Die Zeit-Kugel Band 71
Ein Volk soll aufs Schafott
Der Auftrag: König Philipp II. von Spanien ließ am 16. 2.1568 durc...
13 downloads
268 Views
588KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Zeit-Kugel Band 71
Ein Volk soll aufs Schafott
Der Auftrag: König Philipp II. von Spanien ließ am 16. 2.1568 durch seinen Statthalter in den Niederlanden, Herzog Alba, alle Niederländer zum Tode verurteilen. Dieses Urteil ist einmalig in der Weltgeschichte. Der Herzog richtete ein Blutbad an. Reisen Sie in das Brüssel des Februar 1568 und erleben Sie, wie sich Menschen, die so sind wie Sie und wir, einer derartigen Ungeheuerlichkeit gegenüber verhalten.
Club der Sieben
Die Felder waren zerstampft, die Zäune aus gesteckten Ästen umgebrochen und das Dach über dem gemauerten Brunnen im Hof niedergerissen. Ein totes Schwein mit aufgedunsenem Bauch lag an der Erde. Ein paar Raben hüpften auf dem Kadaver herum. Sie hatten handtellergroße Löcher in die Schwarte gepickt und schauten aufsässig und mißgünstig die drei Männer an, die vorsichtig in den Hof der Schenke kamen und jetzt wie erstarrt stehenblieben. Als die Raben merkten, daß ihnen von diesen drei Menschen keine Gefahr drohte, wandten sie sich ihrer Beschäftigung zu und hackten Speck und Fleisch aus dem stinkenden Schweinekadaver. Professor Robert Lintberg schenkte den aasfressenden Raben kaum Beachtung. Seine Aufmerksamkeit galt der Zerstörung und dem heillosen Durcheinander ringsum. Hier hatte der Teufel selber Kirchweih gehalten! Dauben von zerschlagenen Fassern und Weidenreifen lagen herum. Hausrat war aus der Tür und dem Fenster daneben in den Hof geworfen. Zerfetzte und zerschlitzte Kleidung hing über den kläglichen Resten von Tischen und Truhen und bauschte sich im Wind. Ein Holzladen an mürben Lederangeln wurde vom Luftzug bewegt. Sofort richteten sich die Blicke von Lintberg, Frank Forster und Ben Hammer auf den Holzladen. Doch im Fensterloch zeigte sich niemand. Nirgendwo gab es Anzeichen für menschliches Leben in dieser Schenke am Weg nach Brüssel. »Lieber Himmel, was mag hier nur geschehen sein?« murmelte der Professor. Zögernd trat er zwei Schritte tiefer in den Hof hinein. Die Raben hupften entrüstet vom Kadaver herunter und stolzierten an die Seitenwand der Schenke. Vor der Mauer aus Feldsteinen lagen zerfetzte Hühner und ein Hahn. Sie machten sich über das Federvieh her. Ratten flüchteten in Mauerlöcher und lugten nach der Beute, die ihnen von den Raben streitig gemacht wurde. »Heda, ist hier jemand?« rief Lintberg. Die unwirkliche Stille begann auf sein Gemüt zu wirken. Alles war so gespenstisch. Er machte noch zwei Schritte. Aus dem Haus kam keine Antwort. Nur der Holzladen knarrte entsetzlich, und aus den Mauerlöchern drang das schrille Fiepen der Ratten. Frank Forster gefiel die Sache überhaupt nicht. Er starrte auf das Türloch der Schenke und die Fensterhöhlen. Er lauerte förmlich auf eine Bewegung. Ein Windstoß fuhr in den Hof, bauschte die Kleiderfetzen, lüftete die Federn der Hennen und zerzauste das Gefieder der Raben. Aus dem kahlen Geäst der Eiche hinten im Hof erklang ein unwirkliches Winseln. Ben Hammer merkte, daß sich seine Nackenhaare aufrichteten. »Mann, das zieht einem ja die Schuhe aus!« sagte er polternd. »Die Leute
müssen Hals über Kopf geflüchtet sein.« »Sie hätten aber die Haustiere mitgenommen«, erwiderte Lintberg. »Oder sie wären später zurückgekommen, um sie fortzuholen. Ein Schwein und ein paar Hühner stellen in diesem leergefressenen Land ein sehr beträchtliches Vermögen dar.« Während er das sagte, machte er wieder zwei Schritte. Aber dann sagte er nichts mehr. Und er tat auch keinen weiteren Schritt. Er sah die Muskete, die auf ihn gerichtet war. Frank und Ben merkten, wie Lintberg sich versteifte, wie er die Schultern etwas zusammenzog und den vorgesetzten Fuß langsam zurücknahm. Blitzschnell musterten sie den hinteren Hof. Und da sahen auch sie den Musketenlauf, der genau auf den Kopf des Professors gerichtet war. Für Lintbergs Wohlergehen hätte nur noch ein Lebensmüder die Hand ins Feuer gelegt. * Frank und Ben griffen gleichzeitig zur Lähmstrahlwaffe. Sie wußten, daß sie schneller waren als je zuvor. Nur wußten sie nicht, ob das ausreichte und ob sie dem verborgenen Musketenschützen zuvorkamen. Der Kerl mußte hinter dem Holzstapel sitzen, auf dem er die unhandliche Muskete in Stellung gebracht hatte. Zu sehen war er nicht. Aber zu treffen war er. Der Lähmstrahl durchdrang Holz mühelos und ohne Verzögerung. Noch schneller als Frank und Ben reagierte diesmal Lintberg. Sonst war er immer dafür, erst einmal zuzuwarten und zu sehen, wie sich eine verfahrene Situation entwickelte. Jetzt aber war er der schnellste Mann von allen. Er war nicht erpicht darauf, mit dem Musketenknall eine Bleikugel in den Kopf zu bekommen. Lintberg schnellte sich aus dem Stand nach vorne, kugelte sich in der Luft zusammen, überschlug sich am Boden zweimal und war vorerst aus der Schußrichtung. Allerdings behinderte er jetzt Frank und Ben, denn er befand sich genau zwischen ihnen und dem Holzstapel. Und nun richtete er sich auch noch keuchend auf und machte die Behinderung vollständig. Frank atmete sehr flach, Ben fluchte unterdrückt. Eine knotige Hand tauchte über dem Holz auf, packte die Muskete und hob sie mühsam herum. Es war eine sehr ungeübte Bewegung. Dann tauchte auch ein Haarbusch über dem klobigen Donnerrohr auf. Es war wirres und ungepflegtes Haar. Stroh hing darin.
Ben wunderte sich, wie so viel Stroh in so wenig Haar hängenbleiben konnte. Denn der Haarbusch bedeckte offensichtlich nicht den ganzen Schädel des Burschen, der sich hinter dem Holz verborgen hielt. Er wirkte wie ein übriggebliebenes Büschel, um das herum alles abgeschnitten war. Jetzt wurde auch die Stirn sichtbar. Und ein Auge, das versuchte, über den Musketenlauf hinweg eine Peilung vorzunehmen. Frank, der seinen Paralyzer schußbereit in der Hüfte hielt, zögerte absichtlich, den Kontakt auszulösen, als er die mühsamen Versuche des Unbekannten bemerkte, die Muskete neu auszurichten. Ben machte rasch einen Schritt zur Seite, um den Mann besser sehen zu können und Lintberg nicht zu gefährden, falls dieser eine hastige Bewegung machen sollte. Der Kopf des Mannes hinter dem Holz kam höher, das Gesicht wurde sichtbar. Verblüfft senkten Ben und Frank die Waffen, als sie die gewaltigen Anstrengungen des Mannes erkannten. Es war ein Mann, daran bestand kein Zweifel. Er war ein Greis mit mindestens tausend Runzeln im Gesicht und einer feuerroten Narbe, die sich von der linken Stirnecke über den Nasenrücken zum rechten Kinnwinkel hinzog. Und er hatte nur ein Auge. Zur Verwunderung der Zeitreisenden versuchte er ausgerechnet mit dem nicht vorhandenen Auge über den Musketenlauf hinwegzuschauen. Die drei Männer aus einer anderen Zeit begriffen, daß dieser Greis des Schießens unkundig war und mit der Muskete überhaupt nicht umgehen konnte. Mochte der Teufel wissen, wie er an die Waffe gekommen war und wie er sie hierher zu dieser Schenke gebracht hatte. Überall streiften die Horden der Spanier herum, die Tercios, die Söldner des spanischen Königs Philipp II., die mächtig aufpaßten, daß die Bewohner der spanischen Niederlande sich nicht mit Kriegsgerät versorgten und es auch benutzten. »He, Bursche, schieß uns nur nicht aus Versehen den Kopf herunter!« rief Ben und trat schnell nach vorn. Er stellte sich neben Lintberg und hob die Hände bis in Schulterhöhe, um seine friedliche Absicht zu unterstreichen. Der Greis scherte sich nicht darum. Entweder war er schwerhörig oder er traute den Friedensbekundungen nicht. Er brachte auch seine rechte Hand ins Blickfeld der Zeitreisenden, die ebenso knotig und ungelenk war wie die linke. Ben begann zu grinsen, was Lintberg sehr verdrießlich stimmte, weil er genau in diesem Augenblick hersah und es bemerkte. Ein Treffer aus einer Muskete war keine Kleinigkeit. Eine Kugel aus so einem Rohr hatte ein unverschämtes Kaliber und war in der Lage, einem Ochsen den Schädel platzen zu lassen. Und Ben grinste. »Sie haben Nerven!« knurrte Lintberg ergrimmt.
Ben zeigte sich nicht beeindruckt Er machte mit seinen noch immer erhobenen Händen eine knappe Bewegung zu dem Greis hinter dem Holzstapel hin. »Es ist eine Luntenmuskete«, sagte er aufgeräumt. »Aber der alte Mann hat keine brennende Lunte zur Hand. Vielleicht ist er nicht ganz richtig im Kopf!« »Und wenn’s eine Feuersteinwaffe ist und ein Schuß losdonnert, sind wir die Angeschmierten«, erwiderte Lintberg. Die Anspannung ließ seine Stimme heiser klingen. Ben wandte nicht eine Sekunde lang den Blick von dem Greis. Überraschen lassen wollte er sich nicht. Vielleicht war der alte Mann besser, als es den Anschein hatte. Der Greis hatte erhebliche Mühe, überhaupt die knotigen Finger zu krümmen und die gewichtige Waffe richtig zu packen. Ben deutete die Verdickungen an den Fingergelenken als Gichtknoten. Der Alte grinste jetzt. Die Narbe quer über seinem Gesicht verschob sich, die blutarmen Lippen inmitten des Stoppelbartes klafften auseinander und ließen Ben, Lintberg und Frank erkennen, daß er nicht einen Zahn mehr im Munde hatte. Das runzlige Gesicht verzerrte sich zu einer furchterregenden Grimasse. Dann brabbelte der Mann los. Doch die auf Betrieb geschalteten Sprachtransformer der Zeitreisenden produzierten nur eine Folge von Tönen. Einen Sinn ergaben sie nicht und ein verständliches Wort auch nicht. »Wir sind friedliche Reisende auf dem Weg nach Brüssel«, sagte Ben langsam und deutlich, einen neuen Verständigungsversuch unternehmend. Unwillig brummte der Alte. Er schüttelte den Kopf, daß Strohhalme aus seinem Haarbüschel flogen, und er zerrte unverdrossen an der Muskete herum. Aus den Augenwinkeln gewahrte Ben eine Bewegung, die anders war als das Wedeln der zerfetzten Kleidungsstucke und das Flattern der Huhnerfedern und Rabengefieder. An der hinteren Ecke der Schenke war etwas, dicht bei den zertrampelten Bienenstöcken, die man aus Stroh geflochten hatte. Ruckartig wandte Ben den Kopf. Der Wind blies gegen die derbe Kleidung einer drallen jungen Frau und preßte ihr den Rock, die Bluse und ein dickwollenes Schultertuch derart gegen den Körper, daß sich die ordentlichen Rundungen deutlich hervorhoben. Ben schmunzelte. Hier war alles richtig und ordentlich an seinem Platz. Der Rock reichte fast bis auf die Knöchel. Unterhalb des Saumes waren wollene Socken auszumachen; die Füße steckten in grobgehauenen
Holzschuhen mit leicht hochgezogener Spitze. Eine junge Frau oder ein Mädchen um die zwanzig, taxierte Ben vorsichtig. Er hatte noch nie besonders gut geschätzt, wenn es darum ging, das Lebensalter einer Frau nur annähernd zu bestimmen. Der kalte Wind aus Westen preßte wieder die Kleidung an den Körper der Frau. Doch sie fröstelte nicht. Sie hatte ein Stuck Tuch muffartig zusammengerollt und die Hände rechts und links hineingesteckt. Nur ihr pausbäckiges Gesicht war gerötet und verriet die Kälte, die der Wind mitbrachte. Alles an dieser jungen Frau war derb – die Kleidung, die dralle Figur, das Gesicht sogar die Frisur, die unter einer beschmutzten Tuchhaube hervorlugte. Vielleicht die Wirtsfrau aus dieser Schenke, dachte Ben. Oder die Tochter der Wirtsleute. Sie kann aber auch von einem Hof hier herum stammen. Bloß haben wir seit unserer Ankunft noch keinen Hof zu Gesicht bekommen. Nur diese verwüstete Schenke hier, die wie eine Insel in einem winterlichen Land auf uns gewirkt hat. Die Augen der jungen Frau paßten nicht recht in das Gesicht, sie paßten nicht einmal zu der ganzen Erscheinung. Sie hatten einen bäuerlich-listigen Ausdruck. Ben probierte es mit einem freundlichen Lächeln. Er behielt die Hände oben in Schulterhöhe, machte mit dem Kopf eine bezeichnende Bewegung zu dem Alten hinter dem Holzstoß und der Muskete hin und sagte: »Wir sind ganz zufällig hier in den Hof geraten, aber er hat wohl etwas gegen uns und hantiert mit dem Feuerrohr herum. Vielleicht versteht er uns nicht. Kannst du ihm sagen oder klarmachen, daß wir nichts von ihm wollen?« Er wartete gespannt auf die Wirkung seiner Worte, bis er begriff, daß das warten Zeitverschwendung war. Sein Sprachtransformer hatte keine Anhaltspunkte für die Sprache dieser Leute und konnte demzufolge auch nicht übersetzen. Wenn die junge Frau auch die Worte nicht verstand, immerhin begriff sie aber, daß die Stimme freundlich und gut klang. Zutrauen aber faßte sie darum noch lange nicht. Sie stieß geradezu aufsässig die Hände tiefer in die Stoffrolle hinein, schürzte die Lippen und sagte, und jetzt sprachen alle drei Sprachtransformer sofort an: »Wir sahen euch auf dem Weg kommen und hofften, ihr würdet die Schritte vorbeilenken.« »Nun, das ist eine Schenke. Wir hofften auf eine Erfrischung«, sagte Ben und nahm langsam die Arme herunter. Die Haltung begann ungemütlich zu werden. Die junge Frau studierte die Kleidung der drei Fremden, die weit besser war als das, was sie selber auf dem Leib trug. Lintberg hatte vor dem
Zeitsprung eingehend zeitgenössische Bilder studiert und danach Kleidung anfertigen lassen. Sie mußte eine Spur zu gut und zu vornehm ausgefallen sein. Jedenfalls ließen die Blicke der jungen Frau diesen Schluß zu. Um das vorhandene Mißtrauen zu zerstreuen, zeigte Ben auf den gesprungenen Henkelkrug aus Ton, der auf einen derben Stock gesteckt war und oben neben den Taubenkästen am Giebel aus einem kleinen Fensterloch ragte. Die Frau nickte, aber dann sagte sie: »Das war eine Schenke. Man nannte sie das Silberne Hufeisen. Das war, bevor die dreimal verfluchten Spanier vor einer Woche herkamen und den calvinistischen Prediger fanden, der sich in einem leeren Bienenkorb versteckt hatte. Sie haben dann alle umgebracht.« »Wen alles?« fragte Ben, der nun zu verstehen begann. »Die Wirtsleute, das Gesinde, den Prediger. Sogar das Vieh haben sie abgestochen. Sie lassen uns nichts. Wir leben schlimmer als die Tiere im Feld.« Wieder schürzte sie die Lippen. Aus Franks Richtung hörte Ben einen schnappenden Atemzug. Sofort schaute er zum Holzstapel hin. Dem Alten war es endlich gelungen, die Muskete in die neue Richtung zu dirigieren. Wenn er jetzt allerdings losballerte, traf er niemand. Der Lauf zeigte zwischen Lintberg und Frank durch hinaus ins Land. Vielleicht versprach sich der Greis von dieser Demonstration seines Mutes eine mehr moralische Wirkung denn eine effektive. Die junge Frau war Bens Blickrichtung gefolgt. Sie lächelte fast mitleidig und machte plötzlich ein paar Schritte von der Hausecke weg. Sofort sah der Greis zu ihr hin. Sie zog die linke Hand aus ihrem Stoffmuff und winkte besänftigend. Ben hoffte, daß es ihr gelang, den streitbaren Großvater zu beschwichtigen. Die Wirkung der Handbewegung war überwältigend. Das Bartgestrüpp des Alten klaffte auseinander, ein meckerndes Lachen drang aus dem zahnlosen Mund, und dann war in den Augen des Mannes nur noch Ergebenheit, ja geradezu hündische Unterwürfigkeit zu lesen. Vor dieser jungen Frau hatte er offensichtlich einen gewaltigen Respekt. Oder er verehrte sie über die Maßen. Jedenfalls begann er nach seinem merkwürdigen Gelächter an der Muskete zu zerren, bis er die klobige Waffe vom Stapel herunter hatte. An seinen Bewegungen war zu erkennen, daß er sie dort gegen das Holz lehnte. Schließlich kam er hinter seiner Deckung hervor. Er humpelte, als ginge er auf Kieselsteinen oder rohen Eiern. Dazu kam noch ein watschelnder Entengang. In unterwürfiger Haltung näherte der Greis sich der jungen Frau, zeigte dann auf die drei Zeitreisenden und machte eine Bewegung um den Hals, die überall auf der Welt als das Zeichen für
Hängen verstanden wird. Etwas entrüstet betrachteten die Zeitreisenden den Kerl, der völlig zerlumpt war und dessen Kleidung überwiegend aus Löchern bestand, die von ein paar kläglichen Fetzen Stoff zusammengehalten wurden. Schuhe besaß er überhaupt keine. Er hatte schmutzige Lappen um die Füße gewickelt. Darum wohl ging er so seltsam. Zum Teufel, sie hatten diesem seltsamen Menschen doch nichts getan! Wie kam er dann dazu, das Zeichen fürs Aufhängen zu machen und zu ihnen herüberzuzeigen? Die junge Frau schüttelte den Kopf, daß die Tuchhaube verrutschte. Sie sah den Unwillen und das Befremden im Gesicht der drei Männer und sagte an sie gewandt: »Das ist Henk, mein Bruder. Er hat früher einem Hugenottenprediger den Hof umgetrieben und das Haus und die Kirche in Ordnung gehalten.« »Dein Bruder?« fragte Ben. Er hatte es gehört, aber er wollte es nicht glauben. Dieses dralle junge Weib und der steinalte runzlige Greis sollten Geschwister sein? Er konnte sich das nicht vorstellen. Da lagen ja fast zwei Generationen dazwischen. »Mein Bruder«, sagte die junge Frau nachdrücklich. Und dann fügte sie mit sehr viel Trotz in der Stimme hinzu: »Eines Tages kamen die spanischen Blutsauger und suchten einen Kirchenschatz, den es nicht gab. Der Vogt unseres Dorfes machte gemeinsame Sache mit ihnen, weil er auf gute Belohnung hoffte.« »Aber den Schatz gab es gar nicht?« fragte Ben begierig, als die Frau schwieg. Sie nickte fast geistesabwesend und schaute, als könnte sie durch ihn hindurchblicken. »Der Vogt hatte es beschworen, also suchten sie unermüdlich. Zwei Tage lang. Sie brannten fast alle Häuser ab und verbannten die Leute aus der Grafschaft bei Strafe für Leib und Leben auf zehn Jahre. Den Prediger hängten sie an den Daumen an seiner Glocke auf, und als es nicht half und ihm das Versteck des Kirchenschatzes nicht einfallen wollte, banden sie ihn mit den Füßen nach oben an der Glocke fest und läuteten sie, bis ihm der Kopf platzte vom Blut. Henk aber nahmen sie nach Brüssel mit, damit er bei der scharfen Folter gestehen sollte, dem falschen Glauben anzuhängen, einem Hugenottenketzer gedient und diesem geholfen zu haben, den Schatz an einem geheimen Ort zu verstecken. Sie behielten ihn ein paar Wochen im Kerker in Brüssel und konnten nichts aus ihm herauspressen, und darum schickten sie ihn bald auf einem Sünderkarren nach Malines, wo er beim langsamen Feuer auf dem Platz verbrannt
werden sollte. Wir hörten von dieser Reise und ließen den Karren eine schlechte Fahrt machen.« »Ich verstehe, ihr habt ihn befreit«, sagte Ben. »Um den Preis von vier guten Männern«, erklärte sie heftig. »Dafür erschlugen wir einen spanischen Hauptmann und einen kastilischen Reiter und gewannen zwei Pferde, Waffen und eine Muskete, einen Ochsenkarren samt einem armen Narren, der ihn fuhr, und meinen Bruder samt zwei anderen Sündern, die mit ihm verbrannt werden sollten. Einer starb uns unter den Händen, der andere wurde vom Pferd des Hauptmanns zu Tode getreten. Nur Henk blieb uns Er war in den wenigen Wochen ein alter Krüppel geworden. Da, seht!« Sie riß auch die andere Hand aus dem Stoffmuff, trat hart an ihren Bruder heran und öffnete ihm gewaltsam den Mund. »Sie haben ihm alle Zahne ausgebrochen. Und hier – die Finger haben sie ihm zerquetscht und zerschlagen, daß sie kaum noch zusammenwuchsen und ewig steif bleiben werden. Und die Füße haben sie ihm verkrüppelt! Ja – sie haben allerlei Mittel, um einem Menschen seine Geheimnisse zu entlocken, wenn er welche hat. Sie bringen sogar das Kunststück fertig, daß die Leute Ketzereien gestehen, die sie nicht begangen haben.« Sie ließ von ihrem bedauernswerten Bruder ab und fauchte: »Henk haben sie die spanischen Schuhe angezogen. Die kennt ihr nicht? Nun, dann laßt euch nicht einfallen, begierig darauf zu sein, sie auszuprobieren. Es sind eiserne Stiefel, in die sie die Füße eines Ketzers stecken und dann an ein Feuer rücken. Fast jeder verliert darüber den Verstand – wie Henk. Er vertraut nur denen, an die er sich erinnern kann und die noch leben. Jeden Fremden aber hält er für einen Spanier. Ihr seid keine, darum lasse ich euch mit dem Leben davonkommen.« Lintberg, Frank und Ben horchten auf. Das Schicksal Henks war schrecklich und grausam, aber nicht ruckgängig zu machen. Die junge Frau trat sehr selbstbewußt und sicher auf. Aus ihren Worten hatten die Zeitreisenden schon geschlossen, daß sie wohl zu einer größeren Gruppe von Leuten gehörte, die aus dem Dorf vertrieben worden waren. Nun aber klang es gerade so, als befehlige die Frau diesen Haufen. Mit einer streitbaren Amazone in den spanischen Niederlanden hatten die Zeitreisenden am allerwenigsten gerechnet. Schon gar nicht mit einer, die wie ein dralles Bauernmädchen aussah und es wohl auch war. die aber mit der Selbstüberheblichkeit eines Grafen über Wohl und Wehe anderer Leute entschied und großzügig das Leben schenken konnte.
