Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Werner Toelcke Die Chance
Kriminalroman
Die Geschicht...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Werner Toelcke Die Chance
Kriminalroman
Die Geschichte spielt Anfang der 70er Jahre in Hamburg. Barkassenführer Ahrens, ein Mann um die Vierzig, glaubt, ihm werde noch einmal die Chance seines Lebens geboten, als er Lore Pohl kennenlernt, die sich ihm in schwieriger Situation zuwendet. Zwar muß er zunächst mit ihr nach ihrem vermißten Liebhaber suchen, zwar gerät er dadurch in Konflikt mit einflußreichen Leuten, zwar wird er, je nachdem, zum Mit- oder Gegenspieler der Kriminalpolizei, mit einem Wort: zwar wird er in einen Strudel unerklärlicher Ereignisse gerissen, aber schließlich gelingt es ihm bei alldem, den Kopf oben zu behalten und auch herauszufinden, ob er in Lore Pohl zu Recht seine Chance sah. Dies ist eine handfeste, also spannende, originell erzählte und künstlerisch überzeugende Kriminalstory.
Werner Toelcke
Die Chance
Verlag Das Neue Berlin
Die Nacht, 22 Uhr 40 1. Sie arbeitete mit ganzer Hingabe, wirklich, und es war schon eine Freude, ihr zuzusehen. Sie hatte das Einwickelpapier und die Schnüre von den Kartons mit elegantem Schwung rings um sich her verstreut. Nun war sie dabei, die Garderobe aus den bunten Schachteln in die Schweinslederkoffer zu packen. Die befanden sich aufgeklappt auf der Liege mitten in dem großen Raum. Meine Güte, was Frauen auf Reisen alles mitnehmen! Ich beobachtete sie schon eine Weile lang, mindestens seit fünf Minuten. Ich stand draußen auf der Terrasse, außerhalb des Lichts, das durch die Terrassentür drang, und da weder Gardinen noch Vorhänge vorgezogen waren, konnte ich alles gut überblicken. Ihre Geschäftigkeit faszinierte mich. Sie selbst tat es nicht minder. Diese Frau, die ich nun schon zum zweiten Mal in der unmittelbaren Umgebung des Maklers Ofterdinger antraf, verwirrte mich. Ich hätte es nur schwer erklären können, wenn man mich gefragt hätte, aber von ihr ging etwas aus, das ich an Frauen mochte. Vielleicht lag es im Ausdruck ihres Gesichts, vielleicht in der Art, wie sie sich bewegte, ich weiß nicht. Ich stand, ohne mich zu rühren, und sah ihr zu. 6
Dabei hätte ich längst zu Hause sein sollen. „Tun Sie mir einen Gefallen“, hatte mich Kommissar Schnabel gebeten, als wir uns am Hauptbahnhof trennten, „fahren Sie nach Hause, und bleiben Sie in Ihrer Wohnung, bis ich Sie morgen früh anrufe. Wollen Sie mir das versprechen?“ Ich versprach ihm gar nichts. Ich setzte mich in ein Taxi und folgte ihm in gehörigem Abstand. Die Fahrt ging durch ein paar Gassen und über die Kennedybrücke auf die linke Alsterseite hinüber. Dort liegt der Stadtteil Harvestehude. Harvestehude ist das, was man eine gute Wohngegend nennt. Pöseldorf jedoch, ein Teil von Harvestehude zwischen Mittelweg und Alsterufer gelegen und das Ziel unserer Fahrt, ist das Größte. Darüber gibt es nichts mehr. Zumindest glauben das die Leute, die dort leben, und die Grundstückspreise scheinen ihnen recht zu geben. Ich verließ das Taxi in der Milchstraße vor der „Pizzeria da Mario“. Um diese Zeit ging es in dem Lokal hoch her. Manchmal ließen sich Stars des Showgeschäfts hier blicken, um ihren Martini oder Wodka zu trinken, und die zogen natürlich Besucher an. Romy Schneider und Vicky Leandros, ja sogar Marlon Brando sollten schon einen bei Mario geschnasselt haben. Hatte ich gehört. Gesehen hatte ich sie nicht, weil ich nicht bereit bin, fünfzehn Mark und mehr für eine Pfütze in einem Glas zu bezahlen. Ich ging die paar Schritte zur Magdalenenstraße zu Fuß. Dort sah ich den Volvo des Steuerfahnders Sieg in der Nähe zur Einfahrt der Ofterdinger-Villa stehen. Sie hatten die Lichter ausgeschaltet und mußten im Wagen sein, denn ich bemerkte sie nirgends. Im Haus waren sie nicht. Schnabel hatte mir zähneknirschend erzählt, es sei ihm untersagt worden, das Gelände zu betreten. Ich überlegte nicht lange. Ich zog mich am Eisengitter des Zauns hoch, vor dem ich stand, und sprang auf der anderen Seite hinab. Es waren weitläufige Gartenanlagen mit Bäumen und Buschwerk. Bis zu Ofterdingers Villa 7
hatte ich an die zweihundert Meter zurückzulegen, die schaffte ich in der Dunkelheit spielend; niemand sah mich.
2. Die Frau war inzwischen mit dem einen Koffer fertig. Sie drückte den Deckel nieder und ließ die Schlösser einschnappen. Dann zerrte sie den Lederriemen fest, der dem Koffer Halt gab, und kam aus ihrer gebeugten Stellung. Sie reckte den Kopf in die Höhe, wobei sich der Körper bis in die Fußzehen straffte und einige Rundungen erkennen ließ. Und dann wandte sie sich um, blickte durch den Raum zur Terrassentür und mir direkt ins Gesicht. Ich erschrak tief. Sie stand ohne erkennbaren Ausdruck da und starrte mich an. Ich war nicht sicher, ob sie mich wirklich sah. Eigentlich konnte sie es nicht, denn sie war durch das Licht im Zimmer geblendet, aber dieser Blick von ihr machte mich ganz kribbelig. In einem Bogen schlich ich, mich außerhalb des erhellten Teils der Terrasse haltend, zur Hauswand. Schon im selben Augenblick bereute ich, daß ich diese Richtung genommen hatte. Ich hätte im Garten verschwinden sollen; denn nun hörte ich, wie die Fenstertür geöffnet wurde. Sie trat heraus. Ich preßte mich gegen das Mauerwerk und rührte mich nicht. Sie stand nur wenige Schritte von mir entfernt, so nah, daß ich ihren Atem hörte. Sie hätte nur ihren Kopf drehen müssen, um mich zu sehen, aber sie tat es nicht. Sie starrte geradeaus in die Dunkelheit. Ich weiß nicht mehr, wie lange das Ganze dauerte, wie lange wir so auf Tuchfühlung nebeneinander standen. Eine Minute oder zwei? Vielleicht nur Sekunden? Manchmal können einem Sekunden zur Ewigkeit werden, wie man so sagt. Jedenfalls trat sie, ohne mich bemerkt zu haben, ins Zimmer zurück und schloß die Tür. Ich hörte, wie sie die Vor8
hänge vorzog. Draußen wurde es dunkel. Ich atmete auf. Eine Weile später schlich ich zum Rand der Terrasse und schaute zur Straße. Das Gelände fiel ein wenig ab, und so konnte ich die Straße gut überblicken. Ich sah den Volvo unten stehen, und ich erkannte nun auch Kommissar Schnabel und den Steuerfahnder Sieg, die sich die Beine vertraten. Sie gingen zur nächsten Straßenlaterne, wendeten und schlenderten zum Wagen zurück, wobei die Glatze des Kommissars weithin leuchtete. Schnabel lehnte sich, seine Pfeife stopfend, gegen die Tür zum Fahrersitz, und Sieg reichte ihm eine Schachtel Zündhölzer. Der Kommissar strich eins davon an und hielt es gegen die Pfeife. Es war mucksmäuschenstill in der Gegend, und so hörte ich ihre Stimmen klar und deutlich. „Wie lange noch?“ fragte Sieg. „Von mir aus die ganze Nacht“, antwortete Schnabel. Ein Seufzen schwebte durch die Dunkelheit zu mir, das mußte vom Steuerfahnder kommen. Der Kommissar qualmte ungerührt und schaute zur Terrasse herüber, auf der ich stand, aber er konnte mich nicht erkennen. Außerdem glaubte er mich zu Hause, dort sollte ich sitzen und warten, bis er mich morgen früh anrufen würde. Um nichts in der Welt hätte ich das getan. Ich schlich zurück zur Fenstertür. Vorsichtig, ohne einen Laut, drückte ich die Klinke nieder; ebenso vorsichtig schob ich die Tür auf. Zwischen Tür und Vorhang gab es einen Zwischenraum, gerade so breit, daß ich darin stehen konnte. Durch einen Spalt sah ich sie. Sie lehnte gegen einen Konsoltisch, der sich an der Wand zwischen einer Flügeltür und dem Durchgang zum Flur befand. Das Wandtischchen war eine reichverzierte und reichvergoldete Angelegenheit. Zwischen den geschwungenen Beinen lag eine Putte, die wiederum zwischen ihren Beinen ein kleines Fäßchen trug. Daraus ergoß sich Wein, in goldenem Überfluß erstarrt. Der Tisch diente als Bar, wie die 9
zahlreichen Flaschen, Karaffen und Gläser darauf auswiesen. Darüber befand sich, mit vergoldeten Blumenornamenten an den Rahmenseiten verziert, ein mächtiger Spiegel. Beeindruckend das Ganze, und sie davor nicht minder! Sie musterte sich im Spiegel und schien mit ihrem Äußeren nicht so zufrieden zu sein, wie ich es war. Etwas Kritisches lag in ihrem Blick. Mit einer Bürste fuhr sie durch ihr halblanges schwarzes Haar, zupfte auch ein wenig an dem Pony, der ihr in die Stirn fiel und fast das rechte Auge abdeckte. Dabei glitt ihr Blick zu einem Fahrscheinheft der Bundesbahn, das gegen eine Flasche Remy Martin gelehnt war. Sie warf die Bürste zwischen die Gläser, nahm statt dessen das Heft zur Hand und schlug es auf. Unter der Lasche auf der rechten Seite steckte eine Fahrkarte, auf der linken waren die Abfahrts- und die Ankunftszeit des Zuges sowie seine Anschlüsse angegeben. Sie verglich die Abfahrtszeit in dem Heft mit der Zeit auf der winzigen goldenen Uhr an ihrem Arm. Natürlich konnte ich die Angaben in dem Fahrscheinheft aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber ich wußte, wann der Zug abfuhr, und ich wußte auch, wohin. Er ging um 1 Uhr 48 ab Altona, und er sollte nach Straßburg fahren. Zumindest war dies ihr Zielbahnhof. Schnabel hatte es mir gesagt. Einer seiner Leute hatte direkt neben dem Makler Ofterdinger gestanden, als der die Fahrkarte in einem Reisebüro am Jungfernstieg gekauft hatte. Die Polizei war eben gut unterrichtet, und ich, der ich bis vor wenigen Tagen niemals etwas mit der Polizei zu tun gehabt hatte, war es auch. Wir wußten eine Menge über den Makler Ofterdinger. Wußten, was er alles getan hatte und was er in den nächsten Stunden zu tun beabsichtigte. Nur über eines waren wir nicht informiert. Wo steckte Lore Pohl? Ofterdinger hatte sie vor Tagen in seine Gewalt gebracht, und wir nahmen an, daß er sie zunächst in seinem Haus verborgen hielt. Tat er das noch? Das heraus10
zufinden – einzig und allein aus diesem Grund –, war ich durch die Gärten geschlichen und schließlich in dieses Zimmer eingedrungen. Ich machte so etwas zum ersten Mal, und ich konnte nicht behaupten, daß ich es gern tat. Ich fühlte mich unsicher, verdammt unsicher. Die Frau klappte das Fahrscheinheft zu und verstaute es in einer Krokotasche, die ebenfalls zwischen den Alkoholflaschen stand. Dann ging sie in einen Nebenraum. Die Flügeltür war zwar aus Glas, aber ich konnte trotzdem nicht in das angrenzende Zimmer sehen, da von der anderen Seite ein Samtvorhang dicht vorgezogen war. Ich überlegte, was ich tun sollte. Irgendwann mußte ich durch den Raum hindurch und auf den Korridor hinaus. Dort würde ich mich rechts halten, den Gang entlang bis zum Ende. Wieder rechts lag das bewußte Zimmer! Als ich gestern nachmittag um das Haus gestrichen war, hatte ich auf dieser Seite ein vergittertes Fenster gesehen. Wenn sie Lore in der Villa versteckt hielten, konnte es nur dort sein. Ich überlegte noch, als die Frau zurückkehrte. Sie hielt sich nicht auf, sie durchquerte das Zimmer und verschwand im Durchgang zum Flur. Ihre Schritte entfernten sich. Es wurde nun sehr still. Ich hörte keinen Laut, weder von der Straße herauf noch von irgendwo sonst aus dem weitläufigen Haus. Die Stille lastete schwer auf mir, und ich wußte plötzlich: Wenn ich mich nicht sofort entschloß, würde ich es ein paar Augenblicke später nicht mehr wagen, aus meinem Versteck hervorzukommen. Also tat ich es. Ich machte ein paar Schritte in den Raum und sah mich um. Es machte alles einen recht behaglichen Eindruck, und das kam wohl von den Farben, die dem Zimmer Wärme gaben. Der Boden war mit flauschiger Auslegware bedeckt, ockerfarben. Um die Liege herum, die in der Mitte viel Platz beanspruchte, lagen weiße Zottelfelle. Der Konsoltisch samt Spiegel aus dem Rokoko war das einzige Antike in dem Raum. Auf der ande11
ren Seite stand ein riesiger Sessel, hellbraunes Leder, eins dieser bequemen, modernen Dinger mit Kopflehne und Fußstütze. Daneben befanden sich Empfänger und Steuergerät einer Stereoanlage. Ich schwebte lautlos über den Teppich zum Durchgang und sah in den Flur. Ich hatte richtig vermutet. Der Korridor zog sich durch das Haus, und ganz hinten rechts mußte diese Tür sein, die in das Zimmer mit den vergitterten Fenstern führte. Etwa auf halbem Weg fiel Licht auf den sonst dunklen Flur. Dort befand sich wohl die Küche, denn ich hörte das Klappern von Geschirr, und dort schien die Frau zu stecken. Was konnte ich tun? Gar nichts, solange sie sich dort hinten aufhielt, weil mein Weg an der offenen Küchentür vorbeiführte. Nein, ich mußte warten. Aber worauf? Ich lehnte an der Wand des Durchganges und hörte ihrem Geklappere zu. Ich gab zu, daß mir die schwarzhaarige Frau nicht aus dem Kopf ging. Ich hatte sie gestern nachmittag zum ersten Mal gesehen. Das war in der Milchstraße gewesen, als sie ganz beladen mit Paketen aus einer Boutique kam. Der Steuerfahnder Sieg hatte sie mir gezeigt. Sie war nicht Ofterdingers Ehefrau. In der Pöseldorfer Schickeria heiratet man nicht, hatte Sieg erklärt, man lebt einfach zusammen. Na schön, warum nicht? Während ich noch den Geräuschen aus der Küche lauschte, sah ich zum Bartisch hinüber. Mein Blick fiel auf die Krokotasche zwischen den Flaschen und Gläsern. Darin mochte ihr Personalausweis stecken, auch der interessierte mich nicht wenig. Als ich durch den Raum zu dem Konsoltisch hinüberging, kam mir der Gedanke, daß ich ziemlich rasch meine Hemmungen abbaute. Noch vor ein paar Minuten war es mir ungeheuerlich vorgekommen, klammheimlich in ein Haus einzudringen, und jetzt war ich dabei, in der Handtasche einer fremden Frau herumzuwühlen. Ich fand tatsächlich den Reisepaß und zog ihn hervor. 12
Das Bild auf der Innenseite zeigte die schwarzhaarige Frau. Es war eine alberne Momentaufnahme, wie man sie in einer Kabine vor einem Automaten selbst herstellen kann. Und dennoch: In den Augen, die mich anschauten, lag etwas. Nun glaubte ich es auch zu wissen. Es war nicht die Art, wie sie sich bewegte, es war der Ausdruck in ihrem Gesicht, in ihren Augen, der mir an dieser Frau gefiel. Ich überflog die Angaben zur Person. Sie hieß Dorothea Dreesen, nicht verheiratet, geboren am 22. April 1945 in Remagen. Ich klappte den Paß zu und tat ihn in die Tasche zurück. Ich lauschte. Außer den Geräuschen aus der Küche hörte ich keinen Laut. Trotzdem, ich wollte nichts riskieren. Mit der Tasche in der Hand schlich ich zum Durchgang und sah hinaus. Noch immer das Licht, das auf den Flur fiel, und das Klappern von Geschirr. Ich zog das Fahrscheinheft aus der Tasche. Drinnen steckten die beiden Fahrkarten samt Zuschlägen erster Klasse bis Straßburg. Die Abfahrtszeit war 1 Uhr 48 ab Hamburg-Altona. Schnabels Schatten hatte richtig beobachtet. Ich schaute auf meine Armbanduhr, sie zeigte kurz vor 23 Uhr. Es blieben ihr noch knapp drei Stunden bis zur Abfahrt. Während ich zum Bartisch zurückging, tat ich das Fahrscheinheft wieder neben den Paß, ließ den Verschluß der Tasche einschnappen und stellte sie an ihren Platz zwischen den Flaschen. Dabei fiel mein Blick auf die Bürste, mit der sie vorhin ihre Haare behandelt hatte, und daneben entdeckte ich ein Schächtelchen aus braunem Plast, nicht größer als eine Streichholzschachtel, aber lange nicht so hoch. Ich weiß nicht, wie es kam, denn es gab anderen Schnickschnack auf dem zweckentfremdeten Rokokotisch, aber gerade dieses Schächtelchen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich wollte schon danach greifen, da hörte ich ihre Pantoletten über den Korridor klappern. Ich verschwand wie ein Hauch, lautlos und ohne Spur. 13
Sie trat ins Zimmer, in der einen Hand ein Glas Milch und in der anderen einen Happen Brot, von dem sie abbiß. Sie blieb stehen und trank von der Milch in kleinen Schlucken. Sie schien über etwas zu grübeln; ihr Blick war auf etwas Unbestimmtes gerichtet, das sich weit außerhalb dieses Raumes befinden mußte. Langsam ging sie zum Vorhang und schob ihn beiseite. Dahinter wurde die Tür sichtbar, die sie öffnete, sonst nichts, am wenigsten natürlich ich. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hatte ich mir ein anderes Versteck gesucht. Sie blieb eine Weile draußen und atmete die Nachtluft ein, während sie bedächtig ihre Milch austrank. Dann kam sie zurück und machte die Tür zu. Sie wollte bereits den Vorhang zuziehen, drehte aber dann den Schlüssel im Schloß herum und ließ erst darauf den Vorhang zugleiten. Sie stellte das leere Glas auf den Empfänger der Stereoanlage, und in diesem Augenblick waren wir uns sehr nahe. Wir hätten uns mit ausgestrecktem Arm erreichen können. Ich spürte mehr, als ich es hörte, wie sie sich entfernte. Dann klirrte ganz sacht die Glastür zum Nebenraum, und darauf wurde es mucksmäuschenstill. Es war ganz ähnlich wir vorher, als ich schon einmal in einem Versteck gehockt hatte. Wieder hörte ich das Blut in meinen Adern pochen; das mußte wohl so etwas wie Angst sein. Langsam kam ich hinter dem großem Sessel hervor und starrte in den Raum. Da war die gläserne Flügeltür, hinter der sie verschwunden war, und da war gleich zu meiner Rechten die Terrassentür. Ein paar Schritte nur, und ich war im Garten und noch einige Meter weiter, und ich befand mich in Kommissar Schnabels Obhut. Wirklich, das war die Richtung, die ich nehmen sollte. Aber ich nahm natürlich die andere, die zur Flügeltür und zu Frau Dreesen. Durch einen Ritz im Vorhang sah ich sie im Nebenraum. Sie lag auf einer Liege und hatte ein Buch vor der Nase. Wahrscheinlich eins vom Diogenes-Verlag, ich sah es am schwarzgelben 14
Einband. Vielleicht ein Macdonald oder Ambler. Ich kannte mich aus, schließlich hatte ich die Dinger selbst zu Hause. Wie ich sie da ruhig liegen und lesen sah, hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob ich eine Menge Zeit hätte, um mich mal in aller Ruhe umzutun. Trotzdem blieb ich steif und fest stehen und sah zu ihr hin. Tief in meinem Innern fühlte ich mich auf eine unerklärliche Weise verunsichert. Ich starrte auf den Einband des Buches, in dem sie las. Dann wandte ich mich dem Durchgang und dem Korridor zu.
3. Sie hatte das Licht in der Küche brennen lassen und die Tür nicht zugemacht. So fand ich mich auf dem dunklen Flur gut zurecht. Ich lief ihn entlang und kam an seinem Ende tatsächlich zu jenem Zimmer. Die Tür war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte; ich drehte ihn herum und stieß die Tür auf. Drinnen war es dunkel. „Lore –“, wisperte ich. Keine Antwort! Und noch einmal, diesmal lauter: „Lore –!“ Wieder nichts! Ich tastete nach dem Schalter, fand ihn und knipste Licht an. Das Zimmer war leer. Ich ging hinein, machte die Tür zu und blickte zum Fenster. Ja, es war das mit den Gittern davor. Ich lief hin und zog die Vorhänge zu, so daß kein Lichtschein hinausdringen konnte. Ich sah mich um. Es war das typische Gästezimmer, unpersönlich und ein wenig Hotel. Dann sah ich ihre Brille auf dem Bett liegen, die Gläser in dem Leichtgestell groß und rund wie Wagenräder und leicht getönt. Ich nahm sie zur Hand. Die Linsen waren so stark gewölbt, daß die Gegenstände dahinter verschwammen. 15
,Stört sie dich auch wirklich nicht?‘ hatte Lore mehrmals gefragt, anscheinend wollte sie es immer wieder hören. ‚Wer?‘ fragte ich, obwohl ich genau wußte, was sie meinte. ‚Die Brille!‘ – ‚Die Brille? Nein, wie kommst du darauf?‘ – ‚Komisch, die meisten Männer stört sie!‘ – ‚Die meisten Männer sind eben blöde‘, erwiderte ich. Und sie: ‚Aber hör mal! Eine Frau mit einem Arm oder einem Bein, stört die dich nicht?‘ Was sollte ich darauf erwidern? Ich nahm sie einfach in die Arme und küßte sie. Diese Brille war ihr Problem. Ich hielt den Vergleich mit einem fehlenden Arm oder Bein für unpassend, sogar für ein wenig geschmacklos, aber natürlich bin ich kein Brillenträger. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie das ist, wenn man kaum zwei Schritte weit sehen kann, wenn man nicht weiß, ob man angelacht oder ausgelacht wird. Ich nahm mir vor, ihr mit der Zeit diesen Tick auszureden. Wenn ich sie nur endlich wiederfand. Was hatten sie mit ihr angestellt, wo hatten sie Lore hingebracht? Ohne ihre Brille, ohne die sie völlig hilflos war. Ich trat an den Schrank und öffnete ihn. Er enthielt einen Teil ihrer Sachen. Da hingen die weißen Jeans und das bedruckte Sporthemd. Auf dem Schrank lag ihr Koffer, ich las ihren Namen und die Adresse auf dem Anhänger, der herabbaumelte: Lore Pohl, Hamburg, Eppendorfer Landstraße 104. Ich trug den Koffer zum Bett und klappte den Deckel auf. Weitere Garderobe befand sich darin, auch Wäsche und obenauf das Täschchen aus hellem Saffian, in dem Frauen ihre Kosmetika aufbewahren. Ich kannte das alles. Ich hatte ja eigenhändig ihren Koffer gepackt, bevor wir nach Cranz zu meinen Eltern hinausfuhren. Wie lange lag das zurück? Eine Ewigkeit? Dieser Koffer verschwand übrigens kurz nach Lore. Als ich von ihrer Freundin erfuhr, daß Lore nicht mehr da war, jagte ich mit dem Auto wiederum nach Cranz, in 16
der Hoffnung, sie dort zu finden, gegen alle Vernunft eigentlich, einfach aus dem Gefühl heraus, irgend etwas tun zu müssen. Natürlich war sie nicht bei meinen Eltern, und der Koffer war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls verschwunden. ,Den hat man abgeholt‘, sagte meine Mutter. ‚Da kam ein Mann in einem BMW, wahrscheinlich einer ihrer Liebhaber!‘ Das war kompletter Unsinn, und meine Mutter wußte das. Lore hatte außer mir keinen Liebhaber, denn der andere zählte zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Meine Mutter wollte mir auch nur einen Stich versetzen, das war alles. Auf ihrem Gesicht hatte Zufriedenheit gelegen, fast ein stiller Triumph. Ich hob die Wäsche in dem Koffer an und griff darunter. Und da stießen meine Hände auf einen harten, in Packpapier eingewickelten Gegenstand. Ich zog ihn hervor, schlug das Papier auseinander. Ein altes, abgewetztes Hufeisen kam zum Vorschein. Ich kannte Lore nur zwei Tage lang, aber ich erinnere mich nicht, jemals vorher so heiter und beschwingt, so unbeschwert glücklich gewesen zu sein. Und dieses Hufeisen, das brachte mir die Gedanken an unseren gemeinsam verbrachten zweiten Tag zurück.
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Der zweite Tag 1. Lore verstand wirklich was von Pferden. Ich sah es daran, wie die Stute sie annahm. Die Alte wandte den Kopf und äugte nach hinten, als ob sie nachschauen wollte, wer im Sattel saß. Als sie Lore erkannte, schien sie zufrieden. Sie reckte den Kopf und begann Gras zu rupfen. Lore ließ sie eine Weile gewähren und tätschelte ihr den Hals. Dann zog sie die Kandare an, wobei die Stute die Ohren spitzte. Im Schritt schlug sie einen Bogen um mich. „Sie mag dich!“ rief ich ihr zu. „Sieht so aus.“ Sie stieß dem Pferd sacht in die Weichen, das darauf zu traben begann. Dann lockerte sie die Zügel und fiel in gestreckten Galopp. Sie legte sich weit vor, und so, mit dem Körper des Tieres verschmelzend, verschwand sie aus meinem Blick. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon weit mit Lore, ich hatte einen Zustand erreicht, wo mir einfach alles an ihr gefiel. Daß sie aber mit Tieren umgehen konnte, darin entdeckte ich eine Gemeinsamkeit, die mich geradezu entzückte. Ich glaube, in diesen Sekunden, als ich ihr nachblickte, liebte ich sie besonders stark. Die Sonne begann zu sinken und die Landschaft in ein mildes Licht zu tauchen. Es war Frühsommer, und das Grün des Grases und der Blätter an den Büschen schimmerte zart und jungfräulich. Das bildete ich mir nicht nur ein, das war schon so, obwohl ich zugeben muß, daß ich an diesem Nachmittag einen besonderen Blick für alle Dinge hatte. Ganz so, als sähe ich sie heute zum ersten Mal. Ich lief zur Deichkrone hinauf, setzte mich und ließ die Beine baumeln. Die Elbe war an dieser Stelle etwa zwei Kilometer breit. Auf dem gegenüberliegenden Ufer erhob 18
sich die Silhouette von Blankenese. Um diese Zeit kamen die Schiffe in schneller Folge herein. In Richtung Schulauer Höhe konnte ich drei Frachter ausmachen, Zwölftausendtonner mit schwerer Ladung und tiefgehend. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß und auf die Elbe schaute, die Zeit spielte keine besondere Rolle. Ich dachte an den gestrigen Tag und an den beinahe grotesken Zufall, durch den ich Lore kennengelernt hatte. Und dann die letzte Nacht! Ich schnurrte. Ich war ein großer Kater. Der Galopp des Pferdes, der durch den weichen Boden und das hohe Gras gedämpft zu mir drang, brachte mich ans Elbufer zurück. Ich stieg den Deichabsatz hinunter. Lore zog die Zügel an. Ihre Wangen waren gerötet durch den scharfen Ritt, und sie atmete tief. „Als ob wir uns schon seit Jahren kennen, die Stute und ich, und nicht erst seit heute. Das habe ich noch nicht erlebt.“ „Das ist die Liebe auf den ersten Blick!“ erwiderte ich und sah ihr tief in die Augen. Sie lächelte geheimnisvoll. In ihr Gesicht kam plötzlich ein Ausdruck, den keine Frau besonders zu lernen braucht, denn sie haben ihn alle von ihrer Uroma Eva. Sie hob das Bein über den Kamm der Stute, rutschte aus dem Sattel und direkt in meine Arme. Wir küßten uns, und ich spürte ihre Lippen, die sich mir öffneten. In diesem Kuß lag schon mehr als in den Umarmungen der letzten Nacht, als wir, ohne lange nachzudenken, übereinander hergefallen waren; es lag mehr Zärtlichkeit darin. Ich zog sie enger an mich, immer enger, bis sie zu zittern begann. „Nicht, bitte nicht!“ flüsterte sie. „Ich liebe dich“, sagte ich nah an ihrem Ohr. „Ist das die Möglichkeit? Ich liebe dich wirklich!“ „Am zweiten Tag?“ „Gestern schon, gleich bei den Landungsbrücken. Du hast mich nur angesehen.“ 19
Lore war Mitte Zwanzig, vielleicht auch jünger, ihr genaues Alter kannte ich nicht. Sie machte zunächst den Eindruck eines unerfahrenen Mädchens, aber so unerfahren war sie nicht, das wußte ich inzwischen. Sie trug weiße Jeans und ein bedrucktes Sporthemd, deren obere Knöpfe offenstanden. Um ihren Hals hing an einer schmalen Kette ein Medaillon, darin steckte das Bild ihrer Mutter, die lange tot war. Lore hatte ein schönes Gesicht, zumindest für mich, und besonders gefiel mir ihr Mund, weil er weich und empfindsam war. Und dann natürlich die Brille mit den runden, getönten Gläsern, die weite Partien ihres Gesichtes abdeckten und ihre Augen im Schatten ließen. Man spürte sie mehr, wenn sie auf einen gerichtet waren, als daß man sie sah. Wir trabten durch das hohe Gras, Lore, das Pferd in der Mitte, und ich. Am Rande der Wiese lag der Hof meiner Eltern. Nichts Bedeutendes, ein Wohnhaus, eine langsam vor sich hin gammelnde Scheune und zwei Ställe; alles sehr bescheiden. Mein Vater erwartete uns schon. „Vielen Dank, daß ich sie reiten durfte“, sagte Lore und lächelte ihm zu. Der Alte ging um die Stute herum und musterte sie kritisch. Dann warf er Lore einen schrägen Blick zu. „Schwitzt aber ganz schön!“ „Ich habe sie ein bißchen ’rangenommen, war das falsch?“ „Nein, nein! Können Sie jeden Tag machen, die alte Dame braucht Bewegung.“ Er nahm den Zügel und führte das Pferd zum Stall, dabei knurrte er: „Ich sattle ab, und Sie reiben sie trocken. Das gehört schließlich dazu!“ Ich legte meinen Arm um Lore. „Den Alten hast du schon in der Tasche.“ „Bisher hat er mich nur angeknurrt.“ „Das sind so seine Gunstbezeigungen“, sagte ich grienend. Mein Vater war über Siebzig, aber sein Körper hatte 20
kein Gramm Fett angesetzt, und er hielt sich kerzengerade. Unter der schlohweißen Mähne durchzogen Falten und Runzeln sein Gesicht, dessen Haut wie gegerbtes Leder aussah. In der Luft dieser Gegend befand sich schon eine ganze Menge Salzwasser. Früher hatte er eine Hofstelle betrieben, ein bißchen Rinderaufzucht, das ging ganz gut auf den Elbwiesen. Früher! Heute rentierten sich diese Wirtschaften nicht mehr, und es dauerte Jahre, bis er das einsah. Viel Streit hatte es deswegen gegeben. Der Alte verwand es nicht, daß ich seine Arbeit nicht weiterführen wollte. Ich war in den Hafen gegangen, hatte dieses und jenes versucht, bis ich die kleine Barkasse kaufte, mit der ich Hafenrundfahrten mache. Das große Geld liegt da natürlich nicht, aber mein Vater hilft mir, und so kommen wir ganz gut zurecht. Einen bescheidenen Rest seiner Wirtschaft hatte er jedoch nicht aufgeben wollen. Er fütterte zwei Schweine, hatte Hühner, Enten und Gänse, ja, und die Stute! Um nichts in der Welt hätte er sich von der getrennt. Das Pferd stand schon abgesattelt in seiner Box, als wir in den Stall kamen, gerade schüttete mein Vater den Hafer in die Krippe. „Nehmen Sie die Decke“, knurrte er, „die zerlöcherte vom Querbaum!“ Zerlöchert! Das war ein milder Ausdruck für den Fetzen, der eigentlich nur noch vom Dreck zusammengehalten wurde. Ich sah mich um. Noch nie war mir der Verfall so bewußt geworden. Hier mußte etwas geschehen, ein paar neue Bretter und Farbe, das wäre zumindest ein Anfang. Lore schien nichts aufzufallen; sie hatte gleich etwas von einer putzwütigen Hausfrau, als sie das Fell der Stute rieb. Dabei schaute sie auf ein altes Hufeisen, das über einen Nagel hing. „Ist das von ihr?“ fragte sie. „Ja, sicher doch“, erwiderte ich. Der Alte war inzwischen mit dem Füttern fertig, nun 21
lehnte er an der Krippe, und der Blick unter buschigen Augenbrauen wanderte zwischen uns hin und her. Ich merkte, daß ihm Lore gefiel. Dennoch schien sein Blick zu fragen, ob ich mir mit diesem attraktiven Mädchen nicht ein wenig zuviel zugemutet hätte. Ich sah ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. Schließlich grinste er gutmütig, als ob er damit sagen wollte: Hast recht, mien Jung, im Grunde sind sie uns alle über. Ob sie auf dem Markt Gemüse verkaufen oder an der Schreibmaschine sitzen und Bücher aus dem Englischen übersetzen. „Schenken Sie mir das Hufeisen, Herr Ahrens?“ rief Lore meinem Vater zu. Der Alte knurrte etwas, das ebensogut ja wie nein bedeuten konnte, ganz wie man wollte. Dann ging er zur Tür. „Beeilt euch gefälligst, das Essen steht schon auf dem Tisch!“ Er marschierte aus dem Stall und über den Hof zum Wohnhaus, jeder Zoll ein aufrechter Zinnsoldat. Ich nahm das Hufeisen vom Nagel und gab es ihr. „Es wird dir Glück bringen, solange du es bei dir trägst!“ Sie lächelte. „Und wie? Um den Hals vielleicht, an einem goldenen Kettchen?“
2. Das Essen war angerichtet, als wir hereinkamen. Es gab Pellkartoffeln mit Matjes, und die Kartoffeln lagen auf der blankgescheuerten Tischplatte, dampfend, goldgelb. Sie erwarteten uns schon, meine Mutter, mein Vater und meine Tochter Brigitte. Während meine Mutter so tat, als sei an einer fremden Person bei Tisch nichts Besonderes, zeigte meine Tochter ihre Neugier, mit offenem Mund starrte sie Lore an. Brigitte sollte in einem knappen Jahr zur Schule kommen. Von ein paar Erinnerungen abgesehen, war sie aus einer kaputten Ehe übriggeblieben. Sie wuchs bei meinen Eltern auf. In der beinahe noch dörflichen Umgebung hat22
te sie alles, Ruhe und Abgeschirmtheit, dann die Tiere, mit denen sie spielte, und was ebenfalls wichtig war: Meine Eltern hatten sie. Die Kleine nahm ihnen etwas von dem Gefühl, daß sie alt geworden waren. „Ich will keinen Fisch“, sagte Brigitte und schielte auf den Hering, der hübsch garniert mit Zwiebelringen und umgeben von Mayonnaisensoße auf ihrem Teller lag. „Matjes ist gesund!“ antwortete ich kategorisch. Ich streifte Lore, die mir gegenübersaß, mit einem kurzen Blick. „Und wenn ich dir die Kartoffeln pelle?“ fragte Lore. „Ißt du dann vielleicht?“ Meine Tochter sagte: „Ich mag auch keine Pellkartoffeln!“ „Hör mal zu, Brigitte!“ Ich klopfte mit dem Messer auf die Tischplatte. Das hatte mir noch gefehlt, daß ich mich ausgerechnet heute mit meiner Tochter blamierte. „Ja, Papa?“ In ihrem Blick lag etwas Unbestimmtes, schwer zu Deutendes. Ob sie mich mit ihren Spielgefährten, dem Hund und den Katzen, vielleicht auch ein wenig mit dem Federvieh und den Schweinen gleichsetzte? Wirklich schwer zu sagen. „Also … hm“, räusperte ich mich und sah zu Lore hin. Auch von dort ein Blick voller Doppelbödigkeit. Ich begann zu dozieren: „Amerikanische Ernährungswissenschaftler haben herausgefunden, daß jeder Mensch eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen sollte, die aus Fisch besteht. Im Fisch ist eine besondere Art von Eiweiß. Eine ganz besondere, die … die eben nur im Fisch ist!“ Ich lehnte mich zurück und ließ meinen Blick wandern. Wie mir schien, zuckte es ein wenig in Lores Mundwinkeln. Mein Vater hatte, wie üblich, nicht zugehört, er war mit dem Hering beschäftigt. Meine Mutter hatte zwar zugehört, aber sie sagte nichts. Sie hatte überhaupt noch nicht viel gesagt, seit Lore hier war. Zweifellos ist sie eine prächtige Frau, aber sie kann einen merkwür23
dig spitzen Zug um den Mund bekommen. Und den kriegt sie immer dann, wenn eine Frau in der Nähe ihres Sohnes auftaucht. Meine Tochter sagte zunächst auch nichts. Links und rechts vom Teller hatte sie die Hände zu Fäusten geballt, und darin steckten Messer und Gabel. Nachdenklich schaute sie mich an. „Woher kennen die mich?“ fragte sie schließlich. „Wer –?“ „Diese Amerikaner? Er-nährungs-wissen-schaftler?“ Sie sagte das Wort fehlerfrei, was mich natürlich mit Stolz erfüllte. „Woher sollten die dich kennen?“ „Hast du selber gesagt! Sie haben herausgekriegt, daß ich jeden Tag Fisch essen soll.“ „Jeder Mensch auf der Welt sollte das, habe ich gesagt, also auch du“, seufzte ich. „Und nun fang an, bitte!“ „Jeden Tag Fisch“, nörgelte sie, „das ist doch ganz blöde. Das ist doch genauso blöde wie jeden Tag waschen.“ Natürlich endete es wie immer. Meine Mutter schob Brigittes Teller beiseite und schmierte ihr zwei Scheiben Brot mit Mettwurst. Sie tat es sicher nicht, um meine Autorität zu untergraben, falls davon noch etwas übrig war; weit mehr fürchtete sie wohl, das Kind könnte an den Kartoffeln ersticken, die Lore ihr gepellt hatte. Um das Waschen jedoch kam Brigitte nicht herum. Sie machten das in der Küche. Lore stellte die Kleine in den runden Zuber und ließ aus einer Kanne ganze Bäche von Wasser über ihren Leib fließen. „Und nun machst du es … machst du es … auch mit ihm“, schnatterte Brigitte vor Kälte. „Du hast … du hast es mir doch versprochen!“ „Na ja –!“ „Mit der Kanne“, prustete die Kleine, „und … und das kalte Wasser übern Kopf, immer … über … den Kopf!“ Lore hob Brigitte aus dem Bottich und wickelte sie in ein Badetuch. „Ich will es natürlich versuchen, aber ich 24
weiß nicht, ob es überhaupt geht. Schließlich lange ich ja nicht hinauf zu ihm, er ist ein bißchen groß geraten.“ Meine Mutter kam mit spitzem Mund und nahm ihr die Kleine fort. Ohne ein Wort trug sie die Enkeltochter aus der Küche. Brigitte schrie: „Du mußt dich auf die Hühnerleiter stellen! Und dann übern Kopf mit dem Wasser, immer über den Kopf!“ Ich hatte mir nichts von der Szene entgehen lassen, lachend rief ich hinterher: „Wir kommen noch hinauf und sagen dir gute Nacht!“ Dann schlenderte ich zu Lore an den Küchentisch und sah zu, wie sie die Kindersachen zusammenlegte. „Niedlich“, sagte sie und strich die Socken glatt. „Wirklich niedlich!“ „Was meinst du, wenn wir auf der Stelle heiraten?“ rutschte es mir heraus. Ich war höchst überrascht über die Worte, die sich ohne jedes Zutun in meinem Mund formten. Lore war es nicht minder. „Was – was hast du gesagt?“ stotterte sie. „Wäre doch schön, findest du nicht? Wäre doch sehr, sehr schön!“ Es klang spielerisch, wie ich es sagte, doch im Grunde meinte ich es ernst, viel ernster jedenfalls, als es mir in dem Moment bewußt war. „Nach zwei Tagen? Du bist … nicht bei Trost!“ Sie rückte an ihrer Brille und wandte sich meinem Vater zu, ob er was von dem Gerede mitbekommen hatte. Natürlich hatte er! Er saß mit seiner Zigarre und der Abendzeitung in der Herdecke und grinste still in sich hinein.
3. Brigitte schlief schon, als wir ins Kinderzimmer kamen. Sie hatte rote Bäckchen, und wie immer steckte der Daumen in ihrem Mund. Wir saßen 25
auf der Bettkante, und ich spürte, wie Lores Hand über die Decke tastete, bis sie meine fand. Ich drückte sie. „Du suchst nach jemandem für die Kleine, nicht wahr?“ Ich flüsterte zurück: „Meine Eltern würden sie gar nicht hergeben.“ Und nach einer nachdenklichen Pause: „Deine Mutter mag mich absolut nicht.“ „Sie mochte noch keine Frau von mir.“ „Auch Brigittes Mutter nicht?“ Darauf antwortete ich nicht, ich lächelte sie nur an. „Nein, sie kann mich nicht ausstehen. Ich weiß das. Frauen untereinander haben ein Gespür dafür. Hält sie mich für eine höhere Tochter? Ist es vielleicht das?“ „Hat das noch eine Bedeutung?“ „So eine Art Standesunterschied?“ „Ja.“ „Für ältere Leute ist es sicherlich wichtig.“ „Ich denke mir, daß es auf andere Dinge ankommt.“ „Zum Beispiel?“ erkundigte sich Lore. „Ob man zu gemeinsamen Anschauungen findet. Zum Beispiel!“ „So in geistigen Bereichen also?“ „Ja, ja.“ Sie sah mich ernsthaft an. „Komisch, ich hatte einen anderen Eindruck von dir.“ „Wieso?“ „Na, wenn einer so eine Liege hat, zwei mal zwei Meter, und wenn ich an die Nacht darauf denke! Mit dir!“ Sie begann leise zu lachen. Ich schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Doch nicht so lockere Reden vor dem Kind, Lore, wirklich!“ „Du hast recht“, flüsterte sie, noch immer kichernd, „es hat mir schon immer an der nötigen Würde gefehlt. Dabei ist dies mein erster Heiratsantrag. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So hilf mir doch mal aus!“ 26
„Du brauchst nicht viel zu sagen, ein einfaches ‚Ja‘ genügt da völlig.“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, und nach einer nachdenklichen Pause meinte sie: „Ich will dir mal was erklären, Herr Ahrens, das du dir für dein Leben merken kannst. Man bittet ein Mädchen nicht um seine Hand, das man erst so kurze Zeit kennt.“ „Warum nicht? Einen vernünftigen Grund!“ „Vielleicht will sie ein weißes Kleid und einen Priester.“ „Soll sie haben.“ „Vielleicht ist sie auch ein wenig altmodisch, sagt, wo einmal geheiratet wird, da wird nicht wieder geschieden.“ „Wie schön!“ „Vielleicht ist sie auch ganz anders. Hat gestohlen vielleicht, Wechsel gefälscht oder jemanden umgebracht.“ „Ja, mich! Letzte Nacht!“ Sie lachte. „Es ist mit dir kein vernünftiges Wort zu reden. Und ich will dazu auch nichts mehr sagen. Ich kann es gar nicht, bis ich die andere Sache nicht hinter mich gebracht habe.“ Es entstand eine Pause. Noch immer lagen unsere Hände ineinander, und ich spürte ihren sanften Druck. Schließlich sagte ich vorsichtig: „Du solltest die andere Sache einfach vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das könnte ich nicht. Der Mann reist Tausende von Kilometern, ich weiß nicht, wie weit …“ „So an die zweitausendfünfhundert!“ „Na schön! Das ist verdammt weit. Er kommt in dieses Land, in diese Stadt, fremd, er kennt nur mich!“ „Ja, ja, ich weiß! Und er kommt nur deinetwegen!“ „Das auch“, meinte sie nachdenklich. „Und dann verschwindet er spurlos. Siehst du nicht ein, daß ich mich darum kümmern muß? Wäre doch einfach nicht fair.“ 27
Ich seufzte. „Bringen wir es hinter uns!“ Wir erreichten bei Harburg die Autobahn und mußten auf ihr ein Stück entlang, um über die Elbarme nach Billstedt zu gelangen. Dort, etwas außerhalb, so hatte Lore es mir beschrieben, lag das Wohnheim. Es war inzwischen dunkel geworden, und der Verkehr hatte nachgelassen. Wir fuhren trotzdem langsam. Zum ersten Mal in diesen beiden Tagen stand etwas Fremdes zwischen uns. Natürlich war ich Lore nicht böse, nein, wirklich nicht, da war nur die Eifersucht, die mich beinahe auffraß. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. „Und wenn wir ihn da draußen finden?“ Die Antwort kam prompt: „Da bin ich erleichtert.“ Dazu sagte ich kein Wort, ich sah stur auf die Fahrbahn; dennoch spürte ich, wie sie mich von der Seite beobachtete. „Aber nicht so, wie du denkst. Du verstehst das alles immer noch nicht! Wenn wir ihn finden, weiß ich, daß ihm nichts geschehen ist. Das ist alles, weiter will ich nichts von ihm, nun nicht mehr. Zufrieden?“ „Nein.“ „Du möchtest eine Frau frisch aus dem Zellophanbeutel, wie? Mit der Aufschrift: garantiert neu!“ „Ja“, knurrte ich, aber im stillen mußte ich schon lachen. „Ich möchte die acht Tage mit ihm nicht missen. Er hat mir Zutrauen zu mir selbst gegeben, das hatte ich nötig.“ Und nach einer Pause: „Magst du Frauen mit Brillen?“ „Tragen sie doch alle jetzt.“ „Aber sie können sie absetzen, wenn sie wollen. Wenn ich das tue, erkenne ich nicht einmal, ob du mir die Zunge ’rausstreckst.“ „Aber das würde ich mir ja nie erlauben.“ Sie lachte leise und rutschte dicht an mich heran. Ich legte einen Arm um sie. 28
„Er hat mich akzeptiert, wie ich eben bin“, meinte sie nachdenklich. „Tue ich auch.“ „Ja, das sagst du. Aber bei ihm war ich mir ganz sicher. Ich muß einfach wissen, wo er abgeblieben ist.“ „Weshalb hast du nicht mit deinem Vater über die Sache gesprochen?“ Ich spürte, wie ihr Körper unter meinem Arm steif wurde. „Es gibt nichts, worüber ich mit meinem Vater reden würde,“ „Aber er ist Oberstaatsanwalt! Er könnte die ganze Polizei alarmieren.“ „Und du glaubst, das würde er tun? Eines Türken wegen?“ Mit ihrer Erklärung, soweit sie den Ausländer betraf, konnte ich zufrieden sein. Sie wollte wissen, wo er abgeblieben war, weiter nichts, nicht mehr! Dieses „nicht mehr“ mußte sich auf unser Kennenlernen beziehen. Was wollte ich also weiter? Blieb nur noch die Eifersucht, diese schiefmäulige Schimäre, die irgendwo vor mir auf der Fahrbahn saß und die Zähne bleckte.
4. Wir fanden das Wohnheim nahe der Bundesstraße 5 in Richtung Reinbek. Sie hatten das Gelände umzäunt, eine massive Angelegenheit aus Maschendrahtfeldern und Betonpfeilern und viel Stacheldraht. Die Lampen an den Peitschenmasten machten den Platz bei der Einfahrt taghell. Das Tor war verschlossen, aber daneben gab es eine offene Pforte und weit und breit keinen Wächter. So gingen wir hindurch. Bis zum Wohnheim hatten wir etwa fünfzig Meter zu laufen, einem Flachbau mit vielen kleinen Fenstern, hinter denen Licht brannte. Wir gingen die Reihe entlang und kamen schließlich zu einem großen Raum, in dem 29
sich Türken um einen Tisch aus roh behauenen Brettern drängten; dahinter saß der Makler Ofterdinger. Mein erster Eindruck von dem Mann war gar nicht schlecht. Ich kannte die Sorte aus dem Hafen, einer von denen, die es geschafft haben! Man merkt ihnen die Härte nicht mehr an, zumindest nicht ohne weiteres; sie leisten es sich, jovial zu sein. Meist tragen sie dunkle Anzüge, und ihr Äußeres ist tadellos gepflegt. Sie geben sich viel Mühe, die Leute von der Börse und der Kaufmannschaft nachzuahmen, aber im Grunde täuschen sie einen doch nicht. Man spürt, wie sie ihre ersten Tausender gemacht haben, Schrotthandel oder etwas Ähnliches und niemals weit ab von der Grenze zur Kriminalität. Ofterdinger war Mitte Vierzig. Bündelweise hatte er Geld vor sich liegen, dazu mehrere Listen. Einer der vorn stehenden Türken quittierte gerade und erhielt sein Geld. Der nächste trat vor und nannte seinen Namen, den Ofterdinger in der Liste suchte und abhakte. Auch dieser Mann erhielt sein abgezähltes Geld, nachdem er unterschrieben hatte. Beim nachfolgenden geschah etwas Merkwürdiges. Ofterdinger suchte den Namen in den Listen, fand ihn aber nicht. Darauf blätterte er in einem kleinen Buch, nicht viel größer als ein Taschenkalender, und darin mußte er ihn wohl entdecken, denn auch dieser Türke erhielt sein Geld, ohne jedoch dafür quittieren zu müssen. Der Makler griff nach einer Zigarette, zündete sie an und lehnte sich zurück. Dabei fiel sein Blick auf das offenstehende Fenster und auf uns; auf seiner Stirn erschienen Unmutsfalten. „Sie schon wieder?“ sagte er und stieß Rauch aus. „Was wollen Sie denn noch? Ich habe Ihnen doch gesagt, ein Omar Török arbeitet nicht für mich.“ „Osman Tuyan“, berichtigte ihn Lore. „Na schön, einer, der so heißt, auch nicht.“ „Aber er soll hier gewohnt haben!“ 30
„Wer sagt das?“ Ich mischte mich ein. „Einer Ihrer Schauerleute aus dem Hafen.“ „Meine Arbeiter wohnen alle hier im Heim. Erkennen Sie den Mann, der das gesagt haben will?“ „Er ist nicht darunter“, meinte Lore mit einem Blick auf die neugierig zum Fenster starrenden Türken. „Na, bitte!“ Ofterdinger zuckte die Achseln und sah überlegend zu mir her. „Sie kenne ich doch überhaupt! Heißen – warten Sie mal, ich vergesse keinen Namen …“ Er stand auf und kam durch den Raum auf uns zu. Dabei fuhr er fort: „Sie heißen Ahrens, haben eine Barkasse laufen, machen Hafenrundfahrten damit. Stimmt’s?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich Lore zu und sagte: „Der Türke, den Sie suchen, ist nicht darunter. Was also weiter?“ Ich meinte: „Dies sind ja nicht alle hier!“ „Na schön“, seufzte der Makler, „kommen Sie herein!“ Er ging zum Tisch, raffte Geld und Listen zusammen, verstaute alles in einer schmalen Ledermappe und wandte sich uns erneut zu. „Da ist die Tür! Kommen Sie, kommen Sie schon!“ Wir gingen die Hauswand entlang zum Eingang. Als wir die Tür öffneten, schlug uns wilder Lärm entgegen. Auf dem Gang drängten sich die Ausländer. Sie sprachen ungeniert über uns, weil wir ihre Sprache nicht verstanden, und natürlich meinten sie Lore. Ich sah es an ihren Blicken. Still wurde es, als der Makler auftauchte und durch die Gasse der Türken auf uns zukam. Dicht vor uns blieb er stehen und sah mich an. „Das ist wirklich ein tadelloser Kahn, den Sie im Hafen liegen haben, blitzblank und so gut wie neu. Kostet an die hundertzwanzigtausend, habe ich mir sagen lassen. Fünfundzwanzigtausend bar bezahlt, der Rest läuft auf Wechseln. Stimmt’s?“ „Sie kommen herum“, antwortete ich und spürte, wie 31
langsam Unbehagen in mich hineinkroch. Es gab Hunderte solcher kleiner Schiffe im Hafen. Wieso wußte der Makler ausgerechnet über mich Bescheid? Weshalb interessierte er sich überhaupt für mich? „Natürlich komme ich herum“, sagte Ofterdinger lächelnd. „Das gehört ja zum Beruf. Ich liege den halben Tag im Hafen, und dort ist es wie überall – nichts als Klatsch und Tratsch! Aber das wissen Sie ja selbst.“ Höflich wandte er sich Lore zu. „Haben Sie sich umgesehen? Können Sie den Mann entdecken, der Ihnen das von Ihrem Türken gesagt haben will, von diesem Osman …“ Er schaute Lore fragend an. „Osman Tuyan!“ „Richtig!“ „Er ist nicht darunter!“ Ofterdinger nickte, als ob er nichts anderes erwartet habe. „Kommen Sie!“ sagte er und führte uns zu einer der offenen Türen. „Vielleicht finden Sie ihn hier.“ Wir blickten in einen der Räume, in denen der Makler seine Gastarbeiter beherbergte. Das Loch war nicht größer als vierzehn Quadratmeter, acht Männer schliefen hier. Es gab vier Doppelstockbetten, einen Tisch, zwei Stühle, aber keinen Schrank. Unter den Betten lagen Koffer, so vollgepackt, daß man sie nicht mehr schließen konnte, Kleidungsstücke quollen heraus. Auf den Betten saßen Türken und starrten uns an, die Luft in dem Raum war zum Schneiden dick. „Ist er dabei?“ fragte Ofterdinger. Lore schüttelte den Kopf, während sie unsicher nach meinem Arm griff. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht viel über Gastarbeiter, gerade das, was in den Zeitungen stand. Etwa vier Millionen gab es im Land, die vorwiegend in jenen Dienstleistungsbereichen arbeiteten, für die sich kaum noch Einheimische fanden. Es wuchsen auch die Schwierigkeiten, konnte man lesen, die mit der Integration dieser Gruppen zusammenhin32
gen. Nach Feierabend wollte sich niemand mit ihnen abgeben, und wohnen wollte auch keiner mit ihnen. So hausten sie in den Sanierungsgebieten der Großstädte oder in Wohnheimen am Stadtrand. Ofterdinger hatte für seine Türken eine stillgelegte Fabrikhalle aufgekauft, in der früher Panzerketten gefertigt wurden. Durch Trennwände aus Holz hatte er Räume zu vierzehn Quadratmetern herstellen und jedes dieser Löcher mit acht Türken belegen lassen. Für etwa fünfhundert Bewohner gab es sechzehn Klosetts, Duschen fehlten ganz. Jeder Wohnraum brachte siebenhundert Mark Miete, im ganzen erwirtschaftete der Makler an die vierzigtausend Mark Reingewinn im Monat. Von diesen Einzelheiten wußte ich, wie gesagt, an diesem Abend noch nichts. Ich spürte nur den Widerwillen in mir stärker werden, und ich fühlte auch, daß Lore ebenso empfand. Ofterdingers belustigter Blick wanderte zwischen uns hin und her. Er sagte: „Natürlich könnte ich Sie durch alle Räume führen, aber es gibt zu viele davon, und mit der Zeit wird es einfach unerquicklich, besonders für unsere europäischen Nasen.“ Er wandte sich um und schrie: „Güngör!“ Einer der Türken, der weiter hinten stand, kam nach vorn, aber noch ehe der Mann heran war, drehte sich der Makler bereits wieder mir zu. „Ich will Ihnen mal etwas sagen, Herr Ahrens“, meinte er. „Sie fragen hier einen der Leute nach Atatürk, ja, er kennt ihn! Oder Winston Churchill, kennt er auch, oder Nixon oder Mao, er kennt sie alle. Sogar persönlich, wenn Sie wollen. Warum? Erstens: Der Mann versteht nicht, was Sie überhaupt von ihm wollen. Zweitens: Der Mann hat solchen Respekt vor Ihnen, weil Sie nämlich als Deutscher vor ihm stehen, daß er zu allem ja und amen sagen wird. Was sollte aus diesen Leuten werden, wenn ich denen nicht ein Dach über dem Kopf und Essen und Trinken für ihre Arbeit geben würde? Als die hier ankamen, 33
konnten sie nicht mal richtig scheißen!“ Er machte eine Pause und sah Lore mit einem halb um Entschuldigung bittenden Lächeln an. „Ja, mein Fräulein, so sieht das aus! Die haben ja solche Stehklosetts in ihrer Türkei, ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, mit solchen Haltegriffen an beiden Seiten. Na, so fingen die hier auch an, stellten sich auf die Brille und machten im Stehen. Alles voll, natürlich! Sechs Wochen lang habe ich das mit denen geübt, ob Sie es glauben oder nicht, aber nun können sie es!“ Wieder machte Ofterdinger eine Pause, und beinahe lag so etwas wie Stolz in seinem Ausdruck, als er dem Türken neben sich an das Ohr griff und es liebevoll beutelte. „Nicht wahr, Omar? Deutsche Kultur, gute Kultur, habe ich recht?“ Der Türke blickte den Makler schweigend an. In seinem Gesicht stand nichts, weder Zustimmung noch Ablehnung, ausdruckslos ruhten die beinahe schwarzen Augen auf Ofterdinger. „Sehen Sie“, sagte der Makler, „er begreift nicht einmal, was wir überhaupt meinen. Wie die Kinder, glauben Sie es nur, wie die Kinder!“ Er gab dem Türken einen leichten Stoß gegen die Brust und wandte sich endlich dem zu, der nach vorn gekommen war. „Paß auf, Güngör!“ rief er. „Hier sind Herrschaften, die sich nach einem Osman Tuyan erkundigen. Frag mal deine Leute, ob sie den kennen.“ Güngör sprach auf seine Landsleute ein. Auch jetzt blieben die Gesichter leer, aber dann schüttelten einige von ihnen den Kopf. Güngör sagte: „Sie kennen ihn nicht.“ „Frage sie“, fuhr Ofterdinger fort, „ob sie im Hafen mit ihm gearbeitet haben oder ob er jemals hier gewohnt hat!“ Dasselbe Spiel wiederholte sich, und Güngör antwortete: „Haben nicht gearbeitet mit ihm, nicht gewohnt mit ihm.“ 34
„Na also!“ Ofterdinger trat an Lore heran und nahm ihren Arm. „Niemand kennt hier Ihren Schützling, mein Fräulein. Es gibt aber Dutzende von Betrieben in der Stadt, die Türken beschäftigen. Und Sie kommen ausgerechnet zu mir, nun schon zum zweiten Mal. Das ist wirklich nicht recht von Ihnen!“ Er führte sie hinaus. Ich wollte ihnen schon folgen, aber dann wandte ich mich noch einmal zu der Menge um, und da sah ich auf einmal ihre feindseligen Gesichter. Ich nahm es nicht übel, denn ich dachte daran, wie Ofterdinger mit ihnen auf den Klosetts nach preußischem Reglement geübt hatte. Ob sie das wirklich als Krönung einer höheren Kulturstufe ansahen? Und ich fragte mich auch, ob sie den Osman Tuyan wirklich nicht kannten. Möglich! Aber ebenso möglich war es, daß ihnen Ofterdinger befohlen hatte, seinen Namen zu vergessen. Nichts war mir während dieses Besuchs klarer geworden als die erbarmungswürdige Abhängigkeit, in der sie standen. Und dann spürte ich plötzlich das Stück Papier in meiner Hand. Irgend jemand hatte es mir zugesteckt. Irritiert blickte ich darauf, sah, daß da etwas in krakeliger Schrift geschrieben stand, konnte es aber nicht entziffern. Ich tat den Zettel in meine Tasche. Dann blickte ich in dem Gedränge von einem zum anderen. Von wem kam das Stück Papier? Von Güngör, der direkt vor mir stand und so eine Art Vormann oder Sprecher zu sein schien? Von einem anderen? Ich würde es nicht herausfinden, denn die Türken schauten mir zwar ins Gesicht, aber ihre Mienen blieben ohne jeden Ausdruck. So ging ich mit einem halben, beinahe um Entschuldigung bittenden Lächeln hinaus. Nicht weit vom Eingang stand ein weißer Mercedes, letztes Modell natürlich, und dagegen lehnte der Makler Ofterdinger. „Aber ich streite es gar nicht ab“, sprach er auf Lore ein, als ich zu ihnen trat. „Ja, dieser Tuyan ist 35
in meinem Büro gewesen, hat nach Arbeit gefragt. Daran ist nichts Besonderes, schließlich bin ich Makler und vermittle Gastarbeiter. Da kommen viele zu mir, manchmal Dutzende am Tag.“ „Und Sie haben ihm Arbeit gegeben“, beharrte Lore störrisch. „So hat er es mir gesagt.“ Ofterdinger blieb voller Geduld, er lächelte sogar. „Mit diesen Ausländern ist es eine Plage, mein Fräulein! Sie verstehen kaum Deutsch, und das macht die Verständigung schwer. Bei dem Tuyan war es so, daß ich mich um Arbeit für ihn kümmern wollte. Das habe ich ihm gesagt.“ Er wandte sich mir zu und erklärte: „Tuyan kam mit einem Besuchsvisum ins Land, und damit kann ihn kein anständiger Makler unter Vertrag nehmen. So ein Ausländer braucht zunächst mal eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Darauf gibt es – vielleicht – eine Arbeitserlaubnis. Um diese Papiere wollte ich mich nun allerdings bemühen, aber in Tuyans Fall lehnten die Behörden ab. Als er dann ein zweites Mal zu mir kam, mußte ich ihn fortschicken. Im Grunde schien es mir am besten so. Der Junge war nicht robust genug für die Arbeit im Hafen. Ansonsten machte er einen ganz guten und intelligenten Eindruck. Sah auch blendend aus, herrlich gewachsener Körper und dann diese Glutaugen, na, Sie wissen schon.“ Ofterdinger streifte Lore mit einem heiter lächelnden Blick. „Wenn er Ihnen also gesagt hat, er würde für mich arbeiten, da hat er einfach ein bißchen angegeben, mein Fräulein.“ „Warum sollte er das?“ „Vielleicht wollte er Ihnen zu verstehen geben, daß er von niemand abhängig ist, wissen Sie? Diese Ausländer haben ja starke Minderwertigkeitskomplexe, wenn sie zu uns kommen. Und nun kenne ich natürlich auch nicht die Art von Beziehung, die Sie miteinander pflegen.“ Wieder ließ Ofterdinger einen seiner Blicke über Lore hingleiten. 36
„Die Art der Beziehung scheint mir für meine Frage ganz unerheblich zu sein“, erwiderte Lore mit einer Kühle, die mich ungemein erfrischte. Ich sagte: „Wir müssen uns dann eben doch an deinen Vater wenden, Lore!“ „Und was sollte der Herr Vater dieser jungen Dame bei alledem tun?“ „Vielleicht sollte er die Ermittlungsbehörde in Gang setzen“, antwortete ich und sah dem Makler fest in die Augen. „Schließlich ist er ja Staatsanwalt.“ „Ach –!“ Und nach einer Pause: „Wie heißt er denn?“ „Pohl! Oberstaatsanwalt Pohl!“ Wieder entstand eine Pause, in der uns Ofterdinger versonnen anschaute. Dann sagte er: „Ja, das würde ich an Ihrer Stelle wohl auch tun, Fräulein Pohl! Ich wundere mich nur, daß Sie es nicht schon längst gemacht haben. Sprechen Sie mit Ihrem Herrn Vater! Auch mir wäre es lieb, wenn die Sache rasch aufgeklärt würde.“ Und auf einmal hatte es der Makler eilig. „Sie müssen mich entschuldigen, aber ich habe heute Zahltag. Auf Wiedersehen denn!“ Er wandte sich um und ging auf den Eingang des Wohnheimes zu. Hinter ihm zog eine Wolke grübelnder Nachdenklichkeit, die konnte man beinahe in der Luft liegen sehen. „Was meinst du?“ fragte Lore, nachdem er dann endlich verschwunden war. „Er hat viel zuviel geredet“, erwiderte ich, „und seine Türken viel zuwenig.“
5. Wir fuhren in die Stadt zurück. Lore hockte mit zusammengepreßten Lippen neben mir und starrte auf die Fahrbahn. Ich zog den Zettel aus meiner Tasche. 37
„Mach mal das Innenlicht an“, bat ich sie. Sie tat es, und ich reichte ihr das Stück Papier. „Kannst du lesen, was darauf steht?“ Sie hielt den Zettel gegen die kleine Lampe und buchstabierte: „Flatterich –“ Sie schaute mich fragend an. „Was soll das bedeuten?“ „Jemand hat ihn mir im Wohnheim zugesteckt.“ „Und wer?“ „Keine Ahnung! Ich stand mitten im Gedränge, und plötzlich hatte ich den Zettel in der Hand.“ Sie wurde munter. „Aber dann hängt das bestimmt mit Tuyan zusammen. Jemand wollte dir zu verstehen geben, wo wir ihn finden können.“ „Schon möglich! Aber dieses ‚Flatterich‘, was soll das denn heißen?“ Wieder schaute sie auf den Zettel. „Das ‚a‘ hier könnte auch ein ‚e‘ sein, dann hieße es etwa ‚Fletterich‘ oder auch nur ‚Fleterich‘!“ „Damit kann ich auch nichts anfangen.“ „Laß uns überlegen! Dies Geschreibsel muß doch einfach einen Sinn ergeben!“ Sie knipste das Lämpchen aus und lehnte sich zurück. Wir fuhren durch die Innenstadt in Richtung Winterhude, wo ich meine Wohnung hatte. Die Straßen waren beinahe leer, aber ich ließ mir trotzdem viel Zeit, denn ich hatte auch etwas, worüber ich grübeln konnte. Mir kamen Ofterdingers Worte wieder in den Sinn, die Worte über den gutaussehenden Türken mit dem herrlichen Körper und den Glutaugen. Schließlich fragte ich: „Dieser Tuyan – was ist das für ein Mensch?“ „Wie soll ich sagen“, erwiderte sie zögernd, beinahe widerwillig, „ein Türke eben.“ „Ja, das dachte ich mir schon, nachdem ihr euch dort kennengelernt habt.“ Ich war auch nicht gerade fröhlich. Wir hatten bisher nicht viel über den Burschen gespro38
chen, aber wenn ich schon kreuz und quer durch die Stadt fuhr, um nach ihm zu suchen, wollte ich wenigstens ein bißchen über ihn wissen. „Ist er in deinem Alter?“ „Eher jünger.“ Das beruhigte mich. Ich war um die Vierzig, obwohl man mir das nicht ansah, wie ich jedenfalls hoffte. Der Unterschied zwischen Lore und mir war auch beträchtlich, aber doch sicherlich irgendwie gegebener. Was konnte sie auf die Dauer mit so einem jungen Burschen anfangen, einem halben Kind, dazu noch Türke. Hier stockte ich, denn auf keinen Fall wollte ich so dumm überheblich sein wie Ofterdinger. Den Türken strich ich also wieder, blieb der junge Bursche, das Kind. Das beruhigte mich, wie gesagt, aber nur für einen Moment. Es gibt immerhin Frauen … „Was macht er, hat er auch einen Beruf?“ „Er studiert“, erwiderte sie einsilbig. „Und was?“ „Medizin!“ Wieder grübelte ich eine Weile, bis ich zum nächsten Schlag ausholte. „Manche Studenten machen sich während der Saison an allein reisende Frauen heran, sie bessern damit ihre Bezüge auf.“ Schon während ich es aussprach, wußte ich, wie albern ich mich benahm, aber ich konnte mich einfach nicht bremsen. „Es war noch gar keine Saison“, antwortete sie ruhig. „Jedenfalls habe ich das mal in einer Illustrierten gelesen, das weiß ich noch.“ „Du liest viel in Illustrierten, nicht wahr?“ Jetzt lag unverhüllter Spott in ihrer Stimme. „Liest du manchmal auch in einem Buch?“ Darauf antwortete ich nicht, lag doch einfach unter meiner Würde. So fuhren wir in drückendem Schweigen weiter. Bis sie herangerutscht kam und sich an mich lehnte. 39
„Wir wollen uns nicht so blöde haben“, sagte sie. Und dann: „Also – Tuyan ist Anfang Zwanzig, er studiert Medizin. Wir kannten uns genau acht Tage lang, und es war eine angenehme Zeit mit ihm, das habe ich dir schon einmal gesagt. Eine heitere, fröhliche, ausgelassene Zeit! Wir gingen spazieren, badeten oder lagen einfach am Strand. Und geschlafen haben wir auch zusammen. Das ergibt sich doch so, wenn man sich mag, und im Grunde ist es ja auch nur das, was du wissen willst. Also, nun weißt du es! Aber ich habe dir auch gesagt, daß dies nun nicht mehr für mich zählt. Es war eben doch nur eine Episode, von der man gleich am Anfang ahnt, daß sie nicht dauern kann.“ „Aber eines Tages stand er vor deiner Wohnungstür!“ „Ja.“ „Was wollte er denn?“ Sie überlegte einen Moment, aber dann wurde ihr wohl klar, daß ich so eine Art Anrecht auf eine Erklärung hatte. So fuhr sie zögernd fort: „Für ihn waren diese acht Tage eben keine Episode gewesen. Er hatte gehofft, daß es mit uns beiden weitergehen könnte. Außerdem hatte er noch andere Pläne, wollte hier studieren und so. Aber dazu brauchte er natürlich Geld. So hörte er bei Landsleuten herum, und die verwiesen ihn an Ofterdinger. Er ging hin, und als wir uns wiedersahen, erzählte er mir, daß es geklappt habe, er würde nun im Hafen arbeiten. Er sei auch aus dem Hotel ausgezogen, wo er ein Zimmer hatte, und lebe mit seinen Landsleuten zusammen in Ofterdingers Wohnheim. Das war Sonntag vor vierzehn Tagen, und es war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Wir waren für den darauffolgenden Sonntag wieder verabredet, und als er nicht kam, ging ich am Montag zu Ofterdinger. Er hat sein Büro beim Alten Fischmarkt, und er erzählte mir haargenau das, was er heute wiederholt hat. Er lügt, nicht wahr? Er muß doch lügen.“ Ich zuckte die Achseln. 40
„Ich kann mir nicht helfen, aber der Mann macht keinen seriösen Eindruck auf mich. Auf dich etwa?“ „Könnte ich nicht behaupten.“ „Schon sein Büro! Er hat zwei Räume in dem riesigen Bürohaus. Im ersten Zimmer steht ein Tisch mit einer Schreibmaschine darauf, aber eine Sekretärin sah ich nicht. Und das andere Zimmer, in dem wir dann sprachen, da hatte ich auch nicht das Gefühl, als ob dort jemals gearbeitet würde. Er zeigte mir zwar eine Karteikarte mit Tuyans Namen, aber die war leer. Außer dem Namen stand nichts darauf. Ich glaube, sein ganzes Büro besteht aus einem Karteikasten und einem Telefon.“ „Daran ist noch nichts Verbrecherisches!“ Dann kam ihr ein Gedanke. „Hast du ihn eigentlich beobachtet, als er den Leuten ihr Geld auszahlte? Vor ihm lagen doch solche Listen.“ „Na ja, da standen die Stundenabrechnungen drauf.“ „Da war aber außerdem noch ein kleines Notizbuch, in dem er blätterte. Hast du das auch gesehen?“ Ich hatte es gesehen, und ich hatte mir meine Gedanken deswegen gemacht. „Er sagte uns, kein anständiger Makler dürfe einen Ausländer beschäftigen, der nichts außer seinem Besuchsvisum besitzt. Und wenn er es doch tut?“ „Könnte er ihn nicht über die Bücher laufen lassen“, erklärte ich ihr. „Sein Name dürfte auf keinen Fall in irgendeiner Liste auftauchen.“ „Dafür dann das Notizbuch. Ist das kein Beweis?“ „Beweis wofür?“ „Daß Tuyan bei ihm gearbeitet hat!“ „Na ja, ein Beweis ist das gerade nicht“, meinte ich einschränkend. Aber sie war wie elektrisiert von ihrem Gedanken. „So überleg doch mal! Was soll dieses Notizbuch neben den Listen, wenn nicht etwas schräg an seiner Buchführung ist.“ 41
„Und die Türken?“ fragte ich. „Niemand will den Namen Tuyan jemals gehört haben.“ „Aber die hatten Angst vor Ofterdinger, hast du das nicht gesehen? Das waren doch die reinsten Jammergestalten!“ „Etwas ist faul an dem Kerl“, gab ich endlich zu. „Wir sollten zur Polizei gehen, besser noch, du solltest mit deinem Vater sprechen!“ „Nein!“ Sie schrie mich beinahe an. Immer wenn die Sprache auf ihren Vater kam, lag ein harter, abweisender Ton in ihrer Stimme. Plötzlich fiel mir etwas ein. „Ich kenne eine kleine, miese Kneipe am Steinhöft, die heißt ‚Zum Fleeterich‘. Ob die mit dem Geschreibsel auf dem Zettel gemeint ist?“ „Fahren wir doch mal hin, bitte!“ Ich schüttelte den Kopf. „Ganz ausgeschlossen! In diese Gegend kann man mit einer Frau nicht gehen, bei Nacht nicht!“ Ich griff nach ihrer Hand, weil ich merkte, wie enttäuscht sie war. „Ich bringe dich in meine Wohnung und fahre dann zu dem Lokal, wie findest du denn das?“ „Ich möchte nicht allein bleiben.“ „Angst –?“ „Du weißt, was gestern passiert ist.“ Ja, das wußte ich, schließlich hatten wir uns dadurch kennengelernt. „Und was ist mit deiner Freundin?“ „Gisela Escherich?“ „Würdest du bei der bleiben?“ Sie nickte. „Also, versuchen wir es, vielleicht ist sie zu Hause!“ Es war kein großer Umweg. Ich mußte nur bei Mundsburg in die Hamburger Straße einbiegen, um zur Richardstraße zu kommen. Dort wohnte Gisela Escherich in einem der modernen Appartementhäuser. Lores Freundin war daheim. Als wir aus dem Wagen stiegen 42
und die Fassade hinaufblickten, sahen wir hinter ihren Fenstern Licht brennen. Lore sprach mit ihr über die Sprechanlage. Dann wurde es hinter den Scheiben der Eingangstür hell, und wir warteten. Wir sahen uns in die Augen. „Über die Türkei machen sie viel mit Rauschgift!“ sagte ich plötzlich. „Ja, und?“ „Ich habe das auch aus Illustrierten, du kannst ruhig darüber lachen!“ Aber sie lachte nicht, sie sah mich aufmerksam an. „Was willst du damit sagen?“ „Er reiste dir hierher nach, weil er eure acht Tage nicht vergessen konnte, nicht wahr? Hat er doch gesagt. Aber wenn das nicht der wirkliche Grund war?“ „Sondern?“ Ich antwortete nicht. Ich scheute mich, es auszusprechen. Diesmal war es nicht nur alberne Eifersucht, es steckte mehr dahinter. Plötzlich hatte ich so ein Gefühl, als sei sie durch ihren Urlaubsflirt in eine böse Sache hineingeschlittert. „Du meinst, er transportiert Rauschgift?“ Sie sah mich unverwandt an, und da ich nicht antwortete, fragte sie endlich: „Vertraust du mir eigentlich?“ „Ich liebe dich!“ „Ja, ja –“ Plötzlich lächelte sie. „Aber das war nicht meine Frage. Vertraust du mir, so herum ging es, und vor allem: Vertraust du auch meinem Urteil?“ „Ja.“ „Dann hör gut zu! Tuyan hat mit solchen Dingen nichts zu tun, liegt ganz außerhalb seines Bereichs.“ Was sollte ich darauf erwidern? Wir hörten schon die Schritte von Fräulein Escherich hinter der Eingangstür, als ich endlich doch fragte: „Wie denn nun? Wirst du so eine Meinung eines Tages auch von mir haben?“ Sie sah mir fest in die Augen, und dann zog sie sich an 43
mir hoch und küßte mich auf den Mund. Aber da wurde schon die Tür geöffnet, und Fräulein Escherich sagte: „Laßt euch durch mich auf keinen Fall stören!“ „Das ist Herr Ahrens“, meinte Lore, „ich habe dir am Telefon von ihm erzählt. Und dies, mein Lieber, ist Gisela Escherich. Mach deinen Diener!“ Ich tat es, und Fräulein Escherich sah mich prüfend an. „Der Mannaiso, der dir gestern das Leben gerettet hat!“ Über ihr Gesicht glitt ein Lächeln. Die Frau war groß und schlank und im gleichen Alter mit Lore. Aber viel konnte ich an diesem ersten Abend nicht von ihr erkennen, denn sie stand mit dem Rücken zum Treppenhauslicht, und ihr Gesicht blieb ganz im Dunkeln. „Ganz so schlimm war es wohl nicht“, erwiderte ich. „Mir reichte es“, sagte Lore. „Schließlich bin ich fast gestorben vor Angst.“ Ich fuhr fort: „Und deshalb möchte sie auch jetzt nicht allein bleiben. Wir kommen gerade aus dem Wohnheim, und ich will noch mal rasch zum Steinhöft.“ „Immer noch auf der Suche nach Osman Tuyan?“ „Ja.“ Fräulein Escherich wandte sich Lore zu. „Warum läßt du die Sache eigentlich nicht auf sich beruhen? Wäre doch eine gute Gelegenheit, den Türken loszuwerden.“ „Und das fändest du korrekt?“ „Ach, hör mal! Als Tuyan herkam, rechnete er sich aus, daß er mit dir leben könnte. Aber dann durfte er nicht mal bei dir wohnen, er mußte in das Hotel. Der Junge ist doch nicht dumm, und er ist auch nicht ohne Stolz! Deshalb läßt er sich nicht mehr bei dir sehen. Vielleicht ist er auch gar nicht mehr in der Stadt. Oder vielleicht hat er inzwischen längst eine andere gefunden. Du bist doch schließlich nicht einmalig, mein liebes Kind!“ Dieses Fräulein Escherich war mir vom ersten Moment an sympathisch, fand ich, die hatte wirklich vernünftige Ansichten. Dennoch sagte ich: „Ich versuche 44
das noch mal mit dem Steinhöft. Ich fahre in das Lokal, und vielleicht höre ich dort etwas über Tuyan.“ „Und ich störe dich nicht?“ fragte Lore. Gisela Escherich zuckte die Achseln. „Hab dich nicht so, komm herauf!“ Sie trat einen Schritt in den Hausflur zurück, um Lore Platz zu machen. Aber Lore kam noch einmal zu mir und umarmte mich. „Mach ganz schnell, ja?“ flüsterte sie. „Ich warte auf dich!“ Die Woge eines Glücksgefühls, oder wie man das nennt, durchströmte mich. In diesem Augenblick wußte ich felsenfest, daß auch Lore mich liebte. Ich sah ihr nach, wie sie im Treppenhaus verschwand und wie die Tür hinter ihr ins Schloß fiel. Dann wandte ich mich um. Ja, natürlich, ich würde mich beeilen! Aber wenn ich geahnt hätte, wenn ich auch nur den leisesten Schimmer von dem gehabt hätte, was nun folgen sollte, ich wäre nicht zum Steinhöft gefahren! Ich hätte alles anders gemacht! In diesem Moment, so glaube ich, da hatte ich es noch in der Hand. Da hätte ich noch alles ändern können!
