Die Rebellin von Avalon von Michael Breuer
Als Onda die Augen aufschlug, war Asmodis immer noch fort. Die Hohepriester...
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Die Rebellin von Avalon von Michael Breuer
Als Onda die Augen aufschlug, war Asmodis immer noch fort. Die Hohepriesterin der Feeninsel Avalon verzog das Gesicht. Natürlich ist er fort, dachte sie bitter. Nur allzu deutlich erinnerte sie sich nämlich an die zurückliegenden Ereignisse. Onda seufzte leise. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich wieder einmal an der Seite von Asmodis durch die grünen Auen schreiten. Der gehörnte Dämon ging ihr seit seinen wiederholten Besuchen auf Avalon nicht mehr aus dem Sinn. Die Hohepriesterin verzehrte sich geradezu nach ihm. Widerstrebend musste sich Onda eingestehen, dass sie den Teufel liebte.
Avalon Onda saß unter einem großen Baum, dessen riesige Krone düstere Schatten auf ihre ebenmäßigen Züge warf. Sie hatte sich hierher zurückgezogen, um nachzudenken. Es war früher Morgen. Vor etwa zwei Stunden hatte Onda im Schutz der Dunkelheit die Ansiedlung der Priesterinnen Avalons verlassen. Sie wollte allein sein und fernab von allem. Dichter Nebel lag über der mythischen Feeninsel. Mit einer einzigen fließenden Bewegung richtete Onda sich nun auf und strich das purpurrote, von Goldfäden durchwirkte Brokatgewand glatt. Geistesabwesend ließ sie ihren Blick umherwandern. Die Schönheit der sie umgebenden Landschaft schien sie kaum zu berühren. Leises Vogelzwitschern war zu hören. Langsam erwachte die Insel zum Leben. Wie um Ondas Gedanken zu bestätigen, löste sich ein kleiner Sperling aus der Baumkrone, flatterte auf ihre Schulter und begann dort mit dem knielangen, goldblonden Zopf der Priesterin zu spielen. Lächelnd ließ Onda ihn einen Moment lang gewähren, bevor sie ihn mit einer sanften Handbewegung verscheuchte. Fast entrüstet flatterte der Vogel von dannen. Wieder lächelte die Priesterin abwesend. Sie wandte sich von dem nahen See ab und bewegte sich mit gemessenen Schritten tiefer in das angrenzende Waldstück. Dabei hatte sie ihr Ziel bereits klar vor Augen. Während Onda langsam weiterging, dachte sie noch einmal an den zurückliegenden Besuch von Asmodis. Wieder einmal war er aus heiterem Himmel auf der Insel erschienen. Der gehörnte Dämon begehrte eine Audienz bei der Herrin vom See, wollte gar in das Herz von Avalon vordringen. Hierfür war er bereit gewesen, Onda jeden erdenklichen Wunsch zu erfüllen!
Asmodis hatte ihr sogar die Unsterblichkeit versprochen. Fast hätte Onda laut gelacht, als sie sich erinnerte. Denn als Bewohnerin Avalons unterlag sie längst dem Fluch des ewigen Lebens. Sie war nur eine von vielen der unsterblichen Dienerinnen der Herrin vom See. Selbst wenn es einmal geschah, dass eine der Priesterinnen auf irgendeine Weise zu Tode kam, so wurde sie binnen kürzester Zeit wieder erweckt und weilte schon bald wieder im Kreise ihrer Gefährtinnen. Der Erzdämon war sichtlich überrascht gewesen, als er erfuhr, dass sich Onda anstelle der Unsterblichkeit vielmehr den Tod wünschte. Dann jedoch versprach er ihr, nach einer Möglichkeit zu suchen, ihr zu helfen. Oh, dieser Tor! Onda verzog das Gesicht. Was sie sich wirklich von ihm wünschte, hatte sie schamhaft verschwiegen. Schon damals hatte die Priesterin nämlich ganz genau gewusst, was sie begehrte, auch wenn es ihr noch am Mut gemangelt hatte, sich dies einzugestehen. Sie wollte Asmodis, den Erzdämon … den ehemaligen Fürsten der Finsternis! Onda begehrte ihn mit jeder Faser ihres einsamen, glühenden Herzens. Welch ein Frevel! Denn als Priesterin Avalons war es ihr nur erlaubt, Erfüllung unter ihren Gefährtinnen zu finden. Die körperliche Liebe zu Besuchern Avalons – Männern gar – blieb für sie auf ewig tabu. Das war eines der unumstößlichen Gebote der Herrin vom See. Nur allzugut erinnerte sich Onda an das Schicksal Evas. Die Einhornreiterin litt unter einem tragischen Schicksal. Sie war nämlich das Resultat der Liebesnacht zwischen einer Priesterin Avalons und dem sagenhaften Magier Merlin gewesen, der zu Lebzeiten eine gewisse Machtposition auf der Insel innegehabt hatte. Als Kind der Schande hatte die Herrin vom See Eva bezeichnet und das Mädchen –
nicht etwa die Eltern, die bei ihrer Zeugung durchaus gewusst hatten, was sie taten – mit einem furchtbaren Fluch belegt. Fortan war Eva dazu verdammt gewesen, gewissermaßen rückwärts zu altern. Ihr Lebensweg führte vom Tod zur Geburt, was bedeutete, dass sie sich ständig verjüngte. In gleichem Maße, wie Evas Veränderung fortschritt, hatte sich auch der Geisteszustand von Merlin kontinuierlich verschlechtert. Vielleicht, so mutmaßte Onda, war auch er in irgendeiner Weise für die Zeugung der Tochter bestraft worden. Die Priesterin konnte es nur vermuten. Der Fluch, welcher auf Eva lag, war jedenfalls aufgehoben worden. Nachdem Robert Tendyke, der Sohn des Asmodis, sich darüber ereiferte, dass das unschuldige Mädchen für Merlins Fehltritt büßen musste, hatte die Herrin vom See das Übel kurzerhand von ihr genommen. Aber dieser Tag lag nun schon Jahre zurück. Heutzutage war es Eva gestattet, unbehelligt im kühlen Winterteil der Insel zu leben. Onda verdrängte den Gedanken an Merlins Tochter. Flüche und Strafen waren ihr in diesen Minuten einerlei, da sie sich nun endlich ihrem lang ersehnten Ziel näherte. Ein leises Lächeln umspielte die sinnlichen Lippen der Hohepriesterin, als sie auf eine kleine, nicht einsehbare Lichtung trat. Der Hain der Ruhe. So hatte Onda den Platz getauft, der ihr Refugium bildete, wann immer sie aus der Gemeinschaft der Priesterinnen ausbrechen wollte. Nur hier fand sie die nötige Geborgenheit, um über sich und ihr Schicksal nachzudenken. Schicksal … was für ein Wort angesichts einer Existenz, die seit unzähligen Jahrhunderten aus einer ewig gleichförmigen Abfolge von Zeiteinheiten bestand! Meist war es Onda bisher gelungen, die Umstände ihres Daseins zu verdrängen. Wenn sie sich im Kreise ihrer Gefährtinnen bewegte,
war ihr nichts anzumerken. Dann war sie ganz die pflichtbewusste Oberpriesterin. Doch natürlich gab es auch die anderen Stunden … Die Stunden, in denen sie sich einsam fühlte und vor Sehnsucht fast verging! Mit den Besuchen von Asmodis hatte sich alles geändert. Onda war rastlos geworden. Eine seltsame Unruhe hatte sich in ihrem Herzen breitgemacht und es hatte viele Wochen gebraucht, bis sie erkannte, dass dem gehörnten Erzdämon ihre Sehnsucht galt. Nun jedoch war er fort. Kurz nach seiner letzten Ankunft waren Eindringlinge gekommen. Es hatte sich um Professor Zamorra und seine Gefährtin gehandelt, die Onda durchaus nicht unbekannt waren. Die Herrin vom See hatte die beiden Dämonenjäger sofort zu sehen gewünscht und darum den Schlund geöffnet. Nach der obligatorischen Bereitungszeremonie war der Transfer erfolgt. Aber im selben Moment verschwand auch die Präsenz von Asmodis. Ob er auf irgendeine wahnwitzige Weise Zamorra und seiner Gefährtin gefolgt war? Onda konnte es nur mutmaßen. Jedenfalls hatte sich der Teufel seither nicht mehr bei ihr sehen lassen. Die Hohepriesterin atmete tief durch. Ihre sanften Augen saugten sich an einem großen Erdhügel am Rande der Lichtung fest, den sie bei einem ihrer letzten Besuche hier angehäuft hatte. Asmodis mochte fort sein, aber das bedeutete nicht, dass sie vor Sehnsucht zerfließen musste! Nicht, wenn sie etwas dagegen tun konnte … Onda leckte sich über die kirschroten Lippen. Ihre Augen blickten in alle Richtungen, so als befürchte sie, heimlich beobachtet zu werden. Dann endlich betrat sie den Hain der Ruhe und bewegte sich mit vorsichtigen Schritten auf den Erdhügel zu. Die Priesterin krempelte die samtigen Ärmel ihres Brokatgewands hoch, um die nackten Un-
terarme zu entblößen. Dann griff sie mit beiden Händen in die warme, lehmige Masse. Onda atmete tief durch. Sie spürte, wie abermals ein Schauer durch ihren Körper jagte. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst. Sie wusste nur zu gut, was sie hier und jetzt vorhatte, war ein ungeheuerlicher Frevel. Niemand sieht mich, redete sie sich ein. Das hier ist nur für mich! Onda biss sich auf die Lippen und begann, im Erdreich zu wühlen. Schweiß perlte von ihrer Stirn, während die lehmige Masse unter ihren geschickten Händen eine vertraute Form anzunehmen begann. Zunächst schälten sich die kantigen Gesichtszüge heraus, dann widmete sich Onda dem gestählten Oberkörper, bis sie sich schließlich tiefer liegenden Regionen zuwandte. An dieser Stelle nahmen ihre Wangen eine rosige Färbung an. Trotz ihres unvorstellbaren Alters machte es sie seltsam verlegen, an sein Geschlecht zu denken. Oh ja, Onda wusste, was man sich auf Erden über Teufel und ihre Gespielinnen erzählte. Sie mochte eine Priesterin Avalons sein, aber sie war nicht lebensfremd und kannte die Irrungen der Liebe. Ein leises Seufzen entfloh ihren Lippen. Während sie mit ihren grazilen Fingern den Lehm formte, wünschte sie sich, gemeinsam mit Asmodis zu tanzen und über die grünen Auen der Insel zu tollen. Sie schloss die Augen. In ihren Gedanken sah sie weiße Tauben, die mit wild flatternden Flügeln um das glückliche Paar kreisten. Onda schüttelte den Kopf, um den närrischen Gedanken loszuwerden. Sie war klug genug, um zu wissen, dass ihr und Asmodis keine gemeinsame Zukunft vergönnt sein würde. Lediglich Träume waren ihr gestattet. Die Hohepriesterin erhob sich und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu betrachten. Der aus Lehm geformte Golem war Asmodis wie aus dem Gesicht geschnitten. Sein Anblick zauberte ein wehmütiges Lächeln auf Ondas Lippen.
Nun kam das Wichtigste! Vorsichtig griff Onda nach einem bereitgelegten Stein, den sie vorsichtig in der noch weichen Brust versenkte. Auch ein Golem brauchte ein Herz, in dem sich die magischen Energien, welche ihn am Leben hielten, konzentrierten. Wieder blickte sie zum Himmel. Die letzten Überreste der Dämmerung hatten sich verflüchtigt. Während sie sich hingebungsvoll mit der Formung des Golems beschäftigt hatte, war die Sonne aufgegangen. Onda wusste, bald würde sie zurück in die Stadt müssen, denn irgendwann würde man sie sicherlich vermissen. Doch noch nicht jetzt. Hastig beugte sich die Hohepriesterin nach vorne und berührte mit ihren Lippen den lehmigen Mund des Golems. Der Kuss setzte starke magische Energien frei, die nun das »Herz« des Kunstmenschen beseelten und ihm vorübergehend die Illusion von Leben verliehen. Als Onda ihren Mund von seinem löste, hatte er die Augen geöffnet. Sein Blick war leer, natürlich, aber wenn sie es sich selbst nur stark genug einredete, konnte sie begehrliches Funkeln darin erkennen. Onda erhob sich, um das schwere Brokatgewand vom Körper zu streifen. Die kühle Morgenluft streichelte ihre Haut und sie spürte, wie sich unwillkürlich ihre Brustwarzen aufrichteten. Der Golem hatte bereits gierig die Arme nach ihr ausgestreckt. Die Illusion war nahezu perfekt. Mit einem leisen Seufzen ließ sich Onda zu ihm ins weiche Gras sinken. Sie erschauerte, als er ihren schlanken Körper umfasste, und schloss die Augen. Wieder dachte sie an die Tücken ihres Schicksals. Mittlerweile war Onda klar, dass es für sie nur zwei Wege gab: Asmodis oder den Tod! Der Golem presste seinen Körper an den ihren und Onda spürte,
wie ihren klaren Gedanken von der Leidenschaft hinweggeschwemmt wurden. Asmodis oder den Tod, durchzuckte es sie noch einmal. Alles hätte sie getan, um nicht weiter in dieser endlosen Monotonie dahinvegetieren zu müssen. Aber allein ihre Gedanken waren schon ein ungeheuerlicher Frevel. Hätte die Herrin vom See gewusst, was sich gerade abspielte, so wäre Onda sicherlich eine drakonische Strafe gewiss gewesen. Jetzt jedoch zählte das nicht! Keuchend öffnete Onda die Schenkel und schlang die Beine um die drängenden Hüften des Golems. Ihr Bewusstsein verdunkelte sich im Sturm der Leidenschaft. Dennoch war ein Wort darin aufgetaucht, welches sie noch kurz zuvor für undenkbar gehalten hatte. Rebellion!
* Sozialistische Republik Vietnam Professor Zamorra, seines Zeichens Parapsychologe und Dämonenjäger, blickte mit verdrießlicher Miene aus dem Fenster der kleinen Bar hinaus ins Freie. Monsunartige Regenfälle hatten dafür gesorgt, dass sich die kaum befestigte Straße, welche durch den verschlafenen Ort führte, innerhalb kürzester Zeit in einen Albtraum aus Schlamm und Morast verwandelt hatte. Zamorra versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Das Abenteuer mit New Yorks Bürgermeister Roslyn lag erst wenige Stunden zurück. Immer noch war er froh, mit heiler Haut aus der ganzen Sache herausgekommen zu sein. Die quirlige TV-Reporterin Jenny Moffat und Cronins illustre Truppe hatten den Ort bereits verlassen. Zamorra hingegen hatte es vorgezogen, noch hierzubleiben, um die Ereignisse noch einmal in Ruhe Revue passieren zu lassen. Das plötzliche Auftauchen von Asmodis hatte ihm ordentlich zu denken gege-
ben. Der Parapsychologe erinnerte sich. Nachdem ihn seine Lebensund Kampfgefährtin Nicole Duval telefonisch darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sich der mittlerweile völlig durchgedrehte Roslyn offenbar in Vietnam herumtrieb, hatte sich Zamorra umgehend auf den Weg dorthin gemacht. Der Franzose seufzte und winkte dem mürrisch dreinschauenden Barkeeper zu, um gleich darauf in der Landessprache ein Glas Mineralwasser zu bestellen. Das war kein Problem für ihn, denn Zamorra beherrschte alle wichtigen Sprachen der Welt, sah man einmal von obskuren, regionalen Dialekten ab. Die Gründe hierfür waren ihm selbst unklar. Offiziell erlernt hatte er die zahlreichen Sprachen jedenfalls nicht. Die Augen des vietnamesischen Barkeepers wurden groß und rund, als Zamorra nahezu akzentfrei seine Bestellung aufgab. In Rekordzeit stand das gewünschte Getränk vor ihm auf der Theke. Danach zog sich der Barkeeper eilig an das andere Ende der Theke zurück, wo er mit einigen anderen Gästen zu tuscheln begann. Offenbar verirrten sich selten sprachkundige »Langnasen« in den Ort … Zamorra warf dem immer noch überrascht ausschauenden Mann ein freundliches Lächeln zu und blickte wieder aus dem Fenster. In Gedanken war er immer noch ganz bei den zurückliegenden Ereignissen am Seelensee. Nachdem es gelungen war, Roslyn auszuschalten, war plötzlich Asmodis erschienen, um sich den Tränensplitter des ehemaligen Bürgermeisters New Yorks unter den Nagel zu reißen und sofort wieder zu verschwinden. Zamorras Anwesenheit hatte er nicht einmal bemerkt. Der Parapsychologe versuchte immer noch, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Er rieb sich das Kinn und nippte nachdenklich an seinem Mineralwasser. Dabei erinnerte er sich an ein viele Wochen zurückliegendes Gespräch mit seinem Freund Robert
Tendyke. Schon damals hatten sie vermutet, dass Asmodis auf der Jagd nach Tränen war. Aus dem vagen Verdacht war nunmehr Gewissheit geworden. Zamorra rief sich Tendykes Worte ins Gedächtnis zurück, der von einem Überraschungsbesuch des ehemaligen Fürsten der Finsternis berichtet hatte: »Vor ein paar Wochen erst ist der Alte bei mir gewesen. Ich habe hier am Pool gesessen, da kam der Idiot und fragte mich über die Blauen Städte und über Avalon aus.« An dieser Stelle war Zamorra sogleich hellhörig geworden. Er hakte nach. »Er weinte sich darüber aus, dass er die Herrin vom See bisher nie zu einem Rendezvous bewegen konnte«, hatte Tendyke daraufhin ausgeführt. »Als ich ihn darauf brachte, dass Avalon vom kymrischen Abal abstammt, was Apfel bedeutet, verschwand er zum Glück wieder.« Nachdenklich starrte Zamorra hinaus in den Regen. Die Vermutung, dass Assi hinter den Tränen LUZIFERs her war, hatte sich bestätigt. Was aber wollte der Teufel auf Avalon? War es vielleicht möglich, das sich auf der Feeninsel ebenfalls eines dieser Artefakte befand? Nur ein Besuch auf Avalon konnte die Antwort auf diese Frage geben. Verdrießlich verzog der Parapsychologe das Gesicht. Er erinnerte sich nur allzu gut an seinen letzten Trip dorthin. Nicole und er waren von den dort heimischen Priesterinnen gefangen genommen und ins Herz von Avalon gesandt worden, wo sie den sagenhaften Urdämonen begegneten. Erst als das Amulettwesen Taran Zamorra überraschend den Tipp gab, wie er ein Weltentor öffnen und ganz nebenbei Avalon vernichten konnte, war die Herrin vom See aktiv geworden und hatte die beiden Dämonenjäger zurück in die Realwelt geschleudert. Vermutlich haben wir uns mit dem Auftritt nicht sonderlich beliebt ge-
macht, sinnierte Zamorra gallig. Wenn allerdings die Möglichkeit bestand, dass sich auf Avalon tatsächlich ebenfalls eine Träne LUZIFERs befand, dann war es von höchster Dringlichkeit, dort einmal nach dem Rechten zu sehen. Mit den Priesterinnen würde er schon fertig werden, da machte sich Zamorra keine Sorgen. Wie es allerdings mit der Herrin vom See aussah, stand auf einem ganz anderen Blatt. Kurz entschlossen zückte der Meister des Übersinnlichen sein Mobiltelefon, um die Nummer des Châteaus anzuwählen. Zwar befand er sich gerade am sprichwörtlichen Ende der Welt, für das leistungsstarke TI-Alpha-Handy stellte das jedoch kein Hindernis dar. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Jetzt war es fast Mittag. In Frankreich musste es demzufolge auf sechs Uhr abends zugehen. Bereits nach kurzem Klingeln meldete sich die vertraute Stimme Williams. »Zamorra hier«, begrüßte der Professor seinen langjährigen Butler. »Holen Sie mir doch bitte einmal Nicole ans Telefon, sofern die Holde gerade greifbar ist.« »Sehr wohl, Monsieur!«, antwortete dieser. Zamorra konnte hören, wie sich seine Schritte entfernten. Die Französin war offenbar nicht allzu weit weg gewesen, denn schon einen Moment später war sie am Apparat. »Was liegt an, Chef?«, fragte sie flapsig. »Ich bin noch in Vietnam«, berichtete Zamorra. Das Stirnrunzeln Nicoles war förmlich durch die Telefonleitung wahrzunehmen. Sie hatten bereits unmittelbar nach dem Abenteuer am Seelensee miteinander gesprochen. Dass sich der Parapsychologe immer noch nicht auf dem Heimweg befand, schien sie zu verblüffen. In knappen Worten klärte Zamorra sie über seine vorangegangenen Überlegungen auf. Als er mit seinen Ausführungen endete, ließ Nicole ein undamen-
haftes Schnaufen hören. »Das heißt wohl, ich muss die Köfferchen packen«, vermutete sie ganz richtig. Zamorra nickte. »Ja, Chérie«, schob er hinterher, als ihm klar wurde, dass Nicole ihn ja nicht sehen konnte. »Ich halte es für unabdingbar, dass wir Avalon einen Besuch abstatten. Wenn es dort wirklich eine Träne gibt, sollten wir zusehen, dass wir das Ding in die Finger bekommen, bevor Assi es sich unter den Nagel reißt.« »Stimmt«, erwiderte Nicole. Vor seinem geistigen Auge konnte Zamorra förmlich sehen, wie die aparte Französin bei der Erwähnung des Teufels das Gesicht verzog. Der Parapsychologe überlegte kurz und gab dann ein paar knappe Anweisungen, die die notwendige Ausrüstung betrafen. Ohne ausreichende Bewaffnung nach Avalon zu reisen, wäre schließlich töricht gewesen. Vor allem, wenn man sich den letzten Besuch bedachte. »Alles klar, Chef«, gab Nicole zurück. »Ich versuche, mich erstmal nach Kambodscha durchzuschlagen«, erklärte Zamorra seine weiteren Pläne. »In Phnom Penh gibt es eine Regenbogenblumen-Kolonie.« Mittels der magischen Pflanzen war es dem Parapsychologen möglich, sich ohne Zeitverlust zurück nach Frankreich zu begeben. »Ich weiß«, antwortete Nicole. »Ich vermute, sobald du vor Ort bist, reisen wir sofort weiter nach Brocéliande?« Über den Brunnen in Merlins verwunschenem Zauberwald war nämlich ein direkter Transfer nach Avalon möglich. Zamorra lächelte. »Du vermutest richtig, Chérie. Wir sollten keine Zeit verlieren!« Das sah Nicole ganz ähnlich. »Ich hatte eigentlich gedacht, nach dem letzten Abenteuer könnten wir erst einmal ein bisschen die Füße hochlegen«, flachste sie dennoch.
Zamorra grinste unwillkürlich. Allzu viele Ruhepausen waren dem Dämonenjägerpärchen in letzter Zeit tatsächlich nicht vergönnt gewesen. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, erinnerte er Nicole. »Wenn wir aus Avalon zurück sind, kannst du dich immer noch ausgiebig auf dem Bärenfell rekeln.« Die Französin kicherte und ließ ein Schnurren hören. »Na, das sind ja mal Aussichten«, antwortete sie. »Ich komme darauf zurück!« Gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Also, ich packe unsere Siebensachen zusammen und warte auf dich. Hast du schon einen Schimmer, wie lange du brauchen wirst?« Zamorra stieß ein heiseres Lachen aus. »Ich habe nicht einmal einen Schimmer, wie ich nach Kambodscha komme«, gab er zu. »Aber mach dir keine Gedanken, ich werde mich schon irgendwie durchschlagen!« Der Parapsychologe verabschiedete sich von seiner Gefährtin und ließ das Mobiltelefon wieder in der Tasche verschwinden. Zamorra überlegte. In Ho-Chi-Minh-Stadt, ehemals Saigon, würde er problemlos einen Flug nach Phnom Penh buchen können. Allerdings musste er die Hauptstadt Süd-Vietnams erst einmal erreichen. Zamorra ließ seinen Blick durch das Innere der kleinen Kneipe schweifen und überschlug im Geiste seine mitgeführten Barmittel. Die einsamen Trinker am anderen Ende der Theke, allesamt uralte Bauersleute, würden ihm wahrscheinlich keine große Hilfe sein. Er beschloss, sich daher an den Wirt zu halten. Der Parapsychologe ließ ein freundliches Lächeln aufblitzen und winkte den Mann heran. Irgendjemand in diesem Nest würde schon über ein geeignetes Transportmittel verfügen, da war sich Zamorra ganz sicher.
