trennung gekannt hatte. Ob er vielleicht sogar der Grund dafür gewesen war. Der Gedanke quälte ihn fast so sehr wie der, dass er sich in ihrem Zimmer befand und auf ihrem Bett saß. Er war noch nie eifersüchtig gewesen. Jetzt war er es, und das beunruhigte ihn zutiefst. Er stand auf. »Du fühlst dich besser? Du meinst, du schaffst es allein?« »Sicher. Es geht mir viel besser. Die Erdnussbutter hat
geholfen.« »Und morgen Nachmittag gehst du zum Arzt?« »Natürlich.« Er sah sich im Zimmer um. »Und es wird bald jemand kommen, der sich um dich kümmert, nicht wahr?« Sie sagte nichts, und als er sich zu ihr umdrehte, lag sie reglos da, eine Hand auf dem Bauch, die andere am Medaillon. »Sam?« »Wie? Ach ja… Nein, wahrscheinlich nicht.« »Was ist mit deinem Mann? Kommt er denn nicht bald?« Nick hoffte, dass er fort war, wenn der andere kam. »Er…Nick, er…Du…« »Was? Ist er zur Arbeit?« Nick hatte Verständnis für Arbeitswut, aber Sam in dieser Situation allein zu lassen… Hastig verwarf er den Gedanken. Er hatte kein Recht, auf einen Typen wütend zu sein, dem er noch nie begegnet war. »Darf ich dich etwas fragen?« Sie nickte. »Wie ist es passiert?« »Was?« Er packte das Messinggeländer am Fußteil des Betts und räusperte sich, bevor er die Frage stellte, die ihn umtrieb, seit er ihren Zustand kannte. »Wie bist du schwanger geworden?« Sie lachte, aber es klang gezwungen und verbittert. »Muss ich dir das wirklich erklären?« »Ich meine, wie hast du es passieren lassen?« »Ich habe es nicht passieren lassen. Es war nicht geplant. Ich war schockiert wie du, vielleicht sogar noch mehr.« Als er zum Bett schaute, auf ihre atemberaubende Schönheit, traf ihn ein Gedanke wie ein Tritt in den Magen. Sam hatte nicht mit ihm schlafen wollen, bevor sie verheiratet waren. Sie war Jungfrau gewesen, was er bei
einer so attraktiven Frau nicht erwartet hatte. Aber jetzt hatte sie mit dem Vater des Babys geschlafen, obwohl sie noch nicht verheiratet waren. »Waren wir noch verheiratet, als du mit ihm geschlafen hast? Wir mussten erst heiraten, aber mit diesem Kerl…« »Diesem Kerl?« unterbrach sie ihn. Ihre Augen waren groß. »Der Vater des Babys. Ich will wissen, ob du gegen alles verstoßen hast, was du mir gepredigt hast.« Sie zuckte mit den Schultern. Es war eine Geste, deren Hilflosigkeit ihn fast so sehr erschütterte wie die Worte, die sie flüsterte. »Ich liebte ihn.« Das war nicht das, was er hören wollte. Liebe? An die glaubte er nicht, hatte es nie getan. Was er für Sam empfand oder empfunden hatte, war mehr, als er je für einen Menschen gefühlt hatte. Aber als sie ihn gefragt hatte, ob er sie liebte, hatte er nicht geantwortet. Er hatte sie nicht anlügen können. Und sie war gegangen. Jetzt erklärte sie ihm, dass sie den Vater ihres Babys liebte. »Das hat gereicht?« fragte er so scharf, dass sie zusammenzuckte und die Arme um sich schlang. »Zu glauben, dass du ihn liebst?« »Du verstehst es nicht, was?« wisperte sie. Nein, er verstand es nicht. Aber vielleicht würden die Träume endlich aufhören, weil sein Zorn und diese kindische Eifersucht sie vertrieben hatten. Er hatte dieses Gespräch nicht gewollt, auch wenn er es selbst begonnen hatte. »Brauchst du noch etwas?« »Nein.« Ein einzelnes Wort, das erschreckend endgültig klang. »Okay. Wie lautet Mrs. Douglas’ Telefonnummer?« »Warum?« »Ich will sie anrufen und fragen, ob sie heute Nacht bei dir bleiben kann. Der Arzt hat gesagt, dass du nicht al-
lein sein sollst.« »Nein.« Sie stand auf. »Sie ist süß, aber auch… Außerdem ist sie ausgegangen. Trotzdem danke, dass du dich um mich sorgst.« Er sah sie an. Ja, das tat er. Und nur deshalb machte er ihr ein Angebot. »Okay, wenn sie nicht kann, bleibe ich eben. Ich schlafe auf der Couch im Wohnzimmer.« »Nein, das wirst du nicht tun.« »Doch, das werde ich. Ich habe noch zu arbeiten, und wenn ich jetzt nach San Francisco fahre und mir ein Hotelzimmer suche, wird es zu spät.« »Nick, bitte, du kannst nicht…« »Doch, ich kann. Da dein Ehemann es vorzieht, abwesend zu sein, bleibe ich, bis er auftaucht oder Mrs. Douglas mich ablöst oder der Arzt sagt, dass du okay bist. Außerdem kannst du in dem Zustand nicht selbst zum Arzt fahren, also werde ich dich morgen hinbringen.« »Geh, Nick«, murmelte sie. »Gute Nacht, Samantha.« Er zeigte auf das Tablett. »Iss noch etwas, ja?« Dann ging er hinaus. Es gab kein Zurück mehr. Er musste bleiben, bis er Mrs. Douglas erreichte oder jemand anderes auf Sam aufpasste. Nicht sehr schlau, dachte er auf der Treppe nach unten. Wahrlich nicht. Aber er würde Sam jetzt nicht verlassen. Noch nicht.
9. KAPITEL Sam ging ins Bad, zog sich aus und griff nach dem hellroten Nachthemd, das an der Tür hing. Als ihr Blick auf den Spiegel fiel, erschrak sie. Sie war blass, die Augen vom Weinen rot gerändert, das Haar zerzaust, vom Make-up nichts mehr zu sehen. Sie verzog das Gesicht und starrte auf ihren sanft gerundeten Bauch.
Langsam strich sie darüber. »Wir sind allein, mein Kleines«, flüsterte sie, und ihr Hals war wie zugeschnürt. Hastig schlüpfte sie in das Nachthemd. Zurück im Schlafzimmer schlug sie die Tagesdecke zurück und traf das beladene Tablett. Es rutschte vom Nachttisch und landete scheppernd auf dem Fußboden. Das Glas Erdnussbutter rollte über die Dielen, die Apfelstücke flogen umher, und der Teller zerbrach. Nur das leere Trinkglas blieb heil. Verärgert bückte sie sich danach. »Sam, was ist passiert?« hörte sie Nick rufen. Und dann stürmte er auch schon herein, nur mit Jeans bekleidet. »Bist du in Ordnung?« Sie hielt das Glas hoch. »Ich habe das Tablett heruntergeworfen. Tut mir Leid.« »Hattest du wieder einen Schwindelanfall?« »Nein. Es war nur ein dummes Missgeschick, und…« Sie verstummte, als er vor ihr in die Hocke ging, um den Rest aufzusammeln. Ihr Mund wurde trocken, während sie auf seinen nackten Rücken starrte. Seine breiten Schultern hatten sie immer fasziniert. Er erhob sich, legte die Apfelstücke auf den Nachttisch und drehte sich zu ihr um. Es war wie beim ersten Mal. Der athletische Oberkörper, die muskulösen Arme, der flache Bauch, das dunkle Haar, das in der Jeans verschwand. Sam fühlte sich wie eine Fünfzehnjährige, atemlos und weich in den Knien. Und das lag nicht daran, dass sie zu wenig gegessen hatte oder schwanger war. Es lag an dem unbändigen Verlangen, das sein Anblick in ihr weckte. »Ich dachte, du wärst gestürzt«, sagte Nick und ging auf sie zu. Sie wandte den Blick ab, hielt sich am Messinggeländer fest und zwang sich, wieder zu atmen. »Entschuldigung. Ich habe nicht aufgepasst.« Sie drehte sich wieder zu ihm um, und er war inzwischen so nah, dass sie mit ihm zu-
sammenstieß. Sein Duft, seine Wärme und der feste, harte Körper waren überwältigend. Er hielt sie an den Schultern fest. Als sie sich wieder abwenden wollte, stieß sie mit der Hüfte gegen das Bett und verlor das Gleichgewicht. Nick stützte sie, die Hände jetzt an ihren Oberarmen, und die Nähe ließ ihr Herz immer schneller schlagen. »Nick, bitte nicht«, flüsterte sie. »Was soll ich nicht?« fragte er leise. Sie zitterte, als sie den Blick hob und in seine Augen sah. Sein Griff lockerte sich, doch seine Finger glitten an ihren Armen auf und ab. Es war wie ein Streicheln, und das Zittern wurde stärker. »Oh, Nick.« »Sam, ich verstehe das alles nicht.« Seine Hände wanderten nach oben, über ihre Schulter und den Hals, bis sie ihr Gesicht umfassten. Zärtlich strich er mit den Daumen über die Wangen. »Ich wünschte, du hättest Greg und mich nie gehört. Aber ich begreife immer noch nicht, warum du gegangen bist.« »Du…« Sie holte Luft. »Es war falsch… und überstürzt. Es war ein Fehler.« »Warum konnten wir nicht einfach… weitermachen? Ich wollte dich nicht verlieren. Ich will es auch jetzt nicht«, gestand er. »Ich weiß.« Ohne Vorwarnung beugte er sich hinab und streifte ihre Lippen mit seinen. »Es ist noch da, nicht wahr? Es ist alles noch da.« Sie strich mit der Zunge über den Geschmack, den er hinterlassen hatte. »Was?« »Das zwischen uns. Du und ich.« Er war so nah, dass sein Atem ihre Haut erwärmte. »Verdammt, ich will dich. Ich hatte diese Träume, die einfach nicht aufhörten. Träume von dir und mir. Ich habe nie aufgehört, dich zu wollen…
dich zu brauchen.« Gebannt wartete sie darauf, dass er es aussprach. Ihr gestand, dass er sie immer geliebt hatte. Aber er schwieg. Stattdessen küsste er sie wieder. Dieser Kuss war leidenschaftlich. Er schob die Zunge zwischen ihre Lippen, und sie öffnete sich ihm. Den Mund und die Seele. Er legte die Arme um sie, presste sie an sich, und durch das dünne Nachthemd fühlte sie sein Herz an ihrem schlagen. Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie mit ihm verschmelzen. Wären sie eins, würde sie ihn nie wieder loslassen, nie wieder allein sein müssen. Nick war da, und sie liebte ihn mit einer Leidenschaft, die mit Logik oder Vernunft nicht zu erklären war. Dann hob er sie auf, legte sie aufs Bett und glitt neben sie. Tief und durchdringend sah er ihr in die Augen, während er nach den Trägern ihres Nachthemds tastete und sie von den Schultern streifte. Sie spürte jeden Zentimeter, den der hauchdünne Stoff an ihren Armen zurücklegte. Die Luft kühlte die nackte Haut, doch Nicks Blick erwärmte sie sofort wieder. Das Hemd bauschte sich an ihren Hüften, und ihre Brüste sehnten sich nach seiner Berührung. Noch bevor er diesen Wunsch erfüllte, spürte sie, wie die Knospen sich aufrichteten. Sie waren so empfindlich, dass es fast schmerzte, als seine Finger sie erreichten. Sie wurden noch fester, als er den Kopf senkte und sie mit den Lippen umschloss. Die Erregung war so gewaltig, dass sie fast aufgeschrieen hätte. Sie liebte ihn, brauchte ihn und wollte ihm noch näher sein, Haut an Haut. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn herab, um ihn zu küssen. Mit den Brüsten presste sie sich an ihn, küsste seine Schulter und stöhnte auf, als das Begehren sie zu überwältigen drohte.
Sie fühlte, wie auch sein Verlangen wuchs, spürte seinen Körper an ihrem, Bauch an Bauch, Hüften an Hüften, und wusste, dass sie endlich zu Hause war. Sie war an dem Ort, den nur er mit ihr teilen konnte, fand hier die Zuflucht, nach der sie immer gesucht hatte. Nick. Hier. Bei ihr. Sie wand sich unter ihm, schmeckte seine Haut an der Zunge, nahm mit den Lippen wahr, wie schnell sein Herz schlug. Sie berührte eine Knospe, und als sie sie mit dem Mund liebkoste, stöhnte er auf. Dann küsste er sie, und sie wusste, dass sie in diesem Moment nur eins wollte. Sie wollte wieder und vielleicht zum allerletzten Mal mit ihm schlafen. Sie wollte ganz nah bei ihm sein und sich so lebendig und ganz fühlen wie sonst nie. Sie bog sich ihm entgegen, und etwas Einzigartiges geschah. Sie erstarrte. Es war das Baby. Ein sanfter Druck im Bauch, als sie ihn gegen Nick drückte. Ein Tritt, kaum merklich und doch faszinierend. Sie seufzte auf, ließ sich aufs Bett sinken, und es geschah wieder. Das Baby. Sie hatte sich ihm verbunden gefühlt, seit sie wusste, dass es in ihr wuchs. Aber jetzt spürte sie es wirklich in sich. Sie schob eine Hand auf den Bauch, während die andere noch auf Nicks Herz lag, und schuf damit ein unsichtbares Band zwischen ihnen und ihrem Kind. »Was ist? Habe ich dir wehgetan?« fragte Nick. Sie sah ihn an. »Das… Baby. Ich habe gefühlt, wie es sich bewegt«, flüsterte sie ergriffen. Nick schüttelte den Kopf. »Oh.« Er runzelte die Stirn, stemmte sich hoch und drehte sich weg. Sie wusste, was er dachte. Das Baby war zwischen ihnen, hemmte und belastete ihn. Lust war eben nur Lust, nie Liebe. Er stand auf und hinterließ eine kalte Leere. Neben dem Bett schob er die Hände in die Jeans, und seine Erregung war nicht zu übersehen. Verlegen zog Sam das Nachthemd
über die Schultern und setzte sich auf. »Gute Nacht«, sagte Nick leise. Dann hörte sie, wie er hastig hinausging. Niedergeschlagen starrte sie vor sich hin, doch dann fühlte sie wieder das neue Leben in ihr und wusste plötzlich, wie dicht Glück und Leid beieinander lagen. Auch wenn sie Nick für immer verloren hatte, blieb ihr doch das Kind. Und damit ein Teil von ihm. Nick ging in die Küche und rief bei Mrs. Douglas an, erreichte jedoch nur den Anrufbeantworter. Er legte auf, ohne etwas zu hinterlassen, und verließ das Haus. Er musste an die Luft. Über den Rasen und dann den Weg eilte er ans Wasser. In der Dunkelheit zog er sich aus und watete hinein. Als das Meer ihm bis zur Taille reichte, tauchte er unter. Erst als seine Lunge zu platzen schien, kam er wieder hoch, drehte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Plötzlich erinnerte er sich an die Nacht, in der Sam ihn verlassen hatte. In einer alten Hose und einer lockeren weißen Bluse stand sie damals vor ihm, in jeder Hand eine Tasche. »Was ist los?« fragte er, obwohl er die Antwort kannte. »Ich gehe. Ich habe dir einen Brief hingelegt«, sagte sie mit leiser Stimme. »Das hier war ein Fehler, ein schrecklicher Fehler. Wir hätten nicht heiraten dürfen. Es war dumm von uns.« Er wollte zu ihr gehen, doch sie wich zurück. »Nicht. Bringen wir es hinter uns.« Sie machte eine kraftlose Handbewegung. »Ich hätte dich nicht dazu drängen dürfen. Es ist besser, wenn ich einfach gehe.« »Wohin?« »Weg von hier. Weg von Los Angeles.« Er protestierte, bat sie zu bleiben, doch insgeheim war er erleichtert. Es gab keinen Streit, keine Tränen, nur das
Lebwohl. Die Erinnerung verblasste wieder, aber als er sich jetzt auf den Bauch drehte und zum Ufer schwamm, hörte er noch, wie die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. Ein dumpfer Laut in der Stille, der Einsamkeit. Er fühlte den Sand unter den Füßen, stand auf und watete an den Strand. Dort hob er seine Sachen auf und stieg den Abhang hinauf. Auf dem Rasen blieb er stehen und sah zum Cottage hinüber, dessen Weiß im Mondschein zu leuchten schien. Als er die Jeans anzog, sah er, dass Sams Schlafzimmerfenster dunkel war. Nur in der Küche brannte Licht. Das Gästehaus lag da wie im Märchen, malerisch, fast verzaubert. Aber er hatte nie an Märchen geglaubt und hatte nicht vor, damit anzufangen. Erst recht nicht, wenn es um ihn und eine verheiratete Frau ging, die das Kind eines anderen erwartete. »Mr. Viera?« Nick zuckte zusammen und drehte sich nach der Stimme um. »Hallo, Mrs. Douglas.« Die Gestalt der Vermieterin zeichnete sich im Mondschein ab, als sie auf ihn zukam. »Ich habe einen Spaziergang gemacht und Sie am Strand gesehen. Ich war erstaunt, dass Sie noch hier sind.« Nicht mehr lange, dachte er. Jetzt, da sie zurück war. »Ich habe versucht, Sie anzurufen.« »Mich? Ist Ihnen ein Anwalt eingefallen, der mein Problem mit dem Nachbarn lösen kann?« Als sie vor ihm stand, stellte er verblüfft fest, dass sie Laufschuhe zum Kleid trug. »Nein, darum geht es nicht.« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das feuchte Haar. »Es geht um Sam.« »Um Samantha? Was ist mit ihr?« Sie kniff die Augen zusammen. »Oh, ich weiß schon. Sie haben von dem Baby
erfahren, nicht wahr?« »Ja, aber…« »Mr. Viera, Ihre Exfrau ist ein wunderbares Mädchen. Sie freut sich riesig auf das Baby. Und ich auch. Es ist lange her, dass hier ein Kleinkind auf wackligen Beinen herumgelaufen ist.« Sie seufzte. »Mrs. Douglas, Sam hat Schwindelanfälle erlitten.« »Geht es ihr wieder besser?« »Ja, aber der Doktor möchte sie morgen Nachmittag um vier sehen. Und er möchte, dass sie bis dahin nicht allein ist. Ich habe bei Ihnen angerufen, um Sie zu fragen, ob Sie bei ihr bleiben und sie morgen zum Arzt fahren können.« »Natürlich, das verstehe ich. Aber leider geht es nicht. Wissen Sie, ich kann Owen nicht allein lassen, und ich habe keinen Führerschein. Aber falls Sie Hühnerbrühe oder Obst brauchen, rufen Sie an. Ich bringe es Ihnen sofort.« »Könnte Sam bei Ihnen bleiben?« »Ich glaube nicht. Sie mag Owen nicht, und… nun ja, Owen ist keinen Besuch gewöhnt. Aber Sie sind ja hier, da ist sie nicht allein, und ich habe Ihren Wagen gesehen, also können Sie sie doch fahren.« Sie tätschelte seinen Arm. »Es wird schon alles gut, warten Sie’s nur ab.« Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie redete. »Was ist mit Sams Ehemann?« Sie musterte ihn einen Moment, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich…« Sie senkte die Stimme. »Es gibt keinen Ehemann. Samantha lebt allein hier.« Nick war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Er lebt nicht mit ihr zusammen?« »Er existiert gar nicht«, sagte sie und tätschelte erneut seinen Arm. »Aber Sie sind hier.« Er starrte Mrs. Douglas an. Ihr Gesicht befand sich so dicht vor seinem, dass er sehen konnte, wie sich der Mond in ihren Brillengläsern spiegelte. »Er existiert nicht?«
Sie neigte den Kopf zur Seite und beugte sich vor, als hätte sie Angst, dass jemand sie belauschen könnte. »Von mir wissen Sie es nicht, okay? Es bleibt unser kleines Geheimnis, okay?« Sam war nicht verheiratet? Der Vater des Kindes lebte nicht mit ihr zusammen? Er konnte es nicht fassen. Es traf ihn wie ein Tritt in die Magengrube. Ihm blieb fast die Luft weg. »Sind Sie ganz sicher?« fragte er atemlos. »Ja, natürlich. Samantha hat mir erzählt, dass… Nun ja, das ist privat. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie der einzige Ehemann sind, den sie je hatte.« Sie räusperte sich geräuschvoll. »Ich mache jetzt meinen Spaziergang, dann muss ich zu Owen. Passen Sie gut auf unsere Samantha auf, und wenn Sie die Brühe brauchen, rufen Sie an.« Sie verschwand zwischen den Bäumen, die das Grundstück säumten. Nick sah ihr lange nach, dann drehte er sich ruckartig um und eilte zum Cottage. Er würde bleiben, jedenfalls bis morgen früh. Und er würde herausfinden, ob Mrs. Douglas die Wahrheit sagte oder ob sie ganz einfach nur verrückt war. Sam konnte nicht schlafen. Sie versuchte alles, aber es ging nicht. Die innere Ruhe, die sie dazu brauchte, wollte sich nicht einstellen. Und sie war leider nicht so erschöpft, dass ihr die Augen von selbst zufielen und der Verstand sich automatisch ausschaltete. Sie lag eine Weile auf dem Rücken, dann drehte sie sich rastlos auf die Seite, zog die Knie an den Bauch. Als sie unten im Haus ein leises Geräusch hörte, zuckte sie zusammen. Erst nach einigen Sekunden wurde ihr klar, dass es Nick war, der durchs Haus ging. Sie kniff die Augen so fest zusammen, dass hinter den geschlossenen Lidern bunte Farben zu tanzen schienen.