6. Natürlich kannte ich den „Fleeterich“ nicht von innen, aber sooft ich durchs Steinhöft kam, fiel mir das Schild über der Kneipe auf, dieses nach Großväterart gemalte und sehr bunte Reklameschild, auf dem ein bärtiger Schipper seine Schute durch ein Fleet stakt. Durch dieses Bild hatte sich mir schließlich auch der mögliche Zusammenhang zwischen der Notiz aus dem Wohnheim und dem Lokal hergestellt. Ich parkte den Fiat gegenüber dem Eingang, vor dem sich eine Menge Türken drängte. Dann warf ich mich in das Gewühl, mit beiden Armen rudernd, um die Tür zu erreichen. Die Ausländer machten nur widerwillig Platz, und 45
es fielen Bemerkungen, die sicher nicht allzu freundlich gemeint waren. Der Lärm schlug mir geradezu ins Gesicht, als ich eintrat, Schreien, Lachen und Musik aus einer Box. Über dem Raum lag dichter, stickiger Rauch. Mehr als ich sie sah, ahnte ich die Nischen auf der rechten Lokalseite mit den Bänken und Tischen darin. Auch die Mitte des Raumes war mit Sitzgelegenheiten vollgestopft. Auf der linken Seite befand sich die Theke mit den hohen Hockern davor. Hinter dem Tresen gab es eine bis zur Decke reichende Bordwand, die Regale enthielten neben Flaschen und Gläsern allerlei anderen Krimskrams, wie man das aus Hafenkneipen kennt. Die Einrichtung des Lokals stammte noch von der Gründerzeit her, und um diese Zeit etwa mußte hier wohl auch zum letzten Mal ausgefegt worden sein. Neben der Theke stand ein dicht umlagerter Spielautomat. In ihm drehten sich Glücksräder, die immer nur dem Geld bringen, der sie aufstellt. Der Laden war bumsvoll. Ich hatte einige Mühe, mich zum Tresen vorzuarbeiten, aber irgendwie gelang es mir, und merkwürdigerweise fand ich sogar einen Hocker. Ich setzte mich. Der Wirt hinter der Zapfsäule warf mir einen schrägen Blick zu. Auf der Tropfplatte standen halbvolle Bierseidel, zwanzig oder mehr, das Bier schien in Strömen zu fließen. Ein Glas nach dem anderen nahm er hoch und füllte es auf. Er zeigte Routine darin, denn er stellte den Hahn gar nicht ab. Er fragte: „Was hat Sie denn an diese Küste verschlagen?“ „Ein Bier vielleicht?“ Der Wirt schob schweigend eins der gerade aufgefüllten Gläser vor mich hin. Ich sah ihn an. „Deutsche sind hier wohl kaum noch erwünscht, wie?“ Der Wirt antwortete nicht, er stellte eine Batterie Gläser auf ein Tablett. Ein Kellner kam heran, zählte Blech46
marken ab und warf sie in ein Glas auf der Zapfsäule. Auch er musterte mich mißtrauisch, bevor er sich mit dem Tablett erneut in das Gewühl stürzte. „Ich suche nach einem jungen Burschen – Osman Tuyan!“ sagte ich und trank einen Schluck von meinem Bier. „Glauben Sie, ich könnte mir auch nur einen Namen von diesen Alibabas merken, Herr Kommissar?“ fragte der Wirt. Ich lächelte. „Ich bin nicht von der Polizei.“ „Wirklich nicht?“ Der Wirt blieb mißtrauisch. „Von der Ausländerpolizei mal abgesehen, haben wir kaum noch Deutsche hier, schon lange nicht mehr.“ Ich zuckte die Achseln und wandte mich einem der neben mir stehenden Südländer zu, aber noch ehe ich ihn ansprechen konnte, kehrte er mir den Rücken. „Sinnlos“, meinte der Wirt grinsend. „Sprechen außerdem kaum ein Wort Deutsch. Können nur Bier schlucken.“ „Und zahlen!“ Der Wirt war dabei, eine weitere Partie Gläser vollzuschenken. „Ich will Ihnen das mal erklären, Herr Kommissar“, sagte er, auf meinem neuen Titel bestehend. „Bevor die Türken hier an Land geschwemmt wurden, hatte ich Nutten hier, von den billigen, und die Freier von denen … ach, du meine Güte! Also, da sind mir diese Krummsäbel lieber.“ Er stellte den Bierhahn ab, langte nach einer Zigarette und zündete sie an. „Und irgendwo müssen die ja schließlich bleiben, oder nicht? So einen kleinen Platz nach der Arbeit braucht doch jeder. Sind ja schließlich auch Menschen.“ Er kam vertraulich näher und blies mir Zigarettenrauch ins Gesicht. Ich hustete. „Die werden hier ins Land geholt, und die Scheißer im Fernsehen reden von Integration“, fuhr er fort. „Und in Wirklichkeit? Dürfen sie die Drecksarbeit tun, weil die deutschen Pinkel dafür zu fein geworden sind. Und 47
nach Feierabend? Will sie keiner haben. Mit großen Rosinen im Kopf kommen die hier an – Freundschaft … Türken … Deutsche! Die gehen heute nicht mehr nach Mekka, die kommen zu uns. Und dann? Was wird daraus? Aus all den Hoffnungen? Alles großer Mist! Ich sehe, wie sie von Woche zu Woche stiller werden, wie sie zu saufen anfangen. Manche werden böse, aggressiv, aber die meisten werden nur traurig … so was von traurig, sage ich Ihnen.“ Der Wirt hatte plötzlich selbst etwas Trauriges im Blick. Beinahe glaubte ich ihm, daß er es ehrlich meinte. Gerade rechtzeitig fiel mir noch ein, daß ihm die Türken mit ihrem Ghettoleben, nicht nur am Schlafplatz, sondern auch dort, wo sie ihr Bier tranken, schließlich das Geschäft brachten. Und dennoch schien der Mann irgendwie Mitleid mit ihnen zu haben, wie ich vielleicht, wenn ich eine streunende Katze sehe. „Zum Beispiel der!“ sagte er und deutete auf die letzte Nische im Lokal. Dort hockte ein junger Bursche allein, und das war ungewöhnlich, denn die anderen Tische waren dicht umlagert. Nur bei dem Jungen in der Nische saß niemand, ganz so, als sei etwas Aussätziges an ihm. „Vor einer Woche hatte der Geld wie Heu, schmiß mit Hunderten nur so um sich. Lud alle ein. Schnaps und Bier in Strömen! Alle waren seine Freunde, verstehen Sie das? Ich glaube, genau das brauchte der mal. Heute hat er keinen Pfennig mehr in der Tasche, aber er kommt immer noch, und manchmal stellt einer ein Glas hin. Spendieren Sie ihm eins! Er spricht sogar ein bißchen deutsch. Vielleicht kennt er den, nach dem Sie suchen, und vielleicht sagt er es Ihnen schließlich für ein Bier.“ Viel konnte ich von dem jungen Türken nicht erkennen. Bis zur Nische waren es etliche Meter, und dazwischen zogen dichte Tabaksschwaden durch das Lokal. Ich sah, daß er schwarzhaarig und glutäugig war, aber das waren sie ja immerhin alle. Nur saß er eben, scheinbar 48
mit einem Makel behaftet, für sich allein. Sollte der … Osman Tuyan? Nein! Ich wandte mich zur Theke zurück und fand mich direkt dem Wirt gegenüber, der über dem Tresen lehnte. Eine Weile lang starrten wir uns in die Augen, dann ging der Mann zu seinen Zapfhähnen zurück. Wahrscheinlich hielt er mich noch immer für einen von der Ausländerpolizei. „Geben Sie mal zwei Biere!“ sagte ich und zählte Hartgeld ab. Ich griff nach den beiden Gläsern und zwängte mich an den Stühlen und Tischen vorbei. Der Lärm verstummte auf meinem Weg, und so zog ich eine deutliche Spur. Die Türken musterten mich mißtrauisch, während sie enger zusammenrutschten. Der Junge in der Nische nahm keine Notiz von mir. Er hatte die Arme auf den Tisch gestützt und starrte in sein leeres Glas. Ich nahm es weg und schob das volle vor ihn hin. Auch jetzt blickte der Türke nicht auf. Ich setzte mich, hob mein Glas ihm entgegen und sagte lächelnd: „Prost!“ Jetzt traf mich sein Blick schräg von unten her. In seinen Augen lag Mißtrauen und vielleicht auch ein bißchen Angst, weil plötzlich ein Deutscher bei ihm am Tisch saß. Der Junge war Anfang Zwanzig, in dem Alter also, das Lore mir genannt hatte. Er machte einen recht intelligenten Eindruck; irgendwie schien er sich von den Gästen, die sonst herumsaßen, zu unterscheiden. Und er wirkte auch sympathisch, ganz so wie einer, der bei Frauen ankam. „Sie sprechen deutsch, nicht wahr?“ sagte ich langsam und betont, in dieser albernen Redeweise, die man Ausländern gegenüber anwendet. Er antwortete nicht. Natürlich hielt auch er mich für einen Polizisten. „Ich bin nicht von der Polizei“, meinte ich und versuchte ein gewinnendes Lächeln in mein Gesicht zu bringen. „Lore Pohl schickt mich. Kennen Sie die?“ Wieder keine Antwort! Seine Augen glitten von mir 49
fort und wanderten langsam durch das Lokal. Die Türken an den anderen Tischen nahmen keine Notiz von uns, jedenfalls taten sie so. Das schien den Jungen zu beruhigen. Hastig griff er nach dem Bier und trank es auf einen Zug. „Ich suche nach einem Osman Tuyan“, sagte ich. Er sah mich über den Rand des Glases, das er an den Lippen hielt, lange an. Noch immer lagen Angst und Mißtrauen in seinem Blick, aber die Angst überwog jetzt ganz eindeutig. Er antwortete nicht. „Er soll im Hafen als Schauermann gearbeitet haben“, fuhr ich fort. „Er ist ein Freund von Fräulein Pohl, und wir suchen nach ihm. Kennen Sie ihn?“ Er stellte das Glas ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Tuyan –?“ Ich nickte eifrig. „Tuyan –! Ich … ich bin …“, stotterte er und schwieg erneut. Aber dann neigte er sich plötzlich über den Tisch zu mir. „Geben Sie noch ein Bier!“ „Sie können soviel Bier haben, wie Sie wollen“, meinte ich erleichtert. „Aber sagen Sie mir erst, ob Sie Osman Tuyan kennen!“ „Kennen –“, seufzte er beinahe gequält. Wieder schwieg er. Aber ich spürte, wie er mit einem Entschluß rang. Ich störte ihn nicht, ich beschränkte mich, ihm freundlich zuzulächeln. Zweifellos hatte mich der Zettel aus dem Wohnheim zu dem richtigen Mann geführt. Entweder war er Tuyan selbst, oder er wußte etwas über ihn. Dann sah ich, wie er sich innerlich einen Ruck gab. Auf einmal lag etwas Freches in seinem Blick. „Geben Sie mir Geld“, sagte er, „viel Geld, ja? Fünfhundert Mark! Wollen Sie?“ Nun war die Reihe an mir, mißtrauisch zu werden. „Das ist wirklich viel Geld!“ „Ich weiß“, sagte er grinsend. „Fünfhundert Mark, das ist viel Geld, aber ich brauche es.“ 50
„Und dann?“ „Dann werde ich Ihnen sagen!“ „Über Tuyan?“ Er nickte. „Über Tuyan, ja! Alles!“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah mich an. Der Junge war entschieden verwandlungsfähig, denn nun hatte er etwas von einem orientalischen Händler, der seinen Kunden übers Ohr hauen will. „Alles werde ich Ihnen sagen! Alles!“ Er senkte die Stimme zu einem Flüstern und schloß: „Ich – ich selbst …“ Was nun kam, entwickelte sich rasch, und es fällt mir schwer, den Ablauf in seinen einzelnen Phasen zu rekonstruieren. Sah ich die Klingen der beiden Messer zuerst? Hörte ich das leichte Klicken, mit denen sie aus den Schäften schnellten? Nahm ich überhaupt die Schatten wahr, die plötzlich hinter dem jungen Türken auftauchten? Auf einmal waren sie jedenfalls da! Wie aus dem Nichts, schien es mir. Zwei Männer mit ernsten Gesichtern, und die Spitzen ihrer feststehenden Messer drückten von beiden Seiten gegen den Hals des Jungen vor mir. Von diesem Augenblick an lag tödliche Stille über dem Lokal. Der Lärm vorhin war beinahe unerträglich gewesen, unerträglicher jedoch wirkte diese Stille, in der jeder, auch ich, den Atem anhielt. Der junge Türke saß hochaufgerichtet. Wenn er angetrunken gewesen war, wurde er von einem Moment auf den anderen nüchtern. Ich selbst empfand nicht viel, außer einer großen Leere in mir eigentlich gar nichts. Das Ganze war so ein Ding, bei dem alle Lampen in einem ausgehen. Mir kam gar nicht die Idee, dem Jungen beizuspringen, das wäre sinnlos gewesen, denn die Spitzen der Messer an seiner Halsschlagader verboten jede Reaktion. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich den Wirt unter der Theke herumtasten und schließlich einen Gummiknüppel auf den Tresen legen; das war alles, was er sich leistete. Lore – dachte 51
ich! Wie gut, daß ich sie nicht mitgenommen hatte! Die beiden Gangster waren ebenfalls Ausländer … Italiener, Griechen, Türken – ich wußte es nicht. Mich beachteten sie nicht, sie schauten nur auf den Jungen, und dann zischte der eine etwas. Der Türke stand auf, vorsichtig und mit dem Versuch, nicht zu schwanken, denn die Spitzen der Messer blieben an seinem Hals. Er hatte sich in sein Schicksal ergeben, so schien es. Mit einem Blick, in dem außer einer grenzenlosen Traurigkeit nichts weiter lag, schaute er mich noch einmal an. Dann wendete er sich dem Lokal zu. Die Gäste an den Tischen saßen bewegungslos, es hatte alles etwas von einer gestellten Szene in einem Panoptikum. Wie sie dasaßen mit geweiteten Augen, offenen Mündern, die Arme in halb ausgeführten Bewegungen erstarrt, das war nicht ohne Komik. Aber natürlich lachte niemand. Wir wagten ja kaum zu atmen. Die beiden Gangster führten den Jungen zum Ausgang. Er machte langsame, tastende Schritte. Seine Augen starrten weder nach links noch nach rechts, starr waren sie auf die Tür der Kneipe gerichtet, der er entgegenging. Die stand sperrangelweit offen, und draußen sah ich weitere Türken zu beiden Seiten aufgereiht, als ob sie ein Spalier bildeten. Wer hatte diesen Überfall veranlaßt, gerade in dem Augenblick, als ich mit dem Jungen in Kontakt kam? Das war doch kein Zufall, daß sie ihn gerade jetzt hinausführten! Ich sollte nicht mit ihm sprechen! Warum? Weil er etwas über Osman Tuyan wußte, es vielleicht sogar selbst war? ‚Ich bin‘, hatte er gesagt, und – ‚ich selbst‘. Wenn der Überfall mit meinem Auftauchen hier zusammenhing, mußten sie den Jungen die ganze Zeit über beobachtet haben. Oder nicht den Jungen, sondern mich? Wer waren diese Leute? Gehörten sie derselben Gruppe an, die auch Lore gestern im Hafen belästigt 52
hatte? Wenn das alles einen Sinn ergeben sollte, mußte es so sein. Jedesmal, wenn einer Osman Tuyans Spur aufnahm, waren welche zur Stelle, die das zu verhindern suchten. So war es mit Lore im Hafen gewesen, und so war es jetzt mit mir. Wer hatte ein Interesse daran und aus welchem Grund? Ofterdinger? Ob er oder ein anderer, ich mußte es herausfinden. Ich stand auf und ging zum Ausgang. Noch immer saßen die Türken verstört an den Tischen und starrten zur Tür. Niemand sprach mich an, niemand hielt mich auf, als ich durchs Lokal ging. Auch der Wirt nicht. Er stützte sich schwer auf den Tresen, die rechte Hand um den Gummiknüppel gekrampft, und verfolgte schweigend und mit gläsernem Blick meinen Abgang.
7. Es war recht frisch in dieser Nacht, besonders am Hafen, wo vom Wasser her eine kühle Brise wehte. Aber mich fror nicht, im Gegenteil, ich war in dem Lokal so ins Schwitzen gekommen, daß mir das Hemd am Körper klebte. Mein Fiat parkte am Johannisbollwerk, ganz in der Nähe der Landungsbrücken, wo das gestern mit Lore passiert war. Ich hockte hinter dem Lenkrad, untätig, ohne mich zu rühren. Ich mußte Ordnung in meinen Kopf bringen, überlegen, was zu tun sei. Aber mir fiel nichts ein. Auf der Straße war es still. Nur selten fuhr ein Wagen vorbei. Ich hörte das Glucksen des Wassers und das Ächzen der Pontons, die im Hafenbecken auf und nieder gingen und sich aneinander rieben; es klang wie das Ächzen eines sehr alten Menschen, der eine Treppe hinaufsteigt. Vom Freihafen, wo man rund um die Uhr Schiffe entlud, drangen auch Laute herüber, das Poltern schwerer Gegenstände und das Jaulen der Kranwinden. Alles gedämpft, denn zwischen den Landungsbrücken und den Kaianlagen fließt die Norderelbe. 53
Polizei – dachte ich! Ich mußte zur Polizei gehen. Schließlich war die für solche Sachen da. Und es hatte gar keinen Sinn, Lore vorher anzurufen, um ihr zu berichten, was im „Fleeterich“ passiert war. Natürlich würde sie sich aufregen, und natürlich würde sie verlangen, daß ich eben nicht zur Polizei ging. Deshalb war ich auch im ersten Impuls aus dem „Fleeterich“ verschwunden, bevor der Peterwagen eintraf. Aber hatte der Wirt überhaupt einen gerufen? Von hier bis zum Steinhöft war es nur ein Katzensprung, und eigentlich hätte ich die Sirene des Polizeiwagens hören müssen. Aber nichts! Keine Sirenen, die die nächtliche Stille durchbrachen! Inzwischen waren fünf oder zehn Minuten vergangen, seit ich das Lokal verlassen hatte. Ich griff nach Lores Zigaretten auf dem Ablagebrett und zündete eine an. „Candida“ hieß die Marke, und die Reklame versprach: so schlank, so zart, für Männerhände viel zu schade. Die richtige Sorte also, dachte ich, und begann zu husten. Ich rauche sonst nicht. Lebe überhaupt recht mäßig. Und nun seit gestern! Der Überfall auf Lore bei den Landungsbrücken, den ich beobachtete – und wo ich mich plötzlich, eigentlich gegen meine Art, einmischte. Und dann die fremde Frau in meiner Wohnung. Lore –! Der Alkohol während der Nacht! Und nun auch noch Zigaretten! Das nahm Formen an. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter und warf die Zigarette auf die Straße. Ja, sie hatten uns beobachtet! Wahrscheinlich schon vom Haus meiner Eltern an bis zum Ausländerwohnheim in Billstedt. Und von dort bis zu Lores Freundin und weiter bis zum „Fleeterich“. Und als sie sahen, daß ich mit dem Türken in Kontakt kam, hatten sie ihn sich gegriffen! Lore war da auf der Suche nach diesem Tuyan in eine Sache hineingeschlittert, die unsere Kräfte überstieg. Wir waren nicht die Menschen für so etwas, und darum mußte die Polizei her! Auch wenn Lore es ihres Vaters wegen nicht wollte. 54
Ich ließ den Motor an und fuhr die Helgoländer Allee hinauf. Beim Bismarck-Denkmal bog ich in die OstWest-Straße ein, und die führte mich fast bis zum Berliner Tor. Dort befindet sich das Polizeipräsidium, ein mächtiger, moderner Bau, an die zwanzig Stockwerke hoch. Von einigen Fenstern abgesehen, hinter denen Licht brannte, lag der Komplex im Dunkeln; hin und wieder muß wohl selbst die Polizei ein Auge zudrücken. So traf ich auch auf einen recht schläfrigen Beamten in der Pförtnerloge, und ein zweiter, auch nicht viel munterer, fuhr mit mir in eins der oberen Stockwerke und führte mich dort durch dunkle Gänge und um mehrere Ecken. Das Dienstzimmer des Kommissars Schnabel wirkte anheimelnd. Auf der polierten, dunklen Schreibtischplatte stand eine Vasenlampe und hüllte den Schädel des Kommissars in ein mildes Licht. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, und alles an ihm wirkte grobschlächtig, der massige Körper und die massigen Partien seines Gesichts. Der Mann aß und trank entschieden zuviel. Die Wangen bildeten schon leichte Taschen, ein paar Jahre weiter, und sie würden über den Unterkiefer herabfallen. Auf seiner Nase saß eine schmal gearbeitete Brille aus Edelstahl und paßte eigentlich nicht in dieses Gesicht. Aber hinter den Gläsern lauerten Augen, in denen ein gewitzter Ausdruck lag. Schnabel war penibel gekleidet, Maßanzug aus tadellosem Stoff, dazu eine Krawatte mit breitem Knoten, alles modisch. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß der Mann viel tat, um seine erschreckende Häßlichkeit zu verdrängen. Später sollte ich ihn ja näher kennenlernen, und da begriff ich, daß der Kommissar unter seiner Körperlichkeit litt; denn die Gefühlswelt in diesem Fleischberg war alles andere als grobschlächtig. Er war empfindsam, schien leicht verletzbar, und er gab sich die allergrößte Mühe, daß es niemand merkte. 55
Er ließ mich reden und unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Als ich mit meinem Bericht zu Ende war, rief er die Einsatzzentrale an, und da erfuhren wir dann, daß man keinen Peterwagen zum „Fleeterich“ gerufen hatte. Die dicken Finger des Kommissars legten den Telefonhörer mit einer Zartheit, die mich verblüffte, auf die Gabel; dann lehnte er sich im Schreibtischstuhl zurück und sah mich versonnen an. Stille! Längere Zeit, in der nichts geschah und in der ich immer kribbeliger wurde. Ich weiß nicht, ob die sich alle soviel Zeit lassen bei der Polizei, Schnabel tat es jedenfalls. „Der Türke hatte also noch vor Tagen sehr viel Geld, er schmiß mit Hunderten nur so um sich?“ fragte er aber dann schließlich doch. „Das erzählte mir der Wirt.“ Schnabel sog ruhig an seiner Pfeife. „Er könnte in eine Bankgeschichte verwickelt sein oder in einen Einbruch – oder in einen Raubüberfall. Viele, sehr viele Möglichkeiten! Aber im Grunde will es mir nicht in den Kopf. Die Gastarbeiter halten eigentlich Ruhe, weil sie mit Ausweisung rechnen müssen. Das Geld könnte von der Horner Rennbahn stammen oder aus einem Lottogewinn, eine harmlose Erklärung.“ „Und wie er aus der Kneipe gebracht wurde“, entgegnete ich nicht so ruhig wie der Kommissar, „wie war denn das? Auch alles ganz harmlos?“ Schnabel nickte bedächtig. „Also doch eine Straftat! Einiges spricht dafür, besonders sein Grundverhalten. Ungewöhnlich für einen Gastarbeiter, daß der Mann sich tagelang in eine Kneipe setzt und mit Hundertern nur so um sich wirft. Die Leute sind sonst sparsam, verändern ihren Lebensstil kaum. Die fressen trocken Brot, tauchen es in Öl, bestreuen es mit Salz. Dazu eine Tomate, eine Paprikaschote. Aus! Hin und wieder einen Brocken Fleisch – fetten Hammel …“ Der Kommissar verzog angewidert das Gesicht. 56
„Die Leute sparen eben“, versuchte ich, ihn für unser Thema zurückzugewinnen. „Natürlich tun sie das! Die drehen jeden Pfennig um, bevor sie ihn ausgeben. Den größeren Teil ihres Lohnes schicken sie nach Hause. Dort wartet schon die Familie darauf, der Rest kommt auf die Sparkasse. Später wollen sie selbst in die Heimat zurück und sich eine Existenz aufbauen. Löblich! Setzt sich also einer von denen mit einem Packen Geld in die Kneipe und verjubelt es, müßte etwas faul daran sein.“ „Eine Straftat also –?“ Kommissar Schnabel stieß eine Tabakswolke aus und begann zu meditieren. „Seine Komplicen sehen ihn mit einem Deutschen an einem Tisch sitzen, den sie in dieser Umgebung für einen Polizisten halten. Sie bringen den Mann schnell weg, bevor er zu singen anfängt.“ „Oder Ofterdinger hat die beiden geschickt!“ „Oder so –“, meinte Schnabel. „Wie kamen Sie eigentlich in die Geschichte, Herr Ahrens?“ „Das war gestern“, begann ich zögernd und sah auf meine Uhr, die eine frühe Morgenstunde anzeigte. „Vorgestern, um korrekt zu sein, vor zwei Tagen also.“ „Und was geschah da?“ fragte der Kommissar freundlich. Ich zögerte noch immer. Den Komplex hatte ich bisher weitgehend ausgelassen, nur ganz allgemein berührt. Aber es nützte ja nichts! Wenn die Polizei uns helfen sollte, mußte sie alles wissen. Ich begann: „Vor zwei Tagen beobachtete ich im Hafen, wie zwei Männer eine junge Frau bedrängten …“ „War das die Frau, die nach dem Gastarbeiter suchte?“ unterbrach mich Schnabel. „Ja, das war sie.“ „Und die Männer, die die Frau belästigten, waren das ebenfalls Ausländer?“ „Nein, das waren Deutsche. Eimsbüttel würde ich sa57
gen, den Slang kriegt ein Fremder ja gar nicht aus dem Mund.“ Ich schwieg und wartete auf die Frage, wer die junge Frau sei, von der ich noch immer recht allgemein berichtete. Aber diese Frage stellte er nicht. Geduldig saß der Kommissar hinter seinem Schreibtisch und sah zu mir herüber. Ein bißchen mußte ich an eine fette Spinne denken, die am Rande ihres Netzes lauert. Lächelnd sagte er: „Erzählen Sie nur weiter, Herr Ahrens!“ „Sie kam kurz vor dem Ablegen auf mein Boot. Ich mache Hafenrundfahrten, müssen Sie wissen. Die Männer sprangen hinterher, ließen sie aber während der Fahrt in Ruhe. Sie saß die ganze Zeit über eingezwängt zwischen beiden und wagte nicht, sich zu rühren. Das fiel mir natürlich auf, und so ging ich ihnen nach, als wir wieder angelegt hatten. Und da versuchten die Männer dann, sie in ein Auto zu zerren, in einen Opel. Ich tat, was ich konnte.“ „Wie sah das aus?“ „Ich brachte sie zu meinem Wagen und fuhr mit ihr weg.“ „Die Burschen ließen das zu?“ „Na ja –“ „Es waren zwei?“ „Ja.“ In den Augen des Kommissars glomm ein sanftes Interesse, während sein geübter Blick meinen Körper taxierte. „Das mag alles abenteuerlicher klingen, als es war“, schränkte ich ein. „Es herrschte Betrieb an den Landungsbrücken, und ein Polizist stand auch in der Nähe.“ „Den riefen Sie nicht?“ „Nein!“ „Und später? Weshalb kamen Sie da nicht zu uns?“ „Sie wollte es nicht.“ „Aus welchem Grund?“ 58
Pause, dann zögernd von mir: „Sie wollte nicht, daß ihr Vater etwas erfuhr.“ „Ihr Vater?“ Die Frage war nur hingetupft, klang ganz allgemein. Wieder mußte ich an die fette Spinne am Rande ihres Netzes denken. Ich sagte: „Der Vater des Mädchens ist der Oberstaatsanwalt Pohl!“ Kaum eine Reaktion von dem dicken Mann, kaum eine Regung in seinem Gesicht. Er stieß eine weitere Tabakswolke aus, die sich rollte und kringelte und deren feine Schlieren zur Vasenlampe zogen. Ich beobachtete den Tabakrauch, und der Kommissar beobachtete mich. Damit hatten wir eine Weile zu tun. Dann sagte ich: „Ich möchte natürlich nicht allzu indiskret sein, aber ich glaube, daß es einige Unstimmigkeiten zwischen Fräulein Pohl und ihrem Vater gibt. Und das ist der Grund, weshalb sie keine Polizei in der Geschichte haben wollte, aber es hilft ja nichts.“ Ich schwieg. „Die Dinge werden immer hübscher“, meinte der Kommissar nach einer Weile. „Wirklich, Herr Ahrens, Sie sorgen für Überraschungen.“ „Kennen Sie den Oberstaatsanwalt Pohl?“ fragte ich. Die Miene des Kommissars blieb undurchdringlich. Er sagte nur: „Hin und wieder habe ich dienstlich zu tun mit ihm.“ „Dann erfährt er es ja nun doch?“ Ein wenig schwang in meiner Frage der widersinnige Wunsch, ob der Kommissar nicht mit uns konspirieren und nun seinerseits den Oberstaatsanwalt aus der Geschichte draußen lassen könne. „Er wird entzückt sein, wie ich ihn kenne“, antwortete Schnabel nachdenklich. „Seine Tochter als Geliebte eines Gastarbeiters. Mein Gott –!“ Ich sagte heftiger als angebracht:: „Es war eine harmlose Urlaubsgeschichte, im Grunde!“ „Aber geschlafen hat sie doch wohl mit ihm?“ Der Kommissar sah mich aufmerksam an, in seinem 59
Blick lag Sachlichkeit, sonst nichts. Und dennoch: In diesem Augenblick widerte mich der Fettkloß an, ich bereute, hergekommen zu sein, dazu ohne Lores Einverständnis. Das erschien mir jetzt wie ein Vertrauensbruch. Ich antwortete nicht. „Und der Mann reiste ihr hierher nach, nicht wahr?“ „Nun ja, er machte sich Hoffnungen, aber die waren, wie soll ich mich ausdrücken, die waren einseitig.“ Das Telefon begann zu läuten. Schnabel nahm den Hörer nicht ab, regungslos saß er in seinem Stuhl und beobachtete mich. Aber eigentlich war ich nicht mehr als ein bloßer Konzentrationspunkt für ihn. An was dachte er? An den Oberstaatsanwalt Pohl, mit dem er hin und wieder zusammenarbeitete, und an dessen Tochter, die in Schwierigkeiten gekommen war? Wieder klingelte das Telefon, und der Kommissar streifte den Apparat nicht einmal mit einem Blick. Er sagte: „Natürlich werde ich mich um die Sache kümmern, Herr Ahrens.“ Wieder die Telefonklingel, die mich rasend machte, während Schnabel ungerührt fortfuhr: „Ich werde auch das Büro Ofterdinger unter die Lupe nehmen. Ich bin äußerst mißtrauisch, müssen Sie wissen, was manche Maklerbüros angeht.“ Nun griffen die Wurstfinger zum Telefon und fischten den Hörer von der Gabel. Der Kommissar lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung. Dabei blieben seine Augen auf mich gerichtet, er mußte einen Narren an mir gefressen haben. Die Mitteilung, die er erhielt, war nur kurz. Danach ließ er den Hörer sinken. „Fräulein Pohls Urlaubsflirt war türkischer Staatsbürger?“ Ich nickte. „Hieß Osman Tuyan?“ Mich beschlich ein ungutes Gefühl, denn der Name des Türken war bisher noch gar nicht gefallen. Ich nickte wieder. 60
Schnabel beugte sich über den Schreibtisch und legte den Hörer so zart auf die Gabel, daß ich kaum das Klicken hörte. Dann lehnte er sich zurück, und zum ersten Mal war sein Blick nicht mehr bei mir; versonnen fixierte er irgendeinen Punkt auf der Schreibtischplatte. Tiefes Schweigen! Dann sagte der Kommissar leise: „Ja, ja –“ Das war alles!
8. Drei Peterwagenbesatzungen hatten sie aufgeboten, um den Platz bei der Michaeliskirche abzuriegeln, denn es gab trotz der frühen Morgenstunde schon einen Menschenauflauf. Die Leute traten nur widerwillig beiseite, als wir eintrafen, vornweg der VW-Kombi von der Spurensicherung, in der Mitte Kommissar Schnabel in seinem Dienstwagen und ich am Schluß in meinem Fiat. Die Beamten gingen schnurstracks auf den Tatort zu, drängten sich durch die Menschenmenge, während ich zögernd zurückblieb. So besonders neugierig war ich nicht darauf, was mich dort erwartete. Ich schaute zum Turm der Kirche empor, diesem barocken Kunstwerk, um 1750 erbaut und am Anfang des Jahrhunderts nach einem Brand in alter Form neu errichtet. Es gilt als Wahrzeichen der Stadt. Wenn man von See her die Elbe heraufkommt, sieht man den Michel zuerst, und er blickt, gleichsam den Eingang segnend, auf einen herab. An diesem frühen Morgen blickte er auf einen armen Teufel herab, der mit vielen Hoffnungen hergereist kam. Auf der Suche nach einer Frau und auf der Suche nach Geld! Geld hatte er bekommen, ein bißchen davon, und er hatte auch das zweifelhafte Vergnügen, es in einem zweifelhaften Lokal mit zweifelhaften Leuten auszugeben. Und wäre ich nicht aufge61
taucht im „Fleeterich“, vielleicht läge er da gar nicht hier, vielleicht lebte er noch! „Herr Ahrens, bitte!“ Ein Beamter nahm mich beim Arm. „Kommen Sie, Herr Schnabel will Sie sehen.“ Wir gingen an den Polizisten vorbei, die die Menschenmenge zurückdrängten, und traten in den Kreis um den Toten. Eine Decke lag über ihn gebreitet, die gerade den Kopf freiließ. Der war unverletzt; merkwürdig auch, daß sich nichts von dem, was er erlebt hatte, in seinem Gesicht abzeichnete. Er sah ganz friedlich aus. Neben ihm kniete der Kommissar, und Schnabel hielt sein Gesicht nah vor das des Toten, als ob er mit ihm Zwiesprache halten wollte. Ich begriff nicht, wozu, aber später erfuhr ich, daß manche von der Mordkommission das tun. Alles, was nachher kommt, ist mehr oder weniger Papierkram, Aussagen, Befragungen, Verhöre; Seiten auf Seiten toten Papiers, gesammelt in Leitzordnern. Der Tote steckt inzwischen im Kältefach, oder er liegt schon in seinem Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Hier aber am Tatort schauen sie denen ins Gesicht, die ihnen alle Scherereien machen werden. Es war merkwürdig still, selbst die Menge hinter uns rührte sich kaum. Endlich schaute der Kommissar auf. „Na –?“ „Das ist der Mann, mit dem ich gesprochen habe.“ Schnabel nickte, dann zog er bedächtig die Decke über den Kopf des Toten. Etwas Abschließendes, Endgültiges lag in der Gebärde, und in diesem Augenblick begann ich zu ahnen, daß der Kommissar alles andere als kaltschnäuzig war. Er kam mühsam auf die Beine, trat neben mich, wobei er in einem türkischen Paß blätterte. „Er heißt Osman Tuyan“, sagte er. „Haben Sie den Namen irgendwann schon mal gehört?“ „Ja.“ „Dachte ich mir!“ Er wandte sich an einen Streifenbeamten. „Augenzeugen?“ 62
Der Polizist deutete auf ein Paar, das in der ersten Reihe der Menschenmenge stand. „Die jungen Leute!“ Das Pärchen schien knapp aus der Schule zu sein, sie kaum achtzehn und er nicht viel älter. Sie waren wohl von der letzten Nacht übriggeblieben und mit dem letzten Schub Gäste aus einem Lokal gefegt worden. Das Mädchen machte von beiden den resoluteren Eindruck. „Die stießen ihn einfach unter das Auto“, sagte sie. „Der Wagen kam von da, Audi 100, rot, achtzig Sachen, vielleicht auch mehr, und die stießen ihn einfach davor.“ „Wer – die?“ „Na, die Itaker, die ihn am Arm führten.“ „Der Tote war Türke.“ „Türke oder Itaker – ist doch das gleiche Pack!“ Kommissar Schnabel kehrte ihr den Rücken. „Lassen Sie sich die Adresse geben“, sagte er, „und protokollieren Sie die Aussage!“ Dann nahm er mich beim Arm und führte mich aus der Menschenmenge heraus. „Nun braucht ihn Fräulein Pohl nur noch zu identifizieren.“ Ich fragte: „Soll ich anrufen und sie herbitten?“ „Nein, nein, das hat Zeit! Das werden wir ein bißchen diskreter machen.“ Wir blickten aus einiger Entfernung zu der Menschenmenge und den Polizeiautos. Gerade kam ein weiteres Fahrzeug auf den Platz und hielt an. Beamte zogen eine Trage heraus, die mit einem runden Deckel aus Plast verschlossen war. Sie trugen sie zu dem Toten. „Ich wundere mich, daß noch keine Presse da ist“, meinte der Kommissar nachdenklich. Ich glaubte aber, seine Nachdenklichkeit galt mehr dem Oberstaatsanwalt Pohl und dessen Tochter. Er fuhr fort: „Diese Presseonkels haben Tag und Nacht den Polizeisender laufen, und wo etwas los ist, sind sie zur Stelle wie die Schmeißfliegen.“ „Ist ja überhaupt nichts los“, meinte ich. „Ist ja nur einer von dem Türkenpack!“ „Ja, ja, daran wird’s wohl liegen!“ Schnabel sah mich 63
an. „Die Karre ist verfahren! Ihr Fräulein Pohl sucht einen Türken. Sie helfen ihr, und wir finden ihn – tot! Sie will nicht, daß ihr Vater etwas von dieser Beziehung erfährt. Ich kann das beinahe verstehen, und ich habe auch vorhin im Büro ganz gut zugehört. Sie wollten wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, den Oberstaatsanwalt nicht in alles einzuweihen. Seitdem nicht mehr, Herr Ahrens!“ Er deutete zum Platz hin. Gerade legten sie den Toten auf die Trage und stülpten den Deckel darüber. „Ich verstehe“, sagte ich. „Ja, ja, ich muß meinen Bericht machen, und ich muß Fräulein Pohl benennen, weil sie den Türken identifizieren kann.“ Er machte ein paar Schritte und sagte mehr zu sich: „Komisch, überhaupt keine Presse!“ Er war schon unterwegs zu der Menge, der Polizei und der Leiche, als er stehenblieb und sich fragend umwandte. „Haben Sie mir schon Ihre Adresse gegeben?“ Ich schüttelte den Kopf. „Glindweg neununddreißig. Soll ich Sie Ihnen aufschreiben?“ „Nicht nötig, Herr Ahrens, melden Sie sich irgendwann im Laufe des Nachmittags, wir müssen ja auch ein Protokoll machen. Ich fürchte, wir werden uns in der nächsten Zeit überhaupt öfter sehen. Tschüs also!“ Der Fleischberg wälzte sich die Straße entlang, seiner unerquicklichen Arbeit entgegen. Ja, wir würden uns wiedersehen, das fürchtete ich auch. Ich wußte nur nicht, daß dies dann unter Umständen geschah, die mein Leben für lange Zeit ändern sollten. Nein, das ahnte ich an diesem Morgen wirklich nicht. Nur wenige Meter weiter sah ich eine Telefonzelle. Ich ging hin, fand ein Fernsprechbuch, das weder verschmutzt noch zerrissen war, und schlug es auf. Es gab elf Escherichs in ihm, und der Name Gisela stand als fünfter von oben. Ich zog Groschen hervor, hob den Hörer ab, fütterte den Automaten und wartete. Sie meldete sich rasch. 64
„Hier spricht Ahrens“, sagte ich. „Wer –?“ „Ich brachte gestern abend Lore zu Ihnen und wollte nach einer Stunde wiederkommen. Es hat länger gedauert.“ „Das habe ich gemerkt.“ „Würden Sie Lore ausrichten, daß ich Tuyan gefunden habe? Ich komme jetzt.“ Ihre Antwort klang unverständlich. Ich schüttelte mehrmals den Hörer in der Hand, aber daran lag es nicht. Es hatte nichts mit der Technik des Apparats zu tun, es war der Sinn ihrer Worte, den ich nicht begriff. Das brachte ich wohl durcheinander. Ich schrie in die Leitung: „Was haben Sie gesagt?“ „Haben Sie etwas getrunken, Herr Ahrens?“ hörte ich ihre besorgte Stimme. „Ich bin stocknüchtern“, brüllte ich. „Ich verstehe Sie nur nicht!“ „Sie haben doch getrunken, Herr Ahrens!“ „Nein!“ „Nun, dann müßten Sie doch wissen, daß Sie bei uns angerufen haben letzte Nacht.“ „Ich hätte angerufen?“ „Ja, eine Stunde etwa, nachdem Sie Lore bei mir abgeliefert hatten.“ „Und was hätte ich da gesagt?“ „Sie sagten, daß Lore auf schnellstem Wege zu Ihnen kommen sollte.“ „Und sie ist gegangen?“ „Aber ja! Sie hatten sie doch darum gebeten!“
9. Ich sah mich in der Telefonzelle stehen, den Hörer am ausgestrecktem Arm und auf die Muschel starrend, aus der Fräulein Escherichs Stimme drang. 65
„Herr Ahrens … Herr Ahrens!“ rief sie. „Sind Sie noch dran?“ War ich das? Ich wußte es nicht. „Melden Sie sich, Herr Ahrens!“ „Ich komme zu Ihnen“, hörte ich meine Stimme und wunderte mich über ihren merkwürdig heiseren Klang. „Gleich … warten Sie nur, ich bin gleich da!“ Ich legte den Hörer auf und öffnete die Zellentür. Soeben lugte die Sonne über das Dach des Hauses von gegenüber, ihre Strahlen glitzerten. Das Strahlenbündel begann sich um mich zu drehen. Und nicht nur das! Die Menschenmenge tat es, und der ganze Platz mit der Kirche auch. Ich stolperte die Straße entlang, schob mich durch Menschen, suchte. Nach was? Ambulanz war weg, der Tote – weg, der Wagen der Spurensicherung noch da, zwei Peterwagen weg, einer da. Ich suchte! „Ist was mit Ihnen?“ Einer von der Spurensicherung sah mir besorgt ins Gesicht. „Suchen Sie jemand?“ „Kommissar Schnabel“, stotterte ich. „Wo ist der Kommissar, können Sie mir das sagen?“ „Schon unterwegs“, rief der Beamte fröhlich, „wir haben drei unaufgeklärte Dinger in der ‚Mord‘, da ist natürlich wieder mal schwer was los!“ Ich stolperte zu meinem Wagen. Drei unaufgeklärte Morde, na wennschon, hier war ein vierter, wir hatten doch die Zeit der Superlative! Wie viele Morde geschahen jährlich in der Stadt? Ich hatte die enorme Zahl mal gewußt. Vergessen! Schien auch nicht wichtig. Doch, wichtig schon, aber nicht im Augenblick! Nur eins war wichtig! Was war mit Lore geschehen? Ich weiß nicht mehr genau, wie ich in die Richardstraße zu Gisela Escherich kam. Zum Wochenende bleiben die Straßen ja leer, die allmorgendlichen Schlachtenszenen des Berufsverkehrs fallen aus; da verlegen sie den Kriegsschauplatz auf die Autobahnen und auf die Zufahrtswege der Erholungsgebiete. Ich fuhr die Außen66
alster entlang und über den Mundsburger Damm zur Hamburger Straße, alles mit atemberaubender Geschwindigkeit. Ich glaube, ich brauchte nicht länger als sieben oder acht Minuten, weil ich weder an den Kreuzungen noch in den Kurven vom Gaspedal herunterging. Es begegneten mir kaum Autos, ein Streifenwagen war auch nicht dabei, zum Glück! Ich konzentrierte mich sehr, aber dieser panikartige Zustand blieb. Wenn man mir vor Tagen gesagt hätte, daß mich die Sorge um eine Frau so aus dem Gleichgewicht werfen könnte, hätte ich milde gelächelt. Aber man denkt und sagt ja viel! Ich fand in der Richardstraße schließlich einen Parkplatz, und irgendwie brachte ich den Fiat auf den Bürgersteig. Ich sprang hinaus, vergaß das Abschließen und raste auf den Hauseingang zu. In der Tür traf ich auf einen Bewohner des Appartementhauses. Der Mann war sonntäglich gekleidet, trug Hut, Handschuhe und Regenschirm, wobei ihm besonders der Schirm eine gewisse Würde gab. Ich machte auf ihn wohl keinen besonderen Eindruck, denn er musterte mich mißtrauisch. Ich riß ihm die Tür aus der Hand, bevor er sie hinter sich zuschlagen konnte, und verschwand im Treppenhaus. Mir kam nicht die Idee, den Fahrstuhl zu benutzen, nicht einmal der Gedanke, nachzuschauen, ob er vielleicht unten war. Ich stürmte die Treppen hinauf, vierter Stock, fünfter, siebenter. Ich raste den Gang entlang. Sie stand bereits in der offenen Tür. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit über am Fenster auf mich gewartet. „Wieso nicht mehr da?“ schrie ich ihr entgegen. „Was ist eigentlich los?“ Sie trat von der Tür zurück und sagte: „Kommen Sie erst einmal herein!“ Von dem Wohnraum kriegte ich bei meinem ersten Besuch keine klare Vorstellung. Ich sah moderne Möbel, zwischen ihnen alte Stücke, auch Bilder an den Wänden – alles wohnlich und schick. Doch, halt – der Sekretär! 67
Dieses Möbel mit den Fächern und Schubladen über der Schreibplatte, das sah ich sofort. Dort stand nämlich das Telefon, und ich dachte daran, daß ich so schnell wie möglich Schnabel erreichen müßte. Zunächst jedoch tobte ich wie ein Berserker von einer Wand zur anderen. Erst ein Blick aus Fräulein Escherichs Augen brachte mich schließlich zum Stehen. Ich las auf ihrem Gesicht die Frage, ob ich bei Verstand sei. Nein, das war ich entschieden nicht! Ich mußte zur Ruhe kommen! Wenn ich überhaupt jemals erfahren wollte, was geschehen war, mußte ich mich wie ein erwachsener Mann benehmen. „Ich habe nicht angerufen“, sagte ich betont leise, das Zittern in meiner Stimme nahm ich gar nicht wahr. Fräulein Escherich zuckte verständnislos die Achseln. „Das verstehe ich nicht! Es war eine Stunde, nachdem Sie Lore gebracht hatten.“ Sie schaute mich noch immer aufmerksam an und schien nach einer Alkoholfahne zu schnuppern. Dann schüttelte sie lächelnd den Kopf. „Aber natürlich haben Sie uns angerufen, Herr Ahrens! Von der Polizei aus! Sie sagten, Lore würde unbedingt für eine Aussage benötigt, und baten sie, auf das Präsidium zu kommen.“ „Ja, ich war auf der Polizei“, brüllte ich. Und als ich sah, wie sie zurückzuckte, fuhr ich leiser fort: „Richtig, ich war bei der Polizei, soweit stimmt es ja. Aber ich habe Sie nicht angerufen!“ „Ich brachte Lore hinunter“, meinte Fräulein Escherich unbeirrt, „und da waren zwei Herren mit einem BMW, sehr höfliche und korrekte Herren übrigens. Die wiesen sich als Beamte aus und sagten, Sie, Herr Ahrens, hätten die beiden geschickt, um Lore abzuholen.“ „Als ob ich jemanden von der Polizei schicken könnte. Das ist doch kompletter Unsinn!“ „Das finde ich nun beinahe auch!“ Fräulein Escherich stellte eine zweite Tasse auf den Frühstückstisch und schenkte Kaffee ein. Dann setzte sie sich, griff nach ei68
nem Rundstück und schnitt es auf, wobei die krosse Schale krachte. „Trinken Sie einen Schluck Kaffee“, sagte sie. „Das wird Sie beruhigen, und wir werden gemeinsam überlegen.“ „Da stimmt doch etwas nicht“, würgte ich hervor. „Offensichtlich nicht“, erwiderte sie. Ihre Gelassenheit brachte mich erneut an den Rand eines Ausbruchs. Ich stand neben ihr am Tisch und sah zu, wie sie Butter auf die Hälften des Rundstücks strich. Eine davon legte sie auf den Teller, der für mich bestimmt war. „Herr Ahrens, bitte setzen Sie sich!“ Ihre Stimme klang freundlich und beherrscht, aber in ihr lag auch etwas, das keinen Widerspruch duldete. Ich widersprach trotzdem. „Wissen Sie eigentlich, was geschehen ist? Lore ist verschwunden, Fräulein Escherich, weggelockt aus Ihrer Wohnung! Mit einem üblen Taschenspielertrick. Jemand tat so, als sei er ich!“ Ich beugte mich über den Tisch ihr entgegen. Ich sah, wie es in ihren Augen zuckte. Von ihrer Ruhe schien einiges abzubröckeln. Es war also nicht aussichtslos mit Fräulein Escherich. „Ja, ja“, stotterte sie. „Und Sie sitzen hier und essen! Wirklich, Fräulein Escherich, guten Appetit!“ „Aber ich muß essen!“ Sie stotterte noch immer. „Es ist früh am Morgen, und ich kann nicht einen Gedanken fassen, bevor ich nicht was im Magen habe. Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Ahrens, und setzen Sie sich auch. Nachher werden wir möglichst in Ruhe überlegen, was wir tun können.“ Sie sah mich bittend an, und ich kapitulierte schließlich. Ich setzte mich. Hier stimmte etwas nicht, milde ausgedrückt; eigentlich stimmte alles nicht. Und dann war da noch ein anderer Punkt! Ich hatte ihn zwar noch nicht, aber es konnte nicht lange dauern, einen Moment noch, dann würde ich daraufkommen. 69
„Milch?“ hörte ich ihre Stimme. „Wie meinen Sie?“ „Möchten Sie Milch für Ihren Kaffee?“ Lächelnd hielt sie mir ein Kännchen hin. Ich nahm es ganz automatisch und goß daraus in meinen Kaffee. „Zucker auch?“ „Ist doch wirklich egal, Fräulein Escherich!“ Ich hob die Tasse an die Lippen, nahm einen Schluck, merkte erst nicht, wie ich mir den Mund verbrannte, tat es höllisch und hustete. Sie lächelte. „Seien Sie vorsichtig, Herr Ahrens! Ich mag Kaffee nur, wenn er ganz heiß ist.“ In der Tat! Ihre Beherrschtheit brachte mich um den Rest meines Verstands. „Möchten Sie nicht wenigstens das halbe Rundstück essen?“ fragte sie mich. Ich starrte sie an und antwortete nicht, denn nun hatte ich den Punkt, über den ich grübelte. Lächerlich einfach, wieso war ich nicht sofort daraufgekommen? Ich hatte Lore angerufen, selbst angerufen? Na schön, das war es! „Weshalb hat sie meine Stimme nicht erkannt?“ fragte ich. „Wie meinen Sie?“ „Wer nahm den Hörer ab, als der Anruf kam?“ „Ich.“ „Haben Sie meine Stimme erkannt?“ „Wie sollte ich?“ „Und dann gaben Sie den Hörer weiter an Lore?“ „Ja.“ „Wieso hat sie da meine Stimme nicht erkannt?“ Plötzlich begann ich Fräulein Escherich zu verdächtigen. Könnte es sein, daß sie mit drinsteckte in dem Komplott? Machte sie gemeinsame Sache mit den Männern, die Lore bedrohten? In diesem Fall könnte sie mir viel erzählen. Ich fuhr fort: „Sie hätte doch meine Stimme erkennen müssen, nicht wahr?“ 70
Fräulein Escherich fragte: „Wie lange waren Sie eigentlich zusammen, Herr Ahrens?“ „Zwei Tage!“ „Zwei Tage also“, meinte sie, während sie mich mit einem versonnenen Ausdruck musterte. Dann senkte sich ihr Blick auf das Rundstück, und sie biß in die krosse Schale, daß es krachte. Kauend sagte sie: „Zwei Tage sind ja nun wirklich eine beachtliche Zeit!“ Ja, wir kannten uns nur zwei Tage lang, Lore und ich, aber was für Tage! Sie hätte doch spüren müssen, daß da jemand anderes am Telefon sprach! Oder doch nicht? Ich durchforschte Fräulein Escherichs Gesicht, die mich unbefangen ansah. Log sie? Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Ich mußte schleunigst den Kommissar sprechen. „Darf ich telefonieren?“ fragte ich. „Bitte!“ Ich ging zum Schreibsekretär und wählte die Nummer, die ich mir in Schnabels Büro aufgeschrieben hatte. Während ich dem Freizeichen lauschte, blickte ich zum Frühstückstisch hin. Fräulein Escherich hatte ihren Teller beiseite geschoben und sah mich mit gespannter Aufmerksamkeit an. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Stimme. „Verbinden Sie mich mit Kommissar Schnabel“, bat ich. „Herr Schnabel ist nicht im Amt. Wer spricht dort?“ „Mein Name ist Ahrens. Können Sie mir sagen, wie ich den Kommissar schnell erreiche?“ „Vor Nachmittag ist das nicht möglich. Möchten Sie etwas hinterlassen?“ „Nein, danke! Ich rufe wieder an.“ Ich legte den Hörer auf die Gabel. „Nicht da, nicht im Dienst!“ sagte ich und spürte die Hoffnungslosigkeit in mir. Über dem Sekretär hing der Druck eines Ölbildes, eine Kleckserei in Grün, Blau und Rot, alles kräftige Farben. Es dauerte eine Wei71
le, bis ich hinter den Sinn des Ganzen kam. Ein kleines Boot lag zwischen Felsen vor einer Insel. „Sie haben Lore gern, nicht wahr?“ hörte ich Fräulein Escherichs Stimme hinter mir. Gern –! Das war auch so eine Vokabel für das, was ich empfand. Ich drehte mich zu ihr um. „Was können wir tun?“ „Nur eins, Herr Ahrens! Sofort zur Polizei gehen!“ „Aber Schnabel ist nicht im Amt! Dieser Kommissar ist der einzige, der Bescheid weiß.“ „Sie vergessen Lores Vater!“ Nein, ich vergaß ihn nicht! Er wußte zwar noch nicht Bescheid, aber das würde sich bald ändern. Das besorgte schon Schnabel mit seinem Bericht. Nein, mit dem Mann wollte ich über Lore nicht reden, zumindest jetzt noch nicht. Und dann kam mir ein neuer Gedanke. „Vielleicht ist alles ganz harmlos, wie? Vielleicht ist sie inzwischen längst draußen in Cranz? Auf dem Hof meiner Eltern, wo wir gestern waren?“ Fräulein Escherich sah mich zweifelnd an. „Sie können es ja versuchen.“
10. Ich versuchte es also! Wieder mußte ich durch die halbe Stadt, um schließlich bei den Elbbrücken auf die andere Flußseite zu kommen. Ich fuhr sehr langsam und bemühte mich, endlich in Ruhe zu überlegen, was eigentlich geschehen war. Lore ging auf der Suche nach dem verschwundenen Osman Tuyan in Ofterdingers Büro. Der Makler bestritt nicht, daß der Türke bei ihm gewesen sei und um Arbeitsvermittlung gebeten habe, aber er bestritt entschieden, den Türken in seine Kartei aufgenommen zu haben. Das sei, da Tuyan außer einem Besuchsvisum nichts an Papieren besaß, gar nicht möglich gewesen. Zum Beweis zeigte Ofterdin72
ger ihr eine Karteikarte, auf der der Name des Türken stand, aber nichts weiter. Tuyan hatte Lore jedoch gesagt, daß er als Schauermann arbeitete, und da sie ihm glaubte, war sie von Ofterdingers Büro aus in den Hafen gefahren, um dort nach ihm zu suchen. Damit kam sie nicht weit, weil von Anfang an zwei Männer hinter ihr her waren. Sie flüchtete auf mein Boot, und so sah ich sie zum ersten Mal. Als wir nach der Rundfahrt anlegten, folgte ich Lore und beobachtete, wie die beiden Männer sie in einen Opel zerren wollten. Das verhinderte ich, und nachdem wir eine Weile kreuz und quer durch die Stadt gekurvt waren, nahm ich Lore in meine Wohnung mit. Am nächsten Vormittag fuhren wir hinaus nach Cranz zu meinen Eltern. Wir glaubten, daß wir die Verfolger abgeschüttelt hatten. So versuchten wir am Abend des zweiten Tages, in dem Ausländerwohnheim etwas über Tuyan zu erfahren. Dort traf Lore erneut auf Ofterdinger, und der Makler wiederholte alles das, was er ihr beim ersten Gespräch im Büro schon einmal gesagt hatte. Und die Türken in dem Wohnheim bekräftigten es. Niemand wollte den Namen Tuyan gehört und noch weniger wollten sie mit ihm gearbeitet haben. Sobald der Makler aber den Rücken kehrte, steckte mir einer einen Zettel zu. Darauf stand – „Fleeterich“. Ich fuhr in das Lokal, fand dort einen, auf den Lores Beschreibung zutreffen mochte, und als ich den Türken fast so weit hatte, daß er reden wollte, waren plötzlich wieder zwei Männer da, diesmal Ausländer, und führten ihn hinaus. Kurze Zeit später war der Türke tot. Und zum gleichen Zeitpunkt wurde Lore aus Gisela Escherichs Wohnung gelockt. Wir hatten einen entscheidenden Fehler gemacht! Uns kam nicht der Gedanke, daß die Männer, die Lore im Hafen bedroht hatten, von Ofterdinger geschickt worden waren. Als wir also in das Wohnheim fuhren, 73
setzten wir den Makler ganz freiwillig wieder auf unsere Spur. Wenn er sie überhaupt jemals verloren hatte! Lore mußte mit ihrer Suche nach Osman Tuyan an Dinge gerührt haben, die Ofterdingers Existenz bedrohten. Ja, soweit ging das! Diese Dinge rührten an Ofterdingers Existenz, denn der Mann schreckte, wie die letzte Nacht bewies, auch vor Mord nicht zurück. Und nun hatte er Lore in seiner Gewalt. Lebte sie überhaupt noch? Als ich an diesem Punkt anlangte, war ich drauf und dran umzukehren. Was wollte ich auf dem Hof in Cranz, wo Lore gar nicht sein konnte? Nichts als Zeitverschwendung! Ich mußte sofort zurück in die Stadt! Ich mußte zu Ofterdinger! Und wenn er Lore nicht freiwillig herausgab, mußte ich zur Polizei, auch wenn Schnabel vor dem Nachmittag nicht zu erreichen war. Schließlich hatte der ja Mitarbeiter, und wenn ich denen alles erzählte, würden sie die Wichtigkeit einsehen und Schnabel zu finden wissen. Ich könnte auch zu Herrn Pohl gehen. Alles war besser, als stur geradeaus zu fahren, dachte ich, aber ich kehrte nicht um. Ich fuhr nur immer schneller in Richtung Cranz. Ich glaube, es war der unsinnige Wunsch, daß sich meine Furcht als unbegründet erweisen sollte. Und es war die Hoffnung, daß ich Lore wiederfinden und in meine Arme schließen konnte. Die Bremsen kreischten, als ich endlich auf den Hof kam und anhielt. Ich sprang aus dem Wagen und wollte ins Haus, da sah ich meinen Vater aus dem Stall kommen. „Ist sie hier?“ rief ich. „Wer –?“ Ich schrie: „Wer … wer … Vater –!“ „Sie war hier!“ hörte ich die ruhige Stimme meiner Mutter hinter mir. Ich fuhr herum und sah sie an. Einige Augenblicke lang kreuzten sich unsere Blicke. Dann fuhr sie fort: „Nicht selbst, aber sie hat einen 74
Mann in einem Auto geschickt, der hat ihre Sachen abgeholt.“ Und mit spitzem Mund setzte sie hinzu: „Einer ihrer Liebhaber, wie ich annehme!“ „Wann war das?“ „Vor einer Stunde vielleicht.“ „Und du hast den Koffer herausgegeben?“ „Natürlich! Der Mann kam ja in ihrem Auftrag.“ „In ihrem Auftrag, was soll denn das heißen? Hat er dir was Schriftliches gezeigt, Zettel oder Brief?“ „Nein, war ja auch nicht nötig. Der Mann wußte, daß die Dame einen Koffer hier hatte, den er abholen sollte. Das genügte ja wohl.“ Ja, meiner Mutter genügte das auf jeden Fall! Ich hatte ihren Blick gesehen, mit dem sie den Koffer musterte, als wir ihn bei unserer Ankunft gestern ausluden. „In was für einem Wagen kam der Mann?“ fragte ich. „BMW 2000“, antwortete mein Vater. Die Leute waren entschieden umsichtig. Sie hatten Lore entführt, und um ihre Spur zu verwischen, damit nichts, auch wirklich nichts von ihr blieb, holten sie sogar den Koffer ab. Diesen dämlichen, albernen Koffer! Damit schien jede Verbindung zwischen mir und Lore abgerissen. Ich hatte Lore niemals zu Gesicht bekommen, der Überfall im Hafen auf sie hatte nicht stattgefunden. War das der Grund, weshalb sie die Sachen abholen ließen? Ich konnte nicht mehr klar denken, und plötzlich wurde ich auch sehr müde. Ich hatte nicht geschlafen in der letzten Nacht, gegessen hatte ich seit langem auch nicht mehr. Ich schlich zur Bank an der Hauswand und setzte mich. Wir sprachen nicht. Die beiden Alten standen vor mir und beobachteten mich. Selbst meine Mutter hatte in diesem Augenblick nichts Spitzes im Gesicht. Nachdenklich und irgendwie besorgt ruhte ihr Blick auf mir. Und dann spürte ich die Hand meiner Tochter auf meinem Knie. „Kommt die Tante nicht mehr wieder, Papa?“ 75
„Doch, doch, bestimmt! Morgen schon!“ Ich lächelte und setzte Brigitte neben mich auf die Bank. „Du gehst nicht in den Hafen?“ fragte mein Vater. Lore und ich hatten meinen Eltern nicht erzählt, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten. Ich wollte es auch jetzt nicht tun. Meines Vaters wegen nicht, der hätte letztlich Verständnis gezeigt, aber meine Mutter würde sicher so etwas wie einen Herzanfall kriegen, wenn sie die Wahrheit erfuhr. So sagte ich gleichgültig: „Ich muß das Boot für einen oder zwei Tage stillegen. Da ist was mit der Schraube, ich habe es dir schon am Telefon gesagt.“ Ich vermied es, meine Mutter anzusehen, und konzentrierte mich auf meinen Vater. Sein Blick kam schräg von unten aus buschigen Brauen, nach einer Weile nickte er. „Ja, da ist so ein Geräusch, habe ich auch längst gehört.“ Seine Antwort erleichterte mich. Meiner Mutter konnte ich vielleicht etwas vormachen, meinem Vater in keinem Fall. Ich fuhr fort: „Ich will in der Garantiezeit nichts riskieren. Man müßte jemanden von der Werft holen.“ „Ich mach’ das, mien Jung.“ „Das wäre nett von dir!“ Ich war wirklich erleichtert, und ich fühlte mich auf einmal auch nicht mehr so zerschlagen. Weshalb eigentlich? Nur weil mein Vater sich um die Schiffsschraube kümmern wollte, die ohne jeden Schaden war? Lore blieb doch verschwunden, und der Koffer, dieser letzte Gegenstand, der mich äußerlich mit ihr verband, blieb es auch. „Das war keine Frau für dich“, hörte ich meine Mutter sagen. „Das habe ich gleich gewußt. Schon diese Brille! Warum hat sie die denn auf?“ „Weil sie kurzsichtig ist“, sagte ich müde. „Und warum haben die schwarze Gläser? Eine, die ih76
re Augen versteckt, hat auch sonst was zu verbergen. Und ihre Finger, hast du die mal angeguckt? Die ist sich doch zu schade, damit auch mal in Schiet zu fassen. Nein, mein Sohn, das war keine Frau für dich, laß es dir sagen. Du suchst und suchst, aber mit Gewalt geht das nicht. Du hast eben kein Glück darin!“ Das war ihr Trost für mich, die Art von Trost, die sie so auf Lager hatte.
