RICHARD BLUMENTHAL
Durchbruch nach Haiphong
Tatsachenbericht Fotos: NBI, Blumenthal (3), Fotozirkel des MS „Frieden"...
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RICHARD BLUMENTHAL
Durchbruch nach Haiphong
Tatsachenbericht Fotos: NBI, Blumenthal (3), Fotozirkel des MS „Frieden" (2); Karte: Archiv Der Autor dankt dem VEB Deutfracht/Seereederei Rostock und der Besatzung der „Frieden" für ihre Hilfe bei der Entwicklung des Tatsachenberichts
1.—70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB)-Berlin, 1974 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LSV: 0279 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Karl Fischer Vorauskorrektur: Ilse Fähndrich • Korrektor: Elfriede Sell Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic Gesamtherslellung: (140) Druckerei Neues Deutschland Berlin
EVP 0,50
Mit einer freundlichen Bemerkung, die soviel bedeuten soll wie „Gute Reise!", läßt mich der Zollbeamte des Überseehafens Freetown passieren. Seine Kreidekreuze auf Koffer und Fototaschen zeugen von der letzten Amtshandlung, die mit meinem Aufenthalt in Westafrika verbunden ist. Nach einem fünfzehnstündigen Flug mit einer 11-18 der INTERFLUG und einem siebentägigen Zwischenaufenthalt in Freetown, der Hauptstadt der Republik Sierra Leone, beginnt nun der letzte Abschnitt meiner Reise. Über Rügen-Radio angekündigt, treffe ich auf dem DSRFrachtschiff MS „Frieden" jene Seeleute, die nun nach mehr als einem Jahr ihr Schiff von Haiphong zurückbringen. Ihre Erlebnisse, ihre Geschichten und Eindrücke will ich während der restlichen 17 Tage der insgesamt sechs Wochen dauernden Fahrt der „Frieden" von den südostasiatischen Gewässern bis zur Ostsee erfragen und notieren. Deswegen hat auch Kapitän Kolleß die Maschinen stoppen und die Anker werfen lassen. Back- und steuerbord schlagen die Wellenkämme über. Die Barkasse, die mich vom Hafenbecken zu dem auf Reede liegenden Schiff bringt, schlingert nach allen Himmelsrichtungen in der hochgehenden Dünung. Trotz des frischen Seewindes ist die feuchte Wärme, sind die in diesen Breitengraden als normal geltenden 45 Grad Mittagstemperatur noch immer unangenehm spürbar. Und so muß dann auch das artistische Intermezzo,
Kapitän der ,,Frieden", Genosse Helmut Kolleß
der Überstieg von dem schwankenden 0-Boot auf die herabgelassene Gangway, mit doppeltem Schweiß bezahlt werden. In der anfänglichen Zurückhaltung, mit der wir uns begrüßen, uns bekannt machen, liegt gleichzeitig eine gewisse Neugier. Wer ist dieser Passagier? werden sich die Seeleute jetzt fragen. Wer sind diese Frauen und Männer, die den Bombardements, den Minen in Haiphong nicht gewichen sind? frage ich mich. Vierzehn Tage werde ich Zeit haben, darauf Antworten zu finden. Meine Reise auf der „Frieden" beginnt am 1.Mai 1973; es ist fast symbolisch, daß ich hier an Bord die Frage nach der Solidarität, nach dem proletarischen Internationalismus zuerst am internationalen Kampftag der Arbeiterklasse stellen werde. Während der an sich nicht geplante Stopp genutzt wird, Trinkwasser zu bunkern sowie Gemüse, Frischobst und Milch an Bord zu nehmen, werde ich vom Kapitän, Helmut Kolleß, mit einem kühlen Bier empfangen. Erste Gelegenheit, mit meinem Anliegen konkreter zu werden, Wünsche zu äußern, Absichten zu erklären. Offiziere grüßen, werden vorgestellt, reichen Berichte herein. Matrosen melden die Ladung, empfangen Anweisungen. Die Briefe und Zeitungen, aus der Heimat per INTERFLUG und Schiffsagentur nach hier gekommen und von allen sehnsüchtig erwartet, werden sortiert und schnellstens verteilt. Vielfache Möglichkeit, jenen Menschen ins Gesicht zu schauen,
deren Geschichte, die Geschichte der „Frieden"Mannschaft, ich aufzeichnen will. Namen werden genannt, notiert. Namen von Genossen, die sich in den Tagen von Haiphong besonders verdient gemacht haben, die in ihrer Disziplin vorbildlich waren, die ihren Mut in der Bewährung fanden. Termine werden vereinbart, wann mit wem zuerst gesprochen wird. Heute feiert die Mannschaft in mehreren Schichten, so wie es der Dienst gestattet, den l. Mai. Ich feiere mit ihnen und lerne sie kennen, die neunundvierzig Frauen und Männer der Besatzung des Motorschiffes „Frieden", und erfahre von ihnen die Geschichte ihrer Schiffsreise... 15520 Seemeilen bis zum Golf von Tonking Dreißig von ihnen — Offiziere, Matrosen, Maschinisten, Stewardessen — hatten diese Reise vor mehr als einem Jahr, am 10. Januar 1972, in Rostock begonnen, als das MS „Frieden" Kurs Fernost nahm und in Richtung Haiphong auf den 15 520 Seemeilen langen Trail ging. Mit 6500 Tonnen Solidaritätsgütern an Bord, das Ergebnis zahlloser Spenden der DDR-Bevölkerung, sollte der Demokratischen Republik Vietnam so schnell wie möglich weitere Hilfe und Unterstützung gebracht werden, Hilfe in einer Zeit, da sich die Angriffe der amerikanischen Aggressoren verschärften, als. man — so General Curtis Le May — Vietnam in die „Steinzeit
zurückbomben" wollte, als die Überfälle der USALuftpiraten auf die DRV weiter an Härte zunahmen. Selbst in den USA wurden Stimmen laut, die in der erneuten Eskalation des Vietnamkrieges — so Präsidentschaftsbewerber McGovern — einen „Flirt mit dem dritten Weltkrieg" sahen. Dennoch: Das internationale Kräfteverhältnis, die weltweite Solidarität mit dem heldenhaft kämpfenden vietnamesischen Volk zwangen die Nixonregierung und ihre Saigoner Vasallen an den Pariser Verhandlungstisch. Und während diese Verhandlungen durch den Einsatz von weiteren Dollarzuschüssen und Bomben (bisher 120 Milliarden Dollar und 6,2 Millionen Tonnen Bomben und Kampfstoffe) hintertrieben werden sollten, lief die „Frieden", nur noch wenige hundert Seemeilen von den Hoheitsgewässern der DRV entfernt, die Bucht von Tonking an. Die See gebärdete sich unruhig. Windstärke 8 bis 9 brachte das Schiff zum Rollen. Hier und dort mußte die Deckladung nachgesichert und kontrolliert werden, mußte nachgesehen werden, ob sich Trossen gelöst oder Keile gelockert hatten. Der Bootsmann prüfte mit der diensthabenden Wachmannschaft bald hier, bald dort, gab Anweisungen und Hinweise. Auch im Kartenraum und auf der Brücke verlief der Dienst normal: Kursberechnungen, Positionseintragungen, Meldungen von der Brücke zum Maschinenraum, Radarkontrolle, Funkmeldungen, alles hatte seine in Dienstvorschriften und langjährigen Seemannserfahrungen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze.
Nach diesen Gesetzen wurde und wird auf allen Schiffen unserer Handelsflotte täglich und zu jeder Stunde gehandelt, so unterschiedlich Ziel und Auftrag auch sein mögen. Auf Deck und in den fünf Laderäumen des 1957 in Dienst gestellten ersten Großschiffes der DDR war sichtbar, wie sich der Pfennig und die Mark, die Spenden vieler, in konkrete materielle, den dringendsten Bedürfnissen des vietnamesischen Volkes entsprechende Gegenstände gewandelt hatten: 99 LKWs vom Typ W 50, Krankenfahrzeuge, ein Fernsehübertragungswagen, medizinisch-technische Geräte, Montageteile für eine komplette Brücke, Chemikalien, Filmmaterial und Lebensmittel. Nicht zum erstenmal wurden sowohl Frachtgut des normalen Warenaustausches als auch Solidaritätsgüter in die DRV transportiert. Seit dem Frühjahr 1971 besteht zwischen Rostock und Haiphong ein regelmäßiger Linienverkehr der Deutschen Seereederei. Und so hatten in den Monaten zuvor Frachter wie die ,,Edgar Andre" (Eröffnung des Liniendienstes), die ,,Halle", „Gera", „Erfurt" den Hafen im Delta des Cam-Flusses angelaufen. Wenige Tage vor Ankunft des MS „Frieden" hatte das Schwesterschiff, das MS „Halberstadt" aus der TypIV-Serie, mit den eingetragenen 13000 tdw längsseits der Pier von Haiphong festgemacht. Für die „Frieden" war die Reise 1/72 bereits die dritte, die sie nach Haiphong führte.
USA-Aufklärungsziel — die „Frieden" Die Seemanöver in den südostasiatischen Gewässern hatten für die Fanrensleute unserer DDRHandelsflotte schon Routinecharakter. Auch für den neununddreißigjährigen Kapitän Helmut Kolleß und seine drei nautischen Offiziere gehörte diese Reise in Anbetracht der ständigen amerikanischen Luft- und Seebedrohung zwar nicht zu den gewöhnlichen Aufgaben, jedoch hatte es noch keine besonderen Vorkommnisse gegeben, die Grund zur Unruhe gewesen wären; denn bisher hatte es der amerikanische Imperialismus noch nicht gewagt, die internationale Handels Schiffahrt unmittelbar in seine Kampfoperationen einzubeziehen. Aber der „Fall Haiphong" war zu jenem Zeitpunkt bereits fixiert und lag, in den Safes des Pentagons parat, um mit seiner Realisierung weitere Erpressungsversuche in der Pariser Verhandlungsrunde zu starten. Doch davon ahnten die neunundvierzig auf dem MS „Frieden" nichts. Ihr Schiff hielt mit gleichbleibender Geschwindigkeit den von Kapitän Kolleß festgelegten Kurs. Seine Entscheidung war es, nicht die internationale Schiffahrtslinie entlang den südvietnamesischen Küstengewässern zu befahren, sondern aus Sicherheitsgründen Kurs Nordnordost, die Linie über die Südspitze der Insel Hai-Nan anzulaufen. Plötzlich tauchten sie auf, stießen aus den Wolken herunter, flogen dicht über der Horizontlinie, umkreisten im Tiefflug das Schiff. Der Maschinentyp ließ erkennen, daß die USA-Flotte mit Aufklärungsflugzeugen jede
Bewegung weit draußen vor den Küsten Vietnams beobachtete und sich die Kontrolle der internationalen Schiffahrtsgewässer anmaßte. Mit geplanter Regelmäßigkeit — die Registrierungen im Bordbuch der „Frieden" gaben nachträglich authentische Auskunft darüber — flogen die „Aufklärer" zur Beobachtung der Ladung — die LKWs W 50 standen zum Teil in Reih und Glied auf dem Oberdeck — und zur Feststellung der Nationalität des Schiffes Backund Steuerbord an, fotografierten und drehten nach mehreren Runden wieder ab. Das Tropenklima, die schwülwarme Luft waren bereits auf See zu spüren. In den Kammern stiegen die Temperaturen mit jedem Tag um einige Grade mehr an, je weiter sich das Schiff der Küste näherte. Nicht ganz geräuschlos quirlten Ventilatoren die Luft in den Räumen, erfrischten den, der sich in ihrem Windstrudel aufhielt, und kühlten recht und schlecht die in Betrieb stehenden Anlagen. Auch in der Funkstation lastete die Hitze. Der vierundzwanzigjährige Funkoffizier Joachim Willmann bediente die Sendeanlage, kontrollierte die Frequenzen, fing Wortfetzen auf, setzte Telegramme ab, hörte hier Grüße von Schiff zu Schiff in russischer Sprache, da eine Positionsmeldung in englischer, Nachrichten in deutscher Sprache. Zwei Stunden seines Wachdienstes waren bereits vergangen. Über Mittelwellensender meldete er, so wie es die Bestimmungen der Handelsschiffahrt vorschreiben, in regelmäßigen Abständen von vier bis
sechs Stunden der Schiffsagentur Standort, Geschwindigkeit, Ankunft und Lotsenposition des Schiffes. Mit Geschwindigkeiten von 10 bis 11 Knoten steuerte der Frachter am 7. April 1972 die Außenreede von Haiphong an. Tonne Null ist erreicht 89 Tage hat die Reise bisher gedauert. 89 Tage, in denen sich an Bord aus den damals neunundvierzig Mann ein festes Arbeitskollektiv bildete. Unter ihnen befanden sich sieben Lehrlinge und achtzehn Stamm„Frieden"-Fahrer. Die übrigen waren neuaufgestiegene Besatzungsmitglieder, die auf ihren früheren Reisen andere Routen, wie Kuba—Mexiko, Ostafrika, Sowjetunion, befahren hatten. Der normale Seemannsalltag führte in den vergangenen Wochen der Überfahrt schnell dazu, sich zwischen Nordsee, westafrikanischer Küste und Indischem Ozean kennenzulernen. Wachdienste, Wartungsarbeiten, Organisierung der Parteiorganisation, der Schiffsgewerkschaftsgruppe, der FDJ und DSF, die Diskussionen um den Wettbewerb für die Reise 1/72 und 2/72, Skatturniere, Sportveranstaltungen, Kinovorführungen und nicht zuletzt die Barabende mit Rostocker Hafenbräu und preisbegünstigtem Weinbrand hatten die zufällige, aber in der Seeverkehrswirtschaft normale Zusammenfügung von Menschen verschiedenster Altersgruppen und Berufe zu einem neuen Kollektiv begünstigt.