Dann herrschte plötzlich Stille. Absolute Stille. Sie drehte sich wieder auf den Rücken, streckte sich und legte die Hände auf den Bauch. Und in diesem Moment bewegte sich das Kind in ihr. Es war ein kaum wahrnehmbares Gefühl, so kurz und einzigartig, dass es ihr unwirklich erschien. Fast glaubte sie, sie hätte es sich nur eingebildet. Tränen schlüpften zwischen den geschlossenen Lidern hindurch, hingen in den Augenwinkeln und liefen langsam über die Wangen nach unten. Ihr Baby. Ein Kind, das in Liebe empfangen worden war. Ein Kind, das sie immer lieben würde. Ebenso sehr, wie sie den Mann lieben würde, der es gezeugt hatte. Ihre Gefühle für Nick waren nicht zu ändern, sosehr sie es auch versuchte. Aber sie konnte sich ihr eigenes Leben einrichten, für das Kind sorgen und es beschützen. Ja, das konnte sie. Das lag in ihrer Macht. Wenigstens das. Hastig wischte sie sich die Tränen von den Wangen und schwor sich, dass sie ihrem Kind Liebe, Geborgenheit und Sicherheit bieten würde. Ja, das würde sie. Egal, was geschah. Nick betrat das Haus, ging ins Wohnzimmer, warf nur einen flüchtigen Blick auf den Laptop, den er aus dem Wagen geholt hatte, und zwang sich, den Computer zu ignorieren. Er legte sich im Halbdunkel auf die Couch, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Von oben drang kein Laut herab, und doch konnte er Sams Anwesenheit spüren. Aber die Zeiten, in denen er einfach die Treppe hinaufgegangen wäre, sie zärtlich geweckt hätte und zu ihr unter die Decke geschlüpft wäre, waren endgültig vorbei. Er setzte sich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf auf die Hände. Ihm war, als könnte er sie auf seinen Lippen schmecken. Er sah ihre Brüste vor sich. Voller, als er sie in Erinnerung hatte. Er fühlte sie an seiner Haut, spürte das Verlangen, das sie in ihm geweckt hatte. Das seinen ganzen Körper erfasst hatte, sobald er sie berührt
hatte. Und dachte an den Mann, den es vielleicht gar nicht gab. An den Mann, auf den er trotzdem eifersüchtig war. Er stand auf und sah sich um. Webteppiche und Seidenblumen. Dies war Sams Haus. Das Haus, in dem sie allein lebte, in dem kein Mann seine Spuren hinterlassen hatte. Abgesehen von dem, was er selbst mitgebracht hatte. Leise ging er an Sams Bildern vorbei in die Küche. Er brauchte einen Drink, einen starken Drink. Er öffnete mehrere Schränke, aber alles, was er fand, waren zwei Miniflaschen, wie man sie im Flugzeug bekam. Eine enthielt Rum, die andere Brandy. Jeweils kaum mehr als ein großer Schluck. Trotzdem nahm er beide heraus, löschte das Licht in der Küche und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort setzte er sich auf die Couch, schaltete die kleine Lampe daneben aus und öffnete das Rumfläschchen. Er leerte es mit zwei kurzen Schlucken und griff nach dem zweiten Drink. Dies war wirklich das Haus einer Frau, ein feminines Haus. Keine Spur von einem Mann, nicht einmal im Bad. Er streckte sich aus und starrte an die Decke. Es gab keinen Mann. Mrs. Douglas hatte Recht. Entweder war er sofort wieder gegangen, oder er war nie hier gewesen. Nick holte tief Luft, öffnete den zweiten Drink und leerte ihn in einem Zug. Zusammen mit der Wärme breitete sich in ihm ein mulmiges Gefühl aus. Sam war schwanger. Wie er es auch drehte und wendete, das Ergebnis blieb immer gleich. Sie hatte den Vater ihres Kindes nicht geheiratet. Er schluckte mühsam, als der Zorn ihm den Hals zuschnürte. Bei ihm dagegen hatte sie darauf bestanden zu heiraten. Sie hatte erst ihre beiden Namen nebeneinander auf der Urkunde lesen wollen. Aber bei diesem anderen Mann war sie nicht so streng gewesen. Bei der Vorstellung wurde Nick fast übel. Dann fiel ihm ein, was Sam gesagt hatte. »Ich
liebte ihn«, flüsterte er. Er stand wieder auf. Auf der vorderen Veranda setzte er sich auf die oberste Stufe, starrte in die Nacht hinaus und fragte sich, wie er sein so plötzlich außer Kontrolle geratenes Leben wieder in den Griff bekommen konnte.
10. KAPITEL Als Sam erwachte, wusste sie zunächst gar nicht, wo sie war. Dann erinnerte sie sich schlagartig an alles. Nick. Er war fort. Mitten in der Nacht hatte sie mitbekommen, wie er telefonierte und danach im Haus umherging. Kurz bevor sie wieder eingeschlafen war, war er dann gegangen. Oder hatte sie das nur geträumt? Es duftete nach Schinken, Kaffee und Toast. Offenbar war Mrs. Douglas doch noch gekommen. Sam setzte sich auf und stellte erst jetzt fest, dass die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie stand auf und eilte ins Bad. Nick war weg, und wann sie ihn Wiedersehen würde, lag allein bei ihr. Hastig zog sie sich weiße Shorts und ein blaues Shirt an. Dann bürstete sie sich das Haar aus dem Gesicht und ging barfuss und ohne Make-up nach unten. Als sie das Atelier betrat, sah sie, dass jemand in der Küche war. Aber es war nicht Mrs. Douglas, sondern Nick, der an der Spüle stand. In weißem Shirt und Jeans und barfuss wie sie. Sie zwang sich weiterzugehen. Nick drehte sich um. Sein Haar war noch feucht vom Duschen oder einem Bad im Meer, und um den Mund lagen tiefe Falten. »Guten Morgen«, begrüßte er sie leise. Sie schaute zum Herd und den beiden zugedeckten
Pfannen hinüber. Die Kaffeemaschine brodelte, und im Toaster steckten zwei Scheiben. »Was tust du hier? Ich dachte, du wolltest Mrs. Douglas anrufen?« »Guten Morgen, Nick. Wie hast du geschlafen?« sagte er. »Was?« »Man nennt es gute Manieren, Sam. Und deine Couch ist kein Bett. Ich habe selten so unbequem gelegen.« »Tut mir Leid. Wo ist Mrs. Douglas?« »Gehört das dazu, wenn man schwanger ist?« »Wie bitte?« »Die Unhöflichkeit. Ich wette, dein Mann liebt es, beim Aufwachen so begrüßt zu werden.« Sie ging an die Spüle, um sich ein Glas Wasser zu holen. »Wer ist Owen?« fragte Nick. »Wer?« »Mrs. Douglas hat mir erzählt, dass sie Owen nicht allein lassen kann und er keine Besucher mag.« »Oh, Mrs. Douglas’ Owen. Er ist ein grauer Papagei und sehr stressanfällig. Er rupft sich immer die Federn aus und ist an der Brust fast nackt.« »Ein Papagei?« Nick schüttelte den Kopf. »Möchtest du Käse auf deinem Omelett?« »Hm?« Er schaute über die Schulter. »Ich weiß nicht mehr, ob du Käse auf deinem Omelett magst.« »Ja, aber…« »Fein. Setz dich.« »Du kannst mich nicht herumkommandieren. Und erklär mir, warum du noch hier bist.« Mit dem Pfannenwender in der Hand drehte er sich zu ihr um. »Ich mache Frühstück. Omelett, Schinken, Toast und Kaffee. Jetzt setz dich. Ich bin fertig.«
Sie starrte ihn an, als er sich wieder dem Herd zuwandte und das Essen aus der Pfanne nahm. Sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu streiten, und außerdem war sie hungrig. Sie setzte sich an den Tisch, auf dem bereits zwei Gläser Orangensaft standen. Kaum nippte sie an ihrem, stellte Nick auch schon ein erstaunlich lecker aussehendes Omelett vor sie hin. »Ich wusste leider nicht, wie ich Erdnussbutter einbauen sollte«, sagte er lächelnd. »Nimmst du noch immer Milch in den Kaffee?« »Ich trinke momentan keinen Kaffee. Das Koffein ist nicht gut für… mich.« »Okay.« Er nahm ihr gegenüber Platz und zeigte auf ihren Teller. »Iss, solange es heiß ist.« »Warum tust du das?« »Ich habe ein Gewissen.« Ihre Augen wurden groß. »Sag jetzt nicht, dass es keine Anwälte mit Gewissen gibt«, kam er ihr zuvor. Ihr war nicht nach Scherzen zumute. »Nick, was soll das alles?« »Iss.« Während er den Toast holte, begann sie zu essen. Als sie nach dem Orangensaft griff, sah sie, dass er sie aufmerksam beobachtete. »Ich habe nie verstanden, wie du so viel essen konntest, ohne zuzunehmen«, sagte er. Fast hätte sie ihm geantwortet, dass sie jetzt für zwei essen musste. »Das war sehr lecker. Danke. Ich hatte keine Ahnung, dass du so gut kochen kannst.« »Wir haben zwar viel zusammen gemacht, aber nicht sehr oft geredet, was?« Er stand auf und nahm ihren leeren Teller. Das war ebenso wahr wie schmerzlich. Er trug das Geschirr zur Spüle. Wenn er es jetzt auch noch abzuwaschen
begann, würde sie hysterisch werden. Nick als Hausmann. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Er hielt die Teller unter den Wasserstrahl. »Stell sie einfach hin, dann kannst du fahren«, sagte sie. »Nicht, bevor wir geredet haben«, erwiderte er und trocknete sich die Hände ab. »Nick, es gibt nichts zu reden«, wehrte sie ab. »Vielleicht später einmal. Aber im Moment ist es nicht wichtig.« »Tu mir trotzdem den Gefallen, ja?« »Du hättest gestern Abend abfahren sollen.« »Ich habe dir gesagt, ich würde bleiben. Ich lüge nicht, und ich dachte, du tust es auch nicht.« »Wovon redest du?« »Ich habe dir versprochen, dafür zu sorgen, dass du zum Arzt gehst, ohne fahren zu müssen. Wenn du also willst, dass ich verschwinde, dann sag mir, wie ich deinen Mann erreichen kann. Sobald er hier ist, fahre ich.« Sie wollte das hier nicht, aber sie wollte auch nicht lügen, daher stand sie einfach auf und ging auf die Veranda. Es war ein sonniger Tag, die Morgenluft klar und frisch. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Sie drehte sich um. Nick war ihr gefolgt. »Ja, das habe ich gehört.« »Und? Wo ist dein Ehemann?« »Er ist nicht da.« Sie ging die Stufen hinunter, über den Rasen und zu dem kleinen Pavillon am Rand des Grundstücks. »Sam?« »Es gibt keinen.« »Du hast doch gesagt…« »Du hast nur angenommen, dass ich einen Ehemann habe«, unterbrach sie ihn, ohne sich umzudrehen, obwohl er dicht hinter ihr stand. »Ich habe nie behauptet, dass ich einen habe.«
»Ich musste es annehmen«, sagte er so ruhig, wie sein erneut aufflackernder Zorn es zuließ. »Du musstest es annehmen?« wiederholte sie sanft, und in der Morgensonne waren die Schatten unter ihren Augen deutlich zu erkennen. Trotzdem sah sie wunderschön aus. »Sollte ich etwa annehmen, dass du mit einem Mann schläfst, bevor ihr verheiratet seid? Mit mir hast du das doch auch nicht getan.« Sie betrat den Pavillon und kam mit einer Segeltuchtasche, einer Staffelei und einem Kasten mit Farben heraus. Sie ging an ihm vorbei zur Klippe. »Wohin willst du?« »Ich will am Strand malen. Danke für alles«, rief sie. »Es geht mir besser. Du kannst zurück an deine Arbeit. Ich werde dich in ein paar Monaten anrufen und einen Gesprächstermin vereinbaren. Bis dann.« Einen Moment lang stand er wie angewurzelt da, dann eilte er hinter ihr her. »Was zum Teufel soll das?« fragte er, als er sie eingeholt hatte. Sie blieb nicht stehen. »Ich gehe jetzt malen, das habe ich doch gesagt.« Ohne ein weiteres Wort nahm er ihr die Staffelei und den Farbkasten aus den Händen. »Die Tasche kannst du selbst tragen«, sagte er. »Wohin?« »Ich schaffe es allein.« »Wohin?« Sie wandte sich nach Süden, und er ging neben ihr. Schweigend stiegen sie zum Strand hinab, wo sie eine kleine Bucht ansteuerte. »Hier«, sagte sie und nahm ihm die Staffelei wieder ab. Sie stellte sie auf, legte die Tasche darauf ab und streckte die Hand nach dem Farbkasten aus. »Danke.« Nick gab ihn ihr, blieb jedoch stehen und sah zu, wie sie ein halb fertiges Bild herausnahm und den Kasten aufklappte. Ohne ihn anzusehen, nahm sie die Palette heraus.