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Die Nacht, 23 Uhr 12 1. Dabei hatte ich Trost in dieser Hinsicht gar nicht nötig. Ich führe ein ganz normales Leben, Bekannte und Freunde jede Menge und natürlich auch Mädchen. Die Mädchen hatten vielleicht ein wenig häufig gewechselt, zum Mißvergnügen meiner Mutter, die mich versorgt sehen wollte. Und natürlich warf sie Lore mit den anderen in einen Topf. Aber das war falsch! Seit Lore wurde alles anders, meine innere Einstellung hatte sich plötzlich verändert. Vor Jahren war ich verheiratet gewesen, aber in der Ehe liefen die Dinge nicht so, wie ich mir das gewünscht hatte. Vielleicht hat es an mir gelegen. Damals wechselte ich oft die Arbeitsstelle, immer im Hafen zwar, aber ich versuchte dieses und jenes, im Glauben, auf dem nächsten Platz mehr Geld und damit ein größeres Stück vom Kuchen zu bekommen. Nebenher machte ich meinen Barkassenführer, und schließlich besaß ich eine eigene Barkasse. Zuerst eine alte, die ich wieder abstieß, dann eine nagelneue. Als ich die kaufte, war ich längst nicht mehr verheiratet. Vielleicht ist meine Frau nie so recht mit mir zufrieden gewesen, sah zuerst den beruflichen Versager in mir und dann den Versager im Bett; das geht ja Hand in Hand. Und viel geboten habe ich ihr nicht, konnte ich am Anfang gar nicht. Und in unserer Zeit, da muß man ja genießen, das hämmern sie einem doch richtig ein. Allein die Reklame! Was man heutzutage alles zum Leben braucht, davon hatte man früher keinen blassen Schimmer. Für die Wohnung. Für die Küche. Für das Bad. Das Auto. Die Urlaubsreise. Vor dreißig Jahren war man froh, zu Verwandten auf das Land zu fahren, heute buchen die ersten für die Südsee. Das Geld muß natürlich verdient werden. Ich verdiente vor einigen Jahren nicht so viel, und es 78
kann schon sein, daß meine Frau aus diesem Grund mit mir unzufrieden war. Wir trennten uns friedlich. Sie ist längst wieder verheiratet, wohnt nur zwei Straßen weiter. Ihr neuer Mann hat einen Konfektionsladen, ihr geht es also gut. Manchmal sehen wir uns und sprechen miteinander. Ganz freundschaftlich. Manchmal holt sie auch über das Wochenende unsere Tochter und nimmt sie mit nach Wedel. Dort hat ihr neuer Mann ein Grundstück. Ich blieb in der Dreizimmerwohnung am Glindweg wohnen, fühlte mich wohl dabei. Die Gegend ist angenehm, und die Leute in der Nachbarschaft sind es auch. Und Bekanntschaften kann man überall machen; ich machte sie reichlich. Bis ich Lore kennenlernte. Von diesem Moment an, das hatte ich gespürt, würde sich alles von Grund auf ändern. Ich saß noch im Gästezimmer der Ofterdinger-Villa, in meinem Schoß lag das auseinandergefaltete Packpapier und darin das abgewetzte Hufeisen, das ich Lore gegeben hatte. Die beiden Tage mit Lore, wie lange war das her? Eine Ewigkeit? Nein, es waren nur drei Tage, in denen wir nach ihr gesucht und sie nicht gefunden hatten. Aber nun saß ich immerhin vor ihrem Koffer, und dies war der Beweis, daß Ofterdinger sie entführt hatte. Nun mußte der Makler mit der Wahrheit herausrücken, dazu würde ich ihn zwingen. Wenn sie nur noch lebte! Das war in diesen Minuten meine größte Sorge. Ich warf das Packpapier zu den Sachen im Koffer und stand auf. Ich ging zur Tür. Dort blieb ich stehen und sah zum Bett zurück. Ich zögerte. Dann holte ich das Hufeisen und steckte es in meine Jackentasche. Ich knipste das Licht aus, öffnete die Tür einen Spalt und lauschte. Nichts! Ich huschte in den Flur hinaus. Wie es schien, hatte sich nichts verändert, während ich im Gästezimmer gehockt und nachgedacht hatte. Aus der offenen Küchentür kam noch der Lichtschein und beleuch79
tete einen Teil des Ganges, in dem sonst keine Lampe brannte. Langsam näherte ich mich dem Durchgang und dem Wohnraum dahinter. Einen Schritt vorher blieb ich gegen die Wand gelehnt stehen. Ich lauschte. Nichts! Wirklich nicht das geringste Geräusch; in dem ganzen großen Haus nicht, auch von der Straße her nicht. Eine phantastische Stille! In diese Gegend müßte man zurückkehren, wenn alles ausgestanden war, sich einfach hinsetzen und der Stille lauschen. Das würde mir was bedeuten können. Im Wohnraum war niemand, wie mir ein Blick um die Ecke zeigte. Ich huschte hinein, an der Bar vorbei und hin zur gläsernen Flügeltür. Frau Dreesen lag unverändert auf der Liege und las ihren Krimi. Wenn sie nur mal aufblickte, da sähe sie doch, daß die Wirklichkeit auch interessant sein konnte. Niemand war in dem Wohnraum gewesen während meiner Abwesenheit, nichts hatte sich verändert. Da waren die Kartons und das verstreute Seidenpapier ringsherum. Die Koffer lagen noch auf der Liege, einer bereits verschlossen und verschnürt, der andere erst zur Hälfte gepackt. Frau Dreesen verstand etwas von der Garderobe, das sah ich schon von weitem. Die hatte sie sicherlich aus den kleinen Läden um den Jungfernstieg herum. Gewöhnliche Leute kaufen dort nicht, alles viel zu teuer. Merkwürdig, wie einem zu den unpassendsten Zeiten die Erinnerungen kommen. Vor Jahren hatte ich das mal erlebt, als ich meiner Frau eine Freude machen wollte. Sie wünschte sich besondere Stiefel, und als ich in den Kaufhäusern die richtigen nicht fand, ging ich zu „Elegance“. Das ist so ein Laden in der Nähe des Jungfernstiegs. Man kommt herein und erschrickt erst einmal. Dicke Teppiche, eine Sitzgruppe mit weichen Lederpolstern, links ein Schreibtisch, dahinter die Direktrice. Sonst kein Mensch in dem Laden und natürlich 80
auch weit und breit kein Schuh. Vom Schreibtisch her, wo die Frau sitzt, ein Blick, der einem durch das Jackett geht und die Brieftasche röntgt. Dann ein höfliches Lächeln und die Aufforderung, Platz zu nehmen. Eine andere Frau kommt, niemand weiß, woher, und breitet Schuhe vor einem aus. Erlesene Wahl, wirklich, und man scheut sich, nach dem Preis zu fragen. Von Geld spricht man in diesen Räumen nicht. Während man aussucht, betritt vielleicht eine andere Kundin das Geschäft, die Direktrice springt hinter dem Schreibtisch hervor, begleitet die Ankommende zu einem Fahrstuhl, und beide entschweben in ein oberes Stockwerk. Spätestens jetzt merkt man, daß man nur Laufkundschaft ist, die sich hin und wieder auch einmal in diese Filiale der Ladenkette „Elegance“ verirrt. Diese Art von Geschäften mußte es sein, wo Frau Dreesen einkaufte, da war ich ziemlich sicher. Auf der Liege befand sich außer den Koffern mit ihrer Garderobe noch ein dritter. Es war ein recht schmales Köfferchen aus schwarzem Lackleder, es stand aufrecht zwischen den beiden anderen. Das kannte ich übrigens, ich hatte es an diesem Abend bereits gesehen. Ich ging hin zur Liege, hob es an und merkte, daß es schwer war. Ich probierte die Schlösser, sie schnappten auf. Ich schlug den Deckel auf. Das Köfferchen war randvoll mit neuen Banknoten gefüllt, alles Fünfhunderter-Scheine. Ein Vermögen lag in dem Koffer. Eine Million, zwei? Wahrscheinlich mehr. Ich hatte noch niemals so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Ohne es zu wollen, ohne es überhaupt steuern zu können, geriet ich in Erregung. So viel Geld! So verdammt viel Geld! Ich starrte darauf. Ich wußte, woher Ofterdinger die Bündel hatte. Kommissar Schnabel, der Steuerfahnder Sieg und ich waren heute abend, als Zaungäste sozusagen, dabeigewesen, als der Makler es von verschiedenen Banken zusammengeholt hatte. Ich klappte den Deckel herunter und ließ die 81
Schlösser einschnappen. Dann stellte ich es wieder aufrecht zwischen die beiden anderen Koffer, wie ich es vorgefunden hatte. Ich wandte mich um und sah zur Flügeltür. Dort lag Frau Dreesen im Nebenzimmer, meine Bezugsperson, an die ich mich halten mußte. Tatsächlich schien sie das einzige Lebewesen in dem großen Haus zu sein. Wohl oder übel würde ich sie in ihrer Lektüre stören müssen, damit sie mir Rede und Antwort über Lore stand. Ich machte die paar Schritte zur Flügeltür. Noch immer hatte sie das Buch vor der Nase, aber sie hatte sich in der Zwischenzeit doch vom Fleck gerührt. Neben ihr auf der Liege lag jetzt eine geöffnete Schachtel „Mon Cherie“. Gerade pickten ihre Finger eins der Schokoladenpralinen mit der Kirsche heraus und verschwanden damit hinter dem Buchrücken. Meine Güte, wenn sie die Schokolade hier in diesem Zimmer gesucht hätte! Mein Blick glitt von dem Buch, hinter dem ihr Gesicht verborgen war, zu den Beinen. Der Rock war ein wenig heraufgerutscht, und ich sah ein bißchen was von ihren Schenkeln. Ich weiß auch nicht mehr, was mir für merkwürdige Gedanken durch den Kopf gingen. Ich zögerte noch immer, die Tür aufzustoßen, das war immerhin ein Entschluß. Ich glaubte ihren erschrockenen Aufschrei zu hören und ihren entsetzten Blick zu sehen. Meine Augen wanderten zu dem Bartisch an der Wand links neben mir. Dort stand ihre Handtasche aus Krokodilleder zwischen den Flaschen. Ich sah auch ihre Haarbürste und daneben das Schächtelchen aus braunem Plast, nicht einmal so groß wie eine Streichholzschachtel. Das hatte mich vorhin schon interessiert. Jetzt war es ein guter Vorwand, das notwendige Gespräch mit Frau Dreesen noch hinauszuschieben. Ich ging hin zu dem Rokokotisch und nahm es zur Hand. Es muß wohl im gleichen Augenblick gewesen sein, als ich ihn im Spiegel hinter mir auftauchen sah. Lang82
sam und sachte, wie auf Katzenpfoten, kam er durch den Raum auf mich zu. Es war zum dritten Mal, daß ich dem Makler Ofterdinger direkt begegnete. Zuerst beobachtete ich ihn, wie er im Türkenwohnheim seinen Arbeitern Lohn auszahlte. Gestern nachmittag erwischte er mich auf seinem Grundstück, da hatte ich gerade das Fenster mit den Gitterstäben entdeckt. Ich ließ ihn zu nah an mich heran, und er konnte mich zu Boden schlagen. Als ich zu seinen Füßen lag, gab ich mir das Versprechen, daß ich zurückkommen würde. Nun, hier war ich also! Ich sah, wie er etwa fünf Schritte hinter mir stehenblieb. Natürlich wußte er, daß ich ihn im Spiegel beobachtete, aber es machte ihm nichts aus. In seiner Hand hielt er diesmal einen kurzläufigen Revolver. Wie im Film, dachte ich, wie blöd und abgedroschen!
2. Mein Erschrecken hielt nur einen Moment lang an. Er würde nicht schießen, zumindest nicht hier, nicht vor der Dreesen, die doch nebenan lag. Ich lauschte zum Nebenzimmer hinüber, und Ofterdinger hinter mir tat es anscheinend auch. Nichts! Die Stille in diesem Haus war wirklich atemberaubend. Ich starrte in den Spiegel und auf den Revolver, der in Ofterdingers Pranke fast verschwand. Auch ohne das Dings wäre ich nicht auf ihn losgegangen. Das konnte ich gar nicht, seit ich in jenem Zimmer zwar Lores Koffer, aber sie selbst nicht gefunden hatte. Irgendwie mußte ich ihn zum Reden bringen. Aber wie? Ich konnte nur hoffen, daß mir etwas einfiel. Und dann stieg so etwas wie Galgenhumor in mir hoch. „Dazu würde ich Ihnen nicht raten“, sagte ich in dieser Art nervtötender Heiterkeit und deutete auf den Revolver. „Und warum nicht?“ 83
Ganz langsam legte ich das braune Plastschächtelchen auf den Schminktisch zurück. Dann wendete ich mich zu ihm um, ebenfalls langsam und so, daß er meine Hände sehen konnte. „Werfen Sie mal einen Blick auf die Straße“, sagte ich und sah ihn eindringlich an. Das tat er zwar nicht, aber ich merkte doch, wie ihn meine Aufforderung verunsicherte. Sein Blick huschte zur Fenstertür, glitt über die dicht zusammengezogenen Vorhänge und kam langsam zu mir zurück. Während der Zeit beobachtete ich ihn. Er hatte nicht mehr die feine, dunkle Kluft der Kaufmannschaft vom Abend an, als er von einer Bank zur anderen fuhr. Er hatte sich umgezogen inzwischen, war vielleicht schon fertig für die Abreise nach Straßburg. Er trug jetzt eine hellbraune Gabardinehose und ein beigefarbenes Sakko mit großen Karos. Die sportliche Note gab dem Makler ein wenig jugendliche Frische, aber gleichzeitig betonten die großen Karos und die hellen Farben seinen massigen Körper. Herr Ofterdinger hatte sich da von seinem Schneider nicht gut beraten lassen. „Wie sind Sie hereingekommen?“ fragte er. „Die Terrassentür stand offen.“ „Haben Sie …?“ Er stockte und warf einen Blick auf die Flügeltür zum Nebenzimmer, hinter der es noch still blieb. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe Frau Dreesen weder erschreckt noch belästigt. Sie weiß nicht einmal, daß ich hier bin.“ „Sie kennen ihren Namen?“ „Ich habe mal in die Krokodilledertasche geschaut, darin steckt ihr Paß.“ „Und wie lange treiben Sie sich schon in meinem Haus herum? Wollen Sie mir das freundlichst sagen?“ „Erst seit ein paar Minuten. Leider sind Sie etwas zu früh gekommen.“ 84
Ich sah ihn harmlos lächelnd an, diesen Ausdruck bekam ich schnell auf mein Gesicht. Täuschte ich mich, oder war er wirklich erleichtert? Er vermied den Blick zum Durchgang und zum Korridor, aber ich wußte, daß er in Gedanken den Flur hinablief bis zu dem Zimmer, in dem Lores Sachen lagen. Ich tat es ihm nach. „Ich könnte Sie abknallen“, sagte er. „Es würde mir nicht viel geschehen. Ich habe einen Waffenschein für dieses Gerät. Sie sind bei Nacht hier eingedrungen, und es befinden sich Wertgegenstände in meinem Haus.“ „Zum Beispiel die Scheine in dem Köfferchen.“ Er folgte meinem Blick zur Liege, auf der Frau Dreesens gepackte Koffer lagen und dazwischen das Lacklederköfferchen mit dem vielen Geld. „Waren Sie mit Ihren Pfoten daran?“ fragte er. „Das brauchte ich doch gar nicht“, log ich. „Wir haben Sie heute beobachtet, als Sie Ihre Ersparnisse zusammenholten. Sie sind bei mehreren Banken gewesen, zuletzt am Neuen Wall. Immer hatten Sie das Köfferchen dabei, und von einer Adresse zur anderen wurde es schwerer.“ Er starrte mich zwar an, aber ich wußte nicht genau, ob er mir auch zuhörte. „Ja, ich könnte Sie glatt erschießen.“ „Werfen Sie aber vorher einen Blick auf die Straße!“ sagte ich eindringlich. Ich war fest überzeugt, daß dieses Hantieren mit dem Revolver nur so eine Art von Imponierhaltung war. Er spürte, daß ich keine Angst hatte. „Warum sind Sie hergekommen?“ fragte er. „Derselbe Grund wie gestern!“ „Lore Pohl?“ „Ja.“ „Ich habe Ihnen gestern schon gesagt, sie ist nicht hier.“ „Aber sie war es!“ Darauf antwortete er nicht. Einige Augenblicke lang starrten wir uns schweigend an. Er mochte sich fragen, ob ich nicht doch in das Zimmer mit den Gitterstäben 85
geschaut hatte, und ich ließ ihn in dem Zweifel. Ich selbst überlegte, wieviel ich ihm sagen sollte von dem, was ich wußte. Wenn ich herauskriegen wollte, wohin er Lore gebracht hatte, mußte ich einfühlsam sein und behutsam vorgehen. „Als wir vor Tagen im Wohnheim waren, wo Ihre Türken leben, wurde mir von einem der Männer ein Zettel zugesteckt. Sie waren bereits mit Fräulein Pohl hinausgegangen, als das geschah. Auf dem Papier stand der Name einer Kneipe am Steinhöft. ‚Zum Fleeterich‘ heißt sie, wenn Sie die kennen. Ich fuhr hin, und dort traf ich auf einen Türken.“ „Türken gibt’s heutzutage viele in der Stadt.“ „Ich traf auf Osman Tuyan!“ sagte ich und schaute ihm fest in die Augen dabei. „Na wennschon!“ „Noch ehe ich mit ihm ins Gespräch kommen konnte, waren zwei Messerhelden da.“ „Ja, ja! Und die führten ihn weg. Und kurz darauf fiel der Tuyan unter ein Auto. Das weiß ich doch alles.“ „Genau zur selben Zeit wurde Lore Pohl unter einem Vorwand von ihrer Freundin weggelockt“, fuhr ich unbeirrt fort. „Im ‚Fleeterich‘ waren es Ausländer, die das Geschäft besorgten, und in der Richardstraße bei Fräulein Escherich waren es Deutsche. Interessanter als die Ganoven ist aber wohl der Mann im Hintergrund, finde ich, der beide Vorgänge koordinierte und zur selben Zeit abrollen ließ.“ „Und Sie meinen natürlich, dieser Mann sei ich!“ Ich antwortete nicht, sah ihn nur unverwandt an. „Weshalb engagieren Sie sich derartig in der Sache, wollen Sie das sagen?“ fragte er. „Weil ich Fräulein Pohl liebe“, erwiderte ich einfach. „Und das Mädchen?“ „Liebt mich auch!“ „Ich hatte den Eindruck, sie liebt diesen Türken, he?“ 86
Ofterdinger grinste mich an, und ich hätte ihm hineinlangen mögen in dies Gesicht, aber ich dachte an Lore und unterdrückte jede Regung dazu. „Wo sie ihm doch durch die halbe Stadt nachgerannt ist, um ihn nur ja wiederzufinden.“ „Nein, nein, da täuschen Sie sich.“ Ofterdinger schüttelte den Kopf. „Das glaube ich eigentlich nicht. Wir beide, Ahrens, kommen aus ähnlichen Verhältnissen, Sie und ich, und da sage ich Ihnen: So eine wie die Pohl, das ist nichts für uns. Jedenfalls nichts auf Dauer! Zuwenig Verlaß auf solche höheren Töchter! Wenn Sie meinem Rat folgen wollten, gingen Sie nach Hause und ließen alles auf sich beruhen.“ Er sah mich eine Weile schweigend an und seufzte endlich. „Na, ich seh’ schon, das ist in den Wind gesprochen. Sie wollen wissen, wo sie ist?“ „Ja“ „Nehmen wir an, ich wüßte es und wollte es Ihnen auch sagen, da hätten Sie wohl etwas zu bieten als Gegenwert für diese Information?“ „Ja.“ „Und was?“ „Schauen Sie auf die Straße!“ Er zögerte noch immer. Vielleicht überlegte er, was er mit dem Revolver anfangen sollte, wenn er meiner Aufforderung folgte. Ich lächelte ihm ermunternd zu, und da tat er es endlich. Da steckte er die Waffe in die Tasche. Dann wandte er sich um, ging zur Terrassentür, zog den Vorhang beiseite, schloß die Tür auf und spazierte hinaus.
3. In diesen Augenblicken, für die er von der Bildfläche verschwand, hätte ich viel beginnen können. Zum Beispiel ebenfalls aus dem Zimmer gehen 87
und den Koffer mit dem Geld einfach mitnehmen. Oder mich an den Vorhang stellen und ihm eins über den Schädel geben, wenn er zurückkam. Mehrere andere Möglichkeiten gab es sicherlich auch noch. Ich tat natürlich nichts von dem! Und er wußte so gut wie ich, daß ich hübsch brav bleiben würde. Ich wollte alles über Lore erfahren, deshalb war ich in sein Haus eingedrungen. Er konnte also sicher sein, daß ich gesittet auf meinem Platz blieb. Lore Pohl war seine Trumpfkarte! Und meine? Wo hatte ich die? Ich lauschte zum Nebenzimmer hinüber. Ich hörte kein Geräusch. Lag die Dreesen noch auf der Liege? Sie mußte zumindest doch unsere Stimmen gehört haben. Aber wir waren nicht laut geworden. Wahrscheinlich hielt sie mich für einen, der vor der Abfahrt noch rasch zu einer geschäftlichen Besprechung kam. Und etwas in der Art war es ja sogar, was Ofterdinger und ich miteinander abzuhandeln hatten. Ich lehnte mit dem Rücken gegen den Bartisch und starrte in Richtung der Terrasse. In meinen Händen drehte ich das kleine Schächtelchen aus braunem Plast, aber es wurde mir gar nicht recht bewußt, daß ich etwas in der Hand hatte. Es war ein langer Tag gewesen, der eben zu Ende ging, und es war so verdammt viel geschehen. Meine Gedanken wanderten durch die Stunden, die hinter mir lagen, verweilten hier und da. Und das alles während der kurzen Zeit, in der Ofterdinger auf der Terrasse blieb. Endlich kam er zurück. Er verschloß die Tür, schob sorgfältig die Vorhänge vor und drehte sich zu mir herum. Er sagte: „Da parkt ein Auto vor meinem Haus. Zwei Männer lehnen dagegen und starren zur Terrasse herauf.“ Er geriet nicht gerade in Panik, weil da ein Auto vor seinem Haus hielt, aber ich merkte doch, daß es ihn beunruhigte. Ein parkender Wagen in der Magdalenenstraße, dazu bei Nacht, das mochte gespenstisch sein wie ein 88
freier Laternenplatz in einer gewöhnlichen Wohngegend. Natürlich besaßen auch die Leute hier Autos, mehrere sogar, aber da gab es auch die Garagen mit den Lichtschranken. Man rollt die Einfahrt entlang, geräuschlos schweben die Garagentore empor, Wagen hinein, Tor herunter, fort! Nur nicht auffallen in der Magdalenenstraße, nur nichts zur Schau stellen. Autos gelten hier nicht als Statussymbole, das sind schlichte Fortbewegungsinstrumente, diese Wagen zwischen 40 000 und 150 000 Mark in der Anschaffung. „Was sind das für Leute vor meinem Haus?“ wollte Ofterdinger wissen. „Schnabel von der Mordkommission und Sieg von der Steuerfahndung“, erwiderte ich. Er sagte nichts, ich sah nur, wie sein Adamsapfel hinauf- und wieder herunterging. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß ich doch so etwas wie eine Trumpfkarte in der Hand hielt. Wenn ich die nur richtig spielte, würde er schon reden, da würde er es mir sagen, wohin er Lore gebracht hatte. „Schnabel und Sieg also“, würgte er hervor. „Und was stehen die da draußen herum? Warum kommen sie nicht herein?“ „Können Sie sich das nicht denken?“ „Nein.“ „Sie haben keinen Hausdurchsuchungsbefehl.“ „Und wie lange wollen die das so treiben?“ „Die warten darauf, daß Sie hinausgehen. Und das müssen Sie ja. Ihr Zug geht um ein Uhr achtundvierzig.“ „Und in der Zwischenzeit haben die Sie hereingeschickt?“ „Die haben keine Ahnung, daß ich überhaupt hier bin.“ Pause, in der Ofterdinger mich höchst überrascht anstarrte. „Na, hören Sie mal! Schnabel weiß gar nicht, daß Sie in der Nähe sind?“ fragte er schließlich. Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin mehrere Grundstü89
cke von hier über einen Zaun gestiegen und durch die Gärten geschlichen.“ Wieder entstand eine Pause. Ich hatte den Eindruck, daß Ofterdingers Verblüffung eher noch anstieg. Spielte ich meine Trumpfkarte wirklich richtig? Noch glaubte ich es. Ich wollte Ofterdingers Vertrauen gewinnen, indem ich rückhaltlos ehrlich zu ihm war. „Das Mädchen muß Ihnen eine ganze Menge bedeuten“, sagte der Makler schließlich, „wenn Sie ein solches Risiko auf sich nehmen.“ Er kam langsam näher und streifte mich fast, als er an den Bartisch trat. Er gab Frau Dreesens Krokotasche einen Schubs, daß sie umfiel, und griff sich die Flasche Remy Martin. Was wußte der denn, dachte ich, während ich ihm zusah, wie er Kognak in zwei Gläser goß, was wußte der von den Tagen, die hinter mir lagen. Er schob eins der vollen Gläser neben mich, das andere hob er hoch und begann daran zu schnüffeln. Über den Rand hinweg sah er mich an. „Erzählen Sie mal ein bißchen von dem Geschäft, das Sie mir vorschlagen wollen.“ „Ich bin Zeuge für die Steuerfahndung“, begann ich und erwiderte seinen Blick. „Ja, und weiter?“ „Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Sieg schon eine Weile hinter Ihnen her ist? Er ist Ihnen jedenfalls auf den Fersen, seit Sie das vierzehnstöckige Bürohochhaus in Straßburg gebaut haben. Der Kasten hat weit mehr Geld gekostet, als Ihnen die Gebühren von zweihundertfünfzig Gastarbeitern jemals einbrachten. Sieg meint nun, Sie müßten einfach noch weitere Einnahmequellen haben.“ „Und welche? Hat sich der schlaue Herr Sieg darüber auch näher ausgelassen?“ „Sie müssen neben Ihren ordnungsgemäß angemelde90
ten Gastarbeitern einfach weitere beschäftigen, denkt er, so an die zweihundert vielleicht. Und weil die armen Kerle ohne Papiere im Land sind, könnten Sie mit denen anstellen, was Sie auch nur immer wollten.“ „Und wie sähe das aus?“ Ofterdinger deutete zu einer Sitzgruppe. Wir gingen hin und setzten uns; beinahe sah es so aus, als hätten sich da zwei Freunde zu einem Plausch zusammengefunden. Der Makler sagte: „Erzählen Sie mal weiter, es interessiert mich!“ „Sie zahlen Ihren Gastarbeitern nur ein Bruchteil des Lohnes aus, der ihnen tatsächlich zusteht, meint Sieg, und da läge eben das wirklich große Geld. Und nun sei plötzlich Tuyan aufgetaucht, ein junger Intellektueller, Student mit Sprachkenntnissen, und der habe sich zum Sprecher für seine Landsleute gemacht. Sie hätten ihn schließlich umlegen lassen. In den letzten Tagen seien Ihnen aber Zweifel gekommen, daß die Sache in der gewünschten Weise weiterläuft, und deshalb hätten Sie die Rundreise zu den Banken unternommen und Ihr Geld zusammengeholt. Heute nacht wollten Sie damit über die Grenze gehen. Sie haben Fahrkarten nach Straßburg gekauft, die Sachen sind gepackt, da ist auch der Koffer mit dem Geld …“, ich deutete zur Liege hinüber, „es hat schon alles seine Richtigkeit.“ Ofterdinger starrte in das Glas, das er inzwischen ausgetrunken hatte. Auf seinem Gesicht lag ein rötlicher Schimmer. Vielleicht kam der vom Kognak, vielleicht hatten ihn aber auch meine Neuigkeiten ins Schwitzen gebracht. Er fragte schließlich: „Und da sie ohne Haftbefehl nichts anfangen können, warten sie, bis ich an der Grenze bin mit meinem Geld?“ Ich nickte. „Es heißt zwar, daß man jede Menge Geld nach Frankreich mitnehmen kann. Aber gilt das auch bei einer Größenordnung von Millionen? Dazu ohne Belege über Herkunft des ausgeführten Geldes?“ 91
Ofterdinger hob den Blick und sah mich an. Er lächelte. Irgendwie schien er müde geworden zu sein. „Und was ist mit Ihnen? Wieso sind Sie Zeuge für die Steuerhaie?“ „Weil ich aussagen kann, daß Sie so etwas wie eine doppelte Buchführung haben. Da gibt es einmal die Listen mit den Stundenabrechnungen für das Finanzamt, und da gibt es außerdem ein kleines Notizbuch. So ein rotes, in dem einfach nur Namen abgehakt werden. Das habe ich gesehen, als ich mit Fräulein Pohl draußen in Billstedt war und Sie gerade Lohn auszahlten, erinnern Sie sich?“ „Ja, ja, ich erinnere mich. Und was soll es mit dem roten Buch auf sich haben?“ „Ist doch einfach! In dem Buch stehen die Namen der unangemeldeten Gastarbeiter, die Sie beschäftigen.“ „Und? Sie glauben allen Ernstes, daß dies ein Beweis gegen mich ist?“ „Der Steuerfahnder Sieg glaubt es.“ „Der Steuerfahnder Sieg ist ein großes Arschloch!“ Ich zuckte die Achseln. „Überlassen wir es dem Gericht, ob es als Beweis gelten kann oder nicht.“ Ofterdinger starrte in sein leeres Glas, hob dann den Blick zu mir und fragte: „Sie trinken gar nicht?“ „Nein!“ Der Makler erhob sich, etwas schwerfällig, wie mir schien, und ging zum Bartisch. Er füllte sein Glas erneut voll. Dann machte er ein paar Schritte in meine Richtung zurück. Wir sprachen beide nicht, und die Stille lastete auf dem Raum. Wußte ich eigentlich, was ich da tat? Ich war drauf und dran, mit einem Verbrecher gemeinsame Sache zu machen. Es war weit mit mir gekommen! Erstaunt stellte ich fest, daß ich keine moralischen Bedenken hatte, wie man so sagt, zumindest in diesen Minuten nicht. Ich hatte mich, seit ich mit Ofterdinger sprach, zur Ruhe gezwungen. Obwohl ich halb 92
verrückt war vor Angst um Lore. Und ich hatte die Frage, wohin er sie gebracht hatte, immer wieder vor mich her geschoben. Ich fürchtete mich ganz einfach vor der Antwort. Die Anspannung lag wie ein Ring um meine Brust und drohte mich zu ersticken. Ofterdinger unterbrach das Schweigen schließlich. „Sie würden also dieses Notizbuch vergessen? Sie haben es niemals gesehen, dazu wären Sie bereit?“ „Ja.“ „Wissen Sie eigentlich, daß Sie damit gegen Gesetze verstoßen?“ „Es interessiert mich nicht, was Sie mit der Steuer auszuhandeln haben.“ „Sie wollen nur erfahren, wo Lore Pohl ist?“ „Ja!“ Und dann leise: „Bitte, sagen Sie es mir!“ Er hatte halb abgewendet von mir gestanden, den Kopf zur Seite geneigt, als ob er so besser den Ehrlichkeitsgehalt meiner Stimme überprüfen könnte. Jetzt drehte er sich herum und sah mich an. Zum ersten Mal kam ein anderes Lächeln in sein Gesicht. Fast widerwillig stellte ich fest, daß es ihn sympathischer machte. „Sie müssen das Mädchen wirklich lieben“, sagte er. „Ich will nur hoffen, daß sie es auch verdient.“ Dazu sagte ich nichts. Das war nun wirklich das letzte, worüber ich mit ihm diskutieren wollte. Aber ich konnte es nicht hindern, daß mir plötzlich die Erinnerung an unseren ersten Tag kam. Mitten in dem fremden Raum. Vor diesem Mann, dem ich alles andere als freundlich gesinnt war, kam mir die Erinnerung. Da sah ich vor mir, wie ich Lore kennengelernt hatte.
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Der erste Tag 1. Lore lief auf den Landungsbrücken direkt auf mich zu. An diesem Nachmittag gab es da viele Menschen, aber in ihrer Eile unterschied sie sich von den herumschlendernden Leuten. Und dann ihr Gesicht! Voller Unruhe schien es mir. Zwei Männer waren dicht hinter ihr, so dicht, daß es beinahe aussah, als schöben sie das Mädchen vor sich her. Wäre die Menge nicht gewesen, die auf den Landungsbrücken wurlte und quirlte, hätte ich angenommen, das Mädchen sei vor irgend etwas auf der Flucht. Es war ein klarer Frühsommertag, unsere Saison hatte gerade begonnen. Viele Besucher kamen in die Stadt, und jeder mußte in den Hafen und eine Rundfahrt machen. Ich hatte gerade neue Fracht an Bord genommen, wie wir das nennen, die achte oder zehnte an dem Tag. Leute aus der Provinz, in Sonntagsanzügen, die Kinder zwischen sich, hockten sie auf den Holzbänken meiner Barkasse. Ich sah in lachende Gesichter. Das schaukelnde Boot, die gischenden Wellen, das Kreischen der Möwen und Brummen der Dampfersirenen, der schlickige, moderige, leicht mit Salz vermischte Geruch des Wassers, das alles war abenteuerlich. Die großen Schiffe schließlich, die brachten die Ahnung von Weite und die Sehnsucht nach der Fremde. Es war eine angenehme Arbeit, die ich hatte, eine bessere konnte ich mir nicht denken. Ich löste das Tau vom Poller und warf es gegen den Flaggenstock am Heck der Barkasse. Dann ging ich vor zu meinem Vater, der schon abkassiert hatte und beim Steuerstand auf mich wartete. Ich mußte an der Treppe vorüber, die zur Landungsbrücke 1 hinaufführt. Der Ponton, wo die kleinen Barkassen der Hafenrundfahrt festmachen, liegt nämlich tiefer, und von hier führen Stufen 94
zur höher gelegenen Landungsbrücke hinauf. Die Treppe ist auf ihr verankert, aber da beide Pontons frei liegen und im Wasser hoch- und niedergehen, tut die Treppe es auch. Natürlich hat sie an beiden Seiten ein Geländer, an dem man sich festhalten kann, wenn das Wasser ein bißchen hochgeht und die Treppe schwankt. Gerade als ich an den Stufen vorüberging, fiel mir Lore zum zweiten Mal auf. Sie kam die Treppe herab, und wir standen uns direkt gegenüber. Wir sahen uns in die Augen. Viel konnte ich von ihnen nicht erkennen. Sie trug ja diese Brille mit den großen, runden Gläsern, die einen Teil ihres Gesichts abdeckten. Und die Gläser waren getönt, so daß ich ihren Blick nur ahnen konnte. Etwas Geheimnisvolles ging von dem Mädchen aus, jedenfalls für mich, und was ich vorhin aus der Ferne nur vermutet hatte, das bestätigte sich jetzt. Sie hatte wirklich Angst vor etwas. Und sie war auf der Flucht! Sie mußte sich in die Menschenmenge auf der Landungsbrücke geradezu gedrängt haben, weil sie dort Schutz erhofft hatte. Auf dem unteren Ponton war aber niemand mehr, nur noch ich. Sie sah mich zögernd an, dann wandte sie sich um und bemerkte die Männer, die oben am Treppengeländer lehnten und den Ausgang versperrten. Es waren dieselben, die ich vorhin schon gesehen hatte. Sie beachteten das Mädchen nicht, gelangweilt blickten sie auf den freien Teil des Hafenbeckens hinaus. Erneut kehrte sich das Mädchen mir zu. Es schien ganz so, als ob sie schnell Hilfe brauchte und die nun von mir erwartete. „Wollen Sie noch zur Rundfahrt?“ fragte ich. „Wie –?“ Sie verstand gar nicht, was ich meinte. Ich deutete zur Barkasse. „Wenn Sie mitkommen wollen, beeilen Sie sich! Wir legen gleich ab.“ Sie bemerkte die Menschen auf den Bänken und sagte erleichtert: „Ja, ich komme mit!“ Wir gingen zur Barkasse, und ich nahm ihre Hand, um ihr über die Laufplanke zu helfen. Als ich sie berühr95
te, durchfuhr es mich wie ein Schlag. Das klingt vielleicht lächerlich, aber es war tatsächlich so. Von ihrer Seite mag es so viel gewesen sein, daß ich ihr Schutz bot, wenn auch nur eine Sekunde lang, aber mir bedeutete diese erste, flüchtige Berührung schon weit mehr. Natürlich wurde mir das in dem Moment nicht so bewußt, aber heute weiß ich es. Die beiden Männer waren inzwischen auch heruntergekommen, ich hatte sie nicht mehr beachtet, weil ich nur noch Augen für das Mädchen hatte. Nun sah ich, wie sie links und rechts von uns an Bord sprangen. Am Heck des Bootes rückten die Leute zusammen, und so fand sich Platz für Lore und die Männer. Anscheinend sollte sie keine Ruhe finden. Sie war über die Landungsbrücken geflüchtet, schließlich auf die Barkasse gekommen, und nun saß sie wieder eingezwängt zwischen beiden, die Schultern nach vorn verkrampft, die Knie zusammengepreßt und die Hände im Schoß. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war nicht gelöster als vorher. Ich warf den Diesel an, legte den Vorwärtsgang ein und manövrierte die Barkasse vom Liegeplatz. Wir schaukelten durch das Seitenwasser, unterquerten eine Brücke, die vom Turm der Landungsbrücke 1 zu den Pontons führt, und gewannen im Hafenbecken freie Fahrt. Inzwischen hatte mein Vater bei Lore und den Männern kassiert und kam zu mir nach vorn. Er hing die Geldtasche an den Steuerstand und übernahm das Ruder. Nun mußte ich mit meiner Vorstellung beginnen. Das war natürlich alles festgelegt und tausendmal praktiziert – die Beschreibung des Hafens, locker und heiter, ein paar Witze dabei wie den über die Pulverfabrik: „Machen Sie schnell Ihre Zigaretten aus, da drüben liegt eine Pulverfabrik. Da stellt Doktor Oetker sein Backpulver her.“ Wir fuhren ein Stück flußabwärts in Richtung Elb96
tunnel. Ich griff zum Mikrofon und fing an: „Willkommen an Bord der ‚Brigitte 2‘!“ Ich hatte die Barkasse auf den Namen meiner Tochter getauft, worauf die Kleine sehr stolz war, und „Brigitte 2“ hieß das neue Boot, weil das alte auch schon nach ihr benannt worden war. „Wie Sie sehen, ist dies ein nagelneues Schiff, vorige Woche erst vom Stapel gelaufen.“ (Lüge!) „Wenn Sie Ihren Freunden von unserer Reise erzählen, wollen die bestimmt auch einmal eine Rundfahrt machen. Und womit machen sie die? Nur mit ‚Brigitte 2‘, der schönsten, der schnellsten, der modernsten von fünfhundert Barkassen im Hafen.“ (Werbung!) „Wir haben zwar Stabilisatoren unter Deck“ (großer Quatsch!), „aber falls Sie trotzdem seekrank werden, haben Sie die Bequemlichkeit gleich neben sich.“ (Witzchen!) „Genieren Sie sich also nicht, und füttern Sie die Fische!“ Ich war nicht recht bei der Sache, aber die Fahrgäste lachten. Es ist ja immer wieder erschütternd, mit was sich die Leute zufriedengeben. Am lautesten lachten die Männer neben Lore. Sie stießen das Mädchen zwischen sich an, damit es mitlachte, aber natürlich tat Lore es nicht. Worüber auch! Ich erzählte etwas vom Elbtunnel, über den wir gerade hinwegschaukelten und dessen Eingangsturm am Ufer zu sehen war. Der wurde 1911 eröffnet und führt von Sankt Pauli nach Steinwerder hinüber. In einer Tiefe von 21 Metern unter dem Wasserspiegel unterquert er die Norderelbe. Er ist 450 Meter lang und hat in beiden Richtungen je eine Fahrbahn für Fußgänger und auch für Fahrzeuge. Die Leute staunten. Und während ich sie mit Zahlen vollstopfte, über die Menge der Schiffe, die im Werfthafen gebaut wurden, oder über die Arbeiter dort, immerhin 32 000, Zahlen, die sie bereits vergessen haben würden, ehe sie noch die Barkasse verließen, ging mir der Gedanke an das Mädchen nicht aus dem Kopf. Lore 97
hockte zwischen den beiden Männern wie ein unglücklicher kleiner Vogel, der sich verflogen hatte. Durch die getönten Gläser ihrer Brille und über die Längsseite des Schiffes fühlte ich ihren Blick. „Dies ist ein ‚schneller Hafen‘ “, hörte ich mich sagen, „zehntausend Tonnen Kohle werden in nur zweiunddreißig Stunden umgeschlagen. Und natürlich nicht nur Kohle! Getreide, Fleisch, Südfrüchte, Baumwolle, Stückgüter. Alles, was wir brauchen, um uns den Bauch tüchtig vollzuschlagen. Siebzehntausend Schauerleute entladen die Schiffe, zweitausend jeden Monat und aus aller Welt.“ Wir schaukelten gerade unter dem vorspringenden Heck eines Frachters hinweg, einem vergammelten Pott aus den zwanziger Jahren. Desto optimistischer klang meine Stimme: „Die ‚Santa Ana‘ läuft unter panamaischer Flagge und kommt mit Bananen zu uns. Sie ist achttausend Bruttoregistertonnen groß, ihr Heimathafen ist Colon. Ruf mal ’rauf, mein Junge, vielleicht wirft dir der Jan-Maat eine Staude herunter.“ Wieder lachten die Leute, alle außer dem Mädchen. Nein, ich war nicht recht in Fahrt heute. Ich erzählte noch etwas über die Kaianlagen mit Kränen und Greiferbrücken und Getreidehebern, aber ich hörte mir selbst nicht zu. Endlich war es ausgestanden. Wir kamen ins Seitenwasser hinter den Landungsbrücken zurück, ich sprang auf den Ponton hinüber und machte die Barkasse am Poller fest. Lore ging als letzte von Bord. Die beiden Männer waren schon weg, aber ich sah aus den Augenwinkeln, daß sie bei der Treppe herumlungerten. Ich stand neben der Laufplanke, half ihr auf den Ponton herüber und hielt ihre Hand länger als eigentlich nötig. Wieder spürte ich die merkwürdige Erregung in mir aufsteigen wie beim ersten Mal. „Ist was mit Ihnen?“ fragte ich. 98
Sie lächelte krampfhaft. „Kann ich was für Sie tun?“ Sie schaute mir in die Augen, fast war es so, als ob sie reden wollte, aber dann schüttelte sie den Kopf. Sie löste ihre Hand aus meiner und ging mit festem Schritt auf die Treppe zu. Sie mußte einen Entschluß gefaßt haben. Ich sah ihr nach, zögernd, ob ich ihr folgen sollte, aber dann zuckte ich die Achseln und wandte mich meinem Vater zu. Der saß am Ende der Bank neben dem Steuerstand und rechnete. „Wieviel?“ fragte ich. „Zweitausendvierhundert und ein paar Zerquetschte!“ Ich sah auf die Uhr. „Schluß für heute!“ „Eine könnten wir noch machen.“ Ich blickte zur Landungsbrücke hinauf. Dort ging Lore, und die beiden Männer waren wieder dicht hinter ihr. „Nach den Einnahmen müßten es zehn Touren gewesen sein?“ „Neun!“ „Guck mal an, das reicht eigentlich.“ Lore ging schon weit oben auf der Brücke, gleich hatte sie den Turm der Landungsbrücke 1 erreicht, und ich würde sie niemals wiedersehen. „Schluß für heute!“ sagte ich. „Kannst du mal die Schotten dichtmachen?“ Mein Vater sah von seiner Abrechnung auf. Ein verständnisvolles Grienen kam in sein Gesicht. „Hast was vor?“ „Na ja, Vater …“ Ich stand wie auf Kohlen. „Zieh Leine, mien Jung!“ Ich lief die Stufen zur Landungsbrücke hinauf. Lore sah ich erst auf der Straße wieder. Sie lehnte gegen das Mauerwerk des Turmbaus, und die beiden Männer standen dicht vor ihr. Sie stützten die Arme links und rechts von ihr gegen die Wand, so daß Lore nach keiner Seite 99
ausbrechen konnte. Keiner der drei bemerkte mich, das war in dem Gedränge vor den Landungsbrücken auch kaum möglich. Ich kam nah an sie heran. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, sagte der eine gerade, „wirklich, wir wollen Ihnen nichts tun.“ Heiterkeit lag in der Stimme des Mannes, er tat so, als seien sie Bekannte, die sich gerade getroffen hatten. Nicht so Lore! „Lassen Sie mich gehen!“ keuchte sie. „Nur auf ein Gespräch“, sagte der andere. „Wir nehmen Sie mit, und ehrlich: nur auf ein Gespräch!“ Die konnten viel erzählen in dem Gedränge, diese Gangster. dachte ich. Ich überlegte, ob ich mich einmischen sollte, aber ich wartete noch ab. Plötzlich drehte sich Lore zur Seite und hieb ihren Schuhabsatz mit voller Wucht gegen das Schienbein des einen Mannes. Der jaulte auf, löste den Arm von der Wand, und sie entwischte. „So ein Biest!“ Der Mann rieb sich sein schmerzendes Knie und knirschte: „Diesem Biest werd’ ich …“ Ich empfand Freude über das Biest. Tüchtige kleine Person! Sie lief das Johannisbollwerk entlang, die beiden Männer hinter ihr und ich hinter den dreien. Etwa fünfzig Meter weiter parkte ein Bus der Sightseeingtours. In ihn stiegen gerade Touristen, wahrscheinlich Bayern, denn sie trugen Dirndl und Lodenanzüge. Es waren durchweg ältere Leute. Lore drängte sich durch die Menge zum Einstieg, aber eine Hostess hielt sie mit entschiedener Handbewegung zurück. „Das ist eine Reisegesellschaft“, sagte sie. „Nehmen Sie mich mit“, keuchte Lore, „nur ein Stück!“ „Aber das geht nicht!“ „Bitte!“ Lore versuchte, die Hostess vom Eingang fortzuschieben, aber die wurde tückisch. „Hören Sie mal, Sie!“ fauch100
te die Frau. „Wie kommen Sie denn dazu, einfach hier in diesen Bus einzusteigen?“ Inzwischen waren die beiden Männer zu Lore vorgedrungen. Einer von beiden, der, den sie getreten hatte, schloß sie in die Arme und sagte zerknirscht: „Verzeih, Liebling, ich will es nicht wieder sagen! Kein Wort mehr gegen deine Eltern!“ Die Männer waren aufeinander eingespielt. Der andere wandte sich an die Touristen, die dem Spektakel interessiert zuschauten, und erklärte: „Sie ist ihm weggelaufen! Beinahe vor dem Standesamt. Was sagen Sie denn dazu?“ Über die Gesichter legte sich verständnisvolles Lächeln, und ein alter Mann meinte genüßlich: „In der Nacht, junge Frau, wird dann alles gut!“ Lore schien nach ihrem Ausbruch völlig erschöpft, apathisch ließ sie es geschehen, daß ihr der Mann den Arm um die Schulter legte und sie aus dem Kreis führte. Eine Touristin in der Menge sagte: „Aber die Frau hatte doch Angst, Alois!“ Der Alte schaute Lore mit versonnenem Lächeln nach. „Du hattest auch Angst, Anna, weißt du noch?“ Die Männer gingen mit Lore das Johannesbollwerk zurück. Sie hatten das Mädchen fest untergehakt und strebten dem Parkplatz vor den Landungsbrücken zu. Während ich ihnen in knappem Abstand folgte, überlegte ich, was ich tun könnte. Etwas mußte geschehen. Zwei gegen einen? Na, mal sehen! Zwar gab es ein tüchtiges Gedränge um uns herum, aber ich wußte, daß sich von den Passanten niemand einmischen würde. Da konnte einer am Straßenrand verrecken, die Leute gingen weiter. Was hatten die Burschen mit ihr vor, überlegte ich. Eine Entführung? Ja, etwas in der Art! Ich hatte mal gelesen, daß jährlich ein paar tausend Mädchen verschwanden und nie wieder auftauchten. Die versickerten in den Bordellen im Orient und in Asien. 101
Und dann sah ich den Polizisten, der uns entgegenkam. Zehn Schritte noch, und es war ausgestanden! Ich muß zugeben, daß ich erleichtert war. Ich bin nicht besonders ängstlich, aber wirklich, ich habe so gar keinen Kontakt zur Unterwelt. Fünf Schritte noch. Gleich würde sie den Beamten um Hilfe rufen. Ich konnte ihr, wenn alles ausgestanden war, immer noch meine Unterstützung anbieten. Drei Schritte, zwei – einer! Der Polizist ging vorüber, und sie hatte nichts getan, daß er ihr half, kein Wort, nichts! Dies Mädchen war ja eine Schlampe! Die hatte was auf dem Kerbholz! Wahrscheinlich gehörte sie zu der Bande, hatte ihre Kumpels hereingelegt und wurde gerade zur Abrechnung geholt. Diese blonden Dinger mit dem unschuldsvollen Blick, die man kannte! Ich würde mich in meinen Wagen setzen und nach Hause fahren. Beine hochgelegt, ein Bier, vielleicht auch zwei auf den Tisch und das „Hamburger Abendblatt“ vor die Nase. Und dann das Fernsehen, bei dem man so schön müde wurde, heute lief der Freitagskrimi. Genau das würde ich jetzt auf der Stelle tun, mein Wagen parkte gleich rechts. „Sie lassen mal gefälligst die Frau in Ruhe!“ hörte ich mich schreien. Ich stand neben dem Opel und vor der offenen Tür, in die Lore gezerrt werden sollte. Die Männer grinsten. „Guck an“, meinte einer der beiden, „ist das nicht unser Seemann mit dem sehnsuchtsvollen Blick?“ „Das ist er“, antwortete der andere. „Der läßt das Mädchen ja keinen Moment aus den Augen.“ „Wird wohl verliebt in sie sein.“ „Muß er!“ Die beiden waren wirklich aufeinander eingespielt. Dialoge wie auf dem Theater, für das Hansa-Theater zum Pausenfüllen! Ich stand vor der Tür des Opels, und für diesen Moment konnten sie mit dem Mädchen nichts anfangen. Aber wie sollte es mit uns weitergehen? 102
Ich sagte zu Lore: „Kam mir gleich so vor, als ob Sie Hilfe brauchten!“ Der eine lachte hinterhältig. „Aber doch nicht von dir, Seemann!“ Seine Hand schoß heran, ich sah sie kommen, so besonders schnell war der Bursche also gar nicht. Ich hatte mich ein wenig vorgebeugt, kam ihm mit beiden Händen entgegen, kriegte die Mittelhand zu fassen, ging mit seiner Bewegung zurück und preßte unsere drei Hände gegen meine Brust. Krach! Der Mann jaulte auf und zog eine Grimasse, nun schon zum zweiten Mal in so kurzer Zeit. In diesem Moment hoffte ich, ich hätte ihm das Gelenk gebrochen. Zum Schmerz gesellte sich so etwas wie Mordlust in seinen Augen. Diese Leute waren gefährlich, ich wußte das. Ich sagte: „Da steht ja auch ein Polizist, ich ruf ihn gleich mal her.“ „Nein –!“ Lore schrie beinahe auf. Ich sah überrascht und auch wieder ein bißchen mißtrauisch zu ihr hin. „Warum denn nicht?“ Sie wiederholte, nun leise und bittend: „Keine Polizei!“ Über die Wagendächer hinweg sah ich den Polizisten zurückkommen. Nachdenklich blickte er zu uns her, zögernd noch, aber ich sah den Entschluß, sich einzumischen, bereits in seinem Gesicht. Die Gangster erkannten es auch und blieben ganz ruhig, taten nichts. Um so aktiver wurde ich. Ich hielt meinen Freund vor mir mit der linken Hand im Griff, die rechte donnerte ich ihm auf die Schulter. „Mann, Mann, Johnny“, schrie ich, „ich denke, ich seh’ nicht recht in dem Gewühl! Und das nach all den Jahren!“ Die beiden lachten, wenn auch nicht ganz so strahlend wie ich. „Hast du die Kneipe noch auf Helgoland?“ Der Ganove antwortete nicht. Ich verstärkte den Druck in meiner linken Hand, nur ganz sachte, und grinste ihn an. „Hast du die noch, Johnny?“ 103
Er lächelte gequält zurück. „Habe ich noch!“ Und ich so laut, daß der Polizist gut mithören konnte: „Ich dachte, du wärst längst bankrott. Dein Rum war ja nicht zu trinken, das gepanschte Zeug.“ Ich hörte ihn leise stöhnen, das kam von dem Druck meiner Hand. Lore hatte dem Polizisten den Rücken zugekehrt. Sicherlich wäre sie gern weggelaufen, nichts hätte sie wohl lieber getan in diesem Augenblick, aber sie konnte es nicht. Der andere Ganove hielt sie noch immer fest untergehakt. „Tut mir leid, Johnny“, sagte ich, „hätte wirklich gern einen mit dir geschnasselt, aber gerade heute geht es nicht, bin in Eile.“ Langsam fing es an, Spaß zu machen, ich genoß meine Überlegenheit. Kunststück mit dem Polizisten in der Nähe! Es tat auch wohl, dem Mädchen meine Stärke zu zeigen, wie ich spielend mit zwei Gangstern fertig wurde. Männer um die Vierzig, wurden die denn nie erwachsen? Ich sagte zu Lore: „Tja, und wie ist es nun mit – dir? Mit wem willst du denn fahren? Mit den Landratten vielleicht?“ „Lieber mit – dir“, erwiderte sie stockend. „Sag ich doch!“ Ich entließ meinen Freund aus dem Griff und nahm statt dessen Lores Arm. Ich trat dabei zwischen den Mann und Lore, so daß er sie freilassen mußte. Wir gingen geradewegs auf den Polizisten los und an ihm vorbei. Der Beamte schaute uns mißtrauisch an, aber er hielt uns nicht auf. Wir gingen weiter. Ich hatte meinen Arm unter Lores geschoben, und trotz der kribbeligen Situation, in der wir uns befanden, genoß ich die Berührung ihres Arms und ihres Körpers. „Und warum keine Polizei?“ wollte ich wissen, als wir uns weit genug entfernt hatten. „Fragen Sie nicht, bitte!“ „Auch gut, frage ich eben nicht!“ Wir kamen auf dem Weg zu meinem Parkplatz am 104
Tor der Landungsbrücke 1 vorbei. Dort stand ein alter Fahrensmann und spie Priemsaft aus, direkt vor meine Füße. Ich nahm es gar nicht richtig wahr. In mir war eine merkwürdige Art von Beschwingtheit, nachdem alles vorüber war und Lore neben mir ging. Ich sah auch nicht den gutgekleideten Herrn, der neben dem alten Seemann stand. Und wenn ich ihn bemerkt hätte, so hätte ich nicht viel damit anfangen können, denn ich kannte den Mann ja nicht, noch nicht! Aber in Wirklichkeit war es natürlich kein anderer als der Makler Ofterdinger.
2. Wir fuhren die Helgoländer Allee hoch, am Bismarck-Denkmal vorüber und bogen in die Ost-West-Straße ein. Zunächst redeten wir nicht, ich mußte in dem Nachmittagsverkehr stark aufpassen. Dann gab es noch einen weiteren Grund. Wenn ich jetzt etwas sagte, glaubte ich, würde sie sich bedanken, aus dem Wagen steigen, und ich würde sie niemals wiedersehen. Also schwieg ich, und sie tat es auch. Sie aber wohl eher aus einem anderen Grund. Sie hatte sich in großer Aufregung befunden, in beinahe panischer Angst, sicherlich schon eine lange Zeit. Seit sie zu mir auf das Boot gekommen war, auf jeden Fall! Diese Spannung löste sich nun allmählich, ganz teilnahmslos hockte sie auf dem Nebensitz. Beim Deichtorplatz bog ich in den Klosterwall ein, um über den Hauptbahnhof an den Glockengießerwall heranzukommen. Ich wollte dann die Alster entlang nach Norden fahren. Dort lag Winterhude, wo ich zu Hause war. Ich nahm diese Richtung ganz automatisch, ohne Hintergedanken, das schwöre ich. Was wußte ich denn von dieser Frau? Ich wußte, daß sie in einer windschiefen Sache hing. Zwei Gangster waren hinter ihr her, hat105
ten sie in einen Opel zerren wollen. Und sie hatte verhindert, daß wir die Polizei zu Rate zogen. Was wußte ich noch? Ich wußte etwas von der Berührung ihrer Hand und von dem Blick ihrer Augen aus dunklen Brillengläsern. Übrigens war das kein Fensterglas, wie ich von der Seite sah. Keine Attrappe also, es waren höllisch starke Gläser. Was wußte ich weiter von ihr? Nichts! Ich war total blödsinnig! Ein Mann von vierzig Jahren, nein, von einundvierzig Jahren, wir wollen mal ehrlich sein, benahm sich so. Das war schon unanständig! Wieder einen Blick zur Seite und auf sie! Das Mädchen war nicht älter als Anfang Zwanzig. Sie könnte meine Tochter sein. Pfui Teufel! „Wohin fahren wir eigentlich?“ hörte ich sie leise fragen. „Sind wir an der Alster?“ „Ja! Wo möchten Sie denn hin?“ „Das ist mir ganz egal! Setzen Sie mich nur ab, wo Sie gerade anhalten können.“ Ich fuhr weiter. Diese Stimme! Kehlig und ein ganz klein wenig heiser, die würde ich niemals vergessen! Ich war wirklich blödsinnig. Ich kam in den zweiten Frühling, wie? Laut sagte ich: „Ich möchte Sie nicht irgendwo absetzen, in ihrem Zustand nicht!“ Sie wandte sich mir zu und gab sich irgendwie einen Ruck. „Wahrscheinlich haben Sie eine ganz falsche Vorstellung von mir bekommen. Diese Männer … ich kann Ihnen das nicht erklären, ich kann es mir selbst nicht erklären.“ Diese Stimme! Vielleicht wirkte sie auf einen anderen wie die der Ausruferinnen vom Fischmarkt, die sind ja auch oft heiser. Auf mich wirkte sie nicht so. „Sie sollen mir nichts erklären, ich will gar nichts wissen“, meinte ich. „Sagen Sie mir nur, wohin ich Sie fahren soll!“ Vielleicht wollte sie nach Ahrensburg oder nach Lü106
beck? Um so besser, ich wäre sehr weit mit ihr gefahren. So weit sie wollte. Ich war blödsinnig, wie? Ja, sehr! Sehr blödsinnig! Sie sah zum Fenster hinaus und erkannte den Mundsburger Damm. „Können Sie mich bis Mundsburg mitnehmen?“ „Natürlich!“ „Dann möchte ich in die Richardstraße. Dort wohnt eine Freundin von mir.“ Sie hatte Freundin gesagt, nicht Freund! Ich atmete auf. Bis zur Richardstraße sprachen wir nicht mehr. Sie dirigierte mich vor ein Appartementhaus, und wir stiegen aus. Ich hielt die Tür auf, reichte ihr meine Hand, die sie nahm, wartete auf den elektrischen Schlag, aber der kam nicht mehr. Ein wenig war ich enttäuscht. Wir wandten uns dem Haus zu, es war eine gute Wohngegend. Während der Bombennächte hatten die Engländer ja tüchtig zugelangt, um die Hamburger Straße herum blieb kein Stein auf dem anderen, und die Richardstraße lag gleich nebenan. Aber dann kam der Boom der fünfziger Jahre, und nun standen hier schicke Appartementhäuser. Lore drückte einen Klingelknopf. Wir standen neben der Sprechanlage und warteten. Ich zählte bis zehn, bei acht wuchs meine Hoffnung, daß ihre Freundin nicht zu Hause war. Niemand meldete sich. Diese Freundin war mir sympathisch, fand ich, die könnte ich doch gleich, ohne viel zu fragen, in mein Herz schließen! Lore klingelte noch einmal, dann trat sie vom Eingang zurück und blickte die Fassade hinauf. „Eigentlich müßte sie längst zu Hause sein“, sagte sie. „Aber vielleicht ist sie auch noch was für das Wochenende einkaufen gegangen, es ist ja Freitag. Ich werde warten.“ „Und wenn sie schließlich kommt, dann hat es auch alles wenig Sinn“, meinte ich, während ich neben sie trat und zum Straßenrand hindeutete. 107
Da stand der Opel am Kantstein, und da saßen sie drin, unsere Freunde von den Landungsbrücken. Ich hätte sie umarmen mögen, diese Burschen, die zwar nicht ausstiegen, aber düsteren Blicks zu uns herschauten. Und das Fräulein Escherich, wie ich auf dem Namensschild neben der Klingel buchstabierte, meldete sich noch immer nicht. „Ich habe eine kleine Wohnung, wo sie vor denen erst einmal sicher wären“, sagte ich. „Da passiert Ihnen nichts, rein gar nichts. Wollen Sie?“ Sie schaute mich eine Weile lang prüfend an. Wieder zählte ich bis zehn, aber das reichte diesmal nicht. Ich kam bis zwölf, und ich zögerte schon zum Schluß hin immer länger. Endlich nickte sie mit dem Kopf. Ich war sehr glücklich!
3. Ich wollte gar nicht mit Lore schlafen! Das ist eine Erfindung der Frauen, daß die Männer nichts anderes im Sinn haben, als mit ihnen zu schlafen. Sie sagen es auch nur, um sich ihrer Stärke ganz gewiß zu sein. Ich machte Lore das Angebot, mit mir zu kommen, weil ich den Abschied von ihr, der ja kommen mußte, hinauszögern wollte. Wir hatten uns in einer Ausnahmesituation getroffen, und das kann nicht dauern. Und ich wollte ihr helfen. Diese beiden Männer, die hinter uns herfuhren, vor denen wollte ich sie beschützen. Unsinn! Ich wollte mit ihr schlafen! Vom ersten Augenblick an! Sie hatte nur meine Hand genommen, sie hatte mich nur angesehen, und da wollte ich es schon! Vom allerersten Augenblick an hatte ich begriffen: Hier war eine Chance! Die könnte mein Leben ändern. Mir war das nicht klar an diesem ersten Tag, nicht in Worten klar, aber tief in mir, da wußte ich es gleich! 108
Und natürlich wollte ich nicht mir ihr schlafen! Zumindest so vordergründig nicht!
4. Wir überquerten die Hamburger Straße und verschwanden in einem Gewirr enger Gassen. Unsere Verfolger blieben mit ihrem Opel an uns dran. Ich fuhr in Richtung Mesterkamp, kurvte um den Biedermannplatz herum, kehrte zurück zur Heitmannstraße. Unsere Freunde von den Landungsbrücken klebten. Immer wieder sah ich sie im Rückspiegel auftauchen. Manchmal kamen sie so dicht heran, daß ich ihre Gesichter sah. Die schauten nicht fröhlich, besonders der eine, dem ich fast das Handgelenk gebrochen hatte, wirkte verkniffen. In einer stillen Straße durften wir denen nicht in die Hände fallen. Schließlich kam mir eine Idee! Beim Alten Schützenhof gab es eine Autoreparaturwerkstatt mit zwei Eingängen. Ich bog in die Straße ein, setzte die Geschwindigkeit herab, blinkte und fuhr in die Toreinfahrt einer alten Mietskaserne. Hinter uns hielten die Burschen am Kantstein. Wir passierten den Hof, kamen an abgestellten und hochgebockten Autos vorbei, unter denen trotz der späten Nachmittagsstunde noch Monteure lagen, und nahmen die Durchfahrt zur Bachstraße. Hier gab es wieder stärkeren Verkehr, der uns Schutz bot. Ich schlug noch einige Haken und Ösen und verschwand dann über den Osterbekkanal. Wir hatten unsere Verfolger abgeschüttelt. Die Sache mit den zwei Eingängen ist ja ein abgeklapperter Ganoventrick. Ich wunderte mich nur, daß die beiden Gangster darauf hereinfielen. War vielleicht eine Nummer zu klein für die. Ich wandte mich zur Seite und sah Lore lächelnd an, das hatte so ein klein wenig was von einem Siegerlächeln. Während der Verfolgung 109
hatte sie über dem Sitz nach hinten gelehnt und durch das Rückfenster geschaut, jetzt drehte sie sich mir zu und griente ebenfalls. „Sie sind weg“, sagte sie erleichtert. Wir kamen in den Glindweg, und für alle Fälle fuhr ich den Fiat gleich die Neigung zur Garage hinab, damit er von der Straße verschwand. Es gab auf dem ganzen langen Glindweg nur eine einzige Garage, und die war ausgerechnet auf mich gefallen. Jahrelang hatte sie dem Malermeister Rieffenberg als Lagerraum für seine Farben gedient. Dann starb der Malermeister, und die Witwe verkaufte die Bestände aus dem Lagerraum, die Garage stand leer. Viele Bewerber meldeten sich bei Frau Rieffenberg, alle Hausbewohner natürlich, aber auch viele Leute aus der Nachbarschaft. Niemand außer mir bekam die Garage, und das hatte seinen Grund! Ich hatte die ganzen Jahre über immer höflich gegrüßt, wenn ich Frau Rieffenberg im Treppenhaus traf, hatte mit ihr über das Wetter und die steigenden Preise geschimpft. Das hatte der Frau gefallen, denn in dem Haus gehen die meisten aneinander vorbei, ohne sich auch nur anzuschauen. Ich kam aber von Cranz, vom Dorf also, und dort ist man eben noch ein wenig altväterlich und sagt „Guten Tag!“. Und ein weiterer Grund! Frau Rieffenberg hatte eine Tochter, die mit der Mutter, aber ohne Mann lebte. Fräulein Rieffenberg war Mitte Dreißig, ziemlich lang und dünn und hatte einen merkwürdig blassen Teint. Aus Fräulein Rieffenberg und mir ist nie etwas geworden. Das beruhigte mich immer wieder, besonders natürlich in diesen Minuten, als Lore neben mir die Treppe zu meiner Wohnung hinaufstieg. Die lag im ersten Stock. Heute war Freitag, und meine Haushaltshilfe hatte saubergemacht. Außerdem hatte sie den Kühlschrank bis obenhin vollgepackt, tat sie freitags immer, Schnellgerichte in Büchsen, Wurst, Beefsteak110
hack, das ich roh besonders gern aß, Fisch und auch ein Stück Räucheraal. Ich schaute Lore fragend an, aber sie schüttelte den Kopf. „Ich bin überhaupt nicht hungrig.“ „Ich auch nicht!“ Schwupp – der Schrank fiel zu. Wir standen in der Küche und wußten nicht recht weiter. Der Überfall im Hafen und die Verfolgung der Gangster lagen hinter uns. Ebenso der Lärm der Straßen, die Autos, die Menschen. Hier war es ruhig, viel zu ruhig, wie wir wohl beide empfanden. Dies peinliche Gefühl, das immer kommt, wenn man sich fremd und allein gegenübersteht, schwang zwischen uns. „Was zu trinken?“ „Was haben Sie denn?“ Mpf – der Kühlschrank ging auf, und wir blickten äußerst interessiert hinein. „Bommerlunder?“ „Ja, mit Orangensaft!“ Hatte ich auch, Gott sei Dank! Ich machte die Getränke fertig, für sie etwas stärker, für mich etwas schwächer – ich trinke ja wenig –, tat Eis hinzu und reichte ihr ein Glas hin. Wir nippten beide und sahen uns an. „Ich werde das Glas austrinken, und dann kann ich wohl gehen. Ich glaube, daß es ausgestanden ist.“ Ich nickte gleichgültig. „Wo wohnen Sie?“ „Eppendorf! Eppendorfer Landstraße.“ „Da bringe ich Sie zum Borgweg. Mit der Hochbahn haben Sie es bequem.“ „Ich brauche nur bis Kellinghusenstraße, dann bin ich schon gleich da.“ Wußte ich auch! Schließlich war ich ja nicht dämlich. Warum wollte sie denn gleich wieder weg? Da hätte sie ja wirklich nicht mit heraufkommen müssen. Ich hatte ihr doch zu verstehen gegeben, daß ich sie vor den 111
Gangstern beschützen würde. Und wenn die ihr im Hafen aufgelauert hatten, könnten sie es vor ihrer Haustür wohl auch. Aber vielleicht wartete zu Haus ihr Mann auf sie und ein Kind oder zwei? Unsinn, das Mädchen war knapp zwanzig. „Sind Sie … verheiratet?“ fragte ich, während ich noch einen Schluck nahm. Einen kleinen nur, denn irgendwie spürte ich den Alkohol schon. „Um Gottes willen!“ antwortete sie herzlich und befreit lachend. „Und Sie?“ „Längst vorbei.“ „Man lebt besser so.“ „Ja, bedeutend!“ Noch immer standen wir voreinander, und der Kühlschrank summte. Sie hatte noch diese Brille auf. Mußte sie wohl, weil sie ohne die starken Gläser sicher kaum zwei Schritte weit sehen konnte, aber warum waren die getönt? Hatte sie sonst noch etwas mit den Augen, schielte sie vielleicht? In den Gläsern sah ich nur mein Gesicht, ihre Augen sah ich nicht. „Wir können unser Glas auch ebensogut im Zimmer drüben austrinken“, meinte ich. Sie nickte, und ich ließ sie vorangehen. Sie trug in sich gemusterte graue Kordsamthosen mit weitem Schlag. Sie liebte Hosen, wie ich später erfuhr, Hosen in allen Variationen, obwohl sie ihre Beine nicht zu verstecken brauchte, das erfuhr ich später ja auch. Die Hosen gingen ihr knapp bis an die Hüften. Die waren schmal. Darüber kam die noch schmalere Taille, und darüber spannte sich das Blau der Bluse, die eng anlag. Ich war sehr erregt, als ich hinter ihr ins Zimmer ging. Die Einrichtung meiner Wohnung ist nicht besonders. Eins der Vorderzimmer, das mit dem Erkerfenster, wird von schweren Ledersesseln bestimmt, dazu der übliche runde Tisch. Gleich beim Erker, so daß Licht drauffallen kann, steht der Schreibtisch. Daran erledige ich 112
meinen Papierkram, und wenn ich die Nase voll davon habe, was schnell geschehen kann, rücke ich das Zeugs beiseite und löse Kreuzworträtsel. Neben dem Schreibtisch befindet sich die zweiflügelige Durchgangstür zum anderen Vorderzimmer, die immer offensteht. Ich mag Höhe und Weite in den Räumen. Das angrenzende Zimmer ist moderner eingerichtet, passierte nach der Scheidung. Regalwand, Liege an die zwei mal zwei Meter, Schränke – Baukastensystem. Und die Apparaturen einer recht komplizierten Stereoanlage. Hatte ich mir mal geleistet. In den Regalen sind viele Bücher, eigentlich nur Bücher, Schnickschnack mag ich nicht. Keine teuren Ausgaben natürlich, hauptsächlich Paperbacks. Das machen sie ja heute, die Weltliteratur im Rotationsdruck. Ich lese aber auch Kriminalromane, manchmal sogar noch lieber. Und während andere Leute die verstecken, nehmen meine gleich drei Fächer ein; fett leuchten die Farben ihrer Einbände in Rot und Gelb und Schwarz. Besonders gefallen mir die Amerikaner, die haben einen harten Sound und fackeln nicht lange. Aber nun hatte ich den Krimi ja frei Haus geliefert bekommen, und die Person, die alles ausgelöst hatte, saß mir gegenüber und sah mich aus dunklen Brillengläsern an. Sie war unnahbar und kühl. Kalt wie das Eis in ihrem Getränk, das langsam zu schmelzen begann und die Wand des Glases beschlagen ließ. Würde sie jemals schmelzen? Und wie würde sie dann sein? „Ich möchte Ihnen so gern erklären, wie es zu dem Vorfall im Hafen kam“, sagte sie, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten. „Aber ich kann es nicht! Glauben Sie mir, ich habe die beiden Männer vorher nie gesehen. Ich lief da durch die Gegend und merkte erst gar nicht, daß ich verfolgt wurde. Aber irgendwann spürt man es ja doch. Die beiden gingen dicht hinter mir. Ich kam bis zum Baumwall, stieg in die Hochbahn und fuhr nach den Landungsbrücken zurück, die beiden fuhren mit. 113
Aber sie sprachen mich nicht an, hielten sich nur so, daß ich sie sehen konnte, wenn ich mich umdrehte, und das tat ich nun immer häufiger. Ich lief über die Landungsbrücken, ging bei Tor sechs hinein, kam bei Tor vier wieder auf die Straße, bei Tor drei wieder zurück. Mal lief ich unten, mal auf dem oberen Teil der Brücken. Manchmal war ich drauf und dran, sie anzusprechen, aber ich war so verängstigt, ich bin ganz sicher, ich hätte nicht ein einziges Wort herausgebracht.“ „Die haben es darauf angelegt, daß Sie Furcht bekamen“, sagte ich nachdenklich. „Das ist ihnen gelungen. So kam ich jedenfalls zu Ihnen auf die Barkasse, und nun ist ja beinahe alles wieder gut.“ Nichts war gut, und das wußte sie ebenso wie ich. Aber sie schien erleichtert, daß sie es sich von der Seele geredet hatte. Ich saß ihr mit gefurchter Stirn gegenüber und drehte das kalte Glas in meinen Händen. „Es muß doch einen vernünftigen Grund dafür geben, warum man Sie verfolgt hat.“ „Ich weiß keinen.“ „Weshalb kamen Sie überhaupt in den Hafen?“ „Ich wollte mich nach jemandem erkundigen.“ „Jemand?“ „Ein Mann! Wir hatten uns über acht Tage nicht gesehen, und das war ungewöhnlich.“ Ein Mann also! Natürlich, ein zwanzigjähriges Mädchen, das so attraktiv aussah, das hatte schließlich auch einen Mann oder Freund. Farewell, my love, oder wie das hieß! „Vielleicht hängt alles mit dem Herrn zusammen, nach dem Sie gesucht haben.“ „Kaum!“ Ich wurde langsam ärgerlich. „Irgendwomit muß es ja wohl zusammenhängen.“ „Aber mit diesem Mann nicht, er ist nämlich Türke!“ 114
Ich merkte, wie ich gegen meinen Willen die Nase rümpfte. Schnell hob ich mein Glas darunter und trank einen Schluck. Lore fuhr fort: „Ich lernte ihn während meines Urlaubs kennen. Als ich zurück war, tauchte er eines Tages hier auf, mit etwas falschen Vorstellungen allerdings. Er wollte auch hier arbeiten. Er fand schließlich was im Hafen, aber kurze Zeit später meldete er sich nicht mehr bei mir. Und bis heute blieb er verschwunden, was soll ich denn tun?“ „Waren Sie deswegen im Grasbrookhafen?“ „Ja.“ „Und?“ „Nichts! Keiner nahm sich richtig Zeit für mich, das Übliche, das man kennt.“ „Ich habe Zeit.“ Ich lächelte. „Ja, und Sie hören mir auch zu, ich bin Ihnen sehr dankbar! Dieser Mann ist fremd in der Stadt, und da er im Grunde meinetwegen hergekommen ist, fühle ich mich verpflichtet, nach ihm zu suchen. Können Sie das verstehen?“ Ich konnte es. Dieser Türke war ja nun ein kleiner Fisch, den schnippte ich doch weg! Da sie sich aber überhaupt mit ihm abgab, hatte sie sonst wohl niemanden. Das konnte sich ändern, und zwar möglichst schnell. Obwohl wir uns in den Sesseln leicht und locker gegenübersaßen, war meine Ruhe nur vorgetäuscht. In mir wuchs die Erregung mehr und mehr. Nicht so bei ihr. Sie sah kühl und unnahbar aus. Nur ihre Augen hinter den dunklen Brillengläsern waren die ganze Zeit über unablässig auf mich gerichtet. Ich sah sie auch an, ich hätte gar nicht gewußt, wohin ich sonst hätte gucken sollen. Eine knisternde Spannung lag zwischen uns, da genügte ja ein Funke! Und das mußte sie doch wirklich spüren, dieses kalte Luder! Ich räusperte mich. „Als die Männer Sie dann anspra115
chen, stand ich ganz in Ihrer Nähe. Die Kerle sagten, sie wollten Sie irgendwohin bringen, und das nur auf ein Gespräch. Können Sie sich denn vorstellen, wo diese Unterhaltung hätte stattfinden sollen? Und mit wem?“ „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“ Wieder mußte ich an die Frauen und Mädchen denken, die Jahr für Jahr im Orient verschwanden. Ich sagte: „Das war wohl auch nur ein Vorwand.“ „Glaube ich auch.“ Wir schwiegen. Die Spannung zwischen uns wurde immer explosiver, es war kaum noch zu ertragen. „Und warum wollten Sie nicht, daß sich der Polizist einmischte? Möchten Sie es mir jetzt sagen?“ Pause, in der plötzlich eine scharfe Falte auf ihrer Nasenwurzel erschien. Dann verkündete sie sachlich: „Mein Vater ist Oberstaatsanwalt.“ „Ich verstehe –“, meinte ich, aber in Wirklichkeit verstand ich kein Wort. „Vielleicht doch nicht ganz. Mein Vater lebt in Pöseldorf! Kennen Sie Leute dort?“ „Wirklich nur vom Hörensagen.“ „Ein Türke, das ist schon schlimm! Ein Gastarbeiter aber, das ist einfach undenkbar!“ Natürlich, das war es ja auch für mich! Besonders in diesem Fall! Wir sahen uns noch immer an, und die Spannung zwischen uns wuchs und wuchs. Sie war gar nicht zwanzig! Je länger ich sie beobachtete, desto klarer wurde es mir. Sie war mindestens Mitte Zwanzig, sie wirkte nur so jung. Ihr Gesicht blieb unnahbar und kühl, völlig unbewegt. Und dann sah ich das Glas auf der Sessellehne, um das ihr Hand lag. Es war noch zur Hälfte voll, und die Flüssigkeit darin schwankte hin und her. Daran sah ich, daß ihre Hand zitterte. Ich hob meinen Blick wieder zu ihren Augen, und obwohl die Brillengläser wie eine Barriere dazwischen lagen, spürte ich, wie unsere Blicke ineinandertauchten. Ich sah jetzt nur noch 116
ihr Gesicht. Alles, was dahinter und daneben lag, wurde unscharf und verschwamm. Ich sah nur ihr Gesicht, das allerdings in großer Klarheit und Schärfe. Warum war sie nur so kühl? Warum konnte ich denn nicht aufstehen, zu ihr gehen und sie in die Arme nehmen? Ich stand auf, ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie wehrte sich nicht. Ich küßte sie. Sie wehrte sich nicht. Ich trug sie hinüber ins andere Zimmer zur Liege, sie ließ es zu. Ich begann sie auszuziehen, sehr nervös und fahrig erst, dann sicherer und schneller, ich konnte es nicht erwarten. Diese Frau war nicht kühl! Was hatte ich da nur gedacht? Ich merkte es daran, wie sie mir entgegenkam. Sie war – ich fand keine Worte dafür! Ich schrie laut auf, und sie tat es auch. Ich schwamm in einem See, der hatte klares Wasser. Ich sah das Ufer nicht. Das war nicht schlimm. Ich war stark, ungemein stark, ich würde das Ufer schon erreichen.
