Fatou Keïta
Die stolze Rebellin
Aus dem Französischen von Sigrid Groß
Marino bei Frederking & Thaler
Die Übersetz...
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Fatou Keïta
Die stolze Rebellin
Aus dem Französischen von Sigrid Groß
Marino bei Frederking & Thaler
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde mit Mitteln des Auswärti gen Amtes unterstützt durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e. V. Bei der ersten Erwähnung kursiv gesetzte Bezeichnungen sind im Glossar erklärt. © 1998 Nouvelles Editions Ivoriennes (N. E. L), Abidjan französischer Originaltitel: La Rebelle © 2000 für die deutschsprachige Ausgabe Frederking & Thaler Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Gudrun Honke, Bochum Übersetzung: Sigrid Groß, Düsseldorf Typografie, Herstellung und Satz: dm druckmedien, München Umschlaggestaltung: Juliane Steinbach, Wuppertal Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-89405-800-5
V 1.0
Juli 2003
(skl) by edoc Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt!!!
Kurzbeschreibung: Fatou Keïta erzählt von Malimouna, einer jungen Afrikanerin, die als kleines Mädchen durch einen glücklichen Zufall der Beschneidungstortur entgeht. Als sie im Alter von 14 Jahren an einen älteren Mann verheiratet wird, wird ihr Geheimnis entdeckt. Malimouna muß in die nächstgelegene Stadt fliehen. Sie findet bei einer französischen Familie Arbeit und kommt nach Europa. Allein und mittellos in Paris, schlägt sie sich mit Gelegen heitsjobs durch, wird Sozialarbeiterin und macht es sich zur Lebensaufgabe, Frauen zu helfen, die Opfer männlicher Gewalt geworden sind. Dabei muß sie schmerzhafte Niederlagen einstecken: Die Tochter ihrer Freundin stirbt bei einer Klitorisbeschneidung. Malimouna selbst, die sich, zurück in Afri ka, in ihren Traummann verliebt, ihn heiratet und Mutter zweier Kinder wird, muß sich schließlich eingestehen, daß ihr Mann eine Zweitfrau hat und ihr gegenüber immer autoritärer, sogar gewalttätig wird. Diese bitteren Erfahrungen bringen Malimouna dazu, sich noch intensiver gegen die Un terdrückung der Frau einzusetzen: Sie engagiert sich in einer Frauenorgani sation, veranstaltet einen Kongreß über Gewalt gegen Frauen und die Ge fahren der Klitorisbeschneidung. Zum ersten Mal überwinden betroffene Frauen ihre Scham und ihre Sprachlosigkeit und erzählen in der Öffentlich keit von ihrem Schicksal. Ein Tabu ist gebrochen, das Für und Wider einer tief in der Kultur wurzelnden Praktik wird diskutiert – doch der Kampf ist noch lange nicht gewonnen… Auf ungemein packende Weise erzählt die Autorin vom neuen Selbstbe wußtsein der Afrikanerinnen, von der Bewußtwerdung ihrer Diskriminie rung, von ihrem Kampf gegen genitale Verstümmelung, Vergewaltigung und Zwangsehen. Sie berichtet von der Einforderung ihrer Rechte und der Entschlossenheit, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, die Zukunft weiblicher zu gestalten.
Fatou Keïta wurde an der Elfenbeinküste geboren. Sie stu dierte in Frankreich, Großbritannien und den USA und unter richtet an der Abidjaner Universität englische Literatur. In ihrer Heimat ist sie als Autorin erfolgreicher, mehrfach ausgezeich neter Kinderbücher bekannt. Die stolze Rebellin ist ihr erster Roman.
1 Die verschlossene Miene der beiden Männer ließ Malimouna nichts Gutes ahnen. Sie hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, als sie kaum der Kindheit entwachsen war, doch ihre harten Züge blieben für immer in ihr Gedächtnis eingegraben. Zudem machten die Umstände, unter denen jene erste Begegnung stattgefunden hatte, ein Vergessen unmöglich. Der Wagen, der sie ins Dorf brachte, hüllte alles hinter sich in eine rote Staubwolke. Eine Wolke, die wie ein schmutziger Schwamm das Bild ihres jetzigen Lebens auswischte und sie zurückführte in eine Vergangenheit, die sie vergessen glaubte. Sie würde sterben, davon war sie überzeugt. In wenigen Au genblicken sah sie ihr Leben an sich vorbeiziehen. Sie stammte aus Boritouni, achthundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Boritouni war ein hübsches kleines Dorf, stolz auf seine Werte und Traditionen. Man lebte hier nach festen Regeln, die niemand in Frage stellte, jeder wußte um seine Rolle und um seinen Platz in der Gemeinschaft. Ein friedliches Dorf ohne geschichtliche Bedeutung. Fünf oder sechs Jahre mußte sie alt gewesen sein, als Sanita ihr zum ersten Mal begegnete. Wie schön sie ihr erschienen war in ihrem roten, gelbgeblümten Kleid, ihre schwarzen Schuhe glänzten so sehr, daß man sich darin spiegeln konnte! Sanita war unglaublich sauber und roch gut. Malimouna sah ein, daß so ein Mädchen nicht barfuß spielen oder sich auf die Erde setzen durfte, wie sie selbst es gern tat. Die vielen Zöpfe, an deren Enden wunderbare Perlen in allen Farben hingen, tanzten bei jeder Bewegung ihres Kopfes. Sanitas Perlen glänz ten noch schöner als die in den Auslagen auf dem Markt, und es sah aus, als fingen sie das Licht ein und zerstreuten es in vielfachem Funkeln wieder. Malimouna war fasziniert von dem Mädchen, das aussah wie eine Puppe und in dessen Wangen 1
sich reizende Grübchen bildeten, wenn sie lächelte. Sanita wohnte in der Hauptstadt Salouma und sprach nur Französisch, weshalb ihre Eltern sie stets während der Ferien ins Dorf brachten, damit sie die Sprache und Kultur ihrer Vor fahren kennenlernte. Malimouna und Sanita freundeten sich schnell an, ihr Alter führte sie zusammen und auch ihr Übermut. So begann Mali mouna, Französisch zu verstehen, während Sanita im Erlernen ihrer Muttersprache rasch vorankam. Wenn der Augenblick der Abreise nahte und Sanita in die Hauptstadt zurückfuhr, war es immer, als risse man die zwei auseinander. Am linken Handge lenk trugen beide das gleiche Armband, das Malimouna aus roter Plastikschnur geflochten hatte als ein Unterpfand ihrer Freundschaft und Treue. Die Mädchen hatten sich geschworen, es immer zu tragen bis ans Ende ihres Lebens. Wenn Sanita nicht mehr da war, wollten die anderen Kinder nichts von Malimouna wissen, denn sie waren eifersüchtig auf ihre Freundschaft mit der kleinen Städterin. Malimouna ging, wenn sie einsam war, gern auf versteckten Pfaden im nahegelegenen Wald spazieren. Unzählige Male hatte die Mutter es verboten, hatte ihr gesagt, sie könnte von einer Schlange gebissen oder von einem wilden Tier überrascht werden, doch umsonst: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wagte sie sich mitten hinein in Dickicht und Gestrüpp und at mete dabei tief die Wohlgerüche des Waldes ein. Sie versuchte jedesmal, so viele verschiedene Pflanzen und Baumblätter zu pflücken, wie ihre kleinen Hände halten konnten. Malimouna liebte diese Blätter in den unterschiedlichsten Farben und For men. Wie schön sie waren! Sie kannte weder ihre Namen noch Eigenschaften, wußte aber, daß sie kostbar waren, und wurde nicht müde, sie mit den Fingerspitzen zu berühren, ihren feinen und regelmäßigen Blattadern zu folgen. Sie hatte bemerkt, daß die Blätter, zu Hause glatt unter den großen Wasserkrug gelegt, trocken wurden wie Papier, dabei jedoch ihre Schönheit be 2
wahrten. Sicherlich stellte man auf die Weise farbiges Papier her, sagte sich Malimouna und war stolz auf ihre Entdeckung. Sie liebte es auch, Insekten zu beobachten. Besonders die Ameisen mit ihren endlosen Nahrungstransporten. Sie konnte nicht begreifen, wie so winzige Geschöpfe tragen konnten, was ihr mindestens einem Haus zu entsprechen schien. In geradli nigen Reihen liefen sie hintereinander wie Soldaten. Woher wußten sie, wohin sie wollten, wo sie das finden würden, was sie brauchten? Eines Nachmittags, als sie gerade herauszufinden versuchte, wohin ein langer Zug von großen roten Ameisen führte, wurde sie durch ungewohnte Geräusche in ihrer Ruhe gestört. Sie richtete sich auf, blieb eine Zeitlang ganz still und lauschte. Nichts war mehr zu hören. Gerade wollte sie sich wieder in die Beobachtung der Ameisen vertiefen, als die Geräusche von neuem anfingen. Ihr Herz begann heftig zu klopfen. Es schien ihr, als kämen sie hinter einem riesigen Busch hervor. Sie wuß te nicht, handelte es sich um menschliche Stimmen oder um das Brummen von Tieren. Am ganzen Körper zitternd, sah Ma limouna sich um. Die Geräusche drangen jetzt deutlicher zu ihr. Man hätte meinen können, daß jemand stöhnte, doch hörte sie auch Flüstern oder Zischeln, dazu Knacken von Busch werk… Blitzschnell kletterte sie auf einen Baum, und während sie rittlings auf einem dicken Ast saß, schloß sie die Augen und hörte ihr Herz wie eine Trommel in ihrer kleinen Brust schla gen. Die Geräusche hatten aufgehört. Nach einigen Minuten öffnete sie die Augen und sah hinab. Ein Tuch am Boden zog ihren Blick auf sich. Ein blaues Wickeltuch in dem ganz be sonderen Blau, das nur eine Beschneiderin tragen durfte. Sie vernahm ersticktes Lachen. Das war doch die Stimme von Di mikèla, der Beschneiderin des Dorfs! Was hatte ihr Tuch am Boden zu suchen? Und mit wem sprach sie denn? Malimouna durfte nicht von ihr gesehen werden, sonst bekäme sie be 3
stimmt eine Tracht Prügel dafür, daß sie sich so weit fortge wagt hatte vom Dorf. Sie umklammerte den Ast fester, rieb sich dabei die Arme wund und die Innenseite ihrer Schenkel. Nun hörte sie eine zweite, tiefere Stimme. Eine Männerstimme. Dimikèla schwatzte und lachte mit einem Mann; sie, die so verschlossen war, daß man sie niemals lächeln sah! Malimouna setzte sich etwas höher auf ihrem Ast, um die beiden sehen zu können. Sie reckte den Hals und fiel beinahe rückwärts hinun ter. Ihr Herz begann noch heftiger zu schlagen als zuvor, als sie die Geräusche zum ersten Mal wahrgenommen hatte. Ihre Phantasie mußte ihr einen Streich spielen. Was sie gesehen hatte, konnte nicht wirklich sein! Zitternd am ganzen Körper richtete sie sich erneut auf, um besser zu sehen. Dimikèla war völlig nackt. Nackt, wie ein Erwachsener sich niemals zeigte. Neben ihr ausgestreckt lag der junge Seynou, der kraftvollste und geschickteste Jäger im Dorf. Auch er war entkleidet und dachte offensichtlich nicht daran, sich vor fremden Blicken zu schützen. Malimouna umklammerte den Ast so fest, daß ihre Arme taub wurden, und sah den beiden entgeistert zu. Dimi kèla streichelte den kräftigen Rücken des jungen Mannes, der weil ließ er mit seiner linken Hand die Perlenketten tanzen, die sie um die Hüften trug, während seine rechte Hand weiter hin abglitt zwischen Dimikèlas Beine. Malimouna schloß die Au gen. In das Sausen ihrer Ohren und das Schlagen ihres Her zens, das ihr fast die Brust sprengte, mischten sich verworrene Geräusche, Rascheln, Brummen, Stöhnen… Als sie die Augen aufschlug, stieß sie einen Schrei aus, weil ihre Schulter stechend schmerzte. Etwa zehn besorgte Gesich ter waren über sie gebeugt. Sie wollte aufstehen, doch Matou, ihre Mutter, befahl ihr mit strenger Stimme, liegen zu bleiben. Malimouna sah sich um. Sie befand sich in der Krankenstation des Dorfes. Ein junger Arzt gipste ihr den Arm ein, während die Mutter die Wunden an ihren Knien reinigte. Matous zorni ge Stimme ließ sich erneut vernehmen: 4
»Du hättest dir den Hals brechen können! Was hattest du auf dem Baum zu suchen und so weit weg vom Dorf? Ein Glück nur, daß die gute Dimikèla dich gefunden und mit Seynous Hilfe ins Dorf zurückgebracht hat!« Bei diesen Worten begann Malimouna wieder zu zittern, ihr Blick suchte Dimikèla und Seynou. Die beiden saßen hinten im Raum und nahmen die Danksagungen all derer entgegen, die bei der Nachricht herbeigeeilt waren. Als Matou sah, wie ver stört ihre Tochter war, legte sie ihr den Arm um die Schultern und wiegte sie sanft. Wieder zu Hause, befahl Matou allen, den Unfall nicht mehr zu erwähnen, sah sie doch, wie sehr es die Kleine verwirrte, wenn sie danach gefragt wurde. Sie fing dann jedesmal zu zit tern an und brachte kein Wort mehr heraus. Dimikèla hatte erklärt, sie habe den ganzen Nachmittag Heilkräuter gesammelt, die sie für ihre Behandlungen brauchte, und sich dann unter einem Baum ausgeruht. Da habe sie hinter sich ein dumpfes Geräusch gehört. Als sie sich umwandte, ha be sie Malimouna reglos am Boden liegen sehen. Welche Angst ihr das einjagte, glaubte sie doch zuerst, die Kleine sei tot! Als sie um Hilfe rief, sei wie durch ein Wunder Seynou erschienen; so konnten sie gemeinsam das Mädchen ins Dorf bringen. Bestimmt hatte Malimouna ein wildes Tier gesehen, fügte sie noch hinzu, und wenn man ihr das wieder in Erinne rung brächte, würde man sie nur aufs neue ängstigen. Sie müß te in Ruhe gelassen und vor allem nicht weiter ausgeschimpft werden, war sie doch schon genug gestraft worden für ihren Ungehorsam. Dimikèla wurde sehr geachtet, und man hörte auf sie; wenn sie fand, daß man Malimouna keine weiteren Vorhal tungen machen durfte, hatte sie gewiß recht. Es schmeichelte Matou, daß Dimikèla sie noch mehrmals besuchte, um sich nach Malimounas Gesundheit zu erkundi gen. Jedes Mal brachte sie ihr Leckereien mit. Nie hatte Matou erlebt, daß sie sich gegen irgend jemanden im Dorf so verhielt. 5
Sie war eine strenge Frau, die fast nie lächelte. Kaum wagte man, sich ihr zu nähern, außer bei den Zeremonien der Be schneidung, über die sie als die unbestrittene Meisterin herrschte. Matou fühlte sich geehrt und besonders geachtet. Ganz langsam erholte sich Malimouna von ihrem Schrecken. Sie konnte Dimikèla jetzt ansehen, wenn diese das Wort an sie richtete. Dimikèla sprach mit ihr über alles, nicht aber über das, was sie gesehen hatte. Und Malimouna wußte, sie durfte das Thema niemals anrühren, niemals!
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2 Die Trommeln tönten von überall her, und die Zuschauer klatschten in die Hände, um die zwölf kleinen Mädchen zu ermutigen, für die man die Zeremonie ausrichtete. Der große Tag war gekommen. Sie sollten Frauen werden, würdig, daß man sie achtete, und dafür mußten sie Mut beweisen und unan fechtbare Würde. Die Prüfung würde qualvoll sein, gewiß, doch war die Qual nicht weiblich? Würden sie nicht in wenigen Jahren auch die Schmerzen des Gebärens ertragen müssen? Waren sie nicht zum Frausein geboren? In ein paar Tagen wä ren sie genesen, und das Leben würde wieder seinen normalen Lauf nehmen. Das ganze Dorf würde sie bewundern, denn nun wären sie wirkliche Frauen. An der Seite ihrer Mutter sitzend, sah Malimouna den Ge fährtinnen zu, die an den Zuschauern vorbeimarschierten. So schön sahen sie aus! Ihr nackter, mit Karitébutter eingeriebener Oberkörper glänzte in der Sonne, und sie tanzten im Rhythmus der Trommeln und der Balafone. Sie trugen ein kleines Wickel tuch in vielerlei Farben, extra für den Anlaß gewebt. Dutzende von Perlenketten um ihre Hüften und Knöchel ließen sie ausse hen wie Prinzessinnen. Malimouna beobachtete alles genau und war tief beeindruckt. Wäre ihr Arm nicht in Gips, so hätte auch sie zu der Gruppe gehört. Die nächste Zeremonie würde in zwei Monaten stattfinden, und bis dahin wäre sie ganz wie derhergestellt. Die Musik brach plötzlich ab, und eine alte Griotte trat zu der Gruppe. Sie gab jedem Mädchen eine dicke Kolanuß, die sollten sie im Augenblick der Prüfung zwischen ihre Zähne schieben. Die mutigste unter ihnen würde die sein, deren Nuß keinen oder nur einen ganz schwachen Abdruck der Zähne zeigte. Einzeln traten die Mädchen in Dimikèlas Haus. Matou sah unruhig zu ihrer Tochter hin. Sie zitterte wieder 7
und schwitzte sehr. Seit jenem Sturz verhielt sich die Kleine manchmal seltsam. Matou hatte gewollt, daß ihre Tochter sich dieser Gruppe von Mädchen anschloß, da es sich doch um ihre Altersgefährtinnen handelte, Malimouna aber hatte schluch zend darum gebeten, auch wenn ihr Arm nicht mehr schmerzte, möge man warten, bis der Gips abgenommen sei. Matou legte ihrer Tochter die Hand auf die Stirn. Fiebrig war sie nicht. »Ich möchte nach Hause«, stöhnte sie. Matou entschuldigte sich bei den anderen Frauen und ging dann, Malimouna an der Hand, langsam fort. Zu Hause setzte sich Malimouna auf eine Matte zu Füßen ihrer Mutter. Diese fächelte dem Mädchen Luft zu. »Ich will die Prüfung nicht ablegen«, erklärte Malimouna unerwartet. Matou warf den Fächer hin, den sie in der Hand hielt, und sprang mit einem Satz auf. »Verfluchtes Kind! Wovon sprichst du? Willst du uns zum Gespött des ganzen Dorfs machen?« Die Hände in die Hüften gestemmt, betrachtete Matou un gläubig ihre Tochter. Und mit einem Mal glaubte sie zu verste hen: Sanita! Diese verdammte kleine Städterin, die sich be nahm wie Toubabou, wie Weiße, von ihr, Malimounas Freun din, mußten solche schlechten Gedanken kommen! Jedesmal, wenn Sanita ins Dorf kam, waren die beiden Mädchen unzer trennlich und teilten scheinbar alle möglichen Geheimnisse miteinander, über die sie laut lachen konnten. Matou war glücklich gewesen, wenn sie ihre Tochter so fröhlich sah, wenngleich sie sich ein wenig zurückgesetzt fühlte, denn sie selbst war ausgeschlossen von den Vertraulichkeiten der bei den, die sie in Französisch austauschten, damit auch wirklich niemand im Haus sie verstand. Sanita hatte sogar angefangen, Malimouna im Schreiben zu unterrichten. Die Mädchen konn ten ganze Nachmittage damit zubringen, Buchstaben auf eine 8
Schiefertafel zu malen, die Sanita ihrer Freundin geschenkt hatte. Matou behielt manche der Wörter, die von der kleinen Lehrerin besonders oft gesagt wurden: »comme ca«, »oui«, »bravo«, »non«, und es machte ihr Spaß, sie ganz leise nachzu sprechen, obwohl sie nicht wußte, was sie bedeuteten. Ihre Tochter lernte Französisch, und darüber war sie glücklich. Das konnte nur nützlich für sie sein. Gerührt sah sie zu, wie die Kleine sich mühte, so gut sie nur konnte, über die Tafel ge beugt, die Zungenspitze im Mundwinkel und die Augen fest auf die Wörter geheftet, die sie schrieb. Sanitas Eltern, Mon sieur und Madame Diama, waren beide Beamte in der Haupt stadt. In den Schulferien kamen sie mit ihren vier Kindern und dem Dienstmädchen nach Boritouni. Sanita war die Jüngste. Ihre älteren Geschwister, ein junger Mann von achtzehn und zwei Mädchen von dreizehn und zwölf Jahren, blieben nur eine Woche. Man sah es ihrer verdrießlichen Miene wohl an, daß sie gegen ihren Willen hier sein mußten mit den Eltern. Sie langweilten sich und versuchten gar nicht, sich den Kindern im Dorf zu nähern, die im übrigen eingeschüchtert waren durch Erscheinung und Benehmen der Städter. Nach einer Woche brachte der Vater sie zum Busbahnhof, wo er sie in den Bus nach Salouma setzte. Den Rest der Ferien verbrachten sie bei einer Tante, die Kinder ihres Alters und sozialen Standes hatte. Monsieur und Madame Diama waren glücklich darüber, daß es Sanita in Boritouni gefiel und daß sie sich mit Malimouna, der Kleinen aus dem Dorf, angefreundet hatte. Wenigstens Sa nita würde ihre Muttersprache erlernen und nicht gänzlich ent wurzelt sein wie ihre Geschwister. Monsieur Diama hatte seine spätere Frau in Paris kennengelernt, als sie beide noch studier ten. Sie hatten kurz darauf geheiratet, die ersten drei Kinder wurden in Paris geboren und besuchten dort die Grundschule. Als sie dann in ihr Heimatland zurückkehrten, wurden sie von Verwandten und Freunden gehänselt wegen ihrer Kinder, die sprachen und sich benahmen wie »kleine Weiße«. Monsieur 9
und Madame Diama hatten sich geschworen, sie wieder zu »Einheimischen« zu machen, doch das war ihnen nicht gelun gen. Die Jüngste, die kleine Sanita, kurz nach der Rückkehr geboren, paßte sich trotz der Beeinflussung durch die Großen besser der neuen Umgebung an. Waren sie in Boritouni, so setzten die Eltern sie jeden Morgen bei Malimouna ab, und beide Kinder verbrachten so den ganzen Tag miteinander. Ma tou hatte den Eltern versichert, es störe sie nicht im geringsten, und ihre Tochter ziehe auch Nutzen aus der Gesellschaft. Den noch brachten Sanitas Eltern ihr regelmäßig Jamswurzeln mit, Süßkartoffeln oder Früchte. Matou merkte wohl, daß sie sich auf die Weise dafür bedanken wollten, daß sie Sanita bei sich aufnahm. Als ob das nicht ganz natürlich wäre! Ihr kam der Gedanke, daß sie sich benahmen wie Europäer. Jetzt bereute Matou, nicht wachsamer gewesen zu sein, nicht besser auf ihre Tochter aufgepaßt zu haben. Mit solchen Leuten oft zusammen zu sein konnte ja nicht ohne Folgen bleiben für Malimouna; sie mußte in Versuchung kommen, so zu sein wie sie. Bestimmt hatte Sanita mit dem Wissen ihrer Eltern Mali mouna beeinflußt. Matou hatte gehört, daß die Menschen in der Stadt unter dem Vorwand, ihren Kindern nicht schaden zu wol len, ziemlich freizügig mit ihnen umgingen und diese daher häufig schlecht erzogen waren und es an Respekt fehlen ließen. Sie hatte sich durch Sanitas sanfte, ruhige Art täuschen lassen und auch durch die Freundlichkeit ihrer Eltern. Zudem — sie mußte es gestehen – war sie stolz gewesen, daß diese Staatsbe amten ihr, einer einfachen Frau aus dem Dorf, ihr Kind anver trauten. Jetzt fühlte sie sich schuldig. Sanita war mit ihren El tern nicht mehr ins Dorf gekommen, seit davon die Rede gewe sen war, sie solle sich bei der Zeremonie Malimounas Gruppe anschließen. Zwar brüsteten sich die Eltern damit, stolz zu sein auf ihre Traditionen, zogen es aber aus wer weiß was für Grün den vor, daß ihre Tochter nicht an dem Ritual teilnahm, das doch so wichtig war im Leben einer Frau. Sie selbst jedoch, 10
Matou, würde ihre Tochter aus diesem Unglück erretten. Um jeden Preis würde sie verhindern, daß man sie aus der Gesell schaft ausschloß. Sie würde sie vor sich selbst schützen. Malimouna hatte sich gekränkt in eine Ecke zurückgezogen, und Matou beschloß, sie fürs erste in Ruhe zu lassen. Es eilte ja nicht, und in jedem Fall konnte sie sich auf Dimikèlas Autorität verlassen, die jetzt ihre Freundin war. Malimouna drehte nachdenklich das rote Armband an ihrem Handgelenk. Sie dachte an Sanita, die sie vielleicht nie wieder sehen würde und die niemals dieses kleine Teil ihrer selbst verlor. Das Stückchen ihres Körpers, das zu berühren sehr schön war, wie Sanita ihr anvertraut hatte.
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3 Malimouna wurde von neuem unruhig, als die Mutter ihr nach einiger Zeit mitteilte, Dimikèla erwarte sie zu einer klei nen Unterredung. Was konnte sie von ihr wollen? Würde sie endlich über das sprechen, wovon sie, Malimouna, wußte, daß sie es nicht erwähnen durfte? Und was gab es da überhaupt zu sagen? Malimouna war mit ihren acht Jahren kein kleines Kind mehr, sie wußte, was sie gesehen hatte, wenngleich sie den Sinn nicht ganz begriff. Sie fühlte, es war etwas Schlechtes, deshalb hatte sie solche Angst gehabt, und deshalb beunruhigte das Gesehene sie oft nachts und störte ihren Schlaf. Sie hatte es schließlich in einem Winkel ihres Erinnerns vergraben, und nun wollte Dimikèla sie sehen. Sogleich kam ihr alles wieder in den Sinn. Malimouna ließ ihre nackten kleinen Füße über den warmen Boden schleifen, als sie dem gewundenen Pfad zu Dimikèlas Haus folgte. Als sie ankam, saß Dimikèla vor ihrer Tür. Sie zerstampfte ein Gemisch aus rötlichen Blättern in einem Mör ser. Unfähig weiterzugehen, blieb Malimouna stehn. Dimikèla bat, ohne auch nur den Kopf zu heben, sie möge näherkommen und ihr etwas Wasser holen für die Zubereitung der Blätter. Die Kleine grüßte Dimikèla und beeilte sich, ihr eine Kalebasse mit Wasser zu bringen. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und sah zu, wie Dimikèla die Blattmischung bearbeitete. Mit der linken Hand ließ sie unter leisen, gleichförmigen Geräu schen rasch den Stößel im Mörser auf- und abgleiten, während ihre rechte Hand immer dann, wenn der Stößel sich zurückzog, die Blätter durchknetete. Dimikèla tat dies so geschickt und so rasch, daß Malimouna sich fragte, wie sie es anstellte, sich nicht auf die Finger zu schlagen. Zum ersten Mal sah das Mäd chen Dimikèla aus der Nähe. Diese Frau war von einem My thos umgeben. Alle Kinder hatten Angst vor ihr, denn nie sah 12
man sie lächeln. Sie lebte mit zwei Nichten zusammen, die sie großzog. Man erzählte, ihr Mann habe sie verlassen, weil sie keine Kinder bekommen konnte. Zaghaft hob Malimouna die Augen zu Dimikèlas Gesicht und machte eine erstaunliche Entdeckung: Es war ein schönes Gesicht mit regelmäßigen Zügen. Mit hellem Teint und einer Haut, die sehr zart aussah. Dimikèla war nicht alt, wie sie immer gemeint hatte. Sie konn te Matous Alter haben, höchstens. Plötzlich hörte Dimikèla mit dem Stampfen auf und sah Malimouna direkt in die Augen, was diese von ihrem Sitz aufspringen ließ. »Weißt du, warum ich dich hergebeten habe?« fragte sie streng. Seit dem denkwürdigen Sturz hatte Dimikèla stets freundlich mit ihr gesprochen, doch jetzt war ihre Stimme hart und der Blick eiskalt. »Nein…«, stammelte Malimouna und wußte nicht wohin. »Deine Mutter hat mich gebeten, dich auf die erste Prüfung in deinem Leben als Frau vorzubereiten, die in zwei Wochen stattfindet. Sie hat mir auch gesagt, du willst nicht daran teil nehmen.« Dimikèla lachte höhnisch und spuckte auf die Erde. »Für wen hältst du dich, daß du es wagst, dich so aufzuleh nen? Du bist als Frau ja noch gar nicht geboren! Ich sage dir, eine Frau, die sich dieser Prüfung verweigert, wird niemals Herrin ihres Körpers sein und eine schamlose Person werden, denn nichts…« Malimounas hochmütiger Gesichtsausdruck ließ sie in ihrer Rede stocken. Das Mädchen begriff den Sinn der Worte nicht ganz, doch eins wußte sie genau: Dimikèla wollte ihr sagen, sie würde eine schlechte Frau, wenn sie sich dem Ritual verwei gerte. »Wenn ich es nicht tue, verhalte ich mich dann so wie du mit Seynou?« brachte sie in einem Atemzug heraus. In ihrer Verblüffung, in die sich Zorn mischte, merkte Dimi 13
kèla gar nicht, daß sie ihren Stößel über dem Kopf des Kindes erhoben hatte. Mit einem Satz war Malimouna auf den Füßen und rannte schreiend davon, während Dimikèla ihr vergebens nachrief, sie solle zurückkommen. Malimouna lief, bis ihr die Luft wegblieb. In die ihrem Zuhause entgegengesetzte Rich tung. Sie konnte nicht sofort nach Hause, sie hätte auf zu viele Fragen antworten müssen. Außer Atem kam sie zu der Stelle, wo sie Dimikèla und Seynou beobachtet hatte. Sie war seitdem nicht dort gewesen. Seltsamerweise ängstigte die Erinnerung sie nicht, sie fühlte sich vollkommen ruhig. Sie setzte sich un ter einen Baum, und sogleich wurde ihr Blick von einem Käfer angezogen, der langsam über den Boden lief. Sie hob einen kleinen trockenen Ast auf und ließ das Insekt hochkrabbeln. Nun konnte sie es ganz aus der Nähe betrachten. Es war ein sonderbares Tier. Glänzend schwarz und durch einem dicken Panzer geschützt, über den Kopf ragte ein riesiges, glattes Horn. Ängstlich berührte Malimouna dessen spitzes Ende. Wie das Horn eines winzigkleinen Nashorns. Malimouna fand das ganz ungewöhnlich. Wie konnte ein Insekt das gleiche Horn besitzen wie ein riesengroßes, schwerfälliges Nashorn? Viel leicht war es wie in den Märchen, die Großmutter ihr erzählte, wenn sie zu Besuch kam, daß ein Hexenmeister ein mächtiges Nashorn verzaubert hatte, weil er neidisch war auf seine Kraft. Deshalb hatte er es zu einem machtlosen Insekt verkleinert und ihm nur das Horn gelassen, um es an seine Vergangenheit zu erinnern. Malimouna hob einen der Flügel etwas an und ent deckte darunter erstaunt einen zweiten Flügel, fein und durch sichtig. Bestimmt versteckte das Tier die Flügel vor dem bösen Hexer, um eines Tags ohne sein Wissen davonzufliegen und in einem Zaubersee zu baden, der ihm seine ursprüngliche Gestalt wiedergeben würde. Sie beobachtete das Insekt ganz genau, das sich jedesmal zu entziehen suchte, wenn sie es berührte. Sie fragte sich, was es wohl von ihr denken mochte. Zweifellos mußte es sich in Angst und Schrecken versetzt fühlen, dachte 14
sie, vor einer Gestalt, die für das kleine Tier nur ein schreckli ches Ungeheuer sein konnte. Ein Ungetüm, das es drehte und wendete und dann gewiß verschlingen würde. Sie lächelte, und nach einer Weile stand sie auf. »Sei unbesorgt, eines Tages findest du den Zaubersee, du badest darin und wirst wieder ein Nashorn«, rief sie laut. Langsam machte Malimouna sich auf den Heimweg. Das In sekt trug sie auf dem kleinen Zweig. Kaum hatte sie den Hof erreicht, da tauchte schon die Mutter hinter ihr auf, packte sie und zog sie ins Haus. Dimikèla war da und sah sie lächelnd an. In nichts glich sie mehr der drohenden Furie, die Malimouna kurz zuvor kennengelernt hatte. »Geh nicht grob mit ihr um«, sagte sie ruhig zu Matou. »Am Ende wird sie schon verstehen. Ich habe Blätter mitgebracht, die kochst du auf. Mit dem Sud wäschst du sie, damit die bösen Geister nicht länger ihre Ruhe stören und sie ihrem Schicksal als Frau überlassen. Das Bad wird auch jede Art Zauber von ihr nehmen, den man vielleicht über sie verhängt hat. « »Mein Kind«, sagte Matou und betrachtete Malimouna, »mein eines, einziges Kind, solange ich lebe, sollst du keine Frau mit schlechtem Lebenswandel werden!« Sie wischte eine Träne weg, die ihr über die Wange hinablief zu dem zitternden Kinn. Malimouna war voller Mitleid mit dieser Frau, so sehr liebte ihre Mutter sie, und auch sie selbst liebte die Mutter von ganzem Herzen. Louma, Malimounas Vater, hatte sie vor langer Zeit unter dem Vorwand verlassen, Matou bekomme keine Kinder mehr und er brauche Söhne, die seinen Namen trügen und sein Stolz wären. Nur eine blasse Erinnerung bewahrte Malimouna an ihren Vater, besonders an seine barschen Befehle. Jetzt, wo sie daran dachte, merkte sie, daß sie ihm niemals nahe gewesen war, ihn niemals hatte lä cheln sehen. Es hatte ihr nicht wehgetan, als er sie fortjagte. Im Gegenteil, sie spürte, daß der Schatten dieses Mannes, vor dem sie sich fürchtete, nicht länger auf ihr lastete. Kurze Zeit nach 15
ihrem Fortgehn hatte Louma eine andere Frau genommen und ein Jahr darauf erneut geheiratet. Durfte Malimouna zulassen, daß man sich noch einmal über ihre Mutter lustig machte? Sie sah zu ihr hin, lächelte sie an. Matou schloß sie in ihre Arme und wiegte sie sanft.
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4 Malimouna war die schönste unter den zwölf Mädchen. Sie überragte die anderen an Größe und zog die Blicke der kleinen Versammlung auf sich. Ihr Oberkörper, auf dem die kleinen Brüste sich abzuzeichnen begannen, war mit Karitébutter ein gerieben und tanzte im Rhythmus der Trommeln. Malimouna wirkte nicht verkrampft wie ihre Gefährtinnen, die Mutter sah sie lächeln und war stolz auf sie. Endlich war der so entschei dende Tag im Leben einer Frau auch für ihre Tochter gekom men. Ihr Mutterherz füllte sich mit Stolz. Das Ritual wurde an immer jüngeren Mädchen vollzogen, um zu vermeiden, daß sie im entscheidenden Augenblick zu fliehen versuchten, wie das manchmal geschah. Matou jedoch wußte, wenn sie Malimou nas Gesicht ansah, sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Ihre Tochter hatte keine Angst und begriff die Bedeutung der Zeremonie. Sie wußte schon um ihre Pflicht als Frau. Matou war stolz, sehr stolz. Sie hatte ihr Mädchen gut erzogen. Als Malimouna an die Reihe kam, trat sie mutig ein, ihre Kolanuß in der Hand. Sie erkannte Dimikèla nicht. Die Frau im Innern des Hauses hatte ihr Gesicht mit Kaolin bestrichen, und ihre Augen hefteten sich mit hartem Blick auf Malimouna. War sie das überhaupt? Malimouna wurde plötzlich von panischer Angst gepackt. War etwa die Beschneiderin ausgetauscht wor den? Das durfte nicht geschehen, sie mußte sich retten! Sie warf einen Blick zur Tür hin, doch zwei alte Frauen versperrten jetzt den Eingang und verhinderten, daß jemand herein- oder herauskonnte. Wenn ein Mädchen sich wehrte, würden die Frauen einschreiten und sie festhalten. Dimikèla war aber so geschickt und so rasch, daß sie selten deren Hilfe brauchte. Plötzlich fühlte Malimouna die Hand der Beschneiderin auf ihrem Arm und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, denn sie hatte ihre Stimme erkannt. Es war Dimikèla. Alles würde 17
gut werden. »Leg dich auf die Matte und öffne deine Beine«, befahl Di mikèla. »Muß man dir erst helfen?« »Nein«, antwortete Malimouna und fragte sich, was die gan ze Komödie eigentlich sollte. Dimikèla, die ihre Verwirrung bemerkte, deutete mit dem Kinn auf die alten Frauen am Eingang, die ihnen den Rücken zuwandten, und auf die anderen Mädchen, die mit geschlosse nen Augen bereits auf der Matte lagen. Tränen rollten über ihre Schläfen, und von Zeit zu Zeit hörte man ein ersticktes Schluchzen. Malimouna streckte sich ebenfalls auf der Matte aus und spreizte die langen Beine. Dimikèla trat zu ihr, be waffnet mit ihrer Klinge, und bevor Malimouna noch Zeit hat te, an irgend etwas zu denken, stöhnte sie vor Schmerz und biß mit allen Zähnen in ihre Kolanuß. Erschreckt sah sie Dimikèla an, die ihr den Mund zuhielt, damit sie nicht schrie. Malimouna war entsetzt, Dimikèla hatte ihr Wort nicht gehalten! Nun wür de sie, Malimouna, aller Welt erzählen, was sie zwischen Di mikèla und Seynou beobachtet hatte. Alle sollten es wissen! Sie riß Dimikelas Hand weg und richtete sich stöhnend auf. Da bemerkte sie, daß der Schmerz oben am Schenkel saß und nicht zwischen ihren Beinen. Sie wollte es untersuchen, doch Dimi kèla hielt sie so lange auf der Matte fest, bis sie sich nicht mehr bewegte. Die alten Frauen am Eingang hatten sich umgedreht und sahen Dimikèla forschend an. Diese bedeutete ihnen, alles sei in Ordnung. Dann legte sie eine Blättermixtur auf die Wun de und deckte Malimouna wie die anderen Mädchen mit einem dunklen Tuch zu. Malimouna schloß die Augen. Bald kam das elfte Mädchen herein, dann das zwölfte. Eine Woche blieben sie in Dimikèlas Haus, wurden von ihr gepflegt, beköstigt und verwöhnt. Sie bekamen die besten Mahlzeiten, und abends erzählte Dimikèla ihnen Geschichten, die sie zum Lachen brachten und den Schmerz leichter ertragen ließen, der sich im Lauf der Tage abschwächte. 18
Gleich in der ersten Nacht hatte Malimouna mit der Hand zwischen ihren Beinen getastet. Nein, der Schmerz kam nicht von dort, und jenes kleine Stückchen ihres Körpers, so ange nehm zu berühren, wie Sanita sagte, war noch da. Lächelnd schlief sie ein. Als sie wieder nach Hause durften, wurden ihnen alle Ehren zuteil, die man jungen Mädchen erweist, wenn sie sich der er sten Prüfung als Frau unterzogen haben. Sie waren jetzt ehr würdig und geachtet. Anfangs fragte Malimouna sich jeden Tag ängstlich, ob ihr Gesichtsausdruck nicht ihr Geheimnis verraten würde. Sie vermied es, den Menschen in die Augen zu sehen, und kapselte sich noch ein wenig mehr ab. Schließlich beruhigte sie sich. Wer würde schon zwischen ihren Beinen nachsehen? Niemand, nicht einmal ihre Mutter. Lange schon wusch sie sich selbst und wußte über die intime Körperpflege Bescheid. Nein, ihr Geheimnis stand ihr nicht ins Gesicht ge schrieben, und sie selbst würde es gewiß nicht in die Welt schreien.