Sie wollte gerade eine Tube weißer Farbe öffnen, da berührte er sie am Arm. Sofort wich sie zurück. »Was?« Er schüttelte den Kopf. »Nichts.« Sie wartete, doch er sagte kein Wort mehr. Stattdessen strich er mit den Fingerspitzen über ihre Wange und ging davon. Einfach so. Sie sah ihm nach, und als er hinter einem Felsen verschwand, starrte sie auf ihr Bild und stellte fest, dass die Farben vor ihren Augen verschwammen. »Verdammte Hormone«, murmelte sie, während sie blinzelnd nach der Palette tastete. »Verdammter Nick.« Nick ging davon, ohne stehen zu bleiben, nahm auf der Felstreppe nach oben zwei Stufen auf einmal und eilte zum Haus, um seine Sachen zu holen. An der Tür wäre er fast mit Mrs. Douglas zusammengestoßen. »Oh, Mr. Viera, haben Sie mich erschreckt.« Sie presste eine Hand aufs Herz. Dann lächelte sie. »Aber ich freue mich, Sie zu sehen.« Sie trug Jeans, ein weites T-Shirt, den zerfransten Strohhut und ihre Laufschuhe. »Ich hatte schon Angst, Sie wären weg.« »Ich wollte gerade fahren.« »Das dürfen Sie nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben gesagt, dass Samantha zum Arzt muss, und wissen Sie, sie ist eine der schlechtesten Autofahrerinnen, die ich je gesehen habe. Ich selbst kann nicht fahren, aber Norman, mein verstorbener Mann, konnte fahren. Mehr schlecht als recht, aber Samantha… na ja, sie gefährdet sich und andere.« »Es geht ihr schon viel besser«, erwiderte er und schob sich an ihr vorbei ins Haus. Sam hatte ihm oft genug gesagt, dass er gehen sollte, und genau das würde er jetzt tun. »Ich muss los. Vielleicht können Sie nachher nach Sam sehen. Sie ist am Strand und malt.«
»Allein?« »Sie wollte allein sein.« Mrs. Douglas folgte ihm ins Wohnzimmer. »Das ist nicht gut. Wenn ihr nun wieder schwindlig wird?« Tadelnd schnalzte sie mit der Zunge. »Wenn sie stürzt, und die Flut kommt?« »Okay, schon verstanden. Warum gehen Sie nicht an den Strand und leisten ihr Gesellschaft?« »Oh, das kann ich nicht. Owen geht es nicht gut. Er hat einen schrecklichen Rückfall. Seine Schwanzfedern sind schon alle weg. Der Arme ist ganz durcheinander…« Da war er nicht der Einzige. »Ich muss los. Meine Arbeit…« Das Telefon auf dem Tisch läutete, und er nahm den Hörer ab. »Ja?« »Nick, hier ist Greg. Wie weit bist du mit den Fragen für die Anhörung?« »Warum?« »Die Londoner Anwälte brauchen sie spätestens um siebzehn Uhr. Notariell beglaubigt.« Er hatte gestern Abend zu arbeiten versucht, aber nicht viel zu Stande gebracht. »Kein Problem. Wenn du mir sagst, wie ich bis siebzehn Uhr nach London kommen soll.« »Schick ihnen ein Fax. Das Original liefern wir nach.« »Okay.« Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. »Bis siebzehn Uhr?« »Ja, spätestens. Wie geht es sonst so?« Mrs. Douglas arrangierte gerade die Seidenblumen um, aber Nick wusste, dass sie lauschte. »Geht so«, erwiderte er. »Ich erzähle es dir, wenn ich zurück bin.« »Sam, was?« »Schlauer Bursche.«
»Und du kannst jetzt nicht reden.« »Noch schlauer.« »Gut oder schlecht?« »Nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe«, erwiderte er und sah, wie Mrs. Douglas die Stirn runzelte. »Ich muss Schluss machen.« »Okay.« Greg legte auf. Nick sah Mrs. Douglas an. »Mein Partner. Es gibt da ein paar Sachen, um die ich mich kümmern muss.« »Juristische Sachen? Kriminelle und so?« »So ungefähr. Wissen Sie, ob es hier einen Notar gibt?« »Natürlich. Sarah Thompson. Sie arbeitet im Gerichtsgebäude. Sie hat vor ein paar Jahren einen Richter geheiratet. Ich habe die Hühnerbrühe in die Küche gestellt. Sie sorgen doch dafür, dass Samantha sie isst?« Hatte sie ihm nicht zugehört. »Ich muss los, also…« »Mr. Viera, Sie sind ein guter Mensch, das spüre ich. Sie wären nicht mehr hier, wenn Samantha Ihnen unwichtig wäre. Ich bin sicher, Sie werden dafür sorgen, dass sie die Brühe bekommt und zum Arzt geht.« Sie lächelte. »Das Gerichtsgebäude ist nur ein paar Häuser von der Praxis entfernt. Zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er wusste es. »Okay, Sie haben gewonnen. Ich sorge dafür, dass sie zum Arzt geht, danach fahre ich. Wir sehen uns vielleicht nicht mehr, also passen Sie auf sich und Sam auf, und vielen Dank.« »Oh, wir sehen uns wieder«, sagte sie. »Ich muss jetzt heim und mich um Owen kümmern.« Sie zwinkerte ihm zu und ging davon. Nick fragte sich, warum er das Gefühl hatte, gerade hereingelegt worden zu sein. Von einer alten Lady mit Strohhut. Er tat, was sie wollte, damit sie sich in Ruhe um einen Papagei ohne Schwanzfedern kümmern konnte. Kopfschüttelnd schaltete er den Laptop ein, rief die Da-
tei mit den Fragen auf und machte sich daran, sie zu überarbeiteten. Aber keine fünf Minuten später klappte er den PC wieder zu und verließ das Haus. Mrs. Douglas’ Mahnung ging ihm nicht aus dem Kopf. Wenn Sam nun wirklich wieder schwindlig geworden und sie auf den Felsen gestürzt war? Du meine Güte, er fing an, sich als Sams Beschützer zu fühlen. Das hatte er nicht einmal getan, als sie verheiratet waren. Sam war ganz in ihre Arbeit vertieft. Sie malte ein blondes Kind, das mit strahlendem Gesicht am Strand spielte. Als sie den Kopf hob und aufs Meer schaute, entdeckte sie einen Schwimmer, der sich dem Ufer näherte. Nick. Als er das flache Wasser erreichte und sich aufrichtete, seufzte sie vor Erleichterung. Er war nicht nackt, sondern trug weiße Boxershorts. »Wie läuft es?« rief er und kam auf sie zu. Sie starrte ihm entgegen. Die Boxershorts klebten an seinem Körper und boten einen fast noch erregenderen Anblick, als wenn er nackt gewesen wäre. Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. »Was tust du noch hier?« »Ich war Schwimmen. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich den Ozean vermisse, wenn ich nicht in Malibu bin.« Er blieb hinter der Staffelei stehen und sah sie darüber hinweg an. »Es ist so lange her, und das Meer war so verlockend.« »Du warst gestern Abend schwimmen«, erwiderte sie, ohne nachzudenken. »Hast du mich beobachtet?« fragte er. »Nein. Ich…« Sie begann ihre Pinsel zu säubern. »Ich habe nur aufs Meer hinausgeschaut und dich zufällig gesehen.« »Okay. Dann war ich eben zweimal schwimmen«, sagte er und stellte sich neben die Staffelei, um das Bild zu be-
trachten. »Du hättest eine Badehose mitbringen sollen.« Er lächelte. »Ich wollte eigentlich im Adamskostüm baden, aber dann fiel mir ein, dass du eine Nachbarin hast. Übrigens, sie hat dir Hühnerbrühe gemacht.« »Mrs. Douglas?« »Ja. Sie musste wieder nach Hause. Zu Owen. Offenbar hat der arme Kerl sich gestern sämtliche Schwanzfedern ausgerissen.« Fast hätte sie glauben können, sie wären zwei alte Freunde, die sich zufällig begegnet waren und entspannt miteinander plauderten. Aber nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Er schaute wieder auf das Bild und stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist fantastisch. Kein Wunder, dass du so erfolgreich bist.« Er sah sie an. »Ich bin beeindruckt, Sam.« Sie wollte seine Anerkennung nicht. »Es ist noch nicht fertig. Ich wollte es heute beenden, aber…« Sie wollte das Bild von der Staffelei nehmen, um nach Hause zu gehen. »Nicht«, sagte Nick. Sie legte die Stirn in Falten. »Was soll ich nicht?« »Hör nicht auf zu malen. Du scheinst heute in Topform zu sein.« »Du fährst?« Er nickte. »Nachher. Aber jetzt bin ich hier, weil ich dich etwas fragen möchte.« »Was denn?« Er berührte ihr Kinn mit der Fingerspitze und war ihr so nah, dass sie das Meer an seiner Haut riechen konnte. Und die Boxershorts trocknete, und was sich darunter immer deutlicher abzeichnete, war etwas, das sie in dieser Situation nicht sehen wollte.
»Ich brauche einen Notar. Ich muss etwas beglaubigen lassen.« »Ich bin Malerin«, sagte sie und wich zurück. »Kannst du es nicht selbst beglaubigen?« Schmunzelnd ließ er die Hand sinken. »Selbst wenn ich Notar wäre, dürfte ich etwas, das meine eigene Unterschrift trägt, nicht beglaubigen. Aber Mrs. Douglas hat mir erzählt, dass es im Ort eine gewisse Sarah gibt.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und sie verstand nicht, warum ihr Herz schneller schlug. Sie wusste nur, dass sie es ignorieren musste. Nick war ein Mann, der die Ehe mit dem verglich, wovor er seine Mandanten zu bewahren versuchte. Mit dem Gefängnis. »Mir scheint, du weißt alles. Wie kann ich dir helfen?« fragte sie. »Wie weit ist es vom Arzt zum Gericht? Mrs. Douglas hat gesagt, dass es nur ein paar Häuser sind, aber die Frau hat einen Vogel, der sein eigenes Gefieder frisst.« »Nur einen Steinwurf.« »Dann kann ich dich zum Arzt fahren und zur Notarin gehen, während du bei ihm bist.« »Du gibst nicht auf, was?« murmelte sie. »Ich lasse dich nicht allein fahren. Wenn dir nun wieder schwindlig wird? Willst du das riskieren?« Logische Argumente. Selbst bei einer privaten Auseinandersetzung blieb er immer Anwalt. Sie seufzte. »Na gut, du kannst mich fahren. Ich male noch eine Weile und komme dann ins Haus. Dann können wir fahren. Du lässt deine Papiere beglaubigen, ich gehe zum Arzt, und du kannst gegen sechs nach San Francisco aufbrechen.« Sie griff nach dem nächsten Pinsel. »Was hältst du davon?« »Perfekt«, murmelte er und musterte sie. »Wie lange bleibst du noch hier?« »Eine Stunde.«
»Perfekt«, wiederholte er. Aber statt wieder ins Wasser oder zum Haus zu gehen, tat er etwas vollkommen Unerwartetes. Er legte sich neben ihr in den Sand.
11. KAPITEL »Nick, was tust du da?« fragte Sam. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. »Wenn du das nicht weißt, warst du zu lange in der Sonne. Das hier haben wir doch in Malibu oft genug gemacht. Man nennt es Sonnenbaden. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?« Sam starrte ihn an und brachte kein Wort heraus, während sie hastig den Blick von ihm abwandte und sich auf die Leinwand vor ihr konzentrierte. Krampfhaft versuchte sie, nicht daran zu denken, dass Nick nur mit weißer Boxershorts bekleidet im Sand lag, während sie mit kräftigen Pinselstrichen das Blau des Ozeans auf die Leinwand malte. Aber irgendwann gab sie auf. Auf diese Weise würde sie das Bild nie fertig bekommen. Kaum hatte sie den Pinsel in das Glas mit dem Verdünner gesteckt, stand Nick auf. Während sie das Bild in die Tasche schob, klappte er die Staffelei zusammen. Dann griff er nach der Tasche. »Du kannst den Farbkasten nehmen.« »Danke«, murmelte sie und klemmte ihn sich unter den Arm. Dabei sah sie Nick an. Das war ein Fehler. Ein unverzeihlicher Fehler sogar. Denn sie hatte ganz vergessen, wie schnell er braun wurde. Ganz im Gegensatz zu ihr. Wortlos marschierten sie los. »Lass uns reden«, sagte er nach einer Weile. »Okay. Ein schöner Tag, klare Luft, nicht zu warm. Das
Licht war ideal zum Malen und…« »Darüber wollte ich nicht reden«, unterbrach er sie. Sie ging schneller und sagte nichts mehr. »Sam, würdest du bitte langsamer gehen und mir zuhören?« In der Ferne tauchte schon das Cottage auf. Sie ignorierte ihn und ging noch schneller, aber er holte sie ein und hielt sie am Arm fest. »Ich will jetzt reden, Sam.« Sie schloss die Augen. »Leider bekommt man nicht immer das, was man will.« Das war etwas, das sie schon in der Kindheit erfahren hatte. Und zuletzt, als ihr klar geworden war, dass sie Nick nicht halten konnte. »So ist das Leben.« »Blödsinn«, murmelte er und ließ sie los, als sie sich losriss. »Nick, es gibt nichts mehr zu sagen. Du hättest längst fahren sollen.« »Verdammt richtig. Aber ich konnte nicht.« Er klang verärgert, fast zornig. »Natürlich kannst du. Ich habe dich darum gebeten. Aber du hörst mir ja nie zu.« »Oh doch, das tue ich. Ich habe dir zugehört, als du mir gesagt hast, dass du die heile Welt willst. Ehe, ein Zuhause, eine Familie.« »Das muss für dich wie eine Fremdsprache geklungen haben«, sagte sie. Er holte tief Luft. »Warum?« »Ich habe dich verlassen, weil…« Er hob eine Hand. »Das meine ich nicht. Sag mir einfach nur, warum du dich geändert hast. Warum du gegen alles verstoßen hast, woran du geglaubt hast, als wir noch zusammen waren?« Seine Hand ballte sich zur Faust, als er sie herunternahm. »Wie konntest du schwanger werden? Und wo zum Teufel ist der Kerl?