5. Spät in der Nacht machten wir uns zu essen. Wir räumten den Kühlschrank leer, und die ersten Bissen stopften wir uns gleich davor in den Mund, so hungrig waren wir. Dann machte ich mich an die Arbeit; merkwürdig nur, wie leicht sie von der Hand ging. Zum Beispiel das Beefsteakhack! Auseinandergedrückt, Salz gestreut, Pfeffer – halt, nicht soviel, na, ein wenig noch! Paprika, Senf muß her, Eidotter drauf, Zwiebel, nein, Zwiebeln nicht, heute nicht! Eine Prise Thymian darüber – alles? Ja, alles! Schmatz –! „Möchtest du Toast?“ Sie schüttelte den Kopf. „Schwarzbrot?“ „Ja!“ Ich holte von dem Holsteiner Schnittbrot, in das ganze Roggenkörner gebacken waren, legte es auf das Tab117
lett, dazu das Beefsteakhack, mit Schalotten, Kapern und Anchovis garniert. Bier dazu, eiskaltes Dortmunder Unions-Pils. Butter, Messer, Gabeln, was noch? Ich sah sie an. „Zieh die Brille aus!“ „Nein!“ „Mußt du so hochgeschlossen gehen?“ Außer der Brille trug sie nichts, ich auch nicht. „Zieh die Brille aus, ich will deine Augen sehen.“ „Du hast sie ja vorhin gesehen.“ Das stimmte, da hatte ich sie gesehen, aber da war Halbdunkel. Welche Farbe hatten ihre Augen? Blau, grau oder schwarz? „Wie sind deine Augen?“ „Schlecht!“ „Das meine ich nicht. Welche Farbe haben sie?“ „Ich weiß es nicht.“ Sie nahm das Tablett und trug es ins Zimmer. Ich folgte ihr. Sie hatte einen staksigen, beinahe jungenhaften Gang. Der fiel mir jetzt erst auf und amüsierte mich. Merkwürdig dieser Gang, wo doch sonst alles an ihr so sehr Frau war. Sie saß auf der Liege beim Essen und ich auf einem Sessel davor. Wir hörten eine von meinen Schallplatten. Die hatte sie vorhin alle durchgesehen und für schlecht befunden. Sie würde neue kaufen, hatte sie gesagt, und ich hatte das als eine Art von Versprechen aufgenommen. Nicht ich sollte neue kaufen, nein, sie selbst wollte es tun. Sie trug nicht nur die Brille in dieser Nacht, um ihren Hals hing auch an einer Kette ein Medaillon. „Wen hast du darin?“ fragte ich. „Wo?“ Ich deutete mit der Gabel gegen ihren Hals. „Sag mir sofort, wer in dem Anhänger ist, bevor ich dich umbringe!“ „Meine Mutter ist darin.“ 118
Ich griente. „Wirklich!“ Ich lächelte stärker. Sie wurde beinahe böse, nestelte an dem Dings herum, bis sie es endlich offen hatte, und hielt es mir über den Tisch entgegen. Tatsächlich, das Bild zeigte das Gesicht einer Frau. Ich schaute darauf. „Sie sieht dir nicht ähnlich.“ „Aber es ist meine Mutter!“ „Und warum trägst du sie bei dir?“ „Weil sie tot ist, sie starb vor vierzehn Jahren.“ Ich sah sie eine Weile lang nachdenklich an, dann sagte ich: „Erzähl mir von ihr!“ Sie tat es. Natürlich kann ich mich nicht an alle Worte erinnern, aber ich hatte einen wachen Verstand in jener Nacht, eine merkwürdig gesteigerte Aufnahmefähigkeit. Und so habe ich das Wesentliche, das sie mir erzählte, behalten.
6. Lore wurde am Goldbekufer geboren, gar nicht weit vom Glindweg entfernt. Aber das war zu einer Zeit, als ich noch draußen in Cranz lebte und mein Vater seinen Hof bewirtschaftete. Man lag damals nicht gerade auf Rosen in den ersten Jahren nach dem Krieg. Eine Zeit mit viel trocken Brot! Keine Südfrüchte für Kinder, keine Schokolade und Lakritzen und Gummibären! Und dennoch denkt Lore gern an diese Zeit zurück, denn ihre Mutter lebte noch. Der Vater hatte Glück gehabt, weil er nicht in Gefangenschaft mußte. So konnte er als einer der ersten an der wiedereröffneten Universität sein Studium aufnehmen. Rechtswissenschaften! Der Vater war damals anders als heute. Obwohl oft nächtelang das Licht auf seinem Schreibtisch brannte, nahm er sich viel Zeit für Lo119
re. Im Winter liefen sie zusammen Schlittschuh auf dem Goldbekkanal. Im Sommer ging es nach „Planten un Blomen“ oder nach Hagenbeck oder einfach zu einem Spaziergang durch den Stadtpark. Herrlich waren die ersten Jahre! Das änderte sich mit dem Beginn der Fünfziger. Sie spürte die Veränderung, aber natürlich konnte sie sich die Gründe nicht erklären. Heute kennt sie die. Nicht nur ihr Vater veränderte sich damals, alle taten es. Die Zeit des Aufschwungs begann. Vieles wurde plötzlich nötig, und die Unzufriedenheit wuchs, wenn man nicht gleich alles bekam. Lore beobachtete, daß ihre Eltern nun häufig miteinander stritten. Darunter litt sie, denn Reibereien hatte es früher nicht gegeben. Der Zank ging von ihrem Vater aus, und sie spürte auch, daß ihre Mutter sich nicht zu wehren verstand. Mehr als einmal sah Lore, wie ihre Mutter weinte. Sie begann ihren Vater zu hassen. Aber es sollte schlimmer kommen! Das erste Auto, das sie besaßen, war ein blauer Volkswagen, und der paßte in seiner Farbe wundervoll zu Lores blonden Haaren. Sie machten zu dieser Zeit nicht mehr regelmäßig Ausflüge, aber wenn sie es taten, wurden die Fahrten weiter. Zur Kirschblüte ins Alte Land. Oder an die Nordsee nach Büsum. Einmal verbrachten sie ein Wochenende auf Westerland. Das war in diesen Jahren für einen kleinen Beamten noch möglich. Das Einkommen ihres Vaters kann damals nicht hoch gewesen sein. Sie mußten den blauen Volkswagen lange Jahre fahren, sehr zum Ärger von Lore, weil die Leute in der Nachbarschaft inzwischen längst auf größere Autos umstiegen. Mit dem Volkswagen geschah dann auch das Unglück! Ihr Vater hatte keine Schuld daran. Ein Betrunkener raste ihnen auf ihrer Fahrbahnhälfte entgegen, und es kam zu einem fast frontalen Zusammenstoß. Ihr Vater versuchte noch auszuweichen, aber das glückte 120
nur halb, und so bohrte sich der Kühler des fremden Wagens in die Seite, auf der ihre Mutter saß. Ihr Vater hatte sich richtig verhalten, das wurde durch die polizeiliche Untersuchung eindeutig bestätigt, er wollte den Volkswagen auf die linke Fahrbahnseite hinüberbringen. Lore hat immer wieder darüber gegrübelt, was geschehen wäre, wenn ihr Vater zur anderen Seite ausgewichen wäre. In ihrer Erinnerung sieht sie eine grüne Wiese vor sich, das Grün brennt ihr in den Augen, so leuchtend ist die Farbe. Und in der Wiese, wie hineingetupft, Kolonien kleiner, weißer Gänseblumen! Was wäre geschehen, wenn ihr Vater nach rechts ausgebrochen wäre? Sie kann es nicht beschwören, aber es gab keine Bäume am Straßenrand und keinen Graben. Nur die Wiese! Wenn da doch Bäume und ein Graben gewesen waren, so hat sie das vergessen. Ihr Vater aber riß das Steuer zur anderen Seite! Ihre Mutter starb noch am Unfallort, der angetrunkene Fahrer übrigens auch, und Lore und ihr Vater kamen für viele Wochen ins Barmbeker Krankenhaus. Sie hat ihre Mutter nicht wiedergesehen; auf dem Totenbett nicht, auch zur Beerdigung konnte sie nicht. Sie sah erst das Grab, und sie begriff nicht, daß darunter ihre Mutter liegen sollte. Von dieser Zeit an war ihre Kindheit kaputt. Der Vater wartete das Trauerjahr ab, wie sich das gehörte, dann heiratete er zum zweiten Mal. Sie gaben die Wohnung am Goldbekufer auf und zogen in das Haus der neuen Frau. Die war Witwe eines Schiffversicherers und einige Jahre älter als ihr Vater, in Lores Vorstellung eine sehr alte Frau, mit ihrer Mutter überhaupt nicht zu vergleichen. Sie haßte die Frau vom ersten Tag an, und sie spürte, daß sie kräftig wiedergehaßt wurde. Nachts, wenn sie in dem neuen, fremden Bett lag und nicht einschlafen konnte, schüttelte es sie, so sehr haßte sie die Frau. Der Haß schlug in wilde Trauer um, sie dachte an 121
ihre Mutter und mußte weinen, und darüber schlief sie endlich ein. Das wiederholte sich Nacht für Nacht. Und dann die fremde Umgebung! Sie ging in eine andere Schule, und sie hatte ihre Spielkameraden verloren. Man spielte hier auch nicht auf der Straße, was so herrlich gewesen war. Man mußte zu Kindergesellschaften, zu Parties im Garten, zu Kindertees. Aber Lore gehörte nicht einem der Clans alteingesessener Familien an, sie kam aus Winterhude, das über der Alster und damit bereits im Ausland lag. Die Kinder, besonders die Mädchen, machten ihr das deutlich. Die hatten schon die zitronensauren Gesichter ihrer Mütter. Es war eben Pöseldorf, und das Haus der Schiffversichererswitwe stand in der Magdalenenstraße. Der Zufall wollte es, daß es dieselbe Straße war, in der auch der Makler Ofterdinger wohnte, der Mann also, der uns viel zu schaffen machen sollte. Wir wußten aber zu dem Zeitpunkt, als Lore mir alles erzählte, noch gar nicht, daß er dort lebte. Lore hatte den Mann nie gesehen. Ofterdinger war in der Magdalenenstraße ein Zugereister, und mit so etwas verkehrten Alteingesessene nicht. Auf ähnliche Weise erging es dem erwachsenen Mann Ofterdinger nicht anders als dem kleinen Kind Lore damals. Die Villen dieser Gegend stammen aus der Gründerzeit, und der Anblick ihrer protzigen Fassaden scheint nur ein wenig durch das Grün der Bäume abgemildert zu werden, hinter denen sie liegen. Die Grundstückspreise hielten sich in Grenzen, als hier zuerst gebaut wurde; für fünftausend Quadratmeter zahlte einer um zehntausend Mark. Für die gleiche Summe erhält er heute ein Scheibchen von zwanzig Quadratmetern. Man müßte also zweieinhalb Millionen Mark auf den Tisch blättern, um ein Grundstück von der Größe zu erwerben, wie es die Witwe des Schiffversicherers besaß. So sehr hatten sich die Zeiten verändert. Was die Preise anlangte. 122
Unter den Fittichen der neuen Frau ging es mit ihrem Vater aufwärts. Sie brachte ihn mit den richtigen Leuten zusammen. Er wurde Staatsanwalt, Oberstaatsanwalt. Eines Tages könnte er Justizsenator sein, meint Lore, alles scheint möglich bei ihrem Vater. In jener ersten Zeit hätte es sicher auch für Lore eine Möglichkeit gegeben, in die neue Umgebung hineinzuwachsen. Kinder sind ja anpassungsfähig. Nachdem der Schmerz um den Verlust ihrer Mutter nicht mehr gar so grell brannte und sie sich auch mit dem Fortgehen aus der alten Umgebung abgefunden hatte, war sie bereit dazu. In dieser besonderen Situation ließ ihr Vater sie im Stich. Wie er in den Jahren seiner ersten beruflichen Entwicklung ihre Mutter vernachlässigt hatte, so tat er es nun auch mit Lore. Er dachte nur an sich. Das hat sie ihm bis auf den heutigen Tag nicht vergessen. Sie fühlte sich mutterseelenallein. Und da die neue Frau ihres Vaters keine eigenen Kinder hatte, liebte sie wohl auch keine fremden. Das Leben in dem kalten Haus wurde immer schlimmer, besonders als Lore herausfand, daß die beiden sich schon zu einer Zeit gekannt hatten, als ihre Mutter noch lebte. Von dem Moment an machte sie ihren Vater endgültig für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. Sie sagte sich, er habe den Wagen während jener Sekunde absichtlich nach links gerissen, statt auf die Wiese zu fahren. Heute weiß sie, wie unsinnig der Verdacht ist. Aber dieser Kindheitseindruck hat sich so tief eingegraben, daß sie selbst als erwachsener Mensch diese Hürde einfach nicht nehmen kann. Lore lebte etwa ein Jahr in dem Haus an der Magdalenenstraße, dann schickte man sie in ein Internat. Dort blieb sie bis zum Abitur. Zum Studium, fremde Sprachen, ging sie nach Köln; sie wollte nicht in der Stadt ihres Vaters bleiben. Sie wurde erwachsen, und was sie heute für ihren Vater empfindet, ist nicht mehr der 123
kindlich naive, ungezügelte und wilde Haß von früher, aber sie vermeidet jede Gelegenheit, mit ihm zusammenzutreffen. Und das ist auch der eigentliche Grund, weshalb sie beim Überfall an den Landungsbrücken die Polizei aus dem Spiel lassen wollte. Sie wußte, daß das Protokoll irgendwie auf dem Schreibtisch ihres Vaters landen würde. Heute arbeitet Lore für einen Verlag, freischaffend, sie übersetzt Bücher aus dem Englischen. Sie wohnt in der Eppendorfer Landstraße, die von Pöseldorf nur etwa zwei Kilometer entfernt liegt. Ein kurzer Fußweg von etwa zwanzig Minuten, aber Lore ist seit jener Zeit niemals wieder in der Magdalenenstraße gewesen.
7. Gegen Morgen schliefen wir ein, aber es dauerte kaum eine Stunde, bis ich wieder munter war. Ich bin ein Morgenmensch. Lange Zeit lag ich wach neben ihr. Mir kam der Gedanke, daß ich jahrelang falsch gelebt hatte. War ich vielleicht doch immer auf der Suche gewesen? Nun ja, dann war ich jetzt am Ziel! Mit Lore könnte ich zusammen leben, das spürte ich ganz intensiv. Wenn es ihr nur ebenso erging! Später stand ich auf, um sie nicht zu stören; denn sie schlief fest. Ich ging ins Bad und stellte mich unter die eiskalte Dusche. Die erfrischte mich. Ich zog mich an und setzte mich an den Schreibtisch. Darauf lagen meine Geschäftsbücher, und ich versuchte mich zu konzentrieren, aber natürlich wurde nichts daraus. Wenn ich den Kopf ein wenig nach rechts wandte, sah ich sie durch die Verbindungstür auf der Liege. Das heißt, eigentlich ahnte ich sie nur, denn die Steppdecke reichte ihr bis an das Kinn, und über den Kopf hatte sie das Kissen gezogen. Ich sah also nur so etwas wie eine hügelige Landschaft, durch die ich so angenehm gewandert war. 124
Plötzlich entdeckte ich, daß ich auf dem Rand eines Stück Papiers herummalte, ausgerechnet auf meiner Steuererklärung. Die Umrisse eines Hauses entstanden unter meinen Händen, ging wie von selbst, dazu ein Garten mit vielen Blumen. Das nahm Formen an! Ich zerknüllte das Blatt, die Steuererklärung darauf war wohl ohnehin nicht ganz korrekt gewesen. Ich ging erst mal um die Ecke einkaufen, Rundstücke und Milch, die Geschäfte hatten gerade aufgemacht. Als ich zurückkam, traf ich im Treppenhaus auf den bläßlichen Teint von Fräulein Rieffenberg. Ich grüßte ganz besonders herzlich, obwohl sie in der letzten Zeit merklich kühler zu mir wird. Mein Gott, wenn Fräulein Rieffenberg wüßte! Beim Frühstückmachen in der Küche pfiff ich fröhlich. Da sah ich Lore nicht mehr im Garten und zwischen Blumen, außerdem fiel mir ein, daß ich sie im Bett noch lieber hatte. Die Espressomaschine pfiff mit mir um die Wette. Die Rundstücke waren bereits aufgeschnitten, die Eier, genau vier Minuten, fertig. Alles stand auf dem Tablett, ich stellte nur noch die Kanne mit dem dampfenden Kaffee dazu. „Bist du da?“ Ihre Stimme kam dumpf unter Kissen und Decken hervor. Ich fragte: „Sag mal, schläfst du immer mit so einem Monstrum von Kissen über dem Kopf?“ Und fast erstickt die Antwort: „Ich kann sonst überhaupt nicht einschlafen.“ Ich griente. „Heute morgen bist du eigentlich ziemlich rasch eingeschlafen.“ „Ja, ja –“ Sie seufzte, aber noch immer unter dem Kissen. Und dann: „Habe ich dir schon guten Morgen gesagt?“ „Guten Morgen!“ „Gib mir bitte meine Brille!“ „Warum?“ 125
„Weil ich dich sonst nicht sehen kann.“ Ich griff nach der Brille auf dem Tisch und hielt sie mir vor die Augen. Alles verschwamm um mich herum. Ich drückte ihr das Gestell in die Hand, nach dem ihre Finger tasteten. „Und nun dreh dich bitte um!“ sagte sie. O ja, das mit der Brille war ein wirklich weites Feld! Ganz in Gedanken schaute ich auf sie unter der Decke und den Kissen hinab. Irgendwie schien sie ihre Kurzsichtigkeit als eine Art Gebrechen anzusehen. Das ging doch wirklich etwas weit. Ganz allmählich und sachte müßte man gegen diesen Tick etwas unternehmen. Das nahm ich mir in diesen Sekunden vor. „Hast du dich umgedreht?“ fragte sie. Ich zuckte die Achseln. „Ja, ja, natürlich!“ Ich benutzte die Zeit, um die Kaffeetassen vollzuschenken. Als ich mich wieder umwandte, saß sie bereits aufrecht und strich sich mit der Hand über das Haar. Sie lächelte mich an. Ich setzte mich auf den Rand der Liege und lächelte sie ebenfalls an. Das machen Verliebte ja so. Die können ja stundenlang voreinander sitzen und sich anlächeln. „Ich habe prächtig geschlafen“, sagte sie. Ich wollte sie fragen, ob sie vielleicht jeden Tag so schlafen möchte, aber ich ließ es lieber. Nur keine Albernheiten jetzt! So fragte ich einfach: „Hunger?“ „Ja –!“ Mit ihrer Stimme, die tief von unten kam. Ich lächelte. „Honig –?“ „Ja –!“ Diese rauhen, kehligen Laute waren wie Musik in meinen Ohren! Ich ließ Honig auf ein halbes Rundstück fließen und gab es ihr. Ich reichte ihr auch die Kaffeetasse, und eine Weile aßen wir schweigend, ganz ausgehungert nach der Nacht voller Geschichten und voller Liebe. Als sie ihr Ei aufklopfte, fragte sie: „Warum hast du dich eigentlich scheiden lassen?“ 126
Jetzt nur vorsichtig! In dieser Frage ist jede Frau die Verbündete der anderen! „War meine Schuld.“ Mann, Mann, war ich wieder großzügig heute! „Wieso?“ wollte sie wissen. „War vielleicht nicht reif für eine Ehe. Suchte noch.“ „Andere Frauen?“ „Eigentlich nicht. Mehr in der Arbeit. Machte mal das, mal jenes. Gab ihr vielleicht zuwenig Sicherheit.“ „Kinder?“ „Eine Tochter.“ „Wie alt?“ „Bald sechs.“ „Lebt bei deiner Frau?“ „Nein, bei meinen Eltern.“ „Warum?“ „In Cranz hat sie es gut.“ Wieder eine Pause, dann versonnen von ihr: „Ich würde sie gerne einmal sehen.“ „O ja, wenn du magst, fahren wir hinaus“, sagte ich lebhaft. „Die alten Leute haben da einen Hof.“ „Bauernhof?“ „Nur ein paar Wiesen an der Elbe. Sie füttern ein Schwein. Viele Hühner, auch eine Ziege und sogar ein Pferd.“ Das elektrisierte sie. „Kann man das reiten?“ „Wenn man kann?“ Ich lächelte. „Na, hör mal, ich habe es gelernt im Internat, ich kann es!“ In ihren Augen blitzte es. Oder waren es nur die Brillengläser, die wie eine Barriere zwischen uns lagen? In ihrer Stimme jedoch, da irrte ich mich nicht, war ein ganz bestimmter, neuer Ton. Ich lächelte ihr zu. Die letzte Nacht hatte mich in einen merkwürdigen Zustand von Verzauberung gebracht. Ich fand einfach alles attraktiv an ihr, selbst diesen Ton, der keinen Widerspruch duldete. 127
„Du glaubst mir nicht?“ fragte sie, weil sie mein Lächeln sah, das immer stärker wurde. Ich nahm ihren Kopf in beide Hände und küßte sie auf den Mund. „Ich glaube dir alles, was du willst.“ Später lag Lore in der Badewanne, und ich saß auf dem Rand davor und sah ihr zu. In der Art, wie wir uns benahmen, gab es nichts Zweideutiges; alles war selbstverständlich, von einer natürlichen, lockeren und heiteren Sinnlichkeit erfüllt. Als ich den Wagen aus der Garage holte, hing Frau Rieffenberg aus dem Fenster und schüttelte die Frühstückskrumen von der Tischdecke. Ich rief ihr meinen „Guten Morgen“ hinauf und meinte, daß es ein herrlicher Tag werden würde. Sie antwortete einsilbig und sah zu Lore hin. Die Garage würde ich wohl nicht mehr lange behalten dürfen, dachte ich, aber es war mir egal. Ich trug mich mit Plänen, aus der Gegend fortzuziehen. Ich hatte ja schon ein Haus mit Garten und Blumen an den Rand meiner Steuererklärung gemalt. Wir fuhren in die Eppendorfer Landstraße und packten für Lore einen Koffer. Um präzise zu sein: Ich packte ihn, und es bereitete mir ein unbändiges Vergnügen. Wir hatten besprochen, daß es günstiger war, wenn Lore für ein paar Tage aus der Gegend verschwand. Arbeiten konnte sie auch in Cranz, wahrscheinlich sogar besser als in ihrer Wohnung, die an der Durchgangsstraße 5 lag. Lore zog sich um. Weiße Jeans kamen an die Reihe, dazu ein bedrucktes Sporthemd. Dann reihten wir uns in den Verkehrsstrom ein, der in Richtung Süden zu den Elbbrücken führte. Wir ritten in einer Kavalkade prächtiger, tausendfacher Pferdestärken. Ich sah eine Menge Opels neben uns, die Burschen aus dem Hafen konnte ich nicht entdecken. Die hatten wir endgültig abgehängt, das glaubte ich an jenem Mittag. In Liedenkummer fanden wir einen Laden, der noch 128
offen hatte. Lore ließ Schokolade in einen Beutel füllen und Kaugummis, mit denen man herrliche Blasen machen kann, die zum Mund herauswachsen und immer größer werden, bis sie platzen. Auch Lakritzen und Gummibären kamen in den Beutel. Brigitte hatte eine Weile zu tun, ehe sie alles ausgepackt und auf der Bank vor der Haustür ausgebreitet hatte. Lore stand dabei und beobachtete meine Tochter, ganz in sich gekehrt, einen versonnen lächelnden Ausdruck im Gesicht. Meine Mutter beobachtete Lore, und als sie den Koffer sah, den ich aus dem Wagen hob, bekam sie den spitzen Zug um den Mund. „Fräulein Pohl und ich werden ein paar Tage bei euch bleiben, wenn ihr es erlaubt“, sagte ich. „Das schöne Wetter wird sich ja wohl halten.“ Ich wandte mich meinem Vater zu, der griente. Ich hatte ihn noch vom Glindweg angerufen und gesagt, wir müßten das Boot über das Wochenende stillegen. Da sei so ein merkwürdiges Geräusch an der Schiffsschraube. Nun sah er, was dieses merkwürdige Geräusch verursacht hatte. Er griente immer stärker und musterte mich unter buschigen Brauen hervor. Mein Vater und ich verstanden uns ohne ein Wort. Dann holten wir das Pferd aus dem Stall, sattelten es und führten es über die Wiese. Ich half Lore hinauf. Und wenn ich wirklich skeptisch gewesen war, was ihre Reitkünste anlangte, so beruhigte ich mich schnell. Ich blieb auf der Wiese zurück und sah ihr nach, bis sie aus meinem Blick verschwand. Das war unser erster Tag.
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Die Nacht, 23 Uhr 26 1. Natürlich erzählte ich Ofterdinger nicht so ausführlich, wie ich Lore kennengelernt, was ich mit ihr erlebt und dabei empfunden hatte. Das wäre zu weit gegangen. Der Makler sollte nur begreifen, daß mich seine Steuergeschichte, und was er sonst noch mit der Polizei auszuhandeln haben mochte, wenig kümmerte. Ich war allein an Lores Aufenthaltsort interessiert, an sonst gar nichts. Also sprach ich in einem möglichst sachlichen und ruhigen Ton mit ihm. Über Ofterdinger hatte ich in den letzten Tagen eine Menge erfahren. Der Mann war kein Buch mit sieben Siegeln mehr für mich. Vor Jahren hatte er in der Viehmarkthalle Schweinehälften getragen, kein gelernter Schlachter, nur so eine Hilfskraft. Die Beschäftigung hatte ihm nicht viel Spaß gemacht. Weshalb sollte er überhaupt arbeiten, wenn andere das für ihn besorgen konnten. Also beschäftigte er sich nur noch mit der Vermittlung fremder Arbeitskräfte, gegen entsprechende Gebühr, versteht sich. Diese Art von Maklertätigkeit beschränkt sich nicht nur auf Ausländer, hatte mir der Steuerfahnder Sieg auseinandergesetzt, auch Einheimische suchen Arbeit auf Zeit, wie es im Fachjargon lautet; und die Idee dazu kommt wie alles, was man für modern hält, aus den Vereinigten Staaten. Eines der größten amerikanischen Unternehmen für Zeitpersonal ist die „Manpower GmbH“. Die stellt in 35 Ländern allein 350 000 Zeitarbeiter zur Verfügung. Aber auch kleine Verleihbüros, wie Ofterdinger zunächst eins hatte, bemühen sich, trainierte Kräfte in die Betriebe zu schleusen. Bewerber für Kurzzeitjobs gibt es genug. In der Bundesrepublik versucht jede achte Hausfrau, ihre Haushaltskasse durch Arbeit hinter der Schreibmaschine aufzubessern, erläuterte Sieg. Da hat sie 130
einen Stundenlohn von sieben bis neun Mark. Und weil nur in den seltensten Fällen Steuern und Beiträge für die Krankenkassen abgeführt werden, ist der Nettolohn gleich dem Bruttolohn. Wer denkt schon an Krankheit, wenn er gesund, wer an Rente, wenn er jung ist. Heu machen, wenn die Sonne scheint, lautet die Devise. Allerdings müssen die Firmen ein wenig mehr zahlen als den Stundenlohn. Sie müssen zwischen zwölf und dreizehn Mark ausgeben, und die Differenz zwischen dem kassierten und dem weitergereichten Betrag ist für den Makler lupenreiner Unternehmergewinn. Mit dieser Art von Arbeitskräftevermittlung beschäftigte sich Ofterdinger zunächst. Da ging es ihm bereits recht gut, da wohnte er schon in einer passablen Wohnung und hatte den abgeklapperten Kasten, den er als Schweinehälftenträger gefahren hatte, gegen einen Mercedes eingetauscht. Aber die Vermittlung bundesdeutscher Kurzzeitjobber befriedigte Ofterdinger nicht recht. Mit diesen Leuten gab es auch Ärger, die kannten sich aus, die riskierten schon mal eine Lippe. So stieg Ofterdinger auf die Vermittlung türkischer Arbeitskräfte um. Er nahm Kontakt mit Schauerbetrieben auf und dirigierte seine türkischen Gastarbeiter in den Hafen. Seit fünf Jahren. Und im vorletzten Sommer, da war es soweit. Da konnte er das Geld auf den Tisch legen, das der Besitz in der Magdalenenstraße ausmachen sollte. Das Grundstück war genauso groß wie jenes von Oberstaatsanwalt Pohls zweiter Frau am anderen Ende der Straße. Und das Haus, inmitten einer gepflegten Gartenanlage, war genauso pompös und seine Fassade genauso scheußlich schön. Dieser Art war also die Vorgeschichte des Mannes, dem ich gegenübersaß. „Sagen Sie mir, wohin Sie Lore gebracht haben“, bat ich ihn schließlich zum zweiten Mal. „Wie kommen Sie denn darauf, daß ich sie irgendwohin gebracht hätte?“ fragte er. 131
„Weil sie nicht mehr in Ihrem Haus ist!“ Er starrte mich verblüfft an. „Sie waren also doch schon länger hier. Sie haben in das Zimmer geschaut!“ „Ja.“ Wieder entstand eine Pause. Er stand auf und begann in dem Zimmer hin und her zu gehen. Ich merkte, wie er überlegte, und dazu wollte ich es nicht kommen lassen. Ich sagte eindringlich: „Ich verstehe sehr gut, daß Sie wegen des toten Tuyan Sorgen haben. Aber Sie können ruhig sein! Lore wird den Türken nicht identifizieren.“ „Sind Sie dessen sicher?“ „Ich verbürge mich!“ „Wie können Sie das denn?“ rief Ofterdinger lauter als eigentlich angebracht. Er schien meiner vermeintlichen Leichtfertigkeit wegen direkt böse zu werden. „Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie das Mädchen seit zwei Tagen kennen. Wenn Sie nach so einer Zeitspanne von Bürgschaft reden, können Sie doch nicht ernstlich erwarten, daß man auf Ihre Worte etwas gibt.“ Ich lächelte ihn an. Noch immer spielte ich mit dem Schächtelchen aus braunem Plast, das ich vom Bartisch mit herübergebracht hatte. Was wußte dieser Klotz denn von dem Vertrauen unter Liebenden? Und was sollten die beiden Tage, auf denen er herumritt? Mir war es, als ob ich Lore bereits seit einer sehr langen Zeit kennen würde. „Schön –“, seufzte Ofterdinger nach einer Pause, in der er in meinen Augen zu lesen versucht hatte. Das brachte ihm aber wohl keine neue Erkenntnis, höchstens die Gewißheit, daß ein vernünftiges Gespräch mit mir über Lore nicht möglich war. Er stiefelte noch zwischen der Terrassentür und der Liege mit den Koffern darauf hin und her. Er dozierte: „Schön! Wir wollen Sie und Fräulein Pohl und das, was Sie verbindet, mal beiseite lassen. Nehmen wir sogar an, Lore Pohl sei bereit, diesen Türken nicht zu identifizieren. Und Sie, Ahrens, tä132
ten es auch nicht. Aber da ist dann immer noch Gisela Escherich, die Freundin von Fräulein Pohl. Was ist denn mit der? Auch die hat Osman Tuyan gekannt. Verbürgen Sie sich für die Dame auch? He – antworten Sie mal!“ Ja, warum tat ich es nicht? Ich hatte doch jedes seiner Worte verstanden. Ich saß vor ihm, hielt in meiner Hand das kleine Schächtelchen aus Plast. Damit fingerte ich herum, drehte und wendete es, und irgendwie schien es meine Nervosität aufzunehmen und abzuleiten. Plötzlich war es offen, ohne besondere Absicht hatte ich das Ding aufgekriegt. Es war innen mit grünem Samt ausgeschlagen. Zwei winzige Scheiben aus durchsichtigem Plast lagen darauf gebettet. Die funkelten mich aus ihren Vertiefungen heraus an. Ich hatte sogar das absurde und zugleich unheimliche Gefühl, als lachten sie mich aus. Ich war so erschrocken, daß ich den Deckel auf der Stelle wieder zuklappte. Ofterdinger, noch auf seiner Wanderung durch das Zimmer, blieb endlich stehen und schaute mich an. „Warum antworten Sie nicht, haben Sie überhaupt zugehört?“ Ich nickte. Ich konnte nicht antworten, meine Kehle war von einem Augenblick zum anderen wie ausgedörrt. „Ich habe Sie gefragt, was mit Fräulein Escherich ist? Auch sie könnte den Türken Tuyan jederzeit identifizieren. Wie ist es, wollen Sie sich in Ihrer Weitherzigkeit auch für diese Dame verbürgen?“ Ich starrte Ofterdinger an. Was sollte dies Geschwätz? Seit dem Anblick der beiden Scheiben in dem Schächtelchen, das ich in meiner Faust fast zerquetschte, war die Situation von Grund auf verändert. Langsam erhob ich mich. „Was ist plötzlich los mit Ihnen, Ahrens?“ Ofterdingers Hand fuhr in die Tasche, in der er den Revolver hatte. Es war mir egal. Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Ich sah, wie er die Hand mit dem Re133
volver hervorzog und auf mich richtete. Es gibt hin und wieder Situationen, da handelt man gegen jede Vernunft. Wie ich in diesem Fall. Ich sah das gefährliche Glitzern in seinen Augen, und ich sah das schwarze Loch der Revolvermündung. Ich blickte genau hinein. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Vielleicht wollte ich für den Bruchteil einer Sekunde, daß er abdrückte. Ich hatte glasklar erkannt, was für ein Spiel mit mir gespielt worden war, und meine Scham und meine Verzweiflung waren in diesem Augenblick grenzenlos. Und deshalb wollte ich wohl, daß er abdrückte. Aber er tat es nicht. Und so sprang ich mit einem mächtigen Satz auf ihn los. Ich kam sehr gut vom Boden ab. Mein Sprung brachte mich weit hinauf, ungefähr bis an die Zimmerdecke. Ich kurvte zwei- oder dreimal um den Lüster, sah die elektrischen Kerzen nah vor meinen Augen aufblitzen und setzte zum Sturzflug an. Rasend schnell kam mir der Boden entgegen. Ich hatte ein wenig Angst wegen der Landung, aber die war unbegründet, das Aufsetzen erfolgte durch den hohen Teppichflor ausgesprochen weich und milde.
2. Wenn ich das Bewußtsein verlor, dann nur für Sekunden. Ich hörte das Zischen des Totschlägers hinter dem Ohr und spürte den Schlag gegen meinen Hinterkopf. Echter Finkenwerder Fischerschädel, auf den konnte ich mir was einbilden. Der Kerl mit der Stahlrute mußte über den Flur und den Durchgang gekommen sein. Er hatte in dem Moment zugeschlagen, als ich den Satz in Ofterdingers Richtung machte. So war mein Kopf praktisch mit der Bewegung des Totschlägers mitgegangen, und das hatte den Schlag wohl ein bißchen abgemildert. Beim Herumwirbeln sah ich auch den Mann in meinem Rücken. Ich kannte ihn. Von den Lan134
dungsbrücken her. Dort hatte ich ihm erst kürzlich das Handgelenk gebrochen. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als sei die Stunde endlich da, auf die er lange gewartet hatte. Er sah höchst zufrieden aus. Ihre Stimmen kamen Wie aus großer Ferne zu mir, als ich auf dem weichen Teppichboden lag. Das wunderte mich nicht, denn die Schallwellen hatten einen weiten Weg von den Ohrmuscheln bis zum Gehirn; von Sekunde zu Sekunde wuchs sich mein Kopf zu einem riesigen Ballon aus. „Nein –!“ hörte ich die Stimme einer Frau. „Nein, da mache ich auf keinen Fall mit!“ Das war ja Lores Stimme! Sie kam zwar auch von weit, wie von der anderen Seite des Flusses etwa, und da zogen auch diese Schwaden dichten Nebels durch mein Gehirn, aber ich war schließlich nicht verrückt. Ich kannte doch Lores Stimme! „Ich will nicht, daß ihm etwas geschieht“, sagte sie gerade, „ich werde das nicht zulassen.“ Na bitte, das war mal eine Frau, die zu mir hielt. Auf die konnte ich mich verlassen. Nur dieser Ofterdinger wieder! Der hatte natürlich was gegen Lore. Er erwiderte: „Was soll ihm denn passieren? Die Polizei steht ja vor der Tür. Wir legen ihn für ein paar Stunden in den Keller, und da kann er sich ausschlafen, bis ihn jemand findet.“ Ich versuchte meine Augen zu öffnen, was mir schließlich auch gelang. Ich blinzelte ins Helle und spürte fast gleichzeitig den rasenden Schmerz unter der Schädeldecke, als ich meinen Kopf der Frauenstimme zuwandte. Ich war mit meinem ganzen Wesen so auf Lore fixiert, daß ich überall und hinter jedem Rock mein Mädchen witterte. Das war mir vor Tagen schon einmal passiert. Aber auch diese Frau mit dem halblangen schwarzen Haar war nicht meine Lore! Frau Dreesen hatte sich inzwischen umgezogen, war vielleicht auch schon fix und fertig für die Reise. Sie trug einen braunen Rock und einen braunen Pulli. Paßte gut 135
zu ihrem schwarzen Haar und dem dunklen Teint. Paßte auch zu Ofterdingers Anzug. Die beiden schienen ihre Garderobe aufeinander abzustimmen. Wirklich entzückend! Es war bezeichnend für mich, was für Feststellungen ich machte, während es hier doch wirklich wesentlichere Dinge zu bedenken gab. Ich mußte mit dieser Frau reden, die es gut mit mir meinte. Ich hob den Kopf und rief ihr was zu. Das heißt, ich wollte rufen, das weiß ich genau, es gelang mir nur nicht. Da war nur ein Rascheln in meiner Kehle, etwa wie das Rascheln von vergessenem Laub in einer Gartenecke. Die beiden beachteten mich gar nicht. Die standen über meiner Leiche und zankten sich einfach. „Was ist los“, nörgelte Ofterdinger. „Soll ich allein mit dem Zeugs nach Straßburg?“ „Natürlich komme ich mit“, antwortete Dorothea Dreesen. Und Ofterdinger: „Denke ich ja auch! Da würde ich mich mal um die Koffer kümmern. Der Zug geht ein Uhr achtundvierzig.“ Wieder wollte ich mich in das Gespräch einmischen. Ich weiß genau, daß ich einen entscheidenden Beitrag zu leisten hatte. Ich kam noch ein bißchen höher, und jetzt drang auch so etwas wie ein Ton aus mir, so eine Art Röcheln. Dann sah ich die Schuhsohle dicht vor meinen Augen. Die gehörte zu dem Kerl aus dem Hafen. Ich fühlte den Schuh gegen meine Stirn, und dann knallte mein Kopf auf den Fußboden. Nun half auch der hohe Teppichflor nicht mehr. Ich verlor das Bewußtsein. Erst das Quietschen einer Eisentür und eine Brise kühler Nachtluft brachten mich zur Besinnung. Ich wurde die Stufen einer Kellertreppe hinaufgezogen, die sich an der Rückseite des Hauses befand, wie ich wußte. Sie nahmen mit mir den Dienstboteneingang, den anderen zur Straße konnten sie nicht benutzen. Dort saß noch immer Kommissar Schnabel im Volvo des Steuerfahn136
ders Sieg und hätte sich gewundert, mich hier zu sehen, wo er mich um diese Zeit doch schlafend in meinem Bett vermutete. So eine Art von Schlaf war es ja auch, den ich gerade durchmachte, ein Schlaf mit wüsten Träumen! Der Mann sah sich nicht vor, als er mich durch den Garten schleifte. Zweige peitschten mir ins Gesicht; manche hatten Dornen, die mir die Gesichtshaut aufrissen. Ich fühlte, wie etwas Klebriges über meine Nase lief. Schmerzen taten die Dornen nicht. Dieser Schmerz war lächerlich gering, gemessen an dem, der sonst in immer neuen Wellen durch meinen Kopf wogte und gegen die Schädeldecke brandete. Und während der ganzen Zeit verlor ich Lore nicht aus meinen Gedanken. Mir schien überhaupt, daß sie es war, die mich bei Bewußtsein hielt. Ich sah Lore deutlich vor mir. Sie saß auf der Bank der Barkasse, so hatte ich sie zuerst gesehen. Dann in meiner Wohnung! Unsere Fahrt nach Cranz. Die Wiese – und darauf Lore mit dem Pferd! Lore – immer nur Lore! In allen möglichen und beinahe undenkbaren Situationen! Eine ganze Weile schleifte mich der Mann durch den Garten. Fünftausend Quadratmeter, das ist schon ein Stück, das wollte geschleift sein. Aber dann nahm auch das ein Ende, und er ließ mich fallen wie einen nassen Sack. Wieder hörte ich das Quietschen von Eisen in einer Türangel, diesmal war es die Gartenpforte, eingelassen in eine hohe Mauer. Das Tor hätte mal ein paar Tropfen Öl nötig, dachte ich, und ich folgerte scharf, daß es sonst wohl kaum benutzt wurde. Es führte auf den Mittelweg, an den der Garten auf der anderen Seite grenzte. Kein Wunder bei der Größe des Grundstücks. Der Mann ließ mich schutzlos an der Mauer liegen, wahrscheinlich wartete er einen Augenblick ab, in dem auf dem Mittelweg niemand zu sehen war. Dann fühlte ich mich erneut angehoben und über den Bürgersteig zu einem Auto geschleift. 137
Ich sah es nicht deutlich, aber ich wettete, daß dies der BMW war, in dem sie auch Lore von Fräulein Escherich abgeholt und fortgebracht hatten. Auf dem Sitz endlich war es bequem und warm. Mein Kopf sank nach vorn. Plötzlich spürte ich die Nässe auf meinem Gesicht, und ich schmeckte die Tränen, die mir über die Wangen und zum Mund hineinliefen. Wie kam denn das? Hatte ich wirklich so großes Mitleid mit mir? Das glaubte ich ja selbst kaum! Ein Mann aus dem Hafen! Ein Mann, dem sonst die rauhe Luft des Nordens um die Nase weht. Das durfte ich aber wirklich keinem erzählen!
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Der dritte und vierte Tag. 1. An jenem Morgen, als mir Gisela Escherich sagte, unter welch merkwürdigen Umständen Lore von Männern in einem BMW fortgebracht wurde, und ich Kommissar Schnabel vergeblich in der Polizeidirektion zu erreichen suchte, fuhr ich in der widersinnigen und lächerlichen Hoffnung nach Cranz, Lore auf dem Hof zu finden. Ich fand sie aber nicht, und ich mußte zu allem Überfluß hören, daß auch ihr Koffer abgeholt worden war. Wieder kam dieser BMW ins Spiel, den bereits Gisela Escherich gesehen hatte. Es mußten dieselben Leute sein. Ich hielt mich in Cranz nicht auf, sondern fuhr sofort zurück. Von unterwegs rief ich wieder die Polizei an. Kommissar Schnabel war noch nicht eingetroffen, konnte er auch nicht, denn die Uhr zeigte noch nicht einmal Mittag. In der Durchgangshalle des Hauptbahnhofs aß ich etwas, gleich im Stehen, dazu trank ich ein Glas Milch. Dann irrte ich durch Straßen, ich wußte nicht, durch welche. Keinen Moment dachte ich daran, daß die Barkasse schon den zweiten Tag stillag. Mitten in der Saison! Ich dachte überhaupt nicht an die Einnahmen, die ich so dringend benötigte; denn die neue Barkasse gehörte mir ja erst zu einem Teil. Gegen zwei war ich in der Polizeidirektion, Schnabel noch immer nicht da! Die Gänge in dem Hochhaus leer und ausgestorben! Zuerst begriff ich nicht, warum, dann fiel mir ein, daß heute Sonntag war. Ich wurde in einen Warteraum geführt. Dort saß ich lange. Die Zeiger der Uhr rückten nicht von der Stelle. Und Schnabel kam nicht. Ein Gedanke verstärkte sich in mir, wurde beinahe zur Gewißheit – Lore lebte nicht mehr! Tuyan war tot, also war sie es auch! Nun erschien mir auch der Überfall im Hafen in einem neuen Licht. Ofterdinger hatte die Männer hinter ihr hergehetzt! Sie hatte sich bei 139
dem Makler nach Osman Tuyan erkundigt, und da hatte er sie beobachten lassen. Als die Kerle sahen, daß sie im Grasbrookhafen nach dem Türken fragte, rückten sie ihr näher auf die Pelle. Sie warteten auf eine Gelegenheit, um nach ihr zu schnappen. Und als es ihnen vor den Landungsbrücken mißlang, versuchten sie es am nächsten Tag wieder. Diesmal mit dem Trick des Telefonanrufes. Halt! Es konnten nicht dieselben gewesen sein! Die aus dem Hafen kannte Lore ja bereits. Sie fuhren auch einen anderen Wagen, nicht den Opel. Alles keine Probleme für Ofterdinger! Sein Unternehmen warf Millionen ab. Er konnte sich Autos und Menschen kaufen, soviel er immer wollte. Gegen vier Uhr wurde die Tür zum Warteraum geöffnet, und der Beamte, der mich vor Stunden hier hereingesetzt hatte, erschien endlich. Schnabel käme heute nicht mehr ins Amt, sagte er, aber der Kommissar ließ mir einen Gruß ausrichten und mich bitten, morgen früh um neun, aber pünktlich bitte, in seinem Dienstzimmer zu sein. Ich verfluchte Schnabel! Ich beschwor den Beamten, mir zu sagen, wo ich den Kommissar erreichen könnte. Der Mann wußte es nicht, so behauptete er jedenfalls. Ich beschwor ihn, mir Schnabels Privatadresse zu geben, damit ich dort auf den Kommissar warten könnte. Er tat es nicht. Ich verfluchte auch diesen Beamten. Mehr als einmal war ich drauf und dran, ihm von Lores Verschwinden zu erzählen, noch im Lift war ich beinahe soweit, aber ich tat es dann doch nicht. Irgendwie hielt mich der Gedanke an Lores Vater davor zurück. In einer Fernsprechzelle blätterte ich das Telefonbuch durch. Den Namen Ofterdinger fand ich elfmal darin. Drei davon fielen gleich unter den Tisch, weil es Frauen waren. Ebenso konnte ich den technischen Schiffahrtssachverständigen streichen und den Besitzer der Salatund Mayonnaisenfabrik. Die beiden nächsten, ein Kälteingenieur Ofterdinger und ein Konstrukteur Ofterdin140
ger, führten mich wohl auch nicht ans Ziel. Blieben vier übrig. Zwei davon standen ohne Berufsbezeichnung in dem Buch, hinter dem Namen des dritten war der Beruf eines Kaufmanns und hinter dem des vierten der eines Maklers angegeben. Bei dem versuchte ich es zuerst. Kein Anschluß! Auch bei den drei anderen meldete sich niemand. Heute war Sonntag, und die Sonne schien, man war im Grünen! Ich schrieb mir die vier Nummern auf einen Zettel und fuhr zu Gisela Escherich. Sie hatte mich sehnsüchtig erwartet. Fräulein Escherich wirkte nicht mehr so gelassen wie am Morgen. Den ganzen Tag über habe sie sich nicht aus der Nähe des Telefons fortgerührt. Aber der Apparat sei still geblieben. Sie selbst habe bei Lores Bekannten, von denen sie wußte, herumtelefoniert, ob sie vielleicht irgendwo dort sei, Lore hätte ja manchmal seltsame Anwandlungen, aber nichts! Bei ihr selbst hätte niemand angerufen, erklärte Fräulein Escherich, und das hätte sie von Stunde zu Stunde immer nervöser gemacht. Ich glaubte ihr. Sie hatte etwas Verstörtes im Blick, wie ich selber übrigens auch, und damit paßten wir schon ganz gut zusammen. Ich fragte Fräulein Escherich, ob wir nicht, unabhängig von Kommissar Schnabel, die Polizei informieren sollten. Es sei nun alles viele Stunden her, und schließlich müßte man das Schlimmste befürchten. Nein! Fräulein Escherich glaubte nicht, daß Lore tot sei. Ihrer Meinung nach war sie entführt worden. Wenn man sie hätte umbringen wollen, so hätten die Gangster das gleich vor der Haustür erledigt, ohne erst lange zu reden. Dafür gab es in den letzten Jahren genügend Beispiele; die Leute stiegen nicht einmal aus dem Wagen aus, sie kurbelten das Seitenfenster herunter und schossen, sobald derjenige auftauchte, auf den sie es abgesehen hatten. Aber dieses Bild paßte einfach nicht zu Lore. Vieles sei ja möglich bei ihr, meinte Fräulein Escherich mit einem scherzenden Unterton, aber zur Unterwelt gehöre 141
sie doch wohl nicht. Nein, Lore sei nicht tot, sie wurde entführt. Aber gerade deswegen sei es nicht gut, die Polizei hineinzuziehen. Die Entführer meldeten sich nach einer gewissen Zeit, und wahrscheinlich hätten sie das auch längst bei Lores Vater getan. Aus diesem Grund hatte Fräulein Escherich, ehe ich zu ihr kam, mehrmals bei den Pohls in der Magdalenenstraße angerufen. Beim dritten Mal endlich hatte sich Frau Pohl gemeldet, der Oberstaatsanwalt sei nicht zu Hause gewesen, und Frau Pohl wußte von nichts. Zwar hatte Fräulein Escherich nicht so direkt gefragt, aber die Stimme der Frau hatte ganz natürlich geklungen. Als sie von den Anrufen erzählte, kam mir der Gedanke an die Telefonnummern in meiner Tasche. Ich kramte sie hervor und drehte erneut die Wählscheibe. Wieder nichts, auf allen Nummern nicht. Ich versuchte es in der nächsten Stunde mehrmals, während Gisela Escherich etwas zu essen machte. Sie zwang mich, von den Broten zu nehmen, und ich würgte ein Stück hinunter. Zweimal meldete sich schließlich jemand am Telefon. Einmal waren es Kinderstimmen und das andere Mal die Stimme einer Frau. Die Adresse konnte aber gar nicht stimmen, der Teilnehmer wohnte in der Drosselstraße in Barmbek, wirklich keine Gegend für Ofterdinger. Aber der, hinter dem der Beruf eines Maklers stand, der war gewiß mein Mann. Auch die Adresse stimmte. Merkwürdigerweise lag seine Wohnung auch in Pöseldorf, und was das Maß voll machte, es war die Magdalenenstraße angegeben. Aber unter dieser Privatnummer meldete sich niemand. Ich hatte auch die Geschäftsnummer angewählt, mit demselben Erfolg. Ich konnte Fräulein Escherich überreden, mit mir in die Magdalenenstraße zu fahren. Die Villa lag ganz im Dunkeln, nicht ein Fetzen Licht in ihr! Und natürlich meldete sich niemand, als wir am Gartentor klingelten. Wir saßen stundenlang im Wagen und warteten. Wir 142
waren so erschöpft, daß wir kaum noch ein Wort miteinander sprachen. Selbst ich rauchte mehrere Zigaretten. Ein paarmal wollte ich aussteigen und in das Haus einbrechen. Gisela gelang es, mich zurückzuhalten. Das Haus sah wirklich so verlassen aus, daß man niemand darin vermuten konnte. Und wenn dennoch welche drinnen wären, fragte Fräulein Escherich, ob ich dann wohl mit den Männern fertig würde? Nein, natürlich nicht! Im Hafen war es etwas anderes gewesen. Damals war Tag, es passierte in aller Öffentlichkeit, und ein Polizist stand in unmittelbarer Nähe. Da konnte ich wirklich leicht den Helden spielen! Wir fuhren auch ans andere Ende der Straße, wo die Villa Pohl lag. Auch dort sahen wir in den Fenstern kein Licht, und auf unser Klingeln meldete sich ebenfalls niemand. In den folgenden Stunden fuhren wir hin und her, von einem Ende der Straße zum anderen, warteten mal vor dem einen und mal vor dem anderen Grundstück. Es schien völlig sinnlos, denn weder die Pohls noch Ofterdinger kamen nach Hause. Es war lange nach Mitternacht, als ich Fräulein Escherich in der Richardstraße absetzte. Dann fuhr ich auch nach Hause. Ich schlief in dieser Nacht nicht eine Stunde. Und was ich sonst niemals mache, ich holte die Flasche Bommerlunder aus dem Kühlschrank, dieselbe, aus der ich mit Lore getrunken hatte, und machte sie leer. Ich saß in einem Sessel und brütete vor mich hin. Dann kam die Dämmerung, und die Gegenstände um mich nahmen langsam Gestalt an. Als es ganz hell war, ging ich unter die Dusche, und schon nach acht Uhr saß ich im Vorraum zu Kommissar Schnabels Dienstzimmer und wartete. Schlag neun Uhr ging die Tür auf. In der Öffnung stand der Kommissar und machte eine einladende Handbewegung. Er wirkte beinahe so übernächtig wie ich selbst, wahrscheinlich war auch er kaum zum Schla143
fen gekommen. Die Wangentaschen sahen griesig aus, und unter den Augen hatte er tiefe Ringe. Er ließ mich in das Dienstzimmer vorangehen, sah zu, wie ich auf den Besucherstuhl kroch, und lehnte sich selbst gegen die polierte Platte seines Schreibtisches mit der Vasenlampe darauf. Und noch ehe ich überhaupt den Mund aufmachen konnte, fragte er: „Sie haben Ihr Fräulein Pohl also vorgestern nacht in die Richardstraße zu Gisela Escherich gebracht, bevor Sie zum ‚Fleeterich‘ weiterfuhren?“ „Ja“, erwiderte ich überrascht, denn darüber hatten wir bei unserem ersten Zusammentreffen nicht gesprochen. Der Kommissar fuhr fort: „Dort erreichte Fräulein Pohl später ein Anruf. Der Mann am Telefon gab sich für Sie aus, Herr Ahrens, und sagte, unten würde gleich ein BMW vor der Haustür eintreffen und die Herren darin sollten sie auf die Polizeidirektion bringen, wo Sie Fräulein Pohl erwarteten. Ist das soweit richtig?“ Ich sah Kommissar Schnabel unheimlich berührt an. „Haben Sie inzwischen mit Fräulein Escherich gesprochen!“ „Habe ich nicht!“ „Aber Sie wissen, daß Lore Pohl entführt wurde?“ „Ja, das weiß ich!“
2. Wir waren in dem Dienstzimmer nicht allein. Auf Schnabels Stuhl hinter dem Schreibtisch saß ein weiterer Beamter, ein Mann um die Fünfzig, der in einem Aktenstück blätterte. Er trug einen Tuchmantel, und seinen Hut hatte er auf der polierten Schreibtischplatte deponiert. Sicher war er nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um eine Akte durchzusehen. Als ich in das Zimmer trat, schaute er auf und musterte mich mit einem flüchtigen Blick, dann vertiefte er sich wieder in die Seiten des Schnellhefters. 144
Wenn Schnabel nicht mit Gisela Escherich gesprochen hatte, mußten sich die Entführer inzwischen gemeldet haben. Dann war Lore nicht tot! Ich spürte die tiefe Erleichterung beinahe körperlich. „Weshalb sind Sie nicht gleich zur Polizei gegangen, als Sie von der Entführung hörten?“ fragte der Kommissar. „Bin ich doch“, erwiderte ich grimmig. „Zwei Stunden lang habe ich gestern hier herumgesessen und auf Sie gewartet. Sie kamen aber nicht.“ „Solche Anzeigen nimmt jede Polizeidienststelle entgegen“, sagte der Kommissar und sah mich mit einem eindringlichen, düsteren Blick an. „Wir haben lange überlegt, was wir unternehmen könnten“, erklärte ich. „Fräulein Escherich meinte endlich, man sollte bei einer Entführung die Polizei draußen lassen. Das sei besser für das Opfer. Die Entführer würden sich selbst melden und ihre Bedingungen stellen.“ Über das Gesicht des Kommissars huschte ein flüchtiges Lächeln. „Das haben Sie in Kriminalromanen gelesen, geben Sie es zu! Es klingt ganz abenteuerlich.“ Dazu sagte ich nichts. Ich dachte an die schmalen Bücher mit den farbigen Einbanddeckeln, die drei Fächer meiner Regalwand füllen. „Es macht uns immer wieder Kummer“, fuhr Schnabel fort, „wenn sich das Publikum für gescheiter hält als uns. Falls Ihnen ähnliches wieder begegnet, dann gehen Sie zur Polizei! Sofort! Was glauben Sie eigentlich, weshalb wir Geld und Mühe in die Ausbildung unserer Leute stecken? Die kennen sich aus, die haben Umgang mit Ganoven. Selbst mit Entführern, weil dies Geschäft ja immer mehr in Mode kommt.“ Ich antwortete nicht, was hätte ich auch sagen sollen, da Schnabel mit jedem Wort recht hatte. Der Kommissar wanderte durch den Raum zum Fenster und sah zur Straße hinunter, auf der die Autos in mehrreihigen Ko145
lonnen in Richtung City fuhren. Der Motorenlärm drang nur schwach zu uns, obwohl das Fenster offenstand; in dieser Höhe war es nicht viel mehr als ein ununterbrochenes murmelndes Gebrumm. Der Beamte hinter dem Schreibtisch beschäftigte sich noch mit seiner Akte, er blickte gar nicht auf. Der interessierte sich weder für Lores Entführung noch für mich. Für den waren meine Sorgen unbedeutend. Plötzlich sagte Kommissar Schnabel, den Blick noch immer zum Fenster hinaus: „In diesem besonderen Fall haben Sie sich aber richtig verhalten!“ „Ich habe mich …“, stotterte ich und starrte die Rückseite des Fleischberges an. „Ja, ja, Sie haben sich, ohne es zu wissen, richtig verhalten.“ Er wandte sich mir zu und fuhr lächelnd fort: „Fräulein Pohl wurde nämlich gar nicht entführt!“ Das Zimmer begann sich um mich zu drehen. Ich verstand gar nichts mehr. Und weiter, beinahe vergnügt von dem Kommissar: „Die beiden Herren, die Fräulein Pohl vorgestern nacht aus der Richardstraße abholten, kamen von der Staatsanwaltschaft. Sie sind dem Herrn Oberstaatsanwalt Pohl direkt unterstellt. Ja, ja, soweit hat alles seine Ordnung. An dieser Sache ist zwar eine ganze Menge ungewöhnlich, aber kriminell ist an ihr eben doch nichts.“ „Aber … aber …“, ich stotterte noch immer, „weshalb nannten die Herren denn meinen Namen, als sie anriefen?“ „Das war nur so ein kleiner Trick!“ Plötzlich lag ein genießerischer Ton in Schnabels Stimme. „Die Herren kamen natürlich nicht allein in die Richardstraße. Da saß noch jemand in dem BMW und wartete. Raten Sie, wer das war?“ In mir entstand eine Ahnung, aber ich unterbrach den Kommissar nicht. Der fuhr fort: „Ich will es Ihnen sagen! Der Herr, der im Wagen sitzen blieb, während die 146
beiden anderen ausstiegen, war niemand sonst als der Oberstaatsanwalt Pohl.“ „Was … wollte er?“ „Er wünschte eine Aussprache mit seiner Tochter.“ Plötzlich dachte ich an all das, was Lore mir über ihren Vater erzählt hatte, ich glaubte den Klang ihrer Stimme zu hören. „Und er fürchtete …“, sagte ich ganz in Gedanken. „Sehr richtig“, meinte Schnabel. „Er fürchtete!“ „Zu Recht! Sie sagte mir nämlich, daß es nichts, absolut gar nichts gäbe, worüber sie mit ihrem Vater sprechen würde.“ Ich kam von meinem Stuhl hoch. „Wo ist sie, Kommissar?“ Schnabel drückte mich auf den Sitz zurück. „Später! Wir sind noch nicht fertig.“ Er ließ seinen Körper auf den Schreibtisch zurollen und kam neben dem anderen Beamten zum Halten. Dessen Augen wanderten inzwischen umher und blieben schließlich auf mir hängen. Aber eigentlich sah er mich nicht, sein Blick ging glatt durch mich hindurch. Mit den Gedanken schien er bei der Akte zu sein, in der seine Hände fingerten. Schnabel hingegen schaute mich an, auf dem Gesicht noch immer dieses behagliche Lächeln. Ich hatte den Eindruck, daß der Kommissar die Situation genoß. „Fräulein Pohl wurde also richtiggehend überrumpelt an jenem Abend. Und so hat sie auch mit ihrem Vater gesprochen, Herr Ahrens, und endlich hat sie sich auch nicht den höheren Einsichten des Herrn Oberstaatsanwalts verschlossen.“ Lore lebt, dachte ich, sie lebt! Alles andere war unwichtig im Moment. Die Aufregungen des gestrigen Tages, die bohrenden Gedanken der letzten Nacht, die Angst um sie, die ich nie vergessen würde, all das lag hinter mir! Ich brauchte nur noch zu erfahren, wo sie war, um zu ihr zu laufen und sie in die Arme zu nehmen. 147
Wieder kam ich vom Stuhl hoch. „Wo ist sie, Herr Schnabel, sagen Sie es mir!“ Der Kommissar lächelte, aber in seiner Stimme lag ein Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Setzen Sie sich, Herr Ahrens, wir sind noch nicht fertig!“ „Wo ist sie?“ Ich schrie beinahe. „Später, Herr Ahrens, setzen Sie sich!“ Ich setzte mich. „Fräulein Pohl sprach also in jener Nacht mit dem Herrn Oberstaatsanwalt. Und der Vater konnte die Tochter überzeugen, daß es besser sei, vorübergehend eine kleine Reise anzutreten.“ Eine kleine Reise? Das war nicht tragisch. Ich würde mich in den nächsten Zug setzen und zu ihr fahren. „Sie soll außerhalb der Stadt bleiben“, fuhr der Kommissar fort, „bis die Todesursache geklärt ist, bis der Türke, den wir vor dem Michel fanden, identifiziert und der Leichnam schließlich auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt ist. Das sei besser so, meint der Herr Oberstaatsanwalt.“ „Für wen sollte das denn besser sein?“ „Für alle Beteiligten!“ Wieder hörte ich in Gedanken Lores Stimme. ‚Mein Vater lebt in Pöseldorf‘, hatte sie gesagt. ‚Für diese Leute ist ein Türke etwas Schlimmes, ein Gastarbeiter jedoch etwas Undenkbares.‘ Und nun drohte bekannt zu werden, daß Lore mit etwas so Undenkbarem Umgang gehabt hatte, sie, die Tochter eines Oberstaatsanwalts aus Pöseldorf. „Alle Beteiligten, das ist in diesem Fall Herr Pohl selbst, nicht wahr, er allein?“ Schnabel lächelte still und vergnügt in sich hinein, er antwortete nicht. Ich sagte: „Der Mann lügt!“ Und sehr heiter von Schnabel: „Aber, Herr Ahrens!“ Ich wurde zornig. „Sie wäre nicht weggefahren! In dieser Situation nicht, und freiwillig schon gar nicht! Ihr war es gleichgültig, ob man sie mit dem Türken in Ver148
bindung brachte. Und was ihr Vater darüber dachte, das kümmerte sie wenig. Sie fühlte sich für diesen Tuyan verantwortlich. Und noch etwas! Sie wäre auch nicht gefahren, ohne mir eine Nachricht zu geben. Er lügt, Ihr Oberstaatsanwalt!“ „Aber, Herr Ahrens!“ Schnabel lachte herzlich, wobei seine Wangentaschen sachte zitterten. „Ein Staatsanwalt lügt nicht, lügt niemals! Das würde wohl dem Wesen, dem inneren Kern, kurz: der Moral des Staates, den er vertritt, widerstreben.“ Etwas stimmte hier nicht! Wie Schnabel es schilderte, konnte sich das Gespräch zwischen Lore und ihrem Vater nicht abgespielt haben. So ohne weiteres hatte sie sich dem Wunsch ihres Vaters nicht gefügt, war einfach weggefahren, bis Osman Tuyan nach Ohlsdorf kam. Und das alles, ohne sich vorher mit mir in Verbindung zu setzen. Nein, so waren die Dinge nicht gelaufen. Wieder kroch die Angst in mich hinein. „Wohin soll Sie denn gefahren sein, Herr Kommissar?“ Schnabel zuckte die Achseln. „Pohl hat es Ihnen nicht gesagt?“ Schnabel antwortete nicht. „Mir wird er es sagen!“ „Wenn er Sie überhaupt empfängt!“ „O ja, er wird! Ich werde seine Tochter heiraten, vielleicht interessiert ihn das.“ Der Kommissar schaute mich gedankenvoll an. „Ob der Herr Oberstaatsanwalt damit einverstanden sein wird?“ „Im Grunde kann es uns gleichgültig sein“, erwiderte ich ziemlich laut. Irgendwie versuchte ich die Angst, die wieder in mir saß, zu verdrängen, sie in Wut umzusetzen. „Lore Pohl mußte sehr früh aus der Nähe ihres Vaters fort, bald nachdem Herr Pohl ein zweites Mal geheiratet hatte. Sie wuchs also in einem wesentlichen Abschnitt ihrer Kindheit ohne Elternhaus auf. Aber nun ist 149
sie erwachsen! Glauben Sie wirklich, sie würde ihren Vater fragen, mit wem sie Umgang haben darf – und wenn es ein Türke ist? Oder wen sie heiraten darf – und wenn es ein kleiner Unternehmer aus dem Hafen ist?“ Schnabel erwiderte nichts, aber sein Blick lag voller Interesse auf mir. Dafür meldete sich der andere Beamte neben ihm. Er hob den Schnellhefter in die Höhe und wies auf eine Stelle in dem Schriftstück. Schnabel nahm den Hefter zur Hand und las darin, wobei er seine schmalgefaßte Brille auf die Glatze schob. Für eine Weile herrschte Schweigen, und der Beamte auf dem Stuhl des Kommissars fand ein wenig Zeit, seine Aufmerksamkeit mir zuzuwenden. Wesentliche Erkenntnisse schien ihm das nicht zu bringen. Sein Blick blieb gleichgültig, und ich gewann immer mehr den Eindruck, als betrachtete er einen anrüchigen Gegenstand. Inzwischen suchte Schnabel unter anderen Schnellheftern nach dem richtigen, schlug ihn auf und schob ihn vor seinen Besucher. Nachdem seine Wurstfinger auf die entsprechende Stelle gewiesen hatten, richtete er sich auf und sah mich an. „Wo waren wir inzwischen, Herr Ahrens?“ „Sie wollten mir sagen, wo sich Fräulein Pohl aufhält!“ Meine Stimme wurde immer herber. Was die Polizei anging, war ich zur Zusammenarbeit nicht mehr bereit. Das ganze Gespräch mißfiel mir. Schnabels behaglicher Ton paßte mir nicht, für den schien das alles mehr eine Hetz zu sein, und der Blick, mit dem mich der zweite Beamte gemustert hatte, paßte mir noch weniger. Was dachten diese Leute sich? So schaue ich ja nicht mal einen Fisch an, der seit Tagen tot auf dem Elbwasser treibt. „Sie ist irgendwo in Skandinavien, Herr Ahrens, in Norwegen oder Schweden. Aber wo genau?“ Er zuckte die Achseln und fuhr ironisierend fort: „Ein Holzhaus in den Wäldern? Ein Bungalow auf den Schären? Ich weiß es nicht. Nur eines ist sicher: Es ist ein stilles Fleckchen, 150
bestimmt nicht so zauberisch wie eine Reise ins anatolische Morgenland; mehr bieder, verstehen Sie, mehr unserer norddeutschen Gemütsart entsprechend.“ Noch ehe ich heftig erwidern konnte, drang eine Stimme aus dem Sprechgerät. „Herr Ofterdinger ist gekommen!“ Schnabel drückte eine Taste. „Danke!“ Der Beamte auf dem Stuhl des Kommissars klappte den Schnellhefter zu, griff nach seinem Hut und marschierte zur Tür. Dort blieb er stehen und sah Schnabel fragend an. „Na, was ist? Wollen Sie nicht mitkommen?“ Schnabel maß den Beamten mit einem undurchdringlichen Blick. „Ich fahr’ mit meinem Wagen!“ Der Mann sagte: „Ich will Sie dabei haben, wenn Herr Ofterdinger diesen … Türken identifiziert.“ Und Schnabel, undurchdringlicher denn je: „Sehr wohl, Herr Oberstaatsanwalt!“
3. Ich fuhr herum. Der dort bei der Tür – Lores Vater? Nein, das konnte nicht sein, wo war denn die Ähnlichkeit? Ich fand keine. Halt, die Brille –! Auch er trug eine mit starken Gläsern, goldgefaßt natürlich, aber nicht getönt. War Kurzsichtigkeit denn erblich? Großer Blödsinn! Der Mann sah über mich hinweg zum Schreibtisch, wartete, daß Schnabel mich hinauswarf und mit ihm kam, drei Sekunden, fünf, sieben, und während dieser langsam vorübertickenden Sekunden begriff ich, daß die beiden nicht auf freundschaftlichem Fuß miteinander standen. Schließlich, als nichts von Schnabels Seite geschah, der Kommissar nur so dastand, mich nicht hinauswarf, sondern den Oberstaatsanwalt mit diesem undurchdringlichen Blick ansah, öffnete Pohl die Tür und ging grußlos aus dem Zimmer. Ich starrte das Türblatt an, auf dem die Lackfarbe 151
glänzte. Wo war denn da die Ähnlichkeit? Dieser Mann mit dem glatten Gesicht, trotz seiner fünfzig Jahre ohne Falten, mit dem wesenlosen Ausdruck in den Augen, das war ihr Vater? Oder hatte ich ihn von Beginn an falsch gesehen? Und als er dann bei der Tür stand, färbte sich mein Eindruck da gleich durch das, was ich von Lore über ihn wußte? Nur eines war klar: Dieses Gesicht hatte ich, Sekunden nachdem ich hineingeschaut hatte, beinahe schon wieder vergessen. Ich wandte mich Schnabel zu und sah ihm in die Augen. „Der doch nicht!“ „Doch, doch“, erwiderte Schnabel herzlich, „das war er, der Herr Oberstaatsanwalt Pohl!“ Mit gebotener Vorsicht ließ der Kommissar seine Fleischmassen auf den Stuhl gleiten, der endlich wieder für ihn frei geworden war. Die Stahlfedern seufzten leise. Schnabel fuhr fort: „Ich hätte Sie ja mit dem Mann bekannt machen können, aber dann hätten Sie ihm wohl kaum auf diese herzerfrischende Weise Ihre Meinung gesagt, nicht wahr?“ „Was wollte er?“ fragte ich nach einer Weile, ich war noch immer fassungslos. „Er wollte Sie kennenlernen.“ „Wozu?“ Was dachte sich dieser arrogante Schnösel? Der setzte sich her, stellte sich nicht vor, glotzte mich an wie einen toten Fisch, sagte kein Wort, ging hinaus. Aus –! „Wozu wollte er mich kennenlernen, wenn er nicht mit mir sprach?“ „Das Sprechen überließ er ja mir.“ „Sind alle Ihre Staatsanwälte so?“ „Wie meinen Sie das?“ „So widerlich dünkelhaft?“ „Herr Pohl bildet gewissermaßen eine Ausnahme. Er ist ja ein reicher Mann, eigentlich hat er nicht nötig zu arbeiten. Um sein Brot zu verdienen, jedenfalls nicht!“ Schnabel saß hinter dem Schreibtisch und verdrehte die 152
Augen, während um seinen fleischigen Mund ein schwer deutbares Lächeln spielte. „Da wird die Arbeit dann zum Vergnügen!“ „Eigentlich kennt man das an kleinen Leuten, die emporgekommen sind, nicht wahr? Und das ist Herr Pohl ja auch. Das Haus in der Magdalenenstraße, das ist doch gar nicht seins, das gehört seiner zweiten Frau.“ Das Lächeln um Herrn Schnabels Mund verstärkte sich. „Sie sind gut unterrichtet!“ „Bin ich!“ Ich wurde immer wütender, ich kochte vor Wut. „Was wollte der Mann von mir? Weshalb läßt der mich frühmorgens hier antanzen?“ „Ich habe Sie herbestellt, Herr Ahrens, der Oberstaatsanwalt wollte nur dabeisein.“ Schnabel holte aus einem Fach seines Schreibtisches eine Flasche Doornkaat und zwei Gläser. Beim Einschenken beugte er sich nieder und achtete darauf, daß kein Tropfen auf die polierte Platte kam. Das gelang. Schnabel hatte langjährige Erfahrung mit seinen Wurstfingern. Während er das tat, plauderte er, aber jetzt ohne den ironisierenden Ton von vorhin. „Ich wollte mit Ihnen sprechen, Herr Ahrens. Schauen Sie, ich wußte, daß Sie sich Sorgen machen um das Mädchen. Der Beamte, der Sie hier gestern abfertigte, erzählte mir, Sie hätten ein völlig verstörtes Gesicht gehabt. So als ob Sie nicht mehr zwei und zwei zusammenzählen konnten. Also bat ich Sie her, um Sie zu beruhigen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, denn der Lore ist nichts geschehen! Die sitzt irgendwo und wartet in Ruhe ab.“ „Aber wo?“ warf ich ein. „Ich weiß es nicht, Herr Ahrens! Wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen sagen, glauben Sie mir!“ Der Kommissar schob das Glas, das er mir zugedacht hatte, vorsichtig über die Tischplatte. Dann hob er den Blick und sah mir in die Augen. Ich glaubte ihm. Dickleibige sind gemütlich, sagt man 153
so, sind sie auch ehrlich? Ich wußte es nicht, aber diesem Fettkloß glaubte ich. Nur eines verstand ich nicht. „Müssen Sie denn nicht wissen, wo sich Fräulein Pohl aufhält? Sie ist doch eine Zeugin.“ „Ich muß es nicht wissen, Herr Ahrens, nicht unbedingt, zumindest nicht in diesem vertrackten Fall, wo die Zeugin gleichzeitig die Tochter des Oberstaatsanwalts ist. Und was schließlich die Identifizierung des Türken anlangt, so brauchen wir Lore dafür nicht. Die kann Ofterdinger besorgen, deshalb haben wir ihn heute hergebeten. Schauen Sie, dieser Osman Tuyan ist zweimal bei dem Makler gewesen und hat um Arbeitsvermittlung nachgesucht. Ofterdinger kennt ihn also.“ „Tuyan hat nicht nur um Arbeit ersucht, er hat sie auch über Makler Ofterdinger vermittelt bekommen.“ „Wer sagt das?“ „Fräulein Pohl!“ „Und woher weiß sie es?“ „Von Osman Tuyan selbst.“ „Aber der Türke ist tot!“ „Ja, ja, das ist es ja eben!“ „Nun, das ist ein anderes Problem!“ Schnabel machte eine abschließende Handbewegung. „Jetzt geht es aber erst mal um die Identifizierung, und dafür brauchen wir die Lore Pohl nicht. Und zudem: Keiner kann sagen, wie eine Frau reagiert, wenn einmal die Lade mit den Emotionen aufgezogen ist, nicht wahr, was sie da alles anstellt.“ „Was sollte sie denn anstellen?“ „Bisher hat sich keine Zeitung um den Vorfall gekümmert. Aber das würde sich natürlich schlagartig ändern, wenn durchsickert, daß die Tochter des Pöseldorfer Oberstaatsanwaltes Pohl es war, die den türkischen Gastarbeiter Osman Tuyan identifiziert hat. Ich sehe die Überschrift im ‚Hamburger Abendblatt‘ und in ‚Bild‘ vor mir, auf der ersten Seite, über vier Zeilen gehend, sehe ich sie vor mir. Wollen Sie das?“ 154
