Sherryl Jordan
ELSHA,
REBELLIN UND
SEHERIN
Aus dem Englischen von Joanna Schroeder
Sauerländer
Copyright © 1992...
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Sherryl Jordan
ELSHA,
REBELLIN UND
SEHERIN
Aus dem Englischen von Joanna Schroeder
Sauerländer
Copyright © 1992 by Sherryl Jordan (Titel der neuseeländischen Originalausgabe: Winter of Fire) First published by Ashton Scholastic, 1994
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
Copyright © 2003 Patmos Verlag GmbH & Co. KG
Sauerländer Verlag, Düsseldorf
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: heike ossenkop pinxit, CH-Basel
Druck und Verarbeitung: Stückle, Ettenheim
ISBN 3-7941-8013-5
www.patmos.de
In Elshas Welt gibt es zwei Klassen von Menschen, die Quelten und die Erwählten. Die Quelten tragen ein Brandmal auf der Stirn und fördern im Akkord unter Tage Feuerit. Feuerit ist die einzige Wärmequelle, denn die Zeiten, in der es noch eine Licht und Wärme spendende Sonne gab, sind lange vorbei. Elsha allerdings ist eine besondere Queltin, sie hat ein inneres Feuer und seherische Träume. Mit sechzehn beruft der Feuermeister der Erwählten sie zu seiner Leibdienerin, und eine abenteuerliche Reise quer durch das dunkle Land beginnt. Als Queltin wird sie überall gedemütigt, doch ihr leidenschaftliches, rebellisches Herz verschafft ihr auch einflussreiche Freunde, die ihr im alles entscheidenden Moment beistehen – denn Elshas Ziel ist erst dann erreicht, wenn ihr Volk die Freiheit und Würde zurückerlangt, die es verdient.
Für Jean,
die diese Geschichte,
seit ich sie zum ersten Mal erzählt habe,
geliebt und bis zu ihrer Endfassung begleitet hat
und die mir, neben Elsha, den Mut dazu gab.
In Liebe
SEELENFEUER
1
DAS BRANDMAL
Immer schon habe ich das Feuer in meinem Herzen gespürt. Aber das Feuer hat auch das Brandeisen heiß gemacht, mit dem sie mir das Zeichen der Quelten eingebrannt haben. Und wie alle Quelten musste ich mich in den dunklen Gruben von Siranjaro schinden um den schwarzen Brennstoff zu bergen, den wir Feuerit nennen. Das Feuer spendete mir Wärme, wenn alles andere nur klirrende Kälte und eisiger Wind war. Über dem Feuer kochte mein Essen, trockneten meine nassen Kleider, das Feuer erhellte mein Leben. Und nachts am Feuer träumte ich meine hochfliegenden Träume. Denn schon als Kind hatte ich diese Träume, auch wenn ich selten darüber sprach. Während meine Eltern in den Gruben arbeiteten, wurden die anderen Kinder und ich von denen beaufsichtigt, die zu alt oder zu krank zum Arbeiten waren. Wir pflanzten Gemüse, schleppten Wasser, webten Kleider aus Ziegenhaar oder Wolle, hüteten die kleinen Herden und hielten uns von den Erwählten fern. Die Erwählten waren unsere Herren und Gebieter. Meine früheste Erinnerung an die Begegnung mit einem Erwählten war ein Mann mit großen, golden und grün gefärbten Stiefeln, einem pelzverbrämten Mantel und blauen Hosen aus Wolle. Er hatte eine kurze Peitsche. Ich hockte im Garten zwischen meinen Kohlköpfen und sang ihnen Lieder vor, damit sie schneller wuchsen, als plötzlich ein dunkler Schatten über mich fiel. Ich blickte auf und sah den Mann. Er sagte nichts,
weil wir Quelten in der Vorstellung der Erwählten weder Sprache noch Verstand besitzen. Er ließ seinen Blick über die gefrorenen Beete schweifen, über die mühsam der steinigen Erde abgerungenen Gemüsereihen, den Kohl, die Saubohnen und den dürren, kostbaren Weizen – worauf er einen Laut ausstieß, der ein Lachen hätte sein können. Er trat mit dem Stiefel in meinen Kohl und zertrampelte ihn, dann wandte er sich um und ging. Wut packte mich. Ich griff nach einem Stein von der Größe meiner Faust und schmiss ihn mit aller Kraft. Mit einem dumpfen Aufprall traf er den Rücken des Mannes, er blieb stehen und drehte sich langsam um. Dann kam er zurück, lächelnd, er drehte meine Haare um seine Hand. An den Haaren hob er mich hoch, bis meine Füße über den zertrampelten Kohlköpfen baumelten. Ich war so außer mir vor Wut, dass ich die Schmerzen kaum spürte. Ich strampelte und trat nach ihm. Er stieß einen Schrei aus, dann begann er, mich mit dem Peitschenstiel zu verprügeln. Ich weiß nicht, wie es weiterging. Ich weiß nur, dass ich danach lange Zeit auf meiner Schlafmatte am Feuer unseres schwarzen Zeltes aus Ziegenhaut lag, umgeben von sanfter Dunkelheit, aus der Stimmen flüsterten und verstummten und wieder flüsterten. Ich hörte die zittrigen Stimmen der Alten, die gedämpft und sehr ernst klangen. »Sie hat sich schon fünf Tage nicht geregt. Die Nase ist gebrochen. Ihre Augen sind zugeschwollen.« »Sie hat es auf die harte Art lernen müssen, den Erwählten nicht in die Quere zu kommen.« »Sie wird es nie lernen, sie nicht. Gerade mal vier Jahre alt und schon ist ihr Geist rebellisch.« »Jetzt nicht mehr. Ich glaube, er hat ihr das Rückgrat gebrochen. Sie werden sie nicht leben lassen. Armes Kind. Es wird ihrem Vater das Herz brechen.«
Und ich erinnere mich an die besorgte Stimme meines Vaters, wie er mich an meinem Krankenlager beschwor: »Gib nicht auf, kleine Elsha, Freude meines Lebens. Gib nicht auf!« Ich gab nicht auf. Aber bis auf den heutigen Tag hat meine Nase einen Buckel an der Nasenwurzel und ein wenig schief ist sie auch. Aber mein Rücken hat sich erholt, sonst hätte ich keinen einzigen Tag in den Gruben überlebt. Allerdings sagen sie, dass meine Augen nie richtig in dieselbe Richtung sehen. Ich war fünf, als ich dem nächsten Erwählten begegnete, und an diesem schicksalsschweren Tag hatte ich eine Vorahnung, dass sich etwas Schreckliches ereignen würde. Meine Mutter umarmte mich fest, bevor sie zur Arbeit in die Grube ging, ich kann den Staub des Feuerits noch in ihren Haaren riechen und ihre heißen Tränen auf meiner Wange fühlen. »Sei tapfer, Kind«, flüsterte sie. Mehr wollte sie nicht sagen. An diesem Tag nahmen uns die Alten nicht mit in die Gärten, sie schickten uns auch nicht mit den Ziegen in die Berge, stattdessen versammelten sie uns Fünfjährige und wuschen uns sorgfältig die Gesichter. Dann rieben sie unsere Stirnen mit einer Kräutersalbe ein. Die anderen glaubten, es handele sich um ein neues Spiel, sie lachten, aber ich ahnte Böses… es hing in der Luft wie ein eisiger Wind. Wir bekamen kein Frühstück, nur ein wenig Wasser. Im Laufe des Vormittags wurden wir von einem Karren abgeholt, den vier junge Quelten zogen. Die anderen Kinder klatschten begeistert in die Hände und kletterten um die Wette auf den Wagen; mich aber musste man zwingen. Fünf Erwählte begleiteten die Fahrt und lachten ihr grölendes Lachen, wenn einer einen Scherz machte. Sie schritten erhobenen Hauptes, ihre Zähne schimmerten hell im grauen Tageslicht und ihre Umhänge aus fein gesponnener roter Wolle schwangen bei jedem Schritt mit. Die vier jungen Quelten waren mit Ketten und Stricken an den Karren gebunden. Ihre Kleider waren graubraun wie
unsere, aber nicht so sauber, sondern schwarz verschmiert und zerrissen. Sie bewegten sich langsam und schwerfällig wie die meisten Quelten, stumm und mutlos. An einen von ihnen kann ich mich noch gut erinnern. Er muss den Kopf bewegt haben, als sie ihn brandmarkten, denn sein Mal war kein vollkommen runder Kreis auf der Mitte seiner Stirn, sondern ein zerfließendes Oval, das sich über seine Augenbraue bis halb hinunter über seine Wange zog. Seine Augenlider waren versengt und das Auge darunter ausgetrocknet. In der Mitte des Kreises war nicht das Symbol der Flamme, sondern ein entsetzliches Loch. Ohne dieses verdorrte Auge wäre es ein schönes Gesicht gewesen. Obwohl er den Kopf gebeugt hielt und genauso geduckt ging wie die anderen, hatte er etwas an sich, das eine große Willenskraft ausstrahlte. Als ob in seinem Inneren ein heimliches Feuer brannte, von dem die Quelten nichts wussten. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Mit unserem kleinen Karren erreichten wir einen kahlen Ort hoch über der Grube. Dort stand eine niedrige Hütte, die aus unbehauenen Steinen gebaut war. Ein kleines Feuer brannte davor, über dem ein Mann gebeugt stand, der eine Stange in den Flammen drehte. Ich hätte es wissen können, wir alle hätten wissen können, was uns erwartete. Wir alle hatten das Brandmal auf den Stirnen der anderen Quelten gesehen, alle hatten wir gesehen, wie unsere älteren Geschwister eines Tages weggeführt wurden, um als Quelten gebrandmarkt zurückzukehren. Aber nie wurde darüber gesprochen, niemand hatte uns vorgewarnt. Nie kam es uns in den Sinn, dass auch wir an die Reihe kommen würden. Deshalb fügten wir uns, als die Erwählten uns die Augen verbanden, erstarrt vor Schreck. Und wir warteten geduldig, bis die Reihe an uns war, zu dem Mann am Feuer geführt zu werden.
Nie werde ich dieses Entsetzen, die Wut und den vernichtenden Schmerz vergessen. Genauso wenig wie den langen Weg nach Hause. Ich weigerte mich, auf den Karren geworfen zu werden, ein verrückter, unnachgiebiger Stolz ließ mich den ganzen Weg zu Fuß gehen. Die Erwählten nahmen es als einen Scherz, obwohl einer von ihnen über mich fluchte. Ich ging neben dem Jungen mit dem geblendeten Auge. Seine Nähe war tröstlich. Selbst durch den betäubenden Nebel der Schmerzen konnte ich sehen, dass er sein gutes Auge auf mich richtete, und jedes Mal, wenn er meinem gequälten Blick begegnete, lächelte er mir zu. Er war stark unter den Ketten und Lederstricken, die ihn zusammen mit den anderen an den Karren fesselten, und er hatte eine Standhaftigkeit, die mir Kraft gab. Wir wagten nicht zu sprechen, nicht wenn die Erwählten in unserer Nähe waren. Es war den Quelten verboten, in der Gegenwart der Erwählten zu sprechen, vielleicht glaubten sie, uns mit dem Sprechen auch das Denken verbieten zu können. Als sie weit voraus waren, lächelte der junge Quelte mich an: »Wie nennt man dich, Mädchen mit dem Löwenherz?« Ich versuchte ein Lächeln und stöhnte vor Schmerz. »Ich heiße Elsha. Und du?« »Lesharo«, antwortete er. Er schwieg ein Weilchen, dann sagte er sehr leise: »Deiner Seele können sie nicht ihren Stempel aufdrücken, Elsha.« Wir sprachen nicht wieder miteinander, bis ich zwölf und wir Freunde geworden waren, – aber was er mir damals sagte, hatte auf mein Leben eine größere Wirkung als irgendetwas sonst. Mit der Zeit verblasste der Schmerz über das Mal auf meiner Stirn, es gab Tage, an denen ich die Narbe vergaß, weil ich mein Gesicht nie deutlich sehen konnte. Aber manchmal lag ich nachts am Feuer, strich meine dichten blonden Haare
zurück und ertastete mit dem Finger das Zeichen. Es kam mir harmlos vor. Die Form mit dem vollkommenen Kreis und der Flamme gefiel mir sogar, trotzdem befremdete es mich. Ich verstand nicht, welchem Zweck es diente. Die Erwählten besaßen die Gruben, in denen wir arbeiteten, um das Feuerit aus der Erde zu holen – und uns alle hielt die Wärme des Feuers am Leben. Erst viel später begriff ich, wie schändlich ungerecht die Sklaverei war und warum sie uns brandmarkten. Unter allen Erwählten gab es nur einen, den ich verehrte. Wir nannten ihn unseren Feuermeister. Er besaß eine besondere Gabe der Erkenntnis und konnte neue Gruben finden, aus denen das Feuerit kam. Sein Wissen spendete uns Licht und Wärme. Mein Vater erzählte mir von ihm, es waren Bilder, die mein Leben erhellten. Oft saß ich nachts mit meinem Vater auf dem gestampften Lehmboden dicht an ihn gekuschelt vor der Feuerstelle in unserem Zelt, versunken in den Tanz der Flammen, und hörte ihm zu. »Vor langer Zeit, als mein Vater noch ein kleiner Junge war, lag das Feuerit hier noch tief in den Bergen verborgen«, erzählte mein Vater. »Niemand wusste, wo. Es gab keine Grube, und es gab kein Feuerit, um die Herdfeuer zu nähren. Allen drohte der Tod durch die Kälte. Im ganzen Land gab es nur einen Mann, der den Leuten helfen konnte – nur einer hatte die Kraft, das Feuerit tief im Inneren der Berge zu sehen und den Leuten zu sagen, wo sie danach graben sollten. Das war der Feuermeister. Nur er hat die große Gabe der Erkenntnis und das innere Wissen, um das Feuerit zu finden.« Ich weiß noch genau, wie mein Herz bis zum Zerspringen klopfte, wenn ich mir diese Kraft vorstellte, und ich bedrängte meinen Vater, mir noch mehr darüber zu erzählen: »Wie sieht er es, Vater? Wie findet er das Feuerit?« Dann lachte mein Vater und strich mir über die Haare. Ich liebte sein Lachen. »Das weiß niemand, Kind«, sagte er. »Aber er kam an diesen Ort, spürte
das Feuerit auf und erklärte den Leuten, wo sie die neue Grube graben sollten. Inzwischen ist er ein alter Mann, obwohl man ihm nachsagt, er sei sehr stark und er sehe noch immer jung aus. Seine Seele ist voll von der Kraft des Feuerits. Und jedes Jahr zur Zeit des großen Feuerfestes geht er zurück zur heiligen Flamme und erneuert das Feuer dort.« »Der Feuermeister kann die Flamme berühren, ohne sich zu verbrennen?« »Ich weiß es nicht, Kind. Dieser Mann ist anders als alle anderen. Niemand kennt ihn gut, außer dem allervornehmsten Mädchen der Erwählten, denn sie ist seine Leibdienerin.« »Irgendwann werde ich ihm auch begegnen.« Da wurde die Stimme meines Vaters rau und traurig. »Nein, Elsha. Noch dieses Jahr wirst du in der Grube arbeiten, und nächstes Jahr und alle Jahre, bis du stirbst. Das ist das Schicksal der Quelten. Und hierher wird der Feuermeister auch nicht wieder kommen, unsere Grube reicht noch hundert Jahre.« »Ich werde ihn sehen«, beharrte ich. »Ich verehre den Feuermeister und ich liebe die heilige Flamme. Ich liebe sie, wie sie hoch auf der Kuppe des Berges brennt und nie verlöscht.« »Wie kannst du solche Dinge sagen?« »Ich habe sie gesehen, Vater. Ich habe sie in meinen Träumen gesehen.« Mein Vater nahm mich in die Arme und küsste meine Haare, mein Gesicht. »Du bist seltsam, mein Liebes, Kleines.« Er lachte. »Die seltsamste Tochter der Quelten, die je geboren wurde.«
2
SCHWARZE WIRKLICHKEIT
Die Grube von Siranjaro gehörte zu den größten in den hiesigen Bergen. Siebenhundert Quelten arbeiteten dort, abgesehen von den alten Frauen und Männern, die sich um unsere Siedlung kümmerten. Für uns gab es kein Leben außerhalb der Grube. Wir waren gebrandmarkt und leicht zu erkennen, es gab kein Entkommen. Die Grube besaß einen einzigen Schacht, der geradewegs hinein in die Dunkelheit des Berges führte, wir stiegen über eine Reihe hölzerner Leitern in die tiefste Schwärze hinab. Ich arbeitete unten im fünfzehnten Flöz, dort, wo es am engsten und nassesten war. Und warm war es dort, so tief in den Eingeweiden der Erde. Ich trug nichts als mein Kleid, wenn ich auf dem Rücken im Wasser liegend die Feuerite unmittelbar über meinem Kopf aus dem Berg klopfte. Meine Schultern und Ellbogen litten am meisten unter der Enge, meine Augen und meine Kehle waren verklebt vom schwarzen Staub. Ich hatte keine Kerze, sondern tastete lieber mit den Fingern die Wände um mich herum nach den Feueriten ab. Ich hatte die Explosionen gehört, wenn sich das austretende Gas an der Kerzenflamme entzündete, ich hatte gesehen, wie die Leute aus der Grube getragen wurden. Ein Tag in der langen Reihe der Tage war besonders für mich. Es war der Tag, an dem ich sechzehn Jahre alt wurde. Zur Feier meines Geburtstages und weil eine unerklärliche Freude mich erfüllte, hatte ich langsamer gearbeitet als sonst und mich häufiger ausgeruht. Teilweise war es Widerstand gegen die
Erwählten, ein unbedeutender Widerstand, wohl wahr, aber dennoch süß. Eine Weile arbeitete ich hart, aber wenn meine Arme schmerzten, lag ich still auf dem Rücken und legte den Hammer auf meine Brust. Ich spürte, wie die Feuchtigkeit durch mein Kleid drang und sanft an meinen nackten Armen spielte. Durch die Tücher, die ich um meine Haare gebunden hatte, sickerte das Wasser warm bis an meine Kopfhaut. Ich lauschte nach den Geräuschen der anderen Quelten, die aus den weiter entfernten Flözen klangen; das dumpfe Klopfen der Hämmer an den Bergwänden, das Stöhnen der Leute, wenn sie die vollen Flözkörbe auf dem Rücken nach oben schleppten. Irgendwo hatte sich ein Kind auf den Finger gehauen und heulte, dann hörte ich die tröstende Stimme eines Mannes. »Komm, weine nicht«, hörte ich ihn. »Hier, ich reiße ein Stück von meinem Hemd ab, um dir den Finger zu verbinden. Dann ruhst du dich ein wenig aus und ich fülle dir den Korb mit meinen Feueriten. Der Aufseher wird nichts merken.« Auch eine Frau hörte ich leise weinen, während sie sich abmühte, den schweren Flözkorb die vielen Leitern hinauf ans Tageslicht zu schaffen. Oben schüttete sie die Feuerite in ihren Tageskorb um. Manchmal hörte ich das Echo von Gesprächsfetzen auf irgendwelchen Wegen durch den Berg hallen, leises Flüstern, verzweifeltes Stöhnen oder helle Freude. Manchmal – in seltenen, kostbaren Augenblicken – gab es keinen menschlichen Laut. Dann hörte ich nur den sanften Atem der Dunkelheit, das Pulsen und Summen der Erde, die Kraft der Feuerite um mich herum. In diesen Augenblicken hatte ich manchmal ein Gefühl, als schlüge mein Herz im Einklang mit dem pulsierenden Herz des Feuerits und ich wurde eins mit dem Fels. Bis irgendwo in den Flözen wieder das Klopfen eines Hammers erklang und den Kraftstrom unterbrach. Diese
Augenblicke der Stille, in denen ich eins wurde mit dem Berg, der Erde und den schwarzen Steinen, die das Feuer in sich trugen – diese Augenblicke waren eine wichtige Kraftquelle meines Lebens. Damals begriff ich nicht, woher diese Kraft floss, aber als ich meiner Mutter davon erzählte, sagte sie, in meinem Kopf gäbe es ein Durcheinander. »Erzähl es nicht weiter, Elsha«, riet sie mir mit Ernst in der Stimme, aber lächelndem Gesicht. »Dein Vater macht sich schon genug Sorgen wegen deiner verrückten Ideen.« Nur einem erzählte ich davon: meinem einzigen wahren Freund, Lesharo. An jenem merkwürdigen, trägen Tag dachte ich viel an ihn, während ich in die Dunkelheit eingehüllt und von Freude erfüllt in meinem Flöz lag. Vielleicht war es der erste Tag, an dem mir klar war, dass ich ihn liebte; dieses Wunder nahm mir den Atem und versetzte mich in diesem samtenen Dunkel in Träumereien. Vielleicht wachte das Schicksal über mich und ließ meine Glieder träge werden, meinen Geist träumen. Damals wusste ich nichts davon, aber die ganze Geschichte unseres Volkes sollte eine andere Wendung nehmen, nur weil ich mich an jenem Tag der Langsamkeit hingab. Schließlich hörte ich den Gong, der den Abend und die Zeit nach Hause zu gehen ankündigte. Blind suchte ich im Wasser nach den letzten Feueriten, die ich aus dem Berg geschlagen hatte, und legte sie in meinen Flözkorb. Rückwärts kroch ich aus meinem dunklen Tunnel, wobei ich den Korb nachzog. Am Ende des Flözes streckte ich mich und tastete am Fuße der Leiter nach den dicken Kleidern für draußen. Ich zog mein triefnasses Kleid aus und streifte das dicke grauwollene Überkleid über, gürtete mich und stieg in die Filzstiefel, dann schwang ich mir den Korb auf den Rücken. Ich schwankte unter dem Gewicht, ertastete den Anfang der Leiter in der Finsternis und kletterte aufwärts. Die Luft wurde kälter, je weiter ich nach oben gelangte. Die Schwärze schimmerte
zuerst rußig schwarz, dann frostgrau, als ich ans Abendlicht kam. Ich fühlte die letzte Ladung Feuerit in meinen großen Tageskorb – er war nicht so voll wie sonst. Ein eiskalter Wind peitschte mir ins Gesicht, meine nassen Hände und Füße wurden blau vor Kälte. Als ich die lange Reihe der Unsrigen sah, die darauf warteten, dass ihre Tageskörbe gewogen wurden, begann ich zu zittern. Schwankend lief ich den steilen Weg hinab bis zur Waage und stellte mich hinten an. Nicht alle von uns mussten ihre Tageskörbe wiegen lassen, die Aufseher vertrauten den meisten und verzichteten auf das Wiegen. Aber es gab einige, deren Last wurde tagtäglich gewogen, gezählt und beurteilt. Das waren wir, die Schwierigen, die Widerstand leisteten. Zum großen Kummer meines Vaters war ich eine von ihnen. Heute waren wir ungefähr fünfzig. Fünfzig grimmige Seelen, die mit von Kälte und Ermattung gebeugtem Rücken und hängenden Köpfen schweigend warteten, während wir unsere Lasten neben uns abgestellt hatten. Wir alle hatten erschöpfte Gesichter, von der Kälte waren unsere Kleider steif, und wir wickelten uns Lappen um die frierenden Hände. Schwarzer Staub klebte überall und die Blicke sprachen von unserer Müdigkeit. Wenn ich jetzt daran denke, spüre ich wieder genau die Verzweiflung und Ausweglosigkeit unserer Armut. Warum bin ich die Einzige gewesen, die sich nicht damit abfinden wollte? Wir warteten schweigend, zu entkräftet um zu sprechen. Ein paar kamen noch nach mir und stellten sich in die Reihe. Hunderte anderer – Arbeiter, denen vertraut wurde – stolperten an uns vorbei und leerten ihre Tageskörbe in die Karren, die bereitstanden um die Ausbeute unserer Arbeit in die Häuser der Erwählten oder zu unseren Zelten zu bringen. Dann hasteten die Leute weiter, zurück ins Lager, wo, wie ich jetzt sah, schon die ersten Feuer entfacht wurden und der Rauch wie körniger Nebel über den schwarzen Zelten hing. Bis zum Morgen würden die
Rauchschwaden so dick sein, dass sie das Lager vollkommen verschluckten. Auf der anderen Talseite, dem Lager gegenüber, lagen hoch oben auf dem Berghang verstreut die Häuser der Erwählten. Sie waren aus Stein gebaut, weitläufige Bauwerke, die wie mit dem Berg verwachsen aussahen, altes Gemäuer mit Türmchen und Erkern im gleichen Erdbraun wie die Umgebung. Heute war für die Erwählten ein besonderer Tag, sie hatten ihre Balkone mit farbigen Bändern geschmückt und leuchtende Fahnen wehten vor den Fenstern. Die Reihe bewegte sich vorwärts, ich nahm meinen Korb und schleifte ihn ein paar Schritte weiter. Der Wind hatte nachgelassen, unser Atem bildete Wölkchen vor unseren Gesichtern, die in der Kälte schmerzten genau wie unsere Finger. Langsam ging es vorwärts, ich konnte schon die Fackel des Aufsehers sehen, eine schwächliche Flamme in der feuchtkalten Dunkelheit. Endlich war ich an der Reihe. Ich stemmte meinen Korb hoch, um ihn an den Waagebalken zu hängen, und trat demütig einen Schritt beiseite, während der Aufseher das Gewicht ablas. Ich wies mit dem Finger unser Familienzeichen auf seiner Tafel an und er setzte mit Holzkohle ein Kreuz daneben. Ich nahm den Korb und schwang ihn auf meine Schulter. Schon halb im Gehen rief er mir nach: »Harsha!« Mit dem Wort der Erwählten für uns Sklavinnen rief er mich zurück. Für sie hatten wir keine Namen. Ich drehte mich um und ließ meinen Korb zu Boden gleiten. Mit gesenktem Kopf wartete ich, was er mir zu sagen hatte. »Harsha, gestern hast du siebenundzwanzig volle Lasten aus der Grube geholt. Heute nur zwanzig.« Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Das war verboten. Ich schaute stattdessen auf die goldene Stickerei auf der Schulter seines smaragdgrünen Umhangs und gab meinem Gesicht einen Ausdruck, der Reue bezeugen sollte. Ich wusste, dass er in die Luft über meinem Kopf blickte, weil ein
Erwählter einem Quelten nie ins Gesicht sehen würde. Dessen waren wir nicht würdig. »Diese sieben Lasten wirst du nachholen. Gleich morgen früh, bevor du mit der eigentlichen Arbeit beginnst, wirst du sie nachholen. Zusätzlich. Zusammen macht das für morgen vierunddreißig Flözkörbe. Hast du das begriffen?« Mir wurde schwindelig. Vierunddreißig Körbe! So viel wurde nicht einmal den stärksten Männern zugemutet. Das war ein Todesurteil. Einen Augenblick nur traf mein Blick voller Schrecken und Ungläubigkeit den seinen. Er machte ein paar Schritte auf mich zu und hob die Peitsche. Ich rührte mich nicht. Ich blickte über seine Schulter hinweg auf die Berge, dann brannte der Peitschenhieb auf meiner Wange. »Du bist aufsässig, Harsha«, sagte er und seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. »Ich werde ein Auge auf dich haben.« Die Berggipfel verschwanden schon im Nebel, unter dem dunkelviolett eine dünne Schicht Himmel leuchtete. Dorthin entfloh meine Seele um Ruhe zu finden. »Verstanden?«, fauchte er. Ich beherrschte mich mühsam, ihm nicht eine Antwort vor die Füße zu spucken. Ich nickte und beugte den Kopf. »Eine Stunde vor der Dämmerung wirst du hier sein. Du kommst nicht eher zur Ruhe, bis du nicht alle vierunddreißig Lasten aus dem Berg geholt hast. Und wenn du fällst, dann werde ich dir auf die Füße helfen. Du kennst die Strafe, die auf Verweigerung steht. Der Nächste.« Mühsam schulterte ich meinen Korb und schleppte ihn zu den Karren. Ich musste meine ganze Kraft aufwenden, um ihn über die Seitenwand auszuleeren. Ich stellte meinen Korb zu den anderen leeren Körben, wo er mich morgen früh erwarten würde, und ging langsam nach Hause.
Über die Schüssel neben unserem Zelt gebeugt, wusch ich mir mit der schon grau gewordenen Brühe Gesicht und Arme. Wo die Peitsche mich getroffen hatte, brannte das lauwarme Wasser in der Wunde. Aber das kümmerte mich nicht. Über der Schüssel stieg ein silbriger Dunst in die kalte Abendluft, auch von meinen Händen und Armen dampfte das warme Wasser in die Kälte. Ich beugte mich über die Wasseroberfläche und betrachtete mein Spiegelbild. Sah ich heute plötzlich älter aus? Reifer? Das Wasser warf ein trübes Bild meiner selbst zurück, meine Haare sahen aus wie ein grauer Schleier. Richtig klar hatte ich mein Gesicht noch nie gesehen. Nur durch Lesharo wusste ich, dass meine Augen blaugrau waren wie der Rauch und meine Haare, jedenfalls wenn ich sie gewaschen hatte, die Farbe einer hell aufleuchtenden Flamme besaßen. Außerdem hatte er mir gesagt, dass mein Gesicht ernst sei und ich nicht oft genug lachte, – wenn ich aber lächelte, hatte er gesagt, sei mein Gesicht schön und voller Licht. Ich glaubte immer, dass er log, weil er mein Freund war. Jedenfalls wusste ich nicht richtig, wie ich aussah, denn mein Abbild im Wasser war immer verschwommen und dunkel. Der Himmel war schon verhangen von den rauchigen Schatten der Nacht. Damals kannte ich die Sterne noch nicht und auch nicht den Mond. Ich hatte sie noch nie gesehen. In unserer Welt war der Himmel immer von Wolken verhangen und vom Rauch tausender Feuer vernebelt. Tagsüber war der Himmel undurchdringlich grau, nachts so schwarz wie das Innere der Grube. Ich stand noch über die Schüssel gebeugt und starrte enttäuscht auf mein Spiegelbild, als mein jüngerer Bruder Mishal mich beiseite drängte. Er war sieben und arbeitete erst seit zwei Jahren in der Grube. »Mutter ruft dich!«, sagte er mit einem überlegenen Befehlston und tauchte die Hände in das rußige Wasser. »Das
Wasser ist schmutzig! Du hast kein Recht, dich vor mir zu waschen!« Ich trocknete mich an dem nasskalten Handtuch ab, das meine vier älteren Brüder und meine Eltern vor mir benutzt hatten, dann legte ich es Mishal um den geschwärzten Hals. »Wer zuerst kommt, kriegt das sauberste Wasser«, sagte ich leichthin. Er trat rückwärts mit dem Fuß, aber er traf mich nicht. »Erst die Männer, dann die Harshas. So will es das Gesetz.« Ich erhob drohend meine Faust, nicht gegen ihn, sondern in Richtung der Häuser der Erwählten auf der anderen Seite des Tales, gegen all jene, die Gesetze erließen. Dann drehte ich mich um und ging in unser Zelt. Mutter hockte am Feuer und briet Weizenfladen auf eingeölten Steinen in der Glut. Über dem Feuer stieg der Rauch in die Höhe und wurde von dem Wind, der durch die Ritzen zwischen den Ziegenfellen hereinfauchte, wieder verwirbelt. Wir hatten es besser als die meisten, weil unser Zelt im Windschatten eines kleinen Bergvorsprungs stand und somit vor den eisigen Nordwinden gut geschützt war. Heute jedoch kam der Wind von Süden und wehte die Gerüche und den Rauch des gesamten Lagers zu uns herüber. Aber der Wind brachte uns auch den Gesang und die Töne von Flöten und Dudelsäcken; ich liebte diese Musik. Das Vergnügen an der Musik vereinte die Quelten, und all die Unterdrückung durch die Erwählten konnte uns diese Freude nicht nehmen. Mein Vater und meine Brüder saßen auf der geschützten Zeltseite auf einem Ochsenfell und sprachen miteinander. Es gab keine Möbel. Wir aßen, schliefen, lebten auf dem Lehmboden. Klein-Mishal saß bei ihnen und tat so, als sei er ein Mann. Er machte meinen Vater nach, schlug sich mit der linken Hand aufs Knie, wenn er lachte, und runzelte die Stirn, wenn es ernst wurde. Mein Vater war ein schöner Mann. Er hatte rotgoldene Haare und einen langen Bart, seine Haare leuchteten im tanzenden
Schatten des Feuers. Er wischte sich häufig mit beiden Händen übers Gesicht und manchmal sah ich, wie es einen sorgenvollen Ausdruck annahm, sodass mir mein Herz schwer wurde. Meine seltsame Liebe zu den Feueriten, die wir aus der Grube holten, konnte er nicht teilen, aber er erzählte uns die großen Geschichten der Quelten aus der Zeit, als die Welt noch voll Wärme war und niemand ohne Feuer erfror, als es weder Gruben noch Erwählte, noch Unterdrückte gab. Meine Brüder lächelten über seine Geschichten und meine Mutter schüttelte den Kopf. Manchmal handelten auch die Lieder unserer Musikanten von solchen Legenden, wir tanzten zu ihren Gesängen, lachten und klatschten in die Hände. Aber meistens waren wir zu müde zum Tanzen. Mein Vater blickte auf, als ich das Zelt betrat, und sein Blick, der halb Ärger, halb Sorge war, traf mich. »Ich habe Gerüchte über dich gehört, Elsha«, sagte er mit der tiefen, ruhigen Stimme, die mir so vertraut war. »Und ich sehe dein Gesicht. Die Leute sagen, du sollst morgen vierunddreißig Flözkörbe aus dem Berg holen. Stimmt das?« Ich verzog das Gesicht zu einem vielsagenden Grinsen und nickte. »Das wird dir das Genick brechen, Kind«, sagte er bleischwer. Ich hockte mich neben meine Mutter ans Feuer und wärmte mir die Finger. Meine Hände zitterten und ich ballte sie zu Fäusten, um das Zittern zu besiegen. Mein Vater seufzte. »Fünf Söhne habe ich, die mir nicht den geringsten Kummer bereiten. Aber du, Elsha, du machst mich verrückt mit deiner aufrührerischen Seele. Warum hast du heute so langsam gearbeitet?« »Weil ich heute sechzehn geworden bin.« »Ach so?«, sagte er. Durch die Flammen hindurch sah ich ihn an und suchte nach den richtigen Worten. »Die Erwählten können mich nicht
vollständig besitzen. Einen Teil von mir habe ich heute für mich selbst behalten, um mich in der Dunkelheit auszuruhen, und um der Freude willen.« »Mein Gott, Elsha!«, rief er aus. »Freude!« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und ich wusste nicht, ob er lachte oder weinte. Dann nahm er die Hände vom Gesicht und sagte leise: »Hilf deiner Mutter, Kind.« Ich nahm ihr die langstielige Gabel aus der Hand und sie schenkte mir ein flüchtiges, erschöpftes Lächeln. Sie war noch keine vierzig Jahre alt, aber ihr Gesicht, früher schön und leuchtend, zeigte tiefe Furchen, in denen sich der schwarze Staub der Grube festgesetzt hatte. Ihre Haare waren grau, ihre Hände zitterten ständig und manchmal, wenn sie ihren Rücken streckte, seufzte sie schwer. Am Maßstab unseres Volkes gemessen war sie alt. Hoffentlich würde sie bald mit den anderen Alten im Lager bleiben dürfen, um auf die Kinder aufzupassen. Sie spürte, wie ich sie ansah, und lächelte. »Was immer morgen geschieht«, flüsterte sie, »den heutigen Tag können sie dir nicht nehmen.« Als ich die Weizenfladen gebraten hatte, machte ich mich daran, aus Kohlrabi, Zwiebeln und verschiedenen anderen Gemüsen einen Salat zubereiten. Ich reichte meinem Vater und meinen Brüdern die Mahlzeit und setzte mich mit meiner Mutter zusammen ein wenig abseits hin, solange sie aßen. Nicht im Traum wäre es mir eingefallen, mit ihnen gemeinsam zu essen, denn das hätte bedeutet, ihre Würde zu kränken. Unsere Männer waren unsere Herren. Sie schliefen auf den weichsten Schlafmatten an den bevorzugten Stellen nah am Feuer, – feines Ziegenhaar und Wolle wurden für ihre Umhänge und Hosen versponnen; sie aßen immer vor den Frauen. Unsere Männer wurden, obwohl sie Quelten waren, doch als Männer angesehen, nur wir, die wir sowohl Frauen als auch Quelten waren, wurden nicht Frauen genannt. Uns
nannten sie Harsha, dieses Wort war von den alten Bezeichnungen der Quelten für Unterdrückung und Erde abgeleitet. Nur die Frauen der Erwählten wurden auch als Frauen bezeichnet, und dieses Wort war ein Ehrenname. Manchmal träumte ich, dass ein großer, gesichtsloser Mann mich mit sanfter Stimme als Frau ansprach. Das war mein schönster, mein verrücktester Traum. Nachdem die Männer gegessen hatten, aßen meine Mutter und ich, was übrig war. Mein Vater überließ meiner Mutter immer die besten Stücke, aber meine Brüder nahmen keine Rücksicht auf mich. Ich denke, dass sie eifersüchtig waren, weil ich die einzige Tochter meines Vaters war und er mich bevorzugte, obwohl ich ihm Kummer und Sorgen bereitete. Alle meine Brüder waren älter als ich, außer Mishal. Nach unserer Mahlzeit holte ich Wasser aus der Regentonne vor dem Zelt, das ich über dem Feuer warm werden ließ, bevor ich unsere Schalen wusch. Meine Brüder breiteten auf dem Lehmboden schon ihre Schlafmatten aus und begannen ihr Spiel mit einem Knochenwürfel. Auch Mishal spielte mit, obwohl er die Regeln nicht richtig durchschaute, und er heulte, wenn er verlor. Ich hatte alle Schalen abgewaschen und hängte mir meinen schweren Umhang um. »Ich gehe noch ein Weilchen raus, weil ich Lesharo sehen möchte.« »Komm aber bald zurück«, mahnte mich meine Mutter mit freundlicher Stimme. »Du wirst deine Kräfte brauchen, morgen.«
3
DIE BERUFUNG
Lesharos Zelt lag nicht weit von unserem entfernt. In manchen Nächten, wenn es im Lager still war und der Wind aus der richtige Richtung wehte, konnte ich hören, wie er Flöte spielte. Zitternd vor Kälte stand ich vor seinem Zelt und rief seinen Namen. Mit Schwung öffnete er die Eingangsplane und stand vor mir, lächelnd, mich begrüßend, sein blindes Auge ein schwarzer Teich in der schattigen Landschaft seines Gesichts. »Willkommen, du, die du Elsha heißt«, sagte er mit seinem stillen Lachen. Er legte seine Hand um meinen Nacken und küsste mich auf die Wange. Sein Gesicht war warm vom Feuer und ich spürte durch die Kapuze, wie kräftig seine Hand war. Er lachte oft und nie habe ich ihn wütend gesehen. Ich glaube, Lesharos Stärke entsprang seiner Lebensfreude. Sie sprudelte wie eine unerschöpfliche Quelle aus ihm und fand ihren Ausdruck in seiner Musik, seiner Stimme, seinem Lächeln und seiner Sanftmut. Vor vielen Jahren war seine gesamte Familie bei einer Explosion in der Grube umgekommen, ich bewunderte ihn dafür, dass selbst das seine Seele nicht hatte zerstören können. Er hob sich ab von den anderen, er war ein Herr unter den Quelten. Er wurde gerufen, wenn es Schwierigkeiten gab oder einen Unfall in der Grube. Er wusste mit den Leuten umzugehen, wusste Zwietracht und Ängste zu besänftigen. Ich schlug die Kapuze zurück, setzte mich neben ihn auf die Erde und stemmte die Spitzen meiner Schafslederstiefel gegen die steinerne Umrandung seiner Feuerstelle. Ich schlürfte den
heißen Minztee, den er mir angeboten hatte. Lange Zeit schwiegen wir beide, aber ich spürte, dass er mich mit seinem einen blauen Auge betrachtete und den Striemen auf meiner Wange sah. »Sehe ich so anders aus, seit ich sechzehn bin?«, fragte ich mit einem Seitenblick zu ihm hin. Es gehörte zu unseren Spielregeln, nicht darüber zu sprechen, wenn einer von uns die Peitsche zu spüren bekommen hatte. Auch das war eine Art, der Macht der Erwählten zu trotzen. Er lächelte breit und sein Auge glitzerte. »Nein. Du siehst nicht anders aus. Nicht viel, jedenfalls. Du bist immer noch Elsha.« Er legte mir einen Arm um die Schultern und rieb sanft meine schmerzenden Muskeln. »Sie werden dich nicht klein kriegen, Löwenherz«, murmelte er. Ich trank den letzten Schluck Tee und stellte die Schale auf die Erde. Es gab ein klapperndes Geräusch und ich erschrak darüber, dass meine Hände so sehr zitterten. Auch Lesharo musste es gesehen haben, aber er sagte nichts. Er massierte einfach weiter meinen Nacken, bis er schließlich seine Hände über den Knien faltete. Ich betrachtete das rußige Braun seines grob gewebten Ärmels, die kräftigen Sehnen seiner Hand, die unter dem ewigen Grau des Feueritstaubs hindurchschimmerten. Seine Fingernägel hatten tiefschwarze Ringe. Ich schaute auf meine eigenen Hände, die trotz Staub blasser als seine waren, schmaler und zittriger. »Morgen muss ich vierunddreißig Körbe aus der Grube holen.« Er schwieg, aber ich sah, wie sich die Muskeln seiner Hände anspannten. »Die Erwählten haben eine Redensart: Ein toter Quelte ist besser als ein Aufrührer.« »Dann ist die Aufruhr ihren Preis nicht wert, finde ich, oder, Löwenherz?«, sagte er leise. Ich konnte nicht zustimmen, erwiderte aber nichts. Ich verfluchte mein Brandmal, ohne das ich hätte fliehen können, ein anderes Leben hätte finden können, in dem ich mich
womöglich gar als eine Erwählte hätte ausgeben können. Lesharo holte die Weidenflöte aus seiner Hemdtasche. Sorgfältig polierte er die Flöte an seinem Ärmel, bevor er leise hineinblies. Verträumt starrte ich in die Glut. Seine Musik erinnerte mich an höher gelegene Orte, an Triumph und Freude. Als er sein Spiel beendet hatte, sagte ich: »Morgen ist der erste Tag des Großen Feuerfestes. Lesharo, hast du dir nie gewünscht, zusammen mit den Erwählten dort zu sein? Hast du dir nie gewünscht, die Pilgerfahrt zu dem heiligen Berg anzutreten? Den Feuermeister zu sehen?« Lesharo lächelte, freundlich und sanft. »Du bist mir vielleicht eine… Spricht so eine Queltin?« Ich wurde rot. »Du hörst dich an wie mein Vater.« Lesharo beugte sich vor und warf ein paar Feueritbrocken in die Glut. Die Flammen leckten daran, dann schossen sie mit goldenem und violettem Licht bis zur Zeltspitze empor. »Dein Vater hat Recht«, sagte er leise. »Du bist nicht wie wir anderen, Elsha. Du hast ein Gespür für den Feuermeister, das uns Quelten nicht ansteht.« Er hatte sanft und liebevoll gesprochen, trotzdem verletzten mich seine Worte. Manchmal packte mich die Verzweiflung wegen meiner Gedanken und Träume, sie brachten mir nichts als Kummer und meiner Familie auch. Aber ohne diese Gedanken und Träume konnte ich nicht leben. Ohne sie zerfiel mein Leben zu Feueritstaub und Dunkelheit. Mit ihnen füllte sich meine Welt mit Hoffnung, und im Zentrum dieser Hoffnung stand der Feuermeister, er war die lebendige Verbindung mit der Wärme. Für die anderen Quelten war er wie ein Gott, unerreichbar, unbegreiflich, zu weit entfernt um ein Teil ihres täglichen Lebens zu sein. Aber für mich war er ein Seelenverwandter. Wenn ich in der stillen Dunkelheit der Grube lag und dem Pulsschlag des Feuerits lauschte, dachte ich an den Feuermeister und fragte mich, ob meine Verbundenheit mit den Steinen, dieses Feuer, diese innere Kraft das war, was
auch er fühlte. Es war ein lästerlicher Gedanke, verrückt und überspannt, und nur Lesharo wusste davon. Er hatte Angst davor. Ich hingegen hatte nie Angst. Jedenfalls nicht des Feuermeisters wegen oder vor der Kraft des Feuerits. Sanft legte Lesharo seine Hand auf meine Wange. »Sieh mich an, Elsha.« Ich wendete mich zu ihm hin. »Besser wäre, deine Augen blickten in dieselbe Richtung«, brummte er und legte mir einen Finger unters Kinn. »Ich könnte wetten, dass du Visionen hast.« »Nur eine.« Er zuckte zurück, als hätte er sich den Finger verbrannt. Dann griff er nach der Flöte und spielte ein kurzes Lied. Auch seine Hände zitterten nun. Ich wunderte mich, dass er, der die Ängste der Leute besänftigen und Streit schlichten konnte, sich von mir aus der Ruhe bringen ließ. Jetzt spielte er eine längere Melodie, während ich näher ans Feuer rückte, den Kopf in die Arme legte und mich forttragen ließ. Als er geendet hatte, stand er auf und nahm einen kleinen Gegenstand aus dem zusammengerollten Teppich am Fußende seiner Schlafstelle. Er setzte sich neben mich und reichte ihn mir. Es war ein Stück Feuerit, aber wunderbar geformt wie eine kleine Frauenfigur mit Kopf und Schultern, Brüsten, Hüften und verschränkten Armen. Nur die Beine waren nicht erkennbar. »Er ist beinah so, wie ich ihn aus der Grube geschlagen habe«, sagte er mit sichtlicher Freude. »Ich habe nur die Linien hervorgehoben und poliert.« »Er ist sehr schön«, sagte ich und fiel ihm um den Hals. »Ich werde ihn an mir tragen.« Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, dicht neben seinem Mund. Unsere Umarmung währte einige Augenblicke, bis sein Gesicht allmählich wieder ernst wurde. Die Flammen legten dunkle Schatten in seine hohlen Wangen und rote Lichtpunkte auf seinen Mund. Er hatte einen
weichen schwarzen Bart und dunkle lange Haare. Sie waren über seinem verrutschten Brandmal mit grauen Fäden durchsetzt, denn er war viel älter als ich. »Du bist mein bester Freund«, sagte ich und küsste ihn noch einmal. »Du bist meine ganze Freude, Lesharo.« Auf seinem Gesicht tauchte der Widerschein eines Gefühls auf, das ich nie zuvor dort gesehen hatte. Wir bewegten uns nicht, aber seine Wärme flutete durch meine Seele und brachte die restliche Welt zum Verschwinden. »Geh nach Hause, Löwenherz«, sagte er mit rauer Stimme. Er legte seine Stirn an meine und streichelte meine Haare. »Geh, deine Mutter wartet sicher auf dich.« »Ich möchte noch ein bisschen bleiben«, flüsterte ich. Er rückte von mir ab und warf ein paar restliche Feuerite in die Glut. »Alles im Lager schläft schon«, sagte er. »Nimm deinen Stein und geh du auch schlafen. Ich treffe dich morgen früh in der Grube und helfe dir, soviel ich kann.« Ich ließ die Steinfigur in mein Kleid gleiten. Der Gürtelstrick würde dafür sorgen, dass sie nicht durchrutschte. Dann zog ich mir die Kapuze über den Kopf und trat an den Zelteingang. Er begleitete mich und wir schauten durch die rauchgeschwängerte Luft zu den Bergen auf der anderen Talseite. In jenen Tagen hatten wir keine Jahreszeiten, es herrschte ständiger Winter. An diesem Tag lag kein Schnee, die kahlen Felsen der Berghänge und Gipfel waren unwirtlich und abweisend. Aber Lesharo und ich konnten mitten in der Nacht nichts davon sehen, wir sahen nur den matten Schimmer der Feuer in den Zelten der anderen, und noch undeutlicher den Schein der Lichter aus den Häusern der Erwählten auf dem Berghang. Die Erwählten bereiteten sich auf ihre Festtage, die Pilgerfahrt vor, wir sahen aus der Ferne das Hin und Her der Fackeln. Sie beluden wahrscheinlich im Dunkeln ihre Esel und Wagen. Fackeln huschten über die gewundenen Wege zwischen den Felsen und die engen Treppen hinauf und hinab.
Gelegentlich leuchtete auch eins der vergoldeten Türmchen auf und der Widerschein der Fackeln erhellte die schmalen, bemalten Türen und die Gänge hinter uraltem Gemäuer. Die meisten Erwählten waren schon abgereist, nur die Familien der Grubenaufseher waren noch da. »Morgen sind alle weg«, sagte Lesharo. »Nur zehn Erwählte werden hier bleiben, um die Arbeit in der Grube zu überwachen.« »Genau der richtige Zeitpunkt für einen Aufstand.« Er atmete hörbar ein und sein Körper versteifte sich. Um uns gegenseitig zu wärmen, standen wir dicht aneinander gedrängt, Lesharo hatte den Arm um meine Taille gelegt. Jetzt ließ er mich los, stellte sich vor mich hin und nahm mein Gesicht in seine Hände. »Diesen Satz habe ich nie gehört. Ich habe gesehen, wie sie Männern für geringere Worte die Zunge aus dem Mund gerissen haben.« »Ich bin aber kein Mann«, trumpfte ich auf. »Ich bin eine Frau.« »Du bist eine Harsha. Eine Harsha mit dem Herzen eines Löwen und einer Seele, die mir Angst einjagt – eine Harsha, die ich liebe. Geh jetzt.« Er küsste mich schnell auf den Mund und schob mich weg. Ich rannte den ganzen Weg zum Zelt meines Vaters, stolperte und lachte in der Dunkelheit, während in mir alles sang vor Freude wegen dieses ersten Kusses, wegen der Lieder, die Lesharo auf der Flöte gespielt hatte, und wegen der wunderbaren Feueritfrau, die mein Geburtstagsgeschenk war.
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, als ich aufwachte. Vorsichtig schälte ich mich aus meinen Fellen, um niemand zu wecken, und warf ein paar Hände voll Feuerit in die Glut des vergangenen Abends. Ich stellte eine Schale mit Wasser in die
rote Glut und hoffte, dass es sich bald erwärmen würde. Für eine richtige Mahlzeit reichte die Zeit nicht, das wusste ich, aber etwas Warmes hatte ich nötig vor diesem langen Arbeitstag. Wir schliefen in unseren Kleidern, deshalb brauchte ich mich nicht anzuziehen. Nur meine wollgefütterten Stiefel und meinen dicken Umhang zog ich an. Draußen empfing mich ein schwarzer Himmel und eine schwarze Erde, der eisige Wind schnitt mir wie ein Messer ins Gesicht. Ich verließ mich auf das Gefühl meiner Füße, wenn es galt, den Weg zu finden. Hinter dem Lager erklomm ich den schmalen steilen Weg und stolperte halb, als ich die feuchte, weiche Erde unseres Gemüsegartens erreicht hatte. Ich ging auf die Knie und ertastete im Dunkeln die Kohlköpfe, die krausen Blätter der Möhren, bis ich die weichen Minzeblätter gefunden hatte. Ich pflückte ein paar davon und ging zurück zum Pfad. Von hier aus konnte ich sehen, wie die ersten Feuer in den Zelten angefacht wurden. Schwerer Rauch wehte mir in die Nase. Ich schaute nach rechts, dorthin, wo die Grube lag, aber ich sah noch kein Flackern der Fackeln. Noch war ich früh dran. Im Grauschwarz der allerersten Dämmerung roch ich an meinen Minzeblättern und plötzlich ergriff mich eine bodenlose Verzweiflung. So mutig ich mich gestern Abend gefühlt hatte, so groß war heute meine Angst. Ich sank auf die gefrorene Erde und schlug die Hände vors Gesicht. Warum, warum war ich nicht wie alle anderen Quelten? Warum nur hatte ich dieses brennende Feuer in mir, diesen aufrührerischen Geist? Das würde mein Tod sein, ich wusste es. Langsam, ganz allmählich, aber unausweichlich wie Wasser, das seinen Weg findet oder wie Rauch, der durch die Ritzen dringt, wurde mir eine fremde Nähe um mich herum bewusst. Ich hob den Kopf und lauschte mit angespannten Sinnen in den Morgen. Es war ein Vibrieren, das Gefühl einer endlos tiefen Stimme,
dieselbe, die ich tief im Inneren der Grube hörte, wenn Stille war. Die Stimme des Feuerits. Ich legte mich auf den Rücken, auf die eiskalte Erde, und schaute in die Weiten des schwarzen Himmels. Schwarz, aber lebendig. Wilde Gedanken an die Geschichten über einen mächtigen Gott beflügelten mich, einen Gott aus alten Zeiten. War es dieser Gott, den ich spürte? Ich wollte sprechen – ich wollte ihm mein ganzes Leben entgegenschreien –, aber ich fand keine Worte. Wie sollte ich, der es verboten war, mit den Erwählten zu sprechen, zu einem Gott sprechen? »Bist du da?«, flüsterte ich bebend und spähte in das leere Dunkel. »Du bist schwach! Ohnmächtig! Wenn es dich gäbe, würdest du dich jetzt zeigen. Sie sagen, dass du die Berge geschaffen hast. Dass die ganze Welt auf dein Wort hin entstanden ist. Tu etwas, wenn es dich gibt. Rette mich aus der Grube an diesem schrecklichen Tag!« Aber die Dunkelheit blieb ein einziges ungerührtes Schweigen. Ich spürte, dass ich geweint hatte, die Tränen gefroren auf meinen Wangen zu Eis. Ich stand auf, zitternd vor Wut und Kälte. Also, jetzt hatte ich Gott herausgefordert. Das Gefühl befriedigte mich, es erfüllte mich mit einer wilden, kalten Genugtuung. Laut sagte ich zu dem gottverlassenen Himmel: »Falls du mich hörst, ich bin die Frau Elsha, die zu dir spricht.« Ich lächelte höhnisch und machte mich auf den Weg zurück zum Lager. Da! Eine Bewegung in der Dunkelheit hinter mir, ein Knirschen, wie von einem Fuß, der auf einen Stein trifft. Ich zögerte, blieb stehen. Es gab Wölfe in den Bergen, ich hatte sogar von Berglöwen erzählen hören. Langsam wendete ich mich um. Jenseits des Gartens stand ein Mann. Er hielt eine flackernde Fackel in der Hand, und dort, wo der Fackelschein hinfiel, sah ich, dass seine Kleider leuchtend blau waren. Die lange Tunika reichte bis zu seinen
Knien, darunter trug er eine Hose aus demselben feinen Stoff, dazu eine breite Schärpe und hohe, bemalte Stiefel. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, es lag im Schatten der bläulichen Flamme, aber seine Haare waren wie ein goldener Wasserfall, der sich über seine Schultern ergoss. »Frau?«, rief er. Mein Herz machte einen Sprung und die Knie wurden mir weich. Ich sah mich um. Ich war allein. Er hatte mich angesprochen. Mich. Frau. »Gott«, sagte ich und warf mich auf die Erde. Ich konnte das Zittern nicht bemeistern, in meinem Kopf wirbelte es und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. »Komm her, Frau«, sagte er. In einem entrückten Taumel richtete ich mich auf und ging langsam zwischen den Kohlköpfen und Rüben hindurch, über Steine und gefrorene Erde zu ihm hin. Schließlich stand ich vor ihm, er hielt mir die Fackel entgegen und beleuchtete mein Gesicht. So dunkel es war, sah ich doch, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. »Du bist eine Queltin!«, schrie er auf, ebenso erstaunt wie entsetzt über mein Brandzeichen. Ich schaute in seine glänzenden Augen, taubenblau im Licht der Fackel, und begann zu schluchzen. »Mein Herr«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Ich habe gelogen. Ich wusste nicht, dass Ihr zuhört. Mein Name ist Elsha, ich bin eine Harsha. Es tut mir Leid.« Er lächelte flüchtig. »Das muss eine Verwechslung sein. Ich suche nach einer Frau.« Ich beugte den Kopf. Nie hatte meine Seele so schnell einen so weiten Weg zurückgelegt, ein Sturz vom Himmel in die unterste Hölle. Aber er betrachtete mich weiter. Das einzige Geräusch in dieser dunklen Stille war das Flackern seiner Fackel und das Singen des Windes in den Gipfeln der Berge.
»Ich wurde ausgesandt, eine Frau zu finden«, sagte er leise, »und ich finde dich. Hast du eine Erklärung dafür?« »Ich weiß es nicht, Herr.« Meine Stimme klang dünn. Als ich die Weizenhalme an meinem Umhang rascheln hörte, fiel mir ein, was mir bevorstand, an diesem Tag und an diesem Ort und den Rest meines Lebens. Ich blickte den Weg entlang zur Grube hinüber. Eine einzelne Fackel bewegte sich auf die Grube zu und ich wusste, dass es der Aufseher war. Mir wurde unendlich schwer ums Herz. »Ich muss gehen, Herr. Ich muss heute arbeiten«, murmelte ich und versuchte mich rückwärts stolpernd zu entfernen. »Frau – Harsha!« Er tat einen Schritt auf mich zu und sein Gesicht war voll widersprüchlicher Gefühle. »Harsha, ich muss mit dir sprechen!« Ich konnte nicht anders, als zur Grube hinüberzublicken. »Bist du allein an diesem Ort? Antworte mir, es ist von größter Wichtigkeit.« Ich riss meinen Blick los von der wandernden Fackel auf dem Weg zur Grube. »Ich bin allein hier.« »Gibt es Frauen der Erwählten, die hierher kommen?« »Hierher, Herr? Zu unseren Kohlköpfen?« Schon der Gedanke war lachhaft. Wieder lächelte er. Sein Gesicht war sehr schön. »Ja, hierher zu diesem Fleck Erde zwischen den Kohlköpfen.« Ich lächelte zurück, trotz meiner Ergriffenheit und Furcht. »Nein, Herr, nie ist eine Frau der Erwählten hierher gekommen. Und gewöhnlich kommen auch wir Harshas so früh am Tage nicht hierher.« »Und warum bist du hier?« »Weil ich heute früher in der Grube arbeiten muss, Herr. Zum Ausgleich für die Lasten, die ich gestern nicht aus der Grube geholt habe. Der Aufseher wartet schon. Bitte, ich muss jetzt gehen. Diese Verzögerung wird mir den Tod bringen.«
»Nein! Bleib.« Er kam ein paar Schritte näher und brachte die Fackel an mein Gesicht. Ich sah, dass sein Mantel über und über mit kleinen leckenden Flammen bestickt war. An einer langen Kette trug er ein ovales Medaillon, in das ein menschliches Auge eingraviert war, in dessen Mitte eine Flamme stand. Ich blickte in sein Gesicht. Es war im Schein der Fackel wie gemeißelt, würdig und mächtig. Seine Augen waren groß und verständnisvoll und von einem tiefen, seltsamen Blau, sein Mund war fein geschwungen und voller Kraft. Er trug einen goldenen Bart, der zu einer Spitze auslief, und er hätte Furcht einflößend gewirkt, wäre da nicht das Lächeln um seine Augen gewesen. Er wich meinem Blick nicht aus, sondern schaute mir geradewegs in die Augen, sah meinen zitternden Mund und mein Brandmal. »Ich bin Amasai«, sagte er. »Oberster Diener des Feuermeisters. Ich weiß, dass die Sitte gebietet, dir nicht in die Augen zu sehen, Harsha. Aber heute ist die Sitte außer Kraft gesetzt worden von einer größeren Macht, als ich es bin. Außerdem wäre es eine Sünde gewesen, hätte ich ein so schönes Gesicht wie deins nicht gewürdigt.« Ich wurde rot. Dann begriff ich plötzlich die wahren Verhältnisse und musste beinah lachen vor Erleichterung über meine eigene Dummheit. »Ich dachte, Ihr seid Gott.« Er lächelte noch breiter. »So hoch stehe ich wahrhaftig nicht, Harsha. Auch wenn mein Herr und Meister sehr hoch steht. Du wirst mich zu ihm begleiten.« Er drehte sich um und begann zu gehen, nicht in Richtung des Lagers, sondern zu den Bergen, weg von Siranjaro. Ein plötzlicher Schrecken ergriff mich. »Herr!«, schrie ich. »Ich kann Euch nicht folgen! Ich muss in der Grube arbeiten! Der Tag bricht schon beinah an! Und außerdem – meine Eltern, Lesharo!«
Er drehte sich um, aber das Lächeln war verschwunden, ein unerbittlicher Ausdruck, der keinen Widerspruch duldete, lag auf seinem Gesicht. »Deine Tage in der Grube sind vorbei. Du wohnst nicht mehr in Siranjaro. Nicht ich gebiete dir, mir zu folgen, Elsha, Tochter der Quelten, es ist der Feuermeister. Er ist es, der dich zu sich befiehlt.« Ich starrte ihn an, ohne zu begreifen. Er kam zurück zu mir, nahm die Kette mit dem Medaillon und hängte sie mir um den Hals. »Das ist sein Zeichen«, erklärte er ernst. Er schaute mich an, als wisse er nicht, was er als Nächstes tun solle. Auch ich war keiner Regung fähig, außer ihm ins Gesicht zu starren, was verboten war. Wir brachen beide die Gesetze. »Ich denke, ich sollte erklären…«, begann er und strich sich durchs Haar. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Fackel aufflackern und ich sah, dass er ebenso erschrocken und verwirrt war wie ich. Er holte Atem, dann sagte er: »Es ist jetzt drei Tage her, dass mein Herr und Meister mir folgenden Befehl erteilte. Ich solle an einen Ort gehen, der Siranjaro heißt. Am Tag der großen Feierlichkeiten soll ich eine Stunde vor Morgengrauen in einen Garten hinter dem Lager der Quelten von Siranjaro gehen. Dort soll ich warten, sagte er, bis eine Frau käme. Diese Frau sei dazu bestimmt, seine Leibdienerin zu werden. All das sagte er mir, und es ist genau so eingetroffen, wie er es mir vorausgesagt hat. Die Stunde vor dem Morgengrauen, dieser Garten hier, und du – die Frau. Im Namen des Feuermeisters gebiete ich dir, Elsha von den Quelten, mit mir zu kommen um die Leibdienerin des Feuermeisters zu werden.« Er brach ab, dann fügte er in einem weicheren Ton hinzu: »Ich begreife noch nicht, warum die Wahl auf dich gefallen ist. Er hat seine Leibdienerinnen immer unter den höchstgeborenen Töchtern der Erwählten gewählt. Vielleicht besitzt er ein besonderes Wissen über dich, das den Verstand eines gewöhnlichen Mannes übersteigt. Es ist nicht an uns,
Fragen zu stellen, sondern zu gehorchen.« Er wandte sich um und ging voraus, wobei er die Fackel seitwärts hielt, sodass ihr Licht auch meinen Weg beleuchtete. Also folgte ich ihm. Hinauf zum Bergkamm über unserem Lager, fort von Siranjaro, von der Grube, meinem Zuhause, meiner Familie, fort von Lesharo. Und noch etwas sagte dieser merkwürdige Mann zu mir: »Schau nicht zurück, Elsha von den Quelten.«
4
UNTERWEGS MIT AMASAI
Drei Tage lang reiste ich gemeinsam mit Amasai, dem obersten Diener des Feuermeisters. Wir reisten zu Fuß, obwohl unmittelbar außerhalb von Siranjaro ein Maultier auf uns wartete, das mit farbenprächtigen Taschen beladen war. Zum ersten Mal im Leben befand ich mich jenseits der Grenzen von Siranjaro, sah die unwirtliche Bergwelt, wo sich Gipfel über Gipfel türmt, steinig, verlassen und schön. Oft sahen wir Schnee auf den einsamen Bergspitzen, beinah weiß gegen den verrußten Himmel. Wir gingen unter riesigen Felsvorsprüngen hindurch, bewegten uns auf schmalen Pfaden an Abgründen entlang, wo nur ein Schritt neben uns die Welt im Nebel versank, krabbelten wie Ameisen über steile Pässe, wo ein eisiger Wind uns zu vertreiben suchte und hoch über uns die Adler kreisten. Einmal sahen wir tief unter uns auf der windgepeitschten Ebene ein Rudel Wölfe, die ein Reh jagten, – ein anderes Mal überraschten wir im Gebirge eine Schneeziegenherde, die vor unseren Augen wie von Flügeln getragen zwischen den nackten Felsen verschwanden. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, welche Tiere das waren, aber ich ließ mir alles erklären. Obwohl wir durch verlassene Gegenden zogen, waren unsere Wege sämtlich gekennzeichnet. Meistens lagen runde Steine zu beiden Seiten des Pfads, manchmal waren sie mit seltsamen Inschriften versehen, die ich nicht entziffern konnte. An gewissen Stellen lagen so viele dieser runden Steine, dass sie an beiden Wegkanten regelrechte Wälle bildeten, die uns vor
den bitterkalten Winden beschirmten. Ich fragte den Mann nach den Inschriften. »Das sind Gebete für die Reisenden«, erklärte er. »Der Weg durchs Gebirge ist gefährlich, die beschrifteten Steine beschützen uns. Jedes Mal, wenn unser Schatten über eins der Gebete gleitet, ist es, als sprächen wir sie. Gott sieht und hört uns.« »Aber wer hat die Steine hierher gebracht, Herr?« »Hunderte Reisende, im Laufe der Zeit.« Wenn der Wind nachließ und unser Weg durch die Ebene führte, betrachtete ich diese Wildnis, wie sie in all ihrer Verlassenheit, aschgrau oder fahlweiß im Nebel, vor uns lag. Das gewaltige Ausmaß dieser Eiswüsten erschreckte mich, gleichzeitig erschien es mir seltsam tröstlich. Sie gaben mir Raum für meine Gedanken, ihre Kälte atmete Reinheit. Ohne dies hätte ich das Durcheinander der Stadt, in die wir kommen sollten, nicht ertragen. Ich brauchte diesen Frieden und genoss es, den ganzen Tag draußen und im Gebirge zu verbringen. Es war eine Freude, aufrecht und frei gehen zu dürfen, ohne Lasten auf dem Rücken zu schleppen, – eine Freude, während des ganzen Weges das milchige Tageslicht zu sehen, – eine Freude, diese Tage in Gesellschaft eines Erwählten zu verbringen und zu wissen, dass ihm der Anblick meines Gesichts gefiel. Wir standen in einem merkwürdigen Verhältnis zueinander. Manchmal beinah gleichgestellt, beide im Dienst des einen hohen Herren; dann wieder schien ein Abgrund zwischen uns zu klaffen, weil er zu den Erwählten gehörte und ich eine Queltin war. Für ihn muss diese Lage noch schwieriger gewesen sein. Ich glaube, er hatte nie zuvor mit einer Harsha gesprochen und schon gar nicht in Gesellschaft einer Harsha gegessen, geschlafen und seine Tage verbracht. Manchmal schien er den Abgrund zwischen uns zu vergessen, dann sah er mir ins Gesicht und lächelte, während ich ihm antwortete. So
zum Beispiel, wenn er mir zeigte, wie man Feuer mit merkwürdigen Flintsteinen entfachte oder wie ich aus fremdartigen Zutaten seine Mahlzeiten zubereiten sollte. Zu anderen Gelegenheiten konnte er befangen und unzugänglich erscheinen, als trüge er einen inneren Kampf mit sich selbst aus. Dann sah er in der Art der Erwählten an mir vorbei und gab mir Anweisungen, die eine Antwort überflüssig machten. Auch in mir tobte ein innerer Kampf und schuf Verwirrung, denn meine Gefühle reichten von übermütiger Freude bis hin zu tiefster Verzweiflung. Manchmal konnte ich deshalb nicht mehr klar denken und versagte bei den einfachsten Aufgaben. In solchen Fällen muss er sich gefragt haben, ob er nicht einen unsäglich dummen Fehler gemacht hatte, mich mitzunehmen. Diese Frage stellte ich mir auch immer wieder. Dennoch verlor er nie die Geduld mit mir, selten war er barsch oder kurz angebunden. Er war in jeder Hinsicht anders als die Erwählten, denen unsere Grube gehörte. Am Ende des zweiten Tages kamen wir zu einer kleinen Höhle hoch in den Bergen. Der Eingang verbarg sich unter einem überhängenden Felsen, aber sonst ähnelte sie der Höhle, in der wir die vorangegangene Nacht verbracht hatten. Es gab viele dieser Höhlen, erklärte mir Amasai, auch der Feuermeister nutzte sie auf seinen Reisen. Er sei immer auf Reisen. Manchmal seien weite Wege zurückzulegen um an jene Orte zu gelangen, wo das Feuerit ausgegangen war. An solchen Orten musste der Feuermeister in den umliegenden Bergen die Leben spendenden Feueritvorkommen ausfindig machen. Während seiner Aufenthalte in den Städten war der Feuermeister Gast in den vornehmsten Häusern der Erwählten, aber hier draußen in der Einöde hatte er seine eigenen Zufluchtsorte. »Es gehört zu meinen Aufgaben, Elsha, zweimal im Jahr mit einem schwer beladenen Handwagen die Wege zu bereisen und die Vorräte in den Höhlen zu erneuern.« Amasai deutete
mit einer ausladenden Handbewegung auf die in die Wände gehauenen Ablagen, wo Decken, Kleider, Flintsteine, Kochgerät, getrocknetes Fleisch und Gemüse aufgestapelt lagen. Auch Wasserkrüge gab es. Auf dem Boden im hinteren Teil der Höhle standen mehrere Körbe mit Feuerit bereit. »Er reist mit seinem Esel und mit seiner Leibdienerin«, berichtete Amasai weiter, während er den Zunder in der Feuerstelle aufschichtete. »Er führt saubere Kleider, frisches Gemüse, Wein und alles, was er braucht, um das Feuerit aufzuspüren, in seinem Gepäck mit, aber vieles, was er während seiner Reisen außerdem benötigt, liegt in den Höhlen für ihn bereit.« Ich reichte ihm einen Flintstein und sah zu, wie er das Feuer entzündete. Er hatte schöne Hände mit glatter, heller Haut und sie waren unglaublich sauber. Ich verbarg meine eigenen schwarz gefurchten Finger in den zerrissenen Ärmeln. »Und niemand stiehlt diese Vorräte?« Durch den in Kringeln aufsteigenden Rauch lächelte er mich an: »Du brauchst nur nach draußen zu sehen, Elsha!« Ich tat, was er mir geraten hatte, und duckte mich unter dem niedrigen Eingang hindurch. In der diesigen Abenddämmerung war alles von einer dünnen Eisschicht überzogen. Auf dem Felsen vor mir sah ich tief in den Stein eingeschnitten die Form eines menschlichen Auges, in dessen Mitte das Zeichen der Flamme stand. Meine Hand tastete nach dem Medaillon auf meiner Brust. Verwundert ging ich zurück in die Höhle. »Das Zeichen hält alle außer dem Feuermeister und mir davon ab, die Höhle zu betreten«, sagte Amasai. Dicht nebeneinander hockten wir am Feuer und streckten unsere Hände in die Wärme. Er sah mir von der Seite ins Gesicht und ließ seinen Blick lang auf mir ruhen. Unter diesem Blick fühlte ich mich klein und verletzlich und mir war mehr denn je bewusst, dass dies hier seine Welt war und ich eine Fremde.