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5 Mit vierzehn Jahren sah Malimounas Körper aus wie das Meisterwerk des besten Ebenholzschnitzers im Dorf. Ihre har monischen, vollen Rundungen zogen die Blicke der Männer auf sich und ließen sie verträumt zurück. Alle jungen Männer machten ihr den Hof, doch ihr noch kindlicher Verstand ließ nicht zu, daß sie es bemerkte. Plötzlich erinnerte sich Louma, ihr Vater, daß er eine Toch ter hatte. Er teilte mit, er habe sie einem Freund versprochen, einem reichen Geschäftsmann. Eines Abends kam er in Beglei tung zweier jüngerer Brüder des zukünftigen Ehemanns, um sie abzuholen. Malimouna solle mitkommen, hatte er nur barsch zu Matou gesagt. Er würde sie mit seinem Freund Sando ver heiraten. Malimouna weinte bitterlich bei der Ankündigung, Matou jedoch sagte ihr immer wieder, sie müsse sich ihrem Schicksal fügen. Ihrem Schicksal als Frau. Es würde schon alles gut wer den, versuchte sie Malimouna zu beruhigen. Eine Frau mußte sich verheiraten und Kinder haben, und sie, Matou, freue sich über die Heirat, denn sie sei ein Segen. Während sie so sprach, wischte Matou die Tränen weg, die unaufhörlich unter ihren Lidern hervorquollen, als wollten sie die Sprecherin Lügen strafen. Äußerst widerwillig akzeptierte Louma, daß Matou zu der Feier mitkam. Auf dem langen Weg zu Loumas Hof am ande ren Ende des Dorfes weinten Mutter und Tochter Arm in Arm alle Tränen, die ihr Körper nur hergab. Man hätte meinen kön nen, sie gingen zu einer Beerdigung. Louma marschierte mit festen, entschiedenen Schritten voraus, Matou und ihre Tochter folgten traurig, von den beiden Brüdern eingerahmt, die sich ähnlich sahen wie ein Ei dem andern. Durch ihre harten Züge und ihren kalten Blick eingeschüchtert, warf Malimouna ihnen 20
verstohlene Blicke zu. Trotz ihrer Befürchtungen und Ängste war Malimouna be eindruckt von dem Luxus, in dem ihr Vater jetzt lebte. Sein Reishandel, den er mit Sandos Hilfe aufgezogen hatte, blühte offensichtlich. Er besaß ein großes in Stein erbautes Haus, und jede seiner zwei Frauen hatte ein eigenes Zimmer mit fließendem Wasser und Dusche. Seine vielen Kinder teilten sich zwei weitere Räume, und ein fünfter war soeben eingerichtet wor den, um die neue und vierte Ehefrau zu empfangen, die in ei nem Monat eintreffen würde. Hier wurden Malimouna und ihre Mutter während des kurzen Aufenthalts in seinem Haus unter gebracht. Louma hatte schon alles für die Feier vorbereitet. Bereits am nächsten Tag waren Haus und Hof voller Menschen. Die Män ner auf der einen, die Frauen auf der ändern Seite. Malimouna wurde in ihr Zimmer eingeschlossen. Die vier Schwestern des Vaters hatten sie in kostbare und prächtige Tü cher gekleidet und mit Goldschmuck behängt. Doch sah man den Schmuck kaum, weil sie einen dunklen Schleier tragen mußte, der Kopf und Gesicht verdeckte und bis zu den Schul tern ging. Ihre Mutter war in eine Ecke des Raums verbannt worden. Sie wurde eben nur geduldet, und das ließ man sie sehr wohl spüren. Am Boden sitzend sah sie zu, wie ihre Schwägerinnen Henna auf Malimounas Fußsohlen und Hand flächen auftrugen. Dabei mußte peinlich genau gearbeitet wer den. Mit geschickten Fingern zeichneten sie schwierige geome trische Figuren. Die Stellen, die ungefärbt bleiben sollten, ver steckten sie unter winzigkleinen Stückchen Heftpflaster. Schließlich waren Handflächen und Fußsohlen dick mit Hen napaste bedeckt, die durch Bandagen an der richtigen Stelle gehalten wurde. Nach mehreren Stunden wurde das Henna ent fernt, und als man die kleinen Pflasterstückchen abnahm, er schienen herrliche Muster. Matou saß nachdenklich dabei. Ihre Tochter heiratete. Fände 21
die Hochzeit nicht unter solchen Umständen statt, ihr, Matous Glück wäre vollkommen. Für Eltern war es stets eine große Ehre und Freude, eine Tochter zu verheiraten. Hier aber betraf es nur Louma und die Seinen. Normalerweise hätten alle Feier lichkeiten bei ihr als der Brautmutter stattfinden müssen, doch sie war verstoßen und existierte nicht mehr. Trotz der Traurig keit, die ihr die Kehle zuschnürte, empfand sie tief in ihrem Innern Stolz, daß ein bedeutender Mann ihr innig geliebtes Kind zur Frau wünschte. Malimouna würde ihm das geben, was sie selbst nicht gekonnt hatte, das ersehnte sie von ganzem Herzen: viele Söhne, die ihr die Achtung ihres Ehemanns und mithin des Dorfs einbringen würden. Ihre Tochter, ihre einzige Tochter sollte mehr Glück haben als sie selbst, dafür würde sie an jedem ihr verbleibenden Tag beten. Sie blickte zu ihrem Kind hinüber: Malimouna schien sie durch den Schleier zu beobachten. Matou deutete ein Lächeln an und unterdrückte es rasch wieder angesichts des erzürnten Blicks einer ihrer Schwägerinnen. Zwei Tage lang blieben sie eingeschlossen, nahmen in der unfreundlichen Atmosphäre schweigend die Mahlzeiten zu sammen ein. Von ihrem Zimmer aus hörten sie und sahen in ihrer Phantasie das großartige Fest, das sich draußen abspielte. Sie nahmen den aufgeregten Takt der Trommeln wahr und den melodischen, fast metallischen Klang der Balafone. Die Grio ten wetteiferten in ihrer Erzählkunst und sangen dröhnende Loblieder auf Malimounas Vater und auf den, der ihr Ehemann werden sollte. Ihr Ehemann. Sie hatte ihn nicht einmal gesehen. Ihr Herz zog sich zusammen, sie wußte nicht weshalb, und sie dachte an ihre Freundin Sanita. Seit so vielen Jahren hatte sie Sanita nicht mehr gesehen. Wie stolz wäre sie gewesen, ihr im Lauf eines langen Getuscheis zu verraten, daß auch sie jenes Stückchen ihrer selbst bewahrt hatte und jetzt wußte, daß es angenehm zu berühren war! Bei diesem Erinnern mußte sie lächeln. Sogleich 22
wurde sie in die Realität zurückgeholt, denn eine ihrer Tanten hielt ihr ein kleines weißes Baumwolltuch hin. Das Laken, so erklärte sie ihr, sollte Malimouna für die erste Nacht mit ihrem Ehemann über das Brautbett breiten. Am nächsten Morgen dann müßte es ihnen gezeigt werden, damit sie von ihm able sen konnten, ob die Braut jungfräulich gewesen war. Malimounas Herz begann heftig zu schlagen. An diese Seite der Heirat hatte sie gar nicht gedacht. Sie hatte vergessen, daß sie in nur wenigen Stunden ihren Ehemann sehen würde und daß es damit nicht getan wäre. Sie war jetzt mit Leib und Seele sein Eigentum! Leib… Ihr Herz schlug so laut, als wolle es ihr die Brust sprengen. Dieser Mann würde ihren Körper erfor schen, auch seine intimsten Bereiche, und sie hatte in ihrer Naivität geglaubt, das Geheimnis um jenes kleine Stück ihrer selbst gehöre nur ihr… Sie war ratlos, von schlimmsten Äng sten gepackt. Sie zitterte wie in plötzlichem Fieber. Ihre Mut ter, die zu ihr hinsah, bemerkte das und wagte es, sich ihr zu nähern. »Ist dir nicht gut?« fragte sie und faßte sie um die Schultern. Die Frauen stießen Matou wieder in ihre Ecke, und eine von ihnen spottete böse: »Wenn ein junges Mädchen in dem Au genblick zittert, in dem man ihr das Brautlaken überreicht, muß man nach dem Grund nicht lange suchen!« Alle lachten aus vollem Hals. Matou war bestürzt. Ihre Tochter, ihr kleines Mädchen war Jungfrau, dessen war sie ganz sicher. Wieso dann diese Panik, die sie an Malimounas unerklärliches Verhalten nach dem denkwürdigen Sturz erinnerte, als Dimikèla sie mit gebroche nem Arm nach Hause gebracht hatte. Könnte sie nur einen Au genblick mit ihrer Tochter allein sein! Malimouna rang jetzt nach Atem und wand sich wie unter furchtbaren Schmerzen. Matou sprang auf. Sie war schließlich ihre Tochter, und ihr Mutterinstinkt sagte ihr, daß sie flehent lich um Hilfe bat. 23
»Ich brauche eine kalte Dusche«, stöhnte Malimouna, »Ma man…« »Ich werde ihr helfen«, sagte Matou in energischen Ton zu den Frauen. Selbst über ihre Kühnheit erstaunt, ging sie mit ihrer Tochter ins Bad und schloß rasch zweimal ab. Sie half Malimouna, sich auszuziehen. Der Körper der armen Kleinen war mit Schweiß bedeckt. Unter dem kalten Wasserstrahl zuck te sie zusammen, beruhigte sich jedoch bald durch die Frische des Wassers. Zusammengekauert hockte sie da, die Arme über der Brust verschränkt, und das Wasser rann über die schönen, frisch geflochtenen Zöpfe. Matou drehte den Hahn zu. »Was ist denn los?« fragte sie und legte ihre Hand auf Ma limounas Haar. Diese senkte den Kopf und spreizte ihre Beine. Matou fuhr zurück, aber die Frauen nebenan fielen ihr ein, und sie erstickte den Aufschrei, legte beide Hände auf ihren Kopf. Wie konnte das möglich sein? Dimikèla konnte ihr das nicht angetan haben! So vieles wollte sie ihre Tochter fragen! Wie hatte das geschehen können? Sie selbst, Matou, war doch am Tag der Zeremonie dabeigewesen und hatte unzweifelhaft ge sehen, wie Malimouna tapfer in das Haus der Beschneiderin getreten war. Und wie die anderen Mädchen der Gruppe war ihre Tochter eine Woche lang bei Dimikèla geblieben, die Zeit der Heilung, und erst dann wieder nach Hause gekommen! Matou wollte sprechen, doch die bösen Frauen nebenan häm merten schon gegen die Tür zum Zeichen, daß sie herauskom men mußten.
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6 Die Trommeln waren jetzt verstummt. Matou war nach Hau se zurückgekehrt und Malimouna sehr spät am Abend zu ihrem Ehemann gebracht worden. Man hatte sie in ein großes Zimmer geführt, neben dem der ersten Ehefrau gelegen. Mit ihrem wei ßen Laken ließ man sie allein zurück. Dies war das Zimmer des Ehemannes. Ihr eigenes befand sich am Ende des Flurs, und dorthin hatte man ihre Aussteuer gebracht und alle Geschenke. Dort würde sie erst nach zwei Wochen schlafen. Zuerst sollte ihr Ehemann sie kennenlernen. Sie saß auf der Kante des Betts, das den ganzen Raum ein zunehmen schien, und sah sich um. Das Zimmer war unter den vielen brennenden Lampen taghell. Schöne orientalische Tep piche schmückten die Wände. Noch nie hatte sie etwas so Schönes gesehen. Sie konnte dem Wunsch nicht widerstehen, auf einen der Schaltknöpfe des Ventilators neben dem Bett zu drücken. Sogleich fing er an, sich zu drehen mit einem Ge räusch, das sie aufspringen ließ. In ihrem Schrecken drückte sie auf einen zweiten Knopf, der Apparat beschleunigte sein Tem po, und das Geräusch wurde zu einem furchtbaren Knattern. Der Wind, den das Gerät erzeugte, blies ihr ins Gesicht und ließ die Wandteppiche hinter ihr knallen. Mit zitternden Fin gern drückte sie noch eine Taste, und nun spielte der Apparat völlig verrückt. Rasch drückte sie einen letzten Schalter, der endlich den Ventilator wieder anhielt, der Propeller wurde im mer langsamer und stand dann zu ihrer großen Erleichterung still. Sie würde nichts mehr anrühren, sagte sie sich und preßte die Arme gegen ihre Brust. Sie betrachtete das Bett. Es war wirklich riesig. Ihr fiel plötz lich ein, wozu sie hier war, sie sprang auf und stellte sich neben einen großen Schrank dem Bett gegenüber. Was würde aus ihr werden? Ein verrückter Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Sie 25
ging zur Tür hin, drehte den Griff. Die Tür war verschlossen. Sie schaute zum Fenster, doch durch den Vorhang hindurch konnte sie deutlich die Stäbe der Eisengitter erkennen, wie in einem Gefängnis. Sie ließ sich wieder auf das Bett sinken und stützte den Kopf in die Hände. Mit angespannten Nerven und fiebrigem Körper horchte sie auf das leiseste Geräusch von draußen. Doch das Warten wurde lang, und Müdigkeit be zwang ihre Angst. In einer Ecke des Betts zusammengerollt, schlummerte sie gerade ein, da vernahm sie, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde. Malimouna sprang auf die Füße und trat vom Bett weg, die Augen auf die Tür gerichtet. Als er ein trat, fiel ihr vor Schreck das Leintuch, das sie immer noch fest hielt, aus den Händen. Sie erkannte ihn. Es war der, den die Kinder in Boritouni den »verliebten Alten« genannt hatten, denn er streifte oft mit seinem großen schwarzen Wagen durch ihr Dorf. Er fuhr dann immer mit gewissen jungen Mädchen weg, deren Eltern so taten, als wüßten sie von nichts. Kamen die Dämchen zurück, so waren sie stets beladen mit kleinen Geschenken. Lächelnd näherte er sich ihr, in der Hand eine Gebetskette, deren Perlen er mechanisch weiterschob. »Du bist sehr hübsch«, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus. Sie fuhr zurück. »Hab keine Angst«, fügte er hinzu und legte die Gebetskette auf das Bett. Dann, als fiele ihm plötzlich etwas ein, ging er noch einmal zur Tür und verschloß sie doppelt. Den Schlüssel steckte er in die Tasche seines weiten, reich verzierten Bubus. Dann setzte er sich auf das Bett und zog sich aus. Er war nicht nur dick, er war unförmig. Malimouna wich zurück, die Arme über der Brust verschränkt, und warf durch ihre heftige Bewegung eine kleine Statue um. »Das ist die Statue der Fruchtbarkeit«, verkündete der alte Sando. »Sie wird dir helfen, viele Kinder zu gebären, so ge sund und stark wie ich. Komm her«, sagte er, hob das weiße 26
Laken auf und breitete es gekonnt über das Bett. Ehe sie es merkte, hatte er schon ihren Arm gepackt, sie auf das Bett ge worfen und ihre Wickeltücher heruntergerissen. Hätte seine große Hand ihr nicht den Mund verschlossen, sie hätte vor Schmerz geschrien. Er erdrückte sie fast mit seinem Gewicht. Ihr schien, als dauerte es Stunden. Dann, berauscht von der Ekstase, wollte er sie ein zweites Mal nehmen. Er richtete sich auf, um den Anblick ihres jungen Körpers zu genießen, da fiel sein Blick auf ihre Scham zwischen den noch gespreizten Bei nen. Mit weit aufgerissenen Augen streckte er die Hand aus. Es gelang ihr durch eine übergroße Kraftanstrengung, sich zu be freien. Sie fand sich am Fußende des Betts wieder, und die kleine Statue fiel ihr auf die Füße. Der alte Sando sprang herzu und drückte ihr mit Gewalt die Knie auseinander. Vielleicht hatte er nicht genau hingesehen. Oder er hatte geträumt! Mali mouna wehrte sich wie eine Verrückte, doch die Kräfte waren zu ungleich. Es gelang ihm, ihre Beine unter seine starken Knie zu zwingen, mit einer Hand hielt er ihr beide Arme über dem Kopf fest. Seine linke Hand öffnete die Schamlippen. Er hatte richtig gesehen. Mit einem Aufschrei des Entsetzens ließ er sie los. Dann erhob er sich schroff, warf seinen Bubu über und ging zur Tür. Malimouna, in der Hand die Statue, sprang zu ihm hin. Sie schlug ein einziges Mal zu, mit all ihrer Kraft. Ohne einen Laut brach er zusammen. Erst als er reglos vor ihr lag, wurde ihr bewußt, was sie getan hatte. Zitternd ließ sie die Statue los, die sie noch immer in der Hand hielt. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Sie stieg über seinen leblosen Körper hinweg und ging zur Tür. Dann fiel ihr ein, daß der Schlüssel noch in der Tasche von Sandos Bubu steckte, und sie warf ei nen furchtsamen Blick auf ihn. Er rührte sich nicht. In fiebriger Hast glitt ihre Hand in die Tasche und zog den Schlüssel her aus. Rasch kleidete sie sich an und lauschte an der Tür. Alles schien ruhig, doch ihr Herz schlug so laut, daß sie dessen nicht sicher war. Hinter sich hörte sie Sando stöhnen und sich bewe 27
gen. Ohne sich nach ihm umzusehen, drehte sie mit zitternder Hand den Schlüssel im Schloß und öffnete die Tür. Sie zog den Schlüssel ab und verschloß die Tür doppelt hinter sich. Einen Augenblick lang stand sie still und lauschte. Irgend jemand schlief im Salon. Im Halbdunkel konnte sie eine ausgestreckte Gestalt erkennen. Sicher war es eine von den alten Frauen, die am Morgen nach der Hochzeitsnacht Bericht erstatten sollten, wie ihr kleines weißes Laken aussah. Malimouna hörte sie re gelmäßig atmen. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Eingangstür. Der schwere Riegel, an dem sie mit aller Kraft zog, knirschte unter ihren durch die Angst gelähmten Fingern. Immer wieder hielt sie inne, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Hände schwitzten so stark, daß sie sie mehrere Male an ihrem Wickeltuch abwischen mußte, bevor sie weiter an dem Riegel zog. Endlich gab er nach. Einen Augenblick lang stand sie still, auf das leiseste Geräusch horchend. Dann öffnete sie die Tür und schloß sie, als sie draußen war, sogleich wieder. Ohne nachzudenken, rannte sie fort, so weit ihre Füße sie tragen würden. Die Nacht war dunkel. Sie wußte nicht einmal, in wel che Richtung sie lief, doch sie kam vorwärts. Irgendwo bellten Hunde, als sie vorbeilief. Bald erreichte Malimouna die große Straße. Atemlos rastete sie einen Moment und lief dann mit raschen Schritten weiter, wobei sie sich oft umwandte und zurücksah. In den Buschwald einzudringen, wagte sie nicht. Die riesigen Bäume an ihrem Weg schienen ihre gewaltigen Zweige nach ihr auszustrecken, als wollten sie sie fangen und ihr Fliehen verhindern. Schaurige Erzählungen aus der Kindheit kamen ihr in den Sinn, und sie lief noch rascher weiter. Wenn nur ein Auto vorbeikäme, dach te sie, das könnte sie anhalten und so ihre Flucht beschleuni gen. Ihre Hand fühlte an der Taille nach, sie hatte das Geld noch, das die Mutter ihr gegeben und an ihrem Wickeltuch befestigt hatte. Sie lief die ganze Nacht. Als der Morgen dämmerte und die Schatten des Waldes 28
nicht mehr so unheimlich aussahen, blieb sie stehen und wollte, nach Osten gewandt, ihr Gebet sprechen, doch der Anblick ihrer staubigen Füße hielt sie davon ab. Zudem waren ihre Schenkel unter dem Tuch noch klebrig. Sie mußte Wasser fin den. Jetzt am Tag wagte sie es, in das Gestrüpp vorzudringen und Wasser zu lassen. Unter dem Strahl brannte ihre geschwol lene, schmerzende Scheide. Bestimmt war sie verletzt. Sie trau te sich nicht nachzusehen. Plötzlich erstarrte sie. Sie vernahm Stimmen. Hinter einem Busch versteckt, hielt sie den Atem an. Bald sah sie eine Gruppe von etwa zehn Frauen und Mädchen die Straße entlangkommen, jede trug einen Wasserkrug oder einen mit Wasser gefüllten Eimer. Das Wasser tanzte bei jedem ihrer Schritte, manchmal schwappte es über und bespritzte sie, was ihnen anscheinend Spaß machte, denn sie lachten dann jedesmal. Das Gewicht der Last auf ihren Köpfen, die sie so aufrecht trugen, trübte ihre gute Laune überhaupt nicht. Mali mouna sah ihnen nach, wie sie sich entfernten. Dann folgte sie der Spur des Wassers in entgegengesetzter Richtung und kam bald zu einer Flußschwemme. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war, warf sie den Schlüssel von Sandos Zimmer ins Wasser. Rasch legte sie ihre Kleider auf einem Felsen ab und stieg in das spiegelnde Wasser, das ange nehm kalt war und sich unter ihren Bewegungen kräuselte. Ihr ganzer schmerzender Körper tauchte ein. Jetzt fühlte sie mit der Hand zwischen ihren Beinen und brach in Schluchzen aus. Es schien ihr, als sei dort eine offene, schmerzende Wunde. Sie wusch sich gründlich und stieg aus dem Wasser. Als sie sich wieder ankleidete, merkte sie, daß sie noch immer die kostba ren Brauttücher trug und dazu den Goldschmuck. Das alles hätte man ihr am Morgen nach der Hochzeitsnacht wegge nommen, wäre sie nicht jungfräulich gewesen. Sie legte den Schmuck ab und befestigte ihn in ihrem Wickeltuch da, wo auch das Geld war. Trotz der späten Stunde bedeckte sie ihr Haar und sprach das Morgengebet. Sie bat Gott flehentlich, er 29
möge verzeihen, daß sie geflohen war und damit ihre Familie und besonders die Mutter entehrte. Dann kehrte die Erinnerung an den alten Sando zurück und ließ sie das Gebet vergessen. Ein Ruck ging durch ihren Körper, zitternd stand sie auf, von einer nicht zu bezwingenden Unruhe erfaßt. Ihre Ohren dröhn ten, die Zähne schlugen aufeinander. Es war nicht Angst, was sie empfand, es waren auch keine Gewissensbisse. Sie versuch te zu verstehen, was sie fühlte. Seltsamerweise erinnerte es an das, was sie empfunden hatte, als sie Dimikèla die Stirn gebo ten und jene den Stößel gegen sie erhoben hatte. Sie nahm ihren Weg wieder auf. Das nächste Dorf konnte nicht weit sein. Und doch lief sie noch zwei Stunden in die Richtung, welche die Frauen eingeschlagen hatten.
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7 Kinder, die Malimouna nach dem Busbahnhof fragte, hatten ihr einen großen Platz gewiesen, wo es von Menschen wimmelte. Hier herrschte ein unbeschreibliches Stimmengewirr. Etwa zwanzig Kleinbus-Taxen, sogenannte ›Buschtaxis‹, parkten mit offenen Türen bunt durcheinander, einige Personen saßen schon darin, und man wartete auf weitere Fahrgäste, um die Wagen zu füllen. Malimouna ließ sich das Taxi nach Salouma zeigen. Entschlossen ging sie hin, zahlte dem Fahrer die verlangte Summe und nahm in dem Wagen Platz. Drei Frauen saßen schon darin, jede mit einem Säugling. Die Kinder hingen an der Brust ihrer Mütter, saugten und schrien abwechselnd und litten sichtlich unter der Hitze, die man trotz der morgendlichen Stunde schon spürte. Die Blicke der Frauen verweilten auf Malimounas Kleidern, auf ihren mit Mustern verzierten Händen und Füßen. Kein Zweifel, es mußte sich um eine Neuvermählte handeln. Unter ihren forschenden Blicken drückte Malimouna sich tief in den Sitz und stellte sich schlafend. Sie dankte dem Himmel dafür, daß sie geistesgegenwärtig genug gewesen war, den Schmuck abzunehmen, der noch mehr Neugier geweckt hätte. Als das Taxi sich knatternd in Bewegung setzte, schreckte sie hoch. Am Ende war sie doch noch eingenickt. Es mußte schon später Nachmittag sein, denn die Sonne war jetzt nicht mehr so heiß. Malimouna wurde von Durst gequält und von Hunger. Die Frau rechts neben ihr konnte wohl in ihren Ge danken lesen, denn sie hielt ihr eine Orange hin. Hastig griff sie danach und nickte zum Dank mit dem Kopf. Im Nu hatte sie die Frucht geschält und verschlungen. Die Dame reichte ihr noch eine. »Du bist ja ganz ausgehungert«, sagte sie freundlich, »woher kommst du?« 31
Malimouna tat so, als verstehe sie nicht. Rasch aß sie auch die zweite Orange und stieß einen kehligen Laut aus, ahmte damit Mimi nach, die kleine Taubstumme aus ihrem Dorf. Die Frau lächelte, als wüßte sie Bescheid, und ließ sie in Ruhe. Malimouna sah die Landschaft an sich vorüberziehen. Es war ihre erste große Reise. Niemals hätte sie sich vorgestellt, daß die Erde so groß sein könnte. Sie fuhren schon seit Stun den, und doch nahm die Straße kein Ende, nein, sie schien in dem Maße, wie sie vorankamen, immer wieder neu zu begin nen. Sie dachte an ihre Mutter, und ihr Herz zog sich zusammen. Was würde aus der armen Frau werden nach diesem Drama? Eines Tages würde sie Mittel und Wege finden, sie zu holen, tröstete sie sich und wischte die Tränen ab, die langsam bis auf ihre Brust liefen. Die Nachbarin tätschelte sanft ihre Hand als Ermutigung, die Traurigkeit, die sie überfiel, zu vertreiben. Malimouna lächelte ihr zu und schlief wieder ein. Erst in der Morgendämmerung erreichten sie Salouma. Das Taxi setzte die Fahrgäste auf dem Marktplatz ab. Mehrere Händler waren schon dabei, ihre verschiedenen Waren zum Verkauf auszustellen, manche Gemüse, andere Früchte, wieder andere heißen Brei zum Frühstück, und alles mit unglaubli chem Lärm. Malimouna kaufte sich gleich, nachdem sie ausge stiegen war, eine Schüssel Hirse und schlang alles gierig hinun ter. Gestärkt ging sie nun aufs Geratewohl los. Nie zuvor hatte sie so viele Menschen gesehen. Männer, Frauen und Kinder bildeten eine wogende Masse, worin jeder seiner Beschäfti gung nachging. Wohin liefen sie? Was suchten sie? Warum hatten sie es so eilig? In Boritouni, ihrem Dorf, ließ man sich Zeit zu grüßen, zu reden, zu lächeln. Hier jedoch stießen die Leute aneinander, ohne eine Miene zu verziehen, oder sie war fen sich einen kurzen Gruß zu und setzten dabei ihren Weg fort. Und in dieser Stadt lebte Sanita! Wie groß war die Chan ce, sie eines Tages zu finden? Unwillkürlich wanderte ihr Blick 32
suchend durch die Menge in der verrückten Hoffnung, sie könnte irgendwo auftauchen. Lange Zeit irrte Malimouna zwischen all den gleichgültigen Menschen umher, schließlich verließ sie den Markt und schlug eine breite, asphaltierte Straße in Richtung Stadtzentrum ein. Beeindruckt vom Anblick der schönen, glänzenden Wagen, die am Straßenrand parkten oder mit großer Geschwindigkeit und erschreckendem Lärm vorbeifuhren, lief sie langsam durch die Straßen. Vor jedem Schaufenster blieb sie stehen. Ein Spiel zeugladen versetzte sie in Entzücken. Überall gab es Spielzeug und in allen Farben. Ihr Blick blieb besonders an einer kleinen Puppe hängen. Obwohl von rosiger Hautfarbe, sah die Puppe in ihrem hübschen roten Kleid mit Blumenmuster und den schwarzen Schuhen Sanita ähnlich. Sanita, die sie so gern wie dersehen würde! Sie könnte ihr helfen und sie verstecken. Doch die Stadt war zu unübersehbar groß, um sie zu finden. An wen sollte sie sich wenden? Und dann die Angst, man könnte ihre Flucht entdecken und sie nach Boritouni zurückbringen. Unendliche Traurigkeit überfiel sie. Sie war allein, ganz allein und wußte nicht wohin. Als die Sonne hoch oben am Himmel stand und die Hitze auf der Stadt lastete, kehrte Malimouna erschöpft und hungrig zum Marktplatz zurück. Sie kaufte sich einen Teller Reis und Was ser. Dann setzte sie sich auf einen flachen Stein und übersah die verdutzten Blicke der Händlerin, die unaufhörlich nach ihren vornehmen Kleidern schielte. Bissen um Bissen schlang sie mechanisch herunter und fragte sich dabei, was aus ihr werden sollte. Als sie fertig war, fühlte sie sich müde und schwer, suchend blickte sie sich nach einem Ort um, an dem sie sich ausruhen könnte. Nicht weit vom Marktplatz entfernt entdeckte sie eine große schattige Wiese, auf der schon ein paar Leute lagen. Sie näherte sich schüchtern, und als niemand sie beachtete, setzte sie sich zuerst ins Gras und legte sich dann auf die Seite, den Kopf auf einem angewinkelten Arm. In dem 33
leichten Wind, der aufgekommen war, schlief sie sofort ein. Als sie aufwachte, war sie allein. All die andern, sicher Leu te, die einer Arbeit nachgingen, waren fort. Von unbeschreiblicher Angst gepackt, stand sie auf. Wohin sollte sie gehen? Wiederum wandte sie sich dem Marktplatz zu. Sie mußte jemanden finden, der ihre Sprache verstand und sie für die Nacht beherbergen konnte. Malimouna war völlig in ihre Gedanken versunken, als das Quietschen von Reifen und ein dumpfer Knall sie aufschreck ten. Rasch wandte sie sich um. Auf der Straße, wenige Meter von ihr entfernt, hatte ein Auto eine junge europäische Frau, die ein Kind bei sich hatte, angefahren. Der Fahrer hielt nicht einmal, sondern fuhr in größter Eile davon. Die Leute schrien und gestikulierten, doch niemand wagte es, sich der am Boden Liegenden zu nähern. Ein Blutfaden lief aus ihrer Augenbraue, und der linke Arm war verdreht und zeigte an, daß er gebro chen war. Sie stöhnte und bat flehentlich um Hilfe, unterdessen lief ihr Sohn, der unverletzt war, weinend umher. Malimouna sprang hinzu, nahm den Kleinen auf den Arm, und wie durch ein Wunder beruhigte er sich sofort. Mit dem Kind hockte Ma limouna sich neben der weißen Frau nieder, diese klammerte sich verzweifelt an sie. Eine Menschenmenge hatte sich so dicht um sie gedrängt, daß die Rettungssanitäter kaum zu dem Opfer durchkamen. Malimouna, die immer noch den kleinen Jungen auf dem Arm trug, wurde mit der Verletzten in den riesigen Rettungswagen der Feuerwehr gepackt. Die Innenein richtung des Fahrzeugs beeindruckte sie sehr; hier herrschte eine Kälte, die sie gar nicht kannte. Ein Arzt bemühte sich um die junge Frau, die unaufhörlich stöhnte. Während der ganzen Fahrt, die sicher zum Krankenhaus ging, drückte Malimouna die Nase an die hintere Scheibe des Wagens und beobachtete die Stadt. Die Asphaltstraßen, Ge bäude, Geschäfte, Autos, die Menschenmenge, der Lärm… Das alles hatte Sanita ihr beschrieben und noch vieles mehr. 34
Sie drückte das Kind an sich, als schmiegte sie selbst sich an ihre Mutter. Ganz klein und verloren kam sie sich vor. Man ließ sie in einem riesigen Saal Platz nehmen, und Männer in Weiß brachten die Frau weg, die jetzt bewußtlos war. Mali mouna blickte sich um. Auch hier war es sehr kalt. In dem Krankenhaus hätte ihr ganzes Dorf Platz gefunden, dachte sie. Boritouni… Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie zurück zuhalten versuchte. Sie hatte immer andere Welten kennenler nen wollen wie Sanita, doch nie hatte sie daran gedacht, daß sie einmal von zu Hause fliehen würde wie eine Verbrecherin. Eine Verbrecherin… Das Wort hallte in ihrem Kopf wieder, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Zum ersten Mal, seit sie geflohen war, ermaß sie die Tragweite ihrer Tat. Sie dachte an den alten Sando und sah ihn am Boden liegen. Es lief ihr kalt über den Rücken. Vielleicht war er tot? Dann erinnerte sie sich, daß sie ihn noch gehört hatte, bevor sie das Zimmer ver ließ. Das Geräusch eiliger Schritte riß sie aus ihrer Qual. Sie wandte sich um. Ein Europäer mit bangem Gesichtsausdruck trat auf sie zu und streckte die Arme nach dem Kind aus, das ihn freudig anlachte. »Danke, Mademoiselle, tausend Dank!« sagte der Mann mit Rührung in der Stimme zu ihr und nahm seinen Sohn. Dann wollte er zu dem Saal zurückkehren, in den die verletzte junge Frau gebracht worden war. »Lassen Sie doch den Jungen bei dem Kindermädchen, wenn Sie hineingehen«, riet ein Arzt. Der Mann zögerte etwas und gab dann erneut das Kind auf Malimounas Arm, sagte ihr, er käme gleich wieder. Malimouna verstand alles, was der Mann zu ihr sagte. Sie hatte die französischen Worte, die sie von Sanita gelernt hatte, nicht vergessen, nur machte die fehlende Übung es ihr unmög lich, selbst den einfachsten Satz zu sprechen. Der kleine Junge war, nachdem er seinen Vater gesehen hatte, jetzt aufgeregt 35
und weinte. Dicke Tränen füllten seine Augen, deren fast durchsichtige Farbe Malimouna an die köstlichen Bonbons erinnerte, die Sanita ihr oft mitgebracht hatte. Er konnte höch stens zwei Jahre alt sein. Malimouna wiegte ihn sanft, und als er sich nicht beruhigte, band sie eines ihrer Wickeltücher ab, setzte das Kind auf ihren Rücken, hielt es dort mit dem Tuch und zog dessen Enden nach vorn, sie über Brust und Bauch verknotend, wie es jede Frau in ihrem Dorf vom achten Le bensjahr an verstand. Die neue Lage überraschte den Kleinen offenbar, und nach kurzem Zappeln schlief er in dieser beque men und sanften Wiege sofort ein. Als der Mann zurückkam, warf er einen unruhigen Blick auf Malimounas leere Arme. »Wo ist der Kleine?« fragte er und sah sich erschrocken um. Malimouna lächelte und drehte sich etwas, so daß er das Kind auf ihrem Rücken sehen konnte. Der Mann seufzte er leichtert auf, Tränen traten in seine Augen, als er sein Söhn chen so friedlich schlafen sah. Der Anblick verwirrte Mali mouna. Bei ihr zu Hause würde ein Mann niemals aus so nich tigem Anlaß weinen und erst recht nicht vor einer Frau. Der Mann redete wieder mit ihr. Doch jetzt sprach er zu schnell und zu vieles auf einmal. Sie verstand ihn nicht und versuchte, es ihm durch Zeichen zu sagen. Eine Krankenschwester, die vor beiging, kam ihnen zu Hilfe. Sie beherrschte Malimounas Sprache und erklärte ihr, dieser Mann sei äußerst dankbar für alles, was sie getan hatte, und er habe gefragt, ob sie bei ihnen arbeiten wolle. Sie hätte sich um die Kinder zu kümmern und würde dafür bezahlt, verpflegt und untergebracht. Ein solches Glück konnte Malimouna nicht zurückweisen. Gott kam ihr zu Hilfe! Sie nickte und folgte dem Mann. Er brachte sie zu einem großen Auto, in dem noch zwei Kinder warteten. Lächelnd blickte Malimouna sie an. Sie waren Zwillinge und mußten etwa acht bis neun Jahre alt sein. Sie hatten die gleichen hellen Augen wie das Baby und überall im Gesicht kleine braune 36
Flecken. Als sie ihr Brüderchen auf Malimounas Rücken sa hen, brachen sie in Gelächter aus. Malimouna band das Kind los, das noch immer schlief, nahm es auf den Arm und stieg in den Wagen zu den Zwillingen, die weiter lachten. Sie fuhren lange Zeit und kamen dann zu einer prächtigen Villa.