Dazu Hans-Joachim Böhl, stellvertretender Leiter der Politischen Abteilung der Handelsflotte der DDR, in einer Nachbetrachtung auf die Ereignisse zwischen April 1972 und Januar 1973 eingehend: „Die Besatzung des MS „Frieden" ist in ihrer Zusammensetzung kein nach besonderen Gesichtspunkten ausgewähltes Kollektiv. Die von diesen Menschen gezeigte Haltung, das Klassenbewußtsein, die Moral, der persönliche Mut und das Denken in den Kategorien der internationalen Solidarität bestärkten uns in der Auffassung, daß jede andere Besatzung unserer Flotte ebenso aufopferungsvoll und überzeugt gehandelt hätte." Die See hatte sich in den letzten Tagen wieder beruhigt. Öfter als in den vergangenen Wochen, während der Kurs durch den Indischen Ozean verlief, waren nun auch wieder Schiffe der verschiedensten Klassen, Tonnagen und Nationen auszumachen. Dazwischen navigierten und provozierten Einheiten der 7. USA-Flotte. Der Krieg schickte seinen Atem voraus. Auf dem Meßtischblatt eingezeichnet, hatte die „Frieden" den 20. Breitengrad weit hinter sich gelassen, waren die letzten Seemeilen bis nach Haiphong auf eine Zentimeterlänge zwischen zwei Zirkelspitzen zusammengeschmolzen. Wie immer, das heißt wenn das Manövrieren in den Küstengewässern begann, herrschte auf der Brücke Hochbetrieb; ständig wurden Schiffsbewegungen gemeldet, weitergegeben, eingetragen, Funksprüche gesendet und empfangen.
Kapitän Kolleß hatte wegen der Bereitstellung eines Lotsen angefragt. Über Funk wurde gemeldet, daß der Lotse bereit sei, die „Frieden" auf Innenreede zu manövrieren. Am 8: April 1972 erreichte das Schiff Tonne Null der Zufahrtsgewässer zum Hafen von Haiphong. Der Kapitän und sein 3. Offizier, Genosse Joachim Kindler, leiteten von der Brücke die Manöver. 16.38 Uhr stoppte die MS „Frieden" und nahm den vietnamesischen Lotsen an Bord. Die Einfahrt in den Hafen von Haiphong konnte beginnen. Erinnerungen am Jahrestag Der Sonnenball taucht blutrot in die Wellenkämme des Atlantik. Schon fast eine Stunde begleiten etwa 30 Delphine unser Schiff, jagen in unvermindertem Tempo Meile um Meile vor dem Bug her, schleudern sich in eleganten Sprüngen aus der See und verschwinden mit feinen pfeifenden Lauten wieder im Wasser, um kurze Zeit später ihr artistisches Spiel von neuem zu beginnen. Es ist ein Schauspiel voller Exotik, das ich mit wachsendem Interesse verfolge. Doch die Zeit fordert ihren Tribut. Auch hier an Bord regelt der Dienstbetrieb den Wechsel von Arbeitszeit und Ruhe. Obwohl Gast der MS „Frieden", beginnt auch für mich die Arbeit — eine Arbeit, die sich durch die Freizeit meiner Gesprächspartner regelt. Auf meinem Merkzettel steht in der Reihe der Namenliste „Termin mit Genossen Müller". Selten wird der neunundzwanzig Jahre alte Genosse
an Bord in seiner dienstrangmäßigen Funktion angesprochen. Die Person des 2. nautischen Offiziers — so auch Walter Müller — wurde in der Seemannssprache, abgeleitet aus dem englischen Terminus „der Zweite", zum Second. Eine der wichtigsten und ständigen Aufgaben des Second, für alle Schiffe gleichermaßen festgelegt, sind neben seinen Funktionen als Sicherheitsoffizier und Vorsitzender der Konfliktkommission die „NullStrich-Vier-" und die „Zwölf-Strich-SechzehnWache". Was soviel bedeutet, daß die Schiffsführung in der Zeit von 00.00 bis 04.00 Uhr und in der zweiten Schicht von 12.00 bis 16.00 Uhr dem verantwortlichen Wachoffizier, also dem Second obliegt. Es ist 23.55 Uhr. In den Bordbüchern, den Karten und Protokollen wird das Datum vom 4. Mai 1973 eingetragen. Genau ein Jahr ist mit dem heutigen Tag vergangen, da die Besatzung der „Frieden" vor einer ihrer ersten großen Entscheidungen gestanden hat. Walter Müller hat die Wache übernommen, überprüft den Kurs, errechnet mit Hilfe elektronischer Geräte die genauen Positionen und beobachtet in der Dunkelheit die durch Windstärke 7 aufgewühlte See, ob etwa entgegenkommende Schiffe auszumachen sind. Vier Stunden anstrengenden Dienstes haben begonnen. Als „Amateurwachmatrose" werde ich die nächsten vier Stunden mit auf der Brücke stehen, Fragen stellen, die Menschen beobachten, Zipfel für Zipfel
packen, um sie kennenzulernen, sie zu begreifen, ihre Gedanken zu erfassen. Die Finsternis, in der Ferne vorbeiziehende grüne, weiße und rote Lichter, Positionslampen unseren Kurs kreuzende Schiffe, fordern jedoch immer wieder die volle Aufmerksamkeit der diensthabenden Seeleute. Walter Müller tröstet mich: „Warte, bis die Ablösung kommt, dann finden wir Zeit genug." In der Kammer vom Second hängt noch immer die schwüle Hitze des Tages. Die wohltemperierte Flasche Rostocker Hafenbräu, die vor mir auf der Back steht, verspricht trotz der frühen Morgenstunde ein Genuß zu werden; zu einem der angenehmen Bräuche, die in den mitunter monatelangen Seefahrten den Lebensrhythmus mitbestimmen, gehört das Wachbier; wenn der Dienst beendet und die Schiffsführung an den nächstfolgenden Offizier und seinen Wachmatrosen übergeben ist, werden die acht Stunden Freizeit mit einem kühlen Bier eingeleitet. Für mich die beste Gelegenheit, Walter Müller für ein Gespräch zu gewinnen, mehr über seine Person zu erfahren und die Geschehnisse von Haiphong durch einen der Augenzeugen authentisch und lebendig bestätigt zu bekommen. Seit 1961 ist der Second Mitarbeiter der DSR. In Plauen kam er durch die GST zur Seefahrt. Begann als Lehrling, nahm die Stufenleiter über den Matrosen, den Bootsmann, den Offiziersanwärter, heiratete 1964, fuhr auf den verschiedensten Schiffstypen und rüstete sich an den Schulen in
Wustrow und Warnemünde mit dem Steuermannsund Kapitänspatent aus. Danach stieg er im Januar 1972 zu seiner ersten Südostasienreise auf— das Schiff hieß MS „Frieden" und lief zur 1/72 nach Haiphong aus. Der Second, seine Freunde nennen ihn nicht ganz unberechtigt auch ,,Dicker'', beherrscht sein Metier auf der Kommandobrücke. Von hier aus beobachtete er auch die Ereignisse, wie sie sich mit Beginn des 1. April 1972 auf der Reede und im Hafen von Haiphong ereigneten... Der Überfall begann im Morgengraue n Die „Frieden" konnte am 8. April 1972, nach zwei Stunden Liegezeit auf der Außenreede, die Anker lichten. Die Stunden der Flut gestatteten es, in der Fahrrinne, der Barre, entlang den Markierungstonnen auf Innenreede zu laufen. Am 9. April, 00.41 Uhr, war der Liegeplatz erreicht. Die Auskunft durch die Mitarbeiter der Handelsvertretung der DDR in Hanoi und den Schiffsagenten lautete: Sobald das MS „Halberstadt" seine Ladung gelöscht hat, wird sie den Hafen verlassen und damit den Platz für die „Frieden'' frei machen. Voraussichtlicher Termin ist der 16. April. An jenem Morgen aber setzte die erneute Eskalation des Krieges gegen die DRV ein. Im Morgengrauen dieses Sonntags brach die Hölle los. Walter Müller hatte gerade die letzten Eintragungen
der 00.00-04.00-Uhr-Wache vorgenommen, die Meßgeräte verglichen, die Feuerwarnanlage überprüft, als plötzlich heftige Detonationen das Schiff vibrieren ließen. Der Second riß die Schiebetür zur Nock auf, rannte hinaus, um zu sehen, was geschehen war. Instinktiv duckte er sich, als im selben Moment vier, fünf „Phantom" tief über das Schiff hinwegrasten. Fast zum Greifen nahe, so niedrig jagten nun in mehreren Wellen die Maschinen heran. Im direkten Verlauf der Innenreede flogen sie über die hier liegenden Schiffe hinweg — Richtung Hafengebiet Haiphong. Tanklager flogen in die Luft, Rauchsäulen schössen in den Himmel. Ein kurzer Anflug, und von den Düsenaggregaten gestoßen, zogen sie wieder steil in den azurblauen Morgenhimmel empor. Wie ein Uhrwerk lief die Kriegsmaschinerie an. Während weitere Pulks von „Phantom"-, „Thunderchief"- und „Skyhawk"-Kampfflugzeugen den Hafen anflogen, begann aus der Richtung des Golfs von Tonking das Dröhnen von Schiffsgeschützen. Im Einklang mit den Detonationen der Fliegerraketen, barsten einige Meilen entfernt auf der Insel Hou-dan die Granaten. Walter Müller, der das alles in den letzten Minuten seines Wachdienstes auf der Kommandobrücke beobachtete: „Ich konnte im Moment nichts begreifen, denn in meinem Leben wurde ich das erstemal unmittelbar mit dem Krieg konfrontiert." Überall auf den Schiffen standen die Matrosen im
Schutz der Aufbauten und beobachteten das sich vor ihren Augen abspielende Inferno. Als nach mehr als 30 Minuten wieder Ruhe einsetzte, konnte niemand ahnen, daß seit diesem Morgen des 16. April die internationale Handelsschiffahrt in die Pläne des USA-Kommandos Südostasien einbezogen war. Die erste Aufregung hatte sich gelegt, hier und da standen noch Gruppen beieinander, diskutierten, beobachteten die im Hafengebiet aufsteigenden Rauchsäulen. In der Offiziersmesse hatten sich leitende Genossen des MS „Frieden" zusammengefunden, um erste Maßnahmen der Sicherung und des Schutzes zu beraten. Walter Müller verglich die Uhren. Es war 10.00 Uhr. Sollte er sich noch für eine Weile zur Ruhe legen, bis sein nächster Wachdienst begann? So recht konnte er sich nicht entscheiden. Jäh wurde die Ruhe unterbrochen. Durch die geöffneten Bulleyes drang der heulende, dröhnende Ton mehrerer Düsenbomber herein. Wo man auch hinschaute, überall waren die silbergrauen Körper der Todesvögel zu sehen. Bewußt die Lage ausnutzend, daß die vietnamesische Luftabwehr das Feuer nicht in Richtung der Schiffsliegeplätze richten konnte, flogen 50 bis 60 USAMaschinen Haiphong über die Reede an: eine Taktik, die bei fast allen Luftüberfällen der kommenden Wochen und Monate beibehalten werden sollte. Erneut lagen die Stadt, Industrieanlagen und Bahnlinien sowie das Hafengebiet unter schwerem Bombenund Raketenhagel. Flugzeuge, die ihre Todeslast nicht
Haiphong während eines Terrorangriffs, von der „Frieden" aus gesehen ins Ziel bringen konnten, klinkten die Sprengladungen über dem Liegeplatz der Schiffe aus. Sekunden später drehten die Maschinen ab. Einige von ihnen zogen eine Schleife und kamen im Tiefflug zurück. Der Second hatte das Achterdeck erreicht, um mit dem Fernglas die Anflüge der Staffeln besser
