Fred McMason Drei irische Freibeuter 1. Auf dem Achterdeck der ›Isabella V.‹ stand Ben Brighton und starrte mißmutig in ...
5 downloads
581 Views
529KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Fred McMason Drei irische Freibeuter 1. Auf dem Achterdeck der ›Isabella V.‹ stand Ben Brighton und starrte mißmutig in das bleigraue Wasser, dessen schwache Dünung monoton gegen den Schiffsrumpf klatschte. Der Bootsmann, der die ›Isabella‹ befehligte, seit der Seewolf mit schweren Kopfverletzungen bei Sir Freemont in Plymouth lag, haderte mit sich und der ganzen Welt. Seine neue Aufgabe stellte ihn vor Probleme, denen er sich zeitweilig einfach nicht gewachsen fühlte, die ihn überforderten und mit immer schwierigeren Situationen konfrontierten. Er war nicht der Mann, der grübelte, der mit sich haderte, aber heute hatte es ihn richtig gepackt. Er sorgte sich um ihr weiteres Schicksal, das nicht gerade rosig aussah. Vom Himmel rieselte dünner, kalter Regen. Die Wolken sahen aus wie dicker, grauer Haferbrei, und aus Nordwest blies ein unangenehmer kühler Wind, der ihn frösteln ließ. An diesem 13. Februar des Jahres 1580 lagen die ›Isabella‹ und die Schaluppe, die von Edwin Carberry geführt wurde, eine Kabellänge voneinander entfernt in der Mount’s Bay. Sie hatten Treibanker geworfen und dümpelten schwerfällig. Als Ben Brighton sich umdrehte, sah er Smoky, der in der lauernden Haltung eines Verfolgten auf ihn zuschlich. Sein Gesicht war ernst und verschlossen. Er druckste eine Weile herum, wobei er sich bemühte, Brighton nicht direkt anzusehen. »Was, zum Teufel, schleichst du hier so mißmutig rum wie ein altes, krankes Weib!« fuhr Brighton ihn an. Smoky zuckte zusammen. Da war er ja gerade in Ben
Brightons beste Laune hineingeraten. Er gab sich einen Ruck. »Seit Hasard diese verdammte Rah an den Schädel geflogen ist, herrscht bei uns nur noch miese Laune«, knurrte er. »Weißt du, wie ich mich fühle, Ben? Ich fühle mich von der Welt gehaßt und von Gott verachtet. Dazu kommt noch ...« »Verdammt, Smoky! Rück endlich mit der Sprache ‘raus. Was ist los? Du willst doch etwas ganz anderes. Also red nicht lange herum. Spuck deinen Kummer aus.« Smoky blickte unbehaglich zu der Schaluppe hinüber. Undeutlich erkannte er an Deck eine breitschultrige Gestalt. Wahrscheinlich war es Carberry, aber durch den diesigen Regen ließ sich das nicht so genau erkennen. »Na, wird’s bald?« fauchte Brighton. »Bei uns sieht’s beschissen aus«, sagte Smoky. »Ich habe gerade unsere Vorräte überprüft. Wir haben noch zwei Fässer Wasser an Bord, der Proviant reicht bestenfalls noch ein paar Tage.« Ben Brighton preßte die Lippen zusammen, bis sie nur noch einen dünnen Strich bildeten. »Und das fällt dir erst jetzt ein?« Smoky blickte sorgenvoll zum Land hinüber. Hinter der Dunstschicht war es nur als nebelgrauer Streifen zu erkennen. »Vergiß nicht, daß es ein langer Törn aus der Karibischen See bis hierher war, Ben«, erinnerte er. »Wir hatten noch keine Gelegenheit, unsere Vorräte zu ergänzen.« »Ich mache dir ja auch keinen Vorwurf, Smoky.« Ben Brightons dröhnendes Organ mäßigte sich etwas. »Schließlich ist der Kutscher für unsere Vorräte zuständig, aber der ist ja nicht an Bord.« »Ja, der Kutscher«, murmelte Smoky. »Ich möchte wissen, wie es dem Seewolf geht.« »Er ist in guten Händen. Sir Freemont ist ein guter Mann, der für den Seewolf alles tun wird. Aber jetzt sollten wir uns etwas einfallen lassen, wie wir unsere Vorräte ergänzen können.«
Für Ben Brighton war es eine üble Nachricht, die er da erhielt. Es war einer der Tiefschläge, von denen sie in letzter Zeit so unglaublich viele hatten einstecken müssen. Jetzt hatten sie auch noch die Sorge mit dem Wasser und Proviant am Hals. »Zum Kotzen ist das«, sagte Ben Brighton. »Dabei hatte ich vor, an der Nordwestküste von Cornwall eine stille Bucht zu suchen, wo wir unentdeckt und in aller Ruhe abwarten können, bis Hasard sich von seinen Verletzungen erholt hat. Jetzt müssen wir umdisponieren.« Er dachte an die Schätze im Bauch der ›Isabella‹, die es zu hüten und zu bewahren galt. Schätze und Reichtümer, mit denen man ganz England kaufen konnte. Perlen, Edelsteine, Diamanten, Gold- und Silberbarren und kostbarer indianischer Schmuck, der schon allein ein unermeßliches Vermögen darstellte. Auch dafür trug er die Verantwortung, und er konnte weiß Gott nicht sagen, daß er sich dabei besonders wohl fühlte. Gut, die Mannschaft hielt zu ihm auf Biegen oder Brechen, sie respektierte und achtete ihn in seiner Rolle als Vertreter des Seewolfes. Aber er war eben nicht der Seewolf, und das war - zumindest für ihn selbst - der springende Punkt. Smoky sagte kein Wort. Er kannte Brightons Gedanken und wußte, wie es in ihm aussah. Solange der Seewolf nicht da war, fehlte das Salz in der Suppe. Alles kam ihm leicht abgestanden und fade vor. Auf Steuerbord waren jetzt mehrere Männer an Deck der Schaluppe dabei, den Treibanker einzuholen. Ein Segel wurde gesetzt. Die Schaluppe nahm langsam Fahrt auf und kam näher. Etwas später ging sie bei der ›Isabella‹ längsseits. Jetzt lagen beide Schiffe wieder nebeneinander. Die Bordwände ächzten und knarrten, wenn sie sich aneinander rieben. Ab und zu wurden die Fender wie Pfannkuchen platt gequetscht, nahmen dann aber wieder ihre vorherige Form an. Die alten Kämpen, Tucker, Carberry, der riesige Old Shane,
Donegal Daniel O’Flynn, Dans Vater mit dem verdammten Holzbein, waren wieder beisammen. Brighton gab die Hiobsbotschaft weiter. Zuerst sah er in betreten wirkende Gesichter, in denen sich Unglaube spiegelte. Dann begriff jeder nach und nach, was es bedeutete, hier Proviant und Wasser übernehmen zu müssen. Der riesenhafte Old Shane, früherer Waffenmeister und Schmied von Arwenack, lehnte sich schwer gegen die Reling. Seit er John Malcolm umgebracht hatte, der drauf und dran gewesen war, den hilflos daliegenden, schwerverletzten Seewolf zu ermorden, hatten sich um seinen Mund zwei scharfe Falten gegraben. Er kannte sich hier an der Küste Cornwalls aus wie kein zweiter, er war hier aufgewachsen, groß geworden, kannte jede Bucht, jede versteckte kleine Einmündung. Es gab nichts, was Old Shane nicht kannte. Zu den Männern auf dem Achterdeck gesellte sich noch ein weiterer. Donegal Daniel O’Flynn. Er war ein alter, verwitterter Bursche mit silbergrauen Haaren, ein drahtiger, kantiger Kerl aus Granit, der nicht lange fackelte. Rechts trug er eine hölzerne Beinprothese, die er früher abzunehmen pflegte, um damit seinen Sohn Dan, an Bord der ›Isabella‹ früher allgemein das Bürschchen genannt, kräftig zu vertrimmen. Er nickte den Männern zu, sagte aber kein Wort. Vor ein paar Monaten hatten sie ihn, in einem Beiboot treibend, aus der Karibik gefischt und an Bord genommen. »Wir könnten Penzance anlaufen und dort Trinkwasser sowie Proviant übernehmen«, schlug Old Shane vor. Er sprach ruhig und bedächtig und überlegte sich jedes Wort. »Das liegt in der westlichen Mount’s Bay. Niemand wird sich dort um uns kümmern, wenn wir die Lebensmittel bezahlen.« »Ein guter Vorschlag«, sagte Ben Brighton. »Wir werden tun, was Old Shane vorgeschlagen hat, aber ...« Er blickte die umstehenden Männer ziemlich ratlos an. »Womit sollen wir
bezahlen? Keiner von uns hat auch nur eine Handvoll englischer Münzen.« »Wir sind doch stinkreich«, sagte der Franzose Jean Ribault. »Wir haben von allem etwas. Wir könnten mit Perlen bezahlen, mit Silber- oder Goldbarren. Aber wie viele englische Pfund erhält man für einen Goldbarren? Weiß das jemand?« Niemand wußte es. Die Ratlosigkeit wurde größer. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Hier saßen sie auf unermeßlichen Reichtümern, auf Kostbarkeiten aus aller Welt und konnten sie nicht einsetzen. Ben Brighton ergriff wieder das Wort. Er suchte nach einem Ausweg. Ribault drehte sich um und starrte grübelnd ins Wasser. Auch er suchte krampfhaft nach einer Idee. »Wenn wir mit Edelsteinen, Perlen oder Gold bezahlen, dann fallen wir überall auf. Man wird auf unsere Beute aufmerksam werden, man wird sich fragen, ob wir nicht noch mehr davon haben. Wir locken nur die Halsabschneider an, die über uns herfallen würden wie die Aasgeier. Jeder wird uns übers Ohr zu hauen versuchen. Sie werden uns nach Strich und Faden bescheißen, uns ausnehmen wie Mastgänse, denn wir haben keine Ahnung von dem Wert der einzelnen Stücke. Was, zum Beispiel, können wir für eine taubeneigroße Perle verlangen?« Ben Brighton sah die Männer an. Die meisten zuckten mit den Schultern. Sie wußten es nicht. Sie waren weder Kaufleute, weder Händler noch Goldschmiede. Den echten Gegenwert kannten sie nicht. Brighton merkte zum wiederholten Male an diesem verdammten Tag, daß der Seewolf an allen Ecken und Enden fehlte. Er, der schwarzhaarige Teufel, hätte in dieser Situation vielleicht nur gelacht und das Problem mit dem kleinen Finger erledigt. Da tippte ihm plötzlich der rothaarige Ferris Tucker mit dem Zeigefinger auf die Schulter. Der Schiffszimmermann mit dem
Kreuz, das so breit war wie ein Rahsegel, strahlte übers ganze Gesicht. »Was ist mit unserer Tabakbeute, Ben? Wir haben doch die Ballen aus Panama. Die schleppen wir schon monatelang mit uns herum.« »Mann, Ferris! Du bringst mich da auf einen wunderbaren Gedanken. Klar, die Tabakballen können wir verscheuern. In England ist Tabak knapp und schwer zu kriegen. In Hofkreisen wird das stinkende Kraut geraucht. Manche Kaufleute bezahlen jeden Preis dafür.« »Verscheuern wir den Tabak!« brüllten ein paar Männer laut. »Tabak gegen Wasser und Proviant!« Der Regen lief ihnen über die Gesichter. Die Haare hingen ihnen klatschnaß in die Stirn, die beiden Schiffe hoben und senkten sich träge in dem Wasser. Niemand achtete darauf. Ferris Tucker hatte eine Idee gehabt, und die wollten sie jetzt in die Tat umsetzen. »Einen Becher Wein für jeden!« rief Brighton. »Und zwei für unseren Schiffszimmermann!« Ferris Tucker strahlte. Sein Grinsen erlosch nicht mehr. Dann brachte jemand von der Crew den Wein und alle hoben die Becher. Neidlos sah jeder zu, wie sich Tucker auch noch den zweiten Becher hinter die Binde goß. Er hatte ihn redlich verdient. »Falls der Verkauf des Tabaks nicht klappen sollte,« sagte Ben Brighton und dämpfte die überschäumende Freude, »dann versuchen wir eben, ein paar Silberbarren gegen Pfund einzutauschen. Und jetzt wollen wir keine Zeit mehr verlieren, Männer. Anker auf, wir segeln nach Penzance!« Wieder tippte ihm jemand auf die Schulter, als er sich gerade umwandte. Es war Jean Ribault. Der Franzose grinste genauso wie Ferris Tucker übers ganze Gesicht. »Ich habe auch noch eine wunderbare Idee, Ben«, sagte er. Und dann begann er damit, Ben Brighton seinen Plan
auseinanderzusetzen. Der Vertreter des Seewolfes hörte sprachlos zu. Ein paarmal schüttelte er den Kopf, dann sah er Ribault an und lachte ebenfalls. Auf der ›Isabella V.‹ lag die Freude buchstäblich in der Luft. Es gab niemanden mehr, der schlechte Laune hatte. 2. Am Mittag desselben Tages lief die ›Isabella‹ in den Hafen von Penzance ein, wo nur ein kleiner Kauffahrer lag, der seine Ladung bereits gelöscht hatte. Die Schaluppe hatten sie zurückgelassen. Später, auf dem Rückweg, würde sie wieder im Kielwasser der ›Isabella‹ folgen. Nur ein paar Menschen waren zu sehen, Stauer, die Fässer und Kisten in die hölzernen Schuppen trugen. Zwei von ihnen liefen herüber und nahmen die Trossen an, als das Schiff an die Pier ging. Jean Ribault winkte den beiden Männern hoheitsvoll zu, die an der Holzpier standen und ihn fassungslos anstarrten. So einen wie den hatten sie noch nie gesehen. Ribault trug die Kleidung französischer Höflinge. Schwarze Schnallenschuhe, weiße Strümpfe, enge Hosen, die bis ans Knie reichten und darüber eine goldgrünschiliernde Jacke, hauteng geschneidert. Aus den Jackenärmeln lugten weiße Spitzen heraus. Ebenso aus dem ausgelegten Hemdkragen. Dort prangten Rüschen und Spitzen, die den beiden Stauern nicht geheuer erschienen. Ribault hatte die alten Klamotten in einer Kiste an Bord entdeckt. Und genau darauf hatte er seinen Plan aufgebaut. Das Ungetüm, das neben ihm an Deck erschien, fühlte sich in seiner neuen Rolle alles andere als wohl. Es war Edwin
Carberry, der Profos der ›Isabella‹. Ein Kerl wie ein Bulle, mit einem ungeheuren Rammkinn, mächtigen Schultern und einem Gesicht voller Narben. Grollend, und nur nach brüllendem Zureden Brightons, hatte er sich fluchend mit seiner Rolle abgefunden. Sein mächtiger Körper steckte in der Uniform der französischen Lakaien, wie sie bei Hofe herumliefen. Sein Nußknackerkinn war angriffslustig vorgeschoben. Und wer den Profos kannte, der wußte daß er vor Wut heimlich platzte. Aber er mußte mitspielen, zum Wohle aller, und damit sie nicht auffielen. Ribault betupfte seine Stirn mit einem Spitzentüchlein und wandte sich indigniert an Carberry. »Parbleu«, sagte er anklagend und wies auf die beiden Stauer, deren weitaufgerissene Augen jede seiner Bewegung verfolgten. »Was starrt mich der Pöbel so herausfordernd an! Sag diesen Bauernlümmeln, daß sie den Hafenkapitän holen mögen, Pierre!« Der mit Pierre Angesprochene zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Belegnagel auf den Schädel geschlagen. Sein Rammkinn ähnelte jetzt einem Amboß, auf dem der Schmied von Arwenack Eisen hätte schlagen können. Der Profos beugte sich über die Reling. Die verdammten Rüschen schnürten ihm fast den Hals zu, als seine Ader anschwoll. »Mäßige dich, Pierre!« hörte er Ribaults näselnde Stimme. Das gab ihm fast den Rest. Sein Gesicht lief knallrot an. Wenn er gesehen hätte, wie die Männer sich über ihn amüsierten, wäre er explodiert. Aber die hatten sich auf dem Schiff gut verteilt und taten so, als sei alles ganz normal. Old Shane und den alten Donegal O’Flynn hatten sie ohnehin unter Deck verborgen, denn die kannte an Cornwalls Küsten jeder Hafenkapitän. Der Profos beugte sich noch weiter vor.
»Holt den Hafenkapitän, ihr verdammten Rübenschwei ...« Ein Tritt des Grandseigneurs Ribault an sein Schienbein ließ ihn den Rest der Worte verschlucken. Er kaute förmlich darauf herum. Als die Donnerstimme verstummte, rannten die beiden los, als säße ihnen der Leibhaftige im Nacken. Jean Ribault verbiß sich nur mühsam das Grinsen. »Warte nur, bis wir wieder draußen sind«, grollte »Pierre«. »Dann lasse ich dir Haut von deinem Affenarsch abziehen und zu Schuhriemen verarbeiten.« »Du spielst deine Rolle gefälligst weiter, Carberry«, peitschte hinter ihm die Stimme Ben Brightons auf. »Hast du das ganz klar verstanden, Mann?« »Ave, aye«, knurrte der Profos und gab sich innerlich einen Ruck. Seit der Seewolf nicht mehr an Bord war, stand er ebenso unverbrüchlich zu Ben Brighton und nahm jeden seiner Befehle bedingungslos und ohne zu murren an. Fünf Minuten später bogen drei Männer um die Ecke des letzten Schuppens. Die beiden Stauer redeten und palaverten aufgeregt auf den dritten Mann ein, der sich gelassen näherte. Sie hatten ihn in der Mitte und überhäuften ihn pausenlos mit Neuigkeiten. »Ah, Monsieur Capitaine!« Ribault strahlte, als der Hafenkapitän vor dem Schiff stand. »Parlez vous francais, mon Capitaine?« »Ha?« Der Hafenkapitän schob sich die Mütze in den Nacken und kratzte verlegen seinen Schädel. »Äh, nur ein wenig, kaum Sen ... äh - Monsieur.« »Ribault«, stellte sich Jean vor. Dazu vollführte er eine kleine, einladende Verbeugung, nicht übertrieben, aber so, daß es wirklich echt aussah. »Kommen Sie bitte an Bord, Monsieur!« , Dieser Aufforderung hätte es kein zweites Mal bedurft. Der Mann, ein bieder aussehender Seemann, der seinen Dienst im Hafen von Penzance versah, warf sich stolzgeschwellt in die
Brust. »John Stubbs, Sir - äh - Monsieur«, sagte er. Sein vorsichtiger Blick streifte Carberry, der mit steifem Genick sogar so etwas wie eine Verbeugung fertig kriegte. Ein französischer Kauffahrer in seinem Hafen! Ausgerechnet bei ihm. Wenn das keine Ehre war! Ribault sah belustigt, wie der Hafenkapitän alles unauffällig musterte. Zum Schluß blieb sein Blick an fünf gelbgrünen Ballen hängen, die ausgebreitet auf einer Persenning an Deck lagen. Lange Zeit starrte er das Zeug an, ohne zu wissen, was es war. »Tabak, mon Capitaine. Was Sie da sehen, ist edler, bester Tabak aus der Neuen Welt. Man reißt sich um das edle Kraut. Mon Dieu, Sie sollten diese herrliche Würze einatmen, Monsieur. Köstlich, sage ich Ihnen, ein Genuß!« »Tabak«, wiederholte der Kapitän andächtig. »Ja, davon habe ich schon gehört. Tabak aus der Neuen Welt.« »Ein hochwohllöbliches Kraut«, pries Ribault die Ballen an. Dann wandte er sich an Carberry, der verstört von einem zum anderen sah. »Was stehst du hier herum, Lümmel!« herrschte er ihn an. »Hol die Kiste mit den Pfeifchen, vite-vite, rapide!« Dem Profos stiegen fast die Tränen in die Augen. »Merde«, sagte er voller Inbrunst. »Merde!« Das war das einzige französische Wort, das er kannte. »Merde«, wiederholte auch der Hafenkapitän ehrfürchtig. Wahrscheinlich hielt er das für eine Höflichkeitsfloskel. Jean Ribaults Gesicht erstarrte zu einer Maske, damit der Hafenkapitän das dahinter verborgene Grinsen nicht sah. Auf dem Achterdeck wanden sich zwei Männer in Krämpfen. Ben Brightons Gesicht lief knallrot an. Ribault zog hier eine Schau ab, die es in sich hatte. Dieser Bursche setzte allem die Krone auf, mit seinem eitlen, stutzerhaften Benehmen, dem Tüchlein, das er ab und zu leicht
an die Augen führte, und seinen Rüschen, die ihn wie eine weiße Wolke umgaben. Während sich der Profos, innerlich total zermürbt, racheschnaubend nach achtern begab, um die Tonpfeifen zu holen, näherte sich der Hafenkapitän den gepreßten Tabakblättern, beugte sich hinunter und beschnüffelte sie mit verklärtem Gesicht. Tabak aus der Neuen Welt! Und der wurde ausgerechnet in seinem Hafen gehandelt, denn daß der Franzose damit handeln wollte, war ihm klar. Das Kraut mußte sündhaft teuer sein. »Ich würde gern den Bürgermeister holen, wenn Sie gestatten, Monsieur Ribault«, sagte er. »Hier in Penzance hat noch niemand Tabak gesehen.« »Naturellement, Capitaine. Holen Sie ihn nur.« Stubbs lief von der Kuhl zur Backbordseite, wo immer noch die beiden Stauer standen und glotzten, und rief ihnen etwas zu. Wie der Blitz waren sie gleich darauf verschwunden. Inzwischen kehrte der Profos mit den indianischen Tonpfeifen zurück. Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, daß er Ribault die kleine Kiste mit den Pfeifen am liebsten auf dem Schädel zerschlagen hätte. Aber er beherrschte sich und reichte Ribault die Kiste mit einem Krächzlaut auf den Lippen. »Stell dich nicht so an«, flüsterte Ribault. »Was kann ich denn dafür, daß keinem anderen die Lakaien-Klamotten passen!« Er nahm zwei der Tonpfeifen heraus, legte sie vorsichtig auf die Tabakballen und zupfte an den Blättern. Er machte eine regelrechte Zeremonie daraus, die Pfeifen zu stopfen. Eine reichte er dem Hafenkapitän, der sie ehrfürchtig entgegennahm, wieder daran schnupperte und die Augen verdrehte. »Tabak«, flüsterte er. »Merde!« Ribault zuckte zusammen. Der Profos gab ihnen Feuer an einem Fidibus, bis der Tabak glimmte. Genießerisch begann der Franzose an der Pfeife zu paffen,
entlockte ihr weißgraue Wölkchen und fächelte sich den Duft des brennenden Krautes um die Nase. Auch der Hafenkapitän machte ein paar Züge, kriegte versehentlich Rauch in die Lunge und lief im Gesicht grün an. Aber er qualmte tapfer weiter. Inzwischen war der Bürgermeister auf der Bildfläche erschienen. Er begrüßte Ribault als Kapitän des Schiffes und hieß ihn und seine Mannschaft in Penzance willkommen. Er zerfloß fast vor Ehrerbietung und schielte neugierig auf die qualmenden Pfeifen, denen der Hafenkapitän immer wieder neue Wölkchen entlockte. »Das ist Tabak, Garret«, sagte er. »Als Mann von Welt muß man das ganz einfach kennen. Ein himmlisches Kraut, so mild, so würzig, so aromatisch. Man raucht es bei Hofe.« »Beabsichtigen Sie, die Ballen zu verkaufen?« erkundigte sich Garret, der für seinen Ort gleich ein Geschäft witterte. »Aber gewiß, Monsieur. Dieser Tabak ist so kostbar, daß Ihnen nicht so schnell wieder die Chance geboten wird. Wann kommt schon ein Schiff mit Tabak aus der Neuen Welt hierher?« »Niemals«, erwiderte der Bürgermeister bestimmt. »Vielleicht in einigen Jahren. Ist das edle Kraut teuer, Monsieur?« „Oui, oui, maitre! Sehr teuer. Aber ich lasse mit mir reden.« »Dann sollten wir Mister Mitchell holen«, sagte Garret. »Das ist der reichste Kaufmann hier am Ort.« Jetzt qualmte auch der Bürgermeister mit. Er hockte auf der Kühl, neben den duftenden Tabakballen und gab sich dem neuartigen Genuß des Rauchens hin. Es war ein friedliches Bild, fand Brighton, und er hoffte nur, daß aus dem Geschäft etwas werden würde. Für Reklame hatte Jean Ribault ja nun genug gesorgt. *
Der dicke Henry Mitchell wurde unvermittelt aus seinen Träumen gerissen. Er hatte sich den Bauch mit einer gefüllten Gans vollgeschlagen, danach einen halben Liter Rotwein getrunken und döste jetzt vor sich hin. Er glich einem fetten Mastochsen, wie er so dahockte, das eine seiner Doppelkinne voller Fett und Weinspritzer. Ab und zu rülpste er, wobei sich sein fetter Wanst aufgeregt hüpfend bewegte. »Mister Mitchell, Sir!« Ein kleiner Bengel schreckte ihn aus seinen Träumen. »Der Bürgermeister und der Hafenkapitän schicken mich. Im Hafen liegt ein französischer Kauffahrer. Er will hier Geschäfte tätigen. Mister Garret fragt, wann Sie kommen, Sir!« Die kleinen Schweinsäuglein wurden sofort hellwach. Ein listiger, verschlagener Zug erschien in ihnen. »Französischer Kauffahrer?« fragte er. »Lauf zum Hafen und sag ihnen, daß ich sofort komme.« Mitchell witterte ein Geschäft. Er rieb erregt seine Knollennase. Kauffahrer! An dem letzten Kauffahrer hatte er sich gesundgestoßen. Die Kerle waren leicht übers Ohr zu hauen. Er war gespannt, was dieser Kauffahrer anzubieten hatte. Franzosen, hm, überlegte er. Hoffentlich konnten sie sich verständigen, denn er sprach kein Wort Französisch. Ach was, sie würden schon handelseinig werden. Zwei seiner Knechte fuhren den Pferdewagen vor, eine Art Kutsche, die gleichzeitig der Personen- und Warenbeförderung diente. Mitchell zog sich in aller Eile um. Dann fuhren sie los. Als sie auf dem holperigen Pflaster entlangrollten, sah Mitchell den Kauffahrer. Ein schönes, stolzes Schiff, eine wunderbare Galeone. Und wunderbare Galeonen hatten meist auch wunderbare Sachen geladen. Seide, edle Hölzer, Gewürze, Schätze vielleicht.
Je näher sie kamen, desto größer wurden Mitchells Augen. Auf der Galeone ging es recht lustig zu. »Nun sieh dir das an«, sagte er zu seinem Knecht und deutete in die Wanten der ›Isabella‹. »So einen flinken Schiffsjungen habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.« Sprachlos starrte er voraus. Dort flitzte ein kleiner Kerl die Wanten rauf und runter, als wollte er einen neuen Rekord aufstellen. Er trug eine Segeltuchhose und eine helle Jacke. Wie ein Blitz bewegte er sich auf den Rahen, sprang an den Mast und von dort aus wieder in die Wanten. Wenn er nicht höllisch acht gab, konnte er sich jeden Augenblick den Hals brechen. »Der führt nur dem Bürgermeister und dem Kapitän seine Künste vor«, sagte sein einfältiger Kutscher. »Schiffsjungen müssen sich schnell bewegen können.« Sprachlos sah Mitchell, wie der Schiffsjunge jetzt ganz oben auf dem Mast hockte, sich den Schädel kratzte und dann ruhig sitzen blieb. Mehrere Männer schauten zu und feuerten ihn durch Rufe an. Aber er rührte sich nicht. Die wahnsinnige Kletterei schien ihn erschöpft zu haben. Kein Wunder, dachte Mitchell, der Junge mußte ja ganz außer Atem sein. Vor der ›Isabella‹ sprang Mitchell vom Bock, verbeugte sich und lächelte erwartungsfroh. Ribault empfing ihn, ein blasierter Typ, der ewig mit einem kleinen kostbaren Tüchlein herumwedelte. Sogar die Nase hatte sich der Kerl gepudert. Mitchells Schweinsäuglein schossen Blitze nach allen Seiten, als er auf die Kuhl geführt wurde. Der leichte Nieselregen hatte wieder aufgehört. Es war auch nicht mehr so kühl. Und ihm selbst wurde direkt warm ums Herz, als er die Männer rauchen sah. Der feine würzige Tabakduft kitzelte seine Knollennase, die rastlos nach allen Seiten schnüffelte. Er nahm seinen Hut ab, behielt ihn in der Hand und fuhr über seine Glatze, auf der sich vor Aufregung feine Schweißperlen gebildet hatten.
Tabak! Es war nicht zu fassen! Dieser Franzose hatte Tabak mitgebracht, das geheimnisvolle Kraut aus der Neuen Welt, das bei den Snobs und Reichen immer beliebter wurde. Wenn er dem Franzosen das Kraut abkaufte, konnte er das größte Geschäft seines Lebens machen. Er lächelte Ribault liebenswürdig-verschlagen zu. »Mon Dieu!« rief der Franzose, »Sie sind ja ganz außer Atem, Monsieur. Ich lasse Ihnen sofort eine Erfrischung bringen.« Herablassend wedelte er mit seinem parfümgetränkten Taschentuch dem fetten Kaufmann vor der Nase herum. »Pardon, Monsieur, oder darf ich Ihnen ein Pfeifchen anbieten?« »Nur zu«, sagte Mitchell, dem die französischen Wörter ein ungelöstes Rätsel blieben. Er hatte mit Franzosen erst einmal in seinem Leben zu tun gehabt. Die verirrten sich selten an diese Küste. Sie brachten ihre Waren lieber ins eigene Land. Und jetzt dieser Glückstreffer! Na warte, dachte Mitchell, als Ribault, den er ebenfalls für den Kapitän des Schiffes hielt, ihm eine Tabakpfeife stopfte und für Feuer sorgte. Dich werde ich ausnehmen wie eine Gans. Er rauchte, hustete und blickte Ribault wohlwollend an. Aber an dem Tabak zeigte er sich nur mäßig interessiert, obwohl alles in ihm danach brannte, das Zeug in die Hände zu kriegen. Aber das konnte er ja schlecht nach außen hin zeigen;denn Interesse trieb immer den Preis in die Höhe. Er kannte seine Methoden, mit denen die Kauffahrer klein zu kriegen waren. Er deutete fast abfällig auf die fünf Tabakballen und streifte sie mit einem flüchtigen Blick. »Nicht schlecht, das Kraut«, meinte er. »Aber auch nichts Besonderes. Es erzeugt Hustenreiz. Wollen Sie es verkaufen?« »Oui, Monsieur, verkaufen. Unsere, wie sagt man, Beziehungen, bei Hofe sind nicht bon, wir haben non
protection.« Mitchell klopfte Ribault leutselig auf die Schulter. »Ich werden Ihnen den Krempel abnehmen, Sir, obwohl ich nicht weiß, ob ich ihn jemals verkaufen kann. Mein gutes Herz begeht bestimmt wieder einen Fehler, es ist meine Dummheit, verstehen Sie?« »Dummheit, oui. Ich begreife. Wieviel wollen Sie bezahlen?« »Fünfzig Pfund«, sagte der Dicke großzügig. Ribault tastete nach der Reling. Sein Spitzentuch betupfte die Augen. »Mon Dieu!« rief er klagend aus. »Pierre, mein Riechfläschchen! Ich bin echauffiert, rapide, Pierre!« Carberry eilte heran, um dem Ohnmachtsanfall seines Herrn zuvorzukommen. Langsam gefiel ihm die Rolle. Seine mächtige Pranke schoß vor, fing den taumelnden Ribault auf und hielt ihm ein kleines Fläschchen mit Riechsalz unter die Nase. Ribault schlug die Augen auf und sah sich entsetzt um. »Monsieur«, sagte er vorwurfsvoll. »Das sollte wohl ein Scherz sein. Fünfzig Pfund! Ich habe mich wohl verhört?« »Natürlich, natürlich, Sir. Ich habe mich versprochen, oder Sie haben mich falsch verstanden. Hundertfünfzig Pfund, sagte ich!« »Zweihundertfünfzig Pfund?« fragte Ribault ungläubig. »Monsieur! Treiben Sie keine Scherze mit mir. Mein Herz ...« In gespielter Trauer schlug er seine Hand auf die Brust. Die anderen Männer hielen entsetzt den Atem an. Sogar Ben Brighton kriegte kaum noch Luft. Was dieser Ribault sich da leistete, war schon ein starkes Stück. Und wie Edwin Carberry auf einmal mitspielte! Er, der anfänglich so ergrimmt war, schien sich jetzt an diesem Spiel zu ergötzen, obwohl er in seinen Klamotten so aussah wie Arwenack in einem langen Nachthemd. Dem dicken Mastschweinchen Mitchell wurde es immer
heißer. Aufgeregt erklärte er dem Franzosen, daß dieser Preis weit über dem Durchschnitt läge. Dieser geschniegelte Bursche mußte doch klein zu kriegen sein! Oder hatte er selbst für den Tabak soviel bezahlt? Jedesmal, wenn er einen Preis nannte, dann verlangte dieser Laffe sein Riechfläschchen und mußte gestützt werden. Seine Stimme war heiser vor Aufregung. Er mußte den Tabak haben, und wenn er den ganzen Tag weiterfeilschte. Dieses Geschäft wollte er sich nicht durch die Lappen gehen lassen. Der Tabak war ihm die Gewähr für weitere gute Geschäfte mit dem Hofe, von denen er sich einiges versprach, denn Tabak war kaum zu kriegen, und wer weiß, wann der nächste mit einer Ladung eintraf. »Also gut, Sir«, röchelte er. »Ich biete Ihnen dreihundert Pfund. Bei dem Geschäft lege ich drauf! Vielleicht bin ich für mein ganzes Leben ruiniert. Wer wird mir schon das stinkende Kraut abkaufen? Also, dreihundert Pfund!« „Non, non, Monsieur. Grand Malheur. Sie mißverstehen mich! Ich kann dreihundert Pfund nicht akzeptieren - pro Ballen. Soviel hat es mich selbst gekostet! Und noch etwasmehr!« Das war nun doch die Höhe, fand Brighton. War dieser Kerl denn total verrückt? Pro Ballen? Zumal Mitchell doch dauernd von den gesammten fünf Ballen sprach? Jetzt würde der Dicke natürlich aus dem Geschäft aussteigen. Wenn das der Fall war, konnte Ribault sich später aber auf etwas gefaßt machen, bei seinen unverschämten Forderungen! Das ging entschieden zu weit. Der Dicke ging schnaufend in die Höhe. Seine Schweinsäuglein verdrehten sieh nach oben. Seine beiden Kinne zitterten. »Mir wird schlecht«, japste er. Carberry war schon heran. Er hielt dem Dicken das Riechsalz unter die Knollennase, bis der wieder klar denken konnte.
»Pro Ballen?« jammerte er. »Soviel kann dieser verdammte Tabak doch niemals kosten.« »Monsieur Mitchell«, sagte Ribault besänftigend. »Wenn in den nächsten Jahren wieder ein Kauffahrer mit Tabak erscheint, werden Sie viel, viel mehr bezahlen müssen, verstehen Sie? Sehr viel mehr, das Doppelte!« »Das ist mir zu teuer!« »Sehr, sehr schade. Ich werde den Tabak in Frankreich verkaufen.« »Nein, warten Sie!« Mitchell wedelte schwach mit der Hand. Diesem eitlen Stutzer, wollte er es schon zeigen. Wenn der Tabak bald das Doppelte wert war oder vielleicht das Dreifache, dann schnitt er immer noch gut dabei ab und hatte den Franzosen übertölpelt. Der war zwar auch gerissen, aber Mitchell fühlte sich ihm dennoch überlegen. Er mußte den Tabak haben! »Was verlangen Sie?« fragte er zitternd und total ausgelaugt. »Zweitausend Pfund, Monsieur. Ich habe viele Unkosten. Das Schiff, die Mannschaft, die lange Route.« »Sie ziehen mir die Hosen aus, Sir«, flüsterte der Dicke. »Das ist ein ungeheuerlicher Preis.« »Ein Extrapreis für Sie, Monsieur. Sie werden bei diesem Geschäft das Dreifache verdienen.« Jetzt war zum erstenmal der Profos an der Reihe, ohnmächtig zu werden. Seine Nase schnüffelte an dem Fläschchen, und er verzog angewidert das Gesicht, als er das Salz roch. »Merde«, sagte er wieder. Er schickte Ribault einen drohenden Blick hinüber, der eindeutig besagte, daß er es bloß nicht auf die Spitze treiben solle. So verrückt war dieser dicke, verfressene Geschäftsmann nun auch wieder nicht. Der Profos selbst, der von Geschäften überhaupt nichts verstand, hätte gleich beim ersten Zuschlag des Dicken angebissen und den Tabak verhökert. Fünfzig englische Pfund waren eine ungeheure Summe - für Carberry.
Der Dicke fingerte aufgeregt an seiner Weste herum. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, seine Augen schielten, er schien die Luft anzuhalten. Er hörte sein verfettetes Herz übermächtig laut in der Brust schlagen. Sein sechster Sinn für Geschäfte sagte ihm jedoch, daß hier immer noch eine ganze Menge zu holen war. »Zweitausend?« wiederholte er ungläubig. Sein gekränkter Blick blieb vorwurfsvoll auf Ribault gerichtet. »Zweitausend«, bestätigte Jean. »Für alle fünf Ballen?« »Für die fünf Ballen, Monsieur.« Jetzt hatte er den fetten Ochsen soweit. Mitchell wedelte schwach mit der Hand durch die Luft. »Gut dann«, sagte er weinerlich. »Es sei.« »Ah, Sie sind ein Grandseigneur, Monsieur Mitchell«, lobte Ribault den Dicken. »Merde«, erwiderte Mitchell traurig. Wieder legte er das Wort falsch aus. Er gab Ribault eine schlaffe Hand, und dem erschien es, als hielte er für einen Augenblick einen toten kalten Fisch zwischen den Fingern. Damit war das Geschäft besiegelt. Ribault spürte, wie alles um ihn herum hörbar aufatmete. Der Profos blickte ihn an, als sei er soeben vom Himmel gefallen. Ben Brightons Gesicht zeigte eine ungeheure Erleichterung, und die Augen der anderen begannen sich sanft zu verklären. Sie hatten einen unwahrscheinlichen Sieg errungen, einen Sieg, der List und Ausgekochtheit erforderte. Jetzt erst befühlte Mitchell ausgiebig die Ballen, drückte sie, fingerte daran herum und mäkelte über dies und jenes. Aber der Preis stand fest und war nicht mehr zu drücken. Ben Brighton schlenderte über die Kuhl und blickte Ribault an. »Du bist der ausgekochteste Hund, den ich kenne«, flüsterte er. »Bei dir kann der Dicke noch in die Lehre gehen.«
Ribault grinste genauso verschlagen wie der Kaufmann. »Der Dicke wird sich noch wundern«, sagte er. »Mit den zweitausend ist er noch nicht aus dem Schneider.« »Bist du wahnsinnig?« zischte Brighton. »Was willst du denn jetzt noch von ihm?« »Oh, ich kriege ihn schon dahin, wo ich ihn haben will. Der hat Wasser geschwitzt, nachher wird er Blut schwitzen.« Ben Brighton bohrte ihm den Zeigefinger in den Bauch. »Übertreibe es nicht«, warnte er. »Der Preis war vereinbart.« Du kannst jetzt nicht noch mehr Geld verlangen!« »Wer spricht denn von Geld?« erwiderte Ribault leichthin. »Laß mich nur machen, es wird schon klappen.« Als Ben Brighton zu einer Erwiderung ansetzen wollte, watschelte Mitchell heran. Seine Schweinsäuglein blitzten wieder, und im stillen dachte er, daß er den Franzosen bei diesem Geschäft doch noch kräftig übers Ohr gehauen hatte. Allerdings dachte Ribault genauso. Er jedenfalls und die Crew, sie hatten ein hervorragendes Geschäft getätigt. »Ich lasse die Ballen abholen, mein Lieber«, sagte der Dicke. »Jetzt gleich, wenn es Ihnen recht ist. Dürfen meine beiden Gehilfen an Bord?« »Oui, Monsieur, bitte sehr.« »Merde«, sagte Mitchell wieder. Er hielt dieses Wort wohl für etwas Ähnliches wie »Danke«, registrierte aber verwundert, daß jedesmal die Gesichter so merkwürdig starr wurden. Vielleicht war das ebenfalls eine Höflichkeitsform dieser merkwürdigen Franzosen. Zwei dümmlich glotzende Burschen stiegen an Deck und sahen sich staunend um. Ihre Blicke folgten Arwenack, der durch die Wanten turnte, über die Rahen lief und sich an die festgezurrten Segel hängte. Stubbs, der Hafenkapitän, wollte sich gerade noch etwas von dem edlen Kraut in seine Pfeife stopfen, als Mitchell es bemerkte.
»Bist du wahnsinnig, Stubbs!« fauchte er. »Leg sofort das Zeug wieder hin. Weißt du, was es mich gekostet hat?« Stubbs nickte betrübt. Sein Vorhaben, noch eine Pfeife zu rauchen, gab er wieder auf. »Los, tragt die Ballen von Bord!« befahl Mitchell seinen beiden Gehilfen, die nicht wußten, was sie zuerst anglotzen sollten. Die eindrucksvollen Culverinen, von denen die ›Isabella‹ vierundzwanzig hatte, den herumturrienden Affen in seiner merkwürdigen Kleidung oder den Franzosen, der so ganz anders gekleidet war als alles, was sie jemals gesehen hatten. »Ah, Monsieur, eine Kleinigkeit, bitte«, ertönte plötzlich Ribaults näselnde Stimme über das Deck. Er führte sein Tüchlein zum Mund und betupfte sich geckenhaft die Lippen. »Es ist üblich bei uns, zum Handelspreis zuzüglich zu liefern, die, - äh - Naturalien für die Mannschaft, verstehen Sie, mon ami?« »Ich - ich verstehe kein Wort«, ächzte der Dicke, fassungslos vor dieser bodenlosen Unverschämtheit. Ribault schob ihm in liebenswerter Bescheidenheit eine völlig unlogische Argumentation unter die Knollennase. Dabei bemühte er sich, möglichst Englisch zu sprechen, damit der Dicke ihn ja auch verstand und es keine Mißverständnisse gab. »Sehen Sie, Monsieur. Auf unserer langen Route sind naturallement alle - äh - Vorräte weg. Aufgegessen. Jetzt benötigen wir neuen Proviant.« Mitchell wich langsam zurück. »Ich lasse Ihnen sofort das Geld bringen, Sir«, stieß er hervor. »Damit können Sie soviel Vorräte kaufen, wie Sie wollen.« »Ah, non, mon ami. Sie werden sich doch nicht selbst beschämen vor Capitaine du Port, oder vor Maitre Garret. Was sollen diese Leute denken, wenn Sie sind so kleinlich, Monsieur. Dabei haben Sie ein einmaliges Geschäft getätigt.« Mitchells Kinne reichten jetzt bis fast zur Brust. Sein
tonnenförmiger Wanst vollführte einen Hüpfer und aus seinem Mund drangen glucksende Geräusche, die Arwenack im Großmast keckernd kopierte. Blamieren konnte er sich schlecht. Ribault hatte ihn da schon an der richtigen Stelle gepackt. Lieferte er jetzt nicht noch ein paar Naturalien oder Viktualien, wie immer dieser verdammte Franzose es nannte, hinzu, dann würden sie ihn im Ort auslachen, und jeder würde mit dem Finger auf ihn zeigen. Also mußte er wohl oder übel in diese verdammte, faule Frucht beißen. Gequält nickte er schließlich, wobei er vor Selbstmitleid fast zerfloß. Dieser Hund, dachte er immer wieder, dieser ausgekochte, dreimal verfluchte Franzose! Jetzt stand der affektierte Kerl auch noch wie zufällig mit dem Fuß auf seinen Tabakballen, so daß die beiden Gehilfen sich nicht trauten, auch nur einen der Ballen zu berühren. Dümmlich, in gebückter Haltung, standen sie da und warteten auf weitere Anweisungen ihres feisten Herrn. »Gut«, sagte Mitchell und schluckte seine Wut hinunter. »Wenn Sie meinen, Sir! Ich werde Ihnen ein paar Kleinigkeiten dazugeben. Was benötigen Sie? Sicher Wasser, wie?« »Oui, mon ami. Wasser ganz zum Schluß. Ich werde Ihnen aufschreiben, was wir benötigen.« Mitchell winkte hastig ab. »Nicht nötig, Sir, das kann ich auch so behalten.« »Oh, Irrtum, Irrtum, mein Guter, die Liste ist ziemlich lang. Wir sind viele Leute.« Er lächelte den Dicken blasiert an, dann krümmte er den Zeigefinger und winkte den Herkules mit dem Kinn, das wie der Achtersteven des Schiffes wirkte, zu sich heran. »Pierre, bringe mir was zum Schreiben. Du hast gehört, wie großzügig Monsieur Mitchell zu uns ist.« »Oui, Grandseigneur!« brüllte Carberry so laut, daß sich die Umstehenden unwillkürlich duckten.
Carberry flitzte los, um das Gewünschte zu holen. Er nahm ein kleines Pergament, dazu Tinte und eine Feder. Ein winziges Fläschchen mit Sand zum Ablöschen steckte er auch noch ein. In der Kapitänskammer stand Ben Brighton mit tränenden Augen. »So was Köstliches habe ich schon lange nicht mehr erlebt, Ed«, sagte er. »Hättest du das dem verdammten Piraten Ribault zugetraut?« »Nie im Leben«, versicherte Ed Carberry und sah mißbilligend an seiner Kleidung hinunter. »Wie der mich behandelt hat! Ich wollte ihn zuerst anständig ver ...« »Sei froh, daß wir ihn haben. Du hast doch auch deinen Spaß, oder?« »Klar«, versicherte Carberry. »Jetzt schon.« »Dann hau ab und verschwinde. Ich kann nicht an Deck erscheinen, sonst lach ich micht tot.« »Aye, aye«, sagte der Profos grinsend. »Merde Capitaine!« »Verschwinde!« Oben an Deck, in der Kuhl, breitete Ribault die Sachen aus. Dann nahm er die Feder in den Mund und dachte nach. »Ah, ich werde Ihnen diktieren, Monsieur«, sagte er großzügig zu Mitchell und gab ihm Pergament und Feder. »Ich transpiriere. Schreiben strengt mich zu sehr an.« Mitchells Hände zitterten heftig. Hoffentlich stellte dieser Franzose keine allzu großen Ansprüche, sonst blieb von dem Geschäft nicht mehr viel übrig. »Bon. Wir brauchen drei Fässer Branntwein, Monsieur.« »Äh - Branntwein habe ich leider nicht«, sagte Mitchell hastig. »Dann nicht. Wir nehmen als Ersatz drei Fässer Whisky, zwanzig Schinken, abgehangen bitte, und zehn Dauerwürste.« Mitchell schrieb mit klammen Fingern. Sein Gesicht zog sich in die Länge. Als er alles aufgeschrieben hatte, atmete er erleichtert auf, aber leider zu früh. »Ein Faß Zucker, zwei Fässer Mehl und ein Faß Salz«, fuhr
Ribault ungerührt fort. »Haben Sie? Ah, c’est bon.« Mitchell zog einen Strich darunter. Dann wollte er aufstehen. »Aber Monsieur«, sagte Ribault vorwurfsvoll und drückte den Dicken lächelnd und sanft wieder zurück. »Meine Leute können nicht leben von Mehl und Zucker. Es geht noch weiter. Une bagatelle, mein Guter, nicht viel. Denken Sie an das Geschäft.« Mitchell starrte aus glasigen Augen auf das Pergament in seiner Hand. Entsagungsvoll nickte er. Dieser aristokratische Stutzer war nicht nur unverschämt. Er war ein ausgesprochener Nepper, der nichts anderes im Sinn hatte, als die Leute zu barbieren. »Zehn Speckseiten«, zählte Ribault auf, »fünfhundert Eier, Hartbrot für zwei Wochen für die Mannschaft und natürlich Frischgemüse, zwei Fässer Weinkraut, damit meinen Leuten nicht immer die Zähne ausfallen auf der langen Route. Wir werden nämlich noch öfter Tabak bringen, mein Guter. Haben Sie?« Ein Nicken erfolgte, wie es kläglicher kaum ausfallen konnte. Aus den Augenwinkeln sah Ribault, wie der Hafenkapitän Stubbs sich die Hände rieb und vergnügt vor sich hin grinste. Vermutlich gefiel es ihm auch, wie der Dicke diesmal eingeseift wurde. »Weinkraut«, überlegte Ribault, »ach, das hatten wir. Jetzt fehlen noch vier frisch geschlachtete Gänse und zehn Hühner. Lebende Hühner, Monsieur. Wir wollen sie an Bord halten.« Er überlegte einen Augenblick, griff sich an die Stirn und sah Mitchell nachdenklich an. »Was fressen Hühner, mon ami?« »Weizenkörner, Sir«, sagte der Dicke verdattert. »Richtig. Weizenkörner und Mais, oder? Bon, mon ami, dann natürlich das Futter für die Hühner. Sagen wir für einen Monat.« Der Dicke schrieb und schrieb. Unsichtbare Tränen liefen ihm
aus den Augen. Er fühlte sich bankrott, pleite, total ausgelaugt und erledigt. Dieser Franzose hatte ihn hereingelegt wie noch niemand zuvor. »Das war’s denn«, sagte er entsagungsvoll und zog einen dicken Schlußstrich unter das Gewünschte. »Wollen Sie sich auch noch mein Geschäft unter den Nagel reißen, Sir?« »Aber, mein Guter, wer wird Sie denn schädigen wollen? Das war wirklich alles. Halt! Da fällt mir noch etwas ein. Haben Sie schon Parfüm aufgeschrieben?« »Parfüm, Sir? Wer, zum Teufel, braucht an Bord dieser Galeone Parfüm? Sie etwa?« »Für mein Tüchlein, mon ami«, sagte Ribault ernsthaft. Mitchell schniefte. Er ergriff ein eigenes Tüchlein, nicht so kostbar wie das des Franzosen, und schneuzte sich kräftig. »Gut, noch ein Liter Parfüm. Ich bin ohnehin pleite. Brauchen Sie noch ein neues Schiff, Sir, oder tut’s der Kahn noch? Vielleicht fehlen Ihnen auch noch neue Segel oder ein paar Masten.« »Segel?« Ribault runzelte die Stirn. »Sie bringen mich da auf eine Idee, mein Guter.« »Ich hab keine Segel«, jaulte der Dicke. »Und ich hab auch kein neues Schiff und erst recht keine Masten. Lassen Sie es gut sein, Sir, sonst muß ich betteln gehen.« Schwankend bedeutete er seinen Gehilfen, jetzt endlich mit dem Abladen des verdammten Tabaks zu beginnen. Die beiden Kerle waren genauso verdattert wie Mitchell selbst. Der ganze Vorgang hatte ihnen die Sprache verschlagen. Mitchell sah nicht so aus, als ob er sich von dem »Geschäft« jemals wieder erholen würde. Ribault tat er fast ein wenig leid, wie er so dastand, krampfhaft vor sich hin starrte und wahrscheinlich überlegte, ob er an dem Tabak jemals soviel verdiente, wie er ausgegeben hatte. Er trat auf den Dicken zu, klopfte ihm jovial auf die Schulter und tat dann etwas, das er zuvor mit Ben Brighton
abgesprochen hatte. Es war mehr oder weniger ein Versuch, ein Experiment, mit dem er gleichzeitig seine Großzügigkeit unter Beweis stellen konnte, zum anderen aber etwas Wichtiges erfahren würde. Er griff in die Tasche, brachte eine atemberaubend schöne Perle von der Größe einer Erbse zum Vorschein und überreichte sie Mitchell mit einer kleinen lässigen Verbeugung. »Auf unser Geschäft, Monsieur. Und dies hier überreiche ich Ihnen für die Frau Gemahlin.« Mitchell, der schon wieder an eine neue Teufelei des Franzosen glaubte, trat einen Schritt vor, starrte die Perle an und nahm sie dann andächtig in die Hand. Er sah nicht, daß überall an Bord Männer neugierig zu ihm herübersahen. Man wartete auf die Reaktion. Begeisterte sich der Dicke daran, oder nahm er es als selbstverständlich hin? Würde er die Perle achtlos in die Tasche stecken? Ribault sah voller Spannung, wie der Dicke die Perle gierig an den Mund führte. Seine kleinen spitzen Zähne bissen zu, um die Echtheit zu prüfen. Er holte sie wieder hervor, besah sie sich. Die Perle wies nicht den geringsten Kratzer auf. Da glitt ein Strahlen über das feiste Gesicht, wie es die Sonne selbst nicht besser hätte hervorzaubern können. Beglückt starrten seine Schweinsäuglein die kleine Kostbarkeit an. »Sir, ich bin gerührt, Sie haben mich glücklich gemacht mit dieser Kostbarkeit.« Impulsiv schritt er auf den Franzosen zu, ergriff dessen Hände und schüttelte sie ihm fast aus den Gelenken. Ribault nickte nur. Seinen hervorbrechenden Grimm tarnte er geschickt durch ein paar höfliche Worte. Da der Dicke vor Höflichkeit schier zerfloß, mußte die Perle einen ganz gehörigen Wert darstellen. Er sah, wie Mitchell das Kleinod vorsichtig in die Wesentasche gleiten ließ und besorgt hinterherschielte, damit es auch ja nicht verlorenging. Verdammt! dachte Ribault. Wenn diese kleine erbensgroße
Perle schon so einen großen Wert darstellte, wie mochte es dann erst mit der Ladung sein, die im Bauch der ›Isabella‹ lag? Damit konnte man nicht nur ganz England kaufen, sondern auch noch einige andere Länder dazu. Die Perle schien dem Dicken noch wertvoller zu sein als der Tabak. Immer wieder betastete er seine Westentasche, um sich davon zu überzeugen, daß das Ding noch da war. Ribault hätte also unbesorgt seine unverschämt scheinenden Forderungen noch höher schrauben können, zumindest was die Naturalien betraf. Er hätte noch zwei Schweine und einen ganzen Mastochsen dazu verlangen können. Andererseits wußten sie jetzt ungefähr, wie sie dran waren. Immerhin war es eine gute Lehre für sie alle gewesen, besonders für jene, die Ribault wegen seiner Unverschämtheit am liebsten verprügelt hätten und sie für maßlos übertrieben gehalten hatten. Ribault beschloß, seinen Grimm nicht zu zeigen. Immerhin hatten sie ebenfalls ein gutes Geschäft abgeschlossen 3. Am späten Nachmittag hatten sich auch einige Schaulustige eingefunden, die am Hafen herumlungerten. Das gelöschte Schiff hinter ihnen setzte die Segel und glitt aus dem Hafen hinaus. Der Wind blies nur noch mäßig. Am Himmel jagten sich graue Wolken, die sich hinter der Kimm zu Bergen auftürmten. An Deck war Ferris Tucker damit beschäftigt, Gitterkäfige mit Nesteinlagen zu zimmern. In einer halben Stunde wollte Mitchell die lebenden Hühner bringen lassen. Da kamen die beiden Gehilfen des Dicken bereits mit der ersten Ladung an Bord. Ben Brighton sah mit Behagen, wie alles ausgeladen, an Deck
gebracht und von dort aus in den jeweiligen Räumen verstaut wurde. »Dem Kutscher würde das Herz überlaufen, wenn er das sehen könnte«, sagte Ben. »Und ich glaube, auch der Seewolf hätte anerkennend genickt.« Er schlug Ribault auf die Schulter und lächelte ihn an. »Du hast deine Sache großartig hingekriegt, Jean. Der Liter Parfüm hat allem die Krone aufgesetzt. Glaubst du, der Dicke hat uns jetzt immer noch beschissen?« »Natürlich hat er das. Die Perle muß den Ausschlag gegeben haben. Als er die erhielt, war er wie umgekrempelt. Also kennt er den Wert genau, während wir ihn nicht einmal annähernd schätzen können. Ein wenig ärgert mich das.« »Laß es gut sein, Jean. Wir haben Proviant und englische Pfund. Ich denke, wir werden etwas davon unter der Mannschaft verteilen. He, Ferris!« rief er. »Wie weit bist du mit den Käfigen?« Tucker hob den Schädel. Er grinste über beide Ohren, als der Profos vorbeistolzierte und Ribault nachzuahmen versuchte. »Gleich fertig!« brüllte er zurück. »Wie sieht es mit dem Trinkwasser aus?« »Das besorgt der Hafenkapitän. Wir können es nachher stauen.« »Da kreuzt der Dicke auf«, sagte Ben. »Ich verhol mich besser und werde dafür sorgen, daß Old Shane und Donegal sich nicht aus Versehen an Deck zeigen, sonst platzt unser Spiel. Im übrigen bist du hier der maßgebende Mann an Bord, solange wir im Hafen liegen.« Ribault nickte. »Wir sollten heute abend ein kleines Besäufnis starten.« Ben Brighton schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Ich will heute noch auslaufen. Und die Schaluppe müssen wir auch noch mitnehmen. Wenn du unbedingt meinst, daß es ein kleines Besäufnis geben muß, dann fang gleich damit an. Und
paß auf, daß unsere Leute nicht zuviel saufen. Ich brauche klare Köpfe. Später können wir unter uns eine kleine Feier veranstalten.« Ben Brighton entfernte sich jetzt endgültig, als Mitchell auf Jean Ribault zusteuerte. Liebenswürdig-verschlagen grinste er den Franzosen an und klopfte ihm mit seinen fetten Patschhändchen immer wieder auf die Schulter. »Merde«, sagte er liebenswürdig. »Ich bin stolz, Sie kennengelernt zu haben, Sir. Sie sind ein guter Geschäftsmann. Hart, aber seriös. Wir sollten diese Beziehungen nicht erkalten lassen.« Klar, dachte Ribault. Der Bursche witterte noch weitere Perlen. Mitchell griff in die Brusttasche und übergab Ribault die zweitausend englischen Pfunde mit einer kleinen Verbeugung. »Sehr liebenswürdig, Monsieur«, sagte Jean. »Ich bin sicher, daß wir diesen Hafen noch öfter anlaufen werden.« Während sie sich zwanglos unterhielten, wurde weiter ausgeladen. Die Fuhre mit den Hühnern traf ein, und es gab noch eine aufregende Jagd an Bord, als zwei entwichen und umherflatterten. Sie wieder einzufangen, kostete einige Mühe, zumal hauptsächlich Arwenack sich an der Jagd beteiligte. Hatten die Hühner sich endlich erschöpft gesetzt, fegte der kreischende Affe in seiner Seemannskleidung an und scheuchte sie durcheinander. Dabei bleckte er das Gebiß und gab schrille Töne von sich. Endlich gelang es Tucker, die zwei einzufangen und in den Käfig zu sperren. Inzwischen wurden Fässer mit Trinkwasser an Bord gemannt, für die der Hafenkapitän gesorgt hatte. »Darf ich Sie zu einem kleinen Umtrunk bitten, meine Herren?« erkundigte sich Ribault mit ausgesuchter Höflichkeit. Er durfte. Er bat die Herren aufs Achterkastell in Hasards Kammer.
Stubbs nahm stolzgeschwellt am Tisch Platz, Garret setzte sich neben ihn, und der dicke Mitchell richtete es so ein, daß er dicht neben seinem neuen Geschäftspartner saß. Um das Ganze entsprechend zu krönen, latschte der Profos Carberry wie ein Lakai umher und goß spanischen Wein in die Krüge. Ribault behielt sein affektiertes Benehmen bei. Carberry blieb ebenfalls in seiner Rolle, die ihn mächtig erfreute. Kein Gedanke mehr daran, Ribaults Affenarsch in Striemen zu schneiden. Der Profos sorgte schon dafür, daß er nicht zu kurz kam. Immer wenn er einschenkte, goß er sich selbst unauffällig einen hinter die Binde. »Auf die Zukunft!« sagte Mitchell. Sie tranken auf die Zukunft, die sie wahrscheinlich nie wieder in diesen Hafen bringen würde. Ribault zwinkerte Carberry zu. Sofort goß der Profos die Krüge nach. »Der Dicke muß voll werden«, raunte er ihm zu, woraufhin der Profos nur nickte. Der Dicke würde mit Sicherheit voll werden, ebenso wie die anderen, damit keiner mehr dumme Fragen stellen konnte. Mitchell griff in die Tasche, holte vier Tonpfeifchen hervor, die er von Ribault erhalten hatte, und reichte dann feierlich ein paar Blätter Tabak herum. Gleich darauf erfüllte würziger Duft die Kammer von Hasard und kräuselte sich zur holzvertäfelten Decke. Den Dicken mußte es eine ungeheure Überwindung gekostet haben, das Zeug auszugeben und jetzt in Brand und Rauch aufgehen zu sehen. Carberry schenkte wieder ein. Bei Ribault war er vorsichtiger, dem goß er den Becher nur immer knapp halbvoll, wie der Franzose es angeordnet hatte. Nach der vierten Lage spanischen Weines fing der Hafenkapitän an, ständig zu grinsen. Sagte jemand ein Wort,
dann kicherte Stubbs los, als hätte er soeben den besten Witz vernommen. Der Bürgermeister schwankte leicht auf seinem Stuhl. Die Augen starr geradeaus gerichtet, fixierte er einen Punkt an der Wand. Der spanische Wein hatte es in sich. Mitchell versuchte, sich gerade zu halten, aber das fiel ihm unsagbar schwer. Vor seinen Schweinsäuglein begann sich die Kammer zu drehen. Die Wände stellten sich auf den Kopf, und es dauerte eine geraume Weile, bis sie wieder ihren normalen Zustand annahmen. Er rülpste laut und kriegte dann Schluckauf. Stubbs lachte jedesmal. »Wir - wir heben noch einen«, grölte Mitchell mit schwerer Zunge. »Oui, Monsieur, wir trinken noch einen.« »Ein - ed - edler Tropfen. Wie Blut so dick«, lallte Mitchell. Die anderen gaben ihm recht. Sie lobten den spanischen Wein über alle Maßen. Wieder schenkte der Profos nach. Und wieder stellte er sich vornehm mit dem Gesicht zur Wand, um einen Becher zu leeren. Nach der achten Runde schwoll Mitchells ohnehin teigiges Gesicht noch mehr auf, bis es an eine Wasserleiche erinnerte. Er hatte grüne Flecken im Gesicht, dazu wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Er riß sich die Weste auf, japste nach Luft, blies die Backen auf und glotzte Ribault an. Sein Oberkörper schwankte hin und her. »Wir - wir trinken noch einen«, lallte er, und die anderen stimmten grölend zu. Stubbs begann das Lied vom Seemann zu grölen, der im Haifischrachen gelandet war und den der Hai brockenweise auskotzte, weil der Seemann so ein schlechter Mensch war, daß ihn nicht einmal die Haie fraßen. Das Lied hatte acht Strophen, dann schwamm der Hai mit
dem Bauch nach oben im Wasser. Er hatte sich an dem Seemann vergiftet. Ribault sah sich um. Er grinste dem Profos zu. Der goß jetzt unaufgefordert ein. Garret saß wie ein Stock zwischen ihnen. Er konnte kein Wort hervorbringen, so voll war er. Draußen an der frischen Luft würden die Burschen noch ihr blaues Wunder erleben, denn sie soffen mit aller Gewalt, was in die Hälse hineinging. Ribault wurde es jetzt langsam zuviel. Das Gegröle ging ihm auf die Nerven, ebenso wie die Manieren Mitchells, den die fliegende Hitze gepackt hatte und der so aussah, als würde er jeden Moment an Herzversagen zusammensinken. Warum gab Ben Brighton nicht das Zeichen zum Aufbruch? Als hätte er ihn gerufen, klopfte es an die Kammer. In dem Lärm war das harte Pochen kaum zu hören. Da trat Ben Brighton ein, sah die Männer, schüttelte sprachlos den Kopf und staunte nur noch. Keiner der drei war wiederzuerkennen. Mitchell, Stubbs und Garret waren total betrunken. Ihre Köpfe waren knallrot und aufgeplustert. Sein Gesicht blieb jedoch ernst und ausdruckslos. »Grandseigneur«, meldete er. »Wir sind mit der Übernahme der Ladung fertig.« »Ah bon. Merci!« »Merde!« brüllte Mitchell. Der Hafenkapitän und der Bürgermeister stimmten in den Schlachtruf ein. »Merde!« erscholl es von allen Seiten. »Messieurs«, erinnerte Ribault seine Gäste. »Wir müssen leider auslaufen. Das Schiff ist seeklar.« »Wir - wir saufen noch einen«, lallte Mitchell monoton. Den Sinn seiner Worte begriff er schon gar nicht mehr. Ribault stand auf und nickte höflich. Da kapierten sie so langsam, einer nach dem anderen und erhoben sich ebenfalls taumelnd. Nur Mitchell, wollte immer noch nicht gehen. Er wiederholte
seinen sinnlosen Spruch immer wieder. Der Profos nahm seinen Becher und füllte ihn noch einmal bis zum Rand. Dann grinste er ihn an. »Ein Mann, ein Schluck, Sir!« sagte er. Das ließ sich der Dicke nicht zweimal sagen. Ribault mußte ihn stützen, als er den Becher an die Lippen setzte. Die Hälfte des roten Weins rann ihm übers Kinn in den Hemdkragen. Der Rest gelangte tatsächlich in seinen Hals. Den Bürgermeister hievten sie als ersten an Deck. Er stand da wie ein abgebrochener Fockmast. Dann wollte Carberry den Dicken in Schlepp nehmen, aber Ribault schob ihn fort. »Um unseren großzügigen Geschäftspartner werde ich mich selbst kümmern«, ließ er Carberry wissen und zwinkerte mit den Augen. »Nimm du lieber den Kapitän.« Es war nicht leicht, die Männer an Deck zu lotsen. In Mitchells Magen gluckerte es verdächtig, und dieses Gluckern schlug bis zu seinem Hals hoch. »Hoffentlich kotzt er - nicht noch das Deck voll«, brummte Carberry. Aber der Dicke behielt den Alkohol unten, wenn auch mit sichtlicher Anstrengung. Er hing wie ein nasses Rahsegel in Ribaults Griff, der alle Mühe hatte, ihn über die Treppe zu bringen. Immer wieder strauchelte er und stützte sich schwer gegen den Franzosen. »Nur langsam, mon ami«, sagte Ribault. »Bleiben Sie stehen, ich werde Sie stützen.« Ribault legte ihm beide Hände auf die Schultern. Der massige Mann fiel bald vor, bald zurück, aber immer kurz bevor er endgültig umkippte, hatte Jean ihn wieder im Griff. Seine Hand tastete sich von der Schulter abwärts, bis zu Mitchells Bauch. Während er ihm beruhigend zuredete, glitten zwei seiner Finger in die Westentasche des Dicken. »So, mon ami, das hätten wir geschafft«, sagte er doppeldeutig, als er den Dicken endlich an Deck hatte. Dort
stand Stubbs, schwankend wie ein Großmast im Orkan und stimmte wieder das Lied vom Haifisch und dem Seemann an. Nur brachte er die Verse nicht mehr richtig zusammen. Mit Hilfe der anderen standen die drei Männer endlich an Land. Stubbs sang jetzt mit voller Lautstärke. Diesmal war es der Seemann, der den Hai gefressen hatte und schließlich daran einging und starb. Mitchells Gehilfen luden ihren stinkbesoffenen Herrn in die Kutsche, packten den Bürgermeister dazu und fuhren los. Stubbs blieb einsam an der Hafenmauer stehen. Ein paar Leute, die sich um ihn bemühten, brachten es nicht fertig, ihn auch nur von der Stelle zu bewegen. Er stand da und sang, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts Schöneres als das Seemannslied. An Deck der ›Isabella‹ herrschte jetzt eine emsige Tätigkeit. Die Segel wurden gesetzt und begannen sich unter dem leichten Wind zu füllen. Das Tauwerk knarrte und ächzte. Die Leinen wurden losgeworfen. Ganz langsam legte die ›Isabella‹ ab und bewegte sich in ihrem Element vorwärts. Und am Hafen stand immer noch Stubbs, voll wie tausend Hafenstauer und brüllte seine schmutzigen Lieder in den Wind. Die ›Isabella‹ nahm Fahrt auf. Ganz schwach vernahmen sie etwas später noch Stubbs einsamen Ruf. »Merde!« scholl es übers Wasser. Und aus rauhen Seemannskehlen brüllte es zurück, vermischt mit lautem Gelächter. »Merde!« Dann entschwand die ›Isabella‹ Stubbs verklärten Blicken. * Kaum waren sie aus dem Hafen heraus, als an Deck die Hölle losbrach. Alles drängte sich um Ribault und den Profos, die
ihre Rollen so meisterhaft gespielt hatten. Gelächter brandete auf, die Finger zeigten auf Carberry, der sich jetzt knurrend seiner französischen Kleidung entledigte und seine anderen Klamotten anzog. Ribault ließ die Lobpreisungen geduldig über sich ergehen. »Mann! Dem fetten Mastochsen hast du es aber gezeigt, Grandseigneur«, brüllten sie. »So ist der in seinem ganzen Leben noch nie beschissen worden.« »Da kommt so ein verdammter, karibischer Pirat und haut den schlauen Dicken knallhart in die Pfanne.« Old Shane und Donegal Daniel O’Flynn erschienen ebenfalls an Deck. Da sie nicht alles genau mitgekriegt hatten, wurden die Männer nicht müde, ihnen jede Einzelheit zu schildern. Sie hatten Land’s End gerundet, ehe sich die Begeisterung langsam etwas legte. »Ach, da ist noch etwas«, sagte Ribault und grinste. Er griff in die Tasche, klemmte die geklaute Perle zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie hoch, damit sie jeder sehen konnte. Auf den Gesichtern drückte sich Unglauben aus. Jeder hatte doch genau gesehen, wie Ribault dem Dicken die Perle mit ein paar Worten der Anerkennung gegeben hatte. Und jetzt hielt er sie plötzlich zwischen den Fingern. »Die habe ich dem Dicken wieder abgenommen«, erklärte Jean. »Ich hatte nämlich immer das Gefühl, als hätte er uns doch noch beschissen. Findet ihr das etwa nicht richtig?« fragte er, als die Männer ihn sprachlos anstarrten. Diesmal brandete ein Gelächter auf, das wirklich nur aus der tiefsten Hölle stammen konnte. Carberry starrte die Perle an, dann wieder den Franzosen. »Das hast du geschafft?« fragte er ungläubig. »Mann, Grandseigneur, du bist der schlimmste Höllenhund, den ich kenne. Du verdammter Pirat!« brüllte der Profos. Das war keinesfalls als Beleidigung aufzufassen. Wenn der
Profos solche Schmeicheleien von sich gab, dann konnte Jean Ribault sich wirklich etwas darauf einbilden. »Deshalb hast du den Dicken allein die Treppe hochbugsiert«, stellte er voller Bewunderung fest. »Mann, und der hatte doch in der Perle ein ganz großes Geschäft gesehen.« »Man soll eben nie zu voreilig sein«, sagte Jean Ribault und näselte wieder. Sogar das alte Rauhbein, der unverwüstliche alte Vater Dans, begann zu lachen. Das war so ganz nach ihrem Geschmack. Einen übers Ohr hauen, der es zuerst mit ihnen versuchte und schließlich den kürzeren zog. Ribault schnüffelte plötzlich. »Was ist denn das für ein zarter Duft?« fragte er. »Das sind die vier ausgeschlachteten Gänse, die du dem Dickwanst abgeluchst hast«, erklärte Carberry. »Blacky ist gerade dabei, sie zu braten.« Den Männern lief das Wasser im Mund zusammen. Der köstliche Duft zog übers ganze Deck und kitzelte ihre Gaumen. Inzwischen erläuterte Ben Brighton sein weiteres Vorhaben. »Wir holen jetzt die Schaluppe und fahren danach weiter bis zur Whitesand Bay. Dort gehen wir vor Anker. Bis dahin wird es auch dunkel sein.« Was danach kommen würde, brauchte keiner zu fragen. Sie wußten es alle. Und Ben Brighton verkündete es gleich darauf auch noch. »Dort machen wir ein Faß auf«, versprach er. »Wir werden gut essen, noch besser trinken und ein kleines Fest feiern. Heute abend wird das erste Faß angezapft.« Ein Jubel brach los, der kein Ende nahm. Die ganze Crew benahm sich wie verrückt. Zum erstenmal, seit der Seewolf verwundet war, wichen die Sorgen von ihnen. Das Leben schien wieder etwas wert zu sein. Und das alles hatten sie dem verdammten, Karibik-Piraten Jean Ribault zu verdanken - und Ferris Tucker, der die Idee mit
den Tabakballen gehabt hatte. * Die Nacht brach an. Dunkle Wolken standen am Himmel, der Wind sang und pfiff in den Wanten, fing sich in der Takelage und brachte alles zum Klingen. Die Männer störten sich nicht an dem Wind, der zu ihnen gehörte wie das Salzwasser. Sie hatten die Schaluppe geholt, waren in die Whitesand Bay gesegelt und hatten Anker geworfen. Auf der Kuhl stand das Whiskyfaß, das Ben Brighton angezapft hatte. Die ersten Becher kreisten, die gebratenen Gänse wurden verteilt. Es war ein Bild des behaglichen Friedens, der jetzt auf der ›Isabella‹ eingekehrt war. Überall wurde fröhlich geschwatzt, gelacht, getrunken und gegessen, bis Ben Brighton sich erhob, den Whiskybecher in der Hand, und seine Leute der Reihe nach ansah. »Einen Toast auf Philip Hasard Killigrew!« rief er aus. »Einen Toast auf den Seewolf!« »Three cheers für den Seewolf!« erklang es. Alle dachten in diesem Augenblick an ihn, an den schwarzen Teufel, an sein blitzendes Lachen, an den ganzen Kerl, der er war. Trotz aller guter Laune, die jetzt herrschte, dachten sie an ihn und wie sehr er ihnen fehlte. »Den nächsten Toast für den Seewolf!« brüllte Carberry, nachdem sie leergetrunken hatten. Und wieder erhoben sich die Stimmen, brüllten den Namen des Seewolfes über Deck. Das taten sie noch etliche Male. Jeder wollte schließlich an die Reihe kommen und seinen ganz persönlichen Toast anbringen. So toasteten sie sich zu, immer wieder, feuerten sich
gegenseitig an und ließen markige Sprüche los. Weit nach Mitternacht sank der Spiegel des Whiskyfasses erschreckend ab. Und nach zwei weiteren Stunden hatten sich die ersten bereits die Kehlen heiser gebrüllt und konnten nicht mehr. Die ausgelassene Stimmung ging ihrem Ende entgegen. Aber es war eine Feier, die sie sich redlich verdient hatten und schon lange fällig gewesen war. Als die ersten Leute unter Deck verschwanden, taumelnd wie der Hafenmeister von Penzance, standen nur noch der Profos Carberry, Ferris Tucker und Old Shane sicher auf den Beinen. »Wenn wir schon saufen«, grollte Carberry, »dann saufen wir auch richtig. Also noch einen Toast auf den Seewolf. Das verdammte Faß wird doch leer zu kriegen sein.« Seine Vermutung war richtig. Nicht mehr lange und das verdammte Faß war wirklich leer. Es rollte in der Kuhl auf und ab, hin und her, und kein einziger Tropfen lief mehr heraus. Erst dann hauten die Männer sich in die Kojen. 4. Fast zur selben Zeit, als die letzten Männer der ›Isabella‹ die Kojen aufsuchten, erwachte der Seewolf. Im ersten Augenblick begriff er gar nichts. Vor seinen Augen bewegte sich eine gelbe Flamme zuckend auf und ab, schien mal größer, dann wieder kleiner zu werden und erlosch schließlich. Philip Hasard Killigrew wehrte sich gegen das schwarze Nichts, das mit unsichtbaren Händen nach ihm griff und ihn wieder zurückreißen wollte in die Welt aus Finsternis und Stille, in eine unwirklich scheinende Welt des Todes. Es war der Augenblick, in dem sein Geist in schwarzen Gefilden wandelte, dann wieder ins Licht tauchte. Diesmal
blieb er im Licht, im Schein der merkwürdigen Flamme, die ständig zuckte. Weit öffnete der Seewolf die Augen. Sein hartes, männliches Gesicht hatte sich verändert. Es wirkte fast asketisch. Die Wangenknochen waren stärker hervorgetreten, unter seiner natürlichen Bräune schimmerte die Haut fahl und ungesund. Und er hatte abgenommen, er war mager wie ein ausgehungerter Wolf. Aber seine Augen blickten jetzt klar. In diesem Moment blickte Gwendolyn Bernice Killigrew, die erst kürzlich angetraute Ehefrau des Seewolfs, in sein Gesicht. Gwen, die Schwester von Donegal Daniel O’Flynn, dem Bürschchen, fühlte, wie ihr vor Freude fast das Herz aussetzte. »Hasard!« sagte sie mit erstickter Stimme. Da war wieder dieses merkwürdig flackernde Licht. Aber jetzt erkannte der Seewolf es deutlich. Es rührte von einer Öllampe her, die auf einem Tisch stehen mußte. Sein Kopf drehte sich ein wenig. Auf seinen schmalen Lippen erschien seit langem das erste Lächeln. Gwen atmete auf. Wie hatte sie auf diesen Augenblick gewartet! Wie hatte sie ihn herbeigesehnt, gebetet, daß Hasard endlich die Augen aufschlagen möge. Und jetzt war es soweit. Der Seewolf war aus seiner lange andauernden Bewußtlosigkeit endlich erwacht. Liebevoll beugte sie sich über ihn, strich ihm über das Gesicht, drückte ihre heißen Lippen an seinen Mund, seufzte vor Erleichterung. Die große Angst wich von ihr, diese fürchterliche Angst, daß er vielleicht nie mehr erwachen würde. »Gwen!« Seine Stimme klang noch brüchig, etwas heiser, und sein Gesicht, das in den Kissen ruhte, wirkte eingefallen. Aber die Hauptsache war, daß er wieder die Augen aufgeschlagen hatte. Nur das zählte jetzt für Gwen. »Wo bin ich, Gwen?«
Diese Stimme! Wie sie diese Stimme liebte, die schon nach den ersten zwei Worten wieder fester wurde. »Du bist in Sicherheit, Hasard. Nur das zählt jetzt. Und du wirst wieder gesund, Liebster.« Der Seewolf drehte den Kopf noch weiter nach links. Alles um ihn herum war fremd, anders. Es war ein kleiner Raum, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, Schnell sah er zur anderen Seite, Dort standen ein kleiner Schrank, ein Tisch, zwei Stühle. Seine Augen wurden groß und rund. »Wo ist mein Schiff?« fragte er. »Und wo, zum Teufel, sind meine Männer?« Gwen lächelte ihn an. Ihr Gesicht bedeckte sich mit hektischer Röte. »Wenn du schon wieder Kraftausdrücke gebrauchst, Liebster, dann ist das ein sicheres Zeichen, daß du bald ganz hergestellt bist. Bleib ruhig liegen, rege dich nicht auf, ich werde dir alles der Reihe nach erklären. Hast du Durst?« »Durst? Und wie, mein Schatz. Ich scheine jahrelang nichts getrunken zu haben.« Er sah, wie aus ihren grünen Augen zwei Glückstränen flossen, bis zu den Wangenknochen liefen und dann auf den Boden kullerten. Schnell stand sie auf und gab ihm aus einem Becher klares Wasser zu trinken. Sie führte ihm den Becher an den Mund und sah atemlos vor Glück zu, wie er gierig trank. »Wie fühlst du dich, Lieber?« »Ich glaube, mir geht es ganz gut. Aber wo bin ich? Mir ist, als wäre alles ausgelöscht. Ich kann mich an nichts erinnern.« »Kannst du dich daran erinnern, daß du der Galeone beigestanden bist, die dein Vater, Sir John, führte?« fragte sie zaghaft. Der Seewolf dachte nach. Es fiel ihm schwer, die Erinnerung hervorzukramern. Immer wenn er glaubte, einen Faden
gefunden zu haben, griffen schwarze Nebel danach und entrissen ihm diesen Faden. Seine Augen schienen durch die Decke hindurchzublicken in weite Fernen. Aber der Blick war klar und nicht getrübt. Dann fiel es ihm ganz plötzlich ein. »Natürlich!« Hasard setzte sich mit einem Ruck auf, aber diesmal wurde Gwen sofort energisch. Sanft drückte sie ihn in die Kissen zurück. »Du mußt liegen bleiben, versprich es mir!« »Gut, ich verspreche es«, sagte der schwarzhaarige Mann. »Aber jetzt fällt es mir tatsächlich wieder ein. Wir standen in der Nähe von Cap da Roca, als das Unglück begann. Kanonendonner, wir segelten darauf los, dann entdeckten wir die Galeone und darauf meinen verdammten Alten, der sie führte.« »Und John Malcolm«, half sie seiner Erinnerung nach. »Richtig, meinen Bruder John, das verdammte Ferkelgesicht. Wir haben Schiffe versenkt und dann ...« Plötzlich war alles wieder leer in seinem Schädel. Wie ein großes schwarzes Loch. Verblüfft griff sich der Seewolf an den Kopf. »Von da an weiß ich nichts mehr«, sagte er enttäuscht. »Von da an ist alles wie abgeschnitten.« »Mehr kannst du auch nicht wissen, Hasard. Als die letzte Karavelle auseinanderflog, wirbelte eine Rah durch die Gegend. Sie traf deinen Kopf und warf dich um.« »Erzähle weiter«, bat der Seewolf erregt. »Was passierte danach? Ich muß alles wissen.« »Immer schön der Reihe nach, sonst bringst du alles durcheinander. Ben Brighton übernahm das Kommando. Sir Johns Männer wurden an Bord genommen, weil seine Galeone unterging. Wir segelten mit Kurs Plymouth. Unterwegs wollte dein Vater Ben Brighton überreden, die Beute mit ihm zu
teilen. Aber er lehnte ab. Sir John wollte den Befehl über die ›Isabella‹ ertrotzen. Es kam auch zu einer Auseinandersetzung, die deine Leute für sich entschieden.« Sie machte eine kurze Pause, in der ihr Blick liebevoll sein Gesicht streichelte. »Weiter!« bat Hasard, der gespannt lauschte. »Wo war ich? Bewußtlos in der Koje?« »Ja. Batuti und Old Shane hielten Wache, und ich war sowieso immer bei dir. Und dann ...« Sie brach plötzlich ab und verbarg das Gesicht in den Händen. Der Seewolf betrachtete seine junge Frau ungeduldig. Was war denn Schlimmes passiert, daß sie jetzt so verstört wirkte? »Dann wollten sie dich umbringen, Liebster!« »Mich umbringen? Wer?« »Dein Vater und dein Bruder«, schluchzte Gwen. »Es war furchtbar, schrecklich.« Hasard richtete sich wieder auf. In seinem Schädel begann es zu pochen und zu klopfen, und sekundenlang schien sich der ganze Raum um ihn zu drehen. Dann sah er wieder klar. »Mein sogenannter Vater«, sagte er verächtlich. »Und mein Bruder. Das würde den beiden ähnlich sehen.« »Batuti schlug Sir John nieder. Und - und Old Shane hat John Malcolm umgebracht.« Das riß den Seewolf buchstäblich in die Höhe. Fassungslos sah er auf seine Frau, die den Kopf gesenkt hielt. »John ist tot?« »Ja, Hasard.« Langsam ließ sich der Seewolf in die Kissen zurücksinken. Das waren Nachrichten und Überraschungen, die er erst verdauen mußte. Big Old Shane, der Schmied von Arwenack, hatte also das getan, was er schon vor langer Zeit geschworen hatte: John Malcolm umzubringen. Hasard schüttelte den Kopf.
Hoffentlich war Old Shane sich über die folgenschweren Konsequenzen klar, einen Erstgeborenen der Sippe Sir Johns umzubringen. Was das alles nach sich ziehen würde. Und Old Shane hatte es für ihn, den Seewolf, getan! Hasard preßte die Lippen zusammen. »Soll ich aufhören, Hasard? Es strengt dich zu sehr an.« »Nein, nein«, sagte er hastig. »Sprich weiter, ich kann das vertragen. Du weißt, daß mich so schnell nichts umwirft.« »John wurde der See übergeben. Dann ging erneut der Streit los. Brighton hat ein Protokoll aufnehmen lassen, aber Keymis hat überall verkündet, Old Shane habe Malcolm wegen Erbstreitereien hinterrücks ermordet. Deine Männer waren nur schwer davor zurückzuhalten, diesen Kerl an der nächsten Rah aufzuhängen.« Das konnte der Seewolf sich bildlich vorstellen. Seine grundehrlichen und anständigen Männer, die für ihn durch die Hölle gingen, waren kaum noch zu bändigen gewesen. »Schade, daß sie es nicht getan haben. Der Kerl hatte es nicht anders verdient. Und dann?« »Wir liefen am zehnten Februar in Plymouth ein. Ben Brighton ließ dich dann sofort zu Sir Freemont bringen. Und hier bist du jetzt noch. Ich denke, Sir ...« Ein leises Klopfen ertönte. Gleich darauf öffnete sich die Tür. Der Kutscher trat ein. Hinter ihm tauchte Donegal Daniel O’Flynn auf, das Bürschchen, der jüngste der Crew, aber ein ganzer Kerl. »Wie geht es Hasard?« fragte der Kutscher, der das Gesicht des Seewolfs nicht sah, weil Gwens Oberkörper es verdeckte. »Verdammt gut!« erklang Hasards Stimme. Der Kutscher zuckte zusammen. Das Bürschchen machte einen Satz nach vorn, so schnell wie Arwenack sonst immer in die Wanten flitzte. »Verflucht und zugenäht!« schrie das Bürschchen gerührt.
»Da soll mich doch gleich der Satan persönlich braten.« Er schniefte ein wenig, aber damit wollte er nur seine Rührung überspielen, deshalb fluchte er gleich noch weiter. Der Kutscher ergriff Hasards Hände und quetschte sie. Das Bürschchen riß ihm fast den Arm aus der Schulter vor Begeisterung. Wenn der Seewolf wach war, dann war er auch wieder gesund, war seine Meinung. Und wenn er gesund war, dann würde hier auch bald einiges umgekrempelt und auf den Kopf gestellt werden. Das Bürschchen reckte sich angriffslustig. »Jetzt wird alles gut«, versicherte er immer wieder. »Langsam, Dan«, unterbrach Gwen seine Begeisterung. »Hasard ist erst vor ein paar Minuten erwacht. Er braucht Schonung und vor allem viel Ruhe.« »Aber er hat doch die Augen auf und spricht wieder!« Zum ersten mal grinste der Seewolf und zeigte seine weißen, blitzenden Zähne. »Ich halte es bestimmt nicht mehr lange im Bett aus, Dan. Ich will mir nur noch anhören, was in der Zwischenzeit geschehen ist, damit ich informiert bin.« In diesem Augenblick öffnete sich erneut die Tür, und Sir Anthony Abraham Freemont erschien. In den Augen des Arztes leuchtete es auf, als er sah, daß Hasard bei wachem Bewußtsein war. Gleichzeitig registrierte er die Freude, die in dem kleinen Raum herrschte. Freemonts graue Augen musterten den Patienten, der ihm dankbar entgegensah. Sein schmales Gesicht und die leichte Abgezehrtheit hatten nichts zu bedeuten, unter diesen Umständen war das ganz normal. Das würde sich nach ein paar Tagen wieder legen. »Es freut mich aufrichtig, Sie wach zu sehen«, sagte er. »Ich hatte es eigentlich noch nicht erwartet. Haben Sie Schmerzen?« »Keinerlei Beschwerden, Sir Freemont. Ich fühle mich wohl, dank Ihrer Pflege und Fürsorge. Nur ab und zu legt es sich wie
ein dunkler Schleier vor meine Augen.« Freemont nickte verstehend. »Kein Wunder. Ihre Kopfverletzungen waren sehr schwerer Natur. Sie verdanken es nur Ihrer eisernen Konstitution, daß der Genesungsprozeß so schnell fortschreitet. Ich lasse Ihnen gleich etwas zu essen bringen, damit Sie wieder auf die Beine kommen. Ihr Körper ist geschwächt.« Freemont nickte dem Seewolf gütig zu und ging wieder. Er wies die beiden Männer nicht aus dem Raum. Sie sollten den Seewolf nur in aller Ruhe über sämtliche Geschehnisse informieren. Das regte sein Gehirn an und beschleunigte den Heilungsprozeß ganz erheblich. Killigrew hatte die körperliche Verfassung eines Bären, oder die eines Seftwolfes, wie der Doktor bei sich dachte. Etwas Ernstliches würde jetzt kaum noch eintreten. Dan und der Kutscher hockten sich auf den Bettrand. »Laß den Kutscher reden, Dan. Ihr könnt euch ja abwechseln«, schlug Hasard vor, der dem Bürschchen ansah, daß der seine Neuigkeiten so schnell wie möglich an den Mann bringen mußte, sonst würde er daran ersticken. Der Kutscher ließ sich erst einmal erklären, inwieweit Hasard bereits informiert war. »Ja«, begann der Kutscher bedächtig, »Ben Brighton hat die Leute aus Falmouth gehenlassen, und als sie von Bord waren, tauchte die Stadtgarde auf und erklärte unsere Mannschaft für verhaftet. So habe ich es erzählt bekommen, ich war ja nicht dabei.« »Und?« fragte Hasard atemlos. »Hat man sie ...?« »Keine Sorge, Hasard. Ben ließ die Drehbassen augenblicklich feuerbereit machen und hat die Geschütze teils auf Burton und Keymis und teils auf die Garde gerichtet. Carberry und Tucker kappten die Leinen, die Segel wurden gesetzt, und schon war die ›Isabella‹ aus dem Hafen. Die werden ganz schön geglotzt haben, diese verdammten
Halunken.« Der Kutscher lachte. Hasards Gedanken begannen zu kreisen. Die ›Isabella‹ war wieder ausgelaufen? Wohin? Ben Brighton schien sich ja zu einem richtigen Teufel gemausert zu haben. Er war direkt stolz auf ihn. Das Bürschchen ergriff jetzt das Wort. Hasard ließ ihn reden, denn Dan platzte fast. Er schluckte aufgeregt. »Sir John hat eine Karavelle beschlagnahmt, sie mit seinen Kerlen besetzt und ist der ›Isabella‹ sofort hinterher gesegelt.« Jetzt haute es den harten Seewolf doch bald um. Die Neuigkeiten schienen kein Ende zu nehmen. Was war nicht alles in der Zeit, in der er bewußtlos war, passiert! »Dann erreichten Stenmark, Matt Davies, Al Conroy, Gary Andrews und ich die tobende Menschenmenge am Hafen«, berichtete der Kutscher weiter. »Du kannst dir nicht vorstellen, was da los war. Ein unheimlicher Aufruhr! Wir sahen gerade noch das Heck unserer schönen ›Isabella‹ verschwinden. Die Stadtgarde hatte eine unbeschreibliche Wut. Ich schaffte es mit Mühe und Not, hierher in die North Road zu gelangen und Sir Freemont zu warnen. Sie suchten ja jetzt nach dir. Der Doktor hat dich dann verlegt. In diesen Raum hier. Er hat eine Geheimtür, die man nur durch einen Schrank betreten kann. Sir Freemont hat dann den Friedensrichter abblitzen lassen, aber der bestand eisern auf einer Durchsuchung aller Räume.« »Bloß gefunden haben sie dich nicht«, sagte Dan O’Flynn. »Burton hatte eine Stinkwut im Leibe.« Er sah den Seewolf an, dessen Gesicht sich fast unmerklich mit einer leichenfahlen Blässe überzog. »Ist dir nicht gut?« fragte er bestürzt. Gwen trat hinzu und fuhr ihrem Mann mit den Fingern sacht über die Stirn. »Ich hole Sir Freemont«, stieß sie hervor. »Nein, es geht schon wieder.« Hasard griff sich an den Kopf. »Mein Gott, was ist nur alles passiert in der kurzen Zeit. Sie
werden alles dransetzen, um Old Shane zu fassen. Ich kenne doch die Killigrews! Der verdammte Alte gibt keine Ruhe. Der hat eine Teufelei vor. Ich muß mich selbst darum kümmern.« »Bleib liegen!« warnte Dan. Aber der Seewolf hörte ihn nicht. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Hier im Bett hatte er keine ruhige Minute mehr. Er hielt es einfach nicht mehr aus, tatenlos herumzuliegen, während seine Männer ihrem Schicksal entgegengingen. Zum Entsetzen Gwens und der beiden anderen sprang er mit einem wilden Satz aus dem Bett. Er stand noch nicht richtig auf den Beinen, als ihn ein Schwindelanfall mit aller Macht packte. Tausend schwarze Arme griffen aus dem Nichts nach ihm und zogen ihn in einen bodenlosen Abgrund. Der Seewolf taumelte. Er wehrte die Hände ab, die ihm helfen wollten. Auf dem Tisch flackerte die Öllampe, ihr Licht wuchs ins Riesenhafte, bis es mit einem Schlag erlosch. Der Seewolf brach zusammen. Dan und der Kutscher fingen ihn im allerletzten Augenblick auf, bevor er zu Boden stürzte. Gwen stieß einen heiseren Schrei aus. Mit zwei Sprüngen war die schwangere junge Frau an der Geheimtür und riß sie auf, um Sir Freemont zu holen. Sie brauchte ihn nicht zu rufen. Der Arzt kam gerade, um Hasard etwas zu essen zu bringen. »Er ist umgefallen«, berichtete Gwen nervös. »Zusammengebrochen ist er. Helfen Sie ihm bitte, Sir Freemont!« Er schob sie sanft zur Seite und betrat den Raum. Dan und der Kutscher hatten den Seewolf wieder auf das Bett gelegt. Sein Gesicht war noch fahler als zuvor. Sein Atem ging nur ganz flach. Er war bewußtlos. Sir Freemonts Ruhe beeindruckte auch die anderen, die vor lauter Nervosität nicht wußten, was sie zuerst tun sollten.
Schnell untersuchte der Arzt den bewußtlosen Seewolf. Dann richtete er sich auf, fühlte nach dem Puls und schüttelte nach einer Weile lächelnd den Kopf. »Kein Grund zur Sorge, Mrs. Killigrew. Er hat die Krise überstanden. Nur sein Körper hat das alles nicht so richtig verkraftet. Er ist noch geschwächt.« »Er sprang einfach aus dem Bett«, sagte Dan. »Ja, das sieht ihm ähnlich.« Sir Freemont lächelte. »Immer impulsiv, keine Ruhe oder Rast. Das, was er soeben erfahren hat, bringt ihn bestimmt nicht um. Sein Puls ist schon fast wieder normal. Der Mann verträgt viel mehr als jeder andere. Das hier wird seinen Gesundungsprozeß nur beschleunigen. Machen Sie sich also keine Sorgen um ihn, Mrs. Killigrew. Er braucht nur noch ein wenig Ruhe. Alles andere findet sich von selbst.« »Glauben Sie wirklich?« fragte Gwen, die den Tränen nahe war. »Natürlich«, sagte der Arzt mit seiner ruhigen Stimme. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel.« Gwen setzte sich auf den Stuhl, dicht neben das Bett. Ungehindert ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Wenn Sir Freemont das sagte, mußte es auch stimmen, denn sie hatte unbegrenztes Vertrauen zu ihm. Deshalb weinte sie auch nicht aus Angst, sondern vor Glück. »Komm, wir verziehen uns«, brummte der Kutscher. »Im Augenblick passen wir einfach nicht hierher!« 5. Dan O’Flynn betrachtete immer wieder voller Sorge das Gesicht des Seewolfes, der mit geschlossenen Augen in den Kissen ruhte und sich nicht rührte. Zweimal war Sir Freemont erschienen und hatte ihm in seiner
beruhigenden Art versichert, daß nicht zu befürchten sei. Der Heilungsprozeß schreite ganz natürlich fort. Dennoch: das Bürschchen blieb mißtrauisch. Für Krankheiten, die verborgen im Kopf steckten, hatte er kein Verständnis. Da spielte sich alles unsichtbar und unbegreiflich ab, da war etwas Geheimnisvolles drumherum. Deshalb fiel sein mißtrauischer Blick immer wieder auf Hasard. Zuckte auch nur sein Augenlid, so war das Bürschchen schon alarmiert. Bewegte sich der Seewolf einmal, begannen O’Flynns Hände nervös zu zittern. Es ärgerte ihn mächtig, daß er nichts unternehmen konnte. Ja, wenn Hasard von ein paar üblen Typen belagert wäre, dann würde das Bürschchen schon aufräumen und alles zu Kleinholz verarbeiten. Arwenack! würde er brüllen und dann nichts wie drauf! Aber hier? Was konnte er hier tun? Er goß Öl in die kleine Lampe nach und lauschte nach draußen. Aber auf den Straßen blieb alles still. Kein Laut war zu hören. Eine Ruhe herrschte hier, die Dan nicht mehr gewohnt war. So ging eine Stunde nach der anderen dahin. Ab und zu drehte sich der Seewolf herum. Einmal noch erschien lautlos wie ein Gespenst der gute Sir Freemont, lächelte beruhigend und ging wieder. Draußen graute der Morgen. Dan sah nichts davon, weil der versteckte Raum keine Fenster hatte. Aber er hörte es. Ungewohnte Geräusche erklangen, das Leben erwachte. Dan gähnte und reckte die Arme. Und genau in diesem Moment erwachte der Seewolf. Diesmal gab es für ihn keine schwarzen Schatten. Er erwachte, so wie er es auf dem Schiff tat. Schlagartig, sofort hellwach. Er sah Dan, der gerade den Rachen aufriß und ausgiebig gähnte. Schnell schloß er die Augen wieder und drehte sich halb um.
»In den Großmast mit dir, Dan O’Flynn«, hörte er den Seewolf murmeln. Erschreckt fuhr Dan herum. Phantasierte der Seewolf, oder träumte er nur? Das leise Lachen Hasards ließ ihn zusammenfahren. »Ich bin gerade wach geworden, Dan. Mir geht es gut«, sagte er, als er Dans unausgesprochene Frage voraussah. Hasard setzte sich aufrecht hin. Das Bürschchen war immer noch so perplex, daß es kein Wort hervorbrachte. Sprachlos starrte es den Seewolf an. »Glotz mich nicht so an, bring mir lieber was zu essen. Oder denkst du etwa, ich habe keinen Hunger?« Hastig klappte Dan den Mund zu und stand auf. Wenn der Seewolf diese Töne anschlug, dann gehörte er nicht zu den Kranken, sondern nur noch an Deck der ›Isabella‹. Wieselflink fuhr Dan herum, langte nach dem Teller, den Sir Freemont gebracht hatte, und reichte ihn Hasard. »Bitte«, sagte er. Fassungslos sah er zu, wie der Seewolf mit Heißhunger über das Brot herfiel, den kalten Braten verschlang und restlos alles wegputzte, was auf dem ziemlich großen Teller angerichtet worden war. Erst dann blickte er wieder hoch. »So, ich bin halbwegs satt, Dan. Ist noch Wein da?« Verdattert nickte Dan, reichte den Krug herüber und griff nach dem Becher, der daneben stand. »Was soll ich mit einem Becher?« fragte Hasard trocken. Er trank den halbvollen Krug mit ein paar Schlucken leer. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr«, flüsterte Dan. »Ich denke, du bist schwer krank.« »Na und! Soll das vielleicht bis in alle Ewigkeit so weitergehen? Einmal ist damit Schluß! Jetzt fehlt mir nur noch das Ende der Geschichte, damit mir die richtigen Gedanken einfallen. Was gibt es da zu grinsen?« fragte Hasard, als Dans Gesicht sich so verzog, daß die Ohren Besuch bekamen.
»Verdammt, das ist reine Freude, weiter nichts. Heute ist mein schönster Tag. Jetzt geht es bald los!« »Hol den Kutscher, Dan, und sorge dafür, daß meine Frau weiterschläft. Sie hat es nötig. Der Kutscher kennt doch die anderen Einzelheiten, nicht wahr?« »Ich hole ihn sofort!« Hasard reckte seinen Brustkasten. Ein bißchen matt fühlte er sich noch, so wie man sich nach tagelangem Liegen im Bett fühlen mußte. Doch der Wein und das Essen bewirkten wahre Wunder. Der Kutscher erschien gleich darauf in Dans Begleitung. Die beiden Kerle grinsten, als gäbe es eine Extraration Whisky. Der Seewolf schien wieder der alte zu sein, das sah der Kutscher schon an seinen klaren Augen, aus denen eine rastlose Energie sprach. Er schüttelte ihm stumm die Hand. Viele und überflüssige Worte liebte der Seewolf nicht, das wußte er. Die Situation war für ihn einigermaßen klar, seine Krankheit hatte er überwunden, also hatte für die anderen gefälligst auch alles klar zu sein. Und die Rührung, die einen überfiel, die versteckte man am besten nach innen. »Setzt euch! Erzähl weiter, Kutscher, damit wir zum Schluß finden. Mir fehlen ein paar Tage. Wie ging es weiter?« »Ich kann dir nur das berichten, was ich auch erfahren habe, und zwar von anderen. Vier Männer unserer Crew haben eine Schaluppe gekauft, die dem Hafenkapitän gehörte, aber der soll von dem Kauf nichts gewußt haben.« »Das läßt sich später noch regeln.« Hasard winkte ab. »Sie haben also die Schaluppe bemannt und sind der Karavelle gefolgt.« »So war es«, sagte der Kutscher. Herrgott, dachte er. In Hasards Augen blitzte es ständig. Und verdammt gesund war er wieder. Er sah ihm an, daß er am liebsten sofort aufgestanden und seinem Schiff nachgeschwommen wäre.
Der Seewolf überlegte scharf. Das Bild, das sich seinem geistigen Auge bot, war einigermaßen klar. Den Rest mußte er sich zusammenreinem. »Die ›Isabella‹ ist also ausgelaufen«, sagte er. »Ihr folgte gleich darauf die Karavelle mit Sir John an Bord. Dem Verfolger hängte sich die Schaluppe an. Der gute Sir John wird versuchen, die ›Isabella‹ anzugreifen, einmal um seine Rache zu befriedigen, zum anderen, um den sagenhaften Schatz an sich zu reißen. Wenn er aber angreift, dann hat er es nicht nur mit einem Gegner zu tun. Ich kenne doch meine Leute: Die werden dem alten Gauner einheizen und nicht eher Ruhe geben, bis sie ihn auf Tiefe geschickt haben. Oder seht ihr das anders?« »Der verdammte Sir John zieht den kürzeren, Hasard. Ben Brighton läßt den gar nicht erst an sich ran.« »Klar«, sagte das Bürschchen lebhaft. »Den Kampf kann ich mir richtig vorstellen. Der ist schon über die Bühne gegangen. Selbstverständlich zum Nachteil von Sir John.« »Gut, setzen wir das einmal voraus. Ich jedenfalls glaube ganz fest daran. Ben Brighton hat also die Schlacht gewonnen. Nehmen wir dazu noch an, daß sie ebenfalls im Besitz der Schaluppe sind. Was wird er als nächstes tun? Wohin wird Ben sich mit der ›Isabella‹ wenden ?« »Zunächst«, sagte der Kutscher, »war zwischen mir und den Männern, die die Schaluppe gekauft haben, ein Treffpunkt vereinbart worden. Dieser Treffpunkt war Sir Freemonts Haus.« Die sehnigen Finger des Seewolfs zerrten ungeduldig an der Decke, die über ihn gebreitet war. Seine Gedanken liefen Sturm. »Dann wird Ben wahrscheinlich auch nichts unternehmen. Die Beute bleibt an Bord und wird nicht nach London gebracht.« »Natürlich nicht, Hasard. Ben wird abwarten, bis du wieder
gesund bist. Solange wartet er irgendwo. Vermutlich wird er versuchen,, mit uns Kontakt aufzunehmen. Nur wird das sehr schwierig werden, weil Sir Freemonts Haus unter Bewachung steht.« »Immer noch?« »Es lungern merkwürdige Gestalten nachts herum, Leute des Friedensrichters, so nimmt Sir Freemont an.« Hasard wandte sich an Dan O’Flynn, dessen Augen gebannt an des Seewolf s Lippen hingen. »Dan! Wo, glaubst du, wird Ben sich verstecken?« »Das ist schwer zu sagen«, sagte Dan. »Old Shane kennt die ganze Cornwall-Küste wie seine Hosentasche, Aber Sir John kennt sie ebenfalls. Ich kann das nicht einmal vermuten.« »Kannst du eine Karte auftreiben?« »Klar, das kann ich. Vielleicht hat Sir Freemont eine.« »Dann versuch es. Mit Hilfe der Karte haben wir einen besseren Überblick, und ich kann mich auch viel besser in Bens Lage hineinversetzen.« »Aye, aye«, sagte Dan und zog ab. Hasard beriet sich weiter mit dem Kutscher. Der Kontakt zwischen ihnen und den anderen Männern sollte so schnell wie möglich hergestellt werden. Sie wollten keine Zeit verlieren. Den Seewolf hatte das große Fieber gepackt, ein Fieber, das mit seinem Gesundheitszustand allerdings nichts zu tun hatte. Es war Ungeduld. Dan kehrte schon nach ein paar Minuten zurück. In den Händen hielt er eine größere, zusammengerollte Karte. Er breitete sie auf Hasards Bett aus und strich sie glatt. »Hab ich von Sir Freemont. Er hat noch mehr davon, aber das hier ist die beste. Er will später nach dir sehen. Zuerst sollen wir uns ungestört unterhalten, sagte er.« Ein Arzt, wie man ihn kaum noch fand, überlegte Hasard. Der hatte für alles Verständnis, und vor allem hatte er den richtigen medizinischen Durchblick.
Hasards Finger fuhr auf der Karte entlang. Er zeichnete eine unsichtbare Spur an der Küste nach. »Der Süden der Küste ist stark besiedelt, wesentlich stärker als die Nordwestküste. Also wird Old Shane Brighton geraten haben, mehr nach Nordwesten zu laufen.« »Davon wird Sir John auch ausgehen«, sagte Dan. »Falls er noch lebt, oder falls er ein Schiff hat, mein lieber Dan. Und eins von beiden fehlt ihm sicher. Entweder ein Schiff oder sein Leben.« Alle drei beugten sich über die Karte, diskutierten, redeten sich die Köpfe heiß und versuchten, sich in Ben Brightons Lage zu versetzen. Die Auswahl war nicht allzu groß. Andererseits gab es doch eine Menge Verstecke, stille Buchten, in denen sich ein Schiff eine Zeitung verbergen konnte. »Für Ben kommt nur die Küste von der Bude Bay ab in Frage. Ganz oben im Norden kann er genauso gut ein Versteck gewählt haben wie in Port Isaac Bay. Irgendwo dazwischen muß also die ›Isabella‹ liegen.« Hasard starrte die Karte an, als könne sie ihm die Antwort darauf geben. »Eine verdammt lange Küste«, sagte der Kutscher. »Wir können aber wirklich nichts mehr davon einengen. Ich selbst tippe eher auf Bude Bay.« »Ich schätze, er liegt irgendwo in der Mitte«, sagte Dan. »Das nutzt uns alles nichts. Wir müssen es wissen! Sir Freemont hat mir noch zwei, drei Wochen Bettruhe verordnet. Mist! In der Zeit würde ich verrückt werden, wenn ich nicht erfahre, was mit den Männern und dem Schiff passiert ist.« »Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß du noch drei Wochen hier im Bett liegen bleibst«, sagte Dan. »Ich würde so schnell wie möglich aus dem Bett springen.« Der Kutscher warf ihm einen wütenden Blick zu. »Du bist ja auch noch ein verdammter junger Hitzkopf, der nicht viel im Schädel hat. Bei dir wäre es erst gar nicht zu einer Gehirnerschütterung gekommen. Denn wo nichts ist, kann auch
nichts weh tun, nicht wahr?« »Hoho! Was, wie! Wie sprichst du mit mir! Du willst dich wohl mit aller Gewalt auch ein paar Wochen ins Bett legen, he!« Kampfeslustig hielt Dan O’Flynn dem Kutscher die harte Faust unter die Nase und schnitt ein grimmiges Gesicht. Mit seinem »was wie« hatte er Hasard augenblick an Carberry, den Profos, erinnert, den das Bürschchen gern nachäffte. Er lachte leise. Augenblicklich legten die beiden ihren Streit bei. Dan O’Flynn stand auf und reckte sich. So ganz nebenbei sagte er: »Ich werde die ›Isabella‹ suchen. Jetzt gleich! Dann hat die Ungewißheit endlich ein Ende. Mir ist es auch lieber, was zu unternehmen, als hier ewig herumzuhocken. Und ich werde sie auch finden, mein Wort darauf, Hasard! In ein paar Tagen bin ich wieder zurück, und dann werden wir es diesen Bastarden zeigen.« »He, nun mal langsam«, sagte Hasard. Das Bürschchen schäumte wieder einmal vor überschüssiger Kraft. »Du kannst nicht einfach aufstehen und loslegen, Dan. Das muß schon gut überlegt werden.« »Sag ich doch, daß er ein verdammter Hitzkopf ist«, murmelte der Kutscher. »Immer gleich mit dem Schädel durch die Wand!« »Dein Vorschlag ist gut, Dan. Wir werden ihn vorher noch mit Sir Freemont durchsprechen. Danach kannst du versuchen, den Kontakt herzustellen.« »Ich hole ihn sofort.« Schon war der Kerl wieder draußen. Er mußte immer etwas zu tun haben, um ihn herum mußte immer etwas los sein. Wenn es nicht nach Abenteuer oder Aufregung roch, dann war Donegal Daniel O’Flynn nicht zu gebrauchen. In dem eisenharten Kerl steckten ungeahnte Energien. Er eiferte dem Seewolf nach, den er über alles verehrte.
Sir Freemont stand am Fenster, den Rücken der Tür zugekehrt, als Dan nach einem leisen Klopfen eintrat. Freemont drehte sich um. Sein Gesicht war sorgenvoll umwölkt, seine Lippen waren zusammengepreßt. »Was gibt es, Dan? Wie geht’s unserem Patienten?« »Oh, der fühlt sich sauwohl«, sagte Dan, berichtigte sich aber gleich darauf verlegen. »Ich meine, es geht ihm gut, sehr gut. Ich an Ihrer Stelle, Sir, würde ihn aus dem Bett werfen oder ihm befehlen, aufzustehen!« Freemont lächelte belustigt. Die Sorgenfalten verschwanden von seiner Stirn. Er mochte Dan gern, seine herzerfrischende Offenheit war ehrlich, und in der Wahl seiner Worte war er nicht gerade zimperlich. Er sprach das aus. was er dachte. »So einfach geht das nicht, Junge! Mister Killigrew hatte eine schwere Verletzung, eine sehr schwere. Davon kann man sich zwar wieder sehr gut erholen, aber nicht so schnell, daß man sofort wieder sein gewohntes Leben aufnimmt. Wenn man keinen Rückschlag herausfordern will, muß man sich schon noch ein paar Tage schonen. Sonst wird der geschwächte Körper überanstrengt, und das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr?« »Richtig, Sir! Ich dachte nur, weil er so gesund ...« »Schon gut.« Freemont trat ans Fenster und blickte hinaus. Er schob die Gardine nur einen Spaltbreit zur Seite, so daß man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Dan witterte förmlich, daß etwas nicht in Ordnung war. »Haben Sie Grund zur Sorge, Sir?« erkundigte er sich höflich. »Man könnte es Sorge nennen, Dan. Du kannst dich selbst davon überzeugen, aber bewege die Gardine nicht. Na, fällt dir etwas auf?« fragte er, als Dan einen raschen Blick riskierte.
Das Bürschchen hatte die schärfsten Augen an Bord des Schiffes. Dan konnte noch Einzelheiten erkennen, wenn die anderen nur noch schemenhafte Umrisse sahen. »Ja, da draußen schleichen ein paar seltsame Typen herum. Sie sehen ständig herauf. Sie benehmen sich eigenartig.« »Richtig. Die Kerle lungern schon seit Tagen hier herum. Sie versuchen, unauffällig zu wirken, und sie lösen sich auch untereinander öfter ab.« »Sie vermuten immer noch den Seewolf hier«, sagte Dan. »Obwohl sie das ganze Haus durchsucht haben.« Unten auf der Straße begegneten sich gerade zwei Männer. Einer blickte zu Sir Freemonts Haus hoch, der andere tuschelte etwas, dann gingen sie wieder auseinander und nahmen ihre Wanderung auf. In Dan stieg der Zorn hoch. Am liebsten wäre er hinuntergerannt und hätte den Kerlen die Leviten gelesen. Auf seine Art. Er fragte sich, ob Burton es noch einmal wagen würde, das Haus zu durchsuchen. Es wurde immer eiliger, den Kontakt herzustellen, fand er, sonst erwischten sie den Seewolf doch noch. Keymis und Burton steckten dahinter, diese beiden Halunken, dachte er erbittert. »Könnten Sie einen Augenblick zu Mr. Killigrew kommen, Sir? Er wollte etwas mit Ihnen besprechen?« »Gern, Dan, ich freue mich, daß er Initiative entwickelt. Er wird Hunger und Durst haben, ich lasse ihm etwas richten, und du holst es dann gleich in der Küche ab.« »Aye, aye, Sir!« Sir Freemont sah mit Genugtuung, daß es seinem Patienten sehr viel besser ging. Vor allem, und das war das Wichtigste, begann der Seewolf wieder zu denken und zu planen. Er entwickelte eine geradezu hektische Initiative. Er wollte die Ungewißheiten ausräumen, sie klarstellen. Zusammen mit dem Seewolf beugte er sich über die Karte, beriet mit ihm und erklärte sich schließlich einverstanden.
»Sehr gut«, meinte er. »Ich stehe völlig auf Ihrer Seite, Mr. Killigrew und kann Ihnen nur recht geben. Allerdings kann ich Dan erst bei Anbruch der Dunkelheit aus dem Haus lassen. Wir stehen immer noch unter Beobachtung. Dan hat sich davon eben selbst überzeugt. Es sind mindestens drei Männer, die hier herumlungern.« »Was sind das für Kerle?« Das leichte Lächeln auf dem Gesicht des Arztes verschwand. »Man munkelt hier in der Stadt so allerlei«, erwiderte er. »Der Friedensrichter unterhält eine geheime Polizeitruppe, die für ihn schnüffelt und spioniert. Diese Leute treten nie offiziell in Erscheinung, aber sie existieren, sie tun es zu unauffällig, so daß es schon wieder auffallend wirkt.« »Ich verstehe«, sagte Hasard. »Hoffentlich läuft Dan ihnen nicht in die Hände.« »Ich lasse ihn heute nacht durch den Hinterausgang hinaus. Dort habe ich noch niemanden gesehen. Und für Sie wäre es besser, wenn Sie nun eine Weile schliefen. Vorher lasse ich Ihnen noch etwas zu essen und zu trinken bringen. Einverstanden?« »Einverstanden, Sir. Und vielen Dank. Ich stehe hoch in Ihrer Schuld - wir alle«, schloß er. Das gütige Lächeln erschien wieder in dem Gesicht. Bescheiden winkte Freemont ab. »Das ist doch wohl selbstverständlich. Außerdem waren Sie ein interessanter Fall. Also glauben Sie nur nicht, daß ich aus reiner Nächstenliebe gehandelt habe.« Die Worte straften ihn Lügen, das wußte der Seewolf sofort. Freemont hatte mehr den menschlichen als den medizinischen Aspekt gesehen. Er hatte geholfen, und das war wichtig. Es dauerte nicht lange, bis der Seewolf erneut einschlief. Erschöpft schloß er die Augen, nachdem er sich gestärkt hatte. Er würde sich jetzt restlos gesund schlafen, dachte Freemont, als er leise die geheime Tür hinter sich schloß.
6. Draußen dunkelte es, als Sir Freemont dem Bürschchen einen leichten Klaps auf die Schulter gab. O’Flynn hatte voller Ungeduld die Stunden gezählt, die nicht vergehen wollten. Jetzt war es soweit. Sir Freemont hatte ihm einen schmalen Lederbeutel übergeben, der genug Geld enthielt, damit Dan sich überall durchschlagen konnte. Auch mit Proviant hatte der Arzt ihn ausgerüstet. Jetzt öffnete er die Tür, trat hinaus und sah sich um. Auf dieser Seite lag der Platz vor der St.-Peters Kirche. Niemand war zu sehen, wie Freemont erleichtert feststellte, während auf der anderen Seite vor dem Haus immer noch zwei undurchsichtige Typen herumlungerten. »Es scheint alles in Ordnung zu sein«, flüsterte er, als er ins Haus zurücktrat. »Nimm dich trotzdem in acht. Die Kerle könnten sich auch irgendwo versteckt haben.« »Vielen Dank«, wisperte Dan. »Wenn Sie nicht gewesen wären, Sir Freemont, dann ...« »Schon gut. Ich werde dir die Daumen drücken, Dan. Sieh zu, daß du es schaffst. Warte jetzt noch ein paar Atemzüge, bis ich auf der anderen Seite vors Haus gegangen bin.« Der Arzt verschwand. Dan wartete eine Weile. In dieser Zeit versteckte er das Geld an seinem Körper, weil ihm der Lederbeutel zu auffallend erschien. Ein paar Münzen ließ er jedoch darin. Erwartungsvoll starrte er hinaus. Er sah die Silhouette der St.-Peters Kirche vor sich aufragen, hörte einen Wagen über das Straßenpflaster rumpeln und in weiter Ferne das Kläffen eines Köters. Das Bürschchen begann vor Aufregung kampfeslustig zu zittern. Sein hagerer Körper spannte sich. Endlich, endlich, dachte er, konnte er etwas unternehmen.
Er hatte jetzt lange genug gewartet. Sir Freemont war es sicher recht, wenn er jetzt losmarschierte. Er löste sich aus dem Schatten des Hauses, blieb auf dem Bürgersteig und wandte sich nach links, der Hausreihe zu, die den St-Peters-Platz nach links abgrenzte. Die Geräusche der lebenden Stadt umfingen ihn, aber sie schienen weit entfernt zu sein. In einigen Fenstern erkannte er flackerndes Licht. Wieder kläffte ein Straßenköter. Den Weg kannte er. An der Häuserreihe entlang, dann über die Straße, danach über den Marktplatz und dann ... Er wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen, als sich ein Schatten aus einer Türnische löste. Der Schatten blieb kurz stehen und ging dann ein paar steinerne Stufen hinunter zur Straße. Dan marschierte weiter. Er wollte einen kleinen Bogen um den Mann schlagen. Doch der Mann stellte sich ihm ganz überraschend in den Weg. Dan sah die gedrungene Gestalt. Das Gesicht des Fremden konnte er nicht erkennen, er sah es nur als verwaschenen Fleck. »Wer bist du?« herrschte ihn der Mann an. Seine Stimme klang rauh, er schob sich noch dichter an Dan heran. »Ich möchte wissen, was Sie das angeht«, entgegnete das Bürschchen frech. Das mußte einer von Burtons geheimen Polizisten sein, schoß es ihm durch den Kopf. »Ich habe gefragt, wer du bist?« sagte der Bursche. Die Stimme klang nun wesentlich härter und fordernder. Dan mußte zwangsläufig stehen bleiben, weil der andere keinen Zollbreit zurückwich. »Ich hatte Sir Freemont aufgesucht. Ich war als Patient bei ihm.« Jetzt lachte der Bursche hohl und gemein. »Patient? Haha! Du lügst! Ich weiß genau, wer du bist, du Halunke! Du gehörst zur Besatzung dieses verdammten Mörderschiffes. Zu der Killigrew-Clique!«
In Dan stieg der Zorn hoch. Unauffällig sah er sich nach allen Seiten um. Hatte der Kerl noch Begleiter, die irgendwo versteckt in der Dunkelheit lauerten? Es schien nicht so, sonst hätte sich bestimmt einer von ihnen sehen lassen. Dieser Kerl bewachte lediglich den Hinterausgang, während die anderen sich auf der Vorderseite herumtrieben. »Mörderschiff? Killigrew?« fragte Dan verständnislos. »Sie sind ja verrückt, Mann! Den Namen habe ich noch nie gehört. Mörderschiff!« Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Und ein Halunke bin ich noch lange nicht. Wie reden Sie eigentlich mit mir, he?« »Reiß dein Maul nicht so weit auf! Ich weiß es besser. Was wolltest du denn bei Sir Freemont, eh?« Dan blitzte den Unbekannten empört an. »Was will man wohl bei einem Arzt?« sagte Dan scharf. »Man läßt sich behandeln. Und genau das habe ich getan. Sir Freemont hat mich behandelt.« Dan kribbelte es in allen Fingerspitzen. Wenn der Kerl ihn mitnahm, war natürlich alles aus. Dann gab es keinen Kontakt zu Ben Brighton mehr, dann würden sie schnell herausfinden, wer er war. Sie brauchten ihn nur diesem Schweinehund Keymis gegenüberzustellen, der ihn einwandfrei identifizieren konnte. Nein, so weit durfte es auf gar keinen Fall kommen, schwor sich Dan. Vielleicht redete er sich hier mit List und Frechheit doch noch heraus. »Soso, du hast dich behandeln lassen! Was fehlt dir denn? Das sind doch alles nur faule Ausreden.« Das Bürschchen dachte noch weiter. Es ging nicht allein um ihn, sondern um sie alle, um den Seewolf hauptsächlich. Erfuhren sie, wer er war, wußten sie ebenfalls, daß der Seewolf im Haus Sir Freemonts verborgen war. Das war für sie nichts weiter als ein einfacher Gedankengang. Ein zweites Mal würden sie das Haus durchsuchen, und dann mußten sie den
Seewolf finden, wenn sie dort alles auf den Kopf stellten. Was ihnen dann alles blühte, brauchte Dan sich nicht auszumalen. »Ich habe ein Geschwür am rechten Bein«, sagte er kleinlaut. »Sir Freemont nannte es einen Furunkel. Er hat ...« »Vorzeigen!« zischte der Kerl. Er war tatsächlich etwas verunsichert, weil Dan sich so selbstsicher gab. Dennoch wollte er sich genau überzeugen, denn er traute dem jungen Burschen nicht. Dans Gesicht verhärtete sich. Natürlich konnte er keinen Furunkel am rechten Bein aufweisen. Nur ein paar längst verheilte Narben. Alles in ihm schaltete auf tödliche Abwehr. Sollte alles wegen einem solchen Kerl platzen? Sollte alles umsonst gewesen sein? Nein! Dan gab sich einen Ruck. Der Kerl würde ihn nicht mitnehmen. Da hatte Donegal Daniel O’Flynn auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und was für eins! »Bitte! Wenn Sie mir nicht glauben«, maulte er. Er bückte sich und begann sein rechtes Hosenbein hochzukrempeln. »Nun mach schon, verdammt!« tobte der Kerl. Dan blickte giftig hoch und sah dem Mann in die Augen. »Immer langsam«, sagte er. »Erst wird man hier unhöflich angekotzt und dann noch beleidigt. Ich bin ja schon dabei.« Ein letzter Rundblick. Niemand in der Nähe. Nur aus der Ferne rollte ein Wagen heran, schwerfällig knarrend und über das Pflaster holpernd. Dan krempelte weiter sein Hosenbein hoch. Weil es eng war, ging es nicht so schnell. Dann deutete er auf sein Schienbein. »Überzeugen Sie sich!« Er ließ das Bein absichtlich auf dem Boden stehen. Über sein schmales Gesicht huschte ein hartes Grinsen. Der Kerl bückte sich, um den Furunkel zu betrachten. Er hatte den Schädel noch nicht richtig unten, als Dans Knie mit einer Gewalt hochzuckte, in die er alle Kraft legte. Es war
ein furchtbarer, mörderischer Schlag. Der Kopf des Mannes flog hoch, sein ganzer Körper ging mit, hob sich an und wurde fortgeschleudert. Schwer, wie ein nasser Sack, fiel er mit dem Genick auf die steinerne Stufe der Treppe, die er hinuntergestiegen war. Das Bürschchen war explodiert wie eine Ladung Schwarzpulver. Hastig bückte Dan sich jetzt. Daß der Mann für eine Weile bewußtlos war, konnte er sich denken. Diesen Volltreffer hätte nicht mal ein Ochse verdaut. Schnell streifte er das Hosenbein herunter. Da rückte das Geräusch näher, das er vorhin schon gehört hatte. Im ersten Impuls wollte er davonrennen. Aber dann fand der Kutscher des Leiterwagens, der gerade über den St.-PetersPlatz rumpelte, den Bewußtlosen und würde Krach schlagen. Dan starrte das Gesicht an. Da gab es nichts mehr zu retten, überlegte er nüchtern. Der Kopf des Mannes stand in einem unmöglichen Winkel zum Hals. So lag nur einer, der sich das Genick gebrochen hatte. Fieberhaft überlegte das Bürschchen. Wohin mit dem Toten? Was konnte er in dieser kurzen Zeitspanne noch unternehmen? Da hinten rumpelte schon der Wagen heran. Es war ein Leiterwagen, gezogen von zwei schweren Gäulen. Ein einzelner Mann saß auf dem Bock. Wenn der mich hier erwischt! Die Gedanken kreisten, Überlegungen schossen durch sein Hirn. Dan fackelte nicht lange. Es gab nur eine Möglichkeit, und die mußte er so schnell wie möglich ausnutzen. Mit einem Satz war er bei dem Toten. Seine Fäuste griffen zu und rissen die Leiche hoch. In Dans Fäusten steckten exploxive Kräfte, so mancher hatte sich in dem Bürschchen schon getäuscht und seine Kräfte unterschätzt. Er stemmte seinen Oberkörper hoch, schleppte den Toten mit sich und drückte ihn in die Türnische. Dort hielt er ihn aufrecht und lehnte sich mit seinem Körper dagegen, damit der Kerl
nicht umfiel, der den ganzen Ärger heraufbeschworen hatte. Das mulmige Gefühl wurde Dan dennoch nicht los. Heute schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. Der Leiterwagen rumpelte vorbei. Die Gäule schurrten über das Pflaster, der Wagen polterte. Und Donegal Daniel O’Flynn stand da mit der Leiche, eng in die Nische gedrückt. Da kam ihm eine Idee. Ließ er den Toten hier liegen, dann gab es endlose Nachforschungen. Vielleicht brachte man sogar Sir Freemont damit in Zusammenhang. Das konnten sie sich nicht leisten, unter keinen Umständen. Schnell überzeugte er sich, daß niemand in der Nähe war. Bis auf das Kläffen des Köters war alles ruhig. In dem Haus, vor dem er stand, schien sich auch niemand aufzuhalten. Dans Entschluß war schnell gefaßt. Er zögerte nicht länger. Er lud sich den schlaffen Mann auf die Schulter, knickte in den Knien ein und brachte ihn mit einem kleinen Schwung in die richtige Lage, damit er besser laufen konnte. Jetzt hing alles davon ab, ob der Bursche auf dem Bock des Wagens hellhörig war oder nicht. Das Bürschchen tigerte los, die schwere Leiche auf dem Rücken. Der Kerl hatte ein ganz beachtliches Gewicht. Sein Schädel baumelte über Dans Rücken, als hätte er keinen Halt mehr. Und den hatte er ja auch nicht, seit er das Genick gebrochen hatte. Keuchend hastete Dan hinter dem Leiterwagen her. Der Kutscher sah nicht nach links oder rechts. Er schnalzte mit der Peitsche und blickte stur geradeaus. Durch das laute Rumpeln der Räder war kein anderes Geräusch zu hören, wenigstens für den Kutscher nicht, obwohl Dan das Gefühl hatte, seine schweren Schritte müßten meilenweit zu hören sein. Da rutschte er auf dem Kopfsteinpflaster plötzlich aus. Er versuchte noch, sich zu fangen, aber mit der schweren Last war das unmöglich. Er schlitterte, verlor den Halt und unterdrückte
gerade noch einen leisen Aufschrei. Jetzt mußte der Kutscher etwas merken. Oder er war schwerhörig! Die Leiche rutschte Dan von der Schulter und fiel auf die Straße, wo sie sich überschlug und dann liegenblieb. Dans Nerven rebellierten. Er stand auf, keuchend und hechelnd wie ein junger Hund. Schnell blickte er dem Leiterwagen nach. Dieser Trottel von einem Kutscher hatte doch tatsächlich nichts gemerkt. Es war nicht zu fassen. Der Kerl starrte immer noch stur geradeaus und fuhr weiter. Erneut schulterte das Bürschchen die Leiche und setzte zu einem gewaltigen Endspurt an. Die Pferde trotteten zum Glück nicht schnell, und so gelang es ihm nach einer Weile, aufzuschließen und den Wagen zu erreichen. Geduckt schlich er sich heran. Dabei hatte er das Gefühl, als würden ihn tausend Augen aus der Dunkelheit sehen. Hinter jedem Fenster konnte jemand lauern, in den Türnischen konnte einer stehen und ihn beobachten. Jetzt war es ihm egal. Es gab kein Zurück mehr. Mit der einen Hand hielt er sich am Leiterholm fest, ließ sich ein paar Schritte mitziehen und verrenkte den Oberkörper. Der Tote rutschte ab. Mit dem Rücken zuerst landete er auf dem hinteren Teil des Wagens. Der Rest ging besser. Dan brauchte den Mann nur noch in eine Position zu rücken, wo er nicht so schnell wieder herunterfallen konnte. Er schob und drückte, bis der Bursche wie ein Bündel auf dem Leiterwagen lag. Die Beine hielt er jetzt angewinkelt, die Arme über dem Bauch verschränkt. Nur sein Kopf lag noch in dieser seltsam verrenkten Stellung. Unbemerkt tauchte das Bürschchen hinter dem Wagen weg. Mit ein paar schnellen Sätzen überquerte er die Straße und drückte sich dort in eine Toreinfahrt. Er schnaufte. Die Anstrengung hatte ihm doch ganz schön
zugesetzt. Aber die Gefahr war wenigstens fürs erste gebannt. Der Kutscher hatte nichts bemerkt, und auch sonst ließ sich niemand blicken. O’Flynn stand an die Wand gelehnt und lauschte erleichtert dem Hufgeklapper, das sich immer weiter entfernte. Der Abend fing gut an, dachte er. Dann, nachdem er sich etwas ausgeruht hatte, marschierte er weiter und tauchte im Dunkel der Nacht unter. * Der Kutscher, er hieß McDonald und war ein rothaariger halbirischer Dickschädel, hatte nichts bemerkt. Das eintönige Klappern der Hufe und das laute Rumpeln schläferten ihn ein und ließen ihn müde werden. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, und da konnte es nicht schaden, ab und zu ein kleines Nickerchen einzulegen. Die Gäule kannten den Weg zur Mühle fast besser als er. Darum brauchte er sich nicht zu sorgen. Er döste, hörte und sah nichts. Ab und zu schrak er hoch, merkte, daß die Pferde langsamer liefen und schnalzte dann kurz mit seiner Peitsche. Um sich aufzuwärmen, griff er von Zeit zu Zeit in die dicke Jacke, holte eine flache Flasche hervor und nahm einen kleinen Schluck. Das wärmte, ließ aber auch gleichzeitig wieder schläfrig werden. Und so nickte er wieder ein. Es war ein Kreislauf, der sich bis in die späten Nachtstunden hinzog. Endlich blieben die Gäule stehen. McDonald öffnete schwerfällig die Augen. Es war verdammt kalt in dieser Nacht, und weil er fast immer geschlafen hatte, begann er jetzt jämmerlich zu frieren. Vor ihm lag die Mühle. Die riesigen Flügel bewegten sich nicht. Ein unausgeschlafener Müllerbursche schlurfte auf ihn zu und begrüßte ihn mürrisch.
Die Mühle lag weit außerhalb der Stadt. Hier gab es keine Nachbarn, nur das kleine Haus des Müllers, das neben der Mühle lag, hingeduckt wie ein Tier in der Nacht. Es roch nach Mehl und Kleie, und es roch wie immer etwas muffig, stellte McDonald fest. »Hast du einen Schluck für mich?« fragte der Kutscher. »Ist verdammt kalt heute. In sechs Stunden möchte ich gern wieder zurück sein.« »Wenn du mir aufladen hilfst. Ich bin nur mit dem Müller allein. Der Geselle ist krank.« Nach dem ersten kleinen Schluck wurde ein zweiter zur Brust genommen. Danach wollte man mit dem Aufladen der schweren Mehlsäcke beginnen. Der mürrische Bursche, mit schweren Holzpantinen an den Füßen, schnappte sich den ersten Sack und trug ihn hinaus. »Kannst du nicht weiter ranfahren!« brummte er. »Man muß die Säcke doch nicht unbedingt eine Meile weit schleppen.« Vor der Mühle setzte er den Sack auf den Boden. Oben warf der Müller die Säcke in eine Rutsche. McDonald stieg über den Mehlsack, zerrte an den Zügeln und bewegte den Leiterwagen vorwärts, bis er dicht vor der Rutsche stand. Ein paar trübe flackernde Öllampen erhellten gespenstisch einen Teil des Inneren der Mühle. McDonald sah die gewaltigen Zahnräder und einen Teil der Mechanik, die schweren Transmissionsriemen und die Getriebe aus hartem Holz. Alles war mit weißem Mehlstaub überpudert. Die vielen Mäuse, die auf dem Boden hin und her flitzten, störten sich nicht an den Männern. Sie gehörten zum lebenden Inventar der Mühle, die ohne sie undenkbar war. Der mürrische Gehilfe schnappte sich zum zweitenmal den Sack. Mit Schwung warf er ihn auf den Wagen. Dann wollte er sich umdrehen, um zur Rutsche zu gehen, als sein Blick plötzlich starr wurde. Auf dem Leiterwagen lag ein großes Bündel, das ihn
verdammt an einen schlafenden Menschen erinnerte. »He!« brüllte er laut. »Wen hast du denn da geladen? Laß den Kerl wenigstens mithelfen!« »Welchen Kerl?« fragte McDonald mit dümmlichem Gesicht. »Na, den Kerl auf dem Wagen!« »Bei mir liegt kein Kerl auf dem Wagen. Du hast wohl wieder zuviel gesoffen!« brüllte der Kutscher zurück. »Was, zum Teufel, streitet ihr beiden denn?« brüllte der Müller von oben herunter. »Seht lieber zu, daß wir die Säcke aufladen, sonst stehen wir morgen früh noch da!« Der Müllergehilfe, miesgrämig und darauf bedacht, nicht mehr zu arbeiten als unbedingt notwendig, war ohnehin keiner von der feinen Sorte. Er war ein Grobian. »Leck mich am Arsch!« brüllte er den Kutscher an. »Die anderen können schuften, bis sie umfallen, und der Kerl liegt dahinten und pennt, bis wir fertig sind.« Da die Streiterei nicht aufhörte und den Müller oben langsam die Wut packte, setzte er sich in die Rutsche und sauste im gleichen Tempo herunter wie seine Mehlsäcke. »Was ist los, McDonald? Wenn du einen Gehilfen hast, dann laß ihn gefälligst mit anfassen!« »Verflucht«, tobte der Kutscher. »Ich hab keinen Gehilfen. Ich bin allein, ich fahre immer allein.« Der Knecht hatte sich schon eine Lampe vom Haken gerissen und ging zum hinteren Ende des Leiterwagens. Er hob die Lampe, leuchtete erst auf das Gesicht und senkte die Lampe dann. Ihr schwacher Schein beleuchtete eine zusammengekrümmte Gestalt. »Na, was hab ich gesagt!« rief er triumphierend. »Mich soll doch glatt der Teufel holen!« schrie der Kutscher. »Wie kommt der denn auf meinen Wagen?« Mit einem Satz war er heran und hieb dem vermeintlichen Schläfer die Faust unsanft in die Rippen.
»He, du Penner! Runter da!« Der Penner rührte sich nicht. Die Männer sahen sich an. »Besoffen«, sagte der Müller lakonisch. Er ergriff den einen Arm des Mannes und zerrte daran. »Der ist ja schon ganz steif gefroren. Helft mir mal!« Jetzt packte auch der Grobian an und zerrte. Als der andere sich immer noch nicht rührte, wurde es ihm unheimlich. Er packte wieder die Lampe und leuchtete dem Fremden noch einmal ins Gesicht. Gleich darauf ertönte ein ellenlanger Fluch. »Der ist ja tot!« schrie er entsetzt und trat hastig zurück. »Bei Gott, der Kerl lebt nicht!« Der Kutscher stand wie vom Donner gerührt. Zum einen hatte er nicht die geringste Ahnung, wie der Kerl auf seinen Wagen gelangt war und zum anderen wurde ihm jetzt ganz mulmig bei dem Gedanken, die ganze Zeit mit einem Toten durch die Gegend kutschiert zu sein. Fahle Blässe überzog sein Gesicht. Sie brauchten den Mann nicht weiter zu untersuchen, um festzustellen, daß er wirklich tot war. Die Leichenstarre war bereits eingetreten, den Rest hatte die Kälte besorgt. Sein Gesicht war blau angelaufen, alle Glieder waren steif und verkrampft. Sekundenlang herrschte Entsetzen. Abergläubisch waren sie alle drei, dazu kam die Atmosphäre, die um die Mühle herum herrschte, die Abgeschiedenheit, das flackernde Licht, die Zeit vor Mitternacht, in der sowieso nicht alles geheuer war. Der Müller flitzte zitternd in seine Mühle, sein Gehilfe fluchte pausenlos, und der Kutscher stand verdattert vor seinem Wagen und griff sich an den Schädel. Erst nach einem kräftigen Schluck waren sie wieder ansprechbar. »Damit will ich nichts zu tun haben«, verwahrte sich der Müller entschieden. »Der Kerl sieht so aus, als hätte ihm jemand das Genick gebrochen.«
»Oder er ist aus dem Fenster auf den Wagen gefallen«, sagte der Gehilfe, »und hat sich dann den Tod geholt.« »Das hätte ich doch gemerkt«, sagte der Kutscher. Er stand vor einem Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte. »Faßt mal mit an, wir tragen ihn hier ins Licht. Vielleicht können wir feststellen, wer er ist.« »In meine Mühle kommt er nicht«, knurrte der Müller. »Oder glaubst du, ich will, daß seine Seele hier jede Nacht herumspukt? O nein, verdammt! Den nimmst du gefälligst wieder mit.« Jetzt saß der Kutscher in der Klemme. Hoffentlich gab es keine Scherereien. Aber er mußte wissen, wer der Tote war. Sein Tascheninhalt konnte darüber Aufschluß geben. Da die beiden anderen nicht im Traum daran dachten, ihm zu helfen, und der Müller sich entschieden weigerte, den Toten in die Mühle zu schleppen, ging der Kutscher selbst an die undankbare Aufgabe. Er sprang auf den Wagen und stieß die Leiche hinunter. Sie landete mit einem dumpfen Laut auf dem Boden. Er holte sich zwei Öllampen und stellte sie um den Toten herum auf. Immer wenn er in das blau angelaufene Gesicht sah, fühlte er, wie der Schnaps aus seinem Magen nach oben stieg. Er durchsuchte mit einem Schauder des Entsetzens und der Angst die Taschen des Toten und förderte ein Schnupftuch, einen abgebrochenen groben Kamm, ein Messer und eine winzige, rechteckige Tafel aus Holz zutage. Im Licht der Lampe erkannte er eingeschnittene Schriftzüge darauf und ein rotes Siegel mit einer Nummer. »Kannst du lesen, Müller?« rief er zur Mühle hinüber, wo die beiden Kerle standen und jede seiner Bewegungen belauerten. »Einigermaßen, aber nicht viel.« McDonald nahm das Holzplättchen vorsichtig auf und brachte es zur Mühle hinüber. »Das habe ich in seiner Tasche gefunden. Was kann es nur
sein?« Der Müller betrachtete es verwundert. So etwas hatte er noch nie gesehen. Die Schrift war eingebrannt, ziemlich klein, aber gut leserlich. Eine Vertiefung trug ein rotes Siegel von einer Petschaft. Der Müller kniff die Augen zusammen, buchstabierte und las vor: »Nathan Webster, im Dienste Ihrer Majestät der Königin von England, der hohen Polizeibehörde unterstellt. Nummer dreiundvierzig. Die Unterschrift kann ich nicht lesen.« »Ein Polizei-Agent«, murmelte der Kutscher und wurde leichenblaß. »Was machen wir jetzt mit ihm?« Seine Stimme zitterte, seine Hände wurden naß, sein Körper schüttelte sich. Sprachlos starrte der Müller auf das kleine Täfelchen in seiner Hand. Auch seine Hände zitterten. »Nimm ihn mit und hau ab, aber ganz schnell«, sagte er. »Erzähl denen, was du willst, ich jedenfalls habe damit nichts zu tun.« »Wem soll ich was sagen?« fragte der Kutscher. »Wäre es nicht besser, den Kerl irgendwo zu vergraben?« »Bist du wahnsinnig? Damit wir alle am Galgen enden? Nein, nein, ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Tu, was du willst, aber laß mich aus dem Spiel.« Jetzt sah der Kutscher endgültig ein, daß es Ärger geben würde. Er lehnte sich an die Wand und dachte nach. Wenn er zum Friedensrichter fuhr und dem die Wahrheit sagte, konnte ihn niemand belangen. Wer weiß, wer den Toten auf den Wagen gelegt hatte! Ihm konnte man nichts vorwerfen. Er riß sich gewaltsam zusammen. »Gut, ich nehme ihn wieder mit«, sagte er, »aber vorher laden wir noch die Säcke auf. Ich will nicht noch einmal vier Stunden lang umsonst fahren. Die Leiche packen wir oben auf die Säcke. Dafür sage ich auch nichts von euch!«
Zuerst wollte der Müller nicht. Er hätte es am liebsten gesehen, wenn McDonald sofort abgefahren wäre, ohne das Mehl. Doch der sanfte Druck, den der Kutscher auf ihn ausübte, verfehlte nicht seine Wirkung. Er erklärte sich einverstanden. Die Säcke flogen nur so auf den Leiterwagen. McDonald verstaute den Tascheninhalt wieder an Ort und Stelle, griff dann selbst mit zu und stemmte den Toten hinauf, zwischen die Säcke, als sie endlich fertig waren. Er wollte sich von dem Müller noch verabschieden, doch der hatte kaum den letzten Mehlsack auf den Wagen geworfen, als er auch schon die Tür der Mühle hinter sich zuknallte und sich nicht mehr blicken ließ. Sein grober Gehilfe hatte sich auch von einer Minute zur anderen in Luft aufgelöst. »Verdammte Bastarde«, schimpfte McDonald, ehe er sich auf den Bock schwang, die Peitsche kreisen ließ und den langen Weg zurückfuhr. Im Nacken hatte er ein eisiges Gefühl - als würde man ihm eine Schlinge um den Hals legen und ihn hochziehen. Es wurde seine grauenvollste Fahrt durch die einsame Nacht. * Fünf Stunden später klopfte McDonald den Friedensrichter aus dem Bett. Sein Leiterwagen stand vorm Haus, die Pferde ließen die Köpfe hängen und schliefen im Stehen. In Plymouth herrschte eine beängstigende Stille. Kein Wagen bewegte sich auf der Straße, kein Mensch war zu sehen und in keinem der Häuser brannte Licht. Und oben auf McDonalds Wagen lag eine Leiche! Es dauerte eine Weile, bis Burton sich bequemte, auf sein Pochen die Tür zu öffnen. Kleinlaut erzählte der Kutscher, was passiert war. Der dicke, feiste Friedensrichter hörte zu, nahm dann eine Laterne und
überzeugte sich von der Wahrheit. Anschließend alarmierte er ein paar Leute von der Stadtgarde, die er aus den Betten trommeln ließ. Der Kutscher wurde in ein Büro geführt und sah sich immer wieder nach allen Seiten unbehaglich um. Der Friedensrichter schien eine unbeschreibliche Wut im Bauch zu haben. Ein Blick auf den Toten hatte ihm gezeigt, mit wem er es zu tun hatte. Der Mann, Webster, arbeitete in seinem Auftrag und gehörte offiziell der Polizeibehörde an. Er war einer von denen, die Sir Freemonts Haus überwachten. Und jetzt war der Mann tot, lag auf einem Wagen und hatte sich so mir nichts, dir nichts das Genick gebrochen. »Erzählen Sie noch mal, wie das war«, wurde er von Burton ungnädig aufgefordert. »Und bleiben Sie bei der Wahrheit, sonst kann ich verdammt ungemütlich werden.« An der Tür standen drei Männer, die zur Polizei gehörten. Ihre finsteren Blicke ruhten auf dem Kutscher, der umständlich mit seiner Erzählung begann. »Willst du mich verulken, Kerl?« brüllte Burton, in dessem feisten Gesicht es pausenlos zuckte. »Ich wüßte nicht, weshalb, Sir«, sagte der Kutscher. »Ich habe nicht bemerkt, daß man mir den Toten auf den Wagen gelegt hat. Ich entdeckte ihn, als ich abstieg und hielt ihn zuerst für schlafend. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« »Mehr kann ich dazu nicht sagen«, höhnte Burton. »Er fährt nachts spazieren und hat plötzlich eine Leiche auf dem Wagen.« »Ich fahre nicht zu meinem Vergnügen spazieren, Sir«, erwiderte der Kutscher steif. »Ich arbeite, während andere schlafen.« »Da hört sich doch alles auf! Mißgönnst du mir etwa meinen Schlaf, Kerl? Wie gelangte der Tote auf deinen Wagen?« »Das habe ich nun schon zum dritten Mal erklärt, Sir. Ich weiß es nicht, verdammt noch mal!«
»Lag er schon drauf, als du losfuhrst?« »Nein, als ich die Pferde eingeschirrt habe, habe ich nichts bemerkt. Allerdings war es da schon dunkel.« »Welchen Weg hast du genommen?« Den Kutscher ärgerte es, so respektlos behandelt zu werden. Das stand auch einem Friedensrichter nicht zu. »Die Bingston-Road über den St.-Peters-Platz und ...« Burton kniff die Augen zusammen. Er stemmte die Arme in die Hüften und brüllte: »Sieh an, sieh an, über den St.-PetersPlatz also! Dann hast du ihn wohl selbst umgebracht?« »Sir!« Der Kutscher brüllte jetzt ebenfalls. Seine Stimme schallte durch das ganze Haus. Die drei Polizisten sahen noch finsterer drein. Burton setzte sich aufgebracht auf einen Stuhl. Den müden Kutscher ließ er stehen. »So, jetzt will ich die Geschichte noch einmal hören. Aber die Wahrheit, Mann, die Wahrheit, sonst lasse ich sie aus dir herausprügeln! Ich weiß schon, weshalb du dauernd lügst!« In seinem ganzen Leben hatte sich der Kutscher noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Aber jetzt wäre er dem Dicken am liebsten an den Hals gesprungen. Was der ihm alles unterstellte. Er nahm sich noch einmal zusammen, unterdrückte seine Wut und sagte mühsam beherrscht: »Ich schwöre, es ist die reine Wahrheit, Sir! Ich kann mir nicht erklären, wie der Tote auf meinen Wagen gelangte. Ich wüßte es selbst gern, doch ich habe nichts bemerkt.« »Natürlich nicht, du Mördergehilfe! Weil ihr ein Komplott ausgeheckt habt. Du und deine verdammten Spießgesellen. Oh, haltet mich nur nicht für so dumm, daß ich darauf hereinfalle. Du tauchst hier mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt auf, präsentierst mir einen Toten und denkst, ich schlucke die Geschichte. Du verdammter Saboteur. An den Galgen sollte man dich hängen und dir dein verlogenes Maul stopfen.«
Jetzt sah der Kutscher rot. Eine unbeschreibliche Wut überfiel ihn. Was bildete sich dieses fette Schwein eigentlich ein? Er begriff überhaupt nicht, weshalb man ihm einen Mord anhängen wollte. Burton brüllte immer noch und war im Gesicht blau angelaufen. Er warf dem Kutscher die übelsten Schimpfwörter an den Kopf. Da schlug der sonst so besonnene Kutscher zu. Mit einem Satz war er bei dem Dicken, holte aus und hieb ihm die harte Faust in das fette Gesicht. Burton flog zurück, sein Stuhl kippte um, er landete krachend auf dem Boden. Aus seiner Nase schoß Blut, vor seinen Augen bewegten sich feurige Kreise. Er versuchte, aufzustehen, doch der Kutscher hatte ihn schon gepackt. Der zweite Schlag fegte den Dicken quer durch den ganzen Raum. Er quiekte wie ein Schweinchen. Da griffen die drei Männer ein, die wie gelähmt an der Wand gestanden und nicht begriffen hatten, was hier so blitzschnell passierte. Zu dritt gingen sie auf den Kutscher los. Der sah sich in Gedanken bereits am Galgen hängen und griff die drei Männer an. Wie ein Berserker drosch er auf sie ein, fegte den einen von den Beinen und wandte sich dem zweiten zu. Ein Schlag in den Nacken ließ ihn taumeln, ein Tritt in den Unterleib brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Noch einmal konnte er einen Treffer landen, dann hatten sie ihn überwältigt, rissen ihm die Arme auf den Rücken und schlugen weiter auf ihn ein, bis er zusammenbrach. Burton rappelte sich auf und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Voller Wut bearbeitete er den Kutscher mit Fußtritten. Er trat dahin, wo er gerade traf, während die drei Männer ihn festhielten. »Dieses Schwein«, ächzte er. »Weg mit ihm! Sperrt ihn in
eine Zelle! Aber sofort!« Sie wollten McDonald wegzerren, und der gab sich scheinbar auch willenlos und geschlagen. Schlaff hing er in ihren Armen. Als sie mit ihm loszogen, riß er sich los. Seine Wut kannte keine Grenzen mehr. Wie ein wildes Tier fiel er Burton an und schlug ihm die Fäuste ins Gesicht, bis ihm die Knochen schmerzten. Erst dann konnten sie ihn endgültig überwältigen. Einer der Männer schmetterte ihm die Faust wie eine Ramme auf den Schädel. Der Kutscher sackte zusammen. Er hörte nicht mehr, was der Friedensrichter mit vor Wut erstickter Stimme sagte. »Vierzehn Tage verschärften Arrest für den Halunken. Er kriegt nur Wasser und trockenes Brot, verstanden? Dieser Bastard hat mich tätlich angegriffen.« Sie schleppten McDonald hinaus. Aber damit war für den Friedensrichter das Rätsel um den Toten immer noch nicht gelöst. 7. Als es dämmerte, erreichte Donegal Daniel O’Flynn den nördlichen Stadtrand von Plymouth. Ein paarmal hatte er sich in dieser Nacht vor Männern, die er nicht kannte und denen er besser aus dem Weg ging, verstecken müssen. Wer weiß, vielleicht gehörten sie einer geheimen Polizei an oder standen im Dienst des Friedensrichters. Jedenfalls schien es Dan so, als fischten sie ebenfalls im Trüben. Weit vor sich, im nebligen Morgen, erkannte er eine Schmiede, an die sich eine Pferdekoppel anschloß. Mehr als zwanzig Pferde zählte er. Das war ihm gerade recht. Vermutlich verkaufte der Schmied auch Pferde.
Der Mann war schon an der Arbeit, trotz der frühen Stunde. Er schwang den Hammer und bearbeitete etwas, das vor ihm auf dem Amboß lag. Das helle Klingen erfüllte den ganzen Morgen. Von Müdigkeit war bei Dan nichts zu spüren. Er fühlte sich frisch und ausgeruht - und unternehmungslustig. Ein großer Hund lief auf ihn zu, beschnüffelte ihn und sprang immer wieder an ihm hoch. Laut kläffend rannte er neben Dan her, umkreiste ihn und jagte dann zur Schmiede. Jetzt blickte der Schmied, der in seine Arbeit vertieft war, hoch, als Dan auf ihn zutrat. »Guten Morgen«, grüßte Dan freundlich. »So früh schon bei der Arbeit, Meister?« »Der Morgen ist das schönste am ganzen Tag«, brummte der Schmied. »Wer ihn verschläft, ist selber schuld.« »Genau das sage ich auch immer. Schöne Pferde haben Sie da. Verkaufen Sie die?« »Wollen Sie denn eins?« Dan nickte. »Ja, ich will nach Westen reiten. Gestern war ich bei einem Pferdehändler, aber der war mir zu teuer.« Der Schmied nannte ihm zögernd einen Preis, aber das gewitzte Bürschchen roch den Braten sofort. Abwehrend hob er die Hände. »Das ist ja noch teurer als bei dem Pferdehändler in Plymouth«, sagte er entrüstet. »Das ist natürlich der Preis für den teuersten Gaul«, erklärte der Schmied hastig. »Den teuersten und besten. Die anderen sind natürlich billiger.« Alter Gauner, dachte Dan. Jeder versuchte hier doch ständig, einen übers Ohr zu hauen. »Nun, ich brauche das Pferd nicht unbedingt, Meister. Ich kann auch wandern. Aber das Reiten ist bequemer und einfacher. Nur muß es ein vernünftiger Preis sein.« »Ein vernünftiger Preis und ein gutes Pferd«, versicherte der
Schmied ernst. Dieser Bursche schien sich auszukennen, der war nicht zu leimen. Mit Dan zusammen ging er zu der Koppel. Das Bürschchen benötigte für sein Vorhaben nicht unbedingt das beste Pferd. Hauptsache, das Tier befand sich in gutem Zustand und konnte laufen. Nach kurzem Suchen entschied er sich für einen dunklen Hengst. Der Schmied nannte ihm jetzt einen akzeptablen Preis. Er führte das Pferd von der Koppel zur Schmiede, besah sich die Hufe und fand, daß sie in Ordnung waren. Danach kaufte Dan sich noch das Sattelzeug, und der Schmied rüstete ihn mit Proviant aus. Der Morgen begann jetzt heller zu werden. Die Sonne ging auf, aber am Horizont türmten sich schon wieder Wolken zusammen. Die Kraft der Sonne reichte noch nicht aus, die Erde zu erwärmen. Dan verabschiedete sich von dem Schmied, erwähnte noch einmal ganz beiläufig, daß er nach Westen reite, und schwang sich auf den Hengst. Es klappte besser, als Dan erwartet hatte. Die Schaukelei war er gewöhnt. Das Pferd lief nicht schnell, es verfiel in einen leichten Trab, den Dan als angenehm empfand. Er ritt so lange nach Westen, bis die Schmiede aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Danach bewegte er sich in nördlicher Richtung weiter. Die Landschaft um ihn herum veränderte sich kaum. Ein paarmal tauchten flache Hügel auf, bewachsen mit Büschen und blattlosen Bäumen. Dann wurde es eben. Die Sonne war jetzt verschwunden. Ein kühler Wind begann zu wehen. Das Bürschchen ritt weiter, pausenlos, mehrere Stunden hindurch. Ab und zu nahm er einen kleinen Schluck aus der Flasche. Um ihn herum war alles wie ausgestorben. Außer ein paar wilden Kaninchen bekam er keine Seele zu Gesicht. Ihm
war es recht, denn wo Menschen waren, gab es zumeist auch Ärger. In der Ferne schimmerte das Wasser eines Flusses herüber. Dan verhielt den Hengst, um sich zu orientieren. Das mußte der Tamar River sein, den es zu überqueren galt. Er ritt jetzt schneller. Hoffentlich fand er eine seichte Furt, wo er hinüber konnte, ohne naß zu werden. Bei der Kälte hatte er keine große Lust, den River zu durchschwimmen. Der Tamar River glitzerte wie Eis, als er sich näherte. Feine, weiße Nebel kräuselten sich an manchen Stellen seiner Oberfläche. Dan ritt am Ufer entlang, bis er einen Übergang fand. Der Hengst schreckte zurück, als er die Hufe in das Wasser tauchte. Heftig schüttelte er die Mähne und schnaubte. »Wir müssen da durch, Alter«, sagte Dan. »So oder so. Nun zier dich nicht lange!« Das Pferd tänzelte. Erst als Dan es mit harter Hand zwang, bequemte es sich mit auf und ab nickendem Kopf, in den River zu gehen. Der Fluß war nicht tief, aber kalt. Dan zog die Beine hoch, damit sie nicht naß wurden. Das Wasser ging dem Pferd nur bis an den Bauch, als sie in der Flußmitte waren. Gleich darauf wurde es wieder flacher. Der Hengst stieg aus dem Wasser ans Ufer und schüttelte sich heftig. Von nun an mußte Dan die Richtung ändern. Sein Weg führte ihn nun westwärts in Richtung auf das Bodmin Moor. Vor dem Moor hatte er einen leichten Bammel. Er hatte zwar gehört, daß es hier Wege gab, aber er kannte sie nicht genau und wußte, daß er, geriet er einmal vom Weg ab, in dem zähen Moor versinken würde. Überall gab es jetzt dichte Buschgruppen, die mit hohem Schilf abwechselten. Der Boden wurde weicher und nachgiebiger. Das ging eine halbe Stunde so, dann ritt er auf festem Boden weiter. Nicht mehr lange, und wieder hatte er das Gefühl, auf
einer Unterlage aus Kork zu reiten. Jetzt mußte er aufpassen. Der Hengst schnaubte laut. Aus seinen Nüstern stieg weißer Atem. Dan beobachtete genau den Boden. Es gab keine Spuren darauf, und es sah nicht so aus, als sei hier schon einmal jemand entlanggeritten. Da blieb das Pferd plötzlich stehen, scharrte mit den Hufen und setzte ganz vorsichtig ein Bein vor das andere. Vor ihm gab der Boden plötzlich nach. Dan sah es gerade noch rechtzeitig. Mit einem wilden Satz sprang er aus dem Sattel und zurück. Auch das Pferd zuckte zurück und gelangte wieder auf festen Boden. »Verdammt«, fluchte Dan O’Flynn. »Der Boden ist so tückisch wie die Spanier. Mist, verfluchter!« Deutlich war der Hufabdruck im moorigen Untergrund zu sehen, der sich langsam mit Wasser füllte, das von nirgendwoher zu kommen schien. Es war einfach da und sickerte in die Abdrücke. Er war auf dem falschen Weg. Er mußte hinüber in die Richtung, wo die Buschreihen standen. Dort war der Boden sicher fester und nicht so gefährlich. Vorsichtig dirigierte er den Hengst weiter nach links. Und schon wurde es besser. * Die sechs verwildert aussehenden Kerle lungerten schon seit ein paar Tagen in dieser Gegend herum. Sie trugen zottige Bärte, sahen ungewaschen und verdreckt aus. Vorgestern hatten sie den letzten ausgeplündert, der durch diese Gegend gewandert war, einen kleinen Handwerker, der nicht viel bei sich gehabt hatte. Seine Leiche war im Moor verschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Sie hatten sich hinter den Büschen primitiv eingerichtet, Zweige und Decken zu einer Art
Behausung errichtet, in der sie gegen den Wind und die Kälte einigermaßen geschützt waren. Jetzt warteten die Wegelagerer auf ein neues Opfer. Sie hatten Zeit, denn ab und zu durchquerte immer mal jemand diese Gegend. Ihr Anführer, ein ruppiger breitschultriger Kerl mit wildem Haar- und Bartwuchs, richtete sich plötzlich auf. »Ich höre Hufschlag«, sagte er zu den anderen, die sofort aufsprangen und durch die Büsche linsten. Die klare Luft trug den Schall meilenweit. Der Reiter war noch nicht zu sehen, aber sie hörten das Klappern der Hufe immer deutlicher. Der Anführer grinste breit. »Er reitet genau über unseren Weg. Der scheint sich hier auszukennen und weiß, wo der Weg hart und fest ist, Los, den Strick her!« Die weiter hinten stehenden Büsche verbargen den Reiter immer noch. Zwei der Gauner legten ein paar Äste auf den Weg, unter denen sie den Strick verbargen. Sie stellten sich auf die andere Seite zwischen die Büsche und warteten. Nur der Anführer hob ab und zu den Kopf, um zu sehen, wie nahe der Reiter war. »Hoho«, begann er zu lachen. »Da trabt er heran, sorglos und den Kopf voller Schmetterlinge. Ein junger Laffe, der gleich sein blaues Wunder erleben wird. Provianttaschen hängen an der Seite des Gauls. Na, wir haben es nötig. Hoffentlich hat er auch Geld.« Die anderen grinsten gierig. Ein blonder Kerl lachte ebenfalls. »Den murkse ich mit einer Hand ab«, versicherte er. »Und danach wird er gerupft wie eine Gans. Achtung! Er ist nicht mehr weit. Runter mit den Köpfen!« Sehnige Hände hielten das Seil fest. Sechs Männer grinsten voller Erwartung. *
Dan O’Flynn ritt ahnungslos in den Hinterhalt. Er hatte jetzt einen Weg gefunden, der fest und hart war. Nur rechts und links war der Boden schwammig und weich. Und weiter zur linken Seite hin erstreckte sich eine Fläche, die verdächtig gluckerte. Immer wieder sah er Blasen aufsteigen, die träge an der Oberfläche zerplatzten. Er verhielt das Pferd, um sich zu orientieren. Hier lief so etwas entlang wie ein Pfad. Er erkannte auch Spuren, zerrupfte Büsche, von denen man Zweige abgebrochen hatte, und Hufabdrücke, die aber nur schwach sichtbar waren. Er beschieß, hinter der Buschgruppe die erste Rast einzulegen und etwas zu essen und zu trinken. Er spornte den Hengst an, der in einen leichten Galopp verfiel. Plötzlich hatte Dan das Gefühl, seine Brust würde zerreißen. Sein Körper wurde von einer unsichtbaren Gewalt gebremst und durch die Luft geschleudert. Hart landete er auf dem Boden, und ein heißer Schmerz zuckte durch seinen Körper. Als er sich etwas benommen aufrichten wollte, griffen schon harte Fäuste nach ihm und zerrten ihn hoch. Er empfing einen brutalen Tritt in den Magen, der ihn zurückwarf. Hände umklammerten von hinten seinen Hals und drückten erbarmungslos zu. Ein weiterer Schlag traf ihn hart dann ein nächster ins Gesicht. Vor seinen Augen begann es bunt zu flimmern. Undeutlich sah er ein paar Gestalten um sich herum, eine davon fing gerade sein Pferd ein. Fäuste rissen und zerrten an ihm. Wegelagerer! schoß es ihm durch den Kopf. Straßenräuber, die ihn mittels eines quergespannten Seils vom Pferd gerissen hatten. Daher der plötzliche, schneidende Schmerz. »Na wartet, ihr Schweine«, keuchte er. Die Arme hatten sie ihm auf den Rücken gerissen. Einer fummelte mit einer Hanfschlinge an seinem Hals herum.
Da wuchs Dan O’Flynn über sich selbst hinaus. Verdammt! Er kannte im Kämpfen alle miesen Tricks, die es gab. Er hatte gegen Spanier und ausgekochte Piraten gekämpft, er hatte Schiffe geentert und sich auf Leben und Tod geprügelt. Dan sprang hoch, obwohl die anderen ihn hielten. Seine Stiefel knallten dem Kerl, der die Schlinge über seinen Kopf streifen wollte, hart ins Gesicht. Blut schoß aus dessen Mund und Nase. Er schrie gellend auf und hielt sich beide Hände vor die Augen. Einen Augenblick waren die beiden anderen verblüfft. Mit einer so schnellen Reaktion hatten sie nicht gerechnet. Da Dan die Beine vom Boden hob, verstärkte sich sein Gewicht. Einer der beiden ging etwas in die Knie. Dan schlug mit dem Kopf nach hinten. Ein Aufschrei zeigte ihm, daß wieder einer der Wegelagerer getroffen war und augenblicklich vor Schmerzen losließ. Jetzt geriet Dan in Fahrt. Hemmungen waren bei diesen Galgenvögeln nicht angebracht - und er kannte auch keine. Er hatte sich längst zu einem knallharten Kämpfer gemausert, und er war auch nicht dumm. Wieselflink fuhr er herum. »Arwenack!« brüllte er laut. Die Figuren erstarrten, obwohl sie in der Überzahl waren. Dieses harte grimmige Gesicht flößte ihnen Furcht ein. Dieser schmale Kerl schien der Hölle selbst entsprungen zu sein, wie er herumwirbelte, ein Messer zog und dem anderen die Klinge ins Herz rammte. Bevor sie nur einen Atemzug getan hatten, lag einer ihrer Kumpane bereits tot am Boden. Dem nächsten schlug Dan die Faust zwischen die Augen. Ein Tritt in den Unterleib setzte ihn vorübergehend außer Gefecht. Zu viert drangen sie jetzt auf ihn ein. Die Angst und das nackte Entsetzen beflügelte sie. Brüllend stürmten sie vor. Dan O’Flynn nahm einen Schwinger mit voller Absicht. Er
zuckte zusammen, aber den Kerl hatte er auf Körpernähe. Zweimal stieß sein Messer zu. Zweimal hintereinander erfolgte ein tierischer Aufschrei. Der Mann sank ihm tot entgegen. Dan hob das Knie und setzte es ihm unters Kinn. Jetzt hatte er noch drei Mann vor sich, die sicher schon bereuten, auf was sie sich eingelassen hatten. Die hätten sich lieber den Teufel aus der Hölle gewünscht als diesen knallharten Satansbraten, der keine Angst kannte und nun selber zum Angriff überging. Dazwischen ertönte immer wieder sein Kampfgebrüll, mit dem er auf die Männer eindrang. »Arwenack!« brüllte Dan. »Arwenack!« Er kämpfte wie ein Berserker, als gelte es, ganz allein eine spanische Galeone zu entern. Ein rasender Teufel, blondhaarig und wild, der mit dem Messer und den Fäusten umzugehen verstand wie kein zweiter. Dan setzte alles ein. Es ging nicht um ihn, es ging um die Männer, den Seewolf, die ›Isabella‹. Das alles konnte er nicht wegen ein paar Wegelagerern aufs Spiel setzen. Diesen Halunken wollte er zeigen, was in ihm steckte. Wie ein reißendes Tier sprang er den nächsten an, der entsetzt zu flüchten versuchte. Seine Hände gruben sich in dessen Hals und packten kraftvoll zu. Seine Stirn knallte in ein Gesicht, das sich zu einer Grimasse der Angst verzerrte. Er packte den Kerl bei den Ohren, wirbelte ihn herum und schlug dessen Schädel gegen einen anderen, daß es nur so krachte. Aber immer noch waren es vier Mann, denn der eine kam gerade auf die Beine. Dan O’Flynn tänzelte um ihn herum, als er sich gerade mühsam erheben wollte. Sein Stiefel krachte gegen dessen Schädel. Benommen kippte der Kerl vom Weg und landete in der moorigen Wiese. Er schaffte es nicht mehr, sich zu erheben, denn der moorige Untergrund nahm ihn auf, hüllte ihn ein und zog ihn mit
ekelhaft schmatzenden Geräuschen in das tödliche Bett hinunter. »Kommt nur her, ihr Hurensöhne!« brüllte Dan. Er stieß ein Knurren aus wie ein hungriger Wolf. Immer noch drei Kerle, die jetzt einsahen, daß sie etwas falsch angepackt hatten. Ihr letzter Rest Vernunft sagte ihnen, daß sie mit dem schmalen Kerl fertig werden mußten, wenn sie sich nicht bis auf die Knochen blamieren wollten. Der struppige Anführer gab keuchend ein paar Befehle. Sofort ließ alles von Dan ab. Einer war so benommen, daß er taumelte und sich nur mühsam auf den Beinen hielt. »Wir knüppeln ihn nieder!« keuchte der Bärtige. »Paß auf sein Messer auf, nehmt Steine! Schlagt diese Ratte tot!« Einer lief ein paar Schritte zurück, griff nach einem Knüppel und schwang ihn über seinem Kopf. Die beiden anderen rückten von rechts und links auf Dan zu, der langsam zurückwich. »Er hat die Hosen voll!« brüllte der Anführer, der die Taktik des Bürschchens noch nicht durchschaut hatte. »Los jetzt, auf ihn! Los!« Auf dem schmalen Weg blieb nicht viel Platz für die, die von der Seite angriffen. Mit ihrem Gebrüll heizten sie gegenseitig ihren Mut an. Dan wich immer noch zurück. Er sah die verschwitzten, haßerfüllten Gesichter, in denen tagealte Barte wucherten. Aufgerissene Augen starrten ihn an. Dem einen lief das Blut aus einer Kopfwunde an der Stirn. Sie stürmten vor, griffen halb von der Seite an. Der Anführer holte mit dem Knüppel aus. Der Kerl von rechts wollte sich auf ihn stürzen. Doch da war Donegal Daniel O’Flynn plötzlich vorn. Er stoppte und rannte genau auf den Anführer los. Der Knüppel pfiff durch die Luft und erwischte Dan am Schultergelenk, in dem er sofort ein taubes Gefühl hatte. Aber er hatte erreicht,
was er wollte. Ein zweites Mal konnte der Bärtige nicht mehr zuschlagen, und den einen Hieb verdaute Dan schön. Er holte mit der rechten Hand aus, das Messer blitzte, dann wechselte es im Ausholen blitzschnell in die linke Hand. Die Klinge fuhr dem Bärtigen in den Hals, der gurgelnd auf den Hinterkopf fiel und sich nicht mehr bewegte. Mit dem pulsierenden Blutstrom verließ das Leben seinen Körper. Zwei Mann noch! Einer davon schwer angeschlagen. Obwohl ihr Anführer tot war, gaben sie noch nicht auf. Sie unternahmen einen letzten Angriff. Dan knöpfte sich den Burschen vor, der noch gut erhalten war. Er ließ ihn dicht heran, bis er die gebleckten Zähne des Kerls sah, aus dessen Miene ziemliche Angst sprach. Er unterlief die Faust, drehte sich um seine Achse, packte den Burschen und hebelte ihn über die Schulter. Er hörte, wie der Arm brach, aber die Kerle hatten es ja nicht anders gewollt. Sie hätten ihn umgebracht, ausgeplündert und seine Leiche im Moor versenkt. Und der Seewolf würde in Sir Freemonts Haus liegen und vergeblich auf eine Meldung warten. Und seine Kameraden von der ›Isabella‹ ... Da war es schon besser, wenn diese sechs Galgenvögel zum Teufel gingen. Sie waren nichts anderes als Mörder, die man früher oder später doch erwischt und gehenkt hätte. Er sah, wie der Kerl im Moor landete und wild mit den Armen schlug, um sich aus der zähen Masse zu befreien. Vergeblich. Saugend packte ihn das Moor und gab unter seinem Gewicht nach. Ein langgezogener Schrei folgte. Immer wilder schlug der Mann um sich. Immer schneller versank er. Sein Oberkörper verschwand, der Moorsud schwappte in seinen Mund. Dann war er gurgelnd weg. Der Letzte stand zähneklappernd und schlotternd da. Sein Blick war leicht getrübt, er zitterte am ganzen Körper. »Du - du Teufel«, stammelte er. »Du hast sie alle umgebracht.
Alle fünf. Du ganz allein!« »Und jetzt bist du an der Reihe«, versicherte Dan und ging langsam auf den zurückweichenden Mann zu. Hart vor ihm blieb er stehen, das blutige Messer in der Faust. Sein Grinsen war eiskalt, in den Augen schimmerte es. »Hilfe! Mörder!« kreischte der Mann. »Helft mir doch!« »Wer soll dir denn helfen, du Hurensohn! Hier hilft dir niemand mehr. Du kannst gleich freiwillig ins Moor springen!« Dan O’Flynn setzte dem Kerl das Messer an die Kehle. In seiner grenzenlosen Angst vor diesem rasenden Teufel setzte der Bursche sich auf den Boden und schnitt ein klägliches Gesicht. Und dann breitete sich ein penetranter Geruch aus, der die klare Luft verpestete. Dan verzog das Gesicht. »In die Hose geschissen!« sagte er angewidert. »Du bist ja ein richtiger Scheißer! Ist dir deine große Schnauze jetzt vergangen?« »Laß mich am Leben«, winselte der Mann. »Ich geb dir alles, was ich habe. Geld, Proviant. Aber laß mich leben, bitte!« Dan spuckte vor ihm auf den Boden. Verächtlich drehte er sich um. »Meinetwegen«, sagte er, »dein Leben ist sowieso beschissen.« Er wischte das Messer ab und steckte es ein. Der Kerl humpelte hinter ihm her und bettelte immer wieder um sein Leben. Er konnte es immer noch nicht fassen, daß dieser Bursche fünf Männer umgebracht hatte. Dabei war er ahnungslos in die Falle gegangen und hatte den Nachteil gehabt. Was mußte das nur für ein Teufel sein? Dan sah sich das Lager an, die aus Gestrüpp und alten Decken zusammengeflickte Behausung. Viel Proviant war nicht mehr da, es hätte nur noch für ein paar Tage gereicht. »Wie viele Leute habt ihr schon umgebracht?« fragte er.
»Aber sag mir die Wahrheit, sonst lernst du auch noch das Messer kennen!« »Vier«, murmelte der Mann. »Eine Frau war dabei.« »Eine Frau?« fragte Dan und glaubte, sich verhört zu haben. »Was seid ihr doch für feige Schweine!« An dem Proviant wollte er sich nicht bereichern, und Geld hatte er selbst. Also ließ er alles liegen und stehen, wie es war. »Wer hat die Frau ermor ...« Er brach ab. Verblüfft sah er, wie der Strauchdieb sich gerade auf sein Pferd schwang, ihm die Hacken in die Weichen rammte und losgaloppierte. Dan jagte los. Noch im Laufen zog er das schwere Messer, mit dem er umzugehen verstand wie kein anderer. Er hielt ein paar Schritte mit dem Hengst mit, dann blieb er stehen und holte mit Schwung aus. Die breite Klinge verschwand bis zum Heft zwischen den Schulterblättern des Gauners, der ihn hatte überlisten wollen. Als das Pferd zitternd stehenblieb, kippte der Wegelagerer schwer zur Seite. Seine Hand griff haltsuchend in die Luft. Wie ein Sack kippte er auf den Boden. Dan O’Flynn war mit ein paar Sätzen bei ihm. Er sah einen weit aufgerissenen Mund mit gelben Zähnen, hinter denen blutiger Schaum hervorbrach. »Das hättest du dir sparen können. Aber du hast nichts dazugelernt, du hinterhältiger Hund!« »Du - du Teufel«, zischte der Mann. »Dich - dich hat die Hölle selbst ausgespuckt. Der - der Teu - Teufel ist ein Engel gegen dich. So was ...« Sein Blick brach. Er wälzte sich zur Seite und bäumte noch einmal den Oberkörper .auf. Dann sackte er zusammen. Dan nahm sein Messer. Darauf konnte er unter keinen Umständen verzichten. Wer wußte, was hier im Moor noch alles herumlungerte und harmlose Leute abmurkste. Sechs Tote hatte es gegeben, stellte er fest. Und dabei lief ihm doch ein kalter Schauer über den abgebrühten Rücken.
Bevor er weiterritt, warf er die Leichen ins Moor. Sein Weg führte ihn weiter nach Nordwesten. Zur Küste hin. 8. »Anker auf!« befahl Ben Brighton. Er stand breitbeinig auf dem Achterkastell. Neben ihm Carberry, der Profos, der die Befehle lautstark weiterbrüllte. Der Wind hatte aufgefrischt, es war kühl geworden. Arwenack war aus den Wanten verschwunden und hatte sich an Deck verkrochen, weil ihn fror. Auf der Schaluppe holte man ebenfalls den Anker ein. Brighton zeigte hinaus aufs Meer, das an der Kimm mit dem Himmel verschmolz, ohne daß man eine Trennlinie ziehen konnte. »Wir laufen mit leichter Besegelung, Ed. Schön langsam, wir haben keine Eile und steuern, wenn wir etwa dreißig Meilen nordwärts gelaufen sind, in Richtung Trevose Head.« Carberry nickte. Sein Rammkinn schob sich vor. Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Meinst du, daß es wirklich besser ist, auszulaufen?« »Ja, ich glaube schon. Die Küste scheint mir zu unsicher. Ich möchte nicht gern gesehen werden. Hast du einen besseren Vorschlag?« »Nun, das nicht gerade«, sagte der Profos. »Nur sind wir dann ziemlich weit vom Schuß!« »Das weiß ich. Aber hier sind wir zu dicht am Schuß. Wenn ein Schiff die Küste abfährt, findet es uns zwangsläufig.« »Das ist auch wieder richtig«, gab der Profos zu. »Dann werde ich mal an Bord gehen. Ich bleibe in deinem Kielwasser.« »Tu das! Brauchst du noch ein oder zwei Männer?« »Nicht nötig, ich komme klar.«
Carberry sprang zur Schaluppe hinüber, als ob er sie entern wollte. »Auf, auf, ihr lahmen Säcke, der Anker könnte längst gehievt sein«, grollte er. Irgendwie paßte es ihm nicht, daß Ben jetzt einfach so davonsegeln wollte. Was konnte ihnen hier schon viel passieren, dem sie nicht gewachsen waren? Nun ja, sagte er sich selbst. Es konnte ja auch ein englisches Kriegsschiff die Buchten abfahren, um die Suche nach der ›Isabella‹ aufzunehmen. Also war es doch besser, wenn sie sich ein Stückchen wieter hinauswagten, wo sie niemand sah. Die Taue wurden gelöst. Langsam strebten die beiden Schiffe auseinander. Die Anker waren an Bord. Brighton ließ nur ein paar Segel setzen, damit die Galeone mäßige Fahrt lief. Achteraus nahm die mit Carberry, Matt Davies, Al Conroy, Gary Andrews und Stenmark besetzte Schaluppe ebenfalls Fahrt auf und folgte der Galeone. Auf der ›Isabella‹ stand der riesenhafte Schmied von Arwenack am Kolderstock, Old Shane, der finster über das Deck starrte. Jean Ribault, der fast ebenso scharfe Augen hatte wie Dan O’Flynn, enterte in die Wanten und bezog seinen Ausguckposten. Ferris Tucker registrierte seine ersten Erfolge, als er die Hühnerställe inspizierte. Vier Hennen hatten gelegt, zwei von ihnen vollführten ein mörderisches Gegacker, hauptsächlich weil Arwenack, der neugierige Schimpanse, immer wieder seine behaarten Arme durch die Gitter streckte und nach den Eiern grapschen wollte. »Hau ab«, knurrte Tucker, »das ist doch nichts für dich!« Fast beleidigt starrte der Affe ihn an, bleckte das Gebiß, griff dann blitzschnell nach Tuckers speckiger Mütze und flitzte los. An Deck brandete schallendes Gelächter auf. Der Affe, die speckige Mütze unter dem Arm, in Segeltuchhosen und einer Jacke, die ihn um schlotterte, raste wie ein Blitz um den fluchenden Tucker herum, umkreiste ihn, bleckte wieder die
Zähne und stülpte sich den Deckel auf den Kopf. Ferris Tucker erschien es, als grinse ihn der auf und ab hüpfende Arwenack höhnisch an. Mal stand er auf den Hinterbeinen, dann wieder auf allen vieren und hopste, bis Tucker heran war und voller Wut nach seiner Mütze griff. Arwenack war jedoch schneller. Als Ferris sich in seiner Wut nach einem Wurfgeschoß umsah, flitzte der Affe in den Großmast. Dort steckte er zwei Finger in sein Maul und zog es breit auseinander. Aber die Mütze behielt er auf, verkehrt auf den Schädel gestülpt. Da gab Ferris Tucker zähneknirschend auf und sah sich mißmutig nach den schadenfrohen Lachern um. Doch die hatten allesamt plötzlich ernste Gesichter. Whitesand Bay schrumpfte hinter der Galeone zusammen und verschwand als langgezogener Strich. Zwei Kabellängen hinter ihnen segelte Carberry die Schaluppe durch die langgezogenen leichten Wellen ohne Schaumkronen. Die See sah aus wie träges Blei, das in langsame Bewegung geraten war. Mit der leichten Besegelung erreichten sie am Frühnachmittag den imaginären Punkt, an dem Ben Brighton den Nordkurs verließ. »Neuer Kurs Ost!« rief er Big Old Shane zu. »Kurs Ost, aye, aye«, wiederholte der riesige Schmied. »Das ist Richtung Trevose Head!« »Stimmt genau. Dort wird uns keiner suchen.« Getreulich folgte die Schaluppe dem neuen Kurs. Die ab und zu kurz hervorbrechende Sonne hatte ihren Kulminationspunkt längst überschritten, als Ribaults lauter Ruf aus dem Mast ertönte: »Mastspitzen Steuerbord voraus. Zwei, oder drei!« Schlagartig war es mit der Ruhe und Beschaulichkeit an Bord der beiden Schiffe vorbei. Ribault signalisierte seine Meldung an die Schaluppe weiter. Dort hob Carberry den rechten Arm zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Ben Brighton auf dem Achterkastell nahm das Spektiv zur Hand und suchte nach den Mastspitzen. Er fand sie sofort. Drei
waren es, die ihrem Kurs entgegensegelten. Er konnte die Schiffe noch nicht genau erkennen, dafür war die Entfernung zu groß. Tucker erschien neben ihm auf dem Achterkastell. Ben Brighton reichte ihm das Spektiv und ließ ihn einen Blick hindurchwerfen. »Es könnten Karacken sein, Ben«, erklärte er vorsichtig. »So genau läßt sich das noch nicht sagen.« Er gab das Spektiv wieder an Ben Brighton zurück. »Laß das Schiff gefechtsbereit machen, Ferris. Man kann nie wissen, was sich hier alles herumtreibt. Freundliche Begrüßungen werden wir kaum zu erwarten haben.« »Vielleicht sind es irische Freibeuter«, erscholl Old Shanes Stimme. »Die treiben sich öfter hier an der Küste herum und misten aus.« Ben Brighton nickte zustimmend. Klar, es war nicht auszuschließen, daß sich hier Freibeuter herumtrieben, die an den Küsten plünderten und raubten. Deshalb wollte er für alle Fälle gewappnet sein. Tucker scheuchte sofort die Männer durcheinander. »Los, Leute, zwei Mann unter Deck, Kugeln mannen. Die Culverinen werden gefechtsklar gemacht.« Eine rege Emsigkeit setzte ein. Zwei Mann verschwanden unter Deck. Sie schleppten die siebzehn Pfund schweren Eisenkugeln nach oben, wo sie in die Tauringe gelegt wurden, damit sie nicht fortrollen konnten. Sogar der alte Haudegen O’Flynn, Dans kantiger Vater, packte eisern mit zu. Es war erstaunlich, welche Kräfte in dem alten Burschen steckten. Sein Holzbein war überall zu hören, wenn er herumflitzte. Dadurch, daß Old Shane am Kolderstock stand und O’Flynn überall mithalf, fiel es nicht so auf, daß ein paar Leute fehlten. Da die Takelage nicht voll stand, konnten sie ruhig einige Männer entbehren. Alles lief wie am Schnürchen. Handspaken, Ladeschaufeln, Ansetzer und Wischer lagen
bereit. Die schweren Culverinen wurden geladen. Ben Brighton, der vom Seewolf viel gelernt hatte, musterte seine Leute zufrieden. Alles klappte wie am Schnürchen. Im Traum kannte jeder der Männer seinen Handgriff und wußte, wo er anzupacken hatte, ohne daß es einer Aufforderung bedurfte. Ja, sie waren schon eine verdammte Crew, diese Männer, bei denen nur noch der Seewolf fehlte. Ben Brighton versuchte, sich in die Gedanken des Mannes hineinzuversetzen. Was hätte Hasard jetzt getan? Er gelangte zu dem Schluß, daß der Seewolf vermutlich auch nicht anders gehandelt hätte. Oder hätte er von sich aus die drei Schiffe angegriffen? Nein, entschied er. Das hätte er auch nicht aufs Spiel gesetzt, hier vor der Küste Cornwalls. Dazu war die Ladung, die die ›Isabella‹ in ihrem Bauch trug, viel zu kostbar. Hasard war nicht leichtsinnig. Er hätte das Schiff nur in Verteidigungszustand setzen lassen, wie Ben Brighton es jetzt tat. Er zog das Spektiv auseinander und blickte hindurch. Mitunter waren nur zwei Mastspitzen zu sehen, dann wieder drei. Er schaute zu Ribault hinauf, aber der winkte ab. »Ich kann noch keine Einzelheiten erkennen, Ben!« brüllte er hinunter. »Die sind noch weit weg!« Zehn Minuten vergingen. Brighton blickte zu der Schaluppe hin. Was unternahm Carberry? Natürlich! Der Kerl hatte nichts anderes zu tun, als seine Geschütze ebenfalls feuerbereit zu machen. Das war eine Sache von kurzer Dauer, denn die Schaluppe hatte nur die beiden Drehbassen vorn und achtern. Ferris Tucker erstattete Meldung. »Alle Culverinen sind feuerbereit, Ben.« »Danke, Ferris. Vielleicht brauchen wir sie nicht. Mir wäre es lieber, denn ich möchte ungern, daß unser Schiff beschädigt wird.« Tucker nickte. Das waren ganz seine Gedanken. Sie waren,
weiß Gott, keine Feiglinge, aber sie berücksichtigten doch einige Umstände, unter anderem den sagenhaften Schatz an Bord, den Seewolf, von dem sie immer noch nicht wußten, wie es ihm ging, und einiges andere mehr. Deshalb kam es ihnen noch lange nicht in den Sinn, einfach abzudrehen und den drei Schiffen aus dem Weg zu gehen. Wenn es sein mußte, würden sie eben kämpfen, vorausgesetzt, man griff sie an. »Drei Karacken, einwandfrei zu erkennen!« brüllte Jean Ribault vom Großmars. »Sie halten auf uns zu.« »In Ordnung. Hast du ein paar Kartuschen laden lassen, Ferris?« Ferris nickte. »In den Mitteldeckgeschützen.« »Kurs halten!« befahl Ben, und Old Shane bestätigte. »Obermarssegel hoch!« Die ›Isabella‹ nahm Fahrt auf, nachdem die Segel gesetzt waren. Jetzt lag mehr Druck auf dem Ruder, sie konnten schneller manövrieren und waren wendiger. Tucker signalisierte »drei Karacken« an Carberry weiter. Aber der alte Fuchs hatte längst begriffen, und er verhielt sich entsprechend. In der harten Schule des Seewolfes hatte er eine Menge gelernt. Ben Brighton sah wieder durch den Kieker. Lange diesmal, bis er schließlich nickte. »Es scheinen Iren zu sein«, murmelte er. »Sag ich doch«, grollte Old Shane. »Freibeuter, die an der Küste plündern. Iren, ho! Die werden sich wundern, wenn sie in uns eine leichte Beute vermuten!« Tucker grinste übers ganze Gesicht. Er warf einen bezeichnenden Blick auf den alten Donegal O’Flynn, der grimmig zu den näher kommenden Masten blickte. Wütend stampfte er mit dem Holzbein auf. »Den irischen Dickschädeln werden wir Hörner aufsetzen«, sagte Ferris und grinste wieder. »Diesmal rennen sie nicht mit
dem Kopf durch die Wand, wie die Iren das sonst immer tun.« Inzwischen hatten sich die Schiffe einander genähert. Zwei der Iren segelten hart am Wind, der dritte war etwas abgefallen und zurückgeblieben. Gleich darauf fiel auch der zweite leicht nach Backbord ab. Brighton durchschaute das Manöver sofort. »Der eine will uns von Steuerbord angreifen, der andere segelt in Lee von Backbord heran. Und die dritte Karacke will uns den Weg verlegen. Gar nicht dumm, die Burschen. Sie jagen wie ein Rudel Wölfe.« »Aber nicht wie Seewölfe«, sagte Tucker grimmig. Ben Brighton wollte zuerst auf die Karacken zulaufen, aber nach kurzer Überlegung änderte er seine Meinung. Die Kerle da drüben waren sich ihrer Sache zu sicher. Klar, daß es sich um Freibeuter handelte, daran gab es keinen Zweifel. Aber die Seewölfe Hasards waren auch Freibeuter, und das wußten die da drüben nicht. Sie sahen nur die große Galeone und witterten fette Beute. Na, denen wollten sie es zeigen. »Ruder hart Steuerbord!« brüllte Ben. Old Shane stemmte sich machtvoll gegen den Kolderstock. Das Schiff gehorchte dem Ruderdruck sofort. Es scherte nach Steuerbord aus. Die Iren, die sich ihrer Sache so sicher waren, schienen jetzt doch ziemlich enttäuscht zu sein, denn kaum hatte die ›Isabella‹, den alten Kurs verlassen, als es drüben zornig aufblitzte. Sechsmal hintereinander zuckten Blitze und quollen dunkelgraue Qualmwolken aus den Stückpforten. Ben Brighton lachte leise. Schade, daß der Seewolf nicht mit dabei war, er hätte seine helle Freude daran gehabt, wie die Iren ausmanövriert wurden. Eine ihrer Karacken war lahmgelegt, denn Ben Brighton war nicht in die Falle, sondern an Steuerbord vorbeigelaufen. So konnte die eine Karacke jetzt gar nichts unternehmen. Sie war durch die vordere gedeckt und
lag im toten Winkel. Auch für die hintere gab es nicht viel zu tun. Sie war abgefallen und mußte, wenn sie erfolgreich eingreifen wollte, erst wieder anluven. Bis sie das Manöver vollendet hatte, würden die Männer auf der ›Isabella‹ nicht tatenlos zusehen. Die Kugeln klatschten weit auf der Backbordseite der ›Isabella‹ ins Wasser. Sechs Fontänen stiegen hoch, Wasser spritzte. »Vier Schuß für die Karacke!« befahl Ben Brighton, als sie auf Parallelkurs lagen. »Den Burschen werden wir einen eisernen Vorgeschmack geben.« Die Culverinen waren klar zum Schuß. Tucker hielt die brennende Lunte an das erste Zündloch. Die anderen drei glimmten ebenfalls. »Feuerfrei!« Die Decksplanken erzitterten, als vier Culverinen ihre Siebzehnpfünder auf die Reise schickten. Qualm und Rauch hüllten die hustenden Männer ein. Gleich darauf schlug es drüben mit unvorstellbarer Wucht ein. Zwei Kugeln hatten das Schanzkleid auf der Backbordseite durchschlagen und riesige Löcher in den Rumpf gerissen. Ein wüstes Gewirr von zerfetzten Planken sah heraus. Eine der Kugeln war auf das Achterdeck niedergegangen, hatte Männer umgerissen und den Mast teilweise beschädigt. Und der vierte Treffer saß ebenfalls voll. Er schlug weiter oben ins Deck, aber die Verwüstungen, die er anrichtete, waren nicht zu sehen. Gebrüll, wüste Flüche und Schreie getroffener Männer drangen zur ›Isabella‹ hinüber. Ferris Tucker hatte eigentlich erwartet, daß Ben Brighton jetzt abdrehen würde. Aber er hatte sich getäuscht. Brighton wußte, daß die Iren durch diese erste Niederlage nur noch mehr angestachelt wurden. So schnell gaben Freibeuter nicht auf, obwohl sie sicherlich einen bösen Schreck erlitten hatten.
»Die nächsten vier, Ferris!« befahl er. Unterdessen lagen die beiden Schiffe fast parallel zueinander. Auf dem irischen Freibeuter sah Ben Brighton Männer durcheinanderhasten. Ein Segel war am Liek abgerissen und flatterte im Wind. Der Ire hatte acht Geschütze. Und irgendwie hatte er es trotz der Verluste geschafft, ein paar Kanonen wieder nachzuladen. Noch bevor Tucker feuern ließ, rauschte von drüben der zweite Eisenhagel heran. Diesmal schlug er beängstigend dicht vor der ›Isabella‹ ins Wasser. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete Ben Brighton die Einschläge. Wenn der Ire die nächste Serie abfeuerte, würde er treffen. Er schoß sich langsam ein. Und der eine luvte jetzt an, um in eine bessere Schußposition zu gelangen. Nur der dritte, der die Galeone abfangen sollte, kam nicht zum Zug. Er war zu weit abgefallen. Wieder heulten vier Eisenkugeln hinaus. Die Culverinen spuckten Rauch und Feuer. Der Krach war ohrenbetäubend. Ben Brighton registrierte die Einschläge. Eine Kugel fuhr in das Focksegel und riß ein Loch hinein. Eine andere fetzte den oberen Teil des Fockmastes in tausend Stücke. Krachend rauschten Segel, Brassen und Rahen herunter und schlugen aufs Deck. Männer versuchten verzweifelt auszuweichen. Es gab keinen Ausweg für sie. Einige lagen mit gebrochenen Gliedern an Deck, andere wurden von umherwirbelnden Holzteilen getroffen. Die Verwundeten brüllten. Ben Brighton sah, daß zwei Culverinen ihre schweren Kugeln direkt vor der Karacke ins Wasser geballert hatten. Schon wollte er sich enttäuscht abwenden, als er stutzig wurde. Tucker hatte gefeuert, aber gerade in diesem Moment hatte eine rollende See das Schiff angehoben und gleich wieder gesenkt. Genau dazwischen waren die Kanonen losgegangen. Die letzten Kugeln rissen den Rumpf dicht unterhalb der
Wasserseite auf und zerfetzten die Planken zu Kleinholz und Splittern. Die Karacke holte leicht über. Sie machte sofort Wasser, das sich sintflutartig in die unteren Räume ergoß. »Den haben wir!« schrie Tucker laut. »Der feuert nicht noch einmal auf uns!« Blitzschnell drehte er sich um. »Wollt ihr wohl sofort die Kanonen laden!« brüllte er die Männer an, die vor Freude die Arme hochrissen. In aller Eile wurde nachgeladen. Gleich darauf waren die Geschütze wieder feuerbereit. Drüben knirschten die Iren vor ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Was sich da als fette Beute angeboten hatte, war ein tödlicher Schrecken der Meere. Ein Schiff, das nicht mit Breitseiten feuerte, sondern ihnen die Kugeln haargenau in die empfindlichen Stellen setzte. Und die beiden anderen waren immer noch nicht zum Schuß gekommen. Die verdammte Galeone war nicht in die Falle gelaufen, wie man es erwartet hatte. Jetzt sahen die Iren sich in der Klemme. Aber noch hatten sie zwei Schiffe, die sie mit aller Gewalt zum Einsatz bringen mußten. Für die erste Karacke erübrigte sich ein Angriff. Sie hatte schwere Lecks, geriet aus dem Kurs und legte ihren Bug nach Lee, genau vor die zweite, die sich bemühte, an ihr vorbeizulaufen, um endlich feuern zu können. Ben Brighton sah es mit unverhohlener Freude. Jetzt waren die Iren sich gegenseitig im Weg und behinderten sich. »Sollen wir ihm den Rest geben, Ben?« fragte Tucker. Ben Brighton winkte ab. »Wäre schade um die Kugel. Der säuft sicher gleich ab, er stellt sich schon auf den Bug.« Tatsächlich! Durch die Lecks nahm die Karacke Wasser auf, als wollte sie das ganze Meer saufen. Sie wurde kopflastig. Die ersten Männer sprangen einfach über Bord und paddelten zu den anderen Iren hinüber. Nur ein paar Dickschädel versuchten
noch zu retten, was zu retten war. Es gab nichts mehr zu retten. Der Fockmast neigte sich, als das Schiff sich auf den Kopf stellte. Es knirschte laut, dann zersprangen die Wanten wie überbeanspruchte Taue. Singend fegten sie auseinander. Der Fockmast, jetzt seiner letzten Stütze beraubt, neigte sich noch mehr nach vorn, donnerte dann auf das Deck und schlug alles in Trümmer. Die Karacke tauchte. Ihr Achtersteven hob sich steil aus dem Wasser, immer höher, bis auch der letzte Mann an Bord den Halt verlor, über das Deck schlitterte und nach vorn in der See verschwand. Lautes Rauschen und Gurgeln drangen herüber. Das Schiff starb. Die Geschütze rissen aus den Brooktauen und gerieten ins Rutschen. Die schweren Taue brachen, und die Kanonen verselbständigten sich, als der Winkel immer steiler wurde. Donnernd und krachend durchbrachen sie das Schanzkleid und verschwanden in der See. Ben Brighton warf einen schnellen Blick achteraus. Carberry segelte mit seiner Schaluppe im Windschatten der ›Isabella‹, als könne ihn das alles nicht im geringsten erschüttern. Er stand vorn auf Deck, ballte die Hände zu mächtigen Fäusten und grinste herüber. Was er noch dazu brüllte, verstand Ben Brighton nicht. Wahrscheinlich bezog es sich auf die absaufende Karacke. Die ging jetzt immer mehr auf Tiefe. Ihr Achtersteven hing frei in der Luft. Das Ruderblatt bewegte sich haltlos hin und her. Mit dem Bug voran schoß sie immer schneller in die Tiefe. Eine letzte Kanone riß sich los, zermalmte alles, was ihr noch im Weg stand, und donnerte dann schäumend und gischtend ins Wasser. Inzwischen versuchte die zweite Karacke, sich freizusegeln. Ben Brighton behielt sie scharf im Auge. »Noch mehr Steuerbord!« befahl er.
Old Shane stand wie ein Fels am Ruder. Seine riesenhaften Pranken umklammerten den Kolderstock und bewegten ihn mühelos hin und her. »Mehr Steuerbord!« wiederholte er. Das war der Moment, in dem die Karacke unterging. Fast senkrecht tauchte sie nun weg, gurgelnd, rauschend, mit seltsam hohlen Lauten, als würde ihre Seele mit in die Tiefe gehen. Es zischte und brodelte wie in einem Hexenkessel. Riesige Luftblasen schossen aus dem weggetauchten Bug nach oben, wo sie blubbernd zerplatzten. Danach verschwand auch der Rest, als würde er von unten mit aller Gewalt gezogen werden. Eine trichterförmige Blase bildete sich im Meer, quoll auf, wurde größer und schwemmte Holzteile, Planken und leere Fässer nach oben. Ein einziger Ire war noch an Bord gewesen, der sich haltsuchend festgeklammert hatte. Jetzt war er mit dem Schiff auf Tiefe gegangen. Der zweite irische Freibeuter hatte angeluvt und segelte heran. Der dritte mußte eine Halse fahren, wenn er nicht hoffnungslos zurückfallen wollte. Das kostete Zeit. Hinter dem ersten schwammen immer noch Männer in der See, die laut fluchten und brüllten, weil sie nicht an Bord genommen werden konnten. Einigen gelang es, Tampen zu packen, die man ihnen zuwarf. Andere waren zu weit weg. Und die zweite Karacke konnte sich jetzt nicht um die Treibenden kümmern, sonst würde der Gegner erbarmungslos zuschlagen. »Sollen wir diesem lausigen Iren nicht eine volle Breitseite in die Planken donnern?« fragte Tucker. »Noch hat er nicht genügend Fahrt, aber gleich wird er ebenfalls losballern. Und der andere kommt auch langsam auf.« Ben Brighton sah dem Schauspiel schon eine ganze Weile zu. Dadurch, daß die Freibeuter sich verrechnet hatten, waren sie jetzt im Nachteil. Sie konnten ihre Schiffe nicht von einer Minute zur anderen in Feuerstellung bringen. Das erforderte
eine ganze Menge umständlicher Manöver, die sie Zug um Zug nachholten. »Warte noch, bis er uns den Achtersteven zeigt. Dann gib’s ihm!« Ben Brighton drehte sich um. Er hörte Carberry brüllen, der mit der Schaluppe hart heransegelte. Der Profos ballte schon wieder die Hände und hob sie hoch. Er kam dicht an die ›Isabella‹ heran, und erst jetzt erkannte Ben Brighton, was der eisenharte Carberry beabsichtigte. Er segelte in Lee vorbei, nahm sekundenlang in Kauf, daß seine Segel wie nasse Säcke im Wind hingen und drehte hart vor der Galeone nach Backbord ab. Jetzt hatte er wieder den Wind, den er benötigte. »Ich werde den Burschen knacken!« brüllte er herüber. Brighton konnte ihm augenblicklich keine große Aufmerksamkeit schenken, denn der zweite Ire, der sich freigesegelt hatte, nachdem die erste Karacke untergegangen war, feuerte jetzt. An Deck standen Männer mit Musketen. Sie legten auf die ›Isabella‹ an. In derem Kielwasser folgte die letzte Karacke. Jetzt konnten sie die fette Beute von zwei Seiten beharken. Aber sie hatten nicht mit der kleinen Schaluppe gerechnet. Und nicht mit dem Profos, der auf Teufel-komm-Raus angriff. »Al, an die Drehbasse!« brüllte der Profos. »Und daß mir, verdammt, kein Schuß vorbeigeht. Ich sage dir, wann du feuern sollst.« Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese, besetzte die achtere Drehbasse. Die Kanonen waren geladen. Stenmark stand am Ruder und segelte nach Carberrys Anweisungen schnelle Manöver. Die Schaluppe hatte den Vorteil, schnell und wendig zu sein. Gegen sie waren die irischen Freibeuter schwerfällig. Selbst die ›Isabella‹ kam da nicht mit, was die Wendigkeit betraf. Carberry näherte sich der letzten Karacke von achtern. Die
setzte jetzt alles dran, der Galeone eine Breitseite zu verpassen. Da brüllten auf der ›Isabella‹ die schweren Geschütze auf. Ben Brighton schoß eine volle Breitseite ab. Der Pulverrauch legte sich über das ganze Schiff und verzog sich nur schwerfällig. Aus den Mündungen der Culverinen rauschte der tödliche Eisenhagel hinaus, nachdem sie riesige Blitze gespuckt hatten. Krachen und Bersten! Zwölf eiserne Siebzehnpfundkugeln suchten sich ihren Weg über eine Distanz von knapp zweihundert Yards. Aber fast gleichzeitig feuerte auch der eine Ire. Diesmal traf der irische Freibeuter, und drüben brach augenblicklich ein Freudengeheul los. Das dauerte nicht mal einen Atemzug. Dann war die Freude abrupt vorbei. Zwei irische Kugeln fuhren in das Marssegel und durchlöcherten es. Das war alles. Die anderen donnerten an den Masten vorbei. Dafür traf Ferris Tucker um so besser. Die Breitseite, die herausgerauscht war, bohrte sich in die Bordwand. Auf der Karacke schlug es ein, als würde ein Vulkan losbrechen. Carberry sah es nur aus den Augenwinkeln. Er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, denn die letzte der drei Karacken hängte sich stur und beharrlich an die ›Isabella‹ an, um sie aus einer günstigen Position heraus zu beharken. Die Schaluppe rauschte von achtern heran. Carberry lachte grimmig. Dieser Ire würde sich gleich wundern. Ein letztes Manöver, dann befand sich die Schaluppe in der für ihre Drehbassen günstigsten Lage. Carberry segelte genau auf den Achtersteven los. Der wurde immer größer und riesiger und wuchs wie eine Wand vor der heranjagenden Schaluppe hoch. »Feuer!« brüllte der Profos. Auf dem Iren sah er das erschreckte Gesicht eines Mannes auftauchen, der eine langläufige Pistole in der Faust hielt.
Seine Augen waren groß und rund. Entsetzt hob er die Pistole über Bord, zielte kurz und drückte ab. Carberry warf sich an Deck. An seinem Schädel sirrte ein Bleibrocken vorbei, der in die Decksplanken ratschte. Ganz dicht neben ihm hatte es eingeschlagen. Die Drehbasse spuckte ihren Brocken aus. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte Carberrys Ohren, nachdem er den Befehl zum Feuern gegeben hatte. Die Kugel saß im Spiegel der Karacke. Sie fetzte das Ruder in Trümmer, schlug durch Spanten, Verzierungen und riß den ganzen oberen Teil des Kolderstocks auseinander. »Hart Backbord-Ruder!« schrie der Profos. Die Schaluppe krängte herum, flink und schnell und lief von dem Gegner ab, bis sie ihm den eigenen Steven zukehrte. Matt Davies hockte an der achteren Drehbasse. Das Rohr war so weit gesenkt, daß der jetzt manövrierunfähige Ire den nächsten Treffer unter die Wasserlinie bekommen mußte. Oben knatterten die Segel, als der Ire aus dem Kurs lief. Sein Kolderstock war nur noch ein wüster Trümmerhaufen. Wieder brüllte es von der ›Isabella‹ böse grollend auf. In das Krachen und Bersten der zweiten Karacke, die jetzt zusammengeschossen wurde, mischte sich das Schreien Verwundeter. Carberry ging zum zweitenmal in Deckung, als Rahen, Holzsplitter und Segelfetzen durch die Gegend flogen. Ein paar Trümmer landeten auf Deck, und ein paar Holzsplitter kriegte er auf das breite Kreuz. »Das wird euch noch verdammt leid tun!« brüllte er. »Matt! Sofort feuern!« Matt Davies schoß. Die Entfernung zum Achterteil des schwer getroffenen Iren betrug nicht mehr als dreißig Yards. Brüllend entlud sich die Drehbasse. Carberry glaubte den Lauf der schweren Kugel verfolgen zu können. Haargenau schlug sie zwischen der Wasseroberfläche und dem Spiegel ein. Ein
Loch brach auf, durch das der Profos bequem hätte hindurchkriechen können. Ein riesenhafter Schwall Wasser schoß in das Innere. Der Ire lief noch mehr aus dem Ruder und krängte nach Steuerbord über. Carberry blieb dran. Wenn der Profos sich einmal etwas vorgenommen hatte, dann hinderte ihn nichts und niemand daran. Und diesmal hatte er sich vorgenommen, die verdammte Karacke auf den Grund des Meeres zu schicken. Er drehte und luvte wieder an, bis er zum zweiten Male die vordere Drehbasse einsetzen konnte. Die drei Kugeln hatten genügt, um die Karacke zum Wrack zu schießen. Sie nahm Wasser auf, schluckte unvorstellbare Mengen und sackte dann über den Achtersteven langsam ab. Der Profos sah sich um. Von dem Kerl mit der Pistole war nichts mehr zu sehen. Der hatte die Nase voll. Und drüben ging auch die letzte der drei Karacken endgültig zu den Fischen. Ihre Geschütze schwiegen. Die zweite Breitseite hatte alles in einen Berg aus zertrümmertem Holz verwandelt. Als Mast stand nur noch ein kleiner Stumpf auf Deck, der bedrohlich wackelte. Im Wasser trieben Männer, zerschlagene Rettungsboote, Masten, Spieren, Rahen, leere Fässer und Holzplanken. Immer mehr Wasser nahm die Karacke auf, bis sie sich schließlich auf die Seite legte und unterging. Und Carberry stand an Deck und sah zu, wie auch der letzte der drei irischen Freibeuter sich anschickte, seinen Brüdern auf den Grund zu folgen. Aber der ließ sich Zeit, der ging nicht über Bug oder Achtersteven, sondern hielt sich an die Regeln für hölzerne Schiffe. Er sog sich voll Wasser, schaukelte langsam, nahm noch mehr auf, bis es an Deck gurgelte. Erst dann bequemte sich das Schiff, majestätisch unterzugehen. Über seiner versunkenen Oberfläche brodelte es. Riesige Blasen stiegen von allen Seiten hoch, ein letzter Protest
des Freibeuters, der seinen Ärger ausspuckte. Auch von ihm stiegen Holzteile nach oben, die sich mit den anderen Trümmern vermischten und eine kleine Insel bildeten. Bis auf die Löcher im Segel hatte die ›Isabella‹ das Gefecht gut überstanden. Es gab auch keine Verwundeten. Nur Carberry hatte ein paar Holztrümmer ins Kreuz gekriegt. Aber das war schließlich so breit gebaut, daß noch mehr darauf Platz gehabt hätten. Ein Teil der abgesoffenen Iren hockte in Beibooten, die noch heil waren. Die ›Isabella‹ zog an ihnen vorbei und hielt nach Überlebenden Ausschau. Sie brauchten niemanden an Bord zu nehmen, die Küste war nicht mehr weit. Bis dahin konnten die Piraten es schaffen. Dicht an dicht segelten die beiden Schiffe vorbei. Die Iren standen in ihrem Boot auf, fluchten und drohten herüber. Da lehnte sich der Profos über die Reling und musterte das armselige Häuflein grimmig. Drohend schüttelte er seine gewaltigen Fäuste. »Das nächstemal überlegt euch gefälligst, mit wem ihr es aufnehmt«, brüllte er hinunter. »Ihr verdammten irischen Holzköpfe! Und wenn ihr noch mal unseren Kurs kreuzt, dann ...« »... laß ich euch die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen abziehen«, fiel die ganze Mannschaft grölend ein, die des Profos Lieblingsspruch zur Genüge kannte. Der Profos sah sich wütend um und starrte in grinsende Gesichter. »Kurs Trevose Head!« hörte er Brightons Ruf herüber schallen. »Aye, aye, Ben! Habt ihr gehört, ihr Rübenschweine! Kurs Trevose Head. Luvt endlich an, oder ...« »Nicht schon wieder«, murmelte Matt Davies. »Die Männer sind ja schon ganz wund. Laß dir mal was anderes einfallen!« Die beiden Schiffe segelten weiter. Diese Schlacht hatten sie
geschlagen. Wieder einmal waren sie als Sieger hervorgegangen. Hoffentlich hielt die Glückssträhne an. ENDE Duell vor Cornwall von Burt Frederick Sullivan, der Bootsmann der ›War Song‹, hat alle Hände voll zu tun. Und so geht er Sir John Killigrew, dem alten Schlitzohr, in die Falle. Sir John verfolgt nur einen Gedanken: die ›Isabella‹ zu jagen und Rache zu nehmen für vieles, was der Seewolf ihm angetan hat. Tausend Tode soll Hasard sterben, und wieder ist es Dan O’Flynn, der durch einen lebensgefährlichen Einsatz eine Katastrophe verhindern kann. Sir John wagt ein zu hohes Spiel und es ist ausgerechnet sein Sohn Simon, der sich geschworen hat, sie endlich alle aufs Kreuz zu legen ...