Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 684 Hexenkessel Alkordoom
Durchbruch nach Crynn von H. G. Francis
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 684 Hexenkessel Alkordoom
Durchbruch nach Crynn von H. G. Francis
Mission im Reich der Hexe Zulgea
Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Der Grund für diese Maßnahme der Kosmokraten ist, daß Atlans Dienste an einem anderen Ort des Universums viel dringender benötigt werden als im Reich der Kranen. Neuer Einsatzort des Arkoniden ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage stellt. Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in Alkordoom zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen jedoch Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch gerät der Arkonide in die Gewalt der Crynn‐Brigadisten – und ihm droht die Auslöschung seiner Persönlichkeit. Aber Atlan wird rechtzeitig genug von Celestern gerettet, Nachkommen entführter Terraner, die den Arkoniden in ihre Heimat New Marion bringen. Und als Atlan von einer Gefahr erfährt, die den Bewohnern des Planeten droht, greift er ein. Er verhindert die Vernichtung dieser Welt, nimmt es auf mit dem Fragmentwesen und sammelt ein paar Helfer, um der Facette Zulgea von Mesanthor das Handwerk zu legen. Und er startet mit ANIMA, dem lebenden Raumschiff zum DURCHBRUCH NACH CRYNN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide kehrt nach Crynn zurück. Arien Richardson und Flora Almuth ‐ Atlans Begleiter. Paul Namarro ‐ Geheimagent der Celester auf Crynn. Czloth, Parc, Overfan und Macker ‐ Namarros Mitverschworene. Ronic ‐ Ein Schlangenwesen.
1. Die Frage war, wo sich das Pyramidon der Facette befand. Falls es das Pyramidon überhaupt gab. Paul Namarro stand am Fenster eines kleinen Raumes im 43. Stockwerk eines Hochhauses und blickte auf die Gebäude der Stadt hinab. Cornos galt als die schönste Stadt des Planeten Crynn. Sie lag auf dem schmalen Bogen der Landbrücke Ermyot, die die beiden Kontinente Trayman und Mels miteinander verband. Die Häuser waren überwiegend aus einem weißen Stein erbaut, der auf dieser Landbrücke gewonnen wurde. Sie leuchteten wie Juwelen im Licht der Sonne Kahrmacrynn. Es läßt sich nicht leugnen, daß sich die Urbanisationsexperten eine Menge haben einfallen lassen, dachte Paul Namarro. Die Zweckmäßigkeit, nach der Cornos errichtet wurde, ist jedenfalls auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Das viele Grün überdeckte das wahre Gesicht dieser Stadt. Dabei könnte man hier durchaus angenehm leben – wenn die Integrale nicht wären. Er wandte sich um und blickte das hagere Wesen an, das ihm gegenüber hinter einem geschwungenen Arbeitstisch saß. »Wir haben einen Engpaß bei den Faserspeichern«, erklärte er. »Wie oft soll ich das noch wiederholen? Geht denn in deinen Schädel nicht hinein, daß irgendein Computer versagt haben muß, ohne daß ein Schaltfehler ausgewiesen wurde? Tatsache ist, daß die Produktion von Wespen der Schiffsklasse MCT‐238 in spätestens
drei Tagen ruhen wird, wenn du nichts unternimmst.« Das Wesen hinter dem Arbeitstisch ließ nicht erkennen, was es dachte oder fühlte. Mit glitzernden Augen schien es in alle Winkel des Raumes zu blicken, nur nicht dorthin, wo Namarro stand. Typisch Grayoner, dachte dieser abfällig. Man kann mit ihnen reden wie mit geistig Minderbemittelten, aber sie begreifen dennoch nichts. Was zum Teufel macht so einer überhaupt in einer Position wie dieser? Der Grayoner ruhte auf drei Stühlen gleichzeitig. Sein Rumpfkörper bestand aus drei kugelförmigen Gebilden, die durch armdicke Organstränge miteinander verbunden waren. Von jeder dieser Kugeln stiegen filigranartige Gebilde auf, die sich etwa anderthalb Meter über ihnen vereinigten und einen birnenförmigen Kopf trugen. Dieser hatte wenigstens siebzehn leuchtend helle Augen, eine scharf vorspringende Nase und möglicherweise irgendwo auch einen Mund, aber das wußte Paul Namarro nicht so genau, und er konnte es auch beim näheren Hinsehen nicht erkennen. Jedenfalls kamen die Worte des Grayoners aus dieser Richtung. »Wir werden nichts ändern«, erklärte der Produktionsorganisator. »Verlassen wir uns auf die Computer. Die werden schon alles richten.« Er glitt von den Stühlen. Dabei senkte sich eine der drei Kugeln auf den Boden herab, wobei sich die filigranartigen Verbindungen bis zum Zerreißen zu strecken schienen. Nachdem der Körper auf diese Weise eine Stütze gefunden hatte, folgten die anderen Kugeln. In gleicher Weise bewegte der Grayoner sich zur Tür hinüber. Es war eine ebenso höfliche wie entschiedene Geste, mit der er Namarro zu verstehen gab, daß dieser gehen sollte. Doch der Celester dachte gar nicht daran, den Raum zu verlassen. Er hoffte, den Grayoner in eine Falle locken zu können, um dann das zu erhalten, worum es ihm wirklich ging. Eine Information über das Pyramidon.
Existierte es wirklich? War es der Sitz der Facette Zulgea von Mesanthor? Bevor Namarro das Gespräch in diese Richtung lenken konnte, öffnete sich die Tür. Ein diskusförmiges Wesen erschien darin. Im gleichen Moment schien die Temperatur im Raum auf den Nullpunkt abzusinken. Der Celester hatte das Gefühl, von einem eisigen Luftzug gestreift zu werden. Aus! Das ist das Ende. Ihm wurde übel, und sein Mund war plötzlich trocken. Er hatte immer gewußt, daß er einmal in diese Situation kommen würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, daß dies ausgerechnet im Büro des Grayoners geschehen würde. Bis jetzt hatte er noch nichts gesagt, was ihn in irgendeiner Weise belasten konnte. Natürlich ging er bei jeder seiner Äußerungen davon aus, daß er abgehört wurde. Was habe ich falsch gemacht? fragte er sich, während er gegen das Verlangen kämpfte, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Wo liegt der Fehler? Paul Namarro lebte schon seit sechs Monaten auf dem Planeten Crynn, der Hauptwelt der Facette Zulgea von Mesanthor. Er arbeitete insgeheim für die Celester, und seine einzige Aufgabe war, Informationen über den Herrschaftsbereich Kontagnat zu beschaffen, der auch »Sumpf« genannt wurde. Viel war es nicht, was er bisher herausgefunden hatte. Er wußte, daß Crynn nur 780 Lichtjahre von der Äquatorebene der Galaxis Alkordooms entfernt war, also ganz und gar nicht im Mittelpunkt von Kontagnat lag, sondern ziemlich nah am nächsten Herrschaftsbereich. Crynn hatte eine geringfügig höhere Gravitation als New Marion, einen Durchmesser von 14.050 Kilometern und eine Rotationsdauer von 25,8 Stunden. Das Jahr dauerte 512 Tage. Desweiteren war Paul Namarro bekannt geworden, daß alle Kontinente durch Landbrücken miteinander verbunden waren, und daß es nur noch in der Äquatorzone eine hochentwickelte
Landwirtschaft gab. Crynn war übersät mit Fabrikationsanlagen, insbesondere Raumschiffswerften, Dienstleistungsbetrieben und Raumhäfen. Die ursprüngliche Bevölkerung der pygmäenähnlichen Jukter hatte keine Bedeutung mehr. Sie war vollkommen unterjocht und zu Frondienstlern degradiert worden. Bestimmend für das Leben auf Crynn und die Macht der Facette war das Wirken der Integrale. Sie waren ausschließlich auf dieser Welt tätig. Sie sorgten für den Schutz des Planeten und Zulgeas. Sie überwachten alle Verwaltungseinrichtungen, Fabrikationsstätten, Verkehrsmittel, Vergnügungsstätten und Raumhäfen. Sie waren überall zu sehen, ebenso wie die Fernsehkameras und Mikrophone. Sie waren die Basis der Macht. Sie legten die Netze aus, in denen sich die Feinde der Facette früher oder später fangen mußten. Sie waren allgegenwärtig. Bei allen Bewohnern von Crynn waren sie verhaßt und gefürchtet. Integrale waren geschlechtslose Wesen, die irgendwann in ferner Vergangenheit nach Crynn importiert worden waren. Sie hatten keine persönliche Meinung, kannten keine Gefühle und handelten mit der Konsequenz von Automaten. Paul Namarro konnte seine Blicke nicht von dem Integral wenden, das nun langsam hereinglitt. Es war ein milchig‐weißer Diskus, der einen Durchmesser von knapp einem Meter hatte und etwa dreißig Zentimeter dick war. Zwei Armpaare ragten an zwei sich gegenüberliegenden Stellen seitlich aus dem Körper. Das Integral hatte sie weit ausgerollt, so daß Namarro vier vierfingrige Hände sehen konnte. Auf einem selbsterzeugten Antigravfeld schwebte der Diskus in den Raum. Die Sinnesorgane, die in Form von Membranen an der Schmalseite seines Körpers saßen, glänzten im Licht der hereinfallenden Sonnenstrahlen. Paul Namarro gab sich verloren. Seine Hand schob sich vorsichtig zur Jackentasche hin, in der eine Hochdruckspritze verborgen war. Mit dieser konnte er das Integral töten, wenn sich kein anderer Ausweg mehr ergab.
Kein anderer Ausweg? Ein bitteres Lachen stieg in dem Celester auf. Wo sollte jetzt noch Hoffnung sein? Alle Integrale besaßen ein ausgeprägtes, fast psionisches Gespür für Wahrheit und Lüge. Man konnte sie nicht täuschen. Eine der vier Hände des Integrals griff in einen Hohlraum des Diskuskörpers und holte einen Energiestrahler daraus hervor, doch dieser richtete sich nicht auf Paul Namarro, sondern auf den Grayoner. »Was willst du von mir?« stammelte der Produktionsorganisator. »Ich bin immer ein treuer und zuverlässiger Diener Zulgeas gewesen.« »Geh schon«, befahl das Integral. »Und halte mich nicht mit Lügen auf. Oder soll ich dich gleich hier erschießen?« Der Grayoner stieß eine Reihe von Klagelauten aus, dann gehorchte er und schritt zur Tür hinüber, indem er jeweils eine seiner drei Körperkugeln nach vorn schob und die anderen folgen ließ. Fassungslos verharrte Paul Namarro auf seinem Platz am Fenster. Das Integral verließ den Raum, und die Tür schloß sich. Im gleichen Moment wurde der Celester sich der immensen Gefahr bewußt, in der er sich befand. Er mußte sich erleichtert zeigen, denn das war die normale Reaktion eines jeden auf Crynn in einer solchen Situation, aber er mußte dabei Haltung bewahren. Er durfte nicht zeigen, wie er sich wirklich fühlte. Man hätte es ihm als Schuldgeständnis auslegen können. Irgendwo schwebte wenigstens ein Integral vor einem Bildschirm und beobachtet mich, schoß es ihm durch den Kopf, und es steckt voller Mißtrauen. Alle Integrale sind mißtrauisch. Sie wittern überall und ständig Verrat, und bei mir könnten sie allzu leicht fündig werden. Er stieß mit dem Fuß gegen die Wand. »Zum Kotzen«, fluchte er laut. »Wer gibt mir denn jetzt die Faserspeicher? Wie soll ich weiterarbeiten, wenn ich das Material
nicht erhalte, das ich benötige?« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um den Schweiß abzuwischen, und eilte hinaus, wobei er sich dessen bewußt war, daß ihn auch auf dem Flur die Fernsehkameras erfaßten, daß sie ihn im Lift nicht aus dem Auge ließen und ebenfalls vor dem Gebäude beobachteten. Hatte er einen Fehler gemacht? Vergeblich versuchte er, sich daran zu erinnern, wie er sich in den Sekunden verhalten hatte, in denen das Integral in den Raum gekommen war. Hatte er nicht allzu schuldbewußt ausgesehen? Ganz sicher war der Raum von einer Computerzentrale aus überwacht worden. Hatte aber der heimliche Beobachter hauptsächlich auf ihn geachtet oder mehr auf den Grayoner? Um diesen war es schließlich gegangen. Du wirst es bald wissen. Wenn du in ein oder zwei Tagen noch nicht verhaftet worden bist, kannst du dich wieder etwas sicherer fühlen. Er wünschte sich nichts mehr, als für einige Sekunden unbeobachtet zu sein. Er wollte sich wenigstens für ein paar erholsame Atemzüge unbelastet fühlen dürfen. Es gab Möglichkeiten, sich den Kameras zu entziehen, und er wäre ein schlechter Agent gewesen, wenn er das nicht gewußt hätte. In der augenblicklichen Situation wäre es jedoch ein verhängnisvoller Fehler gewesen unterzutauchen. Damit hätte er zweifellos eine Aktion gegen sich ausgelöst. Paul Namarro schlenderte durch ein Einkaufszentrum, in dem es von Vertretern der verschiedenen Völkern geradezu wimmelte, suchte ein Restaurant auf, das seiner Einkommensklasse entsprach, und hielt sich mehr als zwei Stunden darin auf. Er kam mit einem jener graziösen Eltregopen ins Gespräch, die aus einer verwirrenden Vielfalt von bunten Stäbchen bestanden und denen beim Essen zuzusehen immer ein besonderer Genuß war. Danach benutzte er einen öffentlichen Großgleiter und flog nach
Gom zurück, jener Großstadt, in der er in letzter Zeit gelebt und gearbeitet hatte. Sie lag an der Nordküste des Meiskontinents und zeichnete sich durch ein heißes, aber trockenes Klima aus. Gleich nach seiner Ankunft betrat Namarro ein Badehaus. Er fand, daß es an der Zeit war, den Körper etwas intensiver zu pflegen als sonst und sich vor allem das Haar zu schneiden. Er war 94 Jahre alt und hatte schlohweißes, schulterlanges Haar und einen ebenfalls weißen Vollbart. Nicht ganz passend für einen relativ »jüngeren Mann«, wie er meinte. Lebhafte braune Augen blickten ihn an, als er in einem der Frisierstühle vor einem Spiegel saß. Über ihnen wölbten sich die Augenbrauen wie schwere, schwarze Schatten und verliehen ihm einen etwas mürrischen Ausdruck. Namarro wies den Roboter an, der über seinem Kopf schwebte, ihm den Bart abzunehmen und das Haar kräftig zu stutzen. Er wollte sein Gesicht mal wieder ohne Bart sehen. Außerdem war ihm dieser längst lästig geworden. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und genoß die Minuten der Ruhe, während der Roboter an ihm arbeitete. Er mußte daran denken, daß er seine Frau und seine beiden Kinder durch die Crynn‐Brigade verloren hatte. Sie hatten, da sie im Verdacht standen, Psi‐Fähigkeiten zu besitzen, die Brigade angelockt. Der Kontakt mit den haluterähnlichen Thatern hatte sie das Leben gekostet. Von der Stunde an, in der Paul Namarro vor den drei Toten gestanden hatte, war nur noch ein Gedanke in ihm gewesen. Rache! Dies war das Motiv für ihn gewesen, als Agent auf Crynn tätig zu werden, obwohl kaum etwas Gefährlicheres vorstellbar war als dies. Er mußte in jeder Minute mit seiner Verhaftung rechnen. Jeder Schritt, jedes Wort und jede Geste konnte zum Verräter werden. Er durfte nichts tun, was die stets wachen Integrale der Facette auf ihn aufmerksam machen konnte.
Mittlerweile hatte er sich nahtlos in die auf Crynn bestehende Gesellschaft eingefügt. Et übte eine berufliche Tätigkeit aus, die ihm als Tarnung diente und ihm erlaubte, sich in weiten Teilen des Planeten frei zu bewegen. Er hatte zahllose Intelligenzen der verschiedensten Völker kennengelernt, aber über die Facette und deren Aufenthaltsort hatte er kaum etwas erfahren. Nur der Begriff des Pyramidons war immer wieder aufgetaucht. Gab es dieses Pyramidon? War es wirklich der Sitz der Hexe? War es eine Art Festung, in der sich Zulgea von Mesanthor verbarg? Als der Roboter seine Arbeit beendet hatte, ging Namarro in die Sauna und anschließend ins Bad. Erst nach Stunden verließ er die Badeanstalt wieder und trat auf die Straße hinaus. Still und ein wenig verloren stand er in der Menge der Intelligenzen, die von zahllosen Planeten der Galaxis Alkordoom nach Crynn gekommen waren. Aus einem gegenüberliegenden Gebäude trat ein riesiger Thater hervor. Die mächtige Gestalt verharrte kurz neben einem Brunnen. Helles Sonnenlicht überflutete sie, und die metallenen Symbole auf der Brust des Crynn‐ Brigadisten leuchteten hell auf. Namarro hatte das Gefühl, daß die rötlich schimmernden Augen des Thaters auf ihn gerichtet waren, doch er blieb ruhig und gelassen. Von der Crynn‐Brigade drohte ihm keine Gefahr, und er empfand auch keinen Haß gegen sie. Die Brigade war es gewesen, die seine Familie getötet hatte, aber sich an ihr zu rächen wäre ebenso sinnlos gewesen, wie die Waffen zu zerschlagen, mit denen sie getötet hatte. Nein – sein Haß galt ausschließlich der Facette Zulgea von Mesanthor. Sie hatte die entscheidenden Befehle gegeben. Sie allein war verantwortlich. Sie wollte er vernichten. Wenn ich doch nur eine Spur hätte, die zu ihr führt! dachte er. Nur einen einzigen Hinweis. Aus dem Schatten eines Gebäudes schwebten drei Integrale heran. Sie umringten den Thater. Paul Namarro begriff. Siedendheiß stieg es in ihm auf. Er warf sich
herum und suchte hinter einem Betonsockel Schutz. In der nächsten Sekunde ging es bereits los. Der Thater griff brüllend an. Seine Fäuste wirbelten durch die Luft. Sie trafen einen der drei Integrale und schleuderten ihn weit zur Seite. Zugleich richtete er einen Energiestrahler mit einer seiner sechs Hände auf die beiden anderen Integrale, war jedoch nicht schnell genug. Die lähmenden Strahlen eines Paralysegewehres erfaßten ihn und schleuderten ihn zu Boden. Jetzt endlich gelang es ihm, seine Waffe abzufeuern. Doch er traf keines der Integrale. Der sonnenhelle Energiestrahl zuckte lautlos über Namarro hinweg und schlug in eine mehrere Meter hohe Scheibe. Diese zerplatzte donnernd, und die Splitter prasselten auf Namarro und einige Jukter herab. Dann aber konnten die Integrale den Crynn‐Brigadisten vollends lähmen. Sie entwaffneten ihn. Eine Antigravplattform schwebte heran. Roboter, die wie aus dem Nichts heraus auftauchten, hoben den Thater auf die Platte und brachten ihn weg. Die ganze Aktion hatte keine drei Minuten gedauert. Paul Namarro erhob sich langsam. Er schüttelte einige Splitter ab, die sich in seinen Ärmeln verhakt hatten. Er wäre am liebsten weggerannt. Doch er blieb und tat, als sei er ähnlich schockiert wie die anderen Wesen in seiner Nähe. Der Vorfall war äußerst ungewöhnlich gewesen. Wann kam es schon einmal vor, daß ein Thater verhaftet wurde, zumal wenn er die Uniform eines Crynn‐Brigadisten trug? Überraschend war außerdem, daß die Integrale unter den Augen der Öffentlichkeit gehandelt hatten. Sie wollten Aufsehen erregen! dachte er. Es ging ihnen darum, ihre Macht zu beweisen und herauszustellen, daß sie über den Crynn‐Brigadisten stehen. Roboter erschienen und räumten die Scherben weg. Andere setzten eine neue Scheibe ein. Aufgeregt schwatzend zogen die pygmäenähnlichen Jukter davon. Der Celester wartete noch einige Minuten, dann wandte er sich ab und rief mit Hilfe seines Kombi‐
Koms einen I‐Gleiter. Die Maschine, die lediglich für eine Person Platz bot, landete schon Sekunden später neben ihm. Er stieg ein und gab den Kode seines Büros in den Computer. Als die Maschine startete, wurde ihm bewußt, daß er einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Unmittelbar nach der Verhaftung des Grayoners hatte er sich den Bart abnehmen und sich das Haar stutzen lassen. Du hast dein Äußeres verändert! schoß es ihm durch den Kopf. Das ist fast soviel wie ein Schuldgeständnis. Eine plötzliche Enge schnürte seine Brust ein, und er empfand ziehende Schmerzen in seinem linken Arm. Das Herz. Es reagierte auf die Dauerbelastung. Nur jetzt nicht! hämmerte er sich ein. Nimm dich zusammen. Die Sicherheitsorgane beobachten dich. Er zwang sich, ruhig und tief zu atmen, und allmählich ebbten die Schmerzen in seinem Arm und in der Brust ab. Er wußte, daß keine organische Erkrankung seines Herzens vorlag, und daß die Symptome der Krankheit auf rein seelische Gründe zurückzuführen waren. Vielleicht hast du dir doch zuviel vorgenommen. Du brauchst Hilfe von außen. So geht es nicht weiter. Die Sicherheitsorgane erledigen dich, bevor du auch nur in die Nähe der Hexe gekommen, geschweige denn ihr gefährlich geworden bist. Er war froh, als er wieder in seinem Büro war und sich in die Arbeit stürzen konnte. Drei Tage lang konzentrierte er sich ausschließlich auf die Probleme, die mit der Produktion von Raumschiffteilen verbunden waren. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, daß er ständig beobachtet wurde. Am Morgen des vierten Tages machte er in einem Kaufhaus einige Besorgungen. In der Abteilung für hochwertige positronische Güter gab es eine Lücke im Beobachtungssystem. Er ging hinein, überprüfte mit Hilfe seines Kombi‐Koms, ob er sich tatsächlich im toten Winkel der Kamera befand, und verließ die Abteilung
zwischen drei hochaufragenden Videowänden. Sekunden später betrat er eine kleine Kammer, in der defekte Geräte abgestellt waren. Ein kastenförmiger Fernseher erhob sich vom Boden und schwebte zu einem Tisch hinüber. Gleichzeitig erhellte sich der Bildschirm, und das freundlich lächelnde Gesicht eines dunkelhaarigen Mannes erschien. »Hallo, Macker«, sagte Paul Namarro. »Hallo, Paule«, antwortete der Roboter. Auf einem Antigravkissen schwebend, glitt er näher heran. »Ich hoffe, du fühlst dich wohl?« »Ich kann nicht klagen«, erwiderte der Celester. »Allerdings muß ich zugeben, daß mir die Integrale auf den Geist gehen. Ich wünschte, ich könnte mal ein paar Stunden unbeobachtet bleiben.« »Aber, Paule! Du bist unbeobachtet.« »Du weißt ebenso wie ich, daß ich nur ein paar Minuten bleiben kann, wenn ich kein Aufsehen erregen will. Ich habe einen Fehler gemacht und mein Äußeres verändert.« »Die näheren Umstände, bitte.« Paul Namarro schilderte, was geschehen war. Das Gesicht auf dem Bildschirm verdüsterte sich. »Eine schwierige Lage, Paule. Für mich ist es schwer zu beurteilen, welche Wirkung dein Verhalten auf die Integrale hat. Du mußt in den nächsten Tagen vorsichtig sein.« »Das werde ich.« »Gut. Aber jetzt habe ich eine Nachricht für dich.« »Heraus damit.« »Ich habe ein Funksignal aufgefangen. Aus ihm geht hervor, daß du Besuch bekommst. Wenn meine Circs nicht auf dem falschen Dampfer sind, mit prominenten Leuten an Bord.« »Prominente Leute? Was sagen dir deine Schaltkreise denn?« »Nichts weiter. Leider. Die Nachricht wurde auf ein Minimum beschränkt, um den Integralen und den Crynn‐Brigaden so wenig Informationen wie möglich zukommen zu lassen, gleichzeitig aber deine Bereitschaft zu erhöhen. Ich gehe davon aus, daß deine
Freunde mit ihrem Raumschiff auf Crynn landen wollen.« »Hier landen?« Paul Namarro setzte sich auf ein abgestelltes Videogerät. »Das ist verrückt. Es starten und landen zwar pausenlos Hunderte von Raumschiffen, aber nicht ein einziges kann sich unkontrolliert durchmogeln. Das weißt du so gut wie ich.« »Natürlich.« »Wie stellen die sich das vor?« Der Celester sprang auf und ging unruhig auf und ab. »Die werden erwischt und abgeschossen, bevor sie die Atmosphäre von Crynn erreicht haben.« »Meine Circs sagen mir, daß wir ihnen helfen müssen.« »Wie denn? Glaube mir, Macker, ich würde einiges tun, um sie durchzubringen, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich sie heil herunterbringen soll. Und selbst wenn ich das schaffe, können sie sich keine halbe Stunde halten, ohne von den Verteidigungsanlagen angegriffen zu werden.« »Ein schwieriges Problem«, sagte der Roboter. »Das gebe ich zu. Aber es ist nicht unlösbar. Du hast auch auf Crynn Freunde. Die mußt du mobilisieren. Und dann müssen wir uns mit der Station befassen, die für den Südpolbereich zuständig ist.« »Für den Südpolbereich?« fragte Namarro verblüfft. Er blieb stehen. Argwöhnisch musterte er das lächelnde Gesicht auf dem Bildschirm. Es wirkte so überzeugend echt, daß er zuweilen geneigt war zu glauben, daß er es wirklich mit einem menschlichen Gegenüber zu tun hatte. Tatsächlich aber wurde das Gesicht von dem Roboter erzeugt, ebenso wie seine Mimik von ihm gesteuert wurde. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« »Ich habe Verbindung mit der Zentralpositronik von Crynn aufgenommen.« Namarro setzte sich. Er atmete einige Male tief durch, pumpte sich die Lungen schließlich voll Luft und atmete geräuschvoll aus. Was er gehört hatte, erschien ihm so unglaublich, daß er es erst einmal verdauen mußte. »Noch einmal. Was hast du?«
»Mit der ZP geplaudert.« »Du bist verrückt.« »Nein. Genial.« »Okay. Du bist genial. Das ist auch nicht viel anders als verrückt.« »Nur ein bißchen kontrollierter. Ich gebe es zu.« »Na schön. Und was hat dir die ZP ins Ohr geflüstert?« »Nicht ins Ohr, Paule. In meine Circs.« »Also gut. In deine Schaltkreise. Gib mir endlich die Information, die ich will.« »Hast du dich beruhigt?« »Ich bin die Ruhe selbst.« »Das freut mich aufrichtig für dich. Dann bist du in der Lage, aufzunehmen, was ich dir zu sagen habe. Die Südpolstation hat Schwachstellen. Wenn wir dort eindringen und für die kritische Zeit das Überwachungssystem ausschalten, kann das Raumschiff deiner Freunde ungeschoren landen, und wir haben gute Chancen, unbemerkt und unbehelligt wieder verschwinden zu können. Es kann natürlich auch sein, daß wir die Station in Schutt und Asche legen müssen, aber dann werden wir es beim Rückzug ziemlich schwer haben.« »Moment, Moment«, wehrte Namarro ab. »Nicht so schnell. Was ist, wenn meine Freunde tatsächlich gelandet sind? Du hast selbst gesagt, daß innerhalb von Minuten ein wahres Feuerwerk losbrechen und das Raumschiff vernichten wird.« »Deine Freunde müssen es bis dahin eben verlassen haben. Das ist die einzige Lösung, die ich dir anbieten kann. Genial?« »Verrückt.« »Denke darüber nach, Paule. Viel Zeit hast du nicht mehr.« »Würdest du mich bitte nicht immer Paule nennen.« »Das ist doch nur zur Tarnung, Paul.« »Zur Tarnung?« Das Gesicht auf dem Bildschirm lachte. Es war ein herzliches, fröhliches Lachen.