beobachten zu können. Da schössen plötzlich ein, zwei Meilen entfernt, unweit der Schiffsliegeplätze, Wasserfontänen in die Höhe. Walter Müller duckte sich instinktiv hinter die Seilwinde. Wieder jagte eine der Maschinen heran, simulierte einen Zielanflug auf die „Frieden" und verschwand am Horizont im flirrenden Sonnenlicht. Noch einige Minuten verharrte Second Müller hinter den schützenden Aufbauten. Das Dröhnen und Heulen war verebbt. Die Ruhe hatte etwas Drohendes. Angstgefühl kam auf. Die Menschen hier auf den Schiffen, auf diesen stählernen Inseln, schienen der Gewalt und der Willkür hilflos ausgeliefert. Es gab keine Möglichkeit einer Flucht vor der Gefahr. Unheimlich kroch die Wand aus Rauch und Asche immer höher in den Himmel. Ihr Schatten, den sie warf, ihr Schuttregen, den sie verlor, fielen auf Haiphong. Jetzt sah Walter Müller auch hinter der Reling zwei Matrosen, die hinter Aufbauten Schutz gesucht hatten. „Alles in Ordnung?" „Ja", kam zögernd die Antwort. Über die Schiffslautsprecher schnarrte die Stimme des wachhabenden Offiziers. „Alle Besatzungsmitglieder haben sich unverzüglich in der Mannschaftsmesse einzufinden!" Der Second warf noch einmal einen Blick zurück zum Hafen, schaute hinüber zu den anderen Schiffen. Die bange Frage blieb: Ist niemand von ihnen verletzt? Am Morgen des 17. April meldete die DDRNachrichtenagentur ADN: „Bei Angriffen auf Haiphong wurde das MS
.Halberstadt' durch einen Raketentreffer stark beschädigt." Auf der „Halberstadt" war in der Nacht vom 15. zum 16. April der Ladebetrieb intensiv fortgesetzt worden. Jede Stunde, jede Minute war kostbar, um so schnell wie möglich die Luken schließen zu können, das Schiff zum Auslaufen klar zu machen und den Hafenliegeplatz für die „Frieden" zu räumen. Unermüdlich hatten die vietnamesischen Hafenarbeiter Ballen auf Ballen in den metertiefen Laderäumen gestaut. Wieder und wieder schwenkte das Ladegeschirr seine Lasten über den Schiffskörper. Der Morgen graute schon, als die ersten „Phantom" wie gespenstische Schemen von See her auftauchten, über die Tragflächen abkippten und ihre Raketen in die Ziele lenkten. Unmittelbar hinter den Hafengebäuden wirbelten Teile der Anlagen und Häuser in die Luft. Wer sich auf dem Oberdeck des Schiffes aufhielt, suchte Schutz in den Gängen. Die vietnamesischen Freunde flüchteten auf ihre kleinen Boote, die längsseits des Frachters im Hafenbecken lagen. Die Druckwellen und Detonationen brachten den Schiffsleib der „Halberstadt" zum Beben. Raketensplitter und Trümmer prasselten auf das Deck nieder. Endlich, nach drei, vier Anflügen, trat wieder Ruhe ein. Auf der Brücke hatten sich die Offiziere versammelt. Kapitän Albert Neutschel gab Anweisung, sofort alle Maßnahmen zu ergreifen, eventuell verletzten
Besatzungsmitgliedern oder verwundeten vietnamesischen Genossen schnelle Hilfe zukommen zu lassen. Noch während die „Halberstadf-Besatzung das Schiff inspizierte, wurden auf dem Flugzeugträger der US Navy die nächsten Staffeln zum Einsatz vorbereitet, hallten über das Deck der schwimmenden Flugbasis die Befehle und Kommandos. Der Count down für den zweiten Luftangriff an diesem Morgen des 16. April lief mit vorausberechneter Präzision. Der Stundenzeiger hatte die Zehn noch nicht erreicht, als der Kommandant der „Constellation" den Startbefehl gab. In Dreierstaffeln schwenkten die Maschinen ab. Kurs Westnordwest, Operationsgebiet Haiphong. Auftrag: Mord. Die Rauchschleier lagen noch über dem Hafengebiet, als der zweite Überraschungsangriff geflogen wurde. Wieder suchten die Menschen notdürftig Schutz. Auf der „Halberstadt" hatten sich die Besatzungsmitglieder in die Innenräume und Gänge zurückgezogen. Das Bersten der Einschläge aber klang hinter den Stahlwänden der Schiffsplanken um so bedrohlicher. Für Sekunden stockte jedoch allen der Atem. Ein Zittern ging durch den Schiffskörper. Dann fegte ein Regen aus Stahlsplittern über die Aufbauten. Der 10000-Tonnen-Frachter der DDR-Handelsflotte, die MS „Halberstadt", war von einer Rakete getroffen worden. 120 Schadenstellen zählten die Seeleute nach dem Terrorangriff. Die eingeleiteten ersten Sicherheits-
maßnahmen und die Disziplin der Mannschaft hatten jedoch verhindert, daß durch diesen Treffer das Leben oder die Gesundheit der Seeleute in Gefahr kam. Dennoch, dreiunddreißig Mann der Besatzung des DSR-Schiffes „Halberstadt" wurden einen Tag später evakuiert. Auf der MS „Frieden" fanden sie für die Zeit bis zum Auslaufen ihres Schiffes am 24. April Schutz und Unterkunft. Die Angriffe, die oft zehnmaligen Alarme am Tag, verzögerten den Lade- und Löschbetrieb im Hafen. Die „Frieden", immer noch auf Binnenreede, lag in unmittelbarer Nachbarschaft sowjetischer, polnischer, kubanischer und chinesischer Schiffe vor Anker. Auf der, .Babuschkin'', einem sowjetischen Frachter aus Odessa, versah der Wachposten regelmäßig seinen Dienst. Auch auf der „Frieden" ging trotz Liegezeit der normale Wachdienst weiter. Durch sein Fernglas konnte der Second den „Babuschkin"Posten beobachten. Irgendwie kam man sich schon bekannt vor, wenn auch Schiffslängen dazwischen lagen. Aber ein Gespräch war nicht möglich; denn das internationale Seerecht schreibt vor, daß in fremden Häfen kein Funkverkehr zu führen ist. So wurde erst mit Handzeichen, dann aber doch mit Hilfe der kleinen Technik, einem Wechselsprechgerät, der erste Kontakt aufgenommen. Es war der Anfang einer Freundschaft, die sich in den bevorstehenden Wochen und Monaten immer wieder bewähren sollte. — Das erste Gespräch mit Walter Müller dauerte doch länger. Aus einem Wachbier waren fünf geworden, und an
Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Das Frühstück aus der Kombüse, Leberspieße mit Röstzwiebeln, duftete durch das ganze Vorschiff. Ein erfrischendes Bad in dem provisorisch aufgebauten Swimmingpool verfehlte nicht seine Wirkung. Schon in der Nacht hat der Wind stark aufgefrischt. Von Osten her ziehen riesige Dunstwolken heran. Sahara-Sand, der, meilenweit über das Meer getragen, sich auf das Schiff senkt, verwandelt das gerade erst frisch gestrichene Weiß, Grün und Grau in ein einheitliches Gelb. Die Sicht ist stark gemindert, und das gleichmäßige Kreisen des Reflektors über der Kommandobrücke zeigt an, daß der wachhabende Offizier sich jetzt mehr auf das „Fernsehbild" des Radarschirms verläßt als auf seine Wahrnehmungen durch das Fernglas. In den späten Nachmittagsstunden, ich habe mich mit dem Second zur Fortsetzung unseres Gesprächs in der Offiziersmesse getroffen, gehen die ersten Brecher über das Vorschiff. Die „Frieden" stampf t gegen den aufkommenden Sturm an, ein Sturm, der uns in den nächsten sieben Tagen und Nächten begleiten und unsere Reise nach Rostock um vier Tage verlängern wird. Dennoch: Unsere Gedanken wandern in diesen Minuten Monate zurück. Wieder werden die Ereignisse von Haiphong wachgerufen... Das Verbrechen wird fortgesetzt Nach einigen Tagen der Ruhe setzten am 9. Mai erneut die Bombenangriffe der Luftpiraten ein. Und
während an jenem Tag in Hanoi und Haiphong, auf den Reisfeldern und in den Dörfern vietnamesische Frauen und Kinder von Fliegerraketen zerfetzt wurden, schickte sich Washington an, einen weiteren Punkt auf die Liste der Verbrechen gegen die DRV zu setzen. Der Mut und die Tapferkeit dieses Volkes, das nicht zuletzt durch die materielle Hilfe der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten seinen Kampf mit jedem Tag siegreicher führte, brachte die Position des Präsidentenberaters Kissinger und des Botschafters Poster bei den Verhandlungen in Paris ins Wanken. Die Politik der Stärke kam ins Stolpern. In einer 17,5 Minuten währenden Rede in Washington verkündete USA-Präsident Nixon am 9. Mai 1972 die Blockade der Häfen von Haiphong, Hongai, Cam Pha, Quang Kie, Dông Hói und Thanh Hóa und stellte das Ultimatum zum Abzug aller Schiffe der internationalen Handelsflotten aus den Hafen- und Seegebieten. Schon waren weitere Verbände der USA-Flotte im Golf von Tonking zusammengezogen. 40 Kriegsschiffe, darunter 6 Flugzeugträger mit 400 Maschinen, standen bereit, das Wort ihres obersten Kriegsherrn Nixon in die Tat umzusetzen. Und während die Präsidentenrede über alle amerikanischen Rundfunkund Fernsehstationen ausgestrahlt wurde, begannen die Startvorbereitungen für die Marineflugzeuge, mit denen die Verminung der Hoheitsgewässer der DRV durchgeführt werden sollte. Mit Datum 11. Mai 1972, so besagte es das Ultima-
tum, würden die Minen mit den unterschiedlichsten Zündsystemen durch die Leitstationen geschärft. Der nie erklärte Krieg gegen die DRV bekam seine neue Eskalationsstufe, das tapfere vietnamesische Volk sollte in die Knie gezwungen werden. Nixons letzter Satz seiner Rede lautete: „Mit Gottes Hilfe, mit seiner Unterstützung werden wir dieses große Ziel erreichen." Auf der „Frieden" waren die Wachdienste verstärkt, die Posten zum Teil doppelt besetzt worden. Mit gespannter Aufmerksamkeit suchten Matrosen und Offiziere Abschnitt für Abschnitt in jede Richtung den Himmel ab. Eine Methode, die sich in den zurückliegenden Tagen bewährt hatte, um rechtzeitig vor den Angriffen gewarnt zu sein. An jenem Morgen des 9. Mai rollten schon seit Stunden die dumpfen Schläge der amerikanischen Schiffsartillerie herüber. Mit gezieltem Feuer wurden von See her die vorgelagerten Inseln von Haiphong beschossen. Das flirrende, vom Wasser reflektierte Sonnenlicht brannte in den Augen. Matrose Rainer Heinrich wollte gerade das Fernglas absetzen, ins Dunkle schauen, einen Moment ausruhen, da preßte er das Glas noch einmal an die Augen, fraß sich sein Blick förmlich in den blauen Himmel. Punkte tanzten auf und ab. Hatte er nicht soeben dort oben eine Bewegung gesehen? Es war schwer, sofort wieder die Richtung zu finden. Nein, er hatte richtig gesehen! Aber noch ehe er seine Beobachtung melden konnte, riefen zwei, drei andere Genossen neben ihm: „Flugzeuge im Anflug, steuerbord voraus!"