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8 In dem kleinen Zimmer, das man ihr überlassen hatte, saß Malimouna auf dem Bett und dachte über ihr unerhörtes Glück nach. Sie war jetzt davon überzeugt, daß Gott über ihrem Le ben wachte und daß alles gut würde. Die Calmards waren Leh rer im Entwicklungsdienst und neu aus Frankreich gekommen. Sie waren ungezwungene, freundliche Menschen, hatten sie in die Familie aufgenommen und vermieden es, Fragen nach ihrer Herkunft zu stellen, denn sie hatten rasch bemerkt, daß solches Fragen sie in große Verwirrung stürzte. Sie hatten sich auch nicht lange damit aufgehalten, daß sie überhaupt kein Gepäck mit sich führte und keine Papiere, hatten sich mit ihrer Erklä rung zufriedengegeben, sie sei von ihrem Ehemann aus nichti gem Anlaß verstoßen worden. »Von deinem Ehemann?« hatte Michèle, die junge Frau, er staunt gefragt. »Aber wie alt bist du denn?« Malimouna hatte den Blick gesenkt, und Michèle war nicht weiter in sie gedrungen. Ein ungewöhnliches Zusammentreffen glücklicher Umstände hatte Malimouna in dieses Haus geführt. Die Eheleute hatten gerade eine Erzieherin entlassen, die sie zu streng mit den Kin dern fanden, und waren im Begriff, eine Nachfolgerin einzu stellen. Die sanfte, liebevolle Malimouna, die der kleine Eric anscheinend schon in sein Herz geschlossen hatte, sollte die neue Erzieherin unterstützen. Das einzige Problem war die Sprache, denn Malimouna konnte sich kaum in Französisch ausdrücken, doch schien sie alles Wesentliche zu verstehen. Und da sie lebhaft und klug war, würde sie das Fehlende be stimmt sehr rasch lernen. Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft wollte der kleine Eric sich nicht mehr von ihr trennen. Er folgte ihr überallhin. Oft nahm er die Hände seiner neuen Kinderfrau und betrachtete 38
ihre Handflächen mit einer Mischung aus Erstaunen und Ent zücken. Die feinen, kunstvollen Linien der Muster beschäftig ten ihn. Er suchte sich einen schwarzen Filzstift und zeichnete viele Striche auf seine kleinen Handflächen. Die Mutter hatte Mühe, ihm verständlich zu machen, daß »wie Mayinina« nicht ging. Die Zwillinge Emmanuel und Leon hänselten ihn und sagten, er sei wohl verliebt in die schöne Malimouna. Dann lachte Eric jedesmal, als habe er den Scherz verstanden. Auch sein Vater lachte von Herzen mit und sah dabei Malimouna an. Die Zeit verging friedlich für Malimouna. Es tat gut, in die sem Haus zu leben, wo nur Freundlichkeit herrschte. Sie war noch immer entzückt von dem Luxus, der sie umgab. Alles schien so einfach. Es gab nicht die schwere Bürde des Wassers, kein Holz mußte geschnitten, keine Hirse zerstoßen und kein Reis verlesen werden. In diesem Haus war es angenehm, eine Frau zu sein. Michèle lebte wie eine Prinzessin, und Gerard, ihr Mann, bemühte sich um sie, verehrte sie. Sie tat praktisch nichts. Wenn Malimouna sie ansah, mußte sie an ihre Mutter denken. Matous Tag begann, als sie noch mit ihrem Ehemann zusammenlebte, um vier Uhr morgens mit dem Gebet. Dann fegte sie den Hof und ging anschließend mit den anderen Frauen zur Schwemme am Fluß, die mindestens zwei Kilometer vom Dorf entfernt war, um Wasser zu schöpfen. War sie zu rück, so entfachte sie ein Holzfeuer und bereitete rasch das Frühstück, das meist aus Hirse bestand oder Reis vom Vortag, den sie aufwärmte. Wenn ihr Mann noch nicht auf dem Feld war, stand er jetzt auf, aß und ging dann zur Arbeit. Matou ver sorgte die Kinder – damals lebten zwei Neffen ihres Mannes bei ihnen – , kümmerte sich danach um die Wäsche, es sei denn, daß sie selbst mit auf den Feldern arbeitete, und bereitete die Mittagsmahlzeit zu. Sie gab den Kindern zu essen und brachte dem Ehemann seine Mahlzeit aufs Feld. Der Nachmit tag verging damit, Reis oder Hirse zu zerstampfen, dann mußte trockenes Holz geholt werden für das Abendessen und Wasser 39
vom Fluß. Wenn die Kinder gebadet waren, mußte sie unver züglich mit dem Kochen anfangen, damit ihr Mann sogleich, wenn er heimkam und sich abgeduscht hatte, essen und ausru hen konnte. Dann kam noch das Spülen… Völlig anders das Leben, das Michèle führte. Malimouna fragte sich, ob alle wei ßen Frauen bei sich zu Hause so lebten. Wenn sie die vielen Zeitschriften durchblätterte, die Michèle regelmäßig kaufte, war sie davon überzeugt. Die hier abgebildeten Frauen, wie Puppen mit angemalten Fingernägeln und zartem Körperbau, konnten sich nicht mit schwerer Arbeit abquälen. Unmöglich, dafür sahen sie viel zu zerbrechlich aus! Es kam Malimouna vor, als verbrächten die Calmards die Hälfte ihrer Zeit damit, die Nase in Bücher zu stecken. Sogar die Kinder. Was konnte nur so spannend sein an den mit Linien bedeckten Seiten, auf denen sie kein einziges Bild entdecken konnte, es sei denn, es waren Kinderbücher? Waren sie nicht mit Lesen beschäftigt, so empfingen die Calmards oft Besuch von Freunden, unter ihnen auch ein afrikanisches Ehepaar. Sie brachten ihre Kinder mit, zwei kleine Mädchen, die sich wun derbar mit den Zwillingen verstanden. Dieses Ehepaar beein druckte Malimouna ganz besonders. Ohne recht zu wissen warum, fühlte sie etwas wie Stolz in ihrer Gegenwart. Sie erin nerten sie an Monsieur und Madame Diama, die Eltern von Sanita. Die Zwillinge hatten beschlossen, Malimouna im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Ihre Eltern waren von der Idee be geistert, denn es war eine ausgezeichnete Übung für die Kinder selbst. In ihren Mußestunden wetteiferten die Jungen mit Ein fällen, wie sie ihr die Buchstaben des Alphabets, die Zahlen, die Farben einprägen könnten. Sie nahmen ihre Aufgabe sehr ernst, und sogar der kleine Eric beteiligte sich. Oftmals unter brach er die Unterrichtsstunden seiner Brüder, indem er zum Beispiel den Namen eines seiner Spielzeuge rief und es dabei stolz Malimouna zeigte. Manchmal lachten die Zwillinge über 40
ihn, manchmal wurden sie ärgerlich und schickten ihn weg; heulend lief er dann zu seiner Mutter und erzählte ihr alles, was seine Brüder ihm angetan hatten, in einer Sprache, die nur er selbst verstand. Malimouna lernte schnell, und da ihr auch die Gespräche mit Sanita wieder einfielen, konnte sie sich bald fast fehlerfrei aus drücken. Die Eltern amüsierten sich darüber, daß sie auch Sprech- und Ausdrucksweisen der Kinder annahm und Worte aus der Kindersprache benutzte, wie zum Beispiel: »Madame Michèle, Emmanuel und Leon wollen nicht in die Heia«. Oder: »Rico« – so nannte sie Eric — »mag so gern, wenn man killekille macht.« Gerard und Michèle mußten dann lachen, und Malimouna blickte sie erstaunt an. Auch sie fand manches im Verhalten der Calmards komisch, und sie nahm die kleinen Neckereien kein bißchen übel. Alle mochten sie so gern, daß die andern Hausangestellten schon eifersüchtig wurden. Nach wenigen Monaten gehörte sie wirklich zur Familie und genoß besondere Vergünstigungen. So lebte sie im Haus mit den Kin dern zusammen, aß mit ihnen, sah mit ihnen fern, ging mit ih nen aus. Malimouna schien glücklich, doch immer blieb ein eigensin niger Schatten in ihrem Blick, besonders dann, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, der Schatten von verborgenem Schmerz, den keiner kannte. Malimouna vertraute sich niemandem an und sprach nur das Notwendigste mit den Erwachsenen. Abends, wenn die Kinder im Bett waren, setzte sie sich häufig auf die Terrasse. Sie saß dann auf dem Boden und schützte sich vor der Kühle der Nacht, indem sie ein Wickeltuch um sich schlug. Stundenlang konnte sie reglos dasitzen, die Augen for schend in die Dunkelheit gerichtet, wo hier und da das fun kelnde Blinken von Glühwürmchen aufleuchtete. Das Schau spiel faszinierte sie immer aufs neue. Manchmal nahm sie vor sichtig ein Tierchen, das sich auf den Steinboden verirrt hatte, und setzte es zurück ins Gras. Dann fiel ihr jedesmal ein, wie 41
ihre Freundin Sanita zum ersten Mal ein Glühwürmchen gese hen hatte. Das war so lustig gewesen, daß sie es nie vergessen würde: Aneinandergekuschelt hatten die beiden Mädchen da mals an dem brennenden Herdfeuer gesessen, während Matou ihnen eine Geschichte erzählte. Plötzlich war Sanita aufge sprungen und hatte auf etwas im Gras gezeigt. »Seht nur, da ist ein Stern vom Himmel gefallen!« Malimouna, die das Leuchtkäferchen gesehen hatte, mußte lachen, lief hin und nahm es in die Hand. »Das ist kein Stern, es ist ein Insekt! Sieh nur!« Zu Sanitas Entzücken hatte sie das kleine Tier über ihre Fin ger laufen lassen. Der Körper des Glühwürmchens leuchtete in regelmäßigen Abständen auf und strahlte dann ein unglaubli ches Licht ab, wie eine winzigkleine elektrische Taschenlampe. »Hier, nimm es nur«, hatte Malimouna gesagt und Sanita das Insekt auf ihrer offenen Hand hingehalten. Sanita war angstvoll zurückgewichen. »Brennt es nicht?« »Aber nein!« hatte Malimouna geantwortet und laut lachen müssen. Zögernd streckte Sanita ihre Hand hin, und Malimouna hatte das Insekt auf ihren Arm krabbeln lassen. Als wüßte es von der Verzauberung, die es hervorrief, hatte das Glühwürmchen sein Blinken beschleunigt. Sanita war selig, sie fand das Funkeln unglaublich schön. Auf ihren Vorschlag hin hatten die Mäd chen beschlossen, am nächsten Tag viele Glühwürmchen zu sammeln und sie in einen durchsichtigen Beutel zu stecken. In der Nacht hätten sie dann eine phantastische Leuchtkugel. Das wäre wunderbar! Am nächsten Tag waren sie also mit ihrer Tüte losgezogen auf die Jagd nach Glühwürmchen. Malimouna kannte sie gut, und so hatten sie etwa fünfzig gefangen und in dem Beutel ein geschlossen. Dann wurde es ihnen viel zu langsam Abend. Die Tüte beschlug; bestimmt war es den Glühwürmchen zu warm 42
darin! Sie bewegten sich kaum noch, ihr Anblick tat weh. Als es dunkel wurde, war die Begeisterung der Mädchen ganz ver flogen. Sie saßen am Boden und betrachteten ihren erbärmli chen Beutel, der jetzt undurchsichtig geworden war. Dann, nach einer Weile, war Sanita aufgestanden und hatte die Tüte geöffnet. Auch Malimouna war aufgesprungen, und wortlos hatten sie beide den Beutel ausgeschüttelt und alle Glühwürm chen befreit. Diese schienen zuerst leblos, wurden dann aber eins nach dem ändern lebendig, und wie zum Dank für ihre Befreiung flogen sie in einer funkelnden Zauberwolke davon. Malimouna und Sanita hatten vor Freude gejubelt und in die Hände geklatscht. Das Erlebnis lag weit zurück, doch Malimouna mußte sich immer wieder daran erinnern. Es half ihr zu leben. Gewiß, das Leben bei den Calmards war äußerst angenehm, und doch fehl ten ihr die Mutter, das Dorf und Sanita so sehr. Vielleicht wür de sie eines Tages zufällig ihre kleine Freundin auf der Straße treffen? Malimouna stieß einen langen Seufzer aus. Und dann trat etwas ein, was die Ruhe störte, in der sie seit fast zwei Jahren lebte. Max, der Koch des Hauses, fing an, sich für sie zu interessieren, und ihr gefiel das nicht. Dabei war Max ein anständiger Mensch, daran gab es überhaupt keinen Zwei fel. Er verrichtete seine Arbeit tadellos, dabei immer höflich und lächelnd, und die Calmards achteten und schätzten ihn. Malimouna war zunächst sehr verwundert darüber gewesen, daß man einem Mann eine Aufgabe anvertraute, die in ihrem Dorf ausschließlich den Frauen vorbehalten war. Es war in der Tat das erste Mal, daß sie einen Mann nicht nur kochen, son dern in dieser Kunst, die er zu seinem Beruf gemacht hatte, auch noch äußerst geschickt arbeiten sah. Malimouna war ver legen und zugleich voller Bewunderung. In jeder seiner Bewe gungen lag soviel Feierlichkeit, soviel Selbstvertrauen! Oft blieb sie an der Küchentür stehen und schaute ihm zu. Von Zeit zu Zeit warf er belustigte Blicke zu ihr hin. Die untadelig wei 43
ße Schürze um Hals und Taille gebunden, schnitt er verblüf fend rasch die Gemüse in dünne Scheiben, während er gleich zeitig die Speisen in der großen Pfanne schmorte und das Hähnchen zerteilte. Malimouna merkte wohl, daß er sich be sondere Mühe gab, wenn er sich beobachtet fühlte, doch das schmälerte ihre Bewunderung nicht. Zweifellos hatte er ihre häufige Anwesenheit falsch gedeutet. Er verliebte sich in sie, doch stand Malimouna der Sinn nicht nach dergleichen. Ihre Wunden brauchten noch eine lange Zeit, um zu heilen. Und sie war noch immer ein Kind, das zwar keine Lust mehr hatte zu spielen, aber auch nicht auf Liebeleien. Durch die Heirat hatte sie ein Trauma erlitten. Sie haßte ihren Körper und ertrug es nicht, wenn man sie unentwegt ansah. Max war etwa dreißig, groß und von gewinnendem Wesen. Immer wenn er ihr etwas schenken wollte, wies sie es höflich ab und ging weg. Zu Anfang nahm er das nicht übel, dann ließ seine Geduld nach und verwandelte sich in Aggressivität. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit warf er ihr vor, sie halte sich für etwas Besseres und sei von sich selbst allzu sehr überzeugt. Malimouna antwortete nicht, zog sich nur wieder ganz zurück. Eines Abends, die Familie sah mit den Kindern einen Film an, und Rico saß behaglich auf Malimounas Schoß, brach diese plötzlich in Schluchzen aus. Sie stand rasch auf, reichte das Kind seiner Mutter und floh in die Toilette, wo sie sich ein schloß. Michèle, ihr Mann und die Kinder saßen ratlos da. Ge wiß, Malimouna hatte manchmal diesen traurigen Blick, aber was hatte sie bloß so erregt? Sie beschlossen, sie erst am näch sten Tag zu fragen, sie sollte Zeit haben, sich zu beruhigen. Am Tag darauf, als sie mit Rico im Garten war und wieder lebhaft wie gewöhnlich, rief Gerard sie auf die Veranda. »Setz dich«, sagte er und zeigte auf einen der Rohrsessel. »Wenn du magst, möchte ich ein wenig mit dir reden.« Er sah ihr in die Augen. Mein Gott, wie schön sie ist, dachte er, als sehe er sie zum ersten Mal. Große schwarze Augen, eine 44
Haut wie Ebenholz und dazu das gelbe Kleid, und ihr Mund… Er wandte den Blick eine Weile ab, als wolle er verhindern, daß sie seine Gedanken las. Dabei, so verteidigte er sich stumm, hatte er keinen unredlichen Gedanken gefaßt, Gott war sein Zeuge; Plötzlich sprang er auf, sagte, er habe eine wichtige Verabredung vergessen und daß seine Frau ja mit ihr sprechen könne. Mit rotem Kopf lief er eilig davon. Malimouna verstand die Erregung nicht, die ihn überwältigt hatte und die er nicht hatte verbergen können. Sie ging zu Rico zurück, der schon, so laut er konnte, nach ihr schrie. Michèle erwachte aus ihrem Mittagsschlaf. Sie trat auf die Veranda hinaus und rief nach ihrem Mann. »Monsieur Gerard ist gerade weggegangen«, sagte Mali mouna ihr. »Weggegangen? Aber wieso?« fragte Michèle. Sie zog die Schultern hoch und setzte sich gähnend in einen Sessel. »Hat er mit dir geredet?« »Nein, er hat gesagt, das sollten Sie tun…« »Wir machen uns Sorgen deinetwegen, Malimouna, und wir wüßten gern, was dich so bedrückt. Warum hast du gestern abend geweint? Hast du Probleme?« Malimouna senkte den Blick. Mein Gott, wie schön sie ist, dachte Michèle. Sie sah weg, damit Malimouna nicht die Be wunderung in ihrem Blick las. Weil sie beharrlich weiterfragte, erzählte Malimouna schließlich, daß Max, der Koch, ihr nachstellte, und Michèle versprach, dem ein Ende zu setzen. Als Gerard nach Hause kam und Michèle ihm sagte, warum Malimouna so bedrückt war, sah sie im Blick ihres Mannes einen seltsamen Funken. Scheinbar war er ziemlich böse auf den Koch. »Eigentlich ist es doch nicht schlimm«, hatte Michèle hinzu gefügt. »Max ist unverheiratet, und sie ist so schön…« »Ja, sehr schön«, hatte Gerard wiederholt, und wieder war 45
der Funke in seinem Blick. Michèle sah ihn scharf an, und als ihre Augen sich trafen, er rötete Gerard und blickte zu Boden. Michèle ging ins Haus.
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9 Malimouna begriff nicht, was Michèle ihr sagte. Sie habe sie sehr gern, sagte sie, habe ihr nichts vorzuwerfen, und doch müsse sie sich von ihr trennen. Sie hatte ihr eine neue Stelle besorgt bei französischen Freunden; diese suchten ein Kinder mädchen, das sie in ihrem Urlaub mitnehmen konnten nach Frankreich. Eine große Chance für sie! So ging Malimouna fort von ihrer Adoptivfamilie und kam zu dem Ehepaar Bireau. Die Bireaus wollten tatsächlich in Ur laub fahren und jemanden mitnehmen, der sich um die Kinder kümmerte. Durch ihre vielen Verbindungen erreichten sie, daß für Malimouna Papiere ausgestellt wurden, mit denen sie reisen konnte. Schon eine Woche nach ihrer Ankunft flogen alle nach Frankreich. Die Atmosphäre war in dieser Familie eine völlig andere als bei den Menschen, die sie gerade verlassen hatte. Sie war eine Hausangestellte, und das ließ man sie spüren. Die jungen Leute hatten sie nur mitgenommen, um die Ferien bestmöglich aus kosten zu können. Sie hatten zwei Kinder, ein kleines Mädchen von drei Jahren und ein sechs Monate altes Baby, und beide weinten die meiste Zeit, weil ihre Eltern nicht da waren. Mali mouna langweilte sich bald. Nichts verband sie mit den Kin dern. Die ängstliche Kleine lebte in ständiger Furcht davor, daß die Eltern weggingen. Sobald die fort waren, begann ein Wein konzert, denn auf das Jammern des Mädchens folgte unweiger lich das Schreien des Babys. Malimouna wußte dann nicht, wo ihr der Kopf stand. Sie fühlte sich müde und niedergeschlagen. Tiefe Einsamkeit überfiel sie. Auszugehen wagte sie nicht in dem kleinen Badeort Rose-la-Jolie, in dem sie die einzige Schwarze war und wo die Leute sie ansahen wie ein sonderba res Tier, besonders wenn sie mit den Kindern allein ausging. Die Blicke der Männer gefielen ihr nicht, sie verweilten auf 47
ihrer Brust, auf ihrem Körper. Auch die der Frauen mochte sie nicht, die über sie hinwegsahen und sie dabei doch heimlich beobachteten. Ein einziges Mal nur riß ein kleines Ereignis sie aus der trostlosen Eintönigkeit. Sie waren alle zum Meer gegangen, saßen auf einer Strandterrasse und aßen Eis. In der Nähe spielte ein kleines Mädchen von eineinhalb oder zwei Jahren mit einer schwarzen Babypuppe. Zum ersten Mal sah Malimouna eine schwarze Puppe. Plötzlich entdeckte das Kind Malimouna. Einen Augenblick lang war es starr, wie hypnotisiert, dann kam es zu Malimouna gelaufen. Abwechselnd betrachtete es die Puppe und Malimouna und ließ mit jeder Bewegung des Kop fes die blonden Löckchen tanzen. Nach einer Weile brach das Mädchen in Lachen aus und warf ihr Spielzeug in die Luft. Dann hob sie die Puppe auf und hielt sie unter freudigem Ge plapper Malimouna hin, die großen Spaß hatte. Sicher freute das kleine Mädchen sich darüber, daß jemand aussah wie ihr Lieblingsspielzeug. Die Mutter der Kleinen hatte die Szene beobachtet und stürzte jetzt, sich tausendmal entschuldigend, zu ihrem Kind. Malimouna konnte so ein Verhalten überhaupt nicht verstehen, hatte sie doch selbst, angesteckt von der un schuldigen Fröhlichkeit des Kindes, laut lachen müssen! »Es ist gar nichts dabei, Madame! Ihre Tochter freut sich, daß sie die Mama ihrer Puppe gefunden hat.« Die Worte hatten die Mutter beruhigt, und sie ließ ihr Kind mit Malimouna spielen. Das kleine Ereignis hatte Malimouna an jenem Nachmittag abgelenkt. Danach begann der Kreislauf der langen, gleichför migen Tage von neuem. Ungeduldig sehnte sie das Ende des Aufenthalts herbei. Es verlangte sie danach, ihre afrikanische Heimat wiederzusehen. Hier fühlte sie sich allzu fremd, allzu unbekannt. Glücklicherweise hatte das Haus, in dem sie wohnten, einen kleinen Garten, übersät mit Blumen in vielerlei Farben zwi 48
schen rot und gelb über malvenfarben, rosa, orange und sogar blau. Hier war Malimounas liebster Aufenthalt. Sie setzte sich mit den Kindern ins Gras und beobachtete, wenn die Kleinen es zuließen, das Kommen und Gehen der Bienen und Schmet terlinge auf den wunderschönen Blüten. Manche von ihnen waren größer als ihr Handteller und besaßen, so schien es ihr, fast hundert zum Kreis geordnete Blütenblätter. Nie hatte sie zu Hause solche Blumen gesehen. Mutter Natur leistete eine be achtliche Arbeit! Es entzückte Malimouna, daß ein so winziger Garten derart unterschiedliche Pflanzen vereinte. Und noch immer zogen die endlosen Ameisenkolonnen ihre Blicke auf sich und führten sie oft in ihre Heimat zurück, nach Boritouni, in jenen Wald, in dem sie so gern allein umhergestreift war. Eines Nachts, es war so heiß, daß sie nicht schlafen konnte, trat Monsieur Bireau, der unter dem Vorwand einer Migräne nicht mit seiner Frau und ein paar Freunden ins Kino gegangen war, ohne anzuklopfen in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Mit einem Satz sprang sie hoch und machte Licht. Er trug le diglich eine Unterhose, welche sein heftiges Begehren kaum verbarg. Dumm lächelnd blickte er sie an. Malimouna wich zurück und stieß gegen die Kommode. In dem Moment trat Monsieur Bireau zu ihr und umschlang sie. Einen Augenblick lang war sie gelähmt vor Bestürzung. Sie spürte einen raschen, keuchenden Atem auf ihrem Hals und behaarte Hände, die über ihren Körper fuhren. »Du bist so schön, so schön«, wiederholte er wie besessen. Malimouna faßte sich rasch und stieß ihn so heftig zurück, daß er auf das Bett fiel. Sie ergriff die Nacht tischlampe, und wie in einer Rückblende stand plötzlich das Bild des alten Sando vor ihr. Sie stellte die Lampe an ihren Platz zurück. Monsieur Bireau war wohl wieder zu Verstand gekommen, er erhob sich hastig und ging wortlos aus dem Zimmer. Malimouna setzte sich auf den Bettrand und schluchz te. Wieder war Gott zornig gegen sie. Was sollte aus ihr wer den? 49
Langsam nahm sie ihre Kleidung aus der Kommode und leg te sie in den Koffer, den sie auf das Bett gestellt hatte. Als alles verpackt war, vergewisserte sie sich, daß ihre Papiere in der Handtasche steckten, dann schloß sie den Koffer, ging, einen letzten Blick durch den Raum werfend, hinaus und schloß sachte die Tür hinter sich. Dieses Mal floh sie nicht, sie ging fort. Ihr Blick traf sich noch einmal mit dem von Monsieur Bireau, der in der halboffenen Tür seines Schlafzimmers stand. Er sah ihr nach, wie sie durch das Wohnzimmer ging und wort los die Eingangstür öffnete, die sie hinter sich zuschlug.
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10 Malimouna lief mit ihrem Koffer durch die verlassenen Stra ßen. Sie mußte an ihre Ankunft in Salouma denken. Wieder war sie allein und wußte nicht wohin. Doch heute, schlimmer als damals, befand sie sich in einem fremden Land. Das Un glück ließ nicht von ihr ab. Würde sie ein Leben lang auf der Flucht sein? Zu vieles war geschehen, seit sie aus Boritouni geflohen war. Wann würde sie ein wenig Ruhe finden? Sie schluchzte rückhaltlos. Wenig später stand, sie vor einem Ge bäude, das wie eine Kirche aussah. Müde und erschöpft stellte sie den Koffer auf der unteren Treppenstufe ab und ließ sich etwas weiter oben nieder. Sie legte den Kopf auf ihre über den Knien gekreuzten Arme und fiel in tiefen Schlaf. Ein knarrendes Geräusch hinter ihr weckte sie auf. Ein Mann in dunklem Anzug öffnete die Tür. Als er sie bemerkte, hielt er inne, wollte die Tür rasch wieder schließen, besann sich aber eines Besseren und kam, als schäme er sich seiner ersten Re gung, lächelnd auf sie zu. »Tritt ein, mein Kind«, sagte er zu ihr und streckte die Hand nach dem Koffer aus. Er trug ihn selbst und führte Malimouna zu einem Raum im Innern des Hauses. Es war wohl ein Ort des Gebets. Er forderte sie auf, sich auf eine der vielen Bänke zu setzen, und kam bald in Begleitung einer Frau zurück. Malimouna erzählte den beiden, wie sie nach Frankreich ge kommen war und warum sie sich nun in den Straßen des klei nen Badeorts Rose-la-Jolie wiederfand. Der Pfarrer und seine Frau beschlossen, sie bei sich zu beherbergen, bis sie weiter wüßte. Malimouna wollte absolut nichts von der Polizei hören aus Furcht, man werde sie nach Boritouni zurückbringen. Sie wollte allein zurechtkommen, darauf bestand sie. Der Pfarrer und seine Frau waren reizende Menschen. Mali mouna ermaß das Glück, das sie gehabt hatte, ihnen zu begeg 51
nen. Beide um die sechzig, lebten sie kinderlos und bescheiden in einem kleinen Haus. Malimouna half der Frau bei ihren ge ringfügigen Arbeiten. Diese machte sich viel Gedanken über das stille, einsame Mädchen, das so gern im benachbarten Wald spazieren ging, Blätter sammelte und Insekten beobachtete. Sie konnte sich nicht genug an den vielen Zöpfen begeistern, die Malimouna sich häufig flocht und die ihre ebenmäßigen Gesichtszüge mit dem flüchtigen Lächeln so hervorhoben. Da die Pfarrersfrau von Natur aus geschwätzig war, freute es sie, jemanden zum Reden zu haben, wenngleich Malimouna die meiste Zeit nur zuhörte. Malimouna fand sie zwar nett, doch ein bißchen zu neugierig und vereinnahmend. Aber durfte sie sich über jemanden beklagen, der ihr so großmütig freie Kost und Wohnung gewährte? Wenn sie auf manche Fragen nicht antworten wollte, tat sie einfach, als habe sie sie nicht verstanden oder nicht gehört. Sie lächelte der Frau dann zu und ging fort. Bald fing der Pfarrer an, sie in den Worten der Bibel zu un terrichten. Zusammen mit seiner Frau sprach er jeden Abend mit ihr über Jesus. Jesus war, so wiederholte er es leidenschaft lich, der einzige Weg zu Gott. Malimouna verstand das ganz und gar nicht und mochte sich auch nicht mehr verstellen. All die Jahre des Gebets in ihrem Land sollten zu nichts nütze ge wesen sein? Konnte denn ihr ganzes Volk dazu verdammt sein, in der Hölle zu brennen, nur weil sie Jesus nicht kannten? Warum machte er sich ihnen dann nicht bekannt? Sie war rat los, verstört, gequält. Sie mußte an ihre Mutter denken. Ihre tief gläubige Mutter, die so gelitten hatte und die Güte selbst war, die ihr Kind in reiner Frömmigkeit erzogen hatte, sollte etwa auch sie beim Jüngsten Gericht die Beute des Teufels sein, nur weil sie nach östlichem und nicht nach nördlichem Vorbild betete? Das konnte nicht die Wahrheit sein, Malimouna wei gerte sich, es zu glauben. Und doch schienen diese beiden Menschen aufrichtig, auch sie waren gläubig und gut! Sie hat 52
ten sie aufgenommen, ohne je etwas dafür zu verlangen. Es lag ihnen wirklich am Herzen, sie zu erretten, auf daß sie, wie sie es ausdrückten, des ewigen Lebens teilhaftig würde. Sie aber dachte an ihre Mutter und war verwirrt. Mit Erschrecken be merkte sie plötzlich, daß sie seit ihrer Ankunft in Frankreich nicht mehr gebetet hatte. Doch in diesem Haus war es ihr, sie wußte nicht warum, unmöglich, so zu beten, wie sie es zu Hau se tat. Sie konnte es nicht und fühlte sich schlecht. Am merk würdigsten jedoch war, daß sie überhaupt keinen Unterschied zwischen ihrer Religion und der des Pfarrers entdecken konnte. Die Grundprinzipien waren die gleichen, jede pries das Gute und verdammte das Böse… Eines Tags beschloß sie fortzugehen. Der Pfarrer und seine Frau bedrängten sie nicht zu bleiben, sie hatten bemerkt, wie sie sich mit jedem Tag mehr in sich, selbst zurückzog, ohne über irgend etwas zu klagen. Vier Monate war sie jetzt bei ih nen, doch je mehr Zeit verstrich, umso weniger schienen sie Malimouna zu kennen. Der Pfarrer hatte geglaubt, die Gebete würden ihr helfen, sich besser zu fühlen. Wenn er aber mit lau ter Stimme um ihr Seelenheil flehte, spürte er deutlich, wie sie ihr Inneres verschloß und auf Distanz ging. Sie wollte sich weiterbilden, sagte sie, und Arbeit finden. Sie wollte nach Paris gehen, Sanita hatte von dieser Stadt gespro chen, wo sie in den Ferien gewesen war. Sie gaben ihr Adressen von Wohnheimen für Afrikaner, be stimmt würde sie dort jemanden finden, der ihr behilflich sein und sie anleiten konnte. Sie wäre stets willkommen, wenn sie eines Tags den Wunsch hätte zurückzukehren. So fuhr sie mit all ihren Segnungen im Zug nach Paris. Es fing an, sehr kalt zu werden, und die Frau des Pfarrers hatte ihr den Koffer mit besonders warmen Pullovern vollgepackt. Ma limouna empfand große Dankbarkeit, sie hatte wirklich Glück gehabt, diesen warmherzigen Menschen zu begegnen. »Gott beschütze auch Sie«, hatte sie geantwortet, als die bei 53
den ihr wünschten, Jesus möge sie begleiten. »Möge Gott sie beschützen«, wiederholte sie gerührt in Ge danken. Als sie am Bahnhof Saint-Lazare ankam, blieb sie lange Zeit wie versteinert auf dem Bahnsteig stehen. Daß Paris groß ist, hatte sie gewußt, doch so groß! Wie sollte sie sich hier zurecht finden? Menschen kamen und gingen, ohne sie auch nur wahr zunehmen, manche rempelten sie im Vorübergehen an. Sie fühlte, wie der Mut sie verließ. Da bemerkte sie zwei junge Afrikaner, die sie beobachteten. Obgleich sie den Wunsch ver spürte, zu ihnen hinzugehen, hielt etwas in deren Mienen, ir gend etwas Hinterhältiges, sie davon ab. Sie waren groß mit struppigen Haaren, trugen schmutzige Jeans und kleine Ringe in den Ohren. Sie flüsterten miteinander, und Malimouna merkte, daß über sie gesprochen wurde. Als die beiden auf sie zukamen, griff sie nach ihrem Koffer und ging sicheren Schritts an ihnen vorbei, so als wisse sie, wohin sie wollte. Nachdem die Männer außer Sicht waren, setzte sie sich auf eine der vielen Bahnhofsbänke und stellte den Koffer neben sich. Fieberhaft kramte sie nach dem Zettel, auf dem der Pfar rer ihr aufgeschrieben hatte, wie sie problemlos zu einer Unter kunft in Bahnhofsnähe gelangen würde. Sie konnte alles gut entziffern, denn er hatte es ihr langsam vorgelesen. Und wäh rend der ganzen Fahrt hatte sie es erneut gelesen und einstu diert und war sicher, sie würde die Namen wiedererkennen, wo immer sie ihnen begegnete. Zuerst mußte sie aus dem Bahnhof heraus. Doch welchen Ausgang sollte sie nehmen? Es gab mindestens drei oder vier. In welche Richtung sollte sie sich wenden? Wohl war auf ihrem Zettel der richtige Ausgang ver merkt, nur wie ihn finden? Sie las die Anweisungen noch ein mal, hob die Augen von dem Blatt Papier und blickte sich um. Überall standen Wörter, wohin sie auch schaute, auf allen Wänden! Was dachten sich die Leute dabei, alles vollzuschrei ben? Und dann waren die Buchstaben auf ihrem Blatt rund, 54
bildeten Schleifen und ähnelten in nichts den Stäbchen, die sie hier sah. Wo war nur der Name, den sie suchte? Den Zettel in der Hand merkte sie, wie die Wörter auf den Wänden um sie herum zu tanzen anfingen. Es kam ihr vor, als wollten sie ihr einen Streich spielen. Von Schwindel erfaßt, schloß sie einen Moment die Augen und hielt sich den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, standen zwei Polizisten vor ihr und fragten, ob sie Hilfe brauche. Wortlos hielt Malimouna ihnen den Zettel hin. Sie war froh, nicht davongelaufen zu sein, als sie die bei den sah, denn sie brachten sie zum richtigen Ausgang und zeig ten ihr freundlich den Weg, den sie gehen mußte.
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11 Malimouna flocht so rasch und so geschickt Zöpfe, daß sie in dem Wohnheim, wo sie nun schon mehrere Jahre lebte, bald bekannt geworden war. Sie hatte ihr Afrika wiedergefunden, das jetzt so weit zurücklag. Hier kamen verschiedene Nationa litäten des Kontinents zusammen, und doch herrschte eine At mosphäre, die einheitlich war und schwarz. Ein richtiges afri kanisches Wohnviertel mitten in Paris! Die Afrikaner hatten sich in einer ehemaligen Schule einge richtet, die ihnen die Stadtverwaltung überließ. Die Klassen räume in zwei Stockwerken waren zu kleinen Wohnungen um gewandelt worden. In der ersten Etage bestanden sie aus einer Küche, einem Wohnraum und einem Schlafzimmer. Die Mieter teilten sich die Toiletten und gemeinsamen Baderäume am En de des Flurs. Die Wohnungen im unteren Stockwerk hatten eigene Duschen und Toiletten und manche sogar ein weiteres Zimmer. Auf dem überdachten Schulhof hatten Händler ihre Auslagen. Es gab einen Herrenfriseur mit der in Darstellung und Witz typisch afrikanischen Ankündigung am Eingang: »Facharzt Nr. l für Haare«; über diesen Worten waren etwa zehn Köpfe abgebildet mit verschiedenen Frisuren von »Kongo kurz« bis »Elan« und Phantasienamen wie »Ziké« oder »Ag nagnan«. Gleich nebenan wurden geschmorte Bananen ver kauft. Die Verkäuferin saß vor ihrem Kohleherd, fächelte in regelmäßigen Abständen Luft in die Glut und lachte die Leute an, die stehenblieben, um Bananen zu kaufen oder geröstete Erdnüsse. Etwas weiter bot die Wickeltuchverkäuferin die neuesten Modelle aus Dakar, Abidjan oder Lome an. Offen sichtlich mit Freude und Stolz verkündete sie deren Namen: »Mein Mann hat mich verlassen«, »Dein Fuß mein Fuß«, »Schau auf meinen Rücken, Liebling«, »Tauglicher Ehemann« oder »Auge meiner Rivalin«. Solche Bezeichnungen, alle mehr 56
oder weniger spaßig, hörte Malimouna oft aus dem Mund der Verkäuferin, die sich derlei Belustigung nie versagte. Und die afrikanischen Speisen und Gewürze! Alles gab es hier: Dèguè aus Mali, Attiéké und Alloko aus der Elfenbeinkü ste, Gari aus Togo, Gombo-Früchte, afrikanische Gewürze und sogar getrockneten Fisch. Alles, wirklich alles, was man auf einem afrikanischen Markt fand, war vorhanden. — Malimou na fühlte sich wohl hier, obgleich man sie wie eine Toubab behandelte, weil sie sich von allen fern hielt. Es schien sogar, daß sie Menschen, sobald sie ihr zu vertraut wurden, aus dem Weg ging. Sie vertraute sich niemandem an, sprach weder über ihre Heimat noch über ihre Familie. Die Leute im Wohnheim fanden sie seltsam, bewunderten jedoch ihre große Schönheit, während sie selbst diese Schönheit haßte, weil sie Männer an zog wie Honig die Fliegen. Um sich vor ständigen Annähe rungsversuchen zu schützen, wurde sie abweisend und unnah bar, eine Haltung, die selbst die heftigsten Leidenschaften schnell abkühlte. Sie besuchte die Abendschule. Das Lesen war jetzt kein Pro blem mehr, und mit jedem Tag vergrößerte sie ihr Allgemein wissen. Sie arbeitete unablässig und lernte ihre Lektionen, während sie den Stammkundinnen Zöpfe flocht. Zuerst war das Leben hier hart gewesen für Malimouna. Sie hatte ihren goldenen Hochzeitsschmuck verkauft, um die Miete zu zahlen. Doch ihr kleiner Besitz war rasch weggeschmolzen. Sie mußte sich auf eigene Füße stellen und zuallererst einen Broterwerb finden. Myriam, die Damenfriseuse des Wohn heims und mit Arbeit ziemlich überlastet, hatte gefragt, ob sie ihr beim Frisieren helfen könnte. Malimouna nahm sogleich an. Da afrikanische Zöpfe sehr in Mode waren, war der Frisiersa lon immer voll. Malimouna arbeitete sich eifrig und gut ein, so daß sie nach einigen Monaten besser und schneller flocht als ihre Chefin. Doch das machte jene nicht eifersüchtig, die Kundschaft war ja so zahlreich. Sogar Europäerinnen kamen 57
her. Malimouna war nicht unbedingt begeistert, wenn eine von ihnen sich anmeldete, denn sie wußte, daß sie doppelte Arbeit haben würde. Glatte Haare eigneten sich wirklich nicht für sol che Frisuren; die Zöpfe gingen leicht auf, ihre Enden mußten mit kleinen Gummis befestigt werden. Es war sehr viel mehr Arbeit als bei einer Afrikanerin, und das Ergebnis stellte die Kundin nicht immer zufrieden, denn durch die Scheitel, die sie für die Zöpfe ziehen mußte, wurde die weiße Kopfhaut sicht bar. Was konnte sie denn dafür? Wie sollte sie Zöpfe flechten, ohne daß man die Kopfhaut sah? Durch diese Tätigkeit konnte sie die Miete bezahlen. Außer dem arbeitete sie halbtags in einer Schulkantine als Tellerwä scherin. Auch hier mußte sie zu Anfang in die Lehre gehen, denn sie war nicht an solches Geschirr aus Glas gewöhnt. Zwar hatte sie zu Hause schon früh spülen gelernt, doch da war das Geschirr hauptsächlich aus Plastik oder Aluminium gewesen. Hier ging alles kaputt, Gläser, Teller, Tassen, Kannen. Erst nach mehreren Wochen, als sie Übung hatte im Umgang mit den Tellern, konnte sie Handschuhe tragen. Die für die Kantine Verantwortlichen schätzten sie sehr, weil sie ihre Arbeit rasch tat und ohne »unnützes Geschwätz«. Was sie in diesem Land am schwersten ertrug, war die Kälte. Daran konnte sie sich nicht gewöhnen. Nur einen oder zwei Monate Wärme im Jahr, das war für sie entsetzlich. Wie konnte man in einem solchen Klima aufblühen, glücklich sein? Es war unmöglich, durch die Wälder zu streifen, wenn sie etwas freie Zeit hatte, unmöglich, lange Wanderungen zu machen, was sie so gern tat; viel zu rasch wurden ihre Hände und Füße von der Kälte steif. Eines Abends war sie auf dem Nachhauseweg an der falschen Bushaltestelle ausgestiegen und hatte versucht, zu Fuß zum Wohnheim zu gelangen, doch dann hatte sie sich ver laufen und war länger als eine Stunde durch die vereisten Stra ßen geirrt. Ihre Fußsohlen waren nur noch schmerzende Klötze. Die Tränen, die über ihre Backen liefen, gefroren im Wind und 58
ließen sie den schneidenden Frost noch schrecklicher fühlen. Schließlich hatte sie wieder an der Bushaltestelle gestanden, wo sie ausgestiegen war, und den Bus in entgegengesetzter Richtung genommen. Beim Einsteigen waren ihre Hände so steif, daß sie dem Fahrer nicht ihre Karte zeigen konnte. Der blickte sie kurz an, zuckte mit den Schultern und ließ sie ein steigen. Als sie im Heim ankam, erkannte Myriam, die Friseuse, ih ren Zustand, begleitete sie in ihre Wohnung und ließ ihr ein warmes Bad ein. Seit jenem Tag gab sie, sobald sich die ersten Fröste ankündigten, besonders gut acht, an der richtigen Halte stelle auszusteigen und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Sie verstand jetzt, warum die Menschen hier so rasch liefen; das war ihr nach der Ankunft als erstes aufgefallen. Männer und Frauen schienen stets in Eile, und sie hatte den Grund dafür nicht erkennen können, weil damals Sommer war und schönes Wetter. Jetzt aber verstand sie es. Da das Wetter die meiste Zeit des Jahres kalt blieb, mußten sich die Menschen an rasches Gehen gewöhnen oder besser noch an Laufen, um schnell ins Warme zu gelangen. Und eine Gewohnheit ändert man nicht so leicht. Im gleichen Maß, wie sie den Winter haßte, liebte sie die langen Sommertage, in denen sie das Gefühl für die Zeit verlor. Bei ihr zu Hause in Boritouni ging die Sonne um halb sieben unter. Hier konnte es im Sommer nach zehn Uhr abends noch hell sein; das fand sie wunderschön. Nur war der Sommer so überaus vergänglich! Kaum fing sie an, sich in ihrem Element zu fühlen, schon kündigte die erste Kühle den Herbst an. Finanziell kam Malimouna jetzt gut zurecht, doch sie hatte ehrgeizige Pläne. In wenigen Monaten wollte sie sich für ein soziales Studium einschreiben. Ein Institut, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, schien ihr genau richtig für die Ausbildung in dem Beruf, mit dem sie ihr Ziel zu erreichen hoffte: »Den Frauen helfen«. Diese drei Worte hatte sie hervorgebracht, als 59
Philippe Blain, der Direktor des Instituts, sie nach ihren Zielen befragte. »Den Frauen helfen« hatte sie wie eine magische Formel noch dreimal wiederholt. Ihre Begeisterung und Ent schlossenheit hatten Monsieur Blain gefallen; er verwies sie auf die Eingangsprüfung zum Sozialarbeiterstudium und erläu terte ihr, wie sie sich darauf vorbereiten konnte. Sie wollte afrikanischen Frauen in Frankreich helfen; diese Herausforderung hatte sie sich gestellt. Daß solche Hilfe drin gend notwendig war, hatte sie eines Abends zu spüren bekom men. Sie dachte an ihre Nachbarin, eine junge Frau aus Mali, die mit vierundzwanzig Jahren, kaum älter als sie selbst, schon vier Kinder hatte und erneut schwanger war. Drei Jahre lebte Malimouna schon im Wohnheim, als sie ei nes Samstagabends, während sie ihr Essen zubereitete, durchs Fenster Leute mit Gepäck sah. Sie standen gegenüber und klin gelten an der Tür eines Nachbarn. Malimouna wußte, daß der Mann aus Mali, der dort wohnte, erst am nächsten Morgen heimkommen würde. Sie schaltete die Herdplatte unter ihrem Kochtopf ab und ging hinaus. »Guten Tag, suchen Sie jemand?« fragte sie lächelnd das Paar, das sich zu ihr umwandte. »Ja, ich will zu meinem Bruder Barou«, antwortete der Mann. »Ich glaube nicht, daß er bald kommt. Er arbeitet nachts und ist erst vor knapp einer Stunde weggegangen. Er kommt erst morgen früh wieder nach Hause.« »Ach, wie dumm! Ich bringe ihm seine Frau, sie ist gerade aus Mali angekommen. Den ganzen Tag hab ich gestern ver sucht, ihn zu erreichen, damit er sie am Flughafen abholt. Ich mußte dann selbst hin, sonst hätte sie allein dagestanden. Und jetzt ist er nicht da!« »Wußte er denn, daß sie kommt?« fragte Malimouna und be trachtete die junge Frau neben ihm, die den Kopf gesenkt hielt. »Sie wissen ja, wie unsre afrikanischen Verwandten sind. 60
Was soll ich machen? In meine Wohnung am andern Ende von Paris kann ich sie nicht zurückbringen, ich komme schon jetzt zu spät zur Arbeit…« »Hören Sie, ich will sie gern bis zur Rückkehr Ihres Bruders mit zu mir nehmen, wenn ich Ihnen damit helfen kann.« »Wie soll ich Ihnen danken, Madame, Sie retten mir das Le ben!« Rasch, als fürchte er, sie könne es sich anders überlegen, nahm er die beiden Koffer seiner Schwägerin und ging zu Ma limouna hinüber, die ihn in ihre Wohnung führte. Er stellte die Koffer ins Zimmer, bedankte sich nochmals und rannte eilig davon. Sie schob die Koffer in eine Ecke ihres kleinen Wohn raums und lud die junge Frau ein, sich in einen der Sessel zu setzen. Malimouna betrachtete sie. Sie war überaus elegant in ihrer traditionellen Kleidung, ihre Haut sehr hell, die Gesichts züge fein. Sicher eine Fulbe, dachte sie. »Sprichst du Französisch?« »Ein wenig«, antwortete sie, ohne den Kopf zu heben. Ma limouna wußte nicht, wo sie beginnen sollte. Die junge Frau war die Schüchternheit selbst. »Um welche Zeit bist du angekommen?« »Vierzehn Uhr…« »Vierzehn Uhr? Mein Gott, du mußt ja sterben vor Hunger!« Malimouna schaltete den Herd unter ihrem Kochtopf wieder an und machte sich in der Küche zu schaffen. Wie gut, daß sie eine afrikanische Soße zubereitet hatte, mußte sie denken und schaute zu der jungen Frau aus Mali hin, die gerade erst ange kommen war. Als diese sich gestärkt hatte, entspannte sie sich ein wenig. Sie lächelte und blickte zu Malimouna auf. Malimouna bewun derte die Schönheit ihres Gastes und dachte daran, daß sie bei de fast gleich alt sein mußten. »Möchtest du dich duschen?« fragte Malimouna unvermit telt. 61
Verwirrt hatte sie bemerkt, daß sie ihre Pflichten vernachläs sigte. Wenn man in Afrika einen Fremden bei sich aufnimmt, ist dies das allererste, was man anbietet. »Ja, gern«, erwiderte die junge Frau rasch. Als sie aus dem Badezimmer kam, trug sie einen tiefblauen Bubu, der ihre helle Hautfarbe hervorhob. Malimouna hatte die Schlafliege ausgeklappt und breitete saubere Laken darüber. »Ich heiße Fanta«, erklärte die junge Frau und sah Malimou na an. »Wie dumm von mir, ich hab mich nicht mal vorgestellt«, rief Malimouna und schlug sich gegen die Stirn. »Freut mich, Fanta, ich bin Malimouna.« Beide brachen in Lachen aus, und dies war der Anfang ihrer Freundschaft. Fanta erzählte ihrer Gastgeberin, wie sie nach Frankreich gekommen war. Schon als sie noch ganz klein war, hatte man sie Barou versprochen, einem entfernten Neffen ih res Vaters. Barou arbeitete in Frankreich, und sie kannte ihn nicht. Die Hochzeit wurde in Abwesenheit des Bräutigams ge feiert. Der versprach seiner Familie Jahr um Jahr, er werde kommen und seine Frau holen, doch er tat es nicht. Schließlich hatten die Eltern das Warten satt und wohl auch Angst, er könnte eine Fremde heiraten, deshalb schickten sie seine Frau zu ihm. Zwei Tage vor ihrer Abreise hatten sie versucht, ihn telefonisch zu erreichen und ihr Kommen anzukündigen. Doch er war nie zu Hause. Sie hatten dann seinen älteren Bruder an gerufen, und der hatte es übernommen, sie am Flughafen abzu holen. Malimouna hörte Fantas Erzählung aufmerksam zu. Die Hei rat der jungen Frau erinnerte sie schmerzlich an ihre eigene. Sie nahm deren Hände und hielt sie lange in ihren. Nach einer Weile ließen die Schatten von ihr ab. »Du hast eiskalte Hände«, sagte sie zu Fanta. »Bestimmt frierst du, ich gebe dir einen Pullover.« So saßen sie lange zusammen und redeten, bis Malimouna 62
sah, daß Fantas Lider schwer wurden. »Jetzt lasse ich dich schlafen«, meinte sie, stand auf und löschte das Licht. Sie spülte noch und räumte die Küche auf. Dabei hatte sie. vorgehabt, heute früh schlafen zu gehen! Sie würde nicht ein schlafen können, das wußte sie schon im voraus. Zu viele Ge danken bestürmten sie. Fantas Geschichte hatte soviel trauriges Erinnern geweckt. Als die Küche tadellos sauber war, nahm sie eine Dusche und streckte sich mit einem Buch in ihrem Bett aus. Es gelang ihr nicht, sich auf die Lektüre zu konzentrieren. Heftige Kopf schmerzen zwangen sie, wieder aufzustehen und eine Tablette zu nehmen. Erschöpft und mit schwerem Kopf ordnete sie noch ein paar Dinge und ging dann schlafen. Als sie wach wurde, war es schon neun Uhr. Sie zog sich rasch an und eilte ins Wohnzimmer. Fanta war schon auf und blickte aus dem Fenster. »Guten Morgen Fanta, entschuldige, ich bin erst gegen sechs Uhr morgens eingeschlafen.« »Ich weiß, ich hab dich gehört, auch ich konnte nicht schla fen.« Malimouna betrachtete sie; wie ängstlich sie aussah! »Vor einer Stunde hab ich drüben jemand hineingehen se hen, ich glaube, das war mein Mann.« Malimouna schaute aus dem Fenster. Die Läden drüben wa ren geschlossen. Sie wußte, daß der Nachbar irgendwo in Paris als Nachtwächter arbeitete und morgens gegen acht nach Hause kam. Dann schlief er und stand erst gegen vierzehn Uhr auf, um etwas zu essen oder an der traditionellen Teezeremonie teilzunehmen. Jeden Sonntag, außer im Winter oder wenn es regnete, kamen die Männer aus Mali nachmittags zusammen. Sie saßen auf Matten vor der Tür von einem unter ihnen, spra chen über alles und nichts, und der Gastgeber bereitete den sehr starken, sehr süßen Tee. Die getrockneten Teeblätter wur 63
den in einen kleinen Emailkessel gelegt, für das Aroma kamen ein paar Blätter Pfefferminze dazu. Nach dem Aufgießen muß te das Ganze eine Zeitlang kochen, dann wurden mehrere Stük ke Zucker hinzugefügt. Beim Einschenken mußte der Kessel sehr hoch gehalten werden; wenn die Flüssigkeit aus der Höhe in das kleine Glas lief, schäumte sie auf und zeigte damit, daß der Tee gelungen war. Man schenkte drei Runden aus, wobei der Tee immer schwächer wurde, weil man den Kessel nach jeder Runde mit Wasser und Zucker auffüllte. Am Schluß, wenn er weniger bitter war als zu Anfang, durften auch die Frauen davon trinken. Dann war der größte Teil des Nachmit tags vorüber, und jeder ging seinen Beschäftigungen nach. Malimouna sah auf die Uhr. »Weißt du, zu dieser Zeit muß er schlafen, er arbeitet nachts. Du hast noch viel Zeit, ihn kennenzulernen. « Ihr war klar, daß sie unsinnige Überlegungen anstellte, doch sie brachte es nicht übers Herz, Fanta jetzt dorthin gehen zu lassen. Sie konnte es nicht… »Wir frühstücken erst mal«, verkündete sie ihrem Gast. Lächelnd nahm Fanta Platz, offensichtlich erleichtert, daß sie nicht sofort gehen mußte. Sie sah Malimouna zu, wie sie das Frühstück bereitete. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich um und blickte aus dem Fenster. Ihr Leben lang würde Malimouna den verdutzten Ausdruck ihres Nachbarn nicht vergessen, als sie Fanta am späten Vor mittag hinüberbegleitete. Mit verschlafenem Gesicht öffnete er die Tür. »Sie haben Besuch aus Mali«, sagte Malimouna und trat hin ter Fanta zurück. Sein Gähnen gefror, und der Mund blieb offen, während sei ne Augen von dem jungen Mädchen zu dem Gepäck wander ten. Malimouna stellte ihm einen der Koffer auf die Füße, da mit er wieder zu sich kam. Er begrüßte Fanta in ihrer Sprache, nahm die Koffer und ging, gefolgt von der jungen Frau, hinein. 64
Malimouna machte auf dem Absatz kehrt und lief nach Hause. Sie konnte nicht anders, sie lauerte auf das leiseste Geräusch von drüben. Doch nichts war zu hören. Zur Teestunde nahm der Nachbar wie gewöhnlich an der Zeremonie teil, die übri gens an diesem Tag vor seiner Tür stattfand. Hinter dem Vor hang stehend, beobachtete Malimouna ihn. Gewöhnlich war er zurückhaltend, heute sprach er lauter als sonst und kam ihr großschnäuzig vor. Nein, sie machte sich dumme Gedanken. Sie trat vom Fenster weg und beschäftigte sich mit anderen Dingen.