»Das Zeichen des Feuermeisters ist heilig, Elsha. Keine lebende Seele kann daran vorbeigehen, ohne dass er es wüsste. Und keiner kann Hand an dich legen, solange du sein Zeichen trägst. Aber ohne dieses Zeichen bist du schutzlos, Elsha, verstehst du das?« Ich nickte. »Du hast noch viel zu lernen«, sagte er leichthin. »Heute Abend sollst du lernen, wie man Hezzin, unser getrocknetes Ochsenfleisch, zubereitet. Du bist doch nicht zu müde? Nachdem du den ganzen Tag lang gewandert bist.« »Ich bin nicht müde, Herr.« Ich wagte ein kleines Lächeln, in das sich Stolz mischte. »Ich könnte zwanzig Tage am Stück wandern und es würde noch nicht die Qualen eines einzigen Tages in der Grube von Siranjaro aufwiegen.« Erstaunt sah er mich an und zog die eine Augenbraue hoch. »Er hat dich also deiner Kraft wegen ausgewählt, Elsha von den Quelten.« Ich wurde rot und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum er mich ausgewählt hat, Herr.« Er verzog den Mund zu einem Lächeln und ging hinaus, um das Gepäck vom Maultier abzuladen.
Nach seinen Anweisungen wusch ich mir Hände, Gesicht und Arme, ehe ich das Essen zubereitete. Dann saß ich am Höhleneingang, während er aß. Ich sah zu, wie die Nacht sich über die Erde senkte, und spürte den Abendwind wie einen Eishauch in meinem Gesicht. Der Striemen von der Peitsche tat noch immer weh. Ich tastete nach der Steinfigur in meinen Kleid. Schwarz auf meiner Handfläche, hob sie sich kaum von der Nacht ab, aber ich spürte ihre Feueritkraft. Sie war alles, was ich noch von zu Hause hatte, von Siranjaro und von ihm. Ich hob sie ans Gesicht, spürte ihre glatte Oberfläche an meiner Haut und schluchzte. Ich gab mir Mühe leise zu weinen, damit der Mann in der Höhle mich nicht hörte. Aber er
kam heraus, hockte sich im kalten Nachtschatten neben mich und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Komm herein ans Feuer, Elsha«, sagte er leise. »Komm und iss. Ich bin fertig.« Mit Tränen in den Augen folgte ich ihm in die Höhle und setzte mich ans Feuer. Ich weinte noch immer und presste den Feuerit in meiner Hand. Kein Mann außer Lesharo hatte mich je weinen sehen. Ich schämte mich, ich war wütend auf mich selbst. Amasai sagte nichts, aber nach einer Weile stand er auf und brachte mir eine Schüssel vom Fleischtopf. Ich legte die Frauenfigur auf den Boden und nahm die Schüssel an, obwohl ich jetzt keinen Hunger mehr hatte und mein Magen sich verkrampfte. Er wartete neben mir hockend, wie Lesharo, die Ellbogen auf den Knien und die Hände ausgestreckt und gefaltet. Nur waren die Ärmel dieses Mannes leuchtend blau mit einem goldenen Saum, seine Hände waren weiß, schön und sauber. Und er gab mir nicht die Kraft, die Lesharo mir gab. Dieser Mann machte, dass alle Kraft aus mir herausfloss. Ich beugte den Kopf über die Schale und aß mit meinem beinernen Löffel ein paar Happen vom Essen. Ich zwang mich zum Essen. Als ich Amasai wieder ansah, drehte er meinen Frauenstein in der Hand. Es gefiel mir nicht, dass er ihn berührte, aber ich schwieg. »War das ein Geschenk?«, fragte er mich mit einem Lächeln. Mittlerweile sahen wir einander an, als gäbe es keine Gesetze, die solchen Umgang zwischen Quelten und Erwählten verboten. »Ja, Herr.« »Von deinem Mann?« »Nein, Herr. Die Erwählten hatten mir noch keinen Mann zugewiesen. Ich habe die Figur von einem Freund.« Amasai bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick, als hätten meine Worte ihn traurig gemacht. »Dann wirst du nie erfahren, wie es mit einem Mann ist, Elsha.« Verwirrt starrte ich ins Feuer und mein Gesicht wurde heiß. Ich litt, wenn er Dinge
sagte, die ich nicht verstand. Die Sprache der Erwählten war dem Dialekt der Quelten sehr ähnlich, aber manchmal benutzten sie Wörter, die uns fremd waren. Er musste meine Verwirrung gespürt haben, denn er wandte schnell den Blick ab und seufzte. Aber er erklärte nichts. Die Frauenfigur drehte sich in seiner Hand, immer wieder und in alle Richtungen, sanft strich er mit dem Daumennagel über die Rundungen. Ich beugte den Kopf tiefer über mein Essen und zwang mich, den Rest aufzulöffeln. Er erhob sich und rollte auf der anderen Seite des Feuers seine edle Schlafmatte aus, legte sich hin und begann in einer kleinen Buchrolle zu lesen. Über die dampfende Schale hinweg sah ich ihm zu, und gleichzeitig lauschte ich dem Heulen der wilden Tiere im Tal. Ich dachte an die geräuschlosen Schatten der Wölfe und fürchtete mich. Falls der Mann sie überhaupt hörte, so ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. Nach einiger Zeit sah er mich durch den Rauch des Feuers hindurch an und lächelte. »Kannst du lesen, Elsha?« »Nein, Herr. Aber ich kann das Zeichen meiner Familie erkennen. Tagtäglich müssen wir dem Aufseher in der Grube unser Familienzeichen zeigen, und daneben macht er für jeden Tageskorb, den wir bringen, einen Strich. Dieses Zeichen kann ich lesen.« Er zog ein kleines Messer aus der Scheide an seinem Gürtel und reichte es mir. »Kannst du mir euer Zeichen in die Wand ritzen?« Das war nicht schwer: ein Kreis für das Gesicht des Löwen, dann die Wellenlinien, die ringsherum von dem Kreis ausgingen, seine Mähne. Ich reinigte das Messer an meinem Kleid und reichte es ihm zurück, aber er merkte es kaum, weil sein Blick noch immer am Zeichen unserer Familie hing. Sein
Gesicht hatte einen merkwürdig versunkenen Ausdruck. »Bist du sicher, Elsha, dass es einen Löwen darstellt?« »Natürlich, Herr. Dies ist seit vielen Generationen das Zeichen meiner Familie. Auf der Außenseite vom Zelt meines Vaters ist es aufgemalt, und auch auf unseren Schalen, es findet sich auf all unseren bescheidenen Besitztümern.« Ein schwaches Lächeln war seine Antwort. »Für die Erwählten hat dieses Zeichen die Bedeutung von Umsturz.« Er nahm sein Messer und versenkte es in der Scheide; er gab mir keine weiteren Erklärungen. Aber sein Blick ruhte auf meinem Gesicht, während er selbst tief in Gedanken versunken war. Ich nahm die Schale wieder auf und aß weiter. »Die Erwählten denken, dass ihr Quelten nicht einmal sprechen könnt. Sie glauben, ihr habt keinen Verstand, keine Seele.« Ich kaute und schwieg. »Aber du besitzt einen Verstand«, sagte er leise, und seine merkwürdig violetten Augen leuchteten auf. »Sag mir, Elsha von den Quelten, was ist in deiner Seele?« Ich zögerte einen Augenblick. Dann sagte ich: »Feuer.« Er rollte sein Buch zusammen und legte es ans Kopfende seiner Schlafmatte. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Jetzt saßen wir einander zu beiden Seiten des Feuers gegenüber und sahen einander an. Unser beider Gesichter waren vom Feuer beleuchtet, aber ich wünschte mir, mein Gesicht läge im Schatten. Die schweigende Anerkennung, die er mir zollte, schmeckte mir nicht, er gab mir ein Gefühl, als habe er meine ganze Seele vermessen. Den letzten Rest des Essens hob ich mir für den kommenden Morgen auf, ich stand auf und wärmte Wasser, um unsere Schalen abzuwaschen. Er verfolgte jede meiner Bewegungen mit seinen Blicken. Eine halbe Ewigkeit später war ich endlich fertig, konnte mich hinsetzen und meine Feueritfigur nehmen, ich tat, als ob ich sie mit dem Ärmel
polierte. Noch immer verfolgten seine Blicke jede meiner Bewegungen. »Feuer, sagst du«, setzte er das Gespräch fort, als sei nicht mehr als ein Augenblick vergangen. »Und was noch, Elsha?« Ich blickte ihm gerade ins Gesicht. »Was in mir selbst ist, gehört nur mir, Herr.« »Nicht mehr, Elsha«, sagte er sanft. »Nicht mehr. Von jetzt an gehörst du dem Feuermeister. Sag mir, Elsha, was ist in dir außer dem Feuer?« »Liebe«, sagte ich und senkte meinen Blick auf die Feueritfrau in meiner Hand. »Liebe zu unseren Mythen und Legenden, zu Musik und Gesang, zu der Kraft des Feuerits und zu den Träumen.« Er lehnte sich vor und machte ein ernstes Gesicht. »Ah, ich verstehe, die Kraft des Feuerits und Träume. Das waren die Worte, die mir der Feuermeister gesagt hat. Und von Legenden hast du gesprochen, Elsha, welche Legenden hat dein Volk?« Ich hob den Kopf. »Unsere Legenden erzählen von einer Welt voll Licht, von einer Warmzeit. Sie berichten von einem riesigen Himmelskörper hoch über der Erde, der Wärme, Licht und Leben spendete, sodass wir die vielen kleinen Feuer nicht nötig hatten. Wir brauchten kein Feuerit, keine Gruben, keine Sklaven. In jenen Tagen waren alle Erwählte. Wir Quelten waren Herren und Frauen. Wir wohnten in großen Häusern mit ausgedehnten Gärten hoch in den Bergen, vom glänzenden Licht dieses Himmelskörpers beschienen; in unseren Gärten wuchsen Bäume, die köstliche Früchte trugen und farbenprächtige Blumen. Unsere Kinder konnten unbekleidet in den Gärten spielen, ohne zu frieren. Denn das Licht war warm.« Er saß noch immer vorgebeugt und sein Blick haftete gespannt an meinem Mund. »Was hat die Welt so verändert, Elsha, dass sie kalt und unwirtlich wurde?«
»Die Menschen waren böse, Herr, und Gott bereute, sie geschaffen zu haben. Deshalb schickte er den Tod vom Himmel herab, der die Erde erschütterte und mit geballter Faust das Land zerschmetterte, sodass der Staub den Himmel verdunkelte und über alle Kreatur herabregnete. Das Licht verbarg sich in der Finsternis und die Kälte kam.« Ich wurde rot, weil ich plötzlich merkte, mit welchem Ernst ich ihm von bloßen Phantasien erzählte. »So lauten die alten Legenden, Herr. Mein Vater hat sie mir erzählt und unsere Lieder singen davon.« Amasai schwieg. Er stand auf und warf ein paar Feueritbrocken in die Glut. Funken stieben auf, die Flammen züngelten und ich fürchtete, ihn geärgert zu haben. Um ihn versöhnlicher zu stimmen, fragte ich: »Habt ihr Legenden, Herr?« Er setzte sich wieder hin, nahm sein Buch und entrollte es. Er begann zu lesen und ich glaubte schon, er hätte mich vergessen, als er sich räusperte: »Dies sind die Worte eines unserer großen Propheten, Tharan: Als das Zeitalter der neuen Welt begann, fand man auf der Erde ein Volk, das aus der alten Welt übrig geblieben war. Die Menschen aus diesem Volk lebten in der Erde verborgen, sie besaßen weder Vernunft noch Seele und ihre Herzen waren trocken wie die Erde, der sie entstammten. Und Gott sah die Menschen dieses Volkes und sah, dass sie böse waren, und er nannte sie die Quelten. Und dann betrachtete Gott den Rest seiner Geschöpfe und sah die große Kälte, unter der sie litten. Er schuf ein neues Volk, das gut und weise war und dazu ausersehen, die Welt zu retten. Er nannte dieses neue Volk die Erwählten und schenkte ihnen Klugheit und Weitsicht, ihnen allein war es vorbehalten, die Wahrheit zu erkennen. Und Gott gab ihnen die Vorherrschaft über die Tiere der Luft und die Tiere der Erde, über die Quelten und über das Geheimnis des in der Erde verborgenen Feuers.
Deshalb sollen die Erwählten über die Welt herrschen bis ans Ende der Tage.« Ich starrte in die Flammen und wagte nicht, den Mund aufzumachen. »Es entstammt unseren heiligen Schriften«, sagte er. »Was meinst du dazu, Elsha?« Die Versuchung war ungeheuer groß, aber ich schwieg. Er lachte leise, rollte sein Buch ein und warf es auf den Haufen mit seinen Sachen hinten in der Höhle. »Nur zu, Elsha! Ich weiß, dass dir die Worte auf der Zunge brennen. Spuck sie aus!« Ich sah ihm geradewegs in die Augen und sagte: »Euer Prophet ist ein Lügner.« Das Lächeln erstarb auf seinem Gesicht. Trotzdem wich ich seinem Blick nicht aus, obwohl meine Handflächen schwitzten und mein Herz raste. Langsam kehrte sein Lächeln zurück, und ich hätte schwören mögen, dass in seinem Gesichtsausdruck beinah etwas von Bewunderung lag. »Gott helfe uns«, lachte er auf. »Ich habe uns einen Feuersturm eingefangen.« Ein eisiger Windstoß fuhr in die Höhle und ließ die Flammen tanzen. Ich schauderte und duckte mich tiefer in meine Kleider. Amasai stand auf und brachte aus dem Seitenfach seiner kardinalroten Reisetasche eine Lederflasche zum Vorschein. Am Feuer entkorkte er sie und trank ein paar Schlucke. Dann kam er auf meine Seite, setzte sich so dicht wie möglich neben mich ans Feuer und bot mir die Flasche an. »Das ist der beste Wein weit und breit«, erklärte er. »Er wird dich von innen wärmen wie ein Feuer.« Ich nahm die Flasche, warf ihm einen fragenden Blick zu und trank. Schließlich entriss er mir die Flasche, sodass mir ein paar Tropfen der dunkelroten Flüssigkeit über die Wangen liefen. »Du lieber Himmel, Elsha! Einen Schluck oder zwei, meinte ich!«, rief er aus. »Hast du noch nie getrunken?«
»Doch, oft«, sagte ich. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Wange ab und leckte von dort die Reste des köstlichen Getränks ab. »Allerdings nur Wasser.« Er verkorkte die Flasche sorgfältig und wischte den Hals mit einem Tuch ab. Dann legte er sie zurück an ihren besonderen Platz in seiner Tasche. Das Feuer flackerte und der Tanz der Flammen war mir noch nie so schön vorgekommen. Eine glühende Wärme breitete sich in mir aus, ein wohliges Gefühl durchströmte mich und die ganze Welt kam mir wie vergoldet vor. Ich schaute in die Flammen, wo ich herrliche Bilder fand, und hätte weinen mögen vor Freude. Amasai schien völlig ungerührt von dem Wunder, das sich vor meinen Augen vollzog, er breitete Felle über seine Schlafmatte, legte sich darunter und schloss die Augen. Ich jedoch sang vor Freude, auch wenn ich nicht weiß, ob ich laut oder nur in meinem Inneren jubelte. Nach einer Weile öffnete Amasai ein Auge und fragte mit einem halben Lächeln: »Wirst du heute Nacht schlafen, Elsha?« »Die Nacht ist zu schön zum Schlafen«, war meine Antwort, glaube ich. Er stand auf, legte meine Schlafmatte zurecht und breitete meine Felle darüber aus. Meine Felle. Noch gestern Nacht waren mir die weichen Felle wie ein unermesslicher Luxus erschienen, heute Nacht waren sie – weich und warm – ein reiner Genuss. Heute Nacht zog ich alle meine Kleider aus und legte mich nackt zwischen die Felle, und ein Wonnegefühl gab meiner Seele Flügel. Ich hatte einen Traum, in dem ich an einem Feuer tanzte, nackt und von den Flammen beleuchtet, und ein Fell lag um meine Schultern. Ich hoffe, dass es wirklich nur ein Traum war.
5
MEINE SELTSAME PHILOSOPHIE
Unter uns lag die Stadt ausgebreitet – staubig, laut, geschäftig, ein wildes Durcheinander von Menschen und Tieren. Steinerne Hütten lagen dicht gedrängt um einen Marktplatz mit Ständen und Tischen, wo vielerlei Waren zum Kauf angeboten waren, und darüber erhob sich in einiger Entfernung ein Hügel mit den herrschaftlichen Häusern der Reichen. »Das ist Jinnah, unsere wichtigste Handelsstadt«, sagte Amasai, während er die Gurte und Packseile unseres Maulesels nachzog. »Hier treffen alle Wege aus den Bergen zusammen, die Stadt ist ihr Mittelpunkt, denn hier können die Leute Stoffe, Töpferwaren, metallene Gerätschaften, Kleider und Holzgegenstände kaufen. Und sie bringen Feuerite in die Stadt, weil es keine Grube gibt.« Er streckte sich und warf mir einen seltsam bedeutungsvollen Blick zu. »Und deshalb gibt es keine Quelten.« Mit den Augen verfolgte ich den Pfad, der sich zwischen Felsen hindurch abwärts schlängelte, bis mein Blick in der Stadt angekommen war. »Überhaupt keine Quelten, Herr?« »Außer dir. Hier werde ich den Feuermeister treffen, denn das große Fest ist zu Ende.« Er unterbrach sich und ließ seinen Blick ebenfalls auf der Stadt ruhen. »Du hast schwierige Zeiten vor dir, Elsha. Vergiss die Art, wie du und ich während dieser Reise miteinander umgegangen sind. Du bist eine Queltin. An diesem Ort gibt es nur Erwählte. Nie zuvor hat eine Queltin ihren Fuß in diese Stadt gesetzt, kein Quelte ist je diesen Weg gegangen. Sieh zu, dass wir nicht getrennt werden.«
Er kam zu mir und fühlte an meinem Hals nach der Kette, zog das Zeichen des Feuermeisters unter meinen Kleidern hervor, sodass es deutlich sichtbar auf meiner Brust glänzte, und nickte. »Ich werde dafür sorgen, dass sie dir nichts tun, Elsha, aber gegen ihren Hass kann ich nichts ausrichten. Halte dich dicht neben mir.« Er nahm die Zügel des Maultiers, dann hasteten wir den steilen Pfad abwärts in die Stadt. Wir waren gerade an die ersten steinernen Hütten gekommen, wo Kinder auf der Straße spielten, als es auch schon losging; sie unterbrachen ihr Spiel und starrten halb neugierig, halb entsetzt auf mein Brandmal. Eins der Kinder rannte verschreckt in die Hütte. Ein Mann kam heraus, sah mich und spuckte aus. »Queltin!«, schrie er auf. Er schrie noch andere Wörter, die ich nicht verstand, worauf weitere Leute aus den Häusern kamen. Alle schrien sie. Die Kinder warfen Steine nach mir, bis Amasai die Leute mit einem wütenden Ausruf zum Schweigen brachte. Wir gingen weiter, besser gesagt, Amasai zerrte sowohl das verschreckte Maultier als auch mich hinter sich her. Fest umklammerte er meine rechte Hand, dennoch wuchs mit jedem Schritt meine Angst und die Erwartung noch schrecklicherer Ereignisse. Ich zog die Kapuze über die Stirn um mein Brandmal zu verdecken. Aber jetzt wussten die Leute schon, dass ich eine Queltin war, und das Johlen nahm kein Ende. Ein ganzer Schwarm folgte uns, einige schmissen mit Steinen, andere spuckten aus oder schrien wilde Flüche. Dann stolperte ich, verlor das Gleichgewicht, fiel hin und zog Amasai mit. Er half mir auf und schrie mir etwas ins Ohr, legte dann seinen Arm fest um mich und so gingen wir weiter. Wir erreichten den Marktplatz, und jetzt sah ich, dass die Marktstände über dem ausgebreiteten Gemüse, den Töpferwaren, Werkzeugen und anderen nützlichen Dingen Dächer aus braunen oder gelben Planen hatten. Einen Stand gab es, an dem in hoch
übereinander aufgestapelten Käfigen kreischende Vögel zum Verkauf angeboten wurden. Es herrschte überhaupt ein ohrenbetäubender Lärm, dazu ein dichtes Gedränge. Obwohl die Leute nicht wagten, mich zu berühren, bekam ich doch von hinten Steine und Stöcke zu spüren. Amasai hielt mich mit eisernem Griff und zerrte mich durchs Gewühle. Gelegentlich schloss ich die Augen, weil ich den Anblick der Massen nicht ertragen konnte, dann wieder musste ich die Augen offen halten, um nicht zu stolpern, und war gezwungen, die Menge der schreienden, keifenden, geifernden Gesichter zu ertragen. Ein Schlag traf mich mit geballter Wucht im Gesicht, mir drehte sich die Welt und ich sah Lichtblitze aus dem Dunkeln auf mich zukommen. Wie aus großer Entfernung hörte ich Amasai, der die Umstehenden anherrschte, während er das Zeichen des Feuermeisters hochhielt, dass die Kette mir in den Hals schnitt. »Sie ist seine Leibdienerin!«, verkündete Amasai und die Menge wich ein paar Schritte zurück. Wir schoben uns weiter. Amasai stieß schreckliche Flüche aus und neben ihm schnaubte verängstigt unser Maultier. Nach wenigen Schritten schon setzte der Tumult wieder ein Schläge trafen mich von hinten, von der Seite, wo Amasai mich nicht schützen konnte, eine Frau mit einem Eimer kam auf mich zu und leerte ihn mit einem Schwung über mich aus. Mein Gesicht hatte sie nicht getroffen, aber schon von dem Geruch wurde mir übel. Ich stolperte, fiel vornüber und hatte Amasais schützenden Arm verloren. Schwere Stiefel traten mir in den Brustkorb, auf die Beine, ein Stockhieb traf meinen Rücken, sodass mir der Atem wegblieb. Ich hörte Schreie und wusste nicht, ob es womöglich meine eigenen waren. Dann war ich wieder auf den Füßen, wurde durch die aufgewühlte Menschenmasse halb gezerrt und halb getragen, bis ich zuletzt ein donnerndes Geräusch vernahm, eine Tür fiel
mit mächtigem Krachen ins Schloss, ein schwerer Riegel wurde vorgeschoben: Stille. Ich wollte stehen, aber meine Beine waren wie Wasser. Ich zitterte am ganzen Körper und der Raum vor meinen Augen verschwamm in dunklem Rot. Ich wurde aufgehoben, jemand strich mein Haar zurück und befingerte vorsichtig den Striemen auf meiner Wange. Allmählich konnte ich wieder richtig sehen. Ich war allein mit Amasai, der ebenso schmutzig und mitgenommen aussah wie ich selbst. »Ein eindrucksvoller Anfang, Elsha«, murmelte er mit einem blassen Lächeln. »Du hast einen halben Aufstand verursacht, und ich zweifle nicht daran, dass du Schlimmeres verursachen könntest.« Anscheinend stand mir das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, denn sein Ausdruck wurde milde und mit sanfter Hand wischte er mir den Schmutz aus dem Gesicht. »Erst einmal bist du in Sicherheit, denn das hier ist das Haus, in dem der Feuermeister wohnt, wenn er in dieser Stadt ist.« Er sah mich mit einem unergründlich tiefen Blick an. Sehr leise sagte er: »Mehr als je zuvor die Gesellschaft einer Frau habe ich deine Gesellschaft genossen, Elsha von den Quelten.« Mit einem Seufzen wendete er sich ab und klopfte dem zitternden Maultier beruhigend auf den Hals. Dann holte er einen Wasserbeutel aus unserem Reisegepäck und wusch sich Gesicht und Hände. Sauber zu sein war ihm eine innere Notwendigkeit. Am ersten Abend hatte er mir befohlen, mich von Kopf bis Fuß zu waschen, während er selbst draußen vor der Höhle zitternd in der Kälte stand. Ich sah mich um. Wir befanden uns in einem großen Hof mit hohen Mauern zu drei Seiten. An der vierten Seite befand sich ein hohes, lang gestrecktes Gebäude, das weiß gekalkt war. An der Frontseite hatte es zehn senkrechte Fensterzeilen und dazwischen Türen, durch die man in das Gebäude hineingelangte. Die Türen waren an den Rahmen allesamt mit
einer leuchtend grünen Farbe gestrichen und dazu mit goldenen Ornamenten versehen, die Fenster hatten mit Schnitzereien verzierte Fensterläden und wurden von prächtig geschmiedeten Angeln gehalten. Farbenprächtige Banner hingen von den Fenstersimsen herab und oben auf dem Dach flatterten bunte Fahnen im Wind. »Bleib du hier, ich werde den Feuermeister suchen«, sagte Amasai, nachdem er seine Waschung beendet hatte. »Wenn ich mit ihm gesprochen habe, wird eine Magd kommen und dich hier abholen.« Er durchmaß mit eiligen Schritten den Hof und verschwand hinter einer der bemalten Türen. Ich hörte mein Herz schlagen wie eine Trommel und dahinter hörte ich die Geräusche vom Marktplatz. Kinder lachten, Männer schrien, Frauen priesen lauthals ihre Waren an; alles grobe, aufdringliche, blecherne Geräusche, wie ich sie nicht gewöhnt war. Mehr denn je zuvor fühlte ich mich einsam – unendlich einsam. Eine Tür am Ende des Hauses wurde geöffnet, ein Mann kam heraus und schritt über den gelben aufwirbelnden Sand auf mich zu, er blickte in die Luft über meinem Kopf und befahl mir zu folgen. Je näher wir zum Haus kamen, desto mehr begriff ich, wie groß es war, überwältigend groß. Nie war ich im Inneren eines solchen Bauwerks gewesen, ich kannte nur unsere Zelte und die Enge der Grube. Als ich jetzt über die Schwelle trat, empfing mich Dunkelheit und eine modrige Stille. Dazwischen vernahm ich die Gerüche süßen Weihrauchs, alter Teppiche und des gewachsten Holzbodens. Die Räume lagen in einem Dämmerlicht, aber durch die Ritzen in den geschnitzten Fensterläden sickerten Lichtstreifen, in denen der Staub tanzte. Wir gingen durch dunkle, verzweigte Gänge, passierten kleinere Räume mit kleinen Statuen und Holzmöbeln und erklommen schmale, steile Treppen. Der Fußboden war überall aus Holz, auf dem in einigen Räumen dicke Teppiche lagen.
Der Diener brachte mich in einen kleinen Raum unter dem Dach und sagte in die Luft über meinem Kopf: »Eine Frau wird dir Wasser bringen, damit du dich waschen kannst, Harsha, und dir helfen, wenn du frische Kleider anziehst.« Ich sah ihm ins Gesicht und bedankte mich. Er wurde rot vor Wut und ohne mich anzusehen, machte er auf dem Absatz kehrt. Ich sah mich um. Verglichen mit den übrigen Räumen war dieser klein, aber immer noch größer als das Zelt meines Vaters. Außerdem gab es Möbel: ein Bett mit einer seidenen Decke, dicken Kissen und kostbaren Fellen; eine Truhe, deren Deckel mit elfenbeinernen Intarsien verziert war; ein niedriger Tisch, neben dem ein langes, mit Fransen bestücktes Kissen auf dem Boden lag; ein Schrank mit schmiedeeisernem Riegel an der Tür, – Wandteppiche in den Farben Safran, Grün und Zinnober; Bronzeschüsseln, Silberbecher und auf dem Boden dicke Teppiche in dunklen Farben. Auf der einen Schmalseite befand sich eine Feuerschale, die von rußgeschwärzten Steinen umgeben war. Damals kannte ich jedoch die Namen dieser Dinge noch nicht. Eine Frau erzählte mir später, dass die Holzmöbel wie auch das Haus selbst mehrere hundert Jahre alt waren und aus einer Zeit stammten, in der es noch viele Bäume gab und entsprechend auch Holz. Diese Dinge um mich herum erregten mein Staunen und meine Bewunderung. Ich trat an den Schrank. Das Schloss zu öffnen war nicht leicht, aber schließlich gelang es mir. Hinter der Tür waren Buchrollen, ganze Reihen von Buchrollen, größere und kleinere, aber alle von der Farbe sauberer Knochen, glatt und weiß. Sie rochen sehr alt. Vorsichtig nahm ich eine der Rollen heraus, das Pergament war dick und mit wunderbaren gleichmäßigen Zeichen beschrieben. Ich konnte sie natürlich nicht lesen, aber ich hielt die Rolle ehrfurchtsvoll in die Höhe und sagte: »Dies sind die heiligen Legenden der Quelten, gesprochen von der weisen Frau, die Elsha genannt wird. Zu Anfang der Welt schuf
Gott alle Männer und Frauen als Gleiche, aber die Frauen standen über den Männern. Und Gott war gütig und liebte seine Menschen. Eines Tages aber, in einer Zeit der Not, erhoben sich einige der Männer, die bösen Sinnes waren, über jene, die Frieden im Herzen trugen. Sie nannten sich selbst die Erwählten und die Friedvollen nannten sie die Quelten. Das waren nicht die Namen, die Gott seinen Geschöpfen gegeben hatte, sondern die Namen der Unterdrücker, und es war keine Wahrheit in ihnen. Aber die Erwählten waren nicht für alle Zeiten die Stärkeren und die Quelten befreiten sich aus der Unterwürfigkeit.« Ich hörte ein leises Husten hinter mir und drehte mich entsetzt um. Ein Mann stand vor mir. Er war groß und ganz in Rot gekleidet. Überhaupt unterschied sich seine Kleidung von dem, was die anderen Erwählten trugen, – er hatte einen langen Mantel mit weiten Falten an, der ihm bis zu den Füßen reichte. Dichte, dunkle Haare umgaben sein Gesicht, nur über der Stirn waren sie schon ein wenig gelichtet, dafür hatte er am Kinn einen schwarzen Spitzbart. Er war alt, dennoch erschien mir sein Gesicht seltsam jung; er wirkte vornehm, weise und stark. Kräftige schwarze Augenbrauen standen beinah wie ein Strich über seinen Augen und trafen sich über seiner großen gebogenen Nase. Er hatte einen ausgeprägten Mund, bei dem die Oberlippe ein wenig weiter über die Unterlippe ragte, was ihm einen würdigen Ausdruck verlieh. Hohe Wangenknochen und unglaublich dichte schwarze Wimpern rundeten das Bild ab. Nie zuvor hatte ich so einen Mann gesehen. Wie verzaubert starrte ich ihn an, während ich die Buchrolle an die Brust gedrückt hielt und kein Wort herausbringen konnte. Ich hatte vergessen, dass ich eine Harsha und er ein Erwählter war, dass mein Blick die Gesetze brach. Er ließ mich gewähren. Zudem brach er selbst das Gesetz, indem er mit
seinem Blick mein Gesicht erforschte. »Du bist wahrhaftig eine Harsha«, sagte er zu sich selbst. Seine Stimme war tief wie ein Brunnen und voll Kraft. Ich nickte, weil ich nichts zu sagen wusste. Ich konnte den Blick nicht von seinen Augen losreißen. »Ich hörte dich aus einem der heiligen Bücher lesen«, sagte er und kam über den Teppich auf mich zu. Ich schluckte schuldbewusst und sah ihn an. Seine Augen waren schwarz und glänzend wie Feuerit, und sie lächelten. Ich lächelte zurück. »Es waren nicht die Worte Eures Propheten, Herr«, sagte ich. »Ich kann nicht lesen.« »Ah so.« Er streckte die Hand nach der Rolle aus, strich sie glatt und rollte sie wieder auf. »Ich dachte schon, welch seltsame Philosophie…« »Es war meine eigene, Herr. Meine Philosophie.« »Du hast also eine eigene Philosophie, Harsha?« Er lächelte und runzelte zugleich die Stirn, und dabei klopfte er die Buchrolle gegen sein Kinn. Jetzt sah ich, dass auch sein Bart von grauen Fäden durchzogen war. Genau wie Amasai sah er mir in die Augen. »Wie lautet deine Philosophie, Harsha?« Eine warnende Glocke schrillte durch meinen Kopf, aber ich beachtete sie nicht. »Ich denke, die Erwählten haben Unrecht, Herr. Ich denke, Eure Mythen verbreiten Lügen und Euer Glaube ist ein Fluch für die Welt. Ich glaube, dass Euer Prophet ein Lügner ist.« Ich sah ihn an. Sein Gesicht war tiefernst und aufmerksam, und er nickte leicht. Von diesem Nicken ermutigt brach aus mir das ganze erlittene Unrecht, die Demütigungen von elf Jahren in der Grube von Siranjaro hervor. »Hier!«, schrie ich und streckte ihm beide Hände entgegen. »Zwei Hände, zwei Arme, genau wie Ihr. Ich habe einen Verstand, Sprache, Gefühle, kenne unsere Geschichten und habe meine Träume. Wir Quelten sind nicht anders als Ihr Erwählten. Der einzige Unterschied ist das Brandmal – das
Mal, das Ihr uns eingebrannt habt. Aber wir werden nicht damit geboren. Wir sind wie Ihr! Dennoch behandelt Ihr uns schlechter als Eure Tiere. Ihr brandmarkt uns, Ihr macht uns zu Sklaven und Ihr tötet uns langsam in euren Gruben. Was Ihr uns antut, ist falsch, ungerecht und unerträglich.« Ich hielt inne, um Atem zu schöpfen. Erst jetzt sah ich, dass wir nicht allein waren. Amasai musste den Raum betreten haben, während ich gesprochen hatte. Jetzt starrte er mich ungläubig an, das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Plötzlich schien er aus seiner Erstarrung zu erwachen, er wandte sich dem Mann zu, den ich mit meiner Rede überschüttet hatte, und warf sich vor ihm auf den Boden. »Meister!«, stöhnte er. »Hochverehrter Herr und Meister, ich bedaure meinen Fehler zutiefst. Ich brachte diese Harsha, damit sie Eure Leibdienerin werde, und muss erst jetzt ihre Nichtswürdigkeit erkennen. Meister, ich bitte innigst um Verzeihung. Untertänigst erbitte ich…« Um was er sonst zu bitten hatte, sollte ich nie erfahren, denn in diesem Augenblick verlor ich das Bewusstsein.
6
DER FEUERMEISTER
Eiskaltes Wasser klatschte mir ins Gesicht, wütende Hände rüttelten mich unsanft an der Schulter. Stöhnend wich ich ihnen aus. Mir tat der Kopf weh. »Du hast mir Schande bereitet!«, schrie wutentbrannt eine männliche Stimme, aber ich hörte auch Verzweiflung heraus. Ich schlug die Augen auf und sah Amasai über mich gebeugt. Unvermittelt ließ er mich los und ich fiel gegen eine Steinwand. Jetzt ging er im Raum auf und ab, seine prächtigen Lederstiefel hinterließen flache Abdrücke auf dem weichen Teppich. Er stieß leise Verwünschungen aus und raufte sich die Haare, dann wandte er sich wieder zu mir um, sein Gesichtsausdruck jagte mir Angst ein. »Du hast alles zerstört!«, warf er mir vor und plötzlich dachte ich, er würde mich schlagen. »Du hast mein Ansehen beim Feuermeister zerstört, meine Ehre, sein Vertrauen in mich! Du hast einen Narren aus mir gemacht, du hast die Gesetze der Erwählten in den Schmutz gezogen, unsere Religion entehrt. Du hast dich über den Feuermeister lustig gemacht. Du hast alles in den Schmutz gezogen, was den Erwählten heilig ist. Du bist eine Närrin, Harsha! Das höchste Ziel jeder edel geborenen Frau, für dich lag es in Greifweite, und du hast es verspielt!« Er wandte sich von mir ab. Mühsam rang er nach Atem und versuchte seine Fassung wiederzugewinnen. Ich saß zusammengesunken an der Wand und weinte. »Ich dachte«, sagte er leise mit leidenschaftlicher Stimme, »ich glaubte zu
verstehen, warum er dich als seine Leibdienerin ausersehen hat. Ich glaubte, in dir sei eine Kraft, eine Flamme, die dich von jeder anderen Frau, ob Erwählte oder Queltin, unterscheidet. Ich meinte diese Kraft zu verstehen und warum der Feuermeister nach dir geschickt hatte. Aber ich habe mich getäuscht. Er hat sich getäuscht. Du hast uns getäuscht. Wir alle haben uns getäuscht. Eine Närrin bist du. Ich weiß nicht einmal, ob du zurück nach Siranjaro kannst. Aufwiegelung ist gefährlich. Leuten wie dir reißt man die Zunge heraus, wenn man sie nicht gleich tötet. Ich könnte nicht ertragen, dass…« Er trat ans Fenster, stützte sich mit den Händen auf dem Sims ab und sah in die Tiefe. Immer wieder hörte ich ihn seufzen, und dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Ein Diener kam herein und verbeugte sich tief vor Amasai: »Der Feuermeister wünscht Euch zu sprechen, Herr, um zu entscheiden, was mit der Harsha hier geschehen soll.« Amasai nickte nur, wandte sich aber nicht um und der Diener verließ den Raum. Lange blieb er im milchigen Licht vor dem Fenster stehen und schaute hinab in den Hof. Schließlich seufzte er, riss sich vom Fenstersims los und verließ den Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Eine ganze Ewigkeit saß ich zusammengesunken auf dem Boden, fast verrückt vor Kummer und Reue. Ich hatte unerträgliche Kopfschmerzen und wollte mich übergeben. Mit meiner ganzen Kraft hasste ich meine eigene Dummheit, meinen blinden Wahn, meine verfluchte Zunge, die all meine Träume zunichte gemacht hatte. Ich weinte, ich rang verzweifelt die Hände. Dass ich ihn gesehen hatte, dass ich ihm geradewegs ins Gesicht gesehen, seine Stimme gehört hatte, ohne ihn zu erkennen – diese grausame Blindheit, das war das Schlimmste überhaupt. Ich schlug die Hände vors Gesicht und wollte mir einreden, dass alles nur ein böser Traum war, dass ich noch immer in der Grube von Siranjaro war und meine Visionen unversehrt.
Hinter mir wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen, ich drückte mich noch dichter an die Wand und wurde von Schluchzen und Weinen geschüttelt. Jemand kniete sich hinter mir hin, ich spürte eine sanfte Hand auf der Schulter. »Elsha«, sagte Amasais Stimme. Ich schüttelte die Hand ab und verbarg mein Gesicht. Jetzt war er freundlich zu mir, jetzt, wo er mir mitteilen würde, dass ich sterben musste. »Elsha, ich habe mich getäuscht. Du sollst seine Dienerin werden, es wird keine Strafe geben. Du sollst ein Bad nehmen und saubere Kleider anziehen, dann wirst du essen und danach wird der Feuermeister mit dir sprechen.« Er hatte seine Hand wieder auf meine Schulter gelegt und ich spürte, wie er mit seinen glatten kühlen Fingern über meine Wange strich. »Elsha, weine nicht, alles wird gut.« Jetzt begann ich erst recht zu weinen, laut und hemmungslos, vor Erleichterung und Verwirrung, und mit den Tränen rann die Anspannung der vergangenen Stunden aus mir heraus. »Ich muss zugeben, dass ich es nicht verstehe«, seufzte Amasai, während er aufstand. »Ich bin ganz durcheinander.« »Ihr? Durcheinander!?« Ich musste husten. »Ihr erzählt mir, dass ich getötet werde oder dass man mir die Zunge ausreißt, und jetzt verkündet Ihr, dass ich ein Bad nehmen soll.« »Ich weiß, Elsha.« Er lachte leise. »Komm, ich helfe dir beim Aufstehen.« Er zog mich auf die Füße, ordnete meine wirren Haare und strich mir mit der Handfläche übers Gesicht. »Ich begreife gar nichts mehr. Eine Rebellin erfährt Rechtfertigung, Gotteslästerung wird entschuldigt, eine Harsha wird die vornehmste Frau im Land. Du machst mich verrückt, Elsha von den Quelten.« Aber er lächelte, als er den Raum verließ.
Sollte ich je einen falschen Stolz gehegt oder mir etwas auf meinen Wert eingebildet haben, dann wurden diese Irrtümer heute gänzlich zunichte gemacht. Amasai hatte mich die vornehmste Frau im Land genannt, aber gleichzeitig war und blieb ich eine Queltin. Was das bedeutete, erkannte ich erst jetzt. Nun kamen einige Frauen in den Raum, die das Feuer entzündeten und eine riesige Kupferwanne hereintrugen. Eine nach der anderen leerte einen mächtigen Krug heißes Wasser in der Wanne aus und verschwand dann, um irgendwo am Ende der endlosen Gänge und Treppen neues Wasser zu holen. Zuletzt war die Wanne halb gefüllt und sie befahlen mir, meine Kleider abzulegen. Sie sprachen langsam und mit übertriebenen Gesten, als besäße ich keinen Verstand. Ihr Verhalten reizte mich. »Ich habe mich gestern gewaschen«, trumpfte ich auf. »Ich bin von Kopf bis Fuß sauber.« Meine Stimme brachte sie aus der Fassung, mit einem Satz war ein Generationen altes Vorurteil zunichte gemacht. Befremdet starrten sie mich an, dann bedeutete mir eine der Frauen mit zusammengekniffenen Lippen, zu tun, wie mir befohlen war. Ich war zu müde für einen Streit, zog meine Kleider aus und stieg in das brühheiße Wasser. Nie zuvor war ich so gänzlich von Wasser umgeben gewesen, nicht von kaltem, nicht von warmem Wasser. Die Hitze brannte auf meiner Haut und machte sie rosa, meine Finger wurden schrumpelig weich wie gekochte Maden, mein Herz klopfte. Der Dampf erfüllte den Raum wie dichter Abendnebel den Raum zwischen unseren Zelten in Siranjaro, nur war er erstickend heiß. Als ich mich einmal an das Gefühl gewöhnt hatte, durchrann ein wohliger Schauer meinen Körper. Die Hitze löste meine verkrampften Glieder und besänftigte den Schmerz der Schläge, die ich auf dem Weg durch die Stadt hatte einstecken müssen. Die Frauen reichten mir ein kleines Tuch, ein Stück grober Seife und eine
Bürste aus Tierhaaren. Damit sollte ich meinen Körper schrubben, bis das letzte Fleckchen Schwarz verschwunden und der Ruß aus der Grube abgewaschen war. Diese Aufgabe nahm den halben Nachmittag in Anspruch, und als ich endlich sauber war, war das Wasser kalt und grau. Sogar meine Füße und Fingernägel waren rein. Meine Haare hatten die Farbe von leuchtendem Weizen angenommen, wahrscheinlich waren sie niemals so sauber gewesen. Jetzt legten die Frauen mir Kleider zurecht, die sie aus der großen hölzernen Truhe nahmen. Sie reichten mir ein Kleidungsstück nach dem anderen: ein fein gewebtes Unterkleid, dessen wollweißer Stoff bis zum Boden reichte, ein rotes Kleid mit langen Ärmeln und einem Schlitz vom Hals bis zur Taille, dessen bestickter Saum nur einen kleinen weißen Streifen vom Unterkleid sichtbar machte, eine breite gelbe Seidenschärpe und dazu schwarze, pelzverbrämte Stiefel, die mir beinah bis zu den Knien reichten. Darüber sollte ich eine glänzend schwarze Pelzweste tragen, die ebenfalls beinah bis zu meinen Knien ging. Das rote Kleid hatte an einer Seite eine tiefe Tasche, in die ich meine Feueritfrau gleiten ließ. Die ganze Zeit über wurde jede meiner Handbewegungen von den neugierigen Blicken der Frauen begleitet, während sie aufgeregt miteinander tuschelten. Das Überkleid hatte seidene Bänder vorn, aber ich wusste nicht, wie ich sie binden sollte. Ich bat eine der Frauen um Hilfe, aber sie wandte sich beschämt oder ärgerlich von mir ab. Eine andere versuchte mir mit Worten und Handbewegungen zu erklären, wie die Bänder zu binden waren, aber sosehr ich mich auch bemühte, brachte ich nichts außer Knoten zustande. »Bitte, zeig es mir«, sagte ich erschöpft. »Ich habe solche Kleider noch nie getragen, bitte binde die Bänder für mich«, flehte ich sie an. Mit einem Seufzer trat sie ein paar Schritte näher, dann entwirrte sie mit ausgestreckten Hände meine Knoten und
betrug sich dabei, als ob es ihr entweder große Anstrengung oder Schmerzen bereitete. Ordentlich schnürte sie die Bänder, sodass sich über dem weißen Unterkleid ein prächtiges Muster bildete. Mit weit vor sich ausgestreckten Händen entfernte sie sich von mir, die anderen Frauen wichen zur Seite, eine von ihnen goss Wasser in eine unbenutzte Kupferschale, die sie neben ein neues Stück Seife und ein von mir nicht benutztes Handtuch stellte. Jetzt begann die Frau, die meine Bänder geschnürt hatte, sich ausführlichst die Hände zu waschen. Sie wendete dabei eine so peinliche Sorgfalt an, dass es beinah einem religiösen Ritual gleichkam. Erstaunt beobachtete ich sie bei ihrer Waschung, bis ich plötzlich den Grund begriff und mich entsetzlich gedemütigt fühlte. Sie hatte mich berührt. Mich, eine Harsha, unreine Angehörige eines Sklavenvolkes. Erst jetzt merkte ich auch, dass keine der anderen Frauen im Raum mich berührt hatte, sie war die Einzige gewesen. Und jetzt wusch sie sich, als müsste sie ihren ganzen Körper von einer schrecklichen Beschmutzung reinigen. Bis tief in die Seele verletzt wandte ich mich ab. Das kommende Jahr würde mich alle Formen der Verachtung und Beleidigung lehren, aber nichts verletzte mich so tief wie die rituelle Sorgfalt dieser Frau, als sie ihre Hände wusch. Wieder diese Augen. Mit Herzklopfen sah ich ihn an, dann besann ich mich auf die Anweisungen, verbeugte mich tief und legte mich danach flach ausgestreckt vor ihn auf den Teppich, wie Amasai es gemacht hatte. Ich roch die Wolle und das Bohnerwachs, ich wartete. »Steh auf, Leibdienerin«, sagte er. Ich erhob mich so würdevoll wie möglich, aber ich verfing mich mit der Ferse in meinem Saum und hörte ein reißendes Geräusch. Noch vorsichtiger richtete ich mich auf, den Blick gesenkt und mit schamrotem Gesicht. »Hast du gegessen?«, fragte er freundlich.
»Ja, danke.« »Und die Frauen? Haben sie sich um dich gekümmert?« »Ja, Herr, danke.« »Du trägst mein Zeichen nicht«, stellte er fest. »Das Zeichen, das Amasai dir gegeben hat.« »Ich… ich muss es vergessen haben, als ich meine Kleider auszog.« »Du sollst es immer und ständig tragen, sogar wenn du schläfst.« »Ja, Herr. Es tut mir Leid.« »Hat Amasai dich in deine Aufgaben eingeweiht?« »Er hat gesagt, ich solle Eure Leibdienerin werden: ich solle Eure Mahlzeiten zubereiten, Eure Kleider waschen, Euch auf Euren Reisen begleiten, wenn Ihr neue Gruben sucht. Er hat mich gelehrt, Hezzin vorzubereiten und das Feuer nach der Art der Erwählten anzumachen. Er hat mir gesagt, dass ich immer sauber sein müsse. Er hat mich gewarnt, dass es nicht leicht für mich werden würde.« »Hat er Recht behalten, Leibdienerin?« Ich wusste nicht, wie ich antworten sollte. »Hoher Herr, ich finde es schwierig in Eurer Welt… als Harsha.« Er kicherte leise, und ich sah ihm erstaunt ins Gesicht. Er betrachtete mich und schnell senkte ich wieder den Blick. »Das kann ich verstehen«, sagte er. Dann schwieg er eine Zeit lang, und ich hatte das unbehagliche Gefühl, dass sein Blick meine Seele erforschte, meine Gedanken las, meine Hoffnungen und alle rebellischen Träume. An dieses Gefühl in seiner Anwesenheit würde ich mich während der kommenden Monate gewöhnen. Schließlich, als er mein Inneres bis in den letzten Winkel erkundet hatte und all meine Geheimnisse zu kennen schien, sagte er: »Warum trägst du Feuerit bei dir, Leibdienerin?« Ich fühlte mich ertappt und schämte mich dessen. Mein Herz klopfte wie wild. »Ein Geschenk, Meister.«
»Darf ich es sehen?« Ich nahm den Frauenstein aus der Tasche und streckte ihn dem Feuermeister auf der flachen Hand entgegen. Er nahm ihn und seine Finger berührten meine Hand. Jetzt würde er aufstehen und sich die Hände waschen, dachte ich, weil er mich berührt hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Er saß entspannt und vornehm auf seinem geschnitzten Lehnstuhl und betrachtete ausführlich die Figur. Wie Amasai hatte er saubere, schöne Hände, schlanke, feingliedrige Finger mit langen, ovalen Fingernägeln, die matt schimmerten wie poliertes Bein. Er gab mir den Stein zurück. »Wenn ich nach Feuerit suche, darfst du die Figur nicht mitnehmen, sie würde mich ablenken.« »Ja, Meister.« »Und jetzt gibt es einige Dinge, die du wissen musst. Heb den Blick, wenn ich mit dir spreche, Harsha. Nein, schau mir nicht ins Gesicht, heb den Kopf. Ich kann Leute nicht ertragen, die Demut vortäuschen.« Ich blickte auf seine linke Schulter und sah, dass er über seinen Kleidern einen dicken schwarzen Umhang trug, der von einer Brosche mit einem großen roten Stein gehalten wurde. »So ist es besser. Du weißt schon einiges darüber, wie die Erwählten über die Quelten denken. Es gibt Gesetze, die nicht verletzt werden dürfen. Einen Teil davon kennst du aus dem Umgang mit den Aufsehern in Siranjaro. Du verstehst, dass du in den Augen der Erwählten geringer bist als ein Tier, und unrein dazu. Sie glauben, ihr habt keinen Verstand, keine Rechte, keine Seele…« »Herr, ich denke…« »Ich weiß gut genug, was du denkst, Harsha. Aber du bist allein damit. Von nun an wird jeder in deiner Umgebung zu den Erwählten gehören, jeder wird meinen, dass du tief unter ihm stehst. Ich kann diese Ungerechtigkeit nicht über Nacht
abschaffen. Sie hat sich während vieler Jahrhunderte in den Köpfen der Erwählten festgesetzt und ist ebenso Bestandteil unseres Wesens wie unsere Liebe zum Feuer und zur Freiheit und das Vertrauen auf die Stärke der Männer. Immer und für den Rest deines Lebens wirst du unter der Last dieses Vorurteils leiden. Die folgenden Gebote sollst du beachten: Die heiligen Gegenstände der Erwählten darfst du nicht einmal berühren, einen Erwählten darfst du nicht berühren, nicht seine Haut und nicht seine Kleider, seine Schalen und Messer nicht, sein Essen nicht, aber auch nicht den Platz, an den er sich setzt oder zum Schlafen hinlegt. Auch die Frauen darfst du nicht berühren, denn auch sie sind heilig für dich, wenn auch weniger heilig als die Männer. Du darfst nicht vor einem Erwählten gehen und nicht neben ihm; du darfst nicht in seine Fußspuren treten, die er in der Erde hinterlässt. Du darfst einem Erwählten nicht ins Gesicht schauen, denn seine Augen sind die Fenster seiner Seele, die zu schauen du nicht würdig bist. Kein Erwählter wird dir ins Gesicht sehen, keiner wird zu dir sprechen, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist. Ich weiß, dass wir auf Schwierigkeiten stoßen werden, wenn du allein mit mir in den Bergen reist, wo du meine Schalen und Becher waschen, meine Mahlzeiten bereiten und meine Kleider pflegen wirst. Du hast meine Erlaubnis, jederzeit mit mir zu sprechen, außer wenn ich mit einem Erwählten spreche, dann darfst du mich unter keinen Umständen unterbrechen, obwohl du meine Leibdienerin bist. Du wirst immer mein heiliges Zeichen tragen und es ist dir erlaubt, mit Erwählten zu sprechen, wenn es nötig ist. Aber nie darfst du einem Erwählten ins Gesicht sehen, nie ungehorsam, unverschämt oder fordernd sein. Dass du meine Leibdienerin bist, verändert in keiner Weise, dass du eine Queltin bist. Hast du alles verstanden?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin verwirrt. Es tut mir Leid. Ihr sagt, die Gesetze dürfen unter keinen Umständen
verletzt werden, trotzdem gibt es Umstände, unter denen sie verletzt werden müssen, wäre es dann nicht besser, wenn ich keine Queltin bliebe?« »Du bist und bleibst eine Queltin. Du trägst das Zeichen der Quelten auf der Stirn. Keine Macht der Erde, keine Kunst der Welt kann das Brandmal von dir nehmen. Auch ich kann dich nicht durch einen Richterspruch zur Erwählten machen. Aber ich kann unsere Gesetze mildern und dir das Leben so weit wie möglich erleichtern.« Leise und mit sanfter Stimme fügte er hinzu: »Ich kenne dich, Elsha. Es tut mir Leid, dass du eine Queltin bleiben musst, allein in einer Welt, die dich verabscheut. Aber ich kann es nicht ändern. Noch nicht.« Nicht alle verabscheuten mich; dankbar dachte ich an Amasai. »Amasai hat mir gebeichtet, dass er alle diese Gesetze gebrochen hat«, setzte der Feuermeister meinen Gedanken fort und ich war so überrascht, dass ich ihm in die Augen sah. Er hatte einen ernsten Gesichtsausdruck und sein Blick brannte mir in die Seele. Ich senkte die Augen und fühlte mich schuldig. »Amasai war zutiefst erschüttert, als er merkte, dass du eine Queltin bist. Andere werden ebenso erschüttert sein, aber sie werden kein Mitleid mit dir haben. Zähe Kämpfe stehen uns bevor, Leibdienerin. Während der Zeit, die wir hier im Hause zu Gast sind, wirst du von den Frauen in alle deine zukünftigen Pflichten eingeweiht. In dreißig Tagen werden wir über den Westpass zur Grube von Talbar reisen. Bis dahin sollst du die Frauen des Hauses alles fragen, was du wissen musst.« »Ja, Meister.« »Du darfst gehen.« »Meister? Darf ich Euch eine Frage stellen?« »Du hast meine Erlaubnis zu fragen, was du möchtest.«
»Warum sieht mir kein Erwählter in die Augen, aber Ihr tut es?« »Die Erwählten fürchten, dass sie womöglich ihre Seele beflecken, wenn sie dich ansehen.« »Und Ihr fürchtet das nicht?« Er machte eine kleine Pause, und als er mir antwortete, war seine Stimme warm und freundlich, und ich hätte wetten mögen, dass er lächelte. »Meine Seele ist stark, Leibdienerin, und kann nicht befleckt werden.« Ich lächelte auch. »Auch meine Seele ist stark.« »Du hast keine Seele, Harsha.« »Das zu entscheiden ist allein die Sache Gottes.« Ich hörte, wie sein Stuhl knarrte, als sei er aufgestanden oder habe sich vorgebeugt, aber ich wagte nicht, ihn anzusehen. »Geh, Leibdienerin.« Ich verneigte mich tief und vergaß auch nicht, mich in meiner Verneigung rückwärts aus dem Raum zu bewegen. Die dreißig Tage in diesem großen Haus waren sehr schwierig für mich, wahrscheinlich hatte ich jedes Mal, wenn ich den Mund auf tat, mindestens ein Gesetz gebrochen. Meistens verbrachte ich den Tag in den unfreundlich kalten Küchen halb unter der Erde. Dort war es dunkel, es roch nach feuchten Steinen und ranzigem Fett, ein einziges Durcheinander aus Menschen, Geflügel, frisch geschlachteten Wildvögeln, die abhängen sollten, Schweinefleisch, das zum Trocknen unter der Decke hing, Gemüse in Sandkisten, Blut, Asche, Feuer – dieses Durcheinander der Küchen war meine Schule. Viel hatte ich zu lernen, ein ganzes Leben. Was für die Frauen zu den einfachsten Gewohnheiten gehörte, gab mir Rätsel auf. Obwohl sie mir gegenüber geduldig waren und es auch nicht an Höflichkeit fehlen ließen, fehlte mir doch die Wärme, die sie im Umgang miteinander hatten, denn mir
gegenüber blieben sie kalt. Ich sehnte mich danach, an ihrem Gelächter teilhaben zu dürfen, mit ihnen zu reden, wenn sie plaudernd um eine große Schale mit frisch gebackenen Weizenfladen versammelt saßen, die Hühner mit ihnen zu jagen oder frühmorgens dicht ums Feuer zu sitzen. Ich stand immer abseits, nie schlossen sie mich mit ein, weil sie in ständiger Sorge waren, dass ich versehentlich ihre Kleider oder gar ihre Finger berührte, wenn sie mir etwas reichten. Und es bereitete mir Mühe, ihnen nicht ins Gesicht zu sehen. Ich spürte die Fremdheit, und das riesige steinerne Haus bedrückte mich. Es gab nur einen Ort, den ich liebte, wo ich frei und glücklich war: die Berge hinter dem Haus. Dort draußen ging ich mit dem Sohn des Hausbesitzers durch Wind und lichte Heide, und ich lernte etwas, das mir Freude bereitete: einen Falken fliegen zu lassen. Von allen Frauen des Hauses war ich die Einzige, die zu den Käfigen gehen durfte, um mir einen Falken zu wählen, – nur ich durfte einen solchen Vogel besitzen. Ich lernte, wie ich ihn zu erziehen hatte, damit er meinen Befehlen folgte und für mich jagte. Kallai hatte ich ihn genannt. Seine Augen waren schwärzer als Feuerit, aber im Tageslicht hatten sie manchmal einen tiefgoldenen Schimmer, an Brust und Beinen hatte er weiche, karamellbraune Federn mit dunkleren Streifen, Kopf und Flügel waren dunkel. Seine Beine waren mit schmalen Lederstreifen verbunden, an denen ich ihn festhielt, wenn er auf meiner Faust saß. Außerdem hatte er eine Leine und Glöckchen am Bein, damit ich immer wusste, wo er gelandet war, denn meistens ließ ich ihn frei fliegen. Nie versuchte er, sich von mir loszureißen, bevor ich die Leine abgekoppelt hatte und meine Faust hoch in den Wind hielt, damit er fliegen konnte. Und wie er flog! Oh, wenn er flog, dann segelte er so schnell und frei durch die Lüfte, dass meine Seele sich mit ihm
erhob. Hoch und immer höher schraubte er sich in den Himmel, bis er – kaum noch sichtbar – tief unter sich Beute sah, dann tauchte er im Sturzflug herab auf einen Raben oder eine Saatkrähe vielleicht. Danach kehrte er zu mir zurück. Zusammen gingen wir die Beute holen, manchmal einen langen Weg über Felsen, durch hohes Gras, und so kam ich oft zu einer Abendmahlzeit mit frischem Fleisch. Kallai und ich wurden unzertrennlich. Immer wenn ich nicht in der Küche oder für andere Haushaltsaufgaben gebraucht wurde, trug ich meinen Lederhandschuh am linken Arm und darauf Kallai. Ihn fliegen zu lassen war die einzige Kunst in diesem Haus, die ich gut beherrschte, meine ganze Freude, mein Frohlocken. Nach einiger Zeit gelang es mir einigermaßen, mich innerhalb der Gesetze zu bewegen, aber ich sehnte die Zeit herbei, wenn der Feuermeister und ich abreisen würden. Mit ihm fühlte ich mich wohler als mit irgendwem sonst. Außer mit Amasai. Amasai sah ich allerdings nur einmal wieder, ein einziges Mal. Es war an einem späten Nachmittag in der Küche, als alle mit der Vorbereitung des Abendessens beschäftigt waren. Ich bereitete meine eigene Mahlzeit zu, die ich später allein in meinem Zimmer essen würde, und ich hatte mich damit in ein kleines Eckchen zurückgezogen, weit weg von Fenstern und Tür, um niemand im Weg zu seih. Dort war es rauchig und dunkel, nur ein wenig Feuerschein drang in meine Ecke, hinter mir stritt sich die erste mit der zweiten Köchin, welche Kräuter in den Fleischtopf sollten, während gleichzeitig ein paar Jüngere die Hühner jagten, die bis zum Abendessen gerupft und aufgetischt werden sollten. Die Luft war erfüllt von Rauch und fröhlichem Lärm, es war warm von den vielen Leuten, von den Steinöfen und offenen Feuern. Ich hatte diese Zeit des
Tages gern, wenn alle halb verrückt waren und ich lachen konnte, ohne mich ausgeschlossen zu fühlen. Plötzlich wurde alles still. Ich blickte über meine Schulter und sah in der Tür einen Mann stehen, ein großer Umriss vor dem Abendlicht. Die beiden streitenden Köchinnen strichen sich die Haare aus dem Gesicht und ihre roten Schürzen glatt, dann knieten sie vor ihm hin und berührten mit der Stirn den Boden zu seinen Füßen. Niemand kümmerte sich mehr um Hühner oder Kräuter, alle richteten ihre Kleider und Haare, verneigten sich ehrfurchtsvoll und ich sah sie hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Wer mochte er sein, dieser Herr, der so viel Verwirrung hervorrief? Ich lächelte und beugte mich über mein Gemüse. Dann hörte ich, wie jemand den Namen Amasai aussprach, und ich ließ meine Hände in den Schoß sinken. »Die Leibdienerin«, sagte irgendwer in die Stille hinein. Mit einem Ruck wandten sich alle zu mir um. Ich beugte mich über meinen Tisch und gab vor, nichts gemerkt zu haben. Wenn er mich treffen wollte, sollte er doch kommen. Tatsächlich, in der Stille hörte ich die Schritte seiner weichen Stiefel, die vor mir innehielten. Die Frauen schwiegen verwundert und beobachteten, was jetzt geschehen würde. »Elsha von den Quelten!«, sagte er mit seiner Stimme, die ich schon eine ganze Ewigkeit nicht mehr gehört hatte. »Ich möchte mit dir sprechen.« Ich wusch mir in einer kleinen Schale die Hände, trocknete sie ab und drehte mich um. In einer tiefen Verbeugung berührte meine Stirn den Schatten vor seinen Füßen. »Willkommen, Herr.« Zu gern hätte ich ihm ins Gesicht gesehen, aber vor aller Augen wagte ich nicht mehr als einen kurzen Blick auf seine rechte Schulter. Auch er sah mir nicht ins Gesicht, sondern über meinen Kopf hinweg, aber immerhin hatte ich sein Lächeln gesehen. Der Feuerschein warf ein rotes
Licht auf ihn und brachte seine Haare zum Leuchten. Die Hitze der Steinöfen wurde mir plötzlich unerträglich, meine Kehle war ausgetrocknet. »Ich hätte lieber einen anderen Ort gewählt, um mit dir zu sprechen«, sagte er leise und erst jetzt merkte ich, wie still es immer noch war, die Frauen spitzten die Ohren, damit ihnen kein Wörtchen entging. »Ich hätte dich lieber allein getroffen, aber ich habe wenig Zeit und dich erwischt man nicht leicht allein.« »Ich bin oft draußen, Herr, wenn ich mit Kallai jage.« »Ich habe gehört, dass du die Falkenjagd gut beherrschst«, murmelte er. »Zu gern würde ich mit dir auf die Jagd gehen.« Er schwieg und ich spürte sein Unbehagen. Warum war er gekommen? Warum war er so unruhig? Plötzlich drehte er sich um und machte eine wütende Handbewegung zu den Frauen: »Was starrt ihr uns so an? Habt ihr nichts Besseres zu tun?« Mit einem Ruck nahmen alle ihre Beschäftigungen wieder auf. Aber sie machten bei weitem nicht so viel Lärm wie zuvor und plötzlich schienen sie alle dringende Angelegenheiten in der Nähe meiner Ecke zu haben, damit sie wenigstens Amasais Rücken zu sehen bekamen. Ich denke, sogar sein Rücken war betrachtenswert, stark und aufrecht wie er selbst. Außerdem konnten sie natürlich seine Haare bewundern, die, vom Feuer zum Glühen gebracht, in langen Locken auf seinen Nacken fielen. Ich dagegen musste mich mit dem begnügen, was ich aus den Augenwinkeln gerade noch erkennen konnte, obwohl er kaum eine Armeslänge von mir entfernt stand und mein Gesicht betrachten konnte. »Ich werde von hier weggehen, Elsha. Bitte, sieh mich an.« »Die Frauen beobachten uns.« »Dann dreh dich mit dem Rücken zum Feuer, oder nein, dann kann ich dein Gesicht nicht sehen. Oh, diese elenden Frauen.« Er ließ den Kopf hängen und seufzte. »Ich gehe nach
Nordland«, sagte er mit sehr leiser Stimme. »Mein hoher Meister hat mich zum Befehlshaber seiner Armee ernannt.« »Ich wusste nicht, dass er über eine Armee verfügt. Braucht er denn eine?«, fragte ich erstaunt. »Er hat immer eine Armee besessen, um die Gruben und Städte vor Eindringlingen zu beschützen. Und er braucht sie mehr denn je, es gibt Gerüchte über Aufruhr in den größeren Gruben. Die Quelten werden unruhig. Ich habe deinen Blick gesehen, Elsha. Freude, nicht wahr? Bei Gott, du jagst mir Angst ein, Elsha.« »So viel Macht habe ich wohl kaum, Herr.« »Du hast mehr Macht, als du selbst weißt. Beobachten uns die Frauen?« Ich warf einen Blick über seine Schulter. »Wie Habichte, Herr.« Er seufzte schwer und betrachtete seine Hände, die sich um seinen edelsteinbesetzten Gürtel krampften. Dann sprach er so leise, dass ich ihn kaum noch zu hören vermochte: »Elsha, hör mich an. Ich werde dich nicht wiedersehen. Das schmerzt mich. Wenn… sollte es je so kommen, dass du nicht mehr seine Leibdienerin bist, wirst du dann zu mir nach Nordland kommen?« »Herr, ich dachte, ich bin für immer seine Leibdienerin, bis er stirbt, oder bis ich sein Missfallen errege. Die Frauen haben gesagt, seine vorige Leibdienerin sei gestorben, und jene vor ihr sei…« »Elsha! Elsha, ich bin nicht gekommen, mir das Getratsche der Frauen anzuhören. Wir haben so wenig Zeit. Willst du mir diese eine Sache versprechen – dass du zu mir kommst, solltest du entlassen werden?« »Aber warum, Herr? Ihr braucht Soldaten, keine Dienerin. Ich habe nie ein Schwert geführt oder eine Armbrust gehalten…«
Er stöhnte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Das Feuerlicht leckte über sein Gesicht und mir schien, ich hätte ihn geärgert. Als er wieder sprach, war seine Stimme heiser und sein Atem kam stoßweise. »Ich verfluche den Mann, der dir das Brandmal aufgedrückt hat, Elsha! Ich verfluche unsere ganze Weltordnung, die dich zur Queltin macht und mich zum Erwählten. Könnte ich mir nur die Augen ausstechen oder meine Hände abschneiden, wenn ich damit das Mal auf deiner Stirn auslöschte, ich würde es tun. Wenn…« Die Stimme versagte ihm, er wandte sich ab von mir und starrte in die verrauchte Küche. Eins der Mädchen rupfte ein Huhn, sie blickte hoch und als sie sein Gesicht sah, war sie mit einem Ruck wieder bei ihrer Arbeit. »Herr, ich verspreche Euch, sollte ich je im Norden sein, so werde ich Euch zu finden wissen. Das sollte nicht zu schwer sein, wenn Ihr eine ganze Armee im Gefolge habt.« Er schaute zu mir und lächelte. Und ich sah ihm ins Gesicht, es war mir gleichgültig, wer es sah; ich hatte vergessen, wie schön er war. »Für mich werdet Ihr immer einer meiner ersten Freunde sein, Herr.« »Einer von vielen, Elsha? Nicht der höchste? Nicht der beste?« »Der beste kann meine Wange küssen, Herr, er kann meine Hand halten und Flöte spielen für mich.« »Und ich kann für dich nichts tun außer Befehl über eine Armee zu führen«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Versprich, dass du mich nicht vergisst.« »Ich vergesse meine Freunde nie.« Unvermittelt kniete er vor mich hin und berührte mit der Stirn den Steinboden zu meinen Füßen. Als er aufstand, waren seine Augen feucht. »Elsha von den Quelten, ich erweise dir Ehre. In meinem Herzen umarme ich dich.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging. In der Küche herrschte entsetztes Schweigen. Ich spürte die Augen jeder einzelnen
hier anwesenden Frau mit ungläubigem Staunen auf mich gerichtet; dann kam ein Hund hereingerannt, die Hühner gackerten in alle Richtungen davon und eine ganze Schar jüngerer Frauen eilte hinzu, den Eindringling aus der Küche zu jagen. Ich beugte mich über mein Gemüse, aber ich sah kaum, was meine Hände taten.