*
Avalon Onda warf einen prüfenden Blick gen Himmel. Es musste mittlerweile längst Mittag sein. Die Sonne stand bereits hoch am Firmament. Die schönen Momente im Hain der Ruhe waren nun nichts mehr weiter als bloße, bereits verblassende Erinnerung. Schon jetzt fühlte sie sich leicht klebrig an. Der Blick der Priesterin wurde härter. Sie wusste, jetzt musste sie ihren Pflichten nachkommen. Kühl und beherrscht blickte Onda der Stadt entgegen und bemühte sich, die Leidenschaft hinter sich zu lassen. Genau so, wie sie auch den Golem zurückgelassen hatte. Er würde im Hain der Ruhe auf sie warten, das wusste sie. Er kannte keine Zweifel und keine Ungeduld. Im Gegensatz zu mir. Ondas Gesicht wirkte wie eine steinerne Maske, als sie aus den Sträuchern auf den Pfad zur Siedlung trat. Die Hauptstraße führte geradewegs auf den prunkvollen Tempel zu, in welchem Onda ihr Tagewerk verrichtete und in dem sie mit der Herrin vom See Zwiesprache hielt. Um den zentralen Platz herum befanden sich zahlreiche, verstreut dastehende Tempelbauten sowie die Wohnhäuser der Priesterinnen. Onda blickte sich um. Gegenwärtig waren nur wenige Frauen auf der Straße zu sehen. Der Großteil der Priesterinnen schien sich entweder in den Tempeln oder in den nahen Wäldern aufzuhalten. Ihr war es ganz recht so. Onda legte momentan keinen gesteigerten Wert darauf, sich mit ihren Geschlechtsgenossinnen zu unterhalten. Langsam ging sie weiter und bog schließlich von der Hauptstraße ab, um auf ihr Wohnhaus zuzusteuern. Es handelte sich um einen unscheinbaren, einstöckigen Flachbau. Protz und Prunk waren den Priesterinnen Avalons nicht vergönnt. Die Eingangstür war unverschlossen. Diebe gab es auf der magi-
schen Feeninsel nicht, sodass niemand um seine persönliche Habe zu fürchten brauchte. Im Inneren des Hauses herrschte ein angenehm kühles Klima. Die Vorhänge waren zugezogen und so waren die Räume in trübes Halbdunkel getaucht. Aus einem der angrenzenden Zimmer war leises Rascheln zu hören. »Onda?«, vernahm die Hohepriesterin eine vertraute Stimme. »Ja«, erwiderte die Angesprochene. »Ich bin zu Hause!« Sie betrat den Nebenraum. Es handelte sich um den Schlafbereich der Priesterin. Onda lächelte flüchtig. In ihrem Bett lag, die Decke bis ans Kinn hochgezogen, eine junge Frau. So war zumindest der äußerliche Eindruck. Tatsächlich war auch sie natürlich, wie Onda selbst, bereits unermesslich alt. Ihr langes, rabenschwarzes Haar ergoss sich wie eine Sturzflut über die weichen Kissen. Die Augen waren strahlend blau, ebenso wie die schweren Ohrringe, die sie trotz der Bettruhe nicht abgelegt hatte. »Du bist zurück«, entfloh es ihren vollen Lippen, als sie die Hohepriesterin erblickte. Onda trat näher und nahm dann auf der Kante des Nachtlagers Platz. Sie strich der jungen Frau zärtlich über die Wange. Ihr Name lautete Valantia. Sie war eine Adeptin der Höheren Mysterien und stand kurz davor, die letzte Weihe zu empfangen, die sie in den vollwertigen Stand einer Zauberpriesterin Avalons erheben würde. Schon jetzt fungierte sie als Ondas rechte Hand. … und natürlich als meine Gefährtin, erinnerte sie sich, auch wenn sie diese Tatsache in den zurückliegenden Stunden erfolgreich verdrängt hatte. Eine derart enge Verbindung zwischen Adeptin und Meisterin war ungewöhnlich, aber nicht verwerflich. Überdies war Valantia eine wirklich gelehrige Schülerin! »Ja«, bestätigte Onda schließlich schlicht. Sie fühlte nicht das Be-
dürfnis, die vorangegangene Abwesenheit zu erklären. Valantia musste das deutlich spüren, dennoch hakte die junge Adeptin nach. »Wo warst du denn?«, fragte sie. »Ich habe dich vermisst!« Wieder ließ Onda ein flüchtiges Lächeln aufblitzen. »In den Wäldern«, antwortete sie dann knapp. Die Hohepriesterin erhob sich und zog die Vorhänge beiseite. In einiger Entfernung konnte man die dichten Baumwipfel erkennen. »Ich musste nachdenken.« Valantia setzte sich im Bett auf. Dabei verrutschte die Decke und enthüllte ihre prallen Brüste. Onda jedoch hatte keinen Blick dafür. »Worüber?«, fragte die junge Adeptin. »Über … alles!« Onda zögerte einen Moment. »Über unser Leben hier«, ergänzte sie dann, »diese ewig gleichförmige Existenz, die doch im Grunde nicht mehr ist als ein bloßes Dahinvegetieren.« Die Hohepriesterin spürte, wie sich die Blicke der Jüngeren förmlich in ihren Rücken bohrten. Sie wusste, ihre Worte waren Blasphemie, dennoch sprudelte es aus ihr heraus. »Wir dienen der Herrin vom See, so wie wir es bereits seit Jahrtausenden tun und vermutlich noch viele Ewigkeiten tun werden. Manchmal frage ich mich, ob der Preis für unsere Treue nicht zu hoch ist.« Das Quietschen des Bettes kündete davon, dass Valantia aufgestanden war. Leise Schritte näherten sich. Im nächsten Moment spürte Onda, wie sich die Jüngere von hinten sanft gegen ihren Körper drückte und sie zärtlich umarmte. »Du zweifelst, Schwester?« Valantias Worte kamen zögernd. Zu unglaublich war der Gedanke, zumal er aus dem Mund der Hohepriesterin Avalons kam. »Die Herrin beschenkt uns für unsere Treue mit dem ewigen Leben«, gab sie zu bedenken. »Sie erhebt uns über all die anderen Geschöpfe! Wir sind nicht wie die armen Sterblichen, deren Lebensspanne in kosmischen Maßstäben bestenfalls einem Lidschlag gleicht. Das macht uns unvergleichlich. Du musst für dieses Geschenk dankbar sein!« Sanft schüttelte Onda die Berührung ihrer Gefährtin ab und löste
sich von ihr. Langsam drehte sie sich zu Valantia um. Die Augen der jungen Adeptin waren weit aufgerissen. Ihre Lippen zitterten. Ondas Worte schienen ihr einen schweren Schlag versetzt zu haben. Die Priesterin erkannte, dass sie zu weit gegangen war. Niemals hätte sie sich vor der Jüngeren so gehen lassen dürfen! Sie wusste, wenn die Herrin vom See erfuhr, dass ihre oberste Priesterin blasphemische Gedanken hegte, so würde ihre Strafe gewiss furchtbar sein. Onda zwang ein beruhigendes Lächeln auf ihre Lippen. »Verzeih Valantia«, erklärte sie mild. »Du hast natürlich recht. Für einen Moment lang habe ich mich vergessen.« Die Adeptin sah nicht völlig überzeugt aus, dennoch verschwand der fiebrige Glanz für den Moment aus ihren Augen. »Wir alle zweifeln manchmal, Valantia«, fuhr Onda fort. »Auch dir werden solche Gefühle nicht fremd sein. Unsere Lebensdauer mag uns zwar weit über die einfachen Sterblichen erheben, doch unser Denken und Fühlen ist nur allzu menschlich!« Wieder streichelte sie der Jüngeren sanft über die Wange. »Lass mich jetzt allein, Valantia«, bat sie dann. »Ich möchte eine Weile allein sein und schlafen.« Die Adeptin nickte langsam. »Sehr wohl, Meisterin«, erwiderte sie dann förmlicher, als es ihre Art war. Valantia verbeugte sich noch einmal kurz, dann wandte sie sich ab und ließ die Hohepriesterin mit ihren Gedanken allein. Onda blickte ihr nachdenklich hinterher. Sie hoffte inständig, dass ihre Worte nicht zu viel Schaden angerichtet hatten. Zwar vertraute sie Valantia, aber sie wusste auch, dass die junge Adeptin der Herrin vom See treu ergeben war. Wenn durchsickerte, dass sie innere Zweifel hegte oder sich gar mit dem Gedanken an eine Rebellion beschäftigte, dann drohte ihr ein furchtbares Schicksal, das wusste Onda nur allzu gut. Abweich-
lerinnen wurden nicht geduldet auf Avalon. Die Hohepriesterin seufzte leise. Gegen die Herrin vom See zu rebellieren, deren Herrschaft sie längst schon als Tyrannei empfand, wäre ihr noch vor Kurzem undenkbar erschienen. Das hatte sich mittlerweile gründlich geändert. Zwar hatte Onda noch keinen Schimmer, wie sie ihre Pläne in konkrete Taten umsetzen sollte, doch die Saat war gelegt. Innerlich hatte sie längst einen Pfad betreten, der keine Rückkehrmöglichkeit mehr bot.
* Phnom Penh/Kambodscha Mittlerweile war es eine Stunde her, dass Professor Zamorra mit einer aus Ho-Chi-Minh-Stadt kommenden Passagiermaschine auf dem sieben Kilometer westlich von Phnom Penh liegenden Flughafen gelandet war. Hier ergatterte er ein Motorrad-Taxi, welches ihn an sein Ziel befördern sollte. Hierbei handelte es sich um den Boeung-Kak-See, an dessen Ufern die Regenbogenblumen-Kolonie stand, mit deren Hilfe sich Zamorra nach Frankreich begeben wollte. Der Meister des Übersinnlichen pfiff leise durch die Zähne und hoffte, dass er sein Ziel auch tatsächlich lebendig erreichte. Sein junger Chauffeur schien das in Aussicht gestellte, großzügige Honorar zum Anlass zu nehmen, den Fahrgast mit besonderer Eile zum gewünschten Ort zu bringen. Verkehrsregeln schienen ihm dabei durchaus vernachlässigbar zu sein. Zamorra dachte zurück. Der vietnamesische Wirt hatte ihm gegen ein bisschen Bakschisch nur allzu gerne dabei geholfen, einen fahrbaren Untersatz ausfindig zu machen, der ihn schließlich heil zum Tan Son Nhat International Airport, dem Flughafen von Ho-Chi-Minh-
Stadt, befördert hatte. Die kurze Flugzeit ins Nachbarland hatte Zamorra zu einem längst überfälligen Nickerchen genutzt. Immerhin hatte er seit seinem Abenteuer am Seelensee noch keine Gelegenheit zu einer Ruhepause gehabt. »Wir sind gleich da«, riss ihn die Stimme des jungen Fahrers urplötzlich aus seinen Gedanken. Tatsächlich konnte Zamorra in einiger Entfernung die dicht bewaldeten Ufer des im nördlichen Teil von Phnom Penh gelegenen Boeung-Kak-See erkennen. Oder, besser gesagt, das, was davon übrig geblieben war. Er seufzte unwillkürlich. Eine bekannte Investmentgesellschaft plante, hier ein komplett neues Stadtviertel aus dem Boden zu stampfen und war aus diesem Grund damit beschäftigt, den See mit Sand aufzuschütten. Aufgrund von Zwangsumsiedlungen der bisherigen Anwohner hatte sich die Anzahl der Menschen hier seit dem Jahr 2010 mittlerweile halbiert. Zamorra bemühte sich, den Gedanken an das Leid zu verdrängen, das sich hinter dem dürren Wort »Zwangsumsiedlung« verbarg. Mit verkniffener Miene musterte er die Landschaft. Vom eigentlichen See war mittlerweile kaum noch etwas zu sehen. Die Aufschüttung des Gewässers war fast abgeschlossen, sodass genügend Platz für Luxuswohnhäuser und Bürobauten bestand. Von dem einstigen Naturparadies im Herzen der Stadt war fast nichts mehr übrig geblieben. Plötzlich durchzuckte ein unguter Gedanke Zamorra. Was, wenn die Regenbogenblumen ebenfalls den gefräßigen Baggern zum Opfer gefallen waren? In diesem Fall würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich auf den beschwerlichen Flugweg nach Frankreich zu machen. Das war zwar kein Beinbruch, würde aber viele Stunden Zeitverlust bedeuten. »Halten Sie hier«, bat der Parapsychologe schließlich. Die letzten Meter wollte er ohne aufmerksame Beobachter hinter sich bringen.
Der Chauffeur brachte die Maschine zum Stehen und gleich darauf wechselten einige Dollarscheine ihren Besitzer. Der Fahrer strahlte, um sich überschwänglich zu bedanken. Zamorra schmunzelte. Er hatte es nicht nötig, mit dem Trinkgeld zu knausern und der junge Kerl konnte das Geld sicher gut gebrauchen. Er nickte dem Fahrer noch einmal freundlich zu. Dieser startete die Maschine, wendete und brauste in einer gewaltigen Staubwolke von dannen. Das wäre erledigt, dachte Zamorra. Dann wollen wir mal schauen, was die Blümchen machen. Der Parapsychologe marschierte los. Der Verlauf des ursprünglichen Seeufers war immer noch deutlich zu erkennen, auch wenn von dem eigentlichen Gewässer fast nichts mehr zu sehen war. Schließlich erreichte er einen von Bäumen gesäumten, schlecht einsehbaren Grünstreifen. Auch wenn sich die Gegend dank der rasant fortschreitenden Bauarbeiten stark verändert hatte, erkannte Zamorra die Stelle doch instinktiv wieder. Beherzt bahnte er sich einen Weg zwischen den Sträuchern hindurch. Gleich darauf huschte ein breites Grinsen über seine markanten Züge. Da waren sie, immer noch unangetastet! Die mannsgroßen Blütenkelche der ungewöhnlichen Blumen schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Für den Transport genügte es, sich einfach zwischen die Pflanzen zu stellen und sich auf das gewünschte Ziel zu konzentrieren. Regenbogenblumen wuchsen an allen möglichen Orten auf der Erde. Nicht zuletzt deshalb, weil Zamorra und Nicole des Öfteren Gärtner spielten. Für die ausgedehnten Reisen der Dämonenjäger rund um den Globus stellten sie eine ungeheure Erleichterung dar. Wenn Zamorra sich erinnerte, wie viel Geld er in den ersten Jahren seiner Laufbahn
für Flugreisen hingeblättert hatte, drohte ihm mitunter leicht schwindelig zu werden. Dieses Problem gehörte jedoch glücklicherweise der Vergangenheit an. Der Dämonenjäger beschloss, nicht länger zu zögern und postierte sich zwischen den Blumen. Sekundenlang schloss er die Augen und konzentrierte sich. Als er die Lider wieder öffnete, befand er sich bereits am Ziel. Lächelnd erkannte Zamorra die wohlvertrauten Mauern eines ganz bestimmten Kellergewölbes. Dieses befand sich nämlich in seinem Stammsitz, dem Château Montagne im französischen Loire-Tal. Endlich zuhause, dachte der Parapsychologe erleichtert. Ohne Umschweife machte er sich auf den Weg in die Obergeschosse, um seine Lebensgefährtin ausfindig zu machen. Er fand Nicole Duval in der Küche, wo sie eine heiße Tasse Kaffee zu sich nahm. Die aparte Französin schien bereits startbereit zu sein. Ihr wohlproportionierter Körper wurde von einem hautengen Lederoverall umhüllt. Nicole pflegte das aufsehenerregende Kleidungsstück zuweilen gerne als ihren »Kampfanzug« zu bezeichnen. »Da ist Monsieur ja endlich«, schmunzelte sie, als sie ihren langjährigen Partner erblickte. »Ich dachte schon, ich müsste mich allein ins Abenteuer stürzen!« Zamorra grinste. »Schneller ging es nicht«, erklärte er. Er wollte Nicole einen kurzen Abriss über seinen Reiseverlauf geben, entschied sich dann kurzfristig anders und nahm die Französin stattdessen in die Arme, um ihre Lippen mit einem innigen Kuss zu versiegeln. Als sie sich wieder voneinander lösten, zog Nicole die Stupsnase kraus. »Eins sage ich dir aber, Chef«, erklärte sie schwer atmend. »Bevor wir uns auf den Weg machen, stellst du dich erst einmal unter die Dusche und ziehst dir etwas Frisches an. So nehme ich dich nämlich ganz gewiss nicht mit!«
Zamorra lachte leise. Seit seinem letzten Abenteuer hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, sich frisch zu machen und dass er den Großteil der Reise nach Ho-Chi-Minh-Stadt auf einem altersschwachen, schaukelnden Viehtransporter hinter sich gebracht hatte, trug sicherlich auch nicht gerade dazu bei, seinen Wohlgeruch zu erhöhen. »Du hast recht«, antwortete er. »Soviel Zeit muss sein!« Der Parapsychologe wandte sich um und war bereits mit dem Aufknöpfen seines Hemds beschäftigt. In der Tat, eine heiße Dusche hatte er mittlerweile mehr als nötig!
* Avalon Der Eingang zum heiligen Tempel, der das Zentrum der Siedlung bildete, wurde von zwei amazonenhaft wirkenden Priesterinnen bewacht. Zwar war der Gedanke, dass jemand mit bösen Absichten in sein Inneres eindringen wollte, mehr als absurd, doch die Herrin gebot es so und an ihren Worten war nicht zu rütteln. »Du bist allein, Valantia?«, fragte eine der martialisch wirkenden Frauen die junge Adeptin, die sich mit langsamen Schritten dem Hauptportal näherte. Unmittelbar vor den beiden Amazonen blieb Valantia stehen. »Die Meisterin ruht«, erklärte sie, obwohl eine Erklärung eigentlich nicht vonnöten war. Als Ondas rechte Hand besaß die Adeptin alle Privilegien und durfte im Tempel nach eigenem Gutdünken ein und aus gehen. »Ah«, machte die Wächterin. »Sie hat sich ihren Schlaf gewiss verdient.« Valantia nickte nur knapp, dann trat sie an den beiden Frauen vorbei ins Innere des Tempels. Ihr stand der Sinn nicht nach Konversa-
tion. Sie spürte, irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Meisterin. Seit Stunden schon schwirrten unruhige Gedanken durch den Geist der Adeptin. Die ketzerischen Worte der Hohepriesterin hatten sich wie ein flammendes Fanal in ihr Bewusstsein gestanzt. Ich kann ihr nicht dabei helfen, auf den rechten Weg zurückzufinden, das wusste Valantia. Ich bin nur eine einfache Adeptin, aber die Herrin wird Rat wissen. Schließlich ist sie unsere Hüterin! Sie muss davon erfahren! Die junge Frau bemühte sich, ihre wirbelnden Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Grübelnd verließ sie die Eingangshalle und betrat eine Nebenkammer, wo sie sich das Gewand vom Körper streifte. Es galt, die rituellen Reinigungsprozesse hinter sich zu bringen. Erst nach einer ausgiebigen Säuberung fühlte sie sich rein genug für eine Zwiesprache mit der Herrin vom See. Valantia kleidete sich in ein bodenlanges, blütenweißes Gewand, dann machte sie sich mit langsamen Schritten auf den Weg zum Inneren Heiligtum. Die Luft in der zentralen Tempelhalle war angenehm kühl. In den Wandhalterungen brannten kleine Ölfackeln und hüllten den Raum in ein wärmendes Dämmerlicht. Mehrere reich ornamentierte Säulen stützten die Decke der Halle. In ihrer Mitte befand sich ein eher schmucklos wirkender Altarstein. Dahinter war ein dunkler Torbogen zu erkennen. Er schien geradewegs ins Nichts zu führen. Nur albtraumhafte, finstere Schwärze zeigte sich in ihm. Eine tiefe, absolute Ehrfurcht erfüllte Valantias Herz, als sie nähertrat. Die junge Adeptin schluckte schwer, während sie aromatisches Räucherwerk entzündete. Der Duft half ihr, ihre aufgepeitschten Sinne zu beruhigen und ihre Gedanken in Einklang zu bringen. Valantia schloss die Augen. Ihre sinnlichen Lippen formten jene beschwörenden Worte, die Onda sie gelehrt hatte. Sie stand mit dem Rücken zum Torbogen und hielt die Handflächen gen Decke gestreckt.
Herrin, deine unterwürfige Dienerin Valantia ruft dich. Alle Macht legte die junge Adeptin in diesen Gedanken. Sie befürchtete, dass ihre Kräfte für die Beschwörung zu schwach seien. Schließlich war sie noch keine vollwertige Priesterin. Dann jedoch war das leise Knistern magischer Entladungen zu hören. Langsam öffnete Valantia die Augen und ihr Herz tat einen freudigen Sprung. Zwischen ihren zur Decke gewandten Handflächen hatte sich ein hell leuchtender Kreis gebildet. Magische Symbole waren darin zu erkennen. Es handelte sich gewissermaßen um die schriftliche Ausformulierung ihres Rufs. Vorsichtig balancierte die Adeptin das leuchtende Rund auf ihren Handflächen und wandte sich in Richtung Torbogen. Die albtraumhafte Schwärze war gewichen. Ein geheimnisvolles violettes Glosen war zu erkennen und das Leuchten ferner, namenloser Sterne. Herrin, wiederholte sie ihren Ruf. Dann stieß sie den magischen Kreis von sich. Mit einem leisen Surren glitt er auf den Torbogen zu und verschwand übergangslos zwischen den leuchtenden Sternen. Ja, mein Kind? Die Stimme war direkt in Valantias Kopf. Gleichzeitig füllte sich die Tempelhalle mit einer mächtigen Präsenz, die das Bewusstsein der jungen Adeptin zu erdrücken schien. Die Ehrfurcht ließ ihren zarten Körper erzittern. Valantia blinzelte. Innerhalb des violetten Glosens war eine hochgewachsene, düstere Gestalt aufgetaucht. Die Adeptin konnte nur schemenhafte Umrisse erkennen. Die rotleuchtenden, schräg nach oben gezogenen Augen stachen jedoch deutlich aus der Silhouette heraus. Die junge Frau spürte, wie ihr Herzschlag für einen Moment lang aussetze. Dann warf sie sich der Länge nach auf den Boden der Tempelhalle, um der Herrin vom See zu huldigen. Ein belustigtes Lachen wehte durch Valantias Bewusstsein. Es
klang weder wirklich heiter, noch sonderlich gütig. Stattdessen hatte die Adeptin die vage Ahnung einer Präsenz, die so unglaublich fremdartig war, dass sie nicht anders konnte, als sich wie eine Maus zu fühlen, die in den Rachen einer hungrigen Löwin blickt. Die Herrin vom See hatte ihren Ruf erhört und nun begehrte sie den Grund für die Störung zu wissen. Erhebe dich, wurde ihr befohlen. Ich schätze es nicht, wenn meine Dienerinnen vor mir kriechen. Es war das erste Mal, dass sich Valantia an die Herrin vom See wandte. Schließlich hatte sie noch nicht die letzten Weihen empfangen und war deshalb gemäß den Regeln des Ordens unwürdig. Schüchtern stand die Adeptin auf. Nur zögernd hob sie die Augen, um in das violette Glosen zu blicken. Die dunkle Silhouette stand unbewegt da. Lediglich das Glühen der geschlitzten, roten Augen schien sich intensiviert zu haben. Sprich, forderte die Herrin vom See. Diesmal klang ihre Stimme schon etwas ungeduldiger. Wieder schloss Valantia die Augen. Sie überlegte einen Moment. Es geht um Onda, formulierte sie dann in ihren Gedanken. Ich brauche deinen Beistand, Herrin. Die Meisterin zweifelt und ich möchte sie zurückführen auf den rechten Weg. Die mentale Antwort war wie ein Peitschenhieb. Was meinst du? Valantia zuckte zusammen. Sie leidet, wisperte sie gedanklich. Stille folgte. Worunter? Die Herrin vom See klang ernst und kühl. Jegliche Heiterkeit war aus ihrer Gedankenstimme verschwunden. Düstere Schwingungen wehten Valantia entgegen. Unter der Unsterblichkeit, murmelte die Adeptin gedanklich. Sie dient dir treu, aber sie zweifelt daran, ob der Preis für diese Treue nicht zu
hoch ist. Wiederum Stille. Nach einer Zeit, die Valantia wie eine kleine Ewigkeit vorkam, meldete sich die Herrin vom See erneut zu Wort. Die Heiterkeit war in ihre Stimme zurückgekehrt. Ich werde Onda lehren, wo ihr Platz ist. Oh ja, das werde ich.