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12 Alles schien gut zu gehen für Fanta. Malimouna fand, daß sie sich trotz ihrer Entwurzelung mit besonderer Leichtigkeit der neuen Welt anpaßte. Sie fragte ohne zu zögern nach allem, was sie nicht kannte, und war glücklich, daß Malimouna sie hierhin und dorthin mitnahm und ihr das Leben in Frankreich zeigte. Es sah ganz danach aus, als gefiele sie sich in der Rolle einer aufmerksamen Ehefrau. Zwei Monate nach ihrer Ankunft war sie schwanger. Sie brachte ein reizendes kleines Mädchen zur Welt. Noura war rundlich und lächelte immerfort, man hat te ständig Lust, sie in den Arm zu nehmen und zu streicheln. Malimouna mochte die Kleine sehr und war ein bißchen nei disch auf Fanta. Noura war gerade vier Monate alt, da war Fanta wieder schwanger. Sie brachte Zwillinge zur Welt, und nach deren Geburt bat sie Malimouna oft, Noura zu verwahren. Wann im mer sie konnte, tat Malimouna es gern, doch sie war oft nicht zu Hause. Dann kam es vor, daß Fanta rasch einkaufen ging mit Noura auf dem Rücken und die schlafenden Zwillinge al lein ließ. Malimouna warnte sie, doch die junge Frau erwiderte, sie habe ja keine andere Wahl. Sie konnte nicht drei Kinder tragen und gleichzeitig ihre Einkäufe machen. Als sie Malimouna mitteilte, daß sie erneut schwanger war, konnte diese sich nicht zurückhalten und rief aus: »Wie willst du denn zurechtkommen mit so vielen Kindern? Wenn das Ba by geboren wird, sind die Zwillinge knapp vierzehn Monate alt und Noura noch keine drei Jahre«, rechnete Malimouna ihr vor. »Dabei hast du davon gesprochen, du möchtest eine Ausbil dung machen wie ich. Wann willst du das denn tun?« »Sprich nicht so laut, Malimouna, mein Mann könnte dich hören! Meine Kinder werden irgendwann in die Schule gehen, damit tröste ich mich. Was, glaubst du, kann ich ändern?« 66
»Weshalb nimmst du nicht die Pille?« »Weshalb nehme ich nicht was?« »Der Arzt kann dir Tabletten geben, damit du nicht schwan ger wirst, Fanta.« »Wirklich? Das würde mir sehr helfen. Ich muß mit Barou darüber sprechen.« Fanta hatte tatsächlich noch am gleichen Abend mit ihrem Mann geredet. Der hatte auf ihre Frage unerwartet heftig rea giert und sie fast geohrfeigt. Das war gegen ihre Religion, hatte er gesagt, und nur flatterhafte Frauen brauchten solche Verhü tung. Er war ihr Ehemann, und wenn sie so oft schwanger wur de, so war das Gottes Wille und ein Segen. Sie sollte nicht ver gessen, daß manche Frauen überhaupt keine Kinder bekamen und aus dem Grund verstoßen wurden. Sie sollte sich glücklich schätzen, daß sie so reich beschenkt wurde. Außerdem war er es, der die Kinder ernährte, nicht sie. Damit war die Diskussion beendet. Zwei Monate nach der Geburt ihres vierten Kindes bat Fanta Malimouna, ihr zu helfen, das Verhütungsmittel ohne Wissen ihres Ehemanns zu bekommen. Malimouna wußte, sie ver strickte sich da in eine Sache, deren Folgen sowohl für sie selbst als auch für ihre Freundin schrecklich sein konnten, soll te Barou jemals entdecken, daß sie die Komplizin seiner Frau war. Und doch konnte sie keinen Rückzieher machen. Fanta verbrachte die meiste Zeit zwischen Windeln, Stillen, Ge schirrspülen, Kochen, Waschen… Nachts wurde sie ständig vom Geschrei der Kleinen geweckt. Nur mittags zwischen zwölf und zwei Uhr hätte sie etwas ausruhen können, dann aber wurde ihr Mann wach und kam seiner ehelichen Pflicht nach. Fanta hatte Ringe unter den Augen und magerte zuse hends ab. Sie brauchte Hilfe. Unter dem Vorwand gemeinsamer Einkäufe gingen die bei den Freundinnen eines Nachmittags zu einem Gynäkologen. Fanta trug das Baby auf dem Rücken und schob die Zwillinge 67
im doppelten Wagen, während Malimouna die kleine Noura an der Hand hielt. Malimouna war damit einverstanden, die Packung bei sich aufzubewahren, und Fanta klopfte jeden Tag bei ihr und holte sich eine Pille. Barou, durch ihre regelmäßigen, heimlichen Ausgänge neugierig geworden, folgte ihr eines Tags, ohne daß sie es bemerkte. Kaum hatte Malimouna die Tür hinter Fanta geschlossen, als sie schon deren Schreie hörte. Hastig riß sie die Tür wieder auf und sah Barou, der seine Frau unter wüsten Beschimpfungen an den Haaren mit sich zog. Wie es in Afrika üblich ist, stürzten die Leute aus ihren Wohnungen, um zu se hen, was los war. Alle versuchten, Barou zu beruhigen. Die Männer hielten ihn fest, damit er aufhörte, die arme Fanta zu schlagen, die ihn heulend um Verzeihung anflehte. Er hatte ihre Hand gepackt, bevor sie die Pille in den Mund stecken konnte, und so die kleine Tablette gesehen. Das hatte ihn in rasenden Zorn versetzt. Wütend bedrohte er mit der Faust auch Malimouna. Diese schloß sich in ihrer Wohnung ein. Sie hob den Telefonhörer ab und wollte die Polizei rufen. Doch als sie schon gewählt hatte und die Stimme am anderen Ende der Lei tung hörte, legte sie wieder auf. Was würde das nützen? Was könnte die Polizei, wenn sie sich überhaupt für dergleichen Probleme interessierte, denn tun? Es würde Fantas Lage nur verschlimmern. Fanta war mittellos und ohne Schulbildung. Ihr Mann war alles für sie in dieser fremden Stadt. Und außerdem: wie konnte sie, Malimouna, eine Schwarze, einem anderen Schwarzen Ärger bereiten in einem Land, wo ihre Hautfarbe der Grund für soviel Leiden war? Niemand hier im Wohnheim würde ihr das verzeihen. Sie konnte nichts daran ändern, daß dieser Schwarze ein brutaler, egoistischer Mensch war! Heftig schleuderte sie die Pillenschachtel, die sie immer noch in der Hand hielt, zu Boden. Malimouna hatte an jenem Tag viel geweint, aus Wut ge weint und auch aus Ohnmacht. Als sie ruhig wurde, war ihr 68
Entschluß gefaßt: Sie würde den Kampf aufnehmen, um ihren Schwestern zu helfen. Um Fanta noch mehr Schwierigkeiten zu ersparen, zog Ma limouna aus dem Wohnheim fort und in ein kleines Apparte ment wenige Straßen weiter. Sie würde versuchen, einen Weg zu finden, wie sie der Freundin helfen konnte.
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13 Zehn Minuten fuhr sie schon in der Metro; gut zwanzig Mi nuten noch, dann käme die Haltestelle in der Nähe des Instituts, wo sie ihr Schlußexamen ablegen sollte. Sie war ruhig und ent schlossen. Am Vortag hatte sie mit dem Lesen und Wiederho len der Kurse aufgehört. Sie war ihrer Sache sicher; durchfallen konnte sie nicht, das erlaubte sie sich nicht. Bei jedem Halt betrachtete sie die mit Werbeplakaten vollgeklebten Wände, las die vielfältigen, reißerischen Slogans. Sie lächelte. All die Buchstaben und Worte, die sie so genarrt hatten, als sie ihnen zum ersten Mal begegnete, waren längst nicht mehr geheim nisvoll für sie, beeindruckten sie gar nicht mehr. Nicht nur konnte sie leicht alles lesen, sie verstand auch, was zwischen den Zeilen stand: den Witz, den Scharfsinn, die Ironie. Stark fühlte sie sich und bereit, die Welt zu erobern! Philippe Blain hatte sehr viel zu diesem Erfolg beigetragen während der drei Jahre, in denen sie mit großem Eifer an dem Institut für soziale Studien, das er leitete, ihrer Ausbildung nachging. Eines Abends hatte er sie noch spät in der Bibliothek angetroffen, wo sie ganze Seiten aus Büchern abschrieb, die ausgebreitet vor ihr lagen. »Warum kopieren Sie das nicht einfach, anstatt es abzu schreiben?« hatte er verwundert gefragt. Wie bei einem Fehler ertappt, war Malimouna zusammenge fahren. »Es kostet weniger«, hatte sie nach kurzem Zögern gemur melt. Philippe Blain war errötet und hatte seine Verlegenheit kaum verbergen können. Niemals hätte er so etwas gedacht! Seine Studenten kannten Probleme dieser Art nicht. Er machte sich Vorwürfe, sich nicht früher nach der Studentin erkundigt zu haben, deren ernster Eifer in großem Gegensatz stand zu der 70
unverhohlenen Faulheit vieler Kandidaten, von denen die mei sten den Eindruck machten, als wüßten sie gar nicht, weshalb sie hier waren. Als er hörte, daß sie nach der Schule als Reini gungskraft arbeitete, um ihren Lebensunterhalt und die Kurse bezahlen zu können, beriet er sich mit dem Verwaltungsrat und erließ ihr einen Teil der Studiengebühren. Das war ein uner wartetes Glück für Malimouna, für das sie überaus dankbar war. Ihre Tage wurden hierdurch sehr entlastet. Seit sie am Institut eingeschrieben war, wo die Kurse von halb acht bis dreizehn Uhr gingen, hatte sie das finanziell so einträgliche Flechten aufgeben müssen. Um diesen Verlust auszugleichen, nahm sie einen Job im Capitol-Kino an, das nicht weit vom Institut gelegen war. Sie mußte mit dem Staub sauger den riesigen Saal reinigen; das war langwierig und er müdend, doch sie brauchte das Geld. Gegen siebzehn Uhr war sie damit fertig, eilte nach Hause, aß einen Happen und arbeite te ihre Lektionen durch. Dann fuhr sie zu der Kanzlei eines Notars, wo sie die Büroräume reinigte. Sie leerte die Aschen becher und Papierkörbe, wischte bis in die hintersten Winkel Staub und ging zuletzt noch mit dem Staubsauger durch die Räume. Um halb zwölf kehrte sie todmüde und erschöpft in ihre Wohnung zurück. Nachdem ihr ein Teil der Studiengebühren erlassen wurde, konnte sie an den Nachmittagen lernen und sich erholen. Der Verdienst beim Notar reichte für Miete und Essen. In den Feri en arbeitete sie weiter im Frisiersalon und konnte etwas Geld sparen. Mit dem Abschlußexamen kam für sie jetzt das Ende eines langen Weges in Sicht. Sie mußte es erfolgreich bestehen, sie würde es erfolgreich bestehen! Malimouna betrachtete die Leute in der Metro. Anders als die meisten Fahrgäste las sie während der Fahrten weder Zei tungen noch Bücher. Es machte ihr Spaß, Männer und Frauen zu beobachten, die ein- und ausstiegen; sie versuchte, deren 71
Probleme zu erraten, ihr Temperament, welche Art Leben sie führten. Sie wunderte sich, daß sie kaum Kinder sah, deren seltenes Lächeln sie so gern erwiderte. Sie betrachtete die Frauen, häufig mit Paketen beladen, die sie wohl oder übel an die Wagen ihrer Kleinen hängten. Sie mußte lächeln, wenn sie an das Bild dachte, das sie sich in Salouma vom Leben der eu ropäischen Frauen gemacht hatte. Damals kannte sie nur Mi chèle, die für ihren Mann eine Königin war. Wie hatte sie sich getäuscht, als sie annahm, weiße Frauen hätten es besser als die Frauen in ihrer Heimat! Gewiß, Wasser und Holz mußten sie nicht schleppen, dafür aber einkaufen, sich um die Kinder kümmern, sie zur Schule bringen und wieder abholen, kochen, bügeln, und das alles neben ihrer Büroarbeit. Die Länder mochten in vielem verschieden sein, doch eine Frau blieb eine Frau… Sie war völlig in ihre Gedanken versunken, als eine alte Da me den überfüllten U-Bahn-Wagen betrat. Malimouna stand sogleich auf und bot der Frau, die eine riesige Einkaufstasche trug und nur mühsam vorwärtskam, ihren Platz an. Malimouna half ihr, sich hinzusetzen, und die alte Dame hob den Kopf, um ihr zu danken. Als Malimouna in ihr Gesicht sah, wäre sie fast hingefallen. Sie klammerte sich an einem Griff fest und brach, mit der anderen Hand ihr Gesicht bedeckend, in Schluchzen aus. Die alte Dame betrachtete sie bestürzt. Angesichts ihrer Verzweiflung erhob sich ein Mann, so daß sie sich neben die Frau setzen konnte. Von Schluchzen geschüttelt, vergrub Ma limouna jetzt das Gesicht in ihrem Mantel. Nach kurzem Zö gern legte die alte Dame einen zarten Arm um ihre Schultern und wiegte sie sanft. Endlich trocknete Malimouna ihre Tränen und hob den Kopf. Sie sah die Frau an, und von neuem perlten die Tränen unter den Lidern hervor. »Sie sehen meiner Mutter so ähnlich«, sagte sie schluchzend. Sie klammerte sich an den Arm der Fremden und glaubte, die weiche Haut ihrer Mutter zu fühlen. Für eine Sekunde 72
schien es ihr sogar, als rieche sie den Zitronenduft, den ihre Mutter gern am Körper trug. Die Frau war weiß und doch das ältere Ebenbild ihrer Mutter. Die großen Augen, die sie selbst geerbt hatte, der leicht vorspringende Bogen der Augenbraue, die fein und harmonisch gezogenen Brauen selbst, die kleine Nase, volle, wohlgeformte Lippen, die sich zu einem breiten Lächeln öffneten und dabei weiße, zusammengepreßte Zähne sehen ließen. Und die Grübchen… genau wie bei ihrer Mutter! Mit einem Mal stand die ganze Vergangenheit wieder vor ihr, von der sei geglaubt hatte, sie sei auf dem Grund ihres Erin nerns begraben. Sie war aus ihrem Dorf geflohen. Sie hatte ihre arme Mutter im Stich gelassen. Gewiß war sie jetzt tot, von Kummer verzehrt. Die Station, wo sie hätte aussteigen müssen, war längst vor bei, doch sie konnte den Arm dieser alten Frau nicht loslassen, die ihren Schmerz so gut verstand. »Nicht mehr weinen«, wie derholte die zarte Frau unaufhörlich. Anscheinend machte es ihr Freude, Malimouna zu trösten, als risse sie das aus der Mo notonie ihres eigenen Lebens. Sie wurde gebraucht. Malimou na begleitete sie nach Hause und trug ihr die Einkäufe bis in die Küche. Die alte Dame war entzückt. Malimouna schaute auf die Uhr. Ihr Examen hatte schon vor dreißig Minuten be gonnen! Rasch verabschiedete sie sich und rannte, so schnell sie konnte, die drei Stockwerke des Hauses hinunter. Als sie verweint im Institut ankam, betrachtete Philippe Blain sie bestürzt. Er vergewisserte sich, daß in den Examens räumen alles in Ordnung war, und ging mit ihr in sein Büro. »Was ist passiert? Ich habe Sie im Prüfungsraum vermißt.« Malimouna brachte kein Wort heraus. Sie war völlig durch einander, man sah es ihr an. Philippe Blain kochte ihr einen Kaffee, tat Zucker hinein und reichte ihn ihr. Er zog ein Ta schentuch aus der Tasche und hielt es ihr hin. Malimouna hob die roten, geschwollenen Augen und dankte ihm. Dann zeigte er ihr die Toilette, hier konnte sie sich unter dem kalten Wasser 73
frisch machen. »Sie haben noch zwei Stunden für diese dreistündige Prü fung«, sagte er, als sie herauskam. »Sie können es noch schaf fen. Gehen Sie hinüber, rasch, ich vertraue Ihnen!« Die Anteilnahme von Philippe Blain, ihrem Direktor, berühr te sie und gab ihr wieder Selbstvertrauen. Sie schaute auf seine Hand, die noch immer auf ihrem Arm lag. Er folgte ihrem Blick und zog die Hand verlegen zurück. »Läßt man mich denn noch hinein?« fragte sie besorgt. »Natürlich, ich begleite Sie«, erwiderte er.
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14 Malimouna lag ausgestreckt auf ihrem Bett und träumte vor sich hin. Durch das Fenster beobachtete sie den Himmel. Er hatte sich schon in Dunkel gehüllt, die Tage wurden kürzer mit dem beginnenden Herbst. Trotz seiner Kühle liebte sie den Herbst, weil er die Blätter der Bäume mit seinen Zeichen schmückte, sie rot, gelb, braun bemalte. Die Bäume breiteten in dieser Jahreszeit ihre Äste weit aus, damit jeder die schönen, warmen Farben des Blattwerks bewunderte. Danach verteilten sie großzügig mit jedem Windstoß ihren Reichtum, wie Zaube rer, die Tausende von Goldstücken über den Boden streuen, damit arme Kinder sie am Morgen aufsammeln können. Waren die Straßen voller Menschen, so vermied es Mali mouna, auf den Boden zu blicken; es tat ihr weh, wenn sie sah, wie die Blätter achtlos zertreten wurden. In jedem ihrer Bücher bewahrte sie eine Vielzahl von ihnen. Lächelnd erinnerte sie sich daran, wie sie in Boritouni, als sie noch ganz klein war, Blätter unter den großen Wasserkrug legte, um »buntes Papier« herzustellen. Sie schlug ihr Lexikon an einer beliebigen Stelle auf, nahm vorsichtig am Stiel ein kleines Blatt heraus und hielt es gegen das Licht. Es war von strahlendem Gelb, mit kleinen roten Flecken übersät und leuchtete ganz ungewöhnlich. Mali mouna erinnerte sich an eine indianische Legende aus Ameri ka; sie erzählte davon, daß die Herbstblätter ihre rote Farbe den Jägern des Himmels verdanken, die mit dem Blut der getöteten Tiere die Bäume bespritzen. Das kleine Blatt sah so aus, als sei es mit Blutspritzern bedeckt, mit schillerndem Zauberblut, das in die goldgelbe Farbe hineinlief. Sie legte es zwischen die Buchseiten zurück und klappte das Lexikon vorsichtig zu. Genug der Träumerei! Sie sprang auf, mußte sich beeilen, denn sie würde den Abend mit ihrer »Weißen Maman« ver bringen, wie sie die alte Dame aus der Metro zärtlich nannte. 75
Malimouna hatte sie oft besucht, und zwischen beiden war eine außergewöhnliche Freundschaft entstanden. Sie würden zu sammen ins Kino gehen und nachher etwas zum Essen einkau fen. Sie wollten einen großen Kuchen kaufen und Malimouna würde Erdnußsoße bereiten, eine afrikanische Soße, die ihre »Weiße Maman« besonders gern aß. Malimounas erfolgreiches Examen sollte gefeiert werden. Trotz des Zuspätkommens hatte sie die Prüfung bestanden. In einem Monat würde sie mit der Arbeit beginnen, und zwar in einem Zentrum für Frauenfragen in ihrem Stadtteil. Das Zentrum nahm sich besonders der zu gewanderten Frauen an und ihrer Probleme in einer Umge bung, an die sie sich oft nur schwer anpassen konnten. Malimouna hatte ein eigenes Büro und würde von hier aus versuchen, Lösungen zu finden für die Schwierigkeiten der mittellosen, oftmals geschlagenen Frauen, die alle Gefangene ihrer Situation als Frau waren. Als erstes würde sie ihren Schützlingen klarmachen müssen, und das würde nicht leicht sein, daß Bildung die Voraussetzung für jede wie auch immer geartete Lösung ihrer Probleme war. Eine Ausbildung würde ihnen letztlich auch finanziell helfen und sie unabhängig ma chen von ihren Partnern. Dabei war ihr bewußt, daß sie nicht die Männer gegen sich aufbringen durfte; schon der Gedanke an eine gewisse Unabhängigkeit ihrer Frauen brachte sie auf die Palme. Es war wichtig, behutsam vorzugehen, List anzu wenden und Diplomatie. Sie mußte sich im Zaum halten, muß te sanft und verständnisvoll gegenüber den Männern sein, auch wenn sie lieber gekratzt und gebissen hätte, sobald Ungerech tigkeiten und Willkür sich ihr in den Weg stellten. Ihre »Weiße Maman« hörte aufmerksam zu, wenn sie mit der ihr eigenen Leidenschaftlichkeit von ihren Träumen, ihren Bemühungen, ihren Hoffnungen sprach. Sie bewunderte die enthusiastische junge Frau sehr, doch stets war sie bemüht, Malimouna auf die Erde zurückzuholen, und erinnerte sie dar an, daß jede Veränderung Zeit braucht. Die Frauen in Frank 76
reich kämpften schon so lange für ihre Rechte! Ihre Situation besserte sich langsam, doch der Sieg in diesem Kampf war noch weit entfernt. Bis zu einer wirklichen Unabhängigkeit der Frau mußte man noch viel Geduld haben, denn freiwillig wür den die Männer nicht auf ihre zahllosen Privilegien verzichten. Und waren die Männer sich dessen bewußt, daß sie Privilegien hatten? Selbst in einer sogenannten fortschrittlichen Gesell schaft, fügte die ehemalige Lehrerin hinzu, waren viele Männer ja noch immer kleine Könige. Und erst in Afrika! Die alte Dame hustete. Ihr Husten beunruhigte Malimouna, doch einen Arzt wollte »Maman« nicht aufsuchen. Wenn ihre Stunde da sei, wolle sie sich nicht widersetzen, sie habe genug gelebt. »So etwas dürfen Sie nicht sagen«, entgegnete Mali mouna und setzte eine gekränkte Miene auf. Sie hatte diese Frau wirklich sehr gern, und ihre Gefühle wurden erwidert. Malimouna verstand nicht, daß die alte Dame allein lebte, allein ihre Einkäufe machte, allein ihre Mahlzeiten einnahm. In ihrem Land wäre eine solche Situation ganz un denkbar. Als sie von ihrer Mutter fortgegangen war, hatte diese sicher irgendeinen Neffen oder eine Nichte »geerbt« und somit wieder Gesellschaft, und an Besuchen würde es ihr bestimmt auch nicht fehlen. Die Weißen sind schon seltsam, dachte sie und sah ihre »Weiße Maman« an, die ihr zulächelte. »Warum schaust du mich so an?« »Weil ich glücklich bin, Ihnen begegnet zu sein«, antwortete Malimouna. »Sie waren Balsam für meine Seele, Sie sind mei ne Pariser Mutter!« »Und du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht ha be! Ich hatte zwei Söhne, doch ich hab sie viele Jahre nicht gesehen. Ich kenne nicht einmal ihre Kinder.« Ihr Blick ging in die Ferne, und die Augen wurden feucht. Ein erneuter Hustenanfall packte sie, Malimouna stand auf und holte ihr ein Glas Wasser und Hustensaft. Am nächsten Freitag kam Malimouna wieder, wie stets am 77
Freitagabend, um für ihre »Weiße Maman« einzukaufen. Es regnete in Strömen, und sie war froh, daß die alte Dame nicht selbst hinausmußte. Sie schellte mehrere Male, aber die Tür öffnete sich nicht, und sie hörte auch nicht den Ton des Fern sehers. Jemand kam die Treppe herauf. Malimouna beugte sich über das Geländer und erkannte die Concierge. »Die kleine Alte ist nicht mehr da, ist vor zwei Tagen ge storben«, sagte sie gefühllos. »Ich soll Ihnen das geben«, und sie reichte Malimouna einen Umschlag. Gleichgültig stieg sie mit schweren Schritten wieder hinab. Malimouna ließ die Tasche mit den Einkäufen fallen und riß den Umschlag auf. Durch den Schleier ihrer Tränen las sie eine Todesanzeige mit dem Datum der Beisetzung. Sie sank auf die Treppenstufen nieder, die Hände auf dem Kopf, wie die Menschen es in ihrer Heimat taten, wenn sie ver zweifelt waren. Leise beweinte sie ihre Mutter… In ihrem Land hätte sie den Schmerz herausgeschrien, und von überall wären Menschen herbeigelaufen, um sie zu trösten. Nach einer langen Zeit stand sie schwankend auf, schwer von Trauer, die sie fast erdrückte. Die über die Treppe verstreuten Lebensmit tel ließ sie zurück und lief zu Fuß durch den dichten Regen.
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15 Philippe Blain besuchte sie mehrmals in ihrem Büro. Er wollte sehen, ob sie gut zurechtkam. Er war stolz auf sie und auf ihren Erfolg. Dann kam er und sprach davon, ihr einen schwierigen Fall vorzulegen, doch Malimouna wartete verge bens auf die junge Frau, über die er mehrmals mit ihr gespro chen hatte. Schließlich gestand er ihr den wahren Grund seines Kommens: die Gefühle, die er schon seit langer Zeit für sie empfand. Als sie sich an seinem Institut eingeschrieben hatte, war er auf sie aufmerksam geworden. Danach fühlte er sich mehr und mehr von ihr angezogen, von ihrem ernsthaften und zugleich scheuen Wesen. Ihre offensichtliche Entschlossenheit, die Ausbildung zu machen, weckte seine Bewunderung. Er hatte auch ihre verächtliche Haltung gegenüber Männern be merkt, die es wagten, sich ihr zu nähern; und doch schien es ihm, daß ihr Benehmen nicht wirklich ihre Persönlichkeit wi derspiegelte. In ihren großen dunklen Augen hatte er den An flug von Traurigkeit gesehen, der offenbar einen ganz be stimmten Schmerz verbarg. Daß sie seine Gefühle nie bemerkt hatte, verstand er nicht, und er litt darunter. Zum ersten Mal sah Malimouna ihn mit anderen Augen. Sie hatte sich hinter Mauern aus Gleichgültigkeit verschanzt, das stimmte. Doch war sie wirklich blind gewesen? Hatte sie nicht bemerkt, wie er sie jedesmal anschaute, wenn er sie traf? War er ihr nicht zu Hilfe geeilt, als sie beinahe ihr Examen verpatz te, hatte er nicht ihre Tränen getrocknet? Als sie damals von der Feier bei ihrer »Weißen Maman« heimkam, hatte ein riesi ger Blumenstrauß vor ihrer Tür gelegen, und auf der Karte stand: »Von Philippe für Malimouna«. Er hatte sie sogar zu dem Begräbnis der alten Dame begleitet, hatte ihren Schmerz verstanden und bis zum Ende der Zeremonie ihre Hand gehal ten. Dann hatte er sie nach Hause gebracht und war oft wieder 79
gekommen. Nein, es war nicht möglich, daß sie ihn nicht ver standen hatte. Sie hatte ihn nicht verstehen wollen! Er würde heute abend ein letztes Mal zu ihr kommen, und sie sollte ihm dann offen sagen, ob sie etwas für ihn empfand oder nicht. Er liebte sie von ganzem Herzen und hatte mehrmals versucht, es ihr zu sagen, doch ihre Kälte hatte ihn immer ge lähmt. Jetzt war er bereit, auch das Schlimmste zu hören. Er würde ihren Entschluß akzeptieren. Das Warten, die Ungewiß heit ertrug er nicht länger. In ihrem Leben als erwachsene Frau war Malimouna noch nie so durcheinander gewesen. Tausend Gedanken verwirrten sich in ihrem Kopf. Sie hatte die Besuche von Philippe stets mit großer Freude erwartet. Er war heiter und spaßig, brachte sie zum Lachen, kam mit Armen voller Blumen zu ihr oder mit anderen kleinen Geschenken. Sie war gern mit ihm zusammen und hatte doch nie darüber nachgedacht, daß er sie liebte… Dabei hatte ihre »Weiße Maman« sie die Sprache der Blumen gelehrt, der roten Rosen, die sie oft von Philippe bekam. Klei dete er sich nicht auch eleganter als zu der Zeit, als sie ihn ken nenlernte? Wenn er sie besuchte, trug er schöne Pullover, die seine Augen in der Farbe von Pfefferminzbonbons betonten; Augen, die sie an den kleinen Rico erinnerten. Sein dichtes schwarzes Haar wurde an den Schläfen grau und ließ erraten, daß er die Vierzig überschritten hatte. Er war groß und über haupt nicht häßlich, dachte sie überrascht. Vor allem besaß er schöne große Hände mit langen Fingern und sehr gepflegten Fingernägeln. Sie erinnerte sich seiner Hand auf ihrem Arm am Tag der Prüfung, als er sie davon überzeugen wollte, daß sie es noch schaffen konnte. Ein merkwürdiger Schauer durchlief sie. Sie schüttelte den Kopf, wie um dieses ungewöhnliche Gefühl abzuwehren, bevor es ihren ganzen Körper erfaßte. Vor ihrem Frisiertisch sitzend, flocht sie einen ihrer vielen Zöpfe neu. Sie betrachtete sich. Ja, sie war hübsch, und zum ersten Mal mußte sie beim Anblick ihres Spiegelbilds lächeln. 80
Mit einer anmutigen und zugleich koketten Bewegung neigte sie den Kopf und ließ die kleinen goldenen Perlen tanzen, die sie an den Enden der Zöpfchen befestigt hatte. Es läutete an der Tür, und sie sprang auf. Zweimal wurde geklopft. Kein Zwei fel, das war er. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Zitternd stand sie hinter der Wohnungstür. Die Klingel schlug aufs neue an. Sie bebte am ganzen Körper, konnte sich nicht entschließen zu öffnen. Durch den Türspion sah sie ihn mit gesenktem Kopf dastehen und warten. Erschrocken wich sie zurück. Lange Zeit stand er so, dann hörte sie ihn kehrtmachen und mit schwerfäl ligen Schritten die Treppe hinabsteigen. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, die Hände auf ihrem Kopf. Nach einer halben Stunde glaubte sie zu ersticken. Sie liebte diesen Mann und mußte es sich endlich eingestehen. Rasch kleidete sie sich an, nahm ihren Mantel vom Haken und lief hinaus. Wie würde er sie empfangen? Sie war noch nie in seiner Wohnung gewesen, obgleich er sie viele Male darum gebeten hatte. Im Flur war es dunkel. Sie schellte und klopfte zweimal kurz an die Tür. »Wer ist da?« hörte sie ihn mit müder Stimme fragen. »Malimouna.« Er öffnete sofort und sah sie verdutzt an. Seine Augen waren gerötet, und er versuchte nicht, seine Erregung zu verbergen. Er zog sie hinein und nahm sie in seine Arme. Lange Zeit stan den sie aneinandergepreßt und wiegten einander. Kein Wort, keine andere Sprache war nötig. Er verstand es, das kleine, verängstigte Wesen, in das sie sich verwandelte, sobald ein Mann sie begehrte, in aller Behut samkeit mit sich vertraut zu machen. Mit Zartheit und viel Ge duld gewann er ihr Vertrauen und erreichte, daß sie seinen Körper, seine Liebkosungen duldete. Durch ihn lernte sie ver stehen, daß ihre schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit 81
angehörten, nur noch eine dunkle Erinnerung waren, und daß es die Liebe wirklich gab.