„Nein, natürlich nicht!“ „Sehen Sie! Wir wollen den Oberstaatsanwalt mal draußen lassen, aber was ist mit Ihrer Lore? Wäre der denn gedient mit so einer Art von Publicity?“ „Nein!“ „Und darum ist es besser, wenn Lore während dieser Zeit irgendwo in Ruhe abwartet.“ Er hob sein Glas, schnüffelte vorsichtig daran und sah mich schließlich auffordernd an. „Auf Lores Wohl und auch auf Ihres!“ Ich nahm mein Glas und nippte schweigend. Schnabel hatte natürlich mit jedem Wort recht – und trotzdem, trotzdem, trotzdem! Was war nur schief an der Sache? Ich hockte unglücklich auf meinem Stuhl, das nur eben angetrunkene Glas in der Hand. „Weshalb hat sie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt, bevor sie abfuhr?“ fragte ich. „Das konnte sie doch gar nicht“, entgegnete der Kommissar. „Pohl hat mir geschildert, wie das vor sich ging. Als er sie aus der Richardstraße abholte, fuhr er gleich mit ihr zum Bahnhof. Sie unterhielten sich während der Fahrt. Zumindest Pohl hatte es verdammt eilig, denn bis zur Abfahrt des Nachtzuges nach Kopenhagen war es nicht mehr lang. Er hatte sogar schon vorher die Fahrkarte gekauft.“ „Also ist sie in Kopenhagen“, warf ich erregt ein. Schnabel lächelte. „Der Nachtzug fuhr nur bis Kopenhagen. Von dort reiste sie weiter, entweder nach Norwegen oder Schweden. Ich weiß es wirklich nicht, Herr Ahrens. Wenn Sie also noch mit diesem Zug fort sollte, konnte sie sich gar nicht mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Es leuchtete mir ein. Was Schnabel da erzählte, klang alles so logisch. Fast gegen meinen Willen sagte ich: „Und doch stimmt etwas nicht! Mein Gefühl …“ „Ach, Ihr Gefühl, ja, ja …“ Wieder fiel Schnabel in seinen ironischen Ton, aber das war nur ein Moment. Im 155
Grunde war der Kommissar selbst auch viel zu nachdenklich. Und so fuhr er fort: „Entschuldigen Sie, Herr Ahrens, ich will mich nicht über Sie lustig machen. Ich habe da nämlich auch so ein Gefühl!“ Er sah mich über den Rand seines Glases hinweg mit einem versonnenen Lächeln an. Und dann schloß er: „Ich fühle nämlich, daß wir beide prächtig zusammenpassen. Wie zwei alte Latschen etwa!“
4. Ich fuhr mit dem Lift hinunter, ging durch die Halle der Polizeidirektion und trat unter der überdachten Wagenauffahrt hervor ins Freie. Die Sonne blendete mich im ersten Augenblick. Wieder strahlend schönes Wetter, und dies war der dritte Tag, an dem die Barkasse stillag. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke an die Einnahmen, die ich mit jedem Tag verloren hatte und mit jedem weiteren verlieren würde. So konnte es nicht weitergehen. Ab morgen mußte ich wieder ablegen, zehnmal am Tag, nein, zwölfmal, um etwas von dem Verlust hereinzuholen. Bis dahin mußte ich wissen, wohin Lore gefahren war. Ich setzte mich in meinen Fiat, der auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus stand, und wartete. Der Wagen stand so günstig, daß ich den Eingang überblicken konnte. Es dauerte nicht lange, bis sich Schnabel zur Eingangshalle heraus und in sein Auto hineinzwängte. Der Fahrer half ihm dabei. Und dann ging es hin zu jenem Haus mit den Kältefächern, die gerade so groß sind, daß eine Bahre hineinpaßt, und gerade so kalt, daß der Verwesungsprozeß aufgehalten wird. Vor dem Gebäude der Gerichtsmedizin wälzten sich die Fleischmassen des Kommissars aus dem Wagen und versickerten hinter einer gläsernen Tür im Halbdunkel der Eingangshalle. Ich wartete einen Moment, dann folgte ich ihm und ging mit selbstsicherem 156
Schritt an der Pförtnerloge vorbei. Hinter einer Säule am Treppenaufgang blieb ich stehen. Da der Oberstaatsanwalt mit dem Makler Ofterdinger bereits vorausgefahren war, brauchte ich nicht lange zu warten. „Also, da kann man die Leiche freigeben“, hörte ich die Stimme des Oberstaatsanwalts tönen, „da kann dieser Türke nach Ohlsdorf gebracht werden.“ Und die Stimme des Maklers Ofterdinger: „Wissen Sie schon, wie er umkam?“ „Wir ermitteln noch. Zwar wurde der Mann unter Gewaltanwendung aus dem ‚Fleeterich‘ gebracht, das bezeugen Herr Ahrens und der Wirt, den wir inzwischen ebenfalls einvernommen haben, aber was will das schließlich besagen? Den Südländern sitzen die Messer locker.“ Ich trat hinter der Säule hervor, und nun sah ich sie. Sie kamen direkt auf mich zu, der Makler in der Mitte und die beiden Beamten zu beiden Seiten von ihm. „Der Türke wurde auch nicht erstochen, er wurde überfahren“, fuhr der Oberstaatsanwalt fort. „Stieß man ihn unter das Auto, oder fiel er, torkelte er? Der Mann stand unter Alkohol, wie die Autopsie ergab, er hatte zwei-Komma-drei Promille. Da kann er leicht von selbst unter das Auto gekommen sein.“ Die Geschichte von dem volltrunkenen Osman Tuyan war entschieden neu für mich. Als ich im „Fleeterich“ mit ihm sprach, mochte er angesäuselt gewesen sein, volltrunken war er nicht. Sollte er auf der kurzen Fahrt vom Steinhöft zum Michel die Menge Alkohol getrunken haben, die man später in seinem Blut fand? Möglich immerhin, aber trotzdem wunderte ich mich. Es hätte mich wohl nicht in Erstaunen versetzt, wenn ich an diesem Vormittag bereits gewußt hätte, was mir nur einen Tag später selbst geschehen sollte. „Wie es sich auch immer abgespielt haben mag an jenem frühen Morgen“, sagte der Oberstaatsanwalt, „die 157
Sache ist unangenehm genug. Auf jeden Fall bleibt der Tatbestand eines tödlichen Autounfalls mit Fahrerflucht. Wir haben die Marke des Fluchtwagens, aber die Nummer kennen wir nicht, und von den NSU-Audis, selbst in Rot, gibt es Tausende. Der Wagen muß ja nicht unbedingt in unserer Stadt zugelassen sein. Nun, ich habe Beamte darangesetzt. Es bleibt aber auch der Tatbestand, daß der Türke unter Gewaltanwendung aus dem Lokal verbracht wurde, und zwar von Ausländern! Bei einer Hafenstadt wie unserer, wo täglich Schiffe ein und aus laufen, nicht gerade ein tröstlicher Gedanke. Vielleicht befinden sich die Täter zu dieser Stunde bereits auf hoher See.“ „Und das Liebespaar?“ fragte der Makler. Der Oberstaatsanwalt antwortete nicht sofort, denn nun sah er mich bei der Säule. Er blieb stehen. „Was haben Sie da eben gesagt?“ „Da waren doch auch noch junge Leute, die den Vorfall beobachtet haben.“ „Also, dieses Paar, ja, ja –!“ Der Oberstaatsanwalt schien plötzlich nicht mehr ganz bei der Sache. „Junge Leute … hm, die sich in den Anlagen küssen, morgens, selbst nicht nüchtern. Was sind das schon für Zeugen!“ Er reichte Ofterdinger die Hand und verabschiedete ihn mit einem abwesenden Lächeln. „Auf Wiedersehen, Herr Ofterdinger! Ich glaube zwar nicht, daß wir Sie noch einmal bemühen müssen, aber für alle Fälle haben wir ja Ihre Adresse.“ „Magdalenenstraße –!“ „Ja, richtig! Da wohnen wir in derselben Straße, und an einem so unerquicklichen Ort lernt man sich kennen.“ „Vielleicht trifft es sich einmal bei netterer Gelegenheit.“ „Ja, vielleicht.“ „Meine Frau würde sich freuen.“ 158
„Meine ganz ebenso.“ „Auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen!“ Der Makler kam den Gang entlang und ging dicht an mir vorbei zum Ausgang. Er hatte ein freundliches Lächeln für den Treppenaufgang, auch für die Säule, bei der ich stand, für mich hatte er keins, mich sah er nicht einmal. Kommissar Schnabel lehnte am Fenster. Dort hatte er schon gestanden, als die Herren so nett miteinander plauderten. Aber da sie ihm den Rücken zukehrten, sahen sie nicht das spöttische Lächeln auf seinem Gesicht. Mit keinem Wort hatte er sich an dem Gespräch beteiligt. Nun kam der Oberstaatsanwalt auf mich zu. Ich blickte ihm mit großen Augen entgegen, denn es hatte ganz den Anschein, als wollte auch er wortlos an mir vorüber. Aber dann blieb er doch stehen und wandte sich mir zu. „Übrigens hat mir meine Tochter aufgetragen, Sie zu grüßen, Herr Ahrens“, sagte er. „Kommissar Schnabel hat Ihnen wohl berichtet, daß ich sie vorgestern nacht zum Bahnhof brachte. Und kurz bevor der Zug abfuhr, trug sie mir die Grüße auf.“ „Wohin ist sie gefahren, Herr Pohl?“ fragte ich leise und versuchte, meine Abneigung gegen den Mann nicht allzu deutlich werden zu lassen. Pohl lächelte. „Ist das im Augenblick so wichtig?“ „Für mich schon.“ Er sah mich forschend an. „Zunächst mal dies, Herr Ahrens: Meine Tochter ist freiwillig gefahren. Diesen Punkt haben Sie vorhin in Kommissar Schnabels Amtszimmer nicht ganz richtig beurteilt. Von irgendwelchen Zwängen halte ich nichts, zu keiner Zeit, bei keiner Gelegenheit. Sie ist also freiwillig gefahren!“ „Wohin fuhr Sie, Herr Pohl?“ wiederholte ich meine Frage. Mich interessierte nicht, was der Oberstaatsanwalt zu erzählen wußte. Ich wollte nur wissen, wo Lore war. 159
Aber Pohl sagte es nicht. Er fuhr fort: „Die letzten Ereignisse haben meine Tochter überfordert, Herr Ahrens! Deshalb fuhr sie gar nicht mal ungern. Auch die kurze, aber doch recht intensive Bekanntschaft mit Ihnen hat sie, wie soll ich mich ausdrücken, hat sie überrollt.“ Nun war ich doch überrascht. „Hat sie Ihnen das gesagt?“ „Sie sagte es nicht so direkt“, antwortete Pohl lächelnd, „aber ich konnte es der Art, wie sie sich darüber ausließ, immerhin entnehmen.“ „Wo ist sie, Herr Pohl?“ fragte ich den Oberstaatsanwalt nun schon zum dritten Mal. „In Schweden“, erwiderte er zögernd. „Wo dort?“ Der Staatsanwalt sah mich einige Sekunden lang an, während seine Gedanken abzuschweifen schienen. Dann fragte er: „Finden Sie es richtig, daß meine Tochter so lange in Schweden bleibt, bis dieser Türke nach Ohlsdorf kommt und die ganze Sache mit ihm begraben wird?“ „Ja.“ „Damit sind Sie also einverstanden?“ „Ja, zum Donner! Aber deshalb können Sie mir doch ihre Adresse geben.“ Wieder ein langer Blick von dem Mann, und dann: „Vielleicht sollte ich sie Ihnen nicht geben, Herr Ahrens! Vielleicht ist diese Denkpause, die sie nun hat, ganz richtig. Soll sie nur mal zur Besinnung kommen, alles sichten und ordnen, auch was Ihre so junge Beziehung anlangt.“ „Wollen wir das nicht Lore überlassen?“ fragte ich. „Einverstanden“, meinte Herr Pohl freundlich, „überlassen wir es ihr! Wenn sie sich nämlich mit Ihnen in Verbindung setzen will, Herr Ahrens, so wird sie es tun. Wer könnte sie wohl daran hindern, nicht wahr?“ Der Mann hatte möglicherweise gar nicht so unrecht. 160
Obwohl eine tüchtige Portion Spitzfindigkeit in seinen Worten steckte, ein richtiger Grundgedanke lag auch darin. Seit gestern hielt Lore sich in Schweden auf, stundenlang würde sie nachgedacht, sicher auch erst mal geschlafen haben nach ihrer Ankunft, dann wieder Stunden des Überlegens. Dann der Griff zum Telefon, kein Anschluß! Dann ein Telegramm, ja, das war es! Ich mußte sofort nach Hause, dort würde ein Telegramm für mich im Postkasten stecken. Während ich das überlegte, sah ich in Pohls lächelndes Gesicht. Er sagte abschließend: „Also, war mir eine Freude, Sie mal kennengelernt zu haben, Herr Ahrens, wirklich eine Freude!“ Er wandte sich zum Gehen. Auch Schnabel löste sich von seinem Fensterplatz. Der hatte sich keins von Pohls Worten entgehen lassen, die hatte er alle, ich spürte das deutlich, auf der Zunge geschmeckt. Er kam an mir vorbei, und ohne auch nur den Schritt zu verzögern, sagte er leise, so daß Pohl ihn nicht hören konnte: „Wir treffen uns in einer Stunde bei Fräulein Escherich am Ballindamm!“ Ich sah den beiden nach, den Kopf voll konfuser Gedanken. Irgend etwas, ich ließ mich hängen dafür, irgend etwas stimmte an der Sache nicht! Ich stand noch neben der Säule und beobachtete den Oberstaatsanwalt und den Kriminalkommissar durch die gläserne Tür hindurch. Sie unterhielten sich auf der Straße, daß heißt, der Staatsanwalt sprach, und Schnabel hörte zu. Das dauerte nur kurz. Es sah ganz danach aus, als ob Pohl dem Dicken einen Entschluß mitteilte. Schnabel stand in einer mißmutigen Haltung vor dem Staatsanwalt, den massigen, kahlen Schädel gesenkt. Dann wandte sich Pohl seinem Wagen zu, öffnete die Tür zum Fond und setzte sich hinein. Das Auto fuhr an. Auch Schnabel ging zu seinem Dienstwagen. Die ganze Zeit über hatte ich wieder den Eindruck, daß die beiden keine herzlichen Gefühle verbanden. Nicht einmal die Spur eines Entge161
genkommens! Die waren eher wie Hund und Katze miteinander. Auch ich passierte die gläserne Tür und lief über den Vorplatz zu meinem Wagen. Und während ich durch die Stadt zum Glindweg fuhr, wo ich Lores Telegramm vorzufinden hoffte, überlegte ich, was an Pohls Darstellung nicht stimmte. Der Vater hatte die Tochter in den Zug gesetzt, damit sie weit weg war und den toten Tuyan nicht zu identifizieren brauchte. Mußte sie aber deshalb gleich außer Landes? Konnte sie denn nicht in der Stadt bleiben und sich ruhig verhalten? Zweifellos! Aber Schnabel hatte mir gesagt, Vater Pohl wollte die Tochter aus der Stadt haben, weil man nicht sicher war, wie sie reagieren würde. Niemand könne genau wissen, hatte der Kommissar gesagt, was eine Frau alles anstellt, wenn einmal die Lade mit den Emotionen aufgezogen ist. Daran war etwas! Pohl hatte Lore also in den Zug gesetzt! Das nahm ich hin, weil Schnabel, dem ich vertraute, es bestätigt hatte. Weshalb vertraute ich dem? Nur weil er fettleibig und deshalb gemütlich war? Nein! Schnabel wünschte dem Staatsanwalt die Pest an den Hals, das hatte ich beobachtet. Wenn der also Pohl etwas glaubte, so konnte ich es auch. Lore sei aber, wie Pohl behauptete, nicht einmal ungern gefahren. Die Dinge hätten sie überfordert, und die kurze, aber intensive Verbindung zwischen ihr und mir hätte sie überrollt. Das nahm ich ebenfalls hin, denn auch ich fühlte mich durch die Ereignisse der letzten Tage überrollt. Aber niemals hätte Lore von ihren Empfindungen gesprochen. Das war der Punkt! So vertrauensvoll war ihre Beziehung zu dem Vater nicht. Und genau hier stimmte Pohls Darstellung eben nicht! Wenn Lore ihm aber nichts gesagt hatte, woher wußte er dann überhaupt von uns beiden? Und woher wußte er, daß Lore in jener Nacht bei ihrer Freundin Escherich in der Richardstraße gewesen war? Auch dafür gab es nur eine Erklärung! Die Leute in dem BMW mußten Lore die ganze Zeit über be162
schattet haben, wahrscheinlich schon im Hafen, als sie zu mir auf die Barkasse flüchtete. Ein wahrhaft entzückendes Bild – Lore voran, dann die beiden Gangster in Ofterdingers Auftrag, dann die beiden Beamten in Pohls Auftrag. Als die Ganoven Lore in den Opel zerren wollten, mochten sie sich den Bauch vor Lachen gehalten haben; während unserer Nacht konnten sie im Glindweg geparkt und später in einem Gebüsch gelauert haben, als Lore über die Wiese ritt. So hatten wir wohl unseren ersten gemeinsamen Tag unter den Augen der Staatsanwaltschaft verbracht. Wirklich ein beruhigender Gedanke! Ich parkte den Fiat vor meiner Haustür und sprang in den Treppenflur. Kein Telegramm! Unter der Etagentür fand ich auch keins durchgeschoben. Also nicht – oder noch nicht? Ich ging durch die Wohnung, die mir verödet erschien. In der Küche machte ich mir eine Scheibe Brot und aß sie gleich vor dem Kühlschrank im Stehen. Vielleicht hatte Lore angerufen, während ich unterwegs war? Sehr gut möglich! Ich ging zum Telefon und ließ den Apparat auf Kundendienst schalten, Kennwort Lore. Ach ja, natürlich –! Dann setzte ich mich wieder in den Wagen und fuhr zum Ballindamm, wo ich mich mit dem Kommissar in Fräulein Escherichs Boutique treffen sollte. Ich mußte mich beeilen, wenn ich zur Zeit dort sein wollte, und ich schaffte es, weil ich die Durchgangsstraßen benutzte. Und dann, ich kreuzte gerade den Glockengießerwall bei der Lombardsbrücke, da sah ich sie! Da sah ich Lore!
5. Sie kam aus Fräulein Escherichs Boutique, glitt irgendwie durch die vierreihige, engmaschige Fahrzeugkette auf dem Ballindamm und spazierte nah am Eisengeländer entlang, das den Bürgersteig zur 163
Binnenalster hin absicherte. Ich hupte wie verrückt, ich ließ den Signalgeber gar nicht wieder los. Natürlich hörte sie mich nicht, der Verkehr ist ja um diese Zeit einfach unbeschreiblich. Der Fahrer des vor mir liegenden Wagens drehte sich um und zeigte mir einen Vogel. Er hatte recht. Wir fuhren in der Reihe am Kantstein, und ich konnte ihn gar nicht überholen, weil sie links von uns dicht an dicht fuhren. Und der Mann vor mir konnte nicht beschleunigen, weil wiederum vor ihm andere Wagen lagen und das bis hin zum Jungfernstieg. Ich nahm es dem Mann nicht übel, sondern lachte ihm zu, so sympathisch war er mir. Ich hätte in diesem Augenblick die ganze Welt umarmen mögen. Ich sah Lore noch, aber sie hatte das Ende des Ballindammes gleich erreicht. Es war sinnlos, weiterzufahren, weil ich auf dem Jungfernstieg ohnehin nicht anhalten konnte. Also blinkte ich und suchte nach einer Parklücke auf dem Bürgersteig. Sekunden großer Aufregung, denn ich durfte kaum hoffen, hier eine zu finden. Aber dann kam eine freie Stelle, fast wie ein Wunder erschien es mir, und als ich den Fiat auf den Bürgersteig bringen wollte, würgte ich den Motor ab. Ich schaute nur nach vorn und achtete nicht auf den Bordstein. Ich sah Lore immer noch, erkannte die weißen Jeans und das bedruckte Sporthemd und das blonde Haar, das ihr tief in den Nacken fiel. Nun hupte der Fahrer hinter mir, aber ich drehte mich nicht um, sein Handzeichen kannte ich schon. Ich ließ den Motor wieder an, und irgendwie brachte ich den Fiat schließlich über den Kantstein. Als der Wagen in der Parklücke stand, zitterten meine Hände so heftig, daß sie mehrmals von dem Türgriff abglitten. Aber dann hatte ich auch den Wagen offen und sprang mit einem Satz hinaus. Lore war verschwunden. Ich jagte die hundert oder zweihundert Meter bis zur Einmündung des Jungfernstiegs. Das Herz schlug mir bis zum Hals, aber eigentlich 164
spürte ich nur den beinahe wilden Triumph! Meine Ahnung hatte nicht getrogen! Der Staatsanwalt konnte viel erzählen von einem Nachtzug, in den er Lore gesetzt haben wollte, tief in mir wußte ich die ganze Zeit über, daß sie eben nicht gefahren war. Ich sah Lore nicht, als ich an den Jungfernstieg kam. Ich konnte sie in dem Gewimmel flanierender Menschen einfach nicht entdecken. Aber sie mußte noch auf dieser Seite der Straße sein. Die Ampel am Übergang, bei der ich ankam, hatte gerade auf „Gehen“ geschaltet, und unter den Passanten, die hinübereilten, befand sie sich nicht. Während ich jedoch auf die Kreuzung zuraste, hatte es dort nur die Stopp-Phase gegeben. Sie mußte also irgendwo in der Menge sein. Ich lief weiter und reckte den Kopf empor, um nach ihr Ausschau zu halten. Ich kam in dem Gewühl schlecht voran. Aber ich sah sie wieder! Etwa in der Mitte des Jungfernstiegs führte eine breite Treppe zum Anlegeplatz für die Alsterdampfer hinab. Dort waren nicht so viele Menschen, und man konnte den Platz gut überblicken. Ich sah sie schon von weitem und schrie: „Lore –! Lore –!“ Sie hörte mich nicht. Sie ging über den Platz auf einen der Alsterdampfer zu. Ich holte sie in dem Moment ein, als sie über die Laufplanke zum Schiff wollte. Ich riß sie zu mir herum und brüllte lachend: „Lore, bist du taub?“ Und dann blieb mir jedes weitere Wort im Halse stecken, denn ich starrte in ein fremdes Gesicht! Es war nicht Lore! Die Enttäuschung, in die ich gleichsam hineinfiel, war unbeschreiblich, und sie mußte sich auf meinem Gesicht widerspiegeln, denn das fremde Mädchen lächelte. „Sie haben sich verkannt, nicht wahr?“ „Die Hose und das Hemd …“, stammelte ich. „Beinahe wie eine Uniform“, meinte sie. „Und die Brille!“ „Ja, die auch!“ 165
Natürlich trug sie eine Brille, groß und rund und getönt, aber es waren Sonnengläser. Ich starrte das Mädchen an und wollte es einfach nicht wahrhaben. Sie erwiderte meinen Blick und schien zu fragen, ob das nicht eben doch einer dieser Annäherungsversuche gewesen war. Sie lachte, ein klein wenig spöttisch, aber auch ein klein wenig einladend. Ich hatte prächtige Aussichten, stellte ich fest, immer bei den falschen. „Entschuldigen Sie!“ sagte ich tonlos und wandte mich um. Mit hängenden Schultern schlich ich über den Anlegeplatz zurück und die Treppe zum Jungfernstieg hinauf. Oben erwartete mich Kommissar Schnabel, er stand neben dem Rundbau des Reisebüros und war gar nicht zu übersehen. „Habe Sie wie eine Gazelle über den Jungfernstieg jagen sehen“, meinte er grinsend. „Da mußte ich Ihnen einfach nachgehen. Was gab es denn?“ „Ach, gar nichts Besonderes!“ Plötzlich schämte ich mich. So ging das nicht weiter, ich mußte endlich zur Vernunft kommen. Aber dem empfindsamen Kommissar konnte man nichts vormachen, der hatte viele Antennen, und als wir langsam zum Ballindamm zurückgingen, fragte er: „Sie haben Fräulein Pohl recht gern, wie?“ Recht gern! Da war wieder dieser unverbindlich blöde Ausdruck für alles das, was ich für Lore empfand. Ich antwortete dem Kommissar nicht darauf. „Sie waren bis zu Fräulein Pohls Abreise genau zwei Tage mit ihr zusammen?“ fragte Schnabel. „Anderthalb Tag“, berichtigte ich ihn, „wenn wir schon genau sein wollen.“ „Lieber Freund, Sie hat es aber mächtig erwischt in dieser kurzen Zeit!“ Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, dann sagte ich leise: „Sie ist nicht gefahren!“ „Wer ist nicht gefahren?“ 166
„Lore! Sie ist nicht in Schweden!“ „Mann, Mann –!“ Der Kommissar sah mich mit einem erschöpften Ausdruck an. „Woher nehmen Sie denn diese Weisheit? Sie kommen doch nicht etwa auf die absurde Idee, weil da eben eine lief, die Ihrem Mädchen ähnlich sah?“ „Sie ist nicht gefahren!“ wiederholte ich eigensinnig. „Sie sind total übergeschnappt!“ „So, bin ich das? Ich bin verrückt, ja?“ Ich kriegte den Kommissar am Arm zu fassen, hievte ihn herum und zwang ihn, daß er vor mir stehenblieb. „Dann erklären Sie mir mal was, Schnabel, aber bitte klar und deutlich!“ Er kam nicht dazu, denn das vielstimmige Hupen von Fahrzeugen unterbrach uns. Wir befanden uns mitten auf dem Fußgängerüberweg, der vom Jungfernstieg zum Ballindamm hinüberführt, und die Ampel hatte schon wieder auf „Stopp“ geschaltet. Erschrocken sprangen wir zwischen den anfahrenden Autos hin und her und erreichten schließlich die Straßenseite, auf der Fräulein Escherichs Boutique lag. „Mit Ihnen werde ich es weit bringen, Mann!“ keuchte der Kommissar. „Mit Ihnen komme ich noch glatt unter ein Auto! Da können wir uns dann neben den Türken legen.“ Er ließ mich stehen und ging weiter. In diesem Moment schien er wirklich wütend auf mich zu sein. Aber es hielt nicht an, denn als ich wieder neben ihm war, fragte er: „Was sollte denn das Theater eben?“ „Mir ist etwas eingefallen.“ „Und was?“ fragte er mürrisch. „Staatsanwalt Pohl holte seine Tochter an jenem Abend aus der Richardstraße ab, nicht wahr?“ „Ja, ja, das wissen wir!“ „Er brachte sie zum Bahnhof und setzte sie in den Nachtzug nach Kopenhagen?“ „Ja!“ 167
„Er tat es, damit sie den Toten Tuyan nicht zu identifizieren brauchte!“ „Richtig!“ „Den toten Tuyan“, wiederholte ich. „Ja, ja, weiter!“ „Er kam genau eine Stunde, nachdem ich Lore bei ihrer Freundin abgeliefert hatte, in der Richardstraße an.“ „Wieso eine Stunde später?“ „Die Zeit liegt fest durch den Telefonanruf. Fräulein Escherich sagte mir, er sei genau eine Stunde nach Lores Eintreffen bei ihr gekommen.“ „Und weiter? Worauf wollen Sie hinaus?“ Auf einmal lag ein gespannter Ton in der Stimme des Kommissars. „Zu diesem Zeitpunkt saß ich mit Tuyan im ‚Fleeterich‘, und der Türke lebte noch. Die Notwendigkeit einer Identifizierung bestand also überhaupt nicht!“ Jetzt war es Schnabel, der stehenblieb und mich überrascht ansah. Ich spürte, daß ich den Kommissar endlich mal geschafft hatte. „Sie sind pfiffig, Herr Ahrens“, sagte er schließlich. Dann wandte er sich ab und schaute auf die nicht abreißende Kette der in Viererreihen fahrenden Autos auf dem Ballindamm. Eine ganze Weile lang! Starrte nur so vor sich hin. Dann ging er weiter. Mich ließ er einfach stehen, so nachdenklich schien er. Wir kamen an Fräulein Escherichs Boutique, warfen einen Blick auf die Auslagen in den beiden Schaufenstern und gingen hinein. In dem Laden befand sich zur Zeit kein Kunde, nur Fräulein Escherich stand inmitten ihrer exklusiven Modetorheiten. Sie hatte ein starkes Make-up, wahrscheinlich wollte sie etwas gegen die Schatten unter den Augen tun, die ihr die letzte Nacht eingebracht hatte. „Gut, daß Sie nicht zehn Minuten früher gekommen sind“, sagte sie. Ich blickte sie fragend an. „Eben war eine Kundin hier“, fuhr sie fort, „und als die eintrat, glaubte ich …“ 168
„Ich habe das Mädchen auch gesehen“, unterbrach ich sie, „ich bin ihm sogar nachgelaufen.“ „Aber so etwas von Ähnlichkeit auf den ersten Blick!“ Ich war also doch nicht total übergeschnappt, wenn auch Fräulein Escherich dieses Mädchen mit Lore verwechselt hatte. Aber natürlich konnte mich das wenig trösten. Ich machte den Kommissar mit Gisela bekannt, und Schnabel befragte sie über die Vorgänge jener Nacht, als Lore aus der Richardstraße abgeholt wurde. Er ließ sich das Telefongespräch schildern, bat sie um eine möglichst genaue Beschreibung der beiden Männer. Er fragte auch nach dem Ausweis, den einer der beiden vorzeigte, ob sie sich den genau angeschaut hatte. Natürlich nicht, wie? Wer macht das schon, wenn ein Beamter vor einem steht. Und das Auto am Straßenrand, das hatte sie gesehen, ja? Während der Kommissar Fräulein Escherich ausfragte, wanderte er durch den Laden, nahm bald diesen, bald jenen Gegenstand zur Hand und ließ ihn durch seine Wurstfinger gleiten. Besonders auf dem Zeitpunkt des Telefonanrufes ritt er herum. Wieso eine Stunde später, wollte er wissen. Nun, sie hatte gerade die Brucknerplatte aufgelegt, als Lore unten klingelte, die Platte lief weiter, und als sie heraufkamen, hörten sie das Konzert zu Ende. Nicht lange danach läutete das Telefon. Deshalb eine Stunde, nicht auf die Minute zwar, aber keineswegs länger als eine Stunde. Schnabel war auf seiner Wanderung durch den Laden zu Fräulein Escherich zurückgekommen. Er sah sie forschend an. „Sie brachten also Ihre Freundin hinunter. Da waren zwei freundliche Herren, einer hielt den Ausweis hoch, den Sie zwar sahen, aber doch nicht so genau, und dann ging Fräulein Pohl mit den beiden zum Wagen am Straßenrand. Begleiteten Sie nun Ihre Freundin zu dem Auto?“ „Nein, ich blieb an der Tür stehen. Ich hatte nichts übergezogen, und mich fröstelte.“ 169
„Aber den Wagen sahen Sie?“ „Ja, natürlich!“ „Deutlich?“ „Na ja, er stand nicht gerade unter einer Laterne, aber ich sah ihn, ein BMW!“ „Konnten Sie erkennen, ob noch jemand in dem Auto saß?“ „Nein!“ „Und Fräulein Pohl, als sie einstieg? Wie benahm sie sich?“ Fräulein Escherich sah den Kommissar fragend an, sie begriff nicht, worauf der hinauswollte. „Wie sollte sie sich denn benehmen? Sie stieg eben ein.“ „Zuckte sie vielleicht zurück, als ob sie Überraschendes in dem BMW sah, etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte? Wandte sie sich noch einmal um nach Ihnen?“ „Nein, nichts dergleichen …“ Gisela stockte. Beunruhigt blickte sie uns an, aber wir sagten beide nichts, und so raffte sie sich schließlich auf. „Was soll das? Was sollen diese Fragen, Herr Kommissar?“ „Wir haben Veranlassung zu der Annahme, daß Fräulein Pohls Vater in dem BMW gesessen hat.“ „Ach!“ machte Fräulein Escherich. Das war alles. „Halten Sie es für wahrscheinlich?“ fragte Schnabel. Und etwas zögernd von Fräulein Escherich: „Eigentlich ein bißchen komisch, das muß ich schon sagen.“ „Wieso?“ „Nun, wenn Herr Pohl in dem Auto gesessen hätte, da wäre er doch wohl hervorgekommen und hätte mir einen guten Abend gewünscht, nicht wahr? Zumindest aber hätte er doch wohl die Scheibe heruntergedreht und mir zugewinkt.“ „Vielleicht hatte er schlechte Laune, vielleicht hatte er den Kopf mit anderen Dingen voll, so etwas gibt es ja manchmal.“ 170
„Möglich …“, meinte Fräulein Escherich unschlüssig. „Sie kennen aber Herrn Pohl ganz gut, nicht wahr?“ fragte der Kommissar. Gisela lächelte. „Lore und ich sind Schulfreundinnen, Herr Kommissar, natürlich kenne ich auch ihre Eltern.“ „Lores Mutter ist tot“, warf ich ein. „Nun, dann die Stiefmutter eben, die zweite Frau Pohl, die kenne ich so gut wie den Vater. Schließlich verkehre ich ja in dem Haus.“ Schnabel fragte: „Halten Sie es für denkbar, daß Fräulein Pohl in den Wagen einstieg, nachdem sie ihren Vater drinnen hat sitzen sehen?“ „Warum denn nicht?“ „Unmöglich!“ meldete ich mich erneut zu Wort. Die beiden wandten sich mir zu, Gisela überrascht und der Kommissar mit dem verdammten ironischen Grinsen auf seinem Gesicht. „Das ist ganz ausgeschlossen! Lore und ihr Vater sind sich seit der Studentenzeit spinnefeind.“ Gisela meinte gelassen: „Aber er bleibt doch trotzdem Ihr Vater, nicht wahr?“ Wieder zog ganz schemenhaft ein Verdacht gegen Fräulein Escherich durch meinen Hinterkopf. Ich konnte ihn nicht begründen, aber er war da. Genau wie an jenem Morgen, als ich nach Lores Verschwinden zur Escherich kam und sie so merkwürdig gelassen reagierte. Und noch etwas wurde mir plötzlich bewußt. Gisela Escherich hatte eine in Jahren gewachsene Beziehung zu Lore. Die gab jeder ihrer Äußerungen von vornherein Gewicht. Und mit was konnte ich aufwarten? Mit zwei hektisch überdrehten Tagen! Das war alles! Ich beurteilte Lore lediglich mit meinem Gefühl, nicht mit dem Verstand. Diese Erkenntnis gab mir einen Stich, der schmerzte. Hinter uns ertönte das sanfte Bimmeln der Ladenglocke, drei Mädchen kamen in das Geschäft. „Sehen Sie 171
sich nur um inzwischen“, sagte Fräulein Escherich zu ihnen. Sie führte uns in einen Nebenraum, der durch einen Vorhang aus bunten Plastkugeln abgetrennt war. „Setzen Sie sich, bin gleich wieder da. Möchten Sie einen Kaffee?“ Und ohne unsere Antwort abzuwarten, stellte sie einen Wasserkessel auf die Heizplatte und verschwand durch den Kugelvorhang zurück in den Laden. Schnabel zwängte sich auf einen Stuhl zwischen Wand und Schreibtisch und sah auffordernd zu mir her, mich ebenfalls zu setzen und ihm nicht die Ruhe zu nehmen. Aber ich konnte nicht. „Sie ist entführt worden!“ sagte ich. Schnabel schaute mich eine Weile lang schweigend an, dann schüttelte er den Kopf. „Wenn Pohl in dem Wagen gesessen hätte, wäre sie nicht eingestiegen. Jedenfalls nicht so ohne weiteres. So unbeschwert war Lores Beziehung zu ihrem Vater nicht.“ „Sie haben gehört, was Fräulein Escherich meinte“, gab Schnabel zu bedenken. „Ich will mich mal an das halten, was Lore mir selbst erzählt hat darüber!“ „Können Sie sich nicht vorstellen, daß Fräulein Pohl da ein bißchen übertrieben hat? In Gefühlsdingen übertreibt man leicht ein bißchen, nicht wahr?“ Ich antwortete nicht. „Sie gehen eben davon aus, daß Fräulein Pohl Ihnen die reine Wahrheit gesagt hat!“ Der Kommissar lächelte freundlich. Ja, ich war davon überzeugt, aber ich war nicht mehr bereit, auch nur noch ein unnützes Wort darüber zu verlieren. Ich wiederholte eigensinnig meine These: „Sie wurde entführt! Und nur einer kommt dafür in Frage: Ofterdinger! Seine Leute hatten das schon im Hafen versucht, und einen Tag später in der Richardstraße ist es ihnen schließlich gelungen.“ 172
„Herr Pohl schildert es anders!“ „Woher wußte der Mann überhaupt, daß seine Tochter bei ihrer Freundin war?“ „Weil er sie bereits seit vielen Tagen durch seine Leute beobachten ließ!“ Also doch! Vorhin, als ich durch die Stadt zum Glindweg fuhr, hatte ich selbst an diese Möglichkeit gedacht. Nun setzte ich mich auch hin und schaute den Kommissar fragend an. Der fuhr fort: „Herr Pohl ahnte, daß ich zumindest mir selbst diese Frage stellen würde, und so gab er mir, als seltenen Vertrauensbeweis sozusagen, den ich hoch zu schätzen weiß, folgende Erklärung: Irgend jemand hatte ihm zugetragen, daß seine Tochter es mit einem Türken trieb.“ Schnabel machte eine Pause, weil er einen Blick von mir auffing. Darauf vollführten seine Wurstfinger eine entschuldigende Geste. „Legen Sie doch nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage, Herr Ahrens!“ Und lächelnd fuhr er fort: „Pohl wußte also, daß seine Tochter mit einem Gastarbeiter befreundet war. Was diese Tatsache in Pöseldorfer Kreisen bedeutet, können wir uns ausmalen. Wenn Pohl mit Lore auch nicht in direktem Kontakt stand, sie blieb doch seine Tochter, wie Fräulein Escherich es vorhin treffend ausdrückte, und der Umgang, den Lore mit dem Türken hatte, fiel also auch auf ihn, den Vater. Also mußte dieser Umgang unterbunden werden. Der Oberstaatsanwalt griff sich zunächst den Tuyan; den zu finden fiel ihm natürlich leichter als seiner Tochter. Er bot dem Türken Geld an, und der nahm es. Da hätten wir dann auch die Erklärung, wieso Tuyan im ‚Fleeterich‘ mit Hundertmarkscheinen um sich werfen konnte. Pohl allerdings hatte es so nicht gemeint. Das Geld sollte eine Art Abfindung dafür sein, daß Tuyan nicht mehr zu Lore ging. Das tat der auch nicht. Aber er kehrte auch nicht, wie abgesprochen, in die Türkei zurück. Statt dessen ging er 173
in die Gastarbeiterkneipe und spielte sich vor seinen Landsleuten auf, die dort ihr Bier trinken. Wahrscheinlich dachte Tuyan, wo einmal Geld floß, da fließt auch mehr. Hier ist eine Kuh, die hat reichlich Milch, die kann man melken. Pohl aber gab ihm kein Geld mehr. Und weil er nun fürchten mußte, daß Tuyan sich erneut mit Lore in Verbindung setzen würde, ließ er seine Tochter beobachten. Das konnte aber auch nicht dauernd so gehen. Pohl wartete also auf eine Gelegenheit, um mit Lore zu sprechen und sie für eine Weile ins Ausland zu schicken. In der Zwischenzeit würde sich schon eine Möglichkeit ergeben, den Türken in seine Heimat abzuschieben, zur Not mit Hilfe der Ausländerpolizei. Die Gelegenheit, seine Tochter zu treffen, fand sich an jenem Abend in der Richardstraße. Er konnte sie schließlich überreden, nach Schweden zu fahren.“ „Und das hat Ihnen Pohl alles so frank und frei erzählt?“ fragte ich nach einer längeren Pause, in der ich den Kommissar baß erstaunt angesehen hatte. Schnabel lächelte. „Er hat es nach und nach herausgewürgt letzte Nacht, und ich habe ihm dabei zugeschaut!“ „Halten Sie es nicht für merkwürdig, daß Pohl ausgerechnet an jenem Abend mit seiner Tochter sprach und sie ins Ausland schickte, an dem auch Tuyan umkam?“ „Ja, das ist kurios. Das ist einer der Zufälle, auf die man bei unserer Arbeit immer wieder stößt. Und aus diesem Grund erzählte mir Pohl das alles auch nur so ausführlich. Er mußte es tun, weil ich inzwischen mit dem Fall Tuyan befaßt war.“ Wir schwiegen einen Moment und lauschten dem Wasserkessel der leise zu singen begann. Ebenso leise und beinahe nur mir allein stellte ich die Frage: „Und wenn er selbst Tuyan umbringen ließ?“ „Wer?“ „Pohl!“ 174
„Wie zwei alte Latschen!“ „Wie –?“ „Wie zwei alte Latschen passen wir zusammen, Herr Ahrens! Natürlich habe auch ich daran gedacht.“ Der Kommissar lächelte still in sich hinein. „Ja, wirklich! Einen Moment lang habe ich mich in dem Gedanken gesonnt! Aber es ist abwegig, glauben Sie mir! Die Aufklärungsrate in Mordsachen liegt bei über neunzig Prozent; der Oberstaatsanwalt kann die Möglichkeit, mit so etwas durchzukommen, kalkulieren. Nein, er muß andere Wege finden, um seine Probleme zu lösen.“ Wir hörten die melodische Ladenglocke bimmeln, und gleich darauf kam Fräulein Escherich zu uns zurück. Einen Moment lang blieb sie bei dem Kugelvorhang stehen, sah unser dumpfes Hinbrüten und ging schweigend zu dem Wasserkessel. Sie gab körnigen Neskaffee in Tassen, füllte Wasser auf und stellte sie mit Milch und Zucker vor uns hin. Ich starrte auf den dampfenden Kaffee. „Da waren sie also die ganze Zeit über hinter uns her. Ofterdingers Leute in dem Opel und Pohls Beamte mit dem BMW. Und alle aus demselben Grund.“ „Alle dieses Tuyans wegen!“ Das Telefon läutete. Gisela Escherich nahm den Hörer ab, meldete sich und schob den Apparat neben den Dicken. „Für Sie, Herr Kommissar!“ „Entschuldigen Sie bitte“, meinte Schnabel höflich, „aber ich mußte meinen Leuten sagen, wo ich zu finden bin.“ Gisela nickte, dann griff sie nach ihrer Kaffeetasse und setzte sich auf einen Hocker. Für eine Weile war es ziemlich ruhig in dem Büro, denn der Kommissar am Telefon blieb während seines Gesprächs einsilbig. Er beschränkte sich auf Fragen und Antworten, die meist nur aus einem Wort bestanden. Wer sollte daraus schlau werden? Ich auf jeden Fall nicht. Dann legte Schnabel 175
den Hörer auf, schob mit der einen Hand den Apparat fort und zog mit der anderen die Tasse an sich heran. Ich sah ihn fragend an, aber er sagte nichts. So pusteten wir schweigend über unseren Kaffee und tranken in kleinen Schlucken. Dumpfes, brütendes Schweigen! Dann endlich hatte Schnabel die Tasse leer. Ohne ein Geräusch stellte er sie ab, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah uns an. Er sagte: „Keiner der Herren in der Staatsanwaltschaft fährt einen BMW! Weder im Dienst noch privat.“
6. „Das ist der Beweis!“ brachte ich hervor. „Beweis wofür?“ „Lore wurde nicht von ihrem Vater abgeholt!“ Ich umschrieb das Wort Entführung, weil ich mich scheute, es auszusprechen. Ich wagte es ja kaum zu denken. Schnabel schüttelte den Kopf. „Dafür ist das noch kein Beweis, Herr Ahrens! Es beweist höchstens, daß Herr Pohl in seiner Darstellung, er habe eigene Leute beauftragt, nicht ganz bei der Wahrheit geblieben ist.“ „Wen sollte er denn sonst beauftragt haben?“ „Einen Privatdetektiv vielleicht?“ Ich brachte es zu einem schwachen Grinsen, das war alles. „Mal im Ernst, Herr Ahrens, davon gibt es einige in der Stadt, ich kenne sogar selbst einen, oder besser: Ich kannte ihn –“ Und mit einem versonnenen Lächeln, irgendeiner Vergangenheit zugedacht: „War gar kein schlechter Mann, vor Jahren jedenfalls.“ „Dann rufen Sie doch mal an bei dem!“ Schnabel schielte zwar zum Telefon, aber dabei beließ er es. „An diesen Privatdetektiv glauben Sie doch selbst nicht“, stichelte ich. 176
„Ich halte es sogar für wahrscheinlich. Deshalb habe ich mich ja auch erkundigt, welche Wagen in der Staatsanwaltschaft gefahren werden. Im Grunde konnte Pohl gar nicht eigene Leute beauftragen, um seine Tochter auf Schritt und Tritt zu überwachen. Er hätte zu viele ins Vertrauen ziehen müssen. Ihm kam es aber gerade darauf an, daß niemand etwas von der Geschichte zwischen seiner Tochter und dem Türken erfuhr.“ „Und einen Privatdetektiv hätte er ins Vertrauen ziehen können?“ „Natürlich! Diese Leute arbeiten diskret.“ „Ich glaub’s nicht“, sagte ich kopfschüttelnd. „Ich kann einfach nicht daran glauben!“ Dazu sagte der Kommissar nichts. Und ich fragte weiter: „Was wollen Sie denn nun unternehmen?“ „Fragen Sie lieber, was ich unternehmen kann“, seufzte der Dicke. „Nichts nämlich, zumindest nicht viel!“ „Das sagen Sie doch nicht im Ernst!“ schrie ich ihn an. Kommissar Schnabel winkte ab. „Herr Pohl sagte mir vor der Gerichtsmedizin, daß er Tuyans Leiche freigeben wird. Das heißt soviel: Die Akte über den Fall des Türken ist abgeschlossen. Ich bin also gar nicht mehr befugt, in der Sache weiter tätig zu sein. Wir haben noch genau einen Mann daran sitzen, der forscht nach dem Audi 100, der bei dem Zusammenprall mit Tuyan sicherlich leicht beschädigt wurde. Da sich die Fahndung nach dem Fluchtauto und nach der Werkstatt, wo es repariert wurde, praktisch auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt, können vielleicht Sie sich sogar ausrechnen, welchen Erfolg wir damit haben werden. Und nun die Ausländer, die Tuyan aus dem ‚Fleeterich‘ holten. Entweder waren es Seeleute, die dafür im Hafen angeheuert wurden, dann schwimmen sie zu dieser Stunde schon im 177
Ärmelkanal. Waren es aber berufsmäßige Killer, dann wurden sie mit falschen Pässen aus dem Ausland eingeflogen und nach der Tat in die nächst abgehende Maschine gesetzt, und zwar nach jedem beliebigen Punkt, nur nicht nach dem, von wo sie kamen.“ Der Kommissar machte eine Pause und sah uns mit einem erschöpften Ausdruck an. Dann fuhr er fort: „Was aber schließlich meine Abteilung angeht, mein Lieber, so ist die hoffnungslos unterbesetzt. Und mit dieser hoffnungslos unterbesetzten Abteilung habe ich drei Mordsachen am Hals. Das weiß auch Pohl, und so sage ich Ihnen als Fachmann, seine Entscheidung, Tuyans Leiche freizugeben, ist korrekt.“ „Korrekt“, stöhnte ich. „Wo seine Tochter verschwunden ist. Und wo ihr Verschwinden in einer direkten Beziehung zu diesem Fall steht!“ „Ich glaube nicht an Lore Pohls Verschwinden“, entgegnete der Kommissar ruhig. „Ich bin immer noch davon überzeugt, daß sie in Schweden ist. Aber nehmen wir nur mal einen Moment lang an, Sie hätten recht, Ahrens, Lore sei tatsächlich entführt worden. Was sollte er da tun, der Pohl, he? Da hätten sich die Entführer doch längst bei ihm gemeldet. Was sollte er da denn tun? Sie selbst haben mir heute morgen gesagt, wie da vorzugehen ist. Vergessen, wie? Sie sagten, da müsse man die Polizei draußen lassen. Haben Sie doch in Ihren niedlichen Krimis gelesen.“ „Und Sie?“ brüllte ich, rasend vor Wut, weil ich mich so hilflos fühlte. „Und was machen Sie? Fahren Sie jetzt in Ihr Büro und legen Ihre Beine auf die polierte Schreibtischplatte?“ „Vielen Dank für den Kaffee!“ Schnabel sah Fräulein Escherich mit einem eher schüchternen Lächeln an und stand auf. Mich schaute er nicht mehr an, zu mir sagte er bloß: „Na, worauf warten Sie denn? So kommen Sie schon mit, Sie trauriger Troubadour!“ 178
Ich wollte schon hinterher, aber Fräulein Escherich hielt mich auf. Sie griff nach meiner Hand und bat: „Geben Sie mir Nachricht, wenn Sie etwas erfahren, ja? Und wenn Sie Zeit finden, kommen Sie ruhig in der Richardstraße vorbei. Aber ein Anruf würde mich natürlich auch beruhigen.“ Wie mir schien, hielt sie meine Hand länger als nötig. Was sollte denn das? Erst das blonde Mädchen auf dem Jungfernstieg mit dem einladenden Lächeln und nun Fräulein Escherich mit dem warmen Händedruck. Irgendwie hatte ich wohl ganz gute Aussichten, nicht wahr, aber leider immer bei den falschen Frauen!
7. Wir hatten es nicht weit. Nur eben über die Kennedybrücke und am Shellhaus vorbei das Alsterufer hoch. Dann fuhren wir in die Milchstraße und passierten die Magdalenenstraße, in der Gisela Escherich und ich letzte Nacht zwischen der Ofterdinger-Villa und der Pohl-Villa ständig hin und her gependelt waren. Ich hatte angenommen, Schnabel wollte mit mir zu dem Makler, ich hatte wirklich geglaubt, der Kommissar würde aktiv werden, aber weit gefehlt! Er fuhr weiter in Richtung Mittelweg. Er verminderte die Geschwindigkeit und sah sich offensichtlich nach einer Parkmöglichkeit um, die er aber nicht fand. In der Milchstraße, so etwas wie die City von Pöseldorf, verbringen die Anrainer ihre karg bemessene Freizeit. Boutiquen und Antiquitätenläden und Geschäfte des gehobenen Dienstleistungsbereiches reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur, von denen man nicht recht weiß, ob sie alle echt sind. Nach den hier gehandelten Preisen müßten sie es eigentlich sein. Wir waren inzwischen fast am Mittelweg, und Schnabel hatte noch immer keine Lücke gefunden. „Schon mal 179
da drin gewesen?“ fragte er mich, als wir bei „Castell for men“ vorbeikamen. „Nein“, knurrte ich und sah zu dem Friseurgeschäft hin, dessen Schaufenster durch orangefarbene Markisen vor dem Sonnenlicht geschützt waren. „Sollten Sie mal versuchen! Der Haarschnitt kostet zwischen sechzig und hundert Mark.“ „Finden Sie das preiswert?“ „Ist natürlich ein Batzen Geld“, gab der Kommissar zu, „aber zur Kopfmassage erhalten Sie aus der Meisterhand die Seelenmassage gratis hinzu. Der Herr Castell kann besser zuhören als jeder Psychiater, wenn ihm ein Wirtschaftskapitän den Schoß naß weint. Die Leute gehen gern zu ihm, wirklich! Welcher Psychiater schneidet denn nebenher auch noch die Haare?“ Ich achtete kaum auf Schnabels Worte. Wenn der Kommissar nicht mit mir zu Ofterdinger wollte, weshalb kam er dann mit mir hierher? In dieser Gegend war kaum noch etwas echt, nicht einmal die Wohnhäuser aus der Wilhelminischen Zeit. Ein tüchtiger Antiquitätenhändler, dem inzwischen rund vierzigtausend Quadratmeter des Pöseldorfer Bodens gehörte, hatte die Fassaden mit Farbe und Stuck auf viktorianisch umschminken lassen. Im ersten Augenblick glaubte man in London zu sein. Der Kommissar wendete am Mittelweg und lenkte den Wagen auf der anderen Straßenseite zurück. Noch immer kein Parkplatz! Schnabel sah mich grinsend von der Seite an. „Wenn Sie hier eine Eigentumswohnung erstehen wollen, müssen Sie für den Quadratmeter viertausend Mark auf den Tisch legen, wußten Sie das eigentlich schon?“ „Ich habe eine Wohnung“, knurrte ich. Aber der Kommissar ließ sich nicht verdrießen. „Sie brauchen also rund eine halbe Million, um sich in Pöseldorf einzukaufen. In dieser Stadt war es ja schon immer 180
notwendig, die richtige Adresse zu haben. Fragt man nämlich hier einen, wo er wohnt, so fragt man ihn eigentlich schon, wer er ist. Es soll Bedauernswerte gegeben haben, die von ihren Bekannten nicht mehr eingeladen wurden, nur weil sie von hier, vom westlichen Alsterufer, ans östliche umgezogen sind. Das wußten Sie natürlich alles, wie?“ Natürlich wußte ich es. Vor Tagen noch hatte Lore mit mir darüber gesprochen. Sie hatte es ja erlebt, als sie vom Goldbekufer in diese Gegend kam. Um so mehr ging mir Schnabels Geplauder auf die Nerven. „Ich will nicht gerade unhöflich sein, Kommissar“, sagte ich, „aber vielleicht erklären Sie mir, was wir hier zu suchen haben?“ „Ich möchte Ihnen einen Begriff von der Landschaft geben, in der Herr Pohl lebt“, erwiderte Schnabel heiter. „Ja, ja, ich weiß! Er wohnt gleich um die Ecke in der Magdalenenstraße.“ „Richtig! Und in welcher Landschaft leben Sie, Herr Ahrens? Ein paar Wiesen am Elbufer, die sind Ihr eigen? Meine Güte, das ist für diese Leute schon Ausland!“ „Na und?“ „Ich versuche Ihnen begreiflich zu machen, daß der Oberstaatsanwalt niemals mit einer Heirat zwischen Ihnen und Lore einverstanden sein wird, ob er nun zu seiner Tochter einen innigen Kontakt hat oder nicht.“ „Und ich sage Ihnen, Herr Schnabel, daß uns Herrn Pohls Meinung nicht interessiert.“ Darauf erwiderte der Kommissar nichts. Er hielt den Wagen vor dem Durchgang an, wo es zwischen zwei Häusern zur „Pizzeria da Mario“ geht. Aus der Richtung des Lokals kam eben ein junges Paar und ging zu einem Lincoln-Roadster am Straßenrand. Das war eins dieser perfekten Spielzeuge, bei dem auf Knopfdruck einfach alles reagiert, selbst der Außenspiegel und das Auf und Nieder der Seitenfenster. Der Fahrer dieses weißen Traums 181
war höchstens zwanzig, auf seiner Oberlippe sproß ein kräftiger Schnauzer und gab ihm einen Hauch von männlicher Vitalität. Er half dem Mädchen, das mit ihm war, in den Wagen, ging um die Kühlerhaube herum und sprang mit einem Satz über die geschlossene Autotür. Wir hörten den Motor nicht anspringen, wir sahen nur plötzlich den Lincoln davonschnurren; beinahe vom Fleck weg brachte er es auf achtzig. Wieder sah Schnabel mich von der Seite lächelnd an, dann bugsierte er seinen Wagen in die entstandene Parklücke hinein und stellte den Motor ab. „Der Vater dieses Knaben wohnt sicher auch in der Magdalenenstraße, und den Lincoln hat er seinem Sprößling zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Glauben Sie nicht auch, Herr Ahrens, daß Fräulein Pohl diese Art Lebensstil ganz gern hätte?“ „Sie kennen Lore nicht“, erwiderte ich knapp. Der Kommissar nickte. Er zog den Zündschlüssel ab, und wir stiegen aus. Während wir uns durch die Menge auf dem Gehweg drängten, führte Schnabel seinen Gedanken unbeirrt weiter. „Ja, das stimmt, ich habe Lore niemals gesehen. Aber ich kenne den Vater, und den habe ich geradezu studiert. Als Herr Pohl die alte und wenig attraktive Witwe aus Pöseldorf heiratete, hat er was von der kaltschnäuzigen Cleverness gezeigt, die in ihm steckt. Er hätte wohl auch ohne diese Frau Karriere gemacht, er ist ja aus dem Stoff, aber mit ihr ging es leichter. Pohl wird es noch weit bringen, möglicherweise hat er eine größere politische Karriere vor sich. Aber natürlich muß sein Leben blütenrein bleiben, und zu diesem Bereich gehört auch seine Tochter, ob er Umgang hat mir ihr oder nicht. Und hier liegt der Fehler, den er begangen hat. Er hat sie zu früh aus seiner Kontrolle entlassen. Das mag ihm erst bewußt geworden sein, als ihm einer das von ihr und dem Türken gesteckt hat. Da wurde er rührig, und mit der ihm eigenen Sys182
tematik begann er sie überwachen zu lassen. So erfuhr er denn auch von Lores letzter Kaprice mit Ihnen. Dem Oberstaatsanwalt Pohl, lieber Herr Ahrens, bedeuten Sie nicht viel mehr als der Türke, der graduelle Unterschied ist nicht beträchtlich. Hier mußte also schleunigst Abhilfe geschaffen werden. Also sprach er mit ihr und schickte sie nach Schweden.“ Wir schauten schon seit einer Weile auf die Auslage in einem Schaufenster. Eine Truhe war darin umgekippt, und aus ihr ergoß sich Zinngeschirr über blauen Samt. Teller, Krüge, Schraubdosen, Leuchter – alles aus Zinn. Das war in Mode gekommen in letzter Zeit, selbst die Warenhäuser boten es an. Sie ließen es fabrikmäßig herstellen und brachten es zu erschwinglichen Preisen auf den Markt. Die Zinnsachen in diesem Schaufenster jedoch waren über jeden Zweifel erhaben, was ihre Echtheit anlangte. Was wußte ich eigentlich von Lore? Anderthalb Tage waren doch wirklich zuwenig, um einen Menschen kennenzulernen. Und mein Gefühl? Das konnte schließlich täuschen, hatte ich auch schon erlebt. Vielleicht war an Kommissar Schnabels Darstellung doch etwas dran. „Sie glauben also wirklich, daß sie in Schweden ist?“ fragte ich bedrückt. Schnabel nahm meinen Arm und führte mich weiter. „Ich bin davon überzeugt. Wenn Sie sich auf dieser Straße umschauen, finden Sie, daß hier alles seinen Preis hat. Pohl hat seiner Tochter die Taschen voll Geld gesteckt, und da ist sie weggefahren. Da hat sie versprochen, von dem Türken zu lassen und auch von Ihnen, Herr Ahrens. Finden Sie sich damit ab, Sie werden das Mädchen nicht wiedersehen.“ Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher, bis Schnabel plötzlich stehenblieb und in der Kette parkender Autos eine Wagentür öffnete. Der Kommissar machte eine einladende Handbewegung. Diesen Volvo 183
kannte ich nicht, den hatte ich vorher nie gesehen. Da saß einer am Lenker und schaute mich mit ernstem Ausdruck an. Ich wandte mich dem aufmunterndem Lächeln in dem fleischigen Gesicht des Kommissars zu. Fettleibige sind gutmütig, dachte ich wieder, aber sind sie auch ehrlich? Ich glaube, in diesem Augenblick kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß Schnabel ein falsches Spiel trieb. Der Oberstaatsanwalt Pohl hatte Einfluß, und viel hing von dem ab, ob der Fleischhaufen ewig Kommissar blieb oder ob er noch ein wenig klettern würde auf der Stufenleiter zu den oberen Gehaltsklassen. Weshalb sollte Schnabel denn weniger karrierebewußt sein als der Oberstaatsanwalt? Mit Pohl mußte er sich gut stellen. Vielleicht spielten beide mit verteilten Rollen. Der eine beruhigte mich mit der Zusicherung, seine Tochter sei in Schweden, und der andere hielt mich in seiner Nähe, fuhr mit mir in der Gegend herum, forschte meine Gedanken aus und achtete darauf, daß ich nichts Unüberlegtes tat. Denn natürlich war Lore doch entführt worden! Die Darstellung, die mir Schnabel gegeben hatte, stimmte doch hinten und vorn nicht. Dieser kaltrechnende Oberstaatsanwalt, der, wenn auch nicht eigene Leute, so doch einen Privatdetektiv beauftragte, um seine Tochter auf Schritt und Tritt zu überwachen! Der fingierte Telefonanruf, mit dem er seine Tochter von ihrer Freundin fortlocken ließ! Die nächtliche Straße, auf der der Oberstaatsanwalt in einem BMW hockte! Einfach lächerlich! Das stank geradezu nach Hintertreppe. Ich konnte nicht daran glauben. Und der Kriminalkommissar, Fachmann in Sachen Gewalt und Mord, der sollte es? Der sollte an diesen Schwindel glauben? Das konnte er mir doch nicht erzählen. Wieder beugte ich mich nieder und sah durch die Tür in den Volvo und auf den Fahrer vorn. Eine trübe Ah184
nung beschlich mich. Nicht viel anders mochte es ausgesehen haben, als Lore in jener Nacht in den BMW einstieg. Auch dort die gähnende Leere der Rücksitze und ein Mann am Lenker. Und bei der offenen Tür ein zweiter mit lächelndem Gesicht und einladender Geste. Ich sah Schnabel an, und der empfindsame Kommissar, ich wußte es, erriet meine Gedanken. Er lächelte noch immer. „Wollen Sie nicht endlich einsteigen?“ fragte er. Ich zuckte die Achseln. Wenn sie mich ebenfalls entführen wollten, vielleicht dorthin, wo auch Lore war, sollte es mir recht sein. Ich stieg in den Wagen. Schnabel folgte mir ächzend, und mit einiger Mühe bekam er sogar die Tür zu. Der Fahrer beobachtete Schnabels Bemühungen durch den Rückspiegel. Er war noch jung, höchstens Ende Zwanzig. Er tat nichts, startete nicht, fuhr nicht an mit aufheulendem Motor, nichts dergleichen! Also keine Entführung! Er saß nur da und amüsierte sich über Schnabel, den das Einsteigen viel Kraft gekostet hatte. „Da gibt es jetzt solche Kuren“, sagte er grienend. „Du zahlst hundert Mark am Tag und kriegst dafür eine Scheibe Knäckebrot und ein Glas Joghurt.“ Der Kommissar verzog nicht einmal das Gesicht. Noch immer kurzatmig, sagte er: „Vielleicht mache ich die Herren mal miteinander bekannt. Herr Ahrens schlitterte über Lore Pohl in die Geschichte und ist ganz versessen darauf, den Hauptzeugen zu machen.“ Zu mir gerichtet, fuhr er fort: „Der Knabe da vorn, der so viel von Knäckebrot hält, weil er es niemals selber ißt, heißt Sieg und kommt von der Steuerfahndung. Hinter Ofterdinger ist er schon eine Weile her.“ Und wieder zu dem Mann am Steuer: „Na, dann schieß mal los, rede frisch von der Leber weg, wir haben ja eine Menge Zeit bei der Mordkommission.“ „Was willst du denn wissen?“ fragte Herr Sieg. „Die ganze Lebensgeschichte etwa?“ 185
„Alles, und zwar lückenlos!“ Ich blickte überrascht von einem zum anderen, besonders aber auf Schnabel. Noch vor kurzem hatte er mir geschildert, warum er in dem Fall Tuyan nicht mehr tätig sein dürfe, und es hatte ganz danach ausgesehen, als ob er alles auf sich beruhen lassen wollte. Und dann ging er hin und traf sich mit diesem Sieg von der Steuerfahndung. Meine Hoffnung wuchs. „In großen Zügen vielleicht soviel!“ begann Sieg. „Ofterdinger hat Achtklassenschule, danach Kaufmannslehre ohne Abschluß. Verschiedene Beschäftigungen als ungelernter Arbeiter, zuletzt in der Viehmarkthalle. Dann erste Eintragung als Selbständiger, Makler für Kurzzeitjobber.“ „Kurzzeitjobber?“ fragte Schnabel. „Was sind das denn für welche?“ „Leute, die schnell Heu machen wollen“, erklärte Sieg. „Werden in Stoßzeiten in Betriebe geschleust. Am begehrtesten ist der Job hinter der Schreibmaschine, aber du findest sie in allen Berufsgruppen. Da die wenigsten Steuern zahlen, beträgt der Nettolohn soviel wie der Bruttolohn.“ „Also Steuerhinterziehung! Und was macht ihr dagegen?“ „Was können wir da schon groß machen? Wenn wir einen ihrer Makler schnappen, sind nächste Woche zwei neue da. Solange man nur eine Einschreibgebühr zur Gründung einer Maklerfirma braucht und zu Hause ein Telefon und, wenn es hoch kommt, einen Karteikasten, können wir gar nicht viel machen.“ „Und so einer ist der Ofterdinger?“ „War er! Seinen Aufstieg mißt du am besten an den Wohnanschriften. Zunächst Eimsbüttel, dann Sasel und jetzt Pöseldorf. Das Geld für das Grundstück hier, so zwischen zwei und drei Millionen, legte er bar auf den Tisch. Vor Jahren stieg er schon auf Ausländer um, spe186
zialisierte sich auf Türken. Er vermietet sie an Schauerbetriebe im Hafen. Zweihundertfünfzig von denen hat er unter Vertrag.“ „Ist da wirklich so viel Geld drin?“ „Wenn er es irregulär macht, sind Millionen drin.“ „Wenn er Steuern hinterzieht?“ „Genau! Im Grunde ist es eine einfache Rechnung! Nehmen wir an, Ofterdinger beschäftigt neben den zweihundertfünfzig Türken noch weitere zweihundert. Es können mehr sein, aber bleiben wir mal bei den zweihundert. Das wären dann unangemeldete Türken, die mit einem Besuchervisum ins Land gekommen sind. Er dürfte sie also gar nicht beschäftigen, denn um hier zu arbeiten, brauchen die Leute eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis. Vermittelt er sie trotzdem, kann er mit den armen Teufeln machen, was er will. Sie sind rechtlos, moderne Sklaven, wenn du willst. Sie haben keinen Anspruch auf soziale Leistungen, Urlaubsgeld, Krankengeld, Renten und ähnliches. Mucken sie auf, kann er sie von einen Tag auf den anderen feuern, denn einen Kündigungsschutz haben sie auch nicht. Was schließlich die Entlohnung angeht, sieht die nach einem vereinfachten Schema etwa folgendermaßen aus: Für jeden unangemeldeten Gastarbeiter kassiert Ofterdinger von den Schauerfirmen rund zehn Mark die Stunde, gibt aber nur fünf Mark weiter. Da er keine Steuern abführt, gar nicht abführen kann, sind diese fünf Mark pro Mann und Stunde, die er einbehält, sein Reingewinn. Auf die Art kann er täglich zehntausend Mark machen. Im Jahr sind das drei Millionen, und in fünf? Ach, rechne dir es selber aus!“ „Fünfzehn Millionen“, schnaufte der Kommissar. „Steuerfrei!“ „Warum greift ihr nicht ein?“ „Beweise, alter Freund, Beweise! Wir haben Ofterdinger schon länger im Visier. Im letzten Jahr hat er ein 187
Bürohaus in Straßburg gebaut, gut vierzehn Stockwerke hoch. Eines Tages wird er seine Geschäfte von dort weiterführen, über Strohmänner, versteht sich. Der Bau wurde im Frühjahr bezugsfertig. Ich habe ihn mir angesehen. Sehr schick, wirklich, sehr modern! Liegt in der Innenstadt, höllisch teurer Baugrund. Unten hast du Läden – Pelzgeschäft, Juwelier, Snackbar. Darüber die Fassade mit viel Glas und Leichtmetall. Großes Foyer im Erdgeschoß mit Marmor und Grünpflanzen und einen Pförtner in Uniform. Die meisten Etagen hat er bereits vermietet, die bringen in einigen Jahren die Baukosten herein. Die oberste Etage hat er für sich reserviert, so etwas wie ein Penthouse. Da gibt es Büroräume und eine Achtzimmerwohnung nebst Dachgarten und beheizbarem Swimmingpool. Nette Umgebung also! Ja, ich nehme an, daß er eines Tages umziehen wird. Fliegt nämlich der Laden hier auf, sitzt er dort im trocknen. Die EGLänder liefern bei Wirtschaftsvergehen ja nicht aus.“ Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trat eine Frau aus einer Boutique und ging zu einem Alfa Romeo. Sie trug einen himmelblauen Hosenanzug, der paßte wundervoll zum Himmelblau ihrer Augen und zu ihrem halblangen schwarzen Haar. Selbst auf dieser Straße erzielte sie eine gewisse Wirkung, und der Afghane, der blasiert an ihrer Seite schritt, tat es auch. Sie warf die Pakete auf den Rücksitz des Alfa Romeo, der Hund sprang hinterher. Er setzte sich hochaufgerichtet in die Lederpolster und schaute gelangweilt geradeaus. „Frau Ofterdinger!“ erklärte Sieg und machte eine Handbewegung zur anderen Straßenseite. „Hat mal wieder von ihrem Nadelgeld ausgegeben, eine Kleinigkeit nur, sicher nicht mehr als tausend Mark.“ So sah ich Dorothea Dreesen zum ersten Mal. An diesem Mittag ahnte ich nicht, daß ich sie einen Tag später in einer wesentlich intimeren Umgebung wiedersehen und beobachten sollte. 188
„Ofterdinger ist also verheiratet“, meinte Schnabel sachlich. Ich warf ihm einen Blick zu. Der Kommissar schien völlig unbeeindruckt vom Himmelblau und Schwarz dieser Frau. Der Dicke mochte ja empfindsam sein, auf das andere Geschlecht jedoch reagierte er nur schwach. Der Steuerfahnder sagte: „In der Pöseldorfer Schickeria heiratet man nicht, Schnabel, man lebt zusammen! Und auch nicht immer mit derselben. Ofterdinger soll die Frauen wechseln, hört man, wie du die Unterwäsche.“ „Ich wechsle täglich“, brummte der Kommissar. „Sieh mal an“, sagte Sieg witzelnd. „Unser kleiner, dicker Herr Saubermann!“ Der Steuerfahnder legte den Gang ein, löste die Handbremse und fuhr hinter Frau Dreesen her. Wir brauchten nur kurz um die Ecke. Nach dem hektischen Treiben soeben nahmen uns die alten Platanen am Straßenrand in ihre Obhut. Kein Wagen außer unserem auf der Magdalenenstraße, kein Passant; der Alfa Romeo war schon in der Toreinfahrt der Ofterdinger-Villa verschwunden. Als wir langsam an dem Grundstück vorbeischlichen, sahen wir sie den Kiesweg zum Haus hinaufgehen. Der Makler Ofterdinger hatte der Frau von den Paketen abgenommen, und sein freier Arm lag um ihrer Schulter. An der anderen Seite schritt würdig der Afghane. Ein Bild wie aus einer Illustrierten, voller prächtiger Farben und voller Verlogenheit. Herr Sieg stoppte den Volvo am Straßenrand und sah uns fragend an. Der Kommissar schien unentschlossen; er starrte zur Villa hin, die in einiger Entfernung vor uns lag. Nur noch Teile von ihr schimmerten zwischen Bäumen hervor. „Und jetzt?“ fragte Herr Sieg. Ich sagte: „Warum gehen Sie nicht hin und verhaften den Mann? Ofterdinger ließ Tuyan umbringen, und am 189
selben Abend verschwand auch Lore. Selbst ein Kind muß den Zusammenhang sehen!“ „Ach du meine Güte!“ seufzte der Kommissar. „Jetzt kommt er wieder mit der Entführungsgeschichte!“ Und sich an Sieg wendend, fuhr er fort: „Herr Ahrens glaubt nicht, daß Pohl seine Tochter nach Schweden geschickt hat, um sie aus der Schußlinie zu nehmen. Sie ist entführt worden, meint er, und damit nervt er mich schon den ganzen Tag.“ „Und was glaubst du?“ fragte Sieg. Schnabel zuckte die Achseln, als lohne es sich nicht, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Ich wandte mich an den Steuerfahnder. „Ich habe das Buch gesehen“, sagte ich. „Was für ein Buch?“ „So ein kleines rotes. Sah aus wie ein einfaches Notizbuch. Fräulein Pohl und ich waren mal draußen in dem Wohnheim bei den Türken. Ofterdinger zahlte gerade Lohn aus, und ich sah die Listen, in denen die Gastarbeiter das Geld quittierten. Dann war da aber noch dieses rote Buch! Darin wurden nur Namen abgehakt, welche eben, die nicht in den Listen standen.“ Der Steuerfahnder sah mich aufmerksam an, plötzlich schien mir jeder Muskel gespannt in seinem Gesicht. Ich fuhr fort: „Sie haben ihn doch in Verdacht, daß er Millionen mit unangemeldeten Gastarbeitern gemacht hat.“ „Wir sind uns ziemlich sicher.“ „Na, wie schön für Sie! Dieser Tuyan war auf jeden Fall so ein Unangemeldeter.“ „Der ist tot!“ „Ja! Aber Tuyan ist nicht der einzige gewesen. Schauen Sie mal in das Wohnheim, da wimmelt es von Türken!“ „Das weiß ich alles, Herr Ahrens! Dieser Makler ist mir doch in den letzten Monaten richtig ans Herz gewachsen, mit dem beschäftige ich mich mehr als mit 190
meiner Frau. Aber um einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen, muß ich dem Untersuchungsrichter handfeste Beweise auf den Tisch legen. Vermutungen reichen nicht, ein Verdacht tut es nicht. Ebensowenig wie der aufwendige Lebensstil, den Ofterdinger treibt.“ „Ist der Mord an Tuyan kein Beweis?“ „Ja, das wäre einer, wenn man den Makler damit in Verbindung bringen könnte.“ Herr Sieg sah den Kommissar fragend an, aber Schnabel schien gar nicht zuzuhören. Sein abwesender Blick hing an den Baumwipfeln und an dem Dach der Ofterdinger-Villa, das zwischen ihnen hervorlugte. Der Steuerfahnder hob resignierend die Schultern und wandte sich wieder nach vorn. „Die Schauerbetriebe im Hafen“, sagte ich, denn ich wollte einfach nicht aufgeben. „Geschlossen wie die Austern, nicht ein Wort erfahren Sie von denen!“ „Aber wenn dort mehr Leute arbeiten, als über deren Bücher gehen?“ „Nichts geht bei denen über die Bücher! Die Schauerbetriebe geben die Lohngelder pauschal an Ofterdinger ab. Steuern muß der Makler abführen, bevor er den Nettolohn auszahlt. Nein, Herr Ahrens, wenn es so einfach wäre, da hätten wir den Burschen wohl schon.“ „Warum vergessen Sie denn immer wieder das Buch, das ich gesehen habe?“ „Aber das vergesse ich nicht, Herr Ahrens, das trage ich in meinem Herzen.“ Der Steuerfahnder lächelte liebenswürdig, aber hinter seiner Freundlichkeit glaubte ich den Ausdruck einer gequälten Geduld zu sehen, den gleichen übrigens, den ich an dem schweigsamen Kommissar oft beobachtet hatte. Die beiden übten außerordentliche Nachsicht mit mir, und ich ließ noch immer nicht locker. „Können wir nicht ein Protokoll machen?“ schlug ich 191
vor. „Ich mache Ihnen eine Aussage, daß ich dieses Notizbuch gesehen habe bei der Lohnauszahlung im Wohnheim, und Sie protokollieren das alles?“ Herr Sieg seufzte. „Können wir, Herr Ahrens, können wir alles tun! Und bei einer möglichen Gerichtsverhandlung fällt Ihre Aussage dann auch ins Gewicht, etwa so schwer wie eine Briefmarke, die sie auf die Waage legen. Nein, Herr Ahrens, das Buch selbst ist es, das könnte uns ein Stück weiterhelfen. Das sehen Sie doch auch ein, nicht wahr?“ Ich war mit meiner Weisheit am Ende. Ich wußte gar nicht, wie es kam, aber plötzlich öffnete sich die Wagentür, und ich sah mich auf der Straße wieder. Meine Füße liefen in Richtung des Ofterdinger-Grundstücks. Wirklich, ich tat gar nichts dazu, es muß wohl so eine Art innerer Motor gewesen sein.