»Natürlich. Es könnte doch sein, daß wir abgehört werden. Wenn das der Fall sein sollte, werden die Integrale nicht wissen, wer gemeint ist.« »Jetzt weiß ich, daß du wirklich verrückt bist, Macker.« »Es ist ein schönes Gefühl für mich, bei dir Klarheit geschaffen zu haben.« Paul Namarro ging wortlos zum Ausgang. »Ich bin noch nicht am Ende, Paule«, erklärte der Roboter. »Was denn noch?« »Ich habe deinen Freunden zu verstehen gegeben, daß sie gefahrlos im Südpolbereich landen können.« Der Celester fuhr herum. »Gefahrlos?« fragte er erschrocken. »Bist du von Sinnen?« »Na gut. Streichen wir dieses Wort. Auf jeden Fall werden sie versuchen, im Südpolbereich herunterzugehen. Uns bleiben genau 29 Stunden, ihnen die unabdingbare Hilfe zu geben. Verschwende also keine Zeit.« »Schalte dich ab, Macker. Mir reichtʹs.« Namarro kehrte in die Verkaufsräume zurück und tauchte in der Menge unter. 2. »Der Agent hat geantwortet«, sagte Arien Richardson. »Paul Namarro ist also noch aktiv, und er wird uns helfen.« »Das wird auch nötig sein«, entgegnete Buster McMooshel. Er strich sich tastend mit den Fingerspitzen über den kahlen Schädel, als suche er nach einem letzten, ihm noch verbliebenen Haar. Er lehnte sich unmittelbar neben einem »Kontaktknoten« an die Wand. Mit Hilfe dieses Instruments konnten sich die fünf Männer und die beiden Frauen mit ANIMA, dem lebenden Raumschiff, verständigen. »Ich bin einige Male auf Crynn gewesen, und ich hatte
Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, daß eine unerwünschte Landung dort so gut wie ausgeschlossen ist.« Atlan blickte den Mediziner fragend an. »Ich habe noch nicht vergessen, daß ihr Celester es gewesen seid, die mich auf Crynn befreit haben«, bemerkte er. »Ich befand mich in der wenig angenehmen Obhut der Crynn‐Brigade. Plötzlich wart ihr da und habt mich herausgeholt. Es ist euch also gelungen, auf Crynn zu landen und wieder von dort zu verschwinden.« »Vom Mond Crynns«, korrigierte Arien Richardson lapidar. »Das ist mir durchaus bekannt.« Atlan blickte zu Sarah hinüber, die sich flüsternd mit Flora Almuth unterhielt. Ihre Tante trug noch immer den Psi‐Spalter, jenes Stirnband, das sie aus dem Bann der Dauerhypnose befreit hatte. »Ich glaube kaum, daß wir den gleichen Weg noch einmal gehen können. Die Crynn‐Brigade wird ihn längst versperrt haben.« Spooner Richardson, einer der beiden Söhne des »Feuerwehrmanns«, kam herein. »Es ist noch eine Nachricht gekommen«, berichtete er. »Paul Namarro empfiehlt uns, im Südpolbereich von Crynn zu landen. Er wird versuchen, die entsprechende Raumüberwachungsstation vorübergehend auszuschalten.« »Hat er noch etwas mitgeteilt?« fragte der Arkonide. »Nein. Nichts«, erwiderte Spooner. Er lächelte entschuldigend. »Paul ist ein fähiger Mann. Er geht ein hohes Risiko ein. Er hat sein Leben riskiert, um uns eine Information zuzuspielen. Mehr war einfach nicht drin.« »Ich verstehe«, sagte Atlan. »Wie gehen wir vor?« »Wir haben nur eine Chance«, behauptete Arien Richardson. »Auf Crynn herrscht ein lebhafter Raumschiffverkehr. Wir müssen uns einem großen Raumtransporter anschließen und so nahe wie möglich bei diesem bleiben, während er zur Landung ansetzt. Wir können hoffen, dadurch zumindest vorübergehend unbemerkt zu bleiben. Sobald wir tief genug sind, müssen wir ausbrechen, auf
Kurs zum Südpol gehen und dort landen.« »Richtig«, stimmte Buster McMooshel zu. »Wenn es Paul gelingt, die Überwachungsstation für diese Zeit zu neutralisieren, bleiben wir unbemerkt.« »Und wenn nicht?« fragte Volkert Richardson, der zweite Sohn des »Feuerwehrmanns«. »Dann können wir uns im ewigen Eis verstecken«, erwiderte sein Vater. »Wenn wir schnell genug sind, können wir uns so tarnen, daß uns die Crynn‐Brigade nicht findet.« »Hört sich gut an«, lobte der Mediziner. Er blinzelte listig. Er schob beide Hände in die Taschen seiner schmutzig wirkenden Kombination. »Wir haben ja noch jemanden, der sich Gedanken darüber machen kann, wie wir unentdeckt bleiben können.« »Genau das«, bemerkte ANIMA mit Hilfe des Kontaktknotens. »Überlaßt das mir. Ich werde dafür sorgen, daß man mich nicht sieht.« »Dann ist ja alles klar«, sagte Arien Richardson. Zufrieden lehnte er sich in dem Sessel zurück, den ANIMA für ihn gebildet hatte. »Wer ist dieser Paul Namarro?« fragte Atlan. »Ich würde gern mehr über ihn erfahren, bevor wir mit ihm auf Crynn zusammentreffen.« »Ich habe ihn ganz gut gekannt, als er noch auf New Marion lebte«, erwiderte Buster McMooshel. »In meinen Augen ist er der ideale Typ eines Agenten. Er ist unauffällig, ein wenig unscheinbar und schwer zu beschreiben. Er ist ein Mensch, der ohne Ecken und Kanten zu sein scheint – was jedoch nicht zutrifft. Er hat sich lediglich so gut in der Gewalt, daß er nie extrem reagiert.« »Was ist er von Beruf? Hat er ein Spezialgebiet?« »Er war Robotologe«, erklärte der Mediziner. »Ich kenne niemanden, der soviel von Robotern und Computern versteht. Sein Traum war es, den kreativen Roboter zu konstruieren, doch diese Idee wurde zerstört, als die Crynn‐Brigade seine Familie umbrachte. Seitdem hat Namarro nur noch eins im Kopf. Er will sich rächen.«
Atlan runzelte die Stirn. »Ein Mann im Untergrund, dessen Handeln von Emotionen bestimmt ist? Eine gefährliche Voraussetzung für dieses Geschäft.« »Er hat sich in der Gewalt«, beruhigte McMooshel ihn. »Wir können uns auf ihn verlassen. Wenn überhaupt irgend jemand die Voraussetzungen für unsere Landung auf Crynn schaffen kann, dann er.« * Der Individualtaster fing seine Gehirnschwingungen auf und reagierte wie gewünscht. Die Tür öffnete sich und gab den Weg in einen Raum frei, dessen vier Wände aus lauter Monitoren bestanden. Parc ging zu dem Tisch in der Mitte des Raumes, während sich die Tür wieder hinter ihm schloß, setzte sich in einen Sessel und berührte einige Tasten auf dem Schaltpult vor sich. Die Monitore erhellten sich, und Parc erhielt einen Einblick in mehr als achthundert Räume, Gänge, Hallen und Straßen von Gom. Doch diese Zahl stellte nur die Basis der Möglichkeiten dar. Mit jedem einzelnen der Monitore konnte Parc mehr als hundert verschiedene Bilder empfangen. Er konnte nicht nur Zehntausende von Räumen einsehen, sondern auch die Wesen, die sich darin aufhielten, aus allen möglichen Perspektiven betrachten und mit Hilfe der Kameras unter verschiedenen Aspekten unter die Lupe nehmen. Er hatte die Wahl zwischen stufenlosen Brennweiten. So konnte er analysieren, wie sich die Beobachteten in der Menge bewegten. Er war in der Lage, ihre Gesichter vergrößert zu betrachten – bis in kleinste Ausschnitte hinein, so daß er beispielsweise das Zucken ihrer Pupillen verfolgen konnte. Sämtliche Monitore waren mit einem positronisch gesteuerten Mischpult und Aufzeichnungsgeräten verbunden.
Wenn ich will, kann ich jeden fertigmachen, dachte Parc. Jeden – ohne Ausnahme. Er war sich seiner Macht bewußt, aber er genoß sie nicht. Er haßte seine Tätigkeit, übte sie aber dennoch aus, weil ihm keine andere Wahl blieb. Offiziell arbeitete er beim Finanzamt der Facette, und tatsächlich gehörte der Raum, den er eben verlassen hatte, zu diesem Institut. Daneben war er als Observer für die Integrale tätig. Auf einem der Monitorschirme erschien die Gestalt eines weißhaarigen Mannes, der durch einen langen Flur ging. Der Besucher wußte offensichtlich genau, wohin er sich zu wenden hatte, denn er blickte nicht ein einziges Mal auf die Schilder an den Türen, die links und rechts vom Gang abzweigten. »Paul Namarro«, sagte Parc leise. Er beugte sich vor und berührte eine Taste. Das Gesicht des Celesters erschien formatfüllend auf dem Bildschirm. »Du hast dich rasiert, und deine Haare sind kürzer. Das nenne ich einen Fehler.« Parc lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte einen eiförmigen Rumpfkörper, einen knorpeligen Hals und einen Kopf, der sich als schmale, runde Scheibe senkrecht darauf erhob. An der vorderen Rundung saßen vier pechschwarze Augen, ein kleiner Mund mit feuerroten, vollen Lippen und eine lange Nase, die weit über den Mund hinausragte. Er konnte sie bei Bedarf wie einen Rüssel zur Seite biegen. An der Rückseite der Kopfscheibe fächerte sich ein Federbusch von blauen Federn auf, die in ständiger Bewegung waren. Die Arme und Beine waren lang und dünn. Sie endeten in drei kräftigen Fingern und zwei dicken Daumen. Kopf, Füße und Hände waren unbekleidet, während der übrige Körper in einem hautengen, schwarz glänzenden Anzug steckte. Die Haut Parcs war bleich, fast weiß, weshalb man ihn auch »Käsegesicht« oder den »Käsebleichen« nannte. Parc drückte einige Tasten, und Paul Namarro verschwand von
den Monitorschirmen. Danach erhob der »Käsebleiche« sich, öffnete die Tür und wechselte in den Nebenraum hinüber. Der Celester trat durch eine andere Tür herein. Fragend blickte er Parc an. »Wir können offen miteinander reden«, erklärte dieser. »Niemand hört oder sieht uns. Ich habe die Videos durch eine Sperrschaltung blockiert.« Paul Namarro atmete auf. »Ein angenehmes Gefühl«, erwiderte er. »Du hast mich gesehen?« »Wie du durch den Gang gekommen bist? Natürlich. Ich möchte dir empfehlen, ab und zu stehenzubleiben und die Schilder an den Türen zu lesen. Das tun alle Besucher. Es ist unverdächtiger.« Parcs Stimme wurde merklich heller. »Außerdem ist mir unklar, warum du dir den Bart hast abnehmen lassen. Du siehst verändert aus. Ich meine, wirklich verändert, so daß die Positroniken Alarm schlagen könnten. Auf Crynn macht man so etwas nicht. Wenn man überhaupt an seiner äußeren Erscheinung herumdoktert, dann nur äußerst behutsam und über einen langen Zeitraum hinweg. Du hättest den Bart zunächst nur geringfügig stutzen dürfen.« »Es war ein Fehler. Ich bin mir dessen bewußt.« »Wenn dich erst einmal jemand unter die Lupe nimmt, sieht es schlecht für dich aus. Komm. Ich zeige dir mal etwas.« Er führte den Celester in den Monitorraum, obwohl ihm dies streng untersagt war. Er wußte jedoch, daß er Namarro vertrauen durfte. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, zeigte Parc auf einen der Monitorschirme. Auf ihm war das Gesicht eines Celesters zu sehen, der in einem Restaurant aß. »Die Möglichkeiten werden immer umfassender«, erläuterte er. »Fehlte nur noch, daß die Hexe eine parapsychische Positronik entwickelt.« »Unmöglich«, behauptete Namarro.
»Vorläufig noch. Das gebe ich zu. Ich frage mich nur, wie lange es dauert, bis auch diese technische Barriere durchbrochen wird. Und dann – gute Nacht, Freunde!« Das Gesicht des Celesters auf dem Bildschirm erschien plötzlich in ganz anderen Farben. »Das ist noch die einfachste aller Varianten«, erklärte der »Käsebleiche«. »Infrarot. Damit stelle ich die unterschiedlichen Temperaturbereiche seines Gesichts dar. Die Oberfläche, oder wenn ich will, auch der tiefere Bereich des Kopfes.« Er schaltete um, und die Farben wechselten. Das pulsierende Blut und die jagenden Nervenimpulse wurden erkennbar. »Ich kann das Maß der Transpiration in optisch klaren Farben darstellen, die Intensität der Durchblutung, die Frequenzhöhe der Nervenimpulse und den Wechsel der Gehirnwellenfrequenz. Alles in bunten Farben, damit der Betrachter auch optisch erkennen kann, was das Opfer empfindet. Nichts bleibt verborgen. Die Gefühle des Beobachteten liegen offen vor mir. Und auch seine Stimme wird analysiert. Nicht nur ihr Wortlaut wird erfaßt, sondern auch ihr Ausdruck. Es ist ein Kinderspiel zu erkennen, ob jemand die Wahrheit sagt, oder ob er lügt.« »Wozu brauchen sie das alles?« fragte Namarro beklommen. »Niemand kann die Integrale täuschen.« »Die Hexe verläßt sich nicht auf sie«, erklärte Parc. »Die Positronik ist unbestechlich. Sie betrügt nicht. Sie wird nicht schwankend in der Loyalität, und sie kann auch von jemandem kontrolliert werden, der sich mit den Integralen nicht verständigen kann, von ihnen also auch keine Information erhält.« Paul Namarro dachte an die Verhaftung des Grayoners. War er in diesen Sekunden beobachtet und analysiert worden? Und wie hatte man seine Reaktion beurteilt? Als normal für diese Situation? Oder hatte die Positronik aus ihr geschlossen, daß er ein Verräter war? Er saß in der Falle. Nie zuvor hatte Namarro dies so deutlich gefühlt wie jetzt.