Warum ist er nicht bei dir?« Ihre Antwort erstaunte ihn. »Wie würdest du reagieren, wenn jemand dir erzählen würde, dass du Vater wirst? Einfach so? Was würdest du tun?« Er schüttelte den Kopf. »Was soll das?« »Okay, es ist eine hypothetische Frage, aber tu mir den Gefallen und beantworte sie. Wie würdest du reagieren?« wiederholte sie und wartete mit angehaltenem Atem. Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Du willst keine Kinder, nicht wahr?« »Nein, aber es lässt sich verhindern. Und falls doch etwas passiert, kann man das korrigieren.« Sie verzog das Gesicht. Seine Wortwahl tat ihr weh. Genau das würde er tun, wenn er die Wahrheit erfuhr. Er würde es korrigieren. »So einfach ist das, ja?« »Was hat der Vater gesagt?« fragte er und zeigte auf ihren Bauch. »Ich habe es ihm noch nicht erzählt.« »Wie lange willst du warten? Bis das Kind das College abgeschlossen hat?« »Vielleicht. Oder vielleicht nur, bis es gesund auf der Welt ist. Ich weiß es nicht.« Sie wusste wirklich nicht, wann sie es ihm erzählen würde. »Ich sage es ihm, wenn ich das Gefühl habe, dass es richtig ist.« »Warum behältst du es?« »Weil ich dieses Baby will. Dass ich schwanger wurde, war nicht geplant. Ich habe ein Mal mit ihm geschlafen. Das war verrückt, aber es ist eben passiert.« Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und wehrte sich verzweifelt dagegen. »Ich habe mir nie vorgestellt, dass es so kommen würde. Aber daran, es nicht durchzustehen, habe ich keine Sekunde gedacht.« »Allein?« Warum musste er ihr all diese Fragen stellen und sie dar-
an erinnern, wie einsam und isoliert sie war? »Ich war die meiste Zeit meines Lebens allein. Da macht es keinen großen Unterschied.« »Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht«, murmelte er. »Nick, ich möchte nicht mit dir darüber reden.« »Du denkst wohl, weil ich dich gehen ließ, habe ich kein Recht mehr, mir Sorgen um dich zu machen.« »Du hast mich nicht gehen lassen«, wiederholte sie verbittert. »Ich bin gegangen. Du hast gar nichts getan. Du hast nicht versucht, mich zurückzuholen.« Seine Miene verhärtete sich. »Was immer ich getan oder nicht getan habe, du kannst das hier nicht allein auf dich nehmen.« »Natürlich kann ich das. Ich habe keine andere Wahl, oder?« »Es gibt immer eine Wahl.« »Welche denn? Soll ich den Vater anflehen, für das Baby da zu sein, obwohl es das Letzte ist, was er will? Nein, ich muss es allein schaffen. Daran bin ich gewöhnt. Ich brauche weder deine Hilfe noch die anderer.« Sam wandte sich von Nick ab und eilte den Abhang hinauf. Hinter sich hörte sie das Rauschen der Brandung. »Du hättest bei mir bleiben können«, rief Nick und folgte ihr. Das war so fern der Wirklichkeit, dass sie fast gelacht hätte. Fast, denn der Schmerz, den seine Worte auslösten, war so groß, dass ihr der Atem stockte. Sie wirbelte zu ihm herum. »Bei dir bleiben? Du hast unsere Ehe gehasst. Du fühltest dich darin gefangen. Du hast immer bereut, dass du mich geheiratet hast. Wie hätte ich bei dir bleiben können?«
»Ich habe nie aufgehört, dich zu wollen.« »Ich rede nicht von Sex, Nick. Ich rede davon, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Aber das kam für dich nie in Frage. Daran hast du keinen Zweifel gelassen.« Er fuhr sich durchs Haar. »Verdammt, Sam, im Leben läuft nun einmal nicht alles so, wie man will. Etwas Unvorhergesehenes passiert, und man muss damit fertig werden.« »Was du nicht sagst«, flüsterte sie, und aus Bitterkeit wurde Wut. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, genau das tue ich.« »Ich weiß, ich weiß.« Er rieb sich den Nacken. »Ich wünschte nur, wir könnten ganz von vorn anfangen.« Wieder hätte sie fast gelacht. Aber das durfte sie nicht. Es hätte hysterisch geklungen. »Nick, so funktioniert das nicht. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen, wenn es schwierig wird.« »Nein, aber wir können doch Freunde sein, oder? Uns sehen. Ich habe dich vermisst. Nur weil unsere Ehe gescheitert ist, heißt das doch nicht, dass wir…« »Nicht miteinander schlafen können? Du gehst deinen Weg, ich meinen, aber hin und wieder gehen wir zusammen ins Bett, ja? Obwohl wir absolut nichts mehr gemeinsam haben? So stellst du dir das vor, ja?« »Ich will dich nicht ganz verlieren.« »Es ist zu spät, Nick«, antwortete sie leise und schloss die Augen. »Wer ist er?« Sie riss die Augen wieder auf. »Warum hörst du nicht endlich auf damit?« »Wer ist er, Sam?« »Das ist nicht wichtig.« »Du hast mit ihm geschlafen, also war es mindestens ein
Mal wichtig, wer er ist. Verdammt, ich musste dich erst heiraten«, sagte er mit gepresster Stimme. Er machte alles kaputt. Er zerstörte den Frieden, den sie nach so mühsamer Suche endlich gefunden hatte. Der Zorn darüber wurde übermächtig, und bevor sie sich beherrschen konnte, ohrfeigte sie ihn. Entsetzt über sich selbst, ließ sie die Hand sinken, und starrte ihn an. »Du… machst alles kaputt, und ich… ich will, dass du jetzt gehst.« Er berührte seine Wange nicht, obwohl ihre Finger dort deutliche Spuren hinterlassen hatten. Er stand einfach nur reglos da. »Ich habe es versucht.« »Dann gib dir mehr Mühe«, fauchte sie und wandte sich mit zugeschnürter Kehle und brennenden Augen ab. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint, aber in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie kaum noch aufhören können. Erst als sie im Cottage unter der Dusche stand, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Als Sam eine halbe Stunde vor dem Arzttermin nach unten ging, um in den Ort zu fahren, war es still im Haus. Um so überraschter war sie, als sie das Wohnzimmer betrat und Nick auf der Couch sitzen sah. Er hatte ein graues Hemd und eine schwarze Hose angezogen und arbeitete am Laptop. Sprachlos starrte sie ihn an, während er kurz den Kopf hob, dann den PC zusammenklappte und in der Tragetasche verstaute. »Ich dachte schon, ich müsste dich holen«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr und stand auf. »Ich habe ein Problem.« Endlich fand sie ihre Stimme wieder. »Was für ein Problem?« »Irgendwie habe ich das Gefühl, mich dauernd bei dir
entschuldigen zu müssen.« »Wofür?« Er zuckte mit den Schultern. »Was ich unten am Strand zu dir gesagt habe, tut mir Leid. Ich hatte kein Recht dazu.« Seine Reue erstaunte sie. »Ich habe dich geohrfeigt. Eigentlich müsste ich mich entschuldigen.« »Nein, ich kann von Glück sagen, dass du mich nicht erwürgt hast.« »Ich war so verdammt…« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich neige in letzter Zeit zu… Gefühlsausbrüchen.« »Da wirst du von mir keinen Widerspruch hören«, sagte er, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen, während er sich die Wange rieb. »Ich fahre dich jetzt in die Stadt, lasse meine Papiere beglaubigen, bringe dich nach Hause und dann erfülle ich dir deinen Herzenswunsch. Ich fahre nach San Francisco. Noch vor Sonnenuntergang werde ich verschwunden sein.« »Und diesmal meinst du es ernst?« »Ja, ich glaube, wir beide wissen, dass es höchste Zeit ist.« Das war genau das, was Sam hören wollte, seit er gestern bei ihr aufgetaucht war. Aber anstatt sich darüber zu freuen, musste sie sich erneut gegen die aufsteigenden Tränen wehren und spielte nervös mit dem Medaillon. »Ja, es ist Zeit«, flüsterte sie. »Also bringen wir es hinter uns«, sagte er und öffnete ihr die Haustür. Die Worte klangen so endgültig, und sie konnte nur nicken, als sie an ihm vorbei auf die Veranda trat. Nick folgte ihr mit seinen beiden Taschen. Sie schloss die Tür ab und ging zu seinem Mietwagen. Sie stieg ein und sah nach vorn, als er sich ans Steuer setzte. »Wie fühlst du dich?« fragte Nick, als er auf die Haupt-
straße einbog. »Ist dir noch schwindlig?« »Nein. Vermutlich lag es nur daran, dass ich zu wenig gegessen habe.« Und an ihm, aber das sagte sie natürlich nicht. Das Dach des Cabrios war offen, und über ihnen wölbte sich der Himmel so strahlend blau, dass sie es mit ihren Farben nicht hätte malen können. »Es ist ein herrlicher Nachmittag«, sagte sie und drehte das Gesicht in die Sonne. Sie spürte, wie Nick sie ansah. »Ja, herrlich«, erwiderte er. »Und nicht zu warm.« »Was soll das werden, Sam? Der Wetterbericht?« Erst jetzt drehte sie sich zu ihm. »Ich unterhalte mich mit dir.« »Wenn du nicht über Wichtigeres reden willst, ist das okay.« Er berührte seine Wange. »Eine Ohrfeige reicht mir.« »Tut mir Leid. Ich… habe die Beherrschung verloren.« »Schon gut«, murmelte er, und sie schwiegen beide, bis sie das Zentrum von Jensen Pass erreichten. Sam brach das Schweigen als Erste. »Dort ist das Gerichtsgebäude«, sagte sie und zeigte auf ein altes Gebäude mit hohen Säulen und einer breiten Treppe. »Okay. Und wo ist der Arzt?« »Ein Stück die Straße entlang.« Nick fuhr weiter. »Hier«, erklärte Sam, als sie den riesigen alten Bungalow erreichten, in der sich die Praxis ihres Frauenarztes befand. Er bog auf den Parkplatz ein, hielt vor dem Eingang und ging zur Beifahrertür. Sam stieg aus, und Nick begleitete sie in den Empfangsbereich, der früher das Wohnzimmer gewesen war. Maria, Dr. Barnets Krankenschwester, eilte sofort auf sie zu.
»Wir kümmern uns um Samantha«, sagte sie zu Nick. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Wann wird sie fertig sein?« fragte er. »Geben Sie uns eine halbe Stunde. Der Doktor ist frei, also kann er sie sofort empfangen.« »Okay, ich bin rechtzeitig wieder da.« Sam nickte, ohne sich zu ihm umzudrehen, und hörte, wie Nick die Praxis verließ. Maria führte sie in ein Untersuchungszimmer. Eine halbe Stunde später kam sie mit Dr. Barnet wieder heraus. Was er ihr gesagt hatte, ließ sie noch immer zittern. »Für den vierten Monat sind Sie schon recht weit, und die Rundung ist ziemlich ausgeprägt«, hatte er festgestellt. »Gibt es in Ihrer Familie oder in der des Vaters Fälle von Mehrlingsgeburten?« Als sie und der Doktor das Wartezimmer betraten, sah sie Nick mit dem Rücken an der Wand stehen. Er warf einen Blick auf Dr. Barnet und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Mein Name ist Nick Viera. Ich habe Sie gestern angerufen. Wie geht es Sam?« Die Männer schüttelten sich die Hand. »Kein Grund zur Besorgnis, aber sie muss regelmäßiger essen. Außerdem muss sie mir ein paar Informationen beschaffen. Abgesehen davon ist alles bestens.« Nick sah Sam an. »Können wir fahren?« »Ja.« Sie ging zum Ausgang. »Was sind das für Informationen?« fragte er, als sie am Wagen standen. »Ob es in der Familie Zwillinge gibt«, erwiderte sie und legte die Arme um ihren Bauch. Nick öffnete die Beifahrertür. Als er hinter dem Steuer saß, sah er sie an. »Zwillinge?« Er verzog das Gesicht. »Zwei auf einmal?« »Das ist bei Zwillingen so üblich, Nick. Sieh nichts so gequält drein.«
»Ich sehe nicht gequält drein.« Er zögerte. »Okay, okay, vielleicht doch ein wenig.« Ohne Vorwarnung strich er ihr über den Bauch. Es war eine so zärtliche und intime Geste, dass ihr fast die Tränen in die Augen schossen. »Zwei Sams. Das ist doch gar nicht schlecht.« Sie wandte sich ab, entsetzt darüber, dass sie wünschte, er würde seine Hand auf ihrem Bauch lassen. Sie war froh, dass er bald fort sein würde.
12. KAPITEL Nick hatte keine Ahnung, warum er Sam so liebevoll berührt hatte oder warum er sich nicht dafür entschuldigte. Er packte das Lenkrad mit beiden Händen. »Wenn es Zwillinge sind, wird es wenigstens kein Einzelkind wie du«, sagte Sam. »Zu mehr hat es bei meinen Eltern nicht gereicht«, versuchte er zu scherzen, aber keiner von ihnen fand es lustig. »Also gibt es in deiner Familie keine Zwillinge?« »Nein. Sie hätten sich nie ans Licht der Welt getraut.« An einer roten Ampel warf er Sam einen Blick zu. Sie sah so zerbrechlich aus. Ihr Haar war leicht zerzaust, und zwischen den zarten Brauen lag die Stirn in Falten. Als sie am Gerichtsgebäude vorbeifuhren, wurde ihm klar, wie sehr diese ganze Sache mit Sam ihn aufgewühlt und aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er war ohne seinen Computer aus Sarah Thompsons Büro marschiert. Er hatte den Laptop an ihren Drucker angeschlossen, seine Dokumente ausgedruckt, sie beglaubigen lassen und den Laptop dort vergessen. »Verdammt«, knurrte er und fand eine Parklücke direkt vor dem Gerichtsgebäude. »Was ist?« Nick sah Sam an. »Ich habe meinen Computer vergessen. Warte hier. Es wird nicht lange dauern.«
Sie schnallte sich los. »Bei mir auch nicht.« »Du brauchst nicht…« »Ich muss kurz verschwinden.« »Aber du warst doch gerade beim Arzt und…« »Trotzdem. Heißhunger auf Erdnussbutter ist nicht die einzige Nebenwirkung, wenn man schwanger ist. Bis nach Hause schaffe ich es nicht. Wir treffen uns am Wagen, ja?« Im Gerichtsgebäude sah er ihr nach, als sie davonging. Schlagartig ging ihm auf, in welcher Gefahr er schwebte. Es war nicht das Körperliche. Selbst wenn er Sam nie wieder berühren durfte, würde er damit fertig werden. Ein paar schlaflose Nächte und viele kalte Duschen, mehr bedurfte es dazu nicht. Nein, viel schlimmer war der Beschützerinstinkt, der sich in ihm regte. Zum ersten Mal in seinem Leben. Er drehte sich um und steuerte Sarah Thompsons Büro an. Sekundenlang hatte er daran gedacht, Sam zu begleiten und vor der Tür zum Waschraum zu warten. Nur für den Fall, dass ihr wieder schwindlig wurde. Es war vollkommen verrückt. Sam konnte selbst auf sich aufpassen und brauchte ihn nicht. Kopfschüttelnd betrat er das Notariat. Schließlich war Sam auch ohne ihn schwanger geworden. Als er kurz darauf mit seinem Laptop wieder auf den Korridor trat, hörte er laute Stimmen. Sie kamen aus dem anderen Flügel. Plötzlich ertönte ein Aufschrei, und Leute rannten aufgeregt umher. Ihre Schritte hallten durch das alte Gemäuer. Nick eilte hinüber, und als er um eine Ecke bog, wäre er fast mit einer Gruppe Männer und Frauen zusammengestoßen, die in die entgegengesetzte Richtung rannten. »Gehen Sie da nicht hin«, rief ein Mann. Dann eilte eine Frau auf ihn zu. Sie hatte ihre Handtasche an die Brust gepresst und sah blass und vollkommen verängstigt aus. Nick hielt sie am Arm fest. »Was ist los?«
Sie riss sich los. »Irgendein Verrückter hat da drin eine Frau als Geisel genommen. Er hat die Waffe des Polizisten und droht damit, alle zu erschießen!« Eine Angst, wie er sie noch nie erlebt hatte, durchströmte Nick. Irgendetwas sagte ihm, dass Sam in Gefahr war. Vielleicht war ihr der Weg nach draußen versperrt, oder sie hatte sich versteckt. Zwei uniformierte Polizisten rannten an ihm vorbei und schoben ihn unsanft zur Seite. »Verlassen Sie das Gebäude«, rief einer von ihnen ihm zu, aber er bewegte sich nicht. Er sah ihnen nach, als sie am Ende des Korridors nach rechts verschwanden. Nick zögerte keine drei Sekunden, dann folgte er ihnen. Als er um die Ecke kam, starrte er entsetzt auf die blauen Uniformen, die sich an einer Tür mit der Aufschrift Kriminalgericht 2 drängten. Langsam ging er weiter und blieb wie angewurzelt stehen, als er an den gezogenen Revolvern vorbei in den Gerichtssaal schaute. Sam. Ein Mann hatte sie gepackt, ein Mann in einem orangefarbenen Sträflingsoverall. Er war höchstens zwanzig, mit gehetztem Blick, langem Haar und einer Waffe, deren Mündung er dicht unterhalb des Ohrs an Sams Kopf presste. Der Kerl hielt sie als Schutzschild vor sich, den Unterarm so fest um ihren Hals, dass sie sich nach hinten biegen musste. Sie rang nach Luft, um nicht zu ersticken, eine Hand an seinem Arm, die andere auf ihrem Bauch. Der Anblick traf Nick wie ein Stich ins Herz. Vor Angst um Sani wurde ihm übel. Ohne zu überlegen, was er tat, ging er weiter, bis einer der Polizisten ihn aufhielt. »Verschwinden Sie«, befahl der Beamte und stellte sich ihm in den Weg. Nick blieb stehen, dachte jedoch gar nicht daran wegzugehen.
Zwischen den Polizisten hindurch konnte er sehen, wie Sam die Augen weit aufriss. »Lasst mich durch, sonst puste ich ihr den Kopf weg. Ich habe nichts zu verlieren!« drohte der Geiselnehmer. Die Beamten wichen einen Schritt zurück. Nick sah nur Sam. Die Angst in ihren Augen. Ihr stummes Entsetzen. Die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Die Hand, die sie schützend auf den Bauch gelegt hatte. Der Polizist neben Nick hielt eine Gerichtsakte in der Hand. Neben der Verfahrensnummer stand ein Name. Louis Franco. Nick stellte seinen Computer ab und nahm seine Brieftasche heraus. Er entnahm ihr eine Visitenkarte und hielt sie dem Beamten hin. »Franco ist einer meiner Mandanten«, log er ungerührt. Als der Mann die Karte nahm, drängte Nick sich durch den Ring der Ordnungshüter und ging langsam auf Franco zu. Er spürte, wie die Beamten hinter ihm sich bewegten, und hob beide Hände. »Ganz ruhig, Louis. Ich bin nicht bewaffnet und will Ihnen nur helfen.« Der junge Mann machte einen Schritt nach hinten und zog Sam mit sich, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. »Was zum…?« Nick ließ die Hände ein wenig sinken. »Überlegen Sie, was Sie tun, Louis. Sie wollen doch niemandem wehtun. Glauben Sie mir, Sie wollen Ihre Lage nicht noch verschlimmern.« Wie in Zeitlupe ging Nick weiter, bis er etwa sechs Schritte von dem Geiselnehmer entfernt war. Er zwang sich, Sam nicht anzusehen, denn er wusste nicht, was er tun würde, wenn er in ihre Augen schaute. Er musste einen kühlen Kopf bewahren.