8. „Wohin –?“ hörte ich den Steuerfahnder hinter mir noch rufen. Und der Kommissar antwortete ihm: „Laß ihn laufen, vielleicht bringt er Bewegung in die Sache.“ Ja, wenn ich das nur könnte! Darum würde ich etwas geben! Lore – dachte ich! Seit ich hinter dem blonden Mädchen auf dem Jungfernstieg hergelaufen war, ließ ich es mir nicht mehr ausreden, sie war nicht in Schweden. In diesem Moment hatte ich das untrügliche Gefühl, daß sie in einem Zimmer dieser Villa gefangengehalten wurde, die nun vor mir lag. Die blieb natürlich der häßliche wilhelminische Bau, aber er wirkte nicht mehr so geheimnisvoll wie letzte Nacht, als wir stundenlang auf der Straße gestanden und hinübergestarrt hatten. Das Sonnenlicht macht ja alles milde. Die Toreinfahrt stand weit offen, und ich schritt hindurch. Der Kiesweg stieg zum Haus hin leicht an. Von der Terrasse führten Stufen zu 192
einem gepflegten Rasen hinab, eine große Fläche von vielleicht vierhundert Quadratmetern. An ihren Rändern standen Büsche, und dahinter erhoben sich hohe Bäume. Der Alfa Romeo parkte noch auf dem Kiesweg, aber sonst sah ich niemand. Das Haus wirkte beinahe so verlassen wie in der Nacht vorher, aber ich wußte ja, daß zumindest Ofterdinger und seine himmelblaue Frau und sein blasierter Afghane drinnen waren. Wer sonst noch? Das war eine entscheidende Frage. Ich dachte an den Mann, dem ich im Hafen das Handgelenk gebrochen hatte. Aber in erster Linie dachte ich natürlich an Lore, und so ging ich weiter. Außerdem saßen auf der Straße die beiden Kriminalisten in ihrem Wagen, die würden schon was unternehmen, wenn ich nicht bald zurückkam. So ein bißchen kam ich mir wie ein Spürhund vor, dem sie Witterung gegeben und an einer langen Leine losgeschickt hatten. Ich schnüffelte also weiter. Am Ende des Kiesweges befand sich eine neugebaute Garage, ein moderner Flachbau mit vier Toren; Platz genug für Ofterdingers weißen Mercedes, den Alfa Romeo und noch weitere Autos. Gehörte auch der BMW, der uns so viele Rätsel aufgab, zu seiner Sammlung? Schön wäre es. dachte ich, mal einen Blick hineinzuwerfen. Aber die Tore sahen sehr verschlossen aus, ich konnte weder Klinken noch Schlösser an ihnen entdecken. Ganz aussichtslos, mitten am Tag daran herumzufummeln. Trotzdem ging ich weiter, meinen Blick starr auf die Tore gerichtet, die näher kamen und mit jedem Schritt an Bedrohlichkeit zu gewinnen schienen. Ich ließ jede Vorsicht außer acht, überlegte gar nicht, daß ich von allen Ecken und Enden des Grundstücks aus beobachtet werden konnte, ich sah nur die Tore dieser blöden Garage vor mir. Und während ich tastend immer weiterging, da geschah es plötzlich! Ohne daß ich etwas dazu tat, schwebten die Tore langsam in die Höhe, völlig lautlos und wie von Geisterhand! 193
Verstört blieb ich stehen, auf einmal hatte ich Bleigewichte an den Füßen, die mich festhielten. Nur mit Mühe kriegte ich meinen Kopf herum, daß ich hinter mich sehen konnte. Mein Blick ging über das Haus und den Rasen bis hin zu den Büschen und Bäumen an seinem Rand. Nichts! Niemand, der mich aufhielt! Dabei mußten sie doch in der Nähe sein. Zumindest Ofterdinger und seine Frau hatte ich zum Haus hinaufgehen sehen. Aber nicht einmal der Hund bellte. Auf eine bedenkliche Weise erschien mir die Szenerie höchst unwirklich. In der Garage, die übrigens mehr als nur vier Autos Platz bot, stand Ofterdingers weißer Mercedes, aber sonst keiner, am allerwenigsten ein BMW. Und dann sah ich natürlich knapp hinter mir die Lichtschranken zu beiden Seiten des Kiesweges, deren Kontakt ich unterbrochen hatte. Ich machte einen Schritt zurück, und die Tore senkten sich wieder herab, ebenso langsam und ohne Geräusch wie vorher. Jetzt kam Bewegung in mich. Mit ein paar Sätzen war ich beim Wohnhaus drüben, und dicht an der Fassade schlich ich zur Rückseite. Dort führten Betonstufen zum Keller hinab. Unten sah ich eine schwere Eisentür mit Gummimanschetten an den Rändern. Auf der Innenseite mußte die Tür oben und unten Handriegel haben, mit denen man sie so dicht heranholen konnte, daß sie geruchsicher abschloß. Früher einmal! Nach dreißig Jahren lag dick der Rost auf ihr, und der Gummi war porös und brüchig geworden. Für einen Moment glaubte ich das Aufundabschwellen von Sirenen zu hören, das Brummen tausender Flugzeuge, das merkwürdig hohl klingende Röhren der Flakgeschütze. Für einen Moment hatte ich diesen widerwärtigen Geschmack von verbranntem Pulver im Mund. Im letzten Krieg wurden diese Türen eingesetzt. Als ob die Schutz geboten hätten. Fünfzigtausend Menschen waren in dieser Stadt verbrannt, aber 194
natürlich nicht hier. In der Magdalenenstraße fiel während der allzulangen Nächte nicht eine einzige Bombe vom Himmel. Ich starrte auf die verrostete Luftschutztür und wußte, daß ich auf diesem Weg nicht ins Haus gelangen würde. Die Rückseite des Grundstücks war sehr verkommen. Grassoden und hohes Unkraut wuchsen auf dem Platz vor der Kellertreppe. Das zog sich hin bis zu wildwachsenden Büschen, durch die sich ein Pfad wand und irgendwo versickerte. Es mußte die Richtung zum Mittelweg sein, der großen Verbindungsstraße zwischen Dammtor und den Bezirken im Norden der Stadt, aber sicher wußte ich es nicht. Nur Geduld! Es dauerte ja nur noch einen Tag, da sollte ich mit diesem Pfad intensiv bekannt werden, an den Dornbüschen rechts und links würden die Fetzen meiner Gesichtshaut zurückbleiben. All dies hielt ich zu diesem Zeitpunkt für ganz unmöglich, und so schenkte ich dem verwilderten Pfad nur einen halben, wenig interessierten Blick. An der Schmalseite des Hauses fand ich endlich den ersten handfesten Hinweis, der mich später auch tatsächlich ein Stück weiterbringen sollte. Ich sah das Fenster mit den Gitterstäben davor. Es lag Hochparterre, vielleicht zwei Meter fünfzig über mir. Wenn sie Lore gegen ihren Willen irgendwo festhielten, so schien mir der Raum mit den vergitterten Fenstern wie geschaffen dafür. War sie dort oben, nur so ganz wenige Meter entfernt von mir? „Lore –“, wollte ich rufen, aber es wurde nur eine Art Gekrächz daraus. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal, diesmal lauter: „Lore!“ Hinter den Gittern geschah nichts. Die Fenster waren verschlossen und die Vorhänge dicht zugezogen. Unterhalb davon gab es einen Sims. Eigentlich müßte ich den zu fassen kriegen, wenn ich Anlauf nahm. Ich ging ein paar Schritte rückwärts und duckte mich. 195
„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Herr Ahrens?“ hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum und sah mich dem Makler Ofterdinger gegenüber. Ich weiß nicht, aus welchem Teil des Gartens er plötzlich auftauchte, Büsche gab es ja reichlich. Wahrscheinlich war er schon die ganze Zeit hinter mir hergeschlichen. Jetzt stand er vor mir, nicht einmal unfreundlich, nur so mit einem kleinen, kopfschüttelnden Lächeln, als ob er sich zum Ernst zwingen müßte. Ich kannte diesen Ausdruck, ich hatte den selbst immer, wenn ich ein paar Dorfjungen auf den Wiesen meines Vaters beim Äpfelklauen erwischte. „Nach was suchen Sie denn?“ fragte er weiter, als ich nicht antwortete. „Lore Pohl!“ erwiderte ich endlich und sah dabei zu dem vergitterten Fenster hinauf, an dem ich schon ziemlich nah dran gewesen war. Er folgte meinem Blick, und dann begann er zu lachen. „Menschenskind, Ahrens, Sie kommen auf Ideen“, schluchzte er. Er zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Und etwas ruhiger werdend, fuhr er fort: „Ich habe wirklich nichts gegen junge Mädchen, aber doch nicht bei mir zu Haus! Meine Frau, was glauben Sie denn, was die mir erzählen würde? Und dann mag die Pohl ja ganz sexy sein, aber mein Fall ist sie nicht. Diese Brille, Ahrens, die würde mich stören, wenn ich die Kleine im Arm hätte. Und wenn sie die abnimmt, weiß man doch auch nicht recht, in welches Auge sie einem gerade guckt.“ Ich trat nah an ihn heran und knurrte: „Wo ist sie?“ „Lore Pohl?“ „Ja!“ „Sie ist in Schweden, Ahrens. In Schweden! Gehen Sie mal zu Oberstaatsanwalt Pohl, der wird’s Ihnen sagen.“ „Er hat es mir schon gesagt!“ „Na also, was wollen Sie da bei mir? Ich mußte den 196
Türken identifizieren, obwohl die Pohl das wirklich besser hätte besorgen können. Schließlich hat sie doch mit dem Ausländer im Bett gelegen, während ich mit dem Burschen nur zweimal in meinem Büro gesprochen habe. Und trotzdem mußte ich es, weil das Mädchen in Schweden ist und wegen dieser Lappalie nicht extra zurückkommen sollte.“ „Und da haben Sie ihn eben identifiziert.“ „Ja.“ „Unter Nachbarn hilft man sich ja hin und wieder aus.“ „Schon mal was von Staatsbürgerpflichten gehört?“ Wir standen uns gegenüber und ließen uns nicht eine Sekunde aus den Augen. Jetzt kam ich noch einen Schritt näher an ihn heran. „Sie haben Tuyan umbringen lassen“, flüsterte ich beinahe. Darauf sagte er nichts, nur der Ausdruck in seinen Augen war fischiger denn je. Ich fuhr fort: „Und nachdem Ihre Leute den Türken unter das Auto geschmissen hatten, sind sie zur Escherich gefahren und haben Lore von dort weggelockt.“ Noch immer keine Reaktion von dem Mann. Ich schnippte mit meinen Fingern vor seinem Gesicht, ohne ihn damit aus der Ruhe zu bringen. „Wenn dem Mädchen auch nur soviel passiert, Ofterdinger, kriegst du Schwierigkeiten!“ „Was für Schwierigkeiten?“ fragte er gelassen. „Ich schlag dich tot, ich mach’ dich einfach hin!“ Plötzlich hatte ich den Ton zu fassen, den ich schon auf der Straße gelernt hatte und den wir im Hafen anwenden, wenn wir unter uns sind. Den kannte Ofterdinger aber auch, der machte ihn richtig munter. „Glaubst du, ich scheiß’ mir in die Hosen vor Angst? Vor dir doch nicht, du Stint! Früher hab’ ich Schweinehälften getragen. In der Viehmarkthalle, als sie da noch keine Transportbänder hatten. Stücke von anderthalb Zentner, dreihundert davon am Tag. Seit der Zeit hab’ 197
ich nie wieder Angst gehabt.“ Er machte eine Pause, in der er schnaufend Luft holte. Auch seine Augen schauten nicht mehr fischig, in die war direkt mal Leben gekommen. Er zischte: „Und jetzt ’raus hier, du Affe! Weg von meinem Grundstück!“ Aber ich ging nicht. Seine Hände kamen vor und griffen nach den Seiten meines offenstehenden Jacketts. Die Hände waren hart und knochig, alle Achtung, das spürte ich durch den Stoff hindurch. Er wollte mich nach hinten wegdrücken, aber das gelang nicht, ich stand nämlich ganz gut. Halb im Schritt, das rechte Bein ein wenig nach vorn, und meine Füße hatten inzwischen Wurzeln geschlagen. Meine Hände mußten von unten zwischen seine kommen und sie seitlich wegschlagen, damit war der Weg frei, und ich würde seinen Hals greifen. Meine Hände gingen hoch, aber seine gingen mit und sausten in einer blitzschnellen, kreisförmigen Bewegung von oben herab auf meine Arme. Plötzlich hingen die zu beiden Seiten des Körpers schlaff herab und wurden von einer Sekunde zur anderen taub und gefühllos. In den nächsten Stunden würde ich in ihnen nicht mal eine Kaffeetasse halten können, soviel war sicher. Dann faßte er meine Gürtelschnalle zwischen Hosenbund und Hemd, drehte die Faust, daß der Gürtel mich einzwängte und ich keine Luft mehr bekam. Dann hob er mich hoch und hielt mich am ausgestreckten Arm von sich. Immerhin bin ich über ein Meter achtzig, und ich wiege hundertneunzig Pfund, aber in seinem Gesicht lag keine Anstrengung, eher ein belustigtes Lächeln, so als sei es ganz angenehm, sich mal ein bißchen körperlich auszuarbeiten. Ich schwebte an der Rückseite des Hauses entlang, kam über den Treppenschacht zum Keller und wurde ganz sachte über ihn fortbewegt. In diesen Augenblicken glaubte ich dem Mann jede einzelne Schweinehälfte, die 198
er in seinem Leben getragen hatte. Am Absatz der Treppe ließ er mich langsam herunter, und der Druck gegen meinen Bauch löste sich. Ich bekam wieder Luft. Genau einmal, und bevor ich mit der auch nur das geringste anzufangen wußte, hatte ich seinen Haken in der Leber sitzen. Ich torkelte gegen die Hauswand und rutschte an ihr zu Boden. Irgendein Gurgeln kam aus meiner Kehle, das war alles. Als ich vorsichtig die Augen aufmachte, sah ich sein Gesicht nah vor meinem. Er sagte beinahe belustigt: „Ich hab’ deine Freundin nicht von dieser Escherich, oder wie die heißt, abgeholt. Merk dir das, du Süßwasserkapitän! Und der Türke ist unter das Auto gefallen, weil er total besoffen war, das hat die Polizei ermittelt. Und einen Audi hab’ ich nie besessen.“ „Auch keinen BMW?“ keuchte ich. „Du hast doch vorhin in die Garage geguckt. Hast du da einen gesehen? Also keine Entführung! Und auch kein Mord! Ich will nicht, daß du durch die Gegend läufst und solche Dinge über mich sagst. Man kommt zu schnell ins Gerede. Hast du mich verstanden?“ Mit mir war nicht viel los. Ich bekam gerade so viel Luft, daß ich flach einatmen konnte. Und dann lagen rechts und links ein paar Arme neben mir, von denen ich nicht genau wußte, wem die überhaupt gehörten. Ich antwortete nicht. „Merk dir das, Seemann!“ sagte Ofterdingers Mund noch immer dicht über mir. „Du weißt doch, wo dieser Türke jetzt ist, nicht wahr?“ Ja, das wußte ich! Der lag ganz steifgefroren in seinem Kältefach. Mit Ofterdinger kam ich so nicht weiter. Konnte ich das überhaupt? So ein Anfänger wie ich schaffte das doch gar nicht. Sein Motiv, dachte ich, während ich in sein Gesicht stierte. Weshalb ließ er Tuyan umbringen? Und weshalb zwang ihn der Mord an dem Türken, Lore zu entführen? Weshalb? Da lag der Schlüs199
sel! Das müßte man herausfinden. Und dann zurückkommen! Ja, genau das, Ofterdinger, ich würde zurückkommen! Das dachte ich in diesem Augenblick und schloß die Augen.
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Die Nacht, 0 Uhr 12 Ich hatte mein Versprechen gehalten und war in die Magdalenenstraße zurückgekehrt. Das glaubte ich einfach meiner Selbstachtung schuldig zu sein. Da gab es ja in dieser Zeit ein paar Situationen, in denen ich mich unglaublich dumm angestellt hatte. Ofterdinger konnte mich zusammenschlagen, ebenso einer seiner Leute. Da war ich wohl nicht der gestandene Kerl, wie man ihn sich immer wünscht. Und vielleicht wirft mein Versagen nicht nur ein schlechtes Bild auf mich, sondern auch auf meine Leute im Hafen. Und dabei sind die Kuddels doch so stolz darauf, mit Elbwasser getauft zu sein, und zwar mit der dreckigen Brühe aus dem Hafenbecken. Aber wenn man ein Bild macht von einer Geschichte, dann soll man daran nicht herummalen, glaube ich, man soll alles zeigen, auch die Partien im Schatten. Und so gebe ich zu, daß ich Angst hatte, als ich in die OfterdingerVilla einstieg, ich schäme mich deswegen nicht. Ich halte wenig von Menschen ohne Furcht, die haben meist keine große Vorstellungskraft. Es kommt wohl auch nicht so sehr auf die Angst selbst an als vielmehr auf ihr Überwinden. Ja, man muß sich selbst überwinden können. Das ist sicher ein ganz entscheidender Punkt! Ich kam also in das Haus an der Magdalenenstraße und traf dort noch einmal auf Ofterdinger. Zu diesem Zeitpunkt wußten wir schon, daß er den Türken bei der Michaeliskirche tatsächlich ermorden ließ. Kommissar Schnabel kannte zwar noch nicht den Fahrer des Audi 100, auch die Killer, die den armen Teufel aus dem „Fleeterich“ herausholten, waren nicht gefunden, aber wir wußten inzwischen, warum der Mord an dem Mann für Ofterdinger notwendig wurde. Wir kannten endlich sein Motiv! Die Schlußfolgerungen daraus ergaben sich wie von selbst. Ein Stein kam zum anderen wie bei einem Mosaik. 201
Und dann noch etwas, das der Steuerfahnder Sieg entdeckt hatte! Da war eine Verbindung zwischen dem Makler und dem Oberstaatsanwalt, beide steckten unter einer Decke. Ein ungeheuerlicher, beinahe grotesker Vorgang! Aber genau hier begannen für Schnabel die Schwierigkeiten. Es war einfach zeitlich nicht möglich, so schnell einen Haftbefehl zu bekommen. Pohl würde sich wohl kaum darum kümmern, also mußte Schnabel zum Generalstaatsanwalt, und den konnte er vor morgen früh nicht erreichen. Aus diesem Grund warteten die Beamten vor der Villa in der Magdalenenstraße und dachten, sie ließen Ofterdinger damit nicht aus den Augen. Ich hatte das ja auch geglaubt, ehe ich durch den hinteren Teil des Gartens geschleift und auf dem Mittelweg in einen BMW gepackt wurde. Natürlich in einen BMW! In genau den, mit dem sie auch Lore abgeholt hatten. Inzwischen lag der Mittelweg weit hinter uns, wir fuhren durch nächtliche Straßen im Norden der Stadt. Ich war wieder so weit klar im Kopf, daß ich mich orientieren konnte. Der Mann neben mir am Lenker trieb den Wagen durch Winterhude, meine Gegend also. Gerade kreuzten wir die Semperstraße, und für einen Moment dachte ich, er wollte mit mir in meine Wohnung, die nur eine Querstraße weiter lag. Aber er preschte die Barmbeker Straße hinunter auf den Osterbekkanal zu. Und dann fiel mir plötzlich etwas ein! Denselben Weg hatten Lore und ich vor ein paar Tagen genommen, als wir von Gisela Escherich kamen und die beiden Verbrecher hinter uns abhängen mußten. Es war nur die entgegengesetzte Richtung, diesmal zur Richardstraße hin. Was wollte der Mann mit mir bei der Escherich? Und weshalb reiste er über den Norden der Stadt? Im Süden, um die Alster herum, hatte er es doch näher, da gab es die durchgehenden Verbindungsstraßen. Aber natürlich waren die belebt, selbst noch zu dieser nachtschlafenden 202
Zeit. Und man wußte nie, was einem begegnete auf einer Fahrt wie dieser, eine Panne vielleicht, ein Unfall? Und dann kamen sie zum Wagen und sahen einen neben dem Fahrer sitzen mit Handschellen an den Gelenken. Ja, das hatten sie noch schnell besorgt, als ich außer Gefecht in der Ofterdinger-Villa lag, da hatten sie mir die Armreifen drangemacht, wie sie eigentlich nur die Polizei benutzte, und mit einem zweiten Paar dieser Dinger hatte mich der Fahrer am Armaturenbrett angeschlossen. So saß ich leicht nach vorn geneigt und konnte mich kaum bewegen. Ich starrte auf die Handschellen hinab und begriff das alles nicht, so absurd erschien es mir. Hatte Ofterdinger das wirklich nötig, diese ganze Kette von Verbrechen? Mußte er so handeln? Ich bin wohl doch ein eher einfacher Mensch, auch ehrlich, wenn man so will, ich klau’ nicht mal im Supermarkt. So fällt es mir natürlich schwer, den Ideen eines Verbrechers zu folgen. Was geht vor in so einem Menschen? Ist es so, daß die Weichen ganz am Anfang gestellt werden? Ja, so ähnlich mochte es sein. Vor der ersten Tat kann er noch heraus aus dem Geschäft, da hat er noch freie Hand. Was dann kommt, geschieht aus einer Art von Zwang, wie manchmal beim Schach, wo man auch Zug um Zug setzen muß, wenn man nicht aufgeben will. Und wer will das schon, solange er hofft, aus einer Geschichte heil herauszukommen. Ofterdingers Weichen wurden gestellt, als er die Sache mit den unangemeldeten Gastarbeitern anfing. Die Steuerhinterziehung ging in die Millionen, und wenn die aufflog, war er ein toter Mann. Da sollte schon lieber der Türke daran glauben. Und als dieser Mord geschehen war, blieb ihm nichts weiter übrig, als Lore entführen zu lassen. Und als ich nach ihr suchte und einfach keine Ruhe gab, mußte er mich ausschalten. Deshalb saß ich jetzt in diesem BMW, und der Wahnsinnsmensch neben mir raste durch die halbe Stadt zu Gisela Escherichs 203
Wohnung. Ja, mit dem Türken, den wir überfahren bei der Michaeliskirche fanden, hatte die Geschichte für uns erst richtig angefangen. Dieser Türke lag inzwischen schon auf dem Friedhof, und ich war dabei, als sie ihn in die Grube schickten.
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Der fünfte Tag 1. Ohlsdorf ist eine richtige Stadt mit asphaltierten Straßen und Gehwegen. Es hat eine eigene Wasser- und Stromversorgung, und es besitzt sogar einen eigenen Busverkehr im Liniendienst. Aber Ohlsdorf ist natürlich auch eine sehr stille Stadt, diese Stadt der Toten. Die Beerdigung von Osman Tuyan war eine einfache, schmucklose Angelegenheit; ohne Geleit und Priester und ohne Kränze. Halt – doch nicht so ganz ohne Blumen! Als wir durch den Haupteingang kamen, ließ Schnabel halten, stieg aus dem Volvo und holte von einem Stand einen Strauß schlichter Sommerblumen. Den drückte er mir beim Grab wortlos in die Hand, und damit war die Reihe an mir. Also trat ich an die Grube und warf ihn auf den Sarg aus rohen Fichtenbrettern. Den hatten vier von der Friedhofsverwaltung ohne viele Fisimatenten hinabgelassen. Sie hatten die Gurte herausgezogen und zusammengelegt, das letztere aber schon im Gehen, da befanden sie sich bereits auf dem Rückmarsch. Ich empfand nicht viel, als ich die Blumen hinabwarf. Das ist ja gar nicht wahr, daß einem so viel durch den Kopf geht, wenn man vor so einer Grube steht. Er tat mir vielleicht ein bißchen leid, dieser Tuyan, der mit vielen Hoffnungen hergekommen war. Ja, so etwas wie Mitleid fühlte ich wohl, denn obwohl ich ihn nur einmal sah, etwas ganz Bestimmtes hatte uns eben doch miteinander verbunden. Dann ging ich einige Schritte zurück, und Herr Mürün von der türkischen Arbeiterwohlfahrt trat an meinen Platz. Auch er starrte auf den Sarg aus rohen Fichtenbrettern. Ich möchte bezweifeln, daß er dabei viel mehr empfand als ich. Vielleicht sprach er ein kurzes Gebet, aber ich glaube nicht einmal das, ich sah jeden205
falls nicht, daß er die Lippen bewegte. Er starrte nur einfach hinunter in die Grube. Darüber vergingen eine oder zwei Minuten. Und dann begann Herr Mürün plötzlich doch zu reden, aber er schaute uns nicht an dabei. „Meine Leute kommen wirklich gern in die Bundesrepublik. In der Heimat warten ständig so etwa achthunderttausend Menschen auf die Vermittlung an einen deutschen Arbeitsplatz. Jede Woche oder alle vierzehn Tage, je nachdem, geht ein langer Zug mit Arbeitern ab. Und immer bleibt die Zahl konstant, immer sind es rund achthunderttausend, die hierher wollen. Ob Sie es mir glauben oder nicht, meine Herren, aber in der Türkei gilt die Bundesrepublik als so etwas wie eine zusätzliche, als achtundsechzigste Provinz. Meine Leute kommen voller Selbstvertrauen her, mit einem idealisierten Bild von diesem Land; das ist oft, entschuldigen Sie schon, aber es ist oft in peinlicher Weise unrealistisch. Natürlich suchen sie Privatwohnungen, und wo finden sie die? Und sie suchen auch deutsche Freunde, aber die finden sie nur in den seltensten Fällen. Es entsteht so etwas wie Frustration. Sie verfallen in Niedergeschlagenheit, die allzu leicht in Aggressivität umschlagen kann.“ Der türkische Sozialbetreuer sprach fehlerloses Deutsch, beinahe ohne Akzent. Er blickte nun zum ersten Mal in unsere Gesichter, und als er merkte, daß er aufmerksame Zuhörer hatte, fuhr er fort: „Meine Landsleute, die zu Hause auf ihre amtliche Vermittlung warten, wissen eigentlich gar nicht, was ihnen hier begegnen wird. Und den Berichten rückkehrender Türken glauben sie nicht. Sie denken eben, worauf man so lange wartet, das muß auch rundherum gut sein. Und wirklich, die Formalitäten dauern sehr lange Zeit. Zunächst soll ein Arbeitsplatz gefunden werden, dann auch eine Unterkunft. Sie selbst müssen einen Gesundheitspaß vorweisen können, auch ein Impfzeugnis, das ist eben alles recht umständlich. Und hier kommt es schon zu den 206
ersten Betrügereien. In den Basarstraßen nämlich gibt es Händler, die bieten doch wirklich Urinproben feil. Daraus hat sich ein schwungvoller Handel entwickelt. Wenn ein Anwärter sich nicht gesund fühlt, kann er auf dem Markt eine Urinprobe kaufen, die garantiert ohne Befund ist.“ Herr Mürün machte ein Pause und lächelte verschämt. Wir taten ihm den Gefallen und lächelten mit. Osman Tuyan in seiner Grube dicht bei uns, so hoffte ich jedenfalls, würde wohl nichts dagegen haben. „Die eigentlichen Betrügereien aber werden nicht von Türken begangen. Das sind Leute vom Grauen Markt, wie wir es nennen, und, entschuldigen Sie bitte, das sind Deutsche! Weil die amtliche Vermittlung lange dauert, schicken deutsche Makler ihre Werber in die Türkei. Die sagen meinen Landsleuten, daß sie alles gar nicht brauchten, diese amtliche Vermittlung mit Stempel, Gesundheitspaß, Impfzeugnis und all das. Sie benötigten nur ein Besuchsvisum für die Bundesrepublik und natürlich die Adresse eines Maklers. Dieser Herr würde dann schon alles regeln, Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis, was eben notwendig ist, um hier zu arbeiten. Viele meiner Landsleute gehen auf das Angebot ein, um die lange Wartezeit abzukürzen. Sie unterschreiben eine Art Vertrag, der sie an einen deutschen Makler binden wird, und zahlen dem Werber für die Vermittlung an Ort und Stelle fünfhundert Mark. Das sind tausend türkische Pfund, und für einen Mann, der vielleicht aus einem rückständigen Gebiet kommt, Anatolien zum Beispiel, ist das ein Vermögen. Er muß alles verkaufen, was er besitzt. Seine Kate oder sein Stück Land, vielleicht auch Kuh oder Ziege, was er eben hat. Nun kommt dieser Mann in die Bundesrepublik und geht zu der Adresse des Maklers. Der nimmt ihn auf und bringt ihn in ein Wohnheim. Der Mann hat erst mal ein Dach über dem Kopf und auch ein Bett, in dem er schla207
fen kann. Soweit hat alles seine Ordnung. Es ist zwar etwas primitiv in der Unterkunft, aber das ist es bei ihm zu Haus in Anatolien auch. Die Schwierigkeiten sind ganz anderer Art. Der Makler wird ihm nämlich seinen türkischen Paß wegnehmen unter dem Vorwand, der würde gebraucht, um die Aufenthaltsgenehmigung und die Arbeitserlaubnis zu beschaffen. Aber beides kommt nicht, kommt niemals! Der Makler hätte ja gar keine Möglichkeit, solche Papiere von den Behörden für Gastarbeiter zu erhalten, die er über den Grauen Markt ins Land bringen ließ. Und der Makler will diese Genehmigungen auch gar nicht besorgen, denn er hat nicht die Absicht, für einen solchen Türken, den er mit eigenen Lastkraftwagen zwischen Wohnheim und Arbeitsplatz hin- und hertransportiert, jemals Steuern abzuführen. So kann er auch ganz willkürlich den Lohn festsetzen, ganz unabhängig von der Summe, die er für ihn von der Firma erhält. Da liegt ja gerade das große Geschäft für den Makler. Was soll aber nun der Türke tun? Kann er zur Polizei gehen? Nein! Er hat nicht mal mehr seinen Paß. Er spricht auch gar nicht deutsch. Wie soll er sich denn verständlich machen? Und wenn er wirklich zur Polizei liefe, was geschähe da? Man nähme ihn gar nicht in Schutz, denn er hat ja Unrecht begangen. Er darf doch gar nicht arbeiten ohne Erlaubnis, und er darf doch gar nicht leben in der Bundesrepublik ohne Aufenthaltsgenehmigung. Die Behörden würden ihn ausweisen, und ganz zu Recht. Also bleibt er bei dem Makler und arbeitet für ihn. Aber in Wirklichkeit ist das doch eine große Ungerechtigkeit, nicht wahr? Eigentlich dürfte es solche Sklaverei doch gar nicht geben in unserer modernen Zeit. Oder was meinen Sie?“ Wir sahen uns schweigend an, der Kommissar, der Steuerfahnder und ich. Was sollten wir dazu sagen? Auf jeden Fall war es die merkwürdigste Grabrede, die ich jemals angehört hatte. Und als ich wieder auf den Bret208
tersarg schaute, empfand ich plötzlich doch etwas. Ich war ja draußen gewesen in Billstedt und hatte die Türken in dem Wohnheim gesehen. Und Ofterdinger vor der Villa und seine schwarzhaarige Frau und seinen Afghanen und seine zwei Autos und überhaupt diesen Millionenbesitz, das alles hatte ich auch gesehen. Doch, ich empfand etwas, als ich in die Grube blickte. „Warum gehen Ihre Leute nicht in die Heimat zurück, wenn ihnen so etwas hier passiert?“ fragte ich. „Aber sie können es doch nicht“, sagte Herr Mürün, angesichts des Sarges sehr milde gestimmt. „Was sollen sie in der Heimat anfangen? Sie haben alles verkauft dort, Haus, Acker, Ziege oder Kuh. Was sollen sie ihren Nachbarn sagen im Dorf, wenn sie zurückkommen? Auch Türken haben Stolz, sehr viel sogar. Das ist nicht lange her, da hatten sie – wie sagt man –, da hatten sie noch Blutrache. Sehr viel Stolz, Sie dürfen glauben! Nein, sie haben keine Fahrkarte zurück, nicht einmal als toter Mann. Sie sehen!“ Ganz am Schluß passierte etwas Merkwürdiges mit Herrn Mürün, ich beobachtete ihn ja, plötzlich gingen seine Empfindungen mit ihm durch. Da sprach er auch nur noch gebrochen deutsch, fand nicht die Vokabeln, die er brauchte. Dieser letzte Moment beeindruckte uns wohl am stärksten, nicht nur mich, sondern auch Schnabel und Sieg. Wir sahen Herrn Mürün nicht an, wir starrten in die Grube, und irgendwie erwarteten wir einen Ausbruch von dem Türken, einen Angriff gegen uns, aber der kam nicht. Wir hörten Herrn Mürün nur noch, und jetzt wieder in fließendem Deutsch, sagen: „Entschuldigen Sie mich, meine Herren, aber ich muß nun gehen!“ Und damit wandte er sich um und lief zwischen den Gräbern fort. Am Rande des Fahrweges stand sein Wagen, ein dunkelblauer Mercedes. Sehr hübsch eigentlich und irgendwie auch ganz natürlich: ein Funktionär der Arbeiter209
wohlfahrt in einem Mercedes. Dieses Bild gab mir Trost, wenn auch nur ein ganz klein wenig, aber immerhin! Auch wir lösten uns vom Anblick der offenen Grube und machten ein paar Schritte, aber wir blieben noch in der Nähe. In diesem Teil des Ausländerfriedhofes am Rande von Ohlsdorf lagen noch weitere Türken. Wir sahen auch frische, noch nicht eingeebnete Grabhügel. Schnabel schnüffelte die Reihen entlang, blieb hier und da stehen, beugte sich schwerfällig hinab. Er las die Aufschriften. Ich schüttelte den Kopf. „Das kann man drehen und wenden, aber Tuyan paßt nicht in dieses Bild!“ „In was für ein Bild?“ fragte der Steuerfahnder Sieg, dem es offensichtlich schwerfiel, mit seinen Gedanken zu mir zurückzufinden. „Das uns Herr Mürün von der türkischen Arbeiterwohlfahrt gegeben hat.“ Ich deutete auf den Funktionär, der mit seinem Mercedes gerade in den Hauptweg einbog. „Tuyan paßt da einfach nicht hinein! Erst mal war er Großstädter, dann Student; irgendwie gehörte er zu einer besonderen Schicht. Menschenskind, Sieg, der Junge war in vier Sprachen zu Hause. Und wie viele sprechen Sie?“ „Ein paar Brocken Englisch, schlag mich ganz gut durch damit“, erwiderte Sieg lächelnd. „Aber mal ganz im Ernst, Herr Ahrens! Gerade durch seinen besonderen, beinahe elitären Status paßt er hinein in diesen Fall! Der junge Mann kommt zunächst nicht als Gastarbeiter, ist mehr ein Reisender in Sachen Liebe, wenn wir das mal so salopp ausdrücken wollen. Er wirbt um das Mädchen, das er in seiner Heimat liebengelernt hat, eine ganze Menge mag sich der arme Teufel ausgerechnet haben. Um aber im Lande zu bleiben, braucht er Geld für den Lebensunterhalt, also geht er zu Ofterdinger, kommt in das Wohnheim. Und da sieht er endlich, was mit seinen Landsleuten geschieht, wie sie von dem Mak210
ler ausgebeutet und um die Hälfte ihres Lohnes betrogen werden. Möglicherweise hat er sich zum Sprecher aufgeschwungen und wurde unbequem.“ Der Steuerfahnder sah mein fragendes Gesicht und schloß zufrieden. „Wir haben inzwischen Beweise, daß Ofterdinger unangemeldete Türken beschäftigt.“ „Ach –!“ brachte ich hervor. Es war das erste Mal, daß ich etwas von Beweisen hörte. „Was glauben Sie eigentlich, was ich seit gestern gemacht habe, Ahrens? Seit ich von dem kleinen roten Buch weiß, in dem Ofterdinger seine Aufzeichnungen zu stehen hat?“ „Na schön, Sie haben also Ihre Beweise! Und? Gehen Sie nun endlich hin und verhaften den Mann?“ „Kommissar Schnabel will ihn wegen Mords drankriegen, Ahrens!“ Der Steuerfahnder deutete auf die offene Grube, in der Tuyan lag. „Wenn uns das gelingt, wenn wir die Verbindung schaffen zwischen seiner Steuerhinterziehung und dem Mord an dem Türken, brechen wir Ofterdinger das Genick! Und genau darauf sind wir aus, Ahrens. Der Mann hat schließlich drei Millionen im Jahr mit unangemeldeten Gastarbeitern gemacht. Drei Millionen, diese Summe muß man sich mal vorstellen! Dafür läßt man auch schon mal morden.“ „Tuyan …“ „Ja, diesen armen Jungen! Aber auch Sie oder mich, einfach jeden, der ihm in die Quere kommt. Denn bei drei Millionen Gewinn hört der Spaß doch auf.“ „Also auch Lore –!“ Der Steuerfahnder zuckte mit den Schultern. „Über Fräulein Pohl wissen wir nichts. Die kann auch ebensogut, wie der Herr Oberstaatsanwalt immer wieder behauptet, nach Schweden gefahren sein.“ Ich wollte heftig erwidern, aber Kommissar Schnabel, der einige Reihen weiter vor einem frischen Grabhügel stand, winkte uns zu. „Kommt mal ’rüber!“ rief er. 211
An Lore waren die überhaupt nicht interessiert, dachte ich, während ich hinter Sieg zu dem anderen Grab hinüberstiefelte. Die hatten ihre Steuerhinterziehung und ihren Mord, aber was mit Lore geschehen war, das kümmerte sie nicht. Ich selbst aber konnte kaum an etwas anderes denken. Der Kommissar kniete vor dem frisch aufgeworfenen Grabhügel, auf dem ein paar verwelkte Sträuße und sogar ein Kranz lagen. Schnabel hielt uns die daran befestigte Schleife entgegen. „Firma Ofterdinger!“ sagte er. Ich starrte darauf, las den Firmennamen, den Namen des Toten – Achmed Gebes – und die wenigen, nichtssagenden Worte darüber. In diesem Grab befand sich also auch einer von Ofterdingers Leuten. „Noch einer –?“ stotterte ich. „Na, nicht doch“, meinte der Kommissar abwiegelnd. „Ofterdinger hat einen Kranz geschickt. Also ist der Mann hübsch brav in seinem Bett gestorben.“ Schnabel lächelte still und vergnügt, dann mühte er sich ab, vor dem Grab auf die Beine zu kommen. Aber das Lächeln blieb auf seinem Gesicht. Ich beobachtete ihn, und soweit kannte ich den Mann bereits; ich wußte, daß sich hinter diesem Lächeln ein tiefer Ernst verbarg.
2. „Wollen Sie uns helfen, Herr Ahrens?“ fragte mich der Kommissar bedächtig. Aber das war schon viel später, da saßen wir wieder im Wagen und fuhren durch die Stadt zur Magdalenenstraße. Vorher hatte Schnabel am Ausgang von Ohlsdorf halten lassen und war in der Friedhofsverwaltung verschwunden. Er blieb es etwa eine halbe Stunde, in der Sieg und ich untätig herumsaßen und warteten. Dann kam er zurück, preßte mich in meine Ecke und nahm selbst etwa drei Viertel des Rücksitzes in Anspruch. Na212
türlich fragte ich ihn, was er in der Friedhofsverwaltung zu suchen hatte. Aber er gab nur einsilbige Antworten, sagte eigentlich gar nichts. Und während der ganzen Zeit blieb dieses versonnene Lächeln auf seinem Gesicht, das allmählich immer starrer und dadurch immer alberner wurde. Nein, im Grunde zog mich dieser Kommissar nicht ins Vertrauen. Er schien ja sehr gesprächig, aber wenn es um sein eigentliches Handwerk ging, war er verschlossen wie eine Auster. Und nun plötzlich die eher schüchterne Frage: „Wollen Sie uns helfen, Herr Ahrens?“ Natürlich wollte ich das! Ich wandte mich um, so gut ich das auf dem mir verbliebenen Rest des Rücksitzes eben konnte, und sah ihm ins Gesicht. „Na schön, Herr Ahrens!“ Plötzlich schien es, als ob der Kommissar von dem Ausflug seines langen Nachdenkens zu uns zurückkehrte. Irgendwie wurde er lebendiger, er rutschte sogar ein bißchen auf seinen Platz hinüber. „Wissen Sie noch, was mir der Oberstaatsanwalt Pohl in jener Nacht gebeichtet hat, nachdem seine Tochter verschwunden war?“ „Ja, ja –“ Er hatte erzählt, daß er Lore angeblich von Gisela Escherich abgeholt und in den Nachtzug nach Kopenhagen gesetzt hätte. „Sie nahmen das dem Mann nicht einen einzigen Augenblick ab. Stimmt’s, Herr Ahrens? Sie sagten, nicht der Oberstaatsanwalt Pohl sei damals in der Richardstraße gewesen, sondern der Makler Ofterdinger. War es nicht so?“ Ich antwortete nicht, ich saß dem Kommissar zugewendet und hing an seinen Lippen. „Wir sind Ihrem Gedankengang gefolgt, Herr Ahrens, soviel will ich mal sagen. Und ich will hinzufügen, daß ich selten einen Zeugen in einer Mordsache hatte, der mir so auf die Sprünge half wie Sie. Mein Kompliment!“ 213
Er lächelte mich an, diesmal besonders herzlich, und ich lächelte zurück. Aber ich sagte kein Wort. „Wenn jedoch Ofterdinger Ihre Lore entführte“, fuhr der Kommissar fort, „dann mußte er einen triftigen Grund haben, ein so schweres zusätzliches Verbrechen auf sich zu laden. Können Sie sich einen solchen Grund denken?“ Ich schüttelte den Kopf. „Er mußte verhindern, daß Lore Pohl den Türken Tuyan identifizierte. Verstehen Sie mich?“ „Ja, ja“, krächzte ich. In Wirklichkeit verstand ich nicht ein Wort, noch nicht. „Ofterdinger ist in Zeitnot“, fuhr der Kommissar fort. „Er will zweifellos außer Landes, vielleicht erst in ein paar Tagen, vielleicht aber auch schon in wenigen Stunden. Im Moment ist er jedenfalls dabei, sein Geld flüssigzumachen. Er klappert die Banken ab und holt es zusammen.“ „Woher wissen Sie das?“ fragte ich etwas töricht. Der Kommissar griente. „Meine Leute lassen ihn nicht mehr aus den Augen!“ Es kümmerte mich eigentlich einen Dreck, ob Ofterdinger sein Geld zusammenramschte oder nicht. Ich wollte doch nur wissen, was mit Lore war, sonst nichts. Ich fragte: „Ließ Ofterdinger sie nun entführen? Ja oder nein!“ „Das wissen wir noch nicht, Herr Ahrens, und gerade deshalb meine Bitte, uns zu helfen! Wenn er es tat, dann muß es auch eine Querverbindung zwischen dem Makler und dem Oberstaatsanwalt geben, weil Pohl mir doch in jener Nacht gestand, daß er selbst seine Tochter von Fräulein Escherich abgeholt hätte.“ „Und gibt es eine solche Querverbindung?“ Pause, eine lange Pause, in der Schnabel zum Wagenfenster hinausstarrte. Wir fuhren inzwischen den Mittelweg entlang und waren nahe der Milchstraße. 214
„Mann, Mann!“ stieß ich hervor. „Wenn ich Ihnen helfen soll, dann müssen Sie mir ein paar Takte mehr sagen. Dann müssen Sie mich schon ein wenig teilhaben lassen an Ihren Geheimnissen, wenn’s auch offensichtlich schwerfällt.“ Keine Antwort! „Gibt es eine solche Querverbindung?“ Der Kommissar neigte sich zum Vordersitz hin und tippte Sieg auf die Schulter. „Sag’s ihm!“ Und flüssig, beinahe fröhlich von dem Steuerfahnder: „Es gibt die Querverbindung. Möglicherweise! Oberstaatsanwalt Pohl hat vor einem Jahr einen Gutshof in Schleswig erworben. Den Grundbesitz in Höhe von einer halben Million Mark versteuert er jedenfalls seit dieser Zeit.“ „Er hat gar kein eigenes Geld“, schoß es aus mir heraus. Ich dachte an all das, was Lore mir in unserer Nacht über das Leben ihres Vaters erzählt hatte. „Er könnte was an der Börse mit Papieren gemacht haben“, sagte der Steuerfahnder. Ich lachte nur. „Seine Frau könnte ihm die Summe in Form einer Schenkung übertragen haben.“ Ich dachte an das, was Lore mir über diese Frau erzählt hatte. „Niemals!“ Der Steuerfahnder Sieg sagte: „Oder der Makler Ofterdinger hat den Oberstaatsanwalt bestochen, weil Pohl ihm auf seine Steuerhinterziehung gekommen war!“ „So wird ein Schuh daraus!“ rief ich. „Wenn es so ist, hatte Ofterdinger den Oberstaatsanwalt wiederum jetzt in der Hand, als die Sache mit dem Türken passierte“, meinte Kommissar Schnabel. „Die beiden wären eben Kumpel, wie es so hübsch im Liede heißt. Ofterdinger könnte den Pohl also zwingen, zu behaupten, er habe seine Tochter abgeholt und in den Nachtzug nach Kopenhagen gesetzt.“ 215
„Aber natürlich konnte er das!“ erwiderte ich tief überzeugt. Nur in Wirklichkeit, da überlegte ich eben gar nicht. Ich war lediglich scharf darauf, Lores Vater etwas anzuhängen. Ich fragte nicht danach, weshalb der Oberstaatsanwalt den Makler deckte. Und es kümmerte mich der Grund nicht, weshalb Ofterdinger Lore überhaupt entführen mußte. „Und wie kann ich Ihnen helfen?“ „Indem Sie dem Herrn Oberstaatsanwalt Pohl einen kleinen Besuch machen!“ Gerade bogen wir, aus der betriebsamen Milchstraße kommend, in die stille Magdalenenstraße ein und rollten langsam dem Pohlschen Besitz entgegen. „Deshalb sind Sie also noch einmal mit mir hierhergefahren?“ Der Kommissar schaute mich mit einem verführerischen Lächeln an. „Ja, deshalb!“ „Ob er mich denn überhaupt in sein Haus lassen wird?“ fragte ich zweifelnd. „Ich habe schon eine Kleinigkeit arrangiert, Herr Ahrens! Vorhin, als ich in der Friedhofsverwaltung war, habe ich unter anderem auch mit Fräulein Escherich telefoniert. Sie ist bereit, ihre kleine, entzückende Boutique für diesen Nachmittag zu schließen und hier herauszufahren. Sie ist ja so etwas wie eine Freundin der Familie, hat sie uns doch selbst erzählt, nicht wahr? Sie wird hineinkommen und wird Sie ganz einfach mitnehmen.“ „Wie einen Regenschirm etwa?“ Schnabel kicherte nur. „Und was soll ich Pohl sagen?“ „Geben Sie Ihre Version von der Geschichte! Erzählen Sie ihm von Ihren Zweifeln, daß er seine Tochter in den Zug gesetzt habe. Sagen Sie ihm, Ofterdinger habe Lore entführt; er, der Staatsanwalt, wisse davon und hielte still weil der Makler ihn mit dem Gutshof erpreßt.“ Der Kommissar schwieg abwartend. Es war nicht ge216
rade so, daß ich plötzlich kalte Füße bekam, aber es lag schon eine phantastische Vorstellung in dem Gedanken, vor einem Staatsanwalt zu stehen und ihm auf den Kopf zuzusagen, daß er in ein Gewaltverbrechen verwickelt war. Der Kommissar neben mir erriet meine Gedanken, tat er ja immer, ich sah ihn lächeln. „Ich kann nicht zu Pohl gehen und ihm das sagen, Ahrens! Aber Sie, der Sie in Ihrer ganzen Gefühlswelt getroffen sind, wie man sieht, Sie können es! Gleichzeitig erhalten Sie damit die Chance, einmal zu überprüfen, ob an Ihrem Verdacht überhaupt etwas dran ist. Denn soviel ist doch sicher, Ahrens, den wirklichen Beweis, daß Ihre Lore entführt wurde, den haben wir ja gar nicht.“ „Na schön, ich gehe also zu ihm“, sagte ich kleinlauter, als ich es eigentlich vorhatte. „Aber was versprechen Sie sich davon? Ich meine, wie wird er reagieren?“ „Das kommt darauf an, wie dringend Sie es machen. Seien Sie nicht allzu höflich, werden Sie ruhig ein bißchen rüde. Drohen Sie, daß Sie zum Generalstaatsanwalt laufen werden, wenn er nicht endlich selbst etwas unternimmt. Das müßte ihn eigentlich aus der Reserve locken.“ In dem Blick des Kommissars lag viel von einem eindringlichen Werben. Es war ein bißchen peinlich, und so wandte ich mich ab und schaute zum Fenster hinaus. Wir schwiegen. In diesem Augenblick spürte ich, wie tief Schnabel den Oberstaatsanwalt haßte. Ich sollte Pohl aus der Reserve locken, na schön, aber der Kommissar selbst hatte eben auch mehr Blöße gezeigt als jemals zuvor, seit ich ihn kannte. Es entstand eine Pause, die von Sekunde zu Sekunde beklemmender wurde. Schließlich sagte der Steuerfahnder Sieg: „Wenn die Rechnung aufgeht, ist Pohl erledigt.“ Und auf einmal war die Bestie los! Mit einer Wildheit, die ich dem Kommissar nicht zugetraut hätte, rief er: 217
„Da kann er sich ’ne Kugel vor den Kopf ballern. Soll ja ’n passionierter Jäger sein, und da hat er dann endlich mal ein Ziel!“
3. Wir waren inzwischen längst vor dem Pohlschen Besitz angelangt. Der Steuerfahnder hatte schräg gegenüber angehalten und den Volvo in dem Zwischenraum zweier Platanen auf dem Bürgersteig geparkt. Seit dem Ausbruch des Kommissars hatte keiner von uns den Mund aufgetan. In gedrücktem Schweigen saßen wir in unseren Ecken und warteten auf Gisela Escherich. Meine Uhr zeigte gerade die vierte Nachmittagsstunde; wir würden also rechtzeitig zum Tee eintreffen, dachte ich in einem plötzlichen Anflug von Galgenhumor. Da schnarrte das Funkgerät im Wagen, und eine Stimme drang aus dem Lautsprecher: „Herr Schnabel, bitte kommen!“ Der Steuerfahnder nahm das Mikrofon an der langen, elastischen Schnur und reichte es nach hinten. Der Kommissar meldete sich: „Hier Schnabel!“ „War mit Zielperson gerade im Reisebüro“, quakte es aus der Leitung. „Dieser Rundbau am Jungfernstieg, wenn Sie den kennen, wo es zu den Alsterdampfern hinuntergeht.“ Schnabel grunzte. „Weiter!“ „Zielperson kaufte zwei Fahrkarten“, schnarrte die Stimme. „Abfahrt morgen früh, ein Uhr achtundvierzig ab Altona. Zwei Karten erster Klasse, kein Schlafwagen. Reiseziel Straßburg. Ende. Herr Schnabel, bitte kommen!“ „Bin ja da!“ „Zielperson fährt jetzt Große Bleichen, nimmt Richtung Hafen, wie ich denke.“ 218
„Sehr schön“, meinte der Kommissar, „und nun bleiben Sie mal hübsch dran an ihm. Ende!“ Der Steuerfahnder nahm Schnabel das Mikrofon ab. „Natürlich Straßburg, er hat es ja lange vorbereitet. Da ist das neue Bürogebäude und darüber das frisch eingerichtete Penthouse mit dem beheizbaren Swimmingpool. Er wird sich auf einen langen Urlaub einrichten.“ „Wenn meine Vermutungen mich nicht täuschen“, wandte sich Schnabel mir zu, „wird Ofterdinger Ihre Lore freilassen, sobald er aus dem Land draußen ist. Wir können Ihren Besuch bei dem Staatsanwalt ebensogut abblasen, wenn Sie nicht mehr wollen.“ Er deutete zum Wagen hinaus, aber ich hatte den kleinen Sportwagen längst gesehen, der vor der PohlVilla anhielt und aus dem Gisela Escherich gerade ausstieg. „Nein, nein“, erwiderte ich und öffnete kurzerhand die Tür. „Lassen Sie mal, ich mach’ das schon!“ Während ich auf Gisela zuging, beobachtete ich, wie sie an der Sprechanlage hantierte, und als ich sie erreichte, hatte sie das hohe, schmiedeeiserne Tor schon offen. Wir schlossen es von der anderen Seite und sahen den Volvo langsam an uns vorbeirollen. Das Auto gewann an Fahrt und verschwand in Richtung Alte Rabenstraße. Den ganzen Weg zum Haus hinauf tänzelte das Lächeln des Kommissars vor mir her, mit dem er uns aus dem Wagenfenster heraus verabschiedet hatte, so eine Art Verschwörerlächeln in dem überaus fetten Gesicht. An der Eingangstür erwartete uns ein Mann von etwa dreißig Jahren. Er trug nicht gerade Livree, hatte aber immerhin einen dunkelblauen Anzug mit weißen Nadelstreifen an. Er trat einen Schritt beiseite, sehr korrekt und höflich und nicht eine Spur blasiert. „Guten Tag, Fräulein Escherich!“ sagte er. Dann beschenkte er mich mit einem Kopfnicken und wandte sich wieder der 219
Escherich zu. „Ich nehme nur mal schnell Ihren Mantel, nicht wahr, und die Tasche, nein, das Täschchen werden Sie brauchen. Ich darf eben mal vorangehen, hier entlang bitte, Frau Pohl erwartet Sie auf der Terrasse.“ Wir spazierten hinter ihm durch eine hohe Halle, deren Eichentäfelung in langer Zeit nachgedunkelt hatte. Ich sah Bilder an den Wänden, viele Schiffe und ebenso viele ernste, würdige Gesichter aus mehreren Jahrhunderten. Wir kamen unter einer Treppe hindurch in den anschließenden großen Wohnraum mit einer mehrteiligen, geöffneten Tür zum Park; hier war es heller. Und da stand sie, Frau Pohl, und die ganze Alster, die hatte sie hinter sich im Rücken. Die Terrasse lag erhöht, und da sich der Harvestehuder Weg hinter einer Mauer verbarg, schien es beinahe, als gehörten die Uferanlagen und das gesamte Becken der Außenalster zum Pohlschen Besitz dazu. Frau Pohl war Ende Fünfzig, aber ich entdeckte nicht eine Falte in dem langgezogenen Gesicht; ich wette, daß sie es mehrmals hatte liften lassen. Sie trug einen knöchellangen Rock mit großen, bunten Blumenmotiven, nicht einmal unpassend, dazu eine weiße Bluse. Keinen Schmuck, und das war gut so, denn die Hände waren alt, und funkelnde Brillanten hätten nur die Aufmerksamkeit auf deren leichtvergreiste Haut gezogen. Frau Pohl, soviel war klar, die war von uraltem hanseatischem Adel. Mein Fall war sie gerade nicht, auch ohne Lores Erklärungen über sie. Aber mit diesem Wissen sah ich die Frau natürlich in einem besonderen Licht. Sie kam uns nicht einen Schritt entgegen, ließ uns ganz an sich herankommen. Sie kannte ihren Platz auf dieser Terrasse mit der Alster im Rücken, die ganz und gar ihr allein gehörte. „Man muß jeden Sonnentag wahrnehmen in dieser unfreundlichen Stadt“, sagte sie, „deshalb wollen wir unseren Tee hier trinken. Ich freue mich, Sie mal bei mir zu 220
haben, Gisela, wie lange ist das eigentlich her, ich weiß es wirklich nicht mehr.“ Dann kam ihr Blick herum zu mir, ging in mich hinein und kehrte das Oberste zuunterst. Ich konnte gar nichts weiter tun, als diesem Blick standzuhalten suchen. „Und das ist nun der Herr … Herr –?“ Sie sah mich fragend an. „Ahrens“, half ich ihr aus. „Ahrens – ja, richtig, so sagte es mir Gisela auch am Telefon.“ Noch immer kroch ihr Blick in meinem Inneren herum. Ich hatte mich gefragt, ob Herr Pohl ihr von meiner Beziehung zu Lore erzählt hatte, aber diese Frage erübrigte sich nun. So schaute nur eine Frau, die ganz genau Maß nahm. „Sie können den Tee bringen, Joachim“, sagte sie und wandte sich dem jungen Mann zu. „Und dann geben Sie bitte auch Herrn Pohl Bescheid!“ Der weiße Nadelstreifen verschwand lautlos, und wir setzten uns nach den Anweisungen der Hausfrau. Frau Pohl natürlich mit dem Rücken zur Außenalster. Gisela kam neben sie und ich ihr gegenüber, durch die weite Fläche des ausladenden Tisches von ihr getrennt. Es war bereits eingedeckt. Englisches Porzellan, sehr artig. Auf den Tellern lagen Servietten, handgearbeitet, Lochstickerei. Ich sah Leuchter, Ascher, Zigarettenbehälter, Löffel – alles schweres Silber. Dazu ein paar Schälchen mit Keksen. Wir schwiegen. Links von mir stand noch ein Stuhl, der war wohl für den Staatsanwalt bestimmt; ich wartete auf die Dinge, die kommen sollten. „Ja, liebe Gisela“, begann Frau Pohl endlich, „was soll man zu unserer kleinen Lore sagen? In all den Nächten, in denen ich nicht mehr schlafen kann seitdem, habe ich mich immer wieder gefragt, wie das überhaupt geschehen konnte. Wie konnte sich ein so frisches, junges Mädchen – ein deutsches Mädel, wenn man das heutzutage überhaupt noch sagen darf –, wie konnte sich das 221
so weit vergessen? Ein Türke, nicht wahr, oder doch jedenfalls so etwas Ähnliches.“ Sie schaute zu mir herüber, und ich war nicht ganz sicher, ob sie mit dem Türken nicht gar mich meinte. Ihr Blick senkte sich schließlich, und ihre greisenhafte, schmale Hand strich über die Tischdecke, immer mit der gleichen stereotypen Bewegung. Dann fuhr sie fort, und man glaubte beinahe die Tränen wahrzunehmen, die auf ihrer Stimme perlten: „Natürlich habe ich mich auch gefragt, ob wir vielleicht nicht doch etwas verabsäumt haben an dem Kind. Und mit wir meine ich nun meinen Mann und mich.“ Sie wandte sich Gisela zu und wartete wohl auf eine Antwort, aber da kam keine; die Escherich hob nur peinlich berührt die Schultern. Ich hatte schon die leichte Veränderung an ihr festgestellt. Es war merkwürdig, wie die patente junge Frau immer mehr etwas von einer höheren Tochter bekam, seit sie auf dieser Terrasse saß. Das war nun ein Augenblick, in dem ich Lore beglückwünschte, daß sie sich so früh aus dieser Umgebung davongemacht hatte. Hinter mir entstand eine Bewegung, und dann hörte ich die Stimme des Oberstaatsanwalts tönen: „Wie nett, Sie einmal wiederzusehen, Fräulein Gisela!“ Ich erhob mich langsam, kehrte mich um zu ihm, und da erkannte er mich. Ich schaute ihn mit großen Augen an. Er blieb stehen. „Sie –?“ brachte er hervor. Er war wirklich überrascht. Er sah zu seiner Frau hinüber. In seinen Augen lag der deutliche Vorwurf, ob sie ihm diesen peinlichen Auftritt nicht hätte ersparen können. Natürlich nicht! Und wenn ich bisher gezweifelt hatte, jetzt wußte ich es genau, daß die beiden über Lore und mich gesprochen hatten. Inzwischen kroch der Blick aus Frau Pohls großen, blauen Augen in den Eingeweiden des Oberstaatsanwalts herum. Auf beklemmende Weise wur222
de deutlich, wie sehr sie diesen Augenblick genoß. Das mußte so ein Rest von Befriedigung sein, der ihr noch geblieben war. „Das ist Herr Ahrens, Hans-Heinrich“, sagte sie zu ihrem Mann. „Ein Bekannter unserer lieben Gisela!“ „Ich weiß, wir sind uns gestern schon begegnet, in der Gerichtsmedizin.“ Herr Pohl wandte sich mir zu. „Immerhin … So behalten Sie doch Platz, meine Güte!“ Und nun erschien auch der Diener mit dem Tee. Während er um den Tisch herumging und eingoß, saßen wir still da und starrten auf unsere Gedecke. Bis auf Frau Pohl, deren Augen wanderten, den Weg der Kanne verfolgten, aber immer wieder zu ihrem Mann und mir zurückkehrten und genüßlich zwischen uns hin und her pendelten. Der Diener war fertig mit dem Einschenken und blieb neben der Hausfrau stehen. „Danke, Joachim, es ist gut“, sagte sie, „wir helfen uns nun selbst.“ Der Diener stellte die Kanne auf einen Wärmer, zündete ein Licht darunter an und verschwand. „Wie möchten Sie den Tee, Gisela, nehmen Sie Sahne?“ „Danke, nein!“ „Und Sie?“ Sie blickte mich mit einem strahlenden Lächeln an. Plötzlich wirkte die Frau merklich entspannt, und sie hatte sogar so etwas wie Charme. „Nehmen Sie vielleicht ein bißchen von der Sahne, Herr Ahrens?“ „Vielen Dank!“ Der Oberstaatsanwalt rührte in seinem Tee, nahm auch einen Schluck und raffte sich schließlich auf. „Ich weiß nicht recht, was Sie noch von mir wollen, Herr Ahrens. Ich hatte wirklich den Eindruck, daß wir uns bei unserem gestrigen Gespräch alles gesagt hatten.“ „Ich nicht.“ „Wie –?“ 223
„Ich glaube nicht, daß Sie mir alles gesagt haben.“ „Ich verstehe nicht …“ „Doch, doch, Sie verstehen schon. Sie haben mir zum Beispiel nichts über Ihre Verbindung zu Ofterdinger gesagt.“ Der Oberstaatsanwalt sah mich mit einem verständnislosen Kopfschütteln an. „Ofterdinger?“ fragte Frau Pohl. „Wer soll das denn sein?“ „Du kennst ihn nicht, Liebe!“ „Oh, vielleicht doch!“ warf ich ein. Die Sache begann mir Spaß zu machen, je mehr ich von der eigentümlichen Beziehung zwischen der Frau und dem Mann zu ahnen begann. „Vielleicht kennen Sie ihn doch, gnädige Frau, dieser Ofterdinger wohnt immerhin in der Magdalenenstraße.“ Täuschte ich mich, oder blinzelte mir Frau Pohl tatsächlich zu? Die war entschieden pfiffiger, als ich angenommen hatte. Jetzt wanderte ihr Blick zu dem Staatsanwalt hinüber. „Ich habe den Namen Ofterdinger noch niemals gehört, Hans-Heinrich. Wer ist das, bitte?“ „Das ist der Mann“, wand sich Herr Pohl, „der … unter anderem auch den Janoverschen Besitz kaufte.“ Die großen, blauen Augen kamen zu mir zurück, blickten voller Nachdenklichkeit. „O ja – der!“ „Der Mann war mal Schlachter“, rief ich und tat ganz so, als sei ich frisch und fröhlich. „Er hat auf dem Viehhof Schweinehälften getragen. Später wurde er Unternehmer, kam zu Geld, kaufte Grundbesitz. Und nun wohnt er hier!“ Es entstand eine Pause, in der wir alle schwiegen. Besonders der Oberstaatsanwalt und Fräulein Escherich waren wohl schockiert über meinen flapsigen Ton an diesem Tisch. Nicht so Frau Pohl! Die hatte offensichtlich plötzlich Gefallen an mir gefunden. Und der Mann Ofterdinger, über den sie natürlich sehr wohl Bescheid 224
wußte, schien ihr geradezu am Herzen zu liegen. „Ich will Ihnen mal etwas erzählen, Herr Ahrens“, sagte sie. „Dieser letzte Krieg, besonders aber wohl auch die darauffolgende Nachkriegszeit haben unsere Lebensart verändert. Sie können das nicht so wissen, weil Sie noch ein junger Mann sind.“ Na, na –! Ich schaute in ihre blauen, leicht wässerigen Augen, die einen merkwürdig eigenen Ausdruck angenommen hatten. Sollte ich das gute Wort über meine Jugend als Kompliment von ihr nehmen? Aber ja, das tat ich doch gleich! Nun glitten ihre Augen zu Herrn Pohl hinüber, und mit dem Folgenden meinte sie ganz eindeutig weder mich noch Ofterdinger, sondern ganz allein ihren eigenen Mann. „Als mein Großvater auf diesem Grund baute, mein Vater hier lebte und ich schließlich geboren wurde, hier in unserer Magdalenenstraße, all die Zeit über, die langen und lieben Jahre über, da wohnten hier höchst ehrbare Menschen. Das müssen Sie mir glauben, Herr Ahrens!“ Der Oberstaatsanwalt Pohl schob energisch seinen Stuhl zurück und stand auf. „Kommen Sie, bitte, wir unterhalten uns in meinem Arbeitszimmer weiter. Du entschuldigst uns wohl, Liebe, und Sie, Fräulein Escherich, tun es bitte auch!“ Ein maliziöses Lächeln kam in die blauen Augen der Frau. „Natürlich, Hans-Heinrich, ich will euch nicht aufhalten bei euren wichtigen Geschäften. Geht nur!“ Sie wandte sich Fräulein Escherich zu. „Nehmen Sie von den Keksen, Gisela, ich suche sie selbst bei Oertel aus. Und nun wird es höchste Zeit, daß wir endlich von Ihnen plaudern.“ Wir gingen durch den hellen Wohnraum und durch die dunkle Halle zu seinem Arbeitszimmer. Links und rechts von der Tür hingen zwei von Frau Pohls Verwandtschaft in Öl, ich schaute tief in wäßrig blaue Augen. Auch über dem Schreibtisch des Herrn Oberstaats225
anwalts hing so ein Familienmitglied. Ich erkannte das langgezogene Pferdegesicht wieder, obwohl sich der Porträtmaler hier alle Mühe gegeben hatte, es hinter einem breiten Backenbart zu verstecken. Die Augen waren ebenfalls die gleichen, und die Härte in ihnen hatte der Meister besonders gut herausgearbeitet, diese Härte kleiner, runder Bachkiesel. Und die brauchte man wohl auch, um sich auf dieser ausladenden Fläche an der Außenalster anzusiedeln. Der Mann, der da von oben über den ganzen Raum herrschte, mochte der Bauherr gewesen sein. Nur in einem Punkt irrte Frau Pohl. So sehr unterschied sich der Oberstaatsanwalt nicht von ihren Vorfahren, auch er hatte diesen besonderen Ausdruck in den Augen. Pohl lief schnurstracks hinter seinen Schreibtisch und ließ sich nieder. Er vergaß, mir Platz anzubieten, aber ich wollte gar nicht sitzen. Ich war viel zu aufgeregt. Ich spürte, wie die Dinge einem Höhepunkt zustrebten; nur wie der sich darstellen sollte, das wußte ich nicht. „Was wollen Sie von mir, Ahrens?“ fragte der Oberstaatsanwalt kurz und bündig. „Ich glaube nicht, daß Lore in Schweden ist“, erwiderte ich. „Ich denke, sie wird gegen ihren Willen irgendwo festgehalten.“ „Irgendwo?“ „Bei Ofterdinger!“ Pohl nickte. „Ja, ich weiß! Sie laufen mit Ihren verworrenen Ideen in der Gegend herum und posaunen sie aus. Sie sind auch bei dem Unternehmer gewesen, er hat sich schon bei mir beschwert. Im Grunde ist es Hausfriedensbruch.“ Ach, so hieß das also! Dieser Ofterdinger ging her, haute mich zusammen und nannte es Hausfriedensbruch! Meine Arme hingen noch jetzt ziemlich unnütz an mir herum, und die Gegend bei der Leber war ziemlich angeschwollen. Ich beharrte aber nicht auf dem 226
Thema, wollte auch keine Wortklaubereien, schließlich hatte ich dort bei der Kellertreppe wirklich keine allzu gute Figur gemacht. „Das Eindringen auf umzäuntes, fremdes Gelände ist strafwürdig, Herr Ahrens, ich verwarne Sie allen Ernstes!“ Herr Pohl sah mich an, wartete wohl auf eine Erwiderung. Dann schloß er etwas milder, sogar mit einem schwachen Lächeln: „Ich verstehe Sie ganz gut, mein Freund, aber dennoch rate ich Ihnen, tun Sie so etwas nicht wieder!“ „Ich werde noch viel mehr tun!“ „Zum Beispiel?“ „Ich gehe zum Generalstaatsanwalt!“ Herr Pohl zuckte förmlich zurück, aber das war nur der Bruchteil einer Sekunde. Er fing sich sofort. Seine Hände blieben ganz ruhig auf der Schreibtischplatte, kein Muskel rührte sich im Gesicht, und in den Augen lag kein erkennbarer Ausdruck. Die starrten mich nur an. Ich fuhr fort: „Ofterdinger ließ Lore entführen, nachdem er Tuyan umgebracht hatte. Ich weiß nicht genau, weshalb, aber ich denke mir, sie sollte den Türken nicht identifizieren.“ „Sie sind nicht bei Verstand“, flüsterte Pohl. „Sie glauben, ich gucke zu, wie meine Tochter entführt wird, und tue nichts? Sitze nur so herum?“ „Sie können gar nichts tun!“ „Und warum nicht? Wollen Sie mir das erklären?“ „Will ich“, erwiderte ich und machte eine Pause. Und dann schoß ich meinen Pfeil ab. „Sie fahren doch jetzt öfter nach Schleswig, nicht wahr?“ „Natürlich, ich besitze dort einen …“ Der Oberstaatsanwalt stockte. Noch immer lagen die Hände still auf dem Schreibtisch, und sein Gesicht blieb kühl und beherrscht. Aber die Spannung zwischen uns beiden hatte sich spürbar verstärkt. „Was wollen Sie damit sagen?“ 227
„Nichts weiter, als daß Sie und Ofterdinger Geschäftsfreunde sind. Seit der Zeit, nehme ich an, als Sie dem Makler auf die Steuerhinterziehung kamen.“ Ganz plötzlich sauste die Faust des Oberstaatsanwalts auf die Schreibtischplatte herab, das war alles, in seinem Gesicht ging nichts vor sich. Merkwürdig ruhig sagte er: „Sie verlassen auf der Stelle mein Haus!“ „Das wollte ich ohnehin, ich muß zum Generalstaatsanwalt!“ Ich drehte mich um und marschierte zur Tür, aber ich bekam die Klinke nicht in die Hand. „Herr Ahrens!“ hörte ich ihn hinter mir. Ich drehte mich um. Auf Pohls Gesicht lag jetzt so etwas wie ein verbindliches Lächeln. Langsam stand er auf und kam durch den weiten Raum auf mich zu. Fast schien es, als sähe er mich plötzlich in einem neuen, leicht verklärten Licht. Endlich sagte er: „Sie lieben meine Tochter ja wirklich. Ein Mensch, der sich solche Sorgen macht, der halb tot ist vor Kummer, der liebt wirklich!“ Er wandte sich ab, machte ein paar Schritte ins Zimmer zurück, blieb stehen, ging weiter. Ganz offensichtlich, der Mann war erregt. Er fuhr fort: „Da rasen wir also in unseren Autos durch die Gegend, hetzen von Termin zu Termin, sitzen voreinander mit zynischen Gesichtern und verlogenen Gebärden und glauben, Gefühle und all das, was den Menschen früher einmal so viel bedeutete, das sei für uns vorbei. Verloren –! Und dann begegnen wir einem, und der hat es noch. Und was tun wir? Wir gehen vorbei und nehmen uns nicht einmal die Zeit, in sein Gesicht zu schauen.“ Er blieb nah vor mir stehen und sah in mein Gesicht. Eine Weile schwiegen wir uns an, dann sagte er: „Lore ist in Schweden, Herr Ahrens!“ Ich schüttelte den Kopf. „Mein Ehrenwort! Sie ist in Schweden!“ Ich wußte nicht, was ich glauben sollte, nur soviel war sicher, der Mann begann mich zu beeindrucken. Er be228
merkte den schweren Zweifel in meinem Gesicht und seufzte, dann ging er zum Schreibtisch zurück und kramte unter Papieren. Schließlich hatte er eine schmale Broschüre mit mehrfarbigem Aufdruck in der Hand. Er hielt das Ding, das wie ein Reiseprospekt aussah, in die Höhe. „Na, was ist? Kommen Sie schon näher!“ Langsam ging ich auf ihn zu, blieb ein paar Schritte vom Schreibtisch entfernt stehen. Er schmiß mir das Büchlein zu. Es war der Werbeprospekt eines schwedischen Hotels. Ich las Stockholm und den Namen des Hotels Oxelösund. An dem breiten, weißen Rand stand mit Filzstift und dick unterstrichen die Telefonnummer. Und darunter: Zimmer 112. Mein Blick ging zwischen dem Prospekt und dem Staatsanwalt hin und her. Ich verstand nichts mehr, ich sah nur diesen Prospekt, und ich sah das vergnügte Gesicht des Mannes vor mir. Plötzlich erkannte ich Lore in seinen Zügen, mir wurde ganz schlecht. Dieses flaue Gefühl im Magen und die wackeligen Knie, die man manchmal hat. Der Staatsanwalt lächelte stärker und wurde dadurch Lore immer ähnlicher. Er zog das Telefon an sich heran und hob den Hörer auf. „Worauf warten Sie noch?“ fragte er mich. „Sagen Sie mir die Nummern an!“ Ich schaute auf die mit Filzstift notierten Ziffern am Rand des Prospekts. Ich mußte höllisch aufpassen, um mich nicht zu verheddern. Die fette Schrift schien ineinanderzulaufen, und es waren mit der Vorwahl eine ganze Menge Zahlen. „Ich rufe aus Deutschland an“, hörte ich den Staatsanwalt sagen. „Gibt es jemand bei Ihnen, der deutsch spricht? Sie selbst? Günstig! Bei Ihnen ist eine Deutsche abgestiegen. Fräulein Lore Pohl! Zimmer …“ Er sah mich fragend an. „Hundertzwölf“, würgte ich hervor. 229
„Zimmer einhundertzwölf! Wollen Sie freundlichst einmal hinaufklingeln, ob sie vielleicht in ihrem Zimmer ist? Ja, selbstverständlich warte ich.“ Oberstaatsanwalt Pohl ließ den Hörer sinken und schaute mich mit einem liebenswürdigen Lächeln an.