Es ist einfach ausgeschlossen, daß sie nichts gemerkt haben, dachte er. Deine Mission ist beendet. Sie lassen dich noch an der langen Leine laufen, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie dich hochgehen lassen. »Wozu erzählst du mir das alles?« »Ich bin dein Freund.« »Würdest du als Beobachter mißtrauisch werden, nur weil sich jemand den Bart hat abnehmen lassen?« »Mißtrauisch vielleicht nicht, aber aufmerksam. Ich würde nachfassen, und ich würde etwas finden. Bei jedem. Es gibt niemanden auf Crynn, der nicht irgend etwas zu verbergen hätte. Alle hassen die Hexe. Kaum jemand arbeitet freiwillig oder gar aus Begeisterung für sie. Loyal sind sie nur aus Angst oder aus Eigennutz, aber nicht aus anderen Gründen.« »Du fühlst dich sicher.« »Unsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Ich muß bald meine Zelte abbrechen. Wie du weißt, habe ich einige Verfehlungen begangen. Ich habe durch Falschbuchungen Steuergelder zur Seite gebracht. Ich war überzeugt, daß niemand etwas merken würde, da die stündliche Revision durch die Zentralpositronik bisher ohne Folgen für mich geblieben ist.« »Aber?« »Einer der Monitorschirme ist ausgefallen. Der dort drüben.« Namarro lächelte verwundert. »Das kann immer mal passieren«, versucht er den Freund zu beruhigen. »Ich verstehe eine Menge davon. Die Geräte halten nicht ewig.« »Diese schon. Da eine Reparatur notwendig ist, wird bald ein Roboter erscheinen. Er wird den Monitor austauschen. Danach wird es hier ein Kontrollelement geben, das mich ständig überwacht. Dies ist also das letzte freie Gespräch, das wir miteinander führen können.« Paul Namarro verzichtete darauf, dem »Käsebleichen« die Furcht
auszureden. Parc kannte das Geschäft mit dem Mißtrauen viel besser als er. »Ausgerechnet jetzt«, stöhnte er. »Dabei benötige ich deine Hilfe.« »Wobei?« »Freunde von mir kommen und werden auf Crynn landen. Die Kontrollstation für den Südpolbereich muß neutralisiert oder sogar zerstört werden.« Parc setzte sich. Er war noch bleicher als sonst. Er sah aus, als habe der Schreck ihm die Sprache verschlagen. »Weißt du eigentlich, was auf Crynn los ist, seit die Celester einen Gefangenen befreit haben und mit ihm durch einen Transmitter zum Mond geflohen sind?« fragte er, nachdem er einige Minuten lang schweigend auf den Boden geblickt hatte. »Erst gestern hat die Brigade einen Kleinraumer zusammengeschossen, obwohl er eine Landegenehmigung hatte und alles mit ihm in Ordnung war. Anschließend hat sie sich bei dem einzigen Überlebenden von dreißig Besatzungsmitgliedern entschuldigt. Es sei ein Versehen gewesen, hat die Brigade ihn wissen lassen. Nichts weiter als ein bedauerlicher Irrtum. Die Thater sind nervös. Ihnen wird der Streich der Celester hauptsächlich angelastet. Aber zweifellos sind auch die Integrale nicht ungeschoren davongekommen. Sie sind schließlich für die Sicherheit auf Crynn verantwortlich, auch wenn es dabei, wie in diesem Fall, um einen Gefangenen der Brigade geht.« »Ich kann es nicht ändern, Parc. Das Raumschiff kommt, und es wird landen. Wir müssen unsere Möglichkeiten nutzen und Brigade wie Integrale ablenken, täuschen oder ausschalten. Laß uns mit Czloth und Overfan reden. Vielleicht haben die eine Idee.« Käsegesicht lachte spöttisch. »Ist dir eigentlich klar, was du da vorhast?« fragte er dann. »Natürlich«, erwiderte Paul Namarro gelassen. »Zunächst müssen wir unauffällig verschwinden. Dann benötigen wir ein Transportmittel ohne Videoauge. Wir müssen herausfinden, wo die Kontrollstation ist, wie wir ungesehen dorthin kommen, und wie
wir sie ausschalten können. Vorher ist zu klären, welches Material wir dazu benötigen und wo wir es auftreiben können.« »Und wenn wir das alles hinter uns haben, bleibt noch die Frage, wie wir lebend davonkommen.« »Diese Frage ist von untergeordneter Bedeutung«, eröffnete ihm der Celester. »So, wie die Lage jetzt ist, haben wir ohnehin keine Aussichten auf einen geruhsamen Lebensabend.« 3. Im Antigravlift glitten Namarro und Parc bis in die Tiefgeschosse des Gebäudes hinab. Hier betraten sie ein Laufband, das sie in ein fünf Kilometer entferntes Gebäude brachte. Da sie wußten, daß sie möglicherweise beobachtet und abgehört wurden, führten sie ein Fachgespräch, das völlig unverfänglich war und bei dem es um die positronische Ausrüstung des Finanzamts ging. Sie suchten die Abteilung für Finanzierung und Organisation in dem anderen Gebäude auf und stellten einen Antrag auf Umrüstung der positronischen Observationsgeräte. Danach lud Parc den Celester zum Essen in ein Restaurant ein, von dem er wußte, daß es zu dieser Zeit hoffnungslos überfüllt war. Sie betraten das Restaurant, wurden wie erwartet abgewiesen, verließen es wieder und tauchten in der Menge unter. Jetzt konnten sie sicher sein, daß sie nicht beobachtet wurden. Sie betraten ein langgestrecktes Gebäude durch einen Nebeneingang, über dem eine defekte Kamera angebracht war, und standen wenig später einem wurmähnlichen Muraener gegenüber. »Ich hoffe, du vergibst uns, daß wir dich stören, Overfan«, sagte Parc. »Wir sind uns dessen bewußt, daß es unverzeihlich von uns ist, unangemeldet zu dir zu kommen.« Der Muraener verneigte sich würdevoll. Er war etwa zwei Meter groß und hatte einen schlanken Körper, der auf zwei
flossenähnlichen Gebilden ruhte. Der breite Mund befand sich an der Spitze seines Körpers, der aus unzähligen Ringen zusammengesetzt zu sein schien. Darunter bildeten drei längliche Augen ein gleichschenkliges Dreieck. Sie wurden umfaßt von Haarbüscheln, in denen sich allerlei Wahrnehmungsorgane verbargen. Overfan stülpte einen plump aussehenden Arm aus seinem Körper hervor, an dessen Ende sich blitzschnell mehrere dünne Finger bildeten. Damit nahm er ein Schreibgerät auf, das auf dem Tisch vor ihm lag. Er ließ es in dem silbrig schimmernden Tuch verschwinden, das die untere Hälfte seines Körpers umhüllte. »Ihr seid mir jederzeit willkommen«, erwiderte er. »Die Götter mögen meine Kinder verkümmern lassen, wenn es jemals anders werden sollte. Begehrt ihr eine meiner Frauen?« »Wir begehren sie«, erwiderte Parc und Namarro wie aus einem Munde. »Allein unser Glaube verbietet es uns, sie zu umarmen.« »Das bedaure ich sehr, aber ich respektiere es. Nehmt Platz. Was führt euch zu mir?« Overfan war wie ausgewandelt, nachdem der Höflichkeit Genüge getan war. Selbstverständlich waren ihm die Freunde willkommen, und er wäre auch nicht ungehalten gewesen, wenn sie ihn wirklich gestört hätten. Darüber hinaus hatte er keineswegs damit gerechnet, daß Parc oder Namarro sich für eine seiner Frauen interessierte. Aber bei den Muraenern war es nun einmal Sitte, ein Gespräch in dieser Weise zu eröffnen, und er wäre ernsthaft erzürnt gewesen, wenn Parc und Namarro darauf keine Rücksicht genommen hätten. »Es geht los«, sagte der Käsebleiche. »Wir können endlich etwas unternehmen.« Overfan, der ein kleines Studio für Computerarchitektur betrieb, eilte watschelnd zu einer Hängematte hinüber und legte sich hinein. »Das ist die beste Nachricht, die ich seit Jahren erhalten habe«, erwiderte er. Da er sicher sein konnte, daß sie nicht abgehört oder beobachtet wurden, sprach er offen aus, was er dachte. »Ich
fürchtete schon, der Tag würde niemals kommen, an dem ich mit der Waffe in der Hand gegen die Hexe kämpfen kann. Ihr seid sicherlich einverstanden, daß ich Czloth benachrichtige?« »Genau darum wollten wir dich bitten«, erklärte Paul Namarro. »Kein Problem. Er wird gleich hier sein.« Wieder bildete Overfan eine Hand heraus und tippte eine Kodenummer in den Interkom. Das Gerät schaltete sich ein und sofort wieder aus, ohne daß sich der Bildschirm erhellte. Etwa zehn Minuten später öffnete sich die Tür, und ein diskusförmiges Wesen schwebte herein. Grüßend hob Czloth einen Arm. Er war Ribosomen‐Synthesator und arbeitete in einem Gen‐ Institut. Parc hatte ihn bei einer steuertechnischen Manipulation erwischt, ihn jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen, nachdem er erkannt hatte, daß Czloth eine perfekte Mimikry beherrschte und alles andere als ein Freund der Facette war. Der Miratorner konnte seinen Körper nach Belieben verändern. Er bevorzugte jedoch die äußere Gestalt der Integrale, zumal er ebenso wie diese ein Antigravorgan besaß. »Der Wahrheit die Ehre, der Lüge die Wirklichkeit«, sagte er, als er in den Raum schwebte. »Bedenkt, daß sich eure Kinder euer schämen, sofern sie satt sind.« »Lehre sie, dich zu achten, indem du sie hungern läßt«, erwiderte Overfan. Ächzend hob er seinen Kopf und fügte spöttisch hinzu: »Seltsame Sitten habt ihr Miratorner.« »Dafür aber lauter gute Eigenschaften«, gab Czloth zurück. Er lachte dunkel. »Ich hoffe, diese Gipfelkonferenz hat eine tiefere Bedeutung? Ich hatte Mühe, mich loszueisen und herzukommen. Die Integrale sind heute besonders eifrig. Es scheint etwas vorgefallen zu sein. Auf jeden Fall zeigten sie den Crynn‐ Brigadisten, wer das Sagen hat.« Paul Namarro erläuterte, um was es ging. Er wußte, daß er jedem der anderen vertrauen konnte. Parc, Overfan, Czloth und er bildeten schon seit Monaten eine verschworene Gesellschaft, deren einziges
Ziel es war, den Standort des geheimnisvollen Pyramidons herauszufinden. Der gemeinsame Haß und die erklärte Absicht, sich an Zulgea von Mesanthor zu rächen, verband sie. Sie alle hatten das gleiche Motiv. Das der Rache. Namarros Familie war von der Crynn‐Brigade ermordet worden. Overfan war in aller Öffentlichkeit von den Schergen der Facette gedemütigt und entehrt worden. Für ihn war ausgeschlossen, jemals wieder zu seinem Heimatplaneten Muraen zurückzukehren, wenn er sich nicht vorher gerächt und somit seine Ehre wiederhergestellt hatte. Czloth war Oberhaupt einer Siedlungsgemeinschaft von mehr als zweihundert Miratornern gewesen. Er war der Crynn‐Brigade als einziger entkommen, während alle anderen ihrer Psi‐Energie beraubt und dabei zugleich um ihren Verstand gebracht worden waren. Käsegesicht Parc hatte nie über sein Motiv gesprochen. Paul Namarro vermutete jedoch, daß er ebenfalls durch die Brigade einen schmerzlichen Verlust erlitten hatte und sich dafür rächen wollte. Parcs Haltung versteifte sich jedesmal, wenn der Name Zulgea von Mesanthor erwähnt wurde, und sein Gesicht verzerrte sich, als ob er dann körperliche Qualen erleide. Dieser Name kam niemals über seine Lippen. Wenn er Zulgea von Mesanthor erwähnte, sprach er entweder nur von »ihr« oder von »der Hexe«. »Bis auf den heutigen Tag habe ich euch davon nichts erzählt«, sagte Overfan. »Jetzt sollt ihr es wissen. Ich habe einen Gleiter, der kein Videoauge hat, der nicht abgehört werden kann, und der auch nicht an der langen Leine der Integrale fliegt. Damit wäre das erste Problem bereits gelöst. Seid euch jedoch darüber klar, daß die Jagd der Integrale auf uns in dem Moment beginnt, in dem wir vier untertauchen. Eine Umkehr gibt es nicht. Wenn am Ende aber der Tod der Hexe steht, hat es sich gelohnt.« »Mögest du den Tag noch erleben, an dem deine Kinder respektvoll zu dir aufsehen«, fügte Czloth hinzu.
»Das werde ich, verlaß dich drauf. Wenn alles vorbei ist, werden wir unser Leben neu aufbauen.« Der Miratorner bildete einen Mund mit übertrieben vollen Lippen auf der Oberseite seines Körpers heraus. Er lachte und entblößte dabei blendend weiße Zähne. »Ja, am Ende freuen sich alle. Nur nicht Czloth. Der ist tot.« * Das Gesicht des dunkelhaarigen Mannes erschien auf dem Bildschirm. »Du übertreibst, Paule«, sagte Macker. »Wieso kommst du schon wieder?« »Mach keine Witze«, erwiderte Paul Namarro. »Oder willst du, daß ich dir den Strom abdrehe?« »Das würde meinen Circs aber nicht gut bekommen.« »Eben. Und deshalb wirst du dich ruhig verhalten. Wir verlassen jetzt deine Kammer.« »Es geht also los?« »Auf dem Dach dieses Kaufhauses warten meine Freunde in einem Gleiter auf uns.« »Sie sind schon da? Paule, du spinnst.« Der Celester seufzte gequält. »Ich rede nicht von den Freunden, die mit ihrem Raumschiff auf Crynn landen wollen, sondern von jenen, die uns zur Kontrollstation begleiten werden.« »Ich verstehe. Und jetzt willst du von mir wissen, wie du mich auf das Dach bringst, ohne daß der Posidet uns kassiert.« »Wenn du damit den positronischen Kaufhausdetektiv meinst, hast du das Problem erfaßt«, erwiderte Paul Namarro. Er öffnete die Tür, und der Roboter schwebte hinaus. »Der Posidet wird fraglos annehmen, daß ich dich geklaut habe.«
»Ich werde versuchen, ihn zu überzeugen. Ich habe mir den Verkaufskode besorgt. Wenn wir die Sperre passieren, werde ich ein entsprechendes Signal senden. Möglicherweise können wir den CC damit täuschen.« »Wer ist CC?« fragte Namarro verblüfft. Der Roboter schwebte neben ihm her, als er zu einem Antigravlift ging. »Der Kaufhauscomputer«, antwortete Macker, und das Gesicht des dunkelhaarigen Mannes auf dem Bildschirm lächelte. »Seit wann schreibt man Kaufhaus mit C? Wenn du also schon abkürzen mußt, dann bitte richtig.« »KC? Paule, es ist ein Kreuz mit dir. CC ist viel griffiger als KC. Du hast eben kein Gefühl für sprachliche Schönheit.« Namarro zog es vor zu schweigen. »Ich weiß, du überlegst jetzt, ob du mich nicht hier lassen sollst«, sagte der Roboter. »Natürlich kannst du das nicht. Das wäre ein schwerer Fehler. Du brauchst mich. Wie willst du sonst Verbindung mit dem Raumschiff aufnehmen? Wie könntest du ohne mich die vielen positronischen Sperren überwinden? Manche von ihnen neutralisiere ich, ohne viel Aufhebens davon zu machen.« »Ich bin zutiefst gerührt.« Der Celester stieg in den Antigravschacht und ließ sich nach oben tragen. Macker glitt hinter ihm her und schloß zu ihm auf, bis er mit dem Bildschirm vor seinem Gesicht schwebte. »Der Posidet ist nur noch fünf Meter entfernt«, flüsterte der Roboter. »Er spricht auf meine Signale nicht an. Jedenfalls nicht so, wie wir es gehofft hatten. Für ihn sieht es aus, als hättest du einen Fernseher erstanden, aber nicht bezahlt. Vielleicht solltest du ihm deine Individualdaten geben.« »Das wäre das Ende«, wisperte Namarro zurück. »Verdammt, das weißt du doch genau. Schalte den Detektiv aus. Irgendwie.« »Das geht nur auf einem Weg.« »Dann geh diesen Weg.« Am unteren Bildrand öffnete sich ein winziges Türchen, und ein
nadelfeiner Energiestrahl schoß daraus hervor. Er schlug in die Wand des Schachtes und zerstörte die dort versteckte Positronik. Im gleichen Moment heulte tief unter Namarro eine Alarmsirene auf, und das Antigravfeld fiel aus. Namarro schrie entsetzt auf, als er in die Tiefe stürzte. Er wußte, daß ihn am Grund des Schachtes ein Fangfeld erwartete, so daß er keine Verletzungen davontragen würde, aber ihm war auch klar, daß Minuten später Integrale da sein würden. Macker schoß an ihm vorbei, schob sich unter ihn und bremste den Fall ab. Dann trug er ihn rasch beschleunigend in die Höhe. »Ich weiß nicht, warum du dich aufregst«, klagte der Roboter. »Eine andere Möglichkeit gab es nun mal nicht.« »Jetzt werden sie uns hetzen, bis sie uns haben.« »Das ist nun mal ihre Natur«, gab Macker ungerührt zurück. Er hob den Celester am oberen Ende des Schachtes durch eine Öffnung auf das Dach hinaus und schwebte mit ihm zu dem Gleiter hinüber, in dem Overfan, Czloth und Parc auf sie warteten. Namarro sprang von ihm herunter und stieg ein. Der Roboter drängte sich hinter ihm her und setzte sich ihm auf die Knie. »Ihr könnt starten«, verkündete er, und das Gesicht auf dem Bildschirm lachte fröhlich. Parc saß hinter den Steuerelementen. Er zog die Maschine hoch und beschleunigte scharf. Sekunden später reihte er sich in den Strom der zahllosen Gleiter ein, die sich auf dem nach Süden gerichteten Leitstrahl bewegten. »Da unten ist eine Menge los, Paule«, berichtete Macker. »Ich empfange gerade einige Gespräche. Offensichtlich glauben die Integrale an einen verrückten Kaufhausdieb. Solche Leute gibt es immer wieder. Sie klauen nur wegen des Nervenkitzels, nicht aber, weil sie irgendwelche Dinge benötigen.« »Hoffentlich bleiben sie bei diesem Gedanken«, seufzte Overfan. »Sonst ist unsere Operation beendet, bevor sie begonnen hat.« Er ließ sich tief in die Polster sinken. Der Gedanke, daß die
Sicherheitsorgane der Facette sie suchten, schien ihn nicht zu berühren. Parc war noch bleicher als sonst. Er kannte sich mit den Überwachungssystemen am besten aus. Deshalb war er nervös und voller Zweifel. Seine Unruhe steigerte sich, als mehrere Integralgleiter in ihrer Nähe auftauchten, und er erwog bereits, aus dem Verkehrsstrom auszubrechen und ins Häusermeer der Stadt Gom zu fliehen. Doch die Gleiter der Sicherheitsorgane zogen sich wieder zurück, und die vier Rebellen erreichten das offene Land. Sie entfernten sich weiter und weiter von Gom, überquerten riesige Industriekomplexe und landeten schließlich einige Kilometer von einer kleinen Siedlung entfernt an einem See. Paul Namarro stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Er war froh, daß Macker im Gleiter blieb. »Wie geht es jetzt weiter?« fragte Parc durch das offene Fenster. »Das kann ich dir erklären, Käsegesicht«, antwortete Macker, dessen Bildschirm sich zugleich erhellte. Das Bildnis des jungen, dunkelhaarigen Mannes blickte Parc an. »Ich habe Verbindung mit der ZPGO gehabt …« »Zentralpositronik Gom«, warf Paul Namarro seufzend ein. Er wußte, daß die anderen den Roboter sonst nicht verstanden hätten. »… und habe auf diese Weise herausgefunden, daß in dem roten Gebäude da drüben ein Computersystem steht. In diesem sind die Informationen gespeichert, die wir benötigen. Und nicht nur das. In den unteren Räumen befindet sich allerlei militärisches Ausrüstungsmaterial, ohne das wir gar nicht erst gegen die Raumüberwachungsstation vorzugehen brauchen. Unter anderem ist dort unsichtbarer Sprengstoff vorhanden.« »Unsichtbarer Sprengstoff?« Parc blickte Namarro fragend an. Er fürchtete fraglos, daß der Roboter sich über ihn lustig machte. Macker begriff. »Kein Witz«, fügte er hinzu. »Der Sprengstoff besteht aus einer hauchdünnen, farblosen Folie. Unsichtbar wird er genannt, weil
man diese selbstklebende Folie beispielsweise an eine Wand drücken kann, wo sie dann niemand mehr sehen kann. Sie ist nur noch mit einem Spezialgerät wieder aufspürbar. Die Folie ist mit einem Mikrozünder versehen, der bereits eingeschweißt ist. Dieser Zünder kann, sobald er aktiviert worden ist, über Funk gezündet werden.« »Ein Teufelszeug«, erwiderte Parc. »Ein ideales Teufelszeug«, ergänzte Czloth, der auch jetzt noch wie ein Integral aussah. »Richtig«, stimmte Overfan zu. Sein wurmartiger Körper reckte sich bis zur Decke des Gleiters. »Wir brauchen die Folie nur in die Station zu bringen und dort an die Wand zu kleben. Dann können wir uns in Sicherheit bringen und den Sprengstoff aus großer Entfernung zünden.« »Genau das ist richtig«, bestätigte Macker. Das Gesicht lächelte anerkennend. »Wie groß ist die Sprengkraft?« wollte Parc wissen. »Groß genug, Käsegesicht, um die ganze Station in die Luft zu jagen.« »Ich gehe jetzt zu dem roten Gebäude«, sagte Paul Namarro. »Wer begleitet mich?« »Ich denke, das ist ein Job für mich«, antwortete Czloth. »Mich wird man so leicht nicht als Feind erkennen. Und zur Not kann ich mich in eine Flüssigkeit verwandeln, die durch die kleinsten Ritzen dringt.« »Wahrscheinlich sind wir in spätestens zwei Stunden zurück«, erklärte der Celester. »Sorgt dafür, daß ihr bis dahin nicht entdeckt werdet.« Macker schwebte aus dem Gleiter. »Ihr wollt doch wohl nicht auf meine Mitarbeit verzichten?« fragte er. »Das würde ich euch nicht raten. Ich habe alle Informationen, die ihr braucht.« »Er ist eine Nervensäge«, stellte Czloth fest, »aber er hat recht.«
Das Gesicht auf dem Bildschirm nickte dem Miratorner zu. »Du hast es erfaßt, Mimi«, erwiderte er. »Genauso ist es.« Er glitt zu Namarro hinüber und senkte sich vor ihm bis auf Kniehöhe ab. »Du kannst dich setzen, wenn es dir zu anstrengend ist zu gehen«, sagte er. Der Celester nahm die Einladung an und ließ sich tragen. Schon bald darauf erreichten sie ein blühendes Gebüsch. Ein Schwarm leuchtend gelber Vögel schreckte keckernd und pfeifend daraus empor. Von hier aus konnten Namarro, Czloth und der Roboter das Gebäude sehen, das ihr Ziel war. Es lag mehr als zweihundert Meter außerhalb der Siedlung in einem Park, und es glich mit seiner Pontonform und dem erhöhten Mittelteil einem ins Riesenhafte vergrößerten Gleiter. Die Fassade bestand aus einem glasähnlichen Material, das in der Sonne glitzerte und funkelte, so daß der Roboter und die beiden Rebellen nicht in das Innere des Baus sehen konnten. Ein Antigravschweber parkte unmittelbar vor der Eingangstür. »Niemand ist in der Nähe«, bemerkte der Miratorner, nachdem er einen Arm steil in die Höhe gehoben und ein Auge an einem seiner Finger gebildet hatte. »Der Park erinnert mich an unseren Herrensitz Trombe, nach dem ich benannt bin. Er ist so gepflegt, und die Farbzusammenstellung der Blumen ist fast identisch.« »Du hast deinen Namen nach dem Herrensitz erhalten?« fragte der Roboter. »Wie das? Du heißt Czloth, was man kaum aussprechen kann.« »Mein Name ist Czloth von Trombe«, gab der Miratorner zurück. »Niemand ist in der Nähe?« zweifelte Paul Namarro. »Irgend jemand ist mit dem Gleiter gekommen. Und er kann nur im Haus sein.« Macker glitt suchend hin und her, fuhr verschiedene Antennen aus und ließ sich schließlich ins Gras sinken. Sein Bildschirm erhellte sich, und das von Sorgen gezeichnete Gesicht des jungen Mannes erschien.
»Es sieht nicht gut aus«, erklärte er. »Das Gebäude ist zwar bei weitem nicht so gut abgesichert, wie ich angenommen hatte, aber es gibt eine Reihe von traps, an denen wir vermutlich nicht ungeschoren vorbeikommen.« »Traps?« fragte der Ribosomen‐Synthesator. »Damit meinst du vordefinierte Speicherzellen in den Alarm‐ und Sicherungsanlagen, die von den Prozessoren nur gelesen werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Richtig?« »Genau das, Mimi«, antwortete Macker. »Ich bin zwar genial, aber ich glaube kaum, daß ich es schaffen werde, alle traps in vertretbarer Zeit auszuschalten oder zu umgehen. Die Alarmanlage ist nahezu perfekt.« »Was schlägst du vor?« »Wir dringen in den Bau ein und arbeiten uns langsam vor. Sobald wir einen Alarm auslösen, gehen wir zu brachialer Gewalt über. Dann holen wir uns ohne Rücksicht auf Verluste, was wir benötigen: Wir müssen nur so schnell sein, daß wir verschwunden sind, wenn die Integrale hier aufkreuzen.« »Wieviel Zeit haben wir nach dem Alarm noch?« fragte Namarro. »Ich schätze, es sind nicht mehr als drei Minuten.« »Reichlich wenig«, stöhnte Czloth. »Aber wir haben keine andere Wahl. Ich bin für diesen Vorschlag.« »Wir machen es so«, entschied der Celester. »Dann folgt mir«, bat Macker. »Außenkameras sind nicht vorhanden. Die Integrale verlassen sich völlig auf die innere Ausstattung des Gebäudes.« Sie eilten durch die Büsche bis zu dem geparkten Gleiter. Von ihm aus waren es nur noch wenige Schritte bis zur Eingangstür der Station. »Jetzt bist du dran, Mimi«, sagte der Roboter. »Ich brauche ein dünnes Fingerchen, das sich durch den Türschlitz zu einem Knopf an der Innenseite der Tür schieben und diesen drücken kann.« »Das ist alles?« fragte der schwebende Diskus.
»Mehr brauchst du nicht zu tun. Um die Positronik kümmere ich mich.« Der Miratorner bildete einen Tentakel heraus und schob ihn durch einen haarfeinen Spalt in der Tür bis zu dem bezeichneten Knopf. »Geh bitte einen Schritt zur Seite, Paule«, bat Macker. »Ich muß die Tür mit einem Traktorfeld öffnen, und wenn du mir im Weg stehst, könnte dich das die Hose kosten.« Erschrocken wich Namarro aus. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. »Alarm negativ«, meldete der Roboter, und das Gesicht auf seinem Bildschirm lachte. Im Gebäude war es spürbar kühler als draußen. Der Celester empfand es bereits als unangenehm kühl. Er schrieb dieses Gefühl der inneren Anspannung zu, unter der er stand. Er folgte Macker und Czloth, die in einen seitlich abzweigenden Gang schwebten. Plötzlich vernahm er Stimmen. Irgend jemand hielt sich in einem der Seitenflügel auf. Er blieb stehen und horchte. Es waren dunkle, kräftige Stimmen, die nicht zu verstehen waren. Thater! erkannte er. Seine Brust schien sich zu verengen, und ein ziehender Schmerz lähmte seinen linken Arm. Nicht jetzt! flehte Namarro. Er preßte sich die rechte Faust gegen die Brust und rang mühsam nach Luft. Er wollte weitergehen, konnte die Füße jedoch nicht vom Boden lösen. Nimm dich zusammen! mahnte er sich. Du bist nicht krank. Es ist nur die nervliche Belastung, die sich aufs Herz schlägt. Wehre dich, dann geht es. Die Schmerzen ließen langsam nach. Namarro riß die Augen auf und stellte verwundert fest, daß er auf dem Boden kniete. Der Anfall war so heftig gewesen, daß er für Sekunden die Kontrolle über sich verloren hatte. Mühsam stemmte er sich hoch und schritt taumelnd hinter Macker und Czloth her. Sie hatten nichts bemerkt. Die Stimmen der Thater waren lauter geworden. Kamen die
Kolosse näher? Was trieben sie hier überhaupt? Gehörten sie der Crynn‐Brigade an? Dann hatten sie nichts in dieser Station zu suchen, dann waren sie in einen Bereich eingedrungen, der der Verantwortlichkeit der Integrale unterstand. Der Roboter und der Miratorner verschwanden in einer Tür. Als Namarro zu ihnen aufgeschlossen hatte und sich umdrehte, sah er den Arm eines Thaters. Er schob sich um die Ecke des Ganges. Erschrocken flüchtete der Celester durch die Tür und schloß sie hinter sich. Schwer atmend lehnte er sich dagegen, und für Sekunden nahm er überhaupt nichts wahr. Jetzt endlich rang er sich dazu durch, eine Tablette gegen die Enge in seiner Brust zu nehmen. Er sah ein, daß er Czloth unnötig in Gefahr brachte, wenn er nichts gegen seine Schwäche unternahm. Er fand eine Kapsel in der Tasche und schluckte sie herunter. Die Wirkung trat fast augenblicklich ein, und die Brust wurde frei. Namarro konnte wieder besser atmen, und seine Blicke klärten sich. Macker schwebte unmittelbar vor ihm. In den Augen des künstlichen Gesichts lag ein deutlicher Vorwurf. »Jeder muß sich um sich selbst kümmern«, flüsterte der Roboter. »Unsere Lage ist zu schwierig, als daß wir Rücksicht nehmen könnten. Mit solchen Problemen darfst du uns nicht belasten.« »Halte den Mund und kümmere dich um deine Aufgaben«, fuhr Namarro den Roboter an. Er wußte, daß dieser recht hatte, und gerade das ärgerte ihn. »Ich bin in Ordnung. Mich stört nur, daß da draußen zwei Crynn‐Brigadisten sind.« »Das ist mir mittlerweile bekannt«, erklärte Macker. »Die beiden Typen haben noch nichts gemerkt. Sie stehen nur herum und schwatzen.« »Das ist mir auch nicht entgangen, du Genie«, zischte der Celester ärgerlich. »Darum geht es nicht. Das Problem ist, daß uns nur ein paar Sekunden bleiben, wenn wir einen Alarm auslösen sollten.« »Dann werden wir den Alarm eben vermeiden. So einfach ist das.« Der Roboter schwenkte herum und schwebte zu Czloth hinüber,
der am Monitor eines Computers saß und den Dialog mit der Positronik suchte. Macker half ihm, und schon nach wenigen Sekunden leuchtete der Schirm des Monitors auf. Graphische Darstellungen erschienen. Paul Namarro folgte dem Roboter. »Wir versuchen herauszufinden, wo die Raumüberwachungsstation ist«, erläuterte das Mimikry‐Wesen. »Und natürlich das Pyramidon. Bis jetzt haben wir jedoch keinen Zugang zu dieser Frage gefunden. Wir gehen jetzt Umwege über andere Computer, periphere Geräte, die in den großen Städten arbeiten.« »Warum das?« fragte der Celester. »Wegen der traps, Paule«, gab Macker zurück. »Alles, was mit den Raumüberwachungsstationen zu tun hat, ist Geheimsache und wird durch Fallen gesichert. Und das trifft in noch viel größerem Maß auf das Pyramidon zu.« »Wir konzentrieren uns erst einmal auf die Raumüberwachungsstation«, entschied Namarro. »Das Pyramidon kommt ganz am Schluß, wenn wir die nötigen Informationen und alles Material haben. Ich denke vor allem an den Sprengstoff.« »Vielleicht sollte einer von uns inzwischen danach suchen«, schlug der Roboter vor. »Kommt nicht in Frage«, lehnte der Celester ab. »Wir trennen uns nicht.« »Ich habe es«, rief Czloth von Trombe. Er zeigte auf den Monitorschirm. Auf diesem zeichneten sich die Umrisse des Kontinents Mels ab. Weit oben im Norden lag die Stadt Gom, aus der sie gekommen waren. Nach Westen und nach Süden streckten sich zwei riesige Halbinseln wie die Scheren eines Hummers vor. Zwischen ihnen lag das Delta des Kammaflusses. Etwa tausend Kilometer südlich von diesem Delta befand sich eine kleine Insel. Sie glich einem fünfarmigen Seestern. Auf ihr lag die Raumüberwachungsstation.