»Louis, warten Sie«, sagte er beschwörend, als der Geiselnehmer den Finger um den Abzug legte. »Ganz ruhig. Keine Panik. Atmen Sie tief durch. Hören Sie auf mich, ich will nur Ihr Bestes.« »Sie wollen mein Bestes? Ich komme hier doch sowieso nicht mehr raus. Ich bin erledigt. Mindestens fünfundzwanzig Jahre wollen sie mir aufbrummen.« Nick wusste, dass er das Vertrauen des Geiselnehmers gewinnen musste, wenn er Sam helfen wollte. »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Mein Gratisanwalt.« »Ihr Pflichtverteidiger?« »Ja, er kostet nichts, deshalb tut er auch nichts. Er meint, ich soll mich schuldig bekennen. Versuchter Totschlag. Dabei war es Notwehr. Der Kerl hat mich angegriffen, ist mit einem Messer auf mich losgegangen. Ich hab’s ihm abgenommen und ihn damit verletzt. Und jetzt soll ich alles allein ausbaden. Nur weil ich vorbestraft bin. Es war Notwehr, Mann, Notwehr!« »Wenn das wahr ist, sollten Sie sich nicht schuldig bekennen, Louis«, sagte Nick ruhig und ging langsam weiter. »Auf gar keinen Fall. Als Ihr Verteidiger hätte ich das nie zugelassen.« Franco blinzelte, und Nick wusste, dass er einen ersten Erfolg errungen hatte. Der Kerl hörte ihm nicht nur zu, sondern glaubte ihm auch. Wenigstens schien er das zu wollen. »Was?« »Das war ein schlechter Rat. Sie brauchen einen guten Anwalt, dann kommen Sie mit Körperverletzung davon und kriegen höchstens ein Jahr.« Der Geiselnehmer nahm den Finger vom Abzug, und Nick musste sich beherrschen, um nicht zu reagieren. Am liebsten hätte er einen Satz nach vorn gemacht und Sam gepackt, um sie von dem Kerl wegzureißen. Als er
sie leise schluchzen hörte, biss er die Zähne zusammen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. »Was wissen Sie denn schon?« fragte Franco, aber er klang verunsichert. »Das sagen Sie doch nur, um mich…« »Ich bin Anwalt«, unterbrach Nick ihn. »Strafverteidiger. Und ein verdammt guter. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie jetzt aufgeben, kriegen Sie den besten Anwalt, den ich Ihnen besorgen kann. Ich kümmere mich um Sie.« »Woher… weiß ich, dass Sie nicht lügen?« fragte der junge Mann verzweifelt. Er wollte aufgeben. Nick musste ihm nur einen Ausweg bieten. Sam schnappte keuchend nach Luft, und Nick wusste, dass er schnell handeln musste. Er zwang sich, Franco in die Augen zu sehen. »Sie werden mir vertrauen müssen, Louis. Ich kenne einen Kollegen in San Francisco und werde dafür sorgen, dass er Ihren Fall übernimmt. Martin Swicker. Er ist gut.« Und dann sagte er etwas, das er nie versprochen hätte, wenn die Geisel nicht Sam gewesen wäre. »Wenn Sie sie gehen lassen, haben Sie mein Wort, dass Swicker Ihnen helfen wird.« »Warum tun Sie das?« fragte Franco. Nick sah Sam an und sprach einfach aus, was er dachte. »Sie ist meine Frau, und sie ist schwanger. Und wenn Sie ihr oder dem Kind etwas tun, sind Sie ein toter Mann. Wenn Sie sie gehen lassen, bekommen Sie die beste Verteidigung, die man für Geld kaufen kann. Also, wie entscheiden Sie sich, Louis?« Nick hielt den Atem an, während der junge Mann nervös zu den Polizisten schaute, bevor er langsam nickte. »Holen Sie diesen Swicker«, sagte er schließlich und ließ die Waffe erst sinken, dann zu Boden fallen. Dann ging alles blitzschnell. Nick riss Sam an sich.
Mehrere Polizisten stürzten sich auf Franco, warfen ihn um, legten ihm Handschellen an und zerrten ihn wieder auf die Beine. Nick drückte Sam an sich, und während sie in seinen Armen weinte, sah er über ihren Kopf weg in die Augen des jungen Geiselnehmers. »Sie halten Wort?« fragte Franco. »Verlassen Sie sich darauf«, erwiderte Nick. »Louis Franco. Vergessen Sie nicht, mein Name ist Louis Franco!« rief der Häftling, als die Polizisten ihn abführten. Nick sah ihm nach und merkte erst jetzt, dass nicht nur Sam zitterte, sondern auch er selbst. Er schloss die Augen, und es dauerte einen Moment, bis er die Fassung zurückgewonnen hatte. Ein Polizist legte den Arm um seine Schulter. »Sie haben verdammt hoch gepokert, Mister. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Urplötzlich hatte der Kerl den Revolver meines Partners in der Hand. Dann kam die Lady aus dem Waschraum, und er packte sie.« Nick fühlte, wie Sam tief durchatmete, und drückte sie noch fester an sich. »Es ist vorbei«, murmelte er. Der Polizist klopfte ihm auf die Schulter. »Sie waren verdammt überzeugend. Franco hat Ihnen die Geschichte mit dem Anwalt wirklich abgekauft.« Nick brauchte und wollte kein Lob. Ihm war nur wichtig, dass er Sam heil und sicher im Arm hielt. In diesem Moment begriff er etwas. Endlich begriff er es. Nämlich dass die Angst, jemanden zu verlieren, etwas mit Liebe zu tun hatte. Die grauenhafte Vorstellung, ohne diesen Menschen weiterleben zu müssen. Das alles hatte er in den letzten Minuten gefühlt. Er wusste nicht, ob es wirklich Liebe war, aber vor Sam hatte er so etwas noch nie empfunden. Und er wusste, dass er es nach Sam nie wieder für eine Frau empfinden würde. Aber es war zu spät. »Swicker wird sich bei Ihnen melden«, sagte Nick.
»He, sagen Sie bloß, das war Ihr Ernst?« entgegnete der Polizist verblüfft. »Ab jetzt ist Swicker Francos Verteidiger«, erwiderte Nick. »Wir gehen. Ich bringe sie erst zum Arzt und dann nach Hause.« »Ist sie wirklich Ihre Frau?« fragte der Mann. »Sie war es«, sagte er und begriff, was er verloren hatte, als er sie aus seinem Leben gehen ließ. »Der Chief will bestimmt noch mit Ihnen reden.« »Nicht jetzt. Ich habe einem Ihrer Kollegen meine Karte gegeben. Sagen Sie Ihrem Chief, er soll mich anrufen.« Dann führte er Sam zum Ausgang, hinaus in den Sonnenschein und durch das Spalier der Neugierigen. Sie stützte sich auf ihn, und er hielt sie fest, bis sie seinen Wagen erreichten. Er half ihr auf den Beifahrersitz, setzte sich ans Steuer und griff nach dem Handy. »Ruf den Arzt an und sag ihm, dass wir kommen.« Sie nahm das Handy, wählte aber nicht. »Bitte bring mich einfach nur nach Hause.« Kopfschüttelnd fuhr er los. »Nein, Sam. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, schwanger zu sein. Aber ich weiß, dass das, was du gerade durchgemacht hast, das Kind gefährden kann.« Er tippte auf das Handy. »Entweder du rufst ihn an, oder wir kommen unangemeldet.« Sie rief an und erklärte der Schwester, was geschehen war. »Der Doktor erwartet uns«, sagte sie danach. Seufzend legte sie den Kopf zurück, und er griff nach ihrer Hand. Sie zitterte noch immer, und er ließ sie erst los, als sie vor der Praxis hielten. Maria wartete an der Tür. Sie legte den Arm um Sam und führte sie hinein. »Der Doktor erwartet Sie.« Sie schaute über die Schulter. »Sie können mitkommen, wenn Sie möchten«, sagte sie zu Nick.
Nick schüttelte den Kopf. Er war schon wieder dabei, Sams Leben zu seinem zu machen, und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Sie werden sich schon um sie kümmern.« Maria verschwand mit Sam, und Nick hörte die Stimme des Gynäkologen. »Samantha, dem Himmel sei Dank, dass es vorbei ist und…« Eine Tür fiel ins Schloss, und Maria kam wieder nach vorn. »Wow, das ist einfach zu viel Aufregung für mich.« Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, stützte die Ellbogen darauf und beugte sich vor. »Sie sind sehr besorgt um Sam. Darf ich fragen, in welcher Beziehung Sie zu ihr stehen?« »Wir sind geschieden.« Es war eine ehrliche Antwort, aber sie gefiel ihm trotzdem nicht. »Oh, eine dieser einvernehmlichen Scheidungen?« »Wir sind noch immer Freunde«, sagte er und hoffte, dass es stimmen und immer stimmen würde. Aber er hatte das ungute Gefühl, dass er Jensen Pass verlassen und niemals zurückkehren würde. Sam würde ihn nie wieder in ihr Leben lassen. »Gut zu hören. Ich fand es so traurig, als sie ganz allein war.« Maria senkte die Stimme. »Natürlich steht mir kein Urteil zu. Aber sie ist so hübsch und talentiert. Das muss ich Ihnen nicht erzählen, schließlich waren Sie mit ihr verheiratet… aber immerhin, Sie haben sich scheiden lassen.« Ja, er hatte sie geheiratet. Dass sie schön und begabt war, hatte ihn damals fasziniert. Aber auch, dass sie ihren eigenen Willen besaß. Sie hatte ihn ebenso sehr begehrt wie er sie, aber sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie keine Affäre mit ihm wollte. »Ich bin altmodisch«, sagte sie damals und errötete auf anmutige Weise. »Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, ohne mich gefühls-
mäßig an ihn zu binden.« Er hatte sie angesehen, sie berührt, sie geküsst und gewusst, dass er ihr alles geben würde, was sie wollte. »Oh, da kommen sie ja schon«, holte Maria ihn in die Gegenwart zurück. »Ist das Baby okay?« fragte er, bevor Sam oder der Arzt etwas sagen konnten. »Ja. Aber es gefällt mir trotzdem nicht, dass Samantha allein ist«, erwiderte der Arzt. »Schon gar nicht nach diesem Schock. Es wäre mir lieber, wenn sie für ein paar Tage eine Krankenschwester engagieren würde. Leider will sie nichts davon hören.« Nick betrachtete Sam. »Ich sorge dafür, dass sie nicht allein ist.« »Gut, gut. Was Sie im Gericht für Sam getan haben, war wirklich…« »Wir müssen gehen«, unterbrach Nick den Doktor und nahm Sams Arm. Sie ließ es geschehen. »Rufen Sie mich an, falls Sie mich brauchen«, sagte der Arzt. Nick dankte ihm mit einem Lächeln und verließ mit Sam die Praxis. Als sie am Wagen standen, kam ein Streifenwagen mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz gefahren und hielt direkt neben ihnen. Der Polizist, mit dem er nach der Geiselnahme gesprochen hatte, stieg aus und hielt seinen Laptop und Sams Tasche hoch. »Das hier haben Sie vergessen.« Nick nahm ihm beides ab, bedankte sich und legte die Sachen auf den Rücksitz, während der Streifenwagen wieder davonraste. Dann half er Sam auf den Beifahrersitz und fuhr los. Er würde sie nach Hause bringen, jemanden auftreiben, der bei ihr bleiben konnte, und verschwinden. Er war so in seine Überlegungen vertieft, dass er fast zusammengezuckt
wäre, als Sani zu sprechen begann. »Ich kam gerade aus dem Waschraum, da stand er vor mir, mit… der Waffe.« Ihre Stimme zitterte, und als er ihr einen Blick zuwarf, sah er, dass sie sich nervös die Hände rieb. Er reagierte so wie beim ersten Mal und legte seine darauf. »Es ging alles so schnell, und plötzlich hatte ich die Waffe am Kopf. Dann kamst du, und… ich kann kaum glauben, dass du einfach mit ihm geredet hast.« Sie hatte Mühe, die Hände still zu halten, als sie wie gehetzt weitersprach. »Ich dachte immer… Ich meine, dein Beruf war mir immer… Aber du warst gut. Du hast so getan, als wolltest du dem Mann helfen. Als wäre er dir wichtig. Und er hat dir geglaubt.« »Man muss sie für sich einnehmen«, murmelte er. »Mit jemandem, der dich hasst, kannst du nicht verhandeln.« »Ja, natürlich… Ich habe nur nie verstanden…« Sie schnappte nach Luft, und er verstärkte den Druck auf ihre Hände. »Sam, es ist vorbei. Er sitzt hinter Gittern. Dir kann nichts mehr passieren.« Er spürte ihre Anspannung. »Atme einfach ganz ruhig. Wir sind gleich zu Hause, und wenn du erst Mrs. Douglas’ Hühnerbrühe im Magen hast, sieht die Welt schon anders aus.« Sein Herz schlug schneller, als Samanthas Finger sich um seine Hand schlossen und sie so fest hielten, dass seine Haut zu prickeln begann.
13. KAPITEL Mrs. Douglas’ Villa tauchte vor ihnen auf, aber die alte Lady war nirgends zu sehen, als Nick in den Weg zum Cottage einbog. Als sie sich dem kleinen Gästehaus näherten, bewegte Sam ihre Hände unter seiner, und er ließ sie los. Er hielt dort, wo er schon zuvor geparkt hatte, und drehte sich
zum Beifahrersitz. Sam saß reglos da und starrte auf ihren Schoß. »Wir sind zu Hause«, sagte er und öffnete die Fahrertür. »Gehen wir hinein.« Er stieg aus, aber sie blieb sitzen, und er ging um den Wagen herum zur Beifahrertür. Behutsam berührte er sie an der Schulter, doch sie reagierte nicht, sondern starrte unaufhörlich auf ihren Schoß. »Er hatte einen Revolver… einen echten Revolver«, flüsterte sie mit einer ausdruckslosen Stimme, die er bei ihr noch nie gehört hatte. »Ich weiß, Liebling, es war schrecklich für dich.« Sie fröstelte und er legte seine Hand wieder auf ihre. »Komm schon, Sam. Bitte…« Er öffnete die Tür, ohne Sam loszulassen. »Steig aus dem Wagen, ja?« »Er hätte uns umbringen können«, sagte sie, und ihre Hand glitt unter seiner hervor und auf ihren Bauch. »Wir beide wären weg… als hätte es uns nie gegeben. Alle beide… einfach so.« Nick schloss die Augen, als ihm klar wurde, was sie gerade gesagt hatte. Sam hätte jetzt tot sein können. Erneut griff er nach ihrer Hand, und sie ließ es nicht nur zu, sondern schob die Finger zwischen seine und hielt sich mit erstaunlicher Kraft an ihm fest. Langsam stieg sie aus und ging mit ihm zum Haus, ohne seine Hand loszulassen. Durch die Hintertür betraten sie die Küche. An der Kochinsel mitten im Raum blieb Sam stehen und drehte sich zu Nick um. Ihr Griff um seine Hand blieb so fest wie zuvor. Ihr Gesicht war jetzt aschfahl, nur das strahlende Grün der Augen verlieh ihm Farbe. »Er schrie immerzu… hörte gar nicht auf… und die Polizei…« Nick wünschte, er hätte den Doktor um ein Beruhigungsmittel für Sam gebeten. Aber vielleicht durfte sie gar keins nehmen, weil sie schwanger war und das Ungeborene nicht gefährden durfte.