7
EIN FREUND
Die neblige Bergluft war vom Duft kommenden Schnees erfüllt, sie schnitt mir ins Gesicht und kroch unter den Kleidern bis in meine Knochen. Mein Körper war steif vor Kälte und ich spürte meine Füße nicht; mein linker Arm steckte in einem dicken Handschuh, auf dem zusammengekauert, unbeweglich und aufgeplustert der Falke saß, auch ihn spürte ich kaum noch. Hier im Nebel konnte ich Kallai nicht fliegen lassen, ich hätte ihn in Sekunden aus den Augen verloren und er hätte mich auch nicht wiedergefunden. Deshalb hatte er nicht jagen können, er musste hungrig sein wie ich auch. Der Feuermeister war schon höher in den Bergen, er ging neben seinem Esel und kümmerte sich nicht um mich. Wir waren seit neun Tagen unterwegs. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass er häufig allein sein wollte, und auch an die seltsame Art, als schlösse er eine unsichtbare Tür zwischen uns. Bisweilen ging er also allein und weit voraus, für sich in seiner inneren Welt. Zu anderen Zeiten gingen wir gemeinsam, aber ich erkannte am verschleierten Blick seiner Augen, dass ich nicht das Wort an ihn richten durfte. Aber oft war er freundlich und liebenswürdig, leichten Sinnes und zum Gespräch aufgelegt. Allerdings berührte er mich nie und es ging keine Zärtlichkeit von ihm aus wie von Amasai; aber er war gütig ohne Herablassung und es gab keine Spannung zwischen uns. Wir hielten uns nur ungefähr an die Gesetze der Erwählten, obwohl ich meine Befugnisse bis an die Grenze
ausnutzte, und manchmal überschritt ich die Grenze auch. Er strafte mich nie und auch seine Zurechtweisungen waren milde. Es war, als sei ich in seiner Gegenwart keine Queltin. Er nannte mich Leibdienerin oder Elsha, aber nie Harsha, und nie gab er mir das Gefühl, ein niedrigeres Wesen zu sein. Ich schätzte ihn hoch dafür. Wir übernachteten in kleinen Höhlen, die immer durch sein heiliges Zeichen geschützt waren. Manchmal wachte ich nachts von einem Windstoß auf oder auch von dem gemütlichen Schnarchen des Esels, manchmal waren es auch Wölfe, die in fernen Bergschluchten heulten; aber immer spürte ich gleich diese warme Ruhe, dieses Gefühl inniger Freude in der Gegenwart des Feuermeisters. In seiner Nähe war Frieden. Jetzt wartete er auf mich, wie so oft, wenn der Weg breiter wurde oder wir einen Gletscher überqueren mussten. Ich holte ihn ein, blieb aber ein wenig hinter ihm stehen. Dort stand er mit dem Rücken zu mir, seine Wünschelrute aus Holz und Silber in der einen Hand, in der anderen die Zügel. Wie ein Schleier hingen Nebelschwaden an seiner Gestalt, die in einen schwarzen, mit roten Säumen versehenen Mantel gehüllt war. Er trug einen breiten silberbestickten Gürtel mit roten Steinen, aber keine Kapuze, selbst in dieser beißenden Kälte nicht, seine langen, mit grauen Fäden durchsetzten Haare flossen frei über seinen pelzbesetzten Kragen. Sein Mantel fiel in königlichen Falten bis zu den Füßen, seine Stiefel waren rot und grau, vom feinsten Leder, das ich je mit den Fingern gefühlt hatte. Er ließ die Zügel los und deutete mit ausgestreckter Hand den Berg hinab. »Dort ist Talbar«, sagte er. Ich kam einen Schritt näher und jetzt sah ich sie auch, eine kleine Stadt in einer Schlucht zwischen Felsen eingeklemmt, aber halb im Nebel verschwunden. Dazwischen sah ich Häuser aus schmutzig
grauen Steinen, nur ein oder zwei Stockwerke hoch, dann die Grube – und weit in der Ferne die armseligen Zelte der Quelten. Der Feuermeister sah mich an. »Du hast keine Angst vor einer neuen Stadt?« Ich lächelte ihn breit an, obwohl meine Augen auf die Eiskruste auf seiner Schulter gerichtet waren. »Ich habe keine Angst, Meister«, sagte ich mit klappernden Zähnen. »Mir ist so kalt, dass ich es nicht spüren würde, wenn sie mich umbringen.« »So weit wird es hoffentlich nicht kommen«, antwortete er mit einem leisen Lächeln. Er betrachtete das heilige Amulett, das goldglänzend auf dem satten Schwarz meines Mantels lag. Dann schaute er wieder herab auf die Stadt. »Das hier ist eine Grubenstadt. Die Leute sind den Anblick der Quelten gewöhnt. Es wird keine Gewalt geben.« »Dann gibt es keinen Grund für mich, Angst zu haben.« »Hast du überhaupt irgendwann Angst?« »Nur vor mir selbst, mein hoher Meister.« Er drehte sich halb um und sah mich von der Seite an. Ich blickte auf eine Stelle an seiner rechten Schulter, dicht neben dem Hals. Ich hatte gemerkt, dass ich durch meine schielenden Augen doch sein Gesicht sehen konnte, auch wenn es den Anschein hatte, dass ich vorbeischaute. Ich übte mich in dieser Kunst. Deshalb sah ich, dass sein Gesicht ernst und nachdenklich war, obwohl seine Bernsteinaugen lächelten. »Weißt du, wie alt du bist, Elsha?« »Ja, Meister, ich bin sechzehn. Ich war die einzige Harsha in unserer Grube, die ihren Geburtstag kannte, weil ich am Tag vor dem Feuerfest geboren wurde.« Er rieb sich den Bart. »Das ist seltsam.« »Aber nein, Meister«, widersprach ich. »Für uns gibt es außer dem Feuerfest keine Möglichkeit, die Tage und Jahreszeiten zu wissen. Es war der einzig wichtige Tag, den wir kannten, der
einzige, an dem sich die Zeit messen ließ. Wir besitzen keine Kalender oder Wasseruhren wie ihr Erwählten.« »Das meine ich nicht«, sagte der Feuermeister und es klang, als staunte er über etwas. »Es ist seltsam, dass du an diesem Tag geboren bist. Auch ich wurde an diesem Tag geboren. Es gehört zu den Bedingungen um Feuermeister werden zu können, dass man am Vorabend des Feuerfests geboren ist. Das, die Kenntnis der Feueritkraft und eine besondere Fähigkeit für Träume.« Ich starrte noch immer auf seine Schulter und hoffte inständigst, dass er meine Gedanken nicht lesen konnte. Er lächelte kurz, murmelte etwas, dann gab er seinem Esel einen Klaps und wir setzten unseren Weg fort. Ich folgte ihm, meine wunderbaren neuen Stiefel knirschten auf dem gefrorenen Boden. In den Ecken zwischen den Felsen sah ich Schneereste, auch auf den höher gelegenen Kuppen waren Reste von krustigem Schnee. Nur den Himmel konnte ich nicht sehen, obwohl sich der Nebel ein wenig gelichtet hatte. Als wir tiefer ins Tal kamen, erscholl plötzlich ein Schrei und hallte von den Bergen wider. Die Erwählten kamen aus ihren Häusern, zeigten auf uns, eine Trommel wurde geschlagen. Ich hörte Glockenklang und aufgeregtes Kinderlachen, Rufe, Gesang, und auf einem kleinen Platz zwischen uns und der Stadt liefen die Leute zusammen. Der Feuermeister befahl mir meine Kapuze zurückzuschlagen. Ich wurde rot trotz der Kälte, aber ich gehorchte. Ich hatte gehofft, die Leute würden erst nach unserer Ankunft herausfinden, dass ich eine Queltin war. »Es ist besser, sie wissen von Anfang an Bescheid«, sagte er und ging weiter. Welch ein Jubel, als wir um die letzte Wegbiegung kamen! Die Erwählten rannten ihm entgegen, sie liefen um die Wette in ihrer Freude, stolperten übereinander, lachend unter Hochrufen, bis sie näher kamen und sich tief verneigten. Aber
dann erhoben sie sich wieder, und ihre Gesichter strahlten vor Freude über sein Kommen. Erst jetzt sahen sie auch mich. Einige hatten das Brandmal übersehen und verneigten sich, aber sie wurden von anderen an den Kleidern gezogen, ausgestreckte Finger zeigten auf mich, Gemurmel kam auf. Dann Stille. »Sie ist meine Leibdienerin«, verkündete der Feuermeister in diese Stille hinein. »Sie ist zu behandeln, wie ihr meine vorige Leibdienerin behandelt habt: mit Höflichkeit und Achtung.« Auf diese Ankündigung begannen einige sich zu verbeugen, aber das Lächeln war auf ihren Gesichtern festgefroren und sie vermieden meinen Blick. Einer der Männer, der sich als unser Gastgeber herausstellte, trat vor den Feuermeister und verneigte sich tief. »Ich heiße Euch von ganzem Herzen willkommen, hoher Meister«, sagte er mit Inbrunst. »Lange haben wir auf Euer Kommen gewartet. Unsere Freude über Euer Kommen wird lange währen. Lange werden wir Euren Besuch in Erinnerung behalten.« Er richtete sich auf, ein warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht, und so führte er den Feuermeister durch die jubelnde Menge zum nahen Marktplatz. Ich beobachtete, an den Esel gelehnt, das Schauspiel von einigem Abstand aus, man hatte mich vergessen.
Die Häuser der Erwählten bildeten um den Marktplatz herum ein Geflecht aus engen Gässchen. Hier war das Tal schon wieder zu Ende und ließ keinen Platz für breitere Straßen. Die Stadt war arm, die Häuser klein. Wir waren Gäste im vornehmsten Haus, aber welch ein Unterschied zu dem vornehmen Haus, wo wir in Jinnah Gäste gewesen waren! Hier gab es nur für den Feuermeister ein Bett. Ich schlief in meinen Fellen auf dem Holzfußboden vor der Feuerstelle. Das Haus
hatte nicht mehr als zwei Räume, einen zu ebener Erde und den zweiten ein Stockwerk höher, wo der Hausherr mit seiner Frau und der gesamten Familie schlief. Der ebenerdige Raum diente als Küche und überhaupt als Wohnraum, hier wurden Gäste empfangen und hier bekamen sie auch ihr Nachtlager, so wie jetzt der Feuermeister und ich. An das Haus angebaut war ein kleiner Stall, in dem der Esel Platz fand, und im gepflasterten Hof tummelten sich Schweine und Hühner. Es gab auch eine Ziege, die den Haushalt mit Milch, Butter und Käse versorgte. Wenn ich in der Tür des Hauses stand, konnte ich quer durch das Tal bis zu den Zelten der Quelten sehen. Dort standen sie, in den Nebel geduckt, die vertrauten Zelte, und ihr Anblick nagte an meinem Herzen. Oft stand ich so und schaute auf die andere Talseite, und am zweiten Tag trat der Feuermeister an meine Seite, lehnte sich auf seine mächtige Wünschelrute und schaute in die gleiche Richtung. Er hatte noch nicht mit seiner Arbeit begonnen, er bereitete sich innerlich darauf vor, das Feuerit aufzuspüren. Ich merkte, wie er mich mit seinen goldenen Augen ansah, und ich fragte mich, ob er meine Sehnsucht erkannte. »Du möchtest gern die Quelten besuchen?«, fragte er. »Ich möchte in ein freundliches Gesicht schauen dürfen, Meister, ich möchte mit jemand sprechen, der mir in die Augen schaut.« »Geh nur«, sagte er leise. »Aber lass dich nicht sehen. Die Erwählten hier dulden dich, sie haben sich nachsichtig gezeigt, aber sie werden es nicht gutheißen, wenn meine Leibdienerin die Zelte besucht.« Also ging ich mit Kallai in die Hügel und hinten um die Grube herum, wo ich ihn zwischen den Felsen fliegen ließ; anschließend ging ich zu den Zelten. Ein kleines Mädchen, das noch nicht gebrandmarkt war, spielte draußen vor einem Zelt. Sie hüpfte von Stein zu Stein
und sang, ganz in ihr Spiel versunken, vor sich hin. Als ihr Blick auf die drei blutigen Krähen fiel, die ich mit einem Seil zusammengebunden hatte, sperrte sie die Augen auf. Dann schaute sie auf und erblickte mich mit Kallai auf der Hand. Sie sperrte den Mund auf vor Erstaunen. »Lebt er?«, hauchte sie und ließ den Kohlrabi fallen, den sie in der Hand gehabt hatte. »Ja.« Ich lächelte sie an. »Wenn du dich vorsichtig näherst, wird er den Kopf drehen und dich anschauen. Wenn du dich sehr langsam bewegst, darfst du ihn vielleicht an der Brust streicheln.« Sie kam näher und hob die Hand, aber Kallai duckte sich und schlug mit den Flügeln. Ich redete ihm zu und er beruhigte sich. Das Mädchen war zurückgewichen, sie lutschte am Daumen, aber sie ließ Kallai nicht aus den Augen. »Beißt er?«, fragte sie mit einem Blick auf seinen Schnabel. »Nur sein Futter. Er heißt Kallai, und wie heißt du?« »Loria.« Noch immer argwöhnisch schaute sie den Falken an. »Wer passt auf dich auf?« Meine Frage schreckte sie aus ihren Gedanken und sie verschwand im Zelt. Gleich darauf erschien sie mit einer Harsha, die kaum älter war als ich selbst, in der Zeltöffnung. Ich war überrascht, bei uns hatten immer Alte und Kranke auf die Kinder aufgepasst, nicht eine junge Harsha wie sie. Sie hatte ein ungewöhnliches Gesicht, klug, furchtlos und stark. Erst jetzt sah ich, dass ihr rechter Arm verdreht war und gelähmt, deshalb arbeitete sie also nicht in der Grube. Sie sah mein prächtiges rotes Kleid unter dem schwarzen Pelzumhang, mein Brandmal, das heilige Zeichen des Feuermeisters – und wurde rot. Sie kniete hin und berührte mit der Stirn die Erde. »Willkommen, Leibdienerin«, sagte sie aus ihrer Verbeugung heraus, während sie mit dem gesunden Arm das Kind an sich
zog. »Loria! Verneig dich, sie ist die Leibdienerin des Feuermeisters!« »Sie hält einen Vogel«, sagte Loria, die noch immer am Daumen lutschte und keine Anstalten machte, sich zu verneigen. Oh, wie sehr erinnerte sie mich an mich selbst, wie ich in ihrem Alter gewesen war, mit ihren gelben Haaren, ihren grauen Augen und ihrem Trotz! »Lass sie«, sagte ich und legte die Krähen auf einen Stein. Ich berührte vorsichtig die Hand der Harsha. »Bitte, steh auf. Ich möchte gern mit dir sprechen.« Sie richtete sich auf und heftete ihre Augen an mein goldenes Amulett. »Bitte, sieh mir in die Augen. Ich bin eine Frau genau wie du.« Erst jetzt trafen sich unsere Blicke, ein Funke sprang über, wir erkannten Verständnis, Einverständnis, Nähe ineinander. »Ich heiße Dannii«, lächelte sie mich an. »Ich passe auf die Kinder meines Bruders Ridha auf. Wirst du mir die Ehre erweisen, mir in das Zelt meines Bruders zu folgen, um meine Weizenfladen und den Tee mit mir zu teilen?« Ich stellte Kallai auf die Erde, wo er die Krähen nicht sehen konnte, und band seine Leine um einen Felsen. Loria hielt Wache neben ihm und hielt ihm einen toten Spatzen vor, den sie gefangen hatte. Es war kalt im Zelt, weil es nur wenige Feueritbrocken gab, die außerdem klein und von schlechter Qualität waren. Die Grube musste beinah erschöpft sein, dachte ich, die Fähigkeiten des Feuermeisters waren offensichtlich dringend erforderlich. Ich saß auf der Erde und sah zu, wie Dannii unsere einfache Mahlzeit bereitete. »Warum hat der Feuermeister dich zu seiner Leibdienerin gemacht?«, fragte sie schließlich, während sie an einem trockenen Weizenfladen knabberte. Ihre Zähne waren
ebenmäßig und weiß, ihr Mund verriet Entschlossenheit. Ihr Kinn hatte eine kleine Kerbe, ihr Gesicht war rund, es wirkte kraftvoll und weiblich. Ihre Haare waren schwarz gelockt, und sie trug sie nicht länger als bis zum Kinn. Es tat mir gut, jemand ins Gesicht sehen zu können, die Veränderungen im Gesichtsausdruck sehen zu können, statt sie erraten zu müssen. Und Danniis Gesicht zu sehen war eine Freude. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich, weil ich es wirklich nicht wusste. »Obwohl ich manchmal glaube, er möchte den Erwählten zeigen, dass wir Quelten über Gefühle verfügen, einen Verstand besitzen und eine Seele, dass wir nicht nur Arbeitstiere für ihre Gruben sind. Wenn ich zum ersten Mal das Wort an einen Erwählten richte, dann ist es manchmal, als hörte er ein Maultier sprechen.« Dannii lachte. »Du zeigst ihnen, wie Unrecht sie haben mit ihren närrischen Ansichten.« Ich schüttelte den Kopf. »Das wäre schön. Aber ich mache keinen Eindruck auf sie, Dannii. Ich verwirre sie, ich störe sie in ihren seit Jahrhunderten überlieferten Ansichten, aber sie verachten und hassen mich dafür.« »Sind sie grausam zu dir?« »Nicht wenn ich in Gesellschaft des Feuermeisters bin. Sein heiliges Zeichen schützt mich. Und wenn der Feuermeister sieht, dass sie mir übel mitspielen, weist er sie streng zurecht. Ich kann ihnen nicht die Stirn bieten, aber er verteidigt mich mit aller Macht. Und du, Dannii, hast du einen Mann, der dich beschützt?« Ihr Lächeln erlosch, sie wurde rot und senkte den Blick. »Die Erwählten haben mir einen Mann zugewiesen, weil ich gesund bin, wenn man von meinem Arm absieht, deshalb soll ich ihnen Kinder für die Grube gebären. Ich gehe zu ihm, wenn er nach mir verlangt, damit er sich bei den Erwählten nicht über mich beschweren kann, aber ich werde ihn nicht heiraten und
ich lebe weiter bei meinem Bruder.« Entsetzt sah ich sie an. »Warum gehst du zu ihm, wenn du ihn nicht liebst? Die Erwählten können dich nicht dazu zwingen!« »Sie können tun, was sie wollen, Leibdienerin. Zuerst habe ich mich geweigert, aber sie haben mich geschlagen und mir den Arm gebrochen. Deshalb habe ich nachgegeben. Ich werde ihnen die vier Kinder für die Grube gebären und danach bestimme ich wieder über mich selbst.« Sie warf mir ein kurzes Lächeln zu, in dem ein unwiderstehlicher Humor mitschwang. »Jedenfalls hat der Arm mich von der Grube befreit. Ich passe gern auf die Kinder auf, ich spiele mit ihnen und klettere in den Bergen herum. Komm mit und sieh dir meinen Garten an, meine Kohlköpfe werden dieses Jahr den ersten Preis gewinnen.« Aber an jenem Tag kamen wir nicht bis zu den Gärten, die Kinder entdeckten uns und zogen uns in ihre Spiele; die anderen Aufpasser waren alt und hatten nicht so viel Kraft wie Dannii. Darum war sie der Liebling aller Kinder. Den ganzen Nachmittag spielten wir, rannten die Hügel hinter den Zelten hinauf und kullerten wieder hinunter, jagten und fingen einander, und ich hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel gelacht, mich nicht so frei gefühlt. Dannii und ich umarmten einander, als ich gehen musste. »Komm bald wieder«, sagte sie. »Komm und iss mit uns zu Abend, damit du meinen Bruder und seine Familie kennen lernst. Wir werden Geschichten erzählen und um das Feuer tanzen und der alte Bior kann uns auf dem Dudelsack vorspielen.« »Das hört sich wunderbar an.« Ich küsste sie auf die Wange, nahm Kallai und die Krähen, verabschiedete mich von Loria und ging zurück zu den Häusern der Erwählten.
8
DAS FEST DES FEUERITS
An dem Tag, als wir endlich in die Berge gingen, um Feuerit aufzuspüren, wehte ein eiskalter Wind. Die ganze Stadt, Quelten und Erwählte, alle zogen mit uns hinaus; begleitet von Musikanten mit Trommeln, Dudelsäcken, Schellen und Flöten, mussten wir eine eindrucksvolle Parade abgegeben haben. Der Feuermeister war ganz in Rot gekleidet und trug zu seiner gewöhnlichen Robe noch einen weiten wehenden Mantel mit einer riesigen Kapuze, die sein halbes Gesicht verdeckte. Auch ich trug rote Kleider, sogar rote Stiefel und dazu eine rote Kappe mit schwarzem Pelzbesatz. Diese roten Kleider waren am Saum und an den Ärmeln mit kleinen züngelnden Flammen aus Goldfaden bestickt. Nur dass ich meine Steinfigur zurücklassen musste, bekümmerte mich. Ich ging hinter dem Feuermeister, dahinter kamen die Musikanten, dann die Erwählten und zuletzt die Quelten. Geführt vom Feuermeister erklommen wir die ersten Hügel am Fuße der großen Berge. Die Musik spielte und die Kinder kreischten vor Aufregung. Auf einer kleinen Ebene, von der aus man das Tal überblicken konnte, hielten wir an. Von hier aus sah man die kleinen Häuser, die Zelte und die erschöpfte Grube. Von den beschneiten Höhen über uns pfiff der Wind ins Tal und spuckte Eis auf unsere Gesichter und unter die Kleider. Ich wickelte mir den roten Schal um den Kopf und zog die Kapuze tiefer. Der Feuermeister hob die Hand und die Musik brach ab. Selbst die Kinder verstummten und kuschelten sich in die
Rockfalten ihrer Mütter. Vollständige Stille herrschte, unterbrochen nur von den langsamen, beständigen Schlägen einer einzigen Trommel, die klang wie ein mächtiges Herz. Alle waren ein paar Schritte zurückgewichen und inmitten einer großen Fläche stand der Feuermeister, allein. Er hielt die Wünschelrute mit beiden Händen und begann in den sandigen Boden zu zeichnen. Gebannt sahen wir zu, der stete Trommelschlag und der Wind waren die einzigen Laute in dieser Winterwelt. Was der Feuermeister in den Sand zeichnete, war eine riesige Landkarte, – das Tal, die Häuser der Erwählten, das Lager der Quelten, die Grube, alles war eingezeichnet. Er legte Steine an Stellen, wo große Felsen waren oder die Hügel anstiegen, er ritzte tiefer in den Boden, wo das Tal war. Schließlich war eine vollständige Abbildung der Stadt Talbar und ihrer Umgebung entstanden. Sie war zwölf Schritte lang und acht breit, sie war so genau, dass wir sogar den ebenen Platz erkannten, wo wir selbst versammelt waren. Jetzt kam die Reihe an mich, die fünf heiligen goldenen Urnen aufzustellen, je eine an jede Seite der Karte, im Süden, Norden, Osten und Westen. Die letzte Urne stellte ich in die Mitte. In jede Urne legte ich Zunder und Feueritsplitter, dann entzündete der Feuermeister die fünf Feuer. Während sie aufflackerten, setzte er sich hinter die östliche Urne und sah gen Westen über die Karte von Talbar. Ich stellte mich hinter ihn und auch die anderen versammelten sich dort. Es war verboten, in das Gesicht des Feuermeisters zu sehen, während er das Feuerit aufspürte. Jetzt hob er die Spitze seiner Wünschelrute, dann senkte er sie vor sich auf die Erde. Mit ausgestreckten Armen hielt er sie senkrecht fest, während er in sich versunken hinter der östlichen Feuerurne saß. Wir warteten mit angehaltenem Atem. Die Augen tränten uns vom Wind und in unseren Ohren dröhnten die Trommelschläge. Eine ungeheure Spannung lag
in der Luft, die von der eisernen Konzentration des Feuermeisters ausging, als er der Stimme des Feuerits in der Erde lauschte. Die undurchdringliche Erde, die Felsen und darin verborgen das Feuerit stellten sich dem Feuermeister entgegen, er musste sie bezwingen, bis sie seine Suche mit einem Beben, kaum wahrnehmbar und doch mächtig, beantworten würden. Jetzt erhob er sich. Gemessenen Schrittes trat er in die Mitte der Karte und beugte sich über die Urne. Wir sahen ihn von der Seite, aber sein Gesicht war unter der mächtigen Kapuze verborgen. Mir schien, ich hätte seine Stimme gehört, als würde er dem Feuer befehlen, aber es konnte ebenso gut der Wind gewesen sein oder das Echo der Trommel. Raue Windböen rissen an den Flammen, sie zerfetzten den Rauch und streuten Asche über die eingezeichneten Schluchten und Häuser, über die roten Stiefel des Feuermeisters. Rauch und Staub legte sich auf seine Kleider und der Wind blies seinen Mantel auf wie einen roten Ballon. Jetzt ging er im nordwestlichen Teil seiner Karte in die Hocke, ließ seinen Stab über der Erde schweben, ich konnte seine Anspannung sehen von dort, wo ich stand. Dann begab er sich der Reihe nach in die anderen Teile der Karte, – die Wünschelrute immer dicht über die Erde haltend, prüfte er jede Ecke mit ganzer Kraft. Im letzten, dem nordöstlichen Teil ging er wieder in die Hocke und blieb lange so sitzen. Hier rüttelte der Stab in seinen Händen, er schien sich jetzt aus eigener Kraft zu bewegen, tanzte und war so mächtig, dass er die Hände des Feuermeisters drehte und zog bis hin zu einer kleinen Schlucht unweit der ersten Grube. Plötzlich ließ er den Stab los, er rollte, drehte sich auf dem sandigen Grund, bis sich zuletzt die silberne, mit Feueritstaub gefüllte Spitze in die eingezeichnete Schlucht bohrte. Mit einem Aufschrei wich er zurück, hob die Hände zum Himmel und dankte Gott. Die
Leute jubelten und fielen einander in die Arme, die Musikanten begannen eine wilde Melodie, die eine Huldigung sein sollte, aber kein Maß kannte, alle tanzten in einem ausgelassenen Durcheinander. Über den ganzen Wirbel hinweg sah der Feuermeister mich an und lächelte. Er sah unglaublich müde aus, gealtert, aber der Triumph sprach aus seinem Gesicht und seine Augen leuchteten wie brennender Feuerit. Ich erwiderte seinen Blick mit einem strahlenden Lächeln. Später, als der Feuermeister die Karte verwischt und die Feuer in den Urnen gelöscht hatte, als ich die Urnen gesäubert und sie vorsichtig zurück in den gewebten Beutel gelegt hatte, begab sich die ganze Prozession nach Nordosten in die Schlucht, wo die neue Grube entstehen würde. Auch hier spürte der Feuermeister mit der Wünschelrute die genaue Lage der zukünftigen Grube auf, schritt die Stelle ab und markierte Abstände und Umrisse mit Steinen. Er erklärte den Quelten, wo sie graben sollten und wie tief, um das Feuerit zu finden. Erst jetzt ging der Marsch zurück in die Stadt, wo die Festlichkeiten bereits begonnen hatten, – schon von weitem hörten wir eine ausgelassene Musik, die mit ihrer Fröhlichkeit die Leute ansteckte und zum Mitsingen veranlasste. Ich ging an der Seite des Feuermeisters, wie es sich für seine Leibdienerin gehörte, aber doch in einigem Abstand von ihm und den Erwählten. Sogar die Kinder, ihrer Ausgelassenheit zum Trotz, achteten darauf, mich nicht zu berühren oder mir ins Gesicht zu sehen. Inmitten aller Freude war ich allein. Aber am Abend, als die Erwählten um ihre Herdfeuer herum versammelt waren, schlich ich mich davon. Dannii hieß mich warm willkommen, sie küsste mich auf beide Wangen, umarmte mich und zog mich ins Zelt. Dort saß eine Runde fröhlicher Menschen ums Feuer, ihr Bruder Ridha mit seiner Familie, die Familie seiner Frau, seine Brüder mit ihren Frauen und Kindern, außerdem einige Freunde. Trotzdem gab es Platz
für mich, denn hier musste niemand auf Abstand bedacht sein. Dannii hatte ihnen von mir erzählt und jetzt wurde ich allen vorgestellt und anfangs mit Ehrfurcht begrüßt, weil sie nicht wussten, ob ich zu den Erwählten oder den Quelten gehörte, aber als ich von Siranjaro und meiner Familie erzählte, schmolz ihre Unsicherheit dahin. Sie erzählten mir von der ausgebeuteten Grube und freuten sich, eine neue Grube erschließen zu können. Dann begannen die Männer ihr Festessen aus Ziegenfleisch und über dem Feuer gebratenen Krähen. Während sie aßen, unterhielt ich mich mit Ridhas Frau Kiran. Sie war eine sanfte Frau mit einem scheuen Lächeln und sie wurde ein wenig rot, als sie mir stolz anvertraute, was ich auch schon gesehen hatte: Sie erwartete ein Kind. Ich sah, welche Verbundenheit zwischen ihr und Ridha bestand, ein inniges Band, das eine Sehnsucht wachrief, die schmerzlich in mir zog. Beinah neidete ich ihr dieses Glück. Später aß ich mit Dannii und den anderen Harshas gemeinsam die Reste, wir lachten und sie erzählten mir die alten Geschichten, die in ihrer Familie überliefert waren und die sich kaum von den Geschichten meines Vaters unterschieden. Auch ihre Mythengesänge waren ähnlich, nur die Melodien unterschieden sich von unseren Liedern in Siranjaro. Diese Ähnlichkeit überraschte mich, weil es keine Wege zwischen den beiden Orten gab. Nachdem wir gegessen hatten, baten sie mich, eins unserer Lieder zu singen. Ich wählte eine alte Legende, bei der ich nur von einer Trommel begleitet wurde, und hinterher lobte Dannii meine Stimme. Auch Lesharo hatte meine Stimme gelobt, aber ich hatte geglaubt, dass er sie mochte, weil er mich mochte. Anschließend tanzten wir mit Klatschen und Singen in zwei langen Reihen gegeneinander um das Feuer. Ihre Tänze waren anders als die in Siranjaro, aber wir alle lachten, wenn ich über meine Füße stolperte. Einer der jungen Quelten war mein
Tänzer, aber er war sehr schüchtern und wagte kaum, mich anzusehen. Nach dem Tanz saßen wir alle um das Feuer und hörten einem der Alten zu, der den Dudelsack spielte. Loria hatte sich auf meinen Schoß gekuschelt, wo sie eingeschlafen war und noch im Schlaf die seidenen Troddeln meines Kleides festhielt. Ich hielt das schlafende Kind in den Armen und meine Feueritfrau in der Hand, hörte dem Dudelsack zu und träumte. Einen seligen, gesegneten Augenblick lang sah ich Lesharo an seinem Feuer, wie er mit gesenktem Kopf seine Flöte spielte. Ich hörte seine Musik, die zarter und schöner und süßer war als alles, was ich je zuvor gehört hatte, und die ich innigst liebte. Dannii, die neben mir saß, neigte sich näher zu mir: »Wie ist er?«, flüsterte sie. Ich sah sie erstaunt an und sie lächelte. »Der Mann, der dir die Feueritfigur geschenkt hat. Wie ist er?« Sie kannte mich schon gut, meine neue Freundin. »Er ist wie ich«, sagte ich. »Und seine Melodien sind süßer als alles andere.« Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und zusammen lauschten wir der Musik. Zum ersten Mal konnte ich an Lesharo denken, ohne traurig zu sein, ich freute mich über meine tiefe Liebe für ihn. Gern wäre ich die ganze Nacht bei ihnen geblieben, aber ich wusste, dass es in den Augen der Erwählten ein Vergehen gewesen wäre, deshalb kehrte ich noch am Abend in das Haus zurück, wo der Feuermeister und ich einquartiert waren. Den Rest des Abends verbrachte ich allein, ich saß für mich allein, hörte das Gelächter der Erwählten, die Geschichten der Erwählten, die Musik der Erwählten. Ich saß am Fenster und spürte die Wärme des Feuers im Rücken, während mein Gesicht den eiskalten Wind fühlte, der zwischen den Ritzen der Fensterläden hereinwehte. Zitternd vor Kälte sehnte ich mich nach der Gemeinschaft mit meinem Volk.
Am nächsten Morgen hockte ich im grauen Morgenlicht allein vor dem Haus und fütterte Kallai mit den Flügeln der Raben, die er am Vortag erjagt hatte, als der Feuermeister vor die Tür trat. Er ging ein paar Schritte und blieb dann stehen, sodass er mir den Rücken zuwendete. Auch ich stand auf. Gesenkten Hauptes wartete ich, bis er das Wort an mich richten würde. »Ich werde Talbar heute verlassen, Elsha.« »Talbar verlassen? Ihr sagtet, es würde noch eine Weile dauern, ehe wir die nächste Stadt besuchen müssen.« »Das stimmt. Ich werde allein gehen.« Ich erstarrte vor Schreck, und gleich fühlte ich mich schuldig. »Habe ich Euer Missfallen erregt, Meister?«, fragte ich und bereute die Frage im selben Augenblick. »Nein, Elsha. Ich bin sehr zufrieden mit dir. Aber ich muss eine Reise unternehmen, und zwar allein. Du wirst hier in Talbar in diesem Haus bleiben. Man wird sich um dich kümmern.« »Kann ich nicht mitkommen, Meister?« »Nein. Aber, Elsha…« Er drehte sich zu mir um und sah mir tief in die Augen, sein Gesichtsausdruck war todernst. »Du sollst immer und überall mein heiliges Zeichen tragen. Leg es unter keinen Umständen ab.« »Ja, Meister. Wie lange werdet Ihr weg sein?« »Ich weiß es nicht. Zwanzig Tage, vielleicht dreißig, vielleicht auch länger.« Mir wurde schwer ums Herz. Den ganzen Tag über wurde mein Herz mir immer schwerer in der Brust, und am frühen Nachmittag, als die Stadt zu seinen Ehren mit Trommeln, Flöten und Gesang eine Abschiedszeremonie abhielt, hätte ich ihm zu Füßen fallen mögen um wie ein Kind zu betteln, dass er mich mitnahm. Aber er war von Erwählten umringt, die ihm Lebewohl sagen wollten, sodass ich mich nicht einmal von ihm verabschieden konnte.
Mittendrin schickte mich die Frau des Hausbesitzers zum Wasserholen, und als ich zurückkam, war mein Meister verschwunden.
9
DIE KRAFT DER ERDE
Auch im Hause war die Stimmung verändert, nachdem der Feuermeister abgereist war. Alles Lachen, die Wärme und Behaglichkeit waren wie weggeblasen. Zuerst meinte ich, dass sie dem Feuermeister nachtrauerten, aber schließlich begriff ich, dass sie nicht seine Anwesenheit vermissten, sondern mir meine Anwesenheit verübelten. Sie hatten mich als notwendiges Übel hingenommen, als er noch in ihrem Haus weilte, jetzt aber brauchten sie sich keine Mühe mehr zu geben. Sie behandelten mich wie Luft. Sie hatten dem Feuermeister versprochen, mir Aufnahme zu gewähren, aber sie gewährten mir nicht mehr als eine Schlafstelle und ein bisschen Gemüse, aus dem ich meine Mahlzeiten zubereiten konnte, ansonsten aber sprachen sie kein Wort mit mir und rührten das, was ich mit Kallai gejagt hatte, nicht an. Zuerst ärgerte ich mich darüber, aber nachdem ich fünf Tage mit niemandem ein Wort gewechselt hatte, wurde ich tief traurig. Aber mehr noch als die schnöde Behandlung störte mich, dass ich nie für mich allein sein konnte. Vorher hatten der Feuermeister und ich den unteren Raum jeden Morgen für uns gehabt, wo wir Wasser wärmen und uns waschen konnten. Aber jetzt war die ganze Familie ständig anwesend, was mich eigentlich nicht gestört hätte, weil ich in einem Zelt mit sechs Männern aufgewachsen war und mich weder meiner eigenen noch anderer Nacktheit schämte. Oft hatte ich mich auch in Anwesenheit des Feuermeisters gewaschen, genau wie er sich in meiner Anwesenheit wusch, nie hatten sich dabei peinliche
Gefühle eingestellt. Meistens hatte er gelesen, während ich mich wusch, wahrscheinlich bemerkte er mich nicht einmal. Hier aber sahen mich nach seiner Abreise die jungen Männer des Hauses auf eine Art an, dass ich mich schämte, sie flüsterten hinter vorgehaltener Hand und lächelten sich vielsagend zu. Deshalb wollte ich meine Kleider nicht ablegen, solange sie in der Nähe waren. Aber am fünften Tag kam ich morgens von der Jagd nach Hause und hatte das dringende Bedürfnis, mich zu waschen. Ich sprach mit der Frau des Hauses, die gerade die Schalen und Töpfe vom Frühstück spülte, wobei ihre Schwiegertochter ihr half. »Frau«, sprach ich sie von einem gebührlichen Abstand aus an. »Könntet Ihr mir den Gefallen tun, dass ich mich hier allein im Raum waschen darf?« Sie überging meine Frage. Erst als ich nach einiger Zeit ein zweites Mal fragte, sagte sie kühl: »Nein, den Gefallen kann ich dir nicht tun.« »Es war möglich, als mein Meister noch hier war.« »Stimmt«, zischte sie über ihre Schüssel gebeugt. »Er hat uns mit seinem Kommen einen großen Gefallen getan, aber es gefällt uns nicht, dass er dich hier zurückgelassen hat. Es ist eine Zumutung, eine Queltin in meinem Hause zu beherbergen. Du verletzt unseren Hausfrieden. Nichts an dir gefällt mir, Harsha, ich habe keinen Anlass, dir auch nur den kleinsten Gefallen zu tun.« »Ihr habt meinem Herrn und Meister versprochen, mich gut zu behandeln.« »Wir geben dir ein Dach über dem Kopf, Harsha, weil wir es dem Feuermeister versprochen haben, sonst würden wir dich wegjagen wie einen räudigen Hund, lass dir das gesagt sein.« »Aber Ihr behandelt mich nicht gut.«
Sie schnaubte und reichte ihrer Schwiegertochter die nächste Schale zum Abtrocknen. Sie beachteten mich nicht weiter und lachten über eine Dummheit, die eins der Kinder gemacht hatte. »Ich möchte mich waschen«, beharrte ich wütend. Ich hatte ihr Gespräch unterbrochen und damit eins der Gesetze verletzt. Die Frau drehte sich langsam um und sah in die Leere über meinem Kopf. »Wenn mein Herr, der Grubenaufseher, heute Abend nach Hause kommt, werde ich ihm von deiner Aufsässigkeit berichten.« »Und ich werde meinem Herrn von Eurer Unfreundlichkeit gegen mich berichten.« »Dann steht Wort gegen Wort, Harsha, und dein Wort ist wertlos.« »Mein Wort ist nicht wertlos«, widersprach ich ihr. »Ich bin die Leibdienerin des Feuermeisters. Er wird mich beschützen.« »Du bist keine Leibdienerin«, keifte sie. »Du bist nicht einmal eine Frau. Du bist ein Dreck und gerade gut genug, um die Queltenbande zu beschwichtigen, damit sie Frieden halten in den Gruben, wo es Aufruhr gab. Unser Feuermeister hat dich zur Dienerin gemacht, damit die Sklaven Ruhe geben, du bist das Zugeständnis, damit sie glauben, sie sind auch etwas wert. Und wir Erwählten sollen den Spaß bezahlen. Glaub mir, wir ertragen dich nur um seinetwillen. Um des lieben Friedens willen ertragen wir…« »Ihr lügt!« »Ach, ja, Harsha? Mach dir nichts vor, mit deinem Glauben, dass du ihm dienst. Du dienst der Ruhe, sonst nichts. Auch wenn er seine Boten in die Städte geschickt hat, um den Erwählten zu sagen, dass sie dich dulden müssen. Damit sichert er die Ruhe und unser Recht auf die Gruben. Er sichert unsere Vorherrschaft über die Quelten. Er schützt nicht dich, sondern unsere Macht.«
In unserer Wut sahen wir einander in die Augen. Ich hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen. Um nicht etwas zu tun oder zu sagen, das ich später bereuen würde, nahm ich meinen Umhang vom Haken und verließ das Haus. Ich rannte den steinigen Hang hinter dem Haus hinauf, an dem alten steinernen Abort vorbei, und dann einen gewundenen Weg steil den Berg hinan bis zu einem Seitental. Ein kleiner Fluss lief durch dieses Tal. Das eilig plätschernde Wasser war eiskalt, aber ich zog mich schnell aus, watete bis zu den Oberschenkeln ins Wasser und endlich konnte ich mich waschen. Schon bevor ich in das eisige Wasser hineingewatet war, hatte ich vor Wut und Aufregung gezittert, jetzt zitterte ich vor Kälte, die bis ins Mark ging. Ich trocknete mich am Saum meines Wollkleids ab, kleidete mich an und zog die Ärmel über meine blau gefrorenen Hände. Meine Finger waren so steif, dass ich kaum imstande war, die Bänder an meinem Kleid zusammenzuschnüren, der Wind fuhr mir unter das Kleid und schnitt in meine feuchte Haut. Ich begann zu rennen, sprang über Steine und Grasbüschel, bergauf, bergab, bis ich meine Füße wieder spürte und mein Atem kleine Wölkchen in der kalten Morgenluft hinterließ. Aber ich fühlte mich nicht besser und war noch immer erfüllt von der Wut über das, was die Frau zu mir gesagt hatte. Weit weg von der Stadt setzte ich mich auf einen flachen Felsen, ich nahm meine Kette ab und betrachtete das heilige Zeichen, ein menschliches Auge mit einer Flamme. Es war das Symbol für das innere Auge, für die Fähigkeit, Feuerit aufzuspüren. Das Auge glimmerte und zwinkerte, es narrte mich, so kam es mir vor, und in einer plötzlichen Aufwallung nahm ich einen spitzen Stein und ritzte mein Familienzeichen in das Amulett. Den Kreis zeichnete ich um die Iris des Auges herum, dann ritzte ich rundherum Wellenlinien in das weiche Gold. Zu meinem Erstaunen passten die beiden Zeichen, seins und
meins, gut zusammen, was meine ganze Absicht zunichte machte. Ich hängte mir die Kette wieder um und saß noch lange auf dem Stein, während ich gedankenverloren ins Tal sah. Allmählich kam Frieden über mich. Hier war ich frei, nicht gebunden durch Pflichten und Aufträge, frei von der verächtlichen Geringschätzung und dem Gekeife. Hier gehörte ich allein der Erde und die Erde gehörte mir. In einer plötzlichen Eingebung legte ich mich flach mit ausgestreckten Armen auf den Boden, lauschte auf das Gemurmel des Flusses, das Flüstern des Windes im Gras. Ich drückte meine Handflächen auf die Erde und spürte, wie der Lebensquell der Erde in meinen Körper floss. Ich atmete den wilden reinen Duft feuchter Erde, und mit dem ganzen Körper nahm ich die Anziehungskraft der Steine in mich auf. Ich fühlte mich getröstet, gereinigt und wie neugeboren. Ich schloss die Augen und dachte an die Kraft des Feuerits. In meine Gedanken versunken spürte ich mit einem Mal ein Beben im Boden, die Erde schien sich zu regen, ein heimliches Ziehen erreichte mich tief aus ihrem Inneren. Das Gefühl erschreckte mich. Ich sprang auf und klopfte mir den Sand von den Kleidern. Dann hockte ich mich noch einmal hin und legte halb aus Neugier die Handflächen auf den Boden. Die Kraft war da, kein Zweifel, sie pulsierte unter meinen Händen. Ich sah mich um und blickte hinab ins Tal, wo die alte Grube sein musste. Sie lag ein gutes Stück westlich von mir. Trotzdem spürte ich diese summende Kraft, das Fließen in der Erde, lebendig und stark. Ich weiß nicht, warum ich tat, was ich tat; aus Neugier vielleicht, oder aus reiner Verrücktheit. Oder es war Schicksal. Jedenfalls beschloss ich, der Kraft zu folgen um an ihre Quelle zu gelangen. Ich zog meine Stiefel aus, weil ich der Erde näher sein wollte, weil ich sie mit nackten Füßen besser spüren konnte. Meine Hände zitterten. Halb hatte ich das Gefühl,
etwas Verbotenes zu tun, aber in meinem Herzen war ich ruhig. Was ich tat, erschien mir richtig, sehr richtig und gut. Mit nackten Füßen stand ich also auf der Erde, streckte mich und überblickte das Tal. Ich spürte das Summen dieser Kraft, das sich durch meine Fußsohlen in meine Beine übertrug und von dort in meinem ganzen Körper fortsetzte, in meine Lungen und mein Herz strömte. Die Kraft pulsierte in mir und ich hätte sie mit keiner Macht der Welt zum Schweigen bringen können. Also machte ich tastend mit halb geschlossenen Augen die ersten Schritte. Nie war ich mir der Erde so bewusst gewesen, ihrer Zähigkeit und Zerbrechlichkeit und wie sehr sie von Leben erfüllt war. Zum ersten Mal spürte ich, dass die Steine nicht leblos waren, dass der Sand lebte und das Wasser nicht leer war. Unsere Erde lebt. Sie lebt und atmet und singt und fließt und weint – in jedem ihrer kleinsten Teilchen. Und ihr Gesang erreichte mich, sie flüsterte, summte durch meine Fußsohlen hindurch, ihr Gesang durchströmte mich, erfüllte mich, bis mein gesamtes Dasein auf sie eingestimmt war. Jetzt rannte ich los, folgte der Kraft, rannte und hüpfte vor Freude und beflügelt von der Gewissheit, dass dies die Mitte all dessen war, was ich liebte. Kälte, Schmutz, spitze Steine oder Pfützen, alles war verwandelt in Freude und Gesang, in ein Gefühl, als flöge ich zur Seele Gottes, mitten hinein in das große Feuer. Plötzlich hielt ich wie betäubt inne. Zu meinen Füßen lag ein dunkles Rund; es war eine verlassene Feuerstelle und die Asche war voll halb verbrannten Feuerits. Am ganzen Leib zitternd kniete ich mich hin, wühlte mit den Händen in der Asche und förderte das Feuerit zutage. Große Brocken, in denen noch Feuerkraft eingeschlossen war, summten in meinen Händen. Lachend schaufelte ich die Asche hoch und verstreute sie in die Luft. Ich sprang auf und umtanzte die Feuerstelle und das Feuerit, ich sang und hätte die ganze Welt umarmen mögen.
Wie im Traum ging ich schließlich dahin zurück, wo meine Stiefel lagen, zog sie an und erklomm den Hang, um zurück in die Stadt zu gelangen. Ich warf einen letzten Blick zurück in das Seitental auf den wirbelnden Fluss, die kahle, steinige Erde, die vom Wind zerzausten Grasbüschel – und ich wunderte mich, dass ich in diesem zerklüfteten Tal eine kleine Feuerstelle hatte finden können. Aber ich hatte sie nicht einfach gefunden, ich war geführt und gezogen worden. Das andere Wort wagte ich nicht zu gebrauchen. Aber es leckte wie eine Flamme am Rand meines Wissens, ich konnte die Flamme nicht löschen… Sie jagte mir Angst ein, ich war verwirrt, und dann ergriff mich ein Freudentaumel, wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben erlebt hatte. Im Haus verliefen die Dinge wie zuvor. Ich wurde gemieden und nicht beachtet, nur auf eine Sache achteten die Frauen: mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Nie war ich allein, sie verweigerten mir den Platz am Feuer um mein Essen zu bereiten, und schließlich durfte ich auch kein Gemüse mehr in ihrem Garten ernten. Deshalb lebte ich tagsüber mit den Quelten, wo die Raben und Krähen, die Kallai erjagte, einen willkommenen Beitrag zu den Mahlzeiten darstellten. So waren wir gut versorgt. Ich hielt meine Besuche in den Zelten auch nicht mehr geheim. Dann verlor ich eines Tages meine Feueritfrau. Weil ich sie im Schlaf immer in den Händen hielt, merkte ich erst am Abend, als ich meine Schlaffelle ausgebreitet hatte und in meiner Tasche nach der Figur tastete, dass ich sie verloren hatte. Panik ergriff mich, ich suchte hastig, leerte meinen ganzen Beutel auf dem Boden aus, kramte zwischen den Kleidern, Tonschalen und beinernen Löffeln. Ich schüttelte meine Unterkleider, meine Kleider aus, ich fühlte in allen Taschen nach meiner Figur. Dann schüttelte ich den Sack und die Schlaffelle aus, ich tastete sogar in meinem zweiten Paar
Stiefeln nach ihr. Aber ich fand sie nirgends. Die Frau des Hausbesitzers sah mir mit verschränkten Armen schweigend zu. Zuletzt saß ich mitten im Durcheinander meiner Sachen und sah sie hilflos an: »Frau, habt Ihr meine Feueritfrau gesehen?« Sie ließ ihren Blick missbilligend über meine Habseligkeiten schweifen. Aber sie war im Begriff ins Bett zu gehen und vielleicht nicht in der Stimmung für einen Streit. »Wenn ich hier Zeug finde, das herumliegt, dann verbrenne ich es, Harsha, besonders wenn es aus Feuerit ist.« »Ihr wisst, welchen Stein ich meine. Meinen besonderen Stein, meine Frauenfigur. Bitte. Es ist mein einziger Besitz.« »Dann solltest du besser darauf aufpassen.« Ohne ein weiteres Wort ging sie die Treppe hinauf und ließ mich wie ein Häuflein Elend sitzen. Ein weiteres Mal durchsuchte ich alles und gab schließlich auf. Ich packte alles zurück in den Beutel und legte mich schlafen. Auf einmal fiel mir ein, wo meine Feueritfrau sein musste! In dem Tal, in dem ich tags zuvor gejagt hatte. Und ich wusste auch, wie ich sie wiederfinden konnte. Ich wachte vor dem Morgengrauen auf, zog meine warmen Stiefel an und meinen wärmsten Umhang und trat, den Kopf in der schützenden Kapuze, vor die Tür. Draußen war es noch beinah Nacht. Ich kletterte den steinigen Hang hinter dem Haus hinauf, machte einen Abstecher zum Abort, dann erstieg ich den Berg. In der Schlucht, wo die Erwählten ihre Abfälle hinkippten, hörte ich Geraschel und wusste, dass es Wölfe waren. Sie kamen oft in die Stadt, um nach Essbarem zu suchen. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit wie grünes Feuer, aber sie folgten mir nicht. Ich ging über den Kamm und stieg hinab in das Tal auf der anderen Seite. Der Himmel war jetzt ein wenig heller und ich konnte die Umrisse der Berge ausmachen. Dicke Nebelwolken hefteten sich an meine Kleider
und gerannen zu Tropfen, die sich wie Regen auch auf meinem Gesicht und in meinen Haaren niederließen. In der Nacht hatte es gefroren, Raureif schimmerte überall und das Gras knisterte unter meinen Schritten. Die Hände tief in den Ärmeln vergraben stand ich und überblickte das Tal. Zu meiner Linken hörte ich den Fluss gurgeln, der unter einer dicken Dunstschicht verborgen lag. Überall standen mächtige Felsen wie Gespenster im Nebel, schweigende Wächter einer grauen Dämmerung. In jenen Zeiten waren die Morgen grau, sie begannen dunkelgrau, dann allmählich schälte sich ein Grauschleier nach dem anderen von der Welt wie Schalen von einer Zwiebel, aber was hervorkam, war nicht weiß, sondern ebenfalls grau. So war der Himmel den ganzen Tag grau, bis er sich abends wieder mit dunklerem Grau verschleierte bis zur schwarzen Nacht. Aber für mich war dieser Morgen nicht wie alle anderen. Diese Dämmerung war ein Anfang – oder ein Ende. Zitternd vor Angst und Kälte beugte ich mich nieder, um meine Stiefel auszuziehen. Der Reif lag noch auf dem Boden, aber ich wollte die Steine mit der Haut fühlen, meine Füße auf der Erde haben. Ich stand auf und schloss die Augen. Schuldgefühle waren die ersten Gedanken in meinem Kopf. Was bildete ich mir ein? Dass ich die erste Frau war, die Feuerit aufspüren konnte? Ich hatte nicht einmal eine Wünschelrute! Einen Augenblick lang lähmte mich der Schrecken über meine Anmaßung. Wie konnte ich es wagen? Das hier war allein sein Privileg. Wie konnte ich glauben, dass ich die Kraft dazu besaß, geschweige denn das Recht? Mit aller Kraft verschloss ich mich den Stimmen, die Vernunft, Schuld und Zweifel hießen, ich dachte an meine Feueritfrau. Ich hob sie in die Mitte des gleißenden Lichts in meiner Seele, spürte ihre Form, ihre Glätte, die Wärme und ihre singende Kraft. Ein zweites Bild entstand vor meinem inneren Auge, in dessen Mitte meine Frauenfigur stand, aber weit von der Stelle,
wo ich mich befand. Das Bild verschwamm und wurde wieder klarer, es zog mich, und plötzlich wusste ich – ich wusste – wo meine Feueritfrau lag. Aber wie vorher das Bild war auch Wissen unstet, mal ganz klar, dann wieder verschwommen, ich lauschte mit aller Kraft, ich musste mein ganzes Wesen sammeln, um das Bild zu halten. Erst jetzt merkte ich, dass es nie ganz verschwand: Es war wie der Schatten eines fliegenden Vogels auf dem Boden, im einen Augenblick scharf umrissen, im nächsten nur ein dunkleres Grau, das sich kaum von der Umgebung abhob, aber schon bald tauchte es an unvermuteter Stelle deutlich wieder auf. Ich lief ihm hinterher, lief oder rannte, wenn es sich schnell bewegte, hielt inne, wenn es langsamer wurde, aber ich sah nicht mit meinen Augen, sondern mit meinem Herzen, meinem Geist, meiner Seele. Und dann war es plötzlich verschwunden. Ich blieb stehen, keuchte, ich wusste nicht mehr, wo ich war. Vor Erschöpfung zitternd spürte ich, wie unter meinen Kleidern die Schweißtropfen an mir herunterrannen. Ich fühlte mich leer, als sei alle Kraft aus meinem Körper gewichen, und ich ließ den Kopf hängen. Der Nebel hatte sich gelichtet, ich sah auf die Erde, sah den Sand, Steine, jetzt wurde das Bild deutlich und mein Blick blieb an einem Loch unter einem Felsen hängen, – ein verlassener Kaninchenbau, halb verschüttet, halb mit Gras überwachsen. Wie wild begann mein Herz zu schlagen, mein Blick verschwamm, ich wagte kaum zu atmen, aber ich ging in die Hocke und steckte die Hand in das Loch. Ich schloss meine Finger um einen Gegenstand, der hart, rund und glatt war, der vor Feueritkraft summte. Ich zog meine Frauenfigur aus dem Loch und konnte es trotzdem kaum fassen. Ich hätte in die Luft springen mögen vor Freude, aber stattdessen fiel ich auf die Knie und weinte heiße Tränen auf die gefrorene Erde.
Der Tag musste schon weit vorangeschritten sein, als ich wieder zu mir kam. Meine Füße waren taub, meine Haut war eiskalt, aber in mir brannte ein Feuer. Wie im Taumel ging ich zurück durch das Tal, zog meine Stiefel an und stieg über den Kamm bis hinunter in die Stadt. Und während des gesamten Weges konnte ich noch immer nicht fassen, was ich da getan hatte.