»Wir sind hier«, sagte der Miratorner und deutete mit einer seiner vier Hände auf einen Punkt auf halber Strecke zwischen Gom und dem Flußdelta. »Es ist also noch recht weit bis zu der Station«, stellte Namarro ernst fest. Er strich sich das weiße Haar aus der Stirn, und die schwarzen Augenbrauen senkten sich tief über die Augen herab. Er schien daran zu zweifeln, daß sie ihre Aufgabe bewältigen konnten. »Wir müssen die Insel immerhin morgen kurz nach Sonnenaufgang erreichen, sonst fliegen unsere Freunde direkt in das Sperrfeuer der Abwehr.« »Ich habe die Information in mich aufgenommen«, gab Macker bekannt. »Sie steht euch jederzeit zur Verfügung.« »Dann paß auf, daß dir niemand den Bildschirm zerschlägt«, entgegnete Namarro. »Sonst sind wir aufgeschmissen.« »Du scheinst dich ja wieder gut erholt zu haben, Paule«, erwiderte der Roboter. »Oder glaubst du im Ernst, jemand könne mir so etwas antun?« Paul Namarro lächelte nur. Er schien das Gesicht auf dem Bildschirm nicht mehr zu sehen. »Die erste Phase haben wir also geschafft«, freute sich Czloth. »Jetzt das Material. Wir müssen vor allem den Sprengstoff haben.« Macker schwebte zur Tür hinüber, und zu dem Gesicht auf seinem Bildschirm gesellte sich eine Hand. Sie legte warnend einen Finger an die Lippen. Unmittelbar darauf vernahm Paul Namarro die Schritte der beiden haluterähnlichen Crynn‐Brigadisten, die an der Tür vorbeigingen. Der Boden zitterte spürbar unter seinen Füßen. »Sie sind noch immer in der Nähe«, flüsterte Macker, nachdem sie einige Zeit gewartet hatten. »Sie haben es überhaupt nicht eilig.« »Ich könnte ihnen den Hals umdrehen«, wisperte Czloth. »Wir verhalten uns still«, wehrte Namarro ab. »Auf einen Kampf mit ihnen können wir uns nicht einlassen. Wir könnten ihn niemals gewinnen. Und auch du nicht, Czloth. Sie würden dich zerreißen,
bevor du eine neue Gestalt annehmen und ihnen durch ihre Finger fließen könntest.« 4. Macker schwebte mitten im Gang. »Seht ihr den Stahlschrank dort?« fragte er. »Nach meinen Informationen liegt darin der Sprengstoff.« »Warum gehen wir dann nicht weiter?« fragte Czloth. »Wir haben lange genug gewartet. Mehr als eine Stunde haben wir wegen der Thater verloren.« »Wir stehen vor einer Falle, die ich nicht ausschalten kann«, erläuterte Macker. »Mit dem nächsten Schritt lösen wir einen Alarm aus.« Paul Namarro, der Miratorner und der Automat befanden sich im ersten Stockwerk im Mitteltrakt des Gebäudes. Macker war es gelungen, einem der Computer zu entlocken, wo der Sprengstoff aufbewahrt wurde. Das war etwa eine halbe Stunde nach dem Abzug der Thater gewesen. Sie hatten viel Zeit verloren, und der Celester fürchtete bereits, daß Overfan und Parc auf den Gedanken kommen könnten, ihnen zu folgen. »Wie lange brauchen wir, um den Schrank zu öffnen und zu verschwinden?« fragte er. »Zwei bis drei Minuten«, antwortete der Roboter. »Wozu reden? Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen es tun.« Paul Namarro hielt ihn zurück, als er die unsichtbare Schranke durchbrechen wollte. »Wir legen jeden einzelnen Schritt fest«, bestimmte er. Dann besprach er, wie Czloth den Schrank am besten und schnellsten öffnen, und wie Macker ihm dabei helfen konnte. Er selbst zog sich bis an die glasähnliche Außenwand zurück. Von dort aus konnte er das Gelände vor der Station überblicken, zugleich aber konnte er
Macker und Czloth bei der Arbeit beobachten. »Draußen ist alles ruhig«, berichtete er. »Es kann losgehen. Ich bitte mir Disziplin aus. Es kommt auf den Sekundenbruchteil an.« »Alle arbeiten«, antwortete der Miratorner lachend. »Nur nicht Paul. Der ist faul.« Er durchbrach die Sicherheitsschranke, und im gleichen Moment heulte eine Alarmsirene auf dem Dach des Gebäudes auf. Macker und er rasten zum Schrank hinüber, und obwohl Namarro sie nicht aus den Augen ließ, konnte er nicht sehen, wie sie ihn öffneten. Sie waren so schnell, als hätten sie einen Schlüssel. Mit Traktorfeldern zog Macker ein Bündel farbloser Folien an sich. Es waren nicht mehr, als Namarro in einer Hand hätte halten können. Dann raste Czloth auch schon auf diesen zu. Der Miratorner veränderte seine Körperform und wurde zu einem stahlharten Keil. Mit der Spitze voran prallte er gegen das Fenster. Es zerbarst krachend. Tausende von winzigen Splittern schossen in den Park hinaus. »Aufgesessen, Paule«, rief Macker. Er glitt lautlos heran. Namarro warf sich kurzerhand über ihn und ließ sich von ihm durch die Öffnung hinaustragen. Macker stürzte sich in die Tiefe und jagte dann in der Deckung der Büsche hinter Czloth her. Vorsichtshalber nahm der Celester die Folien mit dem Sprengstoff an sich. Overfan und Parc warteten mit dem startbereiten Gleiter auf sie. Die Türen standen offen, so daß Czloth und Namarro sofort einsteigen konnten. Macker schob sich als letzter in die Kabine. »So weit wie möglich unten bleiben«, rief er Parc zu, der am Steuer saß. »Hast du gehört, Käsegesicht? Aus der Siedlung rückt die Meute heran. Aber sie fliegt erst zur Station. Solange sie uns nicht sieht, kann sie uns nicht verfolgen.« Käsegesicht Parc lenkte den Gleiter in eine östlich verlaufende Bodenrinne und folgte ihr bis zu einem Fluß. Dann raste er dicht über dem Wasser dahin nach Norden, bis sicher schien, daß sie den Häschern entkommen waren.
Der wurmähnliche Overfan lachte laut auf, als Namarro seinen Bericht über die Aktion beendet hatte. Seine Körperringe gerieten in heftige Bewegungen, und die im Dreieck angeordneten Augen traten weit hervor. »Wahrscheinlich werden die beiden Thater verdächtigt, hinter dieser Sache zu stehen. Geschieht ihnen recht.« Der Gleiter erreichte eine Bergkette, die nach Südwesten führte. »Wir müssen nach Süden«, sagte Namarro. »Wir dürfen diesen Kurs nicht länger beibehalten. Wir verlieren einfach zuviel Zeit.« Parc veränderte den Kurs der Maschine erneut und folgte nun der Bergkette. An den Hängen der Berge lagen zahllose Weinstöcke, die von robotischen Maschinen bearbeitet wurden. In den Tälern erstreckten sich kultivierte Felder, auf denen eine intensive Landwirtschaft betrieben wurde. Häuser waren nur vereinzelt zu sehen. Sie waren fast alle in engen Seitentälern oder an kleinen Seen errichtet worden. »Wenn in dieser Gegend überhaupt intelligente Wesen leben, dann lassen sie sich zumindest am Tage nicht blicken«, bemerkte Overfan. Unversehens warnte Macker vor einer Streife. Parc ließ den Gleiter abfallen und landete hinter einigen Felsbrocken. Sekunden später schoß eine Militärmaschine mit hoher Geschwindigkeit vorbei. »Wir sind gleich an der Küste«, bemerkte der Roboter. »Von da an dürfte es schwieriger für uns werden.« Tatsächlich tauchte die Küste wenig später auf, und die Sonne ging glühend rot über dem Meer unter. Parc flog in niedriger Höhe. Er folgte der Küste, solange es ihm möglich war, und lenkte die Maschine schließlich auf das offene Meer hinaus. Damit stieg die Gefahr der Entdeckung rapide an. Doch keiner der vier Rebellen ließ sich anmerken, daß er sich dieser Gefahr bewußt war. Alle gaben sich betont ruhig. Namarro ließ sich in die Polster seines Sessels sinken, um ein wenig zu schlafen. Die ganze Nacht über würden sie über die offene
See fliegen, bis sie die Insel erreichten. Er hoffte, daß sie bis dahin nicht geortet und aufgebracht werden würden. Wenn wir wenigstens eine Waffe hätten, dachte er. Wir können uns nicht wehren. Auch die anderen beschlossen zu ruhen. Macker übernahm das Steuer. Er hatte lediglich eine überwachende Aufgabe, da Parc den Autopiloten eingeschaltet hatte. Kurz nach Mitternacht weckte der Roboter den Celester. »Paule«, sagte er und rüttelte ihn mit Hilfe eines Traktorfeldes. »Vor uns ist ein Tanker.« »Na und?« fragte Namarro schlaftrunken. »Was geht der uns an? Er wird uns schon nicht angreifen.« »Das nicht, Paule, aber er hat einen Kurs angelegt, der ihn dicht an der Raumüberwachungsstation vorbeiführt.« Der Celester hatte noch immer nicht begriffen. »Sei ein bißchen ausführlicher«, bat er. »Was willst du mir sagen?« »Die Tanker fahren grundsätzlich ohne Besatzung. Sie sind voll robotisiert. Uns wird also niemand verraten, wenn wir an Deck landen und uns mitnehmen lassen. Und genau das sollten wir tun, denn auf diese Weise kommen wir unauffällig bis auf wenige Kilometer an die Insel heran. Wenn wir auf der Höhe der Insel vom Tanker starten und angreifen, wird man uns erst relativ spät orten, später jedenfalls, als wenn wir auf jegliche Deckung verzichten.« »Ist der Tanker so schnell?« »Er ist unwesentlich langsamer als wir.« »Lande auf ihm.« Das freundliche Gesicht des jungen Mannes verschwand vom Bildschirm. Dafür erschien ein dunkles, langgestrecktes Gebilde, das sich mit beachtlicher Geschwindigkeit durchs Meer schob. »Das ist der Tanker«, erklärte Macker. Mittlerweile waren auch der wurmförmige Overfan, Parc und das Mimikry‐Wesen Czloth wach geworden. Sie hörten angespannt zu. »Es erhöht unsere Chancen beträchtlich, und wir verlieren höchstens eine Stunde.«
»Dann warte nicht länger«, drängte Overfan. »Wir brauchen einen Ortungsschutz. Die Götter mögen meine Kinder verdorren lassen, wenn es nicht so ist.« »Kannst du den Gleiter allein steuern?« fragte Parc. »Natürlich, Käsegesicht. Ich bin längst dabei.« Namarro ließ ein Seitenfenster herunter und blickte in die Dunkelheit hinaus. Er konnte den Tanker nicht sehen. Erst als sie unmittelbar vor dem Schiff waren, entdeckte er ihn. Macker zog den Gleiter über den Bug des Tankers hinweg, der rund und glatt war und landete auf dem Heck zwischen einigen Aufbauten. »Seid vorsichtig«, empfahl er den anderen. »Steigt besser nicht aus. Das Schiff hat keinerlei Sicherheitsvorkehrungen für euch. Nur Roboter können sich einigermaßen ungefährdet darauf bewegen. Die Oberfläche besteht aus einem äußerst glatten Material, das den Strömungswiderstand verringern soll. Man rutscht leicht darauf aus.« Parc ließ die anderen Seitenfenster herunter und streckte seinen scheibenförmigen Kopf nach draußen. »Die Luft ist wunderbar«, sagte er. »Ich habe schon lange keine Seeluft mehr geschnuppert.« Er bemerkte die schattenhafte Gestalt nicht, die unmittelbar neben ihm auftauchte und sofort wieder im Dunkel verschwand. Paul Namarro meinte, Schritte gehört zu haben. Er horchte, doch er vernahm nur das Rauschen des Meeres und das Geschrei großer Vögel, die das Schiff begleiteten. »Was transportiert der Tanker?« fragte Czloth, der unverändert die Form des Integrals beibehielt. »Erdöl«, antwortete Macker. »Was sonst?« »Ich hatte keine Ahnung, daß man in unserer Zeit noch mit derart fossilen Energien arbeitet.« »Natürlich nicht. Du bist ja auch Ribosomen‐Synthesator und machst dir keine Gedanken über den Rohstoff Öl. Energie gewinnt man nicht daraus, aber zahllose Kunststoffe für das Bauwesen, die
Bekleidungsindustrie, die Pharmazeutik und viele andere Industriezweige. Was glaubst du denn, woher die Innenausstattung der Raumschiffe kommt, wenn nicht aus dem Erdöl?« »Versprecht mir, daß meine Kinder nie erfahren, welch törichte Frage ich gestellt habe«, rief Czloth. »Ich werde von nun an schweigen. Zumindest für einige Minuten der Besinnung.« Paul Namarro lachte. »Wer denkt in unserer heutigen Zeit schon über so etwas nach?« entgegnete er. »Gut, daß wir …« Weiter kam er nicht. Er hörte ein leises Ächzen neben sich, dann pfiff etwas durch die Dunkelheit und fuhr auf seinen Kopf herab. Er wurde augenblicklich bewußtlos. Ebenso erging es Overfan und Käsegesicht Parc. Auch sie brachen auf ihren Sitzen zusammen. Czloth dagegen war nach dem ersten Schlag nur leicht benommen. Er versuchte, seinen Körper umzuwandeln und eine dicke, elastische Haut zu entwickeln, an der sich die Gewalt brechen mußte. Doch das gelang ihm nicht mehr. Von zwei Seiten prasselten die Schläge auf ihn herab, und einer von ihnen traf sein Nervenzentrum. Paralysiert rutschte er vom Sitz und verwandelte sich in eine zähe, amorphe Masse, die sich über den Boden des Gleiters verteilte. * Als Paul Namarro wieder zu sich kam, ging die Sonne im Osten auf, und ein steifer Wind wehte über Deck. Die Wellen gischteten über das ganze Schiff hinweg. Der Celester lag auf der Seite. Er hatte bohrende Kopfschmerzen, so daß er Mühe hatte zu denken. Arme und Beine waren mit Metallbändern gefesselt, die sich ihm tief ins Fleisch schnitten. Direkt neben ihm lag Parc. Auch das Käsegesicht war gefesselt. Mit angstgeweiteten Augen blickte er ihn an.