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16 Philippe Blain stammte aus bürgerlichen Verhältnissen und war ein recht einfacher Mensch. Seine Eltern lebten in Nizza, im Süden von Frankreich. Einmal im Jahr, während der Som merferien, fuhr er zu ihnen und traf dort auch seine Schwester Agnès, die in Lilie wohnte, im Norden. Philippe bewohnte ein großes Appartement mitten im Her zen von Paris. Die Wohnung war ihm ähnlich, hier standen Klarheit, Lebendigkeit und Wohlbefinden im Vordergrund. Die Räume waren in den Farbtönen Creme und Lachs gehalten. Im Wohnzimmer hoben sich die modernen Möbel aus dunkel ge beiztem Kirschbaumholz wunderbar von den hellen Wänden und Stoffen ab. Ein riesiges Sofa, auf dem viele Kissen lagen, bildete einen Halbkreis in der Mitte des Raums, den ein riesi ges Fenster mit Blick auf die Seine erhellte. Wenn im Winter der Kamin brannte und seine fahlroten und goldenen Flammen tanzen ließ, war das Zimmer von erregender Pracht. Land schaftsbilder an den Wänden unterstrichen noch seine Eleganz. Malimouna liebte den Raum ganz besonders und machte es sich gern mit einem Buch mitten zwischen den weichen Kissen bequem. Philippe kam dann abends zu ihr, und oft liebten sie sich hier zärtlich. Seinen Haushalt besorgte Philippe selbst, alles war tadellos aufgeräumt und sauber. Als sie ihn darauf ansprach, lächelte er und meinte, er habe zum Glück eine fortschrittliche Mutter gehabt. Sie hatte ihn und seine Schwester gleich erzogen und beiden alles beigebracht von der Haushaltsführung bis zum Kochen und Bügeln. Ihrem Ehemann hatte sie stets verübelt, daß es für ihn nicht in Frage kam, auch nur den kleinen Finger zu rühren, um bei der Hausarbeit zu helfen; das sah er nicht als seine Rolle an. Deshalb hatte seine Mutter sich geschworen, ihr Sohn werde anders sein, und es war ihr gelungen. Als Mali 83
mouna bei Philippe einzog, hatte sie sich gleich wohlgefühlt. Ihr Partner war so liebevoll und zuvorkommend, bei ihm war sie zu Hause. Er hatte ihr völlig freigestellt, in der Wohnung zu verändern, was sie wollte, doch was hätte sie verändern sollen? Alles gefiel ihr, in allem sah sie ihn. Mit der ihr eigenen Sinn lichkeit strich sie zart und bewundernd mit den Fingerspitzen über all die schönen Dinge. Philippe verstand es, die Sinnlichkeit in ihr auch für die Lie be zu erwecken, weihte sie in das Spiel der Liebe ein. Mali mouna war glücklich, und das Glück machte sie in seinen Au gen noch schöner und begehrenswerter. Die feindseligen Blik ke der übrigen Hausbewohner sah er nicht, wenn sie ihm und Malimouna begegneten. Philippe verwöhnte sie, lebte nur für sie und war sichtbar glücklich dabei. Alles machten sie gemeinsam: einkaufen, ko chen, spülen. Sie trennten sich nur, wenn sie in ihre Büros gin gen. Am Abend nach der Arbeit trafen sie dann mit immer neuer Freude wieder zusammen. Malimouna liebte die Abende zu zweit, wo sie sich umarmen und zärtlich miteinander sein konnten, ohne – wie auf der Straße oder in Geschäften – frem de Blicke auf sich zu spüren. Sie sollte diese Blicke ignorieren, dachte sie oft, und doch fühlte sie sich immer unbehaglicher unter ihrer Last. »Merkst du nichts?« fragte sie eines Abends Philippe, als sie in einem Restaurant saßen. Er hielt über den Tisch hinweg ihre Hände und schaute ihr in die Augen. So sehr Malimouna seine Zärtlichkeiten liebte, wenn sie allein waren, so sehr machte es sie verlegen, wenn er ihr seine Zuneigung in der Öffentlichkeit zeigte. »Die Leute beobachten uns«, flüsterte sie und entzog ihm ih re Hände. »Die Leute? Was für Leute?« rief er und nahm erneut ihre Hände. Er küßte ihre Finger und streichelte ihr Gesicht. »Die Leute schauen her, weil du so schön bist«, fügte er lä 84
chelnd hinzu. »Du kannst nicht immer mit dem Kopf in den Wolken le ben«, entgegnete sie in leicht gereiztem Ton. Schweigend beendeten sie ihre Mahlzeit. In dem Punkt ver stand Philippe sie nicht; schon viele Male hatten sie darüber diskutiert. Nein, hatte er gesagt, er war nicht naiv und auch nicht blind, wie sie behauptete. Er wußte sehr wohl, daß ihre Verbindung andere störte, in seiner Welt ebenso wie in der ihren. Doch sollte man deshalb auf das Rücksicht nehmen, was er »menschliche Dummheit« nannte? Dies war ihr Leben, und sie mußten selbst entscheiden, was sie daraus machen wollten. Er jedenfalls lebte nicht für die anderen, sondern für sich, für sie, für sie beide. Sie sollten versuchen, das Problem nicht mehr zu beachten, auch wenn das manchmal schwer war. Ma limouna fühlte, daß sie Philippe gekränkt hatte, und als sie nach Hause zurückkehrten, suchte sie sanft sein Verzeihen. Ihre Zärtlichkeiten entfachten seine Leidenschaft und steigerten sie ins Grenzenlose. Er war ihr ein guter Lehrmeister gewesen, sie überraschte ihn jeden Tag neu, mußte er denken und schloß die Augen, ließ sich forttragen von einer Lust jenseits der Wor te.
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17 Malimouna blätterte gerade eine ihrer Akten durch, als die Sekretärin ihr mitteilte, eine gewisse Fanta wolle sie sprechen. Malimouna sprang auf, um die Freundin zu begrüßen, die sie seit dem Vorfall mit der Pille nicht mehr gesehen hatte. Doch, einmal noch war sie ihr auf dem Markt begegnet, wieder schwanger. Sie hielt Noura an der Hand und hatte ein kleines Mädchen bei sich, das nach dem jüngeren Bruder der Zwillinge geboren sein mußte. Noura war groß geworden und sah noch immer ganz reizend aus. Malimouna hatte Fanta an jenem Tag nicht angesprochen, vielleicht aus Feigheit; sie hatte nicht ge wußt, wie sie ihr helfen könnte, der häuslichen Hölle zu ent kommen. Fanta war völlig abhängig von ihrem Mann, und der wollte von Verhütung nichts hören. Sollte sie ihr raten, den Ehemann zu verlassen? Wohin sollte sie gehen? Und wer wür de für die Kinder sorgen? Das Beratungszentrum, in dem Ma limouna arbeitete, konnte Fanta nur unter Einverständnis und Mitwirkung ihres Ehemanns helfen. Dennoch machte Mali mouna sich Vorwürfe, daß sie die Freundin ihrem Schicksal überlassen und für diesen tragischen Fall keine Lösung gefun den hatte. Fast zehn Jahre mußten seit ihrer letzten Begegnung vergangen sein. Malimouna hatte ganz ihrem Glück und ihrer Arbeit gelebt und nicht bemerkt, wie die Zeit verging. Jetzt schämte sie sich dafür. »Wie geht es dir, Fanta?« fragte sie und breitete die Arme aus. Lange Zeit umarmten sie sich wie Schwestern und gaben sich kleine Püffe in den Rücken, als wollten sie damit den furchtbaren Kummer vertreiben, den sie miteinander teilten. Dann löste Malimouna sich sanft von der Freundin und blickte sie an. Sie konnte ihr nicht sagen, sie sehe gut aus, das wäre mehr als eine Lüge gewesen. Sie lud sie ein, in der Sitzecke des 86
Büros Platz zu nehmen, und hielt Fantas Hände in ihren. Es waren verbrauchte Hände, alte Hände. Fanta, nur zwei Jahre älter als sie selbst, hätte jetzt ihre Mutter sein können. »Mir geht's gut«, sagte Fanta, als lese sie in Malimounas Ge danken. »Schon lange wollte ich dich besuchen, doch mein Mann überwacht mich. Als ich es endlich geschafft hatte, zu dir zu gehen, warst du weggezogen. Die Concierge sagte mir, wo du arbeitest. Gott sei Dank, du bist noch da!« Sie betrachtete Malimouna und fügte hinzu: »Du siehst rich tig glücklich aus und bist noch immer genauso schön! Im Wohnheim wird erzählt, du hättest dich an einen Weißen ver kauft, aber das glaube ich nicht. So etwas würdest du nicht tun.« Malimouna senkte den Kopf. Wenn sie der Freundin doch etwas von ihrem Glück und von ihrer Lebensfreude abgeben könnte! »Du hattest recht, es nicht zu glauben. Ich liebe ihn, diesen Weißen.« Neugierig blickte Fanta sie an und schwieg. Daß sie einen Weißen liebte, konnte Fanta nicht verstehen, das wußte Mali mouna sehr gut. In der afrikanischen Gesellschaft können Männer mit weißen Frauen ausgehen und sie sogar heiraten, ohne deshalb allzu scharf verurteilt zu werden. Sobald jedoch eine schwarze Frau es wagt, das Tabu zu brechen und einen Weißen zu lieben, wird sie sogleich an den Pranger gestellt und aufs Schlimmste verleumdet. Sie wird aus der Gesellschaft ausgestoßen und ist für immer gebrandmarkt. Sollte sie das Pech haben, daß der Weiße sie verläßt, bleibt ihr nichts anderes übrig als fortzugehen. Malimouna wußte, was ihre schwarzen Brüder von ihr dach ten, wenn sie ihnen am Arm von Philippe auf der Straße be gegnete; ihre düsteren Blicke sagten alles. Doch sollte sie dem, was andere dachten, ihr Glück opfern? Gewiß, sie fühlte sich in der Öffentlichkeit mit Philippe nicht unbedingt wohl; solche 87
Gefühle aber waren das kleinere Übel und gingen vorüber. Und waren sie nicht eine unbewußte Selbstzensur, die sie sich aufer legte? War sie nicht selbst Opfer dessen, was sie verurteilte? Ließ sie sich nicht, ohne es zu wollen, durch die mißbilligen den Blicke beeinflussen? Philippe hatte damit offensichtlich keine Probleme. Er war, das fühlte sie, stärker als sie, mehr Herr über sein Leben. Er nahm die Situation an. Sie würde noch vieles zu lernen haben und bewunderte ihn umso mehr. Gleichwohl hatte sie das verkrampfte Lächeln bemerkt, mit dem Agnès, Philippes Schwester, sie ansah, als sie wenige Ma le ihren Bruder besuchte. »Hast du Probleme?« fragte sie jetzt Fanta, um den Gedan ken, die sie bestürmten, ein Ende zu setzen. »Ja, und zwar mit Noura, deinem kleinen Liebling. Du erin nerst dich doch an sie? Sie ist jetzt elf, und morgen soll an ihr die Klitorisbeschneidung vorgenommen werden, doch sie will davon nichts wissen! Unsere in Frankreich aufwachsenden Kinder verstehen die Traditionen und deren Bedeutung nicht mehr. Wenn es morgen nicht geschieht, bringt mein Mann mich um. Weißt du, sie ist schon einmal, als es gemacht wer den sollte, weggelaufen und war zwei Tage verschwunden. Mein Mann droht damit, uns beide zu verstoßen. Mich be schuldigt er, ich hätte sie aufgestachelt. Was soll aus mir wer den? Und Noura, mein Liebling, könnte niemals heiraten. Du weißt ja selbst, daß eine nicht beschnittene Frau bei uns un würdig ist, diesen Namen zu tragen, und daß sie unter keinem Vorwand heiraten kann. Wer würde sie nehmen? Sprich du mit ihr, sie bewundert dich! Als sie dich zuletzt gesehen hat, war sie noch klein, doch sie erinnert sich sehr gut an dich. Wir sprechen oft über dich, über deinen Erfolg, sie möchte werden wie du. Ich weiß, daß sie auf dich hören wird. Bitte tu's für mich!« In Fantas flehenden Augen leuchtete Hoffnung, Malimouna ertrug diesen Blick nicht länger. Schwerfällig stand sie auf und 88
trat ans Fenster, von dem aus man auf die Stadt sah. Unter ihr lärmte Paris, gänzlich unberührt von der Verzweiflung, die sie erfaßte. Da sie Fanta jetzt den Rücken zukehrte, konnte diese nicht sehen, daß Tränen ihre Seidenbluse befleckten. Sie nahm ein Papiertaschentuch vom Tisch und schloß sich, einen Hu stenanfall vortäuschend, mit einer Entschuldigung in die an grenzende Toilette ein. Dort hielt sie den Kopf in ihren Hän den. Dann, nach einer Weile, wusch sie ihr Gesicht unter dem kalten Wasser und ging zu Fanta zurück. »Sag mal, Fanta, du bist doch selbst beschnitten worden, nicht wahr? Hast du die Schmerzen von damals vergessen? Willst du solche Schmerzen auch deiner Tochter zufügen? Glaubst du, damit beweist du ihr deine Liebe?« Malimouna war sich bewußt, daß dies genau die schwachen und oberflächlichen Argumente waren, die sie so oft aus dem Mund von Europäern hörte. Jene betrachteten alles von außen und glaubten sich dennoch befugt, die ganze Welt zu verdam men, ungerecht und nutzlos. Doch in diesem kritischen Mo ment, das wußte sie, würde sie keine richtigen, besseren Argu mente finden, um eine in Traditionen erstarrte Frau zu über zeugen. Wie sollte man sie auch jetzt, hier, sofort davon über zeugen, daß aus ihrem Kind, ihrer geliebten kleinen Noura kei ne schamlose Person würde, nur weil sie ihre Klitoris behielt? Fanta sah ja einen Beweis ihrer Liebe genau darin, daß sie die Beschneidung durchsetzen wollte; das war ihre Realität, ihre Wahrheit! »Fanta«, Malimouna unterdrückte ihr Schluchzen, um einen letzten Versuch zu wagen, »ich selbst bin nicht beschnitten!« Fanta sprang auf und entriß Malimouna ihre Hand. »Jetzt verstehe ich, warum du mit einem Weißen zusammen bist!« schrie sie, ergriff Mantel und Tasche und stürzte hinaus. Von neuem stand Malimouna reglos vor dem Fenster und sah die pulsierende Stadt in der Tiefe. Sie hatte nur einen Wunsch: ins Leere zu stürzen und die Ohnmacht hinter sich zu 89
lassen, die sie so schmerzlich empfand.
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18 Die Nachricht war in der Zeitung erschienen und hatte ein Echo in der gesamten Presse gefunden; besonders die Sensati onsblätter waren gierig nach solchen Meldungen. Man hatte Fanta verhaftet, ebenso ihren Ehemann. Die kleine Noura war unter furchtbaren Qualen verblutet. Sie hatte sich so heftig ge gen den Eingriff gewehrt, daß eine gefährliche Wunde entstan den war. Die alte Frau aus ihrem Heimatland, die den Eingriff vorgenommen hatte, erklärte bei der Polizei, schuld seien allein die Eltern. Sie hätten das Mädchen viel früher beschneiden lassen sollen, bevor es sich so dagegen auflehnen konnte. Auch diese Frau wurde inhaftiert. Die Nachricht traf Malimouna schwer und stürzte sie in tiefe Traurigkeit. War das eine Lösung, diese Menschen ins Gefäng nis zu stecken? War Fanta nicht schon genug bestraft? Auf solche Weise ihre älteste Tochter zu verlieren, die sie so liebte! Würden die kleinen Geschwister verstehen, warum man sie zu Waisen machte? Würden sie das Trauma jemals verarbeiten? Und die Eltern, begriffen sie überhaupt, weshalb man sie an klagte? Philippe fand Malimouna äußerst mißmutig. Sie hatten ihren ersten großen Streit. Philippe war mit der Entscheidung des Gerichts einverstanden. »Wie kann man nur so etwas Barbarisches tun?« hatte er sich entrüstet. »Was weißt du denn davon!« schrie sie wütend. »Wenn man draußen steht, ist es leicht zu verurteilen.« »Eine Verstümmelung ist eine Verstümmelung und ein bar barischer Akt, daran gibt es doch nichts zu deuteln.« Malimouna war empört darüber, ihn so reden zu hören. Warum verstand er nicht, daß es eben nicht so einfach war? Daß diese Menschen überhaupt nicht barbarisch oder grausam 91
waren? Daß sie ihre Tochter liebten und nur ihr Bestes woll ten? Daß sie ein Martyrium durchlitten, weil sie den Tod ihres Kindes verursacht hatten, indem sie taten, was sie für gut hiel ten? Das hatte ja überhaupt nichts mit Barbarei zu tun, wie Zei tungen und Fernsehen glaubhaft machen wollten, indem sie Nouras Eltern als grausame Unmenschen darstellten, als Wilde, die nicht fähig waren, ihre Kinder zu lieben. Malimouna erin nerte sich, den Film einer schwarzen Amerikanerin und sehr bekannten Schriftstellerin über das Thema Beschneidung gese hen zu haben. In dem Dokumentarfilm fragte sich die Autorin, ob die Afrikaner, die ihre Kinder der Genitalverstümmelung ausliefern, sie wirklich lieben. Malimouna war darüber außer sich gewesen. Eine solche Überlegung war doch viel zu einsei tig, lieferte ein verzerrendes Bild. Und heute sah sie sich der gleichen Beurteilung durch Philippe gegenüber. Malimouna glaubte zu platzen vor Wut, zumal sie für ihre Empfindungen nicht die passenden Worte fand. Sie warf ihr Buch auf das So fa. »Als deine Vorfahren uns zu Sklaven machten, war das viel leicht nicht barbarisch? Und wie viele Jahre hat es gedauert, bis sie einsahen, daß es nicht so weitergehen konnte?« Sie verstummte, schämte sich ihrer Argumentation. Beides hatte nichts miteinander zu tun, und eigentlich hatte sie auch etwas anderes sagen wollen. Doch die Tatsache, daß Men schen, die einer Kultur fremd waren, sie kritisierten, ohne die Zwiespältigkeit und Tiefe des Problems zu erfassen, machte sie gereizt und aggressiv, sogar ungerecht. Vielleicht lag hier auch – unbewußt – der Grund dafür, daß sie Philippe nie von ihrer Flucht aus Boritouni und von Dimikèla erzählt hatte… Obwohl sie ihm sehr nahe stand und ja selbst um die Sinnlosigkeit und den unseligen Charakter der Beschneidungspraxis wußte, Kri tik »von außen« konnte sie nicht ertragen! Irgendwie fühlte sie sich schuldig dabei, denn Philippe hatte kein Geheimnis vor ihr. Auch wußte sie, ohne es sich einzugestehen, daß ihre Wut 92
zum Teil gegen sich selbst gerichtet war, weil sie in einem kri tischen Augenblick die Brücken zu Fanta abgebrochen und nicht für sie gekämpft hatte. Philippe und sie hatten nicht mehr über das Thema gespro chen, doch jeder beharrte auf seinem Standpunkt. Philippe bekam plötzlich Lust, Malimounas Heimat kennen zulernen. Sie sprach fast nie davon, doch fühlte er, daß das Land ihr fehlte. Die wenigen Male, wo sie Erinnerungen an ihre Kindheit in Boritouni wachrief, hatten ihre Augen geleuchtet und ein kindlich froher Ausdruck ihr Gesicht erhellt. Es würde ihr sicher gut tun, nach Hause zurückzukehren, wür de die Traurigkeit vertreiben, die er so oft in ihrem Blick las. Sie hatte ihm erklärt, daß sie nach einem ernsten Streit in der Familie ihr Dorf und ihre Mutter hatte verlassen müssen. Es handelte sich dabei um ein Familiengeheimnis, sie konnte es nicht aufdecken. Philippe respektierte ihren Wunsch, darüber zu schweigen, doch nichts hinderte Malimouna, ihr Land wie derzusehen. Außerdem löschte die Zeit manchmal den Groll. Wie Philippe ihr erklärte, konnte er dank seiner guten Referen zen eine Stelle im Entwicklungsdienst für mindestens zwei Jahre bekommen. Danach würden sie weitersehen. Wenn sie es wünschte, könnten sie vor der Abreise heiraten. Malimouna wurde sehr nachdenklich, fühlte sich von wider sprüchlichen Gedanken zerrissen. Heimkehren in ihr Land? Ja, davon hatte sie oft geträumt. Ihre Mutter wiedersehen! Was war aus ihr geworden in all den Jahren? Würde sie verzeihen, daß sie von ihr fortgegangen war? Unvermittelt brach sie in Schluchzen aus, Philippe hielt sie in den Armen und versuchte, sie zu trösten.
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19 Das Flugzeug, das sie nach Salouma brachte, war halb leer. Es war außerhalb der Saison. Sie hatten einen Nachtflug ge nommen, doch Malimouna konnte kein Auge zutun, sie war zu nervös. Philippe, der liebevoll ihre Hand hielt, fühlte ihre Erre gung und verstand sie. Die Hochzeit hatte sie noch aufschieben wollen; sie sei noch nicht so weit, hatte sie gesagt. Mit zwei unddreißig Jahren – wann wäre sie es denn? fragte er sich. Sie hatte auch nicht mit ihm nach Nizza fahren wollen, um seine Eltern kennenzulernen, wie er es sich wünschte. Doch er war geduldig, er sah ja, daß sie ihn liebte, und zweifelte nicht dar an, daß sie am Ende zustimmen würde. Noch immer kannte er das Geheimnis nicht, das sie wie eine schwere Last trug, doch er blieb vertrauensvoll. Bald würde sie sich ihm öffnen. Und ging sie nicht mit ihm fort? Hatte sie nicht ihre Stellung aufge geben, um ihn zu begleiten? Er würde warten. Als sie am frühen Morgen landeten, empfing sie eine feuchte Hitze; Malimouna hatte die Schwüle des tropischen Klimas ganz vergessen. Sie war zu Hause, ihr Herz schlug zum Zer springen. Philippe sah sie an und legte seinen Arm um ihre Schultern. Unter dem Blick des Zollbeamten, der diese Geste angewidert beobachtet hatte, wurde sie ganz klein. Philippe hatte Anrecht auf eine prunkvolle Villa in einem Viertel, wo vor allem europäische Familien wohnten. Das Haus erinnerte Malimouna an das von Michèle und Gerard, bei de nen sie so glücklich gewesen war mit dem kleinen Rico… Rico mußte jetzt ein erwachsener Mann sein. Die ersten Monate waren für beide sehr ausgefüllt. Philippe trat gleich nach der Ankunft seine Stellung als Direktor der französischen Schule von Salouma an. Und Malimouna hatte es übernommen, das Haus einzurichten; unterdessen wartete sie auf eine Möglichkeit, Verbindung zu ihrer Mutter aufzuneh 94
men. Mit Freude schmückte sie das Haus ganz nach ihrem Ge schmack, den sie dem von Philippe sehr nahe wußte. Es war angenehm, dabei nicht aufs Geld sehen zu müssen. Dann fing Malimouna an, sich zu langweilen. Das Haus war prächtig, und es fehlte an nichts. Doch sie brauchte eine Auf gabe, konnte nicht untätig sein. Auch wenn Philippe sie sehr liebte und sie ihn, es genügte ihr nicht mehr. Sie hatte keine Freunde. Die Umstände ihrer Flucht aus Boritouni machten sie ängstlich, und sie wagte es nur selten, allein auszugehen. Doch abgekapselt zwischen den Europäern zu leben, ertrug sie bald nicht mehr. Jene blieben in Salouma unter sich, als wären sie überhaupt nicht auf afrikanischem Boden, hatten ihre eigenen Clubs, ihre Schwimmbäder, ihre Nachtlokale. Das war für Philippe und für sie bei der Ankunft außerordentlich befrem dend gewesen. Malimouna hatte an das Leben im Wohnheim in Paris denken müssen: Dort lebten ausschließlich Afrikaner, doch schlossen sie sich vielleicht nur deshalb zusammen, weil man sie ausgrenzte und sie sich gemeinsam stärker fühlten, solidarisch gegenüber Intoleranz und teurem Leben. Daß die Europäer sich in Salouma zusammenschlossen, konnte nicht die gleichen Gründe haben: Die meisten von ihnen lebten hier in einem Luxus, den sie zu Hause nicht kannten und der sie oft überheblich machte. Philippe mußte zugeben, daß es irgendwie peinlich war. Und doch lud er stets die gleichen Leute ein, Leh rer vom Gymnasium und besonders Victor Durand, den Direk tor einer Wachgesellschaft, mit dem er sich angefreundet hatte. Dieser konnte sich nicht genug über »die Dummheit seiner Angestellten« beklagen. Seine Frau ertrug »die Hitze in diesem Land ganz und gar nicht« und lebte deshalb nur in klimatisier ten Räumen, außer an den Wochenenden, wo sie zum Strand fuhr und ihre Bräune auffrischte. Als sie die Probleme aufzähl te, die sie der Hitze wegen mit ihrer Haut hatte, lächelten Philippe und Malimouna sich augenzwinkernd zu. Vor dem kleinsten Gegenstand afrikanischer Kunst, den sie in ihrem 95
Haus sah, geriet die Dame in Verzückung, als kenne sie den Markt nicht und auch keine Kunsthändler. Malimouna machte, wenn Besucher da waren, fast nie den Mund auf. Zwar bemühten sich manche von ihnen, mit ihr zu reden und ihr näher zu kommen, doch dann stellten sie verlet zende persönliche Fragen, auf die sie nicht antworten mochte. Sie spürte, daß sie sich um Sympathie bemühten, doch es fehlte ihnen, fand sie, an Natürlichkeit, und sie hatte nicht die gering ste Lust, zu ihnen zu gehen. Auch wollte sie aus dem Mund dieser Leute nicht mehr hören, sie sei anders als die übrigen Afrikaner. Damit glaubten sie ihr ein Kompliment zu machen, sie aber empfand es als eine Demütigung. Was wußten sie denn von den »anderen Afrikanern«, mit denen sie praktisch nie ver kehrten? Die einzigen Schwarzen, zu denen sie Kontakte hat ten, waren ihre Dienstboten. Von ihrer eigentlichen Welt war Malimouna völlig abge schnitten, und das bedrückte sie. In ihrem eigenen Land konnte sie eine solche Situation nicht ertragen. Die Europäer erschie nen ihr hohl, uninteressiert und oberflächlich. Sie führten ein Leben, als seien sie nur zu ihrem Vergnügen und des Geldes wegen hier, die Menschen dieses Landes interessierten sie überhaupt nicht. Ihr Verhalten brachte Malimouna immer mehr gegen sie auf. Manche waren länger als zehn Jahre in Salouma und gaben zu, keinen einzigen afrikanischen Freund zu haben. Weil es, so behaupteten sie, wegen der Empfindlichkeit der Afrikaner schwer war, ihnen nahe zu kommen. Philippe bemerkte ihre Verzweiflung nicht, und sie wagte nicht, sie ihm offen zu gestehen. War es denn seine Schuld, daß der Kreis, in welchem er arbeitete, nur aus Franzosen bestand? Malimouna fand es merkwürdig, daß an Philippes Schule nur Lehrer der gleichen Mentalität unterrichteten. Oder war es viel leicht so, daß sie sich einander anpaßten, weil sie sich stets im gleichen Kreis bewegten? Nein, sie durfte nicht verallgemei nern; sie konnte sich nicht vorstellen, daß auch Philippe ihnen 96
eines Tages gleichen würde. Und dann waren die wenigen Paa re, mit denen sie zusammenkamen, ja nicht die Gesamtheit der Europäer im Land, versuchte sie vernünftig zu denken. Und doch war sie enttäuscht. Philippe hingegen lebte glücklich in der neuen Umgebung und genoß den Aufenthalt. Je mehr Zeit verging, umso mehr hatte er Lust, für immer hier zu bleiben. Allmählich begann Malimouna, sich von ihm zu lösen. Da bei hatte sie ihm nichts vorzuwerfen, er war noch derselbe, zärtlich und aufmerksam. Sie allein fühlte sich unbehaglich und konnte doch ihr Gefühl nicht in Worte fassen. Hier in ihrer Heimat hatten sie nicht mehr die gleichen Interessen, die glei chen Probleme. Sie liebte ihn und würde ihn doch auf Dauer unglücklich machen. Sie suchte einen Weg, das Feuer seiner Leidenschaft zu löschen. Da merkte sie, daß sie schwanger war. Dabei nahm sie die Pille. Es kam selten vor, daß eine Frau trotz des Verhütungsmittels schwanger wurde, und nun traf es ausgerechnet sie! Philippe war außer sich vor Freude, als sie es ihm sagte, und verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Er war so glücklich, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Schließlich nahm er ihr alle Bedenken, alles zögernde Zurückweichen. Sie lieb ten sich und würden zusammenbleiben. Sie entdeckte sogar, daß ihr der Gedanke, Mutter zu sein, gar nicht schlecht gefiel. Während der Weihnachtsferien kam Agnès, die Schwester von Philippe, für drei Wochen zu Besuch. Sie war zum ersten Mal in Afrika und gefiel sich als Touristin im fremden Land. Von ihren Ausflügen in die Stadt kehrte sie stets beladen mit Einkäufen zurück: Stoffe, Masken, Kunstgegenstände. Obwohl es ihr keine Freude machte, begleitete Malimouna sie oft. Agnès war ihr nicht sympathisch, behandelte sie von oben her ab. Eines Nachmittags lag Malimouna erschöpft auf der Terras se, auf einem riesigen Sofa. Dies war ihr Lieblingsplatz, wenn sie ruhen und vor sich, hinträumen wollte. Von hier aus konnte sie ihren herrlichen Garten mit all den Sträuchern und Blumen 97
bewundern, die sie selbst gepflanzt hatte. Eine riesengroße Spinne zog ihren Blick auf sich. Eine so große hatte sie noch nie gesehen. Sie lief langsam in Richtung der weit geöffneten Wohnzimmertür. Ihre behaarten Beine verringerten fast un merklich den Abstand zu einer Fliege, der sie auflauerte. Ma limouna erhob sich und trat näher, um das Geschehen besser zu beobachten. Im Wohnzimmer sah sie Philippe und seine Schwester sitzen. Dann waren sie also vom Strand zurück und dachten wohl, sie habe sich im Schlafzimmer hingelegt. Sie stritten ziemlich laut. »Du hättest dich wirklich vorsehen können«, sagte Agnès zornig. »Schließlich seid ihr nicht verheiratet, und das Kind bindet euch fürs ganze Leben.« »Dagegen hab ich absolut nichts einzuwenden. Ich liebe Ma limouna und will sie sowieso heiraten.« »Du wirst unsrer Familie doch wohl nicht diese Schwarze aufhalsen und noch einen Haufen Mischlinge dazu! Unsere Mutter würde dir das nie verzeihen. Du hast ja nicht einmal den Mut gehabt, ihr das Mädchen vorzustellen.« »Malimouna wollte es nicht, sie fühlte sich noch nicht bereit. Außerdem wollt ihr mir doch wohl nicht vorschreiben…« Er brach unvermittelt ab, sein Blick war dem von Malimou na begegnet, die schweigend zugehört hatte. Er wollte zu ihr, doch sie wandte sich von ihm ab. In ihrer Erregung stolperte sie über die Stufen der Terrasse und stürzte auf den Kies. Philippe eilte ihr zu Hilfe, hob sie sanft auf. »Geht's?« fragte er mit tonloser Stimme, die seine Angst und die Scham verriet. Malimouna spürte plötzlich heftige Krämpfe in ihrem Bauch. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Diagnose des Arztes war deutlich: Es handelte sich um Kontraktionen, und wenn sie nicht aufhörten, würde sie das Kind verlieren. Malimouna wußte nicht mehr, war es der Sturz gewesen oder das Gehörte, was die Wehen ausgelöst hatte. Oder hatte sie 98
genau in dem Augenblick, als sie Agnès sprechen hörte, tief in ihrem Innern gewünscht, das Baby zu verlieren? Und ihr Wunsch war Wirklichkeit geworden? Wollte sie das Kind überhaupt noch? Nein, antwortete ihre innere Stimme. Im glei chen Augenblick ließ eine Wehe, viel stärker als die vorheri gen, sie vor Schmerz aufschreien, und dann war es vorbei.