Er wusste so wenig über Schwangerschaft und ihre Auswirkungen auf eine Frau, dass er sich fast dafür schämte. Er schüttelte den Kopf. Warum sollte er sich eigentlich schämen? Er hatte keinen Grund, irgendetwas darüber zu wissen. Und er würde nie einen haben. »Oh, Nick«, seufzte sie und erzitterte am ganzen Körper. Er zog sie an sich. Es ging nicht anders. Wie von selbst drückte er sie an sich und strich ihr tröstend über das Haar. Er musste sie einfach festhalten, weil sie sonst vor ihm zusammengebrochen wäre. »Sam, es ist vorbei«, wisperte er beschwörend, und ihr Haar bewegte sich in seinem Atem. »Glaub mir, er kann dir nichts mehr tun. Das verspreche ich dir.« »Du… du hast gesagt, dass wir verheiratet sind… dass das Baby…« Er hatte viel gesagt, viel sagen müssen. »Ich musste es sagen, Sam. Ich hätte ihm geschworen, dass ich fliegen kann, wenn es nötig gewesen wäre, um dein Leben zu retten.« Die Vorstellung, dass Sam etwas zustoßen konnte, hatte ihn rein instinktiv handeln lassen. Wie ein Tier, das seine Gefährtin beschützen musste. Bis zu dem Moment hatte er nicht geglaubt, zu einer so primitiven Reaktion fähig zu sein. Er hätte einen anderen Menschen getötet, um Sams Leben zu retten. Es war erschütternd. Und so einfach. »Du wirst ihm helfen?« fragte Sam leise. »Nein, ich nicht. Swicker wird ihm helfen. Er wird eine faire Chance bekommen.« Er strich mit der Hand über ihren Rücken. Immer wieder. Auf und ab. Und er spürte jeden Atemzug, den sie tat. »Obwohl… wenn es nach mir ginge… würde ich ihn vermutlich auf der Stelle erschießen.« Sie wusste, was eine solche Aussage für einen Anwalt bedeutete, der auf die Verfassung vereidigt war. Sie presste die Stirn gegen seine Brust und begann hemmungslos zu
schluchzen. Sie zitterte am ganzen Körper und war ihm dankbar, dass er sie noch fester in die Arme schloss. »Oh, Nick… nein…« »Heh, das war nicht mein Ernst«, beteuerte er. Seine Hand zog kleine Kreise auf ihrem Rücken, während er sich mit müden Scherzen gegen die Erkenntnis wehrte, dass sein Verstand vor den Gefühlen kapituliert hatte. »Vergiss bitte nicht, mit wem du hier redest. Ich bin Nick, der Beschützer der Schuldigen. Je schuldiger, desto besser. Vergiss nicht, dass jeder Angeklagte das Recht auf die beste Verteidigung hat, die man mit Geld kaufen kann. Und genau das bin ich, der Anwalt ohne jedes Gewissen.« »Oh, hör auf damit«, flüsterte sie, und fast wären ihre Worte in einem leisen Schluckauf untergegangen. Sie hob den Kopf und schaute ihm schluchzend ins Gesicht. Tränen strömten über ihre Wangen, hingen an ihren Lidern und rannen bis auf ihr zitterndes Kinn. »Das habe ich doch nie gesagt.« »Oh doch, das hast du, Sam. Du hast es mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit an den Kopf geworfen.« Mit dem Daumen strich er über ihre Unterlippe und wehrte sich verzweifelt gegen den Wunsch, mehr als nur das zu tun. Sein Bedürfnis, ihr noch näher zu sein, war unglaublich. Ihm war, als müsste er sie vor allem Bösen auf dieser Welt beschützen. Sie in diesem Moment nicht zu küssen, war vermutlich das Edelste, was er in seinem ganzen Leben vollbracht hatte. Behutsam schob er sie ein wenig von sich und hielt sie an den Schultern fest. »Du musst etwas essen, Liebling. Du musst dich beruhigen und vergessen, was geschehen ist. Es kann nicht gut für dich oder das Baby sein, wenn du dich so verkrampfst.« »Ich… ich glaube nicht, dass ich etwas essen könnte.« »Das musst du aber. Du darfst keine Schwindelanfälle mehr bekommen«, sagte er und zwang sich, sie loszulassen
und an den Kühlschrank zu gehen. »Ich werde dir die Brühe aufwärmen und nachsehen, ob ich ein paar Kräcker finde. Aber diesmal ohne Erdnussbutter.« »Du hast gesagt, dass du fahren willst«, sagte sie von der anderen Seite der Küche her. Er drehte sich um, und ihr Anblick ging ihm unter die Haut. »Ich habe gelogen«, erwiderte er einfach, denn er wusste, dass er nicht fahren konnte. Nicht jetzt. Er konnte sie unmöglich im Stich lassen, aber er wusste auch nicht, wie er bei ihr bleiben konnte. Er brauchte Zeit, um sich darüber klar zu werden. »Ich bleibe hier, bis irgendjemand mich ablösen kann. Jetzt geh und ruh dich aus. Ich bringe dir gleich etwas zu essen. Danach reden wir.« »Ja, das müssen wir«, flüsterte sie. Er hörte, wie sie mit unsicheren Schritten nach oben ging und schaute auf die Uhr über dem Kühlschrank. Sie waren nur drei Stunden unterwegs gewesen, aber das war lange genug, um zu begreifen, dass Sam der wichtigste Mensch in seinem Leben war. Überrascht fuhr er herum, als es an der Hintertür klopfte. »Mrs. Douglas?« sagte er erstaunt, als er öffnete und Sams Vermieterin vor sich sah. »Ich möchte wirklich nicht stören, aber ich habe gerade von dieser schrecklichen Geschichte im Gerichtsgebäude gehört«, begann sie aufgeregt. »Wie geht es der lieben Samantha und ihrem Baby?« »Beiden gut. Der Arzt meint, sie haben die Geiselnahme unbeschadet überstanden.« »Das war einfach großartig, wie Sie mit dem Verbrecher geredet und sie gerettet haben. Ich meine, der Sheriff hat mir alles erzählt, und ich finde…« Sie schüttelte sich, als wäre sie dabei gewesen. »Sie waren absolut heldenhaft.« »Es hat funktioniert, und das allein zählt«, erwiderte
Nick. »Schläft Samantha jetzt?« fragte Mrs. Douglas und schaute an ihm vorbei in die Küche. »Sie hat sich hingelegt, um ein wenig zu ruhen. Möchten Sie hereinkommen? Ich mache gerade die Brühe warm, die Sie ihr freundlicherweise gebracht haben.« »Nein, nein, nein. Ich kann nicht hereinkommen. Ich wollte nur kurz fragen, ob es ihr gut geht. Aber sagen Sie ihr, wenn sie irgendetwas braucht, bin ich für sie da.« »Mrs. Douglas, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun.« »Aber natürlich. Jeden«, sagte sie und presste eine Hand an die Brust. »Könnten Sie vielleicht für einen oder zwei Tage bei Samantha bleiben?« »Oje, ich würde Ihnen und Samantha ja so gern helfen, aber ich fürchte, es geht nicht. Owen macht gerade eine sehr schwere Zeit durch, wissen Sie. Die Schwanzfedern sind schon alle weg, und jetzt fängt er auch noch an den Flügeln an. Es ist einfach schrecklich.« »Könnten Sie nicht jemanden bitten, in Ihrer Abwesenheit auf ihn aufzupassen?« »Er ist im Moment so pflegebedürftig. Nein, das könnte ich nicht tun. Aber falls Sie noch mehr Brühe brauchen oder mal mit mir reden möchten, rufen Sie mich einfach an, ja?« »Danke für das Angebot«, sagte er. »Dann werden Sie also eine Weile bei Samantha bleiben?« Er seufzte unwillkürlich. »Ja, das werde ich. Vielleicht werde ich versuchen, eine Krankenschwester zu finden, die bei ihr einzieht. Aber vorläufig kümmere ich mich selbst um Sam.« »Ich würde Ihnen ja Maria empfehlen, aber die hat selbst Familie. Außerdem klatscht sie für ihr Leben gern und
kann nichts für sich behalten, wissen Sie.« Mrs. Douglas wedelte mit der Hand. »Ich meine, Sie wollen doch sicher nicht, dass man in Jensen Pass über… das hier redet, oder?« »Nein, das will ich wohl nicht.« »Na ja, trotzdem viel Glück. Ich muss jetzt gehen. Der arme Owen braucht seine Medizin. Er hasst sie, und wenn ich sie in sein Wasser tue, kippt er einfach den Napf um. Wenn ich sie in sein Fressen gebe, frisst er einfach nicht. Und dann wird er krank. Der Vogel ist so klug, dass ich ihn nicht überlisten kann.« »Ich glaube, Owen kann sich glücklich schätzen, dass Sie ihn pflegen«, erwiderte Nick. »Genau wie Samantha, dass Sie für sie da sind«, antwortete sie und tätschelte seinen Arm. »Gott segne Sie, junger Mann. Gute Nacht.« »Gute Nacht«, rief er ihr nach, als sie sich umdrehte und in der Dunkelheit verschwand. Als er die Tür schloss, ärgerte er sich über die alte Nachbarin. Sie war immer da, aber nie für einen da. Eine Frau wie Mrs. Douglas hatte er noch nie erlebt. Nick wollte gerade betrübt den Kopf schütteln, da wurde ihm bewusst, dass er eigentlich froh sein sollte. Solange sie sich um ihren seltsamen Papagei kümmerte, würde er bei Sam bleiben müssen. Und das war gut so. Denn noch war er nicht bereit, sie allein zu lassen. Als Sam Louis Francos Waffe am Kopf gefühlt und dem Tod ins Auge gesehen hatte, hatte sie außer der schrecklichen Angst noch etwas empfunden. Eine tiefe Trauer. Sie hätte sterben können, und Nick hätte niemals erfahren, dass das Kind unter ihrem Herzen von ihm war. Und daran wäre sie schuld gewesen. Sie war egoistisch und wollte sich nicht der Wahrheit stellen. Sie lief vor ihr
davon, indem sie auf den richtigen Zeitpunkt wartete. Aber den würde es nie geben. Die Zukunft war viel zu ungewiss, das war ihr heute auf dramatische Weise bewiesen worden. Sie hatte nur die Gegenwart, und die musste sie nutzen. Sie musste es ihm erzählen, und was immer er dann tat oder nicht tat, war allein seine Entscheidung. Er musste es erfahren, bevor er wegfuhr. Er musste wissen, dass das Kind, dem er heute das Leben gerettet hatte, sein eigenes war. Sie hatte kein Recht mehr, es ihm vorzuenthalten. Das Recht hatte sie nie gehabt. Sie hatte es nur geglaubt, und das war falsch gewesen. Als sie sich erschöpft auf die Bettkante sinken ließ, war ihr endgültig klar, dass es zwischen Nick und ihr keine Geheimnisse geben durfte. Sie starrte aus dem Fenster und auf den Pazifik. Sie wusste nicht, welchen Preis sie zahlen musste, wenn die Wahrheit herauskam. Aber wie hoch er auch sein mochte, er war gering im Vergleich zu dem, was ihre Lügen sie kosteten. Sie konnte nicht fassen, was sie Nick angetan hatte. Er musste glauben, dass sie einen Ehemann oder sonst jemanden außer ihm in ihrem Leben hatte. Aber es hatte nur Nick darin gegeben. Sonst keinen. Nick. Ihre Liebe. Ihre einzige Liebe. Sie holte tief Luft und wäre vor Schreck fast zusammengefahren, als sie seine Stimme hinter sich hörte. »Du solltest dich lieber hinlegen.« Sie atmete noch einmal durch, um sich zu beruhigen, und erhob sich langsam. Nick stand auf der anderen Seite des Betts und hielt ein Tablett in den Händen. »Ich… Das konnte ich nicht.« Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Du hast gesagt, wir können miteinander reden.« »Ich habe gesagt, nachdem du gegessen hast.« Er stellte das Tablett auf den Tisch neben dem Bett.
»Nick?« Sie musste ihm endlich die Wahrheit sagen und ihm ihr Herz ausschütten. »Ich muss dir etwas sagen. Etwas, das… ich dir schon längst hätte sagen sollen.« Er richtete sich auf und warf ihr einen fragenden Blick zu. Dann ging er ums Bett herum zu ihr. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er ihr Gesicht zwischen die Hände. »Sam, du brauchst Ruhe und musst etwas essen.« »Nick, ich hätte vorhin sterben können«, platzte sie heraus. Erst bewegte er sich gar nicht, dann streichelte er mit den Daumen ihre Wangen. »Gott, allein der Gedanke daran zerreißt mir das Herz. Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Ich sah dich vor mir stehen, mit der Waffe am Kopf, und plötzlich war alles anders. Ich verstehe es nicht, aber in mir…« Er verstummte, stöhnte leise auf, beugte sich vor und küsste sie. Sein Mund lag auf ihrem, die Berührung war explosiv und alles verschlingend, und jede Angst, die sie an diesem Tag gespürt hatte, verflog ebenso wie der Schmerz. Sie schlang die Arme um ihn, gab dem Verlangen und der Sehnsucht nach und zog ihn an sich. Leben und Tod. Dies war Leben. Sie war am Leben und fühlte sich am lebendigsten, wenn sie in Nicks Armen war. Sie schmiegte sich an ihn, zerrte an seinem Hemd, wollte seine Haut unter ihren Händen spüren. Sie wollte seinen Herzschlag hören. Sie wollte ihre Mitte finden und ihrem Leben einen Sinn geben. So einfach war das. Und zugleich so kompliziert. Er schmeckte ihre Lippen, bevor sein Mund über ihre Wangen, unter den Augen zu einem Ohr glitt und die äußerst empfindliche Stelle fand, die direkt dahinter am Hals lag. Bei jeder Berührung stockte ihr der Atem vor Erregung, und jede Liebkosung steigerte das Verlangen nach mehr davon. Die Leidenschaft ergriff sie beide, und sie
schienen einander nicht mehr loslassen zu können. Die Leidenschaft wuchs mit jedem Kleidungsstück, das sie einander hastig vom erhitzten Leib rissen. Dann lag Sam in ihrem Bett, und Nick stand daneben. Das matte Licht warf Schatten auf seinen nackten Körper. Er versuchte gar nicht erst, das Ausmaß seiner Erregung vor ihr zu verbergen, aber er zögerte. Sein Gesicht lag im Dunkel, und sie konnte es nicht erkennen. Sie begehrte ihn und geriet fast in Panik, als er sie nicht wieder berührte. »Nick«, flüsterte sie und streckte ihm beide Arme entgegen. »Bitte…« Er trat vor und ließ sich langsam auf dem Bett nieder, bis er über ihr war, sie aber noch immer kaum berührte. »Bist du sicher?« fragte er leise. »Ganz sicher?« »Ja«, keuchte sie. »Bitte, nur für diese Nacht. Nur für jetzt.« Er ließ sich sinken, bis sie nebeneinander lagen und sie ihn an ihren Brüsten und Beinen fühlte. Doch anstatt sich zwischen ihre Schenkel zu drängen, strich er mit der Hand behutsam über ihren Bauch, ließ sie nach oben gleiten und umschloss eine Brust. Mit dem Daumen streichelte er die längst feste Knospe, bis ihr Verlangen so groß wurde, dass sie fast aufschrie. Dann lösten seine Lippen die Finger ab, und sie bog sich ihm entgegen. Sie wollte diesem Mann näher sein, als es ein Mensch einem anderen sein konnte. Sie wollte sich in ihm verlieren, in seinem Leben aufgehen und sich nie wieder daraus lösen. Sie wollte ihn lieben, mit Körper und Seele, mit Herz und Verstand. Und genau das tat sie. Sie berührte und erkundete ihn… fühlte ihn erbeben und hörte ihn leise stöhnen. Er liebkoste sie, sie liebkoste ihn. Er küsste sie, sie küsste ihn. Seine Hand glitt an den Innenseiten ihrer Schenkel nach oben, ihre glitt über seinen Bauch nach unten. Sie wand
sich unter seinen Zärtlichkeiten, er unter ihren. »Oh, Sam«, stöhnte er. »Ich habe dich so sehr vermisst.« Er schob sich über sie, stützte sich mit beiden Händen links und rechts von ihren Schultern ab, und sie sah zu ihm hoch. »Ich habe dich auch sehr vermisst«, gab sie zu. Sie fühlte ihn zwischen ihren Schenkeln, nicht drängend, sondern behutsam tastend. Es war wie eine stumme Frage, und als Antwort hob sie ihm einladend ihre Hüften entgegen. Mit geradezu quälender Langsamkeit drang er in sie ein und erfüllte sie, und als sie vollkommen eins waren, hörte alles andere auf zu existieren. Sie bewegten sich nicht. Sie wagten es nicht, denn sie hatten Angst, den einmaligen Zauber dieses Moments zu vertreiben. Erst als Sam das Warten nicht mehr ertrug, schlang sie die Beine um seine Taille und presste sich an ihn. Er stieß einen leisen Laut aus, der sie noch mehr erregte, und begann sich zu bewegen, immer schneller, immer leidenschaftlicher, bis sie nichts anderes mehr spürte als die Lust, die er ihr bereitete. Sam befand sich an einem Ort, an dem es nur Nick und sie gab. Es war ein Ort der Sinne und der Gefühle. Ein Ort, der nur ihnen beiden gehörte. Die Welt außerhalb war verschwunden, unwichtig geworden, verdrängt von den Empfindungen, die sie durchströmten. Von dem Gefühl, eins mit Nick zu sein, ein Teil seiner Seele. Als das alles zu einer nahezu schmerzhaften Ekstase verschmolz, ließ sie einfach los. Ihre Sinne waren so lebendig wie noch nie, jede Zelle ihres Körpers voller Lust, und egal, was nach diesem Moment geschehen würde, Nick gehörte ihr. Das wusste sie. Er würde für immer in ihrem Herzen und ihrer Seele bleiben, und das war genug für ein ganzes Leben. Nick rechnete nicht damit, davon zu träumen, nicht
nachdem er es wirklich erlebt hatte, aber der Traum kam trotzdem. Sam und er, zusammen, aufgegangen ineinander. Er spürte jeden Zentimeter ihres Körpers an seinem, jeden Atemzug, den sie machte, und dann streichelte er sie wieder, bis sein Verlangen erneut entflammte. Er berührte ihre Brüste und fühlte, wie die Knospen wieder fest wurden. Seine Hände glitten abwärts… Das war der Moment, in dem der Traum sich veränderte. Sam war nicht mehr die Sam von eben. Sie hatte einen riesigen Bauch, wohl gerundet. Er spürte eine Bewegung unter seiner flachen Hand, einen Tritt gegen seine Handfläche. Sam war schwanger, hochschwanger. Sie lächelte zu ihm hinauf. Sie sagte ihm, dass das Baby bald da sein würde. Dass sie alle zusammen sein würden, nur sie drei. Für immer. Für immer. Schlagartig erwachte er, der kalte Schweiß wie ein Film auf seiner Haut. Sam lag neben ihm, an ihn geschmiegt, die sanfte Rundung ihres Bauchs an seiner Hüfte. Ihr Haar kitzelte ihn in der Nase, ihr Körper presste sich selbst im Schlaf an seinen, ihre Beine über und unter seinen. Und um sie herum herrschte die Stille der Nacht. Nick lag reglos da, starrte auf das Spiel der Schatten an der Decke und fragte sich, was mit ihm geschah. Am Abend zuvor hatte er gewusst, dass er Sam nicht allein lassen würde, dass er es nicht fertig bringen würde, sie im Stich zu lassen. Er würde bei ihr bleiben, wegen der Angst in ihren Augen, wegen der Tränen, die über ihre Wangen strömten. Und wegen der Sehnsucht, die sie verströmte und die er spürte. Weil sie fast gestorben wäre. Aber er war auch seinetwegen geblieben, aus äußerst egoistischen Gründen. Irgendetwas in ihm ließ es nicht zu, dass er ging, und eigentlich wollte er es auch gar nicht. Als sie dann zu ihm gekommen war, hatte er geglaubt, es wäre nur für eine Nacht. Für eine einzige Nacht. Noch ein Mal, ein letztes Mal.