»Was ist passiert, Paul?« stammelte er. »Ich habe das Gefühl, daß meine Schädeldecke gebrochen ist.« »Ich habʹ keine Ahnung«, erwiderte der Celester. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, sich aufzurichten. Er war mit Parc allein. Der Gleiter stand nur wenige Meter von ihnen entfernt. Die Türen und Fenster waren geschlossen. »Czloth«, rief er. »Overfan! Macker – wo seid ihr?« Nichts regte sich. Die Sonne geht bereits auf! schoß es ihm durch den Kopf. Nur noch drei Stunden, dann landet das Raumschiff von New Marion. Vielleicht sind es nicht einmal mehr drei Stunden, sondern nur noch zwei. Er stöhnte gequält auf. Als er die Augen schloß, glaubte er, das Raumschiff der Celester zu sehen, das sich aus der Atmosphäre herabsenkte, angegriffen und erbarmungslos abgeschossen wurde. Salziger Gischt spritzte ihm ins Gesicht. Er öffnete die Augen und bemerkte eine schlanke Gestalt, die etwa hundert Meter von ihm entfernt für einen kurzen Moment verschwand. Dann hustete jemand hinter ihm. Er blickte über die Schulter zurück und sah Overfan, der sich ihm watschelnd näherte. Der Muraener war nicht gefesselt, und er war nicht allein. Ihm folgten vier muraenische Frauen. Sie waren kleiner als er und waren an der kräftigen blauen Einfärbung ihrer flossenartigen Füße unschwer als weibliche Vertreter seines Volkes zu erkennen. Overfan ließ sich neben Namarro auf den Boden sinken und löste dessen Fesseln mit einem positronischen Schlüssel. »Tut mir leid«, sagte er. »Es war mir bei der Ehre meiner Vorväter verboten, vor Tagesanbruch mit ihnen zu reden. Sie gehören immerhin dem anderen Geschlecht an. Also mußte ich bis jetzt warten, um euch befreien zu können.« Er nahm auch Parc die Fesseln ab. Paul Namarro war unfähig, etwas zu sagen. Die Fesseln hatten sich zu stark eingeschnürt, und das Blut hatte sich in seinen Händen und Füßen gestaut. Jetzt schoß
es in den normalen Kreislauf zurück und verursachte heftige Schmerzen. Auch Parc litt unter diesen Erscheinungen. Bei ihm wurden die Schmerzen so groß, daß er vorübergehend ohnmächtig wurde. »Sie haben Czloth paralysiert und Macker mit einem Fesselfeld neutralisiert«, fuhr das wurmähnliche Wesen fort. Seine drei Augen leuchteten im Glanz der aufgehenden Sonne. »Ich gestehe, daß sie eine respektable Leistung vollbracht haben.« »Danke«, stöhnte Paul Namarro. »Mir reicht es. Ich dachte, auf diesen Tankern fährt niemand? Sie werden nur von Robotern gesteuert, hat Macker behauptet.« »Er hat die Wahrheit gesagt.« Nach dieser rätselhaften Bemerkung öffnete er eine Tür des Gleiters, beugte sich hinein und befaßte sich einige Minuten lang mit Czloth. Dieser stieß ab und zu Schmerzensschreie aus. Er schien sich noch längst nicht wieder erholt zu haben. Die muraenischen Frauen verharrten schweigend in einigen Metern Entfernung. Eine von ihnen hielt einen Kombistrahler in der Hand. Paul Namarro erhob sich, sackte jedoch wieder zusammen, weil seine Füße ihn noch nicht trugen. »Willst du mir nicht endlich sagen, was hier los ist?« fragte er, als Overfan die Gleitertür wieder schloß. »Es ist ganz einfach«, erklärte der Muraener. »An Bord dieses Tankers leben fünf Frauen meines Volkes. Sie sind blinde Passagiere. Vor mehr als zwei Jahren haben sie sich an Bord geschlichen. Seitdem fahren sie mit dem Schiff über das Meer, unbehelligt von den Integralen und Crynn‐Brigaden. Sie hoffen, daß sie diesen Planeten irgendwann einmal mit einem Raumschiff verlassen können.« »Sie leben hier an Bord?« Der Celester meinte, sich verhört zu haben. »Aber das ist doch nicht möglich. Woher bekommen sie ihre Lebensmittel?« »Das ist allerdings ein großes Problem«, erwiderte Overfan. »Sie
sind darauf angewiesen, Fische und Vögel zu fangen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wasser haben sie ausreichend, da der Tanker auf jeder Fahrt ein ausgedehntes Regengebiet passiert, in dem sie Trinkwasser speichern können.« »Und warum sind sie an Bord gegangen?« »Weil das die einzige Möglichkeit war, den Integralen zu entkommen. Wenn sie es nicht getan hätten, wären sie längst tot.« »Eine verrückte Idee«, seufzte Namarro. »Wie sind sie nur darauf gekommen?« »Als sie sich in höchster Gefahr befanden und kurz vor ihrer Verhaftung standen, sind sie gemeinsam über ein Integral hergefallen und haben es mit einer Spritze betäubt. Dann haben sie ein Wahrheitsserum hinterhergeschossen und das Intergral später verhört. Es hat ihnen gesagt, daß sie nur an Bord eines Tankers der Kontrolle der Sicherheitsorgane entgehen können.« Namarro schwieg verblüfft. Er fragte sich, weshalb er selbst nie auf den Gedanken gekommen war, ein Integral als Informationsquelle zu benutzen. Was die muraenischen Frauen getan hatten, war so naheliegend. Es ist nicht zu fassen, dachte er. Ein halbes Jahr lang habe ich pausenlos darüber nachgedacht, wie ich das Pyramidon finden kann. Ich bin jedes nur erdenkliche Risiko eingegangen, um irgend etwas über dieses geheimnisvolle Pyramidon zu erfahren, aber auf einen solchen Gedanken bin ich nie gekommen. Dabei bietet er sich geradezu an. Wenn überhaupt irgend jemand etwas über das Pyramidon weiß, dann die Integrale. Und du hast dich für einen guten Agenten gehalten! Overfan blickte ihn an und erriet seine Gedanken. Seine im Dreieck stehenden Augen weiteten sich. »Bei der Ehre meines Vaters«, stöhnte er. »Wie konnten wir das übersehen? Haben wir denn soviel Angst vor den Integralen, daß diese unseren Geist lähmt?« »Jetzt ist es zu spät«, erwiderte der Celester. »Wir müssen es
später nachholen, falls wir dann noch die Möglichkeit dazu haben.« »Aber ja doch«, beruhigte das Wurmwesen ihn. »Von den Frauen droht euch keine Gefahr mehr. Sie waren in einer schwierigen Situation. Ihr dürft nicht vergessen, daß sie Angst gehabt haben. Seit zwei Jahren waren sie allein. Nicht ein einziges Mal ist ein anderes Intelligenzwesen auf dem Tanker erschienen oder auch nur in seine Nähe gekommen.« »Ich verstehe«, erwiderte Namarro. »Und dann landet plötzlich mitten in der Nacht ein Gleiter an Deck, und eines der Wesen in der Maschine sieht auch noch so aus wie ein Integral. Vermutlich hätte ich nicht anders gehandelt als sie.« »Mußten sie aber gleich so hart zuschlagen?« jammerte Parc. »Sie haben mir den Schädel zertrümmert und meine Hände und Füße abgetötet.« Ihm schien es wirklich schlecht zu gehen. Dennoch übertrieb er maßlos. Er hatte eine kräftige Beule über dem Federbüschel am Hinterkopf, blutete jedoch nicht. Er hatte sich erhoben und stand recht sicher auf seinen angeblich abgestorbenen Füßen, und er massierte sich die Hände, um sie beweglicher zu machen. Seine rüsselähnliche Nase pendelte schnuppernd hin und her. Namarro lächelte, als er erkannte, daß er sich um den Freund keine Sorgen zu machen brauchte. »Zur Sache«, sagte er und erhob sich ebenfalls. »Können wir an Bord bleiben, bis wir nahe genug bei der Insel sind? Und was ist mit dem Kombistrahler? Werden die Frauen ihn uns geben?« Overfan streckte einen Arm in Fahrtrichtung aus. »Die Insel ist schon zu sehen«, entgegnete er. »Wir werden bald dort sein. Die Frauen werden uns nicht behindern, aber sie geben uns die Waffe nicht. Auf keinen Fall. Ich habe alles versucht, was in meiner Macht stand, aber in diesem Punkt lassen sie nicht mit sich reden. Sie haben aber noch eine Bitte.« »Wir werden sie erfüllen, wenn wir können.« »In diesem Gebiet gibt es große, sehr schmackhafte Fische, aber
die Frauen können sie nicht fangen, weil der Tanker zu schnell fährt. Wir könnten sie vom Gleiter aus angeln, während wir dem Schiff langsam folgen. Auf diese Weise können die Frauen ihren Nahrungsmittelvorrat auffüllen.« »Kein Problem. Das machen wir«, stimmte der Celester zu. »Sie brauchen uns nur zu sagen, was wir tun sollen. Und dann könnten sie Macker endlich befreien. Ich vermisse seine dämlichen Bemerkungen.« Eine halbe Stunde vor dem Eintreffen ANIMAS waren alle Voraussetzungen für einen Angriff auf die Überwachungsstation geschaffen. Paul Namarro hatte genügend Fische für die muraenischen Frauen gefangen, und auch Czloth hatte sich wieder vollkommen erholt. Er hatte abermals das Erscheinungsbild eines Intergrals angenommen, weil er hoffte, die Besatzung der Station in dieser Gestalt täuschen zu können. Macker beteuerte, daß er ebenfalls in Ordnung sei. Er verzichtete darauf, ANIMA ein Signal zu geben, damit die Aufmerksamkeit der Abwehr nicht auf den Tanker gelenkt wurde. Damit hätte er die Sicherheit der muraenischen Frauen unnötig gefährdet. Paul Namarro setzte sich an das Steuer des Gleiters, während Overfan sich von den Frauen verabschiedete. Er versprach ihnen zurückzukommen. Czloth und Parc saßen bereits in der Maschine. Der Käsebleiche öffnete seine Tür und ließ Macker herein, als dieser von einer Suchaktion zurückkehrte. »Hast du eine Waffe gefunden?« fragte er. »Nicht eine einzige«, erwiderte der Roboter. »Noch nicht einmal ein Ding, mit dem man eine Signalrakete abfeuern kann. Absolut nichts. Aber ich kenne mittlerweile die Funkfrequenzen, über die wir die Folien mit dem Sprengstoff zünden können.« »Woher?« fragte der Celester. »Doch nicht etwa von den Intergralen der Station, von der wir die Folien geholt haben?« »Du meinst, daß sie versucht haben, die Folien über Funk
hochzujagen?« Das Gesicht auf dem Bildschirm lachte. »Nein. Sie haben es nicht. Es wäre auch völlig sinnlos gewesen, da die Empfänger in den Folien erst dann auf die Impulse ansprechen, wenn sie aktiviert worden sind.« Paul Namarro verteilte die Folien. Jeder erhielt fünf. »Sie sind unsere einzige Waffe«, sagte er, während Overfan einstieg. »Wir müssen sie auf jeden Fall ins Ziel bringen.« »Das werden wir«, versprach der Ribosomen‐Synthesator. Er lachte, und dann gab er eine weitere Probe seines schwarzen Humors ab. »Alle flogen mit dem Gleiter in die Luft, nur nicht Czloth von Trombe. Der nahm die Bombe.« Namarro startete. 5. Paul Namarro beschleunigte den Gleiter auf den Höchstwert, der bei etwas mehr als dreihundert Stundenkilometern lag. Innerhalb von zwei Minuten legten sie die Entfernung vom Tanker bis zur Raumüberwachungsstation zurück. Der Celester raste dicht über die Wellen dahin. Er hoffte, das Radar unterfliegen zu können. Doch er irrte sich. Die Besatzung der Station hatte vermutlich noch gar nichts bemerkt, als die positronisch gesteuerte Abwehr bereits handelte. Eine Rakete jagte dem Gleiter entgegen, und sie hätten ihn zweifellos vollständig vernichtet, wenn Namarro sich nicht in letzter Sekunde entschlossen hätte, nicht vor dem Gebäude der Station auf offenem Gelände zu landen, sondern etwa hundert Meter davon entfernt zwischen einigen mächtigen Felsbrocken. Er riß den Gleiter scharf zur Seite und verzögerte gleichzeitig. Als die Rakete das Fluggerät traf, flog dieses nur noch sehr langsam und setzte zur Landung an. Das Geschoß schlug ins Heck und zerfetzte es. Der Gleiter verschwand in einem Feuerball, wurde dann aber von der Wucht des Aufschlags hinweggeschleudert. Parc
stürzte aus der Kabine in die Flammen. Er war auf der Stelle tot. Paul Namarro, Czloth und Overfan befanden sich noch im Gleiter, als dieser nur wenige Meter vom Ufer entfernt ins Wasser fiel. Sie erlitten nur geringfügige Verletzungen, konnten sich ins kühle Wasser retten und an Land schwimmen. Macker, der Roboter, folgte ihnen. »Schnell«, rief er ihnen zu. »Bleibt in der Deckung der Klippen. Von der Station her kommen zwei Thater. Meine Circs sagen mir, daß sie nicht nach uns suchen werden, wenn sie Parc gefunden haben.« »Was ist mit Parc?« fragte Namarro, während er Overfan und dem Mimikry‐Wesen folgte, die wesentlich leichter und schneller auf den Klippen vorankamen als er. Der wurmähnliche Muraener glitt wie eine Schlange über das ausgewaschene Gestein, und Czloth schwebte ruhig über jedes Hindernis hinweg. »Hilf mir«, befahl der Celester dem Roboter. »Ich bin zu langsam.« Wortlos schob sich der Roboter heran, und Namarro legte sich bäuchlings über ihn. »Parc ist tot«, teilte ihm der Automat mit. »Die Rakete hat die Tür auf seiner Seite weggerissen. Parc hatte keine Chance.« Namarro preßte erschüttert die Lippen aufeinander. Er hatte das Käsegesicht gemocht und sich immer gut mit ihm verstanden. Der plötzliche Verlust traf ihn hart. Macker flog etwas schneller und schloß zu Czloth und Overfan auf. Er teilte auch ihnen mit, was mit Parc geschehen war, und es löste auch bei ihnen Betroffenheit aus. »Jetzt gerade«, appellierte Czloth an ihr Durchhaltevermögen. »Wir müssen die Station in die Luft jagen. Parcs Tod soll wenigstens dadurch einen Sinn haben.« Sie hatten ein Wäldchen erreicht, das ihnen gute Deckung bot. Im Schutz der Bäume drangen sie ins Innere der Insel vor. Als sie zu einer kleinen Anhöhe kamen, konnten sie die Stelle sehen, an der der Gleiter von der Rakete getroffen worden war. Zwei Thater
standen etwa zwanzig Meter von den verkohlten Resten Parcs entfernt. Ein Roboter untersuchte die Leiche. In diesem Moment zündeten die Folien, die Parc noch immer bei sich hatte. Die krachende Explosion schleuderte den Roboter weit auf das Meer hinaus und warf die Thater zu Boden. Die Kolosse hatten eine erstaunliche Widerstandskraft. Offensichtlich unverletzt kamen sie wieder auf die Beine und flüchteten zur Raumüberwachungsstation hinüber. Diese glich der Spitze eines riesigen Pfeils, der mit dem Schaft in den Boden gerammt worden war. Das Gebäude ragte etwa siebzig Meter in die Höhe. Die widerhakenähnlichen Ausbuchtungen setzten in einer Höhe von etwa fünfzehn Metern an und reichten bis fast zum Boden herab. Mächtige Antennen stiegen vom höchsten Punkt der Station noch einmal annähernd zehn Meter in die Höhe. »Und jetzt?« fragte Overfan. »Wie gehen wir weiter vor?« »Was glaubt ihr, wie viele Thater hier arbeiten?« entgegnete Namarro. »Es sind nur zwei«, behauptete der Roboter. »Höchstens drei oder vier.« »Wie kommst du darauf?« wunderte sich das Mimikry‐Wesen. Es bildete ein Augenpaar auf der Oberseite des Diskus und blickte Macker forschend an. »Du mußt doch einen Grund für diese Annahme haben.« »Habe ich auch. Soweit ich bis jetzt gesehen habe, gibt es auf der ganzen Insel nur einen einzigen Gleiter. Und in dem ist Platz für höchstens zwei Thater.« »Bringe den Gleiter in Sicherheit«, befahl Namarro. »Wir brauchen ihn.« »Das ist er vermutlich nur direkt über dem Gebäude«, erwiderte Macker. »Was meinst du, Paule? Darin könnte ich gleich ein paar Antennen beseitigen.« »Du bist ein kluger Junge«, spöttelte der Celester. »Nur etwas langsam. Zieh endlich Leine.«
Der Roboter, der wie ein Fernseher aussah, schwebte lautlos davon. Sekunden später startete der Gleiter der Thater. Es war eine große Maschine, bot aber nur für zwei dieser haluterähnlichen Kolosse Platz. Macker lenkte sie senkrecht in die Höhe, und er hatte die Spitze der Überwachungsstation erreicht, bevor irgend jemand im Gebäude reagieren konnte. Er verharrte kurz an der Halterung der Antennen und stieg dann noch weiter auf. »Er hat es geschafft«, sagte Czloth befriedigt. »Die Sprengladung sitzt.« Über der Station blitzte es auf, und dann breitete sich ein wabernder Feuerball aus. Die Antennen wirbelten davon. Trümmerstücke regneten herab, prallten jedoch weit von Overfan, Czloth und Namarro auf den Boden. Gleichzeitig heulten Alarmsirenen auf. Die Raumüberwachungsstation brannte. War der Schaden bereits ausreichend? War damit die Raumüberwachung für den südlichen Bereich des Planeten Crynn ausgefallen? Zwei Thater stürzten aus dem Eingang der Station hervor. Sie hielten schwere Energiestrahler in den Händen. Sie wollten den Gleiter abschießen, doch als sie ihre Blicke nach oben richteten, konnten sie ihr Ziel nicht mehr sehen. Es befand sich auf der anderen Seite des Gebäudes. Die beiden haluterähnlichen Geschöpfe diskutierten kurz miteinander. Dann trennten sie sich. Eines rannte links um das Gebäude herum, das andere rechts. Im gleichen Moment glitt hoch über ihnen der Gleiter durch Feuer und Qualm zu dieser Seite der Station herüber. »Czloth«, rief Namarro. »Komm. Wir bringen unsere Sprengladung an. Ich will ganz sicher sein, daß unsere Freunde von New Marion heil durchkommen.« Er sprang auf und rannte zu dem Eingang des Gebäudes hinüber.
Das Mimikry‐Wesen schwebte neben ihm her. Dabei bereitete es die Zünder seiner Ladungen vor. Das hatte der Celester bereits erledigt. Er stürmte durch die Tür, jagte eine Antigravschräge hinauf und klebte die Folien dann nebeneinander an die Wand. Czloth flog etwas höher und brachte seine Sprengsätze dort an. »Diese Wand muß ein tragendes Element sein«, rief er. »Vermutlich stürzt der ganze Bau ein, wenn das Zeug explodiert.« »Das wollen wir hoffen«, antwortete Paul Namarro. Er gab das Zeichen für den Rückzug. Er eilte zur Ausgangstür und wartete dort auf Czloth. Als dieser zu ihm aufschloß, fielen draußen mehrere Schüsse. Erbleichend fuhr der Celester zurück. Die Schützen waren keine drei Meter von ihm entfernt. Er wäre ihnen direkt in die Arme gelaufen, wenn er nicht stehengeblieben wäre. Laut heulend raste der Militärgleiter heran. Er tauchte plötzlich aus dem Qualm auf, der vom Wind bis auf den Boden herabgedrückt wurde, und flog dicht über die Köpfe der beiden Thater hinweg. Er war so nah, daß Namarro den Roboter Macker sehen konnte, der über den Steuerelementen schwebte. Der Bildschirm war erhellt und zeigte die Karikatur eines haluterähnlichen Wesens, das wild mit seinen vier Armen fuchtelte und mit den Beinen auf einem Trümmerhaufen herumstampfte. Wütend brüllend eilten die Thater hinter der Maschine her. Sie feuerten mit ihren Energiestrahlern, trafen jedoch nicht. Namarro und Czloth nutzten die Gelegenheit und flüchteten zu Overfan hinüber. »Weiter«, drängte das diskusförmige Mimikry‐Wesen. »Wenn das Gebäude umstürzt, fällt es uns auf den Kopf.« Sie zogen sich bis ans Wasser zurück. Von hier aus konnten sie die beiden Thater sehen, die sich bei ihrer Jagd auf den Gleiter weit von der Raumüberwachungsstation entfernt hatten. »Jetzt das Feuerwerk«, sagte Namarro und sendete die Impulse für die Zünder. Im nächsten Moment schien die Insel zu bersten. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen explodierte der angebrachte
Sprengstoff, und der untere Teil des turmartigen Gebäudes verschwand in wabernder Glut. Dann neigte sich der Bau zur Seite und stürzte in sich zusammen. Bauelemente wirbelten durch die Luft, und Teile von Antennen prallten nur wenige Meter von Namarro, Czloth und Overfan entfernt auf den Boden. »Das ist einer der schönsten Momente meines Lebens«, jubelte der Miratorner. An der Oberfläche seines Diskuskörpers bildeten sich zwei Hände. Er schlug sie klatschend gegeneinander, um auf diese Weise deutlich zu machen, wie sehr er sich freute. »Eine erfolgreiche Aktion«, sagte Overfan. »Ich bedaure nur, daß unser Freund Parc dies nicht mehr sehen konnte.« Plötzlich war der Gleiter neben ihnen. Seine Türen öffneten sich. »Was ist denn, Freunde?« rief Macker. »Wollt ihr nicht endlich einsteigen?« Nur zu gern kamen sie dieser Aufforderung nach. Namarro sah sofort, daß der Roboter einen Teil des Armaturenbretts zerstört und ein dort verstecktes Videoauge herausgenommen hatte. »Die beiden Thater sitzen auf der Insel fest«, triumphierte Overfan, als der Gleiter auf das offene Meer hinausflog. »Aber sie werden nicht lange allein bleiben. Ich bin sicher, daß schon jetzt schnelle Maschinen von benachbarten Stützpunkten hierher unterwegs sind, um nach dem Rechten zu sehen.« »Wohin fliegen wir, Paule?« fragte der Roboter. »Bringt mich zum Tanker«, bat der wurmähnliche Overfan. »Ich hoffe, ihr versteht, daß ich zu den Frauen möchte, um ihnen zu helfen.« »Wir trennen uns also«, stellte Paul Namarro fest. »Das ist vermutlich das beste.« »Unsere wichtigste Aufgabe haben wir erledigt«, erklärte Overfan. »Ich fühle eine tiefe Befriedigung in mir, zugleich aber ist mir klargeworden, daß wir mehr gegen die Hexe nicht erreichen können. Deshalb ist es wichtiger für mich, den Frauen zu helfen und vielleicht irgendwann mit ihnen in meine Heimat zurückzukehren.«
»Ich verstehe dich«, erwiderte der Celester. »Wahrscheinlich würde ich an deiner Stelle ebenso handeln.« »Ich würde es ganz bestimmt«, sagte Czloth. »Du hast ihnen gegenüber eine Verantwortung. Paul und ich werden weitersuchen. Wir werden herausfinden, wo sich das Pyramidon verbirgt.« Macker landete auf dem Heck des Tankers. Von den muraenischen Frauen war nichts zu sehen. »Sie haben Angst, weil dies ein Militärgleiter ist«, bemerkte Overfan. »Sie werden sich erst zeigen, wenn sie mich sehen. Macht eure Sache gut.« Damit stieg er aus und eilte watschelnd zu einer Pumpe hinüber. Er hielt sich an ihr fest und reckte sich würdevoll in die Höhe. Seine im Dreieck stehenden Augen leuchteten, als der Gleiter startete. Czloth winkte ihm zu. »Wohin jetzt?« fragte Macker. »Nach Süden«, bestimmte Namarro. »Unsere Freunde werden in weniger Minuten irgendwo dort unten landen. Wenn wir sie treffen wollen, müssen wir zu ihnen fliegen.« »Bis zu einer weit nach Norden vorstoßenden Landzunge sind es etwas mehr als tausend Kilometer«, teilte Macker mit. »Wir können in zweieinhalb Stunden dort sein. Ich schlage je doch vor, daß wir einen Bogen fliegen denn ich fürchte, daß aus dem Bereich des Südpolkontinents Hilfe für die Raumüberwachungsstation heraufkommt.« »Wir weichen aus«, stimmte Namarro zu. Er blickte durch das Rückfenster zurück. Die Insel war schon nicht mehr zu sehen, doch am Horizont erhob sich eine schwarze Rauchsäule, die deutlich anzeigt, wo sie war. Sie würde auch herbeieilenden Helfern das Ausmaß der Katastrophe unmißverständlich klarmachen. *