4. In diesen Augenblicken brach sehr viel in mir zusammen. Was hatte ich in den vergangenen Stunden und Tagen nur alles angestellt. Blindwütig, in einem Anfall von Geistesgestörtheit, war ich in der Gegend herumgerast, ein Amokläufer! Alle hatten sie recht gehabt, die mich während dieser Zeit nicht ernst nahmen. Schnabel, Sieg und Pohl. Und Ofterdinger! Ja, auch Ofterdinger, sogar der! Ich schämte mich. Aber ebenso, ganz zaghaft zwar, weil ich es noch immer nicht recht zu hoffen wagte, spürte ich schon die grenzenlose Erleichterung! „Lore –?“ sprach der Oberstaatsanwalt ins Telefon. „Lore, bist du das? Doch, doch, ich verstehe dich ganz gut. Wie geht es dir denn immer?“ Ich hörte den Staatsanwalt sprechen, aber die Stimme am anderen Ende der Leitung, die hörte ich nicht. Ich wollte hinlaufen und Pohl den Hörer aus der Hand reißen, wenn man das nur könnte, ich brachte doch wirklich keinen Fuß vor den anderen. Wie ein Ochse stand ich auf meinem Fleck und starrte Pohl an. Der nahm eine runde Büchse, einen elektronischen Stimmenverstärker, und stellte ihn neben das Telefon. Er drückte eine Taste und drehte den Tonknopf voll auf. Und da hörte ich ihre Stimme zum ersten Mal nach so vielen Tagen. Wie hatte ich nur auf diesen Augenblick gewartet. „… kalt und regnerisch, einfach scheußliches Wetter hier“, sagte sie. „Ich habe erst mal nur im Bett gelegen, bin gar nicht herausgekommen aus dem Hotel.“ 230
„Du, hör mal einen Augenblick!“ unterbrach sie ihr Vater. „Hier steht einer neben mir. Ich kann ihn nicht mehr aufhalten, der gibt einfach keine Ruhe!“ Herr Pohl reichte mir mit einem kopfschüttelnden Lächeln den Hörer hin. Plötzlich kam ich vom Fußboden los, ich konnte die paar Schritte zum Schreibtisch tun und den Hörer nehmen. „Lore –!“ „Du –?“ Mehr sagte sie nicht, aber dieses eine Wort brachte mir jede Stunde mit ihr zurück. „Wo … Lore …“, stammelte ich, „wo bist du?“ „In Stockholm.“ „Ich …“ Plötzlich hatte ich doch tatsächlich vergessen, was ich ihr alles sagen wollte. „Ja –?“ fragte sie. „Was ist mit dir?“ Mit mir? Die Frau hatte Nerven! „Ich habe mir tagelang Gedanken deinetwegen gemacht“, sagte ich in dieser Art von nüchterner Verhaltenheit, die starke und kräftige Männer so an sich haben. Wenn alles vorüber ist! „Aber … ich verstehe das nicht. Hat dir mein Vater denn nicht alles gesagt?“ „Doch, natürlich!“ Ich mußte mich abwenden von dem Staatsanwalt, der mich beobachtete. Denn plötzlich konnte ich ihn nicht mehr sehen, da schwamm es vor meinen Augen. Ich sprach weiter, die Hand um den Hörer gekrampft: „Aber ich … ich habe … ihm kein Wort geglaubt.“ „Du bist ein Dummer!“ antwortete sie. „Ein sehr lieber und ein sehr dummer Mann!“ Ihre Stimme! Mir war, als ob ich eine Spritze bekommen hätte mit irgendwelchem Zeug darin. Alles war ganz leicht und unbeschwert. Irgendwelche Schwierig231
keiten? Gab es nicht, ich sah jedenfalls keine. Entfernungen? Die zwischen Hamburg und Stockholm zum Beispiel? Zählte doch alles nicht! – „Ich komme sofort zu dir!“ „Nein, bitte nicht!“ „Keine Widerrede, sage ich dir!“ Ich griff nach der Werbeschrift. „Im Oxelösund wohnst du?“ „Ja.“ „Bleib auf deinem Zimmer, ich bin gleich bei dir!“ Und noch ehe sie etwas erwidern konnte, legte ich den Hörer auf die Gabel. Ich machte eine hilflose Geste in Pohls Richtung. „Entschuldigung … für alles!“ Der Staatsanwalt winkte ab, als sei nichts gewesen. „Fährt einfach nach Schweden. Verstehen Sie das?“ „Ich hatte Ihnen gestern schon gesagt, daß da eine Denkpause nötig war.“ „Ja, ja, das hatten Sie mir gesagt. Verzeihen Sie, bitte, aber ich muß jetzt gehen.“ Ich wandte mich ab und stolperte durch den Raum zur Tür. In der Halle lungerte der weiße Nadelstreifen herum, der holte Gisela Escherich. Und ohne mich von Frau Pohl zu verabschieden, verließen wir das Haus. Wir fuhren ein Stück den Harvestehuder Weg entlang und bogen beim Fährdamm in den Alsterpark ein. Gisela stoppte den Wagen dicht beim Ufer und machte den Motor aus. Ich hatte ihr auf der kurzen Fahrt alles erzählt. „Was werden Sie jetzt unternehmen?“ fragte sie. „Ich setze mich in die nächste Maschine nach Stockholm.“ „Und das halten Sie für richtig?“ „Was sollte ich sonst tun?“ „Abwarten!“ „Was denn abwarten? Worauf denn?“ „Auf Lore!“ 232
Ich war höchst verwirrt, denn dieser Gedanke wäre mir niemals gekommen. Gisela Escherich wandte sich mir zu; prüfend glitten ihre Augen über mein Gesicht, tasteten sorgfältig jede einzelne Partie ab, und irgendwie mußte ich ihrer Prüfung standhalten, denn ganz am Schluß lächelte sie. Männer in ihrer romantischen Phase, die gefallen den Frauen ja immer. „Was meinen Sie, weshalb Lore überhaupt nach Schweden gefahren ist?“ fragte sie. „Ist doch ganz einfach, ihr Vater hat sie geschickt.“ Für mich lagen die Dinge seit dem Telefongespräch höchst unkompliziert. „Er wollte nicht, daß sie Tuyan identifiziert. Sie sollte nicht ins Gerede kommen, er fürchtete die Zeitungen und so weiter und so weiter … Was wollen Sie eigentlich, ich kann das sogar verstehen. Also schickte er sie nach Schweden.“ „Und sie ist gefahren!“ „Na ja, ist sie eben. Und was weiter?“ „Hätte sie nicht in der Stadt untertauchen können? In Ihrer Wohnung? Oder in Cranz bei Ihren Eltern?“ „Ja –“, gab ich nach einer Pause zu. „Aber sie fuhr nach Schweden. Auf Wunsch ihres Vaters, mit dem sie doch seit ihrer Studentenzeit spinnefeind ist, wie Sie sich ausgedrückt haben, Herr Ahrens.“ „Ja“, erwiderte ich. „Und stimmt es etwa nicht?“ „Doch, doch“, erwiderte sie lächelnd, „es ist schon etwas daran, wenn Lore das Verhältnis auch etwas dramatisiert hat. Natürlich hat sie es niemals verwunden, daß sie in dem neuen Lebenskreis Magdalenenstraße nicht so richtig aufgenommen wurde. Denn sie hätte schon ganz gern in der veränderten Welt ihres Vaters Fuß gefaßt. Ist doch klar und verständlich! Sie sehen also, daß die Dinge komplizierter liegen, vor allem auch in Lores schwierigem Charakter begründet sind.“ Sie schwieg und blickte mich abwartend an. Sie rechnete wohl mit einer Erwiderung, aber ich gab ihr keine. 233
So stieg sie schließlich aus dem Wagen aus, und ich folgte ihr nach einem Zögern. Wir gingen hinunter ans Ufer. Auf der Höhe des Uhlenhorster Fährhauses gegenüber kreuzten ein paar Segler. Ein ganzer Schwarm Möwen, die Gassenjungen dieser Stadt, kreischten um die Masten herum. Gisela Escherich sagte: „Sie erinnern sich noch an jenen Abend, als Sie Lore zu mir in die Richardstraße brachten und selbst zum ‚Fleeterich‘ weiterfuhren?“ Natürlich erinnerte ich mich! Als ob ich eine einzige Stunde dieser Tage jemals vergessen könnte. „Was meinen Sie wohl, was Lore und ich getan haben, bis ihr Vater unten klingelte und sie abholte?“ „Sie haben die Brücknerplatte gehört“, sagte ich mit dem zaghaften Versuch zu scherzen. Aber sie ging nicht auf meinen Ton ein. „In erster Linie hat Lore mir gebeichtet. Sie hat erzählt, wie das zwischen Ihnen und ihr geschehen konnte. Sie war durch die Erlebnisse im Hafen im Innersten aufgewühlt. Dann saßen sie sich in Ihrer Wohnung gegenüber. Sie war für das, was dann geschah …“, sie sah mich mit einem versonnenen Lächeln an, „sie war aufbereitet dafür! Verstehen Sie, was ich meine?“ Nein, ich verstand kein Wort! Fräulein Escherich hielt die Sache wohl für hoffnungslos, denn sie schüttelte den Kopf. Dennoch fuhr sie erklärend fort: „Sie verbrachten eine Nacht zusammen! Am nächsten Morgen fuhren Sie mit ihr in die Eppendorfer Landstraße. Sie selbst packten Lores Koffer. Stimmt’s?“ „Stimmt!“ knurrte ich. Weshalb hatte Lore dieser Ziege davon erzählt? Jede Stunde unserer beiden Tage gehörte uns, niemandem sonst. Gisela Escherich fuhr fort: „Dann nahmen Sie Lore mit nach Cranz hinaus zu Ihren Eltern, zeigten ihr alles, was Sie so haben, das Kind, die Wiesen mit den Blumen darauf und das Pferd! Im Grunde haben Sie ihr eine 234
Idylle gezeigt, nicht die Wirklichkeit. Wissen Sie, was ich meine?“ „Sagen Sie es schon!“ stieß ich hervor. „Sie haben das arme Mädchen auf eine reichlich unfaire Art überrollt. Ich glaube, sie ist deshalb nach Schweden gefahren. Und wenn Sie auf eine Chance warten, Lore zu gewinnen, dann rate ich Ihnen, auf sie zu warten, Herr Ahrens. Warten Sie darauf, wie sie sich entscheidet.“ Fräulein Escherich schwieg ganz erschöpft still. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich war tief bestürzt. Ich bin ja nicht gerade blöde, jedenfalls halte ich mich nicht dafür, und es klang alles so logisch, was die Frau gesagt hatte. Ich wandte mich ab, machte ein paar Schritte. Die Segelboote hatten Kurs auf uns genommen, und man sah schon einzelne lachende Gesichter. Ich ging zu Fräulein Escherich zurück. „Und wenn wir uns auf der Mönckebergstraße getroffen hätten“, sagte ich tief erregt, „ohne das ganze Theater vom Hafen, einfach nur so beim Einkaufsbummel, mitten im Gewühl, wenn wir da plötzlich voreinander gestanden und uns angesehen hätten, es wäre alles genauso gekommen. In jeder einzelnen Phase! Ich schwöre es!“ Impulsiv nahm Gisela meine Hand. „Ich kann Sie gut leiden, Herr Ahrens, wirklich!“ Sie schaute mich mit einem warmherzigen Lächeln an, und ich erwiderte es, schließlich ist man ja höflich. Aber dann entzog ich ihr langsam meine Hand. Gisela sagte: „Sie zaubern sich ein Bild von Lore, wie es Verliebte tun. Das ist schön und gut und sehr sympathisch. Aber es ist auch unwirklich, um es mal so ganz ungeschminkt zu sagen. Ich kenne Lore länger als Sie, nämlich seit unserer gemeinsamen Schulzeit. Sie hat ein wirkliches Handikap!“ Ich begann mich zu fangen, denn nun kamen wir zu meinem eigentlichen Thema. „Ich konnte keins an ihr entdecken, beim besten Willen nicht.“ 235
„Sie trägt eine Brille!“ Na ja, das wußte ich schon. „Völlig bedeutungslos!“ „Sie sind keine Frau, Herr Ahrens! In den Jahren, als wir Mädchen unsere ersten Flirts hatten, stand sie abseits, und sie hat darunter gelitten. In dieser Zeit setzte sie die Brille dauernd auf und ab. Wenn sie sie aber abnahm, erkannte sie nichts, sah nicht, ob ihr Gegenüber sie an- oder auslachte. Sie wurde außergewöhnlich mißtrauisch. Natürlich hatte sie später Männerbekanntschaften, aber die blieben Abenteuer.“ „Wie mit mir“, sagte ich lachend. „Wir wollen Sie mal draußen lassen, Herr Ahrens. Aber wie mit dem Türken zum Beispiel!“ „Reden Sie nur weiter!“ „Aus dem frühen Erlebnis ihrer Zurücksetzung wuchs etwas Neues in ihr. Plötzlich wollte sie Reisen machen, Autos fahren … diese Sachen eben.“ „Lore ist nicht so oberflächlich!“ Ich schrie es beinahe in Fräulein Escherichs Gesicht hinein. „Ich habe nicht gesagt, daß sie oberflächlich ist“, erwiderte sie gelassen. „Ich meinte nur, daß sich ihre Erwartungen geändert haben.“ „Frauen –!“ stieß ich heraus. „Wie?“ „Freundinnen –! Wenn schon die besten Freundinnen über ihre besten Freundinnen reden!“ „Ich verstehe Sie nicht!“ „Ach, tun Sie doch nicht so! In der letzten Zeit gibt es zwei Männer bei Lore. Diesen jungen, sympathischen und wirklich gutaussehenden Türken. Und mich. Und wie ist das mit Ihnen, Fräulein Escherich? Leben Sie eigentlich auch mit einem netten jungen Mann zusammen?“ Jetzt verstand sie mich. Mit einem strahlenden Lächeln schaute sie mich an und sagte: „Nein!“ „Bitte!“ 236
Und noch immer mit diesem Strahlen auf ihrem Gesicht: „Sie sind ein Idiot, Herr Ahrens!“ „Natürlich bin ich das, wenn ich mir das Gerede von Lores sogenannten Freundinnen anhöre.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zu ihrem Wagen zurück. Ich spazierte hinterher. Sie stieg ein, aber sie forderte mich nicht mehr auf, neben ihr Platz zu nehmen. Doch während sie startete und den Gang einlegte, schien sich ihre Wut schon wieder zu legen. „Sie sind ein Träumer, Herr Ahrens!“ Das sagte sie noch. „Wie?“ fragte ich, denn ich verstand sie nicht. Sie schoß im Rückwärtsgang auf das Rasenstück hinter sich, legte den ersten Gang ein und fuhr mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davon. Dabei schrie sie: „Sie träumen doch, Herr Ahrens!“ Und ich? Ich rannte ihr ein Stück hinterher und brüllte, so laut ich konnte: „Na wennschon, da träum’ ich eben!“
5. Da stand ich also mitten in den Anlagen des Alsterparks, ohne eigenes Fahrzeug, und Fräulein Escherich bog in den Harvestehuder Weg ein. Die hatte mich kalt stehenlassen, ich mußte sie tief getroffen haben. Ich machte ein paar Schritte in Richtung der Hauptverkehrsstraße, auf der ein Schnellbus fuhr. Aber dann blieb ich stehen, das dauerte alles zu lange. Ich lief zur Außenalster zurück und trat an einen Verkaufsstand. Ich nahm eine Tüte Kartoffelchips und bat den Mann, mir ein Taxi zu rufen. Er tat es. Während ich aus der Tüte von dem öligen Zeugs aß, trottete ich den Fährdamm hinunter. Auf halber Höhe kam mir das Taxi entgegen, und das brachte mich nach Fuhlsbüttel zum Flughafen. Die Abendmaschine nach Stockholm befand sich bereits in der Luft, und die nächste ging nicht vor morgen 237
früh. Zustände waren das, wie im Mittelalter! Am Informationspult erfuhr ich, daß es für die Morgenmaschine genügend Plätze gäbe und daß es ausreichte, wenn ich den Flug erst morgen buchte. Ich war noch nicht sicher, ob ich die Maschine nehmen sollte, vielleicht gab es irgendeine Möglichkeit, schneller nach Stockholm zu kommen, man würde sehen. Zunächst mußte ich zurück zum Glindweg, um ein paar Sachen zu packen. Da die Verkehrsverbindungen von Bus und Hochbahn ungünstig sind in meine Gegend, nahm ich wieder ein Taxi. Der Fahrer hatte ein Kursbuch im Wagen, das er mir auslieh. Ich dachte nämlich, daß es reizvoll sein müsse, den gleichen Nachtzug zu nehmen wie Lore vor einigen Tagen. Gleichsam auf ihren Spuren nach Kopenhagen und von dort weiter nach Stockholm. Aber ich merkte bald, während ich die Anschlüsse nachschaute, daß dieser Weg meinen Irrsinn auf die Spitze treiben würde. Ich klappte das Buch zu und lehnte mich zurück. Ich spürte deutlich, wie ich abschlaffte. Es war so, als ob ich in einen Brunnen fiel, immer schneller, haltlos. Ich hatte in den letzten Tagen einen schweren Kampf geführt, mit allen möglichen Leuten, nicht zuletzt aber wohl auch mit mir selbst. Ich war zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergetaumelt. Niemals, in meinem ganzen Leben nicht, war mir ähnliches passiert. Und es würde nie wieder geschehen, das wußte ich, so etwas konnte es nur einmal geben. Wenn es ausgestanden war, würde man wohl eine weitere Schwelle überschritten haben. Es mag lächerlich klingen, wenn ich das sage in meinem Alter, aber es gibt ja auch so etwas wie späte Entwicklungen. Ich hatte inzwischen mit Lore gesprochen. Morgen mittag würde ich bei ihr sein und sie in meine Arme nehmen. Und ausgerechnet in diesem Moment begann ich mich zu fragen, ob dies wirklich der Endpunkt sei, 238
den ich die ganze Zeit über unverrückbar vor mir gesehen und angesteuert hatte. Na schön, ich fuhr zu ihr und nahm sie in die Arme. Und dann? Wie würde es dann mit uns weitergehen? Das war mal wieder typisch für mich, dachte ich, typisch für den unglaublich labilen Zustand, in dem ich mich befand. Oder hatten die feinen Nadelstiche des Fräuleins Escherich, von denen ich glaubte, sie hätten mich gar nicht berührt, doch tiefer getroffen? Irgendwas unsagbar Dummes war los mit mir. Ja, irgendwas, dachte ich noch, aber was eigentlich –? „Hallo, Herr Senator, aufwachen!“ Ich schreckte hoch. „Was ist los? Wo … sind wir?“ „Glindweg neununddreißig, dahin wollten Sie doch, oder?“ „Habe ich geschlafen?“ „Wie in Abrahams Schoß.“ Ich mußte in der Höhe von Alsterdorf eingedöst sein, die Gegend hatte ich durchs Wagenfenster noch deutlich gesehen. Die letzten zehn Minuten hatten mich ungemein erfrischt. Ich war wieder an Deck, ich konnte eine schwerbeladene Schute durch ein Fleet staken. Ich nahm aus dem Briefkasten die Post und die Zeitungen und sprang leichtfüßig zur ersten Etage hinauf. Schon auf der Treppe roch ich die Kartoffelpuffer. Alle Woche buk Frau Graumann von nebenan Puffer, und wenn sie das tat, dann öffnete sie Fenster und Türen, auch die zum Treppenaufgang. Und der Gestank erfüllte das Haus und drang durch alle Ritzen bis in meine Wohnung. Ich sah die Post durch, während ich hinaufging, alles nur Geschäftssachen und Reklame, nichts sonst. Wer sollte mir auch schreiben? Und mit Lore hatte ich ja telefoniert. Inzwischen hatte ich aufgeschlossen, war hineingegangen und warf gerade die Post und die Zeitungen auf die Ablage neben der Garderobe, als ich zur Lampe hinaufsah. 239
Die Ampel auf dem Flur brannte! Hatte ich Licht gemacht, als ich hereinkam? Nein, hatte ich nicht! Ganz langsam drehte ich mich um. Die Türen! Waren alle fest verschlossen! Ich lasse aber alle, bis auf die zum Bad natürlich, immer offen. Etwas anderes gibt es nicht bei mir, weil ich geschlossene Türen nicht ausstehen kann. Enge bedrückt mich. Hier stimmte etwas nicht! Und kein Geräusch! In der Wohnung nicht, im ganzen Haus nicht. Es war unheimlich still. Eine Totenstille! Auch ich rührte mich nicht. Ich zog nur ganz langsam das Schlüsselbund aus meiner Tasche und steckte mir die Schlüssel zwischen die Finger, einzeln, in jeden Zwischenraum einen. Dann schlich ich zur Wohnzimmertür. Langsam drückte ich die Klinke herunter und schob die Tür auf. Ich sah niemand. Ich machte einen Schritt ins Zimmer hinein und blickte durch die Verbindungstür in den Nebenraum. Auch dort keine Menschenseele! Aber es war jemand hiergewesen! Die Stehlampe brannte, auch aus dem anderen Vorderzimmer kam gedämpftes Licht herüber. Auf dem Eßplatz war eingedeckt – für zwei Personen. Zwischen dem Geschirr standen brennende Kerzen. Lange Zeit, wie mir schien, starrte ich darauf, auf das Geschirr und auf die brennenden Kerzen. Der Geruch nach Kartoffelpuffern, der war gar nicht aus Frau Graumanns Wohnung herübergezogen. Der kam aus meiner Küche! Ich machte kehrt, war mit einem Satz bei der Küchentür und stieß sie auf. Und da stand sie beim Herd! Lore –! Stand einfach da und hantierte mit zwei Pfannen. Das blonde Haar hatte sie aufgesteckt. Sie trug die weißen Jeans und das buntbedruckte Sporthemd. Sie hatte eine meiner Schürzen um, auf der – Papa ist der beste Koch – gedruckt stand. Wir sahen uns an. Ich lehnte am Pfosten der Küchentür, weil ich etwas im Rücken brauchte, das mich hielt. Wir sprachen nicht, blickten uns nur an. Und dann, als sie wohl den Ausdruck in meinem Gesicht richtig aufge240
nommen hatte, wich sie langsam vor mir zurück. Ich folgte ihr durch die ganze Küche bis hin zum Fenster und nahm sie in meine Arme. Ich war nach Hause gekommen. Hatte ich irgendwann einmal Zweifel an meinem Ziel gehabt? Es war doch unsagbar, wie kleinmütig man manchmal sein konnte. Sie flüsterte neben meinem Ohr: „Ich saß so herum, weißt du, wartete, daß du endlich kämst. Und da fing ich an, mich zu beschäftigen, deckte den Tisch, suchte zu essen, fand aber nichts, nur Kartoffeln, und da habe ich Kartoffelpuffer gemacht. Ist dir das recht?“ Sie versuchte von mir freizukommen, aber ich ließ sie nicht los. „Laß mich mal, du! Ich stinke abscheulich nach dem Essen.“ „Sag nicht so dummes Zeug“, flüsterte auch ich. Ich hatte noch niemals eine Frau getroffen, die so gut roch wie sie. „Wann bist du gekommen?“ „Nicht lange vor dir.“ „Du mußt dich gleich in eine Maschine gesetzt haben.“ „Es ging gerade eine.“ „Unglaublich, diese Düsendinger heutzutage!“ Ich spürte, wie die zitternde Erregung in mir abklang. Und endlich war es soweit, daß ich sie küssen konnte. Und das tat ich. Wir standen noch am offenen Küchenfenster, es dämmerte schon stark, und ich sah in ihren dunklen Brillengläsern noch weniger als sonst. „Nimm doch ein einziges Mal diese Brille ab!“ „Du glaubst ganz sicher, ich schiele oder so etwas.“ „Ja, natürlich!“ „Später nehme ich sie ab, und da kannst du sie anschauen. Da zeige ich dir alles, was du willst.“ Und energisch: „Aber vorher wird gegessen!“ Die beiden letzten Puffer waren in der Pfanne verbrannt, die warfen wir gleich in den Abfalleimer, aber aus der Backröhre zog Lore einen Teller herrlich duftender, goldbraun gebackener Exemplare. Die trug sie hinüber ins Zimmer, und während sie uns davon auftat, 241
schenkte ich Wein in die Gläser. Der Wein zu den Kartoffelpuffern machte unseren Snobismus erst richtig perfekt. Stillschweigend waren wir nämlich übereingekommen, die Puffer als nur den einen Teil eines raffiniert zusammengestellten Menüs zu betrachten. Wir saßen uns gegenüber und prosteten einander zu. Dann klapperte ich mit Messer und Gabel und hantierte auf dem Teller herum. „Du mußt nun aber auch tüchtig davon essen“, sagte sie und beobachtete mich. „Ich habe aber keinen Hunger.“ „O nein, das kannst du mir nicht antun, ich will sie doch nicht alle umsonst gemacht haben!“ „Es geht aber nicht“, sagte ich und lächelte. „Du mußt mir das entschuldigen, Lore, ich kriege keinen Bissen herunter.“ Und plötzlich, ganz zusammenhanglos, lachte ich laut heraus, weil mir etwas einfiel. „Weißt du, wo ich gerade herkomme?“ „Du warst bei meinem Vater.“ „Ja, ja! Und später bin ich sehr lange mit Fräulein Escherich an der Außenalster herumgestiefelt, wir haben uns fürchterlich gestritten …“ „Worüber?“ „Ganz unwichtig, schon vergessen! Aber dann war ich am Flughafen, das dauerte alles so irrsinnig, weil ich kein Auto dabei hatte, weißt du! Aber gut, daß es so war, denn wenn ich eher dort gewesen wäre, hätte ich noch die Abendmaschine nach Stockholm erwischt. Und dann wären wir in der Luft aneinander vorbeigesegelt. Ist das nicht unheimlich komisch?“ Ich schaute sie an, aber es amüsierte sie gar nicht. Ich sagte: „Aber du hast deine Maschine erreicht und bist mir also zuvorgekommen.“ Sie lachte noch immer nicht. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von tiefem Ernst und um ihren Mund ein beinahe schmerzlicher Zug. In mir begann eine Alarm242
glocke zu schrillen, lang und anhaltend. Vorhin in der Küche, wie war das eigentlich gewesen? Hätte sie da nicht auf mich zustürzen müssen, als sie mich plötzlich sah? Sie war aber ausgewichen, durch den ganzen Raum bis hin zum Fenster. „Wir hatten zwei schöne Tage, nicht wahr?“ Hatten –! Ich erwiderte kein Wort darauf, sah sie nur an. Mit einem langen Blick! Pause –! „Ich werde die niemals vergessen, das mußt du mir glauben! Sie waren … wie ein Traum! Aber sie waren nicht wirklich. Und ich glaube einfach nicht, daß es für lange Zeit reicht. Mein Gefühl für dich, meine ich.“ Diese Escherich! Was hatte die mir eigentlich gesagt da an der Alster? Ich wußte es nicht, hatte alles vergessen. „Du warst gar nicht in Schweden“, sagte einer. Der stand neben mir und sprach mit einer Stimme, die eine Oktave tiefer lag als meine eigene. „Doch, doch, ich war dort! Und ich habe auch sehr lange nachgedacht, über uns beide!“ „Was soll das hier überhaupt sein?“ Immer noch dieser andere Mann mit der tiefen Stimme neben mir. „So etwas wie ein Abschiedsessen vielleicht?“ Sie sagte sehr leise: „Ich bin gekommen, um mit dir darüber zu sprechen.“ Wie war denn das gewesen, als ihr Vater mit ihr im Hotel Oxelösund in Stockholm telefonierte? Ich sagte ihm die Zahlen an, und ich mußte höllisch achtgeben, denn es waren viele, und die Schrift des Filzstiftes schien ineinanderzulaufen. Hatte er die Nummer gewählt? Keine Ahnung, er hatte mir den Rücken zugekehrt dabei. Sollte ich zum Telefon gehen, den Flughafen anrufen und fragen, wann die Nachmittagsmaschine aus Stockholm gelandet war? Wir hatten ein langes Gespräch an der Außenalster, dieses Fräulein Escherich und ich, ein sehr langes Gespräch. Ich brauchte lange bis nach 243
Fuhlsbüttel, auch dort hatte es gedauert. Dann die Rückfahrt bis in meine Wohnung. Nein, es stimmte trotzdem nicht, selbst mit diesen Düsenmaschinen kam es zeitlich einfach nicht hin. Wo war sie also gewesen, wenn nicht in diesem komischen Oxelösund? Hatte sie von einem Nebenanschluß aus der Pohl-Villa mit mir gesprochen? Unfaßbar! „Ich möchte, daß du mich vergißt!“ sagte sie auf einmal. „Du warst bei diesem Ofterdinger, Und du warst bei meinem Vater. Tu das nicht wieder!“ Ich wollte hinüberlangen über den Tisch und ihr die Brille herunterreißen vom Gesicht, weil ich ihre Augen nicht sah. Aber natürlich tat ich es nicht, ich hatte mich schon so an diese dunklen Gläser gewöhnt. Ich blickte nur auf ihren Mund, und der drückte ja auch viel aus. Der schmerzliche Zug darum herum schien sich immer tiefer einzugraben. „Vergiß mich!“ sagte sie gerade. „Ich bitte dich darum!“ Plötzlich war der fremde Mann neben mir verschwunden, es war wieder meine eigene Stimme, die ich hörte: „Das sagst du nicht im Ernst!“ „Doch!“ „Nein, du sagst es nicht freiwillig!“ Dieser Ofterdinger und dieser Pohl waren in das Millionending der Steuerhinterziehung miteinander verstrickt. Was hatten die beiden mit dem armen Mädchen angestellt? Wie hatten sie das fertiggebracht, daß sie Dinge sagte, die sie so nicht meinte? Da gab es Psychopharmaka einer besonderen Reihe, fiel mir plötzlich ein, gewissenlose Ärzte, auch Verbrecher wendeten die an. Ihre Opfer taten Dinge, die sie aus eigenem Antrieb niemals tun würden. Die Persönlichkeitsstruktur hatte sich unter dem Einfluß der Droge verändert. War es das? „Ofterdinger und dein Vater erpressen dich“, sagte ich und sah sie beruhigend an. Sie schüttelte den Kopf. 244
„Es kann gar nicht anders sein!“ „Nicht jeder, der ein wenig mehr Geld hat als du, handelt auch gleich unehrenhaft.“ Sprüche! Was für ein Blabla, das überhaupt nicht zu ihr paßte! Ich sagte nichts mehr. Ich starrte sie nur an, und sie versuchte, meinen Blick zu erwidern. Plötzlich stöhnte sie: „Gib mir eine Zigarette!“ „Aber ich rauche nicht.“ Ich lächelte krampfhaft. „Das weißt du doch.“ „In meiner Tasche sind welche.“ Ich ging hinüber zum Schreibtisch, auf dem sie lag. Es war ein großer Umhängebeutel, wie Frauen sie gerade liebten. Ich machte ihn auf und sah das heillose Durcheinander. „Und wer soll sich in der Tasche einer Frau zurechtfinden, ich etwa?“ fragte ich mit der verbissenen Anstrengung, irgendwie lustig zu sein. „Stülp sie einfach um!“ Das tat ich, weil ich in der Stimmung dazu war. Der ganze Inhalt ergoß sich auf dem Fußboden um mich herum. Ich sah die Geldbörse, eine kleine Niveadose, einen Hausschlüssel, meinen eigenen übrigens, den ich ihr nach unserer ersten Nacht ausgehändigt hatte. Ich sah das Feuerzeug und die Schachtel „Candida“. Aber vor allem sah ich das Hufeisen! Das hatte ich ihr in Cranz gegeben und gesagt, daß es ihr Glück bringen würde, solange sie es bei sich trüge. Das Ding wog über ein Pfund! Weshalb hatte sie es noch immer bei sich? Weshalb hatte sie es nicht längst fortgeworfen? Ich hob das Hufeisen auf und ging langsam damit auf sie zu. „Du hast es mit dir herumgetragen?“ Plötzlich war sie ein kleines Mädchen. „Aber du hast es mir doch gegeben.“ „Und du liebst mich nicht? Du hast es die ganze Zeit mit dir herumgetragen, und du liebst mich nicht?“ Sie antwortete nicht. Sie war viel zu verwirrt, weil ich sie ertappt hatte. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände, 245
hielt es, sah sie an. Dann drückte ich es gegen meins. „Sei ganz ruhig, mein Liebes!“ flüsterte ich. „Mit diesem Ofterdinger werden wir fertig. Und mit deinem Vater auch!“ „Ja!“ schrie sie auf. „Ja, ja –!“ Ich kannte diese Wildheit, mit der hatte ich schon eine ganze Nacht zu tun gehabt. Sie stammelte: „Komm –! Bitte, komm!“ Aber ich konnte es nicht, noch nicht! Ich streichelte ihr Haar und merkte, wie sie allmählich ruhiger wurde. Dann sagte ich: „In der Küche habe ich eine Flasche Champagner, ein uraltes Ding und nicht einmal kühl, aber was soll’s, ich mache sie auf. Ja?“ Auf einmal war wieder das Lachen in ihrem Gesicht, das ich so liebte. „Tu’s!“ antwortete sie. Ich ging in die Küche. Die Flasche mußte in der Speisekammer sein, in einem der hinteren Regale. Ich fand sie endlich und zog sie hervor. Sie war total verstaubt. „Ich weiß nicht mal mehr, von wem ich sie habe“, rief ich zum Zimmer hinüber. „Irgend jemand brachte sie aus der Champagne mit, aus dem Urlaub, und schenkte sie mir.“ Doch plötzlich wußte ich es, ich sah die Gestalt vor mir. Es mußte jemand aus einem früheren Leben gewesen sein. „Ich komme gleich“, rief ich wieder und trat an den Handstein. Ich spülte den Staub von der Flasche herunter und rieb sie trocken. Dann ging ich zurück ins Zimmer. Lore saß nicht in ihrem Sessel. Ich schaute durch die Verbindungstür in den Nebenraum zur Liege. Nein! Ich ging über den Flur ins Bad. Auch nicht! Ich lief noch einmal durch alle Räume, aber ich fand sie nicht. Lore blieb verschwunden!
6. Die Kartoffelpuffer, von denen wir nicht gegessen hatten, lagen auf den Tellern und glotzten mich an. Schienen die Riesenaugen eines Monsters zu sein. Die Kerzen brannten flackernd. Ich stand vor 246
dem Tisch und hielt die Flasche Champagner am Hals, als ob ich damit zuschlagen wollte. Die Umhängetasche war fort. Sie hatte die verstreuten Gegenstände schnell eingesammelt, bevor sie verschwand. Auch das Hufeisen war fort. Aber den Hausschlüssel hatte sie sorgfältig auf den Rand des Schreibtisches gelegt. Und dann sah ich noch etwas! Neben dem Schreibtischfuß, halb versteckt unter der heruntergezogenen Seitenwand, blitzte etwas. Das mußte fortgerollt sein, als ich die Tasche umgestülpt hatte. Ich ging hin und hob es auf. Es war ein Tablettenröhrchen, ein mir ganz unbekanntes amerikanisches Präparat. Ich entdeckte, daß zwei Tabletten daraus fehlten, als ich das Röhrchen gegen das Licht hielt. Wieder mußte ich an die Pharmaka denken, die eine bestimmte Sorte von Neurologen ihren Patienten eingaben. Sie hatte mir gesagt, daß alles zwischen uns ein Irrtum gewesen sei, ein schöner Traum zwar, aber nicht die Wirklichkeit. Und als ich ihr dann das Hufeisen entgegenhielt, dieses lächerliche, alberne Ding, da warf sie sich mir schluchzend an den Hals. Und ein paar Minuten später war sie verschwunden. Wovor lief sie davon? Vor ihrer eigenen Courage? Weshalb war sie überhaupt hergekommen? Ohne Zweifel hatte ihr Vater sie doch geschickt. Als Pohl merkte, daß es mir bitterernst war mit meiner Drohung, ich ginge zum Generalstaatsanwalt, da nahm er wie ein Zauberkünstler den Zylinder und holte Lore daraus hervor. Natürlich hatte Pohl sie hergeschickt! Aber was sollte sie hier bei mir? Nur sagen, daß es zwischen uns aus sei? Oder was noch? Ich starrte auf das Tablettenröhrchen in meiner Hand. Dann ging ich hin und blies die Kerzen aus. Ich löschte auch alles andere Licht in der Wohnung und verließ sie schließlich höchst nachdenklich. Als ich aus dem Hauseingang trat, kam mir auf dem knappen Weg des Vorgartens der Steuerfahnder Sieg entgegen. Am Stra247
ßenrand sah ich dicht hinter meinem eigenen Wagen den Volvo stehen. Kommissar Schnabel hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und rief mir zu: „Menschenskind, Ahrens, wo stecken Sie denn die ganze Zeit über?“ Ich ging zu ihm und lehnte mich an das Wagendach. „Wir sitzen im Präsidium herum und warten auf Sie, auf einen Anruf oder etwas, und Sie …? Denken Sie, uns interessiert das nicht, was Sie mit Pohl ausgehandelt haben?“ Er blickte mich an, und als ich nichts erwiderte, sagte er unwirsch: „Na los! Steigen Sie schon ein!“ Ich tat es, und der Steuerfahnder Sieg folgte mir. Er brachte den Volvo, dessen Motor noch lief, vom Kantstein und wendete. Er bog in die Semperstraße ein und fuhr in schnellem Tempo Richtung Mühlenkamp. „Wieso sind Sie hergekommen?“ „Weil wir angerufen haben in Ihrer Wohnung. Ihre Haushälterin, eine Frau …“ „Hahn –“ „Richtig! Diese Frau sagte uns, daß Sie bald nach Hause kommen müßten.“ Frau Hahn kam immer nur vormittags. Der Kommissar hatte also mit Lore gesprochen. „Was war bei Pohl?“ fragte Schnabel. „Ich habe ihm Dampf gemacht, ganz wie Sie mir geraten hatten, und da ist er mit der Wahrheit herausgerückt.“ „Wissen Sie, wo seine Tochter steckt?“ „Ich habe sogar mit ihr gesprochen.“ „Bei ihm zu Hause?“ „Wir haben telefoniert.“ „Na und? Wo ist sie denn? Meine Güte, lassen Sie sich doch nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen!“ Und nun tat ich etwas, wofür ich keine Erklärung fand. Mußte wohl ganz triebhaft aus mir herauskommen, dieses Bedürfnis, Lore zu schützen. Ich sagte näm248
lich: „Sie ist nach Schweden gefahren, ganz wie ihr Vater gesagt hat. Wohnt im Hotel Oxelösund in Stockholm.“ „Haben Sie Pohl gedroht, Sie würden zum Generalstaatsanwalt gehen?“ „Wie Sie mir gesagt haben.“ „Und danach machte er das Ferngespräch nach Schweden?“ „Ja.“ „Damit haben wir ihn.“ „Aber wieso? Pohl hat das doch nie verheimlicht. Sie wußten das schon seit Tagen.“ „Aber daß er es Ihnen gesagt hat, nachdem Sie ihm mit dem Generalstaatsanwalt gedroht haben! Er wollte verhindern, daß Sie weitere Wellen schlagen, und das beweist schließlich: Er hat was zu vertuschen!“ „Es beweist, daß Pohl und Ofterdinger zusammenstecken, was wir schon seit langem wissen“, rief Sieg von vorn. Wir kamen gerade aus der Papenhuder Straße auf den Mundsburger Damm, gleich würden wir an der Alster sein. „Frag mal an, wo sich der Bursche gerade herumtreibt“, forderte Schnabel den Steuerfahnder auf. Sieg griff nach dem Mikrofon und sprach hinein: „Elbboje, bitte kommen!“ „Hier Elbboje“, quakte es aus dem Funkgerät. Ich saß in meiner Ecke und begann zu kichern. Ich konnte mich gar nicht bremsen, so absurd erschien mir alles. Was machten die Burschen gerade, ein Pfadfinderspiel? „Wo ist er?“ fragte Sieg. „Neuer Wall!“ Sieg blickte sich um zu dem Kommissar, und der nickte. „Wir kommen hin. Ende!“ Schnabel hatte sich ein wenig herumgewälzt zu mir und kicherte nun auch. „Das ist eine ganz normale Sendefrequenz, die kann nun wirklich jeder abhören, und wir wollen nicht, daß er gewarnt wird.“ 249
„Ofterdinger?“ „Ja, er reist noch immer von einer Bank zur anderen. Sagen Sie, womit fummeln Sie da eigentlich dauernd herum?“ Der Kommissar schaute auf das Tablettenröhrchen, das ich die ganze Zeit über zwischen meinen Fingern herumrollen ließ. War mir gar nicht bewußt gewesen. Noch ehe ich dazu kam, es einzustecken, hatte Schnabel es aus meiner Hand gefischt. Er knipste das Seitenlicht im Wagen an, schob seine Stahlbrille auf die Glatze und entzifferte die Aufschrift in englischer Sprache. Dann wandte er sich mir zu und schaute aufmerksam in mein Gesicht. Mir wurde ganz unbehaglich zumute unter seinem Blick. Schließlich knipste er das Seitenlicht wieder aus und lehnte sich zurück. Eine ganze Weile war es still, jeder hockte in seiner Ecke, aber dann fragte er doch: „Was wollen Sie mit dem Zeug?“ „Ich hatte verdammte Kopfschmerzen“, log ich. Auch in dieser Hinsicht machte ich ja gute Fortschritte. „Ich suchte nach Tabletten, fand aber keine, nur die hier.“ „Das ist kein Mittel gegen Kopfschmerzen.“ „Ich weiß nicht, wofür die gut sind.“ „Woher haben Sie die Dinger?“ „Keine Ahnung!“ „Quatschen Sie nicht herum!“ Noch niemals hatte der Kommissar in so einem rüden Ton mit mir gesprochen. „Sie müssen wissen, woher Sie dieses Medikament haben! Also, woher?“ „Irgendeiner im Hafen hat es mir wohl gegeben. Ein Amerikaner, denke ich. Ich weiß es nicht mehr genau, ist wirklich sehr lange her.“ Ich spürte, daß der Kommissar mir kein Wort glaubte. Aber er sagte nichts weiter, steckte das Röhrchen nur kurzerhand und ohne zu fragen in seine Jackentasche. „Ist das Mittel gefährlich?“ fragte ich. „Überhaupt nicht“, erwiderte der Kommissar knurrend. „Aber wenn Sie mal so richtig ausspannen wollen, 250
da nehmen Sie zwei von den Pillen. Sie fallen gleich um und schlafen ein. Sie tauchen in Tiefen ’runter, von denen Sie nicht mal wissen, daß es die gibt in Ihnen.“ „Wach ich auch wieder auf?“ „Ja, ja, warum denn nicht, wenn Sie Glück haben. Dann taumeln Sie noch eine Woche in der Gegend herum, haben kaum irgendwelche Wünsche. Aber dann legt sich auch das. Irgendwann legt sich ja alles in uns.“ Ich antwortete nicht. „Wir haben wirklich große Fortschritte gemacht, auch in der Medizin, alles zum Wohl des Menschen!“ Sie hatten Lore zu mir geschickt, damit sie mir von diesem Mittel gab. Sie wollten mich nicht gerade umbringen, aber ich sollte aus dem Verkehr gezogen werden, bis Ofterdinger außer Landes war. Aber Lore hatte es mir doch nicht eingegeben, da war noch eine allerletzte Sperre in ihr, die Ofterdinger und Pohl nicht durchstoßen konnten. Halt! Zwei Tabletten fehlten in dem Röhrchen, und ich hatte von dem Wein getrunken. Aber es konnte nicht sein, denn sonst würde ich jetzt nicht heben Schnabel im Wagen sitzen. Nein, Lore brachte es schließlich nicht fertig, und aus diesem Grund verschwand sie dann aus meiner Wohnung, aus keinem anderen! Wir waren inzwischen am Neuen Wall angekommen. Schräg gegenüber lag ein gewöhnliches Geschäftshaus, nichts deutete darauf hin, daß in ihm auch eine Bank ihre Räume hatte. Es mußte eine dieser kleinen Privatbanken sein ohne bindende Öffnungszeiten, günstig für einen, der schnell sein Geld flüssigmachen will. Als wir anlangten bei dem Haus, fuhr ein kleiner VW-Käfer vom Eingang fort, bog in die Poststraße ein und blieb gleich am Stadtbüro der Lufthansa stehen. Der Neue Wall liegt ja im Geschäftsviertel, und um diese Zeit ist die Gegend wie leergefegt. Keine Menschenseele, kaum ein parkendes Auto, ich sah nicht einmal Ofterdingers weißen Mercedes. Natürlich hatten sie Lore ein Pharmakon eingegeben. 251
Zwar keine von den K.-o.-Pillen, wie ich sie haben sollte, aber irgend etwas anderes eben, das sie Dinge tun ließ wie normalerweise nicht. Die Medizin hatte ja enorme Fortschritte gemacht, wie Schnabel behauptete. Ich starrte zu dem Geschäftshaus hinüber, in dem Ofterdinger sich aufhielt. Der Eingang sah fest verschlossen aus, daneben befand sich ein, ins Mauerwerk eingelassenes Messingbecken mit einem Klingelknopf. Plötzlich schoß die ganze Wut in mir hoch. Ich öffnete die Autotür, stieg aus und ging über die Straße auf den Eingang zu. Ich sah nicht links noch rechts, ich hatte nur diesen Klingelknopf im Visier. Aber noch bevor ich ihn erreichte, lehnte Kommissar Schnabel davor. Es blieb ein Rätsel, mit welcher Fixigkeit der Fettkloß aus dem Volvo und über die Straße gekommen war. „Gehen Sie mir aus dem Weg!“ knurrte ich ihn an. „Was wollen Sie?“ Der Dicke beobachtete mich scharf. „Ich greife ihn mir!“ „Nicht einmal im Traum!“ „Ich bring’ ihn um!“ Der Fleischberg vor mir gab mir einen Stoß, hinter dem seine zweieinhalb Zentner lagen. Ich schlitterte auf die Straße zurück. „Wenn Sie nicht Vernunft annehmen, Ahrens, lasse ich Sie festsetzen“, sagte der Kommissar. Das hatte mir noch gefehlt! Ich zog meinen Kopf zwischen die Schultern und ging auf ihn los. „Mich festsetzen, ja? Und Ofterdinger, diesen Verbrecher, lassen Sie frei herumlaufen? Gehen Sie aus dem Weg!“ Er tat es nicht und sagte statt dessen: „Ofterdinger nimmt uns die ganze Arbeit ab, das verstehen Sie natürlich nicht, wie? Er holt seine Millionen zusammen, alles Geld, das er mit den unangemeldeten Gastarbeitern gemacht hat.“ Aber es gab keine Vernunftsgründe mehr für mich, jetzt war der Augenblick gekommen, in dem ich zuschlagen wollte. Und wenn ich an Ofterdinger nicht heran252
kam, dann mußte der Kommissar herhalten. Es war mir egal. Ich legte meine Verzweiflung in den Schlag und hieb ihm meine Faust in den wabbeligen Bauch. Er sollte sehen, was er davon hatte! Der Schlag kam gut an und zeigte Wirkung, ich hörte ihn aufstöhnen. Aber in einem hatte ich mich getäuscht, der Bauch war gar nicht wabbelig, alles festes Muskelfleisch, hatte eher die Konsistenz eines Medizinballes. Ich war überrascht. Unterdessen schlug mir der Kommissar mit der flachen Hand ins Gesicht, ein paar feste Schläge, nicht mal unfreundlich, nur so, um mich zur Vernunft zu bringen. Ich nahm ihn mit beiden Händen bei den Schultern, wollte ihn von der Klingel fortbringen. Das gelang mir zwar, aber er ließ mich nicht los, und so torkelten wir über den Bürgersteig. Das hatte so etwas von einem Folkloretanz. Da nehmen sich die Männer auch bei den Schultern, gehen im Kreis umher und stampfen mit den Füßen auf. Und während der ganzen Zeit keuchte Schnabel: „Heute nacht wird er alles Geld bei sich haben, Sie Ochse, alle Millionen … und wenn er … wenn er dann damit über die Grenze will, da sind plötzlich … plötzlich wir da, fragen: He, was ist das für Geld? Und über welche Bücher ist es gelaufen – he? Und da haben wir ihn dann!“ Ganz erschöpft, weil keiner den anderen losließ, waren wir an der Eingangstür heruntergerutscht und saßen nebeneinander auf dem Steinpflaster. Jeder von uns hatte reichlich zu tun, daß er wieder zu Atem kam. Ich sah Sieg gegenüber am Volvo lehnen und vor Freude über uns beinahe weinen. Was ich nicht gesehen hatte, war der Streifenwagen, der inzwischen angekommen war. Plötzlich standen zwei uniformierte Polizisten vor uns. „Was machen wir da Hübsches?“ fragte einer der beiden. „Ein Schläfchen? Ein Schläfchen nach dem Tänzchen?“ „Tun Sie mir einen Gefallen, und lassen Sie uns in Ruhe“, sagte Schnabel aufstöhnend. 253
„Aber gewiß lassen wir Sie in Ruhe, nachdem wir Sie auf dem Revier abgeliefert haben. Da können Sie dann auch schön Ihren Rausch ausschlafen!“ „Ich bin Kommissar Schnabel, Mordkommission!“ „Sicher doch! Und der Herr neben Ihnen ist doch sicherlich der Herr Polizeipräsident?“ Schnabel zog seinen Ausweis aus der Jackettasche und reichte ihn hoch. Der Beamte starrte darauf, räusperte sich und hielt ihn seinem Kollegen hin. Der murmelte: „Sachen gibt’s!“ Er gab den Ausweis zurück. „Brauchen Sie Hilfe?“ „Mit dem werde ich allein fertig!“ Schnabel sah mich nicht mal an, so sicher war er seiner Sache. In diesem Augenblick wurde es hinter der Scheibe der Eingangstür hell, jemand hatte Licht gemacht im Treppenhaus. Ich sprang auf die Füße, und gemeinsam mit einem der beiden Streifenbeamten zerrten wir den Kommissar, der uns die Hände entgegenstreckte, auf die Beine. Plötzlich war die Lethargie, die ich an dem schweren Mann gut kannte, zu ihm zurückgekehrt. „Ich bitte Sie um eine Gefälligkeit“, sagte er zu den beiden vom Peterwagen. „Verschwinden Sie von hier, und zwar schnell. Und leise! Das muß hier nämlich alles ganz unauffällig vor sich gehen.“ Die Beamten machten sich davon. Den einen hörte ich noch sagen: „Ganz unauffällig! Der macht mir wirklich Spaß, dieser Herr Kollege!“ Auch wir liefen zum Volvo hinüber und gingen dahinter neben dem Steuerfahnder Sieg in die Knie. Einsam und verlassen lag der Neue Wall wieder vor uns. „Soll ich ihm Handschellen anlegen?“ wisperte Sieg. „Oder denken Sie, daß er sich jetzt benehmen wird? Genügend Luft abgelassen hat er ja inzwischen.“ Wir hörten Schließgeräusche in der nächtlichen Straße hallen und dann das Klappern von Absätzen auf dem Steinpflaster, das sich zur Poststraße hin entfernte. Lang254
sam kamen wir aus unserer Deckung hoch. Da ging er, der Makler Ofterdinger, und sah aus wie einer von der Börse in dem dunklen Tuchmantel und dem Hut auf dem Kopf. Er hatte ein schmales Köfferchen aus schwarzem Lackleder bei sich, das im Schein der Straßenbeleuchtung glänzte. „Wir kriegen heute keinen Haftbefehl mehr“, sagte der Kommissar. „Ist schon zu spät. Ich müßte zu Herrn Pohl gehen, aber ich glaube einfach nicht, daß er mir helfen wird, einen zu besorgen. Nein, nein, ich muß bis morgen warten und zum Generalstaatsanwalt marschieren. Ich freu’ mich schon darauf, wird wohl ein schöner Tag werden.“ „Morgen, morgen –!“ stöhnte ich. „Der Mann will ins Ausland, sein Zug geht nach Mitternacht!“ „Ich habe es Ihnen doch schon gesagt“, erwiderte der Kommissar gelassen. „Wir nehmen ihn uns an der Grenze. Das Verbringen von Geld ins Ausland, einer solchen Summe Geldes, für deren Besitz er keinerlei Belege hat, ist nicht statthaft. Da können wir ihn vorläufig festnehmen. Und damit haben wir ihn dann endlich!“ Der Kommissar und der Steuerfahnder wechselten einen Blick voll zufriedenen Vertrauens miteinander. Die beiden schienen ihrem Ziel nahe zu sein. Ich hörte Wagengeräusche, und dann sah ich auf der Poststraße Ofterdingers weißen Mercedes den Neuen Wall kreuzen. Er fuhr zum Gänsemarkt hinüber. Es dauerte nicht lange, und der VW-Käfer tauchte auf und glitt wie ein Schatten hinterher. Der Kommissar schaute mich an, sein Gesicht undurchdringlich wie immer, aber es war schon so, daß wir uns in den vergangenen Tagen nahegekommen waren. Und das mochte der Grund sein, weshalb der Dicke jetzt fortfuhr: „Ich bin doch heute mittag in der Friedhofsverwaltung gewesen, erinnern Sie sich?“ Ich nickte. „Mindestens eine halbe Stunde haben Sie darin gehockt.“ 255
„Später dann, während Sie beim Herrn Oberstaatsanwalt Pohl Ihren Tee nahmen, haben Sieg und ich ein Gespräch geführt. Und dann haben wir lange nachgedacht, Sieg und ich.“ Der Kommissar machte eine Pause und, sah mich verschmitzt an. „Und worüber?“ „Über Osman Tuyan! Der benahm sich doch komisch, finden Sie nicht auch? Erst reist er Fräulein Pohl zweitausendfünfhundert Kilometer nach, und dann setzt er sich in eine Kneipe und wirft mit Hundertmarkscheinen um sich. Warum? Und warum ging er nicht mehr hin zu Fräulein Pohl?“ „Der Staatsanwalt hatte ihm Geld gegeben, damit er seine Tochter in Ruhe ließ.“ Der Kommissar schüttelte geheimnisvoll den Kopf. „Hatte er denn eine andere Veranlassung, daß er nicht mehr zu Lore hinging?“ „Hatte er! Und zwar die zwingendste, die man sich überhaupt nur ausdenken kann!“ „Und was für eine?“ „Er lebte nicht mehr!“ „Wie –?“ „Er war tot, mausetot!“ Ich faßte nach dem Wagendach, weil ich mich halten mußte. Es war so viel geschehen in der letzten Zeit, und ich konnte nicht mehr. Ich sah in die heiter lächelnden Gesichter der beiden Kriminalisten, eine ganze Weile lang, und verstand sie nicht. Ich flüsterte schließlich: „Da habe ich im ‚Fleeterich‘ wohl mit einem Toten gesprochen?“
7. Die Kranwinde schrie auf, als ob sie allzu große Schmerzen empfand. Zuerst in einem sehr tiefen Ton, der hinaufging über mehrere Oktaven und in 256
einem Wimmern erstarb. Wir sahen das Anschlaggerät aus dem Bauch des Schiffes kommen, weit über Deck hinaufschweben, in schwindelnde Höhen. Dort pendelte es hin und her, es sah aus wie ein Tier, das man beruhigen mußte. Als es still geworden war, brachte es der Kran vom Schiffsdeck herüber zum Kai. Immer noch in dieser Höhe. Dann senkte sich das Ungetüm aus Eisen, an Stahlseilen hängend, zu uns herab. Neben einem Gabelstapler kam es zum Halten. Türken sprangen herzu, lösten die Seile, schichteten die Kollos aus dem Anschlaggerät auf den Gabelstapler. Sie hatten den Platz auf dem Kai mit Scheinwerfern taghell gemacht, und wir waren an den Ursprung dieser Geschichte zurückgekehrt. Denn mit den Türken hatte es doch schließlich angefangen. Ich hatte sie zuerst im Wohnheim gesehen, dort wo sie wohnten. Acht Männer in einem Loch, unser Hund in Cranz hat mehr Auslauf an seiner Kette. Und nun hier, wo sie arbeiteten, kleine programmierte Ameisen! Das Anschlaggerät war längst wieder über dem Kai hinaufgeschwebt, den gleichen Weg zum Schiffsdeck hinüber und im Laderaum verschwunden. Kommissar Schnabel hatte ihm fasziniert nachgeschaut. „Wie eine Waffe!“ sagte er. „Eine tödliche!“ Der Schuppenvorsteher war etwa dreißig Jahre, ein schmalgebauter Mann mit einem nervigen Ausdruck im Gesicht. Ohne diesen Jeansanzug hätte er vieles sein können, möglicherweise einer aus dem Vorzimmer des Bürgermeisters. Diese Hanseaten! „Die Unfallquote liegt hoch im Hafen“, sagte er. „Ein Junge von uns weiß natürlich, worauf er sich einläßt, wenn er hier arbeitet. Aber so ein Türke? Die kommen vom Lande. Greenhörner, wenn Sie mir glauben wollen.“ Schnabel starrte auf das Anschlaggerät, das aus der Ladeluke auftauchte und seinen Weg nahm, über das 257
Deck, herüber auf den Kai und herab zu uns. Wieder sprangen Türken hinzu, diesmal andere, und schichteten die schweren Ballen auf den Gabelstapler. „Aber die werden doch angelernt?“ Schnabel fragte es beinahe bittend. „Das würde viel Zeit kosten. Und damit viel Geld! Aber die sollen ja nun gerade dem Schauerbetrieb etwas einbringen, nicht wahr? Möglichst vom ersten Tag an.“ Der Schuppenvorsteher schwieg und sah uns mit einem vielsagenden Lächeln an. Wir machten ein paar Schritte zum Bug des Dampfers vor. Der Kommissar beobachtete alles höchst interessiert, fast hatte es den Anschein, als sei er zum ersten Mal im Hafen, zumindest auf dieser Seite mit den Kaianlagen. „Wozu ist dieses Ding denn gut?“ fragte er. „Welches Ding, bitte?“ Schnabel wies auf die Leine, mit der der Dampfer am Poller festgemacht war. Oben an Deck, wo sie in die Lenzpforte eintrat, hatten sie einen Teller an dem Tau angebracht. Und den schien der Dicke zu meinen. „Die Scheibe soll die Ratten abhalten, daß sie nicht an Bord gehen“, erklärte der Schuppenvorsteher. „Oder das Schiff verlassen?“ „Oder so!“ Der Schuppenvorsteher lachte. „Das ist natürlich ganz relativ, besonders für die Ratten.“ Herr Nickusch hatte dichtgewelltes Haar von rötlicher Farbe. Auch in seiner Nase blitzte es, und auf den Wangen, wo der Bart tagsüber nachgewachsen war, lag ein roter Schimmer. Er hatte viele Sommersprossen. Er sprach reines Hochdeutsch, nur hin und wieder mit einem Schlenker in der Stimme und ab und zu mit einem Tupfer Missingsch, das seine Sprache eigentümlich machte. „Wann passierte denn nun eigentlich dieser Unfall?“ fragte der Kommissar endlich. „Na, vor vier Wochen doch! Ich dächte, das hätte ich 258
Ihnen schon gesagt. Oder hab’ ich nicht? Ich kann gern noch schnell mal in mein Buch gucken.“ Er nahm das Tagebuch, das unter seinem Arm klemmte, und schlug es auf. Wir hatten Herrn Nickusch zuerst in seinem kleinen Büro aufgesucht, und da zog er gleich das Buch hervor, in dem er sich seine Notizen machte. „Es war am siebenundzwanzigsten Mai neunzehnhunderteinundsiebzig, kurz vor Ende der Frühschicht, dreizehn Uhr einundvierzig Minuten.“ Er reichte Schnabel das Buch hin. „Wenn Sie eben selbst mal fix gucken wollen?“ Schnabel nahm es aus der Hand des Schuppenvorstehers und schob seine Brille auf die Glatze hinauf. Unterdessen fuhr Herr Nickusch fort: „Diese Unfälle geschehen natürlich immer am Schichtende oder ganz am Anfang. So auch hier! Da löste sich ein Kollo, und die anderen gleich hinterher. Sie hatten im Laderaum die Seile am Anschlaggerät nicht richtig gezurrt. Das darf nun wirklich nicht passieren, aber bei dem Tempo, das wir am Hals haben? Der Kran hatte das Gerät schon auf den Kai herübergeholt, als die Ladung herunterkam, und wer steht unter der Last? Natürlich so ein Türke, starrt wie hypnotisiert nach oben. Ich schrei ihm zu, aber er hört mich nicht. Er starrt auf die fallenden Kollos wie ein Kaninchen auf die Schlange. Ich spring’ hinzu, um ihn wegzureißen, das gelingt um ein Haar. Aber ein so’n Ballen erwischt ihn am Bein und bringt ihn zu Fall. Und die anderen auf ihn drauf. Ich selbst habe einen Satz gemacht wie nie zuvor, das können Sie ruhig glauben.“ „War wohl gleich tot, der Türke?“ fragte Schnabel. „Auf der Stelle! Wenn da wirklich schon mal was ’runterkommt, da sind ja gleich hübsch paar Zentner hinter. Bei der Höhe! Nein, da war nichts zu machen.“ „Danach ging natürlich etwas los, nicht wahr?“ „Ein Riesenbuhei, das können Sie sich denken. Es wimmelte nur so von Sicherheitsleuten. Clerks kamen, 259
Tallyleute, Spediteure. Auch dieser feine Pinkel, der die Ausländer an die Schauerbetriebe vermietet.“ „Ofterdinger!“ „Kann sein, ich geh’ ihm aus dem Weg. Natürlich rollte auch Polizei an. Standen alle darum herum, als sie die Kollos wegräumten und den armen Kerl hervorzogen. Nur die Türken nicht. Die lehnten an der Schuppenwand da drüben und zitterten am ganzen Leib.“ „Kam auch Presse?“ fragte Schnabel. Herr Nickusch schüttelte den Kopf. „Nicht, daß ich wüßte! War ja bloß ein Türke! Aber mir tat er leid, der Junge, und nicht erst, als er tot ging, vorher schon. Er war ein junger Bursche, feines Gesichtchen mit großen Augen. Wie soll ich das sagen, manche von denen haben ja was ganz Besonderes. Aber für die Arbeit am Kai natürlich ungeeignet, der hatte vorher sicher niemals einen Dampfer überhaupt auch nur zu Gesicht bekommen. Grad deshalb sagte ich immer Jan Maat zu ihm. Und er zu mir: Nein, Herr Nickusch, nicht Jan Maat, sondern Du-Jan. Du-Jan! Hatte keine Ahnung, was das sollte.“ Wir schauten uns an, und auch ich begann auf einmal alles zu verstehen. Der Kommissar lächelte sanft, als er sich wieder dem Schuppenvorsteher zuwendete. „Er sagte nicht Du-Jan, er meinte vielmehr Tuyan! Er wollte Ihnen damit sagen, wie er hieß.“ „Tuyan –?“ „Hm –“ Der Schuppenvorsteher schüttelte den Kopf. „Nein, so hieß er nicht! Darf ich mal eben?“ Er nahm dem Kommissar das Tagebuch aus der Hand und schaute hinein. „Hier haben wir es ja! Der Verunglückte hieß Gebes, Achmed Gebes!“ Schnabel hatte einen beinahe verträumten Ausdruck im Gesicht; unverwandt blickte er den Rotkopf an, aber er antwortete dem Mann nicht. 260
„Da gibt es keinen Irrtum, Herr Kommissar, bei mir nicht!“ Herr Nickusch war ein wenig pikiert. „Der Tote hieß Achmed Gebes! Ich habe ja auch das Protokoll unterschrieben. Die Abschrift muß in einem Ordner unter meinen Akten sein. Wenn Sie mir eben mal ins Büro folgen wollen, Herr Kommissar, da zeige ich es Ihnen gern. Und da haben wir es dann auch gleich ganz amtlich!“ Der Schuppenvorsteher machte eine einladende Handbewegung. „Ist jetzt nicht nötig, Herr Nickusch!“ Schnabel hielt ihn am Arm zurück. „Morgen komme ich wieder, und dann schaue ich mir auch Ihr Protokoll an. Für heute haben Sie mir genug geholfen. Recht herzlichen Dank!“ Wir schüttelten Herrn Nickusch die Hand und wandten uns zum Gehen. Als wir ein paar Schritte gemacht hatten, blickte ich noch einmal zurück. Er stand noch immer auf dem Fleck. In seinem nervigen Gesicht zuckte es, irgendwas schien dem intelligenten Rotkopf nicht geheuer.