* Zunächst zitterten die schweren, lehmigen Lider nur leicht, dann ging ein Ruck durch den ungeschlachten, von zarter Frauenhand geformten Körper. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sich die Augen des Golems öffneten. Über sich sah er den strahlend blauen Himmel Avalons, doch die Schönheit dieses Anblicks schien ihn nicht weiter zu berühren. Seine Augen blieben leer und geistlos. Mit ruckartig wirkenden Bewegungen setzte sich der Golem auf. Der Hain der Ruhe war völlig verwaist. Lediglich aus weiter Ferne war leises Vogelgezwitscher zu hören und kündete von tierischem Leben. Allein. Es war kein ausformulierter Gedanke, dazu war das künstlich erschaffene Geschöpf nicht fähig, sondern lediglich ein blasses Gefühl, dass den rudimentären Geist des Golems durchwehte. Als er sich langsam vom Boden erhob, wirkten seine Bewegungen bereits etwas flüssiger. Es war einige Stunden her, das Onda ihn verlassen hatte. Seither hatte er in tiefem Schlummer gelegen. Nun jedoch erwachten seine Lebensgeister. Der Kopf des Golems ruckte zunächst nach rechts, dann nach links. Um ihn herum befanden sich zahllose hohe Bäume, die die Lichtung vor neugierigen Blicken schützten und sie zu einem perfekten Liebesnest machten.
Einsam. Das knappe Wort versetzte dem Golem einen vagen Stich. Seine Meisterin hatte ihn zurückgelassen wie einen abgelegten Handschuh. Ihre Präsenz war nicht mehr wahrnehmbar. Eigenständiges Denken war Geschöpfen seiner Art nicht vergönnt. Entsprechend träge war der Geist des Golems. Dennoch wurde er sich unendlich langsam bewusst, dass er nicht länger an diesem Ort bleiben wollte. Bis er den Fuß anhob und einen ersten Schritt tat, schienen endlose Minuten zu vergehen. Er hatte kein festes Ziel. Nicht einmal die leiseste Ahnung, wohin ihn sein Weg wohl führen mochte, durchwehte seinen Geist. Allerdings wollte er auch nicht alleine hier zurückbleiben. Ein zweiter Schritt, in quälender Langsamkeit durchgeführt, folgte. Wo die Meisterin jetzt wohl sein mochte? Ein vages Gefühl der Sehnsucht flackerte im Inneren des Golems auf. Es brannte wie eine kleine Kerzenflamme im steinigen Herzen des Kunstmenschen. Es war das erste Mal gewesen, dass sich Onda an der Schöpfung eines Golems versucht hatte. Deshalb war ihr der Prozess entsprechend fremd gewesen und die Hohepriesterin hatte nur eine vage Ahnung davon besessen, wie viel magische Energien sie aufwenden musste. Der Zauber war ihr zu stark geraten. Es war niemals ihre Absicht gewesen, dass sich der Golem in ihrer Abwesenheit erheben und auf eigene Faust die Gegend erkunden sollte, doch genau dies tat er nun. Ondas magische Energien beseelten ihn auf unheimliche Art und Weise. Der Kunstmensch stieß ein kehliges Brummen aus, als ihm ein tief hängender Ast den Weg versperrte. Wieder schien es eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis er schließlich erkannte, wie er das unerwartete Hindernis beiseite räumen konnte.
Seine lehmige Hand griff zu und schloss sich fest um den Ast, der gleich darauf wie ein dürrer Zweig brach. Der Golem blinzelte. Fast verblüfft über die eigene Kraft drehte er das Holzstück in den Händen und ließ es dann schließlich achtlos fallen. Mit schweren Schritten stapfte er weiter, bis er den Hain der Ruhe endgültig verlassen hatte. Wieder blickte sich der Kunstmensch um. Eine grüne Hügellandschaft bot sich ihm dar. Sie schien sich bis zum Horizont zu erstrecken. In der Ferne lud ein großer See zum Baden ein. Ein kleiner geflügelter Naturgeist schwirrte dicht über dem Grasboden, bemerkte dann den Neuankömmling und stieg neugierig höher in die Lüfte, bis er dem Golem in die seelenlosen Augen blicken konnte. Das blauhäutige Geschöpf stieß ein vorwitziges Schnattern aus. Irritiert musterte der Golem die kleine Kreatur, die dicht vor seinem Gesicht umherflatterte. Sekundenlang geschah nichts, dann schoss die lehmige Pranke des Kunstmenschen plötzlich nach vorne und ergriff den kleinen Naturgeist. Im gleichen Moment, da sich seine Finger um das Geschöpf schlossen, war ein unschönes Knacken zu hören. Der winzige Körper erschlaffte. Verblüfft öffnete der Golem die Finger und betrachtete das leblose Wesen auf seiner Handfläche. Ohne böse Absicht hatte er es entzweigebrochen. Vorsichtig stupste er den zerquetschten Leib mit der Fingerspitze an, als erwarte er, dass er sich im nächsten Moment wieder in die Lüfte erheben würde. Dem war jedoch nicht so. Der Golem stieß einen missmutigen Laut aus, ließ den Körper dann beiläufig fallen und setzte sich wieder in Bewegung, um seinen Weg über die grünen Auen fortzusetzen. Nach einer Weile runzelte er die lehmige Stirn. Der Golem spürte, dass er nicht länger allein war. Diesmal war es jedoch kein Natur-
geist, der seine Einsamkeit störte, sondern etwas ganz anderes. Eine rein geistige Präsenz schwebte hoch über den Wiesen und schien ihn neugierig zu beobachten. Abermals blieb der Golem stehen. Irritiert starrte er in den Himmel. Seine Augen folgten dem Spiel der Wolken hoch über sich. Die fremdartige Präsenz musterte ihn und blickte tief in sein Innerstes hinein. Du bist neu hier. Die Worte waren keine Frage, sondern eine bloße Feststellung. Sie leuchteten im rudimentären Eigenbewusstsein des Golems auf wie kleine Kerzenflammen. Die Präsenz senkte sich tiefer herab und schien ihn nun ganz mit ihrer Gegenwart zu umhüllen. Der Golem spürte, wie ihm warm wurde. Lass mich herausfinden, wer du bist. Der Kunstmensch stellte fest, dass der geistigen Stimme etwas Weibliches anhaftete, aber natürlich hatte er keinen Schimmer, mit wem er es zu tun hatte. Die Augen des Golems schlossen sich, als sich die weibliche Wesenheit daran machte, direkt in sein lehmiges Inneres zu blicken. Viel gab es dort nicht zu entdecken, lediglich fragmentarische Erinnerungen an seine Schöpfung und das zurückliegende Liebesspiel. Ein mentales Kichern war zu hören. Es klang auf eine sehr subtile Weise äußerst bösartig. Du bist also Ondas kleines Spielzeug! Wer hätte das gedacht. Einen Moment lang herrschte Stille im Kopf des Golems, dann meldete sich die geisterhafte Stimme erneut zu Wort. Wenn sie wieder deine Umarmung sucht, dann wirst du sie mit deiner Zärtlichkeit erdrücken, kleiner Freund. Das böse Lachen wurde lauter und lauter, bis der Kopf des Kunstmenschen zu platzen drohte. Das letzte, was Onda jemals hört, soll das Bersten ihrer Rippen sein!
Unendlich langsam nickte der Golem. Er hatte verstanden! Onda war nun für ihn Vergangenheit, denn ab jetzt diente er einzig der Herrin vom See.
* Brocéliande/Avalon Nachdem sich Zamorra ein wenig frisch gemacht hatte, betrat er gemeinsam mit Nicole abermals das Kellergewölbe des Châteaus, um zwischen die dortigen Regenbogenblumen zu treten. Nur einen Lidschlag später befanden sich die beiden Dämonenjäger in der Bretagne. Hier, unweit von Paimpont, befand sich Merlins mythischer Zauberwald Brocéliande. Wie auch die Festung Caermardhin war der Wald für normale Menschen völlig unsichtbar. Die Regenbogenblumen-Kolonie, in welcher die beiden Dämonenjäger materialisierten, befand sich auf einer Wiese. In einigen Metern Entfernung konnte das Paar eine lang gezogene, dunkle Waldfront erkennen. »Allmählich wirst du hier Stammgast, Chérie«, flachste Zamorra und stieß seine Gefährtin schmunzelnd in die Rippen. In der Tat war es für Nicole mittlerweile der dritte Besuch in den letzten Monaten. Zunächst war sie gemeinsam mit Monica Peters hier gewesen, als die beiden Frauen dem Dämon Buraal hinterherhetzten. Vor einigen Wochen dann hatte sich Zamorra an ihrer Seite befunden. Auch damals betraten sie den Wald, um auf diesem Wege Avalon aufzusuchen. »Pah«, machte Nicole und zog eine entzückende Schnute. »Ich würde aber jetzt trotzdem lieber auf dem Bärenfell liegen!« »Später, Chérie«, vertröstete Zamorra seine Gefährtin. Seine Gedanken galten gerade der wechselhaften Geschichte des
Waldes. Im Jahr 1998 war Brocéliande durch die russische Hexe Baba Yaga vernichtet worden. Erst Merlins dunkler Bruder Asmodis hatte den Wald 2001 wieder aufgeforstet. Seither war Brocéliande auch von Schwarzer Magie erfüllt. Größtes Heiligtum und Zentrum des Zauberwaldes war der Brunnen, der das Ziel der beiden Dämonenjäger darstellte. Einstmals hatte er sogar als Jungbrunnen fungiert, heute jedoch diente er nur noch als Portal nach Avalon. Bewacht wurde er von den Tonkan, quirligen kleinen Schwarzelfen. Zamorra knöpfte beiläufig die obersten Knöpfe seines Hemds auf und nestelte sein silbernes Amulett hervor. Merlins Stern diente gewissermaßen als sichere Eintrittskarte für den Wald. Um jede Gefahr zu vermeiden, war es besser, wenn er das Amulett beim Betreten offen auf der Brust trug. Gemeinsam setzten sich die beiden Dämonenjäger in Bewegung und begaben sich in Richtung Wald. Brocéliande war ein wirklich wunderlicher Ort. An den Ästen mancher Bäume hingen sprechende Früchte. Tiere neigten zu spontanen Selbstentzündungen, um sogleich aus der eigenen Asche wieder neu zu erstehen. An anderer Stelle marschierten Bäume auf ihren Wurzeln umher. Das Paar hatte schon manche fremde Welt besucht und viele Wunder gesehen, dennoch besaß die Atmosphäre von Brocéliande etwas Eigentümliches. Unbehelligt bahnten sie sich ihren Weg durch den dunklen Forst, bis sie schließlich eine große, kreisrunde Lichtung erreichten. In ihrem Zentrum befand sich eine etwa zweieinhalb Meter hohe, aus Backsteinen gemauerte Röhre, deren Durchmesser etwa drei Meter betrug. Dies war der geheimnisvolle Brunnen, das größte Heiligtum Brocéliandes und Transitpunkt nach Avalon. »Wir haben Besuch, Chef«, wisperte Nicole an seiner Seite.
»Schon gesehen«, gab Zamorra zurück. Zwischen den Bäumen waren kleine schwarze Gestalten sichtbar geworden. Nicole lächelte unwillkürlich. »Ich hatte die kleinen Racker schon vermisst«, gab sie zu. Die Schwarzelfen hielten sich im Hintergrund und fungierten als stille Beobachter. Die Französin kniff die Augen zusammen und versuchte herauszufinden, ob sich ein bekanntes Gesicht darunter befand. Die anwesenden Tonkan waren ihr jedoch fremd. »Schade«, murmelte Nicole fast ein wenig enttäuscht. Dann griff sie nach Zamorras Hand. »Sollen wir?«, fragte sie. Der Parapsychologe nickte und trat gemeinsam mit der Französin auf den Brunnen zu. Es war nicht einmal nötig, die hohe Brüstung zu erklimmen und sich hineinfallen zu lassen. Für den Transfer musste man lediglich eine entsprechende Legitimation wie Merlins Stern besitzen und sich auf sein Ziel konzentrieren. Gemeinsam taten die beiden Dämonenjäger den Schritt nach Avalon. Für einen kurzen Moment lang kamen sich die Beiden wie von Bernstein eingeschlossene Insekten vor. Eine ungeheuer starke, fremdartige Magie umfing sie. Doch schon im nächsten Moment hatten sie das Gefühl, durch den Weltraum zu trudeln. Ihre Körper stürzten an unbekannten, grell leuchtenden Gestirnen vorbei. Dann endete der Transfer und die beiden Dämonenjäger materialisierten unvermittelt auf Avalon. Doch die Ankunft sollte sich ungemütlicher gestalten, als ihnen lieb war. »Scheiße, ist das kalt!« Nicole Duval stieß ein undamenhaftes Prusten aus und bemühte sich, den Kopf über der Wasseroberfläche zu halten. Einen Moment später tauchte Zamorra neben ihr aus den eisigen Fluten auf. Der Parapsychologe hustete und spuckte Wasser aus. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.
»Unter einer sanften Landung stelle ich mir etwas anderes vor«, brachte er hervor, Sie waren nämlich unmittelbar vor der Küste Avalons zum Vorschein gekommen und trieben mitten im Meer. Zum Glück befand sich der Strand in Sichtweite. Das Wasser war geradezu eisig. Beherzt schwammen die beiden Dämonenjäger in Richtung Küste und kletterten kurz darauf zähneklappernd an Land. »Himmelherrgottnochmal«, fluchte Zamorra, nachdem er seine Ausrüstung auf Vollständigkeit überprüft hatte. »Da haben wir gerade noch mal Glück gehabt!« Die verwunschene Feeninsel trieb zwischen den Zeiten und bewegte sich dabei immer weiter von der Erde fort. Über das Meer, das Avalon umgab, wussten die Beiden nichts. Vielleicht dehnte es sich bis in die Unendlichkeit aus. Genauso gut war es möglich, dass es irgendwo abrupt aufhörte. Nicole nickte bibbernd. »Allerdings«, sagte sie und deutete auf die eisigen Fluten. »Wenn wir weiter dort draußen materialisiert wären, hätten wir es vielleicht nicht mehr an Land geschafft.« Bei den frostigen Temperaturen hätten sie sich nicht sonderlich lange über Wasser halten können, das wusste sie. Die Französin schlang die Arme um den Körper. »Es ist überhaupt bitterkalt hier«, stellte sie fröstelnd fest. Zamorra nickte und blickte sich um. Unweit des Ufers konnte man ein ausgedehntes Waldgebiet ausmachen. »Ich habe eine Idee«, verkündete er. Kurzerhand hakte er sich die bibbernde Nicole unter und machte sich auf den Weg dorthin. Auch Zamorra fror. Während er sich mit seiner Gefährtin in Richtung Wald begab, überlegte er. Offensichtlich waren sie im winterlichen Teil der Insel gelandet. Höchst unerfreulich, dachte Zamorra bei sich. Die nasse Landung hätte sie bei diesen Temperaturen durchaus den Kopf kosten können. Umso dringlicher war es, dass sie sich jetzt
schleunigst aufwärmten. Nach einigen Minuten hatten die beiden Dämonenjäger das Waldgebiet erreicht. Eilig begann Zamorra damit, Holz und Äste einzusammeln. Gleich darauf entzündete er mit seinem Energieblaster ein wärmendes Lagerfeuer. In seinem Inneren beglückwünschte sich Zamorra, die Strahlwaffen mit auf die Reise genommen zu haben. Schon bald loderten die Flammen hoch in den frostigen Himmel. »Wärmen wir uns erstmal auf, Chérie«, sagte Zamorra und nahm seine Gefährtin in den Arm. »Danach sieht die Welt gleich anders aus.« Noch ahnte er nicht, dass ihre Ankunft längst bemerkt worden war.
* Die Herrin vom See zuckte zusammen. Das rote Glosen ihrer schräg nach oben gezogenen Augen intensivierte sich. »Wir sind nicht mehr allein«, flüsterte sie. Die hochgewachsene, düstere Gestalt drehte sich langsam in Richtung des Allerheiligsten. In den Nebeln konnte sie das Herz von Avalon in all seiner Erhabenheit erkennen. Der Anblick wärmte ihr Innerstes und half ihr, ihre aufgepeitschten Sinne ein wenig zu beruhigen. Einen Moment zuvor war die Herrin vom See noch mit ihren Gedanken ganz bei Onda gewesen. Dass die oberste ihrer Priesterinnen innere Zweifel hegte, war nicht gut. Damit war sie für die Herrin vom See nämlich nicht länger verlässlich und das bedeutete ihr Todesurteil. Die düstere Gestalt ließ ein böses Kichern hören, als sie sich an den Golem erinnerte. Wenn sich Onda das nächste Mal zu einem diskreten Schäferstündchen absetzen wollte, würde sie eine schmerzhafte Überraschung erleben.
Aber schon im gleichen Moment verflog die Heiterkeit der Herrin vom See. Die Gegenwart der Neuankömmlinge bedeutete Gefahr für die Zeitenfähre und für das Herz von Avalon selbst. Alles, was ihr lieb und teuer war, war mit ihrer Ankunft einer unkontrollierbaren Bedrohung ausgesetzt. Die Herrin vom See blinzelte kurz und einen Lidschlag später befand sie sich im Inneren des Herzens. Finsternis umgab sie nun, aber das störte sie nicht. Ihre Augen vermochten die Umgebung auch ohne Licht deutlich wahrzunehmen. Sachte, fast zärtlich streichelte sie über die kristallinen Wände des Heiligtums und fühlte sich auf seltsame Weise geborgen. Die Berührung des Herzens stärkte sie. Ein wenig von seiner Energie ging auf die Herrin vom See über. Die düstere Gestalt stieß einen angenehm berührten Laut aus und schloss die rot glühenden Augen. Ohne den Kontakt mit dem Herz zu lösen, ließ die Herrin vom See ihren Geist auf Wanderschaft gehen. Tatsächlich, erkannte sie einen Moment später, Zamorra und seine Kebse! Der erste Eindruck hatte also nicht getäuscht. Die Herrin vom See spürte, wie ihr eiskalt wurde. Gleichzeitig brandete unbändiger Zorn in ihr auf. Bei seinem letzten Besuch hatte Zamorra von Taran – dem Bewusstsein, das im Inneren seines Amuletts hauste – den Tipp bekommen, wie er das Innere der Zeitenfähre ein für alle Mal vernichten konnte. In einer Panikreaktion hatte die Herrin vom See die Eindringlinge damals zurück in die Realwelt geschleudert. Niemals hätte sie erwartet, dass der Dämonenjäger und sein Weib so schnell zurückkehren würden. Immer noch konnte sie in Nicole Duval das Echo jener ungeheueren Kraft wahrnehmen, die sich CHAVACH nannte und deren einziges Ziel die Vernichtung von KAISER LUZIFER war. Ge-
bildet wurde diese Kraft aus verschiedenen unbekannten Faktoren, Zamorras Amulett und schließlich Duval selbst. Mittels dieser furchtbaren Macht war es gelungen, LUZIFER zu vernichten und die Schwefelklüfte untergehen zu lassen. Und nun waren die beiden Dämonenjäger inklusive CHAVACH also zurück. Der Herrin vom See war klar, dass sie umgehend Maßnahmen ergreifen musste. Diesmal wollte sie jedoch kein unnötiges Risiko mehr eingehen. Und so fällte sie zum zweiten Mal an diesem Tag ein Todesurteil. Es stellte sich nur die Frage, wer es vollstrecken sollte.
* Ondas Augenlider sprangen auf. Gerade noch hatte sich die Hohepriesterin in tiefem Schlummer befunden, doch von einem Moment auf den anderen war sie hellwach. Mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung setzte sie sich im Bett auf und rieb sich mit den Handflächen durch das Gesicht, um die letzte Müdigkeit abzuschütteln. Aber dieser Handlung hätte es gar nicht bedurft, denn mit einem Mal füllte eine wohlbekannte Präsenz ihr gesamtes Schädelinneres aus. Onda! Die mentale Stimme klang ungnädig und metallisch. Onda erkannte ihre Gebieterin sofort. Ja, Herrin? Die Hohepriesterin zog die Knie an den Körper und kauerte sich zusammen wie ein kleines Mädchen. Nur allzu deutlich spürte sie den Unmut, welcher der mentalen Stimme innewohnte. Ich habe eine Aufgabe für dich! Zamorra und Duval treiben sich wieder auf Avalon herum. Ich will, dass du die Beiden sofort einfängst und ihren Machenschaften ein für alle Mal ein Ende bereitest!
Die Temperatur im Raum schien um einige Grade abzusinken. Sie töten?, fragte Onda, obwohl sie natürlich genau wusste, was die Gebieterin meinte. Schweigen. Dann meldete sich die Herrin vom See abermals mental zu Wort. Ich weiß sehr wohl, was du mit deinem kleinen Freund in den Wäldern getrieben hast. Deine Strafe ist dir gewiss, Onda, denn du bist unwürdig, noch länger in der Mitte meiner Priesterinnen zu verweilen. Du hast dich selbst befleckt. Die geistigen Worte waren wie Peitschenhiebe, unter denen Onda gepeinigt zusammenzuckte. Doch schon fuhr die Herrin vom See fort. Bisher hast du mir jedoch immer treu gedient und deshalb darfst du dich ein letztes Mal bewähren. Zeige mir, wie verlässlich du bist, und bring mir Zamorras Kopf! Urplötzlich war Onda wieder allein. Die Präsenz der Herrin vom See hatte sich übergangslos verflüchtigt. Wozu hätte sie auch bleiben sollen? Sie hatte alles gesagt und Widerspruch wurde nicht geduldet, das wusste Onda nur zu gut. Hastig warf die Hohepriesterin Avalons die Decke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. Ihre Gedanken jagten sich. Zamorra und Duval töten? Die Vorstellung widerstrebte Onda. Obwohl sie bislang den Befehlen der Herrin vom See immer blind Folge geleistet hatte, fühlte sie sich zutiefst unbehaglich. Ungebetene Besucher waren auf Avalon noch nie gerne gesehen gewesen, doch zumeist wurden diese kurzerhand von der Insel verbannt. Onda hatte in diesen Dingen bisher stets einen gewissen Ermessensspielraum besessen. Nun jedoch stand sie unter Beobachtung, das war ihr völlig klar. Onda fragte sich, wie die Herrin vom See wohl von ihrem kleinen Geheimnis in den Wäldern erfahren hatte. Aber ihre Überlegungen währten nur kurz. Sie kannte die Macht der Herrin. Ihre Augen waren überall. Wenn sie erst einmal den Hinweis auf eine Unregelmä-
ßigkeit im Gefüge Avalons bekommen hatte, dann pflegte sie mit ihrem Geist über die Insel zu wandern, bis sie die Ursache gefunden hatte. Valantia! Natürlich, nur die junge Adeptin wusste von Ondas Zweifeln. Sie musste der Herrin vom See davon berichtet haben. Eine andere Erklärung gab es nicht. Onda spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Dennoch konnte sie der Gefährtin den Verrat nicht verübeln. Valantia war der Herrin vom See treu ergeben. Sie glaubte fest an die unermessliche Güte ihrer Gebieterin. Und genau aus diesem Grunde würde Onda sie auch zurücklassen müssen. Der Entschluss war lange in ihr herangereift, doch der Hohepriesterin war klar, dass sich etwas ändern musste auf Avalon. Onda schluckte schwer. Wahrscheinlich würde sie bei dem Versuch ihr Leben lassen, aber das kalkulierte sie bewusst mit ein. Insgeheim hoffte sie sogar darauf. Seit Ewigkeiten wandelte sie nun schon auf Avalon. Was sie Valantia berichtet hatte, entsprach der Wahrheit. Sie litt unter der Bürde der Unsterblichkeit. Langsam erhob sich Onda vom Bett und trat ans Fenster. Der dichte Forst schien sie förmlich anzulocken. Die Hohepriesterin wusste nur allzu gut, unter den Frauen der Siedlung würde sie niemanden finden, der ihr beistand. Dort draußen jedoch mochte es ganz anders aussehen. In den Wäldern Avalons lebten mannigfaltige Kreaturen, die Onda durchaus zugetan waren. Die Hohepriesterin Avalons genoss Respekt bei den wunderlichen Fabelwesen der Insel. Ob sie allerdings von der Idee einer Revolution überzeugt werden konnten, stand auf einem ganz anderen Blatt. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Äußerlich völlig regungslos ließ Onda ihre Gedanken schweifen.