»Das ist das Raumschiff, dem wir uns anschließen werden«, sagte Sarah. Sie zeigte durch eine transparente Scheibe in den Weltraum hinaus. Deutlich war ein langgestreckter Frachter zu erkennen, der sich dem Planeten Crynn näherte. Seine Flanke leuchtete weiß im Licht der Sonne Kahrmacrynn. »Hoffentlich geht das gut«, sagte Buster McMooshel. Spooner Richardson trat ein. Er hatte die Worte des Mediziners gehört. »Keine Sorge, Medizinmann«, sagte er. »Ich komme von der KORALLE. Gerade ist ein Funkspruch eingelaufen. Die Raumüberwachungsstation Süd ist ausgefallen. Ein Witzbold, der sich Macker nennt, sagt, er habe sie kurzerhand in die Luft gesprengt. Geholfen hätten ihm unser Freund Paul Namarro, und Czloth, ein Muraener.« »Phantastisch«, freute sich der Arkonide. »Wir können also davon ausgehen, daß wir zumindest während der Landung keine Schwierigkeiten bekommen werden. Hat dieser Macker sonst noch was durchgegeben?« »Allerdings. Er hat gesagt, das Team werde sich auf die Suche nach dem Pyramidon der Facette Zulgea von Mesanthor machen und uns zu gegebener Zeit informieren, wo diese zu finden ist.« Arien Richardson lachte. »Scheint ja ein toller Bursche zu sein, dieser Macker.« Die ANIMA glitt an den Frachter heran und blieb bei ihm, als er in die Lufthülle von Crynn eindrang. Die Besatzung des großen Schiffes bemerkte sie nicht. »Es hat sich gelohnt, daß wir Paul Namarro eingeschleust haben«, bemerkte Arien Richardson. »Ich bin gespannt, wie weit er mittlerweile mit seinen Nachforschungen gekommen ist.« »Ist er der einzige Agent, den ihr auf Crynn habt?« fragte Atlan. »Der einzige«, bestätigte der »Feuerwehrmann«. »Es war schwer genug, ihn einzuschleusen. Und ich bin froh, daß wir es geschafft haben. Du hast Paul deine Befreiung zu verdanken. Wenn er uns
nicht darüber informiert hätte, daß du von den Thatern festgehalten wirst, hätten wir niemals eingegriffen.« Richardson lächelte. »Allerdings haben wir geglaubt, daß du ein Celester bist. Aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr. Wir haben Paul vor sechs Monaten eingeschleust, weil wir befürchteten, daß die Facette Zulgea von Mesanthor uns Celester eines Tages sehr viel härter an die Kandare nehmen wird, als es bisher der Fall war.« »Er hat gute Arbeit geleistet. Und es ist ihm gelungen, Verbündete zu finden. Er muß ein bemerkenswerter Mann sein.« »Das ist er, Atlan«, bestätigte Arien. »Leider scheint er noch nicht zu wissen, wo das Pyramidon ist. Wir brauchen diese Information dringend, denn wenn wir nicht innerhalb kürzester Zeit zur Hexe vorstoßen können, werden wir kaum durchkommen.« »So skeptisch, Feuerwehrmann?« »Das muß ich wohl sein.« Flora Almuth wurde unruhig. Sie griff sich an den Kopf, und ihre Lider begannen nervös zu zucken. »Was ist los, Flora?« fragte McMooshel. »Stimmt etwas nicht?« Die Frau, die Sarah so ähnlich sah, schüttelte den Kopf. »Ich spüre es«, erwiderte sie. »Marie. Sie ist hier auf Crynn.« »Bist du sicher?« »Natürlich, Buster. Ich habe es euch schon vorher gesagt, aber da war ich meiner Sache noch nicht so sicher wie jetzt. Marie ist meine Zwillingsschwester. Es ist, als wären wir durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Und dieses Band wird stärker. Ich fühle einfach, daß sie auf Crynn ist. Als Gefangene. Ja, sie ist die Gefangene der Hexe.« »Der Facette geht es hauptsächlich um Psi‐Potentiale«, gab der Arkonide zu bedenken. »Warum sollte Zulgea von Mesanthor deine Schwester Marie gefangenhalten? Hat sie ein parapsychisches Talent?« Flora Almuth blickte verwirrt auf. Sie schien Mühe zu haben, sich
zu konzentrieren. »Ein Psi‐Talent?« erwiderte sie sinnend. Ihre Augen belebten sich und leuchteten auf, als wären sie von einem Lichtstrahl getroffen. »Aber ja. Ich erinnere mich. Sie hatte parapsychische Fähigkeiten. Zumindest eine.« »Was für ein Talent?« Sarah legte ihrer Tante den Arm um die Schultern. »Entsinnst du dich?« Das Licht erlosch in den Augen der Frau, die über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg als schwachsinnig gegolten hatte. »Nein«, erwiderte sie traurig. »Ich weiß es nicht mehr.« »Nicht so wichtig«, besänftigte Atlan sie, der merkte, daß sie verzweifelt nach einer Antwort suchte. »Es spielt keine Rolle, welches Talent sie hatte. Wichtig ist allein, daß sie eins hatte. Immerhin werden dadurch Zusammenhänge deutlich. Sarahs Mutter könnte aus diesem Grund entführt worden sein.« Unlogisch! protestierte das Extrahirn. Du solltest überlegen, bevor du dich äußerst. Marie Almuth muß – freiwillig oder nicht – eine Angehörige der Crynn‐Brigade sein. Und warum? Man hat sie vor 25 Jahren entführt. In der Zwischenzeit hätte man sie längst jener Prozedur unterzogen, bei der ihr das Psi‐Potential entnommen wird. Du meinst, sie hat es noch? Flora Almuth spürt etwas. Es gibt eine Verbindung zwischen den Zwillingsschwestern. Das ist der Beweis dafür, daß Marie Almuth das Psi‐ Potential noch hat. Zieh deine Schlüsse daraus. Aber die richtigen! 6. Ein eisiger Wind pfiff dem Gleiter entgegen, als dieser sich dem Südpolkontinent näherte. Schon längst hatte Paul Namarro die Heizung eingeschaltet, und mittlerweile hielt er es für eine gar nicht
mehr so gute Idee, in diese Region vorzudringen. »Vielleicht wäre es besser gewesen, es irgendwo anders zu versuchen«, sagte Czloth. »Ich kann mein Äußeres zwar nach Belieben verändern, mich aber gegen Temperatureinflüsse kaum wehren. Auf Miratorn bewohnen wir nur die warmen Klimazonen.« »Jetzt ist es zu spät, Czloth«, erwiderte der Celester. »Unsere Freunde sind mittlerweile hier irgendwo gelandet. Man wird sie suchen. Um uns kümmert sich niemand. Wenn wir einen Stützpunkt finden, stoßen wir dort ganz sicher nur noch auf eine Notbesatzung. Du hast selbst gesehen, daß ein ganzer Schwarm von Gleitern nach Norden zur Raumüberwachungsstation geflogen ist.« »Ich kenne keine Kälte«, klagte Czloth. »Vielleicht verliere ich meine Mimikry‐Fähigkeiten, wenn es zu kalt ist? Dann hätten wir nichts gewonnen.« »Abwarten, Czloth.« »Wespen«, meldete Macker. Sein Bildschirm schaltete sich ein. Sieben Raumschiffe der Facette Zulgea von Mesanthor zeichneten sich darauf ab. Sekunden später flogen sie mit donnernden Triebwerken über den Gleiter hinweg und verschwanden in Richtung Südpol. »Sie suchen unsere Leute. Auf uns achten sie nicht, weil wir in einer Militärmaschine fliegen«, sagte Namarro. »Ich möchte wissen, wo sie das Raumschiff verstecken wollen.« »Ist mir egal«, murmelte der Miratorner. Paul Namarro freute sich auf die Begegnung mit den Celestern. »Wer ist eigentlich an Bord?« fragte er den Roboter. »Und wie heißt das Raumschiff, mit dem sie gekommen sind? Kenne ich den Kommandanten?« »Das Schiff heißt ANIMA«, antwortete Macker. »Ich weiß bis jetzt nur, daß Arien Richardson an Bord ist.« »Arien. Der Feuerwehrmann.« Paul Namarro lächelte, und er wurde sich dessen bewußt, daß ihn jede andere Antwort überrascht hätte. Natürlich kam Arien Richardson nach Crynn. Wer denn
sonst? »Ich habe auf weitere Kontakte verzichtet, um das Schiff und uns nicht zu gefährden«, berichtete der Automat. »Gut so«, lobte Namarro. »Wir werden Richardson bald sehen. Dann können wir alles bereden, was wir wollen. Bis dahin halten wir uns zurück. Es sei denn, daß die ANIMA will, daß wir uns bemerkbar machen. Konzentrieren wir uns auf die Integrale.« »Westlich von uns liegt ein kleiner Stützpunkt«, teilte der Roboter mit. Er schaltete sich in die Infrarotortung des Kampfgleiters ein, und das Bild einer Kuppelstadt erschien auf seinem Schirm. Unterschiedliche Farben zeigten die Temperaturdifferenzen innerhalb der Bauten an. Jede Maschine und jedes lebende Wesen wurden sichtbar. »Anhand des Infrarotbildes ist mühelos zu erkennen, daß vor kurzer Zeit zwölf Gleiter vom Stützpunkt gestartet sind«, kommentierte Macker. »Alle haben sich in nördlicher Richtung entfernt. Zur Zeit ist kein einziger Gleiter mehr da. In der größten der sechs Kuppeln halten sich vier Integrale auf – jedes von ihnen in einem anderen Raum. Thater sind nicht vorhanden.« »Also beste Voraussetzungen für uns«, sagte Namarro. »Nur fehlt uns leider das Wahrheitsserum.« »Das ist mit Sicherheit im Stützpunkt vorhanden«, bemerkte Czloth. »Auch hier werden Verhöre durchgeführt. Integrale haben zwar ein untrügliches Gespür dafür, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht, aber sie brauchen das Serum, weil sie sonst keine Aussage erhalten.« »Wir riskieren es«, entschied der Celester. »Macker, du hilfst mir, die Bordgeschütze auf Paralysewirkung umzustellen.« Der Roboter griff mit einem unsichtbaren Traktorfeld zum Armaturenbrett, und ein Hebel sprang klickend herum. Gleichzeitig leuchtete ein blaues Kontrollfeld auf. »Die Lähmstrahler sind einsatzbereit, Paule«, teilte Macker mit. »Gut. Drei der vier Integrale werden paralysiert. Läßt sich das
machen?« Der Gleiter flog auf eine der Kuppeln zu. Macker schickte ein Funksignal aus, und eine Schleuse öffnete sich. Dann fiepte es mehrmals, und das Infrarotbild machte deutlich, daß sich drei der vier Integrale nicht mehr bewegten. Der Gleiter landete in der Schleuse, und diese schloß sich wieder. Ein Innenschott öffnete sich und gab den Blick frei in einen mit Ausrüstungs‐ und Versorgungsgütern gefüllten Raum. Paul Namarro sprang aus der Maschine. Zunächst hatte er daran gedacht, den Kombistrahler mitzunehmen, den er in einem Fach der Militärmaschine gefunden hatte. Doch mittlerweile hatte er diese Idee aufgegeben, denn die thatische Waffe war viel zu schwer für ihn. Sie hätte ihn nur aufgehalten. Dann ging alles viel schneller als erwartet. Zusammen mit Macker und Czloth stürmte der Celester durch die Gänge und Räume der Kuppel, bis sie das Integral in einem Labor überraschten, wo es an einem wissenschaftlichen Experiment arbeitete. Ein zerlegter Fisch lag vor ihm, und auf dem Bildschirm des Positronenmikroskops zeichneten sich Zellstrukturen ab. Das Integral war so überrascht, daß es sekundenlang unfähig war, sich zu bewegen. Es hatte fraglos nicht damit gerechnet, ausgerechnet in einer Südpolstation von Feinden der Facette angegriffen zu werden. Als es sich endlich bewegte und in einen der Hohlräume an seinem Diskuskörper greifen wollte, hielt Macker seine Arme mit Hilfe von Traktorstrahlen fest. »Keine Sorge, Paule«, sagte der Roboter. Auf seinem Bildschirm erschien wieder einmal das feixende Gesicht des jungen Mannes. »Das Ding rührt sich nicht von der Stelle, solange mir der Strom nicht ausgeht.« »Das wird hoffentlich nicht gerade jetzt der Fall sein«, seufzte der Celester. Czloth glitt in das Labor. Er umkreiste das Integral, und auf der
Oberfläche seines diskusförmigen Körpers erschien ein unregelmäßiger blauer Fleck. »Damit ihr mich nicht mit dem Integral verwechselt«, erläuterte er, streckte seine tentakelartigen Arme aus und untersuchte die Hohlräume am Rand des Diskuskörpers. Er förderte einige wissenschaftliche Instrumente und einen kleinen Kombistrahler daraus hervor. »Was fällt euch ein?« schrie das Integral. Es blähte sich auf, als ob es empört sei, und fuchtelte mit den Armen. Vergeblich versuchte es, sich aus der Klammer des Roboters zu befreien. »Glaubt ihr wirklich, daß ihr irgend etwas damit erreicht? Ich werde euch abziehen lassen, wenn ihr mit dem Unsinn aufhört. Niemand wird etwas von eurer Wahnsinnstat erfahren.« »Ich sehe mich nach den anderen Integralen um«, sagte Czloth, ohne auf die Worte des Gefangenen einzugehen. Er wußte ebenso wie Atlan, daß sie ihm ganz sicher nicht vertrauen durften. Wenn sie sich auf Verhandlungen mit ihm einließen, hatten sie bereits verloren. Integrale kannten keine Gefühle. Sie waren auf unbedingten Gehorsam programmiert. Daher waren sie gar nicht in der Lage, irgendwelche Kompromisse einzugehen. »Sie sind paralysiert, aber wir müssen sicher sein, daß sie es lange genug bleiben.« Paul Namarro hielt ihn nicht auf. Er befahl dem Roboter, das Integral festzuhalten. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Büro des Sicherheitsoffiziers. Er glaubte zu wissen, wie dieses aussah, und wo er es finden würde. Tatsächlich entdeckte er schon bald einen Raum, von dem aus sämtliche anderen Räume und Einrichtungen des Stützpunkts überwacht werden konnten. Er setzte sich an den Computer und arbeitete einige Minuten lang mit ihm, bis es ihm gelang, ihm den entscheidenden Hinweis zu entlocken. Danach kam er erstaunlich leicht zum Ziel. Der Computer gab ihm ein Fach in einem Stahlschrank an und nannte ihm die Zahlenkombination für das Schloß, mit dem dieser
abgesichert war. Er öffnete den Schrank und das Fach, ohne daß ein Alarm ausgelöst wurde. In dem Fach lagen zahlreiche Medikamente. Das Wahrheitsserum befand sich in einer Hochdruckspritze und war mit dem Hinweis versehen, daß es für alle Sauerstoffatmer verwendbar sei. »Na also«, triumphierte der Celester. »Mehr wollen wir ja gar nicht.« Er nahm die Spritze an sich und eilte zu Macker und dem Integral zurück. Dieses schrie auf, als es sah, was Namarro in der Hand hielt, und für einige Sekunden schien es so, als könnte es doch Gefühle entwickeln oder Angst empfinden. »Das wagst du nicht«, kreischte es. »Damit unterschreibst du dir dein eigenes Todesurteil.« Namarro zuckte gleichgültig mit den Schultern. Die Drohung des Integrals beeindruckte ihn nicht. Er setzte die Hochdruckspritze an den Diskuskörper und löste sie aus. Zischend schoß die Droge durch die Haut des verhaßten Gegners. Die Fronten hatten sich verkehrt. Für das Integral war etwas kaum Vorstellbares geschehen. Die Integrale waren das mächtigste Instrument der Facette Zulgea von Mesanthor auf Crynn. Jeder fürchtete die Integrale. Jeder duckte sich vor ihnen. Ernstzunehmenden Widerstand gegen sie gab es nicht und hatte es nie gegeben. Doch jetzt hatte jemand gewagt, diese Vorstellungswelt des Integrals zu durchbrechen. Paul Namarro hatte sich aufgelehnt und das Integral mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Damit hatte er ihm ein Ereignis herbeigeführt, das es für die Integrale eigentlich gar nicht geben konnte. Er hatte ihm eine Niederlage beigebracht. Das mußte für das Integral fraglos Konsequenzen haben. Paul Namarro war sich dieser Tatsache bewußt, und er zweifelte auch nicht daran, daß das Integral sich so bald wie möglich an die Verfolgung machen würde, um die Niederlage wieder
wettzumachen. Doch davon ließ er sich jetzt nicht beeinflussen. Er wartete etwa eine Minute, bis das Serum wirkte, dann stellte er seine erste Frage. »Wie heißt du?« »Pzodz. Meine Nummer ist 37.414«, antwortete das Integral, ohne zu zögern. Von seinem bisherigen Widerstand war nun nichts mehr zu spüren. »Gut, Pzodz. Du wirst mir alles sagen, was du weißt.« »Ich werde sagen, was ich weiß.« »Zulgea von Mesanthors Politik beruht auf dem Wirken der Crynn‐Brigade nach außen hin und der Integrale auf dem Planeten Crynn.« »Richtig«, bestätigte der Gefangene. »Wir Integrale sind nur auf Crynn tätig. Wir haben die inneren Feinde auszumerzen. Die. Crynn‐Brigade, die hauptsächlich aus Thatern und Mutanten besteht, schützt den gesamten Herrschaftsbereich der Facette und jagt Psi‐Potentiale.« »Wozu? Was macht Zulgea mit den Psi‐Potentialen?« »Sie verwendet sie zum Teil für sich selbst«, erwiderte das Integral bereitwillig. »Zum einen Teil für sich – und zum anderen?« »Das ist mir nicht bekannt.« »Zulgea stützt sich also auf die Psi‐Fähigkeit der Mutanten und auf eure Quasi‐Psi‐Fähigkeiten, mit denen ihr erkennen könnt, ob jemand lügt.« »Richtig.« »Könnte es sein, daß sie einen Teil der erbeuteten Psi‐Potentiale abführt?« »Das ist sehr wahrscheinlich.« »Wohin?« »Das ist ihr Geheimais. Ich weiß nur, daß Zulgea bald wieder liefern muß, und es scheint, als hätte sie nicht genügend Potential.« Paul verzichtete darauf zu fragen, woher das Integral dies wußte.
Er wollte das Verhör nicht komplizierter gestalten als unbedingt notwendig. »Wie könnte sie den Mangel ausgleichen?« »Sie muß auf ihre eigenen Mutanten zurückgreifen.« »Das würde ihre Macht deutlich schwächen.« »Fraglos. Ja.« »Wo ist Zulgea von Mesanthor jetzt?« Das war die entscheidende Frage. Paul Namarro spürte die Anspannung, unter der er stand. Plötzlich war die Enge in seiner Brust wieder da, nachdem er schon lange keine Beschwerden mehr gehabt hatte. Er fühlte, daß ihm die Hände feucht wurden. Warum zögerte das Integral? Warum antwortete es nicht? »Wo ist das Pyramidon?« Das Integral zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Es versuchte, die Arme hochzureißen, doch Macker hielt es fest. »Antworte!« »Ich weiß es nicht«, brachte der Gefangene mühsam hervor. Er schien einen schweren inneren Kampf mit sich auszufechten. »Wenn du es mir nicht sagst, werde ich dir eine weitere Spritze geben. Sie könnte dich töten.« »Ich weiß. Sie wäre tödlich.« »Wo ist das Pyramidon?« Das Integral schwieg. »Gibt es das Pyramidon?« »Es existiert.« »Ist das Pyramidon der Sitz der Facette? Hält sich Zulgea von Mesanthor in ihm auf?« »Das ist zutreffend.« Paul Namarro atmete tief durch. Vor seinen Augen flimmerte es, und er zwang sich dazu, einige Schritte auf und ab zu gehen. Die Schmerzen in seiner Brust flauten langsam ab. »Wo ist das Pyramidon? Wo ist es? Ich will es wissen. Wo ist das Pyramidon?«
Das Integral sackte auf den Boden herab. Sein Antigravorgan schien zu versagen. Es mochte keine Gefühle kennen, dennoch aber reagierte es auf Belastungen, durch die der einprogrammierte Gehorsam in Gefahr geriet. Es war wie bei einem Roboter, dessen Positronik durch kritische Fragen in Konflikte gestürzt wurde, die sie allein nicht lösen konnte. »Es befindet sich auf dem Berg Mauntenn.« »Das Pyramidon ist auf dem Berg Mauntenn«, wiederholte der Celester. »Also gut. Wo ist der Berg Mauntenn?« Das Integral schwieg lange, bevor es antwortete, so daß Namarro bereits erwog, ihm eine weitere Injektion zu geben. »Auf dem Meiskontinent. Etwa zweitausend Kilometer südöstlich der Stadt Gom.« »Das wäre dann auf der Halbinsel Talern«, stelle Namarro fest. Er blickte auf den Bildschirm, auf dem eine Landkarte erschien. Macker half tatkräftig mit, den Standort des geheimnisvollen Pyramidons genau festzulegen. »Richtig?« »Ja. Das stimmt. Die Karte ist korrekt, und auch der Berg Mauntenn ist richtig angezeigt.« Der milchig‐weiße Diskus verfärbte sich. Er wurde grau, als überziehe er sich mit Staub. Die Arme fielen schlaff auf den Boden herab. »Unnötig, so was zu erwähnen«, beschwerte sich der Roboter. »Wenn ich mir schon die Mühe mache, eine Landkarte zu zeichnen, dann stimmt auch alles in ihr.« »Das warʹs«, lächelte der Celester. »Wir müssen das Integral irgendwo einsperren. Halte es fest. Ich bin gleich zurück.« Er verließ das Labor und prallte dabei fast mit Czloth zusammen, der in diesem Moment zurückkehrte. Erleichtert berichtete er dem Miratorner, was er erfahren hatte. Das Mimikry‐Wesen triumphierte. Zugleich bedauerte es, daß es bei dem Verhör nicht anwesend gewesen war. Allzu gern hätte es ein Integral gesehen, das sich ihnen beugte.
»Ich weiß, wo wir Pzodz einsperren können«, sagte er und führte Namarro zu einer kleinen Stahlkammer, die nur wenige Schritte entfernt war. Sie enthielt keinerlei Gegenstände, mit deren Hilfe sich das Integral befreien konnte. »Ausgezeichnet«, freute sich der Celester, und er rief Macker zu sich. Der Roboter brachte den Gefangenen mit und schloß ihn ein. »Und jetzt?« fragte Czloth. »Fliegen wir direkt zum Berg Mauntenn?« Namarro kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn in diesem Moment heulte eine Alarmpfeife auf. »Was ist los?« rief der Celester. »Ein Kampfgleiter kommt zurück«, antwortete der Roboter. »Ich habe gerade entsprechende Funkimpulse aufgefangen.« * Als ANIMA gelandet war, verwandelte sie ihr Äußeres. Danach glich sie einem jener Eisblöcke, wie sie zu Tausenden und in allen Größen in der Bucht herumlagen. Für die Thater an Bord der Wespen, die etwa eine halbe Stunde nach der Landung über das zerklüftete Gebiet hinwegzogen, sah es aus, als sei sie einer jener Bruchstücke, die von einem Gletscher abgesprengt worden waren. Die Wespen kehrten nach einigen Minuten noch einmal zurück, doch sie entdeckten ANIMA auch jetzt nicht. Danach wurde es wieder ruhig über dem Kontinent am südlichen Pol. »Es war ein Routineflug. Weiter nichts«, sagte Atlan. »Sie haben uns weder bei der Landung noch jetzt geortet. Wir können aufbrechen.« ANIMA öffnete sich, um die KORALLE herauszulassen. Mit Hilfe der Instrumente des Gleiters überprüfte Atlan den Luftraum über dem Landegebiet. Er erfaßte kein einziges Objekt.