Auch auf den anderen Schiffen wurden die Maschinen gesichtet, Alarmzeichen gegeben. Doch das Bild war verändert. Die grausilbernen Punkte jagten nicht, wie gewohnt, in rasendem Tempo heran, sondern näherten sich relativ langsam dem Reedegebiet. Wer jetzt nicht gerade im Maschinenraum zu tun hatte oder durch andere Aufgaben verpflichtet war, beobachtete aus dem Schutz der Gänge und Aufbauten, was in den nächsten Minuten vor, hinter und über den Liegeplätzen der mehr als 30 Frachtschiffe geschah. Nach und nach lösten sich von den Flugzeugen winzige Punkte; fielen schnell in die Tiefe, wurden von den sich aufblähenden Fallschirmen gebremst und pendelten dann, verfolgt von Hunderten Augenpaaren, auf die Wässeroberfläche zu. Wer auch immer eines der Objekte im Blickfeld hatte, rief seine Beobachtung den Offizieren zu. Positionen wurden registriert, Punkte gemerkt. Dort, mittschiffs, stieg eine Wasserfontäne auf. Hinter dem sowjetischen Frachter, zwei Schiffslängen querab, ging eines der runden, zwei, drei Meter langen kanisterähnlichen Objekte nieder. Kapitän Kolleß und der 3. Offizier, Jochen Kindler, nahmen die Zurufe entgegen, hantierten mit Zirkel, Lineal und Rechenschieber. Auf der Seekarte häuften sich die feinen Bleistiftpunkte. Von Minute zu Minute wurde sichtbarer, daß sich in diesem Moment um die auf Innenreede liegenden Schiffe ein gefährlicher Gürtel schloß. Niemand zweifelte mehr daran: In diesen Augenblicken senkte sich ein unsichtbarer
Vorhang nieder, der vorerst unüberwindlich schien. Systematisch, so war es jetzt ganz eindeutig auf der Karte abzulesen, hatten die inzwischen abgedrehten Maschinen ihre Todesfracht versenkt. Deutlich erkennbar — die Wege in Richtung Hafen und zur See waren abgeschnitten, 30 Handelsschiffe durch die Minensperre eingeschlossen. Für die „Babuschkin" der sowjetischen Handelsflotte bestand auf Grund der Beobachtungen, die auf den Kommandobrücken gemacht wurden, unmittelbare Gefahr. Eine der Minen ging nur wenige Meter neben diesem Schiff in das Fahrwasser nieder. Kapitän Kolleß gab sofort Anweisung, die Genossen der „Babuschkin'' durch Signale zu verständigen. Aber auch von den sowjetischen Genossen wurde wie auf den anderen Schiffen jede der niedergehenden Minen bis zu ihrem Aufschlag verfolgt und in der Seekarte registriert. So ergaben alle Beobachtungen zusammengenommen einen recht vollständigen Überblick über die Situation. Dennoch: Der sowjetische Frachter war äußerst gefährdet. Bereits eine Stunde später verholte das Schiff auf einen anderen Liegeplatz. Die Uhr auf dem Schreibtisch von Kapitän Kolleß zeigte 11.35 Uhr, als sich Wolfgang Manthei, 1. Technischer Offizier und Parteisekretär, zur Stelle meldete. Alle Genossen des Schiffsrates waren nunmehr anwesend. Auf den Tischen lagen die Karten ausgebreitet. Hatten die vergangenen Tage schon ungewöhnliche Entscheidungen von jedem einzelnen
gefordert, so war sich in diesem Moment jeder im klaren, daß die Frage, vor der man jetzt stand, nicht allein mit einem Befehl des Kapitäns oder mit außerordentlicher Disziplin jedes einzelnen zu lösen war. Helmut Kolleß erläuterte die Situation in all ihren Zusammenhängen. Er teilte den anwesenden Genossen auch die neuesten Rundfunknachrichten mit. Danach, so stellte er fest, bestünde für alle im Hafen von Haiphong und auf der Innenreede liegenden Schiffe die Möglichkeit, bis zum 11. Mai die Hafengewässer noch ungefährdet zu verlassen. Funkoffizier Joachim Willmann hatte über Radio Tokio die Nixon-Rede aufgefangen, in der das Ultimatum enthalten war. Der Second stand auf, lief drei Schritte hin, drei Schritte zurück. Die Hitze lastete in den Räumen. Helmut Kolleß schaute in die Runde. Er hatte eine Meinung. Würden aber alle anderen Genossen seinen Vorschlag billigen? „Mit voller Ladung zurück? Wir bleiben natürlich!" — wie aus einem Munde kamen die Worte. Nun war es klar: Sie waren sich einig. Der Kapitän lächelte und meinte in seiner etwas zurückhaltenden Art: „Ja, dann wollen wir bitte die konkreten Maßnahmen festlegen." Wieder und wieder wurden alle Möglichkeiten erörtert. Noch gab es keine weiteren Nachrichten. Die Verbindungen zu den Genossen der Botschaft der DDR in der Demokratischen Republik Vietnam hatten sich noch nicht herstellen lassen. Jede Entscheidung
war eine Entscheidung, die hier an Bord von den Männern der MS „Frieden" selbständig, verantwortungsbewußt, aber entschlossen getroffen werden mußte. Immer wieder deutete Walter Müller auf einen ganz bestimmten Punkt der Seekarte. Wenn, ja wenn die Vermutung stimmte, wenn alle Beobachtungen zuverlässig wären, bestünde eine Chance. Dann wäre es möglich, sogar den Hafen von Haiphong zu erreichen. War es nun wirklich so heiß in den Kammern, oder warum klebte das Hemd plötzlich schweißnaß am Körper? „Hier, hier müßten wir durchkommen." Wieder schritten die Zirkelschenkel wie ein steifbeiniges Männchen zwischen den Koordinaten und Kreuzchen einher. Die „Frieden", hier auf dem Papier zu einem Bleistiftpunkt zusammengeschrumpft, lag günstig. Die Lücke in der Minensperre in direkter Linie voraus. Sollte man es wagen? Vorerst jedoch konnten noch keine endgültigen Entscheidungen getroffen werden. Viele Wenn und Aber waren noch zu klären, und was für Kapitän Kolleß das wichtigste war: Wie würden sich die Frauen und Männer der gesamten Besatzung verhalten? Konnte man ein Risiko eingehen, ohne die Stewardessen gefragt zu haben, konnte man durch die Minengürtel fahren, ohne die Meinung der sieben Lehrlinge zu kennen? Die Diskussion wurde abgebrochen, für den Nachmittag eine Bordversammlung einberufen. Im Kreise
aller Besatzungsmitglieder sollte dann die schwerwiegende Entscheidung getroffen werden, ob das Schiff noch vor dem l1. Mai Haiphong mit voller Ladung wieder verlassen oder ob alles versucht werden sollte, trotz Minensperre die Solidaritätsgüter im Hafen zu löschen. Kapitän Kolleß teilte seine Auffassungen zum Verbleiben des Schiffes, die schwerste Entscheidung seines Lebens, dem Kollektiv mit. Obwohl jeder die Gefahr des Krieges am Beispiel des MS „Halberstadt" gesehen, jeder die täglichen Bombenangriffe miterlebt hatte, gab es nicht ein Mitglied der Besatzung, das diese Entscheidung für falsch hielt. Dazu Jens Seidel, zweiundzwanzig Jahre, Maschinenwärter: „ Uns allen war in diesem Augenblick klar, wenn die Schiffe Haiphong verlassen, wird der Hafen Stunden später völlig zerbombt." Noch am 10. Mai trafen von den anderen, den sowjetischen, polnischen und kubanischen Schiffen Nachrichten ein. Sie alle teilten mit, daß die Schiffsleitungen entschlossen seien, der Provokation zu trotzen und dem verbrecherischen Anschlag des USA-Kommandos zu begegnen. Es war ein stolzes und trotz der Gefahren freudiges Gefühl, zu wissen, daß man nicht allein war, daß man Freunde an seiner Seite hatte. So verliefen der 9. und der 10. Mai 1972, so vergingen auch die Stunden des l1. Mai, jenes Tages, an dem das Ultimatum des Pentagons ablief, in absoluter Ruhe, getragen von der äußersten Disziplin jedes einzelnen.
Als jedoch keines der Schiffe vor der Bedrohung zurückwich, setzte die psychologische Kriegführung ein. In knapp 1000 Meter Entfernung von den Schiffsliegeplätzen wurden im Verlauf des 12. Mai, 09.40Uhr und 19.00 Uhr, zwei der drei Tage zuvor abgeworfenen Minen durch die Leitstationen der 7. USA-Flotte gezündet. — Ich habe gerade die letzten Notizen geordnet, hin und wieder den über die Wellen hingleitenden fliegenden Fischen nachgeschaut, als das Typhon über mir, die Schiffssirene, drei langgezogene Töne gibt. Es ist weniger die Neugier als vielmehr der Schreck, der mich unvermittelt auf die Beine bringt, gerade im richtigen Augenblick, um nicht einen fast symbolischen Moment zu verpassen. Fünf, sechs Schiffslängen backbord querab läuft die „Freundschaft", das Schwesterschiff der „Frieden", Kurs Süd. Mit wenigen Sprüngen habe ich die Kommandobrücke erreicht und komme gerade noch dazu, als Kapitän Kolleß über UKW-Funk die Grüße der „Freundschaft" entgegennimmt. Für ihre Fahrt mit einer weiteren Ladung Solidaritätsgüter — Sanitätswagen, Trockenblutplasma, Lehrmittel und Werkstattausrüstungen —, Bestimmungshafen Haiphong, wünscht Helmut Kolleß dem Kapitän des 10000-Tonnen-Frach-ters gute Fahrt. Es sind nur wenige Minuten vergangen, dann verschwindet der graugrüne Schiffsrumpf im Dunst des hereinbrechenden Abends des 14. Mai 1973.