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20 Philippe ertrug die Trennung nicht. Er hatte seinen Vertrag nicht verlängert und war nach Paris zurückgekehrt. Er liebte sie noch immer, hatte er Malimouna gesagt, er konnte nicht mit ihr in einer Stadt leben und sie nicht sehen. In Salouma zu bleiben, wäre unter solchen Umständen eine Qual für ihn. Er hatte dar auf bestanden, daß sie alles behielt, was sie für das Haus ange schafft hatten – im Namen dessen, was zwischen ihnen gewe sen war. Durch seine Verbindungen hatte er sogar Arbeit für sie gefunden in einem Rehabilitationszentrum für geistig be hinderte Kinder. Was auch geschehen werde, sie könne immer auf ihn zählen, sie habe seine Adresse. Malimouna hatte sich eine Wohnung in der Nähe des Reha zentrums eingerichtet. Erst als Philippe fort war, wurde ihr die große Leere bewußt, die er hinterließ. Und doch, sie mußte einen Schlußstrich ziehen, mußte wieder zu sich selbst finden und klar sehen. Die Stelle als Erzieherin war ein Glück für sie. Die Arbeit machte ihr Freude, füllte sie aus. Nach einer Probe zeit von wenigen Wochen war sie fest angestellt. Die Anfangszeit im Zentrum war für sie sehr hart, denn diese Arbeit kannte sie überhaupt nicht. Eine völlig neue und be fremdende Welt. Sie fand keinen Ausdruck für ihre Gefühle, als sie sich zum ersten Mal mit den andern Erziehern in einem Saal zwischen all den behinderten Kindern befand. War es Angst, Neugier, Verlegenheit, Scham, Schuldgefühle, Mitleid? Wahrscheinlich ein wenig von allem. Mit wachen Sinnen be obachtete sie die Kinder, verstohlen nur, wollte ihnen vor allem nicht den Eindruck geben, angestarrt zu werden. Was sie sah, verwirrte sie. Die Anhaltspunkte, die Grenzen dieser Welt wa ren ihr fremd; sie fühlte sich linkisch und verloren. Eines Tages hatte man sie neben Fred gesetzt, einen mongoloiden Jungen, der sehr groß und massig war. Er starrte Malimouna an, die 100
steif und verkrampft auf ihrem Stuhl saß und seinen beharrli chen Blick auf sich spürte. Sie hatte Angst, und ihr Herz schlug laut. Die Kinder und ihre Betreuer saßen alle um einen großen Tisch herum, auf dem Zeichenpapier und Buntstifte lagen. Der Malimouna gegenüber sitzende Erzieher fragte, ob ihr nicht gut sei. Sie konnte ihm nicht einmal antworten, so unbehaglich fühlte sie sich, brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Plötzlich und ohne Vorwarnung stieß Fred einen Schrei aus und beugte sich mit ausgestreckten Armen zu ihr hin. Mali mouna sprang schreiend auf. Alle am Tisch brachen in Geläch ter aus, auch ihr Nachbar, sichtlich zufrieden, daß er ihr solche Angst eingejagt hatte. Verblüfft lachte Malimouna mit. Man erklärte ihr dann, daß alle Erzieher diesen kleinen Spaß, den Fred sehr liebte, hatten über sich ergehen lassen müssen. Schließlich gewöhnte sie sich in die neue Welt ein. Ihre Ängste waren fort, und sie merkte schnell, daß die Kinder – wie alle anderen auch – Liebe brauchten und Zuwendung und daß sie fähig waren, solche Gefühle zu erwidern. Und, wie sie am eigenen Leib erfahren hatte, fehlte ihnen weder der Humor noch der Spaß an Streichen. Alle waren sehr anhänglich und nicht boshafter als die sogenannten normalen Kinder. Es gefiel Malimouna im Zentrum, sie hatte hier eine Ersatz familie gefunden. Dennoch empfand sie so etwas wie Verbitte rung, und zwar von Tag zu Tag mehr. Der Wunsch, ihre Mutter wiederzusehen, wurde übermächtig. Doch sie konnte ja nicht selbst nach Boritouni fahren. Wer weiß, welches Schicksal sie dort erwartete! Was war aus dem alten Sando geworden? Si cherlich hatte er ihr Geheimnis aufgedeckt, und ihre Mutter hatte die Folgen tragen müssen. Vielleicht war sie zum Gespött des Dorfs geworden, die arme Frau! Malimouna mußte jeman den hinschicken, der sie holte, nur wen? Das Problem ließ ihr keine Ruhe, nahm ihr die Lebensfreude. Und die so lebendigen Erinnerungen an ihre »Weiße Maman« ließen den quälenden Schmerz immer wieder neu aufflammen. 101
Eines Mittags aß sie in einem Restaurant. Sie tat das oft, wenn sie einen dringenden Fall zu bearbeiten hatte und keine Zeit damit verlieren wollte, daß sie nach Hause ging. Die be hinderten Kinder, die ihr anvertraut waren, litten allzu oft an mangelnder Liebe, und sie, Malimouna, hatte Liebe im Über fluß zu vergeben, deshalb arbeitete sie mit ganz besonderer Hingabe. Sie hatte sich mit Laura angefreundet, einer Kranken schwester im Rehazentrum. Laura war alleinerziehende Mutter eines fünfjährigen Jungen und ging mittags immer nach Hause. So war Malimouna beim Mittagessen ohne Gesellschaft. Ge wöhnlich hatte sie eine Zeitung dabei, die sie während der Mahlzeit überflog, um den Blicken gewisser Männer zu entge hen, die ihren Wunsch, allein zu sein, nicht respektierten. Eine Frau, die in der Öffentlichkeit allein auftrat, war in ihren Au gen immer auf der Suche nach einem Partner. An diesem Tag hatte sie keine Zeitung; die Gedanken an ihre Mutter quälten sie so sehr, daß sie sich auf nichts anderes konzentrieren konn te. Mit gesenktem Kopf und gerunzelter Stirn spießte sie me chanisch Salat auf ihre Gabel, ohne ihn zum Mund zu führen. Plötzlich unterbrach eine Stimme ihre Gedanken. Ein Mann stand vor ihr und zeigte auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Anderswo ist kein Platz mehr frei.« »Bitte, ich bin sowieso fertig«, sagte sie und gab dem Kell ner ein Zeichen, ihr die Rechnung zu bringen. »Ich will Sie nicht vertreiben. Ich beobachte Sie schon eine Weile, Sie haben nichts gegessen. Bitte gehen Sie nicht, ich werde Sie ganz bestimmt nicht beißen. Und ich sehe Sie auch nicht an!« fügte er betont ernst, sie neckend, hinzu. Malimouna schämte sich ein bißchen und blickte zu dem Sprechenden auf. War sie denn so unnahbar? Sie lächelte ihm zu und entspannte sich ein wenig. Der Mann hatte etwas Beru higendes an sich. Er machte nicht den Eindruck, als sei er auf eine leichte Eroberung aus. 102
Sie betrachteten sich jetzt gegenseitig, doch jedesmal, wenn ihre Blicke sich trafen, wandte er die Augen von ihr ab, so als wolle er sein Versprechen einlösen. »Tut mir wirklich leid«, meinte er, drehte sein Gesicht zur Seite und tat so, als hindere er es gewaltsam an der Rückkehr in ihre Richtung; dabei konnte seine Hand das Kinn nur mit äußerster Anstrengung halten. »Sie müssen Magnete in den Augen haben, denn so sehr ich es ihnen auch verbiete, meine Augen kehren gegen meinen Willen zu Ihren zurück, und der Kopf folgt ihnen nach. Tut mir wirklich leid!« Malimouna bemühte sich, ernst zu bleiben. Doch dann brach sie plötzlich in Lachen aus, und bald lachten sie beide unbän dig und ohne aufhören zu können. Malimouna war böse auf sich, daß sie mit einem Unbekannten derart hemmungslos lach te, und konnte doch nichts dagegen tun. Jedesmal, wenn sie wegschaute und es ihr gelungen war, sich zu beruhigen, brach ihre Heiterkeit von neuem los, sobald sie ihn ansah. Die Tisch nachbarn und Kellner blickten schon belustigt herüber. Es ergab sich wie selbstverständlich, daß sie sich nun immer mittags beim Essen trafen. Malimouna überraschte sich dabei, daß sie nach ihm Ausschau hielt und ungeduldig auf die Uhr sah, wenn sie als erste an ihrem Lieblingstisch Platz genommen hatte. Karim stammte aus der gleichen Region wie sie. Sein Dorf war nur wenige Kilometer von Boritouni entfernt. Doch er hat te immer in Salouma gelebt, wo sein Vater Beamter war. Sie hatten dieselbe Sprache, dieselbe Religion. Mit ihm entdeckte Malimouna ihre Wurzeln neu. Es tat ihr gut, sich von Zeit zu Zeit in ihrer Muttersprache zu unterhalten, die sie so viele Jah re nicht mehr gesprochen hatte. Sie hatte sie nicht vergessen, doch das Sprechen ging jetzt nicht mehr automatisch. Er war Informatiker und hatte eine eigene Firma gegründet. Der Computer war seine erste Ehefrau, pflegte er zu sagen. Wer war die zweite? fragte sich Malimouna. Seit drei Monaten 103
trafen sie sich regelmäßig; sie hatten viele Gemeinsamkeiten und lachten gern zusammen. Keiner von ihnen sprach über sein Privatleben. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Malimouna sich von einem Mann angezogen, ohne daß der ihr gegenüber etwas anderes als bloße Freundschaft gezeigt hätte. Er besaß eine starke Anziehungskraft. Sie fragte sich, was er wohl für sie empfinden mochte. Sie wollte es wissen, konnte schon nicht mehr schlafen bei dem Gedanken. War er einfach nur gern mit ihr zusammen, oder wäre er gern immer bei ihr? Wartete er voll innerer Unruhe auf ihr nächstes Treffen, genau wie sie? Verbrachte er ganze Nächte damit, an sie zu denken, an ihr Lächeln? Sie war verliebt, sie mußte es sich eingestehen, und sie litt. War er frei? fragte sie sich unablässig. Er trug keinen Ring, doch das sagte nichts, wie sie wohl wußte. Sie hatte Angst, ihn zu fragen, Angst vor seiner Antwort. Wenn sie ihn ansah, schien er ganz in seinem Element, schien sich wohlzu fühlen in seiner Haut, stets zu Spaßen aufgelegt und zum La chen. Seiner selbst sicher, stellte er sich keine Fragen. Er war groß und breitschultrig, nicht besonders hübsch, doch er hatte den Blick eines Zauberers und die Manieren eines Gentleman. Er war überaus zuvorkommend und nett. Konnte endlos reden. Sie trank seine Worte und vernahm doch jene nicht, auf die sie so sehr wartete. Karim fühlte sich von Malimouna sehr angezogen, fragte sich aber, ob eine so schöne und intelligente Frau frei sein konnte. Er zweifelte daran und ärgerte sich, daß er sie nicht gleich am Anfang,gefragt hatte. Doch weshalb hätte er es tun sollen? Im übrigen hatte er gerade eine schmerzhafte Trennung hinter sich, seine Freundin hatte ihn wegen eines ändern verlas sen. Er war mißtrauisch. Eines Tags endlich lud er Malimouna ins Kino ein. Den gan zen Tag konnte sie sich auf nichts mehr konzentrieren, schweb te über den Dingen. Zwei Stunden vor der Verabredung hatte sie ihre gesamte Garderobe durchprobiert, sich schließlich für 104
ein rosa Kleid entschieden, das sie im allerletzten Moment ge gen ein weißes tauschte. Ihr war eingefallen, daß er ihr einmal Komplimente über ihre Schönheit gemacht hatte, als sie ein weißes Oberteil trug; es betone ihre Haut wie Ebenholz, hatte er mit göttlichem Lächeln gesagt. Der Film war banal. Das hatte sogar sie bemerkt, obwohl sie ganz damit beschäftigt war, jede seiner Bewegungen auszuspä hen, und ungeduldig auf den Augenblick wartete, wo er – wie im Roman – seinen Arm um ihre Schultern legen und sie unge stüm küssen würde, ihr dabei versichern, er sterbe vor Liebe zu ihr. Sie waren einer Meinung, daß es wirklich ein recht mittel mäßiger Film war, diskutierten so ernsthaft darüber, als ginge es um ihr Leben. Im Auto dann, auf dem Heimweg, wurden sie schweigsam. Sah er am Ende in ihr nur eine Freundin? fragte sie sich, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie war böse auf sich, daß der Gedanke sie traurig machte. Schließlich schuldete er ihr nichts, hatte ihr nichts versprochen, sie in keiner Hoffnung ge wiegt. Doch wie sehr sie sich auch Vernunft einredete, sie wurde nicht weniger unglücklich dabei und auch nicht weniger zornig. Sie war nur eine Freundin für ihn! Auch er hatte keine zärtliche Geste bei ihr entdecken kön nen. Nichts, was ihn hätte glauben lassen, daß sie ihn wirklich begehrte. Doch sie hatte seine Einladung angenommen und sich besonders hübsch gekleidet, zweifellos seinetwegen. Als er sie vor ihrer Wohnung absetzte und ihr zum Abschied einen kleinen, flüchtigen Kuß auf die Stirn drückte, war sie davon überzeugt, daß sie ihm gleichgültig war. Sie schloß die Wohnungstür hinter sich und ließ sich in einen Sessel fallen. Noch nie hatte sie eine solche Mattigkeit gefühlt. Tagelang hatte sie nur von Illusionen gelebt, sich eine Welt erbaut aus seinen Gefühlen für sie. Dabei interessierte er sich offensicht lich gar nicht für sie. Er begehrte sie nicht einmal. Dieses eine 105
Mal ließen ihre Schönheit, ihr Körper einen Mann unberührt. Welche Ironie des Schicksals! Ihr Leben lang, bevor sie Philip pe kannte, hatte sie es gehaßt, von den Männern ihrer Schön heit wegen begehrt zu werden. Und jetzt, wo sie es brauchen konnte, wo sie selbst mit ihrem ganzen Sein einen Mann be gehrte, konnte diese Schönheit ihn nicht einmal verführen. Erst als ihre Hände, die auf den Knien lagen, naß wurden, merkte sie, daß sie weinte. Warum war sie so wütend? Warum empfand sie solchen Schmerz? Vielleicht war er verheiratet oder verlobt und mußte seiner Gefährtin die Treue halten. Sie sollte ihm dankbar dafür sein, daß er die Situation nicht ausge nutzt hatte, daß er sich so anständig verhielt. Doch all diese Argumente befriedigten sie nicht. Wenn es jemanden gab in seinem Leben, warum hatte er sie dann eingeladen? Was hatte das zu bedeuten? Sie kam sich lächerlich vor. Wütend wischte sie die Tränen weg und stand auf, um vor dem Schlafengehen zu duschen. Das heiße, fast kochend heiße Wasser auf ihrem Körper tat ihr gut und betäubte ein wenig den Schmerz. Sie wollte nicht weiter nachdenken. Sie seifte ihren Körper von oben bis unten ein, und ihre Hand glitt langsam zu jener kleinen Stelle. Die Klingel ertönte, laut und dringlich. Sie zögerte eine Wei le. Wieder läutete es, sie hatte nicht geträumt. Wer konnte sie zu so später Stunde stören? Sie duschte rasch den Schaum ab und wickelte sich naß in ein Badetuch, um durch den Türspion zu sehen. Es war Karim. Sie öffnete die Tür, und noch bevor sie wieder zu Atem kam, war er drinnen und umarmte sie, be deckte sie mit Küssen und sagte ihr Worte, die sie gar nicht mehr hörte, so wurde sie von der eigenen Ekstase fortgetragen. Erst am nächsten Morgen kehrte Karim nach Hause zurück. Es war ein Sonntag. Sie würden sich erst am Montag wiederse hen, sagte er, heute mußte er seine Mutter besuchen. Malimouna war im siebten Himmel. Gott dachte wieder an sie. Sie hatte einen Mann gefunden, der sie liebte und den sie 106
vergötterte. Zudem war es jemand, an dessen Arm sie sich ganz und gar wohlfühlte. Es wäre ihr nicht peinlich, wenn er sie vor der ganzen Welt umarmte! Sie verbrachte den Vormittag im Bett und rief sich alle köstlichen Augenblicke der Nacht ins Gedächtnis zurück. Am Nachmittag verließ sie die Wohnung in der Absicht, die Liebesnacht ihrer Freundin Laura zu erzählen, die ein paar Häuserblocks entfernt wohnte. Malimouna lief mit raschen Schritten, und als sie um eine Ecke bog, sah sie plötzlich Ka rim, einen riesigen Blumenstrauß im Arm. Bestimmt wollte er zu ihr. Er hatte sie gesehen. Sie gab ihm ein Zeichen und ver suchte, über die Straße zu ihm zu gelangen, da machte er un vermittelt kehrt und rannte mit großen Schritten davon, so als fliehe er vor ihr. Verdutzt blieb Malimouna stehen. Was hatte das zu bedeuten? Ganz entmutigt ging sie nach Hause. Wohin wollte er mit dem Blumenstrauß? Hatte sie ihn auf dem Weg zu einer anderen Verabredung überrascht? Ihr Kopf war schwer von Fragen, sie hatte nur noch das eine Bedürfnis, sich ins Bett zu legen. Sie durfte nicht weinen! Noch einmal sagte sie sich, daß er ihr nichts schuldig war, nichts versprochen hatte. Sie hatten sich geliebt, und sie hatte ihn genauso begehrt wie er sie. Sie war noch ganz mit ihren Zweifeln beschäftigt, als es an der Tür läutete. Sie rührte sich nicht. Der Besucher blieb beharrlich und schellte jetzt alle zwei Minuten. Sie stand auf, um zu se hen, wer es war. »Mach doch auf, Malimouna«, hörte sie ihn sagen. »Spiel nicht verrückt.« Karim trommelte gegen die Tür. Schließlich öffnete Malimouna und setzte sich sofort in ei nen Sessel, ohne den Blumenstrauß zu nehmen, den er ihr hin hielt. Er ging in die Küche und stellte die Blumen in eine Vase, die er mit Wasser füllte. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, hatte sie den Fernseher eingeschaltet und war scheinbar ganz in einen Dokumentarfilm über das Leben der Tiere vertieft. Er ergriff einen Stuhl, drehte ihn um und setzte sich rittlings Ma 107
limouna gegenüber. Das Kinn auf den gekreuzten Armen über der Stuhllehne, betrachtete er sie schweigend. Sie spürte seinen beharrlichen Blick, wollte den Kopf aber nicht zu ihm hinwen den. »Bist du beleidigt?« fragte er nach einer Weile. »Warum? Hätte ich denn Grund, beleidigt zu sein?« entgeg nete sie verteidigungsbereit. »Anscheinend ja, in Wirklichkeit nein!« meinte er ruhig. »Ich dachte, was zwischen uns war, sei ein Beweis…« Malimouna unterbrach ihn heftig. »Was zwischen uns war? Nichts war zwischen uns, absolut nichts!« Sie war verletzt, fühlte sich zutiefst gedemütigt. Karim trat zu ihr; sie stand auf und wollte weglaufen. Er nahm sie bei den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Kannst du mir sagen, was los ist?« fragte er. Ich bin ihm völlig gleichgültig, sagte sich Malimouna und sah ihm in die Augen. »Willst du behaupten, daß du mich vorhin nicht gesehen hast auf der Straße?« »Das ist es also! Deshalb bist du beleidigt. Klar hab ich dich gesehen, aber genau in dem Augenblick konnte ich nicht in deine Nähe kommen.« »Und warum nicht?« schrie sie außer sich. »Kann ich dir nicht sagen.« »Weshalb nicht?« »Weil es mir peinlich ist.« »Es ist dir peinlich, mir zu sagen, daß du zu einer anderen Frau wolltest, stimmt's? Hat sie etwa deine Blumen nicht haben wollen?« »Meine Güte, du bist ja eifersüchtig! Dann liebst du mich al so!« Lachend zog er sie an sich. Malimouna wurde zu einer wütenden Furie. Der Mann hatte sich über sie lustig gemacht und tat es noch immer. Der Spaß 108
hatte lange genug gedauert, jetzt mußte Schluß sein. Sie holte tief Luft, doch bevor sie noch den Mund öffnen konnte, ver schloß er ihn mit seiner Hand. »Erst hörst du mir zu«, sagte er energisch. Malimouna riß seine Hand weg und setzte sich wieder in den Sessel. Er kam, kniete sich vor ihr hin, nahm ihre Hände. »Ich konnte dich nicht näherkommen lassen, weil… wie soll ich's ausdrücken… weil…« Er sah wirklich äußerst verlegen aus. Malimouna fing an, ih re impulsive Reaktion zu bedauern. »Weißt du, seit heute morgen hab ich Blähungen, und im selben Augenblick, als ich dich sah…« Er konnte nicht zu Ende sprechen, Malimouna platzte fast vor Lachen. Sie krümmte sich, stammelte Entschuldigungen, die sie kaum herausbrachte, so sehr wurde sie vom Lachen ge schüttelt. Karim lachte brav mit. »Laß mich doch zu Ende erzählen«, bat er. »Nein, nein… ha, ha, es reicht, was du gesagt hast…« »Du wolltest alles wissen, also laß mich weiterreden.« Malimouna stürzte sich auf ihn und hielt ihm nun ihrerseits den Mund zu mit ihrer kleinen Hand, in die er biß, so daß sie noch mehr lachen mußte. Sie lachten, lachten und fielen sich dann in die Arme. Malimouna hatte durch Philippe die Liebe kennengelernt, doch mit Karim war alles neu und beinahe unwirklich. Sie wä re gestorben für ihn, sie lebte für und durch ihn. Sehr bald fan den sie, daß einer ohne den andern nicht mehr sein konnte. Ka rim bat sie, ihn zu heiraten. Malimouna war glücklich, doch ließen die Schatten der Vergangenheit ihr keine Ruhe. Sie ant wortete nicht, und Karim glaubte, in ihren Augen Verzweiflung zu lesen. Dann sprach sie über ihre Mutter, nach der sie sich so sehnte, über ihre Heirat und die Flucht aus Boritouni. Sie brachte alles in einem Zug heraus, als fürchte sie, nicht mehr den Mut zum 109
Weitersprechen zu haben, wenn sie einmal aufhörte. Die Au gen niedergeschlagen, wartete sie auf seine Reaktion. Karim hob ihr Kinn hoch. »Trockne deine Tränen, du hast dir nichts vorzuwerfen. Es war eine Vergewaltigung, und du hast in legitimer Notwehr gehandelt. Außerdem warst du minderjährig. Vor dem Gesetz ist die Heirat null und nichtig. Was für ein Blödsinn, die er zwungenen Ehen! Ich weiß überhaupt nicht, was sich unsere Eltern dabei denken!« Er nahm sie in die Arme und wiegte sie zärtlich. Sie hatte recht getan, sich ihm anzuvertrauen. Alles würde gut.
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21 Es war an einem Gewitterabend. Grelle Blitze durchzuckten den dunklen Himmel. Malimouna stand am Wohnzimmerfen ster des Hauses, das sie mit Karim bewohnte, und blickte ängstlich auf die Straße hinaus. Karim war vor zwei Tagen dienstlich verreist und sollte heute um sechzehn Uhr mit dem Flugzeug zurückkommen. Jetzt war es neunzehn Uhr, und er war noch nicht da. Er pflegte den Wagen am Flughafen zu las sen, das war bequem für ihn. Malimouna hatte vergeblich ver sucht, dort telefonisch nachzufragen, doch bei dem Wolken bruch waren die Telefonleitungen gestört. Mit jedem Donner schlag wurde ihr banger ums Herz. Was war geschehen? Ein Unfall vielleicht? Zitternd fing sie an zu beten. Endlich bog ein Wagen in die Einfahrt. Geblendet von den Scheinwerfern, konnte sie nicht erkennen, ob es Karim war. Zweimal ertönte die Hupe, er war es! Gott sei gelobt, dachte sie und drückte die Gebetskette an sich. Der Hausdiener öffnete im strömenden Regen das Tor. Malimouna lief Karim auf die Terrasse entge gen. Er stieg aus dem Wagen, kam aber nicht sofort ins Haus. Wahrscheinlich wollte er sein Gepäck aus dem Kofferraum holen; das hatte doch Zeit, dachte Malimouna, er würde sich erkälten. Aber nein, nicht der Kofferraum interessierte ihn; er öffnete die vordere Tür und half jemandem beim Aussteigen, einer Frau, einer kleinen Frau, die er stützte und über die er den Schirm hielt, den der Hausdiener ihm reichte. Diese schmäch tige Gestalt hätte Malimouna im dichtesten Nebel erkannt! Mit einem Freudenschrei stürzte sie in den Regen hinaus zu ihrer Mutter. Lange Zeit standen sie aneinandergeklammert im strömen den Regen, bis Karim mit feuchten Augen zu Malimouna sag te, daß sie beide hineingehen und die Kleider wechseln müß ten. 111
»Ich hab deine Mutter nicht geholt, damit du sie krank machst«, meinte er. Eine Woche lang konnte Malimouna sich nicht von ihrer Mutter trennen. Sie mußte sie ständig berühren, streicheln, ihr tausend Fragen stellen. Sie betrachtete die Falten, von denen ihr Gesicht jetzt überzogen war, ihre welke Haut, die feinen, knotigen Hände, und sie dachte an ihre »Weiße Maman«. Der alte Sando war tot, hatte Matou berichtet, und als sie den verängstigten Ausdruck ihrer Tochter sah, rasch hinzugefügt: »Er ist erst vor zwei Monaten gestorben, an einer Krankheit, die weder die traditionelle Medizin noch die der Weißen heilen konnte. Bis zu seinem letzten Tag redete er davon, dich zu fin den.« Die Nachricht von Malimounas Flucht hatte sich damals in Windeseile verbreitet. Am Morgen bereits war eine Abordnung bei Malimounas Mutter erschienen, um zu sehen, ob sie die Tochter versteckte. Als man sie erst verblüfft und dann ver zweifelt fand, ließ man sie in Ruhe. Dennoch drohte man ihr mit Vergeltung, sollte sich der alte Sando von der großen Wunde an seiner Stirn nicht erholen. Die beiden jüngeren Brü der von Sando, dieselben, die Malimouna zu der Hochzeit ab geholt hatten, schworen Rache für ihren Bruder, weil Mali mouna ihn getäuscht und lächerlich gemacht hatte. Früher oder später würde man sie finden und dann sofort die Beschneidung vornehmen. Sie war ihr Eigentum. Alle im Dorf hatten erfahren, daß sie keine wirkliche Frau war. Dimikèla konnte nicht mehr befragt werden, denn sie hat te an eben diesem Morgen über furchtbare Kopfschmerzen geklagt und in Begleitung ihrer beiden Nichten das Dorf ver lassen, um eine Heilerin im Nachbardorf aufzusuchen. Von dort kehrte sie nicht mehr zurück. Louma war rasend vor Zorn zu Matou gekommen, hatte sich auf sie gestürzt und sie unter den schlimmsten Verwünschun gen schlagen wollen: Sie habe seine Tochter schlecht erzogen 112
und zeige nun allen, daß er recht getan hatte, als er sie verstieß. Sie war nicht würdig, eine seiner Ehefrauen zu sein. Matou hatte so getan, als habe sie den Verstand verloren. Was konnte er einer Verrückten schon antun? Auf die Weise gelang es ihr, unbehelligt weiterzuleben. Ihre Eltern besuchten sie, und das genügte ihr. Jedesmal, wenn der Name ihrer Toch ter fiel, verlor sich ihr Blick in der Ferne, und es war, als schwebe sie in eine andere Welt. Es schien nutzlos, sie noch mehr zu bedrängen. Eine ihrer Schwestern hatte eine zwölfjäh rige Tochter zu ihr gegeben, damit sie nicht allein blieb. Matou hatte die Kleine nach Hause gebracht, bevor sie Karim folgte. Matou war entsetzt, als Malimouna berichtete, wie sie da mals Dimikèla mit dem jungen Seynou überrascht hatte. »Trotzdem war das kein Grund, dir gegenüber ihre Pflicht nicht zu erfüllen«, hatte Matou gemeint.« Sie wußte schließ lich, daß es für dich von entscheidender Bedeutung war, eine Frau zu werden, die diesen Namen verdient.« »Sie konnte das Risiko nicht eingehen, daß ich ihr Geheim nis aufdeckte. Diese Heuchlerin! Sie sollte uns Keuschheit und Tugend lehren, sollte uns dahin bringen, unseren Körper zu beherrschen… Aber ich bin dennoch eine dieses Namens wür dige Frau, Maman! Ich werfe mir nichts vor. Außerdem habe ich einen Mann aus unserer Heimatregion gefunden, und es stört ihn nicht im geringsten, daß ich mich jener Prüfung nicht unterworfen habe. Er möchte mich heiraten!« »Bist du sicher, daß er es weiß?« »Natürlich weiß er es!« Ihre Mutter sah so schockiert aus, daß Malimouna laut la chen mußte. »Wir leben zusammen und werden bald heiraten, Maman.« Malimouna hatte darauf bestanden, in einem prachtvollen, blaßgrünen Bubu zu heiraten. Um ihr Freude zu machen, hatte Karim seine ewigen Jacketts gegen einen von Malimouna aus gewählten, wundervoll bestickten Bubu getauscht. Sie waren 113
ein entzückendes Paar. Mit ihren vierunddreißig Jahren stand Malimouna in nichts hinter den jungen, zwanzigjährigen Mäd chen zurück, und diese verschlangen sie fast mit den Augen, als sie sich am Arm ihres Ehemanns zeigte. Das vollkommene Glück ließ ihr Gesicht in einem fast märchenhaften Glanz er strahlen. Ihre Mutter war da, war an ihrer Seite, und sogar ein paar Onkel und Cousins mütterlicherseits hatten sich versam melt. Malimouna kannte die Familie von Karim kaum, denn er be suchte seine Eltern nur äußerst selten, weil ein Streit ihm den Vater früh entfremdet hatte. Sein Vater hatte der Mutter vieler lei Schimpf angetan und ihr schließlich eine zweite Ehefrau aufgezwungen, die er sehr verhätschelte. Es war schockierend, wie unterschiedlich er die beiden Frauen behandelte; Karim hatte es ihm so verübelt, daß er kaum mehr das Wort an ihn richtete. Nur weil Malimouna darauf bestand, hatte er ihn zu der Feier geladen. Karim hatte acht Geschwister. Zwei Schwe stern von derselben Mutter waren verheiratet und mit ihren Ehemännern ins Landesinnere gezogen. Vier seiner Halbbrüder studierten in Europa, und die beiden letzten lebten noch zu Hause. Alle waren zu Karims Hochzeit gekommen. Und sie waren stolz auf die schöne Malimouna, ein Mädchen ihrer Heimat. Malimouna war selig. Sie würde ihr Leben fortan dem Glück dessen widmen, der sie so reich beschenkte, das gelobte sie vor Gott und den Menschen.
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22 Malimouna war eine überglückliche Ehefrau, und ihr Mann war augenscheinlich sehr in sie verliebt. Ihr einziger Wunsch war es jetzt, ihm Kinder zu schenken. Die Erfüllung ließ nicht lange auf sich warten. Sie wußte beinahe sofort, daß sie schwanger war. Wenige Stunden nach ihrer Umarmung fühlte sie sich fiebrig, und ihr war übel. Sie kannte die Symptome, es gab keinen Zweifel. »Ich glaube, daß du bald Vater wirst«, kündigte sie an. »Bist du sicher?« hatte er freudig gerufen. »Hast du den Test gemacht?« »Nein, aber ich weiß es.« »Wie kannst du das wissen? Soviel ich weiß, hast du noch nie ein Kind gehabt.« Malimouna verstummte und sagte zu, den Test zu machen. Nachdenklich schlief sie an seiner Seite ein. Er kannte ihr gan zes Leben außer ihrer Beziehung mit Philippe. Er hätte sie nicht verstanden, das fühlte sie. Hatte sie nicht oftmals gehört, wie er abfällig über die »Frauen der Weißen« sprach? Sie hätte diesen wenn auch so glücklichen Lebensabschnitt am liebsten aus ihrer Erinnerung gelöscht. Natürlich habe sie noch nie ein Kind gehabt, sagte sie, doch sie spüre »den kleinen fremden Körper« in sich. Über den Ausdruck hatte Karim sehr lachen müssen. Wie Malimouna erwartet hatte, fiel der Schwangerschaftstest positiv aus. Karim wartete noch ungeduldiger als sie darauf, das Baby zu sehen. »Du solltest dich gedulden«, hatte sie lachend gemeint, »es dauert noch mindestens acht Monate.« Karim wollte nicht, daß sie weiter arbeitete. Sie hätte genug damit zu tun, sich um ihre eigenen Kinder zu kümmern. Die Probleme der andern kämen nicht vor denen der Familie, das 115
wiederholte er ihr jedesmal, wenn sie aus dem Rehazentrum heimkam. Malimouna beugte sich schließlich den Bitten ihres Mannes, und er war überaus glücklich, als sie ihre Stellung aufgab. Sie hatte ja noch die Frauen-Hilfsorganisation FHO, sagte sie sich, bei der sie Mitglied war und ein paar Stunden ehrenamtlich arbeitete. Froh über ihren Entschluß, im Rehazen trum aufzuhören, kaufte Karim ihr ein funkelnagelneues Auto und konnte ihr sogar die Angst vor dem Fahren nehmen. Bis zum achten Monat der Schwangerschaft fuhr sie selbst ihren kleinen blauen Wagen. Ihr Kind wurde an einem Sonntagmorgen geboren. Die We hen hatten die ganze Nacht gedauert. Es war ein kräftiger Jun ge, das Ebenbild seines Vaters, der außer sich war vor Bewun derung, als er ihn auf den Arm nahm. »Wie schön er ist, er sieht aus wie ich!« konnte er nicht oft genug sagen, und alle Besucher mußten lachen. Malimouna hatte keine Vorstellung von dem gehabt, was sie fühlte, als sie das kleine Wesen in den Armen hielt. Sie emp fand unendliche Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die sie nie ge kannt und die auch ihr Ehemann nicht in ihr geweckt hatte. Gewiß war dies der mütterliche Instinkt. Sie sah zu ihrer Mut ter auf, lächelte sie an. Wie sehr mußte Matou gelitten haben während der langen Zeit, als sie verschwunden gewesen war!
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23 Malimouna entdeckte die Mutterfreuden. Niemals hatte sie sich vorstellen können, so beschäftigt zu sein. Als sie vom Wo chenbett aufstand, nahm sie auf die dringende Bitte ihres Man nes hin nicht sofort die Aktivitäten bei der FHO wieder auf. Sie begnügte sich damit, ihre Beiträge zu schicken, und gönnte sich nicht die Zeit, selbst hinzugehen. Die Freundinnen dort beklagten sich oft, besonders Laura, die ihr am Telefon vor warf, sie gehe ganz im Familienleben unter. Dabei war es, so sagte sie, doch Malimouna gewesen, die sie davon überzeugt hatte, Mitglied der Organisation zu werden, Malimouna, die ihr ständig mit den Problemen der Frauen in den Ohren gelegen hatte, Frauen zumeist aus niederer sozialer Schicht, die Hilfe brauchten. Und diese Hilfe, so hatte Malimouna doch immer und immer wieder gesagt, mußte zuerst von Frauen kommen. Von solchen Frauen, die das Glück gehabt hatten, aus dieser Schicht aufzusteigen. Und ausgerechnet Malimouna ließ jetzt alles schleifen. Laura vermied es, zu ihr zu gehen, wenn Karim zu Hause war; sie hatte den Eindruck, daß er sich über ihre Besuche und die vielen Anrufe ärgerte. Er verstand überhaupt nicht, sagte er, daß manche Frauen ständig Probleme lösen mußten. Malimouna hatte ihn ungläubig angesehen, als er das herausbrachte. Als sie sich kennenlernten, hatte Karim stets gute Ideen gehabt, wie man den einen oder anderen Fall bei ihrer Organisation lösen könnte. Einmal war eine Frau ge schlagen und dann von ihrem Mann verstoßen und aus dem Haus gejagt worden. Ihre eigene Familie wohnte weit weg, deshalb wußte sie nicht wohin und war bei der Organisation gelandet. Als Malimouna von ihr erzählte, hatte Karim sich erboten, den Vermittler zu spielen. Männer würden in einer solchen Situation eher auf einen ändern Mann hören, hatte er gemeint und war selbst zu dem Mann hingegangen. Dieser, ein 117
Kohlenhändler, war sehr beeindruckt gewesen und geschmei chelt, daß ein so wichtiger Herr und Firmenchef wie Karim von Mann zu Mann mit ihm sprach und ihn bat, nachsichtig zu sein gegenüber seiner Ehefrau. Um sein Ziel zu erreichen, hatte Karim dem Mann vollkommen recht gegeben, seine Beschwerden über die Ehefrau betreffend; sie wünsche nur, in ihr Heim zurückzukehren. »Sie wissen ja, wie die Frauen sind«, hatte Karim seufzend gemeint und ein schiefes Gesicht gezogen, was Überdruß ausdrücken sollte. »Sie müssen ihr verzeihen, was soll ohne Sie aus ihr werden?« Malimouna fand, daß Karim ein bißchen zu weit gegangen war, er aber hatte lachend erwidert, der Erfolg rechtfertige die Mittel. Tatsächlich hatte der Koh lenhändler seiner Ehefrau erlaubt, an den heimischen Herd zu rückzukehren. Die Frau war seither nicht mehr geschlagen worden. Karim hatte auch die FHO mit großzügigen Spenden unter stützt, um – wie er sagte – »seinen Schwestern zu helfen, die nicht das Glück gehabt hatten, als Mann geboren zu werden«. Die Anspielung gefiel Malimouna ganz und gar nicht, beleidig te sie zutiefst, doch Karim hatte ein so gutes Herz. Die zweite Schwangerschaft kam für Malimouna völlig überraschend. Sie hätte sie nicht so bald nach der ersten ge wünscht, umso weniger, als sie gerade wieder bei der FHO mitarbeiten wollte. Doch mit einem Baby von acht Monaten und einer erneuten Schwangerschaft war das nicht so einfach. Toula, ihr Erstgeborener, weinte viel und schlief mit neun Mo naten nachts noch nicht durch. Malimouna mußte ins Kinder zimmer umziehen, denn Karim beschwerte sich, wenn die Tür ihres Schlafzimmers offen blieb. Das Schreien des Babys störte ihn, er mußte am nächsten Tag arbeiten und brauchte seine sieben Stunden Schlaf. Karim stellte leicht verbittert fest, daß seine kleine Familie ihn ein wenig in seinen Gewohnheiten störte. Natürlich liebte er seine Kinder über alles, doch mußte er für sich eine Lösung 118
finden, mit ihrem Lärm zu leben. Um die Firma zu führen, brauchte er seine ganze Kraft und Konzentration. Und Mali mouna blieb ja zu Hause, sie mußte sich eben um alles küm mern. Als das zweite Kind geboren wurde, konnte Malimouna ihre Freude darüber nicht verbergen, daß es ein Mädchen war und ganz ihr Ebenbild. Auch Karim lächelte glücklich, als er »seine kleine Prinzessin« betrachtete. Sie war so winzig und sah so zerbrechlich aus, daß er sie nicht auf den Arm zu nehmen wag te. Für Malimouna begannen fürchterliche Nächte. Eine Krank heit löste die andere ab: Erkältungen, Bronchitis, Entzündun gen der Ohren, Durchfall. Oft wurden beide Kinder gleichzeitig krank, manchmal auch eins gleich nach dem andern, was es nicht einfacher machte. Karim ließ seine Kinder in den besten Privatkrankenhäusern der Stadt behandeln, wollte für seine Familie nur das Allerbeste. Er selbst war in der Firma sehr be schäftigt, doch seine Frau war ja da. Er vergewisserte sich nur, daß es im Haus an nichts fehlte. Eines Nachts hatte Malimouna einen Malariaanfall. Fiebrig und mit Schüttelfrost beugte sie sich über die Wiege der klei nen Millia. Sie mußte trockengelegt werden, schrie daher und strampelte mit Armen und Beinen. Als Malimouna sie hoch nehmen wollte, wurde ihr schwindelig, sie schwankte und fiel auf das kleine Bett neben der Wiege. In der zweiten Wiege weinte jetzt Toula, den das Schreien der Schwester geweckt hatte, und verlangte nach seiner Flasche. Einen Augenblick lang blieb Malimouna still liegen. Nur ein paar Minuten, sagte sie sich, ein paar Minuten müssen sie Geduld haben. Im Halb dunkel spürten die Kinder die Nähe der Mutter und verdoppel ten ihr Schreien. Plötzlich stürzte Karim ins Zimmer. »Was ist denn hier los? Malimouna, hörst du die Kinder nicht?« Er machte das Licht an. 119
Malimouna hatte nicht einmal die Kraft, den Kopf zu heben. Mit der Hand schützte sie ihre Augen vor dem Licht. Er kam näher und sah, daß es ihr nicht gut ging, legte seine Hand auf ihre Stirn: »Du bist ja glühend heiß! Ich rufe einen Arzt.« »Nicht mitten in der Nacht, das ist nicht nötig. Es ist nur ein bißchen Malaria. Ich nehme Nivaquin und Aspirin. Du mußt dich um die Kinder kümmern.« Karim nahm Millia aus der Wiege und hielt sie mit angewi dertem Gesichtsausdruck von sich weg. Malimouna sah zu dem Baby auf; die arme Kleine hatte ihre volle Windel halb losge strampelt. Die gelben Exkremente liefen ihr an den Beinen herunter. Malimouna fühlte sich jetzt ein wenig besser, doch als Karim zu ihr hinsah, wandte sie sich ab und hielt sich stöhnend die Stirn. Karim legte das Kind in die Wiege zurück und wischte seine Hände am Laken ab. »Malimou«, so nannte er sie in besonders zärtlichen Augen blicken, »du mußt aufstehen… die Kinder weinen…« Malimouna wandte den Kopf und blickte ihn an. »Ich hab furchtbare Migräne und fühle mich schwindelig. Bitte wechsle du Millia die Windeln, ja? Und gib sie mir dann zum Stillen. Und für Toula könntest du noch die Flasche auf wärmen, sie steht fertig im Kühlschrank.« Während sie sprach, war Karim aufgesprungen. Er wollte antworten, verzog jedoch plötzlich das Gesicht, als müsse er sich übergeben. Er sprang zurück und stieß gegen die Kommo de. Malimouna saß auf dem Bett und hielt sich jetzt mit beiden Händen den Kopf, sah auf ihre Füße hinunter. Die Kinder schrien aus vollem Hals. Sie legte sich wieder hin und schaute Karim zu, der schwitzte und sich den schmerzenden Ellenbo gen rieb. Er hob die schreiende Millia auf. »Und was mache ich mit ihr?« fragend blickte er Malimouna an. »Leg sie auf den Wickeltisch, nimm ihr die Windel ab und wasch ihr den Po. Dann legst du ihr eine frische Windel um«, 120
sagte Malimouna mit gewollt erschöpfter Stimme, wobei sie einen merkwürdigen Hustenanfall erstickte. Mit den Fingerspitzen versuchte er, die Windel zu entfernen, die sich ihm widersetzte. Mit seiner Geduld am Ende, zog er nun kräftig, und die Windel gab nach; da er sie aber noch fest hielt, spritzte ihm ihr ganzer Inhalt aufs Bein. »Nein, auch das noch!« schrie er angeekelt, ließ das Baby los und ging mit gespreizten Beinen und Armen zur Dusche. »Laß doch die Kleine nicht auf dem Tisch liegen, sie kann herunterfallen.« Karim machte kehrt, nahm seine Tochter und machte sich mit seinem sonderbaren Gang erneut auf in Richtung Dusche. Toula war eine Weile still geblieben. Mit offenem Mund hat te er seinen Vater beobachtet und deutete mit dem Finger auf die Windel am Boden. »Mit lauwarmem Wasser und Seife!« rief Malimouna Karim nach und hustete dabei ihren seltsamen Husten. Toula fing jetzt wieder an zu weinen; er sah Malimouna an und konnte nicht begreifen, warum sie nicht zu ihm kam. Ihr Mutterherz zog sich zusammen, sie stand auf und nahm ihn in die Arme. Er drückte sich eng an sie, und als sie sich mit ihm wieder aufs Bett legte, schlief er, den Finger im Mund, so gleich ein. Nach einer Viertelstunde kam Karim mit der Kleinen aus der Dusche. Millia war naß von Kopf bis Fuß und schrie immer noch. Doch Malimouna blieb liegen, Toula in ihrem linken Arm und die rechte Hand auf der Stirn. Karim betrachtete sei nen schlafenden Sohn und schien erleichtert, daß er nur noch ein Problem zu lösen hatte. Malimouna gab ihm Schritt für Schritt an, wie er das Baby wickeln mußte. Schließlich legte er die Kleine mit einem tiefen Seufzer neben sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vorsichtig hob er Toula auf und legte ihn befriedigt in seine Wiege. Er hatte sich kaum umge dreht, als Toula schon wieder schrie. Malimouna bekam einen 121
neuen Hustenanfall, und Karim, der ihr einen mißtrauischen Blick zuwarf, verschwand brummelnd mit Toula in der Küche. Seit jener Nacht achtete Karim viel mehr auf das Schreien der Kinder. Er hatte mit einem Mal gemerkt, daß er ihre klei nen Gewohnheiten gar nicht kannte, es nicht verstand, sie zu trösten. Da er früh am Morgen aus dem Haus ging und erst spät abends heimkam.sah er seine Kinder praktisch nur am Wo chenende, und selbst dann überließ er es Matou oder Malimou na, sich um sie zu kümmern. Er fand sie noch zu klein, um mit ihnen etwas anzufangen. Jetzt sah er sein Versäumnis ein und war entschlossen, Toula und Millia besser kennenzulernen. Wenn er zu Hause war, beschäftigte er sich mit ihnen, fing so gar an, in der Babysprache zu reden. Er lernte rasch, denn er gab sich große Mühe, so als graue ihm davor, erneut einer Si tuation völlig unvorbereitet gegenüberzustehen. Dann aber kehrte der Alltag zurück, die Arbeit im Büro stand obenan, und Karim wurde gegenüber allem, was die Fa milie betraf, wieder sehr nachlässig und distanziert. Am Wo chenende konnte er Stunden vor dem Computer zubringen und diese Tätigkeit nur zum Essen und Schlafen unterbrechen. Er bezahlte seine Hausangestellten sehr gut und erwartete dafür, nicht mit häuslichen Angelegenheiten belästigt zu werden. Für derlei Dinge hatte er keine Zeit, wie er ständig wiederholte. Wozu war Malimouna da? Er wurde streitsüchtig und empfindlich. Es war für ihn uner träglich, müde nach Hause zu kommen und hier noch mit Sor gen belastet zu werden. In seinem Heim wollte er Ruhe finden und Heiterkeit. Malimouna sollte die kleinen Probleme mit den Kindern allein entscheiden. Er fand, daß sie ihm nicht mehr genug Aufmerksamkeit zu kommen ließ, ständig nur mit den Kindern schmuste. Und daß sie keinen Wert mehr darauf legte, sich hübsch zu machen. Sie ging ihm ein bißchen auf die Nerven. Kaum war er zu Hause, hatte er manchmal Lust, wieder wegzugehen. Mali 122
mouna erkannte ihn nicht wieder. Sie konnte kaum noch das Wort an ihn richten, die kleinste Kleinigkeit machte ihn wü tend. Gewiß, durch die beiden dicht aufeinanderfolgenden Schwangerschaften war sie weniger aufmerksam für seine Be dürfnisse gewesen. Sie würde versuchen, es wiedergutzuma chen und ihm zu zeigen, daß er ihr, auch wenn sie manchmal erschöpft war, noch immer genauso viel bedeutete.