10
VISIONEN UND SCHWÜRE
Ich entschloss mich, mit den Quelten zu leben, bis mein Meister zurückkehrte. Von dem Tag an, als ich meine Feueritfrau aufgespürt hatte, war ich innerlich verändert; ich konnte mich mit dem überheblichen Hohn der Erwählten nicht mehr abfinden. Nicht, dass es mir zu Kopf gestiegen wäre oder dass ich stolz geworden war, ich wollte einfach die Gegenwart derer, die mich ständig erniedrigten, nicht mehr ertragen. Ich fand Aufnahme in Ridhas Zelt, verbrachte die Tage in Danniis Gesellschaft, half ihr mit den Kindern oder im Garten, spann Wolle oder webte. Gelegentlich borgte ich ihre alten Kleider um einen Tag in der Grube arbeiten zu können und die Kraft des Feuerits zu spüren. Ich war zufrieden und zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben sogar glücklich. Dannii wurde meine beste Freundin, meine Schwester, sie war mir näher als irgendwer sonst, trotz unserer Verschiedenheit. Sie war pflichtbewusst, fügte sich in ihr Schicksal und klagte nie. Ich mochte ihren Ernst, aber ebenso gefiel mir ihr ausgelassenes Lachen. In vieler Hinsicht ähnelte sie Lesharo. Und sie war gleichen Geistes wie Lesharo, und wie ich. Wir trafen uns in unseren Träumen, teilten Visionen und Hoffnungen, dieselbe Liebe zu unseren Legenden und dieselbe Wut darüber, dass wir Quelten waren. Ihr gegenüber konnte ich aufrichtig sein, konnte ich meinen Gedanken freien Lauf lassen, weil ich wusste, dass sie bei ihr gut aufgehoben waren. In ihr gab es kein Misstrauen, keine Verurteilungen – und keine Angst. Aber es gab eine Ausnahme. Ich hatte ihr erzählt,
dass ich Feuerit aufgespürt hatte. Es war, als Loria mich bat, allein mit Kallai auf die Jagd gehen zu dürfen. Ich konnte es ihr nicht erlauben, weil Kallai einzig auf mich hörte. Dafür bot ich ihr an, mit meiner Feueritfrau zu spielen, und im Nu war sie damit verschwunden, überglücklich hüpfend und singend. »Sie wird die Figur verlieren«, warnte mich Dannii. Wir saßen vor dem Zelt an jenem Morgen und sahen den Kindern beim Spielen zu, Dannii am Webrahmen und ich mit dem Spinnrocken. »Sie verliert ständig Dinge. Sag ihr, sie soll sie dir zurückgeben.« »Sie kann nicht verloren gehen.« Mit einem halb spöttischen Lächeln sah sie mich an: »Du würdest sie also aufspüren, Elsha?« Dann beugte sie sich über ihren Webrahmen und kämpfte mit einer Hand an einem Knoten im störrischen Ziegenhaargarn. »Das würde ich.« Sie blickte auf und sah mir prüfend ins Gesicht, aber ich blieb ernst. Es war kein Scherz gewesen. Danniis schwarze Augen sahen mich fragend an, und aus irgendeinem Grund hatte ich Angst, es ihr zu erzählen. Ich holte tief Atem. »Ich lüge nicht, Dannii. Ich habe Feuerit aufgespürt. Ich kann es.« Sie legte den Webrahmen zur Seite, verschränkte die Arme über den Knien und mied meinen Blick. Sie starrte vor sich hin, ich meinte beinah, sie zitterte, jedenfalls bekam sie einen trotzigen Zug um den Mund. »Ich glaube dir nicht, Elsha. Du musst dich getäuscht haben. Kein menschliches Wesen auf dieser Erde hat die Kraft, das Feuerit aufzuspüren, außer dem Feuermeister. Keine Frau hat diese Kraft und ganz bestimmt keine Harsha. Selbst wenn sie seine Leibdienerin ist.« »Du kannst mich auf die Probe stellen, jetzt und hier. Versteck einen Brocken Feuerit, irgendwo, ich werde ihn aufspüren.«
Sie lächelte mich halb ungläubig an. »Also gut.« Damit stand sie auf und ging ins Zelt, mit einem Beutel Feuerit kam sie wieder heraus. »Die hier sind gestern frisch aus der Grube gekommen, wir gehen in das Tal, wo der Fluss fließt, da werde ich deine Künste auf die Probe stellen. Und wenn du versagst, Leibdienerin, dann machst du heute die gesamte Wäsche für Ridhas Familie.« »Klingt nach einer gerechten Strafe für Betrug«, sagte ich lächelnd. »Aber was ist, wenn ich sie aufspüre?« »Wenn dir das gelingt, Elsha«, sagte sie ernst, »dann geht alles, woran wir bisher geglaubt haben, in Rauch auf.«
Ich saß in einer kleinen Höhle unter einem überhängenden Felsen und hielt mir die Augen zu. Dannii versteckte das Feuerit. Sie ließ sich Zeit damit, und je länger ich wartete, desto angespannter wurde ich. So sicher ich mich zuvor gefühlt hatte, so wankelmütig war ich jetzt. Es war eine Sache, wenn ich allein war, wenn ich nur mir selbst gegenüber für mein Versagen geradestehen musste, aber mit einer Zuschauerin Feuerit aufzuspüren, einer Zuschauerin voll Zweifel, das war, als legte ich meine Seele auf die nackte Erde. Dannii kam zurück und klopfte mir auf die Schulter: »Es kann losgehen, Elsha.« »Könntest du vielleicht hier warten? Ich fürchte, du würdest mich ablenken.« »Der Feuermeister hatte eine ganze Menschenmenge hinter sich und war nicht abgelenkt.« »Ich bin nicht der Feuermeister, Dannii. Hast du das Feuerit im Beutel gelassen?« »Es ist kein Unterschied, ob sie in einem Beutel, in der Erde, im Wasser oder im Sand liegen. Wenn du Feuerit aufspüren
kannst, wirst du es selbst herausfinden. Ich werde dir nichts verraten, Elsha.« »Himmel, du bist streng«, murrte ich und machte mich auf den Weg zum Tal. Ich hörte ihre Schritte hinter mir. Auf halbem Weg zwischen der Höhle und dem Fluss blieb ich stehen, kniete mich hin und presste meine Handflächen auf die Erde. Ich neigte den Kopf und machte die Augen zu, aber ich spürte nichts von der pulsenden Kraft der Erde. Mir wurde heiß. Die Kleider waren mir plötzlich zu eng, ich bekam keine Luft, mein Gefühl war stumpf, selbst in meinem eigenen Körper war kein Fließen. Das brachte mich auf die Idee, zum Fluss zu gehen. Dort zog ich meine Stiefel aus und stellte sie auf einen Stein. Im Schatten lag noch immer der Raureif auf der Erde. Ich legte mich flach auf den Boden mit dem Gesicht zwischen die pieksenden Grasbüschel. So blieb ich trotz der beißenden Kälte liegen und presste meine Handflächen, meine Arme, Beine, meinen ganzen Körper gegen die Erde. Allmählich wurde ich ruhiger, mein Atem strömte gleichmäßig, trotz der Kälte zitterte ich nicht mehr, und um mich zu wärmen, dachte ich an eine Legende der Quelten, die von einer riesigen Feuerkugel erzählt, welche einst den Himmel erhellt und die Erde gewärmt hat. Ich stellte mir vor, dass ich auf einer gewärmten Erde lag, während das Licht meinen Rücken wärmte. Reines Glück. Allmählich spürte ich das Summen in der Erde, die pulsierende Kraft. Aber das Summen durchkreuzte meinen Körper im rechten Winkel und mein Körper war nicht im Einklang mit dem Kraftstrom. Ich drehte mich, bis die Kraft ungestört durch mich hindurchfließen konnte. Das Summen wurde stärker und jetzt wusste ich auch, woher es kam: von Westen her von jenseits des Flusses. Auf Händen und Knien folgte ich dem Sog bis ans Ufer des Flüsschens. Ich tauchte die Hand ins Wasser und
sofort spürte ich den pulsierenden Kraftstrom, er ging durch das Wasser hindurch und brachte meinen Körper zum Klingen. Rasch zog ich mich aus, bis ich nur noch mein Unterkleid anhatte, das ich mir um die Taille schlang. Ich watete in den Fluss, das Wasser war eisig, innerhalb weniger Augenblicke fühlte ich meine Füße nicht mehr, aber in meinem Inneren sang die Kraft des Feuerits, sie sang und brannte, sie brachte meine Seele zum Glühen. Ich durchwatete den Fluss, das Wasser ging mir bis zu den Hüften und durchnässte mein Unterkleid, dann stieg ich ans andere Ufer, rannte durch das hohe Gras, über den Sand geradewegs in die schmale Schlucht zwischen zwei senkrechten Felswänden, wo das Feuerit verborgen lag. Der ganze Inhalt des Beutels lag ausgeschüttet vor mir, ich hob einen Brocken auf, warf ihn vor Freude in die Luft und jubelte. Hinter mir ein Platschen, es war Dannii, die ohne Rücksicht auf ihre Kleider den Fluss durchwatete, dann kam sie auf mich zugerannt, aber ein paar Schritte vor mir blieb sie stehen. Ihr schwerer grauer Rock hing klatschnass um ihre Beine, sie war weiß im Gesicht. »Ich habe es geschafft!«, rief ich, griff sie am Arm und küsste sie auf beide Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Haut war eisig. Sie lächelte nicht. Ihr Gesichtsausdruck verunsicherte mich, dann wurde mir angst und bange. Dannii ging langsam, wie von einer fernen Macht gelenkt, auf die Knie und berührte mit der Stirn den Boden zu meinen Füßen. »Bitte, tu das nicht, Dannii!«, rief ich und hockte mich neben sie. »Wir sind gleich, du und ich.« Ich nahm ihre Hand. Sie schüttelte den Kopf und ich sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. »Du bist eine Frau, Elsha. Du verfügst über Kräfte wie unser hoher Meister, du gleichst ihm, nicht mir.« »Das darfst du nicht sagen!« Ich versuchte zu lachen. »Wenn dich jemand gehört hätte, sie würden dir die Zunge ausreißen.«
»Weil ich die Wahrheit sage?« Sie stand auf. Eine ganze Weile standen wir einander schweigend in der Kälte gegenüber, der Wind zerrte an unseren nassen Kleidern, aber noch mehr zitterten wir vor Schrecken über das Geschehene, bis Danniis Rock steif gefroren war. »Du darfst niemand davon erzählen, Dannii, versprich es mir.« Sie schwieg und begann die Feueritbrocken einzusammeln. Sie hielt sie in der Armbeuge ihres verkrüppelten Arms und kam zu mir, wo sie die Steine vor mir auf der Erde zu einer Pyramide aufschichtete. Aus der Scheide an ihrem Gürtel zog sie ein Messer, schnitt sich eine Haarsträhne ab und mir auch, dann verdrehte sie die dunklen und die hellen Haare miteinander. Diesen Zopf legte sie auf den Feueritstapel, berührte mit der Stirn den Boden zu meinen Füßen und erhob sich. Sie hatte kein Wort gesprochen, aber was sie getan hatte, war wie ein Gelübde, heilig und unverbrüchlich. Schließlich sprach Dannii: »Ich werde kein Wort sagen. Aber ich denke, das Feuerit wird sprechen, die Erde wird dir ein triumphales Feuer entzünden.«
Viele Tage vergingen, ich vergaß, sie zu zählen. Ich war in mein altes Leben zurückgekehrt. Die Zelte aus Ziegenhäuten waren mein Zuhause, das graue Dasein der Quelten war wieder mein Leben geworden. Trotzdem war nichts, wie es vorher war. Die meiste Zeit über vergaß ich meine neu entdeckten Kräfte, weil ich zu sehr mit alltäglichen Dingen beschäftigt war, – aber manchmal brach das Wissen auf wie das plötzliche Aufflackern einer Fackel in der Dunkelheit, dann hielt ich erstaunt inne, überwältigt von einer ungebändigten Freude. Während der Abwesenheit des Feuermeisters geschah noch
eine andere Sache, die ebenfalls mein Leben veränderte. Es war an dem Tag, als sie Kiran früh am Nachmittag aus der Grube brachten. Zwei Männer trugen sie, Ridha lief nebenher, – weinend, fluchend rang er die Hände und schrie wilde Verwünschungen gegen die Erwählten. Die Männer brachten sie ins Zelt und legten sie auf eine Schlafmatte am Feuer. Sie war blutüberkrustet und schmutzig vom Feueritstaub aus der Grube, sie stöhnte entsetzlich, und ihr Kind lag leblos auf ihrer Brust. Dannii schob mich aus dem Zelt, ich sollte Loria mitnehmen und so schnell nicht wiederkommen. Ich gehorchte. Als wir später zum Lager zurückkamen, schlief Kiran bereits, Ridha saß am Feuer, auf seinem Schoß ein kleines Bündel, das in ein Hemd eingewickelt war. Er weinte bitterlich, sodass ich es kaum ertragen konnte. »Kirans Zeit kam zu früh«, flüsterte Dannii mir zu. »Der Aufseher wollte ihr nicht glauben, er ließ sie die Peitsche spüren und zwang sie weiterzuarbeiten. Sie gebar das Kind am Eingang der Grube, während sie einen Korb voll Feuerit herausschleppte. Das Kind fiel auf die Steine und starb.« Später am Abend übergab Ridha mir das Bündel, ich sollte es in die Abfallgrube hinter dem Lager werfen. Die Erwählten hielten für ihre Verstorbenen prächtige Totenfeiern ab, aber die Quelten waren gezwungen, ihre Toten in Lumpen gehüllt in die Abfallgruben zu werfen. An diesem Abend war es so spät geworden, dass ich in der Abfallgrube bereits die Hyänen hörte, die sich knurrend um die besten Stücke rissen. Deshalb ging ich weiter, höher ins Gebirge, bis ich einen Spalt zwischen zwei Felsen gefunden hatte. Als ich das Kind hinabsenkte, riss eine der Lederschnüre, das Hemd flatterte im Wind und gab den Blick auf eine winzige Hand frei. Fassungslos starrte ich diese Hand an; sie war vollkommen in ihrer Winzigkeit, zarte Fingerchen mit winzigen Fingernägeln.
Ich hob das Bündel aus dem Spalt, setzte mich auf einen Felsen und faltete die Umhüllung auseinander. Bleich lag das Kind im späten Dämmerlicht auf meinem Schoß, friedlich, unfassbar klein und schön. Bis auf die Verletzung am Hinterkopf war dieses Kind ein winziges Wunder an Vollkommenheit. Eine wilde, traurige Wut packte mich. Ich stand auf und hielt das tote Kind fest in den Armen. Der Abend war windstill, still wie das Herz dieses kleinen Kindes. Von den Zelten her klangen Abendgeräusche zu uns herüber, lachende Kinderstimmen und Musik, aber ich hörte auch die einschneidenden Klagelaute aus Ridhas Zelt. Mit der einen Hand hielt ich das Kind, dann hob ich in der kalten Dunkelheit meine Rechte und tat einen Schwur. »Ich, Elsha, eine Frau von den Quelten und Leibdienerin des Feuermeisters, lege in dieser Nacht vor dem Ewigen Gott einen heiligen Schwur ab. Ich schwöre, das Leben der Quelten zu verändern und den Erwählten die Augen zu öffnen über die Ungerechtigkeit der Welt. Ich werde neue Gesetze erlassen und dem Unrecht ein Ende machen. Dieses schwöre ich im Angesicht Gottes. Nichts soll mich davon abhalten und ich werde nicht ruhen, bis es vollbracht ist.« Erst jetzt wickelte ich das Kind wieder in das Hemd und verschnürte das Bündel mit der Lederschnur, dann versenkte ich es tief in der Felsspalte, wo kein wildes Tier es zerreißen konnte. In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass ich mich in einem Tempel befand; vor mir stand ein mächtiger Altar, auf dem eine Feuerschale brannte. In den steinernen Altar waren Worte eingemeißelt, Worte einer Sprache, die ich nicht verstand, aber ich erkannte ihre Bedeutung: »Für die Erwählten Gottes.« Neben dem Altar hing ein mächtiger Vorhang, der den Raum in zwei Teile teilte. Schwarz und staubig war er, er reichte bis zur Decke, aber ich sah auch die
andere Seite. Auch dort stand auf einem niedrigeren Altar eine Feuerschale, und die Worte lauteten: »Für die Quelten.« Im Traum riss ich den Vorhang herunter, nahm die Feuerschale der Quelten und stellte sie auf den großen goldenen Altar, wo nun die Feuer in beiden Schalen nebeneinander brannten, als gäbe es keine Trennung mehr. Dann veränderte sich die Umgebung meines Traums, ich befand mich auf einem Podest und vor mir standen Zehntausende von Menschen. Ich hielt eine Rede, in der ich neue Gesetze verkündete und ein besseres Leben für die Quelten. Als ich meine Rede beendet hatte, ging ein Aufschrei durch die Menge der Erwählten, während die Quelten mir zujubelten. Aber weil die Erwählten mich nicht zu berühren wagten, konnten sie mich nicht vertreiben. Denn in der Hand hielt ich, was für alle unverzichtbar war und was ihnen kein anderes menschliches Wesen geben konnte: das Feuer.
An einem der nächsten Tage half ich Dannii beim Kleiderwaschen im Fluss, als Loria über die Felsen auf uns zugerannt kam. Sie fuchtelte mit den Armen und schrie schon von weitem: »Der Feuermeister! Der Feuermeister, er ist wieder da!« Sie rannte den Hang hinab, halb hüpfend, dann überkugelte sie sich, rappelte sich wieder auf, rannte weiter zu uns herab und rief uns entgegen: »Wir waren oben auf dem Berg über der Stadt und haben Steine geworfen, und da kam er mit seinem Esel, alle Erwählten liefen ihm entgegen und jubelten. Er war es, Elsha, dein Herr!« Ich richtete mich auf. Eigentlich hätte ich lachen mögen über Lorias Bericht, aber ich stand mit den schweren, tropfnassen Kleidern in der Hand und sah Dannii an. Auch ihr stand der Schmerz über den plötzlichen Abschied ins Gesicht
geschrieben. Ich ließ die nassen Kleider in die Pfütze fallen und umarmte sie. »Es wird noch Tage dauern, bis wir abreisen, Dannii«, sagte ich und hoffte nur, dass ich Recht behielt. »Die Erwählten werden ihm heute Abend ein Fest ausrichten, und morgen zeigen sie ihm, wie weit sie mit der neuen Grube vorangekommen sind. Und dann müssen alle alten und neuen Geschichten erzählt werden.« Sie lächelte kurz, dann küsste sie mich auf beide Wangen. »Beeil dich, du musst gehen. Der Feuermeister wird schon nach dir suchen.« Ich rannte los, sammelte in Ridhas Zelt meine Sachen zusammen, dann hastete ich durch das Tal zur Stadt. Kallai schlug auf meiner Faust mit den Flügeln, meine Eile brachte ihn aus der Ruhe. Vor der Tür des Hauses, in dem ich eigentlich während der ganzen Zeit hätte wohnen sollen, blieb ich stehen um Atem zu schöpfen und meine Gedanken zu ordnen. Ich hörte die Unterhaltung der Leute, Musik und Gelächter. Ich hatte die Rückkehr meines Meisters herbeigesehnt, aber jetzt, wo er da war, bekam ich Angst. Mein Herz donnerte in meiner Brust, ich fühlte mich schuldig und hätte mich am liebsten versteckt, weil ich Feuerit aufgespürt hatte. Ich hatte es getan. Ich hatte die Kraft des Feuerits herausgefordert. Und er würde es merken. Natürlich konnte ich es ihm nicht verheimlichen. Ein Blick in meine Augen, in meine Seele, und er würde über alles Bescheid wissen. Ich holte tief Atem und klopfte an. Die Frau öffnete. Sie sah an mir vorbei und sagte: »Wir haben ihm gesagt, dass du verschwunden bist, Harsha. Dass du dieses Haus verlassen hast um in deine Grube zurückzukehren.« »Dann habt Ihr gelogen«, sagte ich und ging an ihr vorbei ins Haus. Der untere Raum war voller Menschen und ich konnte meinen Meister nicht gleich entdecken. Also ging ich in meine
gewohnte Ecke, wo ich meine Schlafmatte und die Tasche ablegte. Kallai setzte ich auf eine Sprosse am Fenstersims, aber er ließ sich nicht ohne weiteres absetzen und ich konnte ihn verstehen. Feindselige Blicke folgten jeder meiner Bewegungen und irgendwer hatte mich auch schon angespuckt. Ich begriff, dass sie wirklich ihre Hoffnung darauf gesetzt hatten, mich nie wieder zu sehen. Schließlich hatte ich mich durch die Menge gepflügt und fand meinen Meister, der auf einem geschnitzten Stuhl am Feuer saß. Die Männer um ihn herum bildeten widerwillig eine Gasse um mich durchzulassen, bis ich endlich vor ihm stand, aber ich wagte nicht ihn anzusehen. Ich kniete mich hin und berührte den Boden zu seinen Füßen. Der ganze Raum wurde still. »Willkommen, mein hoher Meister«, sagte ich und stand auf. Auch er erhob sich aus seinem Stuhl und vor aller Augen verneigte er sich vor mir, bis seine Hände den Boden berührten. Als er sich aufrichtete, sah er mir ins Gesicht: »Es tut mir gut, dich wiederzusehen, Leibdienerin. Es freut mich ganz außerordentlich. Man hatte mir erzählt, du seist nach Siranjaro zurückgekehrt.« Ich sah ihm in die Augen und lächelte. »Ich würde Euch nie verlassen, hoher Meister.« Mit einem Mal setzte die Musik wieder ein und beendete die Stille. Unser Gastgeber reichte dem Feuermeister einen Weinkelch und alle nahmen ihre Gespräche wieder auf. Aber alles Gelächter wirkte auf einmal gezwungen, die Fröhlichkeit gehemmt. Weil ich doch nicht dazugehörte, holte ich mir Wein in meinem eigenen Becher, dann setzte ich mich in meiner Ecke auf einen Stuhl und feierte ganz für mich allein die Rückkehr des Feuermeisters. Aber manchmal an diesem langen Abend trafen sich unsere Blicke und dann lächelte er mir zu. Viel später, als die Gäste nach Hause gegangen waren und die Familie sich in das obere Stockwerk zurückgezogen
hatte, bereitete ich meinem Meister sein Bett und rollte meine eigene Schlafmatte und die Felle am Feuer aus. Dort saßen wir und sprachen miteinander. Es war ein großer Friede über ihm. Ich hatte das Gefühl, dass er während seiner Abwesenheit Dinge getan hatte, die ihm ungeheuer wichtig waren, und jetzt hatte seine Seele Frieden. Das wünschte ich mir auch. Er spürte mein Unbehagen, als er mich mit einem leisen Lächeln von der Seite ansah. Der Pelzkragen warf einen weichen Schatten auf sein Gesicht, sein goldenes Zeichen schimmerte hell auf dunklem Grund. Seine Augen hatten die Farbe von Flammen. »Streck deine Hand aus, Elsha«, sagte er. Ich streckte ihm mit der Handfläche nach unten meine Hand hin, die Finger gespreizt und zitternd. Er hielt seine Hand daneben, stark wie ein Fels und zuverlässig. Unsere kleinen Finger berührten einander beinah. Langsam schob er seine Hand über meine und hielt sie fest. Ich spürte ein Klingeln in meiner Hand, einen tiefen, warmen Strom, von dem eine heilende Kraft ausging. Und mit ihm kam Frieden über mich. »Für jedes seiner Kinder hat Gott einen Traum«, sagte er. »Es ist der höchste Traum, der vollkommene Weg für uns, der Zweck, für den wir geboren wurden. Und seinen Traum für dich, Elsha, hat er auch mir mitgeteilt. In einem Traum hat er mir von dir erzählt, vor dir und dem Ort, an dem du lebst. Es war ein lebendiges Bild und es hat mich nicht betrogen. Ich träumte von einer Queltin, die in unserem Land zu einer hohen Stellung aufsteigen würde, wo sie dem ganzen Volk zeigen sollte, dass die Quelten sowohl Geist als auch Seele besitzen. Ich träumte, dass die Erwählten durch ihr Leben eine neue Wahrheit erkennen würden, einen neuen Weg. Ich weiß nicht, wie dieser Weg aussehen wird. Ich weiß nur, dass sie dich sehen werden und dass du sie zwingen wirst, ihre Augen zu öffnen und die Mauern in ihren Köpfen einzureißen. Eines Tages wirst du womöglich dafür sorgen, dass das Leben
der Quelten leichter wird. Das ist dein wahrer Weg, wie er dir vorbestimmt ist, Elsha. Das und nichts sonst.« »Bin ich deshalb Eure Leibdienerin geworden, Meister?« »Richtig.« Er lächelte und schwieg eine Weile. Aber er hielt die ganze Zeit über meine Hand. Zuletzt wagte ich es doch, eine Frage zu stellen: »Meister, gab es noch mehr in Eurem Traum?« Er ließ meine Hand los, lächelte wieder und sah ins Feuer. »Was mehr könntest du dir wünschen, Elsha?« Ich beugte den Kopf und schwieg. Aber ich steckte die Hand in die Tasche und zog meine Frauenfigur hervor. Schwer lag sie auf meiner Handfläche, ich spürte die summende Feueritkraft, die murmelnd an meinem Arm entlang bis zu meinem Herz kroch. Sie war warm, aber noch heißer waren meine Schuldgefühle. Er spürte es und fragte mich: »Was hast du getan während meiner Abwesenheit, Leibdienerin?« Ich steckte die Feueritfrau wieder in meine Tasche, starrte ins Feuer und musste mehrmals schlucken. »Ich habe bei den Quelten gewohnt, Meister.« »In ihren Zelten widerfuhr dir mehr Ehre als hier?« »Ja, Meister.« »Es tut mir Leid, dass ich keine weisere Wahl getroffen habe. Ich hatte ihnen befohlen, dich gut zu behandeln, und glaubte, ihnen trauen zu können. Die Leute sind verbohrter, als ich dachte.« »Es spielt keine Rolle, Meister. Ich war glücklich bei meinen Leuten.« Eine Zeit lang schwiegen wir und ich versuchte, all meinen Mut zu sammeln. Von der Seite sah ich ihm ins Gesicht; der Feuerschein leckte ihm über die Stirn, betonte mit Licht und Schatten alle Linien und glänzte schwarz auf seinem Spitzbart. Er hielt die Augen geschlossen, aber ich spürte eine Spannung,
als wartete er. Er war so vornehm, so königlich, er verdiente Treue und Ehrlichkeit. »Meister, ich muss Euch noch eine Sache berichten.« »Sprich«, sagte er. Ich zögerte. Mein Mund war trocken und das Herz schlug mir bis zum Hals. »Meister«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Ich habe versucht, Feuerit aufzuspüren, und ich habe es gefunden.« Ein Ruck ging durch seinen Körper, er starrte mich an. Beschämt senkte ich den Blick und sah ins Feuer. Aber ich spürte, dass sein Blick noch immer auf mir lag und in mich eindrang. Er schwieg eine endlos lange Zeit und ich wünschte inständig, nichts gesagt zu haben. »Du lügst, Leibdienerin«, sagte er zuletzt mit tödlich ruhiger Stimme. »Du lügst. Keine andere Seele auf dieser Erde hat diese Kraft, es sei denn, ich hätte sie gelehrt. Keine Frau kann diese Kraft besitzen. Keine Harsha.« Ich verschränkte die Hände und sah, dass meine Knöchel weiß waren. »Meister, ich habe meine Feueritfrau aufgespürt, als ich sie verloren hatte. Und ich habe sie gefunden. Im Tal hinter der Stadt habe ich sie gefunden.« Er stieß einen langen Seufzer aus, dann begann er zu meiner Verwunderung zu lachen. »Deine Feueritfrau!« »Ja, Meister, meine Feueritfrau. Aber warum lacht Ihr?« Er kicherte noch immer in sich hinein. »Elsha, Elsha, jetzt hast du mir wirklich einen Schrecken eingejagt! Ich wäre beinah gestorben vor Schreck. Du hast kein Feuerit aufgespürt, sondern deine Feueritfrau. Dazwischen liegen Welten, Elsha! Deine Feueritfrau trägst du immer bei dir, sie ist durchtränkt mit deinen Gefühlen, dem, was du glaubst und denkst, deinem Geruch und Schweiß. Es ist nur natürlich, dass selbst du mit deiner beschränkten intuitiven Kraft unbewusst weißt, wo du deine Frauenfigur finden kannst. Aber das ist nicht dasselbe
wie Feuerit aufzuspüren. Du hast dich einfach auf deine Intuition verlassen, Elsha, und das ist gut. Aber du hast kein Feuerit aufgespürt, Kind. Bei Gott, wenn du das getan hättest, unsere ganze Weltordnung würde in Schutt und Asche fallen!« Er stand auf, ging zu dem Tisch, wo die Küchengeräte aufgestapelt standen, und goss sich einen Becher warmen gewürzten Wein ein. Er brachte auch mir einen Becher mit. Wir saßen schweigend am Feuer und tranken, aber meine Hände zitterten so, dass ich einiges auf mein Kleid verschüttete. Ich sehnte mich mit meiner ganzen Seele danach, ihm die Wahrheit sagen zu können. Aber als ich ihn ansah, blickte er zurück, schüttelte ein wenig den Kopf und lachte leise, und ich brachte es nicht übers Herz.
Früh am nächsten Morgen verließen wir Talbar. Die Erwählten hätten ihn gern noch länger behalten, sie wollten ihm die Fortschritte in der neuen Grube zeigen und ein weiteres Fest zu seinen Ehren veranstalten. Aber er wies sie kühl ab, weil er dringend Weiterreisen wollte. Der ganze Ort kam, um Abschied zu nehmen, aber der Gesang und die Musik waren gedämpfter als sonst. Mir blieb nur wenig – zu wenig – Zeit, um mich von den Quelten und besonders von Dannii zu verabschieden. Ich weinte noch, als ich zum Feuermeister zurückkam, und auch, als wir im Regen den steilen Weg hinaufstiegen, der von Talbar aus in die Berge führte. Wie immer ging ich ein paar Schritte hinter dem Meister, aber diesmal fiel mir auf, dass er langsamer und gebeugt wanderte. Oft stützte er sich auch auf den Esel, weil der Weg so steil anstieg, dass er nicht reiten konnte, zumal der Regen den Boden aufweichte und in gelben Schlamm verwandelte. Unsere Stiefel gaben bei jedem Schritt ein saugendes Geräusch von sich, der Regen tropfte von
unseren Kapuzen und rann uns in die Kleider. Wir mussten alle Kraft aufwenden, um nicht auszurutschen oder in tiefe Pfützen zu treten. Nach einiger Zeit hörte es auf zu regnen, aber um uns herum tropfte es überall, und als wir höher ins Gebirge kamen, hatte sich auf den Pfützen schon eine Eisschicht gebildet. Der Feuermeister verlangsamte seine Schritte, bis er schließlich stehen blieb. Ich sprang über eine vom Regen ausgespülte Furche hinweg auf seine Seite des Weges und schaute ihm besorgt ins Gesicht. »Seid Ihr erschöpft, Meister?«, fragte ich vorsichtig. »Ihr seht müde aus, mehr als müde.« Er schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Du liest meine Seele, Leibdienerin.« Ich schlug die Augen nieder. »Verzeiht.« »Es ist nicht schlimm, Elsha. Lieber du liest in meiner Seele als irgendwer sonst.« Er sah mich an, sein Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft, auf seinem Bart lag der Reif. »Die Erde trauert, Elsha. Die Erde trauert, und ich bin auch traurig. Ich bin des ewigen Kampfes müde. Beinah mein ganzes Leben lang sind die Mühen der Quelten meine Mühen gewesen, ich habe gekämpft, um ihnen die Last zu erleichtern, ich habe gegen Hass und Vorurteile angekämpft. Trotzdem wollen die Erwählten nicht sehen, sie stellen sich blind und taub. Ihre Verbohrtheit macht mich traurig. Es macht mich traurig, dass es so lange dauern wird, die Gesetze zu ändern, und der Weg bis dahin ist weit und steinig. Ich fürchte, wenn ich nicht mehr bin, gibt es niemanden, der diesen Kampf weiterführt.« Er begann weiterzugehen, rutschte aus und wäre beinah gefallen. Ich nahm seinen Arm. »Meister, ich werde Euren Kampf fortsetzen.« Er lächelte müde, legte seinen Arm um meine Schulter und ging auf mich gestützt weiter.
»Wer hat mein goldenes Zeichen beschädigt, das um deinen Hals hängt?«, fragte er nach einiger Zeit. »Ich selbst. Die Frau des Hausbesitzers wollte mir weismachen, Ihr hättet mich einzig zu dem Zweck gewählt, die Quelten zu besänftigen und sie von Aufständen in den Gruben abzuhalten. Einen verblendeten Augenblick lang glaubte ich ihr.« Er lachte leise. »Nein, Elsha, dich habe ich zu einem viel höheren Zweck ausgewählt. Aber vorerst mögen sie glauben, was sie wollen.« Ich wollte ihm gerade antworten, als er zu singen begann. Ein klangvolles, getragenes Lied, so wie die Lieder, die mein Vater zu singen pflegte, als ich noch ein Kind war. »Ein Lied der Quelten, Meister!«, rief ich erstaunt aus. »Ihr kennt unsere alten Lieder!« Er sah auf mich herab und lächelte warm. »Welche Lieder kennst du? Wir können zusammen eins der alten Lieder singen.« Ich sang eins meiner Lieblingslieder, das die Erde, das Eis und das Feuer besingt. Nach der ersten Strophe fiel er ein in meinen Gesang. Wir sangen noch immer, als wir den ersten Pass überschritten, vor uns lag die Welt der Berge, die sich übereinander auftürmten, kalt und abweisend und voller Schatten. Aber wir sangen, wir sangen eine der alten Legenden der Quelten, die ich vor langer Zeit von Lesharo und seitdem nicht mehr gehört hatte. Ich liebte dieses Lied und es eröffnete mir den Weg in neue Welten, dass mein Herr und Meister es mit mir zusammen sang. Mein Lied will des Lichts sich erinnern, das die Erde mit Wärme umhüllt. Ach, lass mich schauen im Innern, wie Feuer das Morgenrot füllt.
Gib, dass ich im früheren Scheine aufs Neue die Wahrheit schau, in des Feuers kostbarem Schreine das Leben spendende Blau. Sei mir der Berge Erzähler, und der üppigen Ernte Fracht die die Hänge füllt und die Täler mit Grün in all seiner Pracht. Noch flüstern wir von den Zeiten, singen im Dunkel vom Morgenstern. Er soll in die Warmzeit uns leiten und halten vom Irrweg uns fern. Oh, lasst uns an das Himmelslicht denken, an die Wärme, wenn keiner mehr klagt. Lasst in die Warmzeit euch lenken, wenn ein goldener Morgen uns tagt.
WAHRE TRÄUME
11
FEUER AUS SIRANJARO
Der Feuermeister saß auf einem vornehmen Sessel inmitten der Festlichkeiten, mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen majestätischem Ernst und einem sanften Lächeln lag, während er in den Händen einen silbernen Weinkelch drehte. Um ihn herum brauste fröhliches Treiben. Schrilles Gelächter folgte auf lose Scherze, lebhafte Musik spielte auf, ausgelassen begannen die Leute zu tanzen; aber die meisten der Männer saßen noch am Tisch über ihren Tellern. Erst wenige hatten sich in den großen Saal begeben um mit den Frauen zu tanzen, ehe die Reihe an sie gekommen war, ebenfalls zu essen. An den Wänden entlang brannten Fackeln, ein großes Feuer loderte in der Mitte. Der Lärm hallte von den hohen Mauern wider und die hölzernen Dielen bebten unter den stampfenden Schritten der Tänzer. Ich selbst stand neben dem Feuer am Ende der langen Tafel und beobachtete das Treiben. Ich konnte nicht teilhaben an den Festlichkeiten, konnte nicht tanzen, weil kein Erwählter mich berühren würde, und die Frauen, als schließlich die Reihe an sie kam, luden mich nicht ein, mit ihnen zu essen. Es war mir sogar verboten, die Stühle der Erwählten zu benutzen, deshalb konnte ich nicht mit am Tisch sitzen, und mich selbst zu bedienen hätte bedeutet, dass ich wahrscheinlich irgendwen am Ellbogen oder an der Schulter angestoßen hätte. Wäre ich mit den Leuten hier vertrauter gewesen, hätte ich es vielleicht gewagt, eins ihrer sinnlosen Gesetze zu brechen, – aber der Feuermeister und ich waren gerade an diesem Abend erst angekommen und dies war das
Willkommensfest zu seinen Ehren. Inzwischen wusste ich, dass es besser war, Unterwürfigkeit an den Tag zu legen, bis sie sich an mich gewöhnt hatten. Der Lärm ließ ein bisschen nach, als die Frauen sich zum Essen gesetzt hatten und die Männer währenddessen in Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten und lachten. Es war sehr spät geworden, die Kinder begannen zu quengeln und die Frauen gaben ihren Töchtern die erlesensten Näschereien um sie ruhig zu halten. Die Jungen hatten bereits mit ihren Vätern gemeinsam gegessen, trotzdem belagerten sie ihre Mütter um noch mehr Süßigkeiten zu bekommen. Hungrig sah ich ihnen zu und sah, wie sie gleichzeitig kauten, redeten und lachten. Nach unserer vierzehntägigen Reise durch das neblige Grau der Berge war ich vom Licht und der Farbenpracht hier im Saal wie geblendet. Der Fackelschein spiegelte sich auf den gewachsten Fußböden, tanzte über bemalte Stiefel, juwelenbesetzte Waffen und glänzende Ledergürtel. Er brachte die dicken Pelze, die bunten Kleider, das Geschmeide und auch die erregten Gesichter zum Leuchten. Ich versteckte die Hände in meinen blauen bestickten Ärmeln und versuchte meinen Meister zu finden. Er war im Gespräch mit dem Besitzer des Hauses, sie lachten. Junge Frauen traten mit Weinkrügen an ihn heran, um ihm nachzuschenken, aber er lehnte mit einem Lächeln dankend ab. Ich sah sie rot werden, als er mit ihnen sprach, und hinterher sah ich, wie sie aufgeregt miteinander flüsterten. Auch die Männer bekamen diesen schwärmerischen Gesichtsausdruck, wenn sie mit ihm sprachen, – ein Wort, ein Blick von ihm galt als hohe Ehre. Nie hatte ich gesehen, wie jemand so grenzenlos bewundert, so außerordentlich verehrt wurde. Ich denke, sie liebten ihn nicht nur als Feueritsucher, sondern auch seine Vornehmheit, seine magische Ausstrahlung. Selbst inmitten dieses überfüllten Saals zog er die Blicke auf sich und hatte etwas an sich, das ihn von allen
anderen unterschied. Auch jene, mit denen er kein Wort gewechselt hatte, denen er keinen Blick, kein Lächeln geschenkt hatte, waren von ihm angezogen. Ich beobachtete ihn und sah, dass er wie ein Richter oder Philosoph wirkte, wenn er mit den Leuten sprach, und seine Worte besaßen große Wirkung. In den Städten, die wir besuchten, nahm er zuweilen an Gerichtsverhandlungen teil, ich hatte selbst miterlebt, welche Macht sein Wort hatte. Sogar Mörder, die er zum Tode verurteilte, beugten sich ohne Widerrede seinem Urteil. In allen Fragen von Gesetz und Gericht hatte er das letzte Wort und das Volk gehorchte ihm. Immer wieder war ich erstaunt, dass ich Dinge zu ihm sagen konnte, die andere vielleicht nicht einmal zu denken gewagt hätten, ohne dass er mich je getadelt hätte. Einmal fürchtete ich, zu weit gegangen zu sein: »Meister, wenn Euer Wort eine so allumfassende Macht besitzt, warum erleichtert Ihr nicht jetzt schon das Leben der Quelten, warum ändert Ihr nicht sofort und unmittelbar die Gesetze?« Er zog eine Augenbraue in die Höhe und sein Gesicht verwandelte sich in ein verwundertes Lächeln. »Ah, du bist also eine Revolutionärin!« »Es erscheint mir wie verschwendete Zeit, Meister, diese Macht zu besitzen und sie nicht anzuwenden.« Sein Gesicht wurde ernst, er seufzte. »Ich höre, was du sagst, Elsha. Aber die Erwählten haben ihre Weltordnung über Generationen hinweg und während vieler Jahrhunderte gefestigt, ihre Vorurteile und Vorteile stehen wie steinerne Mauern. Wollte man daran rütteln, würde über Nacht das ganze Gebäude einstürzen. Trotzdem, Veränderungen müssen kommen, nur müssen sie mit Weisheit einhergehen, mit Vernunft und Umsicht.« »Mit Umsicht oder falscher Furcht?«, gab ich zurück und bereute es sofort.
»Bei Gott, du treibst mich an den Rand«, brummte er und ich sah, dass er sehr ärgerlich wurde. »Leibdienerin, schon indem ich eine Harsha an meiner Seite habe, verstoße ich gegen hundert ihrer Gesetze. Du weißt nicht zu schätzen, was bereits geschehen ist. Du bist ungeduldig, voreilig. Es gibt Tugenden, die du lernen könntest, Elsha. Geduld, einen langen Atem, Bescheidenheit. Übe dich in ihnen.« Das tat ich, eine Stunde lang oder zwei. Ich dachte an meinen Traum und den Schwur, den ich vor Gott abgelegt hatte, und ich zwang mich zur Ruhe. Ich begriff, dass der Feuermeister nicht von Furcht geleitet wurde, aber er war alt und die Leute ermüdeten seine Hoffnungen. Ich sah, dass er mich als freundliche Seele brauchte, nicht als einen Stachel im Fleische. Ich hatte viel gesehen während der sieben Monate, die ich mit ihm gemeinsam auf Reisen war. In mehreren Gebirgsstädten hatte er Feuerit aufgespürt, ich war bei den Feiern und Festlichkeiten der Erwählten zugegen gewesen und hatte gesehen, wie er sich mit ihnen freute, ich hatte ihn unter Freunden gesehen, wie er mit ihnen lachte und ihre Geschichten und Lieder mit einem Lächeln begleitete. Ich hatte ihn auf unseren Reisen erlebt, wenn er erschöpft war, erschöpft vom Reisen, von der Bewunderung der Leute und der immer wiederkehrenden Anstrengung, wenn er Feuerit aufspüren musste. Ich hatte gesehen, wie er aufstand und einen überfüllten Raum verließ um draußen Stille zu finden für seine Gebete. Und ich hatte sein Lächeln gesehen, das mir galt, über einen Saal voller Leute oder über ein ruhiges Feuer hinweg, und er hatte mir gesagt, dass ihn meine Gegenwart mehr als alles andere erfreute. Deshalb konnte ich die Erwählten um ihn herum beobachten, wie sie mit ihm lachten, ihn bewunderten und umringten, – und ich konnte mich abwenden in heimlicher Freude, weil Wärme in meiner Seele herrschte. Ich ging zur Tür, die geöffnet war,
um frische Luft hereinzulassen, und lehnte mich an den Türpfosten. Hinter mir waren das Licht, die Festlichkeiten und der Lärm, vor mir lag still die Dunkelheit. Ich dachte an die Grube von Siranjaro und berührte die Feueritfrau in meiner Tasche. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich beinah das Gefühl, zu Hause zu sein. Eine leises Geräusch hinter mir brachte mich zurück zum Fest der Erwählten, ich merkte, dass dort jemand stand. Dichter hinter mir, als es sich für einen Erwählten gehörte. Ich drehte mich um und hatte einen jungen Mann ungefähr meines Alters vor mir. Er musste aus einem reichen Haus stammen, denn seine Finger, die den Weinkelch hielten, waren mit Edelsteinen geschmückt. Auch seine Kleider waren reich mit Edelsteinen besetzt; die Erwählten verstanden es wahrhaftig, ihren Reichtum zur Schau zu tragen. Der Pelzbesatz an seinem gesteppten Umhang war von reinstem Weiß, selten und teuer. Seine Haare waren braun und gelockt, sein Bart einen Ton dunkler. Sein Gesicht allerdings war rot, entweder von der Hitze des Feuers oder vom Wein. Ich vermutete Letzteres. »War ich es, die du sehen wolltest?« Von meinem hohen Herrn und Meister abgesehen sprach ich keinen Mann mehr mit Herr an. Er sah mir ins Gesicht, merkte, dass ich seinen Blick erwiderte, und schaute schnell in seinen Weinkelch. »Ich möchte mich gern mit dir unterhalten«, sagte er und ich sah ihn noch röter werden, obwohl er mit dem Rücken zum Licht stand. Verlegen leckte er seine Oberlippe. Er trank einen Schluck, dann wagte er mich wieder anzusehen. »Man sagt, dass du den Männern ins Gesicht blickst.« Er wagte ein Lächeln. »Den Frauen auch«, sagte ich. »Diese Ehre gebührt nicht den Männern allein.«
Sein Lächeln verwandelte sich in ein Stirnrunzeln. »Es ist kein Zeichen der Ehre, Leibdienerin, wenn eine Queltin einem Erwählten ins Gesicht sieht. Es ist eine Kränkung.« »Und? Bist du gekränkt?« Er sah mir gerade in die Augen und wurde knallrot. Allmählich stellte sich sein Lächeln wieder ein. »Nein, Leibdienerin, das bin ich nicht.« Eine nächtliche Brise fuhr ihm in die Haare, sodass sie im Feuerschein rötlich golden glänzten. Ich sah, dass er grüne Augen hatte. Er atmete tief durch und sagte: »Man sagt, dass du ungewöhnliche Kräfte hast, dass du unseren hohen Herrn behext, und dass du mit ihm Seite an Seite wanderst und ihn berührst, als seiet ihr beide Erwählte.« Ich gab keine Antwort und verzog keine Miene. Er trank einen Schluck Wein und leckte sich die Lippen ab. Er hatte einen hübschen Mund mit schmalen, sinnlichen Lippen. Darüber stand eine lange gerade Nase, seine Augen waren groß und freimütig. Ich mochte ihre Farbe. »Man sagt, dass du dich niemandem beugst, dass du den Männern geradewegs in die Augen blickst und ihre Seelen eroberst.« Er warf mir einen schrägen Blick zu. Kurz blieb sein Blick an meinen Augen hängen, dann schweifte er zu meinem Brandmal ab. »Ich habe noch nie mit einem Quelten gesprochen«, verkündete er. »Und ich habe das Brandmal noch nie gesehen. Es sieht nicht mal so schlecht aus. Dich verunstaltet es jedenfalls nicht. Ich habe Mädchen gesehen, deren Warzen schlimmer sind als das da.« Ich lachte und blickte hinaus in die Nacht. »Redest du immer so ungehobelt?«, fragte ich ihn. Jetzt lachte er, lautlos zwar, aber ich sah seine Schultern zucken. Er ging ein paar Schritte hinaus in den Schnee, blieb stehen und drehte sich halb zu mir um. Ich sah sein Gesicht von der Seite, scharf geschnittene Linien, beinah edel. Außerdem war er schlank und bewegte sich mit Anmut,
obwohl er ein bisschen betrunken war. Von der Seite sah er mich nachdenklich an: »Ich denke, die Gerüchte entsprechen der Wahrheit.« Ich zuckte innerlich zusammen, ließ mir aber nichts anmerken. Ich sah, dass seine grünen Augen glänzten, als er sich jetzt wieder näherte, aber sein Gesicht war ernst. »Ich denke, du brichst ständig die Gesetze. Beinah alle Gesetze. Ich denke, du verachtest sie, die Gesetze und uns.« »Ich verachte die Erwählten nicht«, gab ich mit leiser Entschlossenheit zurück. »Ich verachte nur eure versteinerten, unaufgeklärten Gesetze.« Er blickte tief in seinen Weinkelch, kippte ihn ein wenig, dann leerte er in einem Zug die letzten Schlucke. Mit dem leeren Kelch klopfte er an meine Schulter. »Ein ausgezeichnetes Wort: unaufgeklärt«, sagte er. »Es wird Zeit, dass die wahren Verhältnisse aufgeklärt werden. Dass jemand Licht ins Dunkel bringt, damit die Dinge in den Köpfen klarer werden. Ich gehe mehr Wein holen. Bleib, wo du bist.« Er war nur kurz verschwunden, dann kam er mit zwei Weinkelchen zurück. Einen bot er mir an. Als ich ihn entgegennahm, berührten sich unsere Finger. Er tauchte seine Fingerspitzen in den Wein, dann leckte er sie ausführlich ab. Er grinste mich an. »Rituelle Waschungen«, sagte er. »Wascht ihr euch auch, wenn ihr einen von uns berührt habt?« Ich schüttelte den Kopf und ballte die Hände um den Kelch. Er lachte und trank noch mehr Wein. Ich nippte vorsichtig. Ich hatte seit der Morgendämmerung nichts gegessen und der Wein war stark, außerdem war er warm und gewürzt. »Man sagt, der Feuermeister behandele dich wie eine Frau von hoher Geburt. Angeblich unterhält er sich mit dir, als besäßest du einen Verstand wie er selbst. Man sagt, dass du die allgemeine Ordnung untergräbst, dass du ein Funke bist, der einen Brand auslösen kann, dass deine Worte aufwiegeln und Umsturz
wollen und dass er dir keinen Einhalt gebietet. Man sagt, dass er den Erwählten Einhalt gebietet, wenn sie dich züchtigen, ich habe sogar gehört, dass er die Bewohner einer ganzen Stadt zu Quelten gemacht hat, weil sie dich vergiften wollten. Stimmt das?« »Teilweise.« Mir war heiß, ich trat ein paar Schritte vor die Tür. An die kalte Steinmauer gelehnt sah ich ihn an. »Niemand bekannte sich, deshalb ließ er den ältesten Sohn in jeder Familie brandmarken.« Er stieß einen Pfiff aus. »Du musst eine Frau von hohem Wert sein, dass du so unbarmherzig gerächt wirst.« Ich musste lächeln. Eine Frau von hohem Wert, der Ausdruck gefiel mir. »Eine Harsha von hohem Wert, meine ich natürlich.« Er grinste ein weiteres Mal. »Ich vergesse es immer wieder, du besitzt eigentlich keinen Verstand, kein Gefühl, keine Gedanken und keine Seele. Eigentlich ist es erstaunlich, dass du überhaupt sprechen kannst.« Er seufzte. »Oh, diese Unaufgeklärtheit der Erwählten, wir können nicht einmal einen einfachen Sklaven richtig beurteilen. Ich wette, du beurteilst uns richtig, Leibdienerin. Also, was denkst du über mich? Ich meine, wenn du dir die zehn Becher Wein wegdenkst. Würdest du sagen, ich bin unaufgeklärt, verblendet, geistlos?« »Ich würde sagen, du hast einen scharfen Verstand«, lachte ich, »allein dass du das Wort Unaufgeklärtheit aussprechen kannst, ohne dass der Wein dir die Zunge verdreht.« »Ich würde es kein zweites Mal wagen. Übrigens, wie heißt du?« »Elsha.« »Elsha. Guten Abend, Elsha. Ich heiße Alejandro. Du siehst, selbst diesen schwierigen Namen habe ich dem Wein zum Trotz herausgebracht. Aber du hast mir noch keine Antwort gegeben, Elsha. Was denkst du über mich? Über meinen Geist,
meine ich. Mein Körper ist untadelig, versichern mir die Mädchen. Aber mein Verstand, der könnte ein gründlicheres Urteil vertragen.« »Ich denke, du verfügst schon über das erste Fünkchen Einsicht.« »Ah, das höre ich gern, Elsha. Ich mache mir manchmal Sorgen wegen meines Verstandes. Ich stelle die Dinge in Frage, verstehst du? Ich muss die Dinge erkennen, sie ergründen und von allen Seiten betrachten. Ich mache mir Sorgen. Und meine Eltern erst recht. Sie meinen, für einen Erwählten habe ich eine gefährliche Seele. Du verstehst…« Er kam immer näher, mit der rechten Hand stützte er sich neben meinem Kopf ab, mit der linken verschüttete er den Inhalt seines Weinkelches über mein Kleid. »Du verstehst, Elsha, ich glaube nicht, was sie mir über die Quelten erzählen. Ich denke, ihr seid Menschen wie wir, nicht Tiere. Und du bist der Beweis, nicht wahr? Du lebst mit dem Feuermeister. Du kannst dich ausdrücken, bist klug, furchtlos, ehrenwert, schön, warmherzig… Mein Gott, Elsha, ich wette, dass du Feuer in der Seele hast.« Sein Gesicht war dicht, sehr dicht vor mir, ich konnte den Wein in seinem Atem riechen. Nur eine Bewegung und wir würden die Gesetze brechen. Entscheidende Gesetze. Ich tauchte unter seinem Arm weg und er drückte seufzend seine Stirn an die kalte Steinwand. »Das tut gut«, seufzte er. »Sei ruhig, mein erregtes Gemüt. Und du, mein überhitzter Körper, könntest dich im Schnee wälzen zur Abkühlung.« Über seinen violetten Ärmel hinweg sah er mich an und lächelte. »Du darfst keiner Seele ein Wort erzählen, worüber wir heute Abend gesprochen haben, Elsha. Versprich es. Sie werden mich töten oder brandmarken, für das, was ich gesagt habe. Für das, was ich meine, gesagt zu haben.«
»Ich werde es niemandem erzählen, Alejandro.« »Werden wir uns wiedersehen?« »Ich denke es. Mein Meister sagte, wir würden eine Weile hier bleiben. Und anschließend reisen wir zum Heiligen Berg wegen des Feuerfestes.« »Ach, das Feuerfest. Ich habe ein ganzes Feuerfest in mir, aber es ist wahrscheinlich nicht sehr heilig. Im Gegenteil, es ist höchst unheilig.« Er sah mich an und seine Augen waren wie Jade im Feuerschein. »Entschieden unheilig.« Ich sagte ihm gute Nacht und verschwand ins Haus. Rasch trank ich meinen Wein aus und stürzte einen zweiten Becher hinterher, dann entfloh ich in mein Zimmer. Einer der Diener hatte bereits mein Feuer angezündet, an der Wand flackerte eine Fackel. Kallai saß unruhig auf seiner Stange und schien schon auf mich gewartet zu haben. Ich redete eine Weile auf ihn ein und streichelte seine Brust. Dann zog ich meinen dicken Umhang und mein blaues Kleid aus, setzte mich im wollenen Unterkleid vors Feuer und schaute in die Flammen. Das Zimmer war warm und ganz ähnlich wie das in Jinnah. Diese Stadt hieß Qustra, sie war ebenfalls wohlhabend, das Haus unseres Gastgebers zeugte von Reichtum. Die Felle auf meinem Bett schimmerten rötlich, die Wandteppiche auf den geweißten Mauern und die Teppiche auf den gewachsten Holzdielen waren dick und farbenprächtig. Die Decke allerdings war niedrig, mächtige schwarze Balken trugen das Dach. In all seiner Pracht bedrückte mich das Haus. Nie war ich in diesen überfüllten Häusern richtig bei mir selbst, ich fühlte mich wohler in den kargen Berghöhlen, in die der Wind hineinpfiff, am besten aber waren die Ziegenfellzelte. Ich streckte mich nach meinem blauen Kleid und nahm meine Feueritfrau aus der Tasche, als an der Tür leise geklopft wurde. Ich sprang auf, mein Herz raste. »Wer ist da?«, rief ich. »Wen hast du erwartet«, vernahm ich die Stimme des Feuermeisters
und seufzte erleichtert. Ich stellte meine Frauenfigur auf das warme Sims der Feuerstelle und öffnete die Tür. Noch nie war der Feuermeister in mein Zimmer gekommen, wenn wir in großen Häusern zu Gast waren, ich war aufgeschreckt und benebelt vom Wein. Mit zittrigen Händen schob ich den Riegel zurück. Lächelnd stand er vor der Tür, in der Hand hielt er einen Teller, der mit all meinen Lieblingsgerichten beladen war: kleine Gebäcke, mit Beeren gefüllt, geräuchertes Hezzinfleisch, getrocknete Früchte von weit jenseits unserer Berge und frisches Gemüse, in dünne Scheiben geschnitten und mit Essig beträufelt. »Ich sah, dass du nicht gegessen hast«, sagte er. »Darf ich hereinkommen?« »Natürlich, Meister.« Er trat ins Zimmer, sah sich um und stellte den Teller auf einem niedrigen Tisch am Feuer ab. Der Blick seiner dunklen, weisen Augen drang bis in mein Herz. Ich schluckte und wendete den Blick ab. Er wusste von dem jungen Mann mit den grünen Augen und dem schönen Mund. Aber warum sollte ich mich schuldig fühlen, die ich nichts getan hatte, außer aus einem Kelch der Erwählten zu trinken? »Ich muss dir etwas erzählen«, sagte er leise. Er ging vor dem Feuer in die Hocke, nahm einen Feueritbrocken aus dem Korb und hielt ihn in die Höhe. »Aus Siranjaro. Wie dein Talisman.« Er legte den Brocken auf das Sims neben meine Feueritfrau und wärmte sich die Hände an den Flammen. »Von zu Hause?!«, rief ich aus und nahm den Brocken in die Hand. »Ist Siranjaro in der Nähe?« »Nah genug um überschüssiges Feuerit in diese Stadt zu schicken, als hier die Vorräte zur Neige gingen. Es liegt nach Osten jenseits der Berge, Elsha. Nicht weiter, als dein Kallai fliegen kann. Ohne Flügel vielleicht sechs Tagesreisen.«
»Meister, darf ich hingehen? Bitte! Meine Eltern, meine Brüder, meine Freunde in Siranjaro wissen nicht einmal, was mir widerfahren ist. Ich könnte mit einem Führer reisen, einige Tage bleiben und dann zurückkehren.« »Jetzt ist nicht die richtige Zeit«, sagte er freundlich. »Ich möchte mit dir an einen anderen Ort reisen, ehe wir zum Feuerfest gehen. Danach wirst du das Band mit Siranjaro erneuern, ich verspreche es dir.« Ich schaute auf den Feuerit in meiner Hand und war den Tränen nahe. Vielleicht hatten Hände, die ich kannte, diesen Brocken aus der Grube geholt, Hände, die ich liebte. Ich schaute ins Feuer. »Die Flammen von Siranjaro. Aus meiner Heimat, meiner Grube, meiner Erde.« Er sah mich mit einem seltsam zärtlichen Blick an, ein Lächeln, das um seinen Mund und seine Augen spielte. »Es gibt eine noch hellere Flamme als diese hier, die aus Siranjaro stammt.« Lange saßen wir schweigend am Feuer, miteinander teilten wir die Stille und die Wärme. Schließlich erhob er sich; er kam mir auf einmal unendlich müde vor. »Vergiss nicht deinen wahren Weg, Elsha«, sagte er und ging.
12
ALEJANDRO
Ich legte Zunder und Feueritbrocken in die fünfte und letzte Urne, dann trat ich einige Schritte zurück. Wie immer war die Karte von dem Gebiet ausführlich und genau. Die Erwählten hatten die dünne Schneedecke weggefegt, dann hatte der Feuermeister auf der gefrorenen Erde ein treues Abbild der Stadt namens Qustra aufgezeichnet. Ich erkannte den großen Felsen im Osten, an dessen Fuß sich die Zelte der Quelten zusammendrängten. Ihm gegenüber lag der Berghang, auf dem in Terrassen die Häuser der Erwählten verteilt lagen, dazwischen war der Fluss eingezeichnet, der die Quelten von den Erwählten trennte. Mein Meister hatte mit kleinen Steinen sogar die Seilbrücke angedeutet, die über den reißenden Fluss führte. Ich erkannte auch die Stelle, wo wir uns jetzt versammelt hatten, eine kleine ebene Fläche unweit des Flusses auf der Seite der Stadt. Der Feuermeister entzündete das Feuer in der mittleren Urne und trug es von dort mit einer Fackel zu den anderen Urnen, die ich vorbereitet hatte. Dann trat auch er einige Schritte zurück, stellte sich dicht neben mich und betrachtete die Abbildung. Ich spürte seinen Ärmel und blickte kurz zu ihm hoch, aber sein Gesicht war unter der roten Kapuze verborgen. Trotzdem konnte ich seine Anspannung spüren. Er hatte im Haus das Zimmer neben mir und ich hatte ihn die ganze Nacht über auf und ab gehen hören, die Holzdielen hatten unter seinen Schritten geknarrt und am Morgen hatte er tiefe Ringe unter den Augen gehabt. Ich wusste nicht, ob er
krank war oder warum er sich verausgabt hatte. Er sprach nicht oft über sein Befinden. Dennoch spürte ich, wie er sich fühlte, und wusste, was er nicht in Worte fasste. Genauso wusste ich in diesem Augenblick, dass er am Ende seiner Kräfte war. Schon das Zeichnen der Abbildung hatte ihn erschöpft, obwohl ich ihm geholfen hatte, aber die größte Kraftanstrengung stand ihm noch bevor. Er begann im Osten und hockte sich dort neben die Feuerurne; ich konnte nicht anders als über ihn hinweg auf die Berge zu blicken, hinter denen Siranjaro lag. Länger als gewöhnlich blieb er sitzen, der Saum seines Mantels lag über dem aufgehäuften Schnee, mit zitternden Händen umklammerte er die Wünschelrute vor ihm. Er hielt den Kopf gesenkt und ruhte mit der Stirn auf dem Stock. Ich hätte hinter ihm stehen sollen, aber ich stand ihm gegenüber auf der westlichen Seite der Zeichnung von Qustra und beobachtete ihn. Endlich stand er auf. Er hob den Kopf himmelwärts und ich sah an seinen Lippen, dass er ein Gebet sprach. Er sah so alt aus, so alt, dass es mir ins Herz schnitt. Langsam, unschlüssig bewegte er sich über die Karte, die Leute traten von einem Fuß auf den anderen, sahen einander mit gerunzelter Stirn an, aber niemand sagte ein Wort. Sogar die Kinder hielten still, weil sie begriffen, dass hier etwas Mächtiges geschah, auch wenn sie es nicht verstanden. Der Feuermeister schritt zur nordöstlichen Seite, wo hinter einem Hügel eine offene Fläche lag, dort hockte er sich hin, – er hielt die Wünschelrute waagrecht über der Erde, aber sie rührte sich nicht. Sein Kopf unter der Kapuze sank immer tiefer, beinah berührte er mit der Stirn die gefrorene Erde… ich hätte mein halbes Leben darum gegeben, ihm helfen zu können. Wenn ich ihm nur einen Teil meiner Kraft schicken könnte! Er erhob sich und ging hinüber in den südöstlichen Abschnitt, kniete nieder und bewegte seinen Stab über die
Erde. Am Ende eines Berghangs zitterte der Stab und wurde wieder still. Gebannt schaute ich auf jede seiner Bewegungen, mit gesammelter Kraft begleitete ich seine Suche. Ich fühlte den Sog der Erde, spürte ihr Summen durch die Sohlen meiner Stiefel, wie sie durch meine Beine in mich eindrang bis hinauf zu meinem Herzen, in meinen Kopf, und so mein ganzes Wesen erfüllte. Ein Zittern ging von der nördlichen Ecke der Karte aus, auf der Seite des Flusses, wo die Erwählten wohnten, gegenüber von den Zelten der Quelten. Ich warf dem Feuermeister einen inständigen Blick zu, aber er stand noch immer mit dem Gesicht nach Osten gewandt. Ich beobachtete die Erwählten, deren Blicke an ihm hingen, erwartungsvoll, voller Vertrauen. Jetzt lag er flach mit seitwärts ausgestreckten Armen auf der Erde, aber noch immer nach Osten gerichtet. Er ging auf die Knie, der Stab bewegte sich nach Süden. Und wieder spürte ich das Beben von den nördlichen Bergen hinter ihm. Die ganze Erde dort schien zu singen, ich spürte das tiefe Summen der im Feuerit verborgenen Flamme. Ich kniete mich hin und legte die Handflächen auf die Erde. Sie flüsterte mir zu von der Wärme und Kraft lebendigen Feuers. Es war ein Gesang, ein himmelstürmender Freudenruf. Wie konnte es sein, dass er ihn nicht hörte? Jetzt stand er wieder auf, aber noch immer hatte er sich nicht von der falschen Richtung gelöst. Entgeistert starrte ich ihn an, versuchte ihn zu beschwören: Dort! Da drüben! Hinter Euch! Am liebsten hätte ich es ihm zugerufen. Er machte einen Schritt, zögerte, lauschte. Hinter Euch, Meister! Hinter Euch! Im Norden! Er drehte sich um und sah zu mir herüber, aber sein Gesicht war unter der Kapuze verborgen. Ich kniete noch immer und hatte die Handflächen auf die Erde gepresst. Ich keuchte, meine Gedanken wirbelten wie verrückt durch meinen Kopf, ich zitterte am ganzen Körper. Mein Körper bebte im Gleichklang mit der Kraft, die ich spürte.
Langsam drehte er sich um, wendete sich nordwärts, dorthin, wo das Feuerit in der Erde verborgen lag, er ging darauf zu. Ich senkte den Kopf, ich hatte mich völlig verausgabt. Wie aus weiter Ferne hörte ich Freudenrufe, die Luft schallte vom Jubel, Musik erklang, aber ich nahm alles kaum wahr, ich sah eine tiefe Dunkelheit, in der eine einzelne Flamme leuchtete. Hinter der Flamme lag, ich hatte es schon so oft gesehen, der steile Weg, der zum Tempel hinaufführte. Aber diesmal verdüsterte sich das Bild, es verschwand in dunklem Nebel, im Eis, wo züngelnde Flammen aufblitzten wie Schwerter. Als ich aufschaute, waren alle, der Feuermeister und die ganze Menschenmenge, verschwunden. In weiter Ferne entdeckte ich den Zug, ihre Kleider leuchteten vor dem Grau der Berge und dem Weiß des Schnees. Zum ersten Mal, seit ich als Leibdienerin beim Aufspüren des Feuerits dabei gewesen war, hatte ich ihn nicht begleitet, als er die neue Grube vermaß. Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr mich: Hatte ich laut ausgerufen? Oder hatte ich nur inständige Gedanken geschickt? Und hatte er mich gehört? Wusste er Bescheid? Nie zuvor hatte ich mich eingemischt, wenn er Feuerit aufspürte. In den vergangenen Monaten hatte ich die Stelle des verborgenen Feuerits oft gespürt, aber immer hatte ich mich dem Ruf verschlossen. Aber heute, heute, als er so verzweifelt suchte, heute hatte ich mich eingemischt. Schuldbeladen schleppte ich mich zurück in die Stadt, zu dem vornehmen Haus, in dem wir wohnten. Ich ging die Treppen hinauf in mein Zimmer und riss mir das rote Kleid vom Leibe, das ich immer trug, wenn der Meister Feuerit aufspürte. Ich zog das am wenigsten auffällige Kleid an, die wärmsten, unempfindlichsten Überkleider, – ein graues Kleid aus grober Wolle, das ich auf Reisen trug, wenn der Weg durch besonders raue Gegenden führte. Der Saum war ausgefranst und am Ärmel war ein Riss, der von Kaliais Krallen herrührte. Dieses Kleid zu behalten konnte kein
Vergehen sein. In einen großen Lederbeutel packte ich zwei Unterkleider, ein weiteres Kleid, einen Umhang, ein Paar Stiefel, ein Tuch, mit dem ich mich abtrocknen konnte, wenn ich einen Fluss durchquert hatte. Ich packte auch ein paar Flintsteine und einen ordentlichen Vorrat Feuerit ein, dazu eine warme Decke. Wenn ich unterwegs in seinen Höhlen übernachtete, mussten diese Vorräte reichen. Siranjaro lag nicht mehr als sechs Tage Fußweg entfernt. Ich nahm Kallai von der Stange und spürte seine freudige Erwartung in Aussicht auf einen Jagdspaziergang. Zuletzt legte ich das heilige Zeichen ab. Ich hatte es mit Sand poliert, aber mein eingekratztes Familienzeichen war noch zu erkennen. Wenn ich nur schreiben und ihm eine Nachricht hinterlassen könnte! Stattdessen legte ich das Amulett vor seine Tür und machte mich auf den Weg. Aus der Küche nahm ich kaltes Fleisch, Pasteten und Brot mit, das vom Vorabend übrig geblieben war. Ich war kaum aus dem Schatten des Hauses getreten, als jemand meinen Namen rief. Ich fühlte mich ertappt und machte eine rasche Wendung. Es war Alejandro. Er kam über den steinigen Weg auf mich zugeschlendert und trat mit dem Fuß nach einem Erdbrocken. »Ich grüße dich, Leibdienerin! Ist das Feuerit schon gefunden? Das ging ja schnell. Aber warum bist du allein?« In meinem Kopf drehte sich alles. »Ich bin vor den anderen gegangen. Ich fühlte mich nicht wohl.« Seine Kleider waren tiefblau und schön; ich kam mir wie eine Maus vor in meinem graubraunen Gewand. Aber er hatte keine Augen für mein Kleid. Sein Blick blieb sofort an dem dicken Bündel hängen, das ich über der Schulter trug, dann sah er auf Kallai. »Ich verstehe, Elsha, du bist krank, deshalb gehst du auf die Jagd.« Ich ging weiter, damit ich Zeit zum Denken gewann. Er folgte mir mit langen federnden Schritten, dann stöhnte er: »Nicht so schnell, Leibdienerin! In meinem Kopf dröhnt eine
Trommel. Ich bin gerade erst aufgewacht und musste feststellen, dass ich das Ereignis verpasst habe. Aber dein Gesicht ist ohnehin schöner als das des Feuermeisters. Obwohl schön vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist; deine Nase ist krumm, dein Mund ist zu breit, deine Augen schielen, trotzdem hast du ein ansprechendes Gesicht.« »Danke«, sagte ich und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Kritik konnte ich von seiner Seite besser ertragen als Schmeicheleien. Wieder lachte er leise, sodass seine Schultern zuckten. »Wenn du auf die Jagd gehst, darf ich dich begleiten? Außerdem rieche ich kaltes Huhn und Pasteten in deinem mächtigen Packsack. Ich sterbe vor Hunger.« Ich sah ihn von der Seite an, aber mir fiel nichts ein, womit ich ihn hätte loswerden können. Er grinste mich schelmisch an und sagte: »Außerdem wäre es mir ein unbeschreibliches Vergnügen, ein wenig Zeit in deiner Gesellschaft verbringen zu dürfen. Du hast mich wahrhaftig verzaubert mit deinen schielenden Feueraugen.« Mir blieb nichts als der direkte Weg. »Ich brauche Zeit für mich selbst, Alejandro«, sagte ich so freundlich wie möglich. »Eine Menge Zeit, würde ich meinen«, sagte er mit einem Blick auf meinen Beutel. »Bist du sicher, dass du nur auf die Jagd gehst, Elsha?« Jetzt saß ich in der Falle. Ich schwieg und versuchte zu denken. »Ja«, erklärte ich. »Und du darfst mitkommen, aber nur wenn du tust, was ich sage.« »Von Herzen gern. Ich bin dein Gefangener, dein Diener, dein unterwürfigster Sklave. Sprich nur ein Wort, dann lege ich meinen Körper auf den steinigen Weg, damit du einen Teppich unter deinen lieblichen Füßen findest.« »Na, du kannst den Beutel tragen«, lachte ich. »Bei Gott! Schweres Gepäck.« Er tat, als ob er unter dem Gewicht ins
Taumeln geriet. Ich glaube jedenfalls, dass er so tat. »Was hast du da drin? Feuerit?« »Unter anderem. Du kannst ihn hier abstellen, irgendwo oben auf einem Stein, damit wir ihn später wiederfinden. Ich brauche die Sachen jetzt nicht alle.« »Ich hole lieber erst das Essen heraus«, sagte er, und ehe ich widersprechen konnte, durchwühlte er meinen Beutel. »Was ist das?« Er zog ein Unterkleid zum Vorschein, hielt es hoch und rollte mit den Augen. »Oh, ruhig nur, mein armes Herz. Die Unterkleider der Leibdienerin! Oh, süßer, betörender Duft! Dazu angetan, einen Mann durch die Nase zu erobern, zu verführen…« Ich riss ihm das Kleid aus den Händen und stopfte es zurück in den Beutel. »Es riecht nach der Seife, mit der ich es wasche, du Narr!«, schrie ich aufgebracht. »Wühl nicht in meinen Sachen! Gib mir lieber den Beutel, wenn du dich nicht beherrschen kannst. Und hör auf, mich zu plagen!« »Ich wollte dir keine Plage sein«, murmelte er in gespielter Zerknirschung. Jetzt trug er den Beutel über der Schulter. »Ich wollte nur lustig sein. Ich hoffte, du würdest dich an meinen Scherzen erfreuen. Es tut mir Leid.« Schweigend ging ich weiter. Mir gingen zu viele Gedanken durch den Kopf, vieles lag mir schwer auf dem Herzen. Ich wünschte, er wäre nicht da. Gleichzeitig war ich froh über seine Anwesenheit. »Elsha, ich weiß, dass du Sorgen hast«, sagte er leise. Er streifte meinen Ärmel, als er über einen Stein stolperte. Wir stiegen höher in die Berge im Osten der Stadt, weg von der neu aufgespürten Grube. »Ich sehe, dass du einen weiten Weg vor dir hast. Hoffentlich nicht meinetwegen?« Ich hielt inne und sah ihn an. Sein Gesicht war ernst, kleine Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und im dunkelbraunen Flaum über seiner Oberlippe. Seine Augen waren im Tageslicht goldgrün,
seine Wimpern waren lang und dunkel. Seine Augen waren voll Licht. Ich muss verwirrt ausgesehen haben, denn er wurde rot und fügte hinzu: »Sie wissen, dass wir gestern Abend zusammen Wein getrunken haben. Mein Onkel ist der Besitzer des Hauses, in dem du zu Gast bist. Sie meinten, ich habe mich ungebührlich aufgeführt, weil ich dir Wein aus einem unserer Kelche angeboten habe.« »Und der Feuermeister hat mir Essen auf einem eurer Teller gebracht«, sagte ich und riss meinen Blick von ihm los. »Wenn er die Gesetze bricht, kannst du es auch.« »Aber er hat es weniger öffentlich getan. Wir müssen vorsichtiger sein, Elsha.« »Warum? Wir haben nichts zu verbergen.« »Dann gehst du also nicht wegen mir?« »Nein. Es hat nichts mit dir zu tun.« »Also gehst du auf jeden Fall?« »Hör auf, Alejandro!« Ich ging weiter, schnelleren Schrittes, Kallai krallte sich an meiner Faust fest, er spürte meine Verwirrung. »Womit soll ich aufhören, Leibdienerin? Dich zu mögen? Mich zu interessieren? Ich hätte gedacht, du kannst einen Freund gebrauchen, mit dem du unter vier Augen sprechen kannst, der dich schätzt. Du bist eingeklemmt zwischen zwei Welten. Du lebst unter Erwählten, aber du bist eine Queltin. Dein Leben muss höllisch einsam sein. Ich kann verstehen, dass du nach Hause gehen willst. Sogar wenn es bedeutet, zurück in die Sklaverei zu gehen.« »Du verstehst überhaupt nichts. Du hast keine Ahnung. Hör auf, mich ständig zu beurteilen. Ich bin nicht so einsam, dass ich in meine Grube zurückkehren müsste, und ich pfeife vollständig auf eure Gesetze. Hör auf, mich zu plagen. Du bist wie ein Floh in meinen Schlaffellen.«
»Wenn das nur wahr wäre! Nein, es tut mir Leid. Es tut mir Leid, einen dummen Scherz gemacht zu haben. Himmel, deine Wut, Elsha, sprüht wahrhaftig Funken. Ich bin nur gekommen, weil ich dein Freund sein möchte. Aber wenn ich dich derart in Rage bringe, dann gehe ich lieber.« Er blieb stehen und schwang den Beutel von seiner Schulter auf den Boden. »Ich sehe dich bestimmt im Haus. Oder vielleicht auch nicht. Möchtest du, dass ich dem Feuermeister etwas ausrichte?« Ich blieb ebenfalls stehen und starrte ihn an. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Mein Herz lag bleischwer in meiner Brust. »Ja, bitte. Sag ihm, dass es mir Leid tut. Dass ich Zeit zum Nachdenken brauche.« Er kam einen Schritt näher und nahm mich bei den Schultern. »Dann will ich mich richtig von dir verabschieden, wie ein Freund.« Er küsste meine rechte Wange und sein Mund war rau und warm. Er küsste meine linke Wange und sein Atem war warm und feucht an meinem Hals. Er küsste meinen Mund und in mir geriet alles durcheinander. Ich sah nur Dunkel. Und dann sah ich im Dunkel plötzlich die Flamme, die ich in meiner Vision gesehen hatte, ich hörte die Worte, die mein Meister in der vergangenen Nacht gesprochen hatte. Ich kämpfte mich frei aus dem Dunkel und schob ihn von mir weg. Ich war nicht mehr verwirrt; nicht wegen Alejandro und nicht wegen des Weges, den ich zu gehen hatte. »Jetzt gehen wir auf die Jagd!«, sagte ich mit einem Lächeln, weil mir plötzlich ganz leicht ums Herz war. »Und heute Abend werde ich meinem Meister einen Raben in seiner Lieblingssoße kochen, als Versöhnungszeichen. Aber, Alejandro, keine Küsse mehr zwischen uns.« Mit einem schelmischen Lächeln beugte er sich nach meinem Beutel. »Es wäre süß, mit dir zu liegen wie Mann und Frau, Elsha. Aber ich habe deine Worte gehört und ich werde gehorchen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass du auf einem anderen Weg bist, auf einem Weg, der mit dem
Feuer zu tun hat. Dein Feuer und meins haben nicht dieselbe Nahrung.« Er schwang sich den Beutel auf den Rücken und legte mir mit einem Lächeln den Arm um die Schulter. »Also, auf zur Jagd, Elsha. Dein armer Vogel wurde fast zerdrückt, und mir hat er ein Loch in den Ärmel gerissen. Eine kleine Wunde, aber keine Sorge, ich werde nicht daran verbluten. Ich gehöre zu der Sorte, die an gebrochenem Herzen stirbt, darunter mach ich’s nicht.« Wir jagten mit Kallai, und während mein Falke flog, sprachen wir miteinander. Weil ich selbst nicht viel erzählen wollte, sprach er und erzählte mir von den Dingen, an die er glaubte. An diesem Tag erfuhr ich, dass viele meiner Träume von Gleichheit und Wahrheit, vom Ursprung der Menschen, dass all dies von einem jungen Erwählten geteilt wurde. Einem, der grüne Augen hatte, mir ins Gesicht sah und ein Herz hatte wie ich.
