Wolfgang Hohlbein
Gespenst Ahoi! Band 2 Die gestohlene Geisterkiste von Wolfgang Hohlbein
CIP-Titelaufnahme der Deu...
10 downloads
488 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Wolfgang Hohlbein
Gespenst Ahoi! Band 2 Die gestohlene Geisterkiste von Wolfgang Hohlbein
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hohlbein, Wolfgang: Gespenst ahoi! / Wolfgang Hohlbein - München : F. Schneider Bd. 2. Die gestohlene Geisterkiste - 1988 ISBN 3-505-09771-3
© 1988 by Franz Schneider Verlag GmbH 8000 München 40 • Frankfurter Ring 150 Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild und Illustrationen: Magdalene Hanke-Basfeld, Hamburg Umschlaggestaltung: Claudia Böhmer, München Lektorat: Rene Rilz Herstellung: Manfred Prochnow Satz/Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN: 3 505 09771-3 Bestell-Nr.: 9771
1 Wo gehobelt wird, da fallen Millionäre Irgendwie mußte er das Brett nicht richtig gefaßt haben; vielleicht war die Planke auch einfach nur zu schwer für einen zwar kräftigen, aber trotzdem erst zwölfjährigen Jungen. Immerhin war es gut zwei Meter lang und so dick wie zwei nebeneinandergelegte Daumen. Andys letzter Schritt wurde sehr viel größer, als er eigentlich sollte, und eine halbe Sekunde später segelte er in hohem Bogen auf den Steg herunter. Andy blieb einen Moment benommen liegen, ehe er sich fluchend hochstemmte. Das Mißgeschick, das ihm mit der Planke passiert war, war nicht das erste in den vergangenen vierzehn Tagen, und er hatte das sichere Gefühl, daß es auch nicht das letzte bleiben würde. „Falls es ein Mißgeschick war und nicht das Werk eines gewissen Jemand“, dachte Andy grimmig. „Hast du dir weh getan, Brüderchen?“ flötete Tim, Andys jüngerer Bruder und die größte Nervensäge im Umkreis von hundert Kilometern, vom Deck herunter. Andy richtete sich vollends auf und knurrte: „Nein, mir war nur langweilig.“ Tim grinste noch breiter, war aber klug genug, seinen Bruder nicht noch weiter zu reizen, sondern drehte sich statt dessen auf der Stelle herum und trollte sich. Andy starrte ihm mit düsteren Gedanken nach. Sein Blick glitt über das Deck der Witchcraft und fiel dann auf die lange Reihe schnittiger weißer Luxusyachten, zwischen denen sich die Witchcraft ausnahm wie ein Stück schmuddeliger Kohle in einem Beet voller weißer Chrysanthemen. Mißtrauisch blickte er die schmale Zufahrtsstraße hinauf, über der sich ein schreiend buntes Spruchband spannte, auf dem zu einer privaten Bootsregatta in der kommenden Woche eingeladen wurde. Schließlich beäugte er jeden Schatten in seiner näheren Umgebung, als suche er
etwas ganz Bestimmtes - genauer gesagt: jemanden. Das tat Andy auch. Er war auch nicht hundertprozentig davon überzeugt, daß Käpt'n Kitt bei seinem Fehltritt wirklich die Hände im Spiel gehabt hatte, aber auch ganz und gar nicht vom Gegenteil. „Es hat gewisse Nachteile“, dachte er, „mit einem Gespenst befreundet zu sein.“ Zumindest, wenn dieses Gespenst ein unverbesserlicher Kindskopf war. Und das war Kitt weiß Gott! Er war das kindischste Gespenst, das Andy jemals kennengelernt hatte - ehrlich gesagt, auch das einzige -, und dessen Auffassung von Humor deckte sich nicht immer mit der Andys. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, in den Laderaum hinunterzugehen und Kitts Geisterkiste einen saftigen Tritt zu verpassen, aber dann tat er es natürlich nicht. Sein Vater hätte sich auch sehr darüber gewundert. Schließlich hatten Andy und Tim sich diese Kiste als ihren Anteil an der Familienerbschaft ausbedungen. Vater konnte ja nicht wissen, daß in der vermeintlich wertlosen Kiste ein leibhaftiges Gespenst wohnte... Andy verscheuchte den Gedanken an Käpt'n Kitt, die Erbschaft und alles, was damit zusammenhing, und machte sich statt dessen mißmutig wieder auf den Weg zum Heck der Witchcraft, um eine neue Planke zu holen. Sein Vater, der von dem Zwischenfall offenbar gar nichts mitbekommen hatte, sah verwundert auf, als Andy mit leeren Händen und sehr viel früher als erwartet zurückkam. Er verbiß sich aber jeden Kommentar und deutete auf den Stapel halbvermoderter Bretter, die er schneller aus dem Deck des Schiffes herausriß, als Andy sie wegschaffen konnte. Auf der anderen Seite des Decks lag ein weitaus kleinerer Stapel sauber gehobelter Bretter, die irgendwann einmal - so in zwei- bis dreihundert Jahren, schätzte Andy - das morsche Achterdeck des Schiffes ersetzen sollten. Der Anblick steigerte seine Laune auch nicht gerade.