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24 Sie hatte den ganzen Nachmittag in der Stadt verbracht und sich die Haare so flechten lassen, wie Karim es besonders lieb te. Für ihn zog sie das Kleid an, das er ihr zuletzt geschenkt hatte. Ihre Körperformen, die durch die Schwangerschaften überhaupt nicht verändert waren, kamen darin gut zur Geltung. Kaum hatte sie ihm die Tür geöffnet, als er schon ins Haus stürzte mit den Worten, er müsse gleich wieder weg. »Ich kann nur schnell duschen«, rief er durch die Badezim mertür. »Ich hab ein äußerst wichtiges Treffen, wir erwarten finanzkräftige ausländische Kunden.« Sie öffnete den Kleiderschrank und legte ihm einen Anzug und die passende Krawatte hin. So kleidete er sich am liebsten. Ihr gefiel er besser im Bubu, doch fürs Büro war das natürlich nicht passend. »Oh, danke«, sagte er, als er, ein Handtuch um die Hüften, aus dem Bad kam. »Ich muß mich beeilen. Warte nicht auf mich heute abend, es wird bestimmt sehr spät.« Sie half ihm, die Krawatte zu binden; es hatte ihr viel Freude gemacht, es für ihn zu lernen. Normalerweise schätzte er diese kleine Aufmerksamkeit sehr, wußte er doch, daß es ein Zeichen ihrer Zuneigung war. Heute war er verärgert und verbesserte den Knoten, den sie soeben gebunden hatte. Er machte einen überaus nervösen Eindruck. »Du hast mir nicht einmal gesagt, daß ich hübsch aussehe«, sagte sie schmollend. Die Bemerkung überraschte ihn offensichtlich, neugierig schaute er sie an. Wie um Versäumtes gutzumachen, gab er ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange und meinte: »Du bist immer sehr hübsch gewesen! Und das Kleid steht dir gut, ist es neu?« Ohne die Antwort abzuwarten – erwartete er überhaupt eine 124
Antwort? –, ging er fort. Die Kinder schliefen brav in ihrem Zimmer. Seit ein paar Tagen waren sie wohl entschlossen, ihr nachts Ruhe zu gön nen. Es wurde auch Zeit, Millia war jetzt drei Jahre alt und Toula fast fünf. Es waren hübsche Kinder: Toula glich in allem seinem Vater, dasselbe verführerische Lächeln und derselbe Eigensinn, wenn er etwas erreichen wollte. Er hing sehr an Malimouna und ertrug es nicht, wenn Karim laut mit ihr sprach. Dann schrie er wütend »nein!« und warf dem Vater vernichtende Blicke zu. Die meiste Zeit jedoch bewunderte er seinen Vater sehr. Er war ungestüm, konnte nicht eine Minute still sein, das genaue Gegenteil von der ruhigen und sanften Millia. Diese war von so auffallender Schönheit, daß Freunde im Spaß meinten, sie werde einmal viel Unheil stiften. Sie lä chelte jeden an und war selbst Fremden gegenüber nicht ängst lich. Malimouna genoß die nächtliche Ruhe, die nur von dem Zir pen der Insekten im Garten unterbrochen wurde. Gegen ein Uhr vernahm sie, wie Karim den Wagen in die Garage fuhr. Er schien Schwierigkeiten mit der Haustür zu haben; hatte er nicht den richtigen Schlüssel eingesteckt? Sie erhob sich und öffnete ihm die Tür. Er stammelte eine Entschuldigung und lief mit unsicheren Schritten ins Schlafzimmer. Er hatte getrunken, das war neu. Er ging sofort ins Bad, putzte sich die Zähne, zog sich aus und nahm eine Dusche. Malimouna war ihm gefolgt und sammelte die Kleidungsstücke ein, die er auf den Boden ge worfen hatte. Gerade wollte sie das Hemd in den Wäschekorb stecken, als sie es instinktiv an die Nase hielt. Kein Zweifel, es roch nach dem Parfüm einer Frau. Rasch, als würde das Hemd ihr die Finger verbrennen, warf sie es in den Korb und legte sich wieder schlafen; sie war müde und kam auf dumme Ge danken. Als er sich neben ihr ausstreckte, war er kühl und roch gut; so begehrte sie ihn am meisten. Sie rückte näher zu ihm, legte den Kopf auf seine Brust, ihre Hand berührte leicht sei 125
nen Bauch. Sie sehnte sich so danach, daß er sie in die Arme nahm, ihr wieder Sicherheit gab. Doch sein regelmäßiges, ge räuschvolles Atmen zeigte ihr, daß er bereits fest schlief. Sie hatte beschlossen, nicht weiter über den Geruch des Hemdes nachzudenken. Sie wollte nicht eine jener argwöhni schen Ehefrauen werden, die ständig in den Taschen ihrer Männer herumkramen müssen. Ihre Ehe mit Karim basierte auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt. Auch sie selbst war schon spät nach Hause gekommen nach einer Sitzung der FHO, oder wenn sie mit ihrer Freundin Laura zusammen war, und nie hatte Karim sich daran gestoßen. Schließlich war er zu einer Arbeitsbesprechung gegangen, und zweifellos gab es unter diesen wichtigen Kunden auch Frauen. Vielleicht waren es sogar nur Frauen gewesen, und manche Frauen überschütteten sich geradezu mit Parfüm! Nein, sie durfte nichts Schlechtes denken und sich damit selbst das Leben vergiften. Konnte sie dem, der ihr die Mutter zurückgegeben hatte, denn irgend et was übelnehmen? Hatte er damit nicht den untrüglichsten Lie besbeweis erbracht? Von jetzt ab würde sie ihm viel mehr Zeit widmen und viel mehr Zuwendung. Malimouna war sehr aufmerksam gegenüber Karim, sah es als ihre Pflicht an, ihm auch den kleinsten Wunsch zu erfüllen. Sie kochte ihm selbst seine Lieblingsgerichte und interessierte sich ein bißchen mehr als zuvor für seine Arbeit und die damit zusammenhängenden Probleme. Er antwortete ihr widerwillig und ohne große Begeisterung. Das plötzliche Interesse gefiel ihm nicht, er empfand es als zudringlich. Einst so zärtlich und zuvorkommend, wurde er immer schroffer und gleichgültiger. Hatte er vielleicht Sorgen in seiner Firma? fragte sich Mali mouna, doch er versicherte auf ihre Fragen stets, es sei nichts. War er ganz einfach müde und wollte ein bißchen allein sein? Sie beschloß, ihn eine Zeitlang in Ruhe zu lassen. Malimouna wurde sich dessen bewußt, daß sein Verlangen nach ihr nachgelassen hatte; der einst so feurige Liebhaber be 126
rührte sie kaum noch. Eine vorübergehende Impotenz viel leicht? Kein Mann fühlt sich in solchen Augenblicken wohl. Karim mußte sich krank und minderwertig vorkommen! Dabei sollte er doch wissen, daß diese Art »Versagen« keine Kata strophe und durchaus zu beheben war. Aus Rücksicht auf seine Reizbarkeit wagte sie nicht, ihn danach zu fragen, wartete ge duldig, daß es vorübergehen möge. Doch es kam so weit, daß Karim beinahe jeden Abend ausging. Einmal sah er beim Nachhausekommen so erschöpft aus, daß Malimouna, auch wenn sich alles in ihr sträubte, an das Hemd denken mußte. Sie hatte die Geste jenes Abends nie wiederholt; doch jetzt, ob gleich sie es sich verbot, machte seine fast chronische Müdig keit sie nachdenklich. Nach und nach wuchs ein bedrückendes Schweigen zwi schen ihnen, und wenn sie Karim in die Augen sah, wich sein Blick ihr jedesmal aus. Einsamkeit breitete sich aus, erfüllte heimtückisch und alles versperrend bald das ganze Schlafzim mer bis zum Ersticken. Sie vermieden es, sich hier zu begeg nen, sich anzublicken, sich zu berühren. Einsamsein zu zweit. Malimouna hatte nicht mehr die Kraft, ihn zu sich zurückzuho len. Sie lebte nur von einem Tag zum nächsten, unfähig, das verheerende Schweigen zu zerbrechen, welches unablässig ihre Gegenwart aushöhlte und gewiß auch die Zukunft.
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25 Malimouna hatte ihre Arbeit bei der FHO wieder aufge nommen. Millia und Toula gingen jetzt in den Kindergarten, das gab ihr viel freie Zeit. Außerdem war Matou noch da; sie liebte ihre Enkelkinder sehr und konnte sich trotz der Sprach barriere gut mit ihnen verständigen. Matou hatte ein paar Wor te Französisch gelernt und die Kinder ein paar Worte ihrer afri kanischen Muttersprache, das ergab eine herrliche Mischung, die sie hemmungslos gebrauchten. Malimouna konnte sich wieder ganz für den Kampf einset zen, dem sie und ihre Freundinnen von der FHO sich ver schrieben hatten. Dem Kampf für ein besseres Leben der Frau. Sie untersagten es sich, von der »Befreiung der Frau« zu spre chen, weil das viele Männer gegen sie aufgebracht hätte. Die verzweifelten Frauen, denen sie zu helfen versuchten, lebten ja oft mit solchen Männern zusammen. Das Wort »Befreiung« war tabu. Es war, hatte man ihnen oft ins Gesicht gesagt, ein der westlichen Ideologie entlehntes Wort. Als ob all die ande ren Wörter der Amtssprache Französisch das nicht auch wären! Doch die Frauen der FHO hatten Sinn für Diplomatie. Sie schützten sich durch Vorsichtsmaßnahmen, wußten sie doch, daß sie sich auf schlüpfrigem Boden bewegten und mit Finesse und Scharfsinn vorgehen mußten. Malimouna stürzte sich mit Leib und Seele in die Arbeit. Sie ging zu den Frauen nach Hause, denn eins der großen Proble me ihrer Organisation bestand darin, daß die Frauen oft nicht die Initiative ergriffen, herzukommen, obwohl das Zentrum inzwischen bekannt war. Sie waren anders erzogen worden, hatten gelernt, daß Familienangelegenheiten nur innerhalb der Familie gelöst werden können. Eine Frau durfte ihr Leben nicht vor Fremden ausbreiten. Im Fall eines Konflikts konnte sie den Rat von Älteren aus der Familie erbitten. Selbst wenn sie in 128
einem Streit mit ihrem Ehemann im Recht war, gemahnte man sie zuerst an ihre Verantwortung als Ehefrau und Mutter. Sie mußte sich mit Mut und Geduld wappnen, riet man ihr, die Männer waren nun einmal so. Eine Frau, die derlei Ratschläge nicht buchstabengetreu in die Tat umsetzte, konnte keine gute Ehefrau und Mutter sein. Kam es ihr jedoch in den Sinn, sich außerhalb der Familie zu beklagen, besonders bei jenen Frauen, den sogenannten Intellektuellen, die im Ruf standen, zu Hause die Hosen anzuhaben, dann wurde sie gesellschaftlich geächtet und beschuldigt, sie nehme europäische Sitten an. Malimouna gelang es mit Hilfe der Diplomatie, die sie sich zu eigen gemacht hatte, in einer Reihe von Fällen die Situation zu entspannen. Sie verstand es, mit den betroffenen Ehemän nern zu reden, auch wenn sie nur den einen Wunsch verspürte, ihnen ihren Egoismus ins Gesicht zu schleudern. Sie verstand es, ihnen zu schmeicheln, ihnen das zu sagen, was sie hören wollten, um am Ende ihr Ziel zu erreichen: eine Atempause für die Frauen und ein wenig Freundlichkeit. Malimouna verbiß sich in ihre Arbeit, schaffte neue Kontakte, bat internationale und karitative Organisationen um Unterstützung. Die Presse berichtete über alle ihre Aktivitäten, was natürlich ein paar übelwollende Leute störte, die betonten, das sei nichts weiter als viel Lärm um nichts. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, meinten sie, seien so, wie sie immer gewesen wa ren. Ihre Mütter und Großmütter hatten sich niemals beklagt. Man war wütend auf die »ewig unzufriedenen intellektuellen Frauen, die keinen Mann lieben können, ohne Streit mit ihm anzufangen, und dabei vorgeben, die Welt zu verbessern«. Man würde ihnen Hindernisse in den Weg legen und sie daran erin nern, daß sie nur Frauen waren. Am härtesten traf Malimouna und ihre Freundinnen die Feindschaft anderer Frauen. Frauen, deren Äußerungen noch bissiger sein konnten als die der männlichen Gegner. Solche verleumderischen Frauen erklärten jedem, der es hören wollte, 129
die Frauen seien niemals Sklavinnen der Männer gewesen; hier würden nur Ideen aus Europa übernommen, die darauf abziel ten, ein negatives Bild des Mannes zu zeichnen, insbesondere des schwarzen Mannes. »Unsere Männer sind keine Wilden«, schrien sie, »und wir sind keine Wilden«. Darum ging es doch gar nicht! Waren sie unehrlich oder blind? fragte sich Malimouna, wenn sie das hörte. Diese Frauen waren unnachgiebig und nährten ihren Haß gegen die »intel lektuellen Frauen, die ihren Platz in der Gesellschaft nicht ken nen«, weil sie nicht wie wirkliche Afrikanerinnen stolz auf ihre Herkunft sind. Jede Diskussion mit ihnen war unmöglich. Sie leugneten alles, wollten nicht eingestehen, daß es ein spezifisch weibliches Problem gab; für sie war das alles frei erfunden und nur ein Hirngespinst. Die Afrikaner mußten in Ruhe ihre afri kanische Identität leben können. Mochten die Weißen leben, wie es ihnen gefiel, hier ging es um Afrika! Und Afrika hatte genug gelitten unter tausend Vorurteilen, seine Menschen muß ten jetzt zu ihren eigenen Werten stehen und nicht länger ande re nachahmen. Was konnte es schon an Gleichheit geben zwi schen zwei Wesen, welche die Natur so verschieden geschaffen hatte? Afrika, so betonten sie, hatte selbst genug Schwierigkei ten, man mußte nicht noch die Probleme einer anderen Welt, einer anderen Gesellschaft herholen. Malimouna war verzweifelt, wenn sie solche Reden hörte. Als einen Trost empfand sie, daß die FHO sich die Sympathien von immer mehr Männern erwarb, die, auch wenn sie noch nicht Mitglied der Organisation werden wollten, doch deren Arbeit mit großem Interesse verfolgten. Sie nahmen an Diskus sionen teil, spendeten Beifall und halfen vor allem durch wich tige finanzielle Unterstützung. Malimouna spürte, daß sie bald der Organisation beitreten würden. Die jüngste Herausforderung, die Malimouna sich gestellt hatte, war ein Alphabetisierungs-Projekt für Hausfrauen im städtischen Bereich. Solche Angebote existierten, wenn auch 130
selten, bereits in ländlichen Regionen, doch ließ man merk würdigerweise außer acht, daß auch in der Stadt die meisten Frauen weder lesen noch schreiben konnten. Die vielen Schü ler, die man täglich auf ihrem Schulweg in den Straßen sah, ließen all die unter der Last ihrer häuslichen Pflichten gebeug ten Mütter vergessen. Im Verlauf einer Generalversammlung der FHO wurde ein stimmig beschlossen, daß Malimouna Präsidentin der Organi sation werden und, da sie jetzt ganze Tage arbeitete, ein Gehalt beziehen sollte. Malimouna war glücklich darüber, wenn dies auch nicht das Ziel ihres Arbeitseifers gewesen war. Sie war schon so lange Zeit sensibel für die Probleme der Frauen, ins besondere seit ihrer Erfahrung in Frankreich mit Fanta, der Frau aus Mali. Heute wünschte sie mehr denn je, sich ganz dieser Sache zu widmen. Und der Gedanke, wieder ein eigenes Gehalt zu beziehen, mißfiel ihr ganz und gar nicht. Sie wäre nicht mehr gezwungen, von Karim Geld für ihr Benzin zu er bitten. Karim… Sie mußte ernsthaft mit ihm reden. Er richtete kaum noch das Wort an sie. Wenn er einmal nicht spät nachts nach Hause kam, was selten geschah, legte er sich wortlos schlafen und drehte ihr den Rücken zu. Sie traute sich nicht, ihn zu berühren, wußte sie doch nicht, welcher Art seine Pro bleme waren. So konnte es nicht weitergehen. Sie hatte einen Ehemann und war doch allein, sehr allein. Gewiß, sie hatte Pflichten, doch auch Rechte, und vor allem das Recht, Be scheid zu wissen.
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26 Sie kam früher als gewöhnlich nach Hause. Nachdem sie sich mit den Kindern beschäftigt hatte, schickte sie die beiden ins Bett und duschte sich lange. Sie kleidete sich in einen von Karims kleinen Bubus. Er hatte es immer sehr gemocht, wenn sie aus Spaß Kleidungsstücke von ihm anzog, denn sie sah schelmisch darin aus und sinnlich. Sie parfümierte sich mit dem Parfüm, von dem er gesagt hatte, es sei berauschend. Als er ins Zimmer trat, lächelte Malimouna ihn trotz seines mürrischen Gesichts an. »Ich hab auf dich gewartet«, sagte sie munter. »Heute abend möchte ich mit meinem Mann lachen.« »Ich bin müde.« Malimouna spürte, wie der Zorn ihr hübsches Lächeln in ei ne düstere, verkrampfte Maske verwandelte. Und doch zwang sie sich, den leichten Tonfall beizubehalten: »Du bist schon ziemlich lange müde, meinst du nicht auch? Geh dich duschen, und danach reden wir ein bißchen, ja?« »Ich sag dir doch, daß ich müde bin; ich hab keine Lust zu reden.« Wütend warf er seine Kleider aufs Bett, ging ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Malimouna nahm sich zusammen, um ihre Verzweiflung nicht herauszuschreien. Sie ergriff ein Kopfkissen und drückte es fest gegen ihre Brust. Sie durfte dem Zorn nicht freien Lauf lassen, mußte sich beherrschen, Ruhe bewahren, freundlich mit ihm reden. Dennoch konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, die unter ihren Lidern hervorquollen, über die Backen liefen und zuletzt auf das Kissen, das sie umklammert hielt. »Gott«, murmelte sie, »ich brauche deine Hilfe!« Er blieb fast eine Stunde unter der Dusche; sie hörte, wie das Wasser lief und lief. Endlich kam er heraus, ein Handtuch um 132
die Hüften. Das Wasser hatte seine Gereiztheit gemildert. Er setzte sich aufs Bett und sah Malimounas gerötete Augen. »Entschuldige bitte, ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Malimouna schmiegte sich an ihn und ließ sich von seinen starken Armen wiegen, die sie so lange Zeit entbehrt hatte. Er war kühl und roch gut. Als Malimouna am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich ganz leicht. Ihr Karim war zurückgekehrt, sie brauchte jetzt nicht mehr zu wissen, was mit ihm los gewesen war. Sie würden einfach wieder von vorn beginnen. Erstaunt stellte sie fest, daß er trotz der frühen Stunde nicht mehr neben ihr lag. Es war Sonntag, die Kinder würden bestimmt noch drei Stunden schlafen, sie könnten die Zeit genießen. Sie zog Schuhe an und machte sich auf die Suche nach Karim. Er stand im Wohnzim mer am Fenster, eine Tasse Kaffee in der Hand. »Du bist aber früh auf«, sagte sie und legte den Arm um sei ne Taille. Sie fühlte, wie er sich steif machte. Dann schob er sie sacht beiseite und ging ins Schlafzimmer. »Ich muß weg«, sagte er kalt, als wollte er ihr zu verstehen geben, daß er die Zärtlichkeiten der Nacht bedauerte. »Kannst du mir vielleicht sagen, was los ist?« schrie sie und rannte ihm nach. »Ich hab genug von deinen plötzlichen Stim mungswechseln, deiner schlechten Laune, deinem ständigen Ausgehn…« Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als er sich umdrehte und sie heftig ins Gesicht schlug. »Das ist dafür, daß du so mit deinem Mann sprichst! Für wen hältst du dich? Ich glaube, deine Organisation frustrierter Frauen ist dir zu Kopf gestiegen. Denkst du vielleicht, du hast alle Rechte? Ich möchte dich an deine Pflichten als Ehefrau erin nern: Zuerst sollst du für das Glück deiner Familie sorgen! Wenn dein Mann zu Hause nicht glücklich ist, dann heißt das, du stellst ihn nicht mehr zufrieden!« Er ging ins Bad und schlug die Tür hinter sich zu. 133
Malimouna lag noch immer am Boden, die Hand auf ihrer brennenden Wange. Es war nicht so sehr der Schmerz, der sie getroffen hatte, als der Schock. Sie konnte nicht einmal wei nen. Niemals hätte sie geglaubt, daß Karim sich ihr gegenüber so verhalten könnte. Im Anfang ihrer Beziehung war er außer sich gewesen, wenn Malimouna von den Demütigungen sprach, die ihre Mutter durch den Ehemann hatte erdulden müssen. Es hatte ihn an die furchtbaren Erlebnisse seiner eige nen Kindheit erinnert. Auch seine Mutter, sagte er zornig, war von seinem Vater mißhandelt worden. Die ihr aufgezwungene Rivalin und zweite Ehefrau hatte über das Haus geherrscht, während seine Mutter alle Arbeiten verrichtete und dazu noch Prügel bezog. Niemand hatte sich um ihren Schmerz geküm mert und noch weniger um den der Kinder, die alle Ungerech tigkeit ohnmächtig mit ansehen mußten. Karim war trotz seiner Jugend so wütend auf den Vater gewesen, daß er ihm mit Blik ken seine Gefühle entgegengeschleudert hatte und vom Vater dafür geohrfeigt worden war. Im Anfang seiner Beziehung mit Malimouna hatte Karim bitter über diese Erlebnisse berichtet. Niemals, hatte er gesagt, würde er ein Kind schlagen, noch weniger eine Frau. Malimouna stand auf und setzte sich aufs Bett. Als er aus dem Bad kam, zog er sich wortlos an und ging fort. Malimouna mußte an die Ironie ihrer Lage denken: Neben dem Alphabeti sierungs-Projekt für Frauen plante die FHO, mit einer weitrei chenden Kampagne die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Es war dies ein so alltägliches, in seiner Bedeutung so bagatel lisiertes Vorkommnis, daß nur sehr wenige es als ein größeres Problem ansahen. Ziel der FHO-Mitglieder mußte sein, die öffentliche Meinung dafür zu sensibilisieren, daß die allgemei ne Verbreitung dieser Geißel sie in keiner Weise rechtfertigte. Malimounas Name war in den Zeitungen und ihr Bild im Fernsehen erschienen, wie sie alle Welt aufrüttelte, die Gewalt gegen Frauen müsse aufhören. Gewalt, die mit der Genitalver 134
stümmelung anfing und sich in der erzwungenen Verheiratung ganz junger Mädchen fortsetzte bis hin zur Unterdrückung der Frau in der Familie und den häuslichen Gewalttätigkeiten, die ihr oft drohten. Zum Thema »Gewalt« gehörte auch, so betonte Malimouna, daß der Frau das Recht auf Bildung verweigert wurde. Natürlich, schränkte sie ein, sollten Frauen nicht gebil deter sein als nötig, sollten sich nicht wie Europäerinnen auf führen und Rechte fordern, an die vorher niemand gedacht hat te. Doch in den ländlichen Regionen wurden fast nur die Jun gen zur Schule geschickt. Die Mädchen sollten vor allem ler nen, denen zu dienen, die einmal ihre Herren und Meister sein würden, sollten lernen, ein Haus zu führen und Kinder großzu ziehen. Malimouna betrachtete sich im Spiegel: Jetzt war auch sie eine »geschlagene Frau«! Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund, als könnten die furchtbaren Worte plötzlich und gegen ihren Willen hervordringen und aller Welt die schäbige Wahrheit verraten. Sie mußte sich mit Laura treffen, sich ihr anvertrauen. Mit Matou konnte sie darüber nicht sprechen, sie verehrte ihren Schwiegersohn und würde ihre Verzweiflung niemals verstehen. Eine Frau mußte erdulden und verzeihen, würde Matou sagen; es war ja das erste Mal und nichts weiter als eine Ohrfeige… Malimouna griff zum-Telefon. »Hallo, Laura?« »Malimouna, hallo, ich wollte dich auch gerade anrufen. Ich hab ein schwieriges Problem, über das ich mit dir reden muß. Ist dein Mann da?« »Nein, er ist weg, du kannst kommen. Ich muß auch mit dir reden. Bis gleich!« Als Laura kam, war Malimouna in der Küche bei den Kin dern, die gerade frühstückten. Sie ließ sie bei Matou und ging mit Laura ins Wohnzimmer. »Du siehst nicht besonders gut aus, Malimouna. Was ist mit deinem Auge passiert? Es ist ganz rot.« 135
»Ach, nichts, ich hab mich an einer Tür gestoßen.« Die Worte waren herausgekommen, einfach so, ohne nach zudenken und gegen ihren Willen. Selbst darüber erstaunt, sich so reden zu hören, hustete sie, um ihre Verlegenheit zu verber gen. »Du hast recht, mir geht's nicht besonders gut«, fügte sie gähnend hinzu. »Ich bin müde, hab schlecht geschlafen.« »Mach eine Siesta und versuch, den Schlaf nachzuholen, falls deine Strolche dich lassen.« »Das werden sie müssen. Über welches Problem wolltest du mit mir sprechen?« »Ich befinde mich in einer Klemme, Malimouna. Es handelt sich um eine Cousine, die ich liebe und an der ich wirklich hänge. Stell dir vor, gerade hab ich erfahren, daß ihr Ehemann eine feste Geliebte hat, mit ihr nach traditionellem Recht sogar verheiratet ist. Die Frau hat jetzt ein Kind von ihm zur Welt gebracht. Es ist widerwärtig.« »Mein Gott! Weiß deine Cousine Bescheid?« »Nein, das ist ja gerade das Problem! Sie ahnt überhaupt nichts. Alle wissen es, nur sie nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll!« »Das ist schwierig… Wenn du es ihr sagst, zerstörst du die Familie; andererseits wird sie es am Ende doch erfahren…« »Und auf mich böse sein, wenn sie erfährt, daß ich es wuß te.« »Das stimmt, Laura, ich an ihrer Stelle würde dir verdammt übelnehmen, wenn du es mir nicht gesagt hättest.« »Du meinst also, ich soll es ihr sagen? Es ist zu schwer!« »Ich weiß, daß es sehr schwer ist, doch letztendlich, glaube ich, ist es das Beste, was du tun kannst. Schließlich bist nicht du für den Bruch verantwortlich, wenn es dazu kommt. Die Fakten sind ja da, du kannst sie nicht rückgängig machen. Und früher oder später würde sie es doch erfahren, besser also, sie trifft ihre Entscheidungen sofort.« 136
»Ich denke, du hast recht…« Laura blickte Malimouna so eindringlich an, daß diese einen Moment die Augen senkte. Im Blick der Freundin hatte sie gelesen, daß jene wußte, warum ihr Auge rot und geschwollen war. Als Malimouna wieder aufschaute, stellte sie fest, daß Laura sie noch immer mit der gleichen Beharrlichkeit ansah. Mali mouna senkte den Kopf, und dieses Mal spürte Laura, daß die Freundin verstanden hatte. »Es geht um mich, stimmt's?« fragte sie, den Blick noch immer gesenkt. »Es tut mir so furchtbar leid…« »Wie hast du es erfahren?« »Ein Freund von mir kennt Karim gut; er war zu der tradi tionellen Hochzeit eingeladen. Es tut mir so leid, daß ich es dir sagen mußte!« »Du hast richtig gehandelt.« Malimouna war völlig zusammengebrochen. Jetzt begriff sie Karims Verhalten, seine Reizbarkeit, seine Gleichgültigkeit, das späte Ausgehen… Und jenes Hemd, den Geruch des Hem des!
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27 In Cafes, Restaurants und Kneipen sprach man nur noch von Malimouna. Von den einen verehrt, von den andern gehaßt, ließ sie doch niemanden gleichgültig. Sie bereitete ein großes Meeting vor, zu dem eine Delegation von mindestens zweihundert Frauen aus dem Stadtteil Sandou go kommen sollte. Thema der Veranstaltung: »Die Gefahren der Klitorisbeschneidung«. Es war ein überaus wichtiges Tref fen, denn es würde aus einer Reihe von Zeugenaussagen beste hen. Malimouna und die Frauen der FHO hatten Verwandte von Opfern davon überzeugen können, über ihren Fall zu be richten. Mehrere Mütter hatten ihr Kind infolge von Infektio nen verloren. Noch außergewöhnlicher war der Entschluß einer jungen Frau, öffentlich zu enthüllen, welche Folgen der Ein griff für sie nach sich zog: Sie hatte ihren Mann verlassen müs sen, weil der Geschlechtsverkehr mit ihm viel zu schmerzhaft für sie war, ihre Wunde war nicht gut vernarbt. Sie hatte auch den Gedanken, eines Tages Mutter zu sein, aufgeben müssen, und welchen Wert hatte eine afrikanische Frau, die keine Kin der bekam? Die Männer wollten sie nicht, dabei hatte man sie doch – welche Ironie des Schicksals! – gerade der Männer we gen verstümmelt, betonte die Frau scharf, und das Herz lief ihr über vor lange zurückgehaltenem Zorn. Neben dieser Frau war eine Mutter bereit zu erzählen, wie sie eine ihrer Töchter verlor: Sie war in ihre Heimat zurückge kehrt, nachdem sie mit ihrem Mann und den Kindern zehn Jah re in Europa gelebt hatte. Die erste Zeit nach der Rückkehr waren sie bei den Schwiegereltern untergebracht, und die ältere Schwester des Mannes hatte sofort darauf hingewiesen, es sei wichtig, daß die beiden Mädchen möglichst bald beschnitten würden. Die Eltern hatten sich bestürzt angesehen, dann die ganze Nacht darüber diskutiert. Für die Mutter kam es nicht in 138
Frage, ihre Kinder zu verstümmeln; sie waren nicht mit den Traditionen aufgewachsen und würden ein Trauma durchleben. Auch der Vater bestand nicht auf dem Eingriff, sagte aber, er müsse auf die Empfindlichkeit der älteren Schwester Rücksicht nehmen, er brauche Zeit, sie zu überzeugen. Das akzeptierte die Mutter und bat ihn, rasch zu handeln. Als sie wenige Tage später von einer Tauffeier nach Hause kam, fand sie ihre bei den Mädchen zusammengekrümmt in ihrem Zimmer, schluch zend und mit geschwollenen Augen. Die Mutter begriff sofort, was geschehen war, und schrie laut auf in ihrem Schmerz. Die Familie lief herbei, und man gab ihr zu verstehen, daß sie sich würdelos benahm. Sie durfte sich ihren Kindern nicht nähern. Auch der Vater wurde abends vor vollendete Tatsachen ge stellt. Eins der Mädchen zog sich eine gefährliche Infektion zu, und als sie endlich ins Krankenhaus gebracht wurde, war es zu spät. Es sei der Wille Gottes, sagte man der trauernden Mutter, sie solle sich Gott überlassen, er habe gegeben und wieder ge nommen. War sie nicht gläubig? Was konnte sie gegen den Willen des Allmächtigen tun? Sie hatte ihrem Mann seine Schlaffheit und Resignation nie verziehen. Sie wollte und wür de Zeugnis ablegen. Die Zeugenaussagen waren von entscheidender Bedeutung: Zum ersten Mal würden Frauen es wagen, in der Öffentlichkeit zu reden! Sie zu überzeugen, war nicht leicht gewesen. Die Frauen der FHO hatten zunächst diskrete Nachforschungen angestellt, um solche tragischen Fälle zu erfassen, deren große Zahl sie überraschte. Dann näherten sie sich behutsam, suchten zu sensibilisieren für die Problematik, die zuallererst die Frauen als die unmittelbaren Opfer erkennen mußten. Oft stießen die Frauen der FHO bei den Betroffenen auf Empörung, rühr ten sie doch an deren schmerzliche Vergangenheit, vermittelten ihnen das Gefühl, daß ihre verstorbenen Mädchen dabei die großen Verliererinnen waren. Als Mütter, die den traditionellen Brauch hatten geschehen lassen und manchmal sogar unter 139
stützt, waren sie, wenn auch unwissentlich, schuldig geworden, trugen ihren Teil der Verantwortung. Heute, argumentierten die Frauen der FHO, konnten Frauen nicht mehr leugnen, daß die Praxis der Klitorisbeschneidung sinnlos – ein Ritual ohne reli giöse Rechtfertigung – und zudem und vor allem schädlich war. Im Grunde ging es darum, sagten sie, der Frau das zu nehmen, was dem Penis ähnlich war, dem männlichsten Attri but. Doch waren nicht die Brüste in gleichem Maß höchstes Symbol der Weiblichkeit? Warum hatte man niemals daran gedacht, den Männern die Brustwarzen zu entfernen? Über dieses Argument mußten die Frauen häufig laut lachen, das entspannte die Atmosphäre und löste die Zungen. Während des Meetings würde auch – ein besonders wichti ger Beitrag – ein angesehener Geistlicher auftreten. Er hatte sich freiwillig bereit erklärt, nachzuweisen, daß solche Prakti ken keineswegs gottgewollt waren, sondern einzig und allein dem Willen des Menschen entsprungen. Malimouna betrachte te den Schritt, den dieser Mann des Glaubens zu tun gewillt war, als einen großen Sieg, der den Weg ebnen würde zur Ab schaffung des Rituals. Sie war damit beschäftigt, ihren eigenen Beitrag zu dem Meeting vorzubereiten, wobei sie starke Argumente vorbringen und sich auf unzweifelhafte Fakten stützen mußte. Sie rief sich ihre Ohnmacht gegenüber Fantas leidvoller Erfahrung ins Ge dächtnis zurück. Malimouna wollte selbst Zeugnis ablegen, von ihren eigenen Erfahrungen sprechen. Sie würde öffentlich bekennen, daß sie nicht beschnitten war und deshalb doch kei ne verkommene Person. Sie würde von ihrer erzwungenen Hei rat sprechen, die selbst Karim eine Vergewaltigung genannt hatte. Sie würde über Noura sprechen, die kleine Tochter ihrer Freundin Fanta, die jetzt im Gefängnis saß in Frankreich. Sie würde… Sie hörte die Tür schlagen und sprang auf. Karim stand vor ihr und warf ihr wütende Blicke zu. »Hast du nicht bald genug davon, dich in den Vordergrund 140
zu drängen?« schrie er gestikulierend. »Malimouna hier, die FHO da, mir steht das bis zum Hals! Ich will, daß du von heute ab mit all den Mätzchen aufhörst und wieder auf den Boden kommst. Glaubst du vielleicht, du kannst die Welt verändern?« »Alles hat einen Anfang.« »Ich bin es jedenfalls leid, ›Monsieur Malimouna‹ genannt zu werden! Ich bin der Mann, und ich will, daß du dich etwas unauffälliger benimmst. Du erweckst den Eindruck, daß ich nach deiner Pfeife tanzen muß. Verhalte dich weniger heraus fordernd, ein bißchen weiblicher.« »Hier geht es nicht um uns beide. Es geht darum, den Frauen aus ihrer alltäglichen Unterdrückung herauszuhelfen… Eigent lich weißt du das ja! Entschuldige mich jetzt, wir können später reden, wenn du möchtest. Ich hab in zwei Tagen das Meeting und bin mit meinen Vorbereitungen noch nicht ganz fertig. Ich werde Zeugnis ablegen, dazu muß ich ruhig sein und gelas sen.« »Zeugnis ablegen? Wovon willst du Zeugnis ablegen und warum?« »Über meine Lebensgeschichte, die Vergewaltigung, deren Opfer ich wurde, die erzwungene Heirat, über die Tatsache, daß ich nicht beschnitten bin und dennoch verheiratet und Kin der bekommen habe…« »Bist du verrückt? Das verbiete ich dir! Es gehört sich nicht für eine Frau, sich vor aller Welt zu entblößen. Denkst du auch an mich und an die Kinder? Ich will nicht, daß meine Eltern das alles erfahren! Wie soll ich ihnen erklären, daß ich eine nicht beschnittene Frau geheiratet habe?« Malimouna fühlte das Blut in ihren Adern kochen. Doch sie durfte sich nicht aufregen, das würde die Sache nur verschlim mern. »Willst du mich zum Gespött der Leute machen?« tobte Ka rim, völlig außer sich. Der Satz führte sie viele Jahre zurück zu dem Augenblick, 141
als sie ihrer Mutter mitgeteilt hatte, sie werde sich dem Ritual nicht unterziehen, das sie zur Frau machen sollte. Doch waren die Umstände heute ganz anders. Karim hatte nicht das Recht, so mit ihr zu sprechen; er, der Informatiker, mit den neuesten Technologien vertraut und bereit, sich den Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu stellen! »Du redest Unsinn«, brachte sie fast gegen ihren Willen her aus. Drohend trat Karim auf sie zu. Malimouna stand auf und trat ihm mit festem Blick entgegen. Er ließ die Faust, die er schon erhoben hatte, sinken. »Du wirst es bereuen, wenn du das tust, das kannst du mir glauben.« »Um was sollte es mir denn leid tun? Um meine Ehe? Ich werde sowieso die Scheidung einreichen wegen Bigamie! Wo vor sollte ich mich also fürchten?« Im selben Atemzug bedauerte Malimouna, daß ihr die Worte herausgerutscht waren. Sie ahnte, daß Karim, der sich so ge fühlskalt über sie, über ihr Familienleben lustig gemacht hatte, ihr die Scheidungsklage unter die Nase reiben würde. Doch Zorn und Verbitterung hatten Überhand genommen. »Wer hat dir das erzählt?« fragte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich wollte es dir sowieso ankündigen. Allerdings hab ich nicht die Absicht, mich scheiden zu lassen; ich nehme eine zweite Frau, dazu hab ich das Recht! Wie du weißt, komme ich aus einem polygamen Milieu und du ja übrigens auch. Wenn du mich vor Gericht bringen willst, müßte ich zweimal zum Bürgermeister gehn, und das hab ich nicht vor. Ich begnüge mich mit einer traditionellen Heirat.« »Ich erhebe dennoch Klage gegen dich wegen Ehebruch. « »Das sind Ideen der Weißen! Komm auf den Boden zurück, wir sind hier in Afrika.« Malimouna schwieg. Sie sah keinen Sinn darin, das Ge spräch länger fortzusetzen. Sie betrachtete Karim und erkannte 142
ihn nicht wieder. Wo war der Mann, den sie so sehr geliebt hatte, für den sie ihr Leben geopfert hätte? Wo war der, wel cher die mißbräuchliche Macht der Männer über die Frauen nicht begreifen konnte, der seinen Vater verabscheut hatte, weil er die Mutter schlecht behandelte? Wo war der Mann, der sie verstanden und so geliebt hatte, daß er ihr trotz der schwierigen Umstände die Mutter zurückbrachte? Er hatte sich, als er da mals nach Boritouni fuhr, als einen Neffen ausgegeben, und Matou und er waren, um keinen Verdacht zu erregen, in der Nacht geflohen. Malimouna würde das nie vergessen, doch wo war der Mann, der das für sie getan hatte, heute? Wo war der Mann, der behauptete, sie mehr zu lieben als sein Leben? Konnte das Gesicht einer anderen Frau alles das, was sie ver band, einfach ausgelöscht haben? Und wo war das starke Ge fühl in ihr geblieben, das sie so oft, wenn er sie küßte, unbe schreiblich erregt hatte? Was war aus ihrer Liebe geworden, aus ihrer Freundschaft? Anscheinend sprach Karim weiter, sie sah, daß er die Lippen bewegte, doch sie hörte ihn nicht mehr. Sie erhob sich und ging aus dem Zimmer. Sie hatte plötzlich ein Bedürfnis nach Luft, fühlte Hitzewellen und Übelkeit. Sie erreichte gerade noch die Terrasse, wo sie sich über das Geländer beugte und alles er brach, was sie im Magen hatte. Völlig erschöpft tastete sie sich an den Wänden entlang ins Schlafzimmer zurück. »Du wirst doch wohl keine Krankheit draus machen?« Unter dem Blick, den sie ihm zuwarf, verstummte er und ging hinaus. Sie hörte ihn im Auto wegfahren. Es war spät, die Kinder hatten geduscht und stritten sich in ihrem Zimmer. Sie mußten essen und zu Bett gebracht werden, doch sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie rief nach ihrer Mutter; diese blickte die Tochter beunruhigt an. »Hast du dich mit deinem Mann gestritten?« »Mir geht's gar nicht gut. Kannst du dich um die Kinder kümmern? Sie müssen früh ins Bett, morgen ist Schule.« 143
An diesem Abend kam Karim gar nicht nach Hause. Mali mouna erbrach die ganze Nacht. Als er am frühen Morgen er schien, fand er sie in Schweiß gebadet und über das Wasch becken gebeugt, wo sie sich mit beiden Händen den Magen hielt. Er trat zu ihr, stützte sie und wusch ihr das Gesicht mit kaltem Wasser, Die Krämpfe hatten jetzt aufgehört, sie lehnte sich an seine Schulter. Da traf sie der Geruch seines Bubus. Dieses Parfüm hätte sie unter tausend anderen wiedererkannt. Es war der Geruch des Hemdes. Zitternd und keuchend riß sie sich von ihm los und legte sich im Schlafzimmer aufs Bett. Karim folgte ihr mit einem feuchten Handtuch. Er beugte sich über sie und wischte ihr den Schweiß von Gesicht und Hals. Das tat gut, doch bei jeder Bewegung seines Arms stieg ihr wieder das Parfüm in die Nase; sie sprang auf und stürzte zum Waschbecken, die Krämpfe begannen erneut. Karim betrachte te sie von der Badezimmertür aus, begriff langsam, daß sie seine Nähe nicht ertrug. Er zog sich aus und ging unter die Du sche. Als er herauskam, war Malimouna wieder im Bett, und er legte sich neben sie. Sie wandte ihm den Rücken zu; er drehte sie vorsichtig um und zog ihren Kopf auf seine Brust. Er hielt sie in den Armen, wie er es lange nicht mehr getan hatte. »Hast du daran gedacht, einen Schwangerschaftstest zu ma chen?« fragte er ruhig. Malimouna erstarrte, ihr Herz begann heftig zu schlagen. Wieso hatte sie nicht daran gedacht? Doch wieso hätte sie dar an denken sollen? Ihr Eheleben war gleich Null, sie sprachen nicht einmal mehr miteinander, berührten sich schon so lange nicht mehr. Gewiß, es hatte die berühmte Nacht gegeben, jene Nacht, in der sie geglaubt hatte, er sei zu ihr zurückgekehrt… Seitdem hatte er sie nicht mehr angefaßt, und das war minde stens zwei Monate her. Zwei Monate! Sie sprang auf die Füße, machte Licht und zog nervös ihren Taschenkalender aus der Handtasche, in den sie stets die Daten der Menstruation ein trug. Fieberhaft blätterte sie die Seiten um, im letzten Monat 144
war nichts vermerkt. Sie hatte den Kopf allzu voll gehabt: das Verhalten ihres Mannes, das, was sie über ihn erfahren hatte… Wahrscheinlich hatte sie vergessen, das Datum einzutragen. Sie sah zu Karim auf, der ihr Tun verfolgt hatte. Er lächelte amüsiert, fast triumphierend, dachte sie verstört. Sie brach in Schluchzen aus, sie durfte nicht schwanger sein, nicht jetzt, nicht von ihm, niemals mehr! Er schlang die Arme um sie, wiegte sie. Er begriff nicht, daß es aus war, aus und vorbei!