Es war schon dunkel, als wir zum Haus zurückkehrten, und zu spät, um den Raben für den Feuermeister zu bereiten; das Essen der Männer war schon zugange. Vor dem Eingang zum großen Saal nahmen wir Abschied; er legte seine Rechte auf meine Wange und strich mir mit dem Daumen zart über die Lippen. Aber er küsste mich nicht. »Ich habe diesen Tag sehr genossen, Elsha. Niemals habe ich so frei mit irgendwem sprechen können. Ich hoffe, meine Geheimnisse sind gut aufgehoben bei dir.« »Sei unbesorgt. Es gibt mir Kraft, einen Freund zu haben.« »Brauchst du Kraft?« Ich nickte. Er lächelte, dann wandte er sich unvermittelt um und betrat den Saal, der von Lärm und Essensgerüchen erfüllt war, und bald setzte auch die Musik wieder ein. Froh, dass der
Feuermeister in Gesellschaft war, nahm ich meinen Beutel und brachte Kallais Jagdbeute in die Küche. Außer Atem kam ich in meinem Zimmer an, weil ich mein schweres Gepäck die steilen Treppen hinaufgetragen hatte; ich war nichts mehr gewöhnt, seit ich die Grube hinter mir gelassen hatte. In den oberen Stockwerken war es still. Leise ging ich zur Tür meines Meisters, das Amulett war verschwunden, er wusste Bescheid. Ich stieß einen Fluch aus. In meinem Zimmer war alles dunkel, dafür nahm ich die Gerüche umso deutlicher wahr, die Gerüche alter Teppiche, von gewachstem Holz und von Rauch. Ich stellte meinen Beutel neben der Feuerstelle ab und tastete in seinen Tiefen nach Zunder und Flintsteinen. Eine Weile schaute ich in die knisternden Flammen, die langsam den Feuerithaufen entzündeten, und ich dachte an Siranjaro. Aber ich vermied es, an Lesharo zu denken; heute hatte ich mehr als einen Mann betrogen. Bald loderten die Flammen auf, ich nahm die Fackel aus der Wandhalterung, entzündete sie am Feuer. Allmählich wurde es wärmer im Raum, die Schatten tanzten über die Wände und das Feuer verbreitete ein warmes Licht. Ich hörte ein Scharren und blickte auf. Der Feuermeister stand an meinem Fenster. Mir stockte der Atem vor Schreck. Schuldgefühle überschwemmten mich heiß wie eine Kanne kochenden Wassers. Er kam näher zum Feuer und jetzt erkannte ich, dass er noch immer seinen Feuersuchermantel trug. Nur die Kapuze hatte er zurückgeschlagen. Sein Gesicht war verschattet, aber seine Augen bekamen einen kupfrigen Glanz, wenn ein Lichtschein über ihn hinwegtanzte. Er saß nicht und er hatte nicht gesessen, er stand schweigend, schwarz und übermächtig vor mir. »Zum ersten Mal hast du mein Missfallen erregt«, sagte er mit einer Stimme, die so tief und hohl klang, dass ich ihn kaum verstand. »Es tut mir in der Seele weh, Elsha.«
Ich starrte ins Feuer und wagte kaum zu atmen; ich sah nichts außer einem Mann, der über die Abbildung einer Landschaft gebeugt stand und litt. »Es tut mir Leid, Meister.« »Worte können nicht ungeschehen machen, was getan wurde. Ich hatte hohe Träume für dich, Elsha. Wunderbare Träume, von denen ich glaubte, du würdest sie wahr machen. Ich habe von dir geträumt, noch ehe ich deinen Namen kannte, ich habe dich geliebt, noch ehe ich dein Gesicht gesehen hatte. Ich liebte dich um deines Feuers willen. Ich vertraute dir. Aber du hast mich und meine Träume verraten.« »Es tut mir Leid, Meister. Aber ich konnte es nicht aufhalten. Der Sog war zu stark… und das Beben… « »Ich weiß, Elsha. Aber du musst Beherrschung lernen, sonst ist alles verloren. Es gibt für jedes Ding eine richtige Zeit. Hast du vergessen, was ich dir gestern Abend gesagt habe? Über deinen Weg, den du nicht aus den Augen verlieren sollst?« »Es tut mir Leid, Herr, dass ich zu weit gegangen bin. Ich wollte nicht, dass Ihr davon erfahrt, noch nicht.« »Ich, davon erfahren? Das ganze Haus spricht von nichts anderem! Die ganze Stadt! Während des Festes heute wurde von nichts anderem gesprochen!« Ich stand auf und sah ihn ungläubig an. Es verschlug mir die Sprache vor Entsetzen, dass meine Schuld so groß war. Er begann auf und ab zu gehen, wütend jetzt, sein Mantel schwang bei jedem Schritt mit, sein Schatten jagte schwarz über die rötlich beleuchteten Wände. »Hast du gar kein Schamgefühl, Elsha? Keinen Sinn fürs rechte Maß? Reicht es nicht, dass du gestern Abend mit ihm Wein getrunken hast, musstest du ausgerechnet früher von der Zeremonie zurückkehren, um ihn zu treffen und dich mit ihm in den Bergen zu vergnügen? Und bei allen himmlischen Kräften, warum hast du dein Amulett nicht mitgenommen? Damit du tun konntest, was du willst, ohne dich schuldig zu
fühlen? Damit du deine Bestimmung für das Vergnügen eines einzigen Tages über Bord werfen konntest, für einen kurzen, vergänglichen Rausch! Kurz wird dein Vergnügen währen, Elsha, denn er teilt nicht deinen Weg. Er ist eine Ablenkung, eine irrwitzige Ausschweifung. Er wird dein Ende sein, Elsha!« Am ganzen Körper zitternd trat ich ihm entgegen. Vor Erleichterung wurden mir die Knie weich und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. »Meister, Eure Empörung ist ohne Gegenstand! Er ist ein Freund. Ein Freund, sonst nichts. Wir haben nichts getan.« »Nichts getan? Warum hast du dann gesagt, du konntest es nicht aufhalten, weil der Sog zu groß war? Woher konntest du das wissen, wenn er dich nicht berührt hat? Wie kannst du sonst zu weit gegangen sein? Und was war es, was ich noch nicht erfahren sollte? Worüber sprichst du, Elsha? Ich denke, du lügst mich an, Leibdienerin. Ich spüre, dass du mir etwas verheimlichst, dass ein Schleier über deiner Seele liegt. Ich glaube, du lügst.« »Ich lüge nicht! Und Euch gegenüber schon gar nicht, der Ihr ohnehin in meine Seele blickt und alles wisst. Selbst wenn ich ein kurzes Vergnügen gewollt hätte, was sollte daran falsch sein? Was ist falsch daran, wenn es mich nach menschlicher Wärme verlangt, nach Nähe und Freude? Wenn Ihr Euch für die Rolle des Priesters entscheidet, der unberührt und abgehoben von uns anderen lebt, dann ehre und schätze ich Euch dafür und aus anderen Gründen auch. Aber Ihr habt nicht das Recht, von mir das Gleiche zu verlangen, mir Beschränkungen aufzuerlegen und mir Euer Opfer abzuverlangen. Ich kann ohne menschliche Liebe nicht leben, nicht ohne einen Freund, der mir ins Gesicht sieht und gelegentlich meine Hand hält. Ich kann nicht sein wie Ihr, ich kann nicht so sein, wie Ihr es erwartet!«
»Du musst, Elsha! Das hier ertrage ich nicht! Nie in meinem Leben hat eine Frau gewagt, ihre Stimme gegen mich zu erheben. Und du bist eine Harsha! Ohne mich wärest du nichts!« »Ich habe mich nicht geändert«, sagte ich ruhig. »Nur weil ich meine Grubenkleider verbrannt habe und Euer heiliges Zeichen trage. Ich bin noch immer Elsha. Elsha von den Quelten. Wie sollte ich das jemals vergessen? Man hat mich gestempelt und mir das Zeichen ins Fleisch gebrannt, aber es hat meine Seele nicht gezeichnet. Und meine Seele bleibt dieselbe, ganz gleich, ob ich in einem Zelt aus Ziegenhaut oder einem herrschaftlichen Haus lebe, ob ich mit meinen Harshafreunden, mit einem jungen Erwählten oder mit Euch mein Leben teile. Keiner von Euch verändert meine Seele. Ihr seid es nicht, die mich zu etwas macht. Ich bin ich. Ich. Elsha. Frau.« Er seufzte schwer, zog seinen Mantel dichter um sich herum und lehnte sich mit dem Rücken zu mir an die Wand. »Ich kann nicht gegen dich kämpfen«, sagte er heiser. »Es gibt keinen Grund zum Kampf, Meister. Wenn Euch mein Umgang mit Alejandro beunruhigt, dann sage ich Euch, wir haben nichts getan. Wir haben miteinander gesprochen. Und er hat mich geküsst, das ist alles.« Bei diesen Worten drehte sich der Feuermeister halb zu mir um und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ein leichtes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Ach, er hat dich geküsst, Elsha. Und warum ist es dabei geblieben, wo dein Geist so feurig ist und voller Leidenschaft? Sag nicht, du hattest ein plötzliches Bedürfnis, die Gesetze zu befolgen?« »Mir fiel ein, was Ihr gestern Abend über meinen Weg gesagt habt.«
Er lächelte. Dann rieb er sich das Gesicht mit den Händen und strich seinen Bart glatt. Er lachte leise. »Ich glaube, ich lese nicht immer richtig in deiner Seele, Elsha.« »Nein, Meister, nicht immer. Aber nur selten falsch.« »Falsch nie. Vielleicht verstehe ich nicht immer, was ich in dir lese. Aber für meine Zwecke reicht es.« Mit einem Ruck richtete er sich auf und machte eine angedeutete Verneigung. »Es tut mir Leid, dass ich dir nicht vertraut habe, Leibdienerin. Du weißt, wie schmal der Grat ist, auf dem man in der Welt der Erwählten wandelt. Entweder erntest du ihre Wertschätzung und Achtung oder das Gegenteil. Vergiss nicht, dass du gegen das Gesetz verstößt, wenn du einen Erwählten berührst. Aber mit einem Erwählten wie Mann und Frau zu sein, darauf würde die Todesstrafe stehen, für dich und für ihn.« Er trat vor mich und legte seine Hand an meine Wange, zart strich er mir die Haare aus dem Gesicht. Seine Hand zitterte und seine Augen waren unendlich müde, aber sie leuchteten. Zu meiner Überraschung beugte er sich vor und küsste mich auf die Stirn, in die obere Hälfte meines Brandmals. »Sei vorsichtig, Kind. Du bist meine ganze Hoffnung, der kostbarste meiner Träume.« Dann ließ er mich allein. Vor dem Feuer sank ich in mich zusammen, zitterte, bebte am ganzen Körper. Und dann fing ich auch noch an zu heulen und konnte nicht aufhören. Was für ein Tag!, dachte ich, während meine Tränen immer weiter liefen. Überwältigt von der Kraft des Feuerits, von Furcht und Zweifeln, dann Küsse und halbe Geständnisse – und gleichzeitig behaupte ich, ganz unverändert zu sein. Lügnerin, Elsha Löwenherz.
Die nächsten drei Tage über hatte der Feuermeister viel zu tun. Er zeichnete Pläne für die neue Grube, bezeichnete die genaue
Lage und Tiefe der Feueritadern und überwachte den Anfang der Arbeit am neuen Eingang. Wenn ich ihn nicht zur neuen Grube begleitete, verbrachte ich alle Zeit mit Alejandro oder mit Kallai auf der Jagd. Jedes Mal machten wir die Jagd zu einem Vergnügen, nahmen Essen, Wein und Buchrollen mit, damit Alejandro mir vorlesen konnte. Seine Anwesenheit war mir eine unaussprechliche Freude. Mit ihm konnte ich lachen und wusste auf einmal, dass ich noch nie wirklich gelacht hatte. Er war wie eine Medizin für mich, ein heilender Balsam für mein schon oft gekränktes Herz. Auch an meinem letzten Tag in Qustra ging ich in Alejandros Begleitung mit Kallai auf die Jagd. Nachdem die Jagdlust des Falken gestillt war, lagen wir auf der Decke, die er mitgebracht und über dem Gras ausgebreitet hatte, und er las mir aus den Legenden der Erwählten vor. Ich lag nicht neben ihm, sondern hatte nur meinen Kopf auf seine Brust gelegt, damit ich ein Kissen hatte. Er hielt die Buchrolle mit der einen Hand, während er den anderen Arm leicht um mich gelegt hatte. Kallais Leine hatte ich an einem Felsen festgemacht, auf dem er saß, aber er fühlte sich ohne Stange nicht wohl. Nach einer Weile ließ Alejandro das Buch sinken und ich spürte, wie sein Körper erschüttert wurde von seinem eigentümlich leisen Lachen. Auch ich lachte, wegen der dreisten Behauptungen in den Erwählten-Legenden, die er mir vorlas. »Wenn du doch bleiben könntest, Elsha«, sagte er plötzlich ernst. »Mit wem soll ich sprechen, wenn meine andere Hälfte fort ist? Wer wird meine geistreichen Dummheiten anhören und Mitleid haben mit meiner irregeleiteten Seele?« »Ich glaube nicht, dass deine Seele irregeleitet ist«, sagte ich und setzte mich auf. »Ich denke, deine Seele ist auf der richtigen Spur. Die anderen Erwählten sind es, die irren.« »Die halbe Welt soll Unrecht haben?«
»Ja.« Jetzt setzte er sich auch hin und begann wieder zu lachen. »Oh, süße Gotteslästerung!« Er griff nach dem Tuch, in das unsere Mahlzeit eingeknotet war, und entfaltete es zwischen uns auf der Decke. Auch den Weinschlauch entkorkte er, nahm einen tiefen Schluck und lächelte mich dann mit blutroten Lippen an. »Diesen guten Tropfen werde ich auch vermissen, wenn ihr abgereist seid. Sie werden ihn im Keller verstecken, bis der nächste vornehme Gast eintrifft, und wir dürfen bis dahin wieder Essig trinken. Dies ist unser Abschiedsfest, Elsha, morgen bist du schon weg.« »Ich weiß«, sagte ich und wartete darauf, dass er mir den Wein anbieten würde. Aber er verschloss den Beutel und begann gierig zu essen. Es war das dritte Mal, dass wir draußen zusammen aßen, – vielleicht war ich verrückt, aber ich hatte trotzdem eine kleine Hoffnung, er würde mich mit ihm gemeinsam essen lassen, statt hinterher, wenn er fertig war, wie es die Tradition gebot. Ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen um mir zu einem Stück Brot und einem Stück Käse zu verhelfen, aber es hätte mir mehr bedeutet, wenn er mich dazu eingeladen hätte. Es hätte unendlich viel bedeutet. Als ich ihm jetzt beim Essen zusah, wurde mir klar, dass auch in ihm ein innerer Widerspruch herrschte. Er sagte, dass es keinen Unterschied zwischen Erwählten und Quelten gab; er behauptete, für ihn seien Männer nicht heiliger als Frauen, – er sagte, wir seien ebenbürtig; aber er sagte all diese Dinge nur, während sein Tun eine andere Sprache sprach. Er aß noch immer vor mir, als sei er mein Herr. Und mit dieser einfachen Handlung machte er all seine Worte zunichte.
Früh am nächsten Morgen sagte ich ihm Lebewohl. Er erzählte mir, dass sein Vater ihn zur Armee in den Norden schicken wollte, wo man ihm die Flausen austreiben würde. Ich erzählte ihm von Amasai und bat ihn, Amasai meine Grüße zu übermitteln. Und im Stillen dachte ich, dass Amasai nicht der Richtige war, um ihm den Kopf zurechtzurücken. Er nahm mich in die Arme und küsste meine Wange und sagte, er würde mich vermissen wie eine verwandte Seele. Wenig später hatten der Feuermeister und ich schon die windige Straße in die Berge erreicht, den Blick schon zum Heiligen Berg gerichtet, wo das große Feuerfest stattfinden sollte. Diesen Berg kannte ich aus meinen Träumen und seinen Namen auch: Kasimarra. Aber auf dem Weg dorthin sollten wir noch an einen anderen Ort kommen, an einen verborgenen namenlosen Ort, wo der Feuermeister mir den Schwur abnahm, niemandem von seiner Existenz zu verraten. Dieser geheime Ort lag tief im Tal, von hohen Bergen umgeben, sodass man ihn nur über einen heimlichen Pass erreichen konnte. Er sollte der Ort werden, den ich in der ganzen Welt am meisten liebte.
13
EIN GEHEIMER ORT
Auf dem Wege dorthin wurde der Feuermeister krank. Er zitterte am ganzen Körper und seine Haare waren schweißnass. Seine Haut verlor ihren samtigen Schimmer und wirkte fahl, beinah grau. Seine Augen waren glanzlos und ohne einen Funken Leidenschaft. Es tat mir in der Seele weh. Oft musste er sich während der Reise hinter einem Felsen übergeben und hatte anschließend kaum die Kraft, den Esel wieder zu besteigen. Ich flehte ihn an, mit mir zurück nach Qustra zu gehen, aber er winkte ab; er habe einen Freund, den er treffen müsse, durch nichts in der Welt wollte er sich von diesem Ziel abbringen lassen. Dicker Nebel verhüllte den Weg und manchmal sah ich kaum zwei Schritte weit. Ich fürchtete, dass wir uns verirren würden, nur die Gebetssteine am Wegrand gaben mir Sicherheit. Der Feuermeister, so dachte ich, musste jedes Gefühl für den Weg verloren haben. Er hing vornübergebeugt über dem Hals des Esels und sah oft aus, als seien sein Geist und seine Seele davongeflogen. Aber nach einer Weile blieb er dann stehen, drehte sich um und wartete auf mich: »Wir sind bald da, Elsha. Vergiss nicht, dass wir an einen geheimen Ort gehen. Wir werden sechzehn Tage bleiben und danach zum Heiligen Berg reisen, um das Feuerfest durchzuführen. Aber du musst mir schwören, dass du nie in deinem Leben und niemandem gegenüber davon sprichst, wo du während dieser Tage gewesen bist.« »Ich schwöre es, Meister.«
Er ritt eine kurze Weile weiter, dann saß er ab und führte den Esel. Nach einer scharfen Linksbiegung zerrte er das störrische Tier durch eine enge Stelle hinter einem mächtigen Felsen. Zuerst glaubte ich, er habe den Verstand verloren und wolle das arme Tier in eine Falle leiten, wo es hilflos eingeklemmt wäre, aber als der Weg so weit frei war, dass ich folgen konnte, war es ein schmaler Felsspalt, den ich betrat. »Komm, Leibdienerin. Keine Angst, ich kenne den Weg.« Die Kluft war eng und pechschwarz. Die Wände zu beiden Seiten schienen sich uns entgegenzulehnen, ich spürte das Summen des Feuerits im Berg, dann hörte ich leises Wasserplätschern. Ich kannte das Gefühl, von schwarzem Fels umschlossen zu sein, aber Kallai krallte sich verzweifelt an meiner Hand fest. Ich folgte blind dem rasselnden Atemgeräusch des Feuermeisters, seinen tastenden Schritten und dem Geräusch widerwillig aufgesetzter Eselshufe. Plötzlich war Licht auf den Wänden, dann waren wir im Freien. Von der Helligkeit geblendet musste ich blinzeln, und als ich mich dann umsah, glaubte ich meinen Augen kaum. Umgeben von hohen Gipfeln befanden wir uns auf einer Hochebene, an deren anderem Ende ein Wasserfall in einen lang gestreckten See stürzte. Kein Wind, kein Nebel, als wären wir in einer anderen Welt. An den Rändern des Tales waren unter überhängenden Felsen Häuser aus Stein und Lehm gebaut, die sich in die Umgebung schmiegten, sodass ich sie erst auf den zweiten Blick sah. Es gab Gemüsegärten und Mais, der in Reihen angebaut wurde, und es gab Ziegenherden. Jetzt entdeckte ich auch den Eingang einer Grube, der nicht abwärts, sondern gerade in den Berg führte, – ich entdeckte sie nur, weil ein paar Quelten mit ihren Körben herauskamen, und erst da sah ich, dass die Erde dort vom Feueritstaub geschwärzt war. Ich suchte den Aufseher, aber es gab keinen. Die Quelten gingen in einer Gruppe zusammen, lachten und unterhielten sich und eine der Frauen
setzte sogar ihren Korb ab, als ein Kind auf sie zukam um auf den Arm genommen zu werden. Niemand schimpfte mit der Frau, niemand kam um ihr das Kind zu entreißen. Die Quelten gingen mit ihren Körben zu verschiedenen Häusern und blieben dann dort, um auszuruhen oder sich zu unterhalten, nahm ich an. Ich konnte es kaum fassen. Drei der Quelten kamen wieder aus dem Haus, es waren Männer, und einer von ihnen musste einen Scherz gemacht haben, denn sie lachten laut. Zu dritt gingen sie davon, stolz und aufrecht, in entgegengesetzter Richtung der Grube. Sie trugen nicht die übliche schmutzig graue Einheitskleidung der Quelten, ihre Kleider waren teilweise leuchtend bunt, wenn auch schmutzig vom Feueritstaub. Neben mir begann der Feuermeister leise zu lachen, das Leben schien in ihn zurückgekehrt zu sein. Er gab seinem Esel einen Klaps, und zu mir sagte er: »Komm, Leibdienerin, komm mit zu meinem Freund.« Er rief und winkte, einer der Männer drehte sich um und kam auf uns zugerannt. Ein großer Mann, kräftig, aber schlank, mit langen dunklen Haaren und einem dichten Bart. Wie der Feuermeister hatte er eine samtig dunkle Haut, nur ein wenig heller. Seine Bewegungen waren geschmeidig und ohne ein Zeichen der Erschöpfung, obwohl er gerade erst aus der Grube gekommen war. Er umarmte meinen Meister, beide lachten, küssten einander auf die Wangen, dann umarmten sie sich ein zweites Mal. Erstaunt stellte ich fest, dass dieser Mann unter dem Feueritstaub auf seinem Gesicht kein Brandmal hatte. Ein Erwählter. Und er war jung, fünfundzwanzig Jahre, nicht älter. Als Freund des Feuermeisters hatte ich einen älteren Mann erwartet. Dann sah er mich an, er bemerkte meine Verwirrung und lächelte. Schön war er nicht, aber es war etwas Besonderes an ihm, trotz des Feueritstaubs. Es war keine körperliche Besonderheit, es war mehr geistig und schwer zu beschreiben.
Ich fühlte mich angezogen von ihm. Der Mann hielt einen Augenblick inne, betrachtete mich, sah mir ins Gesicht, sah mein Brandmal, lächelte und hieß mich willkommen, wie er den Feuermeister willkommen geheißen hatte: mit einem Kuss auf jede Wange und einer Umarmung, die Kallai flattern ließ und mein Herz auch. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war überwältigt von diesem Ort, von diesem Mann. All meine festen Vorstellungen von einem Erwählten lösten sich auf, in dem Moment. Ich hörte, wie der Feuermeister dem Mann meinen Namen nannte. »Willkommen in meinem Haus, Elsha«, sagte der Mann und nahm meine Hand. Sein Lächeln veränderte sich zu einem beinah jungenhaften Grinsen, halb entschuldigend, halb schelmisch. Seine Augen waren von einem klaren Blau, in dem ich fast ertrunken wäre. »Jetzt habe ich dich mit Feueritstaub beschmutzt, es tut mir Leid.« Ich schaute an meinen Kleidern herab und dachte, dass ich sie nie wieder waschen würde. »Das macht nichts, Herr. Ich bin den Feueritstaub gewöhnt. Ich habe selbst in der Grube gearbeitet.« Ich gab es nur ungern zu, aber er musste es erfahren, wahrscheinlich hatte er mein Brandmal übersehen. »Das habe ich schon festgestellt«, sagte er. »Aber bitte, Elsha, nenn mich nicht Herr, ich heiße Teraj.« Er ließ meine Hand los und wir überquerten die sandige Ebene, die zu den Häusern führte. Teraj hatte seinen Arm um den Feuermeister gelegt, wie es ein zärtlich liebender Sohn mit seinem Vater getan hätte. Ich nahm den Esel am Zügel und ließ sie ein wenig vorgehen. Aus den Häusern kamen Leute und winkten, die Kinder liefen uns entgegen und bestaunten meinen Falken. Die meisten Erwachsenen waren Quelten und von furchtbaren Verletzungen gezeichnet. Beinah alle humpelten, einige mussten sich schwer auf ihre Freunde stützen, andere
hatten keine Hände oder Arme. Einen Mann sah ich, der sich mit Hilfe eines Stocks vorwärts tastete, er war anscheinend blind. Eins der Kinder rannte zu ihm hin und berichtete von unserer Ankunft, denn er drehte sich um und winkte unbestimmt in unsere Richtung. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich bisher keine Quelten gesehen hatte, die nicht arbeiten konnten. Dannii war die Einzige, die mit ihrem gelähmten Arm nicht in der Grube arbeiten konnte, aber sie konnte immerhin die Kinder beaufsichtigen, Gemüse ziehen oder weben. Aber viele der Leute hier hätten nicht einmal das gekonnt. Sie waren so schwer verkrüppelt, dass sie den Erwählten auf keine Weise nützlich waren. Warum hatte ich nie daran gedacht, was mit jenen geschah, die krank oder verletzt waren und nicht mehr arbeiten konnten? Ich hatte sie einfach nicht zu Gesicht bekommen. Hatten die Erwählten sie getötet? Oder wurden sie hierher gebracht? Ich blieb stehen und starrte auf ein Mädchen ohne Beine, die auf einem niedrigen Brett mit Rädern saß und sich mit Hilfe von zwei spitzen Stöcken fortbewegte. Ich war entsetzt und konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie kam zu uns und sprach kurz mit Teraj, der ihr mit dem Fuß einen Schubs gab, so dass sie einen Abhang hinunterrollte. Sie kreischte lachend und wirbelte voll Freude ihre Stöcke durch die Luft. »Ich werde dir später alles erklären, Elsha«, beruhigte mich Teraj, der mein Gesicht gesehen hatte. »Aber wie kann sie leben?«, rief ich aus, den Tränen nahe. »Und dieser alte Mann dort, er hat keine Augen und die eine Gesichtshälfte ist verbrannt, woher kommt er? Was ist mit all diesen Leuten geschehen? Was ist das hier für ein Ort?« »Ich werde dir später alles erzählen«, wiederholte er und führte meinen Meister in eins der Häuser. Ein Junge kam und nahm mir den Esel ab. Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass er kein Junge, sondern ein Mann von ungefähr dreißig Jahren
war, aber er war klein und vierschrötig, sein Gesicht war rund und hatte den Ausdruck eines Kindes. Seine Augen standen leicht schräg, seine Nase war klein, er hatte ein ausgeprägtes Kinn, aber keinen Bartwuchs. Er sah mir ins Gesicht, obwohl er ein Erwählter war, und lächelte breit. »Ich heiße Torgny.« Seine Stimme war tief und er sprach undeutlich, aber ich konnte ihn verstehen. »Ich heiße Elsha. Ich bin die Leibdienerin des Feuermeisters.« »Und ich bin sein Freund«, sagte Torgny mit einem Nicken zu Teraj. »Mein bester Freund.« Seine fröhliche Offenheit war entwaffnend; so ein Mensch war mir noch nie begegnet. Ich folgte Teraj und dem Feuermeister ins Haus, aber in der Tür blieb ich stehen, auch ein Haus wie dieses hatte ich noch nie gesehen. Es bestand aus einem einzigen großen Raum, dessen hinterer Teil eine Höhle war, während der Rest teilweise aus Holz und teilweise aus Steinen gebaut war. Wie eine Säule wurde die Decke von einem richtigen Baum getragen, dessen Krone schon lange zu Erde geworden war, dessen Wurzeln aber noch fest im Boden verankert waren. Teraj hatte den Stamm mit geschnitzten Zeichen und Bildern von seltsamen Tieren und Vögeln verziert. Die Einrichtung war eine wunderbare Mischung aus einfachen selbst gefertigten Gerätschaften und den vornehmsten Dingen der Erwählten. Tische und Stühle waren grob gezimmert, aber sie standen auf einem wunderbaren Parkettboden. An anderen Stellen bestand der Boden aus gestampftem Lehm, der mit Mustern verziert und mit kostbaren Teppichen bedeckt war, wie ich sie sonst nur aus den Häusern der reichsten Erwählten kannte. In der Höhle waren Nischen in den Fels gehauen, wo einfaches irdenes Geschirr und beinerne Löffel aufbewahrt wurden, während die Fenster im anderen Teil des Hauses mit kunstvoll geschnitzten Gittern versehen waren. Vorhänge aus Wolle in herrlichen
Farben teilten den Raum in Küche, Wohnraum und Schlafzimmer. Schwere Wandteppiche, mit Silberfäden durchsetzt, schmückten die Wände, und im Schlafzimmer stand ein herrschaftliches Bett mit roten und gelben Decken sowie weichen, schwarzen Pelzen. Das Haus empfing mich wie eine Umarmung und Terajs Gegenwart war wohltuend wie ein warmes Bad. Ich sah zu, wie er meinen Meister zu dem Bett hinter dem Vorhang leitete und sanft auf ihn einredete; seine Stimme war voll Liebe und Wärme, dann hörte ich beruhigendes Wassergeplätscher, als er dem Kranken Hände und Gesicht wusch. Ich stand am Fenster und sah durch das Gitterwerk auf das friedliche Tal. Verborgen hinter hohen Bergen galten hier andere Gesetze und ich hatte das seltsame Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein. Ich hörte Terajs Schritte, dann weiteres Wasserplätschern in der Küche. Er brachte mir eine Schale mit warmem Wasser und ein Handtuch, damit ich mich ebenfalls waschen konnte. Dann sah ich zu, wie er Brot, Käse und eine Schüssel mit fein geschnittenem Gemüse auf den Tisch stellte. Er holte grobe tönerne Teller hervor, die er wahrscheinlich selbst getöpfert hatte, aber die Messer dazu hatten silberne Griffe. Dann schenkte er Wein in zwei Kelche und bot mir einen an. Ich zögerte. Der Kelch war aus Silber mit einem Fuß aus Bein, sehr wertvoll und offensichtlich aus seinem eigenen Besitz. »Ich habe meinen eigenen Becher im Gepäck, Herr. Ich kann ihn holen.« Lächelnd hielt er mir den Kelch hin. »Warum, Elsha? Ist dir mein bester Kelch nicht gut genug?« Ich wurde rot und senkte den Blick. »Ich dachte, dass Ihr als Erwählter Euer Trinkgefäß nicht mit einer Queltenfrau teilen wollt.«
»Ich teile mein ganzes Leben mit den Quelten.« Ich schaute auf und sah, dass sein Mund lächelte, aber sein Blick war ernst. Unglaublich blaue Augen hatte er. Ich nahm den Kelch an und wandte meinen Blick ab. Er ging zum Tisch, stellte zwei Stühle hin und machte eine einladende Handbewegung. Es war ungewohnt, am Tisch und auf einem Stuhl der Erwählten zu sitzen, während ich wartete, dass der Mann gegessen hatte. Ich nippte an meinem Wein und sah mich um. Er nahm einen kleinen Brotlaib mit knuspriger Kruste und brach ihn in zwei Teile. »Du überraschst mich, Elsha«, sagte er und begann seine Mahlzeit. »Ich hörte, du seist durch und durch wild und feurig, du sollst die Männer beim Namen nennen und ihnen ins Gesicht sehen, aber mich nennst du Herr und meidest meinen Blick.« Also sah ich ihn über den Rand meines Kelchs hinweg an, während ich trank. Der Wein war warm und weich, er besänftigte mein Herz. Im Dämmerlicht sah er königlich aus, dieser Freund des Feuermeisters. Er hatte eine schmale Adlernase, hohe gerade Augenbrauen, seine Haut schimmerte bronzefarben. Sein Mund war wohlgeformt und ausgeprägt, und seine Augen – in seinen Augen funkelte blaues Feuer. Seine langen Haare und sein Bart waren dunkel und lockig mit einem Schimmer von Rot wie warmer Wein. Ein leuchtendes Gesicht, aber voll Ernsthaftigkeit. Er machte wie der Feuermeister den Eindruck vollständiger Selbstkontrolle, von innerer Freiheit gepaart mit Wärme, er war Friede voller Leidenschaft. Über den Tisch hinweg lächelten wir einander zu. »Du hast mich gefragt, was es mit diesem Ort auf sich hat, Elsha. Er ist eine Freistätte, ein Schutzraum für die Quelten, die in den Gruben zu Schaden gekommen oder für jene, deren Geist verwirrt ist. Alle jene, die sonst von den Erwählten getötet würden. Sie werden heimlich hierher gebracht, wo sie so
glücklich wie möglich leben dürfen. Hier gibt es weder Sklaven noch Herren. Wir alle arbeiten nach unseren Kräften in der Grube, so viele Stunden am Tag, wie wir wollen, und wir teilen das Feuerit miteinander. Der Feuermeister hat diesen Ort vor dreißig Jahren geschaffen. Er hat keinen Namen und ist auf keiner Karte eingezeichnet. Würden die Erwählten von diesem Ort erfahren, sie würden ihn zerstören. Hier herrschen andere Gesetze, ihr Glaube gilt hier nichts. Wir haben nur ein ewiges Gesetz Gottes, und das heißt Liebe. Unser Glaube ist, dass jeder Seele die Freiheit zusteht, ganz und gar sie selbst zu sein. Warum isst du nicht, Elsha? Du musst hungrig sein nach der langen Reise.« Er brach ein weiteres Brot in zwei Teile und reichte mir den einen. Ungläubig nahm ich das Brot und zum ersten Mal in meinem Leben aß ich gemeinsam mit einem Mann. Wir kauten schweigend, dann fragte ich: »Wer heilt die Verletzten, wenn sie hierher gebracht werden? Gibt es einen Arzt?« »Ich heile«, sagte er. Ich sah ihn an, ich spürte seine sanfte Stärke und glaubte ihm. Schon seine Gegenwart war heilsam. »Ist mein Meister deshalb hierher gekommen?«, fragte ich mit einem Blick zum Bett hin, von wo ich den Feuermeister leise schnarchen hörte. »Ist er wegen deiner heilenden Kräfte hergekommen?« Teraj nickte und trank seinen Weinkelch aus. Er wandte sich vom Tisch ab und senkte den Kopf. Ich berührte ihn vorsichtig am Ärmel und zuckte sogleich zurück, weil ich eine summende Kraft in ihm gespürt hatte, wie sie auch von Feuerit ausging, was mich in noch tiefere Verwirrung stürzte. »Mein Meister ist sehr krank?«, fragte ich zuletzt. Teraj drehte sich zu mir um. »Er ist todkrank, Elsha. Sein Magen ist von der Krankheit zerfressen, und sie hat auch schon auf andere Teile übergegriffen. Ich werde tun, was ich kann, um seine
Schmerzen zu besänftigen und ihm die Kraft für das Feuerfest zu geben. Aber was danach kommt, weiß ich nicht.« Trauer und Furcht überkamen mich, ich stand auf und taumelte. Teraj nahm mir den Kelch aus der Hand, ich spürte seine Umarmung und den warmen Feueritstaub aus seinen Kleidern, sein Mitgefühl und seinen Trost. »Er weiß nicht, wie krank er ist, Elsha«, sagte er leise und hob mein Kinn mit den Fingerspitzen. »Sag es ihm nicht. Er braucht all seine Kraft für das Feuerfest. Lass ihn glauben, es sei eine Krankheit, die ihn beutelt und dann vorübergeht.« »Was geschieht, wenn er stirbt?« Ich wagte den Gedanken kaum zu denken. »Es ist alles vorbestimmt«, sagte er und ließ mein Kinn los. »Ich höre ihn aufwachen. Sei tapfer, Elsha. Zeig dein Löwenherz.«
14
HEILENDE KRÄFTE
Mein Löwenherz war noch nie so schwer auf die Probe gestellt worden wie während der folgenden Tage. Täglich verschlimmerte sich die Krankheit meines Meisters. Er erbrach sich ständig und würgte oft Blut hervor. Er litt starke Schmerzen und stöhnte selbst im Schlaf. Teraj gab ihm Kräutermedizin, um die Schmerzen zu lindern, aber der Feuermeister konnte sie nicht bei sich behalten. Sein Gesicht wurde aschegrau und hohläugig. Auf einen Schlag fielen all die Jahre der Wanderung über seinen Körper her, beinah über Nacht wurden seine Haare grau, er sah unendlich alt aus. Er zitterte ständig, er fror, seine Haut war eiskalt. Teraj bereitete ihm vor dem Feuer eine Schlafstelle auf dem Fußboden, bettete ihn in die dicksten Felle, wickelte ihn in wollene Decken und legte heiße Steine an seine Füße. Er saß oder lag beinah immer bei ihm, sprach mit ihm oder betete, streichelte ihm sanft über den Kopf, massierte seine Schläfen oder seine Handgelenke. Diese Zärtlichkeit in Teraj erfüllte mich mit einer unaussprechlichen Sehnsucht. Heilende Kräfte gingen von ihm aus, unter seinen Händen ließen die Schmerzen des Feuermeisters nach, binnen weniger Augenblicke entspannte sich sein Gesicht, er lächelte friedlich und schlief wie ein Kind. Wenn Teraj nicht mit ihm war, dann hielt ich Wache. Ich sang ihm vor, weil es ihm Freude machte, und endlich konnte ich tun, was ich sonst nie gewagt hätte, ich berührte seine Haare, seine Hände, ich half ihm beim Essen, wusch ihn und
konnte ihm kleine Zeichen meiner Liebe geben. Eines Abends, als er schon beinah eingeschlafen war, sagte er, dass meine Hände heilende Kräfte hätten und seine Schmerzen besänftigen könnten wie Terajs. Teraj hörte es und lächelte. Aber der Feuermeister drückte meine Hand und schlief lange schmerzlos. Während Teraj und ich uns um den Feuermeister kümmerten, bereitete Torgny unsere Mahlzeiten, hielt das Haus sauber und wusch. Es war wunderbar, ihn bei der Arbeit zu beobachten, denn er verrichtete jede Aufgabe mit hingebungsvoller Sorgfalt und mit einer unendlichen Langsamkeit. Wenn nicht andere gekommen wären um ihm zu helfen, hätte es ihn einen ganzen Tag gekostet, die Teppiche auszuschütteln und den Boden zu wischen oder das Mehl zu mahlen um daraus Brot zu backen. Er redete immerfort mit sich selbst, lachte leise und manchmal sang er. Ich dachte, er führe Selbstgespräche, aber als ich eines Tages genauer hinhörte, merkte ich, dass er mit Gott sprach. Und manchmal hob er unvermittelt den Kopf und lauschte hingebungsvoll, als hörte er Gottes Antworten. Ich erzählte Teraj davon, der nichts Merkwürdiges daran finden konnte. »Torgnys Seele ist rein wie die eines Kindes, Elsha. Er hat den Gott, von dem er gekommen ist, nie vergessen. Er wandelt jeden Tag im Paradies. Er hat die beste Philosophie von allen, die größte Weisheit und die meiste Liebe. Manchmal sagt er tiefsinnige, weitsichtige Dinge, und er macht sich immer nützlich.« »Ich kenne noch jemand mit einer reinen Seele«, sagte ich. Teraj lächelte und schnippelte weiter die Rüben für unser Abendessen. Hätten wir Torgny nicht geholfen, dann wäre das Essen wohl oft erst um Mitternacht auf dem Tisch gewesen, so langsam gingen ihm die Dinge von der Hand. »Es ist gut, dass du unseren Feuermeister so innig liebst, Elsha. Manch eine seiner Leibdienerinnen hat eher versucht, ihn für ihre Zwecke
zu benutzen, und ihn nur seines Reichtums wegen geliebt oder um des Ansehens willen, das er ihr in der Welt verschaffte. Du stehst weit über ihnen, Elsha.« »Ich meinte nicht den Feuermeister«, sagte ich und wurde rot. »Ich meinte dich.« Erstaunt sah er mich an und lachte auf. »Du kennst meine Seele, Elsha?«, sagte er mit einem Lächeln zu mir herab, denn er war einen Kopf größer als ich und die Schultern noch dazu. »Du trägst deine Seele wie ein Licht, das einen dunklen Raum erfüllt«, erwiderte ich und wurde noch roter. »Dann musst du aufpassen, wo du hintrittst«, sagte er und wir lachten beide. Ich bewarf ihn mit einem Stückchen Pastinake. Er war von so viel Freude umgeben, er verbreitete das Gefühl eines immer währenden Fests. Wir lachten über die unscheinbarsten Dinge, – die Gesichter, die Torgny machte, wenn er in seine Beschäftigungen vertieft war; das tiefsinnige Gerede der Kinder, wenn sie nicht wussten, dass wir zuhörten. Wir lachten, wenn wir in einem nassen Flöz der Grube gearbeitet hatten und über und über schlammverkrustet ans Tageslicht kamen, – und manchmal lachten wir ohne jeden Anlass, einfach nur, weil wir die Gegenwart des anderen genossen. Wir hatten nicht oft die Gelegenheit, allein zu sein. Wenn eine der Frauen kam, um eine Weile am Bett des Feuermeisters zu wachen, gingen wir mit Kallai auf die Jagd oder wir saßen am Wasserfall und sprachen miteinander, oder wir arbeiteten in der Grube, aber Torgny war immer bei uns. Er vergötterte Teraj und wollte ständig in seiner Nähe sein. Selbst wenn wir Spaziergänge unternahmen und Teraj mich bei der Hand nahm, war er auf der anderen Seite, redete und lachte mit seiner rauen Stimme. Trotzdem störte er mich nie, er schenkte uns nur zusätzliche Fröhlichkeit. Aber abends, wenn Torgny auf seiner schmalen Pritsche unter dem Fenster schlief, dann saßen Teraj und ich am Feuer.
Wir tranken Kräutertee, er las mir seine Gedichte vor, manchmal brachten sie mich zum Lachen, manchmal zum Weinen. Eines Abends nahm ich ihm die Rolle aus der Hand und betrachtete all die wundersamen Zeichen auf dem Pergament. »Das ist Zauberei!«, rief ich. »Dass Freude und Leid aus Tinte entstehen und ein anderer kann sie lesen.« Ich zog mit dem Finger die Formen der Zeichen nach und hob das Pergament ans Gesicht um die Tinte riechen zu können. Teraj grinste. »Mit der Nase wirst du sie nicht begreifen, Elsha. Aber wenn du lesen lernen möchtest, kann ich dir helfen.« Er stand auf und stellte eine Kerze auf den Tisch. Dann nahm er Pergament und Holzkohle aus der geschnitzten Truhe neben seinem Bett. Er breitete alles auf dem Tisch aus und zog einen Stuhl an den Tisch, damit ich neben ihm sitzen konnte. Jetzt konnte ich zusehen, wie er auf eines der Blätter Zeichen malte, aber gleichzeitig spürte ich seinen Schenkel und vernahm den Duft seiner Lederweste. Sein Gesicht war golden im Kerzenlicht, seine Augen leuchteten wie ein klares, tiefes Gewässer. Er schrieb zu Ende und sah mich an. »Du sollst auf die Wörter schauen, nicht auf mich«, lächelte er. Ich wurde rot und rückte meinen Stuhl ein Stück zur Seite, dann betrachtete ich die Zeichen. Er erklärte mir, für welchen Laut jedes Zeichen stand. Durch den dunklen, nur vom Feuer beleuchten Raum hörten wir die Stimme des Feuermeisters. »Das ist nicht die Richtige, Teraj!« Teraj schaute auf. »Ich dachte, du schläfst, Abishai«, sagte er. Er nannte den Feuermeister bei diesem Namen, aber es war nicht der wirkliche Name des Feuermeisters; seinen richtigen Namen sollte ich erst später erfahren. Abishai war jedenfalls ein Ausdruck inniger Verbundenheit und Liebe, und niemand außer Teraj sprach den Feuermeister damit an. »Ein Glück, dass ich nicht schlafe«, brummte mein Meister. »Du lehrst
meine Leibdienerin die falsche Sprache.« Teraj machte ein ernstes Gesicht. Er stand auf und ging zum Feuermeister. Ich sah, wie er sich über die Schlafstelle beugte, dem Meister über Wangen und Stirn strich. »Du bist kalt, Abishai«, sagte er leise. »Soll ich die Steine wärmen?« »Nein. Es ist wichtiger, dass Elsha lesen lernt. Aber du sollst sie unsere Hochsprache lehren, nicht die gewöhnliche.« »Die Hochsprache? Aber sie ist doppelt so schwer! Sie wird sie nie brauchen! Unsere Alltagssprache ist der Sprache der Quelten ähnlicher, sie wird ihr leichter fallen.« Mein Meister seufzte schwer und bewegte sich unruhig, als habe er Schmerzen. Teraj blieb bei ihm, bis er eingeschlafen war, dann kam er zurück an den Tisch. Er grinste mich an. »Du hast es gehört, die Hochsprache sollst du lernen.« Er nahm das Holzkohlenstück. »Ich habe eine leise Ahnung, dass ich es noch bereuen werde. Ich hoffe, dein Verstand mag Herausforderungen.« »Mein Verstand kann fliegen.« Sein Lächeln wurde breiter und er sah mich an. »Das ist gut, Elsha, dann kann er ja bis nach Kasimarra fliegen und die vielen Buchrollen in der Bibliothek lesen. Du wirst die gesamte Geschichte unserer Welt lesen, du wirst über die Erwählten lachen und weinen.« Sein Gesicht verschwamm vor meinem Blick, ich sah den heiligen Berg, weitläufige Räume, lange Reihen mit Buchrollen. Ich sah, wie die Seiten entrollt wurden, ich sah Schriftzeichen, die Wörter bildeten, und überall Tinte, schwer und schwarz. Dann plötzlich eine Explosion weißen Lichts. Geblendet blinzelte ich, schloss noch einmal die Augen, und als ich sie wieder aufschlug, sah ich Terajs Gesicht, der mich mit einem besorgten Blick betrachtete. »Wir sollten lieber anfangen«, sagte ich. »Ich habe viele Bücher zu lesen.«
Er schwieg verwundert und lächelte dann. »Meine Schülerin ist also eine Seherin. Wahrscheinlich wirst du irgendwann als Orakel auf dem heiligen Berg leben und den Männern die Köpfe zurechtrücken.« »Nur wenn ein Orakel Macht hat, die Gesetze zu ändern.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du hast keine geringen Ziele, Elsha.« »Ich habe nur eine Vision. Die Vision eines besseren Lebens für die Quelten. Und dieses Ziel werde ich erreichen, um jeden Preis.« »Wenn du Macht über die Gesetze haben willst, musst du Feuerit aufspüren können. Dazu müsstest du Feuermeisterin werden.« »Ich weiß.« Er schüttelte lächelnd den Kopf, offensichtlich wusste er nicht, was er von mir halten sollte. Seine Lippen waren rund und sehr nah. »Ich bewundere dich, Frau«, flüsterte er. Ich schloss die Augen, als ich seinen Atem auf meinem Gesicht fühlte, seine Lippen streichelten über meine Stirn, meine Wangen. Ich hörte seinen Stuhl knacken, er legte seine Hand um meinen Hals und zog mich an sich, sanft legte er seinen Mund auf meine Lippen. Lange, unendlich lange küsste er mich, während seine Hand meinen Nacken streichelte, meine Haare, meinen Rücken und eine Spur aus Feuer auf meinem Körper hinterließ. Dann spürte ich, wie jemand mich am Arm schüttelte, eine heisere Stimme flüsterte in mein Ohr. Ich machte mich vorsichtig los, öffnete die Augen und sah Torgnys strahlendes Gesicht keine Handbreit über uns. Er hatte seine Arme um uns beide gelegt und schnaubte. »Küssen!«, sagte er. »Ich will auch küssen, Elsha.« Ich prustete los vor Lachen, es tat fast weh, so plötzlich aus der Zärtlichkeit gerissen zu werden.
»Geh zurück in dein Bett, Torgny«, kicherte Teraj, fasste ihn am Arm und begann einen Ringkampf mit ihm. »Du willst bestimmt keinen Kuss von Elsha. Ihre Küsse sind schauderhaft.« Torgny stand auf und machte ein nachdenkliches Gesicht. Anscheinend hatte Terajs Argument ihn nicht richtig überzeugt. »Warum lässt du dich dann von ihr küssen?« »Weil das Leiden gut für mich ist. Es formt meine Seele und macht sie stark.« »Ich möchte auch stark werden. Ich möchte auch leiden.« »Aber nicht so, Torgny. Geh zu Bett, sprich deine Gebete und danke Gott, dass sie mich geküsst hat und nicht dich.« Torgny nickte. Mit einem argwöhnischen Seitenblick in meine Richtung tat er, was Teraj ihm geraten hatte. Teraj schenkte mir ein liebevolles Lächeln, dann beugte er sich erneut über das Pergament. Er schrieb ein paar Zeichen und ich sah seine Hand zittern. Als er fertig war, reichte er mir das Blatt und erklärte, was er geschrieben hatte. Lange ging es so weiter, er schrieb und erklärte dann, ich versuchte mir die Zeichen zu merken und geriet immer mehr in den Bann der wunderbaren Zeichen, ließ mich bezaubern von der Hochsprache der Erwählten und merkte, wie sich mir eine ganz neue Welt erschloss. Wir merkten nicht, dass die Kerzen herunterbrannten und die Glut in der Feuerschale beinah zu Asche zerfallen war, bis wir den Feuermeister im Schlaf unruhig stöhnen hörten. Wir gingen zu ihm und ich hielt seine schmale, blau gefrorene Hand. »Er ist wie Eis«, sagte ich zu mir selbst. »Ich kann seinen Puls nicht fühlen, er atmet kaum«, sagte ich laut zu Teraj. Der Feuermeister war nicht wach, aber er klapperte mit den Zähnen vor Kälte und begann heftig zu zittern. Teraj legte zwei weitere Wolldecken über unseren Meister und schüttete Feuerit in die
Glut, bis sie fauchend aufflackerte. Der Widerschein des Feuers vergoldete den Raum, es wurde wieder wärmer, aber mein Meister hörte nicht auf zu zittern. Deshalb rollte ich meine Schlafmatte dicht neben seiner Schlafstelle aus. Teraj brachte zwei Becher warmen Wein, die wir schweigend und langsam tranken, während der Kranke leise stöhnte. Aus Terajs Gesicht sprach tiefer Kummer, sodass ich nicht zu fragen wagte, wie schlecht der Zustand wirklich war. Schließlich hatten wir unsere Becher geleert, wir umarmten uns kurz, dann zog sich Teraj in sein Bett hinter dem Vorhang zurück. Ich hörte, wie er seine Kleider auszog und dann das Knarren seines Bettes, als er sich hinlegte. Ich hörte ihn in der Hochsprache murmeln und wusste, dass er Gebete sprach. Dann zog ich mein Kleid und meine Stiefel aus und legte ich mich neben meinen Meister. Noch durch mein wollenes Unterkleid spürte ich, wie kalt seine Haut war. Er lag auf dem Rücken, jammerte leise und zitterte, aber ich denke, er merkte nicht einmal, dass ich neben ihm lag. Ich drehte mich auf die Seite, legte meinen Arm über seine Brust und hielt ihn fest. Er rührte sich nicht, sein Atem war noch immer flach und keuchend, noch immer zitterte er. Ich presste meine Stirn an seine kalte Wange und schickte ihm Gedanken der Wärme, des Lichts und des Feuerballs, der in uralten Zeiten am blauen Himmel gestanden und die Erde gewärmt hatte. In Gedanken sang ich ihm das alte Lied der Quelten vor, das wir beide liebten und das von der wärmenden Glut im Herzen eines kommenden Tages erzählte. Ich sammelte die Kraft meiner Gedanken um ihn diesen rosigen Tagesanbruch spüren zu lassen und wie ich ihn mir vorstellte. Dann fiel ich in Halbschlaf, selbst frierend von seiner Kälte. Irgendwann in der Nacht drehte er sich zu mir um. Er griff mit den Händen in meine Haare und streichelte sie. Wieder und wieder sagte er dabei den Namen Nirala… dann begann
er, meine Stirn zu küssen, mein Brandmal, meine Augen, meine Wangen. »Ich bin es, Elsha, mein Meister«, flüsterte ich hörbar. Er wich zurück und in der Dunkelheit hörte ich ihn schwer seufzen. Dann zog er mich wieder an sich und blieb ganz still liegen. Mir schien, er war in tiefer Trauer, ich schloss ihn fest in meine Arme, und dann weinte er leise, während sein Bart sanft an meinem Brandmal kratzte. Nach einer Weile schlief er ein, auch ich muss eingeschlafen sein. Als ich am Morgen erwachte, hörte ich seine ruhigen, friedlichen Atemzüge, er schlief noch tief und er war warm.
Am nächsten Tag ging es ihm besser. Zufällig hörte ich, wie er Teraj erzählte, er habe in der Nacht von den Legenden der Quelten geträumt. Teraj, der nicht wusste, wo ich geschlafen hatte, bestätigte, dass Träume heilende Kräfte hätten und dass wir die Antworten auf unsere Leiden in uns selbst trügen. »Selbst Wärme ist ein Zustand des Bewusstseins«, erklärte er dem Feuermeister und ich wunderte mich, woher ich dieses Wissen gehabt hatte. Am Nachmittag konnte der Meister auf einem Fell im Lehnstuhl am Feuer sitzen, wo er die Brühe trank, die ich eigens für ihn gekocht hatte, und er konnte selbst den Becher halten. Torgny saß ihm zu Füßen und krächzte ihm ein Lied der Quelten vor. Ich nahm die Gelegenheit wahr und schüttelte seine Schlaffelle aus um sie hinterher zum Wärmen vor das Feuer zu legen, als ich draußen laute Rufe hörte und die Schreie einer Frau. Ich ließ die Felle fallen und eilte zur Tür. Ein Trupp Quelten war durch die geheime Felsspalte ins Tal gekommen, sie trugen eine Verletzte. Teraj war schon bei ihnen. Wieder hörte ich die Frau schreien und verstand, dass sie sehr schwer verletzt war. Ich stellte einen großen Topf Wasser ins Feuer und holte Terajs Kiste mit den Binden und
dem Operationsbesteck aus seiner Truhe. Er hatte mir erzählt, was er tat, wenn die Leute mit schlimmen Verletzungen kamen. Allein die Vorstellung war entsetzlich, die Geräte waren Furcht erregend, obwohl sie dazu dienten, Menschen zu heilen. Als ich jetzt diese Dinge vorbereitete, war ich in Gedanken schon bei der verletzten Harsha und allen Qualen, die sie durchzustehen hatte, bevor die Heilung begann. Ein Mann kam herein, sah, dass ich Terajs Besteck schon vorbereitet hatte, und dankte. »Teraj sagt, er wünscht deine Hilfe. Die Frau ist schwer verletzt, ein Deckenbalken hat ihr den Bauch aufgerissen, als ihr Flöz eingestürzt ist. Teraj möchte, dass du sie beruhigst, während er sie operiert.« »Das kann ich nicht!«, sagte ich. »Ich ertrage es nicht, sie leiden zu sehen.« »Geh, Elsha«, sagte der Feuermeister von seinem Sessel aus. »Wenn Teraj dich ruft, musst du gehen. Er bittet nicht oft um Hilfe.« Mit zitternden Knien folgte ich dem Mann, der die Kiste mit dem Operationsbesteck trug. Das Krankenhaus befand sich am anderen Ende des Tals. Hier gab es beinah keine Einrichtung, außer einem hohen Holztisch in der Mitte und einem kleineren daneben. Fußboden, Dach und Wände bestanden aus gescheuertem Holz, das silbrig schimmerte. Die Frau lag auf dem hohen Tisch, nackt unter den Decken, und zwei Frauen wuschen sie, während sie selbst stöhnte, schrie, flehte, sie mögen aufhören. Sie war über und über mit Feueritstaub und Blut verschmiert, ich sah, dass ihr Bauch aufgerissen war und ihre Eingeweide herausquollen. Sie wehrte sich gegen die Waschung und wand sich in Schmerzen, ich musste mir die Hand vor den Mund halten und mich abwenden. »Wasch dir die Hände, Elsha«, sagte Teraj. »Vor der Tür steht eine Wasserschüssel und Seife.« Er trug einen weißen Kittel, der seine Kleider bedeckte, und breitete auf einem
weißen Tuch das Besteck aus. Ich rührte mich nicht und er blickte stirnrunzelnd auf. Vier Männer standen im Raum und sahen mich erwartungsvoll an. Mir wurde schwindelig. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte Teraj leise. »Ich glaube, du hast heilende Kräfte, die jetzt gebraucht werden. Lass mich nicht im Stich. Und sie auch nicht.« Ich ging und wusch mir die Hände, während die Quelten, die mit der Verletzten gekommen waren, jede meiner Bewegungen verfolgten. Einer von ihnen jammerte leise, ich nahm an, ihr Mann. Ich hätte ihm gerne Mut zugesprochen, aber ich zitterte selbst vor Entsetzen und mein Magen spielte verrückt. Ich ging zurück in den Raum und sah, dass Teraj der Frau einen Becher mit Kräutersud an die Lippen hielt. Sie musste sich übergeben und schrie herzzerreißend. Die beiden Frauen, die sie gewaschen hatten, verließen den Raum, während die vier Männer jetzt an den Tisch herantraten. »Halt du ihren Kopf, Elsha«, wies Teraj mich an. »Sei stark. Sie darf sich nicht bewegen. Und lenk sie ab, sprich mit ihr, beruhige sie.« Er nahm eins der Geräte vom Tisch. Die Frau wimmerte, ich stand hinter ihrem Kopf und streichelte ihre Haare. Was Teraj tat, wollte ich nicht sehen. Noch nie hatte ich mich so hilflos gefühlt, so ohnmächtig. Einer der Männer neben mir hatte sich mit beiden Armen über den Brustkorb der Frau gelegt. »Du musst ihre Schultern halten und ihren Kopf«, sagte er und sah mich an. »Halt sie mit aller Kraft fest.« Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und drückte sanft. Sie schlug die Augen auf und sah mich mit einem flehentlichen Blick an. Ich drückte meine Finger tiefer in ihre Oberarme, jetzt warteten wir gemeinsam. Plötzlich bäumte sie sich schreiend auf. »Du sollst sie festhalten, Elsha!«, rief Teraj. Also drückte ich ihre Schulter auf den Tisch, aber ihre schrecklichen Schluchzer, ihr Wimmern waren kaum auszuhalten. Und dann
schrie sie, wir sollten sie sterben lassen, damit es aufhöre, und jetzt hielt ich es wirklich nicht mehr aus. Ich ließ sie los, schob die beiden Männer neben mir beiseite, und die Harsha streckte mir ihre Arme entgegen. Sie konnte nicht mehr sprechen und ihre Haut war leichenblass, ihre Augen waren verdreht und die Abgründe der Hölle spiegelten sich in ihnen. Ich beugte mich über sie und hob ihre Schultern an, damit ich sie in meine Arme schließen konnte, ich drückte meine Wange an ihr Gesicht und weinte heiße Tränen. Ich hörte die Männer rufen, Teraj fluchte, aber ich hielt sie nur umso mehr fest. Leise schrie ich zu Gott. »Lass sie sterben! Du bist grausam. Sind dir unsere Leiden gleichgültig? Kennst du keine Gnade? Hast du kein Mitleid? Lass sie sterben, lass ihre Seele fliegen, damit sie die Schmerzen nicht spürt.« Ich schluchzte und haderte mit Gott, während die Harsha in meinen Armen in sich zusammensank, sie wurde schlapp und ich dachte, sie sei gestorben. Ich drückte sie noch mehr an mich und nahm ihre Seele mit auf die Reise; zwei Vögel waren wir, die sich in die Lüfte erhoben, hoch, hoch flogen wir, weit weg von den Torturen auf dem schmalen Holztisch. Wir flogen mit dem Wind und über das Gebirge, wir flogen über Wasser, Eis und Feuer. Und während wir flogen, waren wir in Liebe geborgen; freundliche Stimmen sprachen zu uns, Flöten spielten, wir hörten Kinderlachen. Wir flogen hoch über der Erde, über Asche und Rauch bis hinauf zu einem Feuer, das so groß war, dass es das gesamte Universum zum Glühen brachte – und dann waren wir umgeben von Licht. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, mein Rücken tat weh, meine Arme waren verkrampft, ich hatte die Frau lange, lange gehalten. Langsam, vorsichtig, ließ ich sie auf den Tisch sinken. Ihr Gesicht war weiß wie unsere beinernen Löffel und hatte denselben wächsernen Schimmer. Sie war vollkommen ruhig.