Um sich immer an sie erinnern zu können. An sie und diese Nacht. Um ihr Bild in sein Herz zu schließen. Zitternd holte er Luft. Irgendwann mitten in der Nacht war alles anders geworden. Etwas, das eine Erinnerung hatte werden sollen, war zur Zukunft geworden. Was immer geschah, das hier war mehr als etwas, das er nur im Gedächtnis bewahren würde. Diesmal würde er Sam nicht einfach gehen lassen. Sie seufzte, schmiegte sich noch dichter an ihn, und er hielt sie fest, vergrub das Gesicht in ihrem Haar und atmete ihren Duft ein. Und dann fühlte er es. Etwas regte sich in ihr, an seiner Hüfte. Das Kind. Eine Sekunde lang hielt er den Atem an und wartete gebannt. Dann bewegte es sich wieder, kaum merklich, wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels. Aber trotzdem so wirklich. An Kinder hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Nie hatte er sich vorgestellt, welche zu haben. Er besaß kein Ego, das davon abhing, dass es nach ihm weiterlebte, und Kinder waren etwas, das er nicht brauchte, nicht wollte. Aber selbst das hatte sich urplötzlich verändert. Er hatte Sams Rundung gesehen, ihren nicht mehr flachen Bauch, diesen zarten Beweis des neuen Lebens, und er hatte ganz andere, ungeahnte Gefühle in sich gespürt. Er hatte sich dagegen gewehrt. Sie waren so neu, so ungewohnt, so verwirrend, ja beunruhigend gewesen. Aber ein Kind, dieses Kind war… die Wirklichkeit. Er schloss die Augen, während die Gedanken auf ihn einstürmten, ihn verwirrten, ihn zu überfordern drohten. Kinder? Er legte die Arme noch fester um Sam. Das Kind eines anderen Mannes? Ein neues Leben? Nein, die Vorstellung, dass er das akzeptieren konnte, war einfach unmöglich. So sehr konnte man sich nicht ändern. So sehr konnte er sich nicht ändern! Aber er wusste, dass ein einziger Moment alles über den
Haufen geworfen hatte. Der Moment, in dem Sam fast gestorben war. Vielleicht hatte dieser Moment mehr in ihm verändert, als er ahnte. Als er fühlte, wie Sam die Finger auf seiner Brust spreizte, als wollte sie seinen Herzschlag spüren, schob er seine Verwirrung beiseite und hob den Kopf, um sie anzusehen. Selbst in der Dunkelheit wusste er, dass sie die Augen geöffnet hatte und ein Lächeln ihre Lippen umspielte. »Bist du wach?« flüsterte sie. Er strich über ihre Wange, fühlte die seidige Haut und versuchte verzweifelt, vernünftig zu bleiben und einen klaren Kopf zu behalten. Alles, was er wollte, waren Antworten auf seine vielen Fragen, doch als Sams Lippen seine Brust berührten, als ihre Zunge wie der Hauch einer Feder über seine Haut glitt, setzte auch der letzte Rest seines Verstands aus. Sein Körper reagierte sofort, presste sich an ihren, wollte ihm nahe sein, und als seine Finger sich in ihr Haar schoben, sich darin verfingen und ihr Gesicht vor seins hoben, war nichts anderes mehr wichtig. Es gab nur noch Sam. Sonst nichts. Die Leidenschaft durchströmte ihn, erfasste und erfüllte ihn. Obwohl er geglaubt hatte, genug von ihr zu haben, spürte er, wie allein und einsam er sich ohne sie fühlte. Er zog sie an sich, fühlte die Hitze ihrer Haut an den Lippen. Und die Schwere ihrer Brüste. Ihre Beine umklammerten ihn, dann war sie über ihm. In ihren Augen blitzte das Verlangen auf, während ihre Lippen sich langsam öffneten. Er schlang die Arme um ihre Taille, als sie sich auf ihn sinken ließ und das Gefühl der Einsamkeit schlagartig verschwand, als wäre es nie da gewesen.
14. KAPITEL Als Sam langsam wach wurde, hörte sie, wie Nick ihr etwas ins Ohr flüsterte. Durch die Augenlider nahm sie mattes Licht wahr, während sie sich zu ihm drehte und seine Wärme am ganzen Körper spürte. »Sam? Ich gehe schwimmen. Wie wäre es mit einem erfrischenden Bad am Morgen? Nur du und ich?« Seine Lippen strichen über ihren Hals. »Hast du nicht Lust mitzukommen?« Obwohl sie inzwischen hellwach war, ließ sie die Augen geschlossen. Sie spürte die Nachwirkungen ihrer Liebesnacht in sich. Ihre Brüste waren empfindlicher als sonst, und sein Duft schien überall an ihrer Haut zu haften. »Geh nur«, hauchte sie. »Bist du sicher?« »Ja, geh ruhig.« »Es wird nicht lange dauern. Bleib einfach so liegen, und bevor du mich vermisst, bin ich wieder da«, versprach er. Dann war er plötzlich fort, und sie schlug die Augen auf. Das milchige Licht des Morgengrauens strömte ins Zimmer. Ein kaltes Licht, so kalt, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Sie drehte sich wieder um, nahm an der Wange den Abdruck wahr, den Nicks Kopf im Kissen hinterlassen hatte und zog es an sich, um das Gesicht darin zu vergraben. Sie holte tief Luft und sog seinen Duft ein, bis er ihren ganzen Körper zu durchdringen schien. Bald würde er zurückkommen, und dann war alles vorbei. Sie wusste, dass er gehen würde. Sie hatte gestern Abend so viel sagen wollen, es aber nicht getan. Aber er musste es erfahren. Und wie immer er reagierte, diese Nacht konnte ihr niemand mehr nehmen. Sie schob das Kissen von sich, stand auf und ging ins Ba-
dezimmer. Sie wusste nicht, wie lange sie unter der Dusche stand, doch als sie herauskam, war das Licht nicht mehr blass und kalt, sondern gelb und warm. Hastig trocknete sie sich ab, bürstete sich das Haar und schlüpfte in den weißen Overall, den sie zum Malen trug. Barfuß eilte sie nach unten. Dann ging sie durch das stille Haus zur Vordertür und auf die Veranda. Der Himmel über ihr war klar und blau, aber vom Ozean her trieben dunkle Wolken aufs Land zu. Ein Sturm, eine Regenfront? Das Ende des schönen Wetters der vergangenen Tage? Ein Omen vielleicht. Sam fröstelte unwillkürlich, stieg die Stufen hinunter und tauchte die nackten Füße in das kalte, noch feuchte Gras. Halb erwartete sie, Nick vom Strand heraufklettern zu sehen, aber es war niemand da. Dann hörte sie hinter sich ein Geräusch und drehte sich um. Er stand in der Tür, in Jeans, einem offenen weißen Shirt, das ihm aus der Hose hing. Das Haar war noch nass und aus der Stirn gekämmt. Er musste wiedergekommen sein, während sie unter der Dusche gewesen war. Die Morgensonne schien ihm ins Gesicht, und bei seinem Anblick wurde ihr warm ums Herz. Was sie für ihn empfand, war mehr als Liebe und so gewaltig, dass sie keinen Namen dafür fand. Sie war dankbar dafür, aber auch zugleich traurig, und nahm dieses einzigartige Gefühl tief in ihre Seele auf. Sie musste daran festhalten, während sie zu Ende brachte, was sie schon gestern Abend hätte tun sollen. »Das ging aber schnell«, sagte sie und blieb zu ihm auf Abstand. »War es nicht schön im Wasser?« »Ich war gar nicht schwimmen. Ich bin nach unten gekommen und habe es mir anders überlegt. Also habe ich nur rasch geduscht und mich angezogen. Dann bin ich wieder nach oben gegangen, um dich zu holen, aber du warst nicht
da. Aber ich wusste, dass du hier draußen sein würdest.« Er kam nicht näher, sondern blieb, wo er war, und betrachtete sie mit leicht schräg gelegtem Kopf. »Ich hatte gehofft…« Er beendete den Satz nicht. »Wir müssen miteinander reden, Sam«, sagte er nur. Sie nickte und schlang die Arme um sich, als würde sie frieren. Doch es war die Verunsicherung, die sie frösteln ließ. »Ja, es ist höchste Zeit«, antwortete sie leise. Erst jetzt ging er über die Veranda, stieg langsam die Treppe herunter und stellte sich vor Sam. Aber er machte keine Anstalten, sie zu berühren. »Hast du je eine… Erleuchtung gehabt? Einen Moment, in dem plötzlich alles, was du nicht verstanden hast, einen Sinn ergab? In dem dir schlagartig klar wurde, worum es dir im Leben eigentlich geht?« Sie biss sich auf die Lippe. Dass es ihr jedes Mal so erging, wenn er sie berührte und wenn das Baby sich in ihrem Bauch bewegte, würde sie ihm natürlich nicht sagen. »Ja, ich schätze, solche Momente kenne ich«, flüsterte sie. »Weißt du was? Ich hatte solche Momente noch nie erlebt. Ich meine, in den fast vierzig Jahren, die ich jetzt auf der Welt bin, habe ich nie eine solche Erleuchtung gehabt… bis jetzt.« Er ging auf sie zu, die Hände an den Seiten, und sein Blick wurde immer eindringlicher. »Sam, ich muss dir…« Er holte tief Luft und schüttelte verärgert den Kopf. »Verdammt, noch vor zwei Minuten wusste ich genau, was ich sagen wollte. Unter der Dusche war ich sogar sehr wortgewandt, aber jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich anfangen soll.« »Nick, bitte, bevor du irgendetwas sagst, muss ich dir etwas erklären.« Er hob die Hand und berührte sie an der Schulter. Seine Finger ruhten nur ganz leicht darauf, trotzdem brachte sie kein Wort mehr heraus. »Nein, lass mich zuerst«, bat er.
»Ich muss es jetzt aussprechen, sonst bekomme ich es gar nicht mehr heraus. Und ich habe schon viel zu viel Zeit verstreichen lassen.« »Nick, ich…« Mit einer Fingerspitze strich er über ihre Lippen. »Bitte, lass mich.« Sie nickte, und er nahm die Hand von ihrer Schulter. Als er auch noch einen Schritt nach hinten machte, war der alte Abstand zwischen ihnen wieder hergestellt. »Ich habe lange nachgedacht«, begann er. »Und jetzt ist mir endlich klar, warum ich nicht abfahren konnte, warum ich geblieben bin, obwohl ich guten Grund gehabt hätte, es nicht zu tun. Warum ich überhaupt hergekommen bin. Es war nicht das Medaillon, und es waren nicht einmal die Träume.« »Träume?« »Schon gut. Die sind nicht wichtig«, wehrte er ab. »Viel wichtiger ist, dass ich endlich begriffen habe, was ich will. Ich will dich. Ich will bei dir sein. Und als Franco dir seine Waffe an den Hals hielt und drohte, dich zu erschießen, wurde mir bewusst, dass ich ohne dich gar nichts hätte. Ich hätte gar nichts. Absolut nichts.« Dann streichelte er zärtlich ihre Wange, und dieses Mal ließ die Berührung sie erbeben. »Ohne dich, Sam, ist alles andere unwichtig.« Er senkte die Stimme. »Und ich will nicht ohne dich weiterleben. Ich will dich und das Baby. Und falls der Vater irgendwann wieder auf der Bildfläche erscheint…« Er nahm die Hand von ihrer Wange. »Ich kann nicht versprechen, dass ich ein perfekter Vater sein werde, aber verdammt, ich werde mir die größte Mühe geben. Ich werde alles lernen, was es zu lernen gibt, und du wirst mit dem Baby nicht allein sein. Wir werden einen Weg finden. Wir werden es schaffen, das verspreche ich dir.« Sie hörte, wie seine Worte tief in ihr widerhallten. Worte,
von denen sie wusste, dass er sie ernst meinte. Dass sie von Herzen kamen. Worte, die allerdings nichts von Liebe sagten. Sie fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie wollte sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen, wollte nicht weinen, und sie wehrte sich so heftig dagegen, dass sie kaum noch atmen konnte. »Das Baby«, flüsterte sie. Er schloss kurz die Augen. »Ich weiß, du hast da diesen Typen, und ich habe keine Ahnung, wie deine Beziehung zu ihm aussieht, aber… er ist nicht hier. Wie viel bedeuten du und das Kind ihm? Er hätte dich nicht allein gelassen, wenn ihr ihm am Herzen liegen würdet. Überlass ihn mir. Ich kümmere mich um ihn.« »Es gibt niemanden«, hörte sie sich sagen. »Was?« Sie biss sich so fest auf die Lippe, dass sie sich wunderte, kein Blut zu schmecken. »Es gibt niemanden«, wiederholte sie. »Nur dich.« »Wovon redest du?« »Von dir, Nick, von dir.« Sie presste die Hände auf den Bauch und fühlte, wie das Baby sich bewegte. Es drückte gegen ihre Hände, aber sie senkte den Blick nicht, sondern sah weiterhin nur Nick an. »Du bist der Vater.« »Sam, hör auf damit. Sosehr wir uns vielleicht auch wünschen, alles wäre anders gekommen, wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen, auch wenn es uns nicht gefällt. Wir sollten nicht versuchen, uns etwas vorzumachen.« »An dem Abend ging es dir so schlecht, und ich war da, und du…« Sie zuckte mit den Schultern, als könnte sie ihre innere Anspannung dadurch abschütteln, aber es half nicht. Nicht, wenn er sie anstarrte, als hätte sie den Verstand verloren. »Du und ich, wir waren im Wohnzimmer, und ich habe dich geküsst. Einfach nur, um dir Lebewohl zu sagen, und dann…« Die Tränen strömten, und sie wischte sie hastig fort. »Wir… wir…«
Mit einem einzigen schnellen Schritt überbrückte er die Distanz zwischen ihnen. Wenige Zentimeter vor ihr kniff er die Augen zusammen. »Willst du damit etwa sagen, dass wir an dem Abend miteinander geschlafen haben?« fragte er mit gepresster Stimme. Sie nickte. »Du meine Güte«, murmelte er. Sie sah und hörte, wie er nach Luft schnappte. »Und ich war so betrunken oder von dem Medikament so benommen, dass ich dachte… ich dachte, es wäre nur ein Traum gewesen! Du willst allen Ernstes behaupten, dass wir miteinander geschlafen haben und du einfach aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen bist… ohne mir etwas zu sagen?« »Nick, wir waren geschieden«, flüsterte sie, und jedes Wort zerriss ihr das Herz. »Geschieden? Hast du die Papiere unterschrieben, bevor oder nachdem wir miteinander geschlafen haben?« fragte er mit plötzlicher Schärfe. »Danach.« Er zeigte auf ihren Bauch, eine ruckartige Geste, die sie völlig unvorbereitet traf und erschreckt zusammenzucken ließ. »Und das… das Baby… das ist an dem Abend passiert?« fragte er atemlos. »Es gab keinen anderen Mann, keinen Typen, mit dem du ins Bett gestiegen bist, nachdem du mich verlassen hattest?« Er stieß es wütend hervor, und sein Zorn steckte sie an. Die Verzweiflung, die ihr geholfen hatte, ihm die Wahrheit zu sagen, blieb auf der Strecke. »Ich bin mit niemandem außer dir ins Bett gestiegen«, entgegnete sie aufgebracht. »Du hast mich die ganze Zeit angelogen? Du hast mich glauben lassen, dass es irgendwo da draußen einen Typen gibt? Einen Mistkerl, der das Baby nicht wollte und dich und euer gemeinsames Kind im Stich gelassen hat?« »Einen Mistkerl habe ich dich nie genannt«, wisperte
sie. »Aber du wolltest kein Baby, und mich wolltest du doch ganz gewiss auch nicht, oder?« Die Frage hing zwischen ihnen, und nichts konnte sie unausgesprochen machen. Es war eine berechtigte Frage, die auf die Wahrheit zielte, und Nick versuchte gar nicht erst, sie abzutun oder gar zu beantworten. Er starrte sie nur stumm an, dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf. »Lass mich nicht einfach so stehen!« rief Sam ihm nach, bevor er im Haus verschwinden konnte. »Ich bin noch nicht fertig!« Er blieb stehen, mit dem Rücken zu ihr, und erst nach einigen Sekunden wandte er sich langsam um. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. An seiner Wange zuckte ein Muskel, und in seinen Augen blitzte der nur mühsam unterdrückte Zorn. »Ich dachte, du wärst es.« »Nein, das bin ich nicht.« »Was denn noch?« »Das war’s? Erst erzählst du mir, dass du mich brauchst und wir es schon zusammen schaffen werden, und dann drehst du dich um und gehst einfach davon? Du steigst in deinen Wagen und fährst ab?« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. Der Schmerz war überwältigend, aber sie konnte jetzt nicht mehr aufhören, so weh es auch tat. »Und da fragst du dich, warum ich dir nichts von dem Baby gesagt habe? Wie hättest du denn reagiert, wenn ich es dir sofort erzählt hätte? Hättest du darauf bestanden, dass ich es… abtreibe? Die Vaterschaft geleugnet, um nichts mehr damit zu tun zu haben? Das Land verlassen, damit ich dich nicht gefunden hätte? Warum um alles in der Welt hätte ich es dir sagen sollen?« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Du siehst doch, wie du reagierst. Ich bereue schon jetzt, dass ich es dir erzählt habe.«
Nick spürte, wie seine Welt vollends aus den Fugen geriet. Als er aus der Dusche gekommen war, hatte er seine Zukunft geordnet und geplant gehabt. Alles war im Lot und gehorchte der Vernunft. Jetzt war alles wieder durcheinander und nicht zu kontrollieren, und er wollte nichts lieber, als irgendwohin zu gehen und endlich Ruhe und Frieden zu finden. Seinem Leben einen Sinn zu geben. Nein, das hatte er schon versucht, indem er hierher kam. Und es hatte nicht funktioniert. Er starrte Samantha an. Auf die Tränen, die sie ignorierte, obwohl sie ihr über das Gesicht liefen. Auf die Lippen, die sie zusammenpresste, um nicht zu schluchzen. Oh, wie sehr er diese Frau liebte. Diese Erkenntnis erschütterte ihn bis ins Mark. Es war eine Realität, die nicht zu leugnen war. Eine Liebe, in der sich Schmerz und Verwirrung, Sehnsucht und Verlangen mischten. Aber es war Liebe, das stand fest. Und er konnte nicht einfach fortgehen. Also drehte er sich um, kehrte zu ihr zurück. Er stand dicht vor ihr, berührte sie jedoch nicht. »Sam, ich mache das hier nicht richtig, das weiß ich. Aber ich habe so etwas noch nie getan.« »Du hast dafür gesorgt, dass du es nie tun musstest. Du wolltest keine Kinder, daran hast du keinen Zweifel gelassen. Ich habe mich damit abgefunden, Nick, und du brauchst auch dieses Baby nicht zu wollen. Ich fand nur, dass du es wissen solltest. Ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen, aber ich hatte Angst davor, alles noch schlimmer zu machen. Und genau das ist es ja jetzt auch geworden.« Ihre Trauer brach ihm das Herz. Ihre Trauer und das, was er ihr angetan hatte. Er hätte nie gedacht, dass er einem anderen Menschen so viel Leid zufügen konnte, wie er es bei Sam getan hatte. Vorsichtig hob er die Hand und strich ihr über die feuchten Wangen. »Bitte, hör auf. Sag
so etwas nicht… bitte.« Sie schüttelte den Kopf. »Geh einfach nur, Nick. Es ist okay. Mach dir keine Gedanken um mich. Ich schaffe es schon.« »Sam, ich werde nicht gehen. Selbst wenn ich es versuchte… ich würde es gar nicht bis zum Wagen schaffen. Ich würde immer wiederkommen. Weil ich es muss.« Mit großen Augen sah sie ihn an. »Wie meinst du das?« Er richtete sich auf. »Hör mir jetzt gut zu, Sam. Denn ich werde etwas sagen, das ich in meinem ganzen Leben noch nie gesagt habe. Zu keinem Menschen. Verstehst du das?« fragte er fast beschwörend. Sie nickte stumm. »Okay, hier kommt es.« Er zögerte. Ein allerletztes Mal. »Ich liebe dich, Samantha. Ich liebe dich, seit ich dich im Gerichtssaal gesehen habe, und ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Das Problem ist nur… ich bin so dumm, so beschränkt, dass ich erst jetzt begriffen habe, dass das, was ich für dich empfinde, Liebe ist.« Er senkte den Blick. »Die einzige Liebe, die ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte, dauerte ziemlich genau drei Jahre und endete mit einer Scheidung. Und das wiederholte sich. Immer wieder. Die Liebe war nie von Dauer. Kaum hatte ich wieder Vertrauen gefasst und geglaubt, ich könnte etwas davon abbekommen, war sie auch schon vorbei. Aber ich habe sie nie am eigenen Leib gespürt. Ich habe nie gewusst, dass die Liebe ein Gefühl ist, das einen erwischt, wenn man am allerwenigsten damit rechnet. Dass durch sie ein anderer Mensch zum Wichtigsten wird, das es für einen auf der Welt gibt. Ich wusste es nicht… bis jetzt.« Er stand vor ihr und hatte gerade mehr über sich und seine Gefühle preisgegeben als jemals zuvor in seinem ganzen Leben.