Im Kartenraum der Kommandobrücke können schon die Stunden berechnet werden, wann die „Frieden" nach einem Jahr vier Monaten und sieben Tagen den Heimathafen erreichen wird. Im Logbuch trägt der I.Offizier, Gerald Wittmann, ein: „Position Ärmelkanal, Höhe Dover—Calais passiert." Wenn auch dieser Tag, abgesehen vom 28. Geburtstag des Second, nicht besonders gefeiert wird, ist er doch in der Erinnerung der Besatzungsmitglieder nicht ohne Bedeutung... Vor einem Jahr hatte sich nämlich — trotz Minensprengung und andauernder Bombardements — Kapitän Helmut Kolleß entschlossen, das Schiff am Sonntag, dem 14. Mai 1972, durch eine Lücke des Minenfeldes in den Hafen von Haiphong zu führen. Noch einmal wurde jedes Detail durchgesprochen, jede Eventualität erwogen. Walter Müller als Verantwortlicher für die Sicherheit an Bord des Schiffes hatte alle Maßnahmen eingeleitet, die Vollständigkeit der Schwimmwesten und die Funktionstüchtigkeit der Rettungsboote überprüft. Auf dem kleinen Tischchen neben dem Radargerät lag der selbstgefertigte Plan. Die unscheinbaren roten Punkte auf dem Papier konnten für neunundvierzig Männer den Tod bedeuten. Stimmten die Berechnungen? War das Risiko gerechtfertigt? Nicht lauter als sonst, doch mit einer gewissen Erregung in der Stimme gab der Kapitän seine letzten Anweisungen. Der Sekundenzeiger hüpfte von Punkt zu Punkt. Es war 17.00 Uhr. Das Bordtelefon schnarrte. Aus der
Tiefe des Schiffskörpers kam die Meldung, die Maschinen hätten ihre volle Leistung erreicht. Dann wurde das Kommando gegeben: Halbe Kraft voraus! Beobachtungsposten waren an den verschiedensten Stellen aufgestellt. Der Second hatte sich auf der Back, dem vordersten Teil des Schiffes, postiert und kontrollierte jede Kurskorrektur des Manövers. Wird er diesen Tag, seinen 28. Geburtstag, gesund überstehen? ... Langsam, so daß kaum eine Bugwelle entstand, schob sich die „Frieden" vorwärts, glitt an den kleinen vietnamesischen Fischerbooten vorüber. Sind die Maschinen nicht zu laut, so daß die auf Geräusch reagierenden Sprengkörper gezündet werden könnten? Oder geben wir zuviel Druck ab, der ausreichte, den Zünder einer Mine auszulösen? Fragen, die sich jeder in jenen Minuten stellte. Obwohl keiner die genauen Mechanismen all der auf dem Meeresgrund lauernden Todeskanister kannte, waren doch die Vorstellungen von dem Möglichen sehr real. Minuten vergingen. Noch immer kamen vom Kapitän die Kommandos. Über die Wechselsprechgeräte verständigten sich der 2. und der 3. Offizier mit der Brücke. Fast war die Gefahr vergessen. Normal und diszipliniert, nicht anders, als es der Dienstbetrieb beim Manövrieren solch eines l0000tonners sonst auch gefordert hätte, wurden Anweisungen gegeben und ausgeführt, wurde gehandelt. In jenem Augenblick war der imaginäre rote Punkt querab erreicht. Wird die Berechnung stimmen? Leise
war auf dem Achterdeck das Strudeln der beiden Schiffsschrauben zu hören. In der Ferne grollten die Detonationen der Schiffsgeschütze. 17.36 Uhr: Die „Frieden" trennten 3 Seemeilen von dem kritischen Punkt. Es war ihr gelungen, die Blockade zu überwinden. Eine Tat, die von den vietnamesischen Genossen mit Dank und Anerkennung gewürdigt, von der USAGeneralität und später von dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „News Week" mit Verblüffung registriert wurde. Die „Frieden" hatte trotz der ernsten Gefahren den Durchbruch erzielt. Ihr folgten weitere Schiffe aus dem Umklammerungsgebiet. Die Hilfs- und Solidaritätsgüter hatten die Demokratische Republik Vietnam erreicht. Sofort nachdem der Liegeplatz erreicht war und die „Frieden" im Hafen von Haiphong festlag, begannen trotz der Bombardements die Löscharbeiten. Mit dem eigenen Ladegeschirr — die von der Sowjetunion gelieferten Portalkräne waren noch nicht fertig montiert — wurden die LKW, Brückenteile und alle anderen Güter aus den Luken gehievt. Immer wieder mußten sich die Männer, die auf Deck arbeiteten, hinter die Bordwand werfen, mußten in den Gängen Schutz suchen. Gerade schwebte einer der Lastkraftwagen an den Ladebäumen außenbords, als drei „Phantom" heranrasten. Jede Möglichkeit wurde genutzt, hinter den Seilwinden, den Schaltkästen nur ein wenig Deckung zu finden. Instinktiv preßte sich jeder gegen die Bodenplatten.
Alles Weitere ging im Fauchen der ihr Ziel suchenden Raketen unter. Nur wenige hundert Meter weiter zerfetzten sie die Hafengebäude, sprengten sie Anlagen auseinander. Nach einer Sekunde der Ruhe prasselten mit scharfen, klickenden Tönen die Splitter auf das Deck. Auf der Kommandobrücke rasierten sie armstarke Elektroleitungen wie mit dem Messer durch, schlugen sie faustgroße Löcher. Zurufe wurden gegeben. Und ehe man sich verständigen konnte, ob alles in Ordnung, ob niemand verletzt sei, jagte eine zweite Staffel der Gespenster des Todes, der „Phantom", heran. Systematisch erfaßte die Mordmaschinerie Teil für
Eine Straße in Haiphong während einer kurzen Pause zwischen den Angriffen
Teil der Hafenanlagen. Hinter den Gebäuden stiegen die Asche- und Qualmwolken meterhoch in die Höhe. Die täglich in mehreren Wellen erfolgenden Angriffe der Bomber auf die Stadt zwangen zu Überlegungen, wie den Menschen Sicherheit vor den ständig auf Deck des Schiffes niedergehenden Bomben- und Raketensplittern gegeben werden konnte. Auf dem Haupt-und dem Achterdeck wurden die Gänge mit Matratzen und Decken gepolstert und Fluchtwege eingerichtet. Die vietnamesischen Genossen evakuierten zu diesem Zeitpunkt die Menschen aus dem Hafengebiet. Unter Leitung Walter Müllers wurde eine Sicherheitsgruppe gebildet, die einen genauen Plan weiterer Maßnahmen zum Schutz der Besatzung und der vietnamesischen Schauerleute ausarbeitete. Extrabelehrungen für den Fall der Ersten Hilfe wurden durch den Bordarzt Dr. Tilgner abgehalten, zusätzliche Feuerlöscheinrichtungen stationiert, ständige Posten zur Flugzeugbeobachtung aufgestellt, mit dem Klingelzeichen A, kurz—lang, wurde vor Überraschungsanflügen gewarnt. Kapitän Kolleß sah sich gezwungen, für alle Besatzungsmitglieder den Landgang zu untersagen; lediglich die Pier durfte betreten werden. Unter diesen Bedingungen — Parteisekretär Wolfgang Manthei: ,,Es herrschte bei allen große Disziplin." — wurde das Löschen der Ladung am 31. Mai abgeschlossen. Die Schiffspapiere vermerken das Ende der Reise 1/72. Die Londoner „Times" stellte
mit Recht die Frage: „Kann eine Blockade jemals entscheidend sein?" Gefangene der Blockade Am I.Juni 1972 hievten die Ladebäume die ersten Stückgüter in die Luken. Waren aus der DRV, Bambusmatten, Jute, Arbeitsbekleidung und Konserven, die entsprechend den Handelsverträgen für die DDR bestimmt waren, wurden ballen- und kistenweise verstaut. Doch die Angriffe verzögerten weiterhin den Hafenbetrieb. Immer wieder mußten sich die vietnamesischen Arbeiter und die Seeleute in die Schiffsgänge flüchten. Wer das eigene Schiff nicht mehr erreichte, rettete sich auf ein anderes. Die anderen aber kamen aus der Sowjetunion — die „Mitschurin", die ,,Babuschkin", die „Diwnogorsk", die „Balaschika" — und aus der Volksrepublik Polen — die ,Xilinski" und die „Jozef Conrad". So vergingen Wochen und Monate. Die Lebensbedingungen wurden immer komplizierter, ja für viele unerträglich. Die Gespräche waren ernst. Selten kam noch einer der üblichen Seemannswitze über die Lippen. Müde von den ständigen Angriffen, nervlich auf das höchste angespannt, verrichteten die Seeleute ihren Dienst, hielten sie Wache, auch wenn die Augen fast zufallen wollten. Kein Lüftchen wehte, das den Brandgeruch vertreiben könnte. Bei absoluter Windstille herrschten zeitweilig
Temperaturen von über 40 Grad. Selbst in den Nachtstunden sank die Quecksilbersäule nur auf 37 Grad ab. Dennoch: Nicht einem kamen Zweifel, ob die Entscheidung richtig war, dem USA-Ultimatum nicht zu weichen. Im Gegenteil: Die Ladearbeiten wurden ohne jegliche Verzögerung fortgesetzt. Wer erschöpft war, wurde sofort von anderen Genossen abgelöst. Die Not machte auch hier erfinderisch. Normale Tischventilatoren wurden in die Bulleyes eingebaut. Der Effekt war zwar gering, aber die Hoffnung blieb, wenigstens einige Stunden Nachtschlaf zu finden. Die peinigenden Moskitoschwärme, die das Schlafen auf Deck unmöglich machten und selbst in den Kammern zur Plage wurden, ließen sich wenigstens hin und wieder von den Wirbeln der Lüfter vertreiben. Mehr und mehr breitete sich Ungeziefer aus; Ratten und Kakerlaken waren überall in den Kammern und Zwischendecks zu finden. Die Vorräte gingen zu Ende. Cola, Bier und Spirituosen kannte man nur noch vom Hörensagen. Wochenlang stand als einziges Getränk nur abgekochtes Wasser zur Verfügung. Dazu Bordarzt Dr. Tilgner: „Ich hatte mich mit Krankheiten zu befassen, die für unsere sonstigen Verhältnisse unnormal waren. Infolge der ständigen feuchten Hitze und der übermäßigen Schweißabsonderungen traten bei einigen Genossen Hauterkrankungen auf. Hinzu kam, ausgelöst von den ständigen Angriffen, aber auch durch das Eingeschlossensein auf relativ
engem Raum, daß die Gefahr psychischer Störungen drohte. Die Situation wurde aber durch kluges Reagieren der Schiffsleitung und diszipliniertes, einheitlichen Handeln des ganzen Kollektivs gemeistert." Neunundvierzig DDR-Seeleute waren Gefangene der USA-Blockade, aber keiner fühlte sich allein, keiner hilflos. Unser Schiff ist auch euer Schiff Nur wenige Tage nachdem die „Babuschkin" zwei Schiffslängen neben der „Frieden" im Hafen festgemacht hatte, war der Second schon auf der Suche nach seinem Partner, den er bisher nur durch Winkzeichen und Wechselsprechanlage kannte Genosse Gitschenkow, 1. Offizier des sowjetischen Frachters, war der Gesuchte. Obwohl Walter Müller die russische Sprache beherrschte, wurden fürs erste nur wenige Worte gewechselt. Eine herzliche Umarmung, ein kräftiger Händedruck, und die „ferne" Bekanntschaft war als eine Freundschaft besiegelt. Von dem anschließenden „russian table" mit Speck, Zwiebel, Schwarzbrot und Wodka schwärmt Walter Müller noch heute. Währenddessen verlangte die angespannte Situation neue Maßnahmen. Die Politoffiziere der im Hafen liegenden sowjetischen und polnischen Schiffe sowie die Genossen der „Frieden" berieten über Möglichkeiten der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Nach
der Devise „Unser Schiff ist auch euer Schiff" suchten sie nach praktischen Lösungen, damit die verschiedenen Einrichtungen allen Seeleuten zugänglich gemacht werden konnten. Gemeinsame Filmveranstaltungen, Billardspiele an Bord der „Babuschkin", ein Freundschaftsabend der DSF auf der „Frieden" waren ein Anfang, der Eintönigkeit und Enge entgegenzuwirken. Der Second war in diesen Wochen wohl der meistbeschäftigte Mann. Immer wieder war er unterwegs. Durch seine ausgezeichneten Sprachkenntnisse — außer der russischen beherrscht er noch die englische, spanische und französische Sprache — war er als Verbindungsmann unentbehrlich. Mit der Barkasse machte er bald an der „Diwnogorsk" fest, verhandelte mit dem Kapitän des kubanischen Frachters „Imeas", hielt Rückfrage bei Kapitän Kolleß und rannte schon wieder die Pier entlang zu den polnischen Freunden auf der „Jozef Conrad". Auf diesen Wegen und bei den vielen Begegnungen wurde dann der Plan geboren, eine Spartakiade der Völkerfreundschaft im Hafen von Haiphong zu veranstalten. Als Termin wurden die Tage der Sommerolympiade 1972 festgelegt. Volleyball, Fußball, Tischtennis, Klimmzüge, Gorodki, Schach und Schießen standen auf dem Programm. Die Freude war bei allen gleich groß. Endlich bestand wieder einmal die Möglichkeit, sich von der nervenzermürbenden Eintönigkeit, von der Enge des Schiffes zu lösen. Es sollten trotz der
anhaltenden Gefahr aus der Luft, Stunden der Entspannung werden. Die Begeisterung übertrug sich auch auf die vielen Zuschauer, die vietnamesischen Hafenarbeiter, die mit anfeuernden Rufen und Beifall nicht sparten. Den Gesamtsieg errang die sowjetische Mannschaft, während die „Frieden"-Besatzung stolz die Urkunde über den zweiten Platz auf ihr Schiff tragen konnte. Daß die sowjetischen Freunde sich jedoch beim Tauziehen geschlagen geben mußten, konnten sie bis zu ihrer Abreise nicht verwinden. Wo es nur ging, half man sich gegenseitig. Der praktische Arzt, Dr. Tilgner, wurde zum gefragtesten Zahnarzt, sowjetische Spezialisten reparierten ein durch Raketensplitter beschädigtes Rettungsboot der „Frieden". Farbe wurde gegen Waschpulver, Zucker gegen Mehl getauscht. Alle, die vor Wochen mit dem Auftrag nach Haiphong gekommen waren, Solidaritätsgüter für das vietnamesische Volk nach hier zu bringen, übten nun gegenseitig Solidarität. Ja, sie spürten die Solidarität selbst von jenen, denen sie eigentlich zu Hilfe gekommen waren. Vietnamesische Hafenarbeiter brachten Frischgemüse, Bananen, Eier. Zu einer Zeit, da die Luftpiraten ihre schwersten Bombenangriffe flogen, trat zum Zeichen des Dankes und der Anerkennung für die Seeleute der vietnamesische Staatszirkus an Bord eines kubanischen Schiffes auf. Kulturgruppen des vietnamesischen Seemannsklubs erfreuten die „Frieden"-Besatzung mit deutschen Liedern.