Ich sah auf und merkte, dass Teraj und ich allein mit ihr waren. Er hatte seine Geräte zum Waschen in eine Schüssel gelegt, sein weißer Kittel war voll roter Spritzer. Er kam und reichte mir die Schüssel mit einem unsicheren Blick. »Kannst du sie für mich waschen, bitte?« Seine Stimme bebte. »Wir sind fertig mit ihr.« Ich schmiss die Schüssel an die Wand. Sie zersprang in tausend Stücke, die Geräte flogen klirrend auf den Boden. »Für sie hätte es schon viel früher zu Ende sein können!«, schrie ich außer mir vor Wut. »Du bist ein Schlachter, Teraj. Was du ihr angetan hast, war keine Heilung. Hättest du sie nicht in Ruhe sterben lassen können? Musstest du sie vorher noch so martern? Alles, was du zu mir gesagt hast, war Lüge. Du bist ein Scharlatan, ein Heuchler. Oh, ich weiß, du kannst auch sanft sein, solange wir uns nur von dir heilen lassen wollen. Aber wenn wir den Tod wählen, dann zeigst du dein anderes Gesicht, du wirst brutal und hart. Warum, Teraj? Bedroht der Tod deine Macht oder besiegelt er dein Versagen? Siehst du nicht, welchen Frieden sie gefunden hat? Für sie ist er kein Versagen, sondern Freiheit!« Ich zog die Decke zurück, unter der die Frau lag. Fassungslos starrte ich auf die Wunde der Frau, die geschlossen und sauber war. Hatte Teraj… »Ha, eine schöne Leiche! Du hast deine Sache wirklich gut gemacht. Wahrscheinlich genauso sorgfältig, wie du deine Hemden flickst.« Ehe er noch ein Wort sagen konnte, machte ich kehrt und rannte zurück ins Haus. Der Feuermeister war nicht da. Niemand war da. Aber sein Bett war ordentlich gemacht, das Feuer flackerte, deshalb nahm ich an, die Frauen hätten ihn zu seiner Lieblingsstelle in der Nähe des Wasserfalls getragen. Ich war froh, dass ich einen Augenblick für mich allein hatte. Ich wärmte Wasser, zog mich aus und wusch mich von Kopf bis Fuß. Dann zog ich saubere Kleider an, kämmte meine Haare und bereitete mir
einen Becher heißen Tee. Ich setzte mich, schaute dem Schattenspiel der Flammen auf den warm beleuchteten Wänden zu und versuchte, den Frieden des Raums in mich aufzunehmen. Mein ganzer Körper summte wie Feueritkraft, und als ich meine Hände aneinander legte, sah ich kleine Funken. Ich erschauerte, eine seltsame Unruhe erfüllte mich. Ich hörte Schritte vor der Tür und meinte, es sei Torgny, deshalb blieb ich sitzen. »Frau!«, hörte ich Terajs Stimme. Ich stand auf und stellte den Becher auf den Tisch. Mein Hand zitterte, sodass der Tee überschwappte. Langsam drehte ich mich um und sah ihn an. Auch er hatte sich gewaschen und frische Kleider angezogen. Er kam durch den Raum auf mich zu, aber ich wandte den Blick ab. »Nein, ich werde mich nicht entschuldigen«, erklärte ich. »Deine Art der Heilkunst gefällt mir nicht. Ich konnte nicht zusehen, wie du sie bei vollem Bewusstsein gequält hast. Wenn sie wegen mir gestorben ist, tut es mir Leid. Aber es tut mir nicht Leid, dass sie jetzt frei ist.« Ich warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Zu meinem Erstaunen lächelte er, obwohl seine Augen feucht waren. »Die Frau ist nicht tot, Elsha. Es geht ihr gut und sie fragt nach dir. Sie sagt, dass sie, von dem Augenblick an, als du allein sie gehalten hast, keine Schmerzen mehr gespürt hat.« Meine Knie wurden weich, ich schwankte, musste mich am Tisch abstützen und warf meinen Becher um. Er rollte über den Tisch, der Tee tropfte auf den Boden, ich wollte einen Lappen holen, aber Teraj hielt mich am Ärmel fest. Er legte seine Hand an meine Wange, damit ich ihn ansah. »Du wusstest nichts von deiner Gabe?« Ich schüttelte den Kopf. Sprechen konnte ich nicht. Ich wollte mich losmachen, aber er hielt mich mit sanfter Willenskraft fest. Lange standen wir einander schweigend gegenüber, bis
sich der Sturm in meiner Seele legte. Dann lächelte Teraj und Frieden kam über mich. »Ich möchte dir etwas sagen, Elsha«, sagte er und legte seine Hand an mein Kinn. »Sag nichts, tu nichts, hör mich nur an. Ich möchte, dass du weißt, was in meinem Herzen ist, vom ersten Augenblick an, als ich dich sah.« Er streichelte mein Gesicht, dann nahm er meine beiden Hände. Auch in seinen Händen war die summende Kraft. Und in seinen Augen war strahlend blaues Feuer. »Ich habe ein Gefühl, als hätte ich dich schon immer gekannt, als sei ich dir immer schon nah gewesen, als hätte ich dich schon immer geliebt. Nichts wäre mir eine größere Freude, als dich hier bei mir zu haben, als Heilerin an meiner Seite, als Gefährtin. Zusammen könnten wir den Kranken noch besser helfen. Aber ich weiß, dass du seine Leibdienerin bist, und ich weiß, dass du einen Traum hast. Mehr als alles andere will ich, dass du das Leben lebst, das Gott in seinem Traum für dich vorgesehen hat. Aber ich liebe dich, Elsha, mit einer Liebe, die beinah so mächtig ist wie meine Liebe zu Gott. Verstehst du? Diese Liebe bereitet mir Angst und Verzückung, Schmerzen und tausend andere Gefühle, von deren Möglichkeit ich nie etwas ahnte. Sie erschreckt mich, sie öffnet mein Inneres und macht mich schutzlos und verwundbar. Aber ich möchte, dass du davon weißt. Sollte je in deinem Leben der Tag kommen, an dem du meine Liebe brauchst, sollst du wissen, dass es sie gibt. Ich bin hier. Ich bin immer für dich da.« Er küsste mich und drehte sich um. »Teraj«, sagte ich, aber er ging weiter und schüttelte den Kopf. »Sag nichts.« »Ich muss!« Ich lachte, weinte, war überwältigt. »Teraj, du kannst mir nicht solche Dinge sagen und dann einfach gehen!« »Warum nicht?«
»Weil deine Liebe eine Antwort fordert.« Er drehte sich um und kam ein paar langsame Schritte zurück. »Sie fordert nichts, Elsha. Das wollte ich dir sagen. Würde ich dich bitten, hier zu bleiben, du wärest zwischen dem Feuermeister und mir hin- und hergerissen, zwischen mir und deinem Traum. Und ein zerrissener Mensch kann niemals heil sein.« Er nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich. »Wenn ich je mit dir leben sollte, Elsha, dann nur, wenn die Zeit gekommen ist und du keine anderen Träume hast als diesen. Vielleicht wird die Zeit nie kommen, – aber wenn sie kommt, werden wir es beide wissen.« Er lächelte schelmisch. »Außerdem bin ich ein Scharlatan und Heuchler. Es gibt noch immer die Möglichkeit, dass du mich gar nicht leiden magst.« Ich wollte widersprechen, aber er lachte, küsste mich und verließ das Haus.
15
FRÖHLICHER, TRAURIGER ABSCHIED
Terajs Haus war überfüllt; alle waren gekommen, und weil die Stühle nicht reichten, saßen wir an den Wänden entlang auf Teppichen. In der Mitte aller Fröhlichkeit tanzten die Leute auf dem glatten Holzboden, die Musikanten spielten ausgelassen und laut. Quelten und Erwählte lachten miteinander, teilten Wein und Brot, und alle tanzten. Auch die Verkrüppelten tanzten, so wie es ihre geschundenen Körper erlaubten, die junge Frau ohne Beine tanzte viele Male mit Teraj, der sie in den Armen trug, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang und vor Freude strahlte. Sie liebte ihn, denke ich. Wir alle liebten ihn, Männer und Frauen, – er wurde verehrt wie der Feuermeister. Der Feuermeister tanzte nicht, aber er ging im Raum herum, sprach mit den Leuten, lächelte und manchmal lachte er laut auf. Er sah um Jahre gealtert aus, ich hatte mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass seine Haare weiß geworden waren, aber seine Augen hatten ihr früheres Feuer wiederbekommen und seine Haut schimmerte. Ich saß an die Wand gelehnt, trank langsam von meinem Wein und versuchte, nicht allzu traurig zu sein. Das Fest wurde zu unserem Abschied gegeben; der Meister und ich waren sechzehn Tage hier gewesen – die schönsten, wunderbarsten Tage meines Lebens. Teraj kam und setzte sich zu mir. Er reichte mir eine Schale mit getrockneten Früchten. »Du hast kaum gegessen heute Abend, Elsha. Du solltest Kräfte sammeln für die schwere Reise nach Kasimarra. Der Weg ist weit und beschwerlich, der
Meister wird deine Stütze brauchen. Er hat sich erstaunlich gut erholt, aber die Krankheit ist noch in ihm. Diese Zeit ist nur eine Gnadenfrist.« »Wir haben acht Tage für die Reise«, beruhigte ich ihn. »Wir müssen uns nicht eilen.« Ich schaute hinüber zu der Frau, die wir operiert hatten. Sie hatte sich erstaunlich erholt, sie übte täglich, einige Schritte zu gehen, aß kleine Mahlzeiten. Ihr Mann saß neben ihr, er hatte seinen Arm um sie gelegt und streichelte sie. Jetzt flüsterte er etwas in ihr Ohr, sie sah ihn mit einem schüchternen, liebevollen Lächeln an. »Sie werden hier bleiben«, sagte Teraj, der meinem Blick gefolgt war. »Nur ihre Freunde sind in die Grube zurückgekehrt.« »Wie kommt es, dass dieser Ort geheim ist und die Quelten trotzdem davon wissen?« »Das Geheimnis wird nur den Erwählten gegenüber bewahrt. Zwei oder drei Quelten in jeder Grube wissen Bescheid. Wenn sie nachts mit ihren Verletzten losgehen und nur einen oder zwei Tage fortbleiben, werden sie nicht vermisst. Nicht alle Arbeiter werden gezählt. Nur die Unruhestifter.« »Vorsicht, ich war auch eine von denen.« Er lachte leise. »Das möchte ich wetten. Der Feuermeister hat immer solche bevorzugt, in denen ein Funke glimmt, und das, Elsha, kann man wahrhaftig von dir behaupten, neben vielem anderen.« Ich wurde rot und drehte verlegen meinen Kelch in den Händen. Er war aus reinem Silber und mit prächtigen Edelsteinen besetzt. »Du hast wunderschöne Dinge hier. Woher stammen sie?« »Der Feuermeister bringt sie mit. Jedes Mal, wenn er kommt, bringt er etwas Schönes mit. Diesmal war es besonders schön«, sagte er voll Zärtlichkeit. Ich wurde noch roter. »Wie kommt er an diese Dinge? Er besitzt keine Reichtümer, er hat nur seinen Esel, die Decken
und die Kleider in seinem Reisegepäck.« Teraj lachte. Er hatte ein tiefes, warmes Lachen, das ich sehr mochte. »Ich vergesse es immer, du warst noch nicht in Kasimarra. Dort besitzt er einen ganzen Palast mit mehr Sälen, als du in einem ganzen Monat erforschen kannst, mehr Schätze, mehr Bücher, mehr Kostbarkeiten aus der Welt der Erwählten, als der Rest der Welt zusammengenommen besitzt. Die Erwählten bezahlen Steuern, Elsha. Sie müssen den fünften Teil ihres Besitzes abführen und alles geht nach Kasimarra und in den Besitz des Feuermeisters. Sie geben ihm ihre besten Teppiche, die besten Stoffe, Kleider, Decken, Kunstwerke und das Beste von ihrer Ernte. Einen Teil davon bringt er hierher. Er hat diesen Ort immer als sein Zuhause betrachtet, mehr noch als Kasimarra. Die Quelten haben schon immer einen besonderen Platz in seinem Herzen gehabt.« »Aber du bist kein Quelte, obwohl die meisten hier Quelten sind.« »Stimmt.« »Warum bist du hier? Wie passt du in sein Refugium für kranke Sklaven? Es ist nicht nur wegen deiner Heilkunst, richtig? Er liebt dich ganz besonders und anders als alle anderen. Genau, wie du ihn besonders liebst. Warum?« »Das wird er dir erzählen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Komm, tanz mit mir, oder soll ich eine andere fragen?« »Ich tanze mit dir. Gleich. Vorher möchte ich dir etwas geben.« Ich steckte die Hand in meine Tasche und zog eine kleine Pergamentrolle zum Vorschein, die ich mit einem roten Seidenband und einer Haarsträhne zusammengebunden hatte. Ich reichte sie Teraj. Er nahm sie lächelnd entgegen und entrollte sie. Gespannt sah ich ihm beim Lesen zu. Ich hatte etwas für ihn in der Hochsprache der Erwählten geschrieben, was ich mir selbst hatte einfallen lassen, ein Gedicht für ihn.
Er las es zweimal, dann schlug er zu meinem Entsetzen die Hände vors Gesicht. Es musste voller Fehler sein, peinlich zu lesen, oder womöglich hatte ich mich im Ton vergriffen. Aber als er mich ansah, merkte ich, dass er geweint hatte. Er sagte nichts, sondern küsste mich nur auf den Mund, rollte das Gedicht zusammen, verschnürte es und steckte es in sein Hemd. Dann nahm er meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Wir tanzten lange, und danach saßen die übrig gebliebenen Gäste vor dem Feuer, wir sangen und der Feuermeister erzählte uns Geschichten. Aber er sah sehr müde aus und alle gingen nach Hause. Ich bereitete meinem Meister sein Nachtlager und half auch Torgny ins Bett. Er schlief schon beinah im Stehen ein, aber immer noch sang er heiser vor sich hin, vom Wein krächzte seine Stimme noch mehr als sonst. Als ich über ihn gebeugt stand und die Decke feststopfte, streckte er mir die Arme entgegen und umarmte mich. »Du wirst die beiden Feuer vereinigen, Elsha, nicht wahr? Und du reißt die Mauern ein und hilfst den Quelten, ja?« Ich war verblüfft. Teraj hatte mir schon erzählt, dass Torgny manchmal prophetische Dinge sagte, rasch schaute ich mich um. Teraj schenkte Wein ein und hatte nichts gehört. Torgny zog mich fester an sich und flüsterte in mein Ohr: »Du wirst es tun, Feuerfrau, ja?« »Pscht«, flüsterte ich und drückte ihn. »Ja, das werde ich tun. Aber woher weißt du das?« Er lächelte und verdrehte die Augen zum Himmel, aber er wollte nichts sagen. Ich gab ihm einen Gutenachtkuss und er schnaubte vor Freude. Dann rief er zu Teraj hinüber: »Ich finde ihre Küsse kein bisschen schrecklich!« Als Torgny und der Feuermeister eingeschlafen waren, saßen Teraj und ich am Feuer und teilten uns einen letzten Becher Wein. Er hätte etwas für mich, sagte er, stand auf und ging zu seinem Bett.
Ich hörte, wie er den Deckel der geschnitzten Truhe anhob, neugierig stand ich auf und stellte mich neben den schweren Vorhang. Der Schein des Feuers hüllte den Raum in lebendige Schatten, es roch nach Fellen, dem alten Holz und der Kerze. Er schloss vorsichtig den Deckel, kam zu mir und drückte mir einen kleinen Gegenstand in die Hand. Er war aus Holz, so viel konnte ich fühlen; ich setzte mich auf die Bettkante und betrachtete die kleine Schnitzerei von allen Seiten. Sie war wunderbar, ein Tier, das ich noch nie gesehen hatte, schlank und gerundet wie ein Fisch, aber ohne Schuppen und Kiemen. Es hatte eine schmale Schnauze und einen breiten Mund, der lächelte. »Was ist das?«, fragte ich. »Es ist ein Fabeltier«, sagte Teraj, der sich neben mich gesetzt hatte. »Sie nennen es Delfin. Meine Mutter hat ihn geschnitzt. In den Büchern in Kasimarra gibt es Bilder davon. Mein Vater hat sie dort gesehen und meiner Mutter beschrieben. Die Delfine lebten in der Warmzeit, in unendlichen Gewässern, die Meere genannt wurden. Die Legenden berichten, dass sie Freunde der Menschen waren.« Ich strich mit dem Finger über den Rücken des Tieres und freute mich an seiner geschwungenen Form. »Haben deine Eltern in der heiligen Stadt Kasimarra gelebt?« »Mein Vater ist manchmal dort, aber meine Mutter hat dort gelebt. Sie hat den Delfin vor zehn Jahren geschnitzt, kurz vor ihrem Tod. Er ist alles, was ich von ihr besitze.« »Dann ist er sehr wertvoll. Bist du sicher, dass du ihn mir schenken willst, Teraj?« Er legte seine Hand um meinen Hals und lehnte sanft seine Stirn an meine. »Ich liebe dich, Elsha. Wenn du meinen Delfin hast, wirst du immer einen Teil von mir bei dir tragen.« »Das werde ich. Ich trage dich immer in meiner Seele und in meinem Herzen.«
Er küsste mich zärtlich, dann leidenschaftlich. Er legte mich in seine Felle, küsste mich, entzündete mein Feuer, entführte mich in die heiligen Regionen der Liebe, wo ich mich verlor, wo ich mich fand, wo ich weinte, jubelte. Und seine Hände, seine Hände… »Teraj!«, schrie ich auf. »Teraj! Wir können nicht –!« Er ließ sich neben mich fallen, legte sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken und schwieg. Beide waren wir halb ausgezogen und ich hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Langsam wurde unser Atem gleichmäßiger, er drehte sich zu mir um und hielt mich sanft umarmt, während seine Hand vorsichtig mein Gesicht streichelte. Ich spürte den Delfin, der mich in die Seite piekte, zog ihn unter mir hervor und hielt ihn vor mein Gesicht, aber ich konnte ihn nicht sehen, weil meine Augen in Tränen schwammen. »Es tut mir Leid, Teraj. Ich habe einen Eid geschworen, den ich in Kasimarra wahr machen muss. Ich kann mich nicht hingeben und dann morgen früh abreisen. Nie würde ich…« »Du musst mir nichts erklären, Liebste. Ich weiß es. Verzeih, dass ich zu weit gegangen bin.« Er küsste meine Wange und sein Atem fühlte sich ruhig und warm an. »Ich habe mein ganzes Leben auf dich gewartet, Elsha. Ich kann weiter warten. Ich werde warten, selbst wenn ich weiß, dass du vielleicht nicht zurückkehrst. Wenn diese Zeit alles war, was ich mit dir teilen durfte, dann war es genug.« Ich versuchte zu lächeln und ließ den Delfin im Widerschein der Flammen über unseren Köpfen schwimmen. »Ich komme zurück, Teraj. Aber es kann sein, dass ich alt werde bis dahin. Es kann sein, dass die Welt wieder warm geworden ist und Delfine in den Meeren schwimmen.« »Dann werde ich solange warten.« Ich setzte mich hin, zog mein Kleid über die Schulter und band lose die Seidenbänder. Er setzte sich neben mich, hielt
meine Hand und streichelte langsam über meine Handgelenke. Lange saßen wir schweigend beieinander, aber er küsste mich nicht. »Teraj«, fragte ich vorsichtig. »Ich kann heute Nacht nicht wie Mann und Frau mit dir schlafen, darf ich trotzdem in deinem Bett schlafen?« Er küsste meine Hand und nickte, dann kniete er sich vor mir hin, schnürte meine Stiefel auf und zog sie aus, ehe er seine eigenen Stiefel auszog. Er hob mich auf und legte mich in sein Bett, legte sich neben mich und zog Decken und Felle über uns. In der weichen Dunkelheit lagen wir auf der Seite und waren einander zugewandt, wir sprachen nicht, aber er streichelte meine Haare, mein Brandmal, mein Gesicht. Dann lagen wir still. Wir hörten Kallai, der sich im Schlaf auf seiner Stange regte, das Feuer knisterte, und wir hörten die friedlichen Atemzüge des Feuermeisters. Schließlich schlief auch ich ein, geborgen und mehr zu Hause als je an einem anderen Ort dieser Erde. Draußen pfiff der Wind durchs Gebirge und strich über die verschneiten Wege und die weißen Gipfel von Kasimarra. Auf dem Kissen bei unseren Köpfen lag der Delfin und lächelte.
16
DAS GEHEIMNIS UM TERAJ
Ich zerteilte den frisch gerupften Raben in Stücke, die ich auf einen angespitzten Stock spießte und dann über die Glut legte. In das kochende Wasser legte ich getrocknete Wurzeln, bereitete einen Salat und zwei Tassen heißen Kräutertee. Eine brachte ich dem Meister, der in Pelze eingehüllt dicht am Feuer saß, sein Gesicht war abgespannt und grau. Seine Hände zitterten, als er die Schale annahm, seine Finger waren eisig kalt. »Wenn Ihr wollt, Meister, kann ich Euer Bett machen, dann könnt Ihr ausruhen, bis das Mahl fertig ist.« Er schüttelte den Kopf und bedachte mich durch den Teedampf hindurch mit einem schwachen Lächeln. »Nein, Elsha. Es gibt Dinge zu bereden.« Ein plötzlicher Windstoß fegte in die Höhle, streute Asche über uns und wirbelte den Staub auf. Ich schauderte und nahm eins meiner Schlaffelle, in das ich mich einwickelte, ehe ich mich so nah wie möglich neben meinen Meister ans Feuer setzte, um meinen Tee zu trinken. Nie hatte ich so gefroren wie während der letzten vier Tage. Das Reisewetter hatte uns das Schlimmste beschert, was man sich vorstellen kann: Eisregen, Hagel, peitschenden Gegenwind und Schnee. Überall um uns herum waren Lawinen donnernd ins Tal gebrochen, das wilde Rauschen mächtig angeschwollener Flüsse war weithin hörbar, der Wind peitschte uns wie mit Messern ins Gesicht und ewig herrschte grausame Kälte. In meinem Inneren sah die Welt noch
unwirtlicher aus als draußen. Der Abschied von Teraj hatte mir das Herz zerrissen, ich war aufgelöst, einsam, ich hatte meine Mitte verloren und war getrennt von meiner eigenen Seele. Der Feuermeister spürte meinen Schmerz, aber ich wusste nicht, ob das Mitleid ihn krank machte oder ob seine eigene Krankheit an ihm nagte. Die Kälte schien ihm die letzten Kräfte zu rauben, meine Seele blutete auch seinetwegen. »Lasst uns zurück zu Teraj gehen, Meister. Selbst wenn wir in Kasimarra ankämen, bevor das Fest beginnt, wäret Ihr zu schwach um die Zeremonien abzuhalten.« »Wir müssen dort sein«, widersprach er mir. »Ich bin das Fest. Ohne mich wird es keine Zeremonien geben.« »Dann finden sie dieses Jahr später statt.« Er seufzte. »Sie können nicht später stattfinden, Elsha. Mit dem Sonnenuntergang am Vorabend des Festes werden die beiden Feuer im Tempel gelöscht. Während der ganzen Nacht sind die Feuer kalt, sie sind ein Zeichen der Dunkelheit, die mit dem Erkalten der Welt eingesetzt hat. Im Morgengrauen gehe ich den steilen Pfad hinauf zum innersten Heiligtum des Tempels und entzünde die Feuer. Dann entzünde ich den Kreis der Feuer oben auf dem obersten Turm, damit alle Leute von weitem sehen können, dass ich dem Volk die Wärme und das Licht zurückgebe wie jedes Jahr. Ein ganzes Jahr lang werden diese Feuer brennen, bis zum Vorabend des folgenden Feuerfests. Käme ich zu spät, wären die Feuer länger als eine Nacht verloschen, würde großes Unglück über die Welt kommen.« »Wer sagt das?« »Elsha, die Traditionen sind stark in Kasimarra. Alles muss geschehen, wie es seit Hunderten von Jahren immer geschieht. Ich kann nicht mit den Traditionen brechen, und wenn es die letzte Handlung wäre, die ich auf dieser Erde verrichte.«
»Ich denke, Euer Leben ist mehr wert als Traditionen«, widersprach ich trotzig. Er stöhnte. »Bitte, keine Meuterei heute Abend, dazu reichen meine Kräfte nicht. Hör zu, du musst wissen, wie deine Pflichten in Kasimarra aussehen. Wenn wir den heiligen Berg erreichen, wirst du auf dem höchsten Gipfel den Tempel sehen. Ich allein werde den heiligen Pfad hinaufgehen. Ich werde meinen Feueritsuchermantel tragen und ich bin der Einzige, der diesen Pfad betreten darf. Du wirst den Tempel durch den großen Eingang am Fuße des Berges betreten. Auch du wirst deine roten Kleider tragen. Im Inneren des Tempels, in der großen Halle, werden die Priester dich in zwei Reihen erwarten. Sie werden dir sagen, was du zu tun hast. Wenn ich alle Feuer entzündet habe und es zu tagen beginnt, werde ich die große Straße in die Stadt hinunterschreiten. Auf dieser Straße wirst du mit mir gehen. Es wird eine triumphale Prozession geben, die Leute geraten in ihrem Jubel leicht außer sich. An dieser Stelle sollst du gut auf mich achten. Wenn du nur die leiseste Ahnung hast, dass ich schwach oder gar ohnmächtig werde, oder wenn ich mich sonstwie unwürdig verhalten sollte, gebe ich dir hiermit die Erlaubnis, mich zu stützen oder meinen Arm zu nehmen. Das Volk wird murren, aber das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was geschähe, wenn ich ohnmächtig würde.« Er schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Es tut mir Leid, dass ich in dieser Verfassung bin, um deinetwillen mindestens so sehr wie um meiner selbst willen. Nach dem Festzug durch die Stadt führt unser Weg zurück zum Tempel, wo sich die Ärzte um mich kümmern werden. Sollten sie mich operieren wollen, sollst du gehen und Teraj holen. Ich werde niemand außer ihm erlauben, mich aufzuschlitzen. Du darfst aber keinen Boten schicken, sondern musst unbedingt selbst gehen.«
»Meister, wenn Ihr solche Schmerzen leiden, ist es verrückt, die Reise fortzusetzen.« »Du nennst den Feuermeister einen Verrückten, Leibdienerin?« Er strengte sich an, um seiner Stimme einen verärgerten Anstrich zu geben, aber er klang nur traurig. Er legte den Kopf in die Hände und seufzte. Ich drehte den Spieß über der Glut und rührte das Gemüse um. Ich spürte, wie seine Qualen in Wellen auch durch meinen Körper gingen. Ich stand auf, hockte mich neben ihn und legte meine Hand auf seinen Arm. »Meister, ich liebe Euch und Euer Leiden bekümmert mich. Gibt es keine Möglichkeit, dass ich an Eurer Stelle gehe und die Feuer entzünde?« Er hob den Kopf und sah mich an. Sein Gesicht war aschfahl, versteinert durch die Schmerzen, dennoch brachte er ein Lächeln zustande. »Gott, Elsha, kennst du überhaupt keine Furcht? Sie würden dich umbringen! Eine Queltin im heiligsten Inneren des Tempels – das wäre seine Entweihung und die schlimmste aller Gotteslästerungen!« »Wer sagt das?« Er kicherte leise, nahm meine Hand und drückte sie. »Elsha, manchmal bringst du mich aus der Fassung. Ich versuche, an den festgemauerten Vorstellungen zu rütteln, aber du reißt die Mauern ein bis auf die Grundfesten.« »Weil sie in den Grundfesten morsch sind. Die Erwählten haben die Gesetze und die Traditionen geschaffen. Die Erwählten haben uns gebrandmarkt, nicht Gott. Die Erwählten haben zwei Feuer aufgestellt, sie haben den Vorhang dazwischengehängt und die Trennung hergestellt. Und diese Trennung ist es, die den Tempel entweiht, nicht ich.« Entgeistert sah er mich an. »Wer hat dir diese Dinge erzählt?« »Niemand, Meister. Ich weiß sie einfach. Und ich habe sie gewusst, seit ich ein Kind war.«
»Ich meine nicht die Ungerechtigkeit. Der Vorhang. Wer hat dir von dem Vorhang erzählt? Niemand betritt diesen Raum außer mir, einmal im Jahr, und dem alten Priester, der die Feuer unterhält.« Ich rückte ein Stück von ihm ab und starrte in die Flammen. »Ich hatte einen Traum. Ich träumte von den beiden Altären und den Feuern, die auf ihnen brannten, eins für die Erwählten und eins für die Quelten, dazwischen war ein dicker schwarzer Vorhang. Ich träumte, das der Vorhang heruntergerissen war und beide Feuer gemeinsam auf dem goldenen Altar brannten.« Er wischte sich mit den Händen übers Gesicht und sah aus, als fiele er gleich in Ohnmacht. Als ich ihn stützen wollte, winkte er ab. »Danke, es geht, Elsha. Ich beginne nur zu glauben, dass ich mich in dir getäuscht habe, gründlich getäuscht.« Was sagte er da? Ich wagte nicht zu sprechen, ich wagte kaum, mich zu rühren. »Elsha, du hast mir einmal erzählt, du habest Feuerit aufgespürt, und ich… ich habe gelacht, wenn ich mich recht entsinne. Erzähl mir noch einmal, was damals geschah.« Also erzählte ich ihm alles, was während seiner Abwesenheit in Talbar geschehen war, – wie ich meine Feueritfrau wiedergefunden hatte und wie ich das Feuerit aufspürte, das Dannii für mich versteckt hatte. Er hörte mit geschlossenen Augen zu und hatte die Hände vor sich gefaltet. Er saß so reglos, dass ich meinte, er sei eingeschlafen. Aber als ich meinen Bericht beendet hatte, hob er den Kopf und sah mich an. »Dann habe ich mich ganz sicher getäuscht«, sagte er leise. »Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich über dich lustig gemacht habe. Verstehst du, Elsha, ich glaubte, alles zu wissen. Ich glaubte dich gerufen zu haben, damit du ein Teil meines Traums wirst. Jetzt glaube ich, dass es nicht einmal mein Traum gewesen ist, sondern dass wir beide Teil eines viel
größeren Traums sind. Ich glaubte, deinen Weg vor mir zu sehen, deine Bestimmung. Und jetzt begreife ich, dass ich kaum die Hälfte davon gesehen habe. Ich war ebenso blind und voller Vorurteile wie der Rest.« »Nein, Meister«, widersprach ich ihm sanft. »Ihr seid der weiseste, der beste Mensch, den ich kenne. Ich liebe Euch mehr als irgendwen sonst…« Hier merkte ich, dass ich beinah gelogen hätte. Er beobachtete mich mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Beinah«, murmelte ich verlegen. »Ich liebe Euch mehr als irgendwen sonst, außer Teraj.« Er lachte leise, stellte seine Schale auf die Umrandung des Feuers und wärmte sich die Hände über der Glut. Sogar seine Hände waren während der Monate seiner Krankheit gealtert, sie waren runzelig und zitterten leise. »So viel habe ich auch begriffen, Leibdienerin. Ich habe gesehen, wie du am letzten Morgen aus seinem Bett kamst, und ich sah den Kuss, den er dir zum Abschied gab.« »Ich habe Euch nicht enttäuscht, Meister.« »Du enttäuschst mich nicht, Elsha. Du hast einmal zu mir gesagt, ich sei ein Priester, der keine menschliche Wärme braucht, keine Liebe. Aber da hast du dich getäuscht. Ich habe geliebt.« »Ich weiß es«, sagte ich. »Sie hieß Nirala.« Verblüfft sah er mich an, dann bohrte er seinen Blick in meine Augen. »So, du kannst also auch noch Gedanken lesen.« »Nein.« Ich musste lachen. »Aber ich habe eine Nacht lang, als Ihr sehr krank wart, neben Euch geschlafen, um Euch zu wärmen. Ihr habt im Schlaf gesprochen.« »Du hast bei mir geschlafen, Elsha?« Er machte ein erstauntes Gesicht, aber dann sprühte das alte Feuer aus seinen Augen. »Schade, dass ich das verpasst habe.«
»Ihr habt es nicht ganz verpasst, Meister. Ihr glaubtet, ich sei Nirala. Und aus der Art, wie Ihr den Namen sagtet, konnte ich entnehmen, dass Ihr nicht von Eurem Esel gesprochen habt.« Er lachte, dann wurde er still. Sein Gesicht hatte beinah die alte Farbe, er sah viel gesünder aus, während er an sie dachte. Ich hockte mich ans Feuer und prüfte das Essen. Das Fleisch war beinah gar und saftig, es duftete köstlich. Ich stand auf und holte zwei Schalen aus den Packtaschen um sie anzuwärmen. »Nirala war eine Harsha«, sagte der Feuermeister und ich hätte die Schalen beinah fallen lassen. Ich konnte sie gerade noch auffangen und stellte sie in die Glut. »Ich sollte in einer kleinen Stadt Feuerit aufspüren. Während meiner Anwesenheit wurde ein Kind in der Grube verletzt, es war daraufhin gelähmt und der Aufseher ließ es töten. Die Mutter wurde Zeugin dieses Mordes und griff den Aufseher an. Sie wollten sie dafür mit dem Tod bestrafen, aber ich mischte mich ein. Sie erzählte mir, ihr Mann sei in der Grube umgekommen, ihr Sohn sei alles gewesen, was sie hatte. Ich hob das Urteil auf und sprach sie los von aller Schuld. Ich schwor, den ersten Erwählten, der sich an ihr vergriff, zu brandmarken. Die Leute empörten sich gegen mich, meine Leibdienerin verließ mich und die Erwählten der Stadt gewährten mir kaum mehr ihre Gastfreundschaft. Ich wusste, dass sie sich für die Schmach des Aufsehers an der Harsha rächen würden, sobald ich der Stadt den Rücken gekehrt hatte, deshalb nahm ich sie mit. Ich brachte sie an einen geheimen Ort, den ich während meiner Reisen entdeckt hatte und den ich sehr liebte. Dort baute ich ihr ein Haus. Diese Frau war Nirala. Obwohl ich damals schon fünfzig Jahre alt war und sie kaum älter als du, begannen wir einander zu lieben und sie wurde meine Frau. Sie lehrte mich die Legenden und Lieder der Quelten, und wegen unserer Liebe begann ich an allem zu zweifeln, was ich zuvor als Wahrheit verstanden hatte. Ich
begann die Quelten zu achten und versuchte ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Ich erzählte den Quelten anderer Gruben von dem Ort, wo Nirala lebte, und er wurde zu einem Refugium für Kranke und Verletzte. Ich brachte einen meiner Ärzte, dem ich vertraute, an diesen geheimen Ort, damit er sich um die Leute kümmerte. Über die Jahre wuchs die Gemeinschaft heran und wurde mir zu einem Zuhause, das ich mehr liebte als Kasimarra. Nirala und ich hatten einen Sohn.« Er machte eine Pause. Ich sah sein Gesicht und begriff. »Teraj«, sagte ich. Er nickte mit einem Lächeln. »Teraj hatte meine heilenden Kräfte geerbt, aber nicht die Fähigkeit, Feuerit aufzuspüren. Außerdem brachte ihm mein Arzt sein gesamtes Wissen bei. Der Ort, an dem mein Sohn lebt, ist mir der liebste Platz auf Erden. Nur eins bereitete mir Kummer, dass er immer allein war und keine Frau fand, die er liebte. Aber dann habe ich ihn mit dir gesehen, Elsha. Ihr seid einander wert in eurer Liebe.« Der Feuermeister schwieg, er sah zufrieden aus. Dann schaute er in die Flammen und sein Blick fiel auf den Fleischspieß. »Meinst du, ich sei deines Abendessens wert? Oder sollen wir warten, bis es vollständig verkohlt ist.« Ich sprang auf um das Fleisch zu retten, und als ich ihm seine Schale reichte, küsste ich ihn flüchtig auf die Wange. Er tat, als habe er nichts gemerkt, aber er senkte seinen Kopf tiefer über das Essen als sonst. Wir aßen schweigend. Aber als wir später jeder auf seiner Seite in den Schlaffellen am Feuer lagen, sagte er: »Elsha, bei den Erwählten ist es Sitte, Geschenke zu machen, wenn jemand Geburtstag hat. In vier Tagen wirst du siebzehn. Von all meinen Reichtümern in ganz Kasimarra, was würdest du dir wünschen? Du hast freie Wahl.« »Nichts, Meister, danke.« »Nichts? Alle meine Leibdienerinnen hatten ständig Wünsche, sie wollten feine Kleider, Edelsteine, Schuhe,
Häuser oder Silbergerätschaft. Während des ganzen Jahres, das du bei mir gewesen bist, hast du nicht einmal um etwas gebeten. Denk nach, Elsha. Es muss Dinge geben, die du dir sehnlichst wünschst.« »Kann ich wünschen, was ich möchte?« »Alles.« »Ich möchte, dass die Quelten nur vormittags arbeiten, der Nachmittag soll ihnen selbst gehören und sie sollen sich ausruhen können. Ich möchte, dass Kinder unter vierzehn nicht in den Gruben arbeiten dürfen. Ich möchte, dass die Frauen der Quelten ihre Männer selbst wählen dürfen. Ich möchte, dass es verboten wird, die Quelten zu brandmarken.« Ich holte Atem, und er fragte mit einem erheiterten Ton in der Stimme: »Ist das alles, Elsha, oder hast du gerade erst angefangen?« »Es tut mir Leid, Meister, ich glaubte, Ihr meintet es ernst.« »Ich meinte es ernst. Deine Wünsche seien dir erfüllt.« »Ich danke Euch, Meister. Ein größeres Geschenk konntet Ihr mir nicht machen.« »Ich bin sicher, dass dir noch mehr einfallen wird.« Er lachte leise, und auch ich lächelte, zog mir die Felle über die Ohren und kuschelte mich in mein Bett. Der Wind fauchte am Höhleneingang vorbei und die Asche wirbelte auf. Im hinteren Teil der Höhle stampfte der Esel unruhig auf und Kallai flatterte auf seiner Behelfsstange mit den Flügeln. Ich hob den Kopf und sah durch die Flammen hinweg zum Feuermeister. Er lag friedlich auf dem Rücken, für einen Augenblick nicht von Schmerzen gemartert. Seine weißen Haare flossen wie Wasser über die dunklen Pelze und schimmerten im Feuerschein. »Auch Ihr habt bald Geburtstag«, sagte ich. »Was wünscht Ihr Euch von mir?« »Ein Lied der Quelten.« »Euer Wunsch sei ebenfalls erfüllt.«
»Ich war noch nicht fertig, Frau. Ich möchte, dass du dieses Lied für mich im Tempel von Kasimarra singst, während wir den abscheulichen Vorhang herunterreißen.«
17
DIE BRÜCKE
Am folgenden Morgen erhob sich der Sturm in unverminderter Stärke, peitschte unsere Haare, zerrte an den Kleidern und drang wie mit spitzen Nadeln in unsere Haut. Mit all unserer Kraft mussten wir uns dem Wind entgegenstemmen um überhaupt vorwärts zu kommen, ich stützte den Feuermeister und er zog den Esel hinter sich her, der im Sturm scheute. Auch an Kallai zerrte der Wind, er krallte sich geduckt an meinem Lederhandschuh fest. Der Schnee war kniehoch, feucht und schwer, unsere Stiefel und Mäntel wurden triefnass. Der Feuermeister rutschte aus, ich half ihm hoch; einen Augenblick ruhte er sich an den Esel gelehnt aus und rang mit geschlossenen Augen nach Atem. Seine Augenbrauen und der Bart waren eisverkrustet und seine Gesichtshaut fahl. »Lasst uns umkehren, Meister!«, schrie ich gegen den heulenden Wind an. »Der Sturm wird uns beide umbringen!« Er schüttelte den Kopf. »Bald kommt eine Brücke!«, schrie er heiser. »Danach eine Höhle. Dort bleiben wir.« Damit ich beide Hände frei hatte, schnürte ich Kallai an einer der Packtaschen fest, obwohl er sich wild dagegen wehrte. Zusammen zwangen wir den Esel weiter, der Feuermeister und ich, zogen und schoben ihn auf dem tückischen Pfad. Manchmal führte der Weg zwischen steilen Felsen hindurch und die Windstille dort war himmlische Erholung, aber gleich darauf traf uns der Sturm wieder mit ganzer Wucht. Wir gelangten an den Rand einer Schlucht, die steil und tief nach unten führte, wo ein tosender Fluss wie ein entferntes
Donnergrollen zu uns hinaufklang. Ein merkwürdig dröhnendes Echo hallte gespenstisch zwischen den Felswänden hin und her, abgehackte Geräusche, vom Wind zerfetzt, Schreie und Stimmen wie aus weiter Ferne, grausiges Geheule. Wölfe? Über den Abgrund führte eine schmale Seilbrücke, die sich gegenüber im Nichts verlor, gefährlich schwankend und halb zerrissen. »Wir können nicht über diese Brücke!«, schrie ich und packte voll Entsetzen meinen Meister am Arm. »Wir müssen«, sagte er und spannte die Sattelgurte des Esels, prüfte sein Halfter. »Ich habe die Schlucht schon oft überquert, Elsha. Es gibt keinen anderen Weg.« Ich starrte über die Schlucht, aber ich konnte die andere Seite nicht sehen. Angst umklammerte mein Herz. Ich ging den Pfad zurück, weg vom Abgrund und der schwankenden Brücke. Der Feuermeister ging mir nach und legte seine beiden Hände auf meine Schultern. Er musste schreien, damit ich ihn verstand. »Elsha! Wir haben keine Wahl! Geh du zuerst, dann folge ich mit dem Esel nach. Halt dich an den Handseilen fest, geh langsam und mit jedem Schritt auf den Holzplanken. Wenn eine fehlt, übersteigst du vorsichtig die Lücke, und immer nach vorn schauen. Wenn die Brücke zu sehr schwankt, bleibst du stehen, bis sie wieder ruhiger ist. Sieh nicht in die Tiefe. Sei ruhig. Du wirst es schaffen, ich schwöre es.« »Geht mit mir!«, schrie ich. »Ich kann es nicht allein!« »Du musst. Uns beide und den Esel trägt die Brücke nicht. Und ich lasse deinen Falken fliegen, Elsha. Er macht den Esel verrückt.« Damit ging er zu dem Esel, der sich wie versteinert mit den Hufen in die Erde stemmte. Ich sah, wie der Feuermeister sein Messer aus der Scheide zog und die Leine des Vogels durchschnitt. Kallai erhob sich, er segelte im
Sturm, dann verschwand er im Nebel. Ich wusste, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Verschwommen erkannte ich, dass der Feuermeister ein dickes Bündel aus den Packtaschen holte, es war schwer und dunkelrot. Er brachte es zu mir und band es mit einem Seil auf meinem Rücken fest. Es war sein Feuersuchermantel, den er zum Feueritsuchen trug. Es kam mir seltsam vor, dass er mir gerade das zum Tragen aufpackte. »Damit der Esel weniger zu tragen hat«, schrie er. Er band das Seil kreuzweise über meinen Rücken und dann um meine Hüfte, dabei musste er gemerkt haben, wie sehr ich zitterte, denn er sah mir in die Augen und lächelte: »Wir sehen uns auf der anderen Seite.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ein Befehl!« »Nein, Meister.« Er nahm mich am Arm und zwang mich, bis zum Rand des Abgrunds zu gehen, dort, wo die Brücke anfing. Ein schmales Nichts über einer gefrorenen Hölle. »Geh!«, rief er von hinten. Er legte meine Hände auf die Seile und schob mich, ich spürte seine Hand im Rücken und seinen rauen Bart an meiner Wange. »Geh, Frau. Es gibt keinen anderen Weg.« Ich warf über meine Schulter einen Blick in sein Gesicht, er weinte, oder seine Augen tränten vom Wind. Schmerz sprach aus seinem Blick und Liebe, und andere Dinge, die ich nicht verstand, aber die mir Angst machten. »Meister…« »Geh!« Ich ging, einen Schritt nach dem anderen auf den morschen, uralten Brettern, meine Hände umklammerten die zerschlissenen Seile, der Wind peitschte mich, riss an der Brücke und um mich herum war nur tosende Leere. Ich befand mich zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod lagen nicht weiter als einen falsch aufgesetzten Fuß auseinander. Ich wagte nicht, mich umzusehen oder in die Tiefe zu blicken, mein Blick klebte an den schmalen Brettern, den dünnen,
schwankenden Seilen, während ich unendlich langsam vorwärts kam. Es dauerte Stunden, so kam es mir vor, in denen mein Leben in der Schwebe hing. Manchmal packte mich eine Windböe, sodass ich die Augen schließen und meine ganze Kraft zusammennehmen musste um mich festzuhalten. Tausendmal meinte ich, gleich in die Tiefe zu stürzen. Außerdem wurde mein Körper von der Kälte geschüttelt, während mir gleichzeitig der Angstschweiß am Körper herunterrann. Endlich sah ich auf der anderen Seite die Felsen, den Pfad und die beiden Brückenpfeiler. Aber auf dieser Seite war die Aufhängung schwer beschädigt, der Wind hatte an den Seilen gerissen, noch hielten sie, aber sie waren haardünn. Mit jedem Schritt hörte ich die Fasern reißen. Aber dann, endlich, hatte ich das Ende erreicht. Ich klammerte mich an einen Felsen, am ganzen Körper zitternd musste ich mich übergeben. Und obwohl ich am Rand meiner Kräfte war, fühlte ich mich unendlich erleichtert. Jetzt schaute ich zurück auf die Brücke, doch viel konnte ich nicht sehen. Dichter Nebel stieg aus der Schlucht auf und der Sturm ließ nicht nach. Erst jetzt hörte ich auch die Echos wieder, die schaurigen Laute des Windes tief unten im Abgrund. Dann sah ich, wie die Brücke erzitterte, sich spannte, und ich wusste, dass mein Meister und der Esel die Überquerung angetreten hatten. In atemloser Spannung krallte ich mich an einem der Felsen fest. Eis bildete sich in meinen Haaren, auf meinen Kleidern, – ich wartete. Ich wartete und verfluchte den Nebel, ich wartete tausend Jahre. Aber ich sah nichts, ich sah buchstäblich nur weißes Nichts. Dann plötzlich meinte ich einen Laut gehört zu haben, ein Rufen, einen Huf auf dem Holz. Die Brücke schaukelte wild und wurde wieder ruhiger. »Könnt Ihr mich hören?«, rief ich in den Nebel. Ich hörte seine Stimme, vom Wind zerfetzt und seltsam jaulend, aber ich
verstand die Worte nicht. »Das Brückenseil reißt!«, schrie ich ihm entgegen. »Lasst den Esel zurück, kommt allein!« Wieder wartete ich und wagte vor Entsetzen kaum zu atmen. Ich sah, wie die Halteseile sich spannten, ich hörte, wie die Fasern krachten, dann ein Knacken, ein schnappendes Geräusch. Ich sah, wie die Brücke riss, wie das erste Seil in zwei Teile riss, das zweite Seil riss, Fasern, Fetzen, Seil und Bretter, alles stürzte in die Tiefe, verschwand. Dann war Stille, bis auf den Sturm. Nichts. Die Brücke war ins Nichts gestürzt. Nichts war übrig, außer dem Abgrund, dem Eis und dem Sturm. Ungläubig starrte ich über die Kante, wo das kürzere Ende der Brücke baumelte, als erwartete ich, dass sich Seile und Bretter wie von Wunderhand wieder zusammenfügten und mein Feuermeister lächelnd auf mich zuschreiten würde, auf seine ganz eigene Art in sich hineinlachend. Aber so lange ich auch starrte und betete, nichts dergleichen geschah und ich wusste, dass es nicht geschehen konnte. Ich begriff, dass ich den Feuermeister nie wieder sehen, nie wieder seine Stimme hören, nie wieder seine weise, freundliche Art erleben würde.
Es gibt in unserer Sprache keine Worte dafür, wo ich mich an diesem Tag befand. Ich weiß nicht, welche Wege mein Körper ging. Ich weiß nur, dass meine Seele sich an einem grauenhaften Ort befand, an einem gottverlassenen Ort der Schmerzen. Aber irgendwie kehrte ich zurück. Ich denke, es war die Kälte, die mich rettete, – mein zitternder Körper, der mich daran erinnerte, dass ich noch immer lebte und alle Fürsorge brauchte, die ich aufbringen konnte. Ich war von Schnee bedeckt, meine Hände und Füße hatten jedes Gefühl verloren, aber ich sah immerhin, dass meine Hände verletzt waren und bluteten. Unter größten
Anstrengungen gelang es mir, den Knoten aufzulösen, mit dem der Feuermeister seine Robe auf meinem Rücken festgebunden hatte. Ich schüttelte Eis und Schnee ab und zog sie an. Sie schleifte auf dem Boden, aber sie wärmte mich. Das seltsame Gefühl, mich nicht mehr auf dieser Welt zu bewegen, legte sich über mich. Die Gegenwart des Feuermeisters hatte meine Gedanken ausgefüllt, meine Tage und den Weg, der vor mir lag. Jetzt fühlte es sich an, als sei ein Teil von mir abgeschnitten. Wie im Taumel lief ich am Rand der Schlucht entlang, auf und ab, schrie nach meinem Meister, rutschte zweimal beinah über die Kante… Aber zuletzt siegte die Vernunft. Ich machte mich mit letzter Kraft auf den Weg, weg von der Schlucht. Mir war so kalt, dass meine Fingerspitzen schwarz waren, ich hatte kein Gefühl mehr. Irgendwann setzte ich mich in den Schnee und zog die Stiefel aus, auch meine Füße waren schwarz. Ich zog die Stiefel wieder an, aber mit meinen erfrorenen Fingern konnte ich sie nicht wieder zuschnüren. Ich stampfte weiter, heulte, sprach mit mir selbst, haderte, lachte manchmal und befand mich an der Grenze des Irrsinns. Häufig schaute ich hinter Felsvorsprüngen nach und erwartete, den Feuermeister dort zu finden, dann wieder rannte ich stolpernd, humpelnd vorwärts, weil ich überzeugt war, seine Gestalt im Nebel vor mir gesehen zu haben. Im nächsten Augenblick überwältigte mich das Wissen um seinen Tod, und tiefe Trauer kam über mich. Ich weinte und die Tränen auf meinen Wangen froren zu Eis. Endlich kam ich an die Höhle, verbeugte mich vor seinem Zeichen am Eingang und betrat die rettende Nachtherberge. Drinnen tastete ich in den Nischen nach Flinten und Zunder, nach Feuerit. Nichts. Auch keine Decken, die Weinschläuche leer, die Wasserkrüge zerbrochen auf dem Boden. Die Höhle war ausgeraubt worden.
Ich lachte wie irre geworden. Die einzige Höhle auf allen unseren Reisen, die ausgeraubt war – ausgerechnet hier, in dieser eisigen Wüste im Sturm. Ohne Feuerit und Flintstein hatte ich nichts, was mich am Leben halten konnte. Ohne Nahrung konnte ich vierzig Tage überleben, aber ohne Feuer würde ich keine vier Tage bis nach Kasimarra durchhalten. Ich setzte mich an den Rand der kalten Feuerstelle auf einen Stein und zog seinen Mantel fester um mich. Es wurde Nacht. Der Wind hatte die Richtung gewechselt und trieb jetzt den Schnee bis tief in die Höhle, die Kälte verwirrte meinen Verstand. Ich sah mich selbst draußen in der Nacht im Schneesturm wandeln, wo ich die Lieder der Quelten sang. Teraj stand im Schnee, er hatte eine Fackel und hielt eine Buchrolle unter dem Arm, aber als ich zu ihm lief, löste er sich mit einem Lächeln in nichts auf. Ich hörte Lesharos Flöte, ich folgte den Tönen und wäre beinah in eine Gletscherspalte gefallen. Ich sah nichts außer Gaukelbildern, die mich narrten und quälten. Dann wieder hatte ich entsetzliche Schuldgefühle, weil ich meinem Meister nicht geholfen hatte, ich versuchte zurück zur Schlucht zu kommen, dorthin, wo er hilflos und verletzt nach mir rief. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihn im Stich gelassen hatte, weil ich weitergegangen war. Meine Schuld lag darin, dass ich noch am Leben war. Ich hörte Stimmen, die mich anklagten, Leute kamen, betrachteten meine Verzweiflung, spuckten mich an und warfen mir vor, seinen Tod verschuldet zu haben. Ich bewegte mich auf Händen und Knien vorwärts, kroch durch gefrorenen Schnee, schrie um Hilfe. Um mich herum türmte sich der Schnee meterhoch auf, ich konnte mich nicht regen, meine Kleider waren nass geworden und dann wieder gefroren. Meine schwarzen Hände fühlte ich nicht mehr, irgendwo hatte ich meinen einen Stiefel verloren, mein nackter Fuß war schwarz bis über den Knöchel, meine
Arme und Beine fühlten sich an wie die Glieder eines Fremden. Sogar meine Seele war mir fremd geworden, sie hatte sich beinah von mir losgemacht. Ich spürte, dass ich dem Tode nahe war. Ich rollte mich im Schnee zusammen. Wieder hörte ich Stimmen und richtete mich halb auf – womöglich war jemand in der Nähe? Ich versuchte zu rufen, aber das Eis hatte meine Lippen versiegelt und meine Stimme verlor sich im Wind. Wieder sah ich Teraj, nur diesmal lächelte er nicht, sondern er lag vor seinem Bett auf den Knien und in seiner Verzweiflung rief er Gott an. Ich hörte meinen Namen und wollte rufen, aber ich konnte nicht. Im gedämpften Morgenlicht erwachte der Wind mit neuer Wut und wirbelte den Schnee herein, Schatten bildeten gespenstische Formen, dann Musik, Stimmen. Ich wollte nur, dass sie mich in Ruhe ließen, ich wollte schlafen. Die Erschöpfung machte meine Glieder bleischwer. Aber die Stimme war beharrlich: »Steh auf, Frau«, sagte sie und ich hob den Kopf. Schnee und Regen trieben mir ins Gesicht, ich musste mir mit der Hand über die Augen wischen. Ich meinte einen Mann zu sehen, der von Feuerschein umstrahlt auf mich zukam. »Steh auf, Frau«, wiederholte er. Ich kämpfte mich hoch, stolperte, fiel. Der Mann war noch immer da, halb verborgen im Sturm. Unglaublich, er trug nicht einmal einen Umhang in dieser Kälte, seine Kleider waren dünn, aus feiner Wolle gewebt. Auf seinen Haaren lag kein Schnee, sie leuchteten im Schein des Feuers. Er kam näher und ich sah, dass er lächelte. Ich meinte, es sei Amasai, ich rief seinen Namen und wollte ihm entgegengehen. Aber der Wind und der Schnee bildeten eine undurchdringliche Mauer, also blieb ich starr vor Kälte stehen und sah ihn an. Es war nicht Amasai. Es war ein Mann, den ich nicht kannte. Eine Fackel hatte er auch nicht, obwohl ich hätte schwören mögen, dass ich Feuerlicht auf seinem Gesicht gesehen hatte. Der Sturm ließ
nach und in diesem kurzen Augenblick der Ruhe konnte ich sein Gesicht betrachten. Es war voller Stärke, seine Augen strahlten Mut und Leidenschaft aus, denen Amasais nicht unähnlich. Und auch dieser Mann war sehr schön. Aber es war nicht sein Gesicht, das mich fesselte, das mich dazu brachte, gerade und aufrecht zu stehen, meine Erschöpfung und Schmerzen zu vergessen; es war die Freude, die er ausstrahlte. Seine Freude war so überwältigend, dass ich hätte meinen mögen, die ganze Luft sei erfüllt von Lachen; auch wenn es wohl nur der Wind war. Er sah mich an, als habe er mich sein Leben lang gekannt, sich schon immer nach genau diesem Augenblick gesehnt, mich an diesem Ort zu treffen. Sechs oder sieben Schritte lagen noch zwischen uns, trotzdem fühlte ich mich wie eingehüllt in seine helle, warme Freude. Ich fühlte mich willkommen geheißen, umarmt. »Seid Ihr ein Quelte, Herr?«, fragte ich zitternd. »Ihr habt Schrammen auf der Stirn, aber sie sehen nicht aus wie mein Brandmal.« »Es gibt keine Quelten«, sagte er mit einem Lächeln, das noch immer diesen Jubel ausstrahlte, und sein Blick ruhte fest auf meinem Gesicht. »Ich kenne Euch von irgendwoher«, sagte ich und lächelte verzaubert. Der Wind pfiff über die eisigen Felsen um uns herum und nahm seine Antwort mit. Schaudernd schob ich meine Hände tiefer in die Ärmel meiner Robe hinein. Wieder begann meine Seele zu wandern, ich hörte die Rufe ferner Stimmen. Gleichzeitig fühlte ich die Müdigkeit in mir, ich wollte mich in den Schnee betten und schlafen. »Wärme ist ein Zustand des Bewusstseins, Elsha«, sagte er. »Ich weiß«, sagte ich und gähnte. »Ich habe es gehört, als Teraj mit dem Feuermeister darüber sprach. Der Meister war sein Vater. Sie sahen einander ähnlich, merke ich gerade.«
»Wärme ist ein Zustand des Bewusstseins.« »Ich weiß. Ich habe den Feuermeister gewärmt, als er fror.« »Ein Zustand des Bewusstseins.« Erst jetzt begriff ich. Es war so einfach, so klar, dass ich lachen musste. Die Erschütterung des Lachens weckte mich aus meinem Dämmerzustand. »Ihr meint, dass mir warm wird, wenn ich nur mit aller Kraft daran denke?« Er gab keine Antwort und im selben Augenblick ging ein Schneerutsch vom Felsen über mir nieder und warf mich um. Als ich mich befreit hatte, war die Vision verschwunden. Ich kämpfte mich ein paar Schritte vorwärts und suchte nach Fußspuren, aber es gab keine. Nur seine Gegenwart war noch spürbar, und seine Worte hatte ich auch behalten. Ich sang für mich selbst mein liebstes Lied der Quelten. Das von der Glut tief im Innern, die das Kommen einer neuen Zeit verkündet. Mit aller Kraft stellte ich mir das wärmende Himmelslicht vor, ich dachte an das Feuer, das ich selbst im Herzen trug, das durch meine Adern floss und durch meine Lungen, meine Glieder mit Wärme erfüllte. Ich dachte an glühenden Feuerit, an das warme Summen, die singende Stärke, aus der das Feuer aufflackerte, um dann mit stetiger Wärme zu brennen. Ich dachte an Teraj, dessen Liebe mich aufhob und in Licht hüllte. Ich schlug die Augen auf und betrachtete meine Hände, das Schwarz verblasste, ein Teil der Haut schimmerte rosig. Ich lachte, hob meine Arme und sah, wie Wasser aus meinen feuchten Ärmeln floss. Dann entdeckte ich, dass der Schnee zu meinen Füßen geschmolzen war, mein nackter Fuß hatte schon beinah seine natürliche Farbe wiederbekommen. Und mein ganzer Körper war warm, so warm, als brenne ein Feuer in meinem Inneren. Ich schüttelte den Kopf und glaubte, es seien auch diesmal Visionen, aber meine Füße trugen mich weiter durch den Schnee. Ich kam an eine flache Stelle, auch hier lag überall
Schnee, den ich entschlossen von den Steinen wischte – da sah ich, dass sie mit Reisegebeten versehen waren – und wusste, dass ich den Weg gefunden hatte. Es war ein langer, beschwerlicher Weg, aber ich war wieder beweglich und auch die Verzweiflung war verschwunden. Mein Schicksal war vorausbestimmt. Es war an mir, nach Kasimarra zu gehen und dem Volk zu verkünden, dass der Feuermeister tot war. Es war ein Ziel, und ich brauchte ein Ziel. Trotzdem stimmte es mich nicht froh. Mir, die ich ausgezogen war mit dem Wunsch, den Quelten gute Neuigkeiten zu bringen, oblag es, Kasimarra die schlimmste aller Neuigkeiten zu überbringen. Kein Feuermeister, verloren die Kraft des Feuersuchers, verloren die neuen Gruben, verloren das Feuer… … da erglühte ein Funke in meinem Bewusstsein, ein Funke der Erinnerung. Er brachte mir die Gespräche mit Teraj vor Augen, die Phantasien und Geschichten, an denen wir uns gefreut hatten. Ich sah die Traumbilder vor mir, in denen ich den schwarzen Vorhang herunterriss und die beiden getrennten Feuerschalen auf einem einzigen Altar vereinigte. Ich sah Hände, die den Leuten das Feuer zurückbrachten. Meine Hände. Mein Feuer. Eine mächtige Vision begann Gestalt anzunehmen. Ich schüttelte den Kopf. Nein, das war unmöglich. Nie würden sie das zulassen. Lieber würden sie mich töten als das. Oder? Würden sie mich wirklich töten? Mich, die einzige lebende Seele mit der Kraft, Feuerit aufzuspüren? Wenn sie mich abwiesen oder gar töteten, verloren sie ihre einzige Verbindung mit der Quelle der Wärme. Sie mussten mich akzeptieren. Sie hatten keine andere Wahl. Überwältigt von der Reichweite dieser Gedanken, hielt ich inne, ich musste mich an den Gebetssteinen am Wegesrand abstützen. Mein ganzes Leben, all meine Träume, meine Visionen prasselten auf mich
herab und fügten sich zu einem gewaltigen Mosaik, in dem eins zum anderen passte und endlich ein Bild ergab. Die Träume meiner Kindheit, meine Fähigkeit, das Feuerit und seine verborgene Kraft zu spüren, meine Wünsche für die Quelten, der Tod des Feuermeisters, meine Bestimmung. Alles, was ich brauchte, war Mut. Den Mut, es allein, auch ohne den Feuermeister, zu vollbringen. Den Mut, Feuermeisterin zu werden. Ich erhob mich und richtete meine Kleider, die schwere Robe des Feuermeisters. Ich fühlte den weichen Pelzbesatz unter meinen Fingern, seine Wärme, sein Gewicht. Dann ging ich weiter. Ich ging meinen Weg nach Kasimarra.
18
KASIMARRA
Die beiden nächsten Nächte schlief ich in den Höhlen des Feuermeisters, und beide waren reichlich mit Vorräten ausgestattet. Tausendmal segnete ich Amasai für seine Sorgfalt und Umsicht; in einer der Höhlen fand ich sogar neue Kleider, einschließlich einem Kleid für die Leibdienerin, einem Unterkleid und Stiefeln. Auch Kleider für den Feuermeister gab es, aber sie zu sehen entzündete erneut meine Trauer. Aus der letzten Höhle nahm ich ein langes Messer, Flintstein und eine Fackel mit. Dann setzte ich meinen Weg fort. Die Robe des Feuermeisters trug ich zusammengerollt unterm Arm, meine Kapuze hatte ich weit in die Stirn gezogen, sodass sie mein Brandmal verdeckte. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Weg war glatt vom schmelzenden Schnee und Eis, alle Flüsse brausten mächtig angeschwollen zu Tale, aber die Luft war frisch und kristallklar. Ich vermisste Kallai auf meiner Faust und trauerte ein wenig auch um ihn. Es war ungewohnt, ganz allein zu gehen. Gleichzeitig waren viele Reisende auf der Straße unterwegs nach Kasimarra. Aber alle waren Erwählte, obwohl viele mich grüßten und mir neugierig ins Gesicht schauten, als wollten sie darin ergründen, warum eine Frau alleine reiste. Ich vermied das Gespräch. Nur einen Jungen, der seiner Familie vorausgelaufen war, wagte ich zu fragen: »Heute ist doch der Vortag des großen Feuerfests?« Er sah mich lachend an und meinte, das wisse doch jedes Kind. Entschlossen ging ich weiter, ich hatte mein Ziel vor Augen. Bis zum Abend war die
Menschenmenge immer größer geworden, Pilger aus allen Dörfern und Städten in der Umgebung von Kasimarra hatten sich eingefunden. Viele Erwählte ritten auf Eseln oder sie gingen gemeinsam in großen bunten Gruppen und sangen ihre Lieder. Erwartung lag in der Luft, Vorfreude auf das Fest. Nebel hatte sich mit der Dämmerung über die Straße gelegt und viele Leute trugen Fackeln. Das Licht brachte die Edelsteine und Silberstickereien an ihren Kleidern zum Glitzern. Müde Kinder wurden von ihren Vätern auf die Schulter genommen, Liebende gingen Hand in Hand, vom Nebel eingehüllt redeten und lachten sie leise. Ich wünschte mir sehnlich, allein gehen zu können. Ich wusste, dass wir uns dem heiligen Berg näherten und wollte für mich sein, wenn ich ihn das erste Mal wirklich vor mir sah, um diesen heiligen Augenblick für immer in Erinnerung zu behalten. Stattdessen stand ich nach einer Wegbiegung plötzlich umgeben von der Menge jauchzender Pilger, sodass meine eigne Freude im Jubel der Menge aufging – und zum ersten Mal in meinem Leben war ich Teil eines Freudenfests der Erwählten. Kasimarra, Mittelpunkt ihrer und meiner Welt, thronte über dem Nebel, von tausend Fackeln erleuchtet. Stolz erhob sich der Tempel aus dem Gebirge, ein heiliger Ort aus Stein, Eis und Feuer. Ich konnte nicht ausmachen, wo die Felsen endeten und wo die mächtigen Wände des Tempels begannen, all die vielen Treppen, Altane, Erker, steilen Dächer und Türme, deren scharfe Konturen im Nebel verschwammen. Aus jedem Fenster ergoss sich Licht, das sich auf feuchten Wänden und Dächern spiegelte, ehe es sich im Nebel zu einem mild leuchtendem Schein auflöste und den ganzen Tempel in ein goldenes Licht tauchte. Er war genau so, wie ich ihn in meinen Träumen gesehen hatte. Am Fuße des Gipfels breitete eine Stadt sich aus. Und jenseits der Stadt entdeckte ich halb verborgen einen weiteren
Pfad, der auf einem schmalen Grat steil nach oben führte, geradewegs in die heiligsten Räume des Tempels. Das war der heilige Pfad nach Kasimarra. Diesen Pfad würde ich beschreiten. Ich sah, wo er nach links abzweigte, nur ein kleines Stück von hier entfernt. Mit den andern Pilgern gemeinsam ging ich bis zum Kreuzweg, und sie alle gingen weiter auf der breiten Straße, die im weiten Bogen in die Stadt hinunterführte. Ich setzte mich auf einen Gebetsstein am Wegesrand und wartete. Es war beinah schwarze Nacht, als die Straße endlich verlassen vor mir lag, die Straße und der steile Pfad nach oben. Ich entzündete die Fackel und machte mich an den Anstieg. Der Pfad war noch schmaler, als ich gedacht hatte, sehr steil, aber von Gebetssteinen zu beiden Seiten eingefasst. Es gab kurze Verse und lange, die in große flache Steine eingraviert waren. Alle waren in der Hochsprache der Erwählten geschrieben und einen Teil der Wörter konnte ich lesen. Sie warnten, dass dies der heilige Pfad sei, den zu beschreiten einzig dem Feuermeister vorbehalten war. Allen anderen war der Zugang strengstens verboten. Über dem Weg hingen weitere Gebetsfahnen und noch mehr Warnungen. Ich stieg weiter bergan, mit seiner Robe und der Fackel in der Hand. Das letzte Zeichen, wenn ich es richtig verstand, enthielt die folgenden Worte: »Wer dies liest, hat heiligen Boden betreten, er befindet sich im Tempelbezirk. Gesegnet sei er, wenn es der Feuermeister ist. Verflucht und mit den Qualen des Todes bestraft, wenn nicht.« Ich ging weiter und bald zog ich auch die Robe des Feuermeisters an, nicht nur zum Schutz gegen die Kälte. Wer aus der Ferne den Pfad beobachtete, würde mich und meine Fackel sehen. Ich zog die Kapuze tiefer über meine eigene Kapuze, damit alle Haare und das Brandmal verborgen waren. Ich wünschte mir, größer zu sein.