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28 Das Meeting hatte verschoben werden müssen, Malimouna sei krank, hatte man mitgeteilt. Karim war ein paar Tage dienstlich unterwegs; das nutzte Malimouna, um auszuziehen. Sie ertrug das Leben an seiner Seite nicht mehr, und er wußte es. Laura hatte der Freundin beim Packen geholfen. Sie hatten einen Umzugswagen gemietet, und eine Fahrt hatte ausge reicht. Sie nahm nur ihre eigenen Sachen mit. Toula hatte ge weint, obwohl sie ihm erklärte, sie würde sich weder von ihm noch von seiner Schwester je trennen. Die Sachen der Kinder ließ sie zurück, sie wollte nicht den Anschein erwecken, sie zu kidnappen. Doch sie machte sich keine Sorgen, er würde Toula und Millia nicht zurückhalten. Sie hatte ein Häuschen am än dern Ende der Stadt gemietet. Mit dreieinhalb Monaten verlief ihre Schwangerschaft jetzt problemlos, kein Erbrechen mehr und keine Übelkeit. Sie fühlte sich neu erblüht und schön. Ka rim zu verlassen, war nicht so schwer gewesen, wie sie be fürchtet hatte. Sie spürte, wie sie wieder anfing zu leben, und überraschte sich dabei, an Philippe zu denken. Was war aus ihm geworden? Sicher war er jetzt auch verheiratet und Famili envater. Wenn sie es bedachte, was hatte sie ihm eigentlich vorzuwerfen? Nichts! Sie hatte ihre Verschiedenheit nicht ak zeptieren wollen und damit die Beziehung zerstört. Sie war vor der Schwierigkeit davongelaufen. Laura verbrachte mit ihrem Sohn das Wochenende bei Ma limouna. Sie war glücklich, ganz frei zu sein, sagte sie gern und oft, auch wenn die Einsamkeit sie manchmal bedrückte. Laura war um die dreißig, groß und hübsch und lebte nach ei ner schwierigen Beziehung mit einem etwa zehn Jahre älteren Mann nun allein mit ihrem Kind. Sie hatte ihn für ledig gehal ten, und als sie erfuhr, daß er verheiratet war, glaubte sie, der Himmel müsse über ihr einstürzen. Sie hatte ihrer Familie ei 146
nen verheirateten Mann vorgestellt, sich mit ihm verlobt, und sie trug sein Kind! Er lebte mit in ihrer Wohnung, bis sie heira ten würden, warum hätte sie an ihm zweifeln sollen? Wie konnte ein verheirateter Mann so viele Freiheiten haben? Als sie erfuhr, daß er gebunden war, lief nichts mehr zwischen ih nen. Sie fing an, ihn zu hassen, warf sich vor, nicht sein ganzes Leben ausgeforscht zu haben. Sie war unbeschreiblich leicht sinnig gewesen. Jetzt wünschte sie, er solle nach Frankreich zurückkehren, wo seine Familie lebte. Er dagegen hatte be schlossen, sich hier niederzulassen, und betrachtete sie als sei nen Besitz, da sie sein Kind trug. Er nannte sich Geschäfts mann, doch hatte sie nie genau erfahren, was er machte. Dafür, daß er angeblich arbeitete, saß er merkwürdig oft und unter den absurdesten Vorwänden bei ihr herum, fand Laura. Schließlich kam sie ihm auf die Schliche: Er tat gar nichts und ließ sich einfach nur von ihr aushalten, deshalb hatte er den schüchter nen Liebhaber gespielt, der sie heiraten wollte. Wie naiv sie gewesen war! Naiv wie ein Schulmädchen. Eine Abtreibung kam für Laura nicht in Frage, sie wollte ihr Kind behalten, fühlte sich bereit, die Verantwortung zu über nehmen und es zu lieben. Eines Nachts gelang es ihr nach ei nem heftigen Streit, ihn vor die Tür zu setzen. Schließlich kehr te er nach Frankreich zurück, und Laura erlebte seine Abreise als eine große Erleichterung. Er hatte sich in ihrem Haus wie der Herr aufgeführt, hatte die Telefongespräche angenommen, um allen zu zeigen, er war da, hier war sein Platz; er hatte sich eifersüchtig und besitzergreifend gezeigt. Heute meinte Laura, gegen Männer »geimpft« zu sein, worüber Malimouna immer sehr lachen mußte. Sie dürfe nicht verallgemeinern, sagte sie der Freundin, sie werde das alles bald vergessen und sich neu verlieben, diesmal in einen aufrichtigen Mann. Dann mußte Malimouna an ihre eigene Situation denken und zuckte nur traurig die Schultern. Laura zog ihr Kind lieber allein groß als zusammen mit einem Mann, mit dem sie sich nicht verstand. 147
Sie lehnte den Einwand ab, ein Kind könne ohne Vater nicht richtig erzogen werden. Was sie rundherum beobachtete, war doch, daß fast überall die Frau die Kinder erzog und der Mann häufig abwesend war. Laura war glücklich mit ihrem Sohn. Natürlich gab es Au genblicke, in denen sie sich einsam fühlte; zudem war die al leinlebende Frau in der Gesellschaft derart negativ angesehen, daß man den Eindruck haben konnte, mit einem schlechten Ehemann zu leben sei besser als ohne. Eine alleinstehende Frau konnte gar nichts anderes als schlecht sein. Solche Ansichten versetzten Laura in Empörung. Sie wünschte sich einen Partner wirklich nur dann, wenn sie sich mit ihm wohlfühlte. Daher hatte sie Malimounas Entschluß, Karim zu verlassen, gut nach vollziehen können. Sie kannte als einziger Mensch das ganze Leben der Freundin seit ihrer Flucht aus Boritouni, auch den Aufenthalt in Frankreich und ihre Beziehung mit Philippe. Sie hatte ihren raschen Aufstieg bei der FHO aus der Nähe miter lebt und war ungemein stolz darauf, ihre Freundin und Vertrau te zu sein. Toula und Millia freuten sich, daß sie Gesellschaft hatten und an dem Abend länger aufbleiben durften. Matou verstand die Entscheidung ihrer Tochter nicht und hatte sich schmollend in ihr Zimmer zurückgezogen. Plötzlich wurde gegen die Haustür gehämmert. Alle erstarr ten, als sie Karims Stimme erkannten. Malimouna erhob sich, um zu öffnen. Sie würde sich der Situation stellen; sie versteckte sich nicht und hatte ihm deshalb auch ihre Adresse hinterlassen. »Was ist das für ein Spiel?« brüllte er außer sich, als sie die Tür öffnete. »Du wirst so freundlich sein und sofort wieder nach Hause kommen!« Malimouna gab ihm keine Antwort. Matou war aus ihrem Zimmer getreten und beobachtete stumm die Szene. Als Karim Laura sah, wurde er noch wütender. 148
»Natürlich, mit so einer Freundin, einer ledigen Mutter, kannst du ja nur auf dumme Gedanken kommen!« Laura stand auf, nahm ihren Sohn beim Arm und ging zur Tür. »Wir sehen uns morgen, Malimouna«, sagte sie und eilte rasch hinaus. Matou nahm Millia und Toula, die weinten, und zog sich mit ihnen zurück. »Ich komme nicht mehr nach Hause«, sagte Malimouna mit fester Stimme. »Du hast beschlossen, dein Leben neu zu be ginnen, daran will ich dich nicht hindern, doch ich weigere mich, ein Leben zu führen, das ich nicht gewählt habe.« »Ich habe nicht beschlossen, mein Leben neu zu beginnen, Malimouna, ich setze es nur fort, nichts weiter. Hör auf, die Weißen nachzuahmen, wir haben unsre eigene Realität! Du bist meine Frau und kommst zurück in mein Haus, das ist alles!« »Ich komme nicht zurück, es ist aus! Du kannst tun, was du willst, ich komme nicht zurück!« »Du trägst mein Kind, Malimouna, du kannst nicht einfach verschwinden.« »Das Kind ist auch meins, und im Augenblick trage ich es noch in mir.« »Hör jetzt auf mit dem Quatsch, mir reicht's langsam…« Er trat näher zu ihr, jedoch nicht mehr drohend. Er umarmte sie, und sein Atem ging schneller. »Faß mich nicht an!« schrie sie. Dann fiel ihr ein, daß sie nicht allein im Haus waren, schweigend setzte sie sich aufs Sofa. Er folgte ihr und umarmte sie von neuem. »Du bist in der Schwangerschaft noch hübscher als sonst«, murmelte er und küßte sie auf den Hals. Malimouna wehrte sich mit aller Kraft. Wie lächerlich war das alles, mußte sie denken. Wie konnte er sich nur so beneh men, als ob nichts wäre? Als hätten sie sich bloß um eine Klei nigkeit gestritten. Dabei hatte er eine andere Frau genommen, 149
hatte ein Kind mit ihr und besaß noch die Frechheit, zu sagen, er finge sein Leben nicht neu an. Ja, auch sie stammte aus po lygamem Milieu; und doch, wenn sie es bedachte, konnte sie nicht verstehen, wie ihre Mütter das akzeptiert hatten. Wie sie es hatten geschehen lassen. Benahm sie sich wie eine Weiße? Gut, dann war es eben so! »Wo ist dein Zimmer?« murmelte er und drückte sie noch fester. »Bist du verrückt oder was?« »Ja, verrückt nach dir und außerdem dein Ehemann.« »Laß mich los! Du wirst mich ja wohl nicht vergewaltigen!« »Vergewaltigen? Wie kann ein Ehemann seine Frau verge waltigen? Du bist nicht mehr vierzehn, Malimou!« »Laß mich los!« »Wenn du nicht Angst hast, daß die Kinder uns hier überra schen…« Er küßte sie noch immer und versuchte jetzt, ihr Wickeltuch zu lösen. »Laß, ich zeig dir das Zimmer.« Er ließ sie los, und sie rannte ins Schlafzimmer und versuch te, die Tür vor ihm zuzuschlagen. Doch er war ebenso schnell gewesen wie sie, trat hinter ihr ein und schloß die Tür. Ruhig zog er sich aus. Sie hatte ihn gewähren lassen. Wozu kämpfen? Er hätte nicht nachgegeben. Doch so oft er auch ihre Arme um seinen Hals legen mochte, sie hatte sie jedesmal schwer herabfallen lassen auf die Matratze, als wäre sie tot. Gleichwohl hatte das seine Heftigkeit nicht gedämpft. Als er fertig war, fiel er sofort in tiefen Schlaf. Sie befreite sich, nahm eine Dusche, zog sich an und lief hinaus. Es mußte gegen zwei Uhr morgens sein, als sie vor Lauras Haus ankam, doch im Zimmer brannte noch Licht. Malimouna durchquerte den Garten und klopfte ans Fenster. Lauras er stauntes Gesicht erschien. Als sie Malimouna erkannte, sprang 150
sie auf und öffnete der Freundin die Tür. »Ich bin fast gestorben vor Unruhe«, rief Laura und umarmte Malimouna, die schluchzte wie ein Kind. »Was ist passiert? Er hat dich doch nicht etwa geschlagen?« Laura betrachtete ängstlich den Körper der Freundin. »Nein«, brachte Malimouna schluchzend heraus. »Was ist dann passiert? Erzähl doch!« »Er hat mich mit Gewalt genommen. Und ich, ich hab ihn gelassen, mußte ihn lassen…« Laura brach in unbändiges Lachen aus. »Was hat er gemacht?!« rief sie und hielt sich den Bauch. Ihr Lachen steckte an, durch ihre Tränen hindurch mußte Mali mouna mitlachen. »Nun, nach allem andern ist das nicht mehr schlimm«, mein te Laura, als sich ihr Lachen etwas beruhigt hatte. »Du weißt ja, in der Ehe gibt es bei uns keine Vergewaltigung. Und au ßerdem kannst du nicht noch schwangerer werden, als du es ohnehin schon bist!« Sie brachen erneut in Lachen aus. »Trotzdem, was für ein Schuft!« wiederholte Malimouna un ablässig und war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre Wut herauszuweinen, und dem, sich ganz dem Lachen hinzugeben, das ihren Schmerz milderte.
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29 Karim hatte die Kinder behalten und mit ihnen Matou. Ma limouna würde nicht lange durchhalten, meinte er. Malimouna ihrerseits wußte die Kinder bei ihrer Mutter in guten Händen. Die neue Ehefrau von Karim hatte ihr eigenes Haus, eine prunkvolle Villa, und nicht die Absicht umzuziehen. Malimou na konnte sicher sein, daß ihren Kindern im Augenblick keine Mißhandlung durch jene Frau drohte. Um sie nicht in Unruhe zu versetzen, telefonierte sie nicht mit ihnen, doch sie würde sie sehr bald sehen. Zuerst mußte Karim die Trennung akzep tieren. Am Nachmittag würde endlich das so lange erwartete Mee ting stattfinden. In allen Medien war davon die Rede. Alle war teten gespannt darauf, Freunde wie Feinde. Es war dreizehn Uhr, Malimouna ging ihre Rede ein letztes Mal durch. Vor Aufregung hatte sie heute mittag nichts essen können. Obwohl an das Sprechen vor vielen Menschen ge wöhnt, wurde sie doch jedesmal von Angst gepackt, die glück licherweise verschwand, sobald sie die ersten Sätze sagte. Sie hörte, daß ein Auto vor dem Haus anhielt, und sah vom Fenster aus Karim aussteigen. Seit dem gewalttätigen Auftritt in jener Nacht war er nicht mehr dagewesen. Was konnte er wollen? Als er schellte, legte sie die Sicherheitskette vor und sprach durch die halbgeöffnete Tür mit ihm. »Tag Karim, tut mir leid, aber ich kann dich jetzt nicht rein lassen. Ich muß gleich weg, ich hab heute mein Meeting.« »Ich weiß. Ich bin nur kurz hier, um dir zwei Fragen zu stel len. Ich will gar nicht reinkommen.« Nur mühsam hielt er einen Zorn zurück, der beim Sprechen seine Nasenflügel beben ließ. Er blickte ihr nicht in die Augen. »Ich hab jetzt wirklich keine Zeit, Karim.« »Es ist das letzte Mal, daß du mich hier siehst, also hör mir 152
zu«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Zuerst möchte ich wissen, ein für allemal, ob du die Absicht hast, zu mir zurückzukommen.« »Nein, Karim.« »Gut. Dann möchte ich wissen, ob du noch immer vorhast, all die Geschichten über dein vergangenes Leben auszupak ken.« »Über mein vergangenes Leben und über mein gegenwärti ges.« »Gut, das ist alles, was ich wissen wollte. Danke. Du kehrst nicht zu mir zurück, sondern nach Boritouni. Im übrigen hättest du da niemals weggehen sollen.« Er warf ihr einen eisigen Blick zu, machte kehrt, stieg in sei nen Wagen und brauste davon, daß die Reifen auf dem Asphalt quietschten. Malimouna wußte nicht, was sie von dem Besuch halten sollte. Wozu die Fragen? Rückkehr nach Boritouni, was hatte er damit sagen wollen? Ein Schauer durchlief ihren Körper. Das Telefon läutete. Es war Laura. »Ich komme in einer Stunde und hole dich ab, bist du fer tig?« »Ja…« »Ist irgendwas?« »Ich weiß nicht…« »Was hast du denn?« »Ich erklär es dir, wenn du da bist.« »Ich komme sofort.« Laura war in weniger als zehn Minuten da; die Bestürzung in der Stimme der Freundin hatte sie aufge schreckt. »Was ist los, Malimouna?« fragte sie, kaum angekommen. »Karim ist dagewesen. Er hat mir Angst gemacht…« »Womit?« Malimouna schilderte die kurze Unterredung mit Karim und die große Wut, die von ihm ausging, während er sprach. Laura 153
beobachtete die Freundin und sah, wie verstört sie war. »Ich hab mir immer gedacht, du hättest ihm nicht alles über dein Leben anvertrauen sollen«, meinte Laura. »Aber er hat mir doch die Mutter zurückgebracht, vergiß das nicht.« »Das stimmt wohl, doch ich weiß aus Erfahrung, daß ein ab gewiesener Mann gefährlich werden kann. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber stell dir vor, er bringt dich gewaltsam nach Bo ritouni!« »Und wozu? Warum sollte er das tun?« »Um dir Ärger zu bereiten. Wie du weißt, haben die Leute dort geschworen, daß sie dich finden werden.« »Aber vor dem Gesetz bin ich noch immer seine Ehefrau!« »Eine Ehefrau, die nichts mehr von ihm wissen will!« »Ach Laura, so weit würde er doch nicht gehen! Ich kann nicht glauben, daß er so gemein ist.« Doch während sie das sagte, fiel ihr der letzte Blick ein, den Karim ihr zugeworfen hatte. Von neuem durchlief sie ein Schauer. »Wir müssen von jetzt ab sehr vorsichtig sein, Malimouna. Ich hab einen Freund, der ist Polizeikommissar, ich werde ein Wort mit ihm reden. Man weiß ja nie… In der Zwischenzeit wollen wir uns beruhigen und uns auf das Meeting vorbereiten. Dafür mußt du heiter und gelassen sein!«
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30 Das Meeting hatte Malimounas Erwartung und die ihrer Freundinnen weit übertroffen. Als Malimouna die schmerzli chen Ereignisse ihres Lebens berichtete, hatte Totenstille ge herrscht. Manche Frauen hatten geweint, sich dabei zweifellos an ihre eigene Geschichte erinnert mit den für sie ganz anderen Folgen. Einige unter den Gegnern schienen, obwohl sie auf ihrem Standpunkt verharrten, doch ein wenig verunsichert, fast ins Wanken geraten durch die Kraft ihrer Rede. Als das Ende des Meetings angekündigt würde, skandierten die Frauen Ma limounas Namen. Sie hatte eine Schlacht gewonnen, noch nicht den Krieg, das war ihr bewußt! Sie stieg die Stufen vom Podium herab. Das Gedränge war unbeschreiblich, jeder wollte sie berühren, ihr die Hand drük ken, sie umarmen. Alle diese Menschen hatten Dinge vernom men, die noch nie am hellichten Tag ausgesprochen worden waren. Mit einem Mal waren die Frauen von ihrer selbstzerstö rerischen Scham befreit. Sie schämten sich nicht mehr ihres Körpers, konnten frei über ihn sprechen, ihn verteidigen. Gott hatte sie mit einer Klitoris erschaffen; wieso und in wessen Namen durfte ein gewöhnliches menschliches Wesen behaup ten, das Werk des Allmächtigen sei unvollkommen? Wie konn te man an Gott glauben und gleichzeitig diese absurde Behaup tung aufstellen? Gewiß, es gab Irrtümer in der Natur, manche Wesen wurden mit Gebrechen oder Mißbildungen geboren, doch das war etwas völlig anderes als zu behaupten, die Hälfte der Menschheit – das heißt alle Frauen auf der Welt – hätten die gleiche Mißbildung! Plötzlich wurde den Frauen das Aus maß dieser Übertreibung bewußt. Genausogut könnte man auf den Gedanken kommen, kleinen Jungen die offenbar überflüs sigen Ohrmuscheln zu entfernen, besonders unnütz bei Män nern, die im allgemeinen keine Ohrringe trugen. So kämen sie 155
gar nicht in Versuchung, Schmuck zu tragen, wie es manchmal geschah; sie würden wirkliche Männer! War eine solche Verir rung denn nicht denkbar, wenn man es auf der anderen Seite wagte, jene so intime Stelle des weiblichen Körpers anzutasten, und willkürlich entschied, daß sie diese und nicht jene Gestalt haben müsse? Ihre Erziehung und Kultur hatten die Frauen gelehrt, daß sie schwache Wesen waren und leicht zu verderben, daß sie sich also beherrschen und zügeln mußten; zu dem Zweck mußte ihnen das unvergleichlich erogene Organ entfernt werden, sonst würde es sie in Unzucht und Ausschweifung treiben. Aber das stimmte ja nicht! Vor ihnen stand eine Frau, die sie achteten und nahezu verehrten wegen ihres Muts und ihrer Überzeugungskraft, und diese Frau hatte soeben allen enthüllt, daß sie sich dem Eingriff nicht unterzogen hatte. Und doch war sie eine anständige Frau und vorbildliche Mutter. Warum um alles in der Welt hatte man Angst vor der weibli chen Sexualität? Warum durfte eine Frau nicht genausoviel Lust empfinden wie ein Mann? Es hieß, die Frau sei schwach, doch was waren dann die Männer, vor denen in manchen Kul turen alle Teile des weiblichen Körpers einschließlich der Haa re versteckt werden mußten aus Angst, sie könnten bei ihnen nicht beherrschbare Reaktionen auslösen? Wer war hier unkon trolliert und zügellos, der Mann oder die Frau? Zudem bestand eins der Argumente für die Polygamie darin, daß es zu schwie rig sei, von dem Mann nach der Geburt eines Kindes eine Zeit sexueller Enthaltsamkeit zu verlangen, während der die Frau sich erholen könnte. Wer – wiederum – hatte denn die unbe herrschbaren Triebe? Begeistert entdeckten die Frauen das Gefühl der Solidarität und der Hoffnung. Ihnen war ein Unrecht bewußt geworden, das sie nie als solches erkannt hatten, manipuliert wie sie wa ren und resigniert gegenüber einem Schicksal, dem sie doch nicht entrinnen konnten. Sie hatten ihr bisheriges Leben als die 156
Norm angesehen; nun merkten sie, daß es bei ihnen lag, diese Norm zu überdenken und zu verändern, damit die ihrem Kör per und ihrem Geist aufgezwungene Bevormundung nach und nach verschwinden würde. Malimouna war eine großartige Frau, sie hatte ihnen neue Lebensfreude geschenkt! Sie waren die Unterdrückten gewesen, nun lag es bei ihnen, zuallererst bei ihnen, zu kämpfen und dabei nicht zu vergessen, daß sie durch ihre Unwissenheit selbst zur Unterdrückung der Frau beigetragen hatten. Von jetzt ab hätten sie keine Ent schuldigung mehr. Keine Entschuldigung, wenn sie ihre Töch ter anders erzogen als die Söhne, wenn sie letztere glauben machten, sie seien ihren Schwestern überlegen. Keine Ent schuldigung mehr, wenn sie den Mädchen von frühester Kind heit an Gefühle der Minderwertigkeit einprägten und damit dem Mißbrauch männlicher Macht den Weg ebneten. Gerade das Gefühl ihrer Minderwertigkeit war ja für die Mädchen der Grund, keinen anderen Ehrgeiz zu entwickeln als den, einen Ehemann zu finden. Mütter hätten keine Entschuldigung mehr, wenn sie nur ihre Söhne zur Schule schickten, während die Töchter zu Hause blieben, um die Hausarbeit zu verrichten. Alle hatten Malimounas Botschaft verstanden und würden nicht mehr länger als passive Komplizinnen an ihrer eigenen Zerstörung mitwirken. Wachsamkeit war angesagt. Sie alle würden wachsam sein! Malimouna war noch aus einem anderen Grund glücklich: Die Frauen hatten dicht gedrängt angestanden, um eine Petition zu unterschreiben, mit der sie die junge Fami Kana unterstüt zen wollte. Malimouna hatte das große Meeting als eine ideale Gelegenheit angesehen, um über den empörenden Fall zu spre chen, der sie schmerzlich an die eigene Geschichte erinnerte. Fami Kana, ein fünfzehnjähriges Mädchen, war zur Ehe mit einem alten Mann gezwungen worden. Sie hatte dann die Übergriffe des Ehemanns ertragen müssen und war dazu noch geschlagen worden. Schließlich war sie geflohen und zu ihren 157
Eltern zurückgekehrt. Diese betrachteten die Flucht als eine Demütigung, bestraften die Tochter mit einer harten Tracht Prügel und schickten sie unter Bewachung zu ihrem Ehemann zurück. Fami, die so nicht weiterleben konnte und nirgendwo Hilfe fand, schnitt eines Nachts in einem Anfall von Wahnsinn dem Mann die Kehle durch. Ein grauenhaftes Verbrechen in einer nicht minder grauenhaften Situation! Dem jungen Mäd chen drohte eine lange Gefängnisstrafe; die Frauen mußten die Öffentlichkeit auf ihren Fall aufmerksam machen, um der Ver urteilung Schach zu bieten. Es war ungeheuer wichtig, aller Welt klarzumachen, daß die erzwungene Verheiratung Minder jähriger ungeahnte Folgen haben konnte. Daß man nicht von der Tat der Fami Kana ausgehen durfte, sondern die Umstände, die sie dahin geführt hatten, berücksichtigen mußte. Dieses Kind brauchte Hilfe und Unterstützung! Die Frauen der FHO hatten nicht genügend Papier für die vielen Unterschriften; doch alle, die nicht mehr unterschreiben konnten, hatten ver sprochen, am nächsten Tag im Büro zu erscheinen. Malimouna dankte ihnen bewegt. Mit ihnen allen und durch sie würden Veränderungen möglich werden! Sie müßten soli darisch bleiben und dürften nicht aufhören, sich angesichts des gesellschaftlich anerkannten Unrechts betroffen zu fühlen. Durch das Stimmengewirr hindurch schnappte Malimouna auch manche feindselige Äußerung auf, wobei die Sprechenden Sorge trugen, sich von der Menge zu entfernen, bevor sie ihrem Mißfallen Ausdruck gaben. »Mannweib!« hatte sie hören kön nen und: »Schamlos! Das wird aus einer nicht beschnittenen Frau!« Die Frauen in ihrer Nähe baten sie, nicht hinzuhören, doch sie hatte es vernommen. Der Weg war noch weit! Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als ihr einfiel, daß sie den Männern nicht gedankt hatte, die zahlreich gekommen wa ren, um ihr Mut zu machen und ihr die Hand zu drücken. Die Unterstützung der Männer war so wichtig in dieser, wie sie wußte, gerechten Sache! Sie würde den Fehler wiedergutma 158
chen und bei ihrem nächsten öffentlichen Auftreten die Frauen bitten, ihnen einen besonderen Beifall zu spenden. Plötzlich drängte sich eine Frau durch die Menschenmenge, trat zu Malimouna und ergriff ihre beiden Hände. »Malimouna aus Boritouni? Bist du es, Malimouna? Er kennst du mich nicht?« Als Malimouna den Namen ihres Heimatdorfs hörte, begann ihr Herz heftig zu schlagen. Laura trat näher, wie um sie zu schützen. Beide betrachteten sie die Fremde. Die Unbekannte hatte Tränen in den Augen. Malimouna starrte sie ratlos an; das Gesicht kam ihr vertraut vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo und wann sie ihr begegnet war. Als die Frau sie so unschlüssig sah, öffnete sie ihre Handta sche, zog die Brieftasche heraus und entnahm ihr mit zitternden Fingern ein kleines, aus roter Plastikschnur geflochtenes Arm band. Jetzt erhellte sich Malimounas Gesicht, von neuem be trachtete sie die Frau. Sanita! Es war Sanita! Wie hatte sie die Freundin nicht erkennen können? Weinend umarmten sie sich lange, lange Zeit. Sie hatten sich überhaupt nicht verändert, sagten sie sich abwechselnd und mußten durch ihre Tränen hindurch lachen. Dabei hatten sie sich fast dreißig Jahre nicht gesehen! Sanita war Lehrerin an einem Gymnasium der Stadt und mit einem sehr aufgeschlossenen Mann verheiratet, der sie auf die Aktivitäten der FHO aufmerksam gemacht und ihr na hegelegt hatte, dort Mitglied zu werden. Er war begeisterter Anhänger von Malimouna! Sanita hatte drei Kinder. Natürlich hatte sie von Malimouna sprechen gehört, doch wie hätte sie das mit der kleinen Malimouna aus Boritouni zusammenbrin gen sollen, die kaum Französisch sprach, als sie sich zuletzt gesehen hatten? Malimouna aus Boritouni! Sie tauschten ihre Adressen aus und versprachen sich vor Laura, die gerührt alles mit angesehen hatte, sich gleich am nächsten Tag zu treffen. Völlig aufgewühlt ging Malimouna zu Lauras Wagen, der abseits der Menge und der Kameras stand, da tauchten plötz 159
lich zwei Männer vor ihr auf. Sie erkannte die beiden sofort. Sie stießen Laura weg und zogen Malimouna in einen Klein bus, der wartend dastand. Sie leistete keinen Widerstand, konn te es nicht; sie war gelähmt von einer panischen Angst, ihre Ohren dröhnten, das Herz schlug zum Zerspringen. Laura, die gestürzt war, kam wieder auf die Beine, lief hinter ihnen her und rief laut um Hilfe. Das Fahrzeug fuhr los, und Malimouna entdeckte Karims Wagen, den er etwas entfernt unter einem Baum geparkt hatte. Als sie daran vorbeifuhren, trafen Mali mounas Augen auf Karims harten Blick. Sie warf den Kopf nach hinten auf die Rücklehne, schloß die Augen und hielt sich den Bauch; sie fühlte, wie das Baby sich bewegte, gewiß emp fand es mit ihr die Angst. Sechsundzwanzig Jahre war es her! Sechsundzwanzig Jahre, und doch hatten die beiden sich überhaupt nicht verändert. Derselbe verschlossene Gesichtsausdruck. Sie schienen nicht einmal älter geworden zu sein. Sechsundzwanzig Jahre… Und noch einmal kamen sie, um sie zu holen. Karim hatte also seine Drohungen wahr gemacht. Wahrscheinlich hatte er seinen Schlag schon seit Tagen vorbereitet, denn er hatte der Familie des alten Sando ja mitteilen müssen, daß sie sich in Salouma aufhielt. Wie konnte Karim so bösartig sein? Wenn die Leute sie nun töteten? Vergaß er denn, daß sie die Mutter seiner Kin der war? Von Zeit zu Zeit drehte sie sich um in der Hoffnung, ein Fahrzeug zu entdecken, das ihnen folgte. Doch sie sah nichts als den rötlichen Staub, den das Auto bei seiner schnellen Fahrt aufwirbelte. Die beiden Brüder saßen gleichmütig da und blickten schweigend geradeaus. Für sie ging es nur darum, die Schande zu sühnen, die Malimouna ihrem älteren Bruder und der ganzen Familie zugefügt hatte. Ihr Verhalten war respekt los gewesen, sie hatte Verrat begangen. Als sie Boritouni erreichten, erkannte Malimouna ihr Dorf kaum wieder. Es kam ihr so klein vor, so öde. In der Trocken 160
zeit, die jetzt herrschte, sahen die Bäume und die Vegetation mitleiderregend aus. Der Staub hatte alles in seinen Besitz ge nommen. Ein paar Kinder klatschten in die Hände, als das Fahrzeug sich näherte. Sie fuhren zum Hof des alten Sando am anderen Ende des Dorfs. Auch hier war das Elend eingekehrt. Das Haus, das ihr damals so groß und prachtvoll erschienen war, sah jetzt armse lig aus. Im Hof waren viele Menschen versammelt, anscheinend wartete man auf sie. Es herrschte eisiges Schweigen, als man sie aussteigen ließ. Sie bemerkte die beiden Schwestern des alten Sando, beisammen wie damals, groß und bedrohlich. Ma limounas Blick fiel auf einen Mann von krankem Aussehen, der gebeugt und auf einen Stock gestützt dastand und sie ansah, als fürchte er sich vor ihr. Als sie an ihm vorüberging, sprach er ihren Namen aus und blickte sie ungläubig an. Da erkannte sie ihren Vater. Sein böser Blick von früher war verschwunden. Trotz dieser Lage, in der sie sich selbst befand, tat er ihr leid. Sie hatte niemals mehr an ihn gedacht seit ihrer Flucht aus dem Dorf; gewiß hatte er die Folgen tragen müssen und Wieder gutmachung gezahlt für den der Familie Sando zugefügten Schaden. Er hatte die Heirat seiner Tochter vereinbart und hätte darüber wachen müssen, daß alles dem Brauchtum gemäß und unter strenger Wahrung der Tradition ablief. »Guten Tag, Vater«, murmelte sie. Er nickte mit dem Kopf und entfernte sich langsam, auf sei nen Stock gestützt. Sie mußte sich auf eine kleine Bank unter einen Baum set zen; währenddessen beratschlagten Männer und Frauen dar über, was mit ihr zu geschehen habe. »Sie gehört uns noch immer«, erklärte mit Nachdruck die äl tere der Schwestern. »Zuallererst muß sie eine Frau werden! Sie hat unseren Bruder entehrt und seine ganze Familie, das muß wiedergutgemacht werden!« 161
Bei den Worten stockte Malimouna das Blut in den Adern. Sie sprang entsetzt auf, wurde jedoch von den beiden Brüdern, die sich an ihrer Seite hielten, sogleich auf die Bank zurückge stoßen. Sie wußte um Bedeutung und Macht des dörflichen Rats; er war Kraft und Quelle für die Beständigkeit des Ge meinwesens. Alle Konflikte wurden durch den Rat gelöst, erin nerte sie sich, und seine Entscheidungen von allen wider spruchslos angenommen. Sie wollte schreien, brüllen, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Wieder war sie gelähmt durch die Starre, die ihren gan zen Körper erfaßte. Sie wußte nicht mehr, ob ihr heiß war oder kalt. Langes Getuschel in der Menge. Schließlich verkündete ein alter Mann, daß die Versammlung nun beginne. Alle nahmen Platz auf Bänken, Matten, Stühlen und lauschten der Rede des Dorfoberhaupts, wobei die Augen von ihm zu Malimouna wanderten.Mit einem Mal kam Malimouna zu sich und wurde sich der gefährlichen Situation bewußt, in der sie sich befand. Sie mußte da herauskommen. »Ihr habt nicht das Recht, mich hier festzuhalten. Ich bin in Salouma verheiratet und habe eine Familie«, rief sie in ihrer Muttersprache. Doch zugleich wußte sie tief in ihrem Innern, daß sie nach den Gesetzen des Dorfs eine Rechnung zu beglei chen hatte. »Du hast nicht das Wort«, unterbrach sie der Chef. Von überall her drangen Proteste und Drohungen auf Mali mouna ein. Das Dorfoberhaupt forderte alle auf zu schweigen. »Es ist ja gerade dein Ehemann, der dich hierher bringen ließ, denn du hast auch ihm Schande gemacht.« Malimouna senkte den Kopf. Verloren, sie war verloren. »Bevor du deinen jetzigen Mann geheiratet hast, warst du die Frau von Sando. Also ist deine Familie zuerst einmal hier.« »Damals war ich noch ein Kind! Man hat mich zu der Heirat gezwungen, und das Gesetz verbietet diesen Brauch.« 162
»Das Gesetz? Welches Gesetz? Unverschämte! Kennt die Regierung etwa unsere Sitten nicht? Noch nie ist jemand dafür bestraft worden! Das ist unser Leben und geht nur uns etwas an!« »Ihr kommt alle ins Gefängnis, wenn ihr mich anrührt!« »Schweig endlich!« schrie eine Frau in der Menge. Malimouna schwieg. Sie würde alles nur noch schlimmer machen. Die Ältesten setzten die Diskussion fort. Ein etwas jüngerer Mann riet zur Vorsicht. Diese Frau wäre jetzt eine Intellektuelle, man könnte sie nicht nach Belieben behandeln. Sie könnte sogar gefährlich werden, ihnen ernsthafte Probleme bereiten. Die Alten bedachten seine Worte eine Weile. Auf jeden Fall, kamen sie überein, mußte Malimounas Vater mit entscheiden, und der war nach Hause gegangen. Es war schon spät, und sie beschlossen, sich am frühen Nachmittag des fol genden Tages wieder zu treffen. Malimouna wurde in ein Zimmer gebracht und eingeschlos sen. Sie legte sich auf das kleine Bett und fiel sofort in tiefen Schlaf. Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Ein junges Mäd chen kam ins Zimmer, brachte ihr etwas zu essen und ver schwand sogleich wieder. Malimouna stand auf, sie war ent setzlich hungrig. Sie hob den Deckel von den Schüsseln auf dem Tablett. Ein Teller Reis mit Erdnußsoße und eine Schale Hirse. Bevor sie etwas anrührte, sprach sie ein kurzes Gebet. Nachdem sie gegessen hatte, nahm sie in dem kleinen Bade zimmer eine Dusche und legte sich wieder ins Bett. Sie mußte Gelassenheit bewahren, Panik würde ihr nicht hel fen! Laura hatte die Entführung beobachtet und, da sie ihre Geschichte kannte, bestimmt die Zusammenhänge begriffen. Sie würde wissen, was zu tun war. Wenn sie nur schnell genug handelte! Mit Gedanken an ihre Kinder schlief Malimouna ein. Als sie in der Morgendämmerung erwachte, hörte sie außer dem Schrei der Hähne, wie Besen den Hof fegten. Bis dreizehn Uhr blieb sie eingeschlossen. Das junge Mäd 163
chen vom Vorabend brachte ihr erneut etwas zu essen. Diesmal rührte Malimouna die Nahrung nicht an. Mit jeder Stunde, die verging, wuchs ihre Unruhe. Was machte Laura? Wenn sie nun nicht begriffen hatte, wer für die Entführung verantwortlich war? Um fünfzehn Uhr holte man sie. Der Hof war schwarz von Menschen. Ihre Angst war jetzt einem großen Zorn gewichen. Mit welchem Recht sperrte man sie hier ein? Wie konnten die Gesetze des Dorfs in ihrer gegenwärtigen Situation auf sie an gewendet werden? Sie würde ihnen die Sache schwer machen! Sie setzte ihre hochmütigste Miene auf, ging mit erhobenem Kopf und sah die Anwesenden dabei scharf an. In der Ferne vernahm man Hupen. Das alte Dorfoberhaupt kratzte sich am Kinn und erklärte: »Wir sind heute versammelt, um ein Urteil zu fällen über unsere Tochter Malimouna, die vor mehr als zwanzig Jahren der Familie Sando übergeben wurde; sie hat damals ihren Ehemann verwundet und ist aus dem Dorf geflo hen. Dabei war sie unter genauer Einhaltung unserer Tradition und mit dem Einverständnis beider Familien verheiratet wor den. Sie hat uns hintergangen, ihre Familie hat uns betrogen. Ein langanhaltendes Gemurmel lief durch die Versammlung. Das Hupen kam näher, und die Leute blickten sich beunruhigt an. Der wachsende Lärm zwang den Alten, seine Rede zu un terbrechen. Plötzlich fuhren zwei Busse und mehrere Autos vor. Aufgebrachte Frauen kletterten mit drohenden Gebärden aus dem ersten Bus; aus dem zweiten sprangen Polizisten, die mit heruntergelassenem Visier und vorgehaltenem Schild vor ihnen eine Kette bildeten. Das Getöse war unbeschreiblich. Die Leute aus dem Dorf waren wie erstarrt und verhielten sich ru hig. Ein Uniformierter trat zu dem Dorfoberhaupt. Malimouna sah Laura aus einem der Wagen steigen, in Be gleitung von Matou und den Kindern. »Meine Tochter!« schrie Matou und lief zu Malimouna hin. »Laura hat mir alles erklärt, und Karim wollte nicht antworten, 164
als ich ihn fragte, wo du bist. Da hab ich die Kinder genommen und bin Laura gefolgt. Hat man dir auch nichts getan?« »Nein, Maman, niemand hat mich angerührt«, antwortete Malimouna und umarmte die Kinder. Ihre Stimmen gingen unter in dem Tumult, hervorgerufen von den Frauen der FHO, die Laura mitgebracht hatte nach Boritouni. Wütend schnauzten Malimounas Freundinnen die Dorfbewohner an, nannten sie unzivilisierte Wilde. Die Be schimpften rückten mit haßerfüllten Blicken gegen sie vor. Der Polizeikommissar gab seinen Leuten, die immer noch eine Ket te bildeten, Befehle. Daraufhin drängten die Polizisten die Frauen ein paar Meter zurück, und auch die Dorfbewohner wurden auf Distanz gehalten. Nachdem der Kommissar Malimouna einige Fragen gestellt hatte, ordnete er an, die Brüder Sando zu verhaften und zum nächsten Polizeirevier zu bringen. Malimouna stieg in Lauras Wagen, unter den wachsamen Blicken ihrer Freundinnen, die danach selbst wieder in ihrem Bus Platz nahmen. Als die Autokolonne sich in Bewegung setzte, ließen die Frauen ihrer Freude freien Lauf. Von Lachen untermalte Kommentare zu dem Geschehen setzten sich noch lange Zeit fort. Malimouna streckte sich auf dem weichen Sofa in ihrem Wohnzimmer aus. Nach der Rückkehr aus Boritouni hatten Laura und sie trotz ihrer Müdigkeit noch stundenlang geredet. Laura war wütend auf Malimouna, verstand ihren Entschluß nicht. Malimouna hätte sich tatsächlich dafür ausgesprochen, die beiden Festgenommenen wieder freizulassen. Sie sollten schwören, sie nicht mehr zu behelligen, dann würde sie keine Klage gegen sie erheben. Wirklichen Groll empfand sie nur gegen Karim. Doch sie würde diese Seite ihres Lebens umblättern. Andere Kämpfe erwarteten sie.
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Glossar Alloko Attiéké Balafon
Dèguè Fulbe Gari Gombo Griot Griotte Nivaquin Toubab
in Palmöl fritierte Kochbananen Maniokkuskus Schlaginstrument, eine Art Xylophon, bei dem Holzstäbe über einem Resonanzkörper aus Kale bassen befestigt sind Hirse in gezuckerter Dickmilch Volk in Westafrika Püree aus gestampftem Maniok Okra; Gemüseart Erzähler, Sänger, Genealogist, Bewahrer der mündlich überlieferten Tradition weiblicher Griot Medikament auf Chininbasis gegen Malaria Pl.:Toubabou Arzt, Weißer
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