»Sehr großzügig«, sagte Ben mit beißendem Spott und deutete eine Verbeugung vor der jungen Frau an. »Im allgemeinen bestimmen wir aber selber über unser Leben. Ich bewundere den Scharfblick deiner Augen, denn wir sind in der Tat keine Spanier.« Sie warf die Lippen auf und stieß die Hände in den Muff zurück. »Vielleicht Engländer?« fragte sie, und mehr zu sich selbst sagte sie: »Das mag schon eher stimmen. Vielleicht habe ich dich darum nicht gleich verstanden.« Lintberg sah, daß sich die Lage zu ihren Gunsten zu entwickeln begann. Diese Frau schien von vielen Dingen, die in diesem Lande vorgingen, mehr als nur eine schwache Ahnung zu haben. Eine einmalige Chance, fand er, die so bald nicht wiederkommen würde. »Wir sind in der Tat Engländer«, sagte er darum eifrig und bemühte sich, seinem Gesicht auch einen freundlichen Ausdruck zu verleihen. »Bringt ihr Geld oder Nachricht?« fragte die Frau keck und mit einem lauernden Ausdruck in den Augen. »Leider weder das eine noch das andere«, sagte Lintberg und machte eine bedauernde Geste. »Wir gerieten mit unserem Segler in widrige Winde und einem spanischen Kriegsschiff genau unter die Kanonen. Mit Mühe setzten wir unser sinkendes Schiff auf den Strand und retteten gerade das Leben und das, was wir auf dem Leib tragen und du zu sehen vermagst.« Das dralle Weib schaute ihn durchbohrend an. Wenn ich abergläubisch wäre, wurde ich sagen, sie hat Hexenaugen, dachte Ben. Vielleicht ist das der böse Blick, von dem immer gefaselt wird. Jedenfalls ist es ein ganz besonderer Blick. Verfluchtes Kanonenrohr, warum hat sie eigentlich keine Angst vor uns? Wir sind zu dritt, und sie ist allein, denn auf ihren Bruder kann sie doch niemals zählen! Was gibt ihr bloß diese Sicherheit, daß sie mit uns umspringt, als seien wir Bauern und mußten für unseren Leibherrn die Rüben auf dem Feld zählen, damit später auch richtig abgeliefert wird? Die junge Frau schien durch die eingehende Musterung Lintbergs nicht schlauer geworden zu sein, denn jetzt sprach sie: »Du sprichst unsere Sprache so, wie ich sie nie zuvor aus dem Munde eines Engländers hörte. Erkläre mir das!« »Nichts leichter als das«, sagte Lintberg. Im stillen aber dachte er: Verflixtes Luder, du bist mit allen Wassern gewaschen und mit allen Mixturen gesalbt, daß du sogar die Flohe husten hörst! Laut fuhr er fort: »Im Handelshaus meines Oheims ist ein Mann aus diesem Land tätig, er nennt sich Willem Bloemendaal, und vielleicht kennst du ihn. Von ihm
erlernten wir deine Sprache.« »Ich kenne ihn nicht, und wenn er fortgegangen und nach England gesegelt ist, so soll er meinetwegen dort bleiben«, erwiderte sie heftig. »Macht euch jetzt davon! Folgt immer dem Weg, und ihr werdet bald einen Marktflecken sehen. Das ist Malines. Macht besser einen Bogen darum herum und bittet auf einem Hof um Quartier und Speise. Denn man sagt, der Boden im Dorf ist sehr heiß von den vielen Scheiterhaufen, auf denen man die armen Sünder verbrennt. Leicht könntet ihr als Ketzer entdeckt und zum langsamen Feuer verurteilt werden.« »Wir sind keine Ketzer!« entrüstete sich Lintberg. »Wer das behauptet, der ist ein Lügner.« »Oder ein Schelm, der sich eine Belohnung verdient«, sagte die Frau. »England hat sich, glaube ich, lange vom katholischen Glauben losgesagt, also seid ihr Ketzer. Es ist ja auch nicht wichtig, ob ihr welche seid oder nicht. Es reicht, wenn sich jemand findet und sagt, er hatte euch anders beten hören. Haltet euch vom Dorf fern, und wenn ihr an ein Haus kommt und um Einlaß bittet, sagt einfach, die dulle Griet schickt euch.« »Dulle Griet?« fragte Lintberg. Das hieß ungefähr soviel wie tolle oder verrückte Grete. »Wer ist das?« »Das bin ich«, sagte die dralle junge Frau. »Nennt den Namen aber nicht, wenn Spanier zuhören. Es möchte euch schlecht bekommen. Und jetzt geht!« Sie war unruhig geworden. Ihr ungeduldiges Drängen erregte Bens Verdacht. Er wäre gerne geblieben, um zu sehen, was die Frau dann anstellen mochte, um sie vom Hof der Schenke zu vertreiben. Lintberg aber war nicht geneigt, die Sache auf die Spitze zu treiben. Vielleicht rechnete er mit der Möglichkeit, daß noch irgendwo ein Mann mit einer Muskete hockte und nicht ganz vom Verstand gekommen war wie der unglückliche Henk, der ohne Lunte ein Feuerrohr losdonnern lassen wollte. * Als die drei Zeitreisenden eine Steinwurfweite entfernt waren und Ben immer drohender knurrte, drehte Lintberg sich um. »So ähnlich habe ich mir das auch vorgestellt«, sagte er. Ben und Frank blieben stehen und blickten zurück. Um die Schenke herum wimmelten Leute, die abenteuerlich bewaffnet waren. Sie suchten in aller Hast durch das Türloch zu kommen. Einige
trugen Wolfsspieße, andere Hellebarden, die verteufelt nach spanischer Arbeit aussahen. Einer hatte sogar eine spanische Sturmhaube auf und einen Brustharnisch angelegt. Die dulle Griet stand mitten im Hof und dirigierte kaltblütig und wohlüberlegt die Männer. Etliche verbargen sich bei den zertretenen Bienenkörben, und zwei tauchten hinter dem Holzstapel unter, an dem sich Henk so sehr mit der schweren Muskete abgemüht hatte. Ben nickte trübsinnig und sagte: »Darum also war sie so selbstsicher. Mit dieser Bande im Hintergrund konnte sie sich freilich aufführen, als gehörte halb Flandern ihr. Die Burschen hätten uns zu Putzlappen verarbeitet, bevor wir richtig begriffen hätten, was eigentlich los ist.« »Ausdrücke haben Sie!« muffelte Lintberg. »Und was heißt da Bande? Das ist nichts als ein häßlicher Verdacht!« »So?« machte Ben. »Dann schauen Sie mal den Weg entlang nach Westen. Wenn mir meine Augen keinen argen Streich spielen und das Nachmittagslicht keine Halluzinationen erzeugt, dann möchte ich sagen, daß dort hinten eine Kutsche unter starker Bedeckung heranschaukelt. O Mann, auf die hat es dieses Frauenzimmer mit ihrer Räuberbande abgesehen! Darum wurde sie sichtlich nervös und setzte alles dran, um uns fortzuschicken.« Lintberg und Frank beobachteten die von Ben entdeckte Kutsche und die Eskorte. »Spanier!« bemerkte Lintberg. »Ich kann die typischen Sturmhauben und die Hellebarden erkennen. Was machen wir jetzt? Bleiben wir auf dem Weg, und der Überfall der Frau schlägt fehl, dann haben wir die Spanier auf dem Hals, und ihre Wut dürfte recht groß sein. Sie könnten auf den Gedanken kommen, ihr Mütchen an uns zu kühlen. Und wenn wir bleiben und zusehen, könnte die dulle Griet in uns unerwünschte Zeugen sehen. Sehr zimperlich scheint man hier nicht mit Menschenleben umzuspringen. Ich bin dafür, daß wir uns rasch absetzen und irgendwo Unterschlupf suchen.« Ben wandte den Kopf und betrachtete den Weg, der vor ihnen lag. Irgendwo hinter dem Horizont mußte dieses unselige Malines liegen. Das flache Land sah nicht so aus, als biete es ein Versteck. Es gab nicht einmal einen Wassergraben oder ein paar Schilfbüschel. Und auf den Feldern wuchs um diese Jahreszeit auch nichts, in dem man sich hätte verbergen können. »In solchen Augenblicken wünscht man sich, eine Maus zu sein«, sinnierte Ben. »Die Tierchen brauchen bloß in ein Loch zu sausen und sind
von der Bildfläche verschwunden. Im übrigen nützt es verdammt wenig, ob wir Fersengeld geben oder bleiben. Die Kutsche macht eine Affenfahrt. Sie ist schneller als wir.« »Ich bin ebenfalls dafür, daß wir bleiben«, sagte Frank. Lintberg verdrehte erst die Augen und schickte dann einen anklagenden Blick zum Himmel. Von oben wurde ihm jedoch keine Hilfe zuteil, und die große Erleuchtung kam auch nicht über seine beiden Gefährten. »Dann steht wenigstens nicht herum wie die Ölgötzen!« schimpfte er. »Verkrümelt euch vom Weg und macht euch so klein, als hänge unser Leben davon ab. Vielleicht hängt es nämlich wirklich davon ab. Da hinten bei der Schenke braucht nur eine Winzigkeit schiefzulaufen, und schon stecken wir bis zu den Ohren mit drin.« »Richtig«, pflichtete Ben ihm bei. »Mitgefangen – mitgehangen.« Lintberg versuchte ihn mit Blicken zu erdolchen. Doch die glitten an Bens dickem Fell ab. Wenn vom Hängen die Rede war, begann der Professor empfindlich zu reagieren. Er wurde jedesmal an eine Zeitreise erinnert, bei der er um ein Haar in einem Landsknechtslager an einem Galgen geendet hätte. Er konnte sich nicht verkneifen, voller Grimm zu Ben zu sagen: »Wenn es soweit ist, überlasse ich Ihnen gerne den Vortritt. Ich bin ein höflicher Mensch.« In diesem Augenblick bezweifelte Ben dies nachdrücklich. Er schwieg jedoch und suchte sich eine Vertiefung im Gelände, in die er mit seiner imponierenden Figur hineinpassen mochte. Frank war schon in einer vergrasten Ackerfurche untergekommen. Das Wintergras verhinderte, daß er im feuchten Erdreich einsank. Lintberg hatte es weniger gut getroffen. Er stakste mit raumgreifenden Schritten in den Acker hinein, weil er einen kniehohen verrotteten Strohhaufen entdeckt hatte und diesen Platz für günstig hielt. Er kam gar nicht zu seinem Ziel. Das feuchte Ackerland klumpte immer mehr an seinen Stiefeln. Das Gewicht war kaum noch zu schaffen. Lintberg schleppte beinahe einen halben Ar Land mit sich herum. Fluchend gab er seine Bemühungen auf und blieb resignierend stehen. Der Rückweg auf sicheren Untergrund erschien ihm wie eine tagesfüllende Beschäftigung. »Wenn Sie jetzt noch die Arme nach der Seite strecken, nehmen alle Vögel Reißaus!« stichelte Ben. Er kauerte in seiner feuchten Kuhle und grinste anzüglich. Lintberg zwang sich gewaltsam zur Ruhe. »Es kann nicht nur solche
rohen Menschen wie Sie geben«, meinte er ergeben. »Manche sind vom Schicksal dazu ausersehen, vorübergehend als Vogelscheuche zu wirken.« In krassem Gegensatz zu seinen sehr milden Worten standen seine zornigen Bewegungen, als er abwechselnd die Beine nach vorne schleuderte und faustgroße Erdklumpen von den Stiefeln flogen. Nur sauste der Dreck nicht bis zu Ben hinüber. Lintberg bedauerte das außerordentlich. Im nächsten Augenblick stand er steif und starr. Der Wind brachte Pferdegetrappel und das Rollen von Kutschenrädern mit. Eisen klirrte. Die Spanier kamen! Hastig schaute der Professor zur Schenke hinüber, während er sich aus Leibeskräften abstrampelte, um dem Ackergrund zu entrinnen. Die dulle Griet mußte den Teufel im Leib haben. Und die Männer, die sie dort in der Schenke und im Hof versteckt hatte, standen ihr darin nicht nach. Die bedeckte Kutsche befand sich gerade auf der Höhe des Hauses, als sich aus dem Hof ein gellender Pfiff in das Räderrollen und Pferdegetrappel, in das Eisenklirren und Lederknarren mischte. Lintberg vergaß, sich auf solideren Untergrund zu retten. Fasziniert und bestürzt zugleich beobachtete er, wie aus den Fensterhöhlen und dem Türloch die Männer quollen, die sich dort eben erst verborgen hatten. Blitzschnell blockierten sie den Weg. Allerdings stellten sie sich, wie es aussah, sehr ungeschickt an. Denn sie gaben der Eskorte und der Kutsche Gelegenheit, sich in den Hof der Schenke zu retten. Das war reine Absicht. Nur merkten das die Spanier zu spät. Daß sie in der Falle saßen, sahen sie erst, als hinter den Bienenkörben und dem Holzstapel ebenfalls Leute auftauchten und sie mit Wolfsspießem, dreizinkigen Gabeln und hochgestellten Sensen angriffen. Zwar versuchte die Eskorte, hinten zum Hof hinaus durchzubrechen. Doch rannten die ersten Pferde und Reiter mitten in die Sensen und Spieße hinein. Der Ausbruch mißlang. Und der Rückweg war jetzt durch die Männer versperrt, die den Weg blockiert hatten. Dröhnend knallte ein Musketenschuß. Eine gewaltige weiße Pulverdampfwolke stand im Hof und versperrte Freund und Feind die Sicht, ehe ein kräftiger Windstoß das Gewölk zerteilte. Die Kugel hatte ein Pferd aus dem Kutschenvorspann umgestoßen. Die drei übriggebliebenen Gäule scheuten, stiegen und keilten und rissen die Deichsel ab. Die Kutsche drohte umzustürzen, während das flüchtende Gespann mitten in die schon demolierten Bienenkörbe hineinraste und dort ein paar Männer unter die Hufe nahm. Das tote Pferd wurde mitgeschleift und blieb endlich mit gerissenem Geschirr liegen. Aus
der Kutsche, die zwar auf den Rädern blieb, aber immer noch gefährlich schaukelte, patschten drei Pistolenschüsse. Der Rauch hüllte fast gänzlich den Reisewagen ein. Die Falle der niederländischen Räuber oder Wegelagerer oder was immer sie darstellten, war zwar zugeschlagen, sie erwies sich indes als nicht stabil genug. Die Eskorte sammelte sich um die Kutsche, ehe die Männer der dullen Griet einen Einschließungsring bilden konnten. Lintberg, Ben und Frank konnten erkennen, wie ein Teil der Spanier mit Degen, Schwertern, Spießen und Hellebarden die anrennenden Niederländer abwehrte und die übrigen die Insassen der Kutsche bargen und zu sich aufs Pferd nahmen. Einer der Reiter bemühte sich sogar, eine kleine Truhe hinten an der Kutsche loszubinden. Ein Niederländer schlug wütend mit seiner Sense zu und trennte dem Reiter die rechte Hand vom Arm. Aufbrüllend sank der Spanier auf den Pferdehals. Sofort waren zwei andere neben ihm und bemühten sich, diese Truhe zu retten. Die Niederländer versuchten ihrerseits auch, die Truhe zu erbeuten. Stirnrunzelnd beobachtete Lintberg, wie um diese kleine Reisekiste ein erbitterter Kampf entbrannte. Die dulle Griet mußte über vorzügliche Informationsquellen verfügen, denn wahrscheinlich enthielt die Truhe Geld. Was wäre auch wertvoller gewesen als ein Kasten voller Gold – und Silbermünzen, das einen solchen Einsatz rechtfertigte? Vielleicht war es Geld für die Kriegskasse des Herzogs Alba, der in Brüssel als Statthalter der spanischen Niederlande residierte und das Volk drangsalierte. Die geknechteten Niederländer konnten dieses Geld viel nötiger gebrauchen. Erstens schadeten sie damit den Spaniern, wenn sie es ihnen wegnahmen, und zweitens nützte es ihnen und half, die drückenden Steuerlasten besser zu ertragen, die vom Statthalter auferlegt worden waren. Die Spanier bei der Kutsche gerieten unversehens ins Hintertreffen, als es drei Männern der dullen Griet gelang, auf das Dach der Kutsche zu steigen und von dort aus zwei Spanier von den Pferden zu stechen. Aus der Kutsche war ein schwarzgekleideter Mann gerettet worden, der durch seinen gefalteten zylinderartigen Hut mit ganz kleiner Krempe besonders auffiel. Der Mann sah wohl sein letztes Stündlein kommen und brüllte aus Leibeskräften. Dabei klammerte er sich an der Mähne des Pferdes fest, auf das ihn ein Reiter der Eskorte geogen hatte. Sehr mutig wirkte er nicht, und überdies hockte er auf dem Gaul wie der Affe auf dem Schleifstein. Er brüllte unverständliche Befehle. Sofort scharte sich die Eskorte enger um ihn. Man ließ von der Truhe ab und gab sie als Beute in die Hand der
Niederländer, die sofort den Kasten an sich brachten. Wahrend die drei durchgehenden Gespannpferde schon hinten über die zerstampften Äcker jagten, überrannte die Eskorte eine kleine Gruppe, die die Gefahr erkannt hatte und gerade im Begriffe stand, den Hof zum Weg hin abzuriegeln. Vier, fünf Männer wurden niedergestochen, zwei zu Boden geritten, die anderen sprangen beiseite. Zwei Spanier stürzten, ein Pferd bekam einen Wolfsspieß in die Brust und überschlug sich. Es stürzte auf einen Mann der dullen Griet. Lintberg bildete sich ein, das Brechen der Knochen dieses Mannes hören zu können. Im nächsten Augenblick waren die Spanier durch. Sie gelangten auf den Weg und jagten kaum fünf Spießlängen entfernt an den Zeitreisenden vorbei. Der Mann mit dem gefalteten schwarzen Zylinder schaute finster herüber. Es war zu erkennen, daß er sich jede Einzelheit merkte und einprägte. Hinter ihm jagte jener Reiter, der die rechte Hand eingebüßt hatte. Der Bursche war zäh wie Leder und hart wie das Eisen seines geschwungenen Helmes. Er band gerade einen Fetzen Tuch über den Stumpf, aus dem das Blut spritzte. Sein Gesicht war leichenfahl, aber seine Augen funkelten fanatisch. Der Boden dröhnte, Erdklumpen flogen von den Hufen der Pferde hoch. Wie die wilde Jagd, der der Teufel im Genick sitzt, brauste die gewaltig zusammengeschrumpfte Eskorte vorbei und ritt in Richtung Malines davon. »Mann o Mann!« sagte Ben heiser und erhob sich. »Wir wären um ein Haar in die Sache hineingeraten.« Frank kam aus seiner vergrasten Ackerfurche hoch und schlenkerte Erde von den Händen. »lch schätze eher, wir stecken mittendrin«, sagte er. »Dieser Kerl mit dem lächerlichen Hut schaute mich an, als konnte er mich schon auf dem Scheiterhaufen sehen.« Lintberg hatte alles gehört und stapfte schnaufend auf den Weg. Er trat die Erde von den Stiefeln und meinte: »Es war kein guter Einfall, in den Hof dieser Landschenke zu gehen. Die Spanier haben uns gesehen. Sie werden uns dieser Räuberbande zurechnen. Wir können die Sache drehen und wenden, wie wir wollen – der Schein spricht gegen uns. Am besten wird es sein, wir schließen uns diesem streitbaren Frauenzimmer an.« * Da kamen sie böse an. »Nichts da, ihr traurigen Schelme!« schimpfte die dulle Griet. »Geht
nach England zurück oder meinetwegen zur Hölle! Ich kann euch nicht gebrauchen, denn ihr seid zu nichts nutze!« Die Zeitreisenden begriffen, daß sie nur als lästige Fremde angesehen wurden. Bei den Spaniern konnten sie nach diesem Vorfall auch nicht ankommen. Sie waren ohne eigenes Zutun zwischen zwei Stühle geraten, und das war ein denkbar ungemütlicher Platz. Lintberg verlegte sich zwar aufs Verhandeln und betonte, sie würden hier keinen Menschen kennen, und es wäre darum nur gerecht, wenn sie sich den Niederländern anschließen dürften. Ein griesgramig dreinblickender Bursche, so eine Art Unterführer der dullen Griet, hörte sich das an, zog aber plötzlich sein Messer aus dem Gürtel, prüfte mit der Daumenkuppe die Schärfe der Schneide und schaute dabei begehrlich auf Lintbergs Hals. Ben nahm vorsorglich Maß und errechnete, daß er einen blitzschnell geschlagenen und aus der Schulter kommenden Hieb bringen mußte, um dem Kerl mit dem Messer die Lust auf Lintbergs Hals auszutreiben und ihn dazu noch über den halben Hof fliegen zu lassen. Bevor es jedoch in dieser Art zu einem Messen der Körperkräfte kam, schleppten die Leute der jungen Frau die erbeutete Reisetruhe herbei, zerschlugen die Eisenbänder und Riegel und zertrümmerten auch noch den Deckel, als dieser klemmte und sich nicht hochheben lassen wollte. Der griesgramige Bursche steckte sein Messer fort, die dulle Griet beugte sich erwartungsvoll vor, und jetzt war sogar Habgier in ihrem Blick. Die übrigen Männer, die damit beschäftigt waren, die spanische Kutsche auszuplündern und sogar die Innenverkleidung herausrissen, die die erschlagenen oder erstochenen Eskortereiter bis auf die Haut ausraubten und sich in die Kleidung der Toten zu zwängen versuchten, kamen herbei und scharten sich um Griet und die aufgebrochene Reisekiste. Die Frau griff mit beiden Händen in die Truhe. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Jeder hoffte wohl, sogleich das liebliche Klingeln von Münzen zu hören. Die dulle Griet stieß einen sehr undamenhaften Fluch aus und brachte lediglich zwei versiegelte Briefe aus braunem Papier ans Tageslicht. Achtlos warf sie diese beiseite und griff erneut hinein. Aber da war nichts mehr in der Truhe. Sie gab dem nutzlos gewordenen Kasten einen Tritt, daß er umstürzte und auf der Öffnung liegenblieb. »Kein Gold?« fragte jemand heiser. »Ist das alles?« »Du Esel, du hast es doch selber gesehen!« fuhr die junge Frau den Mann an. Sie bückte sich nach den Briefen und drehte und wendete sie nach allen Seiten Die Zeitreisenden konnten die dicken roten Siegel erkennen, mit
denen die Briefe geschlossen waren. Griet richtete sich auf. Ihre Blicke flogen über die Schar ihrer Männer hin. »Wo ist Niklaas, der Weber?« fragte sie erbost. Einer zeigte zu den entkleideten Toten hm Diese Geste verstanden die Männer. Auch die Zeitreisenden begriffen. Denn dort lagen nur Nackte. Die Männer hatten auch Niklaas die Kleidung geraubt, denn wer tot war, brauchte nichts mehr zum Anziehen. Griet stampfte zornig auf. »Kann einer von euch lesen?« fragte sie. Die Kerle schauten bedrückt. Keiner meldete sich. Die dulle Griet faßte Lintberg ins Auge und hielt ihm in einem plötzlichen Entschluß die beiden Briefe hin. »Lies du vor!« verlangte sie.. Mit spitzen Fingern nahm Lintberg die gesiegelten Dokumente. Er zögerte, sie zu öffnen. Ein Murren kam auf, das sehr unfreundlich klang. »Mach schon!« drängte Griet. Lintberg brach das Siegel und klappte die kunstvoll gefalteten Briefe auseinander. Sie waren in spanischer Sprache abgefaßt und in recht verschnörkelter Schrift gehalten. Er konnte damit überhaupt nichts anfangen. »Und?« fuhr die dulle Griet ihn an. Lintberg gab ihr die beiden Briefe zurück. »Spanisch! Ich kann’s leider nicht lesen!« sagte er. Sie grapschte nach den Dokumenten, knüllte sie zusammen und barg sie in ihrer Bluse. Ben, Frank und Lintberg konnten dabei die üppige Fülle ihrer schneeweißen Brüste mit den zarten Knospen bewundern. »Nicht einmal dafür seid ihr nutze!« schimpfte die junge Frau. »Gehen wir eben zu Pater Diaz. Er muß uns vorlesen.« Dieser Vorschlag fand nicht den Beifall der Männer. Aber Griet störte sich nicht am Murren. Sie schaute jeden drohend an und erstickte den Aufruhr in seinen Anfängen. Der griesgramige Kerl muckte noch einmal auf. »Nach Malines sollten wir besser nicht gehen«, sagte er. Die Zeitreisenden schlossen daraus, daß dieser Pater Diaz, dem Namen nach ein Spanier, in Malines zu finden war. »Ich bestimme, was gemacht wird!« beschied Griet den Mann. »Wir warten die Nacht ab.« »Wenn die spanischen Hunde uns bis dahin nicht zu Tode gehetzt haben«, erwiderte der Mann knurrend. Weiteren Widerspruch aber wagte auch er nicht. Griet behandelte die drei Fremden, als seien sie Luft. Sie trieb ihre Leute an, die noch schnell zusammenrafften, was ihnen von den
Waffen, Harnischen und Sturmhauben der toten Spanier mitnehmenswert erschien. Von den Eisenhauben rissen sie nur die schwarzen Federbüsche ab. Ein paar Minuten darauf war Griet mit ihren Leuten schon unterwegs. Hinter dem Hof gab es einen Fußweg durch das sumpfige Land. Weder die Frau noch einer der Männer blickte zurück. »Das ist vielleicht ein unfreundliches Volk!« murrte Ben. »Ich hätte nicht übel Lust, allen einen Denkzettel zu verpassen!« Er griff nach seiner Lähmstrahlwaffe und unterstrich damit die Ernsthaftigkeit seiner Absicht. »Die Zeiten sind schlimm, und die Leute sind mißtrauisch«, sagte Lintberg. »Machen Sie keinen Unsinn, Ben! Wir wollen nicht noch tiefer in die böse Geschichte hineingeraten.« Auch Frank war nicht mit dem einverstanden, was Ben gar zu gerne gemacht hatte. »Was haben wir davon, wenn du sie der Reihe nach in eine Ackerfurche legst?« fragte Frank. »Irgendwann kommen sie doch wieder zu sich, und dann würden sie überlegen, was mit ihnen geschehen ist. Das Ende vom Lied wäre, daß sie uns verantwortlich machen und der Hexerei bezichtigen. Und das, mein lieber Mann, ist etwas, bei dem weder die Niederländer noch die Spanier Spaß verstehen. Sie würden uns auf einem Scheiterhaufen festbinden oder eine andere unfreundliche Todesart anwenden. Ich für meinen Teil stehe nicht gerne auf einem brennenden Holzstoß. So kalt ist es nun auch wieder nicht.« Lintberg und Ben hatten für seinen makabren Spaß nicht das rechte Verständnis. Sie schauten ihn bitterböse an. Der Professor warf einen Blick zu den ausgeplünderten Toten hin. Die spanische Exkorte hatte neun Mann verloren und die beiden Kutscher. Aus dem Haufen der dullen Griet waren sechs Männer auf der Strecke geblieben. Es war nicht auszuschließen, daß von den Verwundeten beider Seiten noch einige die schlimmen Verletzungen nicht überstanden, die sie beim Kampf um die verdammte Truhe erlitten hatten. Verständnislos schüttelte Lintberg den Kopf. Die dulle Griet und ihre Männer hatten sich eine fette Beute ausgerechnet, denn anders waren ihr Einsatz und der gesamte Aufwand nicht zu erklären. Statt Geld hatten nur zwei gesiegelte Briefe den Besitzer gewechselt. Es war ein unrentables Geschäft gewesen. Andererseits aber gab Lintberg der verbissene Eifer zu denken, mit dem die Spanier zu verhindern gesucht hatten, daß die Truhe in die Hände der Bande fiel. Waren am Ende diese beiden Briefe wertvoller als eine Kiste voller Geld? Je langer er darüber nachdachte, desto unverständlicher wurde ihm der ganze Zwischenfall.