Die Nacht senkte sich tiefer über die Erde und hüllte alles in tiefes Schwarz, ein kräftiger Wind wehte. Ich sah nichts als den Pfad, der vor mir lag, gezackte Felsen am Wegesrand und Fetzen Nebel im Tal. Dahinter leuchteten die Feuer von Kasimarra. Jetzt bemerkte ich, dass das Licht in der Spitze des Tempels gelöscht war, und begriff gleichzeitig, dass dies die Lichter waren, die ich zu entzünden hatte, um aller Welt die Rückkehr des Feuermeisters zu verkünden. Ich erreichte eine Höhle, über deren Eingang das Zeichen des Feuermeisters eingemeißelt war. Sie war klein und bot kaum Raum um aufrecht zu stehen, aber sie gewährte Schutz und einen guten Blick über Kasimarra, den Tempel und den Himmel im Osten. Erleichtert begriff ich, dass hier der Feuermeister seine lange Nachtwache bis zum nächsten Morgengrauen verbracht haben musste. Es war tröstlich, zu wissen, dass auch er hier gewartet und gewacht hatte. Also wartete ich, und wenn die Angst vor dem Morgen übermächtig wurde, sang ich eins der QueltenLieder. Als die Nacht am kältesten war, öffnete ich das kleine Essenspäckchen, das ich aus der vorigen Höhle mitgenommen hatte, – getrocknete Früchte von einem fremden Ort weit jenseits unserer Grenzen, getrocknetes Hezzin-Fleisch, das schon ein wenig muffig schmeckte, und Getreidekörner. Ich hatte sogar einen kleinen Weinschlauch mitgenommen, aber ich trank nur wenig davon. Ich wollte am Morgen nicht unbedingt in den Tempel taumeln oder das Morgengrauen überhaupt verschlafen. Aber einen Schluck oder zwei trank ich, weil es die Nacht meines siebzehnten Geburtstags war. Dann beschlich mich aufs Neue die Angst, ich sang und wartete. Endlich wurde der Himmel hinter Kasimarra heller. Ich stand auf, nahm die Fackel und machte mich an den Aufstieg. Der Weg wurde immer steiler, dann machte er eine plötzliche Rechtskurve und ich stand dem Gipfel des heiligen Bergs
Kasimarra und dem Tempel unmittelbar gegenüber. Unter mir in der Stadt gab es erste Anzeichen von Leben, Fackelschein bewegte sich über die Straßen und jetzt sah ich, wie das untere Tor des Tempels hell erleuchtet wurde. Im Licht meiner Fackel sah ich, dass der Kamm immer schmaler wurde, an manchen Stellen nicht breiter als der Pfad selbst. Ich fühlte mich, als wandelte ich auf Messers Schneide. Außerdem hatte der Wind zugenommen, er pfiff über meinen Weg und löschte beinah die Flamme meiner Fackel. Ich hielt meine Kapuze fest, damit das Brandmal verdeckt war, und setzte meinen Weg fort. Bald hatte ich den Tempel erreicht, schon konnte ich die Pforte sehen. Einen Augenblick hielt ich inne, ein Schauder erfasste mich, ob vom Wind, von der schwindelnden Höhe oder dem heiligen Schrecken über die Ungeheuerlichkeit der Tat, die ich vollbringen würde? Ich wusste es nicht. Ich sprach ein Gebet, atmete tief durch und betrat den Tempel. Ich hatte eine große Halle erwartet, aber auf die schmale Pforte folgte ein enger Tunnel. Beklommen zog ich die Kapuze des Feuermeistermantels noch tiefer ins Gesicht, verbarg meine Hände in den Ärmeln, umklammerte das Heft meines Messers und die Fackel, dann überschritt ich die Schwelle. Der Tunnel war nicht lang, aber er war feucht und die Luft dumpf. Mir fiel ein, dass er nur einmal jährlich vom Feuermeister benutzt wurde. Am Ende des Tunnels standen zwei Wachen mit gekreuzten Schwertern, aber als ich näher kam, hoben sie ihre Schwerter in die Höhe. Ich presste die Hand um mein Messer, eine lächerliche Waffe angesichts der blinkenden Klingen, und trat ein in einen weiten Raum, der von wenigen Kerzen erhellt wurde. Riesige Schatten tanzten über die Wände. Ohne einen weiteren Blick auf die Wachen, mit tief gebeugtem Kopf, damit das Brandmal und meine hellen Haare verborgen blieben, schritt ich weiter geradeaus, über glänzenden
Holzboden und tiefrote Teppiche, bis ich eine Doppeltür erreicht hatte. Sie war aus reinem Gold, in das kunstvoll verschlungene Verzierungen, seltene Vögel und Tiere, unbekannte Landschaften und fremde Städte eingeprägt waren. In der Mitte beider Türen und durch ihre Öffnung geteilt prangte das heilige Zeichen des Feuermeisters: das sehende Auge, das Feuerit aufspürte. Entschlossen trat ich ein, hinter mir fiel die Doppeltür leise ins Schloss. Dieser Raum war kleiner, dafür aber hoch wie ein mehrstöckiger Turm. Zum Glück hatte ich meine Fackel, denn hier gab es keine Lichtquelle außer einer gläsernen Kuppel hoch oben. Unmittelbar vor mir erkannte ich im Fackelschein den goldenen Altar. Groß war er nicht, nicht höher als ein gewöhnlicher Tisch, auf dem, schwarz und kalt, eine eiserne Feuerschale stand. In die Kante dieses Altars waren die Worte »Für die Erwählten Gottes« eingemeißelt. Die Feuerschale war mit neuen, schwarz glänzenden Feueritbrocken gefüllt, über denen Zunder aufgehäuft lag. Neben dem Altar hing der gewaltige schwarze Vorhang, der sich nach oben hin in der schattigen Höhe verlor. Er zog sich durch den gesamten Raum, seine schweren Falten bildeten im Fackelschein seltsam lebendige Formen, gespenstisch und drohend und voll uralten Staubs. Ich ging auf die andere Seite, wo der steinerne Altar der Quelten stand. Die Inschrift lautete: »Für die Quelten«. Auch hier stand eine gefüllte Feuerschale und wartete auf das Feuer. Ich legte die Fackel auf den Steinaltar und lauschte in die Stille. An diesem Ort waltete ein wundersamer Frieden. Ein lebendiger Frieden. Ehrfürchtig kniete ich und berührte mit der Stirn den gewachsten Boden. Dann stand ich auf und hob die Feuerschale an. Sie war schwerer, als ich erwartet hatte, und noch warm vom gestrigen Feuer. Ich trug sie um den Vorhang herum und stellte sie auf den goldenen Altar neben die Schale der Erwählten. Dann ergriff ich den schweren
schwarzen Vorhang. Ich begann das Lied der Quelten zu singen, wie mein Meister es sich gewünscht hatte. Mit aller Kraft zog ich an dem Vorhang, hörte hoch über mir ein Reißen, ganze Staubwolken wirbelten auf. Der Stoff war so mürbe, dass ich befürchtete, nur den Saum abzureißen und bloße Fetzen in der Hand zu halten, also sammelte ich so viel Stoff wie möglich in meinen Armen, dann schwang ich mit meinem ganzen Gewicht wie an einer Schaukel. Ich hörte, wie oben der Stoff aus den Halterungen riss, und jetzt ging die ganze Last des alten Gewebes, behaftet mit dem Schmutz und den Vorurteilen aus Generationen, all das ging mit einem mächtigen Donnern hinter dem goldenen Altar zu Boden. Ungehindert konnte ich nun die Fackel vom steinernen Altar nehmen und die beiden Feuer entzünden, das der Quelten zuerst. Und jetzt sang ich auch das alte Lied, langsam und stockend, weil ich immer wieder von meinen Gefühlen überwältigt wurde, und von ganzem Herzen wünschte ich mir, diesen Augenblick mit meinem verehrten Meister zu teilen. Und womöglich war er in meiner Nähe. Ich kniete auf den eiskalten Steinen vor dem Altar und dankte Gott. Es war mehr ein Jubel, der in mir losbrach, dennoch hoffte ich, es sei zu seiner Freude. In diesem Raum hatte ich getan, was zu tun war, ich trat durch die goldene Doppeltür und sah, dass die beiden Wachen verschwunden waren. Ich entdeckte eine Treppe, die weiter nach oben führte, wo ich einen Rundgang mit riesigen Fensternischen vorfand, in denen ebenfalls gefüllte Feuerbecken warteten. Also entzündete ich sie eins nach dem anderen, sang mein Lied und verkündete auf diese Weise ganz Kasimarra, dass der Feuermeister zurückgekehrt war. Jetzt stand mir nur noch die schwerste aller Prüfungen bevor, für die ich alle meine Kräfte brauchen würde: die Begegnung mit den Priestern. Ich klopfte den Staub des Vorhangs von meiner Robe, wünschte mir, weniger schmutzig, weniger
verknittert auszusehen, dann stieg ich langsam die vielen Treppen zum untersten Stockwerk des Tempels hinab. Hunderte von Treppen waren es, Hunderte von Fluren. An einigen Fenstern kam ich vorbei, deren Läden geöffnet waren, aus ihnen sah ich hinab auf die Stadt. Die breite Straße zum Tempel brodelte von jubelnden, klatschenden Leuten. Je weiter ich nach unten kam, desto lauter und wilder wurde der Jubel. Ich beschleunigte meine Schritte, mein Herz hämmerte wild in meiner Brust. Dann kam eine geschnitzte Doppeltür, ich öffnete sie mit einem Stoß und betrat den letzten Raum. Er war mehr ein Saal oder ein Burghof als ein Raum und es gab keine Möbel bis auf einen Thron ganz am anderen Ende. An den Wänden entlang flackerten Hunderte von Fackeln. Unzählige Männer standen zu beiden Seiten, aber sie beanspruchten in der Weite dieses Saales kaum einen Bruchteil der Fläche. Die violetten Roben der Priester fielen in majestätischen Falten bis auf ihre golden bestiefelten Füße, ihre Haare glänzten ölig, ihre Gesichter, die sie einer rituellen Waschung unterzogen haben mussten, waren gerötet. Schweigend starrten wir einander an, die Männer und ich, und ich weiß nicht, auf wessen Seite das Entsetzen größer war. Ich atmete tief durch und strich mir die schmutzigen Haare aus dem Gesicht. Dann schlug ich die Kapuze zurück und klopfte die Reste von Staub und Stofffetzen von meiner roten Robe. Die mit Goldfaden eingestickten Flammen an meinen Ärmeln waren matt vom Schmutz. Einen schrecklichen Augenblick glaubte ich, alles falsch gemacht zu haben. Ich schämte mich, weil ich schmutzig war und unvorbereitet auf diese Begegnung. Dann fiel mir wieder ein, dass ich staubig war, weil ich eine heilige Tat verrichtet hatte, und dass ich vorbereitet war – besser vorbereitet und geeignet für diese Rolle als irgendwer sonst auf der Welt.
Mit fester Stimme verkündete ich: »Ich bin Elsha von den Quelten. Ich war die Leibdienerin des Feuermeisters.« Hier musste ich eine Pause machen, um die plötzlich aufflackernde Trauer in mir zu unterdrücken. Meine Stimme klang ungewohnt, als sie von den Wänden widerhallte. »Ich bringe eine Nachricht von ihm. Eine schwere Nachricht. Er starb auf dem Weg von Qustra hierher, als die letzte Brücke brach.« Fassungslos starrten sie mich an. Weiße Gesichter, denen nicht anzusehen war, was sie dachten oder fühlten. Ich glaubte schon, sie seien taub, so reglos schweigend standen sie da. Dann löste sich einer von ihnen aus der Reihe und trat einen Schritt vor. Ein alter Mann, groß, mit eiserner Haltung und einem Gesicht wie aus Stein. Er sah nicht in mein Gesicht, sondern in die Luft über meinem Kopf. Aber ich schaute ihm ins Gesicht und sah, dass er einen gemeinen, herrschsüchtigen Zug um den Mund hatte. Als er sprach, bewegte er kaum die Lippen. »Wir wissen, wer du bist, Leibdienerin. Wir haben Berichte über dich bekommen und gehört, dass du sprechen kannst und über einen gewissen Verstand verfügst. Wir wissen, dass unser heiliger Meister zufrieden mit dir war, auch wenn wir seine Gründe nicht verstehen. Wir haben dich erwartet, wenn auch nicht auf diesem Wege und nicht in seiner Robe. Wie bist du in den Tempel gekommen?« »Durch die Pforte am Ende des steilen Pfades.« Ein Gemurmel erhob sich. »Das war der heilige Pfad, Harsha, den zu beschreiten du kein Recht hast. Und du hast nicht das Recht, seine Robe zu tragen. Wir werden der Familie des Feuermeisters Mitteilung machen, und dann werden wir tun, was getan werden muss.« »Ihr könnt kein Todesurteil über mich verhängen, ohne jeden Einzelnen von euch, der das Feuer braucht, mit zu verurteilen. Ich habe den heiligen Pfad beschritten, ich trage seine Robe, weil ich über die Kraft verfüge, Feuerit aufzuspüren. Ich bin
eure neue Feuermeisterin. Er gab mir seine Robe und ich glaube, ich habe seinen Segen.« Der Priester sagte ein Wort, das ich nicht verstand; ein Wort mit der Kraft eines Fluches. Unter den anderen Priestern brach erneut Gemurmel aus, dann war mit einem Schlag ratloses Schweigen. Die Menge vor dem Tor schrie nach dem Feuermeister. Ich drehte mich um, weil ich vor die Leute treten wollte – da hörte ich das Zischen eines Schwerts, das aus der Scheide gezogen wird, blanker Stahl blitzte auf und ich spürte die Spitze an der Brust. Der Priester zwang mich zurück. »Du hast mich nicht verstanden, Leibdienerin«, sagte er ohne mich anzusehen, mit unerbittlichem Gesicht. »Ich bin Maelmor, der oberste Priester. Im Tempelbezirk ist mein Wort Gesetz. Dein Wort hingegen ist nicht einmal den Atem wert, den du darauf verschwendest. Die Nachricht, die du uns bringst, wird überprüft werden. Und du wirst auf die Probe gestellt werden. Du wirst deine angebliche Fähigkeit, Feuerit aufzuspüren, bis aufs Äußerste unter Beweis stellen müssen. Bete, dass wir zufrieden sein werden.« Er steckte sein Schwert zurück in die Scheide und schritt die lange Reihe der Priester ab, bis er das Tempeltor öffnete. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf die Menge, und was ich sah, war überwältigend. Menschen säumten den Weg, standen auf den Mauern zu beiden Seiten, waren auf die Terrassen, in die Felsen geklettert, bevölkerten die Hänge und Täler. Sie hockten auf den Dächern der Häuser, standen auf Baikonen, hinter Fenstern, klammerten sich an alles, was irgendwie Halt bot – nur um den Feuermeister zu sehen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Trompeten schallten, Trommeln wirbelten, Glocken wurden geläutet. Die Leute schrien, jubelten, klatschten, sangen. Als sie erkannten, dass nicht der Feuermeister, sondern der oberste Priester vor das Tor getreten war, kehrte plötzliche Stille ein. Er schloss die Türen hinter
sich, wir hörten, wie er sich mit mächtiger Stimme an das Volk wandte, aber seine Worte waren nicht zu verstehen. Und dann entstand ein erneutes Geschrei, diesmal klagend, herzzerreißend. Die Leute schrien nach ihrem Feueritsucher. Ich hob den Kopf und ließ meinen Blick an der Reihe der Priester entlangschweifen. Einige weinten. Aber andere sahen mich an, mit trockenen Augen, und ihre Blicke waren heißer als Tränen, in ihnen lag glühender Hass.
19
DIE PROBE
Während der nächsten Nacht ließen sie mich im großen Tempelsaal übernachten, auf einer dünnen Matte mit nur einer Decke und ohne Feuer. Am folgenden Morgen führten sie mich nach draußen. Zweihundert Priester waren dazu ausersehen, meine Kräfte auf die Probe zu stellen. Maelmor war einer von ihnen. Sie brachten mich in ein bergiges Gebiet auf der anderen Seite der Stadt. Ein scharfer Wind wehte und eine dünne Eisschicht bescherte uns einen tückischen Untergrund. Überhaupt war die ganze Stimmung tückisch. Sie hatten mir auf dem Weg die Augen verbunden und führten mich über Geröllfelder, über steil ansteigende Pfade und wieder hinab auf steinige Ebenen, oft stolperte ich. Doch meine elf Jahre in der Grube hatten meine Füße sehen gelehrt, sodass ich doch nicht hinfiel. Aber ich war zermürbt und entmutigt. Die ganze Nacht über hatte ich gewacht statt zu schlafen, ich hatte meditiert und versucht, einen Zustand der Gelassenheit zu erreichen. Es war mir beinahe gelungen. Aber die offene Feindseligkeit der Priester brachte meine mühsam gewonnene Ruhe ins Wanken und verwirrte meine Gefühle. Ich war nicht im Einklang mit mir selbst und der Erde. Und dieses Gefühl vertrug sich nicht mit der Aufgabe, Feuerit aufzuspüren. Endlich schienen wir angekommen zu sein, denn ich hörte knirschende Sohlen auf Kies. Die Priester versammelten sich. Sie hielten eine kurze Beratung ab, dann trat jemand an mich heran. Ich spürte die böse Absicht, genau wie ich sie damals
gespürt hatte, als sie mich mit verbundenen Augen gebrandmarkt hatten. »Du wirst Feuerit aufspüren«, sagte die Stimme dicht neben meinem Ohr. Es war Maelmors Stimme. »Du hast bis heute Abend Zeit. Ich entscheide, wann die Probe beendet ist. Wenn du Feuerit findest, bleibst du am Leben. Wenn du keins findest, wirst du sterben. Dies ist die einzige Probe. Es gibt keine zweite Chance. Du kannst anfangen.« Ich wandte ihm den Rücken zu, weg von den Priestern, und suchte die offene Weite. Der Wind reinigte mich. Ich hockte mich hin, zog meine Stiefel aus. Erst legte ich meine Handflächen auf die Erde, dann legte ich mich der Länge nach hin. Ich spürte nichts. Unverzagt stand ich wieder auf und lief langsam über die Steine, rutschte manchmal auf einer gefrorenen Pfütze aus, meine Füße wurden langsam kalt. Lange ging ich, ich ging mit geschlossenen Augen unter dem schwarzen Tuch. Mit meiner ganzen Seele, mit meinem Körper nahm ich die Erde um mich herum auf, spürte den Wind, die Felsen und alle verborgenen Kräfte. Dann spürte ich, wie ein seltsames Fließen in meinen Knochen war, erstaunt begriff ich, dass ich über einem unterirdischen Fluss ging. Ich schritt langsam und voll Ruhe, ich hatte meine innere Sicherheit wiedergefunden. Es gab kein Feuerit hier. Ich legte mich der Länge nach mit ausgebreiteten Armen auf die raue Erde, drückte meine Stirn in den Sand, presste die Handflächen auf den Untergrund. In meinem Bewusstsein wurde ich leicht wie mein eigener Schatten, ein Echo, ein Kraftstrom, der tief in die Erde hineinreichte, zwischen den Felsen in der Tiefe spürte, suchte, was lebendig war wie ich selbst. Ich fand eine Goldader, urzeitliche Knochen, Dunkelheit, die lebendige Dunkelheit der Erde, die schwarze Dunkelheit der Felsen, aber auch helles Kristall und Samen,
die im Verborgenen darauf warteten, aufzugehen. Aber es gab kein Feuerit. Stundenlang erkundete ich auf diese Weise die gesamte Umgebung, erspürte Täler, Hügel, grasbewachsene Ebenen. Ich kletterte bis an die Kante gezackter Felsen, vermaß mit dem Körper die schroffen Bergrücken, überquerte gefrorene Wasserläufe. Immer wieder legte ich mich auf die Erde, nirgends erspürte ich Feueritkraft. Allmählich wurde ich müde, geistig und körperlich. Ich war durstig, mein Körper schmerzte von der Kälte. Ich spürte meine Füße nicht mehr und auch die Erdkraft unter ihnen nicht. Ich begann zu zweifeln. Nie hatte ich so lange gebraucht, um Feuerit aufzuspüren. Nie war eine so vollständige Abwesenheit von Feueritkraft vorgekommen. Ich spürte nicht einmal das entfernte Summen der Feueritadern, die zu tief lagen um sie zu fördern. Es gab nicht das kleinste bisschen Feuerstein. Nichts. Nicht auf der Erde und nicht unter der Erde. Nichts, nur zweihundert feindselige Priester, die darauf warteten, dass ich versagte. Die Priester. Bis hierher konnte ich ihre Ablehnung spüren, ihre gesammelte Bosheit. Aber ich spürte noch etwas anderes, etwas Dunkles, Glattes, das an den Rändern ihres Hasses floss, etwas, das mir neue Angst einjagte. Ich stand auf und ging zurück zu ihnen. Ich bebte vor Erschöpfung, vor Kälte und Verzweiflung. Meine Lippen waren vom eisigen Wind aufgesprungen und jetzt mit Schmutz verkrustet, weil ich den Mund auf die Erde gelegt hatte. Ich nahm die Augenbinde ab, es war bereits später Nachmittag, stellte ich mit Erstaunen fest. Die Priester standen in einiger Entfernung an einem schmalen Bergkamm aufgereiht. Hinter ihnen erhoben sich die Türme von Kasimarra aus dem Dunst. Die Priester trugen Schwarz, sie waren umgeben von schwärzester Bosheit. Sie alle trugen Schwerter. Ich überquerte die Ebene zwischen uns, erklomm den Berg und warf Maelmor die Augenbinde vor die Füße. Ich
keuchte, mein Hals tat weh, der Schweiß rann an meinem Körper herab. »Ihr habt gelogen«, erklärte ich. »Es gibt hier kein Feuerit.« Er bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick, einem tückischen Lächeln, als sei der Sieg sein. Aber er sagte nichts. In diesem Augenblick übermannte mich eine unbeschreibliche, eine eiskalte Wut: Lange standen wir uns Auge in Auge gegenüber, beide hielten wir dem Blick des anderen stand, und währenddessen tauchte es wieder auf, dieses dunkle, glatte Etwas, heimtückisch verborgen. Ich warf einen Blick auf die lange Reihe der Priester. Alle sahen gleich aus. Und plötzlich wusste ich es. »Gott sei mein Zeuge«, sagte ich. »Ich verfüge in seiner Wahrheit über die Kraft, Feuerit aufzuspüren. Doch ihr seid Lügner und Betrüger, aber keine wahren Priester.« Ich machte kehrt und begann Richtung Stadt zu gehen. Aber ich musste die lange Reihe der schwarz gewandeten Priester abschreiten, und bei jedem Priester, an dem ich vorbeiging, lag mein möglicher Tod. Wann würden sie zuschlagen, hier oder in Kasimarra? Gleichzeitig kam Friede über mich, die widersinnige Gewissheit, dass alles gut war. Und durch diesen Frieden hindurch – oder war es wegen dieses Friedens? – spürte ich, als ich am letzten Priester der Reihe vorbeischritt, ein schwaches Vibrieren. Ich hielt inne. Ein kleines, ein winziges Summen, ein Schatten, ein Flüstern. Ich ging zurück, langsam. Langsam wurde das Summen deutlicher, es rief mich, es zog mich an. Ich blieb vor einem der jüngeren Priester stehen. Er hielt meinem Blick stand, mit einer leichten Röte auf den Wangen, erwartungsvoll. »Ihr habt das Feuerit«, sagte ich. Er beugte sich vor und blickte an der Reihe entlang zu Maelmor. Der Oberpriester eilte zu uns. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich, aber mit einem Nicken gab er dem Priester
ein Zeichen. Der Priester steckte die Hand in die Tasche und holte einen kleinen, in leuchtend rote Seide gewickelten Gegenstand aus der Tasche. Er war mit goldenem Draht fest verschnürt. Maelmor stand hinter mir. Er gab in der Hochsprache einen Befehl, woraufhin sämtliche Priester in ihre Taschen griffen. Alle hatten ein kleines Päckchen auf der Handfläche, zweihundert völlig gleiche Päckchen, die feuerrot vor den schwarzen Roben der Priester leuchteten. Wieder blickte ich Maelmor an, ich wusste nicht, was ich denken sollte. Wieder dieses tückische Lächeln. »Du hast gesagt, dass hier kein Feuerit ist, Leibdienerin. Hier, du siehst es, jeder von uns trägt es bei sich.« Ich konnte den Hinterhalt riechen. »Nein«, erklärte ich. »Es gibt nur ein Stück Feuerit. Dieses hier.« Ich nahm das Päckchen von der Hand des jungen Priesters und wickelte den Draht ab. Feuerit. Sämtliche Priester öffneten ihre Päckchen und warfen den Inhalt auf den Boden. Es waren Steine, gewöhnliche Steine. Ich war die Einzige, die einen Brocken Feuerit in der Hand hielt. Die Siegesfreude rauschte in meinen Ohren. Aber dann sah ich Maelmors Gesicht, und ich wusste, dass mein Kampf gerade erst begonnen hatte. »Du kannst also Feuerit aufspüren, Leibdienerin«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Wir alle hatten ein Päckchen, aber wir wussten nicht, wer den Feuerit hatte. Feueritsucher können manchmal Gedanken lesen, dann hätten unsere Gedanken dir ein Zeichen geben können. Es war die schwerste Prüfung, die ich ersinnen konnte. Du hast sie bestanden. Ich werde abwarten, ob wir für den Tod des Feuermeisters eine Bestätigung bekommen. Ich habe bereits Gesandte zur Brücke geschickt, von der du uns berichtet hast. Sollte sich sein Tod bestätigen, werden wir ein Begräbnisfest
abhalten. Zwanzig Tage danach werden wir den neuen Feueritsucher in sein Amt einweihen.« »Bis dahin werde ich in Kasimarra bleiben«, verkündete ich. »Es gibt viel zu tun. Ich habe von eurer berühmten Bibliothek gehört. Ich brauche…« »Der Zutritt zur Bibliothek ist dir verboten«, schnitt er mir das Wort ab. »Du kannst dich in den Räumen des Feuermeisters aufhalten. Aber du wirst nirgendwo im Tempel irgendwelche Befugnisse haben.« »Ich werde tun, was mir beliebt«, widersprach ich. »Weil ich die neue Feueritsucherin bin.« »Noch bist du nichts, Harsha. Selbst wenn sich der Tod des alten Meisters bestätigen sollte, vergehen immer noch zwanzig Tage, bis sein Nachfolger geweiht wird. In zwanzig Tagen kann viel geschehen.« Er rief einen Befehl, die versammelte Priesterschaft drehte sich um und marschierte Richtung Kasimarra. Sie ließen mich zurück, aber der Wind und die hereinbrechende Dunkelheit waren mir Gesellschaft genug. In Kasimarra lebte ich von den Priestern unbelästigt. Ich beschäftigte mich damit, den weitläufigen Tempel zu erforschen, ging durch dämmrige, verlassene Flure und Säle, verlor mich im Labyrinth der Gänge, Tunnel und Kellergewölbe, erkletterte die Türme und windgepeitschten Balkone. Ich entdeckte riesige Altane, die weit über das Gemäuer hinausreichten, tiefe Schluchten überspannten und auf mir unerklärliche Weise gehalten wurden. Dort gab es uralte Steingefäße mit Resten von Erde und abgestorbenem Wurzelwerk. Sie gaben mir Rätsel auf, diese riesigen, verlassenen Altane. Welchem Zweck dienten sie? Und wie waren Erde und jene längst verwelkten Pflanzen in diese schwindelnden Höhen gelangt? Ich stand am Eingang der Gebetsräume, wo täglich Gottesdienste abgehalten wurden, und nahm an den umständlichen Tempelritualen teil. Ich kam
zu der Erkenntnis, dass ihre Religion mehr dem Ruhm der Priester diente, als dass sie ein Ausdruck ihrer Liebe zu Gott war. Ich betrat auch die Schatzkammern, wo wertvolle Edelsteine, fabelhafte Stoffe, Gefäße voller Gold und unendlich kostbare Kunstwerke aufbewahrt wurden. Ich unternahm Wanderungen im Gebirge um Kasimarra, sah den Männern zu, wenn sie die Pferde aus dem Stall des Feuermeisters ritten, war dabei, wenn die Falkner ihre Vögel fliegen ließen. Auf dem Schießplatz beobachtete ich die Wettspiele der Armbrustschützen. Die langen Abende spukte ich durch den verlassenen Tempel, fand keine Ruhe und sehnte mich nach Teraj. Am liebsten strich ich durch die Flure bei der Bibliothek. Ich erinnerte mich an meine Vision von den Tausenden Buchrollen, den Geruch uralter Tinte, aber die Türen der Bibliothek wurden bewacht, all das Wissen blieb verborgen, gesichert von Schwertern und Maelmors Befehlen. Zu gern hätte ich gewusst, was sich dort verbarg! Ich fühlte mich zunehmend einsamer, sehnlichst wünschte ich mir menschliche Gesellschaft und oft dachte ich an Dannii. Aber ich wagte nicht, sie nach Kasimarra einzuladen. Ihre Zeit würde kommen, wenn ich Feuerfrau war und sie bitten würde, meine Leibdienerin zu werden. Hier und jetzt gab es nur eine, die mir ins Gesicht sah und mit mir sprach. Sie war eine alte Dienerin, die sich um den Feuermeister gekümmert hatte, wenn er in Kasimarra war. Unsere Freundschaft hatte einen besonderen Anfang, sie hatte mich nämlich eines Tages angesprochen, als ich um meinen alten Meister weinte. Sie wollte sich nicht neben mich setzen, weil ich eine Harsha war, aber sie stand nah bei mir, sie sprach zu mir mit einer sanften, tröstenden Stimme. »Auch ich habe ihn sehr geliebt«, sagte sie. »Er war ein Mann, den man einfach lieben musste. Und dennoch war seine Seele einsam. Oft bat er mich, ihm abends in der
Bibliothek Gesellschaft zu leisten und mit ihm zu plaudern. Ich denke, er wünschte sich sehnlichst einen Freund. Ein Feuermeister hat keinen leichten Weg zu gehen.« Damals sagte sie nicht mehr als das, aber ihre Worte trösteten mich. Und sie ließen mich nachdenklich werden. Am nächsten Tag brachte sie mir frische Kleider und ich merkte, dass sie süß duftende Kräuter in die Taschen gelegt hatte. Ich dankte ihr und sie blickte auf meine rechte Schulter, fast in mein Gesicht. »Ich habe ihm vierzig Jahre lang treu gedient. Wenn deine Gesellschaft für ihn gut genug war…« Sie schloss den Satz nicht ab. Von da an sprachen wir oft miteinander, und ich denke, wir lernten einander sehr zu schätzen. Sie war eine große, stattliche Frau und konnte manchmal überheblich wirken. Aber sie besaß einen scharfen Verstand und Humor. Sie hieß Lajken. Obwohl wir keine langen Gespräche führten, stellte die geteilte Trauer um unseren Meister eine seltsame Verbundenheit zwischen uns her. Sie half mir mehr, als sie geahnt haben mag, während jener ersten Tage in Kasimarra. Am Abend des fünften Tages kehrten die ausgesandten Priester von ihrer Reise zur Schlucht, in die der Feuermeister gestürzt war, zurück. Sie teilten Maelmor mit, dass sie seinen Körper zwar gesehen hätten, ihn aber nicht hatten bergen können. Das sei unmöglich, sagten sie. Aber ohne jeden Zweifel sei er tot. Noch am selben Abend ließ Maelmor die großen Fackeln an den Außenwänden vor dem unteren Tempeleingang anzünden und berief das Volk zu einer Kundgebung ein. In die schweigende Menge hinein verkündete er: »Wir haben die Bestätigung bekommen, dass unser Feuermeister, der hochverehrte Feueritsucher Xavier der Vierte, tot ist. Noch heute Abend werden wir zu seinen Ehren das Begräbnisfest abhalten.«
Er machte eine Pause, bis er sich räusperte und sprach: »Mögliche Anwärterin auf das Amt des Feueritsuchers ist Elsha von den Quelten, die bereits ihren Wohnsitz in Kasimarra eingenommen hat.« Einen Augenblick herrschte entsetztes Schweigen, dann setzte Gemurmel ein und schließlich wütender Widerspruch. Die Menge war aufgebracht. Maelmor streckte einen Arm in die Höhe, aber es dauerte, bis Ruhe eingekehrt war. »Es ist nichts entschieden. Noch ist sie nicht zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Die Entscheidung fällt erst in zwanzig Tagen.« Das waren Maelmors Worte. Zur Beerdigung des Feuermeisters betrieben die Erwählten mehr Aufwand, als ich es je auf einem ihrer Feste erlebt hatte. Ich hätte eigentlich eine hervorgehobene Rolle spielen müssen, aber meine Rolle war wie immer mit einem Zwiespalt behaftet. Als Anwärterin auf das Amt des Feueritsuchers hätte ich den ranghöchsten Platz an der Ehrentafel haben müssen, während es mir als Queltin verboten war, überhaupt in die Nähe der Tafel zu kommen. Und damit befand sich Maelmor in einer Zwickmühle, was seine Laune nicht besserte. Zuletzt war seine Lösung, drei Tische decken zu lassen, zwei lange und zwischen ihnen, aber mit einem kleinen Abstand, ein kleiner Tisch, an dem ich sitzen sollte. Auf diese Weise aß ich mit den Priestern, aber doch nicht am selben Tisch. Schon dass ich mit ihnen aß, verletzte wichtige Gesetze. Maelmor saß zu meiner Linken, am zweiten Ehrenplatz, seine geballte Wut war nicht zu übersehen. Mitten während der Festlichkeiten richtete ich das Wort an ihn: »Hoher Priester, die Lage ist für mich nicht minder schwierig als für Euch. Aber wir haben einen langen gemeinsamen Weg vor uns. Lasst Eintracht zwischen uns herrschen. Ich entbiete Euch diesen Weinkelch, um den Frieden zu besiegeln.« Ich hielt ihm den reich mit Edelsteinen verzierten Kelch des Feuermeisters entgegen, aus dem ich
noch nicht getrunken hatte, der also nach dem Gesetz der Erwählten sauber war. Voll Verachtung schlug er mir den Kelch aus der Hand und zeigte mir so, welche Zumutung mein Angebot für ihn bedeutete. Augenblicklich trat Stille ein, alle Augen beobachteten uns. In diese Stille hinein sagte Maelmor mit bebender Stimme: »Nie werde ich aus einem Kelch trinken, den mir eine Harsha reicht. Selbst wenn es der Kelch des Feuermeisters ist, selbst wenn diese Harsha seine Nachfolgerin wäre. Gott hat uns verlassen, jetzt werden wir vom Teufel genarrt. Deine Hände finden das Feuer, auf das wir nicht verzichten können, aber ansonsten stehst du unter den Tieren, du bist mir widerlich. Niemals schließe ich Frieden mit dir, ich verachte dich.« Lange Jahre schweigender Unterwerfung in der Grube hatten mich gestählt. Ruhig stand ich auf, hob den Kelch vom Boden auf und stellte ihn auf meinen Tisch. Ich wusch mir die Hände in der goldenen Schale, die zu diesem Zweck auf meinem Tisch stand. Dann trat ich vor Maelmor und verbeugte mich tief. Ich richtete mich auf und sah ihm erhobenen Kopfes in die Augen. Er lief dunkelrot an vor Wut. »Ihr verdreht die Wahrheit, Maelmor. Gott hat die Erwählten nicht im Stich gelassen, er hat sich der Quelten erinnert.«
Wir fanden zu einer zufrieden stellenden Übereinkunft: Die Priester und ich – wir gingen einander aus dem Weg. Obwohl ich die Gemächer des Feuermeisters bewohnte, wurde mir keinerlei Ehre erwiesen und niemand bezeugte mir Achtung. Ich hatte den Verdacht, sie hofften noch immer auf ein Wunder, auf einen anderen Feueritsucher, einen Erwählten natürlich und männlich.
Und während sie hofften, plante ich meinen Sieg. In Gedanken schrieb ich die neuen Gesetze, welche die Welt verändern würden: Wieder und wieder durchdachte ich jede Einzelheit, feilte daran, verbesserte sie, bis sie mir vollkommen schienen. Meine ganze Macht, mein ganzes Streben sollte darin Ausdruck finden. Ich plante, wie die Gesetze verbreitet und in Kraft gesetzt werden sollten, und wie ihre Einhaltung gesichert werden konnte. Ich entschied, welche Mitstreiter ich für diese gewaltige Unternehmung haben wollte. Ich plünderte die Schatzkammern des Feuermeisters, weil ich Diener bestechen musste, damit sie Botschaften für mich überbrachten. Eine ging an Lesharo. Und ich schickte einen berittenen Boten nach Nordland zu Amasai.
20
WORTE DES PROPHETEN
Der Tag meiner Weihe war auf den siebten Tag des Monats Sabiya festgelegt worden. Bis dahin waren es nur noch zehn Tage. Ich erstieg die oberste Spitze des Tempels, um nach ersten Anzeichen der nahenden Armee Ausschau zu halten. Nur zwei Reiter sah ich, die in eine Staubwolke gehüllt auf Kasimarra zugaloppierten. Am Abend, als ich allein in meinen Räumen saß, kam Lajken und teilte mir die Ankunft eines Quelten mit. Ich bat sie, ihn in die kleine, wunderschöne Bibliothek neben meinem Zimmer zu führen, wo der Feuermeister seine Gäste zu empfangen pflegte und die mit vielen Kostbarkeiten seinen Reichtum bezeugte. Es gab steinerne und geschnitzte Figuren, Gemälde und Schränke voll wertvoller Buchrollen. Trotzdem war dieser Raum nicht überladen, im Vergleich mit anderen Tempelräumen war er geradezu schlicht, und ich liebte diese alten Schnitzereien, die ausgestorbene Fabelwesen abbildeten. Ein Teil der Möbel war aus gröberem Holz, auch einige der Töpferwaren und Webteppiche waren gröber und nicht von ausgebildeten Handwerkern hergestellt. Dieser Raum erinnerte mich in vieler Hinsicht an Terajs Haus. Auf einem der geschnitzten Tische stand sogar ein Delfin aus Bronze und es gab ein Wandgemälde, ganz in Türkis, auf dem sich Delfine tummelten. Die Bibliothek des Feuermeisters atmete Ruhe und ich mochte sie mehr als jeden anderen Raum des Tempels. Aber
als ich mich jetzt aufmachte, um Lesharo dort zu treffen, war mein Herz alles andere als ruhig, es klopfte in meiner Brust wie eine Trommel und ich hatte meine rechte Hand tief in die Tasche meines Kleides versenkt, wo sie die Feueritfrau umklammerte. Er stand am Tisch, als ich die Bibliothek betrat, und war so in die Betrachtung des Delfins versunken, dass er mich zuerst nicht bemerkte. Ich sprach seinen Namen aus, er stellte den Delfin auf den Tisch und drehte sich langsam um. Lange sahen wir einander an, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte sich nicht verändert, nur seine Haare über dem Brandmal waren grauer geworden. Er schien tief gerührt, sein Blick war, als wollte er mein ganzes Wesen in sich aufnehmen, sein blaues Auge glühte voll Liebe. Schließlich kniete er sich vor mir hin und berührte mit der Stirn den Boden. Ich nahm seine Hände und bat ihn aufzustehen. Seine Handflächen waren rau, die Haut schwarz von Feueritstaub. Auch seinen zerrissenen Kleidern haftete der Grubenstaub und der Schmutz der Reise an. Seine Stiefel hatten auf dem gewachsten Holzboden eine Lehmspur hinterlassen. Trotzdem war er vornehm und edel, mein Seelenverwandter und ältester Freund. »Willkommen in Kasimarra«, brach ich das Schweigen. »Es kommt mir vor, als seien hundert Jahre vergangen, seit ich dich zuletzt gesehen habe.« »Es war aber nur eins«, sagte er und entzog mir seine Hände. Zum ersten Mal war eine Wand zwischen uns, eine seltsame Verlegenheit. Lag es daran, dass ich bald zur Feuersucherin geweiht werden sollte, oder war es die Stadt Kasimarra selbst, die ihn einschüchterte? »Setz dich.« Ich deutete auf einen Stuhl. Zum Glück hatte Lajken ein Feuer entzündet, Lesharo saß mir halb zugewandt, aber mit dem blinden Auge auf meiner Seite. Sehr aufrecht saß
er und schaute in die Flammen. »Erzähl mir von zu Hause«, bat ich. »Deiner Familie geht es gut«, begann er und drehte sich ganz zu mir um. »Dein ältester Bruder hat geheiratet. Deine Mutter muss nicht mehr in der Grube arbeiten, es geht ihr gut. Dein Vater… er ist alt geworden. Dein Verschwinden hat ihnen zugesetzt. Und mir auch.« Er sprach leise, aber seiner Stimme war der Kummer eines ganzen Jahres anzuhören. »Es war nicht meine Entscheidung«, erklärte ich. »Ich wurde gerufen. Ich durfte nicht einmal Abschied nehmen. Auch für mich war diese Trennung schmerzvoll.« Lange betrachtete er mein Gesicht. Dann umspielte ein Lächeln seine Lippen und er schaute wieder in die Flammen. »Wir hörten, dass du die Leibdienerin des Feuermeisters geworden seist. Sie haben Lieder über dich gemacht, zu Hause in Siranjaro. Diese Lieder schürten die Sehnsucht nach einem besseren Leben; ein Teil der Grubenarbeiter erhob sich gegen die Aufseher. Zweimal kam die Armee, um die Aufstände niederzuschlagen. Ich bekam Kunde, dass in anderen Gruben Ähnliches geschah.« »Es könnte noch mehr Aufstände geben. In zehn Tagen soll ich in mein Amt eingeweiht werden, ich wünschte, die Armee wäre bereits hier. Ich werde vom Recht des Feuermeisters, die Gesetze zu ändern, Gebrauch machen. Aber die Erwählten…« »… Sie werden gegen dich kämpfen, Elsha. Es wird Krieg geben.« »Dann bete ich zu Gott, dass es richtig ist, was ich tue.« Erst jetzt sah er mir geradewegs ins Gesicht, sein Lächeln war das Lächeln, das ich von ihm kannte und liebte, voll Ernst, Wärme und Ermutigung. »Es ist richtig, Löwenherz. Daran gibt es keinen Zweifel.« »Das sind neue Töne«, neckte ich ihn. »Du hast mir einmal erklärt, Aufruhr sei ihren Preis nicht wert.«
»Es war dumm, das zu sagen. Seitdem du den Feuermeister begleitet hast, haben die Quelten Hoffnung geschöpft. Lange haben wir von einem Aufstand nur geträumt, aber unser Widerstand war schwach und zum Scheitern verurteilt, noch ehe er richtig aufflackerte. Wir waren wie verängstigte Schafe ohne Schäfer. Jetzt haben wir einen Vorkämpfer. Du wirst unsere Revolution führen, und du wirst uns die Kraft dazu geben: eine Feuermeisterin auf unserer Seite und Gesetze, die unsere Ziele unterstützen. In einem einzigen Leben wirst du für uns erreichen können, wozu wir sonst vielleicht Jahrhunderte gebraucht hätten und woran wir womöglich dennoch gescheitert wären. Ich kann dir nicht sagen, was du für uns bedeutest. Für alle Quelten. Für mich. Ich verehre dich, Elsha. Und ich liebe dich. Alle Quelten lieben dich.« Eine lange Weile saßen wir schweigend da, ich war überwältigt von dem, was er gesagt hatte. Dann lag ich in seinen Armen, und sein Geruch, seine Umarmung, die Vertrautheit seines Körpers machten, dass ich mich nach Siranjaro, nach zu Hause zurückversetzt fühlte. Aber wie viel hatte sich in der Zwischenzeit getan! Zwei weitere Tage vergingen, ohne dass ich ein Zeichen von Amasai oder seiner Armee erhalten hätte. Mich beschlich die Furcht, der Bote hätte mein Geld genommen und mich verraten. Dreimal am Tag stieg ich auf die oberste Turmspitze und hielt über Berge und Täler hinweg Ausschau nach Amasais Armee. Ohne ihn war meine Sache verloren. Wenn ich Feuermeisterin war, konnte ich neue Gesetze verfassen und die alte Ordnung auf den Kopf stellen, aber ohne Unterstützung, ohne eine Macht, die diesen Gesetzen Nachdruck verlieh, würde ich nichts erreichen. Ich brauchte Amasai so nötig wie Essen und Trinken.
Lesharo wusste um meine Befürchtungen und seine innere Sicherheit gab mir Kraft. Mit ihm konnte ich über meine Pläne sprechen und wie ich mir ihre Durchführung gedacht hatte. »Es wird eine neue Ordnung geben, die auf der Würde der Quelten beruht und auf ihrer Gleichheit mit den Erwählten. Botschafter werden zu allen Gruben reisen, wo sie die Aufseher in die neuen Gesetze einführen und ihre Einhaltung überwachen werden. Das Brandmal wird abgeschafft. Es wird Ärzte für die Gruben geben, Schulen für die Kinder und Zeit zum Ausruhen. Die Frauen werden sich ihre Männer selbst aussuchen können, Kinder unter vierzehn werden nicht in den Grube arbeiten. Die Aufseher werden keine Peitschen tragen, Streitfälle werden zwischen dem Oberaufseher und einem Stellvertreter der Grubenarbeiter geschlichtet.« »Aber wie willst du wissen, dass die Aufseher sich an die Gesetze halten?«, unterbrach Lesharo sie. »Sobald deine Botschafter weitergezogen sind, kann in den Gruben alles geschehen. Das Leben der Quelten könnte schlimmer werden als zuvor.« »Deshalb brauche ich deine Hilfe, Lesharo. Du verstehst es, mit Leuten umzugehen, du kannst sie beruhigen und führen, du kannst ihnen eine Stimme geben. Ich möchte, dass du alle Gruben bereist und mit den Quelten sprichst. Ich möchte, dass jede Grube einen Abgesandten wählt, der mir dreimal im Jahr Bericht erstattet. Diese Abgesandten müssen das Vertrauen der Quelten besitzen und die Stärke, sich nicht einschüchtern oder bestechen zu lassen. Sie werden mir wahrheitsgetreue Berichte geben. Und falls ich den Verdacht habe, dass meine Gesetze nicht eingehalten werden, dann reise ich selbst zu den Gruben. Würdest du diese Aufgabe für mich übernehmen, Lesharo? Ich werde dich mit allem ausstatten, was du brauchst. Pferde, Kleider, Gold, Wachen, die dich während deiner Reisen beschützen.«
Er beugte sich vor und legte mir einen Finger auf die Lippen. »Du brauchst mich nicht zu überreden, Elsha. Ich werde alles, was in meiner Macht steht, für dich tun. Aber ich denke, dass ich lieber gehe als reite. Pferde sind lästige Tiere, wenn man sie nicht gewöhnt ist. Mir tun noch immer die Beine weh von dem Ritt hierher.« Wir lachten. Er nahm eine Frucht vom Tisch und schälte sie für mich. Gemeinsam aßen wir unsere Abendmahlzeit, obwohl es noch ungewohnt war. Mit Lesharo zusammen zu sein, seine sanften Hände und sein freundliches Wesen zu sehen, gab mir einen Stich, denn es erinnerte mich an Teraj. In meinem Herzen und in Gedanken war Teraj jeden Augenblick anwesend und ich sehnte mich sehr nach ihm. Er hatte mir einen kostbaren Brief geschickt, den ich stets bei mir trug und den ich mit einer Strähne seines dunklen Haares und einem Purpurband um den Delfin gebunden hatte. Aber aus Furcht vor Maelmors Spitzeln wagte ich nicht, ihm eine Antwort zu schicken. Auch Lesharo hatte Sehnsucht; bald nach meinem Verschwinden hatte man ihm eine Frau zugewiesen, die er lieben gelernt hatte. Und er hatte einen Sohn. Es war merkwürdig, aber diese Bindungen änderten nichts an der Verbundenheit, die zwischen uns bestand; wir waren verwandte Seelen, wie Bruder und Schwester. Auch die Leichtigkeit zwischen uns hatte sich wieder eingestellt. Lajken war wie eine Glucke ständig in unserer Nähe, – während unserer gemeinsamen Mahlzeiten saß sie in der Ecke des Raums und stickte. Ich bot ihr einen Becher Wein an, aber sie wollte mit uns zusammen nicht trinken. Sie war immer noch seltsam zwiespältig in ihrem Verhalten, hielt unwichtige Gesetze streng ein und verletzte andere, wichtigere. Sie nahm stundenlang Maß für mein Gewand, das sie selbst nähte, umständlich erklärte sie mir die ausführlichen Rituale zu
meiner Ernennung, sie hörte sich die Rede an, die ich zu meiner Einweihung halten wollte, und half mir bei der Formulierung der neuen Gesetze. Und sie tat noch etwas anderes für mich, das mir mehr bedeutete als all ihre sonstige Hilfe. Als wir allein waren, fragte ich sie, warum die große Bibliothek so streng bewacht war. Sie machte ein bedrücktes Gesicht, ja, sie wirkte beinah, als trage sie eine schwere Last auf dem Gewissen. »Es würde mich Kopf und Kragen kosten, dir das zu erzählen«, sagte sie. »Der alte Feuermeister hat einen Sohn, der mich gelehrt hat, die Hochsprache zu lesen. Und ich bin sehr neugierig auf das, was in diesen gelehrten Büchern geschrieben steht.« Falls diese Mitteilung sie erstaunt hatte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Dafür sah sie mich lange schweigend an und ich hatte das Gefühl, als würde ich bewertet, als würde ein endgültiges Urteil über mich gefällt, über meinen Verstand und meine Seele. Dann sagte sie flüsternd: »In der dritten Stunde nach dem Eintritt der Nacht triffst du mich am Eingang des Ambulatoriums. Wenn dich jemand fragt, sag, es geht dir nicht gut und du habest nach mir geschickt. Ich werde kommen und mit dir warten, bis es sicher ist. Es gibt eine Tür zwischen dem Ambulatorium und dem Teil der Bibliothek, in dem die heilkundlichen Bücher aufbewahrt werden. Von dort aus haben wir freien Zugang zur Bibliothek. Aber, Frau, du darfst niemand ein Sterbenswörtchen davon sagen, auch nicht deinem Queltenfreund.«
Nachts war es eiskalt in den Fluren, selbst auf den Holzböden lag eine dünne Eisschicht. Ich hatte eine Fackel mitgenommen, deren Licht über die steinernen Mauern huschte. Ich hatte das
Ambulatorium schon einmal besucht, als ich Kopfschmerzen hatte und eine Kräutermedizin haben wollte, deshalb kannte ich den Weg. Das Ambulatorium war riesig und nur spärlich erleuchtet. Es gab fünfzig Betten, von denen aber nur drei belegt waren. Die Patienten schliefen, ein Arzt döste neben einem Feuerbecken ganz am Ende des Gangs. Zu meiner Linken war die Wand ganz von Schränken und Wandborden bedeckt, meine Fackel beleuchtete dickwandige Glasflaschen, in denen getrocknete Kräuter aufbewahrt wurden und Kästen für die Operationsbestecke. Wieder überfiel mich eine große Sehnsucht nach Teraj. Ich spürte eine Hand am Ärmel und zuckte zusammen. Es war Lajken. Sie legte den Finger an ihre Lippen und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir ließen den Flur mit den Wandschränken hinter uns, huschten durch einen anderen Flur, der mir endlos lang erschien, vorbei an angelehnten Türen, – unsere Fackeln warfen einen schwachen Schein in die Räume mit schmalen gescheuerten Holztischen. Endlich kamen wir an die letzte Tür. Sie war zu und der Riegel war vorgeschoben, aber sie war nicht verschlossen. Lajken sah über die Schulter nach dem Arzt; er saß unverändert dösend auf seinem Stuhl. Geräuschlos schob sie den Riegel zurück, dann öffnete sie die Tür. Der trockene Geruch uralten Pergaments wehte uns entgegen. Rasch traten wir ein und Lajken schloss die Tür hinter uns, sie knirschte auf dem Steinboden. Wir hielten den Atem an und warteten. Dann sah sie mich mit einem verschwörerischen Hexenlächeln an und zog mich mit. Auch hier brannten Feuer, um die kostbaren Pergamente vor Schimmelpilz zu bewahren. Der Raum war warm und voller Buchrollen. An den Wänden hingen Zeichnungen von Menschen ohne Haut, bei anderen waren die Organe sichtbar. Gebannt starrte ich sie an. Lajken musste mich am Ärmel in den folgenden Raum ziehen, der kleiner und nicht beheizt war. Hier wurden in großen Gläsern
menschliche Exponate aufbewahrt, kranke Organe und andere, verunstaltete Körperteile. Ich musste einen Brechreiz unterdrücken. Lajken trieb mich zur Eile an. Wir hasteten durch einen schmalen Gewölbegang, dann gelangten wir an eine schwere Tür. Lajken stemmte sich dagegen, öffnete sie eine Handbreit und hielt ihr Ohr an den Spalt. Ich hörte nur ihre schnellen Atemzüge. Schließlich war sie zufrieden, niemand war dort, sie gab der Tür einen Schubs. Der riesige Bibliothekssaal von Kasimarra lag vor mir, erleuchtet von Fackeln und Feuerbecken, wie ich ihn in meiner Vision gesehen hatte. Hohe Decken mit gewaltigen Bögen, glänzende Böden mit prächtigen Teppichen und all die vielen Buchrollen. Tausende und Abertausende, ordentlich aufgereiht und mit beschrifteten Etiketten versehen – hier war das ganze Wissen der Erwählten versammelt. Überwältigt schritt ich die Schränke ab, aber Lajken nahm mir die Fackel ab und steckte sie in eine leere Wandhalterung. »Es gibt nur eine Rolle, die du sehen musst«, sagte sie. Ich folgte ihr in einen kleineren Nebenraum, der durch schwere Vorhänge vom Hauptsaal abgetrennt war. Hier wurden die Buchrollen in kostbaren Schränken aufbewahrt. Öllampen hingen von der Decke, der Raum war mit prächtigen Gobelins und Wandgemälden geschmückt. Ich betrachtete die Landschaften, die auf ihnen dargestellt wurden: eine fremde Welt, über die sich ein unendlich blauer Himmel spannte, von seltsamen Tieren bevölkert, grüne Gewächse bedeckten die Hänge. Und im Himmel prangte, mit einer metallisch glänzenden Goldfarbe gemalt, eine majestätische Sonne. »Lajken?«, flüsterte ich ergriffen. »War das die Sonne der Warmzeit? Es muss ein Paradies gewesen sein…« »Elsha, beeil dich«, sagte sie und ihre Stimme klang ehrfurchtsvoll. »Lies das Pergament. Wir können nicht die ganze Nacht hier vertrödeln. Wenn sie uns finden, hat meine
letzte Stunde geschlagen und der Himmel weiß, was sie mit dir anstellen würden.« Ich riss den Blick von den Wandgemälden los und betrachtete die Rolle, die sie mir in die Hand gedrückt hatte. Vorsichtig entrollte ich das Pergament, denn es war trocken und brüchig vom Alter. Der Rand war mit feinsten Blumen und Pflanzen bemalt, die Buchstaben waren wunderschön geschwungen. Aber das Pergament war braun geworden und schwer zu lesen. In die hölzernen Griffe war ein Datum eingeschnitzt, aber ich konnte es nicht entziffern. Ich sah Lajken an. Ihr Gesicht war weiß vor Anspannung. »Ich kann es nicht lesen«, hauchte ich. »Es ist in der Hochsprache geschrieben, aber ich beherrsche sie nicht gut genug.« Sie nahm mir die Rolle ab und ich sah, wie ihre Hände zitterten. »Es wurde vor fünf Jahrhunderten geschrieben«, sagte sie mit ehrfürchtiger Stimme. »Der Feuermeister hat mir davon erzählt. Ich denke, nicht viele wissen, dass es hier aufbewahrt wird.« Sie holte tief Atem, dann begann sie zu lesen. Dies sind die ersten Worte des Volkes der Erwählten, geschrieben von dem Propheten Hamash: Folgendes geschah in den Tagen nach der großen Erschütterung, als die Sterne untergingen und Meteoriten auf der Erde einschlugen, als der Staub die Sonne verdunkelte, als sich die Erdachse neigte und das kalte Zeitalter begann. In diesen Tagen machten sich jene, die nach der Zerstörung übrig geblieben waren, auf die Wanderung, weil sie ein anderes Land suchten, das weniger verwüstet war. Sie fanden dieses Land in den Bergen von Galenia, wo ein friedliebendes reiches Volk wohnte. Es nannte sich das Volk der Quelten. Dieses Volk lebte in großartigen Häusern aus Holz und Stein, die an den Berghängen gebaut und mit kunstvoll geschreinerten Möbeln eingerichtet waren. Sie besaßen eine Stadt, genannt Kasimarra, wo ihr König in
einem Palast lebte. Dieser Palast konnte nur über einen schmalen steilen Pfad erreicht werden, und weil der König friedfertig war wie sein Volk, hatte er keine Armee, um seinen Palast zu verteidigen. Es wurde ein leichter Sieg über ihn und sein Volk, und die schönen Häuser und der Palast wurden von dem neuen Volk besetzt. Das neue Volk nannte sich »Volk der Erwählten«. In jenen Tagen konnte die Kälte einen Mann innerhalb eines halben Tages töten, wenn er nichts hatte um sich zu schützen; das neue Volk brauchte Brennstoff für ihre Feuer, eine stetige Quelle, die ihren Bedarf speisen würde. Zuerst fällten sie alle Bäume, aber dann brauchten sie neuen Brennstoff. Der Brennstoff, der ihr Überleben sichern konnte, lag in dicken Schichten tief verborgen in den Bergen von Galenia, aber ihn zu bergen bedeutete harte, ständige Arbeit. Deshalb machten sie das Volk, über das sie gesiegt hatten, zu Sklaven, die gezwungen wurden, den Brennstoff aus der Erde zu holen. Die Sklaven aber erhoben sich gegen ihre neuen Herren, deshalb erfand das überlegene Volk ein Mittel vollständiger Unterdrückung. Sie erschufen eine neue Religion, in der sie behaupteten, Gott selbst habe die Unterdrücker als sein Volk erwählt und ihnen besondere Kräfte und Weisheit verliehen, damit die Welt nicht an der Kälte zugrunde ging. Diese neue Lehre sollte die Sklaverei rechtfertigen sowie die Unterdrückung des friedlichen Volkes. Die Sklaven wurden gebrandmarkt, ihre Sprache wurde verboten, ihre Religion vernichtet, und alle Rechte wurden ihnen genommen. Jede neue Generation des Herrenvolkes wurde in der neuen Lehre unterwiesen, die besagte, dass das Sklavenvolk keinen Verstand besaß und keine Seele. Es sollte einzig und allein zu dem Zweck leben, den Brennstoff aus den Gruben zu fördern, ansonsten waren sie nicht mehr wert als Tiere.
Nach einiger Zeit gelang es den neuen Herren, die Sklaven selbst glauben zu machen, dass sie weder Verstand noch Seele besaßen und ihren neuen Herren in jeder Hinsicht unterlegen waren. Der Betrug war so vollkommen, dass spätere Generationen beider Völker ihn als einzige Wahrheit anerkannten. Deshalb gab es keinen Widerspruch; die Erwählten wurden zu alleinigen Herrschern und die Quelten wurden, was sie selbst zu sein meinten: Sklaven ohne Stimme und ohne die Kraft, für ihre Rechte zu kämpfen. Und so erhielten die Feuer immer währende Nahrung, denn der Brennstoff ging nie aus. Diese Worte berichten die wahren Begebenheiten zu Beginn des kalten Zeitalters. Sie sind aufzubewahren in der Bibliothek des Queltenkönigs in Kasimarra, wo jetzt die neue Religion der Erwählten ihren Tempel hat. Aufgezeichnet im Jahre Zehn, gerechnet vom Beginn der Kältezeit nach dem Ende der alten Welt.
Ich hörte, wie sie vorsichtig das Pergament einrollte, ich hörte, wie sie es in den Schrank zurücklegte, wie sie dessen Tür verschloss. Aber ich sah sie nicht, denn ich dachte an die Enthüllungen aus dem Pergament, die frühere Welt, warm, grün und blau, bis die Kältezeit begann, als die Erde von der großen Erschütterung heimgesucht und in Staub gehüllt wurde. Damals hatte die Sklaverei ihren Anfang genommen. Es verhielt sich genau so, wie die Quelten es in ihren Mythen und Legenden besangen und berichteten. Und die Erwählten – die Erwählten hatten ihre Religion, ihre gesamte Kultur, ihre Herrschaft auf einer sagenhaften Lüge aufgebaut. Wut packte mich, ein unbeschreiblicher Zorn auf diese infamen Lügner, und dann auch der Ärger auf mein eigenes Volk, weil wir ihnen so lange geglaubt hatten.
Erst dann wurde ich traurig. Und während ich weinte, weinte die alte Lajken mit mir, wiegte mich in ihren Armen und flüsterte mir Trost zu. Ich hätte ohnehin nicht schlafen können. Stattdessen durchwanderte ich die dunklen Flure und ging hinauf auf die verlassenen Altane, wo der Wind an meinen Kleidern zerrte. Ich betrachtete die knotigen Wurzeln längst abgestorbener Pflanzen und dachte an die alten Geschichten, die mein Vater mir erzählt hatte, von den Zeiten, als die Quelten Herren waren und großartige Häuser bewohnten, die auf den Berghängen gebaut waren, – von den riesigen Gärten, die dort unter dem großen Himmelslicht blühten. Ich ersehnte den Morgen, wenn Lesharo mir die alten Lieder vorsingen konnte, die nicht länger bloße Legenden waren, sondern unsere eigene Geschichte. Es dämmerte schon beinah, als ich endlich Ruhe gefunden hatte und in meine Gemächer zurückkehrte. Überrascht fand ich vor meiner Tür eine Dienerin vor, die auf mich gewartet hatte. Sie wirkte wütend. »Du weißt also schon Bescheid?«, sagte sie mit einem Nicken auf meine Kleider. »Bescheid? Ich konnte nicht schlafen.« Sie zog die Augenbrauen hoch und sagte mit einem abschätzigen Ton: »Du hast Besuch. Er hat eine lange Reise unternommen, zu Fuß, nur um hierher zu kommen. Er fordert, dich augenblicklich zu sehen. Er sagt, seine Sache sei außerordentlich dringend. Mehr will er nicht sagen, nur mit dir will er sprechen. Er ist unten im großen Saal. Er wartet.« Voll Erwartung eilte ich die Treppen hinab und betrat den großen Saal, in dem ich auch Maelmor und den Priestern zum ersten Mal gegenübergetreten war. Ich schloss die mächtigen Holztüren hinter mir und sah den Besucher an. Er war kaum älter als ich, hatte lange dunkle Haare, ein dünnes Spitzbärtchen und ein boshaftes Glimmen in seinen dunklen Augen. Er stand unter einer Wandfackel, deren Licht sich in dem geschliffenen Edelstein an seinem schwarzen
Umhang spiegelte. Auch sein Schwert war mit Edelsteinen besetzt, aber seine Kleider waren grau und zerrissen. Ein Diener hatte ihm einen silbernen Kelch mit Wein angeboten, – als ich eintrat, trank er einen langsamen Schluck und musterte mich über den Rand hinweg. Seine ganze Haltung strahlte Hohn und offene Verachtung aus, die Luft um ihn herum zitterte von einer unangenehmen Spannung. »Elsha von den Quelten, ich habe sieben Tagesmärsche hinter mich gebracht um dich zu sehen.« Er löste sich von der Wand und kam ein paar Schritte auf mich zu, wobei er mich mit einem geringschätzigen Blick von oben bis unten betrachtete. Er stieß ein Lachen aus und sah mir in die Augen, als sei ich keine Queltin. »So. Meine große Widersacherin. Sei gegrüßt.« »Dies ist keine angemessene Tageszeit für einen Höflichkeitsbesuch. Ich bin müde. Bring dein Anliegen vor und geh.« »Mein Anliegen, Harsha? Mein Anliegen ist die Kunst des Feueritsuchens. Ich bin gekommen, meinen Platz einzunehmen. Der alte Feuermeister hat mich in seinen Künsten unterwiesen, er hat mich die Gesetze gelehrt und wie man Feuerit aufspürt. Er hat mich zu seinem Nachfolger bestimmt. Ich bin Zune, der neue Feuermeister.« Ich schloss die Augen und versuchte ein Schwindelgefühl zu unterdrücken. »Du machst einen Scherz, nehme ich an«, presste ich hervor. »Er hat nie von dir gesprochen, nie erwähnt, dass er einen Lehrling hat.« »Warum sollte er? Damit hast du nichts zu schaffen, Harsha. Aber als er dich in Talbar zurückließ, ist er bei mir gewesen, um meine Unterweisung zu beenden. Er schlug vor, ich sollte dich zu meiner Leibdienerin ernennen. Ich weiß, dass er
zufrieden mit dir war. Aber dein Auftrag ist erfüllt. Du kannst nach Siranjaro zurückkehren.« »Meine Arbeit hat kaum begonnen«, widersprach ich ihm. »Ich werde den Platz nicht räumen, Zune. Ich bin hier, weil ich die zukünftige Feueritsucherin bin. Ich habe die Probe bestanden, sie hat meine Fähigkeiten bestätigt. Du kannst die Priester fragen.« Er seufzte und stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Ich stelle deine Fähigkeiten nicht in Frage«, sagte er und presste die Zähne aufeinander. »Ich bezweifle nur dein Recht, hier zu sein. Du bist eine Frau. Eine Queltin. Die Erwählten wollen dich nicht. Die Priester wollen dich nicht. Dass du so lange hier bleiben durftest, verdankst du nur deiner Fähigkeit, Feuerit aufzuspüren, sie glaubten, dich zu brauchen. Aber mit meinem Erscheinen bist du überflüssig geworden, deine Fähigkeiten spielen keine Rolle mehr. Denn jetzt bin ich hier.« »Ich will in Frieden abziehen und dich zum Feuermeister ernennen, wenn du nur die Gesetze änderst, so wie ich es fordere.« »Du willst mich zum Feuermeister ernennen? Du forderst Veränderungen?« Er konnte seine Wut kaum noch beherrschen. »Du hast keine Rechte, und du hast keine Forderungen zu stellen! Wie kannst du es wagen, Bedingungen für mein Amt zu stellen!? Ich könnte dir hier an Ort und Stelle mit dem Schwert den Kopf abschlagen und niemand in der Welt würde zu deiner Verteidigung auch nur einen Finger rühren. Du kannst die Gesetze nicht ändern. Die Gesetze gelten seit fünfhundert Jahren. Sie haben eine Ordnung geschaffen, die Wohlstand und Leben ermöglicht hat, wo vorher Tod und Verderben waren.« »Wohlstand für die Erwählten, aber Sklaverei für die Quelten. Ich werde dafür sorgen, dass die Quelten ihre Rechte
und ihre Würde zurückbekommen, ich werde die Lasten mindern, ihnen Zeit für sich selbst geben, Schulen…« »Würde! Schulen! Du bist verrückt, Harsha! Unser Leben hängt davon ab, dass wir Sklaven haben, die das Feuerit aus den Gruben holen. Ein Teil der Gesetze ist vielleicht unnötig hart, ich wäre bereit, sie zu ändern. Darüber habe ich mit dem Feuermeister gesprochen. Du aber sprichst von Veränderungen, die die Grundpfeiler unserer Gesellschaft sprengen. Du sprichst von einer Revolution!« »Bedeuten Würde und angemessene Arbeitsbedingungen Revolution?«, schrie ich erbittert. »Ich fordere nicht mehr, als dass die Quelten wie menschliche Wesen behandelt werden, die Gefühle, Bedürfnisse und Verstand besitzen! Alles, was ich will, ist, dass sie kürzer arbeiten, besser versorgt werden und dass ihre Kinder eine Kindheit haben dürfen. Das verändert das Leben der Erwählten kein bisschen! Ihr könntet noch immer den ganzen Tag faulenzen in euren prächtigen Holzhäusern, angetan mit kostbaren Pelzen, um in euren verlogenen Mythen zu schwelgen. Nichts würde sich für euch ändern.« Er schleuderte den silbernen Kelch auf den Boden, sodass er über das glänzende Parkett rollte und eine Spur blutroter Tropfen hinterließ. »Du bist verrückt!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »An unserer Ordnung wird nicht gerüttelt! Wer sie abschafft, wird Aufstand und Verderben ernten! Ist es das, was du möchtest, Harsha? Bürgerkrieg?« »Nein! Aber ich kenne die Lügen der Erwählten…« »Du wirst Krieg ernten! Schon jetzt streitet man wegen dir. Es gibt Kämpfe zwischen Aufsehern und Quelten, zwischen erwählten Spinnern und den Herrschenden. Sogar in der Priesterschaft gibt es Zwietracht wegen dir. Du kannst hier nicht Feuersucher werden, Harsha. Du wirst nur Aufruhr und Blutvergießen verursachen. Geh nach Hause, geh dorthin, wo es dir beliebt. Aber ich werde Feuermeister.«
»Ich werde meinen Platz nicht räumen.« »Dann muss ich dich töten.« Ich riss mir das Kleid auf. »Hier, mein Herz, es schlägt in meiner Brust. Bitte, schneid es mir heraus und verbrenne es im heiligsten aller Feuer, dem Feuer der Quelten. Für sie bin ich bereit zu sterben. Aber für dich bin ich nicht bereit, meine Sache aufzugeben.« Er zog sein Schwert aus der Scheide und trat auf mich zu. Unsere Blicke trafen sich, hielten einander stand, aber dann war er der Erste, der seinen Blick abwenden musste. »Du sollst einen fairen Kampf haben«, presste er hervor. »Weil dir Gerechtigkeit so viel bedeutet. Ich gebe dir fünf Tage, um hundert Mann um dich zu versammeln, die willens sind, für dich und deine Sache zu kämpfen. In fünf Tagen sollen sie auf hundert meiner Männer treffen, oben auf der Hochebene im Osten von Kasimarra. Dort ist ein altes Schlachtfeld. Gewinnt deine Seite, so ziehe ich meinen Anspruch zurück, ich schwöre es beim Namen Gottes. Aber wenn ich gewinne, wirst du Kasimarra verlassen. Weigerst du dich, so wird es dich das Leben kosten.« »Darin kann ich keine Gerechtigkeit sehen«, hielt ich ihm entgegen. »Ich habe keine hundert Mann. Einen habe ich, mehr nicht.« Er streckte sein Schwert zurück in die Scheide und lächelte mich heimtückisch an. »Immer noch gerechter, als einer wehrlosen Harsha das Herz aus der Brust zu säbeln. Fünf Tage, Elsha von den Quelten. Dann ist Krieg.« Er drehte sich um und schritt erhobenen Hauptes davon. Das Echo seiner Stiefel hallte von den dunklen Wänden wider, mit einem lauten Krachen fiel die Tür ins Schloss.