Er hatte seine Seele entblößt, und sie sah ihn nur an und sagte nichts. Dann atmete sie tief durch und gab sich einen Ruck. »Und was ist mit dem Baby?« flüsterte sie. »Du hast Recht, Sam. Ich wollte nie Kinder. Niemals. Aber das war nur, weil ich nie jemandem begegnet war, mit dem ich zusammen sein wollte. Niemandem, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Denn wenn ich früher an Kinder dachte, dachte ich an Militärschulen und teure Internate und an Eltern, die in verschiedenen Ländern lebten und einander nicht ausstehen konnten.« »Und jetzt? Woran denkst du jetzt?« »Jetzt habe ich dich gefunden.« Er hielt es einfach nicht mehr aus, sie nicht zu berühren. Also legte er die Hände auf ihre Schultern und ließ sie an ihrem Hals nach oben gleiten, bis sie das Gesicht umschlossen. »Sag mir, dass es noch nicht zu spät ist. Sag mir, dass du mich nicht hasst und dass du mich wieder in dein Leben lässt. Ohne dich habe ich keins, weißt du. Gar keins.« Ein vollkommen reines, ungetrübtes Glück hatte Sam noch nie erlebt. Nirgendwo hatte sie sich wirklich zu Hause gefühlt, nicht einmal hier in dem kleinen Cottage über dem Meer. Aber in diesem Moment wusste sie, dass sie endlich angekommen war. Sie schmiegte sich in Nicks Arme und hielt sich einfach nur an ihm fest. Die Welt, die sich eben noch gedreht hatte, wurde langsamer, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sie hatte ihren Anker gefunden. Nick. Sie drückte ihn an sich, und als sie fühlte, wie das Baby gegen ihre Bauchdecke trat, wusste sie, dass auch Nick es gespürt hatte. »Da meldet sich noch jemand zu Wort, was?« flüsterte er. »Oh ja«, hauchte sie. Er umrahmte ihr Gesicht mit beiden Händen und sah ihr
tief in die Augen. »Wir können es schaffen, meinst du nicht auch?« »Das hoffe ich. Aber deine Arbeit… Ich möchte nicht in Los Angeles leben, aber du hast dort deine Kanzlei, und…« Sie hatten noch nicht einmal richtig angefangen, und schon wurde es kompliziert. »Auch darüber habe ich unter der Dusche nachgedacht. Was hältst du davon, wenn wir halbe-halbe machen?« »Wie meinst du das?« fragte sie verwirrt. »Wir leben einen Teil der Zeit in Malibu, den Rest verbringen wir hier in Jensen Pass. Ich habe hier schon meinen ersten Mandanten. Louis Franco. Er ist schuldig und braucht einen guten Strafverteidiger, wenn er nicht sein ganzes Leben hinter Gittern verbringen will. Ich könnte Swicker bei dem Fall helfen.« »Ist das dein Ernst?« »Natürlich. Aber ich habe noch eine Frage. Und alles hängt davon ab, wie du sie beantwortest.« Sie hielt den Atem an. »Welche Frage?« »Könntest du… würdest du mich lieben?« »Oh, Nick. Das habe ich dir doch schon gesagt, als du mich gefragt hast, warum ich mit dem Vater des Babys geschlafen habe. Ich habe dir gesagt, ich habe es getan, weil ich ihn liebte.« Seine Hände zitterten an ihren Wangen. »Ich liebe dich, Nicholas.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Ich liebe Nicholas Viera! Ich liebe meinen Ehemann!« rief sie so laut sie konnte. »Oh, meine Lieben, das ist ja wundervoll!« Erstaunt zuckten sie zusammen und drehten sich nach der begeistert klingenden Stimme um. Zwischen den Bäumen tauchte Mrs. Douglas auf. Die alte Lady trug wie immer Jeans und eine weite Bluse. Nur der Strohhut fehlte dieses Mal. Stattdessen saß auf ihrer Schulter ein dürrer grauer Vogel, der aussah wie ein gerupftes
Hühnchen. Owen. Mrs. Douglas hob grüßend eine Hand, als sie über den Rasen auf Sam und Nick zukam. »Guten Morgen«, rief sie. »Wir wussten nicht, dass Sie hier sind«, gestand Nick verlegen. »Ich habe Sie beide von meinem Garten aus gehört«, erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln, das beiden galt. Nick zog Sam an seine Seite, und sie schmiegte sich an ihn, denn sie hatte nicht vor, ihn auch nur eine Minute loszulassen. »Das tut mir Leid. Ich hoffe, wir haben Sie nicht gestört.« »Oh nein, entschuldigen Sie sich nicht. Es ist herrlich, zwei so richtig glückliche Menschen um sich zu haben.« Der Vogel zupfte an ihrem Haar, aber sie schien es gar nicht zu bemerken. »Ich hatte nämlich gehofft, dass Sie unsere Samantha lieben, es nur nicht wissen. Und wie ich sehe, hat meine Hoffnung nicht getrogen.« »Sie hatten ganz Recht, Mrs. Douglas. Sie sind eine sehr weise Frau«, erwiderte Nick. Mrs. Douglas ging auf ihn zu und berührte seinen Arm. »Also, welche Absichten haben Sie mit Samantha und dem kleinen Wesen in ihrem Bauch?« »Erst einmal müssen wir wieder heiraten. Dann nehmen wir alles, wie es kommt. Aber zusammen.« »Kann ich irgendetwas für Sie beide tun? Bei der Hochzeit helfen? Babysitten, wenn das Kleine auf der Welt ist?« Nick lachte. »Lassen Sie uns darüber reden, wenn es so weit ist, ja? Jetzt sollten Sie Owen wieder nach Hause bringen und sich um ihn kümmern. Ich werde mich um Sam kümmern.« Sie lächelte ihn an. »Wirklich?« »Wirklich«, bestätigte er.
»Guter Mann«, lobte sie ihn und wandte sich ihrem Papagei zu. »Komm, Owen, gehen wir nach Hause. Es ist Zeit für deine Medizin.« Der Vogel krächzte, als sein Frauchen mit ihm über den Rasen davonging. »Ach, übrigens…« Mrs. Douglas drehte sich noch einmal um. »Falls Sie beide schwimmen gehen wollen, von meinem Haus aus kann ich den Strand nicht sehen.« Dann verschwand sie zwischen den Bäumen. Nick drehte sich zu Sam um, und sie brachen in ein befreiendes Lachen aus bevor sie einander losließen. Sam wurde als Erste wieder ernst und sah ihn an. »Was denkst du? Wollen wir schwimmen gehen?« »Ich habe noch immer keine Badehose«, antwortete er mit einem viel sagenden Lächeln. »Mrs. Douglas hat gesagt, dass sie von ihrem Haus aus nichts sehen kann.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Doch als sie ihm anschließend in die Augen schaute, verriet sein Blick, dass er gar nicht so sehr an einem Bad im Meer interessiert war. »Wir gehen später schwimmen«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Im Moment schwebt mir etwas anderes vor.« Sani legte den Arm um Nicks Taille und kehrte mit ihm zum Cottage zurück. Als sie es betraten, wusste sie, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Zuhause besaß. Ein richtiges Zuhause. Mit Nick.
EPILOG Ein Jahr später Die Kunstgalerie von Jensen Pass war der gesellschaftliche Mittelpunkt der kleinen Stadt. An diesem Abend beherrschten funkelndes Kristall, duftende Rosen und fas-
zinierende Bilder die Galerie. Die Gäste, überwiegend Einheimische, dazu ein paar auswärtige Kritiker, schlenderten durch die Ausstellung, tranken gekühlten Champagner und knabberten an leckeren Pralinen. Dr. Barnet, im Smoking, begleitete seine Frau, eine kleine rundliche Frau, die ein lavendelfarbenes Abendkleid trug. Auch Maria war gekommen, mit ihrem Mann, einem stämmigen Lastwagenfahrer. Nick sah quer durch den Raum zu Sam hinüber. Seine junge Ehefrau bezauberte ihn immer wieder. Ihre Schönheit raubte ihm auch an diesem Abend wieder den Atem. Sie war eine hinreißende Erscheinung in dem langen silbrig schimmernden Kleid. Ihr Haar war zu einer eleganten Frisur gesteckt, in der mit Diamanten besetzte Clips glitzerten. Es war Sams Idee gewesen, ihre Bilder hier in Jensen Pass auszustellen. Und ihre Arbeiten kamen gut an. Sie zeigten örtliche Ansichten und Szenen und waren voller Leben. Nick warf einen Blick auf das Gemälde, das sie in jenen Tagen fertig gestellt hatte, als sie sich nach der langen Trennung wiedergefunden hatten. Das Bild des blonden Kindes, das unbeschwert am Strand spielte. Sam hatte Änderungen vorgenommen. Das Gesicht des Kindes auf dem Gemälde ähnelte jetzt dem des Babys, das sie beide bekommen hatten. Er nahm seine Tochter auf den Arm und freute sich einmal mehr darüber, dass sie die hellen Haare und grünen Augen ihrer Mutter geerbt hatte. »Deine Mommy macht das toll«, flüsterte er ihr ins Ohr. Die sieben Monate alte Jensen Samantha Viera griff mit ihrer winzigen Hand nach der roten Nelke, die im Knopfloch seines Smokings steckte. »He, nein. Die kann man nicht essen. Die schmeckt nicht«, sagte er lächelnd. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter, und als er
sich umdrehte, sah er Greg vor sich. Sein hoch gewachsener, schlanker Freund grinste ihm unter den roten Haaren zu. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Tag noch erleben würde«, sagte er. »Sani hat es verdient«, erwiderte Nick und hielt nach seiner Frau Ausschau, bis er sie auf der anderen Seite der Galerie entdeckte. »Das meine ich nicht, Nick. Dass sie Talent hat, ist nicht zu übersehen. Ich rede von dir, Nicholas Viera, dem Vater, dem Ehemann. Was für einen langen, kurvenreichen Weg hast du hinter dir.« Sehr lang und sehr kurvenreich. Und sehr schön. Er warf einen liebevollen, ja stolzen Blick auf seine Tochter, die sich gerade ausgiebig mit dem Kragen seines Hemds beschäftigte. »Es war wie ein Schock, das gebe ich zu.« »Kein Bedauern?« fragte Greg sanft. »Oh doch, oft sogar, aber seit mir ein Licht aufgegangen ist, nicht mehr.« »Sie sabbert.« »Wie bitte?« »Deine Tochter. Sie sabbert gerade auf dein Jackett«, sagte Greg, während er ein Taschentuch herausholte und es seinem Freund reichte. Bevor Nick es nehmen und sein Revers abwischen konnte, griff Jensen danach und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. »Vielen Dank für das neue Spielzeug«, raunte der stolze Vater Greg zu. Nick sah sich wieder im Raum um, suchte nach Sam, weil er sie sehen wollte. Das war etwas völlig Ungewohntes für ihn. Es hatte vor ungefähr einem Jahr begonnen. Ihr Anblick hatte ihm gefehlt. Er hatte sich danach gesehnt, und wenn er Sam länger nicht gesehen hatte, hatte er so etwas wie Entzugserscheinungen gespürt. Er wandte sich wieder Greg zu, doch der Anwalt war zu einer anderen Gruppe von Gästen geschlendert, und an
seiner Stelle stand Sam vor ihm. Er lächelte ihr zu, und Jensen streckte die Ärmchen nach ihrer Mommy aus. Sam nahm ihre Tochter auf den Arm und schaute über den Kopf des Babys hinweg, als es sich an ihre Brust kuschelte. »Meinst du, es wäre sehr unhöflich, wenn wir jetzt aufbrechen würden?« »Es ist deine Ausstellung. Was denkst du?« Sie beugte sich zu ihm. »Ich möchte mit dir zusammen sein, und Mrs. Douglas hat angeboten, mit Jensen zum Tierarzt zu gehen. Doc Malone hat gerade einen Schimpansen in Pflege, und alle Kinder wollen ihn sich ansehen.« »Das heißt also, wir haben das Haus für uns allein?« Sie lächelte zu ihm hinauf. »Das heißt, wir haben den Strand für uns allein. Ist das nicht noch besser?« Sie brauchte ihn nur anzusehen, und schon wurden Träume zur Wirklichkeit. »Gute Idee«, erwiderte er. Gemeinsam brachten sie ihre Tochter zu Mrs. Douglas und schlüpften ein paar Minuten später unauffällig durch die Hintertür nach draußen. »Ich fahre«, sagte er, als sie sein Cabrio erreichten. Auf der Fahrt zum Cottage griff er nach Sams Hand. »Badehose und Bikini oder… nicht?« »Na ja, Mrs. Douglas wird nicht in der Nähe sein, also würde ich sagen… nicht.« Als die Einfahrt vor ihnen auftauchte, fuhr er unwillkürlich schneller. Er parkte direkt vor dem Cottage, hob Sam vom Beifahrersitz auf die Arme und trug sie quer über den Rasen zur Klippe. Die Sonne ging langsam unter, und Meer und Himmel entfalteten ihre Farbenpracht. Als sie zum Rand der Klippe kamen, setzte Nick Sam ab. Er nahm ihre Hand und machte sich mit ihr an den Abstieg zum Strand. Auf dem noch immer warmen Sand zogen sie sich wortlos aus und rannten Hand in Hand ins Wasser. Der Kuss war voller Leidenschaft, und als sie Nick zärt-
lich streichelte, war sein Verlangen nicht mehr zu zügeln. Sam hielt sich an seinen Schultern fest, schlang die Beine um seine Taille, und während die Wellen sie sanft umspülten, drang er in sie ein. Es war ein ungeheuer sinnliches, fast unwirklich anmutendes Erlebnis, und Nick wusste, dass er mehr davon wollte. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich durch das flache Wasser ans Ufer. Sie eilten über den Strand dorthin, wo sie im Schutz der Felsen ihre Handtücher gelassen hatten. Nick breitete sie aus und griff nach Sam. Sie warf sich zwischen seine Arme, und er ließ sich mit ihr auf die Handtücher fallen. Er wollte, dass es für immer dauerte, doch kaum war er wieder ganz bei ihr, löste seine Geduld sich in unbändiger Lust auf. Er versank in ihr, und selbst wenn sie beide zusammen einhundert Jahre alt würden, würde er nie genug von ihr bekommen. Sam nahm ihn in sich auf, bog sich ihm entgegen, und als sie die ersehnte Erfüllung fanden, war es ein atemberaubender Moment. Obwohl er ihnen einzigartig erschien, wussten sie beide, dass sie ihn noch oft erleben würden. Sam lag in seinen Armen, die Wange an seinem Herzen. »Das war aber ein kurzes Bad im Meer«, flüsterte sie. »Wir haben Zeit, mein Liebling, wir haben viel Zeit«, antwortete er. »Wir haben ein ganzes Leben Zeit.«
-ENDE-