8. Wir liefen den Asiakai hinunter zur Sachsenbrücke, wo wir den Volvo geparkt hatten. „Natürlich war der Tote unter der Last niemand sonst als Osman Tuyan“, sagte Kommissar Schnabel. „Ofterdinger war dabei, als sie die Ballen wegräumten, sah, wer da zum Vorschein kam. Einer, für den er weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch eine Arbeitserlaubnis hatte. Er wird einen mächtigen Schreck bekommen haben. Es mußten also ganz schnell ordnungsgemäße Papiere her, die von Achmed Gebes zum Beispiel. Und so wurde aus Osman Tuyan dieser andere.“ „Der Türke, mit dem ich im ‚Fleeterich‘ gesprochen habe“, sagte ich, „war also dann nicht Tuyan, sondern Gebes.“ 261
„Niemand sonst!“ erklärte der Steuerfahnder Sieg. „Bei so einem schweren Arbeitsunfall hat immer die Polizei ihre Hände mit drin. Die sehen also bei der Untersuchung, daß sie einen unangemeldeten Türken vor sich haben. Die Kollegen hätten uns sofort benachrichtigt, und damit hätten wir endlich das in den Händen gehabt, worauf wir seit sehr langer Zeit scharf waren, nämlich den schlüssigen Beweis für Ofterdingers Steuerhinterziehung. Deshalb mußte er die Identität der beiden Türken austauschen. Verstehen Sie das?“ Natürlich tat ich es. Wenn man das Ende des Knotens in der Hand hat, ist es ja ganz einfach, die Verstrickung zu lösen. Unterdessen fuhr Schnabel fort: „Ofterdinger gab Gebes den Paß des verunglückten Tuyan, dazu sicher einen ganzen Packen Geld. Der Mann sollte als Osman Tuyan in die Türkei zurückkehren. Aber Gebes wollte nicht weg von hier. Er setzte sich in die Hafenkneipe und versoff das Geld mit seinen Landsleuten. Und nun tauchten plötzlich Lore und Sie in der Geschichte auf, gaben keine Ruhe. Die Türken im Wohnheim, die hatte Ofterdinger ja unter der Fuchtel, die sagten keinen Mucks. Aber Sie, Herr Ahrens, kamen auch in den ‚Fleeterich‘, und dort trafen Sie auf den falschen Tuyan. Was sollte Ofterdinger da machen? Er mußte ihn einfach nehmen und unter das Auto stoßen lassen. Achmed Gebes mußte nun als Osman Tuyan sterben.“ Wir saßen inzwischen längst wieder im Volvo und fuhren über die Elbbrücken stadteinwärts. „Und weshalb ließ Ofterdinger gleich darauf Lore entführen?“ Ich ahnte es natürlich, war ja wirklich nicht mehr schwierig, aber ich wollte alles ganz genau wissen. Und der Kommissar erklärte es geduldig. „Was meinen Sie wohl, mein Lieber, was geschehen wäre, wenn wir vor Fräulein Pohl den Toten aus dem Kältefach gezogen hätten? Nein, sie durfte den falschen 262
Tuyan nicht identifizieren, sie durfte ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen. Also lockte er sie von der Escherich weg und brachte sie in sein Haus. Dann marschierte er wohl in derselben Nacht zum Oberstaatsanwalt, sagte ihm klipp und klar, was geschehen war. Gemeinsam müssen sie das Mädel dann in die Mangel genommen und schließlich nach Schweden geschickt haben. Dort ist sie doch, nicht wahr?“ Der Dicke wälzte sich herum zu mir; nur gut, daß er in dem diffusen Licht mein Gesicht nicht richtig sah. „Haben Sie mir doch gesagt!“ Ich antwortete nicht, ich wußte wirklich nicht, was mit mir los war. „Sie haben doch nach Stockholm telefoniert!“ „Ja!“ erwiderte ich endlich. Und nach einer Pause: „Und dieser Staatsanwalt hat also das scheußliche Spiel mitgespielt!“ „Das mußte er wohl oder übel“, sagte Schnabel mit ganz verklärter Stimme. „Der wird dem Ofterdinger schon vor langer Zeit auf die Schliche gekommen sein und Beweise gesammelt haben. Aber die legte er nicht offen, wie sein Amtseid das verlangt, sondern er ging damit zu Ofterdinger und packte sie dem auf den Tisch. Er bekam zweihundert Hektar Land dafür im Schleswigschen. Wälder und Wiesen und einen wunderschönen Hof. Ein Anwesen so recht nach Gutsherrenart. Niemals hätte er es von seinem Gehalt, das der Senat für eine ausreichende Besoldung hält, erwerben können. Und seine Frau? Die sitzt doch wohl wie eine Glucke auf ihrem Geld und gibt ihm täglich zu verstehen, daß er in ihrem Haus nur ein geduldeter Gast ist. Und plötzlich kommt seine Chance oder was er dafür hält, als er von der Millionenschiebung erfährt. Lange mag er nachgedacht haben, wohl auch Zwiesprache gehalten haben mit den Vorfahren der Frau Pohl, die die Wände in dem Haus bevölkern. So ganz mit rechten Dingen wird es bei 263
denen wohl auch nicht zugegangen sein, als sie ihr Vermögen auftürmten. Mit eigener Hände Arbeit kann man ja so viel nicht verdienen. Oder? Also griff auch Pohl letztlich zu. Und damit hing er drin! Als nun Ofterdinger in der Patsche saß, mußte er dem Geschäftsfreund aus den Schwierigkeiten helfen.“ Der Kommissar schwieg erschöpft, aber es war eine Erschöpfung wie nach guter Arbeit. Morgen würde er hingehen und dem Oberstaatsanwalt das Genick brechen. Konnte es denn wirklich Schöneres geben? „Dann liegt also der echte Tuyan bereits unter dem Grabhügel, den wir auf dem Friedhof sahen?“ Schnabel nickte. „Als ich Ofterdingers Kranzschleife sah, kam mir der Gedanke an einen möglichen Identitätstausch. Deshalb ließ ich bei der Friedhofsverwaltung anhalten. Natürlich wird der Tote vom ersten Juni, dem Tag der Beisetzung, unter dem Namen Achmed Gebes geführt. Aber ich habe die Exhumierung schon in die Wege geleitet. Ja, nun muß Fräulein Pohl doch zurück aus Schweden und den toten Freund identifizieren. Und Gisela Escherich, die ihn ja auch kannte, soll es zur Sicherheit ebenfalls.“ Wir hielten auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof gegenüber dem Schauspielhaus, wo die Taxis parken. Schnabel deutete hinaus. „Und Sie tun mir einen Gefallen und fahren jetzt nach Hause. Ab jetzt will ich Sie nicht mehr drin haben in der Geschichte. Nehmen Sie ein heißes Bad, und legen Sie sich ins Bett!“ „Und Sie glauben, ich könnte schlafen?“ „Sie werden schon weg sein, noch ehe Sie sich richtig die Decke über die Ohren gezogen haben. Wissen Sie eigentlich, wann Sie zuletzt in Ihrem Bett lagen?“ O ja, das wußte ich! Ich fragte den Kommissar jedoch: „Und Sie? Wann haben Sie zuletzt geschlafen?“ „Das Auge des Gesetzes schläft niemals“, sagte er herumblödelnd. „Es blinzelt zwar manchmal, aber es 264
fällt nicht zu! Und nun ’raus mit Ihnen! Morgen früh, sobald alles vorüber ist, rufe ich Sie an!“ Ich stieg aus und blickte dem Volvo nach, der die Kirchenallee hinunter in Richtung Alster verschwand. Merkwürdig, irgendwie strebten alle Straßen dieser Stadt dem dicken Bauch der Alster zu. Dann ging ich hin zum Taxistand und setzte mich in den vordersten Wagen. Dort saß ich untätig. Ich war wie ausgebrannt. „Wo soll’s denn hingehen mit dem Herrn?“ fragte der Fahrer nach einer Weile. Ich sagte: „Fahren Sie mich in die Magdalenenstraße!“
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Die Nacht, 0 Uhr 24 1. Wenn ich dem Kommissar erzählt hätte, was mit Lore wirklich geschehen war, wie es meine verdammte Pflicht gewesen wäre, hätte sich das nun Folgende gar nicht abspielen können. Sie hatten Lore ja gar nicht nach Schweden geschickt. Ofterdinger hatte sie in das Zimmer mit den Gitterstäben gesteckt, so dachte ich, als ich in dem Taxi saß und dem Volvo mit den beiden Beamten nachfolgte. Ofterdinger hatte ihr über Tage ein Pharmakon eingegeben, das sie psychisch veränderte. Als er sie soweit hatte, konnte er sie schließlich sogar zu mir schicken. Das alles schien mir klar, seitdem ich die Tabletten gefunden hatte, die Schnabel derartig aus dem Häuschen brachten. Und nun wußte ich auch, weshalb ich dem Dicken nichts von Lores wirklichem Aufenthalt gesagt hatte! Ich mußte es sein, der sie aus Ofterdingers Klauen herausholte, niemand sonst. Ein Beispiel unsagbarer Eitelkeit und unglaublicher Dummheit! Nun ja, ich war in die Villa eingedrungen und hatte in dem Zimmer mit den Gitterstäben Lores Sachen gefunden. Auch das Hufeisen hatte ich entdeckt, das inzwischen in meiner Tasche steckte. Was noch? Ich hatte Ofterdinger getroffen und mit ihm zu reden versucht. Während ich am Schluß seinen Erklärungen zuhörte, hatte ich an dem braunen Schächtelchen gefingert, bis es aufging. Und als ich die Dinger aus durchsichtigem Plast darin liegen sah, waren plötzlich alle Sicherungen in mir durchgebrannt. Mit einem Satz wollte ich los auf Ofterdinger. Und was hatte mir das eingebracht? Ein Ding über den Kopf und hinaus über das halbe Grundstück bis hin zum BMW! Und in dem saß ich noch immer. Gerade bogen wir in die Richardstraße ein und stoppten vor Gisela Escherichs Appartementhaus. Neben mir 266
saß der Fahrer, dem ich im Hafen das Handgelenk gebrochen hatte. Nein, das stimmte ja nicht! Wieder eine dieser albernen Übertreibungen! Hätte ich es nur getan, da wäre er jetzt nicht so mobil. Auch ich fühlte mich, den Umständen entsprechend, ganz wohl. Aber ich konnte nichts tun. Meine Gelenke steckten in Handschellen, und die waren mit einem zweiten Paar am Armaturenbrett angeschlossen. Nein, ich konnte nichts tun, und es würde auch keinen geben, der mir heraushalf. Es war nun tiefe Nacht, und um diese Zeit war wirklich niemand mehr auf der Straße. Was hatte der Verbrecher vor? Hier bei Gisela Escherich? Er sagte es mir nicht, er beachtete mich nicht einmal. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er dünne Lederhandschuhe über seine Hände streifte. Dann griff er in die Türtasche neben sich und zog eine in Seidenpapier gewickelte Flasche hervor. Als er das Papier heruntergerissen und nach hinten geworfen hatte, erkannte ich auch die Marke. Es war „Queen Anne“, reiner schottischer Whisky, und die Flasche war voll, ich sah die Metallfolie um den Verschluß kleben. Mit einer entschiedenen Bewegung drehte der Mann die Kappe locker und schraubte sie ab. Dann wandte er sich mir zu. Nein, ich wollte nicht mit ihm trinken, mit dem doch nicht! Er sah mich an. In seinem Gesicht lag nicht etwa ein blödes, höhnisches Grinsen, nein, gar nichts dieser Art! Er tat ganz geschäftsmäßig. Er stieß meinen Kopf mit dem Oberarm zurück, so weit, bis sich meine Arme strafften und es nicht weiter rückwärts ging. Dann hielt er mir die Nase zu. Ich weiß nicht, wie lange das dauerte, aber irgendwann einmal machte ich den Mund auf und schnappte nach Luft. Und da hatte ich sie zwischen den Zähnen, die Flasche mit dem reinen schottischen Whisky! Ich gurgelte und spuckte, und ein Teil floß an mir herab, aber der weitaus größere Teil sickerte in mich hinein. 267
„Queen Anne“, reiner schottischer Whisky! Ich hatte lange nicht mehr geschlafen, und ich hatte lange nichts gegessen. Und ich war ein Seemann, der keinen Alkohol trank. O doch, die gibt es auch! Der Whisky schoß die Speiseröhre hinunter, in den Magen hinein und durch ihn hindurch ins Blut. Von einer Minute zur anderen war ich total besoffen. Ich dachte noch, genauso hatten sie es mit Tuyan gemacht, ehe sie ihn unter das Auto stießen, nein, nicht Tuyan, der Mann hieß anders. Aber wie? Ich hatte es vergessen! Mein Kopf sank gegen die Scheibe des Seitenfensters und ich wimmerte: „Lore –!“ Merkwürdig, diesen Namen hatte ich behalten. Der Mann neben mir war nicht ohne Mitgefühl. Mit einem Kleenex wischte er mir den Sabber aus dem Gesicht, rieb auch meinen Hals trocken. Dann nahm er die leere Flasche und legte meine Finger darum, drückte sie dagegen. Fingerabdrücke! Ein blitzender Pfeil schoß durch mein Hirn, zog eine Leuchtschrift hinter sich. Fingerabdrücke – las ich! Na und? Wozu sollten die gut sein? Ich war es, der blöde grinste, nicht der Mann neben mir, und ich stammelte: „Lore –!“ „Gleich“, sagte er mit einem zarten Flüstern zu mir, „gleich wirst du bei ihr sein!“ Mit der letzten Kraft, die ich noch hatte, drehte ich mich herum. Ich sah den Mann vor mir, und ich sah ihn gutmütig lachen. Der war ja gar nicht schlecht. Einer, der so lachen konnte! Der Mann war mein Freund! Wieder fuhr er mir an den Mund und wischte den Sabber ab. „Lore –!“ stöhnte ich. „Gleich“, flüsterte er wieder wie vorher. „Warte nur, ich bring’ dich hin zu ihr!“ „Hin –!“ „Versprichst du mir, daß du dich anständig benehmen wirst, wenn du sie siehst?“ Mein Kopf knallte nach vorn gegen das Armaturenbrett, das war meine Bestätigung, ich hatte es besiegelt. 268
Er fragte besorgt: „Wenn ich dich jetzt losmache, wirst du da auch nicht herumlümmeln wie die Matrosen, wenn sie ihre Heuer versoffen haben?“ Was hatten die vom Land nur für Vorstellungen von uns Seeleuten. Aber ich mußte gut sein zu dem Mann, er war mein Freund. Ich hob den Kopf und schüttelte ihn; es wurde ein Pendeln daraus, das ich nicht anhalten konnte. „Also, ich schließ’ dich jetzt auf, Seemann!“ Ich hörte die Wagentür an seiner Seite aufgehen, und dann war er verschwunden. Aber gleich darauf war er wieder da, an meiner Seite, und schnappte die Tür auf. Und da hatte ich plötzlich einen meiner lichten Momente! Und mit einer Stimme, die nicht mehr durchweicht war vom Alkohol, sagte ich: „Lore ist bei der Escherich!“ „Natürlich! Was hast du denn gedacht?“ „Die ganze Zeit schon! Alle Tage war sie bei der!“ „Ja, Kuddel, das war sie!“ „Ich hab’s gewußt!“ Ja, ja, diese Escherich! Diese Schlange, ebenso blond wie meine Lore! Da war ich also tagelang in der Gegend herumgeirrt. Und wo steckte sie schließlich? Bei der Freundin. Diese Escherich war die Drahtzieherin der ganzen Geschichte! Ja, ich hatte es gewußt! Schon an der Alster, als sie auf mich einsprach, hatte ich es gewußt! Mein Freund hatte die Handschellen aufgeschlossen, die vom Armaturenbrett, die anderen ließ er dran. Warum? Ich wollte doch nicht weglaufen. Er legte sogar einen leichten Sommermantel darüber. Na schön, mir sollte es recht sein. Dieses Sirren im Fahrstuhl, wenn er abhob! Und dieses Gefühl in den Knien, wenn er anhielt. Vor uns lag ein langer Gang. Irgendwie kannte ich dem Ganz am Ende mußte das Appartement dieser Schlange Esche269
rich liegen. Wir kamen an die Tür, und mein Freund klingelte. Wir warteten. Dann wurde die Tür geöffnet, und da stand sie plötzlich vor mir auf der Schwelle: Meine Lore –!
2. Sie trug die weißen Jeans und das buntbedruckte Sporthemd. Sie schaute mich an mit ihrem unendlich lieben Gesicht. Und natürlich wich sie auch jetzt wieder vor mir zurück, wie in meiner Küche. Aber das war nicht weiter schlimm, ich konnte ihr ja folgen. Etwas war anders an ihr, aber was? Ich wußte es nicht. Aber auch das war nicht weiter schlimm, ich ging ja auf sie zu und würde es schon herausfinden. Und dann sah ich es! Sie trug ihre Brille nicht. Zum allerersten Mal in unserem Leben trug sie diese Brille nicht. Ihre Augen waren blau, ein tiefes Blau, in das man hinabtauchen und sich selber finden konnte. Ich hatte es gewußt! Ich hatte es ja die ganze Zeit über gewußt, daß sie diese Augen hatte! Jetzt war ich heran an sie und nahm sie. Ich faßte sie um ihre schmale Taille, die ich gut kannte, und tanzte mit ihr durch den Raum. Ich spürte ihre Brust durch das straffgespannte Sporthemd. Ich war erregt und glücklich! So war es mir auch gar nicht leid, daß mein Freund zwischen uns kam, sie mir abnahm und mit ihr durch das Zimmer davontanzte. Warum auch nicht? Dies war eine Nacht, in der alle glücklich sein sollten. Ich lehnte an der Wand und schöpfte Luft indessen. Ein nettes Bild, wie beide vor mir schwebten! Tanzten sie? Ich starrte hinüber. Ich wußte nicht, was dieser eigenartige Tanz bedeuten sollte. Ganz ulkig aber. Mußte ich auch mal versuchen. Und dann hörte ich: „Hilfe! Helfen Sie mir doch, Sie – Träumer!“ Ich glaube, das brachte mich zurück, dieses Wort. 270
Träumer! Der Schleier zerriß vor meinen Augen. Ich sah den Mann, und ich sah die Frau. Es war gar nicht Lore, es war natürlich Gisela Escherich. Und sie tanzten auch nicht, der Mann hatte sie am Hals und würgte sie. „Hilfe!“ schrie sie „Hilfe –!“ Ich stieß mich von der Wand ab und ging auf den Mann los. Auf halbem Weg hatte ich endlich den Mantel von den Handschellen herunter, und irgendwie brachte ich auch die Hände in die Tasche. Ich zog das Hufeisen hervor, diesen Glücksbringer, den ich Lore geschenkt hatte. Ich hieb ihn dem Mann über den Schädel. Bevor er zu Boden ging, sah ich noch den überraschten Ausdruck in seinem Gesicht. Bei Gott, es tat mir nicht leid, daß ich den Mann erschlagen hatte! Ich kniete irgendwie auf dem Fußboden neben ihm, und dahinter lag Fräulein Escherich. „Der wollte mich umbringen“, stammelte sie. Ich stammelte auch: „Tasche irgendwo … Schlüssel … haben … Handschellen.“ Ich reckte ihr meine eingeschlossenen Gelenke entgegen. Sie fummelte an dem erschlagenen Mann herum und brachte endlich die Schlüssel hervor. Sie schloß mich auf. „Haben Sie das nicht eben gesehen!“ fragte sie noch immer atemlos. „Der wollte mich doch umbringen!“ Ich brabbelte irgendwas, das kein Mensch verstehen konnte, im Grunde auch wohl nur ein Keuchen war. „Aber warum –?“ Ich starrte auf den Mann, den ich erschlagen hatte. Mein Gott, was war alles geschehen in diesen Tagen. Und zu guter Letzt ein Mord! Ich sah, wie das Blut in Fräulein Escherichs Teppich hineinsickerte. Ganz ähnlich hatte sich Kommissar Schnabel über den toten Tuyan gebeugt, nein, so hieß er nicht, der hieß – plötzlich wußte ich es wieder, der hieß Achmed Gebes! Über diesen Toten hatte sich Schnabel gebeugt wie ich mich über diesen Verbrecher! Meine Hand glitt nach seiner Hals271
schlagader und tastete sie ab. Das Schwein lebte noch! Ich hatte ihn gar nicht umgebracht! „Handschellen … schnell!“ keuchte ich. Gisela hatte sie schon zur Hand, und ich schloß die eine Hälfte um das Gelenk des Mannes. Dann schleifte ich ihn zur Wand hinüber. Die andere Hälfte der Schelle klickte um ein Heizungsrohr. Da saß er fest! Meine Hände krallten sich an den Heizkörper, dann an die Tapete, immer eine Hand über die andere, und so zog ich mich langsam hoch. Dann Zentimeter für Zentimeter, und ohne die Wand auch nur für einen Moment loszulassen, wendete ich mich um. Ich schwitzte jetzt sehr stark, der Schweiß floß in Strömen an mir herab. Und mein Körper zitterte wie Espenlaub. Wie gern hätte ich mich neben den Verbrecher schlafen gelegt. Aber das durfte ich nicht. Da war noch etwas, ein Allerletztes, das mußte ich noch tun. „Wie spät?“ krächzte ich. „Bald ein Uhr!“ Eins! In etwa fünfzig Minuten ging der Zug. Wenn ich jetzt nicht durchdrehte, alles ganz langsam tat, Stück für Stück, dann würde ich den Zug noch erreichen. Gisela Escherich war inzwischen auch auf den Beinen, aber sie schien völlig verwirrt. Sie starrte auf den bewußtlosen Verbrecher, den ich an das Heizungsrohr geschlossen hatte. „Warum wollte der mich umbringen? Können Sie das erklären?“ Ich flüsterte: „Ofterdinger mußte verhindern, daß Sie Tuyan identifizieren.“ „Aber Tuyan ist doch längst beerdigt.“ „Sie buddeln ihn wieder aus. Sie haben den Falschen in die Grube geschickt.“ Meine Stimme war noch sehr schwach, aber ich merkte, daß ich sie wieder in die Gewalt bekam. Das war nicht so schlecht für den Anfang. „Wie spät?“ fragte ich. 272
„Gleich eins, habe ich schon mal gesagt!“ Dieser Zug, den ich erreichen mußte! Vier oder fünf Sekunden noch, vier oder fünf herrlich ruhiger und langer Augenblicke, die brauchte ich noch, und dann würde ich von der Wand loskommen, ich spürte es. „Aber Lore –?“ hörte ich Fräulein Escherich fragen. „Die wollten mich umbringen, damit ich Tuyan nicht identifiziere. Was ist denn mit Lore?“ Ich hob meinen Kopf und sah Fräulein Escherich fest in die Augen. Ich sagte: „Lore ist gestorben!“
3. Als ich aus dem Bad zurückkam, stand Fräulein Escherich im Flur vor mir, in der Hand ein Glas Milch und einen Riesenknust Weißbrot. Ich hatte mich gewaschen und mir den Mund ausgespült. Ich hatte auch eine Menge aus Fräulein Escherichs Spraydosen verbraucht. Ich stank nicht mehr nach Schnaps, da war jetzt mehr ein Duft wie aus der Herbertstraße an mir. Auch der Alkohol schwappte nicht mehr in meinem Magen, den hatte ich die Kanalisation hinuntergeschickt, war längst auf dem Weg zur Elbe und Nordsee in Richtung Heimat, dieser reine schottische Whisky von Queen Anne! Ich sah auf die Milch herab in Fräulein Escherichs Hand. „Was soll das denn?“ Meine Stimme war laut und fest, ich konnte die Leute schon wieder anschreien, alles wurde gut mit mir. „Ich brauche einen Pott Kaffee, heiß und stark!“ Fräulein Escherich lächelte. „Alles, was Sie jetzt brauchen, ist diese lauwarme Milch und zwei Doppel-Spalt!“ Sie drückte mir beides in die Hand, und ich diskutierte nicht mit ihr, denn ich spürte, Fräulein Escherich war 273
mindestens so energisch, wie ich inzwischen geworden war. „Ist das Taxi da?“ fragte ich, während ich in langen Schlucken die Milch austrank. „Steht schon unten!“ „Uhrzeit?“ „Drei nach eins.“ „Ich schaff es noch!“ Wieder lächelte Fräulein Escherich, diesmal stärker. „Das glaube ich nun allerdings auch!“ Wir gingen zum Fahrstuhl. Fräulein Escherich hatte ihn schon nach oben geholt und einen Stuhl zwischen die Lichtschranke gestellt. Die Frau war gar nicht so übel. „Rufen Sie den Peterwagen, sobald ich weg bin. Haben Sie Angst mit dem Kerl so ganz allein?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er kann Ihnen nichts tun. Er ist festgemacht, und er hat mindestens einen Schädelbruch. Geben Sie den Polizisten das Hufeisen, das ist die Tatwaffe, und verweisen Sie die Leute an den Kommissar Schnabel!“ Fräulein Escherich antwortete nicht. Sie stand draußen vor dem Fahrstuhl und sah mich nur an. Wahrscheinlich war sie überrascht von meiner plötzlichen, energischen Zielstrebigkeit. Die Frau hatte Erfahrung mit Alkoholikern! Ich merkte, wie die lauwarme Milch meine Magenwände umschmeichelte, auch die Spalttabletten schienen schon zu wirken. Und in meiner Faust spürte ich den Knust Weißbrot. Als die Türhälften des Fahrstuhls zusammenglitten, stand Fräulein Escherich noch immer da und sah mich an. Ich glaubte nicht, daß ich mich täuschte, in ihrem Gesicht lag ganz versteckt der Schimmer eines versonnenen Lächelns. Ich fackelte nicht lange, ich reichte dem Fahrer gleich einen Zwanziger hinüber und sagte ihm, daß er das Fahrgeld extra bekäme, wenn er sich beeilte. Er fuhr wie 274
der Teufel! Den Mühlendamm hinunter zur Ost-WestStraße, fegte die Reeperbahn entlang nach Altona. Ich saß ganz ruhig in meiner Ecke und biß von dem Weißbrot ab. Ich kaute auf jedem Stück sehr lange und sehr sorgfältig herum, bevor ich es herunterschluckte. Das trockene Brot tat mir wohl. Ich dachte an meine Barkasse im Hafen und an die Arbeit, die ich liebte. Ich dachte auch an Cranz und an meine Eltern. Ich dachte an meine Tochter! Ich würde die Wohnung am Glindweg aufgeben und zu ihnen hinausziehen. Auf den Wiesen meines Vaters gab es genügend Baugrund. Ich würde ein Haus bauen, klein und bescheiden, es mußte keine Villa wie die aus der Magdalenenstraße sein. Dort würde ich mit Brigitte leben. Wenn man eine Tochter hat, dann sollte man in ihrer Nähe sein. Ich spürte, wie ich an das Ziel meiner Reise kam. Es war ausgestanden. Ich hatte die Schwelle überschritten!
4. Ich erreichte den Zug genau viereinhalb Minuten vor Abfahrt. Ich lief die Wagenreihe entlang und blickte in die Fenster. Dieser Nachtzug wurde nicht stark benutzt, ganze Abteile blieben leer. Ich konnte sie nicht entdecken, weder Ofterdinger noch Frau Dreesen. Das wunderte mich nicht sehr. Ich hatte so ein Gefühl, als ob Ofterdinger einen ganz anderen Weg nach Straßburg nehmen würde. Und die Dreesen? Ihre Fahrkarte galt zwar ab Altona, aber sie konnte ebensogut erst am Hauptbahnhof zusteigen. Ich sah aber auch den fetten Kommissar und seinen Adlatus Sieg nicht. Möglicherweise hockten die beiden Beamten noch immer vor dem Haus in der Magdalenenstraße und warteten darauf, daß Ofterdinger oder seine Frau herauskämen. Als ich am Zugende angelangt war, machte 275
ich kehrt und ging den langen Weg zurück. Auf halber Höhe endlich sah ich sie, da kam sie mir mitten auf dem Bahnsteig entgegen. Frau Dreesen trug einen schwarzen Tuchmantel, dazu einen Hut mit breiter Krempe. Darunter kam ihr halblanges, pechschwarzes Haar hervor und legte sich in einem geschwungenen Bogen um ihre Wangen. Sie ging hochaufgerichtet, mit sicheren Schritten. Die Frau hatte schon etwas! Einige Sekunden lang starrte ich sie an und nahm dieses Bild ganz in mich auf. Dann verschwand ich hinter einem Kiosk. Sie ging die Wagenreihe entlang. Ein Träger, der mehrere Koffer schleppte, folgte ich nach. Sie selbst hatte nur ein schmales Köfferchen aus schwarzem Lackleder bei sich, das auch hier im Licht der Bogenlampen glänzte. Sie stieg das Trittbrett zum Wagen hinauf, schräg gegenüber dem Kiosk, hinter dem ich stand. Sie tauchte im dritten Abteil auf, links vom Eingang. Der Träger verstaute die Koffer im Netz, wollte ihr den Lacklederkoffer abnehmen, um ihn ebenfalls hinaufzulegen, aber Frau Dreesen ließ ihn nicht aus der Hand. Der Träger erhielt sein Geld und verschwand. Und noch immer kein Ofterdinger auf dem Bahnsteig und auch keiner von der Polizei. Und noch zwanzig Sekunden bis zur Abfahrt. Aus dem Lautsprecher kam es schon. „Zum Schnellzug nach Straßburg mit Kurswagen Paris bitte einsteigen und Türen schließen! Vorsicht an der Bahnsteigkante! Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise und eine glückliche Ankunft, wohin Sie immer wollen!“ Freundliche Leute hatten sie bei der Bundesbahn! Und bei der Polizei? Noch immer war keine einzige Speckfalte von dem Kommissar zu sehen, auch von Ofterdinger nicht. Ich mußte mitfahren mit dem Zug, und im Grunde hatte ich nichts anderes gewollt, seit ich bei der Escherich auf schlotternden Beinen langsam wieder 276
zu Atem gekommen war. Da gab es noch etwas, das ich mit Frau Dreesen bereden mußte. Als ich die Trillerpfeife hörte, sprang ich auf das Trittbrett des Nachbarwagens und ging den Seitengang hinunter, dem anderen Wagen und der schwarzhaarigen Frau Dreesen entgegen. Ich war ganz ruhig, nicht einmal empört über das, was ich erlebt hatte, in meinem Herzen nicht, nicht in meinem Gefühl. Ich war plötzlich so kühl und beherrscht, wie sich das für einen aus dem Hafen gehört. Den Mann der letzten Tage, den gab es nun nicht mehr. Ich kam durch den Faltenbalg in den anderen Wagen, ging langsam bis zum dritten Abteil und bereitete mich auf den letzten Metern auf allerlei vor. Die Gardinen waren nicht zugezogen, so daß ich gleich alles gut überblicken konnte. Sie saß nicht in dem Abteil! In diesem Augenblick begann der Zug zu rollen. ,Nun mal sachte, Seemann‘, sagte ich mir, ‚nun mal in aller Gemütsruhe!‘ Die Koffer lagen im Netz, sie konnte gar nicht weit sein. Ich machte kehrt und ging zur Plattform zurück. Die Toilette! Das Schild an der Klinke hatte den Aufdruck – besetzt! Ich lächelte das Türschild an. Da wurde die Wagentür aufgerissen, und Kommissar Schnabel ächzte das Trittbrett herauf, hinter ihm folgte der Steuerfahnder Sieg und wiederum dahinter auf dem Bahnsteig gestikulierte wild eine Rotmütze. „Sie –!“ Schnabel stand mir keuchend gegenüber. „Sie –! Ich hätte es mir denken müssen!“ Ach, dieser dicke, fette Kommissar! Da gab es noch ganz andere Dinge, die er sich beim besten Willen nicht denken konnte! Wenn er von denen erfuhr, was würde er da erst sagen? Ich wartete schon gespannt auf den Augenblick, aber der war noch nicht gekommen, noch nicht ganz. Wir standen dicht gedrängt auf der engen Plattform, der Kommissar, der Steuerfahnder und ich. Und der Kommissar stieß mir im Rhythmus der Räder, 277
die inzwischen über Weichen schlitterten, seinen Bauch in die Seite. Ich trat in den Faltenbalg zurück. „Sind die beiden im Zug?“ „Ofterdinger nicht, aber Frau Dreesen!“ „Komisch, die beiden haben das Haus nicht verlassen.“ „Müssen sie doch wohl, zumindest Frau Dreesen.“ „Aber wie?“ „Es gibt einen Weg über die Rückseite. Durch den Keller, einen dornigen Pfad entlang und hinaus auf den Mittelweg!“ Schnabel sah mich merkwürdig berührt an. Ja, ja, Herr Kommissar, das war ein bißchen von den Dingen, ein Vorgeschmack! „Hat sie –?“ Schnabel stockte, weil er es wohl nicht zu hoffen wagte. Ich nickte. „Sie hat ihn dabei, den Koffer mit dem Geld!“ In diesem Augenblick wurde die Toilettentür hinter Schnabel geöffnet, und ich trat noch einen Schritt weiter zurück, bis auf die Plattform des Nachbarwagens. Aus der Toilette kam eine junge Frau, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, mit langem blondem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie trug in sich gemusterte graue Kordsamthosen mit weitem Schlag, dazu eine buntbedruckte Bluse, deren obere Knöpfe offenstanden. Um den Hals hatte sie ein Medaillon, so eine Kapsel, in der man ein Bildchen aufbewahren konnte. Außerdem trug sie eine Brille mit getönten Gläsern, die weite Partien ihres Gesichtes abdeckten. Und es war Lore Pohl! Selbst der fette Kommissar gönnte ihr einen Blick. Und der Steuerfahnder Sieg lächelte ihr zu, als er ihr bereitwillig Platz machte. Sie erkannten sie nicht! Wieso auch? Die beiden Beamten waren Lore Pohl niemals begegnet, die kannten nur die schwarzhaarige Frau Dree278
sen aus der Magdalenenstraße. In diesem Moment begriff ich, wie ausgeklügelt der Trick war. Es gab gar keinen besseren Weg, die Millionen außer Landes zu bringen, als diesen Zug. Die Beamten blickten Lore Pohl nach, bis sie im Seitengang verschwunden war, dann kamen sie zu mir auf die Plattform des Nachbarwagens. „Wo sitzt sie denn?“ fragte der Kommissar. Ich deutete in die falsche Richtung. „Weit vorn. Muß wohl gleich hinter dem Triebwagen sein.“ Die Beamten verschwanden im Seitengang, und ich war sie los. Ich ging hinüber auf die andere Plattform und betrat die Toilette, die ich hinter mir verriegelte. Im Schränkchen neben dem Waschbecken war es nicht, wonach ich suchte, nur Papierhandtücher, sonst nichts. Ich öffnete die Verkleidung unter dem Waschbecken und tastete umher, ohne Erfolg. Auch hinter dem Wasserklosett nichts. Daneben stand ein Abfallkorb, der zur Hälfte gefüllt war, ganz ungewöhnlich so kurz nach der Abfahrt. Zerknüllte Papierhandtücher lagen darin, aber sie sahen nicht benutzt aus. Ich nahm sie heraus. Ganz unten im Korb kam ein Einkaufsbeutel der Firma Heimerdinger zum Vorschein. In ihm befand sich die halblange schwarze Perücke der Frau Dreesen, fein sauber zusammengelegt. Ich starrte dieses glänzende Gebilde aus europäischen Naturhaaren an. Und ganz langsam stieg mir ein Duft daraus in die Nase, den ich einmal gut gekannt hatte.
5. Ich beobachtete sie vielleicht eine halbe Minute lang. Manchmal können einem in so kurzer Zeit viele Gedanken durch den Kopf gehen. Ich dachte an die Leute, die mit mir über Lore gesprochen hatten. Schnabel zum Beispiel, der alles logisch beurteilte, aus dem Verstand heraus. Oder das Gerede meiner Mut279
ter, ganz aus dem Gefühl. Oder die Escherich, bei der man feine Ohren haben mußte, um ihre Bedenken auch zu verstehen. Und ich? Ich hatte nicht einmal zuhören wollen. Das fand ich jetzt merkwürdig, denn die Frau, die ich da sitzen sah, war mir ganz fremd. Hatte ich jemals etwas für sie empfunden? Ich lehnte am Fenster des Seitenganges, ihrer Abteiltür gegenüber. Sie las in einer Zeitschrift, ausgerechnet im amerikanischen Wochenmagazin „Time“. Nun, das konnte sie, sie war ja in dieser Sprache zu Hause, sie übersetzte sogar Bücher aus dem Englischen. Hatte ich jemals etwas für sie empfunden? Ja, hatte ich! Jetzt blickte sie hoch, in Gedanken mit dem Magazin beschäftigt, streifte mich mit einem gleichgültigen Blick, der Kopf wanderte weiter, hielt plötzlich an und kehrte zu mir zurück. Sie wurde sehr blaß. Ich schob die Abteiltür auf, ging hinein und setzte mich auf den anderen Fensterplatz. Wir starrten uns an. „Du –?“ sagte sie endlich, es klang reichlich töricht. Ich nahm die schwarze Perücke aus dem Einkaufsbeutel und hielt sie ihr hin. Sie überlegte, ob sie danach greifen sollte, tat es aber schließlich nicht, sie unterließ jede Bewegung. Ich sagte: „Ich habe dich eine ganze Weile beobachtet heute abend. Irgendwie war mir komisch zumute, aber ich habe dich nicht erkannt. Ich glaube, Männer können gar nicht richtig hingucken, was Frauen anlangt. Wenn es wirklich mal darauf ankommt, erkennen sie nichts. Ja, diese schwarze Perücke und das Make-up, das die Gesichtszüge starr werden läßt! Und die Seidenwimpern schließlich! Auch in der Milchstraße vorgestern, als du mal so richtig einkaufen warst, habe ich dich nicht erkannt. Diese Maskerade scheint einer deiner großen Erfolge zu sein.“ Ich schwieg. Dann legte ich die Perücke behutsam auf das Klapptischchen zwischen uns. Sie antwortete nicht, 280
starrte nur immer die Perücke an, als sähe sie die zum ersten Mal. Ich fuhr fort: „Und dann die Brille! Auf deine Brille war ich doch richtig programmiert. Ich wußte, daß du ohne sie nicht einen Schritt weit sehen kannst. Ich vergaß nur völlig, daß es auch Haftschalen gibt.“ Ich zog das schmale Etui mit den runden Dingern hervor. Irgendwie war es in dem ganzen Durcheinander bei mir geblieben, als sichtbares Zeichen vielleicht, daß ich das alles nicht nur geträumt hatte. Ich öffnete es. Wieder blinzelten mich die winzigen Scheiben auf dem Samtkissen an, und wieder hatte ich das fatale Gefühl, als machten sie sich über mich lustig. Ich tat das Etui sacht neben die Perücke. Da lag die ganze Frau Dreesen zwischen uns. Blieb die Lore Pohl! Wo war die? Wir schauten uns eine Weile lang an, ließen nicht den Blick voneinander. Schließlich sagte ich: „Wir hatten zwei flotte Tage, nicht wahr?“ „Ich habe dich nicht angelogen in den beiden Tagen“, antwortete sie einfach. Der Zug glitt langsam durch das Stadtgebiet von Hamburg, auf seinem Weg von Altona zum Hauptbahnhof. Die Geleise lagen neben der S-Bahn-Strecke, wir schienen kurz vor Sternschanze zu sein. Gerade überholte uns einer der blaugelben S-Bahn-Züge, die ein gefährliches Tempo drauf haben. Ich sagte: „Ich hatte ein Gespräch mit der Escherich an der Alster. Da hat sie mir ein bißchen was gesagt von den Erwartungen, die du auf das Leben setzt. Materielle Unabhängigkeit, nicht wahr?“ Ich machte eine Pause und wartete, ob sie vielleicht etwas erwidern wollte. Aber sie wollte nicht. Sie hatte sicher das richtige Empfinden, daß jedes Wort von Rechtfertigung, oder wie man das immer nennen will, nur alles schlimmer machen würde. Nein, sie sagte nichts, sie schaute mich nur unverwandt an, mit diesem Blick hinter den getönten 281
Gläsern, den ich gut kannte. Ich gab mir einen Ruck und fuhr fort: „Als die beiden Gangster dich an jenem Abend von deiner Freundin abholten und zu Ofterdinger brachten, mußt du schnell erkannt haben, daß hier deine Chance lag. Keine flockige Urlaubsgeschichte, auch keine handfeste Zweitagessache, nein, ein richtiges Millionending! Gemeinsam werden sie auf dich eingeredet haben, dein Vater und Ofterdinger, den toten Türken unter dem Michel nicht zu identifizieren. Damit der Namenstausch bei den Leichen nicht aufkam und damit der Steuerbetrug. Und was fällt nun für dich ab, nachdem du den Koffer mit den Millionen nach Straßburg gebracht haben wirst? Ein Batzen von dem Geld? Oder mehr? Ofterdinger selbst vielleicht? Warum eigentlich nicht? Das ist doch mal ein gestandener Kerl, einer, der was aus seinem Leben zu machen versteht.“ „Und das traust du mir zu?“ fragte sie leise. „So etwas wie Ofterdinger traust du mir zu?“ Darauf antwortete ich nicht. Wieder sah ich zum Fenster hinaus. Der Zug schlich gerade durch den Bahnhof Sternschanze. Ich mußte mich aber beeilen, denn es konnte nicht mehr lange dauern, bis die beiden Beamten auf dem Gang auftauchten, und ich hatte ihr noch einiges zu sagen. „Sicher wäre alles gut gelaufen, wenn es nicht den Trottel aus dem Hafen gegeben hätte. Und als der bis zu deinem Vater vordrang und mit dem Generalstaatsanwalt drohte, da mußte endlich was geschehen. Man sollte es nicht für möglich halten, aber als du in meiner Wohnung so nett den Tisch für uns beide gedeckt hattest, konnte ich immer noch nicht zwei und zwei zusammenzählen. Und als ich das Tablettenröhrchen fand, da glaubte ich den schlüssigen Beweis zu haben, daß sie dich seit Tagen unter Drogen gesetzt hatten. Mir kam nicht sofort der Gedanke, daß die Tabletten für mich bestimmt waren, damit ich umfiel und für eine Weile 282
Ruhe gab. Ich mußte wirklich erst die Haftschalen finden, um zu begreifen, daß hier ein seit Tagen abgekartetes Spiel ablief. Und als ich das bei Ofterdinger begriff, da war es zu spät.“ Ich lächelte. „Beinahe zu spät.“ „Die beiden Tage mit dir waren für mich kein Spiel“, sagte sie. Plötzlich hatte ich das Bild vor mir, wie sie an meinem Hals hing. Das lag nur Stunden zurück. Ich glaubte ihre Haut zu spüren, und ich hörte ihr Stammeln. Was war denn eigentlich Lüge und was Offenheit? Und was Berechnung? Schließlich hatte sie mir die Tabletten doch nicht gegeben. Sie schien zu erraten, was mir durch den Kopf ging, denn sie sagte: „Wir können es noch ändern, wir haben es in der Hand.“ Ich schüttelte den Kopf. „Du brauchst nur ein Wort zu sagen!“ „Es ist zuviel passiert inzwischen!“ Sie wandte mir ihren Blick zu. Das war doch Lores Gesicht, in das ich sah. Was war Ehrlichkeit? Und was Berechnung? Arbeitete es nicht hinter der Brille mit den getönten Gläsern? Ebensogut konnte sie denken: Wo ist der Ausweg – und wenn nur erst mal heraus aus diesem Zug? Der fuhr gerade durch den Bahnhof Dammtor. Sie fragte: „Was ist denn passiert? Was denn noch?“ „Sie wollten deine Freundin Escherich umbringen!“ „Nein –!“ stöhnte sie. „Mußten sie doch! Auch sie hätte Tuyan identifizieren können. Ofterdinger war so weit gegangen, er mußte auch den letzten Schritt tun. Mir haben sie vorher eine Flasche Schnaps eingetränkt. Sollte wohl so aussehen wie eine dieser blödsinnigen, unmotivierten Gewalttaten, von denen man jeden Tag in der Zeitung liest.“ „Nein“, stöhnte sie wieder. „Das habe ich nicht gewußt!“ „Ofterdinger konnte die Escherich nicht auch noch 283
kaufen, es ging alles reichlich schnell am Schluß. Und dann war es nicht sicher, ob sie sich auch kaufen ließ. Nicht jeder ist leicht für Geld zu haben …“ Ich ließ den Satz absichtlich in der Schwebe, denn natürlich machte es mir Freude, in der Wunde herumzustochern. Ich deutete auf die Perücke und das kleine Etui zwischen uns. „Du paßt schon ganz gut zu dem da. Die Lore Pohl, die in meiner Vorstellung herumgegeistert ist, hat es jedenfalls nie gegeben.“ Sie schaute mich prüfend an, um ihren Mund lag ein kleines, zaghaftes Lächeln. Möglicherweise deutete sie es falsch, wie ich mich verhielt, denn allmählich wurde ihr Lächeln sicherer. Mit einer langsamen, tastenden Bewegung griff sie nach der Perücke, auch nach dem Etui mit den Haftschalen, und stopfte beides neben sich in den Sitz. Ich hatte mich nicht gerührt unterdessen, und sie sagte: „Ja, ich hab’ was von der Dreesen, warum auch nicht? Aber vor allem bin ich die Lore, die du dir wünschst, die bin ich wirklich! Sehr viel kann in einem Menschen sein, sehr viel nebeneinander, glaubst du das nicht?“ O ja, ich glaubte es! Ich hatte es ja in den letzten Tagen erfahren. „Warum bist du in den Zug gekommen?“ fragte sie. „Ich hatte so eine Idee! Es mußte doch einen Grund für deine Verkleidung geben. Nicht etwa, daß ich dich nicht erkennen sollte, nicht so etwas Läppisches, nein, einen wirklichen Grund! Ofterdinger ließ der Frau Dreesen ja sogar einen Paß machen. Und er kleidete sie völlig neu ein. Wie nun, wenn sich Frau Dreesen in diesem Zug in Luft auflöste? An der Grenze würde die Polizei nach einer schwarzhaarigen, mondänen Frau fahnden. Aber da gab es nur ein kleines, blondes Mädchen mit einer Brille auf der Nase. Drüben in Frankreich war dann dieses blonde Mädchen verschwunden, und Frau Dreesen tauchte auf mit dem Koffer voll Geld. Ist doch gar nicht schlecht ausgedacht!“ 284
„So könnte es sein“, sagte sie eindringlich. „So könnte es noch immer sein!“ Ich starrte sie an. Nun hatte ich sie schließlich doch noch gefunden! Nach diesen irren Tagen voller Hoffnung und Verzweiflung saß sie endlich vor mir. Und ich erkannte sie, die wirkliche Lore Pohl! Dies war die letzte Sekunde zwischen uns. „Ofterdinger muß uns von dem Geld abgeben“, fuhr sie fort. „Einen ganzen Teil davon. Schon morgen könnten wir in einer Maschine sitzen, ich gehe mit dir überallhin, du mußt es nur sagen. Wir könnten die ganze Welt sehen!“ Brauchte ich doch gar nicht! Die ganze Welt, die hatte ich in den letzten Tagen doch gesehen. Ich war ja gerade von einer langen Reise zurückgekommen. Sie standen wohl schon eine ganze Weile auf dem Gang und starrten uns an, der dicke Kommissar und der Steuerfahnder Sieg. Ihr Blick ging zwischen uns beiden hin und her. Irgendwas schien ihnen zu dämmern, sie wußten es nur noch nicht ganz genau. Langsam schob der Kommissar die Abteiltür auf. Schweigen von uns allen, langes und peinliches Schweigen! Ich brach es schließlich. „Gucken Sie in ihre Tasche, sie muß zwei Pässe bei sich haben. Die Perücke steckt neben ihr. Und das verdammte Geld, das werden Sie wohl schließlich auch finden.“ Ich stand auf und lief hinaus, den Gang entlang zur Plattform. Der Zug rollte eben in den Hauptbahnhof ein. Ein paar Minuten würde er hier Aufenthalt haben, bis es hinausging mit ihm nach Straßburg. Ich stieg auf den Bahnsteig hinunter. Sie brachten sie heraus und gingen mit ihr den Zug entlang. Wieder schleppte ein Träger die Koffer, und sie voran, kerzengerade und mit sicheren Schritten. Der fette Kommissar war an ihrer Seite, er trug den schmalen Koffer aus schwarzem Lackleder. Plötzlich hatte der Fleischberg 285
selbst etwas von diesen Börsenleuten. Was Geld alles aus den Menschen machen kann! Sieg, der ein bißchen hinter ihnen war, blieb bei der Treppe stehen, wo es zur Halle hinaufgeht. Er sah mich beim Zeitungsstand und kam zu mir zurück. Da war ja noch einer, den sie vergessen hatten! „Ohne Sie hätten wir sie schließlich gar nicht erwischt mit dem Geld“, sagte er. Und dann, als ich nicht antwortete: „Es tut mir leid!“ „Da braucht Ihnen nichts leid zu tun. Sie haben sie ja nun, nicht wahr?“ Er brachte einen Flachmann aus der Tasche und schraubte die silberne Kappe ab. „Da, nehmen Sie mal! Sie werden einen tüchtigen Schluck nötig haben!“ Plötzlich war das alles wieder da! Dieses schauderhafte Gefühl in meinem sensiblen Magen, das Schlottern in den Knien und das Zittern in den Händen! War es denn immer noch nicht ausgestanden? „Lassen Sie mal!“ flüsterte ich. „Vom Alkohol bin ich ganz abgekommen, ich trinke jetzt nur noch Milch!“
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Einige Monate danach Es muß wohl im darauffolgenden März gewesen sein, im Frühling des Zweiundsiebzigerjahres. Wir hatten die Boote hervorgeholt und bereiteten sie auf die kommende Saison vor. Ein Haufen Arbeit mit Putzen und Streichen. Ich hatte auch die Maschine auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, das sparte viel Geld. An der blitzte und funkelte es jetzt wie auf Mutters Küchenherd. Ich hatte sie gerade Probe laufen lassen und war ganz zufrieden. Ja, genau an diesem Tag muß es wohl gewesen sein, wenn ich mich recht besinne. Die Geschichte war längst zu Ende, ich meine, was noch darauf folgte. Stundenlange Verhöre, Gegenüberstellungen, Tatortbesichtigungen und schließlich nach vielen Wochen der Prozeß. Ich hatte bei allem gar nicht schlecht abgeschnitten, obwohl ich die Polizei doch an der Nase geführt, ihr nicht alles gesagt hatte. Zu dem letzten Mordanschlag auf die Escherich wäre es ja gar nicht mehr gekommen, wenn ich vorher reinen Tisch gemacht hätte. Da zeigte sich aber Schnabel von der besten Seite, kehrte einfach alles unter den Teppich. In den Zeitungen bin ich groß herausgekommen. Meine Tochter hat die Ausschnitte in ihrem Zimmer alle an die Wand gepinnt. „Barkassenführer faßt Millionenschieber“, steht da, und: „Unsere Jungens aus dem Hafen sind die Größten!“ Na, dieser Scheiß eben. Ofterdinger ist nicht so gut weggekommen, dem haben sie hübsch paar Jahre aufgebrummt, und damit ist er weg vom Fenster. Sie haben alle gegriffen, den Fahrer des roten Audi 100 ebenso wie die beiden, die den Türken unter das Auto stießen. Der Kerl, der mir die „Queen Anne“ zwischen die Zähne gerammt hatte, war rechtzeitig zur Verhandlung aus dem Krankenhaus entlassen worden. Das Hufeisen hatte ihm einen doppelten Schä287
delbruch gemacht, und nach dem Urteil kam er gleich wieder hinein, diesmal in eine Zelle zur Nachkur. Sie saßen zu sechsen auf der Anklagebank, außer Lore. Ich sah sie wieder, als ich in den Zeugenstand mußte. Ich schaute ein paarmal zu ihr hinüber, und ich spürte, daß auch sie mich ansah, obwohl man das so genau bei ihrer Brille ja nie wußte. Nein, dieser Ofterdinger war ihre Chance nicht gewesen. Ich übrigens wohl auch nicht, das hatte ich inzwischen eingesehen. Und trotzdem, ich konnte es nicht hindern, sie tat mir leid! Wie schade um das Mädchen! Was für eine patente Frau hätte sie werden können, wenn die Dinge seit ihrer Kindheit nur ein wenig anders gelaufen wären. Man gab ihr ein paar Monate auf Bewährung. Den Herrn Oberstaatsanwalt Pohl haben sie überhaupt nicht erwischt, der hatte sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Als sie in die Magdalenenstraße kamen, um ihn zu holen, saß er in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch. Sah ganz friedlich aus. Die Hand mit der Pistole hing herab, und in seiner Schläfe war ein großes, glasiges Loch! Dieser Schnabel mit seinen vielen Antennen, der hatte doch gleich gewußt, was für ein hervorragender Schütze der Herr Oberstaatsanwalt gewesen war. An der Wand über ihm hing Frau Pohls Ahnherr, der Hanseat mit dem Backenbart vor dem langgezogenen Pferdegesicht und dem kühlen Blick. Der war ja dabeigewesen in den allerletzten Augenblicken, bevor sich Herr Pohl die Kugel gab. Sie mochten noch einmal stumme Zwiesprache gehalten haben, und der Staatsanwalt würde begriffen haben, daß die Leute, die wirklich nach oben kommen und da auch bleiben, eben doch aus anderem Stoff sind. Man konnte den Selbstmord nicht vertuschen, sosehr sich die Bruderschaft im Senat dies auch wünschte. Ein mächtiger Wirbel in den Zeitungen und im Regionalfernsehen! Alle feinen Leute hatten sich entrüstet von diesem verlorenen Schaf ab288
gewandt. Hinter seinem Sarg schritt nur Frau Pohl, ja, die tat es mit steinernem Gesicht. Aber niemand von der Justiz, keiner vom Senat! Und so fuhr er ganz ähnlich in die Grube wie die beiden Türken Tuyan und Gebes auch. Ich hatte mein Versprechen, das ich mir auf der Fahrt von der Escherich zum Altonaer Bahnhof abverlangt hatte, wahrgemacht. Die Wohnung am Glindweg wurde gleich aufgegeben, und ich war nach Cranz hinausgezogen. In jeder freien Minute stapften wir über die Wiesen, die ganze Familie, und suchten den Platz aus, wo das Haus hin sollte. So etwas von Zank, den es gab, sogar Brigitte nörgelte mit. Schließlich hatten wir den Baugrund gefunden. Wie bei allen Dingen, aus denen etwas werden soll, ging es auf einen Kompromiß hinaus. Nur meine Tochter hat noch ein ungelöstes Problem. Sie will alle Tiere mitnehmen in das neue Haus – sogar das Pferd! Die Bauzeichnungen sind längst fertig, die liegen schon seit Wochen auf der Gemeinde. Es ist ja unglaublich, was für Leute in diesen Stuben sitzen. Manchmal schaue ich in den Spiegel, beim Rasieren muß man das ja. Und da kann es vorkommen, daß ich auf meinen Blick hinter der Scheibe treffe. Aufmerksam schauen wir uns dann an, während der Seifenschaum eintrocknet, der Mann im Spiegel und ich. Es ist so, als ob ich mich seit dieser Zeit erst richtig kennengelernt habe. Und ich kann überhaupt nichts bereuen! Natürlich nicht die scheußlichen Dinge, die darum herum waren, die meine ich nicht. Aber diese Gefühle, die ich empfunden, die Erfahrungen, die ich mit mir selbst gemacht habe! Das will ich nicht vergessen. Niemals! Und dann ist es so, als ob mir der Mann im Spiegel zublinzelt. ‚Guck an, Seemann‘, sagt er, ‚hast du alles in dir! Ist das nicht schön?‘ Ich bin in den letzten Monaten fleißig gewesen, muß ich auch, wenn das mit dem Haus etwas werden soll. In 289
den vergangenen Tagen besonders, als ich das Schiff auf Vordermann brachte. Und an einem dieser Tage ist es dann eben gewesen! Ich kam gerade den Tritt hoch aus dem Maschinenraum und wollte mir am Steuerstand eine Tüte Milch aufmachen, da sah ich sie stehen. Na, bei dieser Treppe, die von unserem Anlegeplatz zur Landungsbrücke hinaufführt. Stand einfach so da! Zuerst erkannte ich sie nicht, weil sie einen Lammfellmantel und eine Pelzmütze trug. So hatte ich sie niemals gesehen. Damals im vergangenen Jahr, als alles passierte, da war ja Sommer gewesen. Ich lehnte am Steuerstand und nuckelte an meiner Milch. Und während ich so hinüberstarrte zu ihr, da begann es langsam in mir zu dämmern, und da erkannte ich sie wieder. Dieses Fräulein Escherich! Und weil ich sturer Bock nicht dergleichen tat, kam sie langsam von der Treppe herunter und blieb vor mir an der Reling stehen. „Wissen Sie eigentlich, Herr Ahrens, daß ich Hamburgerin bin?“ fragte sie. „Ja, sicher, was denn sonst?“ „Ich bin hier aufgewachsen in der Stadt. Kindheit, Schule und alles andere. Aber ich habe noch niemals eine Hafenrundfahrt gemacht. Halten Sie das für möglich?“ Wir lächelten uns an. „Fräulein Escherich!“ sagte ich schließlich. „Wenn Sie um diese Jahreszeit eine Hafenrundfahrt machen wollen, da müssen Sie schon einen von den Dampfern nehmen, von den geschlossenen. Die haben Klimaanlagen und den ganzen Klimbim!“ Sie hatte den versonnenen Schimmer auf dem Gesicht, den ich schon einmal gesehen hatte, als sie mich zum Fahrstuhl brachte. Sie sagte: „Ich will aber gerade Ihren Klimbim, Herr Ahrens!“ „Sind Sie da ganz sicher?“ „Bin ich!“ 290
„Na, denn mal los!“ Ich reichte ihr meine Hand, die sie nahm, und half ihr an Deck. Ich spürte keinen elektrischen Schlag, als ich sie hielt, aber ich will ruhig zugeben, daß mir ein bißchen warm dabei wurde. Wir schaukelten unter der Brücke aus dem Seitenwasser heraus und kamen ins Hafenbecken. „Nun aber mal anfangen“, sagte sie. „Ich will den ganzen Vortrag, von Anfang an, und nichts auslassen! Auch nicht den Witz über die Pulverfabrik!“ Ich hielt ihr den Vortrag und kam richtig in Schwung dabei. Ich glaube, ich habe meine Sache ordentlich gemacht. Ja, und so kam dann eben alles noch zu einem ganz guten Ende. Wie sich das für eine richtige Geschichte auch gehört.
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Martin Wendland Mit falscher Münze Kriminalroman • DIE Reihe 184 Seiten, Taschenbuch, 2,– Mark erscheint im Verlag Das Neue Berlin
Leseprobe Die Tür knarrte wie in einem Kriminalfilm. Auch die Holzdielen federten und knirschten. Fehlte nur noch der Ruf eines Käuzchens und etwas drohend-unheimliche Musik, um den Zuschauer das Gruseln zu lehren. Hanssing machte die Taschenlampe an. Sie flackerte bei jeder Bewegung, und er fluchte unhörbar auf die verdammte Schundproduktion. Ihm wurde heiß. Er war noch viel zu nervös. In dem engen Vorraum standen unter einer Bank Gummistiefel mit langen, umgeklappten Schäften. An der Wand lehnten Angeln, Käscher. Ein präparierter Hecht hing über der Innentür, seine Glasaugen glänzten. Auf einer Bank hing eine ausgediente Armeekluft. Die Innentür war unverschlossen. Sie kratzte über die Dielen und klemmte fest. Der Lichtkegel der Taschenlampe drang in den Raum, strich über zwei Liegen, einen länglichen Tisch, einen Vorhang, hinter dem eine Kochnische lag. Der Vorhang ließ sich schwer ziehen. Die Rollen waren rostig. Auf einem tischhohen Schrank stand ein Propangaskocher. Daneben auf einem Hocker ein Eimer mit Schöpfkelle, darüber ein kleines Fenster. Es klemmte, ließ sich aber trotzdem gut öffnen. Hanssing drückte das Fenster wieder zu. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man es für geschlossen halten. Wenn man den Riegel geschickt aufstellte, schnappte er beim Andrücken des Fensters von allein zu. Das 292
war eine todsichere Sache, wenn man durch das Fenster in den Raum eingedrungen war und ihn wieder verließ. Niemand konnte dann den Vorgang rekonstruieren. Der Fensterladen war mit einem Haken gesichert, der nur von innen zu öffnen war. Er war ohne Falz gearbeitet; mit einem langen, schmalen Stück Metall müßte man den Haken von außen aus der Öse stoßen können. Dann wäre der Weg ins Innere der Hütte frei. Die Inspektion befriedigte den Professor. Er leuchtete den Fußboden ab und entdeckte die rotgestrichene Propangasflasche unter dem Gaskocher, daneben einen Eimer mit durchlöchertem Scheuerlappen. Der Lichtstrahl wanderte von der Gasflasche aufwärts zum Fenster. Erkenntnis war wirklich ein Blitz aus Gegebenheiten. Hanssing mußte sich setzen. Er war überwältigt von seiner Vorstellung. So und nur so wollte er Stillmann aus dem Leben gehen lassen, jawohl, gehen lassen. Das war eine absolut sichere Art, sicher im doppelten Sinn der Wortbedeutung. Sicher für die Fahrkarte ins Jenseits und sicher für ihn, der sie ausstellte. Er lachte in sich hinein. Entdeckerfreude überflutete sein Herz. Eine Schande geradezu, daß er diesen Einfall für sich behalten mußte. Niemand würde an eine Tötung denken; jeder würde auf einen Unglücksfall oder Selbstmord schwören. Das war genial, das mußte er laut sagen. Besinnung überdeckte seine Euphorie. Eine Idee mußte verwirklicht werden. Jetzt kam es auf die beste Möglichkeit an. Die Entfernung vom Fenster zur Gasflasche war größer, als ein Arm überbrücken konnte. Er würde sich ins Fenster hineinziehen müssen, um das Ventil öffnen zu können. Das war nicht gerade günstig, wenn man jedes Geräusch vermeiden mußte. Er würde die Bank oder einen Holzklotz unter das Fenster stellen müssen. Wer konnte sagen, wie fest Stillmann schlafen würde. Es gab so etwas wie Ahnungen; ein sensibler Bursche war er. 293
Es reizte Hanssing, das Ventil zu öffnen. Gas strömte jedoch nicht aus. War die Flasche etwa leer? Er schaukelte sie und hörte es gluckern. Im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß der Hahn am Gaskocher noch geschlossen war. Er öffnete ihn, und ein leises Zischen ertönte. Ein Hauch tödlicher Moleküle schwebte heran, fast geruchlos. Genießerisch schnupperte Hanssing. Das würde Stillmann weder hören noch riechen. Geist mußte man haben. Ein Unglücksfall. Die Tür würde von innen verriegelt sein, die Fenster geschlossen. Eine Einwirkung von außen – unmöglich. Wieder mußte er seinen Enthusiasmus dämpfen. Alles in Ruhe bedenken. Er lehnte die heiße Stirn gegen den Türpfosten. Was nun, wenn die Flasche nicht genügend Propan enthielt? Er begann zu schwitzen. Dummheit, daran konnte alles scheitern. Akribie war in jeder Hinsicht vonnöten! Die Dosis mußte tödlich sein, unbedingt tödlich. Sonst würde der Anschlag auf ihn zurückfallen. Er durfte kein Risiko eingehen. Sonst war es um ihn geschehen und nicht um Stillmann. Gut, daß er wenigstens rechtzeitig daraufgekommen war. Die unwägbaren Dinge brachten die besten Pläne zum Scheitern. Für seinen Plan durfte es keine unwägbaren Dinge geben. Die Flasche mußte voll sein! Es war eine gewöhnliche Gasflasche – mit dem Dreiecksschild der Gasvertriebsstelle, einigen Kratzern auf dem Rot und einer abgeschabten Stelle. Auffällig individuell war nur ein ungeschickt aufgemaltes großes A. Gab es eine zweite Flasche? Der Schrank war leer. Unter den Liegen lagen nur Holzlatschen. Nirgends eine zweite Flasche, kaum zu glauben. Blieb nur noch der Spitzboden. Im Flur entdeckte er, halb verdeckt, eine Leiter. Jedenfalls konnte man sie Leiter nennen, wenn sie auch aus Knüppeln roh zusammengezimmert und an die 294
Wand genagelt war. Sie reichte bis zur Decke, doch eine Luke war nicht zu sehen. Er hangelte sich ächzend die Leiter empor, tastete die mit Leisten unterteilten Preßplatten ab. Ein Quadrat linker Hand ließ sich hochdrücken. Na also. Er schob sich zwei Sprossen höher, hielt die Luke mit dem Kopf und leuchtete den Boden ab. Da stand sie, die zweite Flasche, greifbar nah. Er zog sie heran, schüttelte sie. Sie war schwer und voll. Na also. Er schob sie zurück, zog den Kopf ein, schloß die Luke und stieg von der Leiter. Geschafft! Er unterdrückte ein Niesen, putzte die Nase und lauschte. Der Wind fauchte durch die Kiefern. Eine Wildente schrie. Stille. Leises Klopfen plötzlich. Stillmann? – Unmöglich. Aber wer dann? Heftiges Erschrecken ging in dumpfe Verzweiflung über. Was tun? Ausreden schwirrten ihm durchs Gehirn. Es gab keine Erklärung für sein Hiersein, keine plausible; höchstens, daß er sich verirrt habe und die Nacht … Seine Hand schnellte zum Riegel. Ein sanfter Druck – zu. Zeit war gewonnen. Er stieß die Luft aus. Schließlich mußte er nicht öffnen. Aber sein Plan, sein wunderbarer Plan! Wieder das Klopfen. Hanssing biß sich auf die Lippen. Er würde hinausgehen, sehen, wer da war. Ein Knüppel lehnte an der Wand. Er nahm ihn an sich, hielt ihn hinter dem Rücken. Er konnte zuschlagen, hart auf den Schädel. Das Wasser war nahe, das Boot. Steine lagen herum. Es würde Jahre dauern, bevor etwas nach oben kam. Oder noch besser, alles versackte für immer im Schlamm. Er schob den Riegel zurück und öffnete einen Spalt breit die Tür. Der Mond stand scharfrandig über dem See, eine Handbreit daneben ein Planet, der Jupiter oder der Saturn. Blödsinn, in einer solchen Situation auf so etwas zu achten. 295
Wieder das Klopfen. Es kam von der Seite. Vor der Hütte war kein Mensch zu sehen. Eine Seite lag im Mondschatten. Der Wind rauschte stärker und strich raschelnd über das Schilf. Wollte ihn jemand hinauslocken? War ihm selbst zugedacht, was er zu tun gedacht hatte? Angst ließ ihm die Beine beben. Ein brennendes Gefühl wuchs in seinem Magen. Er lehnte sich an die Wand. Er mußte den Kopf klar behalten. Der Knüppel in seiner Hand brachte ihn wieder zur Besinnung. Er konnte zuschlagen. Wennschon – dennschon. Sein Leben wollte er so teuer wie möglich … Niemand würde hier nach ihm suchen. Man würde seinen Wagen finden, dreitausend Meter von hier entfernt, aber wer würde ihn auf dem Grund des Sees vermuten? Ihn schauderte. Das nicht, nicht ihm. Er konnte sich um die Hütte schleichen und davonstehlen. Die Dunkelheit des Waldes würde ihn verbergen. Wer sollte ihm da folgen können. Aber er zögerte. Er mußte sehen, mit wem er es zu tun hatte. Vielleicht hatte ihn doch jemand verfolgt.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1978 Lizenz-Nr.: 409-160/110/78 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 3824 DDR 3,-