Sie überlegte, wen sie wohl als Erstes in ihre Pläne einweihen sollte. Die potenziellen Kandidaten zogen an ihrem geistigen Auge vorbei. Schließlich huschte ein abwesendes Lächeln über die Lippen der Hohepriesterin. Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab und begann hastig damit, einige Sachen zusammenzupacken. Onda beabsichtigte nicht, noch einmal in ihre Behausung zurückzukehren. Nein, sie würde sich nicht auf die Jagd nach dem Amulettträger und seiner Gefährtin begeben. Wenn sie das nächste Mal die Siedlung der Priesterinnen betrat, dann würde sie nicht mehr im Dienste der Herrin vom See stehen. Die hochgewachsene Frau schulterte ihr Bündel, ließ den Blick noch einmal durch die verschiedenen Räume gleiten und verließ dann das Haus. Unauffällig verschwand sie in den angrenzenden Wäldern. Noch ahnte sie es nicht, aber Onda zog in den Krieg.
* Fernab von Avalon Die schöne junge Frau starrte aus blicklosen Augen in den Abendhimmel. Hoch angesetzte Wangenknochen verliehen ihren Zügen ein asiatisches Flair und machten es schwierig, ihr wahres Alter einzuschätzen. Ein leichter Windhauch spielte neckisch mit ihrem schulterlangen, silberfarbenen Haar. Erst als ihr eine Strähne direkt ins Gesicht geweht wurde, schien das Leben in ihren schlanken Körper zurückzukehren. Blinzelnd wischte sie die Haare beiseite und schüttelte die letzten Überreste ihrer Trance ab. Mit unruhiger Miene sortierte sie ihre Gedanken und versuchte sich darüber klar zu werden, was sie während der gerade durchleb-
ten Vision gesehen hatte. Die verschwommenen Bilder waren überaus beunruhigend gewesen. Sie betrafen nämlich das sagenhafte Avalon. Wenn sie die Vision richtig interpretierte, bahnte sich auf der Feeninsel ein mörderischer Krieg an. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Avalon durfte niemals fallen! Nachdenklich berührte die junge Frau ihren Bauch, wo sich an der Stelle des Nabels ein zusätzliches, drittes Auge befand. Dies war das Zeitauge, mit dessen Hilfe es ihr möglich war, ein kleines Stück weit in die Zukunft zu sehen. Sein Blick hatte sie noch nie getrogen und deshalb wusste die junge Frau, dass nun höchste Eile geboten war. Es war nun an der Zeit für sie, ihre Wächterdimension zu verlassen und in den Gang der Dinge einzugreifen. Sara Moon zögerte nicht länger. Abrupt stieß sie in die Wirklichkeit vor.
* Avalon Mit einem Mal hellte sich Nicole Duvals Miene merklich auf. »Sieh mal, da drüben«, sagte sie freudig und deutete mit dem ausgestreckten Arm in die entsprechende Richtung. Zamorra folgte ihrem Blick. In einiger Entfernung konnte er ein kleines Gehöft erkennen. Aus dem Kamin des Haupthauses stieg dichter Rauch auf, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass hier jemand lebte. Hinter den beiden Dämonenjägern lag ein anstrengender Marsch, der sie quer durch den scheinbar endlosen Forst mitten in eine verschneite Hügellandschaft geführt hatte. Das Lagerfeuer hatte zwar kurzfristig für Wärme gesorgt, dennoch war es nach wie vor bitter-
kalt. Sie mussten sich dringend aufwärmen. »Endlich«, murmelte der Parapsychologe. »Ich kann meine Zehen kaum noch spüren.« So schnell es ihnen möglich war, brachten sie die letzten Meter hinter sich und betraten das einsam stehende Gehöft. Auf einer nahen Pferdekoppel waren trotz der harten Witterung mehrere Tiere zu sehen. Sie schienen die Kälte gewohnt zu sein. Zamorra lächelte. Sogar ein schneeweißes Einhorn zog unter den Pferden seine Bahnen. Als es die beiden Dämonenjäger erblickte, stieß es ein lautes Wiehern aus. Der Parapsychologe wechselte einen Blick mit seiner Gefährtin und wandte sich der Tür des Haupthauses zu. Noch ehe er klopfen konnte, wurde ihm geöffnet. Die hagere Gestalt einer verhärmt aussehenden Frau wurde im Türrahmen sichtbar. Sie sah nicht unfreundlich aus, ihre klaren blauen Augen blitzten jedoch wachsam. Zamorra zweifelte nicht daran, dass sie trotz ihres Alters durchaus imstande war, sich im Notfall ihrer Haut schlagkräftig zu erwehren. »Was wollt ihr?«, fragte sie mit raschelnder Stimme. Als sie die nicht ganz witterungstaugliche Kleidung der beiden Fremdlinge bemerkte, zog sie irritiert eine Augenbraue hoch. Zamorra lächelte freundlich. »Wir würden uns gerne ein wenig aufwärmen« erklärte er. »Es ist bitterkalt draußen.« Wieder musterte die Alte Zamorras mittlerweile nicht mehr ganz blütenweißen Anzug, dann öffnete sie die Tür ganz und gewährte den beiden Dämonenjägern Einlass. »Bei der Herrin vom See, so kommt schon herein«, erklärte sie. »Ich möchte nicht schuld sein, wenn ihr da draußen erfriert!« »Vielen Dank, gute Frau«, erwiderten Zamorra und Nicole wie aus einem Mund. Erleichtert betraten sie die Stube. In einem offenen Kamin brannten Holzscheite und verbreiteten behagliche Wärme. Das trockene Knacken des Feuers übte sogleich
eine beruhigende Wirkung auf die beiden abgekämpften Dämonenjäger aus. »Setzt euch«, brummte die alte Frau und humpelte in einen anderen Bereich der Stube. »Ich werde sehen, ob ich noch etwas heiße Suppe für euch habe!« Das klang überaus verlockend und dankbar nahmen die beiden Platz. Während Zamorra noch gedankenverloren ins Feuer starrte, hörte er plötzlich wie seine ihm gegenüber sitzende Gefährten scharf den Atem einsog. Er blickte auf und hob fragend eine Augenbraue. Verstohlen deutete Nicole auf irgendetwas hinter ihm. Stirnrunzelnd wandte der Parapsychologe den Kopf. In einer Ecke der Stube konnte er ein kleines Mädchen mit blonden Locken erkennen, welches still mit ein paar Bauklötzen spielte. Es mochte ungefähr dreieinhalb Jahre alt sein. Der Anblick des Mädchens weckte Erinnerungen in Zamorra. Eine vage Vermutung keimte in ihm auf. Er wechselte einen Blick mit Nicole. Die Französin schien an dasselbe zu denken. In jenem Moment nahte die alte Frau mit zwei dampfenden Schüsseln, die sie vor den beiden Dämonenjägern auf dem Tisch abstellte. »Danke sehr«, sagte Zamorra erfreut. Während Nicole sogleich mit dem Essen begann, deutete der Parapsychologe auf das Kind hinter sich. »Eure Enkelin?«, fragte er scheinbar beiläufig. Die alte Frau blickte herüber zu dem in seinem Spiel versunkenen Mädchen. Ihre Miene wurde sanfter, freundlicher. »Nein«, sagte sie bedauernd. »Kinder, die mir Enkel schenken könnten, sind mir nicht vergönnt. Ich bin die Amme dieses Mädchens.« »Die Amme?«, echote Nicole zwischen zwei Löffeln. Sie blickte interessiert auf. Aufseufzend raffte die Alte ihre Schürze und nahm neben ihr
Platz. Mit raschelnder Stimme fuhr sie fort: »Das arme Ding hat nur seine Schwester. Sie ist ein Kind der Schande.« In Nicoles braunen Augen zeigten sich goldene Tupfen, was ein untrügliches Anzeichen für höchste Erregung war. Und auch Zamorra selbst lauschte wie gebannt. Als Kind der Schande hatten die Priesterinnen Avalons Eva, die fluchbeladene Tochter Merlins, bezeichnet. Der Parapsychologe konnte sich lebhaft an die junge Einhornreiterin erinnern, die gezwungen war, ihr Leben rückwärts zu leben. Das letzte Mal hatte er sie im Zuge der Ereignisse um die Dritte Tafelrunde gesehen. Damals hatte Sara Moon, Evas Halbschwester, das Kind mit in ihre Wächterdimension genommen. Dadurch, dass Eva nicht mehr in der Menschenwelt mit ihren verschiedenen Aspekten weilte, war auch der Fluch aufgehoben worden. Zahllose Erinnerungen wirbelten durch Zamorras Hirn. Die Dritte Tafelrunde … der Tod von treuen Weggefährten wie Pater Aurelian, Fenrir und Reek Norr … Merlins wundersame Heilung von der zunehmenden Geistesverwirrung, die erstaunlicherweise einherging mit Evas Abschied aus der Menschenwelt … Der Parapsychologe blinzelte und zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Nun lebte Eva offenbar hier auf Avalon in der Obhut einer Amme. Er zweifelte nicht länger daran, durch einen irrwitzigen Zufall auf die junge Einhornreiterin gestoßen zu sein. »Und die Schwester?«, fragte Nicole unvermittelt und riss Zamorra so aus seinen Überlegungen. Das Lächeln der alten Amme wurde ein wenig schmerzlich. »Sie kann nicht ständig hier sein. Es gibt viele Dinge, die in den letzten Monaten ihre Aufmerksamkeit erfordern.« Das konnte sich Zamorra lebhaft vorstellen, denn Sara Moon war die Hüterin der Zeit. Von ihrer geheimnisvollen Wächterdimension aus sicherte sie die Zeitlinien des Universums und hatte die Aufgabe, mögliche Paradoxa zu verhindern.
Es war mittlerweile über fünf Jahre her, dass die beiden Dämonenjäger Sara Moon zum letzten Mal gesehen hatten. Beim Tod ihres Vaters Merlin war sie unsichtbar geblieben und auch der Untergang der Hölle hatte sie nicht aus der Reserve locken können. Zamorra konnte sich zwar denken, dass es für dieses Verhalten durchaus gute Gründe gab, eigentümlich fand er es dennoch. »Sie ist so oft hier, wie es ihr möglich ist«, riss ihn die Stimme der alten Frau aus seinen Gedanken. »Sie kümmert sich wirklich rührend um die Kleine.« Das glaubte Zamorra aufs Wort. Nicole hatte das Kinn auf die Hand gestützt und ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Sie lächelte abwesend. »Erwacht etwa dein Mutterinstinkt, Chérie?«, fragte Zamorra schmunzelnd. »Blödmann«, gab die Französin postwendend zurück und zog einen Flunsch. »Du weißt doch, ich habe nur einen Shopping-Instinkt!« Zamorra zwinkerte ihr noch einmal zu, dann wurde er wieder ernst. Zahllose Fragen lagen auf seiner Zunge, doch die einfache Amme würde ihm diese nicht beantworten können, das wusste er. Nachdenklich löffelte er seine Suppe. Wie er erfuhr, hatte die alte Frau von sich aus keine Möglichkeit, Kontakt mit Sara Moon aufzunehmen. Das war natürlich höchst bedauerlich, zumal sich Zamorra nur zu gerne mit ihr unterhalten hätte. Aber dafür war später immer noch Zeit. Schließlich waren sie nicht wegen Sara nach Avalon gekommen. »Gute Frau«, begann er nach einigem Überlegen. »Wir sind auf dem Weg zu den Priesterinnen, die auf dem anderen Teil der Insel leben. Leider sind wir ein bisschen vom Weg abgekommen. Könntet Ihr uns vielleicht leihweise zwei eurer Pferde überlassen?« Die Alte stieß ein meckerndes Lachen aus. »Da habt ihr aber noch ein gutes Stück Weg vor euch! Und das bei dem Wetter!«
Ein Blick aus dem Fenster verdeutlichte den beiden Dämonenjägern, dass es zu schneien begonnen hatte. Abrupt erhob sich die Amme und humpelte in eine dunkle Ecke der Stube, wo sie zu kramen begann. »Sicher werdet Ihr nicht erwarten, dass ich euch ohne Gegenleistung zwei meiner Tiere gebe, nicht wahr?«, murmelte sie über die Schulter hinweg. »Natürlich nicht«, beeilte sich Zamorra zu sagen. Allerdings wusste er, dass er mit den Euro-Noten in seiner Brieftasche hier nicht weiterkommen würde. »Wie können wir euch bezahlen?« Die Alte hatte offenbar gefunden, was sie suchte. Blitzartig fuhr sie herum. In den Händen trug sie ein schweres Handbeil. Die beiden Dämonenjäger zuckten für einen Moment zusammen, doch die Amme schien keine bösen Absichten zu hegen. Sanft legte sie das Beil vor Zamorra auf dem Tisch ab. »Geht raus und macht euch ein wenig nützlich«, forderte sie den Parapsychologen auf. »Uns wird allmählich das Feuerholz knapp!« Während Zamorra noch verdutzt das Beil anstarrte, wandte sich die alte Frau an Nicole: »Möchtet ihr noch ein wenig Suppe, gutes Kind? Ihr seht aus, als könntet ihr es gebrauchen?« »Sehr gern«, erwiderte die Französin dankbar. »Lass es dir schmecken, Chérie«, wünschte Zamorra und nahm das Beil an sich. Unter Nicoles schmunzelnden Blicken trollte sich der Dämonenjäger ins Schneegestöber.
* Ein anstrengender Tag lag hinter Valantia. Die junge Adeptin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die harten Stunden des zurückliegenden Tempeldienstes hatten ihr geholfen, ihre Gedanken hinter sich zu lassen.
Nun jedoch lag der Dienst hinter ihr und sie machte sich auf den Weg zu ihrer Gefährtin. Als sie Ondas Behausung betrat, spürte Valantia sogleich, dass sich etwas verändert hatte. Das Haus war kalt geworden. Die vertraute Ausstrahlung ihrer Gefährtin hatte sich verflüchtigt. Valantia runzelte die Stirn und ging durch die verschiedenen Räume, um ihren Blick schweifen zu lassen. Schnell bestätigte sich ihre Ahnung. Onda war fort. Sie musste das Haus schon vor Stunden verlassen haben. Nur einige kleine Gegenstände hatte sie mit sich genommen, offenbar in großer Eile. Valantia spürte, wie ihr die Knie schwach wurden. Ehe sie zusammensacken konnte, nahm sie auf einem kleinen Hocker Platz. Die junge Adeptin barg das Gesicht in den Händen. Sie hat mich zurückgelassen, durchzuckte es sie. Ondas innere Zerrissenheit war deutlich wahrnehmbar gewesen, aber niemals hätte Valantia damit gerechnet, dass die Hohepriesterin so weit gehen würde, alles hinter sich zu lassen. Sie spürte überdeutlich, Onda würde nicht mehr zurückkehren. Die Priesterin hatte mit der Herrin vom See ein für alle Mal gebrochen. Warum hat sie nicht mit mir geredet?, fragte sie sich. Schließlich hatte Onda sie sonst auch immer an ihren innersten Gedankengängen teilhaben können. Das hatte Valantia bisher zumindest immer angenommen. Nun musste sie sich jedoch eingestehen, dass sie die ehrwürdige Hohepriesterin offenbar nicht halb so gut kannte, wie sie sich eingebildet hatte. Valantia! Die junge Adeptin zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Die Stimme war plötzlich in ihrem Kopf und ließ keinen eige-
nen Gedanken mehr zu. Sie klang mächtig und grollend. Von der allumfassenden Güte, die sie der Herrin vom See stets zugeschrieben hatte, war nichts wahrnehmbar. Unwillkürlich schrumpfte Valantia in sich zusammen. Ja, Herrin? Furchtbarer Zorn schien die Herrin vom See zu beseelen. Das dumpfe Brodeln war deutlich wahrnehmbar. Onda hat uns verlassen, erklärte sie dann. Obwohl ich bereit war, ihr eine letzte Chance zu gewähren, ist sie zu einer Verräterin ihres Volkes geworden und deshalb unwürdig, mir weiter zu dienen! Eine gedankliche Pause folgte. Sie hat ihr Leben längst verwirkt, verkündete die Herrin vom See. Ihre Worte klangen furchtbar endgültig. Valantia nickte langsam. Sie wusste, dass die Gebieterin keinen Widerspruch duldete. Damit geht das Amt der Hohepriesterin auf dich über, mein Kind, fuhr die Herrin vom See fort. Und ich habe auch schon Befehle für dich, Valantia! Die junge Adeptin blickte auf. Wie kann ich dir dienen, Herrin? Es sind Eindringlinge auf Avalon, erklärte die düstere Stimme in Valantias Kopf. Sie sind uns feindlich gesinnt und in der Lage, die Zeitenfähre zu zerstören. Ich verlange, dass du diese Personen in Gewahrsam nimmst und die Gefahr beseitigst. Töte die Feinde Avalons! Valantia schluckte schwer und bemühte sich, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken unter Kontrolle zu halten. So wird es geschehen, Herrin, antwortete sie dann. Gut, entgegnete die unheimliche Stimme. Hüte dich, mich ebenfalls zu enttäuschen! Die Präsenz der Herrin vom See verflüchtigte sich. Ihre Worte verwehten in Valantias Kopf. Die junge Adeptin stand langsam auf.
Sie wusste, es brachte nichts, wenn sie jetzt weiter vor sich hinbrütete. Dann würde es ihr am Ende nur wie Onda ergehen und sie würde damit beginnen, die Befehle der Herrin infrage zu stellen. Valantia sammelte sich noch einen kurzen Moment, dann fasste sie sich ein Herz und begab sich mit weit ausgreifenden Schritten zurück zum Tempel. Nur wenig später blickte sie von den obersten Stufen des Heiligtums hinab auf die versammelten Priesterinnen. Alle, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Siedlung anwesend waren, hatten den zeremoniellen Gongschlägen Folge geleistet. Die Schwestern sahen skeptisch aus. Dass sie von einer Adeptin zusammengetrommelt wurden, erschien ihnen offenbar ungewöhnlich. Auch wenn sie als Ondas rechte Hand galt, war diese Ehre doch bisher der Hohepriesterin selbst vorbehalten geblieben. »Was willst du, Valantia?«, fragte dann auch prompt die Erste. »Wo ist Onda?« Die junge Adeptin schluckte schwer. Sie bemühte sich, ihre aufgepeitschten Gefühle unter Kontrolle zu halten. Nach einem Moment gelang es ihr sogar. Kühl streifte ihr Blick über die versammelten Frauen. »Onda ist fort«, antwortete sie dann. »Die Herrin vom See hat ihr Amt deshalb mir übertragen. Ich erwarte euren Gehorsam!« Ein vielstimmiges Raunen erhob sich. Die Adeptin konnte die Schwestern durchaus verstehen. Der Vorgang war eine Ungeheuerlichkeit. Schließlich war Onda seit Äonen die Hohepriesterin Avalons gewesen. Valantia betrachtete das Getuschel einen Moment lang mit unbewegter Miene, dann gebot sie ihm mit einer herrischen Geste Einhalt. »Genug!« Tatsächlich verstummte das Raunen. Die Augen der Priesterinnen wandten sich wieder Valantia zu.
»Die Herrin vom See hat Befehle für uns«, ließ sie die übrigen Frauen wissen. »Es sind Eindringlinge auf Avalon, von denen eine große Gefahr ausgeht. Wir sollen diese Eindringlinge stellen und unschädlich machen!« Wieder wurde Getuschel laut, doch niemand stellte Valantias Worte infrage. Die Priesterinnen wussten sehr genau, dass niemand auf Avalon es gewagt hätte, ohne Befugnis im Namen der Herrin vom See zu sprechen. Außerdem war Valantia ihr bekanntermaßen treu ergeben. Die Adeptin hob die Hand und das Murmeln verstummte abrupt. »Bewaffnet euch, Schwestern«, befahl sie, als hätte sie nie etwas anderes getan. »Sattelt die Pferde und macht euch bereit, die Feinde Avalons zu stellen!« Die vielstimmige Antwort der Frauen jagte einen kalten Schauer über Valantias Rücken. Mit einem Mal wurde sie sich ihrer neuen Macht vollauf bewusst. »Wie du befiehlst, Meisterin!«
* Fernab der Siedlung, tief in den dunklen Wäldern Avalons, ließ Onda ihren Blick ebenfalls über eine vielköpfige Gruppe streifen. Sie stand leicht erhöht auf einem alten Baumstumpf und musterte die Anwesenden. Das Herz der ehemaligen Hohepriesterin war schwermütig. Sie wusste, sie war dabei, auf der Insel des Friedens einen furchtbaren Krieg zu entfesseln. Dennoch konnte sie nicht anders handeln, auch wenn es bedeutete, Leid und Tod unter die Bewohner Avalons zu tragen. Die große Waldlichtung hatte sich gut gefüllt. Aufgrund ihres Rangs genoss Onda Achtung und Respekt unter den Bewohnern des Forsts und daher waren viele von ihnen bedenkenlos bereit gewesen, ihrem Ruf Folge zu leisten.