21
DIE ARMEE AUS DEM NORDEN
Maelmor kam in meine Gemächer und forderte, dass ich sie an Zune abtrat. Ich weigerte mich. Niemand war bereit, mich gewaltsam zu zwingen, weil sie mich dazu hätten berühren müssen, – deshalb wurde Zune in den Gasträumen des Feuermeisters einquartiert. Damit wohnten wir Wand an Wand, aber obwohl er mein Feind war, hatte ich keine Angst, dass er mir Schaden zufügen würde. Sein Wort war das eines Anwärters auf ein hohes Amt, er würde mich nicht töten. Er war keine unmittelbare Gefahr, er nicht. Ich bewegte mich nicht mehr ohne Lesharos Begleitung, und Lajken erlaubte niemandem sonst, unsere Mahlzeiten zu bereiten. Wir tranken nur den Wein aus Flaschen, die sie selbst geöffnet hatte, die sie selbst aus einem der weit verzweigten Keller geholt hatte. Lesharo und ich trugen beide ein Messer. Die Tempelwachen ließen mich im Stich, mir stand kein Diener mehr zur Verfügung. Die Priester waren voll Schadenfreude. Sie hatten ihren Feuermeister und damit in ihren Augen bereits den Sieg errungen. Die Zeit flog nur so dahin, stündlich kletterte ich auf den höchsten Turm und hielt Ausschau nach Amasai, und schließlich, zwei Tage vor der großen Schlacht, sah ich ihn herannahen. Wie ein mächtiger Hornissenschwarm kam er mit seinen Leuten durch den Talgrund auf Kasimarra zu, dunkel drohend und Sieg verheißend. Während wir warteten, bestand Lajken darauf, dass ich mich auf seine Ankunft vorbereitete. »Er ist der Befehlshaber deiner
Armee«, sagte sie und kniete sich hin um mir die lehmigen Stiefel auszuziehen. »Und du wirst bald Feuermeisterin sein. Du kannst ihn nicht empfangen, wenn du wie eine abgerissene Landstreicherin aussiehst.« Ich war am Morgen ausgeritten und dabei übel gestürzt, wahrscheinlich war ihre Beschreibung mehr als zutreffend. Sie scheuchte Lesharo aus meinem Zimmer, bereitete ein Bad, wusch meine Haare und ölte sie mit duftenden Essenzen ein, als sei ich eine Braut. Bis sie sich mit dem Ergebnis zufrieden gab, war ich auch ungefähr so aufgeregt wie eine. Endlos hatte sie an mir herumgezupft, meine Haare gekämmt, mich bekrittelt, und sie war noch immer mit meiner Haartracht beschäftigt, als wir die Pferdehufe auf den Straßen hörten. Zuletzt stieß sie einen befriedigten Seufzer aus. »Lajken, ich werde den Grafen Amasai in der Bibliothek des Feuermeisters empfangen. Bitte, sorg dafür, dass genug Feuerit da ist und dass wir Brot, Käse und Wein haben. Und, bitte, ich möchte nicht gestört werden, wenn ich mit ihm spreche.« »Das fiele mir im Traum nicht ein, Frau«, brummte sie, verbeugte sich und machte sich auf die Suche nach Amasai. Lesharo kam und wechselte ein paar Worte mit mir, um das Warten zu verkürzen. »Gott hat uns in seiner großen Güte nicht nur eine Queltin als Feuerfrau beschert«, sagte er und küsste meine Hände, »sondern auch noch eine ganze Armee, die für unsere Sache kämpft. Oh, Löwenherz, ich spüre, dass ein neuer Wind weht, der den Gang der Geschichte wenden wird.« »Der Wind kann unversehens seine Richtung ändern«, erinnerte ich ihn. »Bete für mich, während ich mit ihm spreche.« »Ich bete ständig für dich«, sagte Lesharo und verließ mich. Kurz darauf trat Amasai ein.
Er war groß und strahlend, wie ich ihn in Erinnerung hatte, seine goldenen Haare reichten ihm über die Schultern, sein brauner Soldatenumhang fiel in weichen Falten über seine einfache Reiseuniform. Er schritt über den vom Feuer beschienenen Holzboden auf mich zu, schaute mir ins Gesicht, dann lag er lang ausgestreckt vor meinen Füßen. »Ich grüße dich, meine zukünftige Feuermeisterin«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich entbiete dir meine Dienste.« Er stand auf und sah mir tief in die Augen. »Nun, Elsha von den Quelten«, sagte er leise mit einem feinen Lächeln. »Ich hätte nicht erwartet, dich gerade hier wiederzutreffen. Und doch war ich nicht allzu überrascht, als dein Bote kam. Ich bin sofort aufgebrochen, wir sind Tag und Nacht geritten. Ich hoffe, das Warten war nicht zu aufreibend.« »Es hat Augenblicke der Unsicherheit gegeben«, sagte ich nur und unterdrückte den verrückten Einfall, ihn zu umarmen. Aber es war wunderbar, ihm einfach ins Gesicht sehen zu können. Er war so schön, so strahlend. Und er hatte sich verändert. Sein Gesicht hatte schärfere Kanten bekommen, mehr Falten, als ob ihn die Erlebnisse des vergangenen Jahres gestählt hätten. Aber gleichzeitig wirkte er stärker, gesammelter, er flößte mir Vertrauen und Hochachtung ein. Er musste ein guter Kommandant sein. Auch die Uniform stand ihm gut, sie kleidete seine stille Leidenschaft in schlichte Strenge, seine Schönheit in Ernst. Er wirkte weniger reich und trug keinen Schmuck außer den Edelsteinen am Heft seines Schwertes. Sein brauner Umhang war aus grober, dicht gewebter Wolle und reichte bis an die Hacken seiner hohen Stiefel. Seine Kleider waren schlicht, dazu gemacht, dem Wetter zu trotzen, aber er besaß auch jetzt noch seine königliche Anmut, seine sanfte Freundlichkeit. Seine Augen waren noch immer von tiefstem Blau, und wenn er lächelte, bildeten sich tausend feine Linien um sie herum. »Ich kann dir
nicht sagen, was dein Hiersein für mich bedeutet.« Das Gefühl zwischen uns war wie damals auf der Reise von Siranjaro, ebenso vertraut, aber ungewohnt. »Auch für mich bedeutet es viel«, sagte er leise und errötete. »Ich habe jeden Tag an dich gedacht, Elsha, seit ich dich zuletzt sah, dort in der Küche in Jinnah.« Hitze stieg mir ins Gesicht und ich entzog ihm meine Hände. »Auch ich habe oft an dich gedacht. Du bist so spät hier angekommen, dass ich schon glaubte, der Sieg sei Zunes.« Amasai sah mich erstaunt an. »Wer ist Zune?« »Du hast es nicht gehört? Oh, Amasai, dann bist du nur durch Gottes Gnade rechtzeitig nach Kasimarra gekommen! Zune behauptet, der Feuermeister habe ihn zu seinem Nachfolger bestimmt. Er hat mich zum Kampf aufgefordert, am zweiten Tag, von heute gezählt. Hundert seiner Männer gegen hundert meiner Männer. Der Sieger wird Feuermeister.« Amasai wendete sich von mir ab, aber ich hatte sein Gesicht schon gesehen und bekam plötzlich Angst. »Wirst du diese Sache für mich auskämpfen?« Er vermied meinen Blick. »Ich weiß es nicht, Elsha. Wenn der Feuermeister Zune zu seinem Nachfolger bestimmt hat, dann mag Zune der neue Feueritsucher werden. Ich sehe keinen Grund für einen Kampf. Wenn ich für dich kämpfe und du wirst Feuermeisterin, du würdest nicht glücklich. Ich glaubte, du seist wegen deiner Fähigkeit, Feuerit aufzuspüren, dazu gezwungen. Ich glaubte, du brauchst mich zu deinem Schutz um Aufruhr zu verhindern. Aber auch das ist nicht notwendig. Du kannst dieses Leben nicht wollen, in dem du deiner Fähigkeit wegen ausgenutzt, sonst aber verachtet und gehasst wirst. Das Leben eines Feuermeisters ist einsam genug, aber dein Leben wäre unerträglich. Jetzt, wo Zune hier ist, warum willst du ihm nicht diese schwere Aufgabe überlassen?« »Es ist nicht, weil ich Feuerit aufspüren kann, dass ich dieses Amt innehaben will. Ich möchte die Gesetze ändern können,
ich möchte das Leben meines Volkes verbessern. Ich brauche die Macht, die das Wort eines Feuermeisters besitzt.« Er sah mich entgeistert an. »Bei Gott, Elsha! Du willst unsere Welt auf den Kopf stellen!« Leise sprach er eine Schutzformel der Erwählten, dann durchmaß er mit langen Schritten den Raum und setzte sich in einen der Sessel am Feuer. Eine geraume Weile schwieg er, die Ellbogen auf den Knien und das Kinn in die Hände gestützt, und starrte in die Flammen. Ich setzte mich in den Sessel auf der anderen Seite des Feuers. »Wir werden uns nicht weigern, das Feuerit aus den Gruben zu holen«, erklärte ich vorsichtig. »Aber wir werden nicht länger wie Sklaven arbeiten, wir werden uns nicht mehr wie Tiere behandeln lassen. Wir werden als Menschen leben, so wie die Erwählten auch.« »Was du mir da erzählst«, seufzte er, »bedeutet, die Grundmauern unseres Daseins einzureißen. Der Feuermeister plante Veränderungen, Elsha, ich weiß, dass er eine tiefe, ernste Liebe für die Quelten hegte, aber er kannte auch die Erwählten, ihr Denken und Fühlen, er wusste, welche Veränderungen er ihnen zumuten konnte und wie schnell. Aber du, du willst alles auf einmal zum Einsturz bringen.« »O nein«, sagte ich und versuchte ruhig zu klingen. »Für die Erwählten wird sich nichts ändern, oder nur wenig. Aber das Leben der Quelten wird von Grund auf anders sein. Ich möchte, dass sie nicht länger als angemessen arbeiten. Ich möchte, dass sie über einen Teil ihrer Zeit verfügen. Ich möchte ihre Armut mildern.« Ich machte eine Pause, sammelte mich. »Du hast nie mit ihnen zusammengelebt, Amasai. Du weißt nicht, wie kalt und zugig ihre Zelte sind, wie wenig Decken sie haben, wie wenig Kochgerät und Essen. Du hast hier und da in den Höhlen des Feuermeisters geschlafen und gemeint, das sei ein hartes Leben. Aber in diesen Höhlen gab es Wein, Pelze und mehr Feuerit, als wir brauchten. Ihr
Erwählten habt für einen einzigen Tag mehr Kleidung als wir während eines ganzen Lebens. Bist du je im Morgengrauen aufgestanden und bist dann, nach einem armseligen Weizenfladen und einer Tasse heißem Wasser mit einem Blatt darin zum Frühstück, in die Eingeweide der Erde hinabgestiegen um den ganzen Tag bis zum Abend Sklavenarbeit zu verrichten? Und dann, nachdem du einen ganzen Tag lang mit der Peitsche angetrieben wurdest, gehst du abends mit steif gefrorenen Kleidern und zerlöcherten Stiefeln nach Hause, wo ein kaltes Zelt auf dich wartet, in dem kein Feuer brennt und deine hungrigen Kinder vor Erschöpfung weinen. Du kochst aus einer Tasse Mais, ein paar Hand voll schimmeligen Mehls und ein paar armseligen Wurzeln ein Abendessen für eine ganze Familie, dann schläfst du ein paar Stunden und im Morgengrauen dreht sich die Mühle weiter. Ich habe so gelebt. Elf Jahre meines Lebens habe ich so gelebt und nicht einen Tag hatte ich für mich selbst. Das ist es, was ich zu ändern gedenke, Amasai. Nicht das behütete Leben der Erwählten, nicht eure Feste und Vergnügungen, eure prächtigen Häuser, euren Reichtum. Nur für die Quelten möchte ich das Leben verändern.« Amasai stand auf und ging in der Bibliothek auf und ab. Ich wartete wie gelähmt. Ich brauchte seine Unterstützung, sonst war meine Sache verloren. Zuletzt hockte er sich neben den Korb mit den Feueritbrocken und warf ein paar davon in die Glut. »Ich verstehe, was du erreichen möchtest, und es ist nur richtig und gerecht, aber die Erwählten werden es nicht kampflos geschehen lassen.« Er nahm einen Feueritbrocken und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht des Feuers. »Wir brauchen diese Steine, Elsha. Und anders als durch Sklavenarbeit bekommen wir sie nicht. Wer würde sich nicht weigern, wenn er die Freiheit dazu hätte, tagtäglich unter diesen Bedingungen ewige Stunden in den schmutzigen
Gruben zu arbeiten, bloß damit andere genug Feuerit bekommen?« Er warf den Feueritbrocken in die Flammen und in seiner Bewegung lag Wut. »Ich weiß einen Ort«, hielt ich ihm leise entgegen, »wo Quelten und Erwählte Seite an Seite in der Grube arbeiten, sie singen und lachen dabei und arbeiten nicht länger, als sie wollen, und sie teilen das Feuerit, wenn sie ans Tageslicht kommen.« »Wo sollte das sein?« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Nein, weil es einen solchen Ort nicht gibt. Es kann ihn nicht geben. Du lebst in einem Traum, Elsha. Es ist unmöglich.« »Dann sollen die Quelten wenigstens Geld für ihre Arbeit bekommen. Gib ihnen bessere Häuser, Essen, Schulbildung und freie Zeit zum Ausgleich für ihre Arbeit in den Gruben. Schaff die Sklaverei ab!« »Elsha! Das werden die Erwählten nie zulassen! Du lebst in einer Traumwelt! Für ihre Art zu leben werden die Erwählten bis aufs Blut kämpfen! Das Höchste, was du erreichen kannst, sind kürzere Arbeitstage für die Quelten, vielleicht eine bessere Versorgung und ein paar Decken für ihre Betten. Aber Schulen, Häuser, ein Leben, das dem Leben der Erwählten ähnlich wäre…« »Es muss sein, Amasai! Sonst ist mein ganzes Leben umsonst gewesen. Warum, glaubst du, hat der Feuermeister mich auserwählt? Warum hat er mich gesegnet, warum hat er mir seine Feuermeisterrobe anvertraut, bevor er in den Tod ging? Und warum hat er dich zum Befehlshaber seiner Armee gemacht? Vielleicht hat er all dies vorausgesehen, den bevorstehenden Kampf, vielleicht wusste er, dass du für meine Sache kämpfen würdest. Du musst für meine Sache kämpfen, Amasai, für die Sache der Quelten. Es ist sein Wille.« Er stand auf und ging zu einem der Fenster. Lange schaute er mit
gesenktem Haupt über die Stadt. Nach einer endlos langen Weile kam er zurück und trat vor mich. Er sah noch immer unsicher aus. »Deine Worte erinnern mich an Dinge, die der Feuermeister gesagt hat, Dinge, die ich nicht verstand. Er sagte, es gäbe einen neuen Feuermeister in seiner Nähe, aber er könne ihn nicht finden. Er sprach davon, dass er keine Wahl habe, dass es schwer sein würde, aber dass sein hoher Traum keinen Mittelweg zulasse. Vielleicht hast du Recht, Elsha. Vielleicht hat er dich für diese Aufgabe vorgesehen – und mich, um an deiner Seite zu kämpfen. Aber ich kann meine Soldaten nicht dazu zwingen. Und ich werde ihnen nicht befehlen, für eine Sache zu sterben, an die sie nicht glauben. Wenn du willst, dass sie für dich kämpfen, musst du ihnen eine Vision geben, für die zu kämpfen sich lohnt. Deine Vision für dein eigenes Volk reicht nicht aus.« »Morgen früh sollen sie ihre Vision bekommen«, versprach ich. Dann gingen wir auseinander. In derselben Nacht begab ich mich heimlich und zum zweiten Mal in die Bibliothek.
In der frühen Morgendämmerung ging ich hinaus aus der Stadt zu Amasai. Er hatte es abgelehnt, in einem der vornehmen Gastzimmer des Tempels zu schlafen, und stattdessen mit seinen Männern vor den Toren von Kasimarra kampiert. Am Himmel zeigte sich kaum das erste graue Licht, Raureif lag auf den Zelten. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, an Zeltwänden und Felsen hatte der Wind den Schnee zu weißen Haufen zusammengefegt. Die Soldaten waren bereits aufgestanden, auf der gefrorenen Erde wurden die ersten Feuer entzündet, über die sie das Wasser für den Tee und zum Waschen in die Flammen hängten. Es war ein Lager für
Tausende Soldaten, ihre Zelte standen in ordentlichen Reihen bis zum Horizont. Ein paar von ihnen sahen mir abwartend, vielleicht sogar feindselig entgegen. War Alejandro irgendwo unter ihnen? Würde er für mich kämpfen? Ich hatte nicht die Zeit, nach ihm zu fragen. Einer der Posten brachte mich zu Amasais Zelt. Amasai stand über eine silberne Schüssel gebeugt und wusch sich. Er hatte nur eine Hose an, weshalb ich seinen Rücken sehen konnte, der von einer langen Narbe gezeichnet war. Der Wasserdampf stieg in die eisige Luft, in der Mitte des Zeltes brannte ein Feuerbecken, aber das Feuer konnte die Luft kaum erwärmen. Amasai hörte nicht, wie der Soldat mein Kommen meldete, und sein Diener war über meine Ankunft so überrascht, dass es ihm die Sprache verschlug. Amasai wusch sich in aller Ruhe das Gesicht und bemerkte mich erst, als er sich nach dem Handtuch umdrehte. Er lächelte und trocknete sich ab. »Entschuldige, dass ich zu so früher Stunde komme, aber ich wollte weder Maelmor noch einem der anderen Priester begegnen.« Amasai grinste. »Warum, Elsha? Hast du etwas Verbotenes getan? Ich meine, außer Kasimarras heilige Luft einzuatmen?« Er zog eine Jacke an und der Diener eilte hinzu um sie für ihn zu knöpfen. Amasai winkte ab. »Lass uns allein. Ich möchte mit dieser Frau sprechen.« Der Diener warf ihm einen erstaunten Blick zu, gehorchte aber. »Setz dich, Elsha«, sagte Amasai und zeigte auf einen niedrigen Klappstuhl. »Es tut mir Leid, dir im Augenblick keinen goldenen Sessel anbieten zu können, das sei auf später verschoben, hoffe ich. So. Was führt dich zu mir?« Er hängte sich einen dicken Pelzmantel um die Schultern und zog einen Stuhl heran, sodass er neben mir saß. Er wollte gelassen wirken, aber ich sah die Anspannung unter seiner Fröhlichkeit.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Unter den Falten meines Umhangs holte ich das Pergament mit den Worten des Propheten Hamash hervor. Amasai nahm es an den Zelteingang mit, wo er es im fahlen Morgenlicht entrollte. Er las schweigend, dann rollte er das Pergament zusammen und schaute lange über die lange Reihe der Zelte, die grauen Berge dahinter. Ich wartete und wagte kaum zu atmen. Noch einmal ließ er seinen Blick über seine Armee schweifen, dann drehte er sich entschlossen um, kam zu mir zurück und setzte sich ans Feuer. Er hielt das Pergament mit beiden Händen über den Knien fest, seine Knöchel waren weiß, als müsste er es mit aller Kraft festhalten. »Ich hatte einmal davon gehört, dass es ein solches Buch gibt«, sagte er in die Stille. »Aber ich habe es nicht geglaubt. Wo hast du es gefunden, Elsha?« »In einem entlegenen Raum der Bibliothek.« »Die Bibliothek wird streng bewacht, jetzt verstehe ich, weshalb.« »Jemand hat mir einen geheimen Zugang durch das Ambulatorium gezeigt.« »Du hast also Freunde in Kasimarra. Sei auf der Hut. Maelmors Spione sind überall.« »Deshalb bin ich vor Tagesanbruch hergekommen. Aber bald werden ihn ohnehin alle kennen, den Bericht des Hamash.« Er hob den Kopf und schaute mir in die Augen. Auf einmal sah er unendlich müde aus, als ob alle Last der Welt auf seinen Schultern ruhte. »Ich kann nicht versprechen, dass ich ihn in alle Welt hinausposaunen werde. Aber ich werde ihn meinen Männern vorlesen. Und dann werde ich sie bitten zu kämpfen. Nicht für die Quelten, nicht für irgendwelche Rechte, sondern für die Wahrheit.« Er seufzte tief. »Es ist bitter, plötzlich zu erfahren, dass alles, woran ich mein Leben lang geglaubt habe, auf einer Lüge beruht. Für dich freue ich mich über das
Pergament, aber für die Erwählten tut es mir Leid. Und ich fürchte die Quelten und ihre Wut, die wie ein Lauffeuer über das Land gehen wird. Dieses Schriftstück besitzt die Kraft, die Welt zu verändern. Es ist viel Unheil geschehen, das wieder gutgemacht werden muss. Aber, Elsha, du musst vorsichtig sein, wenn du es bei dir trägst.« »Ich werde es nicht bei mir tragen«, sagte ich und stand auf. »Ich lege es in deine Hände, Amasai. Du besitzt in diesen Dingen eine größere Weisheit als ich. Ich bin Feueritsucherin, keine Strategin.« »Du hast großes Vertrauen in mich, Elsha«, sagte er ernst, dann lächelte er. »Ich vertraue dir das Schicksal meines Volkes an und mein Leben.«
Lajken empfing mich an der Tür zu meinen Gemächern und meldete, dass Zune ein Treffen mit mir wünschte. »Es ist dringend, Frau«, sagte sie und ihr altes Gesicht wirkte besorgt. »Er ist sehr wütend.« Ich empfing ihn in der kleinen Bibliothek des Feuermeisters. Dort konnte ich seinen Geist am stärksten spüren, deshalb war sie mir heilig, und bei diesem Gespräch mit Zune wollte ich, dass wir beide die Nähe unseres alten Meisters empfanden. Zune war aufgebracht, weißlippig, voller Spannung. Ich bot ihm einen Becher Wein an, aber er überging meine Artigkeit. »Ich hätte nicht erwartet, dass du zu derart niedrigen Mitteln greifen und dir die Unterstützung bezahlter Soldaten kaufen würdest, Harsha. Und Amasai, was hast du ihm als Lohn versprochen? Ein prächtiges Haus in Kasimarra? Reichtum, der für hundert Jahre hält? Nach dem, was der Feuermeister mir von dir erzählt hat, hätte ich angenommen, dass du einen Sinn für Gerechtigkeit hast. Aber deine Ehre ist nicht mehr
wert als die einer verwöhnten Dame, deren Reichtümer ihr jeden Dienst käuflich erscheinen lassen. Du hast die Lage missbraucht, Harsha, aber das Blatt wird sich wenden. Du hast uns alle betrogen.« »Du meinst also, jetzt sei der Kampf nicht mehr fair?«, fragte ich erstaunt. »Du meinst, ich habe dich übervorteilt?« Er fluchte und schüttelte seine Faust vor meinem Gesicht. »Ich schwöre, wer auch immer gewinnt, du wirst diesen Kampf mit dem Leben bezahlen. Einhundert Mitstreiter, das waren meine Worte. Freunde, Fürsprecher. Aber du bestichst einen Heerführer. Bis zum heutigen Tag glaubte ich, Amasai sei ein Ehrenmann.« »Das ist er. Und er ist mein Freund. Ich habe ihn nicht bezahlt. Er und seine Männer werden für mich kämpfen, weil sie an meine Sache glauben. Deshalb kannst du dir deine Vorwürfe sparen. Wenn das Schicksal mir in dieser Sache einen Vorteil verschafft, so magst du mit Gott hadern, aber nicht mit mir.« Schweigend sah er mich an, während der ungläubige Ausdruck auf seinem Gesicht allmählich einer bitteren Verzweiflung wich. »Wenn du möchtest«, sagte ich einlenkend, »können wir die Sache ohne einen Kampf regeln. Wenn wir nach Kräften und im Geiste dessen, den wir beide lieben und achten, zusammenarbeiten. Ich wünsche kein Blutvergießen, ich möchte lediglich ein besseres Leben für die Quelten. Schwöre mir, dass du die Gesetze änderst, dann verlasse ich noch heute diese Räume und du kannst Feuermeister werden.« »Ha!« Er sah mich drohend an. »Die Gesetze ändern! Du bist auf dem Holzweg, und du bist eine Queltin. Sie werden dich in tausend Stücke reißen.«
»Nicht, wenn ich die Einzige bin, die Feuerit aufspüren kann.« »Morgen um diese Zeit wird einer von uns beiden vernichtet sein.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.
22
DIE ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT
Das Schlachtfeld war eine weite Ebene im Osten von Kasimarra, die vom Sturm wie leer gefegt war. Nicht einmal Gras wuchs hier, deshalb wurden an diesem Ort von alters her Schlachten ausgefochten, aber auch Pferderennen, Turniere und Schaukämpfe wurden hier ausgetragen. In seiner Kahlheit wirkte der Platz unversöhnlich, so wie der Kampf, der uns bevorstand. Auf der einen Seite befand sich ein kleiner Hügel, auf dem das gesamte Volk von Kasimarra sich versammeln würde, um der Schlacht beizuwohnen. Mittags um zwölf sollte sie beginnen. Als ich eine Stunde vorher dort ankam, hatte Amasai seine hundert Kämpfer schon versammelt. Alle waren zu Pferde, in ledernen Brustpanzern, hohen Stiefeln, mit Schild und Schwertern gerüstet. Jeder der Männer trug ein weißes Band schräg über der Brust, es war die Farbe, die ich für meine Sache gewählt hatte. Ruhig und gesammelt wirkten die Männer, während Amasai vor den Reihen auf und ab ritt, um ihnen letzte Anweisungen zu geben, ihnen Mut und Stärke einzuflößen. Zunes Männer kamen nur wenig später. In eine Staubwolke eingehüllt galoppierten sie unter wildem Geschrei auf den Kampfplatz. Sie stellten sich an dem anderen Ende auf, unruhig in Erwartung des bevorstehenden Getümmels. Verglichen mit Amasais ernsten Männern waren sie eine wilde Horde. Sie trugen keine Uniformen, sondern bunte Umhänge, die im Galopp hinter ihnen herflatterten, außerdem hatten sie
ihre schwarzen Bänder um die Stirn geknotet. Ich wusste nicht, wo Zune diesen bunten Haufen zusammengetrommelt hatte, aber sie waren begeisterte Streiter auf seiner Seite. Ich selbst stand am Fuße des Hügels, hinter mir die Priesterschaft und dann die Bewohner von Kasimarra. Sie machten beinah noch mehr Lärm als Zunes Männer, denn sie hatten Musikanten mitgebracht, die mit Pauken und Trompeten aufspielten, es gab Marktstände, wo Getränke und kleine Pasteten verkauft wurden; anscheinend sah das Volk den Kampf als eine Art Fest, als Belustigung an. Es herrschte kein Zweifel darüber, dass Zune gewinnen würde. Lesharo wich nicht von meiner Seite. Er hatte angeboten, für mich zu kämpfen, aber Amasai hatte ihn abgewiesen, – er habe fünfhundert und mehr Männer, die allesamt begierig wären, für eine edle Sache zu kämpfen, und alle seien ausgebildet zu diesem Zweck. Lesharo war sehr enttäuscht, aber ich war froh, dass er bei mir war. Die alte Lajken stand ein paar Schritte entfernt rechts von uns, was einem öffentlichen Treueschwur gleichkam. Amasai hatte mir ein weißes Banner überreicht, das über unseren Köpfen im Wind flatterte. Hinter uns flatterte ein ganzes Meer von schwarzen Fahnen. Amasais Männer bildeten zwei lange Reihen am Ende des Schlachtfeldes und er selbst ritt mit gezogenem Schwert an ihrer Spitze langsam der Platzmitte entgegen. Sofort scharten sich die Männer gegenüber hinter Zune und sahen plötzlich beinah ebenso geordnet aus wie ihre Gegner. Zune erhob sein Schwert und ritt in die Mitte um Amasai zu begrüßen. Diese Zeremonie leitete den Kampf ein: Sie wechselten einige Worte miteinander, dann trabten sie zum Rand des Platzes, wo Maelmor und ich ihnen entgegengingen. Zune und Amasai stiegen ab und verbeugten sich, während ihre Pferde schnaubend und aufstampfend warteten. Amasai trat vor mich hin, gesammelt und ernst, aber fast im selben
Augenblick lächelte er und sein Lächeln wärmte mich wie ein Mantel. »In deinem Namen, Elsha von den Quelten, und im Namen der Wahrheit gehe ich in diesen Kampf.« Laut, sodass alle mich hören konnten, gab ich ihm Antwort: »Im Namen des verehrten Feueritsuchers und Feuermeisters, Xavier dem Vierten, und im Namen Gottes, sehe ich Eurem Sieg entgegen.« Dann trat Zune vor Maelmor. »Im Namen der Erwählten Gottes«, sprach Zune, »und im Namen der unvergänglichen Tradition und unserer Weltordnung trete ich den Kampf an.« »Die Erwählten feiern bereits deinen Sieg«, sagte Maelmor und hinter ihm brach wilder Jubel aus. Dann saßen Zune und Amasai wieder auf. Mit einem Schlachtruf auf beiden Seiten begann der Kampf. Die beiden Anführer sprengten auf ihren Pferden der gegnerischen Schar entgegen, ihre Männer folgten ihnen nach und im nächsten Augenblick trafen sie aufeinander. Klingen klirrten, wilder Jubel, entsetzliches Getümmel, Gewieher verschreckter Pferde, Schreie verletzter Männer, all diese schrecklichen Geräusche des Gemetzels drangen auf uns ein, während das Geschehen selbst in eine dichte Staubwolke gehüllt war. Zwischendurch blitzten die Schwertklingen auf, die Körper der kämpfenden Männer traten schemenhaft wie Geister hervor. Auf dem Hügel hingegen war aller Lärm der Zuschauer verstummt und nur der höllische Krach des Krieges, der Männer und Tiere, dröhnte in unseren Ohren. Ewigkeiten brandete das Gemetzel hin und her; zwischendurch gelang es mir für kurze Augenblicke, mich vor dem Geschehen zu verschließen, ich zog mich an einen Ort der Stille zurück um nicht verrückt zu werden. Aber schnell holte mich ein besonders unheimlicher Schrei zurück in die Wirklichkeit und zwang mich, den Kampf zu verfolgen. Ich merkte, dass meine Nägel sich in Lesharos Haut bohrten, so
fest hielt ich seine Hand umklammert, er hingegen schien es nicht zu merken. Dann änderten sich die Geräusche, das Durcheinander ließ nach, die Schreie der Männer klangen verzweifelter, wilder, anderswo hörten wir ersticktes Röcheln. Der Kampf fand jetzt größtenteils auf dem Boden statt, kleinere Gruppen Männer hieben auf einander ein, gleichzeitig lichtete sich die Staubwolke und gab einen Blick auf das ganze Grauen des Kampfes frei. Tote und Sterbende, Männer und Pferde, lagen über die gesamte Ebene verstreut. Männer standen auf und fielen wieder hin, ich sah einen, dem in diesem Augenblick der Kopf abgeschlagen wurde, einem anderen fuhr ein Schwert ins Herz. Der Boden war schwarz, getränkt von Blut, die Luft verpestet vom süßlichen Geruch des Todes und der Qual der Sterbenden. Welche Seite gewinnen würde, war unmöglich festzustellen. Die schwarzen Bänder waren den Männern schon längst von den Köpfen gerutscht, die weißen dunkel von Schmutz und Blut. Nur Zune konnte ich erkennen; er war ganz in Schwarz gekleidet mit der roten Schärpe des Feuermeisters. Ich sah mich nach Amasai und Alejandro um, entdeckte aber nur Amasai, der allein gegen drei von Zunes Männern kämpfte. Atemlos sah ich zu – er siegte! Dann schwang er sein Schwert über dem Kopf und rief seinen Männern einen Befehl zu. Ich verstand die Worte nicht, aber ich sah, wie sich seine Männer um ihn scharten und mit neuen Kräften losschlugen. Und während sie wie beflügelt kämpften, schienen ihre Gegner immer schwächer zu werden. Amasais Männer führten ihre Schwerter mit gezielter Kraft und erschlugen einen Gegner nach dem anderen, kalt und berechnend. Ich sah auch Zune fallen, wieder aufstehen, ein letztes Mal fallen. Nur zwanzig seiner Männer waren übrig, sie alle kamen zusammen und legten ihre Schwerter auf dem blutgetränkten Boden vor ihm
nieder, während Amasais Männer sie mit erhobenen Schwertern umringten. Aber sie gebrauchten ihre Schwerter nicht mehr zum Töten. Das Gemetzel war vorüber, niemand regte sich, alle schwiegen und der Wind trug nur das vereinzelte Stöhnen Sterbender zu uns herüber, Rufe um Gnade, um Hilfe. Amasai stand aufrecht und reglos, der Wind blähte seinen Umhang auf und zerrte an seinen goldenen Haaren. In dieser unbewegten Haltung war er furchtgebietender als im Kampf. Ich drehte mich nach Maelmor an. Er war totenbleich, mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf das Schlachtfeld. »Zune und seine Männer sind besiegt«, sagte er tonlos. »Bei Gott, Harsha, mit diesem Tag endet unsere Welt.« Ich sah, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen, er wandte sich ab und ging so dicht an mir vorbei, dass ich seinen Umhang am Arm spürte und seinen Hass, seine geballte Verzweiflung in meiner Seele. Er ging zurück nach Kasimarra. Die Priester und Tempeldiener folgten ihm. Das Volk blieb wie gebannt stehen und sah ihnen nach. Ich schaute über das Schlachtfeld, wo Amasais Männer die Schwerter ihrer geschlagenen Gegner einsammelten. Dann stellten sie sich im Kreis um Zune und seine Männer und sangen ein Lied zur Feier ihres Sieges. Es war ein Vers aus einer der alten Queltenlegenden, den Lesharo ihnen beigebracht hatte und den ich aus meiner Kindheit kannte. Tränen der Erleichterung verwischten die Bilder vor meinen Augen. Ich hörte, wie um mich herum die Leute aufbrachen, ich hörte fassungsloses Gemurmel und unterdrückte Ausrufe von Ungläubigkeit. Andere liefen schreiend auf den Kampfplatz, wo sie ihre toten Söhne und Brüder beklagten, ihre Verwundeten schulterten. Heulen und Klagen erfüllte die Luft. Amasai stand vor mir. Er war sehr bleich, sehr erschöpft, Blut rann über seinen Mantel, aber er kniete vor mir hin und
berührte den Boden mit seiner Stirn. Lange verharrte er in dieser Stellung. Auch er hatte Tränen in den Augen, als er wieder aufstand. »Meine Feuerfrau«, sagte er heiser. »Ich und meine Männer stehen dir zu Diensten, solange wir leben. Morgen werden wir dir das Geleit geben, wenn du zur Feueritsucherin geweiht wirst. Danach tragen wir deine Gesetze in alle Winkel des Landes und sorgen dafür, dass sie durchgesetzt werden. In allen deinen Vorhaben, sei unserer Treue gewiss.« Ich starrte ihn an. Als ich ihm danken wollte, bewegten sich meine Lippen, aber ich brachte keinen Laut hervor. Er lächelte, hob eine Hand und berührte einen langen Augenblick meine Wange – dann verbeugte er sich und ging zurück zu seinen Soldaten. Ich sah, wie sie sich zu stark gelichteten Reihen formierten, und nun marschierten sie davon Richtung Kasimarra. Kaum eine Hand voll Pferde war noch am Leben und wurde jetzt am Zügel mitgeführt. Jemand nahm mich am Arm, Lajken, denke ich, und sagte, ich solle auch gehen. Aber ich schüttelte den Kopf. Ich war noch nicht so weit. Mit langsamen Schritten wanderte ich über das Schlachtfeld, zwischen den Toten und Sterbenden hindurch, und trauerte für sie. Die Verwundeten wurden auf Bahren in die Stadt getragen, wo sie unter den Händen der Ärzte weitere Schmerzen würden ertragen müssen. Ich sah, dass die Männer grauenhafte Verletzungen erlitten hatten. Ein Mann wurde an mir vorbeigetragen und ich spürte seine Verzweiflung, sein Leiden. Ich schaute ihm ins Gesicht, das unter Blut und Schmutz kaum zu erkennen war, – sein Bein hatte eine Wunde, die bis auf den Knochen reichte, das Blut pulste daraus hervor. Ohne nachzudenken streckte ich eine Hand nach ihm aus und die Träger blieben stehen. Ich berührte seinen Arm, seine eiskalte Hand. Sie war glitschig vom Blut. Ein dunkles, mächtiges Gefühl zerrte an mir, ich spürte, wie sich die Erde drehte und
schaukelte. Ich spürte die Kraft brennenden Feuerits, die mich in die Tiefe zog, immer tiefer in dunkelste Schichten, wo ich auf seine Seele traf. Entsetzt ließ ich seine Hand los, weil ich plötzlich begriff, dass es Zune war. Ich beugte mich über ihn. »Du wirst das Begräbnis eines Feuermeisters bekommen, weil er dich zuerst dazu bestimmt hat. Erst später hat er mich und meine Bestimmung erkannt.« Er bewegte seine Hand und berührte mich; dann trugen sie ihn weg. Man berichtete mir später, dass er genau vor den Mauern des Tempels gestorben sei, am Anfang des steilen Weges, der dem Feuermeister vorbehalten war.
23
MEIN MORGEN
In der Nacht nach dem großen Kampf schlief ich nicht. Ich denke, halb Kasimarra schlief nicht in jener Nacht. Um Mitternacht herum setzte heftiger Schneefall ein, bald lag die nächtliche Stadt wie unter einer weißen Decke begraben. Aber obwohl alle Fensterläden verschlossen, alle Vorhänge vorgezogen waren, vernahm ich das Wehgeschrei der Leute unten in der Stadt. Auch im Tempel herrschte Trauerstimmung, die Priester klagten und zerrissen ihre Roben. Lesharo und ich hatten bis lange nach Mitternacht miteinander gesprochen. Wir aßen ein einfaches Mahl und tranken einen Becher Wein dazu, wir beteten. Er hielt mein Gesicht zwischen seinen Händen, küsste mein Brandmal und weinte dabei. »Dies ist dein Morgen, Löwenherz, und der große Tag für die Quelten.« Bald darauf ging er zu Bett, aber für mich war an Schlaf nicht zu denken. Ich begab mich ins Ambulatorium, wo ich den Ärzten half, die ohne Unterbrechung gearbeitet, aber immer noch viele Verwundete nicht versorgt hatten. Dort entdeckte ich endlich auch Alejandro. Ich hatte ihn im schummrigen Licht der Fackeln nicht gesehen, aber als ich an den Bettreihen entlangging, hielt mich einer der Soldaten am Ärmel fest, und ich sah, dass er es war. Er war an der Brust verwundet und am Anfang der Nacht operiert worden. Neben seinem Bett brannte, damit er nicht fror, ein Feuerbecken, in dessen mattem Lichtschein Alejandro sehr blass aussah. Blut sickerte durch seinen Verband.
»Ich grüße dich, Feuerfrau«, sagte er mit dem ihm eigenen, schelmischen Lächeln, obwohl das Sprechen ihm sichtlich Schmerzen bereitete. »Ich würde gern vor dir auf die Knie gehen, um dir meine Ehrerbietung zu beweisen, wenn ich nicht fürchten müsste, dabei umzufallen und dir die Füße mit Blut zu verschmieren.« »Du hast mir genug Ehre erwiesen, indem du für mich gekämpft hast.« »Oh, das war nicht mehr, als jeder aufgeklärte Mann tun würde«, sagte er lachend, aber sein Lachen ging in qualvollen Husten über und er wandte den Kopf ab. Ich setzte mich auf die Bettkante, nahm seine Hand und wartete mit ihm, bis der Schmerz nachließ. Er kam mir reifer vor, geläutert. Die Monate in der Armee hatten ihn gestärkt, aber ich war froh zu sehen, dass er weder seine unverblümte Art noch seinen Charme eingebüßt hatte. Er schaute mich wieder an und in seinen grünen Augen tanzten Funken. »Elsha, du hast also das Unmögliche erreicht. Heute wirst du Feuermeisterin.« »Ich hätte es nie allein erreichen können. Ich danke dir von Herzen für deinen Teil daran. Es war ein mutiger Sieg.« »Es war nur der erste, Elsha. Wir werden noch viele Kämpfe zu bestehen haben, die nicht alle auf dem Schlachtfeld gewonnen werden. Die härtesten Kämpfe sind jene in den Herzen der Leute, der Kampf gegen Vorurteile und Traditionen. Ich weiß es, denn ich habe ihn selbst ausgefochten.« Er verzog den Mund zu einem Lächeln, dann schloss er die Augen. Ich stand auf und wollte gehen, aber er umklammerte meine Hand. »Elsha, ich muss dir noch etwas sagen. Über den Bericht des Propheten.« Er wurde noch weißer im Gesicht, musste alle Kraft sammeln und befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, ehe er weitersprach. »Ich kann dir nicht sagen, wie wütend es mich gemacht hat. Unsere ganze Vergangenheit, unser Leben,
alles beruht auf einer Lüge. Und wenn Leute wie ich das alles in Frage gestellt haben, weil wir sahen, dass ihr Quelten Menschen wart wie wir, dann nannten sie uns Ketzer und ließen uns in der Armee verschwinden, wo wir hoffentlich einen ehrenvollen Tod sterben würden. Ich schäme mich, ein Erwählter zu sein, ich schäme mich…« Er wurde von einem neuen Hustenanfall geschüttelt und biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. »Ruhig«, sagte ich. »Du hast dir nichts vorzuwerfen, genau wie ich mir nichts vorzuwerfen habe. Wir alle sind Teil eines Ganzen, der Fehler liegt bei denen, die schon lange tot sind.« »Aber dieser Fehler muss wieder gutgemacht werden!«, ereiferte er sich. »Es reicht nicht, die Gesetze zu ändern, Elsha, es reicht nicht, das Leben der Quelten zu erleichtern. Ihr habt ein Recht auf wahre Freiheit…« Sein Husten unterbrach ihn, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nach einer Weile entspannte er sich wieder und er lächelte matt. »Welch ein Widersinn, Elsha, begreifst du nicht? Indem du die Gesetze änderst und das Leben der Quelten erleichterst, unterstützt du die Sklaverei.« »Nein, Alejandro«, widersprach ich. »Es ist der Anfang eines besseren Lebens für Quelten und Erwählte gleichermaßen. Noch aber sitzen wir alle in der Falle und selbst ein Feuermeister kann den Ruß nicht vom Himmel wischen.« »Vielleicht kommt es von selbst«, sagte er, beinah flüsternd. »Der Himmel verändert sich, ich habe es selbst gesehen. Manchmal ist er rot, zur Zeit der Dämmerung. Amasai sagt, das Feuerit sei anders jetzt; es raucht weniger. Ich glaube, der Ruß nimmt ab…« Eine neue Vision tauchte vor meinen Augen auf. »Wenn ich einen Brennstoff finden könnte, der keinen Rauch macht, könnte der Himmel dann klarer werden? Meinst du, es gibt solches Feuerit?«
Durch seine Schmerzen hindurch lächelte er. »Ich weiß es nicht, du bist die Feueritsucherin.«
Auf dem Weg in mein Zimmer kam ich an einem der hoch gelegenen Altane vorbei, von dem aus man den Tempelhof, die turmhohen Mauern und den westlichen Teil der Stadt überblicken konnte. Dahinter, auf den Berghängen, brannten in der grauen Morgendämmerung die Begräbnisfeuer, und ganz oben sah ich einen hohen Scheiterhaufen, um den herum schwarze Fahnen flatterten. Dort sollte Zune den Flammen übergeben werden. Gleichzeitig waren die Priester damit beschäftigt, die farbenprächtigen Wimpel zu Ehren meiner Weihe zu hissen, über die Fenstersimse und Balkone waren kardinalrote, golddurchwirkte Tücher gehängt, auf die das Zeichen des Feuermeisters gestickt war. Auch die Stadt war geschmückt. Bunte Banner waren über die Straßen gespannt und die große Straße nach Kasimarra, der Weg meines Triumphes, war schon jetzt mit Tausenden von Fackeln beleuchtet. Ich wusste, dass im großen Saal prächtige Teppiche ausgerollt waren und auf einem geschmückten Podest, umgeben von Feuerbecken, ein goldener Thron aufgebaut war. Aber gleichzeitig wurde in den Straßen getrauert und geklagt, die Leute waren unruhig, dumpfe Gefahr lag in der Luft. Aus der Ferne hörte man Geschrei, Schlägereien, das Grummeln eines nahenden Aufruhrs. Ich ging hinauf in den höchsten, den heiligsten Raum des Tempels, wo ich lange im Gebet verharrte. Als ich schließlich in meine Gemächer zurückkehrte um zu baden und mich für die Zeremonie zu kleiden, wurde ich von Lajken bereits erwartet. Meine Robe, die sie eigens für mich angefertigt hatte, lag achtlos über dem Bett, und meine Einweihungsrede, für die
ich an jedem einzelnen Wort, an jedem Satz gefeilt hatte, lag in Schnipsel zerrissen auf dem Boden. »Die Zeremonie findet nicht statt!«, rief mir Lajken aufgebracht entgegen. »Maelmor hat verkündet, eine Weihefeier würde nicht stattfinden! Er verweigert dir die wichtigste Zeremonie!« Mir wurde kalt. »Das ist unmöglich. Ich habe den Kampf gewonnen. Er muss mich zur Feuermeisterin ernennen. Das Volk kann ohne Feueritsucher nicht überleben.« »Darum geht es auch gar nicht«, sagte sie und raufte sich die Haare. »Aber hörst du nicht die Aufwallungen draußen? Bis zu den Feierlichkeiten sind es noch zwei Stunden und jetzt schon müssen die Soldaten eingreifen um die Leute in Schach zu halten. In der Stadt sind schon ein paar Dutzend zu Tode getrampelt worden! Die Masse kocht! Blut fließt vor den Tempeltoren. Wenn Maelmor eine öffentliche Zeremonie für dich abhält, wird die gesamte Stadt in Aufruhr geraten, deshalb will er eine kleine Feier abhalten, an der nur er selbst und zehn Priester als Zeugen teilnehmen. Amasai ist schon seit Stunden bei ihm, um ihn zu überreden, dich mit allem Pomp und der ganzen Ehre, die einem Feuermeister zusteht, für dieses Amt zu weihen. Er hat Maelmor gedroht, auf deiner Seite zu kämpfen, falls es zu einer Schlacht kommt. Oh, ich habe noch nie erlebt, dass ein derartiges Durcheinander die Ruhe des Tempels stört, mein ganzes Leben nicht.« »Wo sind sie jetzt?« Es galt, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn schon Lajken so außer sich war. »Maelmor und Amasai? In den Gemächern des Oberpriesters.« »Bring mich dorthin.« »Frau! Das ist unmöglich, seine Gemächer…« »Du musst! Ich muss mit Amasai sprechen. Er kämpft um etwas, das ganz unwichtig ist.«
Ich schob Lajken, die sich trotzig gegen mich stemmte, vor mir her durch die Tür, doch schließlich brachte sie mich zu Maelmor. Entsetzt schaute er mich an, als ich eintrat. »Was hast du in diesen Räumen verloren, Harsha?«, fauchte er. »Ich muss mit Euch über meine Antrittszeremonie sprechen«, gab ich ruhig zurück. »Diesmal sind wir gleicher Ansicht, Maelmor. Es ist genug Blut vergossen worden. Alles, was wir brauchen, ist ein ruhiger Ort, wo ich vor Zeugen meinen Eid ablegen kann, damit Ihr mich zur Feuermeisterin ernennen könnt.« »Das ist nicht genug«, mischte sich Amasai ein, der am Fenster stand. »Elsha, ich kann nicht zulassen, dass man dir nur heimlich Ehre erweist, als ob du einer richtigen Zeremonie nicht würdig wärest. Und wenn ich ihnen das Schwert zwischen die Rippen setzen muss, damit sie dir Ehre erweisen, werde ich sie eben zwingen, dir zu huldigen, jeden einzelnen der Bürger von Kasimarra.« »Was ist das für eine Huldigung, Amasai? Es ist noch nicht lange her, dass du mir erklärt hast, du könntest deine Männer nicht zwingen, für eine Sache zu kämpfen, an die sie nicht glauben. Wie kannst du jetzt die Bürger von Kasimarra zwingen wollen, mir ihre Huldigung zu erweisen, wenn sie mich zutiefst verachten? Der Stahl richtet nichts aus in den Herzen der Leute. Das Schwert bringt nur Trennung und Tod. Ich will Versöhnung zwischen Quelten und Erwählten. Ich möchte Gleichheit.« Maelmor stieß ein bitteres Lachen aus. »Gleichheit!« »Gleich sind wir schon jetzt«, sagte ich. »Nur dass ihr Erwählten nichts davon wissen wollt, noch nicht.« Maelmor überging meine Bemerkung. »Es wird also eine einfache Zeremonie geben, an der als Zeugen nur die Priester teilnehmen.«
»Nicht nur Priester«, wendete ich ein. »Ich brauche Zeugen, denen ich vertrauen kann. Lesharo und Amasai.« »Und es reicht dir, deinen Eid zu schwören, um dich dann als Feueritsucher auf die Reise zu begeben?« »Es reicht mir, dass ich zur Feuermeisterin ernannt werde, damit ich die Gesetze ändern kann.« Unsere Blicke trafen sich. »Keine neuen Gesetze, Harsha.« »Wenn ich Feuermeisterin bin, wird es Reformen geben.« »Und wenn ich sie außer Kraft setze?« »Dann werde ich kein Feuerit aufspüren.« »Das ist nicht dein Ernst!« »Es sind die Lügen der Erwählten, die uns den Tod bringen, Maelmor, ihre Verbohrtheit und ihr falscher Stolz.« Er trat auf mich zu, das Hand am Heft seines Schwertes, aber Amasai war schneller und setzte dem obersten Priester die Spitze seines gezückten Schwerts auf die Brust. Maelmor kümmerte sich nicht darum, er sah mir mit einem eiskalten Blick in die Augen: »Was gibt dir das Recht, uns als Lügner zu bezeichnen?« »Der Bericht des Propheten Hamash.« Mit einem Ruck drehte Maelmor sich um und ging zum Fenster. Gesenkten Hauptes blieb er stehen und schaute hinab auf sein Reich, in dem sich über Nacht alles geändert hatte. Amasai steckte das Schwert in die Scheide und sah mich prüfend an. »Bist du dir deiner Sache sicher, Frau?« »Sehr sicher. Das einzig Wichtige ist, dass ich als Feuermeisterin eingesetzt werde, damit ich die neuen Gesetze verkünden kann. Danach brauche ich deine Soldaten, damit sie die Gesetze an allen Orten des Landes bekannt machen und ihre Verwirklichung überwachen.« »Du hast bereits mein Wort darauf.« Er lächelte, dann fügte er mit einem Seitenblick auf den gebeugt am Fenster stehenden Oberpriester hinzu: »Aber ich muss meine Enttäuschung
bekennen. Ich hatte mich auf die großen Feierlichkeiten gefreut. Eine Harsha wird zur Feuermeisterin gemacht… Das geschieht nicht alle Tage!« Ich lächelte zurück. »Ich werde dich nicht enttäuschen«, versicherte ich ihm. »Ein wahrer Sieg kommt nicht immer mit Pomp und schmetternden Trompeten einher.« Für die ausführliche Zeremonie nach Sitte und Tradition hätte ich auf der breiten Straße in die Stadt schreiten müssen, durch die Menschenmenge bis hinauf zu den Toren des Tempels. Ich hätte ein einfaches, weißes Hemd getragen, das die Reinheit im Geiste der Erwählten hätte verdeutlichen sollen, aber ich hatte ohnehin nicht vorgehabt, dieses weiße Hemd zu tragen, sondern hätte stattdessen das graue Gewand einer Harsha angehabt. Erst später, nachdem ich meinen Eid gesprochen hätte, sollte ich die kardinalrote Feuermeisterrobe anziehen. Ich wusste nicht, wo Lajken auf mein Geheiß hin ein Harshakleid aufgetrieben hatte, – es war zerschlissen vom langen Gebrauch und, obwohl sie es mehrfach gewaschen hatte, noch immer fleckig vom Feueritstaub aus der Grube. Sie entschuldigte sich wortreich dafür, aber ich beruhigte sie, weil es für meinen Zweck vollkommen passte. Die Zeremonie war ohnehin so stark verkürzt worden, dass auch der Kleiderwechsel keinen Sinn mehr machte, weshalb ich mich entschied, nur das graue Gewand der Quelten zu tragen. Maelmor wurde rasend, als er mich in diesem Aufzug erblickte, und grollte, das Amt der Feuermeisters werde in den Schmutz gezogen. Ich erwiderte ihm, dass ich die Kleidung des vornehmsten Volkes trug, das ich kannte. Ohne ein weiteres Wort begann er mit der Zeremonie. Zum Glück war er einverstanden gewesen, sie in der kleinen Bibliothek abzuhalten, wo mir der Geist meines alten Meisters näher war als auf den prächtig geschmückten Straßen von Kasimarra. Hier in der Bibliothek hängte mir Maelmor ein
eigens für diesen Zweck angefertigtes Feuermeisterzeichen um den Hals, hier erklärte er mich zur Feueritsucherin und hier legte ich den Eid ab. Und während ich den Eid sprach, liefen Tränen über meine Wangen, weil ich damit mein ganzes bisheriges Leben aufgab. Ich schwor, unablässig im Dienst derer zu stehen, die neue Feueritgruben brauchten, Feuerit aufzuspüren, wo es gebraucht wurde, und die Wärmequelle zu unterhalten, auf der alles Leben beruhte. Ich schwor, gerecht zu richten und meine Macht nie zu meinem eigenen Vorteil zu nutzen oder mich persönlich zu bereichern. Ich weihte dem Feuerit, das in der Erde verborgen lag, meinen Körper; meinen Willen weihte ich dem Ziel, menschliches Leben zu erhalten, und meinen Geist weihte ich dem Feuer. Als ich meinen Eid abgelegt hatte, reichte mir Lesharo die Pergamentrolle, auf der meine neuen Gesetze geschrieben standen. Vor den fünf anwesenden Priestern, den fünf Soldaten, dem verbitterten Oberpriester, einem mächtigen Vertreter der Erwählten sowie meinem ältesten Queltenfreund verlas ich die neuen Gesetze. Auch jetzt, während ich sie verlas, liefen Tränen über meine Wangen, denn sie enthielten alle meine Träume und Hoffnungen, die ich mein ganzes Leben lang als meinen heiligen Schatz gehütet hatte. Endlich würde meinem Volk mehr Gerechtigkeit widerfahren und sie würden eine Art Freiheit erlangen. Gleichzeitig wusste ich, dass meine Gesetze Zwist und Wut und Blutvergießen hervorrufen würden, aber auch Genesung und später vielleicht das Ende der Sklaverei. Noch während ich die Pergamentrolle verlas, hörte ich draußen die traurigen Geräusche von Tumult und Aufruhr, und zugleich spürte ich, wie Gott einen Mantel der Stille um mich legte, als ich ihn um Beistand anflehte.
Und obwohl ich allein war mit der neuen Aufgabe, zu der er mich berufen hatte, trug ich zugleich doch ein ganzes Volk in meinem Herzen.
24
ZUM LICHT
Und damit änderte sich das Leben für die Quelten. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hatte mein Volk eine Stimme, Würde und ein kleines Stück Freiheit. Aber nichts davon wurde auf einfachem Wege gewonnen. Auch auf dem zweiten der drei jährlichen Treffen, wenn die Abgesandten der Quelten aus allen Gruben nach Kasimarra kamen, wurde die Freude über ihre Erfolgsberichte aus den Gruben von Nachrichten über blutige Auseinandersetzungen getrübt. Die Fackeln im großen Saal waren beinah heruntergebrannt, als der letzte Abgesandte sich von seinem Stuhl auf der anderen Seite des Tisches erhob, sich tief verbeugte und zu Bett ging. Erschöpft lehnte ich mich zurück und schaute zu Alejandro, der neben mir saß. Auf einer Pergamentrolle schrieb er alles nieder, was der letzte Abgesandte berichtet hatte. Er schrieb schnell und zierlich, seine Hände schimmerten golden, als sie im Fackelschein über das helle Pergament eilten. Schließlich unterschrieb er den Bericht, legte die Feder beiseite und streute Sand über die Schriftzeichen, damit die Tinte schneller trocknete. Er stützte den Kopf in die Hände. »Der Kampf geht weiter«, stöhnte er. »Jeden Tag übertritt irgendwo, irgendwie eine Gruppe Erwählter das Gesetz. Du hast viel erreicht, Elsha, aber der Weg bis zu einer gerechteren Ordnung ist noch lang.« »Ich weiß«, sagte ich leise. »Du selbst hast mir einmal gesagt, dass es nicht ausreicht, die Lebensbedingungen der
Quelten zu verbessern. Vor langer Zeit waren wir ein freies Volk, groß und stark.« »Gott, Elsha, nicht noch mehr Ideen«, sagte er und erhob sich mühsam vom Stuhl. Er lächelte, aber sein junges Gesicht wirkte abgehärmt und müde. Er sammelte die Pergamente zusammen und rollte sie sorgfältig auf. Später würde er sie an Amasai weiterreichen. »Fünf Abgesandte haben nicht berichtet«, stellte er fest. »Entweder ist ihnen unterwegs etwas zugestoßen oder in ihren Gruben herrscht so viel Aufruhr, dass sie nicht reisen können. Amasai wird diese Gruben besuchen müssen und die anderen, in denen immer noch Zwietracht herrscht. Ich habe gesehen, wie er mit den Erwählten umgeht, die deine Reformen nicht in Kraft setzen. Er ist hart zu ihnen, Elsha, aber gerecht. Er arbeitet mit aller Kraft für deine Sache.« »So wie auch du«, sagte ich. »Du bist mir ein treuer Freund, Alejandro.« »Nicht treuer als alle anderen, die dich lieben«, sagte er zärtlich und sein Blick schweifte in die Ecke des Saales, wo Dannii wartete. Sie hatte sich mit Lesharo unterhalten, der heute als Abgesandter aus Siranjaro hier war. Auch Lajken hatte bei ihnen gesessen. Es war spät geworden, und Dannii saß allein auf einem der Samtkissen neben einem Feuerbecken; mit angezogenen Knien las sie in einer Schriftrolle, das Kinn in die Rechte gestützt. Sie war sehr schön in den farbigen Kleidern einer Leibdienerin, mit silbernen Armreifen und roten Bändern in ihrem schwarzen Haar. Die Bänder und Armreifen hatte sie von Alejandro geschenkt bekommen, der sie in den Höhlen versteckte, wo wir auf unseren Reisen übernachteten. Alejandro war mein oberster Diener geworden, ihm oblag es, die Höhlen mit Vorräten auszustatten, aber er beschränkte sich nie auf das Notwendigste. Er hinterließ Geschenke für uns
beide, in Seide eingewickelt, die er unter Steinen oder in Felsspalten versteckte. Aber die schönsten Geschenke waren immer für Dannii, obwohl sie es lange nicht zugeben mochte. Jetzt wartete sie auf Alejandro, damit sie gemeinsam noch einen letzten Becher Wein trinken konnten. »Sei vorsichtig«, mahnte ich ihn. »Noch gelten viele alte Gesetze der Erwählten und wir werden ständig überwacht.« Er lächelte sein bezauberndes Lächeln. »Keine Sorge, ich bin nicht mehr so wild wie in alten Zeiten.« Ich wünschte ihm und Dannii eine gute Nacht und ging in mein Schlafzimmer. Aber ich konnte nicht schlafen. Im Zimmer tanzten die Flammenschatten und ich dachte an Teraj. Er hatte mir mehrere Briefe geschickt, die mir wegen Maelmors Kundschaftern, die überall ihre Augen und Ohren hatten, heimlich übergeben wurden. In seinem letzten Brief teilte er mir mit, dass er sein sicheres Tal verlassen hatte, um die Gruben und Städte zu besuchen, wo die Kämpfe sehr heftig waren und es viele Verwundete gab. Ich machte mir Sorgen, wie es ihm an diesen Orten des Aufruhrs erging, aber ich wusste, dass ich es gespürt hätte, wenn ihm etwas zustieß. Er hatte geschrieben, dass er an der Schwelle zwischen Tag und Nacht und zwischen Nacht und Tag an mich dachte, – auch ich dachte während dieser Zeit an ihn und während der langen Tage dazwischen auch. Ich wagte nicht, ihn zu besuchen. Ich konnte neue Gesetze verkünden, die das Leben der Quelten veränderten, aber noch war die Zeit nicht gekommen, auch die Gesetze zu ändern, in denen die Traditionen und Vorstellungen der Erwählten seit Jahrhunderten festzementiert waren. Noch immer galt das Gesetz, durch das jede Annäherung zwischen Erwählten und Quelten verboten war.
Es dauerte fast ein Jahr, bis sich die verbesserten Bedingungen für die Quelten durchgesetzt hatten, und ohne Amasai und seine Soldaten wäre es überhaupt nicht gegangen. Sie reisten noch in die abgelegensten Bergstädte, um die neuen Gesetze überall zu verbreiten. Zwischendurch kam Amasai immer wieder nach Kasimarra um mir persönlich von den Fortschritten zu berichten. »Während des vergangenen Monats sind wir in den äußersten Ecken des Landes gewesen«, sagte er bei seinem letzten Besuch. »Wir haben herrenlose Quelten getroffen, die schon seit Jahren unter würdigen Bedingungen leben, weil sie das, was du mit deinen Gesetzen bezweckst, bereits praktizieren. Ich wünschte, wir hätten diese Reformen schon vor hundert Jahren eingeführt oder noch früher.« »Es gibt für jedes Ding die rechte Zeit«, sagte ich und musste an den geheimen Ort denken, wo Teraj zu Hause war. Und wo auch ich hingehörte. Amasai lächelte. »Ich bin erstaunt, dass so viele Leute bereitwillig gelernt haben. Quelten und Erwählte haben sich gegenseitig geholfen. Gelegentlich entstand Unruhe oder Verwirrung, aber dein Freund Lesharo verfügt über eine außergewöhnliche Gabe, die Leute zu beruhigen oder mit ihnen über strittige Dinge zu sprechen. Ich bewundere ihn sehr.« »Schon als ich ein Kind war, habe ich diese Gabe in ihm erkannt. Wenn es in unserer Grube Ärger oder Streit gab, war es immer Lesharo, der zwischen den Leuten vermittelte. Deshalb habe ich ihn dazu ausersehen, mit dir zu reisen.« »Und du, Elsha, was wirst du tun, wenn du einmal nicht Feuerit aufspüren musst?« »In der Bibliothek wartet genug Arbeit auf mich. Alejandro und ich haben alle Legenden und Lieder der Quelten aufgezeichnet, und natürlich die Geschehnisse des
vergangenen Jahres. Dann werden wir die Bibliothek neu ordnen, sie wird ständig offen und für jedermann zugänglich sein.« »Ich nehme an, du hast schon eine Stelle bestimmt, wo der Bericht des Hamash ausgestellt wird?«, fragte er augenzwinkernd. »Glaubst du, die Welt ist reif dafür?« »Ich werde ihn dir morgen zurückgeben.« Bald nach diesem Gespräch mit Amasai war meine Aufgabe in Kasimarra erfüllt. Der Rauch am Himmel über der Stadt hatte sich gelichtet, und zu manchen Tageszeiten war es ungewohnt hell. Alejandro und Dannii verließen Kasimarra und reisten zu dem Ort, wo Teraj lebte. Sie hatten einen Brief an ihn bei sich, in dem ich mein baldiges Kommen ankündigte. Es war das Schönste, was ich je geschrieben hatte. Zuletzt ging ich mit Lesharo hinauf in den heiligsten Tempelraum um mich von den beiden Feuern zu verabschieden, die Jahrhunderte lang von einem Vorhang getrennt gebrannt hatten, für die Erwählten und für die Quelten. Ich nahm Abschied von Lajken, von den Priestern und Dienern, die auf meiner Seite gestanden waren. In einen Beutel packte ich Kleider und einen Reisevorrat. Lesharo belud seinen Esel mit Geschenken für ihn selbst und für alle, die ich in Siranjaro liebte. Darunter waren auch ein Brief an meine Mutter und aus der Bibliothek des Feuermeisters ein seidener Wandbehang für meine Familie. Dann verließen Lesharo und ich gemeinsam die Stadt Kasimarra. Nach einer halben Tagesreise trennten wir uns an einer Kreuzung, ohne große Worte. Aber als Lesharo mich umarmte, sagte er: »Weißt du, Löwenherz, dass in deinen Träumeraugen jetzt mehr Licht und Freude glänzt als jemals zuvor?« »Kein Wunder«, sagte ich lachend und schaute nach oben. »Der Himmel wird zusehends heller, seit die Arbeit der Quelten leichter geworden ist. Und die Luft riecht süß.«
»Durch dich ist die Welt heller geworden«, sagte er. Dann küsste er mich auf die Wange wie ein alter Freund. Er ergriff die Zügel des Esels und schlug den Weg Richtung Siranjaro ein. Ich musste daran denken, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, mit gebeugtem Rücken an den Karren gekettet. Jetzt ging er stolz und aufrecht wie ein Prinz. Wahrhaftig, er war ein Prinz. Nach einer Weile drehte er sich um und winkte. Das Amulett mit dem Feuermeisterzeichen, das ich ihm geschenkt hatte, glänzte im neuen Himmelslicht. Ich winkte zurück und schon bald war er hinter den Felsen am Wegrand verschwunden. Ich schulterte meinen Beutel und ging meinen eigenen Weg zu einem heimlichen Ort und dem Mann, den ich liebte. Ich fühlte eine unbändige Freude in mir. In meinem Herzen umarmte ich Teraj, und die ganze Erde wurde warm von unserem Glück; ich machte einen Luftsprung und taumelte. Auf einmal sah ich in den Ritzen zwischen den Felsen winzige grüne Pflanzen wachsen. Andächtig kniete ich mich hin vor diese winzigen Bäume, die wachsen und groß werden würden. Von diesem neuen Wunder erfüllt, ging ich weiter, und als ich zum Himmel hinaufschaute, sah ich, dass die Wolkendecke aufriss und ein Stück unbeschreiblich blauen Himmels sichtbar wurde, an dessen Rand so hell, dass es mir in den Augen wehtat, die uralte Sonne aufschien.