Dazu der dreiundzwanzigjährige Maschinenassistent „Ede" Runst: „Es war ein schönes Gefühl, daß die vietnamesischen Genossen uns in dieser so schweren Zeit nicht vergaßen.'' Tag für Tag jagten die Bomber über die Schiffe hinweg. Tag für Tag luden sie ihre zerstörende Last über dem Stadtgebiet von Haiphong ab, bombardierten die Verbindungswege, legten Fabriken in Schutt und Asche. Für die Beobachtungsposten kaum zu zählen, wie oft die in der Nähe des Hafens gelegene Zementfabrik schon angegriffen wurde. Bemerkung eines französischen Journalisten: ,,... ansonsten sieht Haiphong aus wie etwa Köln 1945." Über die Methode der USA-Mörder weiß ein BRDNachrichtenmagazin im Juni 1972 zu melden: „Denn die Amerikaner bomben nicht nur intensiver als je zuvor, sie treffen auch genauer: Ihre 1500-KiloBomben, die von Laserstrahlen geleitet werden, tragen eine Fernsehkamera in der Nase und können über einen TV-Empfänger in der Pilotenkanzel gesteuert werden; sie finden ihr Ziel mit tödlicher Sicherheit." Jürgen Heyer ist heute zwanzig Als Jürgen 1953 geboren wurde, wehrte sich das vietnamesische Volk noch gegen die französische Kolonialmacht, besetzten am 20. November französische Fallschirmjägerbataillone die Festung Dien Bien Phu. Als er ein Jahr alt war, errang die Vietnamesische
Volksarmee einen ihrer größten Siege: Die französischen Söldner wurden in der Festung geschlagen. In Genf wurde 1954 das Indochina-Abkommen unterzeichnet. Die USA verweigerten jedoch ihre Unterschrift. Als Jürgen elf Jahre alt war, startete der damalige USAPräsident Johnson die „Maddox"-Provokation im Golf von Tonking: Vom 2. bis 4. August 1964 drang der USAZerstörer „Maddox" in die Hoheitsgewässer der DRV ein. Johnson behauptete, die „Maddox" wäre in internationalen Gewässern von DRV-Schiffen angegriffen worden. Als „Vergeltung" befahl er die Bombardierung von Städten der Demokratischen Republik Vietnam. Und noch am 10. August 1964 holte sich Johnson mit der Lüge vom „Tonking-Zwischenfall" vom Senat und vom Repräsentantenhaus der USA eine Blankovollmacht für die Eskalation des Krieges in Vietnam. Systematisch wurde die Kriegsmaschinerie auf Touren gebracht. Im Frühjahr 1965 standen 53000 Amerikaner in Südvietnam Gewehr bei Fuß, um das Feuer in Indochina zu entfachen. Im Juni 1964 hatte aber bereits die „New York Herald Tribüne" berichtet; „In Washington und Saigon sind detaillierte Pläne für Bombenangriffe auf nordvietnamesisches Gebiet vorbereitet." Am 8. Februar 1965 begannen die Großangriffe amerikanischer Fliegerkräfte auf die Demokratische Republik Vietnam. Das Abkommen von Genf wurde gebrochen, der nie erklärte Krieg gegen das vietnamesische Volk entfesselt. Als Jürgen zwanzig Jahre alt ist, erlebt er, wie die
Söldner des USA-Imperialismus bomben, zerstören und morden, erlebt er, wie die tapferen Menschen am Roten Fluß leiden, kämpfen und siegen. Als Lehrling hatte Jürgen Heyer 1969 bei der Deutschen Seereederei begonnen, auf der „Büchner" seine ersten großen Reisen gemacht und auf der „Frieden" 1971 seine Ausbildung abgeschlossen. 1972 gehörte Jürgen Heyer, Spitzname „Schniepatz", schon zur Stammbesatzung. Er hat mir erzählt: „Bei den ersten Luftüberfällen wechselten die Gefühle zwischen Erstaunen und Angst. Die Situation, das Dröhnen der Düsenjäger, das Bersten der Bomben, warbedrückend. Aus der anfänglichen Neugier für Dinge, die ich in meinem Leben noch nicht zu spüren bekommen hatte, erwuchs Haß, Haß gegen die feigen Mörder. In Haiphong begriff ich, was Imperialismus ist, zu welcher Brutalität er fähig ist. Die Erlebnisse, die Monate der Blockade haben meine persönliche Haltung, meinen politischen Standpunkt gefestigt. Es wäre schön, wenn ich das vielen Menschen bei uns zu Hause sagen könnte." „Schniepatz" Heyer, Liebhaber von heißen Rhythmen, verlobt, begeisterter Motorsportler, aufgewachsen in unserer Republik, wird nach seinem Urlaub wieder zur See fahren. Vielleicht nach Haiphong mit Solidaritätsgütern für die Stadt Vinh. Eben jene Menschen wie Jürgen Heyer und seine Genossen waren gemeint, als auf dem 9. Plenum des ZK der SED im Mai 1973 der Kandidat des Politbüros des ZK, Genosse Harry Tisch, in der Diskussion u. a.
sagte: „Genossen! Wir alle sind Zeugen des großen, heldenhaften Sieges des vietnamesischen Volkes über den USA-Imperialismus. Mit unserer Hilfe, mit unserer Tat, mit der Solidarität besonders der sozialistischen Staatengemeinschaft mit der Sowjetunion an der Spitze wurde dieser Sieg errungen. Wir alle waren auch Zeuge davon, daß Schiffe unserer Handelsflotte gerade in der Zeit des schwersten Bombardements im Dezember des vergangenen Jahres im Hafen von Haiphong lagen. Mit Hochachtung sprechen unsere vietnamesischen Genossen von der guten Haltung und der Tapferkeit unserer Seeleute. Nach mehr als 11 Monaten sind jetzt diese unsere Seeleute in ihre sozialistische Heimat zurückgekehrt. Was für prächtige Menschen! Mit welcher politischen Einstellung sehen und beurteilen sie die geschichtliche Entwicklung unserer Zeit! Fast die ganze Besatzung besteht aus jungen Bürgern, die nach 1945 geboren wurden, die den Krieg und seine Zerstörungen nur aus Erzählungen und aus der Geschichte kennen. In Vietnam wurden sie Zeuge des furchtbaren USA-Krieges. Mit tiefem Haß sprechen sie von den Greueltaten der Imperialisten, mit Stolz von den Taten ihres Brudervolkes in Vietnam und mit Bescheidenheit von ihren eigenen... Mit welcher politischen Einstellung sehen und beurteilen sie die geschichtliche Entwicklung unserer Zeit... Solche Bürger sind bereit, auch Schwieriges zu bestehen, und es ist nur folgerichtig, daß die Besten unter den Parteilosen der Bordkollektive um Aufnahme in unsere Partei baten... Gekrönt haben sie das eigentlich mit den Worten: Wir
sind jederzeit bereit, jeden beliebigen Auftrag der Partei und unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates zu erfüllen." — Der Sturm auf dem Atlantik hat uns schon drei Tage Verspätung eingebracht. Immer wieder wird die Geschwindigkeit berechnet, von Wachdienst zu Wachdienst die Zeit bis zu unserer Ankunft in Rostock „durchgescheckt". Jetzt steht es fest: Ankunft der „Frieden" im Heimathafen wird der 17. Mai 1973 sein. Am 15. Mai, Kapitän Kolleß hatte gerade den Lotsen der Nordostseekanalbehörde von Bord verabschiedet, rollt ein dumpfes Dröhnen über die Ostsee. Und während steuerbord im Sonnenglanz des Frühlingstages der graue Rumpf eines U-Bootes der faschistischen Kriegsmarine als Ehrenmal den Strand der Kieler Bucht „ziert", wird unser Schiff backbord von den Fortsetzern dieser Traditionen in gleichbleibendem Tempo begleitet: Ein Schnellboot der Bundesmarine hält unseren Kurs. Als zwei, drei Detonationen die Stahlplanken der „Frieden" vibrieren lassen, rückt einmal mehr in unser Bewußtsein, wieviel noch zu tun bleibt, um die Ostsee zu einem Meer des Friedens zu machen; denn um uns herum wird der Krieg geprobt. Liegt Vietnam wirklich 15520 Seemeilen entfernt? Angesichts der Huldigung faschistischer U-Boot-Fahrer-Traditionen und des Paktes jener, die hier den EFall für den Weltkrieg mit „Phantom"-Mördern von Haiphong proben, bleiben keine Zweifel, wer sich vor unserer Haustür bemerkbar macht.
Rainer Heinrich, der dreiundzwanzigjährige Matrose, der quicklebendige Junge aus Halle, der die
Matrose Rainer Heinrich bat zwei Tage vor Ankunft im Heimathafen Rostock um Aufnahme in die Partei der Arbeiterklasse
Ereignisse auf der „Frieden" in den schweren Monaten der Blockade von Anfang an miterlebt hat, der wie alle anderen die Angst vor der Gefahr des Todes kennengelernt hat, der wie alle anderen nicht den Mut verlor, er hat in diesen 462 Tagen deutlicher als je zuvor die Notwendigkeit der Abgrenzung vom imperialistischen System erkannt. Als wir uns jetzt während einer der letzten gemeinsamen Stunden hier auf der Nock gegenüberstehen, während in der Ferne das Grollen von Schiffsgeschützen der Bundesmarine zu hören ist, habe ich noch eine Frage an ihn: „Na, Rainer, wie ist deine Entscheidung?" Seine Antwort ist: „Ja." — Am 15. Mai 1973, zwei Tage bevor die „Frieden" ihren Heimathafen erreicht, stellt der Matrose Rainer Heinrich den Antrag um Aufnahme in die Partei der Arbeiterklasse. Es wird Zeit, die letzten Gespräche zu führen, noch einmal die Fragen und Antworten zu überprüfen, die Notizen zu ordnen. Meine Aufzeichnungen enden mit den Ereignissen im August 1972... Ende August 1972 mußte die „Frieden" den Hafenliegeplatz wieder räumen. Sie wurde auf der Innenreede verholt, um den anderen Schiffen Platz zu machen, die bisher darauf gewartet hatten, ihre Ladung im Hafen von Haiphong löschen zu können. So wechselten die Frachter ihre Positionen. Auf maximale Sicherheit bedacht, hielt die „Frieden" ihren alten Kurs und passierte die Lücke des Minengürtels. Auf dem Liegeplatz im Gebiet der Innenreede fielen die Anker. Eine Weiterfahrt war unmöglich. Die
Minensperren zur offenen See waren nicht zu durchbrechen. Wie viele Wochen, wie viele Monate sollte die Besatzung des DDR-Schiffes noch der USA-Aggression ausgesetzt sein? Eine Antwort darauf gab es nicht. Aber keiner war verzweifelt, niemals sank die Stimmung auf den Nullpunkt. Walter Müller: ,,Diese Zeit war auch eine Bewährung für unsere Familienangehörigen. Wir erhielten weder Jammerbriefe noch Nachrichten, die unsere Sorgen vergrößerten. Wir konnten nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen." Eine Situation, in der jeder einzelne von ihnen mehr als einmal mit seinen Gedanken in der Heimat weilte. Auch der „Chief", Chefingenieur Gerhard Marx, der sich nach 462 Reisetagen mit einem Lächeln erinnert. „Zwei Jahre hatte ich im Büro gearbeitet und sollte nun auf einem Schiff unserer Handelsflotte mitfahren, um notwendige Arbeitsplatzanalysen zu ermitteln. Ich stellte eine Bedingung: Nicht nach Japan oder Korea, diese Reisen dauern mir zu lange. Ich entschied mich für die Reise 1/72, das bedeutete die Fahrt mit der ,Frieden' nach nach Haiphong. — Na ja." Oder Rolf Hausbrandt, E-Ingenieur: ,,In der Nacht des einunddreißigsten Januar neunzehnhundertzweiundsiebzig fuhr ich nach Rostock, um mich zu meiner Reise, der ersten mit der MS .Frieden', im Hafen zu melden. In jener Nacht wurde mein Sohn geboren. Wohl keiner hat so sehr auf Ablösung gehofft wie ich."
Die „Springer" komme n An der heruntergelassenen Gangway legte die Barkasse an. Der Erste Offizier und sechs weitere Genossen kamen von der „Babuschkin" zurück. Aber nicht die Filme, die sie gesehen, nicht der Kwaß, den sie getrunken hatten, waren für die nächsten Stunden Gesprächsthema der Männer. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, die von der „Babuschkin" mitgebracht wurde: Vertreter des sowjetischen Schiffahrtsministeriums waren eingetroffen und hatten Vorschläge über die teilweise Reduzierung und den zeitweiligen Austausch der Besatzungen ihrer zehn Schiffe unterbreitet. Das brachte neue Hoffnung auch auf der „Frieden". Sollte es möglich sein, daß auch sie nun nach den Monaten der Trennung und Entbehrungen in die Heimat zurückkehren könnten? Noch im August begannen die sowjetischen Genossen mit der Ablösung ihrer Schiffsbesatzungen. Die Mannschaften der „Babuschkin", „Diwnogorsk" und „Balaschika" wurden als erste ausgetauscht. Neue Gesichter tauchten auf, andere Genossen übernahmen die Schiffe. Rainer Heinrich: „Wir fühlten uns kurze Zeit sehr einsam. Die Freunde, mit denen wir viele Wochen gemeinsam gelebt hatten, waren in ihre Heimat abgereist." Auch für die, ,,Frieden'' kam über die DDRBotschaft in Hanoi die Nachricht: Reduzierung der Besatzung auf fünfundzwanzig Mann. In mehreren Gruppen verließen vierundzwanzig Seeleute das Schiff: die Lehrlinge, die noch im Juli an Bord ihre
Facharbeiterprüfung abgelegt hatten, Stewardessen, Wartungspersonal und Maschinenassistenten, die sonst für den normalen Schiffsdienst in doppelter Besetzung notwendig sind. Für die verbliebenen fünfundzwanzig Mann begann erneut das Warten. Redewendung ist bei den Seeleuten üblich, wenn es an den notwendigsten Dingen mangelt. Jetzt waren die Vorräte nicht nur auf der „Frieden" erschöpft, auch die Genossen der befreundeten Schiffe konnten nicht mehr helfen. In allen Kombüsen wurde improvisiert. Zwei, drei Wochen gab es zu den Mahlzeiten nur Porree, das einzige Gemüse, das die vietnamesischen Freunde beschaffen konnten. Mit Seife und Waschmitteln mußte äußerst sparsam umgegangen werden. Immer wieder aber waren es die sowjetischen Genossen, die ihr letztes Stück Seife, ihre letzte Flasche Mineralwasser teilten. Walter Müller: „Das war einfach eine große Sache, was die Freunde da möglich gemacht hatten." In dieser Zeit, da sich die wenigen Leute „auf dem Dampfer gegenseitig suchten" und sie „die Schnauze gestrichen voll hatten", trafen die ersten Kisten mit Versorgungsgütern aus der DDR ein. Unbeschreiblich die Freude, als die erste Kiste geöffnet wurde. Endlich einmal wieder etwas anderes als Porree! Und dann — Letscho. In der zweiten Kiste — Letscho. Als aber in der vierten, fünften und letzten Kiste auch nur Letscho zum Vorschein kam, wurden die Gesichter immer länger.
Wo die anderen Kisten mit den dringend benötigten Lebens- und Versorgungsmitteln auf dem langen Eisenbahnweg über Peking verblieben waren, konnte nie geklärt werden. Eines war aber sicher: Der „Purser", der Zahlmeister und Chef der Versorgung, Rolf Franke, hatte seinen Spitznamen weg — Letscho-Franke ! Noch bis zum 6. Oktober 1972 harrten die Genossen aus, dann brachten sie die „Frieden" das zweitemal in den Hafen, um weitere Ladung zu übernehmen. Zu diesem Termin waren auch die „Springer", war die Austauschbesatzung eingetroffen. Auf dem Luftweg waren sie gekommen, um bis auf weiteres den Dienst in Haiphong zu übernehmen. Nach Tagen konnte am 7. Oktober die erste Gruppe der alten ,,Frieden"Besatzung in die Heimat reisen. Seit dem 31. Oktober könnte Frieden sein Um die vertraulichen Gespräche zwischen dem Sonderberater der DRV-Regierung, Le Duc Tho, und USA-Präsidentenberater Kissinger zum Erfolg zu führen, ergriff die vietnamesische Seite wiederum die Initiative und legte am 8. Oktober den Entwurf eines „Vertrages über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam" vor. Obwohl dieser von Nixon am 20. Oktober in einer Botschaft an den DRV-Ministerpräsidenten Phan van Dong als komplett bezeichnet wurde, setzten die USA ihre alte Obstruktionspolitik fort. Die Paraphierung
und Unterzeichnung des Vertrages wurde weiter verzögert. Die DRV-Regierung informierte am 26. Oktober die Weltöffentlichkeit über den Stand der Verhandlungen und erklärte ihre Bereitschaft, wie vorgesehen, den Vertrag am 31. Oktober zu unterzeichnen. Seit dem 31. Oktober 1972 hätte das vietnamesische Volk nach 30 Jahren- Krieg ohne Bomben leben können. Jedoch die USA erschienen nicht zum vereinbarten Unterzeichnungszeremoniell . Das Morden ging weiter. Die USA-Luftangriffe wurden unter Einsatz von B-52-Bombern verstärkt fortgesetzt. Selbst die „New York Times" bezeichnete die Angriffe als „eine Politik, die in der Geschichte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebrandmarkt werden wird". Auch Haiphong bebte unter den Flächenbombardements. Die Springerbesatzung der „Frieden" lebte und arbeitete unter kriegsmäßigen Bedingungen. Bei jedem Angriff gingen auch Bomben im Gebiet des Hafens oder in seiner unmittelbaren Nähe nieder. Es wurde beraten, ob die Besatzung der „Frieden" evakuiert werden sollte. Alle Genossen entschieden jedoch: Das Schiff wird nicht verlassen! Zu jener Zeit schätzte die Moskauer ,,Neue Zeit" ein: „Zweifellos verübte Washington die neuen, vehementen Luftangriffe auf die DRV, namentlich auf ihre beiden größten Städte, Hanoi und Haiphong, in der Absicht, die vietnamesische Verhandlungsseite unter Druck zu setzen und Bedingungen zu schaffen, unter
denen es mit der DRV von der Position der Stärke aus verhandeln könnte." Der Mord an polnischen Genossen Um die Ereignisse, wie sie sich am 20. Dezember 1972 im Hafen von Haiphong abspielten, zu rekapitulieren, mögen auszugsweise die Aufzeichnungen Nummer 98, Seite 85, im Bordbuch des Motorschiffes „Diwnogorsk" als Dokumente gelten: ,,... 00.00 Lage unverändert. Hafen, Stadt und Zementfabrik werden weiter bombardiert. Feuerlöschpumpe auf Deck eingestellt. 00.10 A-7Flugzeuge bombardieren die Stadt. In der Stadt Brandherde. 00.20 Heftige Detonationen in der Stadt. Neue Feuerherde. 00.45 Wieder wird Zementfabrik bombardiert. 01.10 Entwarnung. Luftalarm. Alle in Deckung und planmäßig auf Posten. In der Luft B-52Maschinen. Schiff verdunkelt. Amerikanische Flugzeuge setzen den massierten Luftüberfall auf Stadt und Hafen fort. 04.30 Heftige Detonationen achtern und 150 Meter dwars backbord. Das polnische Schiff ,Jozef Conrad' achtern in Feuer gehüllt." Ohne Unterbrechung jagten in jenen Nachtstunden die Bomber über den Hafen hinweg. Die Luft war angefüllt vom Dröhnen der Bombenexplosionen. Gespenstisch der Widerschein unzähliger Brände. Auf den Decksaufbauten der Schiffe gingen Schutt, Asche und Bombensplitter nieder. Auf dem polnischen Frachter, der unmittelbar neben einem chinesischen Schiff festgemacht hatte, patrouillierten die
Feuerlöschposten. Immer wieder suchten sie Schütz in den Gängen. Der 3. Offizier, Stanislaw Maliszewski, nahm soeben eine Meldung des wachhabenden Matrosen entgegen, als sich die „Conrad", wie von einer Riesenfaust geschüttelt; leicht zur Seite neigte. Eine Sekunde später brach auf dem Frachter das Inferno aus. Die Schiffsmitte stand in hellen Flammen. Die polnischen Genossen versuchten, wo sie sich gerade aufhielten, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Jede Möglichkeit wurde dazu genutzt. Die Schiffsfeuerlöscheinrichtung war zerstört. Auf der Kommandobrücke loderten die Flammen aus den Bulleyes. Inzwischen waren bereits Einsatztrupps der vietnamesischen Feuerwehr eingetroffen, Hafenarbeiter unterstützten die Besatzung, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Im Maschinenraum waren die Rohre defekt, so daß das Löschwasser nicht nach oben gepumpt werden konnte. Der Obermechaniker hastete durch die Räume, suchte in der Finsternis die Aggregate und stellte fest, daß die Verteilerschalter durch die starke Erschütterung zerstört waren. Als er wieder hinaufeilen wollte, schlugen ihm Flammen entgegen. Das Feuer hatte ihm den Weg abgeschnitten. Mit Mühe gelang es dem Mechaniker, in letzter Minute noch durch den Notschacht wieder hinauszukommen. Auf dem Oberdeck kämpften die Seeleute weiter gegen das Feuer an. Verwundete, an Kopf und Händen verbrannt, wurden aus den Kammern geschleppt.
Erneut trat eine äußerst kritische Situation ein. Die Gangway war durch das Feuer vernichtet worden. Um auf die Pier zu gelangen, mußten die Leinen benutzt werden. Mit schmerzverzerrten Gesichtern ließen sich die Männer an den Tauen hinabgleiten. Die Hände, teilweise schon mit Brandwunden bedeckt, wurden aufgerissen. Die Schmerzen waren unbeschreiblich. Als ersten ließen sie einen der Posten hinab. Er hatte an der Brücke gestanden, als die Bombe krepierte. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerrissen. Der Matrose Roman Dudek konnte sich nur äußerst mühsam vorwärts bewegen. Arme und Beine ausgebreitet, hoffte er die Schmerzen besser ertragen zu können. Sein Körper war blutüberströmt, seine Haut — wie später festgestellt — zu 60 Prozent verbrannt. Mit Hilfe eines Genossen versuchte er Schritt für Schritt vorwärts zu kommen. Bei dem Nachbarschiff, dem chinesischen Frachter, hofften sie auf Erste Hilfe. Doch wie schon ihre Kameraden vorher wurden auch sie abgewiesen. Sie mußten, sich immer wieder duckend vor den niedergehenden Bombensplittern, noch weitere 300 Meter vorwärtskriechen, bis sie von den Seeleuten des sowjetischen Schiffes „Diwnogorsk" aufgenommen und durch Erste-HilfeMaßnahmen versorgt wurden.
Der polnische Frachter ,,Jozef Conrad" nach dem Raketenbeschuß durch US-Strahljäger Über diese Zeit und die folgende gibt das Bordbuch der „Diwnogorsk" Auskunft: „An Bord treffen die ersten polnischen Seeleute im Lazarett ein. 05.50 Zweiter Bombentreffer auf ,Jozef Conrad'. 06.10 Entwarnung. Polnische Schiffsbesatzung vollzählig bei uns an Bord. Acht von ihnen sind verwundet, drei tot. Schiffsarzt und Besatzungsmitglieder leisten den Betroffenen und Verwundeten medizinische Hilfe. 06.30 Fliegeralarm. Alle planmäßig in Deckung." Der Kapitän der „Jozef Conrad" gab Befehl, nachdem der zweite Treffer das Schiff achtern auf Grund gesetzt hatte und jede weitere Maßnahme sinnlos war, die Feuerlöscharbeiten einzustellen. Die letzen
Seeleute, die sich über die Pier schleppten, wurden noch von einer Schlammfontäne bedeckt, die eine niedergehende Bombe hochgeschleudert hatte. Am nächsten Morgen im dämmernden Tageslicht wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich. Die Kommandobrücke und das Achterschiff waren von Kumulationsbomben — sie explodieren erst nach Durchschlagen mehrerer Ebenen — getroffen. Ein Beweis mehr, daß die Treffer, durch die die „Conrad" zerstört wurde, zielgerichtet und kein Zufall waren. Für die Geretteten wurde alles Menschenmögliche getan. Sowjetische und vietnamesische Ärzte bemühten sich um die Schwerverletzten. Doch für drei polnische Genossen kam jede Hilfe zu spät. Am 28. Dezember 1972 starb auch Roman Dudek in einem vietnamesischen Hospital an den Folgen der starken Verbrennungen. An jenem Dezembertag erklärten die USA unter dem Druck der schockierten Weltöffentlichkeit und angesichts der Tatsache ihrer eigenen Verluste — die Luftverteidigungskräfte der DRV hatten binnen 12 Tagen mehr als 30 der einst als unverwundbar geltenden B-52 abgeschossen —, daß sie die Bombardierung der DRV einstellen würden und zur Fortsetzung der Gespräche in Paris bereit wären. Rückkehr nach Haiphong Dreißig Seeleute, die Stammbesatzung der „Frieden", hatten am 28. Dezember bereits wieder ihre Koffer gepackt, die Flugtickets in der Tasche, ihre Entschei-
dung getroffen. Obwohl die Angriffe auf die DRV noch nicht eingestellt, die Verhandlungen in Paris noch nicht wieder aufgenommen worden waren, zögerte nicht einer von ihnen, nach Beendigung der Urlaubszeit in die DRV zurückzukehren. Der Abschied von den Frauen, den Kindern oder Eltern fiel schwer. Werden die Seeleute gesund zurückkehren? Aber auch in dieser Frage gab es bei der Besatzung nur eine Meinung: Wir bringen unser Schiff zurück! Noch bevor offiziell von den USA am 15. Januar 1973 der Bombenstopp verkündet wurde, war die erste Gruppe wieder in Haiphong eingetroffen. Die Springerbesatzung hatte ihren Auftrag in Ehren erfüllt. Die von der Nixonregierung schon zur Genüge strapazierte Verzögerungstaktik zur Unterzeichnung des Vertrages konnte von ihr nicht mehr aufrechterhalten werden. In der letzten Verhandlungsrunde am 23. Januar wurde das Abkommen paraphiert und der Termin zur Unterzeichnung vereinbart. Das heldenhafte vietnamesische Volk, der proletarische Internationalismus, die weltweite Solidarität hatten einen ihrer größten Siege im Kampf gegen den Imperialismus errungen. Am 27. Januar 1973, dem Tag des Waffenstillstands, ertönten morgens 07.00 Uhr, zuerst an Bord des MS „Frieden", danach auf allen anderen Schiffen, die Sirenen. Im Hafen von Haiphong klangen sie wie Fanfaren des Sieges. Die Tage des Sieges wurden in der Demokratischen Republik Vietnam zu Tagen der Freude und der Feste.
Überall in den Straßen versammelten sich die Menschen. Zwischen den Trümmern der Häuser standen Frauen mit Blumenkörben und boten die exotische Blütenpracht für das nahende Tet-Fest an. Zwischen den Kolonnen der Menschen, die bemüht waren, als erstes die Verkehrswege vom Schutt zu befreien, bewegten sich Gruppen von Einwohnern Haiphongs, die vor Monaten aus der Stadt evakuiert worden waren und nun mit ihren wenigen Habseligkeiten zurückkehrten. Doch der Ausdruck der Verzweiflung war aus ihren Gesichtern geschwunden. Mit einer unbändigen Energie, mit einem nie zu zerstörenden Mut, wodurch dieses Volk fähig war, über Jahre dem Aggressor einen nie erlahmenden Widerstand zu leisten und in der Endkonsequenz, mit Hilfe der internationalen Solidarität, den USAImperialismus in die Knie zu zwingen, gingen sie sofort nach Beendigung der Bombardements daran, aufzuräumen und aufzubauen. Schon zwei Tage nach dem letzten Angriff auf Haiphong wurde ein Teil der ständig bombardierten Zementfabrik wieder in Betrieb genommen. In den Dokumenten des Pariser Abkommens über die Räumung der Minen heißt es im Artikel 1: „Die Vereinigten Staaten werden alle Minen räumen, die sie in den Hoheitsgewässern, Häfen und Wasserstraßen der Demokratischen Republik Vietnam gelegt haben. Diese Minenräumaktion wird durchgeführt, indem die Minen durch Räumung, endgültige Entschärfung oder Zerstörung unschädlich gemacht
werden." Der Artikel 3 legte für den Beginn der Aktion den 27. Januar 1973, 24.00 Uhr MEZ, fest. Das letzte Risiko Aber es dauerte noch Wochen, ehe die US Navy mit Spezialschiffen daranging, die ersten Minen zu räumen. Tagelang unterbrach das Kommando die Aktion. Vorwände über angebliche Verletzungen des Abkommens dienten dazu, die Räumboote zurückzuziehen. Noch immer lagen die Schiffe der internationalen Handelsflotte, durch den Minengürtel abgesperrt, im Reede- und Hafengewässer von Haiphong fest. Erst in den Monaten Februar und März bestand endlich die Möglichkeit, daß die ersten Schiffe nach zehnmonatiger Blockade Haiphong verlassen konnten. Für Kapitän Kolleß und seine 43 Genossen brachte am 13. März der Handelsattache der DDR die erlösende Nachricht: Die „Frieden" bekommt die Genehmigung zum Auslaufen. Da von keiner Seite irgendwelche Garantien für die Sicherheit beim Durchfahren der verminten Gewässer übernommen werden konnten, begann die Reise in die Heimat mit einem gefahrvollen Risiko. Kapitän Kolleß, der 1. und der 2. Offizier stiegen in die mittschiffs schaukelnde Barkasse. Zwischen den kleinen Fischerbooten bahnte sich das Fahrzeug seinen Weg, bis es längs der „Babuschkin" festgemacht hatte. Von oben, über der Reling, kamen
schon die ersten Rufe: „Seid gegrüßt, kommt herauf!" Walter Müller übernahm noch einmal die Funktion des Dolmetschers. In der Offiziersmesse hatten sich mittlerweise die Schiffsleitungen der „Mitschurin" und der „Balaschika", der kubanischen und der polnischen Frachter versammelt. Von den Tischen duftete es nach frischem Brot und Zwiebeln. „Auf unseren gemeinsamen Sieg, Genossen!" Die Gläser klangen. Dann nahmen die hier Versammelten um den ovalen Tisch Platz. Zwei sowjetische Seeoffiziere erläuterten an Hand der Karten, welche Gefahren noch gegeben waren. Gleichzeitig stellten sie Berechnungen an, die auf Grund der Schiffsgeschwindigkeiten und der Verzögerungszeiten bei eventuellen Minenexplosionen ein Durchfahren der Sperren ermöglichen könnten. Das Für und Wider wurde diskutiert, das Risiko kalkuliert. Als nach gut zwei Stunden zum letztenmal die Gläser klangen, war die Entscheidung getroffen. Der Abschied von Freunden begann. Adressen wurden ausgetauscht und Grüße bestellt. „Bleibt gesund, Genossen. Auf Wiedersehen." Am nächsten Morgen gab Kapitän Helmut Kolleß die Kommandos. Am 14. März führte die Fahrrinne das nötige Flutwasser, so daß mit dem l0000tonner das Gebiet passiert werden konnte. Die Besatzung war, mit Schwimmwesten ausgerüstet, auf Deck versammelt, das Schiff notdürftig
gesichert. Gemeinsam mit dem sowjetischen Frachter „Sotschi" verließ die „Frieden" 22.00 Uhr mit halber Fahrt die Innenreede von Haiphong. Genau drei Stunden später trug Second Walter Müller ordnungsgemäß ins Bordbuch ein: „15. März 1973, 01.00 Uhr Minensperre passiert." Die Heimreise nach Rostock begann. Als die „Frieden" die offenen Gewässer im Golf von Tonking erreicht hatte, startete die US Navy eine weitere und letzte Provokation. In Minutenabständen überflogen Jagdbomberstaffeln die auslaufenden Handelsschiffe. Die Flugzeuge entschwanden im Azurblau des Himmels und stießen Sekunden später aus mehreren tausend Meter Höhe wieder herab. Im Tiefflug rasten sie über die „Frieden" hinweg, öffneten die Bombenschächte, drehten ab und flogen erneut an. Über Funk kamen in stereotyper Abfolge die Anfragen nach Ziel und Landung des Schiffes. Noch einmal, zum letztenmal, ließ das Pentagon die psychologische Kriegführung proben. Die USA suchten darin ihre letzte Ohnmacht abzuschütteln, weil sie diesen Krieg, den von ihnen entfesselten, verspielt hatten. — Von allen Hafenbecken, von dem MS „Völkerfreundschaft" bis zur „Neubrandenburg", tönten zur Begrüßung die Typhons, als am 17. Mai 1973, 08.00 Uhr, auf Liegeplatz 51 des Rostocker Überseehafens die Leinen geworfen wurden. Nachdem die Festmacher sich die letzten Kommandos zugerufen hatten, das
Musikorchester der Deutschen Seereederei den Begrüßungstusch gespielt hatte, ging für die „Frieden" nach 466 Tagen eine der längsten Reisen in der Geschichte der Deutschen Seerederei zu Ende, in den
Empfang an Bord der „Frieden'' nach der Ankunft im Rostocker Überseehafen am 17. Mai 1973 Befrachtungsbüchern und Schiffspapieren sachlich als Reise 1/72 und 2/72 registriert. An Backbord angetreten, ausgestattet mit bügelfrischen Uniformen, an den Rockaufschlägen die dekorative „Hun Nghi"-Freundschaftsmedaille der DRV, durchleben die Männer und Frauen der
Schiffsbesatzung in freudiger Erwartung die letzten Minuten einer außergewöhnlichen Fahrt. Die herzliche Begrüßung durch die Vertreter von Partei und Regierung und die stürmischen Umarmungen der Angehörigen an Bord des Schiffes sind der erste Dank für die große Disziplin und die hohe Moral, die von der Mannschaft in einer äußerst komplizierten Situation bewiesen wurden.