Eine komplette Zentaurenherde hatte sich eingefunden. Einige düster dreinblickende Trolle waren zu sehen, daneben Faune, Kobolde und zahlreiche andere Geschöpfe. Sogar ein paar scheu aussehende Dryaden konnte sie erblicken. Onda lächelte schmerzlich. Die weiblichen Baumnymphen waren an ihre Behausungen gebunden und konnten sich nicht allzu weit aus dem Forst entfernen. In der bevorstehenden Auseinandersetzung würden sie daher keine große Hilfe sein. Soll ich noch länger warten? Die ehemalige Hohepriesterin überlegte kurz. Es waren mehr Forstbewohner gekommen, als sie erwartet hatte. Ohnehin würde sich ihre Botschaft wie ein Lauffeuer weiterverbreiten, damit war zu rechnen. Einer der Zentauren schien ungeduldig zu werden. Kurzerhand bahnte er sich einen Weg durch die Menge und drängte die Umstehenden beiseite. Onda musterte ihn neugierig. Wilde, braune Locken hingen ihm in die Stirn. Offenbar hatte er sich sehr beeilt, hierher zu kommen. Sein muskulöser Oberkörper war schweißbedeckt, die Flanken glitzerten feucht. »Warum hast du uns hergerufen, Onda?«, wollte er wissen. »Du weißt, wir achten dich, aber du hast den ganzen Wald verrückt gemacht!« Er war jung und ungestüm. Seine Augen loderten. Onda lächelte wehmütig. Auch sie selbst war einmal jung gewesen, aber das war schon unendlich lange her. Sie machte eine beschwichtigende Geste und sammelte ihre Gedanken. Onda wusste, von dem, was sie jetzt erklärte, hing alles ab. Letztendlich waren ihre Motive rein persönlich. Es musste ihr gelingen, die Waldbewohner von ihren Absichten zu überzeugen, sonst war alles vergebens. »Ich bin nicht länger Hohepriesterin Avalons«, erklärte sie dann. Die vielgestaltigen Bewohner des Forts rissen die Augen auf. Ge-
tuschel wurde laut, doch schon fuhr Onda fort. Sie wusste, wenn sie jetzt nicht weitersprach, dann würde sie für alle Zeiten den Mut verlieren. »Die Herrin vom See ist nicht gütig. Ich muss es wissen, denn seit unendlich langer Zeit diene ich ihr schon. Ich war schon da, bevor ihr geboren wurdet und dank der mir verliehenen Unsterblichkeit werde ich auch noch auf Avalon wandeln, wenn ihr schon längst wieder zu Staub zerfallen seid.« Im Gegensatz zu den Priesterinnen erfreuten sich die zahlreichen Fabelwesen, welche die Wälder bevölkerten, nicht der Unsterblichkeit. Sie waren dem endlosen Kreislauf von Werden und Vergehen unterworfen. Das Getuschel war bereits nach den ersten Sätzen Ondas verstummt. Die Blicke aller Versammelten ruhten gebannt auf ihr. Schließlich schnaubte der junge Zentaur, der sich instinktiv zum Wortführer der Menge aufgeschwungen hatte. »Die Güte der Herrin vermögen wir nicht zu beurteilen, Onda. Wir haben keinen Grund an ihr zu zweifeln!« In der Tat offenbarte sich die Herrin vom See in der Regel nur ihren Priesterinnen. Onda lächelte matt. »Das weiß ich«, antwortete sie. »Doch gerade in diesen Stunden hat sie zwei Besucher Avalons zum Tode verurteilt. Sie waren schon öfter hier und ich bezweifle, dass sie Böses im Schilde führen. Dennoch müssen sie sterben!« Das Getuschel wurde wieder laut. Ungebetene Besucher Avalons wurden normalerweise ohne große Umstände von der Insel verbannt. Eine Hinrichtung war etwas Außergewöhnliches. »Die Herrin möchte, dass ich das Urteil vollstrecke«, fügte Onda an. Die ehemalige Hohepriesterin blickte die Fabelwesen offen an. Sie hatte nicht mehr viele Karten aufzudecken. Nur die Ehrlichkeit
war ihr geblieben und nichts weniger forderten die Fabelwesen von ihr. »Aber ich weigere mich, zur Henkerin von Besuchern Avalons zu werden.« Der junge Zentaur nickte langsam. »Das ehrt dich, Onda«, gab er zu. Seine Augen blitzten scharfsinnig auf. »Aber das ist noch nicht alles, nicht wahr?« Die ehemalige Priesterin nickte langsam. Sie spürte, wenn sie die Unterstützung der Waldbewohner wollte, dann musste sie sich jetzt offenbaren. Ein feuchtes Glitzern war in Ondas Augen getreten, als sie weitersprach. Sie erzählte abermals von ihrer Unsterblichkeit und wie sie darunter litt, nicht endlich davon erlöst zu werden. Auch von ihrer unerfüllten Liebe berichtete sie. Die Waldbewohner hingen gebannt an ihren Lippen. So mancher hätte die ehemalige Priesterin nun gerne getröstet, doch Onda brauchte alles andere als Trost. Man schien das deutlich zu spüren und schwieg deshalb. Selbst der ungestüme, junge Zentaur lauschte ihr, ohne sie zu unterbrechen. Als Ondas Redefluss endete, herrschte für einige Momente Stille. Nur das Zwitschern kleiner Vögel war zu hören. Die Priesterin musterte die vielgestaltigen Waldbewohner. Ist es mir gelungen, zu ihnen durchzudringen? Onda wusste, allein davon hing alles ab. Verweigerten ihr die Fabelwesen die Gefolgschaft, war der Kampf verloren, noch bevor er begonnen hatte. Leiser Hufschlag war zu hören und riss die Priesterin aus ihren Überlegungen. Der junge Zentaur war ein Stück näher gekommen. Er stand nun unmittelbar vor dem Baumstumpf und blickte zu Onda auf. »Wir verstehen deinen Schmerz«, sagte er überraschend sanft. »Aber was erwartest du von uns? Was willst du, Onda?« Wieder diese Frage.
Onda schluckte schwer. Sie schwieg kurz, um sich zu sammeln, dann fuhr sie schnell fort. »Ich möchte mit einer Streitmacht in die Siedlung der Priesterinnen vordringen«, erklärte Onda. »Notfalls will ich bis ins Herz von Avalon marschieren. Es muss mir gelingen, die Herrin vom See zu überzeugen! Aber wovon überzeugen, werdet ihr euch fragen. Von dem Recht, den Partner zu lieben, den ich selbst erwählt habe. Von dem Recht auf das Ende meines immerwährenden Lebens. Und nicht zuletzt will ich sie davon überzeugen, dass es falsch ist, die Besucher Avalons zu töten! Denn wie ihr alle wisst, war die Zeitenfähre stets ein Hort des Friedens.« Mit jedem Wort fühlte sich Onda sicherer. Als sie endete, blickte sie den Waldbewohnern ernst entgegen. »Wenn es sein muss, werde ich alleine losziehen und um eine Audienz nachsuchen«, schloss Onda. »Aber ich denke, wenn wir gemeinsam gehen, haben wir eine größere Chance, angehört zu werden!« Auch der junge Zentaur war ernst geworden. »Die Priesterinnen werden es nicht kampflos hinnehmen, wenn wir in die Siedlung vordringen, um uns Gehör zu verschaffen«, stellte er ganz richtig fest. Onda nickte. Ein dunkles Lodern war in ihre Augen getreten. »So ist es«, antwortete sie schlicht. Der Zentaur schnaubte. »Du bist ohne Fehl, Onda, und warst uns stets wohlgesonnen«, erklärte er. Er warf einen Blick auf seine Herde, die am anderen Ende der Lichtung wartete. »Wir werden dir folgen!« Die Mitglieder der Herde nickten zustimmend und auch die anderen Fabelwesen schlossen sich diesem Votum letztendlich an. Trotz ihres Erfolgs spürte Onda, wie ihr Herz schwer wurde. Sie hoffte, dass sie die treuen Waldbewohner nicht geradewegs in die Verdammnis führte …
* Unvermittelt blieb der rastlose Golem stehen. Seit endlosen Stunden war er durch die Wälder gestreift, ohne auf eine Spur von Leben zu stoßen. Selbst die zahlreichen Fabelwesen des Forsts schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Nun jedoch war er plötzlich nicht mehr allein. So schnell, wie es ihm möglich war, duckte sich der Kunstmensch hinter einen hohen Strauch und musterte die Gestalt, die sprichwörtlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Es handelte sich um eine Frau mit schulterlangem, silberfarbenen Haar. Sie war lediglich mit einem kurzen Rock bekleidet, sodass der Golem bestens das dritte Auge erkennen konnte, welches sich an der Stelle ihres Bauchnabels befand. Der Kunstmensch runzelte seine lehmige Stirn. Es war weniger das dritte Auge, welches ihn erstaunte. Vielmehr brachte ihn das überraschende Auftauchen der seltsamen Frau aus dem Konzept. Die Silberhaarige warf einen prüfenden Blick in den Himmel und wandte sich ab. Es wurde langsam dunkel über Avalon. Der Abend senkte sich herab. Von der Gegenwart des Golems schien sie nichts zu ahnen. Dieser hielt sich weiter lautlos in den Büschen verborgen, um die merkwürdige Fremde zu beobachten. Seine Gedanken flossen unendlich langsam. Die weibliche Stimme hatte ihm vor Stunden einen unmissverständlichen Befehl erteilt und diesen würde er ohne nachzudenken ausführen. Beim Anblick der Silberhaarigen verspürte er unvermittelt das Bedürfnis, sich auf sie zu stürzen. Zwar wusste er, dass es sich bei der unbekannten Frau nicht um jene handelte, die er töten sollte, aber das änderte nichts. Nachdem er endlose Stunden durch die Wälder
gestapft war, konnte er seine Mordlust kaum noch unterdrücken. Natürlich hatte er keinen freien Willen. Das rudimentäre Eigenbewusstsein des Golems wurde völlig durch den Mordbefehl der Herrin vom See überlagert. Der Kunstmensch knurrte leise. Unendlich langsam richtete er sich im Gebüsch auf. Gerade wandte ihm die Frau den Rücken zu. Geistesabwesend strich sie sich durch das glatte, silberfarbene Haar. Sie schien zu überlegen. Töten, durchzuckte es den Golem. Das Wort leuchtete in großen, roten Buchstaben in seinen Gedanken auf. Es verdrängte alles andere. Erneut knurrte er, diesmal etwas lauter. Dieses Mal blieb er nicht unbemerkt. Die Frau zuckte sichtlich zusammen. Ihr schlanker Körper nahm eine lauernde, angespannte Haltung an, während sie sich nach links und rechts umsah. Leider versäumte sie es, auch nach hinten zu blicken, denn dann hätte sie den mordlustigen Golem sofort gesehen. Gerade als sie Anstalten machte, sich doch noch umzudrehen, stieß der Kunstmensch ein furchtbares Heulen aus und stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf sie.
* »Ach schau, da kommt das Empfangskomitee«, machte Zamorra seine Gefährtin aufmerksam. Sie hatten das kleine Gehöft vor ein paar Stunden mit den geliehenen Pferden verlassen und befanden sich seither auf dem Weg in die Stadt der Priesterinnen. Offenbar hatte man beschlossen, ihnen entgegenzukommen, denn gerade brach ein Trupp Reiterinnen in wildem Galopp aus dem vor ihnen liegenden Unterholz.
Die beiden Dämonenjäger zügelten ihre Tiere und blickten den Frauen entgegen. »Freundlich sehen die aber nicht gerade aus«, merkte Nicole an. Zamorra nickte knapp. In der Tat erinnerten ihn die Priesterinnen an wehrhafte Amazonen. Jedenfalls waren sie bis an die Zähne bewaffnet. Ich hoffe, da steht kein Ärger ins Haus, dachte er grimmig. Gewundert hätte es ihn nach dem letzten Besuch auf Avalon allerdings nicht. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte der Parapsychologe bekannte Gesichter unter den Frauen auszumachen. Die Hohepriesterin befand sich nicht unter ihnen. Einige Meter vor den Dämonenjägern zügelten nun auch die Amazonen ihre Pferde. Die Gruppe, die aus etwa einem Dutzend Frauen bestand, hatte sich in einem weiten Halbkreis aufgestellt. Kein Zweifel, die wollen uns einkesseln, erkannte Zamorra. Scheinbar sind sie mächtig sauer auf uns! Für Letzteres sprach eindeutig, dass die Amazonen die Hände auf den Schwertgriffen hatten und offenbar nur auf ein Signal ihrer Anführerin warteten. Bei dieser handelte es sich um eine jung aussehende Frau, deren schwarze Haarpracht unter einem kantig aussehenden Helm hervorquoll. Zamorra wusste natürlich, dass der äußere Anschein bei den Zauberpriesterinnen Avalons nichts bedeutete. Die Frau konnte genauso gut uralt sein. Er selbst war immerhin auch nicht mehr der Jüngste. Zamorra leckte sich über die Lippen und versuchte, den Blick der Geheimnisvollen aufzufangen. Die stahlblauen Augen hinter dem geöffneten Visier sahen entschlossen und zu allem bereit aus. Der Ausdruck darin verhieß nichts Gutes. Der Parapsychologe wechselte einen Blick mit Nicole. Auch sie schien den Ernst der Lage zu erfassen.
»Ich grüße euch«, sprach Zamorra schließlich. »Wir würden gerne mit Onda sprechen!« Er hatte noch keinen wirklichen Plan, wie er herausfinden sollte, ob sich tatsächlich eine Träne auf Avalon befand, aber ihm war klar, dass er zunächst mit der Hohepriesterin sprechen musste. Diese würde am ehesten Bescheid wissen. »Onda ist Vergangenheit«, ließ die Anführerin der Amazonen knapp wissen. Ihre Stimme klang kühl und beherrscht. »Ihr werdet mit mir vorlieb nehmen müssen!« Erstaunt hob Zamorra eine Augenbraue. Das war eine Veränderung, mit der er nicht gerechnet hatte! Onda kannte er seit Jahren und bildete sich daher ein, die Hohepriesterin ein wenig einschätzen zu können. Wenn sie nicht mehr im Amt war, wurde die Situation ungleich komplizierter. »Und du bist?« Nicoles Stimme unterbrach den Gedankengang des Parapsychologen. »Ich bin Valantia, die neue Hohepriesterin der Zeitenfähre!« Jetzt erst nahm sie den Helm ab und schüttelte ihr wallendes schwarzes Haar aus. Kurioserweise verstärkte das den grimmigen Eindruck noch. »Ihr seid Eindringlinge auf Avalon und stellt eine Gefahr für die Insel dar«, fuhr sie fort. »Die Herrin vom See hat deshalb befohlen, euch zu richten!« Zamorra pfiff leise durch die Zähne. Dass ungebetene Gäste nicht unbedingt auf Avalon willkommen waren, stellte keine Neuigkeit für ihn dar, aber dass man gleich kurzen Prozess machen wollte, überraschte ihn doch. Valantia hob die Hand und gab ein wortloses Kommando an ihre martialischen Begleiterinnen. Schwerter wurden gezückt. »Moment, das könnt ihr nicht machen«, ereiferte sich Nicole fassungslos. Auch sie schien von der Feindseligkeit der Priesterinnen
völlig aus dem Konzept gebracht worden zu sein. »Wir können«, versicherte Valantia kalt und fügte, an die übrigen Frauen gewandt, hinzu: »Tötet sie!« Die Priesterinnen hoben die Schwerter und auch die beiden Dämonenjäger machten sich bereit, zu den Waffen zu greifen. Es widerstrebte ihnen ernsthaft, gegen die heiligen Frauen Avalons vorzugehen, aber offenbar ließ man ihnen keine andere Wahl. In jenem Moment jedoch ging ein Ruck durch Valantia. »Wartet«, befahl sie abgehackt. Der Blick der Hohepriesterin war glasig geworden. Zamorra runzelte die Stirn. Die Lippen der Frau bewegten sich, als forme sie unhörbare Worte. Er ahnte, was gerade geschah. Offenbar stand sie gerade in einem geistigen Dialog. Mit der Herrin vom See etwa? Zamorra konnte es nur vermuten. Gespannt wartete er ab und warf Nicole einen beschwichtigenden Blick zu. Er wusste um das Temperament seiner Gefährtin und wollte verhindern, dass die Gäule mit ihr durchgingen. Dennoch blieb er vorbereitet und ließ die Hand auf dem Griff des Blasters liegen. Er hatte die Strahlwaffe aus der Fertigung der DYNASTIE DER EWIGEN jedoch auf Betäubung geschaltet. Trotz der Mordabsichten der Priesterinnen lag es ihm fern, mit tödlicher Gewalt zu antworten. Nach einigen Minuten klärte sich Valantias Blick wieder. Alle Anwesenden sahen die Hohepriesterin gespannt an. Diese zeigte ein schmallippiges Lächeln. »Ihr habt einen kleinen Aufschub erhalten«, verkündete sie den verblüfften Dämonenjägern. »Es haben sich neue Gesichtspunkte ergeben, die berücksichtigt werden müssen. Ihr werdet jetzt eure Waffen aushändigen und dann reiten wir gemeinsam zurück. Ich möchte euch in Ruhe verhören!« Zamorra nickte seiner Gefährtin zu. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Schließlich waren sie seit Jahrzehnten ein eingespieltes Team.
Gehorsam übergaben die beiden Dämonenjäger ihre Waffen inklusive Merlins Stern. Das war kein großer Verlust. Schließlich war Zamorra in der Lage, das Amulett im Notfall jederzeit zu sich zu rufen. Dazu brauchte es lediglich einen kurzen Gedankenbefehl. »Los jetzt«, befahl Valantia anschließend. »Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Die Amazonen nahmen Zamorra und Nicole in ihre Mitte. Anschließend machte sich die gesamte Gruppe auf den Weg zurück in die Siedlung.
* Die unerwartete Attacke trieb Sara Moon die Luft aus den Lungen. Beinahe hatte sie das Gefühl, dass diese seltsame Schwäche sie wieder ergriff, die sich in letzter Zeit immer wieder einmal bei ihr gezeigt hatte und von der sie nicht wusste, wo sie herkam. Doch das Gewicht des Angreifers riss sie mit Urgewalt von den Füßen und ließ die Hüterin der Zeit hart zu Boden gehen, sodass sie nicht länger darüber nachdenken konnte. Erde und Gras gerieten in ihren Mund, während sie verzweifelt versuchte, das Geschöpf auf ihrem Rücken abzuschütteln. Verdammt, durchzuckte es sie in einem seltenen Anfall von Galgenhumor. Ein viertes Auge für den Hinterkopf wäre gar keine schlechte Idee! Wer immer der unbekannte Angreifer war, er schien entschlossen zu sein, keine Gnade walten zu lassen. Granitartige Fäuste versetzten Merlins Tochter mörderische Hiebe in den Rücken. Ihr drohte schwarz vor Augen zu werden. Das halte ich nicht lange durch, erkannte sie klar. Nur mit Mühe schaffte sie es, ihre Gedanken zusammenzuhalten. Unter normalen Umständen hätte sie jetzt ihre Parakräfte eingesetzt, doch im Augenblick der Todesgefahr war es ihr nicht möglich, sich ausreichend zu konzentrieren.