»Nicht einmal ihre eigenen Leute haben sie christlich begraben«, bemängelte Ben und schaute der Frau und den Männern nach, die sich schon ein ganzes Stück entfernt hatten. »Du willst das doch hoffentlich nicht nachholen?« fragte Frank. »Wir müssen von hier verschwinden, denn ich wette meine schönen Stiefel gegen einen von diesen wertlosen Bienenkörben, daß die Spanier in Malines Alarm schlagen und in kurzer Zeit eine größere Truppe herauskommt, um nach dem Rechten zu sehen. Ich verspüre keine Neigung, mich hier erwischen zu lassen.« Diese Neigung verspürten auch Lintberg und Ben nicht. Selbst wenn in der ausgeräumten Schenke eine Schaufel oder ein anderes Grabgerät zu finden gewesen wäre, hätten sie ganz sicher eine ganze Nacht und noch einen halben Tag benötigt, um all die Toten richtig zu begraben. Ein sonderlich gutes Gewissen hatten sie alle drei nicht, als sie den Hof verließen und wieder auf den Weg traten. Die eigene Haut aber war ihnen wichtiger als ein christlicher Brauch. Sollten doch die Spanier, die ohne Zweifel kommen würden, sich damit aufhalten. * Die Spanier kamen auch, noch vor Anbruch der Dunkelheit. Die Zeitreisenden konnten von Malines noch nicht einmal eine Kirchturmspitze erkennen. Den Reitertrupp auf dem Weg konnten sie jedoch schwerlich übersehen. Lintberg, Frank und Ben flüchteten geduckt in ein Ginsterfeld, das sich zwischen zwei Äckern erstreckte. Es schien als Winterschafweide genutzt zu werden, denn es roch schwach nach diesen Tieren. Auf dem niedergesunkenen fahlen Wintergras lagen Schafsbohnen zuhauf. und da und dort zitterten an den Ästen der Ginsterbüsche kleine Wollbüschel, die die Tiere hier abgestreift hatten. Die Männer aus einer anderen Zeit duckten sich hinter den immergrünen Ginster und beobachteten den Reitertrupp. Es war möglich, daß man sie von dort aus gesehen hatte und sich nun Gedanken darüber machte, wohin sie so rasch verschwunden waren. Gegen den sehr hellen Himmel im Westen war schon ein eingerammter Holzpfahl verteufelt deutlich zu erkennen. Drei Männer konnten ganz einfach nicht übersehen werden. »Wenn nur einer hereinreitet und neugierig um sich blickt, putze ich ihn vom Pferd!« drohte Ben. Sie warteten, und die Anspannung zerrte an ihren Nerven. Mit ihren Paralyzern und Lichtkanonen waren sie einerseits diesen Reitern haushoch
überlegen, notfalls konnten sie es mit einer halben Armee aufnehmen. Auf der anderen Seite aber war nie auszuschließen, daß ein Gegner durchkam. Im Trubel ging ein einzelner Mann allzu leicht unter und wurde dann zu einer riesigen Gefahr. Oder die Waffe eines solchen Kerls kam durch. Ein Speer oder ein Armbrustbolzen war, wenn er erst durch die Luft heran schwirrte, mit Paralyzern und Lichtkanone nicht mehr aufzuhalten. Dann half nur noch eine tüchtige Portion Glück oder ein geistesgegenwartiger Sprung Der Trupp kam erschreckend schnell näher. Im vergehenden Licht des Tages wirkte er düster und bedrohlich. Es lag nicht nur an der dunklen Bekleidung der Reiter. Das Klirren von Eisen- und Zaumzeug war schon zu hören und das dumpfe Trappeln der vielen Hufe. Der Wind zauste an den schwarzen Federbüschen der eisernen Sturmhauben und bauschte die halblangen Reitmantel, mit denen sich die Männer gegen die kalte Luft schützten. Einer der Reiter wandte den Kopf und schaute genau ins Ginsterfeld herein. Lintberg, Ben und Frank bildeten sich ein, den Burschen vorhin schon bei dem Überfall auf die Eskorte im Hof der Schenke gesehen zu haben. Sie hielten alle drei den Atem an und griffen vorsorglich nach den Verteidigungswaffen. Aber der Spanier hielt nicht an. Er sagte auch nichts zu seinen Landsleuten. Weil er nämlich gar nichts zu sagen hatte. Das besorgte ein anderer mit einem schwarzen spitzen Kinnbart, der ihm das Aussehen eines streitsuchtigen Ziegenbockes gab. Der Mann trug einen besonders großen Federbusch auf seiner Eisenhaube, hatte auch einen kostbaren Brustharnisch umgeschnallt und fiel überdies durch die weißgeschlitzten Bauschärmel seines Wamses auf. Schon diese Merkmale hoben ihn aus der Masse der anderen Reiter hervor, die Lintberg auf vierzig schätzte. Der Mann war Offizier und gab ein paar Pferdelängen hinter dem Ginsterfeld einen Betehl, der so knapp und unverständlich ausfiel, daß die Sprachtransformer ihn nicht aufnahmen. Die Reiter jedoch verstanden, was von ihnen verlangt wurde. Fünf sonderten sich ab, schauten auf den Boden am Wegrand und trieben ihre Gäule in den Acker hinein, als der Offizier sie unwillig anschaute. Sehr entzückt waren weder die Pferde noch die Reiter. Sehr zögernd trabten sie ins feuchte Ackerland und suchten die Furchen und Rinnen ab. Es gab dort einen Wasserkanal. Den suchten die fünf ab, während der Trupp auf dem Weg anhielt. Endlich brüllte einer der suchenden Reiter zum Offizier hinüber: »Hier ist niemand, und es sind auch keine Spuren zu finden!«
»Ihr blinden Ochsen!« tobte der ziegenbärtige Offizier. »Ich habe sie gesehen − drei Männer. Sie müssen hier verborgen sein! Es sind sicher die drei Kerle, die in der Nähe der Schenke gesichtet wurden. Schafft sie herbei! Wir brauchen die Briefe aus der Truhe! Ihr sucht hier weiter!« Nach diesem Befehl hob er die Hand, und der Trupp folgte ihm nach Westen, wo die Schenke lag. Zu sehen war das Haus nicht. Ben grinste vor sich hin. Die Kerle wurden eine herbe Enttäuschung erleben. Aber mit der zertrümmerten Truhe würden sie sich kaum begnügen. Die beiden gesiegelten Briefe, die jetzt zerknüllt am üppigen Busen der dullen Griet ruhten, schienen für die Spanier von großer Bedeutung zu sein. Anders war dieser Aufwand nicht zu rechtfertigen. Der Offizier sah genau aus wie ein Mann, der es fertigbrachte, einen ganzen Landstrich auf den Kopf zu stellen, nur um die beiden Dokumente zurückzuerlangen. Ob er in der Dunkelheit allerdings die Spur der dullen Griet und ihrer Männer fand, war eine andere Sache. »Diese fünf Knaben schaffen wir spielend!« sagte Ben leise und zeigte auf den kleinen Suchtrupp beim Wassergraben. »Die Nacht ist unser Verbündeter«, meinte Lintberg. »Bis sie uns gefunden hatten, können sie nicht mehr die Hand vor den Augen erkennen.« Das war keine leere Versprechung, getragen von der Hoffnung, in diese undurchsichtige Sache nicht noch mehr verstrickt zu werden. Die Nacht sank wirklich sichtbar herab. Nach knapp zehn Minuten verschwand der große Trupp mit dem Offizier am Horizont, und von den fünf Burschen beim Wassergraben war überhaupt nichts mehr zu entdecken. Die Dunkelheit war da und deckte mit ihrem weichen Mantel alles zu. »Ich würde sagen, wir können unsere unliebsam unterbrochene Reise fortsetzen«, sagte Lintberg. Frank richtete sich ächzend auf. »Wird auch Zeit«, meinte er. »Ich bin schon krumm und lahm, und die aufsteigende Feuchtigkeit bekommt mir auch nicht über die Maßen.« Sie verließen das Ginsterfeld und achteten darauf, daß die wedelartigen Zweige nicht zu sehr rauschten. Der Wind war eingeschlafen. Ein Geräusch war sicher weithin zu hören. Lintberg lauschte mehrmals hinter sich. Da war alles still. Nicht einmal Hufschlag war zu vernehmen. Erst als die drei Männer schon ein Stück auf dem Weg gegangen waren, konnten sie ganz weit zurück einen schwachen Ruf vernehmen. Die fünf Spanier verständigten sich untereinander. Sie hatten die Suche sehr lustlos und völlig unlogisch betrieben, denn wer versteckt sich schon auf fast flachem Ackerland oder an der Böschung eines nicht
sehr tiefen Wassergrabens, wenn nahebei ein hüfthohes Ginsterfeld sich als idealer Unterschlupf anbietet? Sie schenkten alle drei diesem Umstand keine Beachtung, denn sie waren viel zu froh, aus der Geschichte heraus zu sein. Zudem bedrängte sie die Sorge, wo sie diese Nacht unterkommen sollten. Das freie Feld dünkte ihnen ungeeignet als Lagerplatz. »Ich würde ja gerne den billigen Rat der dullen Griet befolgen und auf einem Hof um Nachtlager und einen warmen Löffelstiel fechten«, sagte Frank. »Ich bezweifle nur, daß wir überhaupt zu einem Hof hinfinden.« »Das habe ich mir auch schon überlegt«, pflichtete Lintberg bei. »Wir fahren wohl besser, wenn wir geradewegs nach Malines gehen. Dort können wir mehrere Fliegen mit einem Schlag erwischen.« »Was Kost und Nachtlager betrifft − vielleicht«, ließ sich Ben vernehmen. »Ich würde diesen Pater Diaz, aber nicht den Fliegen zuordnen, solange ich den Mann nicht kenne.« Lintberg lachte müsiert. »Diese Griet will sich von ihm den Wortlaut der Schreiben übersetzen lassen. Sie wird mit ihren Leuten bei Nacht hingehen und dem Mann die Dokumente unter die Nase halten. Ich bin mir auch sicher, daß sich einer oder zwei Burschen finden, die dem Pater ein Messer in die Seite drücken, damit er dem Anliegen nachkommt und nicht auf Ausflüchte verfällt.« »Mit diesem hartgesottenen Weib ist überhaupt schlecht Kirschen essen«, sagte Ben. »Wie die eine Sache anpackt und durchführt – da kann sich mancher Mann eine Scheibe von abschneiden.« »Es hat zu allen Zeiten Frauen gegeben, die länger oder kürzer eine Bande anführten«, erklarte Lintberg weise. »Das ist auch hier in den Niederlanden nicht auszuschließen. Im übrigen dauert die Erhebung der Niederländer gegen die spanische Herrschaft schon einige Zeit. Jetzt ist Herzog Alba Generalstatthalter der Niederlande. Vor ihm war es Margarete von Parma, unter deren Regentschaft die Unruhen begannen. Warum sollte nicht eine Frau den Widerstand gegen die Spanier mit tragen? Eine große Rolle hat die dulle Griet in der Geschichte nicht gespielt, denn nirgends wird ihr Name vermerkt.« »Vielleicht hat sie das Kriegshandwerk irgendwo gelernt.« Frank war auch zu der Überzeugung gelangt, daß Griet zumindest eine örtliche Berühmtheit war. »Kaum«, sagte Lintberg. »Sie gehört nicht den gehobenen Ständen an. Sie stammt aus bäuerlichen Kreisen.« »Wegen ihrer Pausbacken und ihrer drallen Figur?« fragte Ben. »Woher
wollen Sie das so genau wissen?« »Ich habe ihre Kleidung gesehen«, meinte Lintberg sanft und freundlich. »Die Leute mögen sich verstellen und so tun, als seien sie weiß Gott was, aber mit Kleinigkeiten verraten sie sich » »Und womit hat sich Ihrer Meinung nach die dulle Griet verraten?« fragte Ben. »Sie trägt Kleidung, die nicht bis zum Boden reicht«, sagte Lintberg. »Nur Angehörige der niederen Stände tragen kürzere Gewänder. Wir haben die wollenen Strümpfe der Frau gesehen. Bei einer Dame von Rang wäre das unmöglich gewesen.« »Das ist eine verzweifelt dünne Beweisführung«, bemängelte Ben. »Aber solange ich Ihnen den Irrtum nicht nachweisen kann, will ich gerne daran glauben …« Er verstummte, faßte nach Frank, erwischte ihn am Oberarm und hielt ihn fest. Nur Lintberg ging noch ein paar Schritte, bis er merkte, daß seine beiden Begleiter zurückblieben. »Was ist denn?« fragte er unwillig. »Ssscht!« machte Ben. »Jemand folgt uns!« Lintberg und Frank fuhren etwas zusammen. Auf Bens Ohren war im allgemeinen Verlaß. Hinzu kam, daß er die Fähigkeit besaß, Gefahren förmlich zu wittern. »Sind Sie sicher?« vergewisserte sich der Professor. »Hören Sie selber!« forderte Ben auf. Aus der Nacht drang ein schwaches dumpfes Poltern. Es kam von Westen. Jemand kam auf dem Weg daher. Und vielleicht war er in der elenden Finsternis gestrauchelt. Ben ließ Franks Arm los und kauerte sich hin. Er beugte sich weit nach vorn und legte ein Ohr an den Boden. Das dumpfe Poltern und Rumoren schien direkt aus der Erde zu kommen, und ein angstliches Gemüt, das an Spuk und Geister glaubte, konnte es schon an die Nerven bekommen. Ben aber wußte als Angehöriger einer hochtechnisierten Zivilisation, daß die Erde Erschütterungswellen sehr weit trug. Von dieser Erkenntnis hatten schon Reitervölker aus den Steppen und die Indianer Nordamerikas profitiert. Da gab es gar keinen Zweifel – jemand folgte ihnen seit geraumer Zeit mit einem Pferd! Es konnte ein Zufall sein, doch in ihrer augenblicklichen Lage wollte Ben besser nicht an dumme Zufälle glauben. Er konnte nicht sagen, ob dieser Jemand ritt oder ob er das Pferd am Zügel führte. Das war gar nicht ausschlaggebend. Befremdend und seltsam war, daß jemand hinter ihnen herkam. »Ein Pferd!« sagte Ben und richtete sich auf. Er strich sich Erde und ein
paar Sandkörner vom Ohr. »Das will mir aber gar nicht gefallen«, sagte Lintberg. »Reitet das Tier schnell?« »Nicht die Spur. Hört sich geradeso an, als müßte sich das Tier unserem bescheidenen Tempo anpassen.« »Dann machen wir doch die Probe!« schlug Frank vor. Sie brauchten sich hierzu gar nicht lange abzusprechen. Sie blieben gleich an dem Fleck stehen, an dem sie gerade waren. Der Unbekannte, der ihnen mit einem Gaul folgte, schien Ohren wie ein Luchs zu haben. Nach wenigen Augenblicken verstummte das dumpfe Getrappel. Die Zeitreisenden warteten, während ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Der Hufschlag klang nicht wieder auf. »Und nun die Gegenprobe!« verlangte Frank und setzte sich in Bewegung. Lintberg und Ben folgten seinem Beispiel. Sie bemühten sich alle drei nicht sonderlich darum, leise aufzutreten. Erst nach fast fünf Minuten blieben sie stehen und lauschten hinter sich. Da war wieder dieses dumpfe Klopfen. Es verstummte jedoch nach wenigen Augenblicken. »Also gilt es uns«, faßte Frank das Resultat dieses Experimentes zusammen. »Die zweite Frage ist – was will man von uns?« »Du Witzbold, du kannst einem vielleicht eine kalte Winternacht verderben!« murrte Ben. »Er wird es uns kaum sagen, wenn wir ihn danach fragen. Es könnte einer der Kerle sein, die sich so lange am Wassergraben herumgedrückt haben. Oder einer aus der Truppe dieses schwarzbärtigen Ziegenbockes. Mir war nämlich, als hätte einer der Reiter sehr mißtrauisch ins Ginsterfeld geblickt. Vielleicht konnte er seinen Offizier von seinem Verdacht überzeugen.« »Dann können wir nur froh sein, daß nicht der ganze Trupp nachsehen kam«, meinte Lintberg, »Es hätte peinlich werden können.« »Nicht für uns«, beruhigte Ben ihn. »Ich hätte den Burschen ein Feuerwerk mit der Lichtkanone vorgeführt, daß sie denken müßten, der Jüngste Tag ist angebrochen!« »Ihre gewaltsamen Lösungen sind mir hinlänglich bekannt. Ich billige sie jedoch nicht«, meinte Lintberg. »Nehmen wir den Weg unter die Sohlen, sonst sind wir morgen früh noch unterwegs.« Der Unbekannte mit dem Pferd blieb immer hinter ihnen. Einmal glaubten sie, daß alles doch ein Zufall sein mochte, denn der Hufschlag war nicht mehr zu hören. Allerdings waren sie an keiner Stelle vorbei gekommen, an der sich der Weg gabelte. Und für so bewandert, daß er sich bei tiefer Finsternis im Ackerland auskannte, hielten sie ihren unbekannten
Verfolger auch nicht. Sie merkten schnell, daß der Unbekannte nur angehalten hatte, um zu hören, ob sie noch vor ihm waren Der Hufschlag polterte los und begleitete sie eine weite Strecke. »Ich könnte zurückbleiben, und ihr zwei zieht ohne mich los«, sagte Ben und hoffte, daß Lintberg auf diesen Vorschlag ansprach. »Er wird darauf hereinfallen, und wenn er dann an mir vorüberkommt, gebe ich ihm was auf die Birne. Dann haben wir den nächtlichen Pilger und dazu noch ein Pferd.« »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf.« erklärte der Professor. »Unser Ziel heißt Malines. Ich möchte hinkommen, bevor die dulle Griet diesem spanischen Pater ihre Aufwartung gemacht hat. Denn ich kann mir vorstellen, daß der Mann von diesem Besuch nicht sehr entzückt ist.« »Schade«, brummte Ben. Sie gingen weiter und legten etwas zu, damit ihnen warm wurde. Die Kälte war nicht nur in der Luft dieser Februarnacht, sie kroch jetzt auch aus dem Erdreich. Irgendwann tauchten voraus drei Kirchtürme auf. Sie hoben sich gegen den helleren Nachthimmel ab. Bald waren auch die Dächer auszumachen. Und schließlich konnten die Zeitreisenden sogar die Wohnhäuser erkennen. Malines war zu dieser Zeit nicht befestigt. Oder nicht mehr. Jedenfalls gab es keine Mauer. Für ein Dorf war der Ort zu groß. Malines war schon eher eine kleine Stadt. Plötzlich war der Hufschlag nicht mehr zu hören. Die Zeitreisenden lauschten lange hinter sich. Auf dem nächtlichen Weg blieb es ruhig. »Jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten«, sagte Ben. »Entweder hat der Kerl mit uns überhaupt nichts im Sinn, und er benahm sich vielleicht nur so vorsichtig, weil er nicht wußte, wer oder was wir sind. Oder er hat uns in den letzten Minute überholt und ist auf einem anderen Weg in diese Stadt hineingesaust. Dann wird es zu einem warmen Empfang kommen.« »Was sich erst noch herausstellen muß!« gab Lintberg zurück. * Malines besaß keine Befestigungsmauern. Wenn es je welche gegeben hatte, dann waren sie sauber geschleift worden. Aber es verfügte über Nachtwächter. Die Zeitreisenden sahen gleich zwei dieser Burschen, die sich mit Laterne, Horn und Spieß bewaffnet in der Mitte der Einfallstraße trafen und einen Schwatz abhielten. »Die könnten sich schon etwas beeilen!« knurrte Frank. »Was reden die
so lange? « »Nicht so laut!« beschwichtigte Lintberg. »Die Stadt ist ruhig, da wollen wir sie doch nicht wecken und für einen Volksauflauf sorgen.« »Können Sie mir dann verraten, wie wir diesen spanischen Pater finden sollen?« erkundigte sich Frank sauer. »Durch die Wände blicken kann ich immer noch nicht!« »Die dulle Griet wird ja nicht alleine kommen, und frei und offen wird sie mit ihren Männern auch nicht gerade auf der Straße herumspazieren. Ich denke nämlich immer daran, was sie uns über Malines erzählt hat. Das muß ein böses Pflaster sein. Also wird sie heimlich hereinkommen – wenn sie mit ihren Leuten nicht schon da ist. Wir brauchen nur auf huschende Gestalten zu achten, die noch leiser als Mäuse sind. Auf diese Weise werden wir schon an die richtige Adresse kommen.« »Ihr Gottvertrauen ist ja schon eine Versuchung des Schicksals!« erwiderte Frank auf Lintbergs Worte. »Noch mehr als das«, sagte Ben und haute auch noch in die Kerbe. »Im Gegensatz zu uns kennen die sich nämlich hier aus. Ich möchte nicht erleben, daß wir vielleicht an die Tür des spanischen Befehlshabers klopfen, dem diese Stadt untersteht.« »Keine Sorge, das merken wir schon rechtzeitig«, dämpfte Lintberg den Ärger seiner beiden Begleiter. »Diese hohen Herren, so habe ich gelesen, fühlen sich in den Niederlanden allesamt nicht sehr sicher und haben darum stets eine ordentliche Wache vor dem Haus stehen.« »Der Pater aber nicht«, hielt Ben dagegen. »Womöglich wohnt der Mann beim spanischen Kommandanten.« »Zum Teufel!« brauste Lintberg auf. dämpfte aber sofort die Stimme, um die beiden Nachtwächter nicht aufmerksam zu machen. »Irgendwie wird Griet ja an ihn heranzukommen versuchen. Ich glaube kaum, daß sie so vermessen ist, ihn dem Kommandanten unter den Fittichen wegzuziehen. Er ist vielleicht bei einer der Kirchen zu finden.« »Der Frau traue ich alles zu«, sagte Ben. »Sie hat den Teufel im Leib. Wir haben das mit eigenen Augen gesehen.« »Einen unbändigen Haß auf die Spanier«, stellte Lintberg richtig. »Der Grund ist das, was sie aus ihrem Bruder Henk gemacht haben.« Er schwieg, denn die Nachtwächter waren mit ihrer Beratung zu Ende und setzten ihre Runde fort. Der eine ging um die kleinen äußeren Häuser am Stadtrand herum nach rechts und tauchte wenig später in die tintenschwarzen Schlagschatten der Dächer. Der andere nahm die Einfallstraße. Nach einer Weile hatte auch ihn der Nachtschatten verschluckt.
Nirgendwo brannte Licht, aus keinem Schornstein flogen Funken. Diese Häuser waren fast alle mit Stroh und Schindeln gedeckt. In vielen Orten war es bei Todesstrafe untersagt, in der Nacht das Herdfeuer brennen zu lassen. Gar zu leicht hatten sich Funken aus dem Schornstein aufs Dach setzen und dieses in Brand setzen können. Bis dann erst das Feuer entdeckt war, konnte schon eine halbe Straße brennen. Schon manche Stadt und mancher Flecken war durch eine auf diese Weise entstandene Feuersbrunst vernichtet worden. Als den Zeitreisenden die Luft rein schien, drangen sie in die Stadt ein. Aus Griets Erzählung wußten sie, daß sie fest in spanischer Hand war. Kein Wunder bei der Nähe der Stadt Brüssel. Auf Hilfe und Unterstützung durch einen Einwohner konnten sie nicht zählen. Entweder standen die Leute im Lager der Spanier, oder sie duckten sich, weil es gesünder für sie war und machten die Zuträger für die südlichen Besatzer. Lintberg, Frank und Ben hielten sich im finsteren Schlagschatten der Häuser. Sie lauschten in jede Gasse und in jeden Hof hinein. Aber da war nichts zu erlauschen. Malines schlief. Das Vordringen auf unbekanntes Gebiet war voller Risiken. Wie es zu dieser Zeit leider üblich war, hielten die Leute allerorten nicht sehr auf Ordnung und Reinlichkeit und warfen ihren Kehricht und anderen Dreck meist vor die Tür auf die Straße. Lintberg fiel um ein Haar über eine ausrangierte Sitzbank, die man einfach neben der Tür deponiert hatte. Wohl in der Hoffnung, es würde sich schon jemand finden, der für das Möbel noch Verwendung hatte. Der Professor mußte auf die Straße ausweichen. Er versank in Radfurchen, die mit Abwasser und unanständig duftender Brühe vollgelaufen waren. Küchenabfälle verbreiteten zusätzlichen Gestank. Die Straße mußte Ratten und Mäusen wie das verheißene Land vorkommen, wo sie nur auszuwählen brauchten, was sie diese Nacht haben wollten. Merkwürdigerweise ließen sich keine Ratten blicken. Es waren auch keine Katzen unterwegs. Nur Hunde. Aber die kläfften am anderen Stadtende. Lintberg hatte das Hindernis am Haus umgangen und rettete sich auf vertrauenerweckenderen Untergrund. Ganz dicht bei den Hauswänden waren keine Fahrzeuge gefahren. Es gab keine Furchen, nur ein paar Wasserrinnen im Erdreich, in denen Abwasser aus den Häusern heraus abfloß. Ben blieb immer wieder stehen und lauschte in die schlafende Stadt hinein. Er dachte fortwahrend an den unbekannten Reiter, der erst dicht bei der Stadt abhanden gekommen war. Und er dacht an die dulle Griet und die heißbegehrten Briefe aus der Truhe. Und natürlich an Pater Diaz. Als jetzt wieder die Hunde loskläfften, grinste Ben zufrieden. Er griff nach Lintberg und Frank und zog sie in eine dunkle Einfahrt.
Vielleicht ging es hier zu einem Hof oder zu einem Schuppen. Es war unwichtig. »Was ist denn jetzt?« fragte Lintberg. Er sprach ungehalten, aber immerhin leise. »Griet ist wirklich mit allen Wassern gewaschen«, gab Ben flüsternd zurück. »Hören Sie die Hunde? Ich wette, sie hat ein paar von ihren Leuten auf der falschen Seite in die Stadt geschickt, damit dort die Hunde bei absichtlich veranstaltetem Lärm anschlagen und die Nachtwächter aus diesem Teil der Stadt fortlocken. Eigentlich brauchen wir bloß zu warten und aufzupassen, wo gleich ein paar Schatten über die Straße sausen.« »Das halte ich für mehr als unwahrscheinlich«, meinte Lintberg. »Die Hunde bellen, das ist richtig. Aber das kann hundert Gründe haben, die allesamt nicht mit Griet in Verbindung stehen.« »Da!« sagte Ben nur. Mehr nicht. In seiner Stimme aber war satte Zufriedenheit. Denn aus einer Gassenmündung, die die drei Zeitreisenden schon passiert hatten, kam der eine Nachtwächter gelaufen, der diesen Teil der Stadt zu kontrollieren hatte. Er hielt seinen Spieß gesenkt, als müßte er sogleich jemand über den Haufen rennen. Die Laterne in seiner Hand schaukelte heftig und warf ihren Lichtschein bis fast zu den strohgedeckten Dächern hinauf. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn dies nur für die gegenüberliegende Straßenseite zugetroffen hätte. Leider aber tanzte der Lichtschein auch zu der Seite herüber, an der die Zeitreisenden in der dunklen Einfahrt standen. Der Nachtwächter mußte Augen wie ein Falke haben, denn er blieb sofort stehen, leuchtete herüber und senkte den Spieß in die neue Richtung. Zu Bens und Franks maßloser Verwunderung fiel der Mann plötzlich um, als hätte ihn der Schlag getroffen. Erst als sie das feine Klicken vernahmen, das entsteht, wenn sie ihren Paralyzer abschalteten, begriffen sie, daß Lintberg den Nachtwächter ins Traumreich geschickt hatte. »Er hätte uns wohl die halbe Stadt auf den Hals gehetzt«, meinte der Professor entschuldigend, während der Nachtwächter steif wie ein Brett hart neben einer wassergefüllten Radfurche aufschlug und dort liegenblieb wie ein Sack Steine. »Er hat meine Figur«, fuhr Lintberg fort. »Ich schätze, ich bin für einige Zeit Nachtwächter von Malines.« Bevor Ben und Frank sich von dieser neuerlichen Überraschung erholt hatten, handelte Lintberg schon. Er ging hinaus, barg zuerst die Laterne, die zum Glück weder verlöscht noch gesprungen war, dann las er den Spieß auf, und zuletzt holte er den Nachtwächter in die Einfahrt herein und
legte ihn hinter einen zersprungenen und ausgedienten hölzernen Wassertrog, nachdem er ihm die Kopfbedeckung und den mantelartigen Umhang abgenommen hatte. »Wenn Sie zum Maskenball beim Kommandanten wollen«, sagte Ben belustigt, »dann nehmen Sie uns als Leibwächter mit. Vielleicht brauchen Sie vier kräftige Fäuste.« »Sie folgen mir in gehörigem Abstand«, sagte Lintberg bitterernst. »Ich riskiere meinen Kopf nicht für einen billigen Scherz!« Als Nachtwächter herausstaffiert, trat er auf die Straße. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man ihn wirklich für den rechtmäßigen Inhaber dieses Amtes halten. Ben und Frank gaben ihm fünfzig Meter Vorsprung und sausten dann hinter ihm her, immer in Deckung der Häuser bleibend. Der schlafende Eindruck, den die Stadt erweckt hatte, trog gewaltig. Lintberg und in seinem Gefolge seine beiden Gefährten gerieten unverhofft auf den Marktplatz der Stadt und sahen genau in der Mitte zwei bewaffnete Wächter neben einem herabgebrannten Scheiterhaufen stehen. Als solchen hatten sie ihn erst gar nicht erkannt. Aber dann bemerkten sie an dem Pfahl einen schwarz verbrannten und zusammen geschrumpften Körper, der mit zwei Ketten am Pfahl festgehalten wurde. Hier hatte man einen armen Teufel, vielleicht auch eine Frau, dem Feuer überantwortet, und die beiden Wachen mußten aufpassen, daß in der Nacht niemand kam und dem schwarzverbrannten Leichnam einen Arm oder einen Fuß raubte, um damit seltsame Pülverchen und Mixturen her zu stellen, die gegen eine Reihe von Krankheiten helfen sollten oder auch zur Hexen- und Geisterbeschwörung benötigt wurden. Ben und Frank tauchten in die Dunkelheit zurück, bevor die Wachen sie bemerkten. Lintberg begriff, daß er jetzt auf sich allein gestellt war, denn diese beiden Wächter konnte er nicht ausschalten, wollte er keinen Aufruhr in der Stadt verursachen. Er zwang sich zur Ruhe, rannte an den Wachen vorbei und brummte etwas. Dabei faßte er die Kerle scharf ins Auge und schwenkte seine Laterne so, daß ihr Schein voll auf sie fiel. Es waren keine Spanier. Aber das wollte nicht viel bedeuten. Wenn sie sich schon für dieses Amt hergaben, dann war ihnen kaum zu trauen. »Du rennst wohl den Hunden nach, Jaap?« fragte einer der Wächter. »Bleib besser in deinem Geviert!« Geistesgegenwartig brummte Lintberg etwas, das der Kerl nach Belieben deuten konnte. Außer Atem war er schon, da brauchte er sich nicht zu verstellen. Wahrend er über den Marktplatz setzte, lauschte er angestrengt, ob einer der Wächter Verdacht geschöpft hatte und hinter ihm dreinkam.
Doch es blieb ruhig. Der Bursche brüllte auch nicht die Anwohner des Marktplatzes aus den Betten. Lintberg war als Nachtwächter Jaap durchgekommen. Vor ihm hämmerten Schritte. Jemand lief auf trockenem Boden. Dann tauchte eine tanzende Laterne aus einer Gasse auf und rannte ebenfalls dem Hundegebell zu, das sich gesteigert hatte. Lintberg setzte alles auf eine Karte und rannte, was die Beine hergaben. Er holte den anderen Nachtwächter ein und sagte keuchend zu ihm: »Ich sehe nach, was es gibt. Lauf du zu Pater Diaz. Ich glaube, man braucht ihn.« Der andere Nachtwächter blieb stehen. Vielleicht traute er der Stimme nicht ganz. Lintberg war bereit, notfalls auch diesen Mann zu paralysieren. Aber da sagte der Bursche: »Ausgerechnet jetzt? Der wird eine Freude haben. Wer braucht ihn?« »Da sind Reisende angekommen. Ich gebot ihnen am Stadteingang zu warten. Sie haben eine Botschaft für den Pater, sagen sie.« »Warum gehst du nicht selber hin?« »Ich hörte, als ich sie warten ließ, die Hunde anschlagen. Man kann nicht vorsichtig genug sein seit der Sache da draußen auf dem Weg. Ich dachte mir, ich sehe lieber nach. Eile schon!« Lintberg fieberte und hoffte, daß der Kerl nichts merkte. Der Nachtwächter blieb endlich stehen und setzte seinen Spieß mit dem Schaftende auf den Boden. »Ist Hauptmann Olivares zurück?« fragte er. »Nein, und ich konnte auch draußen noch nichts hören«, erwiderte Lintberg. Er machte sich einen Reim darauf. Hauptmann Olivares, das mußte der ziegenbartige Kerl sein, der mit dem Reitertrupp losgezogen war, um die zwei gesiegelten Briefe zurückzuholen. »Ob er Griet findet?« fragte der Wächter. »Sicher nicht«, erwiderte Lintberg. Der Nachtwächter schüttelte den Kopf. »Sie muß verrückt geworden sein, daß sie eine Kutsche mit einem königlichen Gesandten anhalten und ausrauben laßt.« »Es ist schon eine Frechheit«, stimmte Lintberg zu. Das war ja eine nette Neuigkeit, die er hier erfuhr. In der Kutsche hatte also ein königlicher Gesandter gesessen! Die Hunde kläfften immer noch. Sie schienen an einer Stelle beschäftigt zu werden. Jedenfalls hörte es sich so an. Dem Professor kam die Gelegenheit wie gerufen, den unlustigen Nachtwächter noch etwas ausfragen zu können. Der Mann hatte es
überhaupt nicht eilig, zu dem spanischen Pater zu kommen. »Was sind denn das für Briefe, die Olivares unbedingt zurückhaben möchte?« fragte er und hoffte, daß seine Frage nicht verdächtig war. »Befehle Philipps an Herzog Alba. Der Gesandte sollte sie überbringen. Muß von großer Bedeutung sein, denn sie sind alle sehr aufgeregt. Der Gesandte hat den Hauptmann der Eskorte dafür verantwortlich gemacht, daß man die Kutsche überhaupt anhalten konnte. Er hat ihn in Ketten legen lassen. Morgen bringen sie ihn nach Brüssel.« »Er hatte wirklich besser aufpassen sollen«, sagte Lintberg gegen seine Überzeugung, packte den Spieß fester und fügte hinzu: »Ich sehe jetzt mal nach, was das Kläffen bedeuten soll. Geh du den Pater holen.« Der Nachtwächter kehrte um und schlug die Richtung zum Marktplatz ein. Kurz davor aber bog er in eine Gasse ab. Lintberg gab ihm nur zwei Sekunden Vorsprung und sauste dann los. Als er vorsichtig in die Gasse blickte, sah er den Nachtwächter unentschlossen vor einem Steingebäude stehen, das unverkennbar zu der benachbarten Kirche gehorte. Der Nachtwächter brummte etwas, machte zwei Schritte davon und kehrte zurück. Er fand es doch für besser, den Pater zu wecken. Als er sich der Tür näherte, sah Lintberg die hastige, fast schattenhafte Bewegung im Garten des Hauses. Der Nachtwächter sah sie nicht. Lintberg durfte es nicht riskieren, daß der Kerl den Pater alarmierte. Es war ihm lediglich darum gegangen, das Haus gezeigt zu bekommen, wo mit dem Auftauchen der dullen Griet und ihrer finster entschlossenen Leute zu rechnen war Und dieser Schatten im Garten jetzt! Kein Zweifel, die dulle Griet war schon da. Irgendwie hatte sie es mit einem Teil ihrer Männer geschafft, in die Stadt zu kommen, wahrend am Stadtrand die Hunde hingehalten wurden und mit ihrem Gekläff eine falsche Spur legten. Lintberg griff nach dem Paralyzer, um dem Nachtwächter eine ausreichende Dosis zu verpassen. Er verwarf den Gedanken wieder und räusperte sich, rannte um die Ecke und sagte keuchend: »Ich glaube, wir können den Pater schlafen lassen.« »Jaap, bist du von Sinnen? Erst soll ich ihn wecken, dann wieder nicht. Was wird nun?« »Ich bringe die Leute zu den Spaniern, das wird das beste sein«, sagte Lintberg. »Schau du besser nach den Hunden. Das will mir überhaupt nicht gefallen, was ich da höre.« Der Nachtwächter schimpfte aufgebracht. Er schöpfte immer noch keinen Verdacht, und das zählte. Mit einer unfreundlichen Bemerkung ging er an Lintberg vorbei aus der Gasse und eilte dem Hundebellen nach.
Lintberg zog sich ebenfalls zurück, um bei dem im Garten Versteckten kein Mißtrauen aufkommen zu lassen. Er blieb aber sofort hinter der Gassenecke stehen und lauschte. In der Gasse war plötzlich ein Wispern und Raunen. Holz knarrte. Lintberg wurde von der Neugierde übermannt und schob den Kopf um die Ecke. Er sah nur noch eine herabsausende Faust und spurte einen mörderischen Schlag auf dem Kopf. Es riß ihm förmlich die Füße unter dem Körper weg. Wahrend er stürzte, schwanden ihm die Sinne. * Ben und Frank steckten arg in der Klemme. Sie hörten den einen Wächter beim Richtplatz hinter Lintberg etwas hersagen, konnten es aber nicht verstehen. Der Professor verschwand jenseits des Platzes in der weiterlaufenden Straße. Die schwankende Laterne konnten sie noch eine Weile sehen. Weiter hinten gesellte sich eine zweite dazu. »Ich hoffe, er zieht sich mit Anstand aus der Sache!« flüsterte Ben. »Er muß auf einen anderen Nachtwächter gestoßen sein, denn das sind die einzigen Leute, die mit Licht herumlaufen dürfen.« »Er macht es schon, keine Sorge. Er ist ja nicht auf den Kopf gefallen«, erklarte Frank. »Mich beschäftigt viel mehr, wie wir ungesehen an diesen beiden Kerlen vorbeikommen, die den verbrannten Leichnam bewachen.« »Wir umgehen den Platz«, sagte Ben trocken. Sie nahmen dieses Vorhaben unverzüglich in Angriff, eilten in die Straße zurück und nahmen die nächste abzweigende Gasse. Sie kannten sich in Malines nicht aus, aber sie sagten sich, daß in der Nähe des Marktplatzes wohl alle Gassen um den Platz herumführen mußten. Diese Städte waren meist aus einem kleinen Flecken entstanden und langsam gewachsen. Sie gelangten tatsachlich nach wenigen Minuten schon auf die weiterfuhrende Straße. Als sie nach links blickten, sahen sie die beiden Laternen ein Stuck entfernt in der Straße leuchten. Lintberg und der andere Nachtwächter standen immer noch beisammen. Der Blick nach rechts ging zum Marktplatz. Schwarz und unheimlich war der verkohlte Körper am Pfahl zu sehen. Davor standen die beiden Wachen. Plötzlich schwankte die eine Laterne links in der Straße heftig. »Einer kommt!« zischte Ben »Lintberg oder nicht, das ist die Frage.« »Da rüber!« sagte Ben. »Komm schon!« Er zog Frank einfach mit, setzte
mit gewaltigen Sprüngen über die Straße und ihre Radfurchen und tauchte in die Gasse gegenüber. Undeutlich sah er voraus Schatten, die von einem Kirchengebäude heranwimmelten und in einem Garten des Nebengebäudes untertauchten. Ben fing den Schwung von Frank auf und zog den Freund in die Deckung eines geborstenen Fasses, das neben einer Tür ein kümmerliches Dasein fristete. Der Platz war eng und die Deckung miserabel. Als der Nachtwächter in die Gasse bog, erwies sie sich als ausreichend – Der Mann schaute nur geradeaus und achtete nicht auf die dunkle Ecke hinter dem Faß. Ben und Frank ließen den angehaltenen Atem ab. »Gutgegangen!« raunte Frank. Er hob den Kopf. »Da kommt noch einer. Ich höre ihn!« Er tauchte mit Ben unter. Sie glaubten, vom Affen gelaust zu werden, als sie wenig später Lintberg in die Gasse kommen sahen. Aber er bemerkte sie nicht. Er führte sich sehr sorglos auf. Seine Harmlosigkeit bricht ihm eines Tages das Genick, dachte Ben sorgenvoll. Er rennt herum wie blind geboren! Er und Frank staunten aber nicht wenig, als sie hörten, welchen Disput Lintberg mit dem Wächter hatte und wie er den Mann an der Nase herumführte und fortschickte. Sie begriffen schnell, daß Lintberg einen steinalten Trick aus dem Ärmel gezaubert hatte, um zu der Bleibe dieses spanischen Paters geführt zu werden. Soweit war das alles in Ordnung. Aber Lintberg konnte keine Ahnung davon haben, daß vor wenigen Augenblicken erst etliche Leute in den Garten dieses Hauses gesaust waren und sich dort verborgen hatten. Pater Diaz! Ben und Frank fiel es wie Schuppen von den Augen. Diese huschenden Gestalten waren nichts anderes als Leute der dullen Griet! Verwundert beobachteten die beiden Freunde, daß Lintberg gar nicht versuchte, in das Haus des Paters zu gelangen. Er kehrte um und folgte dem davongegangenen Nachtwächter. Als er um die Gassenecke verschwunden war, atmete Ben tief ein. Im nächsten Augenblick hielt er die Luft an. Er vernahm ein leises Kratzen, ein Schaben und Scheuern, wie es entsteht, wenn sich jemand unsachgemäß an eine Wand lehnt! Hatte der richtige Nachtwächter den Braten gerochen? Oder waren auch an der Gassenecke Leute der dullen Griet aufgetaucht? Dann mußte Lintberg ihnen ja direkt in die Finger gelaufen sein. Es erfüllte ihn mit Sorge, daß er nichts gehört hatte. Kein Keuchen, keine Laute eines kurzen, aber heftigen Kampfes. Oder hatten sie Lintberg so erwischt, daß er gar keine Gegenwehr hatte leisten können? Ben richtete sich hinter dem geborstenen Faß langsam auf. Er bedeutete Frank, an seinem Platz zu bleiben, war mit vier katzengleichen Schritten an
der Ecke und lauschte wieder. Da – genau vor ihm atmete jemand heftig! Das Kratzen und Schaben war auch da! Ein Kopf tauchte undeutlich auf. Ben hatte den Arm schon oben. Er ließ ihn niederfallen und hämmerte die Faust mitten auf diesen Schädel drauf. Das war noch immer eine sehr wirksame Medizin für neugierige Leute, die um Hausecken schauen wollten. Es polterte dumpf, als der neugierige Geselle Ben vor die Füße stürzte und besinnungslos liegenblieb. Die dulle Griet war es nicht, das stand fest. Aber irgendeiner der Vögel, die sich in der Bande befanden. Plötzlich packte ein gewaltiger Schreck den so zufriedenen Ben Hammer. Zum Teufel, da brannte ja eine Laterne! Genau hinter der Hausecke! Er trat über den Niedergestreckten hinweg, holte die Laterne und leuchtete den Mann an. Es konnte ja der fortgeschickte Nachtwächter sein, der Verdacht geschöpft hatte und zurück gekommen war. Es war nicht der richtige Nachtwächter dieser Stadt. Es war Lintberg. und er sah gar nicht gut aus, als Ben ihm ins Gesicht leuchtete. Ben glaubte, der Schlag müsse ihn auf der Stelle treffen! Dann fluchte er unhörbar. Lintberg konnte sich gratulieren, daß er nur die Faust genommen hatte und nicht den Kolben des Paralyzers. Das hätte eine nette und dauerhafte Beule verursacht. Und ein Schädelbrummen dazu. »Ist was?« wisperte Frank. Er kam aus seinem Versteck hinter dem alten Faß heraus, als er Ben mit der Laterne hantieren sah. »Wen hast du zur Strecke gebracht?« »Lintberg«, lautete die knappe Antwort. »Mach keine dummen Witze!« Statt einer weiteren Erklärung leuchtete Ben dem Professor ins Gesicht, den er herum gerollt hatte. Frank griff Halt suchend nach der Wand in seinem Rücken. »Und das jetzt!« meinte er leise. »Er wird schon wieder«, sagte Ben, aber mehr zur eigenen Beruhigung. »Ich glaube, ich habe nicht sehr heftig hingelangt.« »Glauben heißt nicht wissen!« regte sich Frank auf. »Wo du im allgemeinen deine Faust niedergehen läßt, wächst nicht so schnell wieder Gras.« »Auf seinem Kopf soll ja auch kein Gras wachsen.« Ben blies die Laterne aus. Festbeleuchtung war in dieser Situation unerwünscht, zumindest von seiner Seite. Frank kümmerte sich um den Professor, der nach einigen Bemühungen erste Lebenszeichen von sich gab. »Wo – wo bin ich?« lallte er nach einer Weile.
»In unserer Obhut«, versicherte ihm Ben. Lintberg bekam seine Gedanken allmählich zusammen und erinnerte sich. »Da war eine Faust. Das konnte ich noch sehen. Aber dann war es aus.« »Ja, seine Schläge sind von gehobener Qualität«, sagte Frank. »Ben hat Ihnen was auf den Kopf gegeben. Ich denke, er hielt Sie für einen ungebetenen Zuschauer.« Lintberg erwiderte gar nichts. Er schnaufte nur hart und setzte sich langsam auf. Die Art aber, wie er atmete, zeigte Ben an, daß er geladen war bis unter die Haare. Ein Krach lag in der Luft. Die sich ausbreitende Stille knisterte förmlich vor Spannung. In diese Stille hinein, die nicht einmal vom Kläffen der Hunde gestört wurde, ertönte ein Knacken aus Richtung Kirche. Wie mit Nadelstichen angetrieben, fuhren die drei Zeitreisenden herum. Über dem Malheur hatten Ben und Frank keinen Gedanken mehr an die im Garten untergetauchten Gestalten verschwendet. Jetzt sahen sie drei, vier Schatten zu der Tür des steinernen Hauses eilen. Die Männer der dullen Griet schienen entschlossen, mit Gewalt bei Pater Diaz einzudringen. Doch nicht die Tür war das Ziel der Männer. Sie huschten daran vorbei. Sie mochten den Krach wohl bedacht haben, den ein Aufbrechen der Türe mit sich gebracht hätte. Sie drückten ungeniert ein Fenster ein. Mit angehaltenem Atem lauschten die Zeitreisenden auf das Bersten und Splittern von Glas. Doch nichts war zu hören. »Geöltes Papier!« raunte Frank. »Oder Tierdärme. Die Leute können sich nicht alle das teure Glas leisten.« Aus dem Garten drang eine zischende Stimme. Sie kam den Zeitreisenden sehr bekannt vor. Im Hof der Schenke hatten sie sie gehört. Und da tauchte auch schon die dulle Griet mit ihrer nicht zu übersehenden Figur auf und gab leise Anweisungen. Zwei Männer kletterten behende wie Eichhörnchen durch das Fensterloch. Sie räumten etwas beiseite, denn Holz knarrte. Nach zwei Minuten ging die Haustür auf wie von Geisterhand bewegt. Griet und die beiden anderen Burschen benutzten diesen Eingang und verschwanden im Haus. »Jetzt müßte man Mäuschen spielen können!« seufzte Lintberg und betastete vorsichtig seinen Kopf, der ihm brummte wie eine Trommel, auf die eingeschlagen wird. »Wer hindert uns daran?« fragte Ben. »Ich sehe dort ein Fensterloch. Was die Burschen können, traue ich mir allemal zu.« Ohne Lintbergs und Franks Zustimmung abzuwarten, huschte er die Gasse entlang, trat in den Garten und zog sich durch das dunkel gähnende
Fenster. Die beiden Gefährten folgten mit fast einer Minute Abstand. Ben hatte sich in dem Raum schon orientiert und festgestellt, daß sich niemand mehr darin aufhielt. Er war Lintberg und Frank behilflich, über die Brüstung zu klettern. Er griff dabei in die Reste des Fensters und spürte, daß der Rahmen wirklich mit geöltem Papier ausgespannt war. Dieser Pater Diaz schien auch nicht gerade mit Reichtumern gesegnet. Oder er hatte dieses Haus einfach annektiert und gedacht, wenn es diese Fenster zuvor taten, mochten sie ihm auch genügen. Irgendwo wurden Stimmen laut. Sie klangen gedämpft und kamen aus der Tiefe des Hauses. Ben hätte gerne seine Körperlampe eingeschaltet, doch erschien ihm das zu gefahrlich. Draußen brauchte nur jemand vorbei zugehen! Dann waren sie geliefert. Die Zimmerdecke war verteufelt niedrig. Ben bekam es zu spüren, als er sich aufrichten wollte und unsanft gegen einen Deckenbalken knallte. Diese Häuser waren alle so niedrig gebaut. Die Leute waren einen anständigen Schlag kleiner. Das war keine Übertreibung. Wissenschaftler seiner Eigenzeit hatten das schlagend nachgewiesen. Und Ben hatte auch mal ein Museum besucht und dort Ritterrüstungen gesehen. Anlaßlich einer Zeitreise hatte er selber mal den nutzlosen Versuch unternommen, sich in eine solche Rüstung zu zwängen. Das Feuerwerk, das vor seinen Augen entstanden war, verblaßte allmählich. Aber Ben hatte noch das blanke Wasser in den Augen stehen, als Frank flüsterte: »Licht! Da ist die Tür!« Ben wischte sich das Wasser fort und konnte ein helles Rechteck erkennen. Das war die Tür. Sie befand sich nur ein paar Schritte entfernt. Sehr klein waren die Räumlichkeiten noch dazu. In der Luft hing der kalte Rauch eines Feuers. Diese Häuser besaßen meist nur eine Feuerstelle. Auf ihr wurde gekocht, an ihr saß man, und sie heizte zudem noch das ganze Haus und schickte ihren Rauch in sämtliche Kammern und Ecken. Eine lamentierende Stimme erklang. Das konnte nur Pater Diaz sein, der sich aus tiefem Schlaf gerissen sah. »Die dulle Griet hat vielleicht Nerven!« flüsterte Ben. »Sie läßt Licht anzünden! Wenn’s ein Nachtwächter sieht, gibt es einen Volksauflauf.« »Sie wird schon wissen, was sie riskieren kann«, gab Frank zurück und stützte Lintberg, der noch nicht sehr sicher auf den Beinen war. In Bens Faust steckte allerhand Musik. Bei der Tür verharrte Ben und peilte vorsichtig um die Ecke. Er spürte zugleich einen Druck am Schienbein und blickte hinab. Dieser Raum besaß eine Türschwelle, die ihm bis zwei Handbreit unters Knie ging. Es war gut, daß er das bemerkt hatte. Denn er hätte genausogut kopfüber aus der Türöffnung fallen können. Dieser Pater
Diaz schien die strengen Gesetze einer Stadt nicht sonderlich genau zu befolgen. Oder er stand ganz einfach auf dem Standpunkt, daß die Gesetze über das Bewahren von Feuer und Licht während der Nacht für die Niederländer galten, aber noch lange nicht für einen Spanier. Jedenfalls befand sich noch Glut in seiner Feuerstelle. Dort hatten Griet und ihre vier Männer auch die Talgkerze angezündet, die Ben jenseits der Feuerstelle in einer offenstehenden Tür sah. Außerdem konnte er einen Alkoven mit beiseite gezerrten Vorhängen sehen und in den Kissen dieses Wandnischenbettes einen feisten Mann, an dessen Hals eine derbe Hand lag. Jetzt griff eine andere Hand zu und zerrte das grobleinene prallgefüllte Deckbett fort. Die Leute hatten merkwürdige Bettsitten. Sie zogen sich kaum aus, wenn sie schlafen gingen. Sie streiften nur das Obergewand ab. Jedenfalls hielt es der Pater so, denn die jähe Entführung der Zudecke brachte ihn keineswegs in eine peinliche Lage. »Lies es uns vor, du gemästeter Speichellecker!« sprach in dem Raum die dulle Griet. Zu sehen war sie nicht. Die Türöffnung war nicht sehr groß. Demzufolge fiel der Blickfeldausschnitt kümmerlich aus. Eine dritte Hand tauchte auf, hielt dem Pater die Talgkerze neben das Gesicht. Und dann flogen zwei Knäuel neben Diaz ins Bett, die den Zeitreisenden recht bekannt vorkamen. Pater Diaz stand unter gewaltigem Druck, denn er zögerte nicht länger, setzte sich ungeachtet seiner Leibesfülle hastig auf und knitterte die beiden Briefe auseinander. Als er die Reste der Siegel erblickte, bekreuzigte er sich und schaute wie ein Fuchs, den die Hunde umstellt haben. »Rede schon, was ist damit?« drängte die dulle Griet. Sie sprach lauter, als es der Situation angemessen war Die Siegel des allergnädigsten Königs Philipp’« entsetzte sich Pater Diaz. »Ihr habt sie erbrochen.« »Der König wird daran mcht sterben!« beschied ihn die dulle Griet. »Was steht drin? An wen sind die Briefe gerichtet?« Pater Diaz wurde ganz blaß. Er las ganz für sich. Seine Lippen bewegten sich, wahrend die haarige Hand an seinem feisten Hals blieb. »Ihr würdet es doch nicht verstehen«, sagte der Pater schließlich. Er wollte die Briefe zurückreichen. »Wie lauten sie?« verlangte Griet »Oder soll ich dir den Hals umdrehen lassen wie einem feisten Kapaun?« Die Hand drückte zu. Pater Diaz lief blau an und rang nach Atem. Vielleicht sah er sich schon an der Himmelspforte stehen. Aber da schien er sich darauf zu besinnen, daß es noch zu früh war, sich ins jenseitige Leben
zu begeben. Mit bebender Stimme las er aus den Briefen vor, die er wieder entfaltet hatte. Er las nicht wortwörtlich Er faßte das Wichtigste zusammen Die Zeitreisenden spitzten die Ohren, als hänge ihr Seelenheil davon ab. Ähnlich mochten auch die dulle Griet und ihre Männer denken. Sie unterbrachen Pater Diaz mit keinem Wort. Wenn der zitternde Mann im Bett nicht vor lauter Angst völlig von Sinnen war, dann handelte es sich bei dem einen Brief um ein eigenhändiges Schreiben des spanischen Königs Philipp II. an den Hochgeborenen Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von Alba, Generalstatthalter der Niederlande, und war gegeben zu San Lorenzo de Esconal. Allein dieser Umstand war schon bedeutungsvoll. Der Inhalt des Schreibens war es noch viel mehr. Denn Philipp II von Spanien erinnerte in klagevoll-bewegten Worten seinen treuen Statthalter zu Brüssel an sein Versprechen, einen klaftertiefen Goldstrom nach Spanien zu lenken und die Niederlande mit hohen Abgaben zu belegen. Weiter erging eine Anweisung an Alba, den Statthalter von Flandern, Lamoral Graf von Egmont, in strenge Haft zu nehmen wegen seines Eintretens für die Privilegien der Niederlande. Zwar wisse man dem Egmont Dank für seine Unterstützung im Kampf gegen die ketzerischen Calvinisten, Bilderstürmer und Reformierten, aber man besitze Beweise, daß er sich den aufrührerischen Provinzen zuneige und kein treuer Gefolgsmann der spanischen Krone mehr sei. Mit ihm sei in Haft zu nehmen Philipp Graf von Hoorn wegen gleicher Umtriebe gegen die Krone, und man gewähre dem Generalstatthalter königliche Zuneigung, wenn er diesen beiden einen schnellen Prozeß mache. Zur Abschreckung des aufrührerischen Adels und der Aufständischen in den Bistümern der Nordprovinzen. Der im Bett überraschte Pater Diaz zitterte jetzt so sehr, daß er unmöglich noch die Schrift auf dem zerknüllten Papier entziffern konnte. Das Knistern des Briefes drang bis zu den Zeitreisenden heraus. Lintberg, Ben und Frank erwarteten, daß die dulle Griet den Befehl gab, dem Pater den Hals umzudrehen. Doch die Frau hatte sich gut in der Gewalt. Nur ihre Stimme klang heiser, als sie sagte: »Und jetzt lies den anderen vor, du fetter Gockel!« Pater Diaz schien einem Schlaganfall sehr nahe zu sein. Sein Gesicht hatte eine ungesunde blaue Farbe angenommen. Doch das berührte den Burschen nicht, der seine Hand an den Hals des Paters gelegt hatte. Ächzend und greinend griff Diaz nach dem zweiten Brief und verlas dessen Text. Auch wieder nur in einer ungefähren Übersetzung. Doch es
war schlimm, was da über seine blauen Lippen kam. Der Brief war ein Erlaß des Königs und enthielt genaueste Anweisungen an Alba, diesen Erlaß am 16. Februar des Jahres 1568 in Kraft zu setzen und überall im Lande bekanntzumachen. Die Zeitreisenden hielten den Atem an, als sie hörten, was der spanische König anordnete. Es war die niederträchtigste Gemeinheit der Weltgeschichte. In einem Anflug von königlichem Größenwahn verurteilte demnach Philipp alle Bewohner der Niederlande als Ketzer zum Tode! Außerdem verlas Pater Diaz noch Instruktionen, die dem König im fernen Spanien eingefallen waren und die sein Generalstatthalter Alba in die Tat umzusetzen hatte. Danach sollte der von Alba errichtete »Rat der Unruhen« unnachsichtig alle Hochverräter verfolgen und bestrafen. Philipp hatte auch schon Vorstellungen, wer als Hochverräter galt. Wer sich zum Beispiel an einer Bittschrift um Milderung der Inquisition beteiligt hatte. Wer eine solche Bittschrift nicht verhindert hatte. Wer gesagt hatte, der König habe nicht das Recht, den Provinzen ihre Freiheit zu nehmen. Oder wer behauptet hatte, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen und wer irgendeine derartige Äußerung stillschweigend angehört hatte. Die Infamie dieser an Alba gegebenen Instruktionen war ohne Beispiel. Jemand mußte schon ein Engel sein, um nicht wenigstens eines dieser Delikte zu begehen. Pater Diaz ließ mit zitternden Händen das Papier sinken und fiel röchelnd zurück. Aber der Schlag ereilte ihn nicht. Er erholte sich erstaunlich rasch. Die dulle Griet stand nachdenklich neben dem Alkoven. Endlich sagte sie: »Jetzt will er uns mit Haut und Haaren vernichten, dieser spitzbärtige Blutsäufer Alba mit seinem Blutrat. So wahr ich getauft bin, diese Briefe wird er nie erhalten!« Damit griff sie sich die beiden Dokumente und hielt sie über die Flamme der Talgkerze. Aus hervorquellenden Augen schaute Pater Diaz zu. Das war Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung, was die dulle Griet machte. Er versuchte sich aufzurichten. Sofort war die Hand mit hartem Griff an seinem Hals und drückte ihn zurück. Als die beiden Briefe lichterloh brannten und Griet sie nicht mehr in den Fingern halten konnte, ließ sie die brennenden Stücke zu Boden fallen. Sie drehte sich um. Ihre vier Männer folgten ihr. Der letzte stellte die Talgkerze auf den Boden. Wie von allen bösen Geistern der Holle getrieben, sauste Pater Diaz aus dem Alkoven und stürzte sich auf die brennenden Papierreste. Retten konnte er nichts mehr. Was er aufhob,
zerbröselte ihm zwischen den Fingern. Zu allem Überfluß hin drohte die letzte aufflackernde Flamme auch noch die pralle Zudecke in Brand zu setzen. Prustend warf sich der Pater auf das Deckbett und verhinderte, daß sich ein Brand daraus entwickelte. Die Zeitreisenden wichen vom Türloch zurück und druckten sich in den hintersten Winkel des Raumes. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflussig. Griet und die Männer wählten nicht den beschwerlichen Weg aus dem Fenster. Sie benutzten die Tür. Aber sie traten nicht in den Garten hinaus. Denn draußen klang vielfacher Hufschlag auf, und die überdrehte Stimme des Nachtwächters meldete: »Hauptmann Olivares, hier hat er mich hingeschickt und dann wieder weggeholt. Ich habe ihm gleich nicht getraut, aber dann fand ich auch noch Jaap, und er fühlt sich wie tot an. Und es sind auch keine Reisenden angekommen, die zum Pater wollen. Hier geht etwas vor …« »Halt das Maul, du Tölpel, sonst bekommst du die Peitsche!« brüllte der Hauptmann. »Ich sehe nichts, und ich höre nichts. Hier ist alles friedlich. Vielleicht hast du getrunken, du Hund, statt deine Pflichten zu versehen!« »Herr, ich schwöre, ich habe nicht getrunken!« jaulte der Nachtwächter los. »Seht doch, Herr, das Fenster! Es ist fort!« Drinnen sagte Ben düster und leise: »Jetzt sitzen wir aber fein in der Klemme. Amen!« * Nicht nur sie saßen fest. Es traf auch auf die dulle Griet und ihre vier Männer zu. Ben vermutete, daß in der Nähe des Hauses weitere Leute der Frau einsatzbereit vorhanden waren. Wenn die Burschen aber schlau waren, dann verhielten sie sich still und rührten sich nicht vom Fleck. Denn gegen die Übermacht des Hauptmanns Olivares und seiner Truppe hatten sie nichts zu bestellen. »Zwei Männer steigen hinein und sehen nach, was los ist!« befahl der Hauptmann. Er hatte einen rüden Ton am Leib und sprang mit seinen Leuten um. als seien sie der letzte Dreck. Ein Wunder, daß sie als Spanier sich das gefallen ließen. »Die übernehme ich«, flüsterte Ben. »Ich muß endlich in Form kommen.« Er huschte neben das Fenster und sah, daß niemand draußen ein Licht mitgebracht hatte. Nur der Nachtwächter fuchtelte mit seiner Laterne herum und machte die Pferde scheu. Zwei Tercios waren abgestiegen,
kamen durch den Garten und schwangen sich zum Fenster hinauf. Ben ließ ihnen nicht einmal Zeit, sich gewaltig zu erschrecken. Er packte zielsicher zu, weil er sie vor dem Fensterloch gut erkennen konnte, bekam sie am Hals zu fassen und haute ihnen die Köpfe zusammen. Dabei riß er sie tiefer ins Zimmer hinein. Er konnte nicht verhindern, daß die Stulpenstiefel der Burschen ein kräftiges Poltern verursachten. Das war aber das einzige Geräusch. Die Kerle waren nicht dazu gekommen, einen Schreckenslaut auszustoßen Ben ließ die zwei Spanier zu Boden sinken und fuhr hoch, als er eine Bewegung im hellen Rechteck der Tür erkannte. Pater Diaz hatte drüben in seiner Schlafkammer noch immer die Talgkerze brennen und die Türe offenstehen. Das milde Licht der Kerze erhellte das Haus notdürftig. »Ssst!« machte Ben, als er die üppigen Formen der dullen Griet erkannte. »Ich habe die zwei Burschen erwischt, aber ich fürchte, gleich kommen die anderen herein.« Griet stand erst wie angenagelt. Sie überwand ihren Schreck jedoch. sehr schnell. »Seid ihr nicht die Nichtsnutze. über die ich mich heute schon einmal ärgern mußte?« »Erraten«, sagte Ben und grinste, weil Griet es nicht sehen konnte. »Wir wollten dem Pater unsere Aufwartung machen, aber da kamt ihr. Jetzt ist guter Rat teuer, meinst du nicht?« »Engländer!« sagte sie und sprach es so abfällig aus, daß Ben die Galle ins Blut schoß. Sie kam in den Raum, indem sie mit traumwandlerischer Sicherheit über die extrem hohe Türschwelle stieg. Das ließ vermuten, daß sie sich entweder in diesem Haus verdammt gut auskannte oder daß alle Häuser hierzulande in dieser Art gebaut waren. Ihre vier Gefolgsleute kamen ebenfalls herein. Einer trat ans Fensterloch und spähte vorsichtig hinaus. Er fluchte leise, als er den haltenden Reitertrupp in der Gasse sah. »Das habt ihr uns eingebrockt!« sagte Griet böse zu Ben gewandt. Sie mußte Augen wie eine Katze haben, daß sie auch in der Nacht sehen konnte. Denn sie hatte auch Lintberg und Frank ausgemacht. »Was geht euch der Pater an, was schnüffelt ihr hinter uns her?« Von draußen ertönte ein scharfer Befehl. Ben spürte, daß die Nervenbahnen in seinen Armen zu brennen begannen Das war ein Alarmzeichen, das er nicht übergehen konnte. Die dulle Griet hatte wirklich den Leibhaftigen im Leib. Es kümmerte sie nicht, daß draußen Spanier hielten und daß sie jeden Augenblick ins Haus eindringen und sie alle niedermachen konnten. »Ich warte auf eine gute Antwort!« verlangte sie.
Lintberg ächzte erschüttert. Seine Nerven machten bald nicht mehr mit. Frank zog vorsorglich den Paralyzer, damit er die ersten Tercios von der Fensterbank blasen konnte. »Himmel, stell dich nicht so an!« sagte Ben. »Sie kommen herein, und du stellst Fragen!« »Und ich will die Antwort hören!« erwiderte Griet. »Es muß eine gute Antwort sein, denke daran!« Ben hatte einen Augenblick lang die zwingende Vorstellung, sich in einer Irrenanstalt zu befinden. Aber dem war nicht so. Er stand in einer Kammer des Paters Diaz, und draußen vor dem Fenster in der Gasse lärmten absitzende Tercios. Ächzend stieß Ben hervor: »Diese verdammte Eskorte sah uns in der Nähe der Schenke, und als wir gegen Abend den Weg nach Malines genommen hatten, kam uns dieser Hauptmann Olivares mit seinen Männern entgegen. Wir konnten uns in einem Ginsterfeld verstecken und hörten, daß man auch nach uns suchte. Da fiel uns der Name dieses Paters ein. Du hast ihn bei der Schenke genannt. Wir hoffen, von dem Pater etwas zu hören und zu erfahren, warum man hinter uns her ist.« »Hier ist man hinter allem her, was den Spaniern verdächtig erscheint«, erklärte die dulle Griet. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sagte zu ihren Männern: »Lockt sie nach hinten, damit wir hier rauskönnen!« Zwei Männer eilten aus dem Raum. Wenige Augenblicke später war das jämmerliche Zetern des Paters zu hören. Dann krachte Holz, und plötzlich klang es, als befinde sich Pater Diaz außerhalb seines Hauses. Die Zeitreisenden begriffen nur langsam, daß die zwei Kerle der dullen Griet den feisten Pater kurzerhand durchs Fenster geworfen hatten, damit er mit seinem Geschrei die Tercios nach hinten lockte. Die beiden Männer kamen zurück, und Griet und die Zeitreisenden schauten vorsichtig aus dem Fenster und sahen die abgesessenen Tercios und den Nachtwächter am Haus vorbeirennen. Hauptmann Olivares trieb brutal sein Pferd an und jagte ihnen nach. »Jetzt raus!« sagte Griet eiskalt. Sie schwang sich aus dem Fenster. Ihre Männer setzten hinterher. Die Zeitreisenden machten den Schluß. Griet wollte aus dem Garten in die Gasse laufen. Ben schnappte sie am Arm und zog sie mit hartem Griff in den Garten zurück. »Bist du völlig von Sinnen?« sagte er. »Sie hätten dich, bevor du den Marktplatz erreicht hast. Laß mich das mal machen! Du hast keine hohe
Meinung von uns Engländern, aber vielleicht gelingt es mir, dich davon zu überzeugen, daß man auch mit dem Verstand etwas erreichen kann!« Er ließ sie los, huschte aus dem Garten und fiel wie ein Ungeheuer zwischen die reiterlosen Pferde, die die Gasse verstopften. Ben verstand sich trefflich auf das Nachahmen von Tierstimmen. Er ließ das schaurig-gefährliche Heulen eines Wolfes ertönen und hatte die Genugtuung, daß die Gäule sich entsetzt herumwarfen und wie das wilde Heer aus der Gasse preschten. Das geborstene Faß vorne bei der Gassenmündung ging dabei vollends zum Teufel, eine Tür wurde eingetreten, und ein Zaun brach prasselnd zusammen. Wie der Teufel kam Ben in den Garten zurück und zerrte Griet in den schwarzen Schlagschatten, in dem auch eine Eule nichts mehr hätte erkennen können. Der gräßliche Wolfsschrei, das schrille Wiehern der durchgehenden Pferde und der infernalische Lärm lockten die Spanier, den Hauptmann und den Nachtwächter von der Rückfront des Hauses zurück in die Gasse. Die Tercios schleppten den arg zusammengestauchten Pater Diaz mit sich, störten sich aber an der Gegenwart des frommen Mannes wenig und fluchten lästerlich, als sie erkennen mußten, daß sämtliche Gäule davongelaufen waren. Olivares brüllte wie ein Ochse seine Wut hinaus. Er löste eine Peitsche vom Sattel und schlug wie besessen auf seine Leute ein. Der Nachtwächter und der Pater brachten sich in Sicherheit. Plötzlich schrie jemand: »Die Hunde sind mit unseren Pferden auf und davon! Ich habe sie deutlich gesehen.« Das war eine faustdicke Lüge. Eine Notlüge gewissermaßen. Denn sofort hörte Olivares auf, seinen Leuten die Peitsche über die Köpfe zu ziehen. »Was steht ihr noch herum?« brüllte er zornig. »Lauft ihnen nach!« Froh, der Peitsche entrinnen zu können, stürzten die Männer durch die Gasse und fluteten in die Stadt auf der Suche nach den Pferdedieben und den Gäulen. Auch der Pater und der Nachtwächter schlossen sich an. Olivares ritt ohnehin schon inmitten seiner Leute und feuerte sie an, damit sie auch wirklich die Diebe zu fassen bekamen. Das Geschrei entfernte sich schnell. In der Gasse kehrte Ruhe ein. Vielleicht waren ein paar Nachbarn aus dem Schlaf gerissen worden und standen hinter den dunklen Fenstern. Sie machten sich jedoch nicht bemerkbar. Es war immer gut, nichts gehört und nichts gesehen zu haben. Die Spanier besaßen Methoden, einem erst einmal aufgefallenen Burger Geständnisse von Schandtaten abzupressen, die gar nicht begangen worden waren. Ben, Lintberg und Frank lauschten dem Lärm, der sich in Richtung
Marktplatz verlor. »Nun, sind die Engländer zu etwas nutze?« fragte Ben. Er wandte sich der dullen Griet zu, die aus dem tiefen Nachtschatten getreten war. »Wenigstens verstehst du etwas von Pferden«, entgegnete Griet. Das mußte ein gewaltiges Lob sein, denn ihre vier Männer blickten sehr ergriffen. »Ich kenne mich nicht nur mit Pferden aus«, pries Ben seine Fähigkeiten an in der Hoffnung, daß die dulle Griet für ihn und seine beiden Gefährten nun eine Verwendungsmöglichkeit sah. Denn wenn es ihnen gelang, sich dieser Gruppe anzuschließen, dann kamen sie in diesem Land aller Voraussicht nach besser voran. Griet hatte ihre Verbindungen und ganz sicher auch ihre Hintermänner. Ohne Verbindungen war man in diesen von Aufständen und grausamen Strafgerichten heimgesuchten Landstrichen im wahrsten Sinne aufgeschmissen. Griet mußte ganz andere Pläne haben, denn sie schüttelte den Kopf. »Ich kann euch nicht mitnehmen. Wir müssen nach Brüssel, und noch in dieser Nacht müssen Boten aufbrechen, damit einige hochgeborene Herren gewarnt werden«, sagte sie Ben setzte alles auf eine Karte. Nun kam es auch nicht mehr darauf an, was Griet und ihre Männer von ihnen hielten. »Du meinst, man muß den Grafen Egmont und Hoorn sagen, was der König gegen sie im Schilde führt?« Als sie ihn darauf durchdringend ansah und ihre vier Männer geradezu bestürzt dreinblickten, fuhr Ben erklärend fort: »Wir waren schon im Haus, wir hörten, was der Pater sagte.« Die dulle Griet warf stolz den Kopf in den Nacken. »Wir hatten königliche Kurierbriefe für den Blutsäufer Alba und seinen Blutrat. Er wird sie nie bekommen. Ich habe sie verbrannt.« »Der Pater kennt den Wortlaut«, gab Ben zu bedenken. Einer der Männer lachte. Er tat es auf eine Art, die den Schluß zuließ, daß er zumindest zeitweise nicht den Verstand beisammen hatte. Warum er aber ausgerechnet jetzt lachte, konnte Ben nicht ergründen. Auch Lintberg und Frank hatten nicht die geringste Vorstellung. Im Haus gegenüber flackerte Lichtschein auf. Aus einer zur Hälfte geschlossenen Fensterhöhlung fiel ein Lichtbalken in die Gasse und reichte bis zum Garten her. So tot und verschlafen, wie die Stadt sich gab, war sie gar nicht. Da drüben hatte jemand der leisen Unterhaltung zugehört und unvorsichtigerweise auch noch ein Talglicht angezündet. Ben hatte durch den überraschenden Lichtschein für ein paar Sekunden Gelegenheit, das Gesicht der dullen Griet und das des Mannes zu sehen, der eben gelacht hatte. Griets Gesicht war von der Anspannung gezeichnet.
Das war verständlich, denn immerhin hatte sie sich in die Höhle des Löwen begeben und wäre um ein Haar darin gefangengenommen worden. Das Gesicht des Mannes war breitflächig und grob, und die Augen hatten einen stumpfen, wenn nicht gar blödsinnigen Ausdruck. Eine Geistesleuchte war der Bursche bestimmt nicht. Aber er war Griet und der Sache der Niederländer treu ergeben, und das zählte eben. Drüben verlöschte das Licht, und jemand hustete gräßlich laut. Dann brachte der Wind den Lärm der herumirrenden Tercios mit, die in der Stadt die Pferde und die gemeinen Diebe suchten. »Kommt jetzt!« sagte Griet zu ihren Männern. Und an den Burschen gewandt, der gelacht hatte, meinte sie: »Lamme, du machst es wie besprochen. Alles hängt jetzt von dir ab. Denke daran!« Die Art, wie sie es sagte, ging den Zeitreisenden unter die Haut. Nur gelang es ihnen nicht, Sinn und Absicht der Worte zu ergründen. »Du bringst es fertig, uns hier zurückzulassen, wo ich euch eben die Spanier vom Hals geschafft habe?« fragte Ben, und er mußte sich nicht sonderlich verstellen, um seine Stimme gekränkt klingen zu lassen. »Wir stehen vor einer großen Entscheidung, ich kann euch jetzt nicht gebrauchen«, erwiderte Griet. »Aber später?« fragte Ben lauernd und hoffnungsvoll. »Das wird sich finden«, meinte die Frau. »Geht nach Twee Bruggen zum Dorfpfeifer Joost Borch. Wenn der Himmel es will, treffen wir uns dort » »Wann?« Das war Lintberg, der sich jetzt eingeschaltet hatte. »In einer Woche.« Mehr sagte Griet nicht. Der Lärm der spanischen Soldaten näherte sich aus der Stadt. Es wurde allerhöchste Zeit, aus Malines und aus diesem Garten zu verschwinden. »Ihr bringt uns aber aus der Stadt, oder nicht?« fragte Ben. »Meinetwegen.« Griets Stimme klang sehr gönnerhaft. »Zur Kirche hinüber!« Sie huschten aus dem Garten und begannen zu schwitzen, als sie am Eingang der Gasse plötzlich Tercios mit Laternen und zwei Fackeln auftauchen sahen. Pferde hatten die Kerle natürlich keine eingefangen. Fast geräuschlos huschten Griet, ihre Männer und die Zeitreisenden durch die Gasse am steinernen Haus des Paters Diaz vorbei. Vor der Kirche tat sich ein Gäßchen auf. Da hinein lief Griet. Ben war jetzt absolut sicher, daß die Frau sich hier in Malines mindestens so gut auskannte wie in den Falten ihres fast knöchellangen Rockes. Bevor er als letzter Mann in die schmale Gasse tauchte, blickte er zurück. Sie waren von den Spaniern nicht bemerkt worden, und die Kerle kamen
auch nicht, weil sie plötzlich einen finsteren Verdacht in der Richtung hegten, daß sie fürchterlich hereingelegt worden waren. Die Tercios brachten den Pater nach Hause, weil dessen Aufzug dem Ansehen und der Autorität der katholischen Kirche nicht gerade dienlich war. Ben konnte Pater Diaz deutlich inmitten der Soldaten erkennen. Das Licht der Laternen und der beiden Fackeln fiel auf ihn. Länger wartete Ben nicht. Er eilte seinen vorangegangenen Gefährten nach und fand sie am Ende des Gäßchens mit Griet. Plötzlich stutzte er. Er wollte schwören, daß er gerade noch vier Männer bei Griet gesehen hatte. Jetzt sah er nur noch die dunklen Umrisse von dreien. Lamme war verschwunden. »Geht immer geradeaus«, sagte Griet. »Ihr gelangt auf eine Straße und seht zur rechten Hand einen alten Turm. Hütet euch vor ihm, denn dort logieren Spanier, die tagsüber den Wegzoll eintreiben. Wenn ihr diese Gefahr glücklich umschifft habt, haltet euch nach links. So gelangt ihr zum Ende der Stadt und auf die Straße nach Brüssel.« »Und wie weit ist es nach Brüssel?« fragte Frank. »Eine Tagesreise.« Griet wandte sich ab. »Und nach Twee Bruggen?« fragte Ben noch schnell. »Drei Tagreisen. Wer so lange Fragen stellt wie ihr, der kommt aber wohl nie hin.« Damit ging Griet fort. Es folgten ihr wirklich nur drei dunkle Gestalten. Lamme blieb verschwunden. Ben hatte ganz plötzlich ein höllisch ungutes Gefühl in der Magengegend. Vom Hunger allein kam es nicht. * Sie fanden den alten Turm und sahen schwachen Lichtschein aus den schmalen Sehießöffnungen dringen. Eine Wache war allerdings nicht aufgezogen. Darum kamen sie unbehelligt vorbei. Wieder kläfften die Hunde. Diesmal war es am entgegengesetzten Stadtende. Die Zeitreisenden hielten sich links und gelangten tatsächlich aus Malines hinaus. Die weite nächtliche Landschaft dehnte sich vor ihnen. »Und da rühmt man immer die Gastfreundschaft dieser Gegend«, maulte Ben. »Keine warme Suppe, kein ordentliches Nachtlager, und nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Diese Art Reisen liebe ich ganz besonders.« Lintberg hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, behielt sie aber für sich, denn hinter ihnen in Malines begannen plötzlich Hörner zu dröhnen. Sie fuhren alle drei herum und erstarrten.
Eine gewaltige Rauchwolke wölbte sich über der Stadt und wurde von einem mächtigen Feuer rot und zuckend angestrahlt. Höher und höher stieg der Rauch, und auch die Flammen loderten weiter hinauf. Es sah so aus, als sei in Malines eine Feuersbrunst ausgebrochen. Verwehte Stimmen drangen jetzt aus dem Gewinkel der Gassen und Straßen. Eine Trommel wurde rollend geschlagen. Dann begannen die Sturmglocken der drei Kirchen zu dröhnen. Das Feuer schien nahe dem Mittelpunkt der Stadt ausgebrochen zu sein, denn der Widerschein beleuchtete einen Kirchturm und das Dach des Gotteshauses. Ben fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Lamme!« stieß er hervor. »Dieser Lamme hat das Haus des Paters angezündet, und ich fürchte, Diaz verbrennt dort mit. Da – seht doch die Kirche! An der sind wir in das Gäßchen eingebogen! Genau davor brennt es. Es ist das Haus von Diaz!« Frank verschlug es die Sprache. Lintberg aber sagte düster: »Was ist das nur für eine Zeit? Diese Leute hassen sich bis aufs Blut. Sie geben vor, für Recht, Gerechtigkeit, für Freiheit und Gott zu streiten und begehen die schlimmsten Grausamkeiten.« »Griet sieht es möglicherweise nicht so«, sagte Ben, während er auf die himmelwärts lodernden Flammen starrte und den Funkenflug über der Stadt beobachtete. »Diaz übersetzte die königlichen Kurierbriefe. Er wurde Mitwisser eines großen Geheimnisses. Da die Briefe vernichtet sind, hätte er ihren Inhalt nur mündlich weitergeben können. Das wollte Griet verhindern.« »Sie bildet sich nur ein, damit das Unheil aufgehalten zu haben«, erwiderte Lintberg. »Sie ist zwar nicht übermäßig schlau, aber gerissen. Gut, sie hat zwei Kurierbriefe abgefangen und vernichtet, die für die Niederlande, vor allern für die Nordprovinzen, von großer Bedeutung waren. Aber sie hat nicht bedacht, daß die Spanier ebenfalls gerissen sind und genau über die Unsicherheit der Landwege informiert sind. Denn dieser königliche Befehl und diese Weisungen Philipps an Alba sind dennoch in Brüssel angekommen. Das ist historisch verbürgt.« »Ja, aber das ist doch gar nicht möglich!« staunte Ben. Aber es ging ihm doch ein Licht auf, als er nachdachte. Diesen Befehl und die königlichen Weisungen gab es in mehreren Ausfertigungen! Das war das ganze Geheimnis. Mit dem Wissen um die Gefährlichkeit des Reisewesens in den von Unruhen aufgewühlten Niederlanden hatte der königliche Hof in Spanien von vornherein einkalkuliert, daß vielleicht der eine oder andere Kurier nicht zu Alba durchkam. Darum waren Befehl und Weisungen mehrfach
ausgefertigt und auf verschiedenen Wegen in Marsch gesetzt worden. Griet und ihre Männer hatten einen Kurier und seine Briefe aufgebracht. Dafür war ein anderer durchgekommen. Das Blut der Spanier und Niederländer war dort bei der Schenke nutzlos vergossen worden. Und Pater Diaz starb dort in seinem brennenden Haus an der Kirche als Folge eines Irrtums. Die dulle Griet hatte versucht, das Rad der Geschichte anzuhalten. Sie hatte dabei nur nicht bedacht, daß es am spanischen Hof Leute gab, die viel schlauer waren als sie. * Der Feuerschein beleuchtete ihnen noch lange den nächtlichen Weg. Nach einer Stunde hörten die Zeitreisenden von Malines her rumorenden Hufschlag. Sie gingen vom Weg herunter und konnten hinter sich tanzende Lichter ausmachen. In beträchtlicher Eile näherte sich ein starker Reitertrupp. Als er nur einen Steinwurf weit vorbeizog, konnten Lintberg, Frank und Ben erkennen, daß die Reiter Tercios waren und daß sie von Hauptmann Olivares geführt wurden. Jeder fünfte Soldat führte eine Laterne mit. Zwei Pferde hinter Olivares wurde ein Mann zu Fuß irn Zug mitgeschleppt. Er war mit einem Strick um den Hals an einem Pferdeschweif angebunden. Zusätzlich hatte man ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Als Ben genauer hinsah, erkannte er den Mann mit dem breitflächigen Gesicht und den stumpf blickenden Augen. Er erschrak. Es war Lamme, der Mann aus Griets Truppe. Kein Zweifel, man hatte ihn erwischt. Er mußte sehr unvorsichtig gewesen sein. Im Reitertrupp sprach niemand ein Wort. Zaumzeug klirrte, Leder knarrte und ab und zu schnaubte ein Pferd. Wie eine gespenstische Prozession zog der Haufen des Hauptmannes Olivares vorüber. Als die Zeitreisenden auf den Weg zurückkehrten, verschwand voraus das Laternenlicht. Nur der Hufschlag war noch eine Weile zu hören. Aber schließlich wurde es gänzlich still. Lintberg brach nach langer Zeit das bedrückende Schweigen. »Es war der Mann, der zu Griet gehört und der zum Schluß nicht mehr bei uns war«, sagte er. »Sie führen ihn gebunden fort.« »Manchmal machen erst nachfolgende Ereignisse den Sinn von zunächst unverständlichen Worten erkennbar«, sagte Ben. »Lamme steckte das Haus des Paters an, da bin ich mir ganz sicher. Und ich befürchte, er hat dafür gesorgt, daß Diaz sich im Haus befand.«
»Gott sei ihren Seelen gnädig!« sagte Lintberg bewegt. Seine beiden Gefährten waren darüber gar nicht sehr verwundert. Man konnte angesichts dieser Ereignisse und all der Grausamkeiten wieder fromm und andächtig werden. Nach einer guten Stunde mußten sie alle drei schon wieder vom Weg herunter. Aus Malines kamen in schneller Fahrt drei Kutschen, schwere Reisewagen, die von einer großen Eskorte gedeckt waren. Vielleicht war einigen hohen spanischen Herren der Aufenthalt in Malines zu unsicher geworden, und sie zogen es vor, sich in das sichere Brüssel zu verfügen. »Eine neue Völkerwanderung scheint angebrochen zu sein«, bemerkte Ben und trat Erdklumpen von seinen Stiefeln. »Wenn ich diesen Kutschen nachblicke, dann bilde ich mir ein, daß es gar nicht so schwierig sein müßte, ein solches Gefährt zu kapern. Wir hätten damit einen Sitzplatz ergattert, könnten fahren, waren im Trockenen, hätten ein Dach überm Kopf und könnten auch ein Auge voll Schlaf nehmen.« »Und würden bei nächster Gelegenheit sehr unsanft aus der Kalesche gerissen und in ein finsteres Verlies geworfen«, sagte Lintberg. »Denn es ist ein Umstand eingetreten, der uns Kopf und Kragen kosten kann.« »Und der wäre?« fragte Ben gähnend. »Lamme. Die Spanier haben ihn gefangen. Sie werden ihn zum Sprechen bringen, und er wird auch etwas von drei Engländern erzählen, fürchte ich.« Ben ließ einen Fluch los, der weithin durch die Nacht schallte. * Gegen Morgen wurde es unerträglich kalt. Die drei Zeitreisenden krochen in einen Reisighaufen, der Schutz vor dem schneidenden Wind bot. Sie waren so geschafft, daß sie es tatsächlich fertigbrachten, ein wenig einzunicken. Als Räderknarren sie weckte, schreckten sie hoch. Es war heller Tag, und auf dem Weg rumpelte ein Karren vorbei, der von zwei Ochsen gezogen wurde, mageren Tieren, denen die Knochen fast durchs Fell stießen. Auf dem Karren hockte dösend ein Mann, der sich in ein Schafsfell gehüllt hatte. Der Atem stand ihm wie eine Wolke vor dem Gesicht. Lintberg erkannte, daß der Karren in Richtung Brüssel rollte. Knüppelholz war aufgeladen. Man hatte es zu dicken Wellen gebunden. »Ich schätze, da fährt unsere Kutsche!« sagte der Professor in einem Anflug von schwarzem Humor. Er kroch aus dem Reisighaufen und hörte
Frank und Ben nachkommen. Mit weiten Sprüngen, die seinen Kreislauf ankurbelten und sein Blut in Wallung brachten, setzte er dem Karren nach und sprach den Fahrer an, der so sehr erschrak, daß er beim Hochfahren um ein Haar vom Wagen gestürzt wäre. Argwöhnisch musterte der Mann den Fremden. Seine Stirn umwölkte sich noch mehr, als er noch zwei unbekannte Männer neben seinem Karren auftauchen sah. »Guter Mann, sicher fahrst du nach Brüssel«, sagte Lintberg. »Wir wollen ebenfalls hin, sind aber nicht gut zu Fuß. Könntest du uns ein Stück des Weges bringen?« Eingehend musterte der Fahrer sie. Dann zeigte er mit dem Daumen hinter sich und brummte: »Wenn’s euch genehm ist!« Er betonte das so eigenartig, aber die Zeitreisenden achteten gar nicht darauf. Sie waren heilfroh, eine Fahrgelegenheit erwischt zu haben, die zwar alles andere als komfortabel war, die aber ihre Füße schonte und ihnen Ruhe gönnte. Eine reine Freude war die Fahrt nicht. Der Wind nahm an Schärfe zu und biß durch die Kleidung. Gegen Mittag langte der Mann mit seinem Ochsenkarren, seinem Knüppelholz und den drei Fremden in Brüssel an und wurde von der Stadtwache am Tor angehalten. Die Wache wurde von einem spanischen Offizier kommandiert, der die drei Fahrgäste auf dem Knüppelholz aus funkelnden Augen betrachtete. Der Karrenfahrer schien der Wache bekannt zu sein, denn niemand fragte ihn nach dem Namen und nach seinem Woher und Wohin. »Ich bringe wieder eine Ladung Holz«, sagte der Mann überflüssigerweise, denn daß er keinen Wein geladen hatte, war zu sehen. Der spanische Offizier hob die Hand und reckte drei Finger. Der Fahrer wandte sich um. Er hatte schon die Hand nach einer Knüppelholzwelle ausgestreckt. Aber nun starrte er seine drei Fahrgäste an, und plötzlich sagte er: »Werft drei Bündel runter, los. Sie bekommen das immer von mir. Sie heizen damit den Wachraum im Torturm.« Seine Stimme klang heiser. In seinen Augen war etwas, das die Zeitreisenden nicht zu deuten verstanden. Aber sie schalteten schnell. Jeder griff eine Holzwelle und warf sie vom Wagen vor die Wand der Tordurchfahrt. Der Spanier stemmte die Hände in die Seiten und grinste. Und einer seiner niederländischen Soldaten, die er befehligte, sagte zu dem Karrenfahrer: »Du hast dir gleich drei Gehilfen verschrieben. Jan? Das nenne ich tüchtig.« Er lachte roh. Lintberg schaltete nochmals blitzschnell und sagte: »Ja, er hat uns diesmal mitgenqmmen.«
Der Torwächter hielt sich an seiner aufgestützten Hellebarde fest. »Dann fahrt nur gleich zum Marktplatz. und beginnt mit der Arbeit.« Lintberg verstand zwar nicht, was sie beim Marktplatz sollten und welche Arbeit gemeint war, er hielt es aber für besser, freundlich zu nicken. Der Fahrer trieb sein mageres Ochsengespann an, und der Karren rumpelte durchs Tor nach Brüssel hinein. Die Stadt strahlte Wohlhabenheit und Reichtum aus. Die meisten Häuser besaßen kleine Glasfenster in Bleirahmen. Das war schon ein unerhörter Luxus. Die Mehrzahl der Häuser war in Fachwerkbauweise errichtet, unten schmal und oben breit, und es gab herrlich geschnitzte Balken mit Inschriften. So augenfällig der Reichtum aber war, so auffällig war auch die gedrückte, ja düstere Stimmung in der Stadt. Die Zeitreisenden sahen keinen Menschen lachen, sie hörten kein frohes Wort. Gesenkten Hauptes gingen die Bürger der Stadt ihrer Beschäftigung nach. Je naher der Karren dem Stadtmittelpunkt kam, desto häufiger waren Spanier zu sehen. Es waren nicht alles Soldaten. Etliche begleiteten spanische Damen auf dem Gang durch die Stadt, hatten aber fast immer eine Wache dabei. Die Spanier schienen der düsteren Stille und dem Frieden genausowenig zu trauen wie den niedergedrückten Burgern. Die Zeitreisenden bekamen eine ausgebrannte Kirche zu Gesicht, aus der Knechte und Helfer geborstene Steine und verbogene Eisengitter trugen und draußen hinwarfen. Lintberg kletterte nach vorne, tippte den Fahrer an und deutete auf die Kirehe. Der Fahrer nickte trübsinnig. »Das haben die Bilderstürmer im vorigen Jahr vollbracht. Alba hat dafür alle calvinistischen Prediger in der Stadt an einem Tag hängen lassen«, sagte er. Dann drehte er sich um, blickte Lintberg ins Gesicht und kniff ein Auge zu. »Seid ihr mit der dullen Griet gereist?« Lintberg fuhr betroffen zurück. »Wie kommst du darauf?« »Man redet von drei Engländern, die zu uns gekommen sind. Griet war diese Nacht in Malines, und auf dem Weg dort habe ich euch gefunden.« Der Mann grinste etwas einfältig. Aber das war er beileibe nicht. Den Mann konnte Lintberg nicht hinters Licht führen. Und für die Fahrt auf dem Karren war er ihm verpflichtet. Darum sagte er: »Nun, ich leugne nicht, daß wir auf unserer beschwerlichen Reise diese Frau getroffen haben. Aber wir haben nichts mit ihr zu schaffen. Wer ist sie überhaupt?« Der Fahrer kratzte sich am stoppelbärtigen Kinn. »Sie kommt aus Flandern, aber sie ist schon eine Weile hier in Brabant und treibt auf allen Wegen ihre Streiche. Man sagt, sie sei einmal der Bettschatz des Grafen Hoorn gewesen. Aber ob das stimmt?« Der Mann hob die Schultern. Dann wandte er sich seinem Gespann zu, das sich für ein paar Kohlköpfe zu
interessieren begann, die ein Händler auf einem Brett ausgelegt hatte. Rumpelnd rollte der Karren weiter. Es ging um ein paar Ecken herum und dann an einem Flußlauf weiter. Immer mehr bewaffnete Spanier waren zu sehen. Tercios mit Hellebarden, Armbrustschützen und Kavaliere mit umgehängten Stoßdegen. Die Häuser waren klein, sahen aber sehr malerisch aus. »Was ist das für eine Gegend hier?« fragte Lintberg. »Das ist der Sennetalboden«, gab der Fahrer zur Antwort »Es wird alles zu eng. Alba laßt eine Oberstadt bauen Er hofft wohl, für alle Zeiten bleiben zu können.« Lintberg schmunzelte verhalten. Sehr königstreu und spanienfreundlich klang das nicht gerade. »Du hast uns am Tor nicht verraten, obgleich du das hättest machen können. Warum?« »Bist du nicht damit zufrieden? Frag nicht. Die Wache hat euch für meine Gehilfen gehalten. Laß es dabei bewenden. Hier bist du mit deinen Leuten halbwegs sicher, aber hüte dich vor falschen Freunden. Der Vater kann nicht dem Sohn und die Tochter nicht der Mutter trauen. Verrat, Habgier und Haß sind die neuen Tugenden, die Alba uns gebracht hat.« Wieder wandte sich der Mann nach vorn. Die mit Unrat übersäte Straße war gesperrt. Eine Kompanie Armbrustschützen war aufmarschiert. Aus einem Haus zerrten Tercios einen Mann, den sie vor der Tür niederknüppelten und dann gebunden fortschleiften. Die Armbrustschützen blieben und hielten die zusammenströmenden Burger in Schach. Böse Blicke flogen zu den Spaniern hin. Aber niemand hob die Faust oder sagte ein schlimmes Wort. Zu mächtig war der Druck, den Alba und seine Soldaten ausübten. Durch den Umweg ergab es sich, daß die Zeitreisenden an einem herrlichen Palast vorbeikamen, um den herum es nur so wimmelte von Damen, Wachen, Kavalieren, Soldaten. Mönchen und Pferden samt Kutschen. Ein Soldat trat denn Karren entgegen, hob gebieterisch die Hand und wies ihn einen anderen Weg. »Ich nehme an, das ist das Palais Albas«, sagte Lintberg. »Das ist das Maison du Roi, das Haus des Königs«, sagte der Fahrer stolz. In der näheren Umgebung waren wundervolle Gebäude errichtet, und kunstvolle Schilder verrieten, daß sich hier die Kontore von Handelsherren und Tuchmanufakturen befanden. Oder befunden hatten. In diesem Bezirk waren die Straßen und Plätze gepflastert. Das sah zwar schön aus, bedingte aber eine höllische Holperfahrt. Die Pflastersteine waren sehr unterschied-
lich gesetzt, und ein Fußgänger konnte sich bei etwas Unachtsamkeit auch am hellen Tage den Fuß brechen. Nach einer halben Stunde gelangte der Fahrer mit seinem Gespann auf den Marktplatz, und er rollte zum wachsenden Unbehagen der Zeitreisenden genau in die Mitte, wo gewaltige Aschekreise und Feuerplätze zu sehen waren. Wachen standen herum. Als der Mann seine mageren Ochsen anhielt und abstieg, kletterten die durchgeschüttelten Zeitreisenden ebenfalls herab und schauten erst sich und dann ihren Fahrer an, der auf die Knüppelholzwellen zeigte. »Was soll denn das darstellen?« fragte Frank. »Das ist der Hinrichtungsplatz«, sagte der Fahrer Jan. »Ich bringe immer das Holz für die Scheiterhaufen. Ladet ab und verdient euch die Fahrt.« Lintberg, Frank und Ben fühlten sich verdammt unbehaglich. Wenn sie auch nur den Schimmer einer Ahnung gehabt hatten, wozu dieses Knüppelholz diente, sie hätten dankend auf die Fahrt verzichtet. Aber es war nun geschehen, und sie konnten es nicht rückgängig machen. Also luden sie ab und sahen mit steigendem Unbehagen, daß sich immer mehr Leute auf dem Platz einfanden, die zuschauten. Schließlich erschienen Stadtknechte, richteten Pfähle auf und begannen, um die Pfähle Holzstöße zu schichten. Unter der Leitung eines Mönches richtete ein anderer Trupp einen Schwellengalgen auf, der so beschaffen war, daß oben auf zwei senkrecht aufgestellten Balken ein Querholz kam. Ein Knecht lehnte zwei Leitern an, und ein anderer befestigte Seile mit einfachen Schlingen am Querholz, Lintberg schaute verwirrt um sich und sagte ächzend: »Ich furchte, mir wird schlecht. Laß uns verschwinden!« Das wollten Ben und Frank auch, doch zu ihrem Entsetzen sahen sie. daß die Ausgange des Platzes längst von Schaulustigen versperrt waren. Nur eine Straße war frei. Aber dort zogen jetzt Tercios auf. Von ferne erklang das dumpfe Rollen einer Trommel. Hilfesuchend wandte sich Lintberg an den Fahrer. »Willst du nicht verschwinden? Du kannst uns sofort mitnehmen.« Jan schüttelte den Kopf und schaute trübsinnig drein. »Das geht nicht«, sagte er. »Ich muß die Gehenkten wegkarren und auf den Schindanger werfen. Wenn ihr mir dabei aber helfen ...« Sehr energisch schüttelte Lintberg den Kopf, während er ganz blaß wurde. »Ausgeschlossen!« stieß er hervor. »Wir sind in Geschäften hergekommen.« Der Fahrer kratzte sich am bärtigen Kinn. »Geht vielleicht besser nach Norden«, sagte er schließlich. »Es geht die Kunde, daß Alba neue
Anweisungen vom König erhalten soll.« Lintberg hätte dem Manne bestätigen können, daß es in der Tat so war. Aber was wäre damit gewonnen gewesen? Der Trommelschlag war nähergekommen. In der von Tercios flankierten Straße tauchten Soldaten auf, ein paar Mönche in wallender Kutte und dann aneinandergefesselt Gefangene, die zur Hinrichtung geführt wurden. Mit Abscheu sahen die Zeitreisenden, wie sich die Fenster der umliegenden Häuser füllten. Auf einem Altan, vor dem eine besonders starke Wache aufgezogen war, nahmen Geistliche in roter Tracht Platz. Spanische Offiziere gesellten sich zu ihnen. Lintberg. Frank und Ben ließen Jan im Stich und drängten sich zu der Masse der Zuschauer und Neugierigen zurück. Sie versuchten, doch noch ein Schlupfloch zu finden. Aber die Menschen standen wie eine Mauer. Ein Durchkommen war unmöglich. Auf dem Platz hatten die Knechte des Scharfrichters das Regiment übernommen. Sie scheuchten die Stadtknechte herum, ließen da noch etwas richten, dort noch einen Holzstoß besser schichten und zwei Seile am Galgenholz neu binden. Die zum Tode Verurteilten schleppten sich zur Platzmitte. Manche konnten kaum noch gehen. Sie hatten zerquetschte Füße, und einer wurde sogar von Soldaten getragen. Was einmal seine Füße gewesen waren, waren jetzt nur noch blutige Klumpen. Zweien der armen Teufel hatte man die Nase und die Ohren abgeschnitten. Die Leute waren wohl alle durch die Folter gegangen, denn sie machten einen apathischen Eindruck, und es schien ihnen gleichgültig, daß man sie zu ihrer Hinrichtung brachte. In der Straße gab es plötzlich Unruhe. Sofort senkten die Tercios die Hellebarden und machten Front zu den sich drängenden Zuschauern. Armbrustschützen eilten herzu, um jeden Aufruhr im Keime zu ersticken. Ein Karren rumpelte aus der Straße auf den Platz. Ein Mann, dessen Gesicht von einem schwarzen Überwurf verhüllt war und der nur zwei Augenlöcher aufwies, lenkte den Karren, der mit einem räudigen Esel bespannt war. Hinten auf dem Karren stand an ein Holzgerüst aufrecht angebunden ein Mann, dessen Armesündergewand mit Blut besudelt war. Der Kopf des armen Teufels war blutverkrustet. Aus hervorquellenden Augen sahen die Zeitreisenden, daß es Lamme war, der in Malines das Haus des Paters angezündet hatte. In einem unvorstellbar schnellen Verfahren hatte man ihn noch in der Nacht oder am frühen Morgen verurteilt. Und man hatte ihn entsetzlich gefoltert. Das verrieten schon die Blutflecken, die sich überall auf seinem Büßerhemd ausbreiteten. Dazu hatte man ihm auch die Kopfhaare ausgerissen. Seine am Gitter
festgebundenen Arme waren zermalmt, und die Hände waren schwarz verbrannt. Lintberg wandte sich ab. Er konnte es nicht fassen, was man mit dem armen Teufel in der kurzen Zeit getrieben hatte. Der Karren rumpelte auf den Platz. Ein Stöhnen ging durch die Menge. Hinter dem Karren gingen drei ebenfalls vermummte Knechte. Einer trug ein Scharfrichterbeil in den Armen vor der Brust. Zwischen dem Galgen und dem Scheiterhaufen hielt der Henker den Karren an, sprang ab und erteilte seinen Knechten Befehle. Der mit dem Beil nahm nur Aufstellung. Die beiden anderen wuchteten einen Richtblock vom Karren, einen Holzklotz, der kaum kniehoch war, aber genauso breit. Sie trugen ihn zu dem Helfer mit dem Beil hin und setzten ihn vor seinen Füßen ab. Dann holten sie Lamme samt dem Gitter vom Wagen. Die zwei Burschen hielten das Gitter aufrecht, so daß jeder den armen Lamme sehen konnte oder das, was die Folterknechte aus ihm gemacht hatten. Aus der gedeckten Straße nahten Priester und Mönche. Im Gegensatz zu der bedrückten Menge aber schwatzten sie miteinander und waren sehr aufgeräumt. Ebenfalls im Gegensatz zum erbärmlichen Aussehen der Bürger waren sie alle gut beisammen, und mancher trug einen stattlichen Fettbauch vor sich her. Spanische Offiziere folgten. Einer hielt eine Schriftrolle in der Hand und wurde von einem Trommler begleitet. Die Priester und Mönche prüften ungeniert, wie der Wind auf dem Platze stand, und nahmen dann dort Aufstellung, wo sie von Rauch und Qualm der Scheiterhaufen nicht behelligt wurden. Der vermummte Henker ging herum und traf letzte Anordnungen. Dann wandte er sich den Mönchen und Priestern zu. Der Offizier mit der Schriftrolle trat vor, ließ einen Trommelwirbel schlagen und entrollte das Schriftstück. »Bürger der Stadt. Untertanen Seiner Allerhöchsten Katholischen Majestät Philipps II. von Spanien! Mit dem heutigen Tage sind alle Bewohner der Niederlande zu Ketzern erklärt und somit dem Tode verfallen. Im einzelnen …« Ein Murren erhob sich, erstarb aber sofort, als die Tercios mit gefällter Hellebarde gegen die Menschen rings um den Platz vorgingen. Der Offizier ließ sich durch diesen Zwischenfall nicht unterbrechen. Mit zynischem Lächeln und kühler Stimme verlas er den unmenschlichen Befehl Philipps, der jetzt durch Alba in Kraft gesetzt wurde. »Zum Teufel!« raunte Ben. »Ich habe gar nicht nachgedacht, welches Datum wir heute schreiben. Es ist wirklich der sechzehnte Februar. Die dulle Griet hat umsonst Kopf und Kragen riskiert! Zumindest ein Kurier ist
mit dem königlichen Befehl nach Brüssel durchgekommen!« Fassungslos und starr hörten die Menschen auf dem Platz, was alles unter Strafe gestellt war. Der Offizier verlas den Befehl zu Ende, rollte aufreizend langsam das Papier zusammen und trat ein paar Schritte zurück. Dann gab er dem vermummten Henker einen Wink. An einem Kohlebecken entzündeten die vielen Knechte Pechfackeln und steckten die Scheiterhaufen an, auf denen man die zum Feuertode Verurteilten an Pfählen festgebunden hatte. Man hatte den armen Sündern nicht einmal das Urteil verlesen oder ihre Namen aufgerufen. Man verfuhr mit ihnen, als seien sie lästiges Ungeziefer, das man vertilgen und darum einen gewissen Aufwand treiben mußte. Zwei der armen Teufel brüllten aus Leibeskräften, als die Flammen hochschlugen und ihnen das Büßerhemd auf dem Leibe verbrannten. Ein anderer hustete im Rauch qualvoll. Und wieder ein anderer legte einfach den Kopf auf die Seite und erwartete den Tod. Plötzlich straffte sich einer, rüttelte wie besessen an der Kette, mit der man ihn an den Pfahl gebunden hatte, und brüllte mit überkippender Stimme: »Alba, du Blutsäufer, der Satan soll dich elendig verrecken lassen! Alba, wo bist du? Hörst du meine Stimme? Ich verfluche dich, ich verfluche …« Ein Tercio eilte auf den Wink eines Priesters herbei und stieß dem Verurteilten die Hellebarde in den Hals. Blut spritzte über das Feuer hinweg, rann auch in die Flammen und verzischte. Ein anderer Sünder sang. Die Priester und Mönche waren zwar mit Kruzifixen an der Richtstätte erschienen, aber keiner von ihnen trat vor und hielt, wie es der Brauch war, den Verurteilten zur letzten Tröstung das Kruzifix entgegen. Der Haß des Königs gegen die Niederländer war zu groß geworden, und Alba war ein williger Vollstrecker des königlichen Befehles. Ein Holzstoß wollte nicht richtig brennen. So sehr die Knechte auch mit den Pechfackeln hantierten und in die kleinen Flammen bliesen, es wurde kein großes Feuer daraus. »Gottesurteil!« rief irgendwo eine Männerstimme, daß es weithin über den Platz schallte und noch das Wimmern der brennenden Männer übertönte. Einer der Priester machte eine wegwerfende Handbewegung. Aber einer der Henkersknechte holte vom Karren einen tönernen Krug und goß ihn über dem nicht angehenden Scheiterhaufen aus. Schwarzer Rauch quoll jetzt auf. Der Kerl hatte Öl über das Holz geschüttet. Auch auf solche Zwischenfälle war man eingestellt, wie sich daran zeigte. Nach wenigen Minuten brannten alle Scheiterhaufen lichterloh, und das Wimmern und Schreien erstarb. Der Rauch zog träge über den Platz, wurde an den
Hausfassaden hochgerissen und über die Dächer davongewirbelt. Jetzt wandte sich der Henker vier Gefangenen zu, die aus der Gruppe übrig geblieben waren. Er ließ sie von seinen Knechten zum Galgen schaffen. Der Henker legte dem ersten die Schlinge um den Hals, stieg die Leiter hoch und zerrte den armen Teufel hinter sich her die Sprossen hinauf. Als ihm die Höhe ausreichend erschien, stieß er den Verurteilten von der Leiter. Der Mann schwang weit hinaus und schaukelte heftig. Er zappelte im Todeskampf. Der Henker holte schon den nächsten. Er hängte alle Verurteilten an den Querbalken. Dem Manne, den zwei Soldaten getragen hatten und der teilnahmslos am Boden hockte, zerschlugen die Henkersknechte mit Eisenbarren die Glieder, und endlich legte ihm einer der Helfer ein Würgeeisen um den Hals und drehte langsam eine Schraube zu. Nach der sechsten oder siebten Umdrehung sank der Kopf des Verurteilten nach der Seite. In der Menge übergaben sich ein paar Leute. Es hatte nicht viel gefehlt, und Ben und Frank waren ihrem Beispiel gefolgt. Lintberg schaute dem fürchterlichen Schauspiel langst nicht mehr zu. Die gellenden Schreie, die er vernommen hatte, waren schon fast zuviel für seine Nerven gewesen. Lamme war noch übrig. Der Henker trat zum Richtblock und ließ sich feierlich das gewaltige Beil mit der großen Klinge überreichen. Seine drei Gehilfen banden Lamme vom Gitter los und schleppten ihn zu dem Richtblock, wo sie ihn auf die Knie warfen und seinen Kopf auf den Block drückten. Willenlos ließ der arme Lamme dies mit sich geschehen. In dem Augenblick aber, als der Henker kraftvoll das mächtige Beil über den Kopf zum Schlage hob, richtete sich Lamme auf und schrie mit gellender Stimme: »Verflucht sei der König und verdammt sein Statthalter …« Die Knechte stießen ihn erneut nieder. Einer hielt ihn bei den Haaren am langen Arm gepackt. Der Henker schlug zu und trennte Lamme den Kopf vom Rumpf. * Die Zuschauer verliefen sich, aber jetzt war der Platz von einem Murren angefüllt, das aus den Häusern und Fenstern, aus den Gassen und Straßen drang. Die Priester, Mönche, spanischen Herren und die Damen, die mitgekommen waren, verließen unter Bedeckung die Richtstätte. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um zu merken, daß die Volksseele im Aufruhr war und daß es leicht zu blutigen Überfallen kommen konnte.
Lintberg mußte von Ben und Frank in die Mitte genommen werden. Er sah krank und elend aus, und die beiden Ingenieure wollten nicht riskieren, unliebsames Aufsehen zu erregen, wenn Lintberg ihnen einfach zusammen klappte. Als sie in eine Gasse gingen, schauten Ben und Frank zurück. Stadtknechte rissen die Feuer auseinander, holten die verkohlten Leichen von den Pfählen, schnitten die Gehenkten ab und luden auch den mit dem Würgeeisen Hingerichteten und Lamme samt seinem Kopf auf den Karren von Jan. Ben und Frank waren nicht erpicht darauf zu erfahren, wo der Schindanger lag, zu dem Jan die Leichen hinfahren mußte. Sie sahen zu, daß sie möglichst weit weg von diesem Platz kamen. Sie hatten sich für diese Reise nicht mit großen Reichtümern ausstaffiert, aber das Geld reichte, um sich in einem Wirtshaus einzumieten, dessen Schlafkammer verräuchert und überfüllt war. Eine solche Kammer hatten sie nie zuvor gesehen. Es war schon ein kleiner Saal, dessen Wände holzgetäfelt waren. In diese Wände eingelassen gab es Schlafnischen in Form von Alkoven. Einige waren sogar mit einem Holzladen zu verschließen. andere besaßen nur einen Vorhang. Sie schafften Lintberg in so eine Nische, nachdem sie der Wirtin reichlich Geld für Logis und Kost gegeben hatten. Die Augen der Frau hatten begehrlich gefunkelt, als sie sah, daß die neuen Gäste noch weitere Goldstücke bei sich trugen. Aber sie hatte nichts gesagt. Lintberg wurde mit einem ordentlichen Schluck Wein gestärkt, der mehr Wasser als Rebensaft enthielt. Dazu hatte Ben von der Wirtin etwas Brot und Schafskäse gekauft. Im Verlaufe des Nachmittags kam Lintberg wieder halbwegs zu Kräften. Die Logisgäste, die in der Kammer weilten, hatten die ganze Zeit nur zugesehen, aber keine Anstalten getroffen, mit den Fremden in ein Gespräch zu kommen. Plötzlich stand die Wirtin in der Kammer und hielt eine Wachstafel in der Hand. Sie winkte Ben herbei und hielt ihm die Tafel hin. »Du hast noch nicht deinen Namen aufgeschrieben und den deiner Begleiter«, sagte sie und drehte sich dabei etwas in den Hüften. »Kannst du überhaupt schreiben, oder soll ich einen Schreiber kommen lassen?« »Natürlich kann ich schreiben«, sagte Ben und griff nach der Tafel. Er notierte drei erfundene Namen, die unverdächtig lauteten. Die Wirtin drehte die Tafel in der Hand und studierte die Schrift. Aber Ben wurde sehr schnell klar, daß sie nicht lesen und nicht schreiben konnte. Und weiter begriff er, daß die Frau noch etwas von ihm wollte, denn sie drehte sich immer noch in den Hüften. Er grinste sie an und fragte: »Beißt dich etwas, oder was ist los? Du
drehst dich dauernd. Ich will doch nicht hoffen, daß du in deinem Haus kleine Tiere hast, die einem das Blut abzapfen.« »Du bist stark«, meinte sie und drängte sich naher. Ben roch, daß sie Zwiebeln gegessen hatte. »Einen solch starken Gast hatte ich in der letzten Zeit nicht. Zum Winter ist es hier langweilig.« Jetzt geriet auch ihr ungeschnürter Busen unter der grobleinenen Bluse in Bewegung. Ben hatte für dieses Bild und dieses unverhohlene Angebot keine Verwendung. »Liebe Frau«, sagte er. »ich bin mit meinen Gefährten in Geschäften hier, und dabei wollen wir es bewenden lassen.« Sie lachte ordinär. »Vielleicht brauchst du was Jüngeres, eh? Läßt, sich machen. Du kannst Mieke haben. Sie schenkt den Wein aus.« »Wer ist Mieke?« fragte Ben verdutzt. »Meine Tochter«, sagte die Wirtin stolz. Moral war ihr weitgehend unbekannt, aber was eine Kupplerin war, das schien ihr geläufig. Und sie fand noch nicht einmal was dabei. »Ich habe auch für Mieke keine Virwendung«, sagte Ben frostig. »Du kannst ihr aber einen freundlichen Gruß bestellen, und nächstens soll sie kein Wasser in den Wein mischen.« Jetzt wurde die Wirtin böse. Aus diesem Geizkragen war wirklich kein zusätzliches Geld herauszuholen. Das war eine schmerzliche Erkenntnis, denn Geld liebte sie noch mehr als starke Burschen, die bei ihr Logis nahmen. Mit einem zornigen Blick rauschte sie hinaus. Als Ben zu Lintbergs Schlafnische zurückkehrte, in der Frank kauerte, sagte einer der Gaste: »Paß nur auf, daß sie dir keinen üblen Streich spielt. Sie hält es mit allen, die ihr nutzen können. Auch mit den Spaniern.« Langsam drehte Ben sich um und musterte den Mann Er war schon betagt und sein Bart war von weißen Fäden durchzogen. Aber er hatte hellblaue Augen, die gut waren. »Wie meinst du das?« fragte Ben vorsichtig. Der Mann streichelte seinen Bart und lächelte bis zu den Augenwinkeln hinauf. »Nun, ich sah euch heute am Richtplatz, und dort stand jemand hinter mir, der sagte, er komme aus Malines. Er erzählte eine verworrene Geschichte, von der ich nur so viel verstand, daß der arme Schelm, dem man den Kopf abschlug, dort einen spanischen Pater in seinem Haus verbrannte und daß er zur Bande der dullen Griet gehört. Und man erzähle sich in Malines, daß drei feine Herren aus England zur dullen Griet gestoßen seien. Die Beschreibung, die der Mann gab, trifft haargenau auf euch zu. Ich würde euch vorschlagen, in die Judengasse zu gehen und euch
anders zu kleiden. Tragt flandrisches Tuch und derbe Schuhe statt dieser Stiefel, das wird euch helfen, so Gott will.« Eingedenk der Warnung Jans vor falschen Freunden stellte sich Ben unwissend und sagte: »Ich kenne keine dulle Griet, und wir waren nie in Malines. Auch kommen wir nicht aus England. Wir wollen zusehen, ob wir hier einen Posten Spitzen aufkaufen können.« Der Alte lächelte wehmütig. »Da kommt ihr zu spät. Die meisten Manufakturen sind geschlossen, und was hier noch an Spitzen und Tuchen gemacht wird, bringen Schiffe nach Spanien. Ja, er plündert uns aus und leert uns die Taschen, wie es schlimmer kein Straßenräuber macht. Es ist ein wahres Kreuz.« »Dann wehrt euch doch!« sagte Ben heftig. Es rutschte ihm so heraus. Der alte Mann machte eine entsagende Handbewegung. »Wir sind Händler und Krämer, Kaufleute und Fabrikanten, aber Kriegsknechte sind wir nicht. Wir hätten auch keine Waffen. Nicht einmal Anführer und Soldaten, die uns in der Kriegskunst unterrichten. Zudem fehlt es an Geld. Aus England soll welches kommen. Auch Schiffe für unsere Wassergeusen hat man abgesandt, aber das ändert alles nichts.« »Ihr könnt doch nicht warten, bis irgend jemand das ändert«, sagte Ben grob. »Ändert es selber, und ihr werdet die Spanier laufen sehen können.« »Das wäre ein großer Augenblick, mein Freund. Aber ob wir ihn je erleben werden?« Er schaute bekümmert und fugte dann hinzu: »Vergiß nicht, was ich dir sagte. Geh in die Judengasse.« »Ich glaube nicht, daß wir das tun werden«, erwiderte Ben bockig. Als er sich jedoch abwandte und die Blicke der übrigen Gäste sah, nahm er sich doch vor, recht bald mit Lintberg und Frank loszuziehen, um ihre Kleidung umzutauschen. Sicher mußten sie noch etwas draufzahlen, aber das war es wohl wert, wenn sie sich dadurch mehr Sicherheit erkaufen konnten und unbehelligt blieben. Als Ben zum Alkoven kam, schauten ihm Frank und Lintberg neugierig entgegen. »Unser Signalement ist herum«, sagte Ben leise. »Ich verstehe nicht, wie sich das verhält, aber in Anbetracht der gespannten Lage in der Stadt und im Lande halten wir uns besser an die Tatsachen. Der Mann gab mir eine Adresse. Wir können in der Judengasse die Kleidung vertauschen. Vielleicht können wir damit unsere Beschreibung unterlaufen.« »Das sind vielleicht Neuigkeiten!« sagte Lintberg aufgeregt. »Uns hat doch in Malines niemand gesehen. Schön, der Nachtwächter, den ich an der Nase herumführte. Aber der hatte doch von euch keine Ahnung.« Ben und Frank schauten ihn an wie eine unverhoffte Erscheinung aus
dem Totenreich. Lintberg hatte den Finger genau ins Wespennest gesteckt. »Teufel noch mal!« sagte Ben. »Da ist tatsächlich was dran. Die Spanier, die vom Hof der Schenke flohen, können uns so genau gar nicht gesehen haben, daß es zu einer Beschreibung ausreicht. Da bleibt also nur die Bande der dullen Griet!« »Und sie selber!« fügte Frank hinzu. Ben rieb sich die Nase. »Mann, diese Möglichkeit habe ich gar nicht in Erwägung gezogen, sie ist aber die einzig vernünftige Erklärung! Die Kerle haben uns lange genug betrachten können. Sie wußten auch, daß wir in Malines waren. Oh, Pest und Verdammnis, das muß ich erst mal verdauen.« »Hinzu kommt die Sache mit Lamme, die einen so tragischen Ausgang nahm. In doppelter Hinsicht sogar.« Lintberg richtete sich auf. Seine Gedanken liefen auf Hochtouren, sein Verstand arbeitete präzise. Wenn jemand in der Klemme steckt, ist er immer zu großartigen Leistungen fähig. »Wir wissen nicht, wie Lamme erwischt wurde. Vielleicht war er unvorsichtig, und die Tercios haben ihn aufgegriffen. Er könnte aber auch verraten worden sein.« »Hören Sie nur auf!« sagte Ben schwach. »Ich habe das Gefühl, daß mein Kopf gar nicht mehr sehr fest auf dem Hals sitzt.« »Eins drängt sich mir auf«, sagte Frank. »Die dulle Griet hat eine faule Nuß im Nest«’ * Mieke war eine dralle Person. Sie war sogar hübsch und roch nicht nach Zwiebeln. Sie tischte den drei seltsamen Gasten, die jetzt am frühen Morgen zur Tür des Wirtshauses hereinkamen, ein Frühstück auf, das aus Speck und Brot und Käse bestand. Dabei bemerkte sie, daß sich die Männer im Aussehen sehr verändert hatten. Lintberg, Ben und Frank waren am Vortag nicht mehr in die Judengasse gegangen; sie hatten sich darauf beschränkt, die Umgebung des Wirtshauses zu sondieren, weil ihnen das vernünftiger erschien. Sie merkten auch bald, daß das ein weiser Entschluß war. Den Gang zum Kleiderhändler hatten sie an diesem Morgen gemacht. Sie waren an einen ehrwürdigen Mann geraten, der ihnen ein anständiges Gebot auf ihre Kleidung gemacht hatte. Im Gegenzug hatten sie derbes Tuchzeug bekommen und sahen nun schon mehr wie hiesige Leute aus, nicht aber wie Fremde. Lintberg hatte nur ein Goldstück bei dem Handel
draufzahlen müssen. Beide Teile waren mit dem Geschäft zufrieden gewesen. »Ihr habt euch herausgeputzt!« bemerkte Mieke und stellte einen Krug Wasser auf den mit Sand gescheuerten Tisch. Sand war das universelle Reinigungsmittel. Er fand sich überall, sogar auf dem Speck. Und der Fußboden der Wirtshausschenke war damit üppig bestreut. »Nun ja«, sagte Lintberg mit einem winzigen Lächeln, »uns ist zu Ohren gekommen, daß man uns für jemand hält, der wir gar nicht sind.« »Und dem habt ihr vorgebeugt?« vergewisserte sich Mieke. »Es sind arge Zeiten. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Das war eine unverfälschte Anspielung. Den drei Männern schmeckte das Frühstück nicht mehr besonders. Aber sie zwangen sich zu essen. Sie hatten dafür bezahlt, und sie mußten bei Kräften bleiben. Allein schon darum, weil es mit Kutschen und mit einer Reise darin schlecht bestellt war. Wie es aussah, würden sie doch wieder zu Fuß gehen müssen, wenn sie doch noch die Absicht faßten, nach Twee Bruggen zu gehen. Später erkundeten Lintberg, Frank und Ben die Stadt und hörten von neuen Greueltaten der Spanier. Überall in den Dörfern, Flecken und Städten brannten die Scheiterhaufen und wüteten die Henker, um all die verhängten Todesurteile zu vollstrecken. So genau die Zeitreisenden aber auch hinhorchten, sie konnten nichts von bewaffnetem Aufstand und einer gewaltigen Volkserhebung vernehmen. Die Burger der Provinzen ertrugen die Quälereien und Drangsale mit biblischer Geduld. Um die Mittagszeit trieb vom Richtplatz her wieder Rauch über die Stadt. Herzog Alba ließ auch hier in Brüssel getreu dem königlichen Befehl aus Spanien Ketzer, Abtrünnige und ungehorsame Untertanen hinrichten. Auf dem Rückweg zum Wirtshaus spürten die drei Männer plötzlich die Welle der Unruhe, die durch die Straßen und Gassen lief und sie überholte. Lintberg hielt einen Händler an, der vorsorglich seine Tuchware ins Haus hereinholte, und fragte ihn nach der Ursache. Der Mann bückte unwillig, sagte dann aber, als er die Männer gemustert und für unverdächtig befunden hatte: »Alba hat Egmont und Hoorn in Haft nehmen lassen. Es heißt, er läßt ihnen den Prozeß wegen Hochverrats machen. Jetzt ist wohl alles aus.« Er klemmte sich den nächsten Ballen Samt unter den Arm und verschwand in der Türöffnung. »Also wenn sie jetzt nicht aufwachen, dann weiß ich auch nicht, womit man diese elenden Krämerseelen in Schwung bringen kann!« sagte Ben grimmig. »Die hocken herum, jammern und klagen und halten gehorsam
den Buckel hin, damit man ihnen die Schläge aufzählen kann. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.« »Regen Sie sich wieder ab!« riet Lintberg. »Denen gehen auch noch die Augen auf.« * Im Wirtshaus angekommen, erfuhren sie aus dem Munde eines Gastes, der hier ebenfalls Logis genommen hatte, daß Alba durch Ausrufer hatte verkünden lassen, daß ab sofort auch Besitz und Vermögen eines zum Tode Verurteilten zur Gänze der spanischen Krone verfiel und unverzüglich konfisziert wurde. Der Mann schlug mit der Hand auf den Tisch, daß der Weinbecher umfiel und der Sand sprang. Sein Gesicht war vom Ärger und vom Wein gerötet. »Und nicht nur das – die Witwe oder die Kinder müssen nun auch noch den Henker bezahlen. Und dabei bleibt ihnen gar nichts, denn man nimmt ihnen ja fort, was noch da ist. Wann findet sich endlich jemand, der dem Blutsäufer die Brandfackel ins Schloß wirft und ihn verrecken läßt?« Der Wutausbruch des Mannes nahm gefährliche Formen an. Der Bursche redete sich um Kopf und Kragen, wenn er so weitermachte. Und er brachte alle in Gefahr, die ihm zuhörten, statt ihm was aufs Maul zu geben oder die Tercios zu rufen. Mieke hatte im Hintergrund Wein verpanscht und jedes Wort vernommen. Sie warf einen scheelen Blick herüber und verließ den Raum durch eine rückwärtige Tür. Ein paar Minuten später kam sie mit der Mutter zurück. Diese kam zum Tisch, nahm dem Mann mit dem geröteten Gesicht den Becher weg und sagte giftig: »Frans, du einfältiger Esel, du bringst Unglück über mein Haus! Pack dich und laß dich hier nicht mehr sehen!« Ihren Wirtsknecht hatte sie zur Verstärkung gleich mitgebracht. Als der Gast, den sie mit Frans angeredet hatte, heftig aufbegehren wollte, packte der Hausknecht ihn beim Kragen und schmiß ihn vor die Tür in den Unrat der Gasse. »Und ihr Narren hättet erst gar nicht zuhören sollen!« fauchte die Wirtin danach die Zeitreisenden an. »Wenn es herauskommt, werfen sie mich ebenfalls in den Kerker. Und ich mag keine Ratten leiden, die es dort geben soll.« Das war natürlich ein Argument, wenn auch ein sehr abwegiges. Bei der Tür gab es Krach. Der Gast Frans kam herein und schlug dem Hausknecht die Faust ins Gesicht, daß der zwischen die Tische flog und
am Boden liegenblieb. »Du flandrische Dirne, du verdorbenes Miststück!« schrie Frans in Richtung Wirtin. »Gib mein Geld heraus, das ich für zwei Nächte bezahlt habe.« Um die Mundwinkel der Wirtin grub sich ein böser Zug. »Du Lump hast mich nicht bezahlt! Scher dich hinaus, oder ich lasse dir von den Stadtknechten das Fell gerben!« Frans warf wütend und ergrimmt einen Tisch um, verprügelte einen völlig unbeteiligten Gast, der nicht mehr rechtzeitig entwischen konnte, und verschwand endlich. Aber draußen hatte es schon einen Auflauf über all dem Lärm und Krach gegeben. Zwei Tercios von der Stadtwache waren auch dabei. Die Spanier waren in Brüssel allgegenwärtig. Einer der Kerle kam herein und erkundigte sich nach der Ursache des Zankes. Mit kundigem Blick betrachtete er dabei den Hausknecht, der sich gerade vom Boden erhob, einen Zahn ausspuckte und den Sand aus dem Gesicht rieb. Und er betrachtete die Verwüstung, die umgeworfenen Tische und den verprügelten Gast, der sich in eine Ecke geflüchtet hatte und mit zwei Fingern seine blutende Nase zuhielt. »Er hat mein Geschäft ruiniert!« lamentierte die Wirtin. »Seht euch das nur an. Und er hat auf den König geschimpft und gesagt, jemand müsse eine Brandfackel werfen und Herzog Alba verbrennen. Jawohl, das hat er gesagt, das kann ich beschwören. Ich habe ihn sofort hinauswerfen lassen, aber er kam zurück.« Der Spanier grinste maliziös und irgendwie verächtlich, wandte sich um und verließ grußlos den Raum. Ben eilte ihm nach und wurde Augenzeuge, wie Frans von den Tercios gepackt und fortgeschleppt wurde. Er fühlte, wie ihm speiübel wurde. Für Frans gab es keine Rettung, das hatte er schon gelernt. Dabei wäre die ganze Sache mit ein paar vernünftigen Worten noch einzurenken gewesen, wenn … Ja, wenn die Wirtin nicht so verdammt geldgierig gewesen wäre. Ben war davon überzeugt, daß sie den armen Teufel, dem der schlechte Wein ein wenig den Verstand umnebelt hatte, nur darum den Spaniern ausgeliefert und ihn angeschwärzt hatte, um nicht das vorausbezahlte Geld herausrücken zu müssen. Mit den Bürgern war es schon weit gekommen, daß sie sich gegenseitig umbrachten. Die Stimmung der Zeitreisenden blieb durch diesen Zwischenfall gedrückt. Daran änderte auch der freundliche alte Herr mit dem Bart
nichts, der nach einiger Zeit von Geschäften aus der Stadt zurückkehrte und sehr wohlwollend das veränderte Aussehen der drei Männer zur Kenntnis nahm. Er setzte sich an den Tisch und meinte: »Nun denn, ihr habt meinen Ratschlag befolgt, und das nenne ich klug gehandelt.« Dann verlor er kein Wort mehr über die Sache und führte am Nachmittag die drei Männer ein wenig in der Stadt herum und erklärte ihnen so manches Gebäude und wer einmal darin gewohnt hatte. Sie kamen auch in die Nähe des Maison du Roi, wo Alba residierte. Und mehr zufällig wurden sie dort Zeuge einer Ausfahrt des Blutherzogs. Ein richtiger Hofstaat in prächtiger Kleidung verteilte sich auf Kutschen und Pferde. Danach geriet die Leibwache ins Blickfeld. Und dann kam Alba und ließ sich zu einer schwarzen Kutsche geleiten. Lmtberg, Ben und Frank hätten ihn kaum erkannt, wenn ihr Begleiter sie nicht aufmerksam gemacht hätte. Ben rieb sich über die Augen. Dieser Düsterling mit der schwarzen Kleidung, den engen Beinkleidern, dem dunklen Wams, dem schwarzen Mantel und dem schwarzen Federhut sollte der Blutherzog sein, der grausame Generalstatthalter Philipps in den Niederlanden? Alba war schlicht im Vergleich zu seinen Hofleuten angezogen. Eine düstere Ausstrahlung ging von ihm aus. Dieser Eindruck wurde auch nicht durch den grauen Spitzbart gemildert, der von seinem Kinn herabhing. Über dem Mund hatte Alba einen Oberlippenbart, dessen Enden weit herabhingen. Das Gesicht wirkte verkniffen. Die Augen blickten streng und unduldsam und waren erfüllt von einem vernichtenden Feuer. Alba ließ sich in die Kutsche geleiten. Man zog die Vorhänge zu, nachdem der Schlag geschlossen war. Die Leibwache umringte die Kutsche. Berittene zogen auf und eskortierten die schwarze Kutsche über den Platz. Der lärmende Hofstaat zog voraus. Tercios sorgten rücksichtslos für eine freie Straße und trieben Burger, Gespanne und Reiter hart an die Häuser zurück. »Er fährt zur Oberstadt hinauf«, erklarte der freundliche alte Mann. »Da ihm die Bürger der Stadt kein Denkmal setzen werden, kümmert er sich selber darum. Er läßt für seine Verwaltung schöne Häuser bauen. Manche meinen allerdings auch, da werde noch ein zusätzlicher Kerker errichtet, in den die besonderen Gefangenen geliefert werden.« Ben hörte den Erläuterungen des Mannes nur mit einem Ohr zu. Er hatte das ungute Gefühl, plötzlich beobachtet zu werden. Unauffällig schaute er sich um. Er studierte die Gesichter der Leute, die jetzt wieder über den Platz gingen. Es war kein bekanntes darunter. Aber
das wollte nichts besagen. Er musterte auch die Gestalten und hoffte, daraus Schlüsse ziehen zu können. Er fand nicht heraus, wer ihn und seine Begleiter beobachtete. Aber das Gefühl blieb. Darum drängte Ben zur Umkehr. Sie schauten ihn alle drei verwundert an, doch Ben gab keine Erklärung für seinen Wunsch. Den Rückweg gestaltete er, und er schlug so viele Haken, daß es sogar dem freundlichen alten Mann unheimlich wurde. Er fragte aber nicht, denn er hatte ohne Zweifel verstanden, was die Manöver zu bedeuten hatten. Noch vor dem Wirtshaus sagte Ben: »Hier trennen wir uns. Jeder schlägt sich durch, ohne große Umwege zu machen. Wir haben einen Schatten, und ich mochte verdammt gerne herausfinden, wer das ist.« »Hast du einen Verdacht?« fragte Frank flach. »Nicht die Bohne! Ich komme mir vor wie ein Blinder, der im Stroh stochert und hofft, ein Getreidekorn zu finden!« gab Ben zurück. Er wartete, bis Lintberg, Frank und der alte Mann einzeln fortgegangen waren und aus seinem Blickfeld verschwanden. Ben ließ sich viel Zeit. Er betrachtete die Häuser und die Krämer mit ihrer Auslage und schaute immer wieder zurück. Er sah jedesmal andere Leute. Aber da war immer noch dieses Gefühl, dieses Wissen, unentwegt angesehen zu werden. Noch einmal blieb er stehen, ging um einen Tisch mit Lederzeug herum und schaute in die Richtung, aus der er jetzt gekommen war. Ein Tercio kam auf der anderen Straßenseite mit geschulterter Hellebarde daher und hielt eine Frau an, die ihm nicht schnell genug ausgewichen war. Ben verspürte keine Neigung, sich da einzumischen. Er ging weiter. Das Gefühl, jemand hinter sich zu haben, begleitete ihn. Kurz entschlossen trat er in eine schmale Gasse, machte zwei Schritte zurück und spähte um die Hausecke auf die Straße. Der Tercio kam schon wieder daher. Er hatte die Frau nicht festgenommen, und sie konnte froh sein, so billig davon gekommen zu sein. Ben wollte seinen Augen nicht trauen, als der Tercio plötzlich über die zerfurchte Straße kam und auf die Gasse einschwenkte. Weiter hinten sah Ben im selben Augenblick einen weiteren Spanier. Etwas an dem Kerl gefiel ihm nicht, denn blitzartig war der Verdacht da, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Ben grübelte, während er sich umdrehte und in die Gasse rannte, was seine Beine hergaben. Er kam an einer engen Einfahrt vorbei, sah einen Garten und dahinter eine andere Gasse, durch die ein Karren fuhr. Ohne lange zu überlegen, sauste Ben hier hinein, stolperte über welke Sträucher und winterhartes Gewächs, setzte über einen Zaun und flitzte durch die andere Ausfahrt auf die Gasse.
Keuchend blieb er stehen und riskierte einen Blick zurück Er glaubte, der Schlag müsse ihn treffen, als er drüben im Garten den Tercio herumrennen sah, der ziemlich kopflos hinter kniehohe Gerümpelhaufen schaute und in einem Kellerloch stocherte. Jetzt tauchte auch noch der Spanier auf. den Ben weit hinten in der Straße beobachtet hatte. Der Kerl kam ebenfalls in die enge Einfahrt und sagte etwas zu dem Tercio. Der schulterte seine Hellebarde und hob die Achseln. Ben konnte nicht verstehen, was geredet wurde. Dafür war das Stimmengewirr in seiner Gasse zu laut. Und gerade fuhr auch wieder ein Karren vorüber und vollführte einen gewaltigen Krach. Der Lärm schien den beiden Spaniern aber die Erleuchtung zu bringen, denn sie hoben den Kopf und blickten herüber. Und dann setzten sie sich in Bewegung und kamen erst mal bis zum Zaun. »Gar nicht so dumm, diese Burschen!« brummte Ben und beobachtete voll fieberhafter Ungeduld. Ein Gegner, dessen Verhalten man studiert hatte, war nur noch eine halbe Gefahr. Die zwei Kerle blickten jetzt auf den Boden. Meine Fußstapfen im Boden! schoß es Ben durch den Kopf. Er beobachtete den Tercio, der Anstalten traf, über den Zaun zu steigen. Die Hellebarde war ihm hinderlich. Er warf sie herüber und kletterte dann mühsam über die Äste. Der andere aber, der kein Soldat war, sondern ein gutgekleideter Kavalier, scheute diese Mühe der Hindernisüberwindung. Er kehrte um und verließ den Garten. Jetzt funkte es bei Ben. Diesen Mann hatte er schon mal gesehen. Ganz flüchtig nur, und genaugenommen hatte der Kerl mehr ihn angesehen als umgekehrt. Das war vor ein paar Tagen gewesen, als die zusammengehauene Eskorte der Spanier mit den Insassen der Kutsche vom Hof der Landschenke geflohen war und als er, Frank und Lintberg in diesem verdammten feuchten Acker gesteckt hatten. Dieser Kerl mit seinen stechenden Augen hatte vor einem Tercio auf einem Pferd gesessen, und er hatte böse blickend herübergeschaut. Pest und Schwefel! dachte Ben. Er hat mich irgendwo und irgendwie in der Stadt bemerkt und ist mir mit diesem Tercio gefolgt! Wären wir besser nicht überall herumgegangen. Jetzt weiß er, daß wir hier sind! Er wird nicht ruhen, bis er uns gefunden hat! Ben gab seinen Beobachtungsplatz an der Gassenmündung auf, denn der Tercio war schon bedenklich nahe gekommen. Er tauchte zwischen den Menschen unter und gelangte auf weiten Umwegen zum Wirtshaus, wo er Lintberg und Frank samt dem alten Mann in begreiflicher Aufregung vorfand. Ben zwang sich zu einem unverbindlichen Grinsen und meinte, als sie über ihn herfielen: »Ich bin doch tatsachlich vom Weg abgekommen. Es
hat etwas gedauert, bis ich mich durchgefragt hatte.« »Und was ist sonst noch dabei herausgekommen?« fragte Lintberg. »Ich muß mich geirrt haben«, gab Ben zur Antwort. »Es war nichts.« * Erst am Abend, als sie unten beisammensaßen und der freundliche alte Mann schon in seiner Schlaf nische in der großen Kammer lag, sagte Ben ohne Vorwarnung: »Man ist hinter uns her. Erinnert ihr euch an den Kerl aus der Kutsche bei der Schenke, der so finster hersah, während wir im Acker steckten?« »Der ist hinter dir her?« fragte Frank ungläubig. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« »Ich wünschte, ich hätte mich geirrt. Wir müssen dem Kerl bei unserem Stadtgang irgendwo günstig vor die Füße gelaufen sein. Günstig für ihn natürlich. Er hat uns einen Tercio angehängt. Ich Narr habe erst auf einen Bürger getippt, bis mir dann doch ein Licht aufging.« »Beim einen leuchtet’s eben früher und beim anderen später«, spottete Frank. »Was kann der Kerl uns anhängen wollen?« »Denk an die Toten, die der Überfall gekostet hat, und denk an Lamme und wie es ihm erging«, sagte Ben gedämpft, aber heftig. »Mit diesem neuen Gesetz kriegt er uns an den Hammelbeinen. Wir sind Mitwisser, Mitverschwörer, vielleicht sogar Mitglieder der Bande. Wir haben nichts unternommen, um den Überfall zu vereiteln, und wir sind den Spaniern nicht beigesprungen, als sie Haare lassen mußten. Wenn das noch nicht ausreicht, dann weiß ich auch nicht!« »Waren es nur diese beiden?« fragte Lintberg. Er machte ein sehr ernstes Gesicht. »Soweit ich das feststellen konnte – ja. Lange können wir uns hier nicht mehr halten«, sagte Ben. »Sie werden herumfragen und uns früher oder später finden.« »Dann verlassen wir morgen die Stadt«, entschied Lintberg. »Und zwar zum Ende des Marktes, wenn die Bauern und kleinen Händler wieder aus der Stadt hinausdrängen. Ich sehe darin unsere Chance. Verdammt, nun hat uns auch unsere veränderte Kleidung nicht vor einem drohenden Malheur bewahren können.’ Über diese Worte dachte Ben noch lange nach, als er zusammengerollt wie ein Igel in seiner Schlafnische lag. Hatte vielleicht jemand den Spaniern einen Hinweis gegeben?
Die Wirtin? Oder Mieke? Oder gar der freundliche alte Mann, der in der Stadt irgendwelchen Geschäften nachging, über die er sich bisher nicht ausgelassen hatte? * In der Nacht wurde Ben munter, ohne daß er hätte sagen können, was ihn geweckt hatte. Er lag eine Weile ganz still und lauschte. Drüben an der anderen Wand knarrte eine Holzlade. Ben walzte sich herum und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Wegen seiner Korperlange mußte er mit angewinkelten Beinen schlafen Die Blutzirkulation war unterbrochen worden. Vielleicht bin ich davon wach geworden, sagte sich Ben. Er hängte die Beine aus der Nische und spürte das Prickeln und Kribbeln, als Leben in die Gliedmaßen zurückkehrte. Aber so ganz traute er der Sache doch nicht. Er erhob sich, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch die drei Fenster fiel minimale Nachthelle herein. Sie reichte aber aus, um ihn die leere Sehlafnische des freundlichen alten Mannes erkennen zu lassen. Der Alte! schoß es Ben durch den Kopf. Was hatte Jan gesagt, der Fahrer mit dem Knüppelholz? Vor falschen Freunden solle man sich hüten! Dieser Alte war sehr freundlich gewesen und sehr hilfsbereit, und es war seine Idee gewesen, am Nachmittag in der Stadt herumzuspazieren. Die Stadt etwas zeigen, was? Es hätte nicht viel gefehlt, und Ben hatte böse aufgelacht. Der hat uns was gezeigt, aber er hat uns zudem jemandem gezeigt! So war das und nicht anders! Wo steckt der Kerl jetzt? Ben tappte zur Tür und schaute auf den Gang. Da war niemand. Er konnte auch niemand hören. Vielleicht war der Alte hinten zum Wirtshaus hinaus und bekam gerade seinen Lohn ausgezahlt. Ben sah, daß keine Zeit zu verlieren war. Wenn sie bis zum Morgen blieben, dann standen vielleicht schon die Tercios in der Gasse und warteten darauf, daß sie aus der Tür spaziert kamen. Als Ben zu seiner Schlafnische zurückkehren wollte, sah er drüben neben dem mittleren Fenster eine Bewegung. Zugleich spürte er, daß dort jemand stand. Und dann hörte er auch den flachen Atem. So atmete kein Schläfer, sondern jemand, der nicht auf sich aufmerksam machen wollte. Ben war zu allem bereit, auch dazu, jeden bei den Hörnern zu packen, der ihm verdächtig vorkam. Er ging hinüber zum Fenster und wäre um ein Haar vor Überraschung auf den Hintern gefallen, als er sah, wer dort in das
wenige Licht trat und eine hastige Handbewegung zum Fenster hin machte. Es war der freundliche alte Herr, der sein Unterzeug anbehalten hatte wie alle Schläfer hier. »Ja?« hauchte Ben. »Was gibt es?« »Da unten steht jemand«, gab der alte Mann genauso leise zurück. »Ich wurde vor einiger Zeit wach. Irgend etwas bedrückte mich. Zufällig ging ich ans Fenster und sah den Kerl da unten stehen.« »War das wirklich nur Zufall?« fragte Ben angriffslustig. Der Mann konnte ihn doch nicht für dumm verkaufen! »Eine besondere Gabe vielleicht«, meinte der alte Mann. »Glaube mir, ich bin darum so alt geworden, weil ich eine Gefahr erkennen kann.« So gesehen stimmte die Sache natürlich wieder, aber Ben blieb vorsichtig. Er trat an das Fenster und schaute hinab auf die Gasse. Nur dieses mittlere Fenster besaß einen Glaseinsatz. Die beiden anderen waren mit geöltem Papier ausgespannt. Sternenlicht fiel in die Gasse und drüben auf die Häuser. Neben der Tür des gegenüberliegenden Hauses stand ein Mann, der Kleidung nach jemand vom Lande, und schaute unverwandt herüber. Das Gesicht wurde vom bleichen Sternenlicht getroffen. Der Mann kam Ben bekannt vor. Er hatte ihn schon einmal gesehen. Es fiel ihm auch schnell ein, wo das gewesen war – ebenfalls im Hof der Schenke! Es sah allmählich so aus. als würden sich alle Leute von damals in Brüssel ein Stelldichein geben! Was wollte der Kerl in der Gasse? Warum stand er da drüben und starrte unverwandt herüber? Der Bursche hatte zum Haufen der dullen Griet gehört. Wenn Ben sich nicht sehr täuschte, dann war er Jacob genannt worden. Er war der Kerl gewesen, der zu den Toten hingezeigt hatte, als Griet nach dem flandrischen Tuchweber Nikiaas gefragt hatte »Hm«. meinte Ben. als er merkte, daß der freundliche alte Mann noch immer neben ihm stand. »keine Ahnung, was das bedeuten soll. Vielleicht kenne ich den Kerl auch. Wer kann das schon bei diesem Licht sagen. Legen wir uns besser wieder hin und pflegen der Ruhe.« »Ja, das wäre vernunftig.« Der alte Mann tappte auf nackten Füßen zu seiner Schlafnische und kroch hinein. Ben blieb noch sehr lange am Fenster stehen. Nach einer Stunde erst ging Jacob davon. In der Zeit dazwischen war kein Mensch durch die Gasse gekommen. Auch nicht der Nachtwächter. Aber Ben konnte nicht sagen, ob der überhaupt durchging. In den großen Städten hockten die Nacht-
wächter meist auf den Kirchtürmen und den Mauertürmen und behielten von da aus ihre Stadt im Auge. * Der Morgen begann mit einer unangenehmen Überraschung besonderer Art. Die Wirtin polterte mit Mieke und dem Hausknecht in die Schlafkammer und weckte die Gäste durch lautes Lamentieren. Verschlafene Köpfe mit verquollenen Augen tauchten aus den Nischen auf. »He, was soll das, Gevatterin?« schimpfte jemand. »Ein neues Unglück ist über uns hereingebrochen«, zeterte die Wirtin. »Ich komme gerade vom Markt, und was muß ich unterwegs vom Ausrufer hören, der in aller Herrgottsfrühe schon herumgeht? Alba hat ein neues Dekret verfügt. Jetzt zieht er uns die Haut bei lebendigem Leib ab!« Auch Ben war munter geworden und hatte die letzten Worte der Frau vernommen. Da er ihre Geldgier kannte, nahm er sogleich auch an, daß dieses Dekret mehr mit Geld zu schaffen hatte als mit einer neuen Todesstrafe. »Und was will er jetzt noch, nachdem er schon alles hat?« fragte jemand schlaftrunken. Die Wirtin schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte greinend: »Von allem beweglichen und unbeweglichen Besitz erhebt er eine einmalige einprozentige Vermögensteuer, von jedem verkauften Grundeigentum den zwanzigsten Pfennig, und von jeder verkauften beweglichen Ware sogar den zehnten Pfennig. Ich muß euch zusätzlich etwas abverlangen, sonst bin ich ruiniert. Ihr müßt das verstehen.« Die Gäste verstanden es nicht und nannten in seltener Übereinstimmung die Wirtin eine elende Halsabschneiderin. Nachdem der Ärger über diese unverschämte Nachforderung verraucht war, ging den Leuten erst richtig auf, was durch Albas Dekret alles auf sie zukam. Sie lebten ja fast alle vom Handel, und die Gewinnspannen waren nicht sehr reichlich bemessen. Wenn die Wirtin sich keinen bösen Schelmenstreich zum frühen Morgen ausgedacht hatte und die Nachricht stimmte, dann waren sie alle miteinander ruiniert, die sie vom Krämern und Handeln, vom Kaufen und Verkaufen lebten. Die Wirtin verzog sich samt Tochter und Hausknecht, und die Logisgäste fuhren in ihre Oberkleidung und ins Schuhwerk und schossen ungewaschen und ungekämmt bei der Tür hinaus, um in der Stadt zu erfahren, ob es wohl seine Richtigkeit mit diesem Dekret Albas hatte.
Lintberg, Frank und Ben sahen sich plötzlich als Übriggebliebene. Auch der alte freundliche Mann war mit verbitterter Miene davongeeilt. Ben schabte sich am stoppelbärtigen Kinn. Sehr wohl fühlte er sich so nicht, aber es war allgemein Brauch, sich nicht jeden Tag den Bart abzukratzen. Nachdenklich sagte er: »Professor, ich habe das nicht ganz verstanden. Was ist mit dem zwanzigsten Pfennig gemeint?« »Das sind fünf Prozent, und der zehnte Pfennig sind sogar zehn Prozent«, erklarte Lintberg. »Wenn Alba diese Abgaben aus dem Land herauspreßt, dann ist das Land für alle Zeiten erledigt.« Sie kleideten sich an und gingen in den Schankraum, wo einige Gäste weilten. Gerade kamen die ersten aus der Stadt zurück. Ihre düstere Miene verriet, daß die Wirtin sie nicht mit einem Narrenstreich gefoppt hatte, sondern daß die Nachricht bitterernst war. Einer der Männer schlug mit der Faust auf den Tisch. »Er wird einen Goldstrom nach Spanien lenken, der verdammte Blutsäufer. Aber es wird natürlich alles zum Lobe der Kirche und des Königs sein und zu beider Wohlergehen. Da bin ich doch lieber türkisch als päpstlich!« Die Wut war größer als alle Vorsicht, denn alle stimmten ihm zu. Aber plötzlich verstummten die aufgebrachten Männer und wandten sich der Tür zu. In der Öffnung stand mit wieselflinken Augen Jacob aus der Bande der dullen Griet und spähte umher wie eine Elster auf Raubzug. Ben machte eine knappe Kopfbewegung in Richtung Tür. »Ich sah ihn diese Nacht in der Gasse stehen, aber ich dachte mir schon, daß er heute kommen würde.« »Will der zu uns?« wunderte sich Lintberg. »Das können wir annehmen«, sagte Ben lächelnd und schnitt sich einen Streifen Speck von dem ab, was Mieke auf den Tisch setzte. Jacob schaute jetzt herüber. Er hatte die drei Männer ausgemacht. Er winkte erst verstohlen und dann heftiger und auffälliger. Die Zeitreisenden reagierten nicht. Endlich faßte sich Jacob ein Herz und kam zwischen den Tischen hindurch. Allmählich kam die Unterhaltung wieder in Gang, aber niemand schimpfte jetzt noch über Alba, den König, die katholische Kirche und die neue Abgabe. Jacob blieb am Tisch der Zeitreisenden stehen und grinste sie an. Sein borstiges Haar stand ihm unter seiner Kappe hervor. »Ich grüße euch, ihr Herren«, sagte er höflich. Und dann hockte er sich ungezwungen und unaufgefordert neben Frank auf die Steinbank und sagte so leise, daß es am Nebentisch bestimmt nicht mehr zu verstehen war: »Die Griet schickt mich, denn ihr seid die Herren, die den Spaniern in Malines die Pferde fortschafften, daß sie die meisten erst zum Morgen
einfangen konnten und zwei überhaupt nicht mehr fanden. Ich kenne euch, ich habe euch schon gesehen. Die Griet schickt mich, weil sie jetzt Leute braucht; die mehr können als Pferde forttreiben. Ich soll euch nach Twee Bruggen bringen. Zum Pfeifer, sagt sie.« Ben grinste. Die Sache ließ sich also doch noch an. Jetzt hatte die dulle Griet wohl erkannt, daß sie Leute mit Verstand benötigte und nicht solche Narren wie Lamme, der mit Feuer das halbe Land ausgeleuchtet hatte. Lintberg machte ein verschlossenes Gesicht, und Frank futterte von dem Speck und behielt seine Meinung von dieser Wende der Dinge für sich. »Du hast uns doch nicht zufällig gefunden?« fragte Ben kauend. »Ich habe überall herumgefragt«, gestand Jacob und schaute etwas einfältig. Himmel, steh mir bei! dachte Ben. Haben wir vielleicht diesem Tropf zu verdanken, daß die Spanier schon auf unseren Fersen sind? Hat er mit seiner Fragerei schlafende Hunde geweckt? »Dann hast du aber ein frühes Tagwerk begonnen«, sagte Ben leichthin. Aber es war eine geschickt gestellte Falle. »Bewahre«, sagte Jacob und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich suche euch seit gestern, und da traf ich den Fuhrmann Jan und hörte, daß drei Leute mit ihm fuhren, die nur ihr sein konntet. Jan hat hier ein paar Freunde, und einer von denen wiederum meinte, daß ihr in der Hirschkuh abgestiegen sein könntet, denn er hätte hier drei Leute wie euch gesehen. Ich bin hergekommen und habe mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, aber es ging kein Licht an, und es kam auch keiner spät nach Hause, so daß ich euch hätte herausbitten lassen können.« Ben grinste jetzt sehr freundlich. Jacob nahm es mit der Wahrheit wohl sehr genau. Auch wenn dafür seine Rede etwas umständlich ausfiel. »Und warum will Griet uns plötzlich haben?« fragte Lintberg unfreundlich. Jacob setzte ein geheimnisvolles Gesicht auf und beugte sich über den Tisch. Mit Verschwörerstimme sagte er, nachdem er vorsorglich nach rechts und links geblickt hatte, ob es auch keine ungebetenen Zuhörer gab: »Es geht los, sagt Griet. Etwas braut sich zusammen. Aus England ist viel Geld gekommen, und Schiffe sind jetzt auch da. Willem von Oranien zieht alle Leute zusammen, die er bekommen kann. Wir fangen von See her an, aber zuvor müssen wir in den Norden hinauf, und Griet will, daß ihr mit uns kommt. Engländer seien jetzt sehr nützlich.« Das klang alles sehr einleuchtend und logisch. »Nun, das freut uns außerordentlich«, sagte Ben und verzog das Gesicht,
als er unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein kassierte. Er schaute Frank ins Gesicht. Der Tritt konnte nur von ihm gekommen sein, denn er saß gegenüber. Aber Frank verriet durch nichts, ob er zugetreten hatte. Er kaute genüßlich am Speck. »Und wann soll die Reise beginnen?’’ erkundigte sich Lintberg. »Ich denke, zur Nacht wäre der rechte Zeitpunkt«, meinte Jacob. »Wir lassen uns über die Mauer hinab, ich kenne eine gute Stelle, an der uns keiner sieht.« »Hoffen wir das«, sagte Ben. »Dein Vorschlag deckt sich allerdings nicht mit unseren Plänen. Wir wollen schon zur Mittagszeit fortgehen und uns unter die Marktleute mischen. Es wird ja keiner so genau hinsehen, wenn sich eine Masse Leute aus dem Tor quetscht.« In Jacobs Augen war plötzlich ein sonderbarer Ausdruck. Er schüttelte den Kopf und sagte leise: »Darauf würde ich mich nicht verlassen.« Vor der »Hirschkuh«, dem Wirtshaus, wurde eine Trommel geschlagen. Ein Mann verkündete mit rollender Stimme das Dekret des Herzogs Alba betreffend die neuen Abgaben. Gewalttätige Flüche wurden draußen laut. Waffen klirrten. Sicher führten die Tercios schon wieder einen armen Schlucker ab. Jacob erhob sich flink. »Dann also bis zum Abend. Ich komme her und führe euch.« Er hatte ein gewaltiges Vertrauen in seine Überzeugungskraft, denn seine Worte verrieten, daß die drei Männer wohl mit ihm gehen würden und nicht mit den Marktleuten. »Wann wird das sein?« fragte Lintberg reserviert. »Nach Einbruch der Dunkelheit«, sagte Jacob. »Eine Stunde später ungefähr, wenn die Stadtwachen noch nicht herumziehen.« Frank zog einen Speckstreifen durch die Zahne und sagte ganz überraschend: »Du weißt ja, was passiert, wenn man uns erwischt. Für uns können wir vielleicht sorgen, aber was dann aus dir wird, weiß allein der Himmel! Hast du schon gehört, daß sie Lamme erwischt haben?« Ein tiefes Erschrecken ging über Jacobs Gesicht. »Ich habe es gehört«, sagte er dann hastig. Er hatte sich sehr schnell gefangen. »Der Himmel sei seiner armen Seele gnädig!« »Das macht ihn aber nicht lebendig«. erwiderte Frank. »Wie konnte das nur geschehen? Haben sie ihn in Malines bekommen?« »Müssen sie wohl«, sagte Jacob. Gespannt warteten die Zeitreisenden darauf, daß er ihnen Einzelheiten mitteilte. Doch er schwieg. Dieses Thema schien ihm gar nicht zu gefallen.
Er machte sich in großer Eile davon und ließ die unangenehm berührten Männer am Tisch zurück. »Was soll man nun davon halten?« fragte Ben. »Gehen wir mit ihm, oder schlagen wir uns auf eigene Faust durch?« »Wir werden sehen«, meinte Lintberg. »Noch ist es nicht Mittag. Sehen wir uns mal in der Stadt um.« »Damit wir wieder diesen Spanier auf dem Hals haben?« brummte Ben. »Ich bin dagegen.« »Das macht gar nichts, denn ich bin dafür«, sagte Frank. »Und zusammen mit dem Professor ist das die Mehrheit.« * In der Stadt war der Teufel los. Tercios rannten mit gesenkten Hellebarden durch die Straßen. Beim Markt, der gerade auf Anordnung Albas aufgelöst wurde, erfuhren die Zeitreisenden, daß auf ein Fähnlein Soldaten in Sichtweite der Stadt ein Überfall ausgeführt worden war. Nicht ein Tercio war entkommen. Die aufständischen Niederländer hatten sie bis zum letzten Mann nieder gemacht. Als Repressalie ließ der Blutherzog fünfzig Bürger der Stadt, die wahllos aufgegriffen worden waren, auf der Richtstätte enthaupten. »Jetzt ist er völlig wahnsinnig geworden’«, sagte Lintberg betroffen. »Er schlägt blindwütig um sich. Kein Wunder, daß die Leute ihn mehr hassen als die Pest.« Frank und Ben sagten nichts. Sie sahen die Rauchwolken, die vom Richtplatz heraufzogen. Jeden Tag brannten dort die Scheiterhaufen, jeden Tag wurde gehenkt, erwürgt und enthauptet. Heute waren es fünfzig Hinrichtungen zusätzlich geworden. Als die Zeitreisenden am Gefängnis der Inquisition vorbeikamen, sahen sie, daß dort Männer und Frauen im Büßerhemd auf drei Karren getrieben wurden. Man band sie fest und fuhr sie hinunter zur Hinrichtung. Die Spanier rasten, der Klerus leistete Beihilfe. Albas Rache für das erschlagene Fähnlein Soldaten war fürchterlich. »Ich möchte am liebsten mit dem Paralyzer dazwischenhauen«, sagte Ben zähneknirschend. Lintberg faßte ihn am Arm und zog ihn mit sich fort, bevor Ben sich zu einer unbedachten Handlung hinreißen ließ. Der Gestank vom Richtplatz herauf wurde unerträglich. Die Zeitreisenden kürzten ihren Stadtgang ab und sahen, daß es allmählich lebensgefährlich wurde, sich noch auf der
Straße zu zeigen. Tercios zogen in Gruppen herum. Da und dort holten sie Leute aus den Häusern und schleppten sie fort. Weder Lintberg noch Ben oder Frank konnten bei den Offizieren ein Papier sehen, das erklärt hätte, ob die Festnahmen nach einem bestimmten Plan erfolgten oder ob es willkürliche Gewaltakte waren. »Ich kann kein System darin erkennen«, sagte Frank. Sie gingen schneller, um die Gassen zu erreichen, in denen die Spanier noch nicht hausten. Ben sah plötzlich den Spanier mit dem stechenden Blick, den er gestern entdeckt hatte. Es war eine verteufelte Situation, denn sie standen schon in der Gasse, in der die »Hirschkuh« lag. »Er ist wieder da!« raunte Ben. »Zehn Meter hinter uns.« Lintberg und Frank hatten sich großartig in der Gewalt. Sie drehten sich nicht um. Der Professor fragte nur: »Ist er allein, oder hat er eine Eskorte dabei?« »Er ist allein. Der Kerl will sicher nur herausfinden, wo wir untergekommen sind«, sagte Ben. Sie gingen weiter, als hätten sie keine Ahnung von ihrem Verfolger. Und sie marschierten munter an der Tür der »Hirschkuh« vorbei. Es wäre wohl auch alles gut abgelaufen, wenn nicht in diesem Moment die Wirtin herausgekommen wäre. Sie rief den Männern einen Gruß zu und ging dann mit ihrem Henkelkorb die Gasse hinab. Ben schaute ihr nach. Natürlich – der Spanier hielt sie an und redete auf sie ein. »So, jetzt weiß der Kerl, woran er ist«, sagte Ben heiser. »Verdrücken wir uns gleich, oder warten wir, bis man uns abholen kommt?« »Was macht er?« wollte Lintberg wissen. Ben drehte sich langsam um. »Er geht weg. Das verstehe ich nicht.« »Was verstehen Sie nicht?« fragte Lintberg. Seine Stimme klirrte ganz leicht. Das war das einzige Anzeichen für die Spannung, unter der er stand. »Dort sind Tercios, fast ein Dutzend«, erklärte Ben. »Er hätte sie nehmen und herkommen können. Aber er ging vorbei. – Jetzt ist er aus der Gasse.« »Der spielt wohl Katz und Maus mit uns, was?« knurrte Frank. »Verschwinden wir besser aus der Stadt, solange wir noch hinauskönnen.« Lintberg blieb abrupt stehen. Frank und Ben prallten gegen ihn. »Was ist denn nun?« brummte Frank unwillig. »Die Frau!« sagte Lintberg heiser. »Welche Frau?« Ben und Frank schauten an Lintberg vorbei. Es war Griet. Sie kam die Gasse entlang und hatte einen staunenden Ausdruck im Gesicht. Ihre Überraschung währte nur kurz. Sie blieb stehen und sagte: »Das nenne ich Fügung. Ihr kommt mir gerade recht.«
Ben grinste sie an. »Ja, wir hörten schon, daß wir mit hinauf nach Norden sollen.« Griet schaute ihn an, als hätte er den Verstand nicht beisammen. »Nach Norden?« fragte sie. »Was sollen wir jetzt im Norden? Wir werden hier gebraucht.« Ben hatte eine besondere Witterung für gefährliche Situationen und Entwicklungen. »Zum Teufel, aber Jacob sagte doch, wir sollen mit ihm nach Twee Bruggen, um dich dort zu treffen!« sagte er. Griets Mund wurde ganz schmal. »So, sagte er das? Er will euch hinbringen?« »Natürlich. Er kommt uns diese Nacht abholen.« Lintberg griff sich an den Hals, als er das sagte. Die Geschichte gefiel ihm immer weniger. »Von eurem Wirtshaus?« Die drei Männer nickten. Griet hatte die blanke Hölle in den Augen, als sie sagte: »Gut, dann wartet, bis er kommt. Aber es geht nicht nach Norden. Wir wollen diese Nacht die Grafen Egmont und Hoorn und einige andere befreien. Alba hält sie hier gefangen.« »Das ist ganz unmöglich«, versuchte Lintberg ihr das auszureden. »Das schafft ihr niemals.« »Warte es ab«, erklärte sie. »Diese Nacht erhebt sich das ganze Land, Albas flämische Garde meutert, und diese Verwirrung nutzen wir, dringen in den Palastkerker ein und vollenden unser Werk.« Sie warf den Kopf hoch und ging vorbei. Lintberg schaute ihr kopfschüttelnd nach. Nach einer Weile sagte er: »Immerhin sind die Leute aufgewacht. Daß sie als Ketzer zum Tode verurteilt wurden, hat sie nicht aufgeschreckt. Jetzt aber, da es an ihr Geld und ihr Vermögen geht, werden sie rabiat. Ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, daß Albas flämische Garde, die er sich zu seiner spanischen Leibwache hält, ohne ersichtlichen Grund gemeutert hat. Aber nun blicke ich durch. Ich bilde mir das jedenfalls ein.« »Lassen Sie uns an Ihrem Durchblick teilhaben?« fragte Ben düster. »Stellt euch vor, eine Garde aus Albas nächster Umgebung meutert! Das wiegt so schwer wie ein Anschlag auf den Blutherzog. Und was für ein Durcheinander das erst gibt! Natürlich, das ist die Gelegenheit. In der allgemeinen Verwirrung können schon ein paar Tollköpfe versuchen, in die Palastkerker vorzudringen und Egmont, Hoorn und andere befreien.« »Nur gelingt ihnen das nicht«, sagte Ben.
»Das wissen wir, aber die Leute, die es planen, wissen es nicht. Ich bin sehr gespannt, wie die Sache ausgeht.« Frank zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne. »Die Frau scheint ein wichtiges Bindeglied zwischen den Aufständischen im Norden und den hohen Gefangenen zu sein. Mir gefiel nicht, wie sie plötzlich dreinschaute, als wir ihr von Jacob erzählten.« »An der Sache ist etwas faul«, erklarte Ben. »Ich weiß nur noch nicht genau, aus welcher Ecke der Gestank kommt.« * Aus dem ganzen Land trafen Schreckensnachrichten ein. Die Spanier wüteten fürchterlich und reizten die Niederländer bis aufs Blut. Es wurde schon davon gesprochen, daß die katholischen und protestantischen Bewohner des Landes Hand in Hand gegen die Spanier kämpfen wollten. Die Zeitreisenden blieben im Wirtshaus und hörten die Nachrichten von Leuten, die von den Straßen und Gassen flüchteten. Ben schaute zwischendurch immer wieder vor die Tür. Er rechnete jeden Augenblick mit dem Auftauchen des Spaniers und einer Gruppe Tercios. Als der Abend kam und sich eine geradezu beängstigende Stille über die Stadt senkte, war der Spanier immer noch nicht aufgetaucht. »Hört ihr’s?« fragte Lintberg. »Ich höre gar nichts«, sagte Ben unwillig. Lintberg nickte. »Das ist die Stille des Todes.« »Oder die Ruhe vor dem Sturm.« Die angekündigte Stunde verging quälend langsam. »Ob er kommt?« fragte Frank. Ben hatte die letzten Minuten unentwegt zur Tür gesehen. Er drehte sich mit einem verstehenden Grinsen plötzlich zu Frank um und sagte: »Er ist da. Wenigstens ist er darin zuverlässig.« Lintberg und Frank schauten zur Tür. Jacob war eingetreten, das borstige Haar stand unter seiner Kappe hervor. Er grinste, aber es sah nicht überzeugend aus, denn in seinen Augen war ein gehetzter Ausdruck Er kam auch nicht weiter herein. Er winkte ganz knapp. Ben stemmte sich hoch. »Dann wollen wir mal sehen, wer gelogen hat – Griet oder er!« Er ging zur Tür, und Lintberg und Frank folgten ihm. Jeder hatte die Hand unter dem Wams und hielt den Griff des Paralyzers umklammert.
Jacob war schon vorausgegangen. Er wartete in der Gasse. Und er war allein. Es gab keine Falle und keinen Hinterhalt. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er nur und ging rüstig voran. Er bewegte sich an den Hauswänden entlang. Sie kamen aus der Gasse, gelangten auf die Straße und wenig spater auf einen größeren Platz. Ben lauschte immer wieder. Doch er hörte nichts. Jacob schlug die Richtung zum Sitz des Statthalters ein. Ben sagte plötzlich zu dem Mann: »Freund, ich denke, wir wollen zur Mauer! Aber du führst uns wohl geradewegs zu Alba, was?« Jacob schnitt eine Grimasse und hielt den Mund. Sie gingen weiter, dem Mittelpunkt der Stadt zu. Endlich konnten sie den Palast sehen und die üblichen Wachen, die dort aufgezogen waren. Der Platz davor lag verlassen. Jacob trat hinaus und forderte die drei Zeitreisenden auf, mit ihm zu kommen, als sie zögerten. Ben spurte in diesem Augenblick wieder die Nähe einer Gefahr. Er blieb stehen. Das rettete ihm und Lintberg wie auch Frank das Leben. Im Sitz des Statthalters erhob sich plötzlich großer Tumult. Waffen klirrten, Männer brüllten, Türen wurden geschlagen. Aus einer Gassenmündung quollen im gleichen Augenblick Männer mit schlechter Bewaffnung. Die Zeitreisenden erkannten ein paar Gestalten. Es waren Leute der dullen Griet. Und die Frau war auch dabei. Griet hatte für dieses wahnwitzige Unternehmen Verstärkung beschafft. Sie hatte ungefähr fünfzig Leute bei sich, die jetzt die Wachen vor dem Palast überrannten und versuchten, sich Zugang zu verschaffen. Jacob begann plötzlich gehässig zu lachen. Im selben Moment hörten die Zeitreisenden hinter sich und aus einigen anderen Gassen, die auf den Platz mündeten, die hastigen Tritte vieler Soldaten und das Klirren von Waffen. »Zurück!« brüllte Ben. »Verrat! Kehrt um! Es ist alles verraten!« Er hatte die niederträchtige Falle jetzt erkannt, in die Jacob sie geführt hatte. Und er begriff zugleich auch, daß Jacob die geplante Befreiung der Grafen Egmont und Hoorn an die Spanier verraten hatte Im Palast und im Vorhof tobten heftige Kämpfe. Ben erkannte, daß Griet und die Männer ihn gar nicht gehört hatten. Die Wut ließ ihm das blanke Wasser in die Augen schießen. Alles umsonst! Der Aufstand der flämischen Garde im Sitz Albas, der todesmutige Kampf der fünfzig Männer, die versuchten, in die Kerker einzudringen – alles vergebens. Die flämische Garde opferte sich, um Verwirrung zu schaffen. Nur nützte dieses Opfer keinem. Aus einem Seitentrakt stürmte
eine Kompanie Armbrustschützen und eilte den bedrängten Wachen im Vorhof zu Hilfe. Unter den Bolzen der Schützen fielen die Männer der Reihe nach. Todesschreie gellten durch die lärmerfüllte Nacht. Gefangene wurden drüben fortgeschleppt. Die Zeitreisenden sahen, daß auch Griet darunter war. Sie sahen ihren Rock im Fackellicht flattern und hörten ihren Fluch, der Alba galt. Dann wurde sie in eine Tür gezerrt. Aus den Gassen quollen jetzt spanische Garden, und hinter den Zeitreisenden waren die Tercios schon beängstigend nahegerückt. Lintberg warf sich mit einem Schrei herum und feuerte mit dem Paralyzer, was das Gerät hergab. Jacob rannte mit grotesken Sprüngen über den Platz. Ben brachte die Waffe auf ihn in Anschlag. Bevor er jedoch abdrücken konnte, wurde Jacob vom selben Schicksal ereilt, das er seinen ehemaligen Freunden durch schändlichen Verrat bereitet hatte. Die Tercios kreisten ihn ein. Ein Offizier befehligte sie. Der Mann kam den Zeitreisenden und besonders Ben sehr bekannt vor. Es war der Kerl, der ihnen bis zur »Hirschkuh« gefolgt war und der ihnen zuvor schon einen Schatten angehängt hatte. Mit zufriedener Stimme rief der Mann: »Fällt die Hellebarden!« Die Tercios folgten dem Befehl und stießen zu, als Jacob bei ihnen war. Sieben, acht Eisenspitzen stießen in seine Brust. Der Verräter sank gar nicht zu Boden. Er blieb in den Stoßwaffen hängen. Ben und Frank wandten sich ab und halfen Lintberg, der einen Fluchtweg freischoß. Erst als sich in der Gasse nichts mehr rührte, stellten sie das Feuer ein. Sie warteten in sicherer Deckung einige Zeit, ob es jemandem gelungen war, dem Gemetzel drüben im Sitz des Statthalters zu entkommen. Aber niemand konnte sich durchschlagen. Egmonts und Hoorns Befreiung war durch Verrat gescheitert, und viele Männer hatten dieses todesmutige Wagnis mit dem Leben bezahlt. * In dieser Nacht, die so ruhig begonnen hatte, erhoben sich die Bewohner des Landes. Die Nachricht vom Blutbad in Brüssel schien sich mit Windeseile zu verbreiten. Die Niederländer waren aufgewacht. Lintberg, Frank und Ben hielten sich noch zwei Tage in Brüssel versteckt. Sie hofften darauf, etwas von den wenigen Gefangenen zu hören, die man fortgeschleppt hatte. Aber sie konnten nichts in Erfahrung bringen. Von Griet und ihren Männern hörte man nie wieder etwas. Und Egmont und Hoorn und viele andere blieben im Kerker.
Schon bald würde der Henker kommen, um sie zum Richtplatz zu führen und ihnen den Kopf auf den Block zu drücken. Lintberg seufzte, als sie sich in der dritten Nacht mit viel Glück davonmachen konnten und überall am Himmel den roten Widerschein von Feuerbränden sahen. »Es war ein Fehler, daß dieser Jacob eingeweiht war. Er hat alle seine Freunde in den Tod geführt«, sagte er. »Wenn ich daran denke, daß es ihm mit uns auch um ein Haar gelungen wäre, bekomme ich eine eiskalte Wut«, sagte Ben rauh. »Unser Leben war kein rostiges Stück Eisen mehr wert.« »Wir sind davongekommen, und wir wissen jetzt, warum Egmont und Hoorn nicht befreit werden konnten«, sagte Lintberg. »Seien wir froh, daß die Stadt mit allen Greueltaten hinter uns liegt.« ENDE
In vierzehn Tagen erhalten Sie die Zeit-Kugel Nr. 72:
Die Schlange auf dem Thron Sie war eine schillernde Persönlichkeit – Maria Stuart, Königin von Schottland. Sie führte ein Leben in Saus und Braus, strebte nach noch mehr Macht und Luxus und nahm es mit der Moral nicht sehr genau. Sie hatte viele Liebhaber, und ihr war jedes Mittel recht, um sich Abwechslung zu verschaffen. Sie überredete sogar einen ihrer Favoriten zu einem folgenschweren Attentat – der Mann sprengte einen Turm mit Marias Mann in die Luft. Diese Frau war nicht das arme Weib, das schließlich sein Leben von der Hand des Henkers verlor. Maria Stuart war ein Teufel. Reisen Sie mit dem Team von der Zeit-Kugel an den schottischen Königshof und erleben Sie mit, wie Maria mit ihren Untertanen verfuhr und welches Leben sie wirklich führte.
Zeit-Kugel-Post Liebe Zeit-Kugel-Freunde! Unser Leser Kai Riedemann, Ahrenloherstraße 300, 2082 TorneschAhrenlohe, schreibt uns heute: Seit meinem letzten Brief ist wiederum so viel Zeit verstrichen, daß ich unmöglich auf jeden Roman einzeln eingehen kann. Deshalb also zunächst nur einige Notizen zu besonders interessanten Bänden. 48: Der Todeshauch des Pharao – Meiner Meinung nach einer der besten ZK-Bände bisher. Spannend und logisch geschrieben, mit interessanten Ideen (»erweiterte Ausrüstung« der Zeitreisenden) und vor allem ohne jene Schilderungen von Brutalität und Grausamkeiten, wie sie in einigen anderen Bänden überhandnehmen. 54: Gestrandet im Mammutland – Der Roman an sich ist gut. Vor allem geht Einsenhuth hier etwas vom eingefahrenen Schema »Ankunft-Abenteuer-Abreise« ab. Die geschilderten Ereignisse in der Eigenzeit der Zeitreisenden sind eine willkommene Abwechslung. »Nessi« hingegen hat mich etwas enttäuscht. Die Idee, eine Frau ins ZK-Team aufzunehmen, ist zwar gut, aber einfach eine ehemalige Mitarbeiterin Lintbergs aus dem Hut zu zaubern, ist nicht gerade originell. Trotzdem sollten Sie den einmal eingeschlagenen Weg auch konsequent weitergehen und Vanessa Carpenter nicht einfach wieder in der Versenkung verschwinden lassen. 65: Die Gasse im Meer – Einer jener Romane, die sich mehr oder weniger mit biblischen Themen (Arche, Sodom und Gomorrha) befassen. So interessant das auch sein mag, so gefährlich ist es auch. Diese Themen sind einfach zu komplex, zu tief im Dunkel der Geschichte verborgen und wohl auch zu emotionsbeladen, um innerhalb einer SF-Heftserie zufriedenstellend abgehandelt zu werden. Hinzu kommt noch, daß Kurt Brand seine Romane mit unnötig viel Hokuspokus aufputscht, so daß auch jeder kleinste Keim der Ernsthaftigkeit zunichte gemacht wird. Daß es auch ohne solche Effekte geht, zeigt Band 65 deutlich. Noch ein Wort zu einigen Ihrer Autoren: P. Eisenhuth dürfte zweifellos einer der besten und fleißigsten ZK-Autoren sein. Vor allem gelingt es ihm gut, die Stimmung der jeweiligen Zeitepoche einzufangen. Einzige Schwäche: Wenn er zuwenig Stoff zu haben glaubt, »zerredet« er seine
Romane. Jene Wortduelle zwischen Ben Hammer und Prof. Lintberg, wie sie z. B. auf den ersten Seiten des Bandes 61 vorkommen, wirken auf die Dauer doch etwas monoton. Was sich bereits bei den letzten SF-Romanen Brands bei Erber und Kelter abgezeichnet hat, tritt bei seinen ZK-Bänden besonders deutlich hervor: sein scheinbar neuentdeckter Hang zur Gruselstory. Im Gegensatz zu Eisenhuth, der alles »übernatürliche« nüchterner und wissenschaftlich fundierter behandelt, wimmelt es bei Brand (teilweise übrigens auch bei G. Merz: Merlin etc.) von Unmöglichkeiten, die allen Naturgesetzen hohnsprechen. Die »Wiedererweckung« Lintbergs von den Toten ist schon einmal angesprochen worden, aber auch das Ende seiner Jeanne-de-Arc-Story oder der Zauberer Andras Glorez in Band 62 sind Beispiele dafür. Ab und zu einen »Gruselroman« in der ZK-Reihe lasse ich mir gefallen – aber eben nur ab und zu. Hinzu kommt, daß Brand im Laufe des Romans Fragen und Rätsel aufwirft, die am Schluß keine passable Lösung finden (Band 53: die Rettung durch Intha z. B. wirkte wie das berühmte Kaninchen aus dem Hut), oder Andeutungen macht, die rückblickend ohne Sinn sind (der Hinweis auf einen zweiten BathorySiegelring in Band 62 z. B.). Übrigens: Wenn Ihre Autoren so weitermachen, dann wird in nicht allzu langer Zeit Opa Lintberg mit einem dicken, alten Ben und einem in Ehren ergrauten Frank durch die Höhepunkte der Geschichte humpeln. Rechnen Sie doch mal zusammen, wieviel Zeit die drei bereits in der Vergangenheit verbracht haben! Einige Beispiele: Band 25 – 2 Monate, Band 46 – 3 Monate; mehrere Wochen dauerte der Aufenthalt wohl auch in den Bänden 29, 30, 37, 39, 47, 53, 56, 60 und 62! Vorschlag: Führen Sie eine Art »relative Zeitverkürzung« bei Aufenthalten in der Vergangenheit ein; in einem Monat könnten die drei Zeitreisenden um subjektiv eine Woche altern. Redaktion: Wir haben uns die Anregungen zu Herzen genommen. Dr. Vanessa Carpenter wird nicht in der Versenkung verschwinden. Ihre Einführung als ehemalige Mitarbeiterin von Lintberg erschien uns zweckmäßig, denn sonst hätten wir unter Umständen einen »Aufbau«-Roman bringen müssen. Die Gruseleffekte in der ZK bauen wir gegenwärtig wieder ab, da sie auf zu viel Kritik gestoßen sind. Der Vorschlag mit der »Zeitverkürzung« bei Reisen in die Vergangenheit hat heftige Diskussionen in der Redaktion
ausgelöst. Wir haben demokratisch abgestimmt und auch unsere Autoren befragt. Das Ergebnis: Wir wollen die vom ZK-Team in der Vergangenheit »verlebte« Zeit unberücksichtigt lassen. Als Anhaltspunkt hierzu dienten die theoretischen Erörterungen dieses Problems in H. G. Wells »Zeitmaschine«. Dort gibt es diese sogenannte Zeitverkürzung für den Zeitreisenden auch nicht. Bis in vierzehn Tagen! Ihre Zeit-Kugel-Redaktion