Nein, so hatte er sich einen erholsamen Urlaub auf See nicht vorgestellt! Und dabei hatte es so gut angefangen, vor nicht einmal vierzehn Tagen. Familie Berger hatte nicht nur dieses Schiff geerbt und, kaum an Bord gekommen, festgestellt, daß es ein leibhaftiges Gespenst unter seinem Deck gab. Nein, sie hatte auch einen Schatz gefunden, eine ganze Schiffsladung wertvoller Antiquitäten, deren genauer Wert bisher nicht einmal abzuschätzen war. Und wozu das alles? fragte Andy sich wütend. Statt einen kleinen Teil der Erbschaft darauf zu verwenden, die Witchcraft so schnell wie möglich reparieren zu lassen und dann in See zu stechen, hatte sein Vater Bretter und Nägel und einen Hammer gekauft, mit dem er sich jeden Tag mindestens fünfmal auf den Daumen schlug, und freudestrahlend verkündet, daß sie die erste Hälfte der Ferien dazu verwenden würden, die Witchcraft mit „eigener Hände Arbeit“ flottzumachen! Was Andys Hände anging, so waren sie nach drei Tagen wund und nach einer Woche voller Schwielen gewesen, und wenn der Spaß so weiterging, dann würde er sich nach spätestens einer weiteren Woche in die Schule zurücksehnen, der er eigentlich mit der Witchcraft hatte davonsegeln wollen. Erholsame Ferien! Ha! Wütend auf seinen Vater, das Schiff, Käpt'n Kitt und überhaupt die ganze Welt, lud er sich eine zweite Planke auf die Schulter und balancierte damit den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Diesmal stolperte er nicht. Dafür geschah etwas anderes das Brett, das er auf der rechten Schulter trug, entglitt seinen Fingern und rutschte nach vorne, so plötzlich, als hätte jemand daran gezogen. Aber es fiel nicht. Als hätten die Gesetze der Schwerkraft plötzlich keine Gültigkeit mehr, hing es einfach schwerelos in der Luft, und für einen Moment glaubte Andy die schattenhaften Umrisse einer kleinen, gedrungenen Gestalt zu
erkennen, die vor ihm in der Luft schwebte. Er sperrte Mund und Augen auf. Andy war nicht der einzige, den der gespenstische Anblick in Staunen versetzte. Vom Landungssteg her ertönte ein überraschter Ausruf, und als sich Andy herumdrehte, erblickte er eine schlanke, in weiße Hosen und eine blaue Kapitänsjacke gekleidete Gestalt, die zu ihm und der schwebenden Planke hinaufstarrte. Andys Erstaunen wandelte sich in jähes Erschrecken, als er das Gesicht unter der Kapitänsmütze erkannte. Der ungebetene Zuschauer war niemand anders als der Millionär Klaus Yenom, ihr Hafennachbar. Andy war nicht der einzige, der Yenom offensichtlich bisher nicht bemerkt hatte. Auch sein geisterhafter Helfer drehte sich herum, stieß einen kleinen, erschrockenen Ruf aus - und verschwand. Und die schwebende Planke war plötzlich gar nicht mehr schwerelos, sondern krachte ziemlich unsanft auf Andys Schulter herunter, neigte sich nach vorn, entglitt seinen verzweifelt zupackenden Händen und sauste wie ein stumpfer Speer auf Yenoms Zehenspitzen herunter. Es dauerte eine ganze Weile, bis Yenom aufgehört hatte, abwechselnd auf dem rechten und dem linken Bein herumzuhüpfen und Andy mit allen möglichen Schimpfwörtern zu bedenken; lange genug jedenfalls, daß sein Gebrüll nicht nur Tim, sondern auch Andys Eltern anlockte, die neugierig näher kamen und zuerst erschrocken, dann mit kaum verhohlener Schadenfreude seinen unfreiwilligen Veitstanz beobachteten. Man konnte nicht unbedingt behaupten, daß die Familie Berger und Klaus Yenom Freunde waren. Trotzdem protestierte Andys Vater nicht, als Yenom schließlich aufhörte, wie ein Wilder auf dem Landungssteg herumzuhüpfen, und statt dessen die Laufplanke zum Deck der Witchcraft emporbalanciert kam. Im Gegenteil: Auf seinem
Gesicht erschien ein beinahe freundliches Lächeln, als er Yenom entgegentrat und ihm die Hand entgegenstreckte. „Hallo, Herr Nachbar“, sagte er freundlich. „Ein bißchen Frühsport getrieben?“ Yenoms Blick sprühte vor Wut, aber er antwortete gar nicht auf Vaters Frage, sondern wandte sich zornbebend an Andy. „Das war doch Absicht“, sagte er, „du hättest mich damit umbringen können, du Bengel!“ Andy öffnete den Mund, aber sein Vater kam ihm zuvor. „Kaum“, sagte er, schon hörbar kälter als bisher. „Andreas ist bestimmt kein Musterknabe, aber er würde niemals jemanden absichtlich gefährden. Was ist passiert?“ Die letzte Frage galt Andy, der vor lauter Überraschung ins Stottern kam. „Das... das Brett ist mir aus der Hand gerutscht“, stammelte er. „Es tut mir leid, aber ich... ich konnte es einfach nicht mehr halten.“ Vaters Blick machte deutlich, daß er sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben würde. Aber er verschob alle weiteren Fragen auf später und wandte sich wieder an Yenom. „Da hören Sie's, Herr Yenom“, sagte er. „Wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. Sie wissen doch, daß wir auf diesem Schiff arbeiten.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Yenoms Luxus-Yacht, die auf der anderen Seite des Steges im Wasser dümpelte. Yenom nickte grimmig. „Ja. Das Gehämmere stört mich schon seit zwei Wochen.“ „Dann sollten Sie sich bei der Hafenverwaltung beschweren“, sagte Vater gelassen. Yenom schürzte nur die Lippen, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und machte eine abfällige Handbewegung. Vater atmete scharf ein, und Andy zog sich vorsichtshalber einen halben Schritt zurück. Auf seinen Vater wirkte der bloße Anblick Klaus Yenoms wie das berühmte rote Tuch auf einen
Stier. „Darf ich fragen, was uns die Ehre Ihres frühmorgendlichen Besuches verschafft, Herr Nachbar?“ fragte er gepreßt. Yenom nickte. „Sie dürfen“, sagte er wütend. „Ich bin bloß hier, um Ihnen einen Weg abzunehmen. Ich war vorhin oben beim Postamt, und man hat mir einen Brief für Sie mitgegeben.“ Er griff in die Innentasche seines Jacketts und förderte einen schmalen blauen Briefumschlag zutage, den er Herrn Berger reichte. „Hätte ich allerdings gewußt, daß man mich mit Wurfgeschossen empfängt, hätte ich es wahrscheinlich nicht getan“, fügte er hinzu. Vater riß den Brief auf. Als wäre Yenom gar nicht mehr da, begann er zu lesen, während Andys Mutter sich auf die Zehenspitzen stellte und über seine Schulter hinweg einen Blick auf das Geschriebene zu werfen versuchte. Dabei sah sie gleichzeitig Yenom an, auf eine sehr eindeutige Art: Jetzt, da er den Brief abgegeben hatte, gab es eigentlich keinen Grund mehr für ihn, noch hier zu bleiben. Aber Yenom dachte gar nicht daran, zu gehen. Er zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an und betrachtete abwechselnd seine hochglanzpolierten Schuhe - auf denen das Brett einen deutlichen Abdruck hinterlassen hatte - und Andy. Auf eine Art, die Andy gar nicht gefiel. Er war plötzlich sicher, daß er irgend etwas bemerkt hatte. Hastig wich er Yenoms Blick aus, trat dichter an seinen Vater heran und versuchte ebenfalls einen Blick auf den Brief zu erhaschen. Aber in diesem Moment hatte sein Vater ihn zu Ende gelesen und faltete ihn zusammen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war... sonderbar, fand Andy. Fast ein bißchen erschrocken, auf jeden Fall aber besorgt. Yenom nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und grinste. „Schlechte Nachrichten?“ fragte er. Andys Vater schob den Brief in die Hosentasche und
schwieg. Yenoms Grinsen wurde noch breiter, und Andy war sich plötzlich sicher, daß es sich erstens wirklich um keine besonders gute Nachricht gehandelt hatte und Yenom zweitens ziemlich genau wußte, was in dem Brief stand. Als Vater nicht antwortete, zuckte er nur die Achseln und machte mit der freien Hand eine weit ausholende Bewegung. „Noch immer fleißig, wie?“ fragte er. „Das Ding hat ja schon fast Ähnlichkeit mit einem Schiff - wenigstens von weitem.“ Andy hielt die Luft an, aber nichts von alledem, was er befürchtet hatte, geschah. Entweder hatte Käpt'n Kitt Yenoms Worte nicht gehört, oder er reagierte nicht darauf - was Andy allerdings für wenig wahrscheinlich hielt. Der Schiffsgeist reagierte sehr empfindlich, wenn jemand die Witchcraft beleidigte. „Das kriegen wir schon hin“, antwortete Vater mühsam beherrscht. „Aber das erinnert mich daran, daß wir noch eine Menge zu tun haben. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen...“ Und damit ließ er Yenom einfach stehen und ging wieder zum Heck des Schiffes zurück. Das schien Yenom aber nicht weiter zu stören - im Gegenteil. Er lächelte noch zufriedener, vergrub die linke Hand in der Hosentasche und schlenderte ihm nach. Andy kam gerade zurecht, um zu sehen, wie sein Vater mit einer wütenden Bewegung eine weitere morsche Planke aus dem Deck riß und sie so dicht vor Yenoms Füße warf, daß der Millionär mit einem erschrockenen Laut zurücksprang. Aber seltsam, er reagierte auch jetzt nicht zornig, sondern sah Vater nur mit einem schadenfreudigen Blick an. „Nervös?“ fragte Yenom gehässig. „Nehmen Sie's nicht persönlich, Herr Nachbar. Es ist schon ein Kreuz mit den Behörden, nicht wahr? Aber darunter leiden wir ja schließlich alle.“
Vater sah auf. Seine Augen blitzten vor Zorn. „Lesen Sie zufällig meine Post?“ fragte er lauernd. Yenom schüttelte den Kopf. „Nur die Absender. Ich gestehe, das ist nicht sehr höflich, aber ich bin nun mal ein neugieriger Mensch. Der Brief ist von der Hafenbehörde. Lassen Sie mich raten, was die von Ihnen wollen.“ Er kicherte. „Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst gewesen sein, daß Sie diesen schwimmenden Mülleimer zur Regatta angemeldet haben.“ „Also doch!“ grollte Vater. „Sie haben geschnüffelt.“ „Man hat so seine Beziehungen“, antwortete Yenom lächelnd. „Dann haben Sie wahrscheinlich auch Ihre Finger bei der Absage im Spiel gehabt, wie?“ fauchte Vater. Er richtete sich vollends auf und bewegte ärgerlich den Dachdeckerhammer, den er in der rechten Hand hielt. „Ich?“ entgegnete Yenom. „Aber Herr Nachbar! Was halten Sie von mir?“ „Wollen Sie das wirklich wissen?“ „Schließlich ist es nicht meine Schuld, wenn Ihr sogenanntes Schiff nicht seetüchtig ist, oder?“ sagte Yenom scheinheilig. „Und es ist auch nicht meine Schuld, wenn Sie das Schiff zur Regatta anmelden und eine Abfuhr erhalten. Seien Sie froh, daß man nicht von Ihnen verlangt, das Ding in die nächste Müllverbrennungsanlage zu schleppen, wo es hingehört.“ Das war zuviel - nicht nur für Familie Berger, sondern auch für den fünften Passagier an Bord. Vater atmete tief ein und setzte zu einer seiner gefürchteten Schimpfkanonaden an, aber er kam nicht mehr dazu. Etwas wie ein flüchtiger Schatten schien hinter ihm aus dem Deck zu wachsen, und plötzlich machte sich der Hammer in seiner Hand selbständig, flog in einem hohen, sehr schnellen Bogen auf Yenom zu und blieb zitternd direkt zwischen seinen Füßen im Holz stecken.
Yenom quietschte vor Schreck, machte einen Satz nach hinten und stolperte prompt über den Stapel gehobelter Bretter, der hinter ihm lag. Das Platschen, mit dem er kurz darauf in der schmutzigen Brühe aufschlug, ging fast in Andys und Tims schadenfrohem Gelächter unter. Aber sie waren die einzigen, die lachten. Ihr Vater war schreckensbleich geworden und starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen abwechselnd auf seine leere Hand und den Hammer, der fast zur Hälfte in die Decksplanken hineingefahren war. Dann stieß er einen erschrockenen Ruf aus und eilte zur Reling. „Um Gottes willen!“ rief er. „Herr Yenom! Ist Ihnen etwas passiert?“ Als Antwort erscholl aus dem Wasser ein heftiges Platschen und ein lästerlicher Fluch. „Nein“, sagte Andy trocken. „Nichts passiert. Er ist noch immer der Alte.“ „Hört mit dem Blödsinn auf!“ sagte Vater streng, „Helft mir lieber. Wir müssen ihn da rausholen!“ So schnell sie konnten, liefen sie über das Schiff, kletterten auf den Steg hinab und streckten Yenom, der prustend angekrault kam, gleich zu dritt die Hände entgegen. Der Millionär ignorierte ihre hilfreich ausgestreckten Hände allerdings und zog sich aus eigener Kraft auf den Steg hinauf. Wenigstens versuchte er es. Aber das ohnehin glitschige Holz wurde unter seinen Fingern plötzlich so naß, daß er den Halt verlor und ein zweites Mal ins Wasser fiel. Und für einen ganz kurzen Moment glaubte Andy ein leises, schadenfrohes Lachen zu hören. „Verdammt noch mal, Kitt, das reicht!“ sagte er. „Hör sofort auf!“ Eine Sekunde später hätte er sich am liebsten selbst eine
geknallt, denn nicht nur Tim starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, sondern auch sein Vater blinzelte verwirrt und bedachte ihn mit einem sehr, sehr nachdenklichen Blick. Andy hätte vor lauter Zorn auf sich selbst am liebsten laut losgeheult. Aber die Worte waren ihm einfach so herausgerutscht, ohne daß er etwas dagegen hatte tun können. „Ich... ich meine, das reicht an Pech“, stammelte er. „Es konnte langsam aufhören.“ Schließlich stand Yenom pitschnaß auf dem Steg. „Dafür werden Sie bezahlen!“ rief er aufgebracht. „Das war Absicht, Berger! Sie werden von meinem Anwalt hören, mein Wort darauf. Ich hoffe, Sie haben herzhaft über Ihren kleinen Scherz gelacht, denn er wird Sie verdammt teuer zu stehen kommen!“ „Es tut mir entsetzlich leid“, sagte Vater kleinlaut. „Ich... ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte!“ „Ha!“ sagte Yenom. „Ich schon. Sie sind mit dem Hammer auf mich losgegangen, Sie... Sie Mörder, Sie!“ „Das war nicht meine Absicht!“ sagte Vater erschrocken. „Das Ding muß mir irgendwie aus der Hand gerutscht sein. Ich würde nie...“ „Ihre Ausreden nützen Ihnen jetzt auch nichts mehr!“ fauchte Yenom. „Diesmal haben Sie den Bogen überspannt. Zuerst wirft Ihr sauberer Sohn mit einem tonnenschweren Balken nach mir, und dann fällt Ihnen ganz zufällig der Hammer aus der Hand, wie? Erklären Sie das dem Richter, vor den ich Sie bringen werde!“ „Ich bitte Sie, Herr Yenom“, sagte Vater. „Wir sind doch erwachsene Menschen. Lassen Sie uns vernünftig über alles reden!“ Er begann beinahe verzweifelt mit den Händen zu ringen, warf Andy einen hilfesuchenden Blick zu und wandte sich wieder an Yenom. „Kommen Sie mit an Bord, und wir reden über alles. Meine Frau kann Ihnen einen heißen Kaffee machen, ehe Sie sich erkälten.“ Niemand - Andys Vater eingeschlossen - rechnete ernsthaft
damit, daß Yenom diesen Vorschlag annehmen würde; aber das Wunder geschah: Klaus Yenom starrte ihn noch einen Herzschlag lang voller unverhohlener Feindschaft an - und nickte dann. „In Ordnung“, sagte er. „Ich wollte sowieso noch mit Ihnen sprechen - warum nicht gleich. Es gibt da noch die eine oder andere Sache, die wir klären müssen.“
2 Ertappt! Andy bemühte sich, unauffällig zurückzubleiben, während Yenom und sein Vater in die Kabine gingen. Das fiel ihm nicht sonderlich schwer, denn sein Vater war ganz damit beschäftigt, ihren aufgeregten Hafennachbar zu beruhigen. Verstohlen hielt er seinen Bruder am Arm zurück. „Bleib hier“, flüsterte er. Tim blinzelte verwirrt, hielt aber ausnahmsweise einmal die Klappe und wartete, bis Yenom und ihr Vater unter Deck verschwunden waren. „Was soll die Geheimnistuerei?“ fragte er dann. „Ich will wissen, was dieser Kerl von Vater will.“ „Ich auch“, antwortete Andy. „Aber zuerst gehen wir in den Laderaum.“ Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten begriff Tim diesmal sofort, was Andy meinte. „Du glaubst, Kitt steckt dahinter“, vermutete er. Dann zog er eine Grimasse. „Laut genug gesagt hast du es ja gerade.“ Andy verdrehte die Augen, verkniff sich aber jeden Kommentar und eilte zu der schmalen Klappe, die in den Bugladeraum der Witchcraft hinunterführte. Ohne seinem Bruder auch nur noch einen Blick zu gönnen, stieg er rückwärts die wackelige Leiter herab, die in den Bauch des Segelschiffes führte. Der große, fast dreieckige Raum hatte sich in den letzten beiden Wochen verändert. Wo am ersten Tag ihres Hierseins nur Staub und Spinnweben und eine schier unübersehbare Menge vermeintlichen Gerümpels gewesen waren, herrschte jetzt eine fast sterile Ordnung. Die wenigen Kisten und Möbelstücke, die der Antiquitätenhändler Hendricksen noch nicht abgeholt hatte, waren ordentlich aufgereiht und mit kleinen, säuberlich beschrifteten Zetteln versehen. Das einzige, was sich nicht verändert hatte, war Käpt'n Kitts Seekiste. Nachdem der Antiquitätenhändler sie ohnehin als wertlos
bezeichnet hatte, hatten ihre Eltern nicht lange gezögert, sie den beiden Jungen zu überlassen - zum Spielen, wie sie glaubten. Hätten sie geahnt, daß sie von allem den größten Schatz enthielt... Andy verscheuchte den Gedanken, setzte die finsterste Miene auf, die er zustande bringen konnte, und klappte den Deckel der Holztruhe auf.
„Komm raus!“ sagte er befehlend. „Ich weiß, daß du mich hörst.“ Im ersten Moment geschah gar nichts, und Andy wollte schon tief Luft holen, um richtig loszupoltern, aber dann breitete sich etwas wie ein grünes, unheimliches Flimmern über der Kiste aus, und einen Augenblick später erschien eine kleine, halbdurchsichtige Gestalt dicht vor den beiden Brüdern - Käpt'n Kitt, der Schiffsgeist der Witchcraft. Wie fast immer trug er ein rot-weiß getupftes Halstuch vor dem Gesicht und einen schartigen Säbel in der rechten Hand, was ihn seiner Meinung nach so richtig piratenmäßig und Andys Meinung
nach reichlich albern aussehen ließ. Aber das war ein Punkt, über den er sich keine Gedanken mehr machte. Sein Bruder Tim und er waren die einzigen, die Kitt sehen konnten, selbst wenn er sich ganz offen und am Tage zeigte wie jetzt. „Was willst du, sterblicher Wurm?“ donnerte Kitt mit unheimlicher Geisterstimme. „Weißt du nicht, daß der mit seinem Leben dafür einstehen muß, der die Geister der Toten ruft?“ Andy seufzte. Wenn er es nicht besser gewußt hätte, hätte er geschworen, daß Kitt entschieden zu viele schlechte Gruselfilme gesehen hatte. „Das warst du, oder?“ sagte er. „Versuch gar nicht erst, dich rauszureden!“ „Was soll ich gewesen sein?“ fragte Kitt harmlos. „Du nimmst es mir doch nicht übel, daß ich dir helfen wollte, oder?“ „Ich rede nicht von der Planke!“ sagte Andy zornig. Kitt wich vorsichtshalber ein Stück zurück und hob seinen Säbel. Aber da die Waffe - wie er selbst ja auch - nicht wirklich existierte, stellte sie keine allzu große Bedrohung dar. „