Wieder stieß das Geschöpf auf ihrem Rücken ein gutturales Knurren aus. Dann machte es Anstalten, die Hände um Saras Hals zu legen. Seine Absicht war klar. Er will mir das Genick brechen, durchzuckte es sie. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte sich Merlins Tochter hoch und schaffte es endlich, den unheimlichen Angreifer abzuschütteln. Taumelnd kam Sara wieder auf die Füße. Ihre Augen weiteten sich, als sie das brutale Geschöpf musterte. Es handelte sich um eine Art Golem, das konnte sie klar erkennen. Etwas an der Gestalt kam ihr jedoch vage vertraut vor. Sara Moon brauchte einen Moment, bis sie erkannte, wem die Kreatur ähnelte. Der Golem wirkte, als habe jemand auf ungeschickte Weise versucht, aus Lehm eine Kopie von Asmodis zu formen. Der Anblick war zutiefst irritierend, aber Sara blieb keine Zeit, sich länger über ihn den Kopf zu zerbrechen, denn schon im nächsten Moment griff das Geschöpf abermals an und stürzte sich mit einem Heulen auf sie. Nur mit Mühe gelang es Sara, das Gleichgewicht zu halten. Dennoch spürte sie, dass ihr das Wesen kraftmäßig eindeutig überlegen war. Brutal riss Sara das Knie hoch und versetzte dem Golem einen Tritt an jene Stelle, wo es einen Mann normalerweise empfindlich wehtat. Aber natürlich war ihr Gegner kein echter Mann. Er bestand nur aus Lehm und fühlte daher keine Schmerzen. Nur Zauberei hielt ihn auf den Füßen. Schon machte er abermals Anstalten, nach Saras Hals zu greifen. Diesmal kam ihre Gegenwehr zu spät. Die riesigen Pranken des Geschöpfs legten sich wie eine Stahlklammer um ihre Gurgel und drückten erbarmungslos zu. Merlins Tochter drohte das Bewusstsein zu verlieren. Wenn ich jetzt nichts tue, ist alles vorbei! Verzweifelt strampelte sie im Todesgriff des Golems. Ihre schlan-
ken Finger kratzten über seinen lehmigen Brustkorb und glitten immer wieder ab. Sein Herz, dachte sie verzweifelt. Ich muss an sein Herz herankommen. Sara besaß genug magisches Wissen, um sich darüber klar zu sein, dass sich die Energien, welche den Golem auf den Beinen hielten, in seinem Herz konzentrierten. Merlins Tochter ignorierte ihre Schmerzen und spannte ihren Körper an. Mühsam gelang es ihr, eine Hand soweit anzuheben, bis sie sich in Höhe des Herzens befand. Dann stieß sie mit spitzen Fingern zu. Hier war der Körper des Wesens erstaunlich nachgiebig, so als würden die pulsierenden magischen Energien den Lehm erweichen. Fast mühelos drangen Saras Fingerglieder in den Leib des Golems ein. Merlins Tochter verzog das Gesicht, als sie ihre Hand tiefer in die lehmige warme Masse hineingrub. Der Golem schien zu spüren, was sie vorhatte. Sein Knurren wurde lauter und der Druck seiner Pranken intensivierte sich. Hab ich dich! Sara biss die Zähne zusammen. Scheinbar unendlich langsam schlossen sich ihre tastenden Finger um einen faustgroßen Stein, der in der Brust des Golems ruhte. Er fühlte sich warm an und pulsierte leicht. Die ihm innewohnenden magischen Energien waren deutlich wahrnehmbar. Ihre Blicke trafen sich. Für einen kurzen Augenblick konnte Sara tatsächlich die Spur einer Emotion in den Augen des Golems erkennen. Sie las nackte kreatürliche Angst in seinem Blick. Merlins Tochter zögerte nicht länger. Sie krallte ihre Finger fest um den pulsierenden Stein und riss dann die Hand zurück. Mit einem schmatzenden Laut löste sich das künstliche Herz aus dem Körper
des Golems. Die Pranken des Monsters wurden schlaff. Es taumelte hilflos zurück und sackte dann in sich zusammen wie eine alte Lumpenpuppe. Keuchend brach Sara in die Knie. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Schmerzen niedergerungen hatte, dann robbte sie auf den leblosen Körper des Golems zu. Jetzt, da ihn die Magie verlassen hatte, wirkte das Geschöpf völlig harmlos. Sanft legte ihm Merlins Tochter die Hand auf das Gesicht und schloss die Augen. Ein kurzer Augenblick der Konzentration genügte. Das rudimentäre Bewusstsein des Golems lag vor ihr wie ein offenes Buch. Das bisschen Geist, welches dem Kunstmenschen innewohnte, verwehte bereits, doch was Sara darin las, genügte, um sie erstarren zu lassen. Es hat bereits begonnen, stellte sie schockiert fest. Sara Moon kämpfte sich hoch. Die Stadt der Priesterinnen war nicht mehr allzu weit entfernt. Sie musste unbedingt mit der Anführerin der heiligen Frauen sprechen. Vielleicht konnte sie das Schlimmste noch verhindern …
* »Also schön«, erklärte Valantia und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, »was sucht ihr auf Avalon? Ich will alles wissen!« Die Amazonen hatten Zamorra und Nicole zurück in die Stadt geschafft. Hier, im Haupttempel der Siedlung, wollte sie die Hohepriesterin einem ersten Verhör unterziehen. Sie befanden sich in einem großen Besprechungsraum. Valantia hatte hinter einer Art Schreibtisch Platz genommen und musterte die beiden Dämonenjäger mit grimmiger Miene. Sie hatte darauf verzichtet, die Gefangenen fesseln zu lassen. Immerhin wurde die Tür des Raums von zwei breitschultrigen Priesterinnen bewacht, die
keinen Zweifel daran ließen, dass sie bei der geringsten falschen Bewegung von ihrem Schwert Gebrauch machen würden. Zamorra seufzte unhörbar. Valantia stellte ihre Fragen nicht zum ersten Mal. Er hatte sie schon zahllose Male mit immer derselben Aussage beantwortet. Auf ein weiteres Mal kam es wohl nicht an. Er blickte die Hohepriesterin ernst an. »Das werden wir entweder Onda oder der Herrin vom See persönlich erzählen«, erklärte er nochmals mit fester Stimme. Zamorra hatte keinen Schimmer, wie er sein Gegenüber einschätzen sollte. Die äußerlich junge Frau war ein Mysterium für ihn. Valantias Augen funkelten wütend. »Onda hat keine Befehlsgewalt mehr, begreift das endlich!«, zischte sie. »Wenn ihr etwas zu sagen habt, müsst ihr mit mir vorlieb nehmen. Ich bin die neue Hohepriesterin Avalons!« Aber noch nicht sehr lange, dachte Zamorra bei sich. Immerhin hatten sie wenige Wochen zuvor noch mit Onda gesprochen. Er fragte sich, was in der Zwischenzeit auf Avalon geschehen war. Jedenfalls schien die neue Macht der Priesterin sehr schnell zu Kopf gestiegen zu sein. Valantia schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Noch einmal von vorn«, erklärte sie. »Was wollt ihr hier? Glaubt mir, ich würde euch ungern foltern lassen, aber wenn ihr mir keine Wahl lasst, muss ich natürlich zu drastischeren Mitteln greifen!« Zamorra wechselte einen hastigen Blick mit Nicole. Auf Avalon schien neuerdings ein rauer Wind zu wehen. Angst hatte der Parapsychologe weniger – wenn es hart auf hart kam, blieb ihm schließlich immer noch Merlins Stern, um sich und Nicole zu verteidigen. Dennoch zerrte die Situation ganz unglaublich an seinen Nerven. »Pass auf, Valantia«, antwortete Zamorra mit harter Stimme. »Wenn du uns schon nicht mit Onda sprechen lassen willst, dann verschaff uns eine Audienz mit deiner Herrin. Von uns erfährst du jedenfalls nichts!«
Zamorra wusste, er pokerte hoch. Aber er war es leid, sich an der störrischen Hohepriesterin die Zähne auszubeißen. Irgendwie musste Bewegung in die Sache kommen. Ob es wirklich so eine gute Idee war, um eine Audienz mit der Herrin vom See nachzusuchen, stand außerdem auf einem ganz anderen Blatt. Er hatte nur eine vage Vorstellung von dieser mysteriösen Wesenheit. Die Bilder, die er im Bewusstsein Mickey Mantles gesehen hatte, deuteten jedenfalls auf eine schwarzmagische Kreatur hin. Dämonie und abseitige Schönheit verbanden sich in ihrer Gestalt zu einem gespenstischen Gesamteindruck, der Zamorra auch im Rückblick immer noch schaudern ließ. Auch Valantia schien vorerst genug von der fruchtlosen Diskussion zu haben. Sie gab den beiden amazonenhaften Wärterinnen einen Wink. »Führt sie ab und sperrt sie in den Kerker«, befahl sie. »Ich kümmere mich später um sie!« Die hünenhaften Frauen kamen heran und versuchten die Dämonenjäger am Oberarm zu packen. »Danke, wir können alleine gehen«, verwahrte sich Nicole gegen den brutalen Griff. Tatsächlich ließen die Wärterinnen los. »Mitkommen«, befahlen sie barsch und nahmen die Beiden in ihre Mitte. Folgsam ließen sich Zamorra und Nicole abführen. Ihr Weg führte quer durch das Tempelgebäude, bis sie einen abgelegenen Gang erreichten. Hier befanden sich mehrere schmucklose Zellen. In eine von ihnen wurden die beiden Dämonenjäger nun gesperrt. »Hey, sollen wir hier drin versauern?«, konnte sich Nicole nicht verkneifen. Die Wärterinnen reagierten nicht, sondern entfernten sich mit schweren Schritten. Die Französin warf ihrem Partner einen genervten Blick zu. »Super«, maulte sie. »Damit sitzen wir wohl erstmal fest!« Zamorra zuckte mit den Schultern. Noch machte er sich keine
ernsthaften Sorgen. Er war sich sicher, dass Valantia sie nicht ewig hier drinnen schmoren lassen würde. »Eins sage ich dir, Chef«, fuhr Nicole fort. »Irgendetwas ist hier gewaltig faul!« Das Gefühl hatte Zamorra allerdings auch. Er nickte. »Scheint so, als sei seit unserem letzten Besuch einiges passiert.« Der Parapsychologe atmete tief durch und ließ sich in eine Ecke der Zelle sinken. Nach einem Moment nahm Nicole ebenfalls Platz. »Und was machen wir jetzt, Chef?«, fragte sie. Sie blickte ihren Partner ernst an. »Wir warten«, erklärte er trocken. »Valantia will etwas von uns. Sie wird uns also kaum hier verrotten lassen.« »Dein Wort in Gottes Gehörgang«, erwiderte Nicole. Genervt verdrehte sie die Augen. Zamorra konnte die Ungeduld seiner Partnerin durchaus verstehen. Ihm selbst erging es ja ganz ähnlich. »Vertrau mir, Nici«, sagte er ernst. »Wir müssen nicht lange schmoren – und dann werden wir herausfinden, was zum Henker hier eigentlich los ist!«
* »Sie haben uns bemerkt!« Abrupt hielt der junge Zentaur an. Seine Stimme zitterte. Wie Onda mittlerweile erfahren hatte, lautete sein Name Geromel. Obwohl Wesen seiner Art es in aller Regel nicht mochten, von Menschen geritten zu werden, hatte er die ehemalige Hohepriesterin auf seinem Rücken Platz nehmen lassen. Onda hielt sich mit den Händen an seiner Seite fest und blickte ihm über die Schulter. Ihre bunt zusammengewürfelte Truppe aus Trollen, Zentauren
und sonstigen Fabelwesen hatte die Siedlung mittlerweile fast erreicht. Und tatsächlich, ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Auf dem breiten Pfad, der ins Innere der Stadt führte, standen vier gerüstete Priesterinnen. Das sah nicht nach einem freundlichen Empfang aus! Ondas Gedanken jagten sich. Ob die Herrin vom See da ihre Finger im Spiel hatte? Nur zu gut wusste sie, welche Machtmittel der Herrscherin Avalons zur Verfügung standen. Gewundert hätte es sie von daher also nicht. »Was nun?«, riss sie Geromels Stimme aus ihren Gedanken. Er stieß ein Schnauben aus. »Brechen wir durch?« Zentauren waren temperamentvolle Wesen. Geromel bildete da keine Ausnahme. Onda lächelte schmerzlich. Sie wollte eine Revolution, kein blutiges Gemetzel, aber ein solches würde es sicherlich geben, wenn sie mit fliegenden Fahnen in die Siedlung stürmten. Beruhigend klopfte sie Geromel auf die Schulter. »Wir reiten ihnen langsam entgegen«, erklärte sie ihm. »Dann sehen wir weiter.« Der junge Zentaur stieß einen missbilligenden Laut aus. Onda hoffte, dass sein hitziges Gemüt nicht mit ihm durchging. Ihr Trupp hatte sich den bewaffneten Frauen bis auf wenige Meter genähert, als diese ihre Schwerter zogen. Kühl blickten sie ihrer ehemaligen Hohepriesterin entgegen. »Was willst du, Onda?«, fragte eine der breitschultrigen Amazonen. »Valantia hat uns berichtet, dass du in Ungnade gefallen bist. Dein Platz ist nicht mehr in unserer Mitte.« Die Kälte in ihrer Stimme ließ sie frösteln. Wie sehr müssen sie mich verachten! Die Worte der Kriegerin versetzten Onda einen Stich ins Herz. Dennoch versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Als sie
schließlich antwortete, hatte sie einen dicken Kloß in der Kehle. »Ich möchte ein letztes Mal in den Tempel«, erklärte sie mit fester Stimme. Die Miene ihres Gegenübers blieb so ausdruckslos wie ein Granitklotz. »Warum?«, fragte sie knapp. Onda biss sich auf die Unterlippe. »Um mit der Herrin vom See zu sprechen«, antwortete sie. Die Andere lachte höhnisch auf und ein weiteres Mal fühlte sich die ehemalige Priesterin direkt ins Herz getroffen. Sie konnte es kaum fassen. So lange war sie das Oberhaupt der heiligen Frauen Avalons gewesen, doch nur wenige Stunden hatten ausgereicht, um ihr bisheriges Leben in Schutt und Asche zu legen. »Du hast hier nichts mehr verloren, Onda«, bekräftigte die vierschrötige Kriegerin noch einmal. »Ich denke nicht, dass die Herrin vom See dir noch etwas zu sagen hat!« Geromel blickte über die Schulter und wechselte einen Blick mit seiner Reiterin. »Das bringt nichts«, schien er sagen zu wollen. Onda atmete tief durch. Sie deutete nach hinten. »Du wirst uns nicht aufhalten können«, sagte sie. Die Worte waren eine klare einfache Feststellung. »Entweder machst du uns den Weg frei oder …« Den Rest ließ die ehemalige Priesterin unausgesprochen. Sie musste auch gar nicht weiterreden. Die Drohung hing jetzt im Raum. Nun lag es an den Kriegerinnen, was diese daraus machten. Die Vierschrötige hob das Schwert ein wenig höher. Ihre Augen funkelten kalt. Sie erwiderte nichts. Das schien ihr Antwort genug zu sein. Onda seufzte unmerklich. Bis zuletzt hatte sie gehofft, eine gewalttätige Konfrontation vermeiden zu können, aber wie es aussah, ging es nicht anders. Langsam hob die ehemalige Hohepriesterin den Arm zum vereinbarten Signal. Sie spürte, wie die Fabelwesen hinter ihr totenstill
wurden. Für einen Moment lang war die Spannung, die in der Luft lag, nahezu unerträglich. Dann war der Moment vorbei. Abrupt riss Onda die Hand nach unten. Angriff, bedeutete das. Geromel stieß einen kehligen Schrei aus. Der junge Zentaur bäumte sich kurz auf und galoppierte dann auf die Amazonen zu. Auch der Rest des Trupps setzte sich in Bewegung. Wie eine riesige Welle brandeten die Fabelwesen den überraschten Frauen entgegen. Diese hatten dem Ansturm nichts entgegenzusetzen. Schockiert spritzte das Trio auseinander. Gerade noch rechtzeitig, um nicht von den Fabelwesen überrannt zu werden. Als Onda auf Geromel in die Stadt ritt, spürte sie, wie ihre Augen unwillkürlich feucht wurden. So kehre ich also heim, dachte sie bitter. Bereits im Wald hatte sie geahnt, dass es fast unvermeidlich zu einem Kampf kommen würde. Nun besaß sie jedoch traurige Gewissheit. Inständig hoffte sie, dass ihre Heimkehr nicht in ein Blutbad mündete.
* Valantias Kopf ruckte hoch. Abrupt stellte sie den Weinkelch, aus dem sie gerade getrunken hatte, auf dem Tisch ab. Immer noch saß die frischgebackene Hohepriesterin Avalons im Verhörzimmer. Bis jetzt hatte sie darüber nachgedacht, wie sie mit ihren beiden Gefangenen weiter verfahren sollte. Als sie gerade zu dem Schluss gekommen war, im Allerheiligsten ein weiteres Mal Zwiesprache mit der Herrin vom See halten zu wollen, hatte der Lärm eingesetzt. Was ist da los? Ihre Gedanken überschlugen sich. Mit einem Mal schien die neue
Verantwortung viel zu groß für sie zu sein, doch mühsam riss sich Valantia zusammen. Sie wusste, jetzt gab es keine Onda mehr, die sie bei der Hand nahm, um ihr die Last von den Schultern zu nehmen. Denn Onda war verdammt! Valantia dachte zurück. Gerade als sie den Amulettträger und sein Weib ihrem Schicksal zuführen wollte, hatte sich die Herrin vom See gemeldet und neue Anweisungen gegeben. Ein weiterer ungebetener Gast war nämlich auf Avalon erschienen und machte die Lage noch undurchsichtiger. Genaueres hatte die Herrin nicht verlauten lassen. Jedenfalls sollten Zamorra und Duval zunächst verschont werden, um sie zu verhören. Und auch Ondas Spur war wiedergefunden worden. Anscheinend hatte sie es geschafft, die Waldbewohner aufzuhetzen. Was sie genau damit bezweckte, war ebenfalls noch unklar. Valantia hatte jedenfalls an den Grenzen der Siedlung mehrere Wachtposten aufstellen lassen. Es war besser, auf alles gefasst zu sein! Es schien ihr fast, als würde sie allmählich völlig die Kontrolle über die Situation verlieren. Umso wichtiger war es, dass sie in der Krise einen kühlen Kopf behielt. Innerlich widerstrebte Valantia das harte Vorgehen, zu dem sie gezwungen war, doch es gab keinen anderen Weg, wenn sie die Befehle der Herrin vom See pflichtgemäß ausführen wollte. Die ehemalige Adeptin erkannte wohl, wie sehr sie sich in den letzten Stunden verändert hatte. Nicht einmal der süße Wein hatte die Bitternis in ihrem Herzen auslöschen können. Valantia schob die unruhigen Gedanken beiseite und stemmte sich hoch, um zum Fenster zu eilen. Werden wir angegriffen? Der Lärm, der an ihre Ohren drang, ließ keinen anderen Schluss zu. Fröstelnd riss Valantia den Vorhang beiseite und starrte hinaus.
Im gleichen Moment war ihr, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Über die breite Hauptstraße, die ins Zentrum der Siedlung führte, strömten zahllose Fabelwesen heran. An ihrer Spitze ritt auf einem grimmig dreinblickenden Zentaur eine wohlbekannte Gestalt. Onda! Sie war also tatsächlich zurückgekehrt. Einen Moment lang wurde Valantias Herz schwer. Am Morgen dieses Tages waren sie noch Gefährtinnen gewesen. Jetzt jedoch war alles anders. Aber die Herrin vom See hatte ihr Urteil über Onda gefällt und es war nicht an ihr, dieses Urteil infrage zu stellen. Selbst wenn dies bedeutete, dass es sie innerlich zerriss. Valantia benötigte einen Moment, um ihre Fassung wiederzufinden, dann wurde ihre Miene hart. Gefühle waren etwas, dass sie sich in ihrer jetzigen Position nicht mehr leisten konnte. Sie würde lernen müssen, ihr Innerstes abzutöten! Hastig warf sich Valantia herum und eilte auf den Gang, bis sie eine weitere Priesterin traf, die ihr entgegen hetzte. »Ich habe schon gesehen, was los ist«, wehrte Valantia ab, ehe sich die andere Frau in langatmigen Erklärungen ergehen konnte. Ihre Augen funkelten. Hart fasste sie die Priesterin an den Schultern. »Wir müssen uns erheben und zu den Waffen greifen. Du hast die Monster dort draußen gesehen! Sie dürfen auf keinen Fall den Tempel erreichen. Das wäre eine Schändung unseres Heiligtums!« Die ältliche Priesterin nickte eifrig. Schon warf sie sich wieder herum und verschwand mit wehenden Haaren nach draußen. Valantia folgte ihr einen Moment später. Zunächst jedoch bewaffnete sie sich mit einem Schwert, welches ihr im ersten Moment geradezu absurd groß vorkam. Als sie endlich ins Freie trat und von den obersten Stufen des Tempels hinab auf den Vorplatz blickte, wirkte Valantia wie eine finstere antike Rachegöttin.
»Zu den Waffen, Frauen«, gellte ihre Stimme durch die Siedlung. »Jetzt ist es an der Zeit, unsere Heimat zu verteidigen.« Valantias Herz wurde kalt wie Eis. »Macht sie alle nieder! Die Herrin vom See befiehlt es!«
* Die schwarze kristalline Wand des Herzens von Avalon schien auf geheimnisvolle Weise zu pulsieren. Die Herrin vom See hatte die Augen geschlossen und strich sanft mit der Hand darüber, um die unsichtbaren Energieströme in sich aufzunehmen. Jede Sekunde des Hautkontakts kräftigte sie. Und Kraft konnte die Herrin vom See in diesen Augenblicken in der Tat gut gebrauchen. Die Lage auf Avalon war unübersichtlich. Was sie gesehen hatte, als sie ihren Geist über die Insel schweifen ließ, hatte sie trotz all ihrer Machtfülle erschreckt. Nicht nur, dass sich der Amulettträger und seine Kebse auf Avalon herumtrieben. Zu allem Überfluss war auch noch Sara Moon erschienen. Zwar hielt sich Merlins Tochter des Öfteren auf der Insel auf, da ihre Schwester ebenfalls hier lebte, doch ihr Auftauchen im Moment der akuten Krise konnte kein Zufall sein. Zu guter Letzt war da noch Ondas merkwürdige kleine Revolte. Was sie davon halten sollte, wusste die Herrin vom See immer noch nicht recht. Schließlich hatte ihr die ehemalige Hohepriesterin seit undenkbaren Zeiten treu gedient. Sie musste völlig den Verstand verloren haben. Obwohl ihr Valantia berichtet hatte, was Onda bewegte, war die Herrin vom See doch weit davon entfernt, diese Gründe hierfür zu verstehen. Zu fremdartig war ihr Denken. Die Gefühle niederer Wesen blieben ihr verschlossen. Langsam löste die hochgewachsene, finstere Gestalt ihre Finger
von der kristallinen Wand. Dann öffnete sie die Augen. Das rote Glühen darin schien sich verstärkt zu haben. Es musste etwas geschehen, das wusste sie. Fremdartige Gedanken waberten durch ihren Schädel, als sie überlegte. Zamorra hatte die Möglichkeit, ganz Avalon zu vernichten, wenn er nur sein verdammtes Amulett einsetzte. Das durfte jedoch niemals geschehen! Nichtsdestotrotz drängte es sie plötzlich danach herauszufinden, was Zamorra eigentlich auf Avalon wollte. All diese Ereignisse konnten schließlich kein Zufall sein. Wenn sie ihn jetzt kurzerhand wieder von der Insel verbannte, würde sie es nie erfahren. Die Herrin vom See hob eine Hand vor die Augen. Knisternde Energieentladungen stoben aus ihren Fingerspitzen. Ein nichtmenschliches, bösartiges Lächeln huschte über ihre Züge. Wenn es Valantia und ihren Priesterinnen nicht gelang, den Amulettträger auszuquetschen, dann würde sie Zamorra einfach zu sich holen und es selbst tun. Die Herrin vom See war sich über die Gefahr, die ein solches Handeln für die Zeitenfähre bedeutete, durchaus im Klaren. Aber das Herz von Avalon musste unter allen Umständen geschützt werden. Dennoch war sie entschlossen, nicht von dem einmal gefassten Plan abzulassen. Denn die Herrin vom See war ein zutiefst neugieriges Geschöpf.
* Tränen rannen über Ondas Gesicht. Die Fabelwesen hatten die Siedlung überrannt. Auf dem großen Platz vor dem prachtvollen Tempel tobte das heillose Chaos. Das habe ich nie gewollt, dachte sie, aber ich hätte damit rechnen müssen. Valantia war eine gelehrige Schülerin gewesen und der Herrin vom
See treu ergeben. Sie würde alles tun, um Avalon gegen feindliche Übergriffe zu verteidigen! Nun, da sie die Macht über die übrigen Zauberpriesterinnen innehatte, war sie offenbar fest entschlossen, die Befehle der Herrin notfalls mit brutaler Waffengewalt durchzusetzen. Ondas Blick huschte nach links und rechts. Sämtliche Frauen der Siedlung waren auf den Beinen. Manche von ihnen waren mit Schwertern ausgerüstet, andere trugen Sensen, die sie normalerweise bei der Feldarbeit verwendeten. Bewaffnet waren sie jedenfalls alle. Und diese Waffen setzten die heiligen Frauen Avalons auch gnadenlos ein. Die Zentauren unter der Führung Geromels bildeten die erste Reihe der einfallenden Truppe und daher auch das erste Angriffsziel. Wilde Schreie waren zu hören. Die Fabelwesen waren zum größten Teil unbewaffnet, die meisten verließen sich allein auf ihre Körperkräfte. Eine Gruppe riesenhafter Trolle scherte aus. Die Ungetüme wollten gezielt in Richtung Tempel vorrücken. Doch nun zeigte sich, dass Valantia ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Die Hohepriesterin stand auf den obersten Stufen des Heiligtums. Sie hielt ein Schwert in den Händen. Mit fester Stimme gab sie scharfe Kommandos, als habe sie nie etwas anderes in ihrem Leben getan. Einige der Priesterinnen zogen sich aus dem Gefecht zurück und bauten sich wie eine Mauer vor dem Tempel auf. Die Frauen fassten sich an den Händen. Trotz der tobenden Schlacht schlossen sie die Augen, um gleich darauf in höchster Konzentration zu versinken. Gleich darauf bildete sich eine grünlich flirrende, magische Schutzkuppel um den Tempel. Onda wusste, daran würden sich die Trolle die Zähne ausbeißen. Ihr vorrangiges Ziel musste es also sein, die Priesterinnen soweit aus dem Konzept zu bringen, dass die magische Kuppel in sich zusam-
menbrach. Ohne jede Heiterkeit lächelte sie. Der Schutzschild selbst war undurchdringlich. Die Priesterinnen, welche ihn stabil hielten, befanden sich jedoch außerhalb der magischen Glocke. Sie beugte sich nach vorne. »Wir müssen sie ausschalten«, erklärte sie Geromel. Dieser verstand sie trotz des Lärms. Der Zentaur nickte grimmig. Gerade wollte er sich daran machen, seinen Leuten die entsprechenden Kommandos zu geben, als ihn ein harter Griff Ondas innehalten ließ. »Nicht töten, nur ausschalten«, schärfte sie ihm ein. Wieder nickte er. »Umgekehrt würden sie wohl nicht so gnädig sein«, konnte er sich nicht verkneifen. »Ich weiß«, sagte Onda traurig. »Aber sie waren einmal meine Schwestern.« Geromel seufzte und gab die entsprechenden Befehle. Die Zentaurentruppe verteilte sich. Die Tiermenschen waren mit Armbrüsten bewaffnet. Diese hoben sie nun, um die Frauen ins Visier zu nehmen. Zentauren waren auf Avalon als ausgezeichnete Schützen bekannt. Einen Moment später sirrten die Pfeile los. Die Tiermenschen hatten auf die Beine der Frauen gezielt und bewiesen, dass ihr Ruf gerechtfertigt war. Mehrere Priesterinnen brachen schreiend zusammen. Das Leuchten der Kuppel wurde etwas blasser. Sie begann zu flackern. »So ist es gut«, murmelte Onda leise. Aber nun war Valantia auf sie aufmerksam geworden. »Stoppt sie«, gellte ihre Stimme über den großen Platz. »Das Heiligtum muss geschützt werden!« Als wolle sie beweisen, dass sie nicht nur gut kommandieren konnte, stürzte sich Valantia nun selbst in die Schlacht. Mit hocherhobener Klinge stürmte sie auf den Platz. Ihr Ziel war jene Frau, die sie instinktiv als Befehlshaberin der Fabelwesen ausgemacht hatte. Valantias Augen funkelten.
»Kämpft weiter«, forderte Onda den jungen Geromel auf, dann schwang sie sich von seinem Rücken und ging ihrer ehemaligen Gefährtin furchtlos entgegen. Diese war äußerlich völlig ruhig, auch wenn es innerlich in Valantia brodeln mochte. Lediglich ihre Augen gaben Aufschluss über ihren aufgepeitschten Gemütszustand. »Du bist verdammt«, stellte sie fest. »Die Herrin vom See hat dich aus unserer Mitte verstoßen, Onda. Was fällt dir nur ein, dich noch einmal hierher zu wagen? Du musst wahnsinnig geworden sein!« Die ehemalige Priesterin zeigte ein schmales Lächeln. »Wahnsinnig?«, antwortete sie. »Nein, im Gegenteil! Mir ist, als wäre ich erleuchtet worden! Ich werde nicht hier weggehen, bevor ich nicht mein Anliegen vorgetragen habe, darauf kannst du dich verlassen.« Valantia stieß ein hartes, böse klingendes Lachen aus. Onda vermochte kaum zu glauben, dass diese Frau noch vor wenigen Stunden Tisch und Bett mit ihr geteilt hatte. Wie sehr hatte sie sich verändert! Entweder war ihr die neue Macht zu Kopf gestiegen oder sie hatte schlichtweg den Verstand verloren! »Niemand hier will dein Anliegen hören«, erwiderte sie. »Verschwinde mit deinen Monstern von hier, sonst wirst du diesen Ort nicht lebend verlassen!« Wieder hob sie drohend das Schwert. Onda schüttelte stumm den Kopf und damit schienen für Valantia genug Worte gewechselt worden zu sein. Mit einem wilden Kampfschrei auf den Lippen stürmte sie ihrer ehemaligen Gefährtin entgegen. Ihre Absicht war klar. Doch geschickt wich Onda aus. Als Waffe besaß sie nur einen Langdolch, den sie bisher am Gürtel getragen hatte. Nun blitzte die Klinge gefährlich in ihren Händen auf. Vom eigenen Schwung getragen stolperte Valantia an Onda vorbei, fuhr dann herum und blickte sie aus zornesblitzenden Augen an.
»Du wirst sterben hier draußen«, sagte sie kalt. Plötzlich holte sie abermals mit dem Schwert aus. Die flache Seite der Klinge traf Onda völlig unvorbereitet an der Schläfe. Sofort lief warme salzige Flüssigkeit über ihr Gesicht. Sie taumelte zurück. Schon hob Valantia abermals das Schwert. Sie schien entschlossen, dem ganzen Spiel ein Ende zu machen. Aber das war nicht nötig. Onda schwankte einen kurzen Moment. Endlose Sekunden schien sich die ganze Welt um sie herum zu drehen, bevor sie schließlich lautlos inmitten der wilden Schlacht zusammenbrach.
* »Irgendetwas ist da draußen im Gange!« Der Meister des Übersinnlichen runzelte die Stirn und blickte Nicole ernst an. Die Französin hatte den Tumult ebenfalls gehört. Es klang wie der Lärm einer immer heftigen werdenden Schlacht. In der Siedlung wurde ganz offensichtlich erbittert gekämpft. Gellende Frauenstimmen waren zu vernehmen. Nicole war aschfahl geworden. »Was geht hier vor, wenn die Priesterinnen Avalons plötzlich anfangen, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen?«, fragte sie ihren Partner. Zamorra konnte nur mit den Schultern zucken. Er sah Nicole an. »Wie kommst du darauf, dass sie sich gegenseitig bekämpfen?«, fragte er neugierig. Die Französin zeigte ein feines Lächeln. »Überleg doch mal«, begann sie, »Onda ist weg. Offensichtlich ist sie in Ungnade gefallen und an ihrer Stelle regiert jetzt plötzlich dieses schwarzhaarige Ekel. Du hast doch gesehen, wie sich Valantia aufführt. Was immer da draußen vorgeht, es hat mit Ondas Fortgang zu tun!« Zamorra nickte langsam. Nicoles Logik konnte er sich nicht ver-
schließen. »Du hast recht«, gab er zu. »Es wird allmählich Zeit, dass wir hier herauskommen!« Doch gerade als Zamorra sein magisches Amulett rufen wollte, bekamen die beiden Dämonenjäger unerwarteten Besuch. »Sara Moon!« Denn niemand anderes war völlig unvermittelt vor den Gitterstäben der kleinen Zelle materialisiert. Unwillkürlich entgleisten Zamorra die Gesichtszüge. Vermutlich machte er in diesem Moment keinen sonderlich intelligenten Gesichtsausdruck, aber mit dem Auftauchen von Merlins Tochter hätte er nie im Leben gerechnet. Nicole erging es nicht anders, dennoch fand sie vor ihm ihre Fassung wieder. »Was machst du denn hier?«, wollte sie wissen. Seit Merlins Tochter von ihrer Wächterdimension aus die Linien der Zeit überwachte, pflegte sie sich mitunter kryptisch auszudrücken. Auch diesmal machte sie keine Ausnahme. Ganz kurz huschte ein Lächeln über ihre Lippen und verdeutlichte, dass sie sich freute, die Freunde wiederzusehen. Mit der rechten Hand streichelte Sara fast beiläufig über ihre Bauchgegend, wo sich das dritte Auge befand. »Ich habe einen kurzen Blick in die Zukunft getan«, verkündete sie. »Dabei sah ich eine furchtbare Schlacht, die das Angesicht Avalons verwüstete. Ich habe eure Mentalpräsenz in der Stadt geortet und bin deshalb direkt hierher gesprungen. Offenbar bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen.« »Allerdings«, musste Zamorra zugeben. Immer noch starrte er Sara Moon fasziniert an und rief sich dabei ihre wechselhafte Geschichte ins Gedächtnis zurück. Sie war die Tochter der Zeitlosen und des Zauberers Merlin. Von ihrer geheimnisvollen Mutter hatte sie auch das dritte Auge geerbt, welches ihr Blicke in die Zukunft ermöglichte. Lange Zeit hatte Sara auf der Sei-
te des Bösen gestanden, als nämlich das von den Meeghs im Auftrag der Mächtigen geschaffene Programm Craahn in ihr aktiv wurde und ihr Handeln beeinflusste. Erst viel später gelang es, diese Programmierung in Sara zu löschen. Einige Zeit darauf geriet sie jedoch prompt in die Gefangenschaft eines Mächtigen und konnte erst durch ihren Vater daraus befreit werden. Dabei entstand jene Welt, von der aus Sara heute über die verschiedenen Zeitlinien des Universums wachte. Unvermittelt drängte sich Nicole an Zamorra vorbei und baute sich vor den Gitterstäben auf. »Wo, beim Eiterzahn der Panzerhornschrexe, hast du in den letzten fünf Jahren gesteckt, Sara?« Die Französin war völlig außer sich. Im Gegensatz zu Zamorra konnte sie ihr Temperament nicht zurückhalten. Sie versuchte es auch gar nicht erst. Nicoles Augen sprühten Funken. Das Lächeln verschwand von Saras Lippen. Mit einem Mal sah sie sehr ernst aus. »Meine Aufmerksamkeit wurde von dringlicheren Angelegenheiten in Anspruch genommen«, erklärte sie karg. Nicoles Augen drohten aus den Höhlen zu treten. Zamorra spürte, was in ihr vorging. Beschwichtigend legte er den Arm um die Schultern der Französin. »Wichtiger als der Tod deines Vaters?«, fragte Nicole ganz ernsthaft. »Und noch wichtiger als der Untergang der Hölle?« Auch Zamorra lagen diese Fragen auf der Zunge, aber es brachte nichts, Sara jetzt zu brüskieren. Trotz ihrer rätselhaften Persönlichkeit zweifelte er nicht daran, dass ihr der Tod des Vaters nahegegangen war. »Ich war unabkömmlich«, antwortete Sara auf Nicoles Frage einfach. Mehr Auskunft schien sie nicht für nötig zu halten. Abermals huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Diesmal sah es seltsam wehmütig aus. Dass Nicoles Fragen ihr nahegingen, hätte selbst ein Blin-
der gesehen. »Lass uns hier raus«, forderte Zamorra, um der fruchtlosen Diskussion ein Ende zu bereiten. Er wusste, dadurch wurden nur unnötig alte Wunden aufgerissen. »Wir haben immer noch keinen Schimmer, was dort draußen vorgeht und ich habe allmählich das Gefühl, uns brennt die Zeit unter den Nägeln.« Sara Moon nickte langsam. Mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf dem Gesicht legte sie ihre Hand auf das Türschloss der Zelle und mobilisierte ihre Parakräfte. Sie schien mental in das Schloss einzutauchen. Gleich darauf war ein leises Knacken zu hören. »Erledigt«, kommentierte sie trocken. Mit einem schmalen Lächeln griff sie nach vorne und zog die Gittertür auf. Die beiden Dämonenjäger stürmten auf den Gang. Trotz ihres vorherigen Ausbruchs konnte sich Nicole nicht länger zurückhalten und fiel Sara Moon um den Hals, um sie an sich fest zu drücken. Unwillkürlich lächelte Zamorra, als er die Umarmung beobachtete. Er unterbrach Nicole nicht. »Unsere Ausrüstung ist im Verhörzimmer«, stellte er nach einer angemessenen Pause fest. Sara Moon gab den beiden Dämonenjägern einen auffordernden Wink. »Dann los«, befahl sie. Für weitere Sentimentalitäten war jetzt keine Zeit mehr. Schon hetzte Merlins Tochter voraus, bis sie auf einen Zuruf Zamorras innehielt. »Hier sind wir richtig«, erkannte er. Der Parapsychologe hatte sich das Innere des Tempels zuvor genau eingeprägt. Kurz darauf waren die Dämonenjäger wieder im Besitz ihrer Ausrüstung. Als Zamorra Merlins Stern um seinen Hals legte, fühlte er sich unendlich erleichtert. Dankbar blickte er Sara Moon an.
Er gab den beiden Frauen einen Wink und gemeinsam stürmten sie in Richtung Ausgang. Als das Trio ins Freie trat, hielt Zamorra unwillkürlich den Atem an. Sie waren gerade noch rechtzeitig gekommen, um Onda unter einem mörderischen Schwerthieb zusammenbrechen zu sehen. Seine Gedanken überschlugen sich. Das ist das Ende, dachte er.
* Einen Moment lang starrte Valantia versteinert auf den Körper der zusammengesackten Gestalt zu ihren Füßen. Es dauerte einen Moment, bis sie tatsächlich realisierte, wen sie gerade niedergeschlagen hatte. Onda! Der Name war wie eine große rote Blase, die in ihren Gedanken zerplatzte. Ganz kurz spürte Valantia einen Schmerz, der ihr das Herz zu zerreißen drohte, dann erinnerte sie sich wieder an ihre Pflicht. Die Siedlung und der Tempel mussten um jeden Preis geschützt werden! Aber, wie es aussah, war dies gar nicht mehr nötig. Die Fabelwesen hatten Onda fallen gesehen und es schien, als habe ihnen dies den Wind aus den Segeln genommen. Der junge Zentaurenkrieger, auf dem die abtrünnige Priesterin hergekommen war, gab seinen Truppen einen Wink, der offenbar das Signal zum Rückzug darstellte. Ungeordnet wichen Trolle, Zentauren und die übrigen Kreaturen in Richtung Wald zurück. Valantia überlegte einen Moment, ob sie ihnen ein paar Kriegerinnen hinterherschicken sollte, entschied sich aber letztendlich dagegen. Die Frauen in den dunklen Wald hinauszuschicken, konnte sich
leicht als verhängnisvoll erweisen. Sie wusste, dort besaßen die Fabelwesen gewissermaßen Heimvorteil. Ehe Valantia eine Entscheidung darüber treffen konnte, wie sie am Besten weiter vorging, meldete sich plötzlich eine dröhnende Stimme in ihrem Kopf und löschte alle anderen Gedanken aus. Valantia erstarrte in der Bewegung. Die Augen der schwarzhaarigen Frau wurden glasig. Die Herrin vom See meldete sich erneut und ihre Stimme klang harsch. Bring alle Eindringlinge zu mir, sofort! Ich werde den Schlund öffnen und sie persönlich in Augenschein nehmen. Valantia nickte. Ich gehorche, antwortete sie gedanklich. Im selben Moment war sie wieder allein in ihrem Kopf. Die Hohepriesterin kreiselte herum, bis sie wieder den Tempel im Blick hatte. Vor dem Hauptportal standen drei Personen. Es handelte sich um Zamorra und Duval. Begleitet wurden sie von einer weiteren Frau, die an der Stelle des Bauchnabels ein drittes Auge besaß. Erschrocken ließen sie ihren Blick über das Schlachtfeld gleiten. Valantia konnte nur erahnen, wie sie sich dabei fühlten. Der große Platz vor dem Tempel war übersät mit hingestreckten Körpern. Es war ein schauerlicher Anblick. »Bindet sie«, befahl Valantia knapp, als sie ihre Fassung zurückgewann. Sie gab den verbliebenen Priesterinnen, welche die magische Schutzkuppel aufrecht erhielten, ein knappes Kommando. Der Schirm erlosch und baute sich im gleichen Moment neu auf. Diesmal war er jedoch anderer Natur. Es handelte sich nicht mehr um eine Schutzkuppel, sondern vielmehr um einen Käfig. Ein abseitiges Lächeln glitt über Valantias Lippen, als sie die Stufen des Tempels emporstieg, bis sie schließlich vor den Gefangenen anlangte.
Interessiert musterte sie die ihr unbekannte Frau. »Wer bist du?«, fragte sie. Die mysteriöse Fremde ließ keine Gefühlsregung erkennen. »Mein Name ist Sara Moon«, erklärte sie. »Ich bin die Tochter des Merlin Ambrosius.« Valantia hob erstaunt eine Augenbraue. Saras Name war ihr natürlich nicht unbekannt. Dass Merlins Tochter in die Ereignisse verwickelt war, überraschte sie dennoch. Sie wandte sich wieder Zamorra und Duval zu. »Dachtet ihr, ich lasse euch entkommen?«, fragte sie mit flackerndem Blick. »Den Versuch war es wert«, antwortete Zamorra trocken. Valantia lachte höhnisch auf. »Deinen Humor hast du jedenfalls nicht verloren. Aber das wird dir noch vergehen. Ihr könnt euch wohl vorstellen, was euch jetzt erwartet?« Zamorra nickte. »Du wirst es uns sicherlich gleich verkünden«, antwortete er. Seine Ruhe zerrte ganz entsetzlich an Valantias Nerven. Sie spürte, wie sie abermals die Kontrolle über sich zu verlieren drohte. Kurz schloss sie die Augen. Als sie die Lider wieder öffnete, war das kalte Glitzern in ihren Blick zurückgekehrt. »Die Herrin vom See will euch persönlich anhören«, erklärte sie frostig. Duval drängte sich nach vorne. »Ja, sehr schön! Zu der wollten wir ja auch die ganze Zeit«, giftete sie. Zamorra legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und tatsächlich verfiel sie in grimmiges Schweigen. Valantia gab ihren Kriegerinnen einen knappen Wink. »Abführen«, befahl sie und wies die Frauen an, die Gefangenen dorthin zu bringen, wo sich der Schlund manifestierte. Innerlich atmete sie auf. Wenn sie die Eindringlinge erst hineingestürzt hatten, war dieses Problem erledigt. Die Herrin würde sich
um sie kümmern. Ganz so, wie sie sich um alle Bedrohungen Avalons kümmerte, die es in all den vielen Jahren gegeben hatte. Ohne den magischen Käfig zusammenbrechen zu lassen, führten die Kriegerinnen die drei Gefangenen vom Platz. Valantia ließ ihren Blick schweifen und holte tief Luft. Die Körper der Gefallenen lagen verrenkt am Boden, darunter auch die vertraute Gestalt Ondas. Langsam ging Valantia zu ihr und schüttelte traurig den Kopf. Einen Moment lang dachte sie still nach, dann stöhnte die Niedergestreckte zu ihren Füßen plötzlich leise auf. Onda lebte noch. Valantias Miene wurde wieder hart. »Wenn das so ist«, erklärte sie, »solltest du dich ebenfalls vor der Herrin vom See verantworten! Ich bin sicher, sie wird ein ernstes Wort mit dir reden wollen.« Die Hohepriesterin rief zwei Frauen herbei, die sich um die Gefangene kümmern und sie zum Schlund transportieren sollten. Roh kamen sie dem Befehl nach und zerrten die Verletzte hoch. Valantia starrte ihnen einen Moment lang hinterher, dann setzte sie sich ebenfalls langsam in Bewegung.
* »Lebt sie noch?« Nicole warf einen Blick über die Schulter. Zwei Priesterinnen hatten die reglose Onda untergehakt und schleiften sie rücksichtslos mit. Das Gesicht der Zauberin war blutüberströmt. Die Dämonenjäger hatten den Tempel just in jenem Moment verlassen, als Onda von ihrer Nachfolgerin niedergestreckt wurde. Zamorra hatte kaum glauben können, was er sah. Auf Avalon schien ein regelrechter Krieg zu toben und immer noch hatten sie nicht den geringsten Schimmer, worum es bei dem Konflikt eigentlich ging. Etwas verspätet nickte der Parapsychologe. »Sonst hätte man sie
wohl einfach liegen lassen«, vermutete er. »Ich denke, sie soll uns Gesellschaft leisten.« Unter strenger Bewachung führte man die Dämonenjäger zu jener Lichtung, die ihnen schon von ihrem letzten Besuch wohlbekannt war. Mittlerweile war es dunkel geworden auf Avalon. Der Marsch schien Ewigkeiten zu dauern. Zamorra wandte sich Sara Moon zu. »Weißt du, was sich hier abspielt?« Merlins Tochter zuckte mit den Schultern. »Ich habe lediglich einen kurzen Blick in die Zukunft erhaschen können«, musste sie zugeben. »Warum hier alles aus den Fugen gerät, weiß ich auch nicht.« Dabei hätte sie es offensichtlich nur allzu gerne gewusst. Bisher war die Feeninsel nämlich ein Ort des Friedens gewesen, aber davon war wenig übrig geblieben. Zamorra verfiel in dumpfes Brüten und schweigend setzten sie den Marsch fort, bis sie endlich ihr Ziel erreichten. Eine Gruppe aus uralten Bäumen bildete das Zentrum der Lichtung. Sie schienen die Eckpunkte eines Pentagramms zu bilden. Das reinste Déjà-vu, dachte Zamorra. Auch bei ihrem letzten Besuch waren sie von den Zauberpriesterinnen gefangen genommen und an exakt diesen Platz geführt worden. Etwas war jedoch diesmal anders als beim letzten Mal. Inmitten des imaginären Pentagramms hatte sich eine Art Tor geöffnet. Es wirkte wie ein riesiger nebliger Trichter, der geradewegs in die Unendlichkeit hineinzuführen schien. Sterne glitzerten in seinem Inneren. Die Nebelschwaden wirbelten, als tobte im Trichter ein mächtiger Orkan und obwohl sich die Gefangenen noch einige Meter von ihm entfernt befanden, fühlten sie, wie bereits unvorstellbare magische Energien an ihren Körpern zu reißen begannen. Unvermittelt tauchte Valantia neben den Dämonenjägern auf.
»Wie ihr seht, hat die Herrin vom See den Schlund bereits geöffnet«, erklärte sie ungefragt. Plötzlich schien sie sehr redselig zu sein. »Beim letzten Mal haben wir Duval und dich der Bereitungszeremonie unterziehen müssen«, führte Valantia weiter aus. »Das wird diesmal nicht nötig sein. Auf das Ritual können wir deshalb verzichten.« Abschätzig warf sie einen Blick auf Sara Moon und die immer noch leblos erscheinende Onda. »Und auch diese beiden«, fügte sie an, »werden den Sturz durch den Schlund ohne Reinigung gut verkraften, da bin ich mir ganz sicher!« Woher Valantia diese Gewissheit nahm, ließ sie offen. Möglicherweise war es ihr einfach egal, ob sie den Transfer mit heiler Haut überstanden. Valantia trat einen Schritt zurück. »Beginnt«, befahl sie den Priesterinnen knapp und gab ihnen einen Wink. Zamorra wechselte einen Blick mit Nicole. Beim letzten Mal hatte sie der Sturz durch den Schlund auf die sagenhafte Ebene der Ewigen Schreie geführt. Anscheinend war diese nicht mit dem Untergang der Hölle vernichtet worden, sondern existierte als Teil Avalons weiter. Dort waren sie dann den sagenhaften Urdämonen begegnet und nur Nicoles Verwandlung in das FLAMMENSCHWERT hatte ihnen den Hals gerettet. Es blieb zu hoffen, dass sie diesmal auch so viel Glück hatten. Es blieb dem Parapsychologen jedoch keine Zeit, weiter über die vorangegangenen Ereignisse nachzudenken, denn schon wurden sie von den Priesterinnen mit erhobener Schwertklinge in Richtung des riesigen Nebeltrichters getrieben. Die von ihm ausgehende Sogwirkung wurde immer stärker. Zamorra hatte den Eindruck, als würde es ihm jeden Moment den Anzug vom Körper fetzen. Er griff nach Nicoles Hand und drückte sie fest. Und dann riss es die beiden Dämonenjäger von den Füßen. Sie
wurden mit Urgewalt in den Trichter hineingesaugt. Kurz schloss Zamorra die Augen. Als sie wieder öffnete, hatte sich seine Umgebung komplett verändert. Der Franzose hatte den Eindruck, geradewegs ins Nichts zu stürzen. Wie aus unendlich weiter Ferne hörte er Nicoles Stimme zu sich vordringen. Sie schrie gellend. Es dauerte einen Moment, bis sich Zamorra der Tatsache bewusst wurde, dass er ebenfalls brüllte wie am Spieß. Gemeinsam mit seiner Gefährtin stürzte der Parapsychologe durch ein nachtschwarzes Sternenmeer. Der Zeitablauf schien außer Kontrolle geraten zu sein, denn Zamorra erlebte die Geburt von Welten mit, um im nächsten Moment schon Zeuge ihres Vergehens zu werden. Und auch er selbst fühlte sich, als würden unvorstellbare Mächte seinen Körper in die molekularen Bestandteile zerlegen, nur um ihn anschließend nach Lust und Laune wieder neu zusammenzusetzen. Es war ein Gefühl absoluter Ohnmacht, ein völliges Ausgeliefertsein, auf das Zamorra nur mit hilflosen Schreien reagieren konnte. Der Dämonenjäger blinzelte. Das Leuchten der fernen Sterne wurde immer greller. Sie zerfaserten zu bunten Schlieren vor seinen Augen. Hoch über – oder unter – sich sah er schemenhaft zwei weitere Körper durch das große Nichts trudeln. Er konnte nur vermuten, dass es sich dabei um Sara und Onda handelte. Sein Bewusstsein verdunkelte sich langsam. Purer Selbstschutz, erkannte Zamorra in seinem letzten wachen Moment. Das Gehirn reagiert auf den visuellen Overkill, indem es kurzerhand das System herunterfährt. Es wurde schwarz um ihn. Aber irgendwann war es plötzlich vorbei. Der Parapsychologe blinzelte. Der endlose Fall hatte aufgehört und er fand sich der Länge nach in einer schlammigen, jaucheähnlichen Masse wieder. Wieder ein Anzug, den ich ausrangieren kann, war absurderweise sein
erster Gedanke. Aber um den feinen Zwirn brauchte er sich nicht wirklich zu sorgen. Daheim, im Château, besaß er genügend gleichartige Modelle. Fragte sich nur, ob er jemals mit heiler Haut wieder dorthin zurückkehren würde … Zamorra schluckte schwer. Er hatte einen Geschmack im Mund, als sei etwas hineingekrochen und dort verendet. Vorsichtig und unter Schmerzen wandte er den Kopf. Nicole lag neben ihm. Beim Anblick der Französin war er sofort wieder voll da und kam auf die Beine. Seine Gefährtin lag nämlich mit dem Gesicht nach unten im Schlamm. Hastig drehte er sie um und prüfte ihre Vitalfunktionen. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er feststellte, dass sie unversehrt war. Schon flatterten ihre Augenlider. »Bei Merlins hohlem Backenzahn«, fluchte Nicole, als sie das Bewusstsein wieder erlangt hatte, »was stinkt denn hier so gottserbärmlich?« Unwillkürlich schmunzelte Zamorra. Nicole schien es soweit ganz gut zu gehen. Er deutete auf die matschige Masse zu ihren Füßen. »Das da, würde ich sagen«, erwiderte er trocken. Er blickte sich nach Sara und Onda um. Die beiden Frauen waren ebenfalls angekommen und befanden einige Meter weiter auf einer Wiese. Merlins Tochter hatte das Bewusstsein bereits zurückerlangt. Sie hatte sich über die ehemalige Hohepriesterin gebeugt und untersuchte sie vorsichtig. Zamorra näherte sich den Beiden. »Es geht ihr den Umständen entsprechend«, sagte Sara, ohne sich umzudrehen. Der Parapsychologe nickte. »Ist sie transportfähig?«, fragte er. »Wir können sie schlecht hier liegen lassen.« Sara zuckte mit den Schultern. »Ich bin die Hüterin der Zeit, keine Heilerin«, erwiderte sie. Zamorra bemerkte beunruhigt, dass Sara
für einen Moment so aussah, als habe alle Kraft sie verlassen. Dann huschte trotz der ernsten Situation der Anflug eines ironischen Lächelns über ihre Lippen. »Jedenfalls hat sie ganz schön was abbekommen.« Zamorra rieb sich das Kinn. Der Hieb, den ihr Valantia versetzt hatte, war in der Tat nicht von schlechten Eltern gewesen. Sicher lag es daran, dass Sara für einen Augenblick so kraftlos gewirkt hatte. »Wir müssen sie mitnehmen«, entschied er. Fröstelnd sah er sich um. Bizarre Felsformationen prägten das Landschaftsbild. In südlicher Richtung konnte er ein schroffes Gebirge erkennen. Nicht allzu weit entfernt erstreckte sich ein riesenhaftes Sumpfgebiet, dem er lieber nicht zu nahe kommen wollte. Nördlich befand sich flaches Land. Nebelschwaden zogen über die Ebene. »Wohin jetzt, Chef?« Nicole war an seiner Seite aufgetaucht und sah ihn gespannt an. Zamorra konnte nur mit den Schultern zucken. »Da Bergsteigen und Sumpfmärsche heute nicht auf dem Tagesprogramm stehen, würde ich sagen, wir gehen in diese Richtung!« Er deutete mit dem Daumen auf die nebelverhangene Ebene. »Auf jeden Fall sollten wir sehen, dass wir weiterkommen«, merkte Nicole an. »Ich habe keine große Lust, noch einmal mit den Urdämonen zusammenzurasseln.« Das ging Zamorra allerdings ganz ähnlich. »Machen wir uns auf den Weg«, entschied er. Gemeinsam mit Nicole, die sich später mit Sara abwechselte, stützte er die halbbewusstlose Onda. Die Priesterin war nicht Herr ihrer Sinne. Immer wieder brabbelte sie unzusammenhängende Worte. Auffällig oft fiel der Name Asmodis. Er fragte sich, in was für einer Verbindung die Zauberin wohl zu dem Erzdämon stand. Mehr denn je war ihm Onda ein Rätsel und angesichts ihres Zustandes würde er wohl keine Antworten mehr von ihr bekommen.
Beherzt stapften sie weiter.
* Der Marsch durch die immer gleiche Landschaft schien sich endlos hinzuziehen. »Das bringt doch nichts«, murmelte Nicole schließlich und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Französin sah mitgenommen aus. Onda war trotz ihrer schlanken Statur nämlich nicht gerade ein Leichtgewicht. Die Nebelschwaden waren in den letzten Minuten immer dichter geworden. »Machen wir eine Pause«, schlug Zamorra deshalb vor. Vorsichtig setzten sie die Verletzte ab. »Es ist ruhig hier«, stellte Sara fest. »Zu ruhig«, ergänzte Zamorra. Beim letzten Besuch waren sie fast umgehend von den Urdämonen attackiert worden. Diesmal zeigte sich keines der unheimlichen Geschöpfe. Ob die Herrin vom See da ihre Finger im Spiel hatte? Er konnte es nur vermuten. Schließlich musste sie wissen, dass er mittels seines Amuletts in der Lage war, Avalon ein für alle Mal zu zerstören. Damals hatte sie, vermutlich in einer Art Panikreaktion, alle Fremden zurück in die Realwelt geschleudert. Zwar lag es Zamorra fern, einen solchen Vernichtungsschlag tatsächlich durchzuführen, aber er wollte die Herrin gerne in dem Glauben lassen. Auf diese Weise hatte er immerhin wenigstens ein Druckmittel in der Hand. Während er noch überlegte, stöhnte Onda schmerzerfüllt auf. Besorgt beugte er sich zur ihr. Sie hatten die Wunde der ehemaligen Hohepriesterin mittlerweile notdürftig versorgt und ihr Gesicht vom Blut gereinigt. Die Schädelverletzung sah besorgniserregend aus. »Wo sind wir?«, brachte sie krächzend hervor. Zum ersten Mal
schien sie ihre Umgebung wieder richtig wahrzunehmen. »Streng dich nicht an, Onda«, beruhigte Zamorra sie sanft. Er ging neben ihr in die Knie. »Wir wurden von deinen Kolleginnen in den Schlund gestoßen.« Ondas schmerzumnebelte Augen loderten auf. »Zur Herrin vom See«, hauchte sie. »Ja, vermutlich«, erwiderte Zamorra. Er wusste, dass die verletzte Priesterin Ruhe brauchte und sich nicht allzu sehr anstrengen durfte, dennoch brannten zahllose Fragen auf seiner Zunge. »Hör mal«, fragte er, »was ist hier genau los? Warum bist du in Ungnade gefallen?« Onda lachte bitter auf. Dabei musste sie husten. Die dadurch verursachte Erschütterung ließ sie schmerzhaft das Gesicht verziehen. Es dauerte einen Moment, bis sie zu einer Erwiderung in der Lage war. Dann jedoch begann sie in abgehackt wirkenden Sätzen zu erzählen. Als Onda schließlich endete, verließen sie die Kräfte. Wieder verlor sie das Bewusstsein. Zamorra blickte seine Begleiterinnen mit ernster Miene an. »Gut, viel schlauer sind wir jetzt auch nicht«, stellte er fest. Zwar wussten sie nun, dass Asmodis sich tatsächlich auf Avalon herumgetrieben hatte und zur Herrin vom See hatte vordringen wollen. Ob er es letztendlich geschafft hatte, entzog sich jedoch weiterhin ihrer Kenntnis. »Armes Ding«, sagte Nicole leise. Sie ging neben der Priesterin nieder und fuhr ihr sanft über das blutverklebte Haar. »Sich ausgerechnet in Assi zu vergucken! Das konnte ja nur schiefgehen!« Zamorra nickte langsam. »So oft verirren sich keine Mannsbilder her«, erinnerte er sie. »Und Assi kann durchaus charmant sein, wenn er denn will.« Nicole verzog das Gesicht. »Glaubst du, er hat sie zu irgendetwas angestiftet?«, fragte sie.
Der Parapsychologe konnte nur mit den Schultern zucken. »Wer weiß das schon«, erwiderte er. »Aber für mich klang es eher, als sei die ganze Sache auf Ondas eigenem Mist gewachsen. Es muss schon lange in ihr gebrodelt haben. Wahrscheinlich ist Assis Auftauchen nur der Tropfen gewesen, der das Fass letztendlich zum Überlaufen brachte.« Nicole wollte etwas erwidern, doch in jenem Moment tauchte Sara neben ihr auf. »Wie gehen wir jetzt weiter vor?«, fragte Merlins Tochter interessiert. Zamorra blickte ihr in die Augen. »Wir müssen herausfinden, ob es hier eine Träne gibt«, erklärte er. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Herrin vom See es uns verraten wird.« Er hatte Sara bereits während des Marsches darüber aufgeklärt, was sie auf Avalon suchten. Interessanterweise hatte Zamorra nicht den Eindruck gehabt, dass Sara besonders überrascht von der Geschichte war. Und auch jetzt ließ sie sich nicht anmerken, was sie von der ganzen Sache hielt. »Dann müssen wir weiter«, erklärte die Hüterin der Zeit. »Wir müssen zum Herz von Avalon!« Vorsichtig hoben sie Onda wieder an und setzten den Gewaltmarsch fort, bis sie schließlich eine kleine Hügelkette erreichten. Der Aufstieg war noch einmal kräftezehrend, doch als sie die Spitze erreicht hatte, begannen sich die Nebelschwaden endlich zu lichten. Zamorra atmete erleichtert auf. Allmählich hatte man die Hand vor Augen nicht mehr sehen können. »Ich würde sagen, da wären wir«, brachte er hervor, als sich die Sicht endgültig klärte. Am Ende der Ebene konnten sie ein unglaubliches Gebilde erkennen, welches auf der Spitze eines Hügels trohnte. Es war mitternachtsschwarz und bestand ganz offensichtlich aus Kristall. Lichtreflexe brachen sich in den Tausenden Facetten des auf seltsame Weise
erhaben wirkenden Monuments und drohten die Betrachter zu blenden. Zamorra fühlte sich von der Form des Gebildes vage an einen Apfel erinnert. Dies musste das Refugium der Herrin vom See sein, da war er sich ganz sicher. Sara Moon nickte. »Das ist das Herz von Avalon«, bestätigte sie. Zamorra ging auf ihre Worte nicht ein. Er wechselte einen Blick mit Nicole. »Du spürst es auch, nicht wahr?«, fragte er. Die schöne Französin schien zu frösteln, als sie das apfelförmige Monument betrachtete. Sie nickte still. Das Herz von Avalon besaß dieselbe Ausstrahlung wie die Tränensplitter, denen sie in Kolumbien begegnet waren und diese Tatsache ließ nur einen Schluss zu. Auf Avalon existierte tatsächlich eine Träne. Entweder befand sie sich im Inneren des merkwürdigen Gebildes oder das ganze, riesige Herz stellte die Träne dar. Zamorra vermochte es nicht zu sagen. Jedenfalls spürte er deutlich die finsteren Energien, die ihm von dort entgegenbrandeten. »Ich denke, jetzt sind wir schlauer«, stellte er fest. Nicole nickte langsam. »Machen wir einen Abflug?« »Allerdings«, antwortete Zamorra. Jetzt, da sie Gewissheit besaßen, wollte er keine Minute länger als nötig mehr auf der Ebene der Ewigen Schreie verbringen. Schon wollte er nach seinem Amulett greifen, um mit Hilfe von Merlins Stern ein entsprechendes Weltentor zu öffnen, doch plötzlich waren sie nicht mehr allein auf der Ebene. Mit einem Mal wurde es völlig still um sie herum. Die Temperatur sank um einige weitere Grade ab. Zamorra blinzelte. Als sich sein Blick klärte, war neben dem Herz von Avalon eine dunkle, hochgewachsene Gestalt sichtbar geworden.
Durch die Entfernung wirkte sie winzig klein, dennoch zweifelte er keine Sekunde daran, dass es sich um die Herrin vom See handelte. »Jetzt gibt’s Ärger«, ließ sich Nicole vernehmen. Sie dachte offenbar genau dasselbe. Und dann sprach die dunkle Gestalt. Trotz der großen Entfernung waren ihre Worte deutlich wahrnehmbar. Die Stimme schien aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig zu kommen und dröhnte furchtbar in den Ohren der Dämonenjäger. Was sucht ihr in meiner Domäne? Zamorra war entschlossen, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. »Antworten«, sagte er schließlich laut. Offenbar hatte dies die Herrin vom See nicht sonderlich zu befriedigen, denn ihre Reaktion bestand in einem wütenden Zischen. Unauffällig machte Zamorra eine beschwichtigende Geste, in Richtung seiner Gefährten. Er hatte das Amulett abgenommen und hielt Merlins Stern umklammert. Mit den Fingern der rechten Hand begann er, die geheimnisvollen Hieroglyphen der Silberscheibe zu verschieben. Er hatte sich Tarans Erläuterungen genau eingeprägt und wusste daher, wie er ein entsprechendes Weltentor zurück zur Erde öffnen konnte. Nur wenige Symbole des Amuletts mussten dazu an die passende Stelle gerückt werden. Verschob er dagegen sämtliche von Taran erwähnten Hieroglyphen, wurde gleichzeitig das angekündigte Desaster losgetreten. Dies lag ihm jedoch fern. Zuviel unschuldiges Leben existierte auf Avalon, als dass er die Feeninsel bewusst der Vernichtung anheimgegeben hätte. Hoffen wir mal, dass Taran keine Märchen erzählt hat, dachte Zamorra bei sich. Er ahnte bereits, dass sie in Kürze schnell die Kurve kratzen mussten. Die dämonische Präsenz der Herrin vom See hing wie eine dunkle
Wolke in der Luft und schien die Anwesenden zu erdrücken. Dem Meister des Übersinnlichen war völlig klar, dass er gegen eine Kreatur dieser Größenordnung nichts ausrichten konnte. Die Herrin vom See befand sich auf einer ganz anderen Stufe des magischen Machtgefüges. Etwas so Intensives hatte Zamorra in seiner gesamten Laufbahn noch nicht wahrgenommen. Während der Parapsychologe noch nachdachte, musste er abermals blinzeln. Einen Moment lang glaubte er, dass ihm seine Augen einen Streich spielten, aber da täuschte er sich. Die dunkle Gestalt am anderen Ende der Ebene begann zu wachsen. Langsam, doch deutlich wahrnehmbar, wuchs sie in die Höhe. »Chef, ich glaube, wir haben ein Problem«, merkte Nicole nicht ganz unzutreffend an. Antworten …! Suchen wir die nicht alle? Ein schrilles, fast kreischendes Lachen war zu hören. Sprich, Amulettträger, forderte die Herrin vom See nachdrücklich. Du hast dich hierher gewagt, obwohl du wusstest, dass es dich den Kopf kosten wird. Jemand wie du würde niemals ohne Grund so handeln. Die dunkle Frauengestalt musste mittlerweile um die fünf Meter groß sein und immer noch wuchs sie. Ihre Augen funkelten feuerrot, als sie ihren Blick Sara Moon zuwandte. Und du, stellte sie fest, wirst auch nicht grundlos gekommen sein. »Ganz recht«, antwortete Merlins Tochter. »Ich bin gekommen, um den Krieg unter deinen Heiligen Frauen zu verhindern.« Dabei deutete sie auf die verletzte Priesterin. »Sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein! Ist das in deinem Sinn?« Zamorra wusste nicht, ob es etwas brachte, mit einem solchen Wesen diskutieren zu wollen. Die Präsenz der Herrin vom See fühlte sich unglaublich fremdartig an. Dass Sara es dennoch versuchte, ehrte sie. Die finstere, rasch wachsende Gestalt stieß ein Schnauben aus. Was auf Avalon geschieht, geht euch nichts an, verkündete sie. Ihr seid
hier nicht erwünscht! Das merkte man allerdings deutlich. Und die Herrin vom See schien auch nicht länger daran interessiert sein, sich im Small Talk zu üben. Ohne jede Hast kam sie den Dämonenjägern entgegen. Dabei beschleunigte sich ihr Wachstum weiter. Nicole warf Zamorra einen hastigen Seitenblick zu. »Gleich kleben wir unter ihrem Pantoffel, Chef«, merkte sie gallig an. Der Boden bebte bei jedem Schritt, mit dem sich die Unheimliche auf die Gruppe zubewegte. Mittlerweile musste sie die Größe eines mehrstöckigen Hauses erreicht haben. Zamorra ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er brauchte seine Konzentration, um die letzten Symbole des Amuletts an ihren Platz zu schieben. Und dann war es geschafft. Ein flirrender grüner Torbogen baute sich vor der Gruppe auf. Gerade noch rechtzeitig, denn mittlerweile hatte die Herrin vom See die Dämonenjäger fast erreicht. »Los«, befahl Zamorra. »Schnappen wir uns Onda – und dann nichts wie weg von hier!« Aber die Herrin vom See schien seine Worte registriert zu haben. Oh nein, diese hier bleibt bei mir! Der Himmel verdunkelte sich, als sie sich vorbeugte und die ehemalige Priesterin mit spitzen Fingern vom Boden aufhob. Erst als sie sich hoch in der Luft befand, schien Onda zu registrieren, was mit ihr geschah. Ihr Gesicht verzerrte sich. Die Herrin vom See weidete sich einen Moment lang an ihrem Entsetzen, dann schien sie genug von dem grausigen Spiel zu haben. Hinfort mit dir zu den Urdämonen, sagte sie mit einem bösen Lachen. Das soll deine gerechte Strafe sein! Zamorra spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, als sie den Körper der Priesterin fortschnippte wie eine alte Erdnuss.
Onda stieß einen gellenden Schrei aus, als sie weit über die Ebene geschleudert wurde und schließlich in den Nebeln verschwand. Der Parapsychologe spürte Nicoles Hand an seinem Oberarm. »Das kann sie nicht überlebt haben«, stellte sie fest. »Lass uns verschwinden!« Zamorra nickte. Er musste seiner Gefährtin recht geben. Langsam drehte sich die Herrin vom See wieder um. Ihre riesigen Augen glosten, als sie die Dämonenjäger musterte. Die Titanin schien zu überlegen. Sie wusste, dass Zamorra in der Lage war, ihre Welt zu zerstören und dieser Gedanke ließ sie zögern. Aber dieses Zögern würde nicht lange währen, das spürte Zamorra ganz deutlich. Er nahm Nicole an die Hand und machte sich bereit, den grünlich flirrenden Torbogen zu durchschreiten. »Worauf wartest du noch?«, sagte er zu Sara, die keine Anstalten machte, sich den Gefährten anzuschließen. Die Hüterin der Zeit lächelte rätselhaft. »Ich habe meine eigenen Methoden«, erklärte sie. Übergangslos wurde ihre Gestalt durchscheinend. Gleich darauf war sie verschwunden. Irritiert blickte der Parapsychologe auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, dann spürte er, wie Nicole abermals an ihm zerrte. Er nickte ihr noch einmal zu. Im nächsten Moment stürzten sich die beiden Dämonenjäger durch den Torbogen ins Nichts …
* Als Zamorra die Augen wieder öffnete, brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren. Er befand sich auf einer regennassen Wiese. Es schien tiefste Nacht zu sein. Der Mond stand bereits hoch am Himmel. In einigen Metern Entfernung konnte der Parapsychologe eine dunkle, aber
durchaus vertraute Waldfront erkennen. Merlins Zauberwald! Das Weltentor hatte sie ganz in der Nähe jenes Ortes wieder ausgespuckt, von dem aus sie Avalon betreten hatte. »Endlich zu Hause«, hörte er hinter sich Nicoles erleichterte Stimme. Zamorra lächelte und wandte sich zu seiner Gefährtin um. Nicole sah sichtlich mitgenommen aus, aber er selbst machte wahrscheinlich keinen besseren Eindruck. »Das hätte leicht ins Auge gehen können«, meinte die Französin. Zamorra nickte nur. Die Herrin vom See war eine Gegnerin, der sie nicht gewachsen waren. So wie die Dinge zurzeit aussahen, gab es also keine Chance, an die Träne heranzukommen. Er wusste noch nicht, ob er sich über diesen Umstand erleichtert fühlen sollte. Der einzige Trost war, dass sich wahrscheinlich sogar Asmodis an der Herrin die Zähne ausbeißen würde. Jedenfalls konnte Zamorra das nur hoffen. Zamorra erhob sich langsam und streckte seine schmerzenden Knochen. Das feuchte Gras hatte Flecken auf seinem Anzug hinterlassen, aber von dem ursprünglichen Weiß des Stoffs war ohnehin nicht mehr viel übriggeblieben. »Gehen wir heim«, sagte er nachdenklich und deutete auf die nahe Regenbogenblumen-Kolonie, mit deren Hilfe sie sich geradewegs zurück ins Château begeben konnten. Ein jungenhaftes Grinsen huschte über seine Lippen. »Du wirst dich sicher schon auf dein Bärenfell freuen.« Nicole erwiderte sein Lächeln matt. Sie sah abgekämpft aus. »Im Moment würde ich ganz ehrlich eine Mütze Schlaf bevorzugen«, gab sie offen zu. Zamorra nahm seine Gefährtin in den Arm. »Komm, Nici«, sagte er einfach. Er selbst fühlte sich ebenfalls völlig zerschlagen und sehnte sich
nach seinem weichen Bett. Doch während sie auf die Regenbogenblumen zuschritten, ahnte er bereits, dass er wenig Ruhe finden würde. Das zurückliegende Abenteuer hatte zahllose Fragen aufgeworfen. Sara hätte vielleicht einige davon beantworten können, doch Merlins geheimnisvolle Tochter ging ihren eigenen Weg. Er war sich allerdings ziemlich sicher, dass es diesmal nicht wieder fünf Jahre dauern würde, bis sie von ihr hörten. Aber darüber wollte er nicht nachdenken. Jedenfalls nicht mehr heute. Gemeinsam mit Nicole trat er zwischen die Blumen und konzentrierte sich auf Château Montagne.
* Epilog Es war still geworden auf Avalon. Die Aufräumarbeiten in der Siedlung der Priesterinnen gingen unaufhaltsam voran. Man weinte, als man die Toten begrub, aber das Leben musste natürlich weitergehen. Die durch Onda aufgehetzten Fabelwesen der Insel hatten keinen weiteren Angriff mehr unternommen. Sie hatten sich tief in die Wälder zurückgezogen und verhielten sich still. Möglicherweise würde jetzt erst einmal Ruhe einkehren. Die Zeit würde es zeigen. Valantia blickte nachdenklich aus einem Fenster des Tempels hinaus auf den Vorplatz. Obwohl nur wenig Zeit vergangen war, hatte man den Großteil der Verwüstungen mittlerweile beseitigt. Nun hatte die ehemalige Adeptin endlich Gelegenheit, über die zurückliegenden Ereignisse nachzudenken. Zum wiederholten Male sah sie sich mit dem Schwert auf ihre einstige Gefährtin einschlagen. Das knackende Geräusch, mit dem die Klinge ihren Schädel verletz-
te, peinigte immer noch Valantias Ohren. Das Onda sich von der Herrin vom See abgewandt hatte, war ihr wie eine unglaubliche Blasphemie erschienen und hatte sie schließlich die Beherrschung verlieren lassen. Da sie sicher war, dass niemand sie in ihren Gemächern stören würde, gestattete sich die Hohepriesterin den Luxus einer Träne. Sie wusste, wenn sie vor die übrigen Frauen trat, würde sie wieder Stärke beweisen müssen. So wie Onda ihr gesamtes Leben lang stark gewesen ist. Der Gedanke fuhr wie eine glühende Messerklinge in ihr Herz. Ondas Gefühle und Zweifel waren für Valantia abstrakt geblieben und letztlich nicht begreifbar. Erst jetzt, da sie die Gefährtin endgültig verloren hatte, gelang es ihr ein Stück weit. Aber nun war es natürlich zu spät. Onda war fort, für immer. Und natürlich war das allein Valantias Schuld, das war ihr wohl bewusst. Schließlich hatte sie höchstpersönlich das Schwert geschwungen und den Befehl gegeben, die einstige Gefährtin zu den Anderen in den Schlund zu stoßen. Jetzt ruhte die Last der Verantwortung ruhte allein auf Valantias Schultern. Ihr wundes Herz schmerzte, doch es gab niemandem mehr, dem sie davon erzählen konnte. Mit unbewegter Miene wandte sich Valantia vom Fenster ab und nahm an einem schmucklosen Tisch Platz. Ihre Bewegungen wirkten abgehackt und fast wie einstudiert, als sie sich ein Glas Traubenwein eingoss. Vorsichtig nippte sie an dem starken Getränk. Sie rief sich die Gedanken, die sie während der Schlacht gehabt hatte, ins Gedächtnis zurück. Gefühle waren für sie ein Luxus geworden. In ihrer jetzigen Position konnte sie sich dergleichen, zumindest nach außen hin, nicht mehr erlauben. Wenn sie fortan litt, dann würde sie eben es im Stillen tun, oder aber ihr Herz gleich
ganz abtöten, bevor es ihr eines Tages wie Onda erging. Wieder trank sie, doch diesmal begnügte sich Valantia nicht mit einem Schluck, sondern stürzte den Rest des Weins geradezu in sich hinein. Ja, sie hatte die Befehle der Herrin vom See wortgetreu ausgeführt, doch es hatte sie fast innerlich dabei zerrissen. Allmählich dämmerte Valantia, dass sie ihrem neuen Amt auf Dauer nicht gewachsen sein würde. Die schwarzhaarige Priesterin schloss die Augen und sandte ein verzweifeltes Stoßgebet an die Meisterin der Insel. Oh bitte, nimm es von mir, bat Valantia inständig. Aber die Herrin vom See blieb stumm. ENDE
Das Erbe der Druiden von Anika Klüver Eigentlich wollte Zamorra herausfinden, warum Asmodis die Tränen LUZIFERs sammelt. Aber er kommt nicht zur Ruhe. Auf der sonst so ruhigen britischen Insel Anglesey ist nämlich im wahrsten Sinne die Hölle los – Menschen verschwinden, Viehherden fallen unvermittels tot um. Und als Gryf, der schon lange auf Anglesey lebt, herausfindet, wer dahinter steckt und Zamorra zu Hilfe holt, ist es schon fast zu spät …