»Wir machen uns auf die Suche nach Paul Namarro«, sagte er. »Wer ist wir?« fragte Flora Almuth. »Arien und ich«, erwiderte der Arkonide. »Das genügt nicht«, begehrte die Tante Sarahs auf. »Ich werde euch begleiten.« »Das ist zu gefährlich und zu anstrengend für dich, Flora«, versuchte der Arkonide sie abzuwehren. Doch Flora Almuth bestand darauf, mitzufliegen. »Marie ist nah. Ich weiß es«, erklärte sie. »Auf keinen Fall werde ich in ANIMA warten, bis ihr meine Schwester gefunden habt. Ich habe schon viel zu lange gewartet. Außerdem glaube ich nicht, daß ihr ohne meine Hilfe bis zu ihr gelangen werdet. Ich werde Marie befreien.« Kämpferisch streckte sie das Kinn in die Höhe. Ihre Augen blitzten. Atlan zögerte. Er dachte daran, daß Flora hellseherische Fähigkeiten hatte, wenngleich diese nicht besonders stark entwickelt waren, und ihnen dadurch nützlich sein konnten. Außerdem vertraute er ihr. Mit Hilfe des Psi‐Spalters hatte sie sich aus der Dauerhypnose befreit. Sie würde sie nicht hintergehen. Doch sie war eine nicht mehr junge Frau, und sie war nicht besonders kräftig. Die vielen Jahre, die sie im Sanatorium verbracht hatte, waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Körperlichen Strapazen war sie auf keinen Fall gewachsen. Doch würde sie solchen ausgesetzt sein? Sie wollten mit der KORALLE fliegen und würden voraussichtlich bald die Unterstützung Paul Namarros finden. Es wird sie nicht viel Kraft kosten. Es wird allenfalls ein wenig Aufregung geben. Sie wird dich nicht behindern, aber sie kann dir nützlich sein. »Also gut«, willigte er ein. »Du kannst mitfliegen.« Flora Almuth lächelte dankbar. Wortlos stieg sie in die KORALLE. Atlan verabschiedete sich von Sarah, setzte sich dann hinter die Steuerelemente des Gleiters und startete. Die anderen zogen sich in
ANIMA zurück, um hier die weitere Entwicklung abzuwarten. Der Arkonide verließ die Bucht, lenkte den Gleiter über einen vereisten Bergrücken hinweg und flog dann nach Norden. »Irgendwann müssen wir versuchen, Paul Namarro über Funk zu erreichen«, sagte Arien Richardson. Der große, kräftige Mann drehte sich um und sah Flora Almuth an, die auf der hinteren Bank saß. »Oder hast du eine Ahnung, wo er steckt?« »Tut mit leid«, erwiderte sie freundlich. »Ich bin ganz auf Marie konzentriert. Sie ist mir im Augenblick wichtiger als alles andere.« »Nur werden wir sie nicht ohne die Hilfe Pauls finden.« Das sah sie ein. Sie nickte. »Ich werde mir Mühe geben«, versprach sie. »Vielleicht gewinne ich ein paar Eindrücke, oder ein Gefühl der Verbundenheit stellt sich ein. Leider kenne ich ihn nicht, sonst wäre es leichter für mich.« Atlan schaltete das Funkgerät ein. Er fing unverständliche Gesprächsfetzen auf. Unverkennbar war lediglich, daß er die Stimmen von Thatern vernahm. Auf den Monitoren des Nahortungssystem erschienen nacheinander sieben helle Punkte, die sich ziemlich schnell bewegten. Und dann kam plötzlich die hellere Stimme eines Integrals durch. Sie sprach von der völligen Vernichtung der Raumüberwachungsstation Süd. Darüber hinaus erklärte sie, daß die Täter entkommen seien. »Kein Wort von einem Raumschiff, das unerlaubt eingedrungen ist«, stellte Richardson befriedigt fest. »Alle Achtung, Paul. Das war ein voller Erfolg.« Er schickte ein Signal an Namarro hinaus. Dabei benutzte er die Frequenz, auf der Macker gesendet hatte. Gespannt wartete er, doch zu seiner Enttäuschung erhielt er keine Antwort. Atlan senkte den Gleiter ab und durchflog einen langgestreckten Fjord. Hohe Bergketten befanden sich nun zwischen ihm und den anderen Gleitern, so daß er nicht geortet werden konnte. Etwa eine Stunde verging. In dieser Zeit legte der Gleiter nahezu dreihundert Kilometer zurück. Eine Kuppelstadt tauchte vor ihnen
auf. Atlan verzögerte und lenkte die Maschine vorsichtig hinter einige Eisschollen, die von der See aufgetürmt worden waren. Sekunden später zeigte sich, wie berechtigt diese Maßnahme war. Ein mit einem schweren Energiestrahler ausgerüsteter Gleiter stieg aus einer Eisspalte auf und flog auf die Kuppelstadt zu. Er verschwand jedoch nicht in einer Schleuse, sondern verharrte etwa fünfzig Meter davor in der Luft. »Da stimmt doch was nicht«, sagte Arien. »Die Burschen sind so vorsichtig, als fürchteten sie, eins auf die Nase zu bekommen.« »Sieht ganz so aus, Arien. Wir warten ab«, entschied der Arkonide. * Erschrocken blickte Czloth und Paul Namarro sich an. Beide hatten gewußt, daß jeden Moment andere Besatzungsmitglieder des Stützpunkts zurückkommen konnten, doch beide hatten diesen Gedanken verdrängt. Sie wären andernfalls gar nicht in der Lage gewesen, sich auf das Verhör zu konzentrieren. »Jetzt wird es eng«, sagte der Celester. »Ich wünschte, wir hätten mehr als diesen kleinen Kombistrahler.« Er deutete auf die Waffe, die Czloth dem Integral abgenommen hatte. Dann kam ihm der rettende Gedanke. »Du spielst die Rolle des Integrals weiter, Czloth. Richte den Strahler auf mich und führe mich zu unserem Gleiter. Macker folgt dir.« Der Miratorner begriff. Sie mußten davon ausgehen, daß die Thater den Stützpunkt ebenso mit Hilfe von Infrarotortungsgeräten durchleuchteten, wie sie es getan hatten. Wenn das der Fall war, wußten die Kolosse, daß vier Integrale ausgeschaltet worden waren. Aus dem Temperaturbild sollten sie schließen, daß Paul ein humanoides Wesen war und von ihm abgeführt wurde. Solange
Czloth die Form eines Integrals beibehielt, würden die Thater annehmen müssen, daß er Paul verhaftet hatte. Unsicherheit würde allenfalls Mackers Ortungsbild verbreiten. Schweigend hob Czloth einen Arm und deutete zum Ausgang. Paul Namarro setzte sich in Bewegung. Auch er sagte nichts mehr, da die Thater jedes ihrer Worte hören konnten, wenn sie Richtmikrophone einsetzten. Auf dem Weg zum Gleiter überlegte der Celester fieberhaft, was sie tun sollten, sobald sie durch die Schleuse ins Freie kamen. Sollten sie den anderen Gleiter angreifen? Oder war es besser, wenn sie einfach davonflogen, als ob die haluterähnlichen Kolosse nicht da wären? Die Integrale stehen rangmäßig eindeutig über den Thatern, rief er sich ins Gedächtnis. Warum sollte eines von ihnen den Thatern etwas erklären? Warum sollte es sagen: Seht her, ich habe einen Gefangenen? Sie stiegen in den Militärgleiter, mit dem sie gekommen waren. Czloth glitt hinter die Steuerelemente und richtete den Kombistrahler auf den Celester, der neben ihm Platz genommen hatte. Macker ließ sich in die Polster der hinteren Sitzbank sinken. Für den arglosen Betrachter sah es aus, als habe jemand einen Fernseher auf dem Rücksitz abgestellt. Trotz der Anspannung lächelte Paul Namarro. Genauso war es gewesen, als er Macker zum erstenmal gesehen hatte. Das war vor fünf Monaten in Gom gewesen. Damals war Paul ahnungslos in einen öffentlichen Gleiter gestiegen. Erst nach dem Start hatte er gemerkt, daß das Videoauge herausgebrochen worden war und ein Fernsehgerät auf dem Rücksitz lag. Er hatte einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, und nach kurzer Untersuchung der Flugkabine war er sicher gewesen, daß er auch nicht abgehört werden konnte. »Nein, es passiert wirklich nichts«, hatte plötzlich jemand hinter
ihm gesagt. »Man sieht und hört dich nicht.« Nur zu gut erinnerte er sich daran, daß er erschrocken herumgefahren und fassungslos auf den Bildschirm geblickt hatte. Auf ihm hatte er zum erstenmal das Gesicht des jungen, schwarzhaarigen Mannes gesehen. »Hallo, Celester, mein Name ist Macker«, hatte der Roboter sich vorgestellt. »Für mich ist gerade eine Freundschaft zu Ende gegangen. Integrale haben Aradie erschossen. Mit ihm bin ich seit mehr als einem Jahr zusammen gewesen.« Das war der Beginn einer engen Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Roboter gewesen. Nach den Anweisungen Mackers hatte er die Ausstattung des Roboters ergänzt und verbessert. Er hatte das Versteck im Kaufhaus für ihn gefunden und ihn immer weiter perfektioniert. Jetzt fragte Paul sich, ob Macker sich bald nach einem anderen Freund werde umschauen müssen. Ach, Unsinn! schalt er sich. Du wirst es schon schaffen. Czloth startete, und das Schleusenschott öffnete sich. Der Gleiter schob sich in die Schleuse, das Innenschott schloß sich, und das Außenschott glitt zur Seite. Keine fünfzig Meter von ihnen entfernt schwebte ein Kampfgleiter über dem Eis. Das Projektionsfeld seiner Energiekanone glühte rot. »Was fällt euch ein?« schrie Czloth in das Mikrophon des Funkgeräts. »Zur Seite. Wer wagt es, sich mir in den Weg zu stellen?« Paul Namarro spürte heftige Stiche in der Brust. Ein eiserner Ring schien sein Herz zu umspannen und einzuschnüren. Sein linker Arm sank herab. Er brannte wie Feuer. Der Celester schluckte mühsam. Sein Hals war plötzlich trocken und rauh. Er sah den anderen Gleiter nur wie durch einen grauen Schleier. Das bedrohliche Leuchten der Energiekanone erlosch. Czloth beschleunigte wortlos und jagte zentimeternah an der anderen Maschine vorbei. Es kam Paul wie ein Wunder vor, daß er
sie nicht streifte. Der Miratorner lenkte den Gleiter nach Westen. Er folgte einem offenen Meeresarm und raste bedrohlich nahe an steil aufragenden Eiswänden entlang. Doch kaum hatte er die offene See erreicht, als er scharf nach Norden abbog. »Das ist der Kurs zur Insel«, stellte Macker fest. Czloth atmete einige Male laut ein und aus. Dann stieß er einen Arm in die Höhe. »Ich habe sie geblufft«, jubelte er. »Habt ihr diese Kolosse gesehen? Die Augen sind ihnen übergangen. Sie haben nicht gewagt, irgend etwas zu sagen.« »Sie sind jetzt im Stützpunkt, und es dauert keine zwei Minuten mehr, bis sie die Integrale gefunden und befreit haben«, entgegnete der Roboter nüchtern. »Dann wissen sie Bescheid und verfolgen uns.« »Sie werden unsere Spur nicht mehr finden. Oder glaubst du wirklich, sie rechnen damit, daß wir zur zerstörten Raumüberwachungsstation zurückkehren?« Paul Namarro ertrug die Schmerzen nicht mehr. Er schluckte eine Kapsel und spürte gleich darauf Erleichterung. Der Druck wich von seinem Herzen. »Ganz bestimmt nicht«, erwiderte er. »Es ist eine ausgezeichnete Idee, gerade dorthin zu fliegen. Außerdem liegt das Pyramidon nordöstlich von der Insel. Wir machen also keinen großen Umweg, wenn wir zunächst dorthin fliegen.« »Schaltet mal das Funkgerät ein«, empfahl Macker. Paul drückte eine Taste am Armaturenbrett. Im nächsten Moment hallte die Kabine vom Geschrei der Thater wider, die einen Überfall auf den Südpolstützpunkt meldeten. Czloth formte einen Mund auf der Oberseite seines Körpers. Er lachte. »Wir scheinen sie mächtig beeindruckt zu haben.«
7. Ein Schwall erregter Stimmen kam aus den Lautsprechern des Gleiters. Atlan und Arien hatten Mühe, etwas zu verstehen. »Wovon reden die?« fragte der »Feuerwehrmann«. Vor wenigen Minuten war ein Gleiter aus einer Kuppel hervorgekommen und davongerast. Plötzlich fiel ein Name, und dann kam eine Stimme deutlich durch. Arien Richardson und der Arkonide blickten sich bestürzt an. »Es war Paul«, sagte der Celester fassungslos. »Er ist gerade mit dem Gleiter weggeflogen. Wir haben ihn verpaßt.« Atlan wollte der Maschine des Agenten folgen, doch jetzt schossen von allen Seiten weitere Gleiter heran, verhielten kurz vor der Kuppelstadt und schwärmten dann aus. Die meisten entfernten sich in der Richtung, in die Paul Namarro geflohen war. »Es hat keinen Sinn«, resignierte Arien Richardson. »So gern ich mich an seine Fersen heften möchte, es wäre unverantwortlich. Wir würden nicht nur uns in Gefahr bringen, wenn wir ihm folgen, sondern ihn ebenfalls. Ich schlage vor, wir verschwinden.« Der Arkonide nickte nur. Behutsam führte er den Gleiter durch das Gelände, wobei er jede Deckung nutzte, bis er sich weit genug von der Kuppelstadt entfernt hatte. Dann lenkte er die Maschine nach Westen. Über einen eisbedeckten Bergrücken ging es hinaus auf die offene See. Flora Almuth wurde unruhig. Eine Zeitlang beobachtete sie den Kurs, dann beugte sie sich vor und legte dem Arkoniden die Hand auf die Schulter. »Ich hatte mir vorgenommen, mich nach Möglichkeit nicht einzumischen, weil ihr beide ja eine viel größere Erfahrung in solchen Dingen habt als ich, aber nun muß ich doch etwas sagen. Dies ist nicht der richtige Kurs, Atlan. Ich fühle, daß wir uns von
Marie entfernen. Sie ist irgendwo im Norden zu finden, aber weiter östlich von uns.« »Im Osten und Norden jagen sie Paul Namarro«, erwiderte der Unsterbliche. »Du kannst sicher sein, daß sie uns umbringen, wenn wir uns dorthin wagen.« »Aber du darfst nicht aufgeben. Marie braucht unsere Hilfe. Wir müssen zu ihr.« »Wir lassen sie nicht im Stich, Flora«, versprach er und lächelte ihr ermunternd zu. »Wir fliegen zunächst nach Nordwesten und umgehen dann das kritische Gebiet in weitem Bogen.« »Wie weit willst du nach Norden?« »Vielleicht tausend oder zweitausend Kilometer«, erwiderte er. »Du wirst uns sagen, wann es an der Zeit ist, uns nach Osten zu wenden.« Sie lehnte sich zufrieden zurück. »Du hast recht«, lenkte sie ein. »Ich bin zu ungeduldig. Dabei sollte ich wissen, daß ich Marie vielleicht nie mehr wiedersehe, wenn wir jetzt einen Fehler machen. Ich werde dich nicht noch einmal belästigen.« Atlan lachte. »Ich bitte dich, Flora«, sagte er. »Du hast mich nicht belästigt.« Sie schloß die Augen. »Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen.« Sie griff sich an den Kopf und wollte sich den Psi‐Schalter abnehmen. Doch dann besann sie sich eines anderen. Sie entfernte das Stirnband nicht. Drei Stunden später kam eine felsige Küste in Sicht. Allmählich wurde es wärmer. Nur noch vereinzelt tauchten Eisschollen auf. Atlan flog jetzt genau nach Norden. »Paul hat auf unseren Funkspruch nicht geantwortet«, stellte Arien Richardson fest. »Mittlerweile haben wir uns weit genug vom kritischen Gebiet entfernt. Wir sollten noch einmal versuchen, mit ihm Verbindung aufzunehmen.« Der Arkonide hatte keine Einwände, und der »Feuerwehrmann«
schaltete das Funkgerät ein. Er rief Paul Namarro. Dabei war er sich dessen bewußt, daß der Funkspruch nicht nur von diesem empfangen werden würde. Sie machten auch die Crynn‐Brigade und die Integrale auf sich aufmerksam. Doch es gab keine andere Möglichkeit, Kontakt mit Namarro zu bekommen. Richardson sendete nur kurz. Dann wartete er. Doch eine Antwort blieb aus. War Paul Namarro seinen Häschern nicht entkommen? * Nur noch eine kleine Rauchwolke stand über der Insel, auf der am Vortag noch die Raumüberwachungsstation gestanden hatte, als Paul Namarro und Czloth von Trombe sich ihr näherten. Plötzlich schaltete sich Macker ein. Der Bildschirm erhellte sich. »Nicht zur Insel«, rief der Roboter. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Hände, die sich ihnen abwehrend entgegenstreckten. »Auf der Insel ist die Hölle los. Ich habe gerade einen Funkspruch empfangen.« Erschrocken riß Paul den Gleiter herum und ließ ihn gleichzeitig so tief abfallen, daß der von den Wellen hochsprühende Gischt gegen seine Unterseite schlug. Er lenkte die Maschine nach Osten und beschleunigte zugleich auf Höchstwerte, bis er zu einem Tanker aufgeschlossen hatte, der ebenfalls nach Osten fuhr. Er paßte sich dessen Geschwindigkeit an und glitt an seine Seite in den Ortungsschatten. »Folgt uns jemand?« fragte er. »Nein. Du hast ausgezeichnet reagiert, Paule«, lobte Macker. »Danke, Macker.« »Du bist also doch noch helle. Und ich dachte schon, du bist vollkommen verkalkt«, fügte der Roboter hinzu. Czloth lachte.
»Das mußte ja kommen.« Er bildete ein Stielauge heraus und blickte den Roboter über die Rückenlehne seines Sitzes hinweg an. »Deine dummen Bemerkungen sind erfrischend. Hast du uns sonst noch etwas zu sagen?« »Ja, ich habe einen Funkspruch von Arien Richardson aufgefangen. Atlan und er suchen uns.« Paul Namarro verstand die Frage, die damit verbunden war. Er schüttelte den Kopf. »Es geht nicht«, erwiderte er. »Wir können uns nicht melden. Die Crynn‐Brigade ist zu nah. Sie wüßte sofort, wo wir sind.« »Ich werde schweigen«, versprach Macker. »Richtig. Du wirst dich ruhig verhalten. Du wirst erst dann Verbindung mit Atlan und Arien aufnehmen, wenn ich es dir sage.« »Du bist der Chef, Paule. Keine Funkaktionen mehr ohne deine Genehmigung.« »Das will ich auch hoffen.« »Wir sollten irgendwo einen Sender zurücklassen, der die Aufgabe über nimmt, Richardson zu verständigen«, schlug der Automat vor. »Er sollte erst senden, wenn wir einige hundert Kilometer von ihm entfernt sind.« »Eine gute Idee«, lobte Namarro. »Wir bauen das Funkgerät des Gleiters aus und koppeln es mit einer Uhr. Dann lassen wir beides auf dem Tanker zurück. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir locken unsere Verfolger auf eine falsche Spur und übermitteln Richardson, in welcher Gegend er das Pyramidon suchen soll. Wir müssen die Information verschlüsseln, so daß Arien sie versteht, die Integrale sie aber nicht entschlüsseln können. Am besten beziehe ich mich dabei auf die MARY CELESTE.« Die Arbeit war schnell erledigt. Weder Paul Namarro noch Czloth wußten genau, was sie tun mußten, um das Funkgerät entsprechend zu präparieren. Doch Macker half ihnen. Er erklärte ihnen jeden Handgriff und half schließlich tatkräftig mit, die Uhr anzuschließen. Dann brachte er selbst das Funkgerät am Heck des Tankers an.
Danach blieben sie noch auf einer Strecke von mehr als hundert Kilometer neben dem Tanker. Dann glaubten sie, sich weit genug von den Crynn‐Brigadisten entfernt zu haben, lösten sich vom Schiff und flogen nach Nordosten. Vier Stunden später erreichten sie eine Halbinsel, die bis weit nach Norden hinaufreichte. »Die Halbinsel Talem«, stellte Macker fest, und der Ausschnitt einer Landkarte erschien auf seinem Bildschirm. »Wir haben den Meiskontinent erreicht. Das Pyramidon dürfte nun nicht mehr als vierhundert Kilometer von uns entfernt sein – vorausgesetzt, das Integral hat die Wahrheit gesagt.« Dichter Wald überwucherte die Küste. Auch jetzt flog Paul so niedrig wie möglich, um der Ortung zu entgehen. »Ich habe Hunger«, sagte der Miratorner. »Wir sollten eine Pause machen und etwas essen.« »Eine gute Idee«, stimmte Namarro zu. »Mir geht es nicht anders. Es ist lange her, daß ich etwas zu mir genommen habe. Wir versuchen, Wild zu schießen. Das dürfte nicht weiter schwierig sein.« Der Miratorner hielt Ausschau nach irgendwelchen Tieren, entdeckte jedoch keine. Eine volle Stunde verging. Die Halbinsel verbreiterte sich, und dann öffnete sich eine steppenartige Landschaft vor ihnen. In der Ferne grasten große Herden von Tieren unterschiedlichster Art. »Endlich«, rief Czloth. »Das wurde aber auch Zeit. Mein Magen hat schon damit begonnen, sich selbst zu verdauen.« Paul Namarro wies auf ein kleines, weißes Haus, das am Waldrand stand. Rauch kräuselte aus dem Schornstein. »Vielleicht brauchen wir gar nicht zu jagen«, sagte er. »Versuchen wir es doch mal dort.« »Das könnte ein Sicherheitsposten sein«, warnte Czloth. »Wir nähern uns dem Pyramidon. Glaubst du etwa, daß es unbewacht einfach so in der Landschaft herumsteht? Bestimmt nicht.« »Um so wichtiger ist es, daß wir uns ansehen, wer in dem Haus
wohnt.« Der Celester landete wenige Meter vom Gebäude entfernt. Er stieg aus, zog die erbeutete Waffe aus dem Gürtel und ging vorsichtig auf das Haus zu. Die Tür stand offen. Aus dem Innern ertönte Musik. Czloth folgte dem Celester. Lautlos schwebte er heran, bildete ein meterlanges Stielauge und schob es durch die Tür. »Ich kann niemanden sehen«, sagte er leise. Paul Namarro trat ein. »Ist jemand da?« rief er. Wie aus dem Nichts heraus erschien eine schlanke Gestalt neben ihm, und kalte, gelbe Augen blickten ihn an. Erschrocken fuhr der Celester zurück. Unwillkürlich hob er den Kombistrahler. »Das ist wohl nicht die rechte Art, mich in meinem eigenen Haus zu begrüßen«, sagte das Wesen, das ihn und Czloth erschreckt hatte. Es hatte eine humanoide Gestalt, glich jedoch in seinen Bewegungen mehr einer Kobra, die sich aufgerichtet hat. Dieser Eindruck wurde durch den etwa einen halben Meter langen Hals verstärkt, von dem sich an beiden Seiten dicke Hautlappen abspreizten. Sie waren mit einem aggressiven Augenmuster versehen. Der Bewohner des Hauses hatte eine geschuppte Haut, deren Grundton grau war. Auf der Brust, den Schultern, den Armen und dem Kopf war das Schuppenkleid rot, blau und gelb gemustert, so daß es schien, als habe das Wesen eine hautenge Kombination angelegt, die von einem phantasievollen Künstler verziert worden war. Das Wesen hatte einen flachen Kopf mit fliehender Stirn und kräftigen Wülsten, die die Augen überdeckten. Über dem schmalen, lippenlosen Mund befanden sich zwei Atemschlitze. Eine gespaltene, gelbe Zunge schoß suchend aus dem Mund hervor und streckte sich dem Celester entgegen. Paul Namarro ließ die Waffe sinken. »Verzeih«, sagte er. »Ich wußte nicht …« »Schon gut«, erwiderte der Schlangenmensch. »Ich bin Ronic. Ihr seid mir willkommen.«
Er ging ihnen voraus und führte sie in ein geräumiges Zimmer, das mit allerlei Jagdtrophäen geschmückt war. Auf dem Tisch stand ein großer Korb mit zahlreichen Früchten. Er bot ihnen davon an. »Natürlich weiß ich nicht, ob sie für euch eßbar sind«, bemerkte er, während er sich in einen Sessel sinken ließ. »Das müßt ihr selbst entscheiden. Ich kenne mich mit eurem Metabolismus nicht aus.« »Einige Früchte sind mir bekannt«, erwiderte Czloth. Er griff dankbar zu, schuf eine Öffnung an der Unterseite seines Diskuskörpers und ließ die Früchte darin verschwinden. Dann schmatzte er geräuschvoll und verkündete, daß Ronic ihn vor dem Hungertod gerettet habe. »Wieso lebst du hier?« fragte Namarro das Schlangenwesen. Ronic blickte ihn an, und der Celester fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Die Augen des anderen waren ohne jeden Ausdruck. Nichts an diesem geschuppten Gesicht verriet, ob der Schlangenmensch überhaupt irgend etwas empfand. »Man hat mich von meiner Heimat Askpren hierher verschleppt. Wozu? Ich weiß es nicht. Jedenfalls konnte ich der Crynn‐Brigade entkommen. Ich bin aus der Stadt Gom geflüchtet und habe diese ganze Welt nach einer Wildnis abgesucht, in der ich leben kann. Es gibt nur diese. Überall sonst wird in der Äquatorgegend eine intensive Landwirtschaft betrieben. Die Integrale überwachen alles. Nur auf dieser Halbinsel Talern gibt es keine Landwirtschaft. Die Natur ist unberührt, und ich habe noch nie Integrale in dieser Gegend gesehen.« Er streckte seinen rechten Arm aus und zeigte auf Czloth. »Er ist kein Integral, sondern ein Miratorner, der das Aussehen eines solchen annehmen kann.« »Nördlich von hier befindet sich das Pyramidon«, sagte Namarro. »Vielleicht liegt es daran? Die Facette Zulgea von Mesanthor will niemanden in ihrer Nähe haben. Das wird der Grund dafür sein, daß sie das Land auf Talern nicht nutzt.« »Wieso steht hier ein Haus?« fragte Czloth. »Hast du es selbst
erbaut, und ist es nie jemandem aufgefallen? Es liegt nicht gerade versteckt.« »Ich habe das Haus vorgefunden«, antwortete Ronic. »Es war ziemlich verfallen. Ich habe es wieder bewohnbar gemacht. Hin und wieder bin ich zu landwirtschaftlichen Betrieben geflogen und habe mir dort an technischem Gerät geholt, was man so braucht.« Er holte seinen Gästen gegrilltes Fleisch aus der Küche und reichte ihnen erfrischende Getränke. Er war freundlich und entgegenkommend. Dennoch traute Paul Namarro ihm nicht. »Weißt du, wo das Pyramidon ist?« fragte er. »Ich meine nicht, wo es ungefähr ist. Ich will eine exakte Auskunft!« »Natürlich«, erwiderte Ronic, ohne zu zögern. »Es liegt auf dem Berg Mauntenn, etwa zweihundertfünfzig Kilometer nördlich von hier. Der Berg ist nicht hoch. Ungefähr 2500 Meter. Man sieht das Pyramidon erst ziemlich spät, denn meistens ist der Berg wolkenverhüllt. Außerdem regnet es ziemlich oft da oben.« »Gibt es irgendwelche Sicherungen?« »Überhaupt keine. Die sind auch gar nicht nötig. Das Pyramidon ist uneinnehmbar. Du hast keine Chance, es zu betreten. Niemand kommt hinein, den die Facette nicht einlassen will. Ich war einmal dort oben und habe beobachtet, wie eine Gruppe Thorgaten versucht hat, das Pyramidon zu stürmen. Sie hatten Kampfgleiter und alles nötige Material, aber sie ist schon fünfhundert Meter vor dem Pyramidon gescheitert.« »Wodurch?« fragte Czloth. »Energiekanonen«, antwortete das Schlangenwesen bereitwillig. »Das ging alles sehr schnell. Ich habe mich dann aus dem Staub gemacht, weil ich keine Lust verspürte, auch abgeschossen zu werden.« Paul Namarro hielt es nicht mehr im Sessel. Unruhig ging er auf und ab. Er fragte sich, ob es sinnvoll war, noch weiter gegen das Pyramidon vorzurücken. Bis jetzt hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, was geschehen sollte, wenn er das Pyramidon
erreicht hatte. Es ist nicht deine Aufgabe, etwas gegen das Pyramidon selbst zu unternehmen, mahnte er sich. Du solltest nur herausfinden, wo es ist, und den Weg dorthin aufzeigen. Das hast du beinahe geschafft. Wahrscheinlich arbeitet der Sender jetzt schon und gibt die Information an Arien weiter. Warum machst du es nicht wie Ronic? Du könntest hier irgendwo bleiben, bis die Macht der Facette gebrochen und eine Rückkehr nach New Marion möglich ist. Dann erinnerte er sich daran, daß seine Familie von der Crynn‐ Brigade ermordet worden war. Er hatte sich geschworen, sich zu rächen. Zulgea von Mesanthor als die einzig Verantwortliche sollte seine Rache spüren. Die Brust wurde ihm eng. Das Herz schmerzte. Warten? Worauf? Auf den Tod? Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Nein. Warten kömmt nicht in Frage. Du mußt das Pyramidon sehen. Arien hat einen Plan. Er weiß, was er tun muß, denn sonst wäre er nicht gekommen. Wenn er den Kampf gegen das Pyramidon aufnimmt, mußt du zumindest zugegen sein. Du mußt es sehen, wenn du in Ruhe sterben willst. Die Musik, die aus dem Nebenraum kam, verstummte. Eine eigentümliche Stille entstand. Ronic erhob sich. »CB 3«, ertönte die Stimme eines Thaters. »CB 3. Gesucht werden der Celester Paul Namarro und der Miratorner Czloth von Trombe. Beide werden der Verbrechen gegen die Facette beschuldigt. Sie sind ohne Verhör zu töten. Die Liquidation ist der Zentrale zu melden.« Czloth hob die Arme. »Der Kode der Crynn‐Brigade«, sagte er erschrocken. »Paul, weißt du, was das bedeutet? Dieses geschuppte Ungeheuer gehört zur Crynn‐Brigade!« Das Schlangenwesen stürzte sich auf ihn. Blitzschnell stieß der Kopf vor. Der Mund öffnete sich unglaublich weit, und vier Giftzähne klappten daraus hervor. Schreiend flüchtete der
Miratorner in eine Ecke des Raumes, doch er war nicht schnell genug. Ronic schnellte sich hinterher, und bevor das Mimikry‐ Wesen ausweichen konnte, gruben sich ihm die Zähne in den Körper. Er brüllte wild auf. Ronic warf sich geschmeidig herum. Jetzt glich er einer großen, wütenden Schlange in einem erbarmungslosen Überlebenskampf. Paul Namarro sah die gelben Augen auf sich gerichtet. Er schlug mit den Beinen gegen einen Sessel und stürzte. Um Zentimeter nur verfehlten ihn die Giftzähne des Schlangenwesens. Dieses zuckte zurück, griff jedoch nicht noch einmal an, sondern flüchtete aus dem Zimmer. Der Celester konnte seine Waffe nicht mehr herumreißen und auslösen. Er raffte sich mühsam auf. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, und er fühlte eine bedrohliche Schwäche in den Knien. Er hörte Czloth stöhnen und eilte zu ihm hin. Der Miratorner behielt die Form eines Integrals bei, verfärbte sich jedoch. Seine Haut, die bisher milchigweiß gewesen war, wurde bläulich schwarz. »Es ist aus«, stammelte er. »Ich habe versucht, das Gift zu isolieren und wieder loszuwerden. Es ist mir nicht gelungen. Es bringt mich um.« »Du darfst nicht aufgeben, Czloth«, sagte Namarro. Die Kehle schnürte sich ihm zu, und er wurde sich dessen bewußt, daß das Mimikry‐Wesen ihm ein Freund geworden war. Der Verlust traf ihn hart. »Es ist zu spät, Paul«, flüsterte Czloth. »Räche mich am Pyramidon.« Er sank auf den Boden zurück. Sein Körper erschlaffte und löste sich zu einer amorphen Masse auf. Irgendwo hinter Namarro knarrte Holz. Er fuhr erschrocken herum und richtete den Kombistrahler auf die Tür. Das Herz hämmerte in seiner Brust. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, was in den letzten Sekunden hätte geschehen können, in denen er überhaupt nicht auf das geachtet hatte, was hinter ihm geschah.
Wo war das Schlangenwesen? Paul Namarro spürte, wie sich seine Brust einschnürte. Gleichzeitig stellten sich die ziehenden Schmerzen in seinem linken Arm ein, mit denen sich der Herzanfall ankündigte. Die Angst vor dem Kampf mit dem weit überlegenen Gegner drohte ihn zu lähmen. Doch dieses Mal wartete er nicht, bis der Anfall schlimmer wurde, sondern nahm gleich eine Kapsel ein, um die Beschwerden abzufangen. Er konnte sich keine Ablenkung leisten. Jeden Moment konnte Ronic angreifen. 8. »Ein Funkspruch«, rief Arien Richardson. »Endlich. Das ist Paul.« Er schrieb sich auf, was aus dem Lautsprecher klang. »Der Kapitän der MARY CELESTE ist die nördliche Breite, Arien Martens die Länge.« »Was hat das zu bedeuten?« fragte Flora Almuth. »Warum sendet er einen derartigen Unsinn?« Paul Namarro wiederholte diese Worte noch zweimal. Dann verstummte er. Atlan und der Celester waren sich klar darüber, daß sie einen automatischen Sender gehört hatten. »Kein Unsinn, Flora«, lächelte Arien Richardson. »Paul weiß, daß wir das Pyramidon suchen. Er erwähnt dieses Ziel jedoch nicht, damit die Crynn‐Brigade und die Integrale uns dort nicht erwarten.« »Richtig«, erkannte sie. »Er würde sie sonst darauf aufmerksam machen, daß irgend jemand zum Pyramidon will.« »Der Kapitän der MARY CELESTE ist die nördliche Breite? Auch das ist eindeutig für uns, aber für unsere Feinde nicht zu verstehen. Jedes Kind bei uns weiß, daß der Kapitän der MARY CELESTE 37 Jahre alt war, als die Brigg im Jahre 1872 New York mit dem Ziel Genua verließ. Paul will uns also sagen, daß wir das Pyramidon auf
dem siebenunddreißigsten Breitengrad auf der nördlichen Halbkugel von Crynn finden.« »Ach, ich verstehe. Paul Namarro scheint ein kluger Mann zu sein. Wie alt war Arien Martens?« »35 Jahre. Wir werden das Pyramidon also an der Stelle finden, an der sich die angegebenen Längen‐ und Breitengrade schneiden.« »Er hat uns nicht angegeben, ob westlicher oder östlicher Länge«, bemerkte Flora Almut. »Aber das spielt wohl keine Rolle, da wir wissen, daß wir östlich von uns suchen müssen.« Nun war nur noch ein Problem zu lösen. Arien Richardson mußte über Funk Navigationshilfen anfordern, da ihnen die Ortsangabe des Pyramidons sonst nichts nützte. Er mußte wissen, wo der Nullmeridian war, damit er den Punkt berechnen konnte, den Namarro angegeben hatte. Er glaubte, das Risiko eingehen zu können und sprach über Funk einen Navigationssatelliten an. Dieser war mit einem Informationssystem verbunden. Sekunden später wußte er, daß das Pyramidon im Norden der Halbinsel Talern zu finden war. »Ausgezeichnete Arbeit, Paul«, sagte er. »Ich hoffe, wir sehen uns bald.« * Aus dem Nebenzimmer ertönte wieder Musik. Sie war laut und erregend. Sie überdeckte die Geräusche des Hauses, und sie störte Paul Namarro. Vorsichtig näherte er sich der Verbindungstür zum Nebenraum, bis er das Videogerät sah. Abstrakte Bilder wirbelten im Rhythmus der Musik über den Bildschirm. Der Celester schoß. Der Energiestrahl traf das Gerät, und die Musik verstummte und die Bilder verschwanden. Mit erhobener Waffe schritt er zur Außentür. Wo lauerte der Schlangenmensch auf ihn? Würde er angreifen,
oder wollte er ihn entkommen lassen? Nein. Er läßt dich nicht gehen. Er ist ein Vorposten des Pyramidons. Seine Aufgabe ist es, dich abzufangen, und er wird sie erfüllen. Als er die Tür fast erreicht hatte, konnte er den Gleiter sehen. Die Maschine parkte etwa zehn Meter vom Haus entfernt. »Macker«, rief er. Fast eine Minute verging, bis der Roboter endlich vom Rücksitz aufstieg und somit in Sicht kam. Der Bildschirm erhellte sich, und der Celester konnte das Haus darauf erkennen. Er sah sich selbst in der Tür stehen. Ronic war nicht da. Manchmal bist du Gold wert, Macker, dachte er und trat durch die Tür hinaus, nachdem er rasch nach links und rechts geblickt hatte. Wo war Ronic? Die Gleitertür öffnete sich. Auch in diesem Fall hatte der Roboter mitgedacht und für ihn gehandelt. Du mußt schnell sein, sagte Namarro sich. Lauf los und springe in den Gleiter. Macker wird dir helfen, das Biest abzuwehren. Er hörte etwas hinter sich knacken und stürmte los. Dabei blickte er sich gehetzt um. Wenn das Schlangenwesen überhaupt angreifen wollte, dann mußte das jetzt geschehen. Und der Crynn‐Brigadist kam. Er tauchte plötzlich neben dem Gleiter auf, schnellte vor und versperrte Namarro den Weg. Dieser geriet mit dem Fuß in eine Bodenvertiefung und stolperte. Zischend öffnete der Schlangenmensch den Mund mit den Giftzähnen. Er ist hinter dem Gleiter gewesen! schoß es Namarro durch den Kopf. Ein besseres Versteck hätte er nicht wählen können. Er stürzte und verlor die Waffe aus der Hand. Direkt vor den Füßen Ronics blieb er liegen. Das Schlangenwesen hob beide Arme. Seine Finger spreizten sich
weit ab. Warum stieß es nicht zu? Eine bessere Gelegenheit als diese würde sich für ihn nicht mehr ergeben. Namarro war hilflos. Er dachte daran, wie unglaublich schnell sich der Crynn‐Brigadist bewegen konnte. Selbst Czloth hatte ihm nicht ausweichen können. Er wollte von ihm wegkriechen. Aber er konnte nicht. Seine Arme und Beine gehorchten seinen Befehlen nicht. »Steh auf, Paule«, rief Macker fröhlich. Auf seinem Bildschirm erschien ein lachendes Gesicht. »Oder glaubst du, ich habe Lust, dieses Schuppentier noch lange festzuhalten?« Paul Namarro wälzte sich herum und nahm seine Waffe auf. Dann erhob er sich und richtete sie auf Ronic. »Gib ihn frei, Macker«, befahl er. Der Schlangenmensch zischte wütend und schritt langsam zur Seite. Mit sichtlichem Widerwillen gab er den Weg zum Gleiter frei. Die gelben Augen blickten den Celester unverwandt an, und unter dem Schuppenkleid spannten sich die Muskeln. Weit spreizten sich die Hautlappen an seinem Hals ab. »Ich sollte dich erschießen«, sagte der Celester. »Und ich werde es tun, wenn du mich noch einmal angreifst. Solange du dich friedlich verhältst, lasse ich dich leben. Wahrscheinlich ist es ein Fehler, dich nicht umzubringen, aber ich muß mich ja nicht mit dir auf eine Stufe stellen.« »Du kommst nicht weit«, entgegnete der Askprener. »Bilde dir nur nicht ein, daß du dem Pyramidon schaden kannst. Man wird dich schon auf dem Wege dorthin abfangen und erschießen. Ich bin nur einer von vielen Außenposten.« »Das laß meine Sorge sein.« Namarro stieg in den Gleiter, wobei er den Strahler ständig auf das Schlangenwesen richtete, und startete. Erst als er in einer Höhe von etwa fünf Metern war, schloß er die Tür. Ronic verharrte auf der Stelle. Mit kalten, gelben Augen blickte er zu ihm hoch.
Der Celester ließ das Seitenfenster herunter, richtete die Waffe auf das Haus und schoß. Er wartete, bis das ganze Gebäude in Flammen stand, so daß der Crynn‐Brigadist es nicht mehr löschen konnte. In weitem Bogen umkreiste der Celester das brennende Haus, bis er den Gleiter Ronics entdeckt hatte. Er feuerte auf ihn, bis auch er in Flammen aufging, so daß die technische Ausrüstung des Brigadisten zerstört wurde. »Er wird uns folgen«, bemerkte Macker, als Namarro den Bug der Maschine nach Norden richtete und beschleunigte. »Soll er«, erwiderte der Celester. Er blickte zurück und sah, daß der Roboter recht hatte. Das Schlangenwesen rannte ungemein schnell über die Steppe, blieb aber dennoch immer mehr zurück. Schon jetzt war abzusehen, daß er das Pyramidon viel zu spät erreichen würde. »Er kann uns nicht mehr einholen. Und Alarm schlagen kann er auch nicht.« Er flog so niedrig, daß er beinahe mit einem büffelähnlichen Tier zusammengeprallt wäre, das urplötzlich aus einer Bodensenke emporschnellte. Vorsichtshalber zog er die Maschine etwas höher, blieb aber unter dem Niveau der Baumwipfel. Er schaltete die Ortungsgeräte des Gleiters ein und suchte nach weiteren Vorposten, fand jedoch keine. Das Schlangenwesen hatte offensichtlich gelogen. Im Vorfeld des Pyramidons gab es kein Sicherungsnetz. Die Facette Zulgea von Mesanthor fühlte sich sicher im Pyramidon. Ein weites, leeres Land, dachte Namarro. Hier könnte ich mich jahrelang verstecken, und niemand würde mich finden. Ich könnte in freier Natur leben. Nach New Marion zog ihn nichts mehr zurück. Er brauchte die Gesellschaft der anderen Celester nicht, und er wollte nicht immer wieder an seine Familie erinnert werden. Der Gedanke, allein in der Wildnis zu leben, war überaus verführerisch für ihn. Er nahm sich vor, Arien Richardson um technische Hilfsmittel zu bitten und ihm vorzuschlagen, daß er als zurückgezogener Agent auf die Dauer auf
Crynn bleiben wollte. Fast eine Stunde war seit seinem Aufbruch von dem Haus des Schlangenmenschen vergangen, als das Land hügelig wurde. Vereinzelt ragten kahle Felskegel aus dem Wald. Dunkle Wolken zogen auf, und bald prasselten die Regentropfen gegen die Scheiben des Gleiters. Da oben regnet es ziemlich oft, hatte der Crynn‐Brigadist gesagt. War das Pyramidon in der Nähe? Paul Namarro landete zwischen einigen hochaufragenden Felsen. Er wartete, bis es aufgehört hatte zu regnen. Dann stieg er aus und sah sich um. Der Roboter glitt aus der Maschine und schwebte zu ihm hinüber. »Wo ist es, Macker?« Der Roboter griff mit einem Traktorfeld nach seinem rechten Arm und richtete ihn nach Nordwesten. Die Wolken rissen auf, und ein Berg wurde sichtbar, der deutlich höher war als alle anderen in der Umgebung. Auf seiner Spitze war ein metallener Körper zu erkennen, der die Form einer Pyramide hatte. Das Pyramidon. Er hatte es gefunden. »Was jetzt, Paule?« »Wir warten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Arien hier ist.« * Paul Namarro zog sich erschrocken in die Deckung der Felsen zurück, als etwa hundert Meter von ihm entfernt eine schlanke Gestalt aus einem Gebüsch trat. Es war Ronic! Der Celester flüchtete zum Gleiter. Doch er stieg nicht ein, denn er sah, daß das Schlangenwesen mit einem kleinen Gleiter gekommen war. Er mußte die Maschine irgendwo unterwegs gefunden haben. Wenn er jetzt versuchte, vor Ronic zu fliehen, würde dieser ihm
folgen. Er würde ihn nicht mehr abschütteln können. Unwillkürlich fragte Namarro sich, ob Ronic bereits Alarm geschlagen hatte. Er blickte zum Pyramidon hinauf. Zwei große Kampfgleiter lösten sich von ihm und kamen ins Tal herab. Verschwinde! Was hast du hier überhaupt zu suchen? Du bist ein alter, herzkranker Mann. Überlaß es Arien Richardson, das Pyramidon zu bekämpfen. »Du bleibst hier«, flüsterte er Macker zu. »Arien braucht Informationen. Du wirst ihm alles sagen, was wir erfahren haben. Verstanden?« »Alles klar, Paule. Ich verstecke mich hier.« Der Roboter glitt von ihm weg zu einem der Felsen hin. Kurz bevor er ihn erreichte, blitzte es plötzlich auf. Ein nadelfeiner Energiestrahl zuckte von dem Gebüsch herüber, bei dem Ronic gewesen war. Er traf den Bildschirm Mackers und zerstörte ihn und das dahinter verborgene Antigravgerät. Krachend stürzte der Roboter zu Boden. Er rollte in eine Spalte. Schwarzer Rauch stieg daraus hervor. Ein grauer Schatten schnellte sich heran. Er prallte mit voller Wucht gegen die Gleitertür. Diese flog Namarro aus der Hand, während er selbst zur Seite geschleudert wurde. Er stürzte, überschlug sich und blieb neben einem Felsbrocken im Gras liegen. Als er aufblickte, sah er das Schlangenwesen. Es stand hoch aufgerichtet vor dem Gleiter, breitete die Arme aus und streckte ihm die Finger entgegen, als wolle es ihn damit durchbohren. Ein Sonnenstrahl durchbrach die Wolken. Er traf die gelben Augen und ließ sie eigenartig aufleuchten. Paul Namarro fröstelte angesichts dieses Crynn‐Brigadisten. Er fühlte sich ihm grenzenlos unterlegen, obwohl er einen Kombistrahler in den Händen hielt. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wußte nicht, was er tun sollte. Schießen? Nein, denn damit machte er die Gleiterbesatzungen auf sich aufmerksam. Vielleicht gelang es ihm, Ronic zu töten, aber
dann würde er ganz sicher das Opfer der anderen werden. Weglaufen? Völlig aussichtslos. Aus! dachte er. Macker kann dir nicht mehr helfen. Er ist nur noch Schrott. Du bist auf dich allein angewiesen. Der Herzanfall kam prompt. Paul Namarro rang verzweifelt nach Luft. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er umklammerte die Waffe und versuchte, sie zu heben. Doch sie schien ihr Gewicht vervielfacht zu haben. Er konnte sie nicht auf den Crynn‐Brigadisten richten. Ronic erkannte die Schwäche seines Opfers. Langsam kam er auf Namarro zu. »Ich hätte es mir denken können«, sagte er zischelnd. »Du verdammter Narr. Wie konntest du es wagen, dich gegen die Facette zu erheben?« Namarro schrie auf. Mit äußerster Mühe richtete er sich auf. Das Schlangenwesen bog den Kopf zurück. Im nächsten Moment schon mußte der tödliche Angriff erfolgen. Der Celester schoß. Zu seiner eigenen Überraschung traf er seinen Gegner. Der Energiestrahl fuhr diesem mitten durch die Brust. Lautlos sackte der Crynn‐Brigadisten zusammen. Er stürzte unmittelbar vor Namarro zu Boden, und in diesen letzten Sekunden seines Lebens wurde so etwas wie ein Gefühl in seinen Augen sichtbar. Namarro durchwühlte seine Taschen. Er suchte nach einer Kapsel, mit der er sich von den schier unerträglichen Schmerzen in der Brust befreien konnte. Doch er fand keine, und gleichzeitig verebbten die Schmerzen. Er konnte freier atmen. Verwundert horchte er in sich hinein. Er hatte keine Angst mehr, obwohl er weitere Crynn‐Brigadisten in der Nähe wußte. Er fühlte sich frei, und die Sehnsucht nach dem Leben in der freien Natur wurde geradezu übermächtig. Erschöpft streckte er die Arme aus und ließ den Kopf ins Gras sinken. Keine Sekunde zu früh, denn geräuschlos wie ein Schatten schob sich ein großer Militärgleiter über die Felsen. Er flog in einer
Höhe von kaum drei Metern. Ein Thater öffnete die Seitentür, beugte sich heraus und blickte zu ihm und dem Schlangenwesen herab. Paul Namarro behielt die Augen offen, und er bewegte sich nicht. Er stellte sich tot. Sein Herz schlug wie rasend. Würde das haluterähnliche Wesen sich täuschen lassen? Was war, wenn es mit Hilfe der Infrarottechnik prüfte, ob er noch lebte? Das konnte es ohne weiteres tun. Fast eine Minute verstrich, dann flog die Maschine der Crynn‐Brigade endlich weiter, und Paul Namarro konnte aufatmen. Er hatte es überstanden. Geduldig wartete er noch einige Zeit, bis alles ruhig war. Dann richtete er sich vorsichtig auf und kroch zu seinem Gleiter. Heftiger Regen setzte ein, und die Sicht verschlechterte sich. Er konnte das Pyramidon nicht mehr sehen. Er riß die Tür auf, stieg ein und schaltete das Ortungsgerät ein. Erleichtert strich er sich das Regenwasser aus dem Gesicht. Kein anderer Gleiter war in der Nähe. Namarro startete und flog in südlicher Richtung davon. Er wollte sich seinen Traum verwirklichen und den Rest seines Lebens in der Wildnis verbringen. Er war sich dessen sicher, daß Arien Richardson ihn verstehen würde. * Nachdem Arien Richardson das Pyramidon geortet hatte, versteckte er die KORALLE in einer Felsgrotte. Es war nicht schwer gewesen, das Pyramidon zu finden. Die Ortsangabe Namarros war nicht ganz richtig gewesen, aber eine Abweichung von etwa fünfzig Kilometern hatte sich als unwesentlich erwiesen. Vorsichtig näherten sich Flora Almuth und die beiden Männer dem Berg Mauntenn. Arien Richardson hatte versucht, die Frau
davon zu überzeugen, daß sie in der KORALLE besser aufgehoben war, zumal es heftig regnete. Doch Flora hatte sich nicht abweisen lassen. »Ich spüre die Nähe meiner Schwester«, sagte sie immer wieder. »Jetzt sollte ich nicht weitergehen?« Und dann lachte sie. Richardson blieb stehen und blickte auf sein Armbandkombigerät. »Ich empfange schwache Funkimpulse«, erklärte er. »Paul muß hier irgendwo sein.« Er peilte sich auf die Signale ein und folgte ihnen. Wenige Minuten später kniete er vor den Resten des Roboters Macker. »Ein altes, halbverbranntes Fernsehgerät«, sagte er. Enttäuscht wollte er sich abwenden, doch plötzlich ertönte eine schwache Stimme aus dem Gerät an seinem Handgelenk. »Es ist traurig. Mich haben sie abgeschossen, und Paule mußte verduften, damit die Crynn‐Brigade ihn nicht erwischt. Hallo, Freunde. Wir haben lange auf euch gewartet.« »Das Ding ist ein Roboter«, erkannte Atlan. Er beugte sich über die Reste Mackers. »Hast du Informationen für uns?« »Nicht viel«, erwiderte Macker und teilte Flora und den beiden Männern mit, was Paul Namarro herausgefunden hatte. »Das ist nicht gerade umwerfend«, stellte Atlan fest, als der Automat geendet hatte. »Es hilft uns jedoch weiter.« »Paul ist davon überzeugt, daß es unmöglich ist, ins Pyramidon zu kommen«, schloß Macker. »Die Crynn‐Brigade wird euch zusammenschießen, wenn ihr es versucht.« Es hörte auf zu regnen, und die dunklen Wolken zogen ab. Atlan blickte zum Berg Mauntenn hinauf. Das Pyramidon funkelte im Licht der durchbrechenden Sonne. Es schien tatsächlich unmöglich zu sein, unbemerkt zu ihm vorzudringen. »Marie ist im Pyramidon«, bemerkte Flora. »Ich werde zu ihr gehen. Notfalls auch allein. Ich muß sie herausholen. Sie war lange genug Gefangene der Hexe Zulgea.«
»Du bringst mich auf einen Gedanken«, erwiderte der Arkonide. Er sah, daß sich ihnen vier Gleiter aus östlicher Richtung näherten. »Tatsächlich?« »Ja. Du hast davon gesprochen, daß sie eine Gefangene ist. Genau das werden wir auch sein. Es ist die einzige Möglichkeit, ins Pyramidon zu kommen. Wir lassen uns gefangennehmen.« Arien Richardson erhob zunächst Einspruch, sah dann aber ein, daß sie nicht anders handeln konnten. Er ging zu Macker. »Hörst du mich?« »Du sprichst ja laut genug.« »Gib eine Nachricht an unsere Freunde im Raumschiff durch. Sie müssen wissen, daß wir freiwillig in die Gefangenschaft der Crynn‐ Brigade gehen, um auf diese Weise ins Pyramidon zu kommen.« »Wird erledigt«, versprach Macker. »Das wird meine letzte gute Tat sein. Ich werde die Nachricht verschlüsseln, aber man wird mich dennoch verstehen. Danach schalte ich mich aus. Vielleicht holt mich Paule eines Tages wieder ab, um mich zu reparieren. Dann will ich noch ein wenig Saft haben, um ihm guten Tag zu sagen.« Arien Richardson lächelte. Er richtete sich auf und kehrte zu Atlan zurück. Sekunden später landeten die Gleiter, und die Waffen der Integrale und der Crynn‐Brigadisten richteten sich auf sie. ENDE Um in das Pyramidon, das Machtzentrum Zulgeas, zu gelangen, bleibt Atlan, Arien Richardson und Flora Almuth nichts anderes übrig, als sich von den Gegnern gefangennehmen zu lassen. Wie es weitergeht mit dem Arkoniden und seinen Gefährten, das schildert Peter Griese im nächsten Band der Serie. Der Roman trägt den Titel: DIE FACETTE VON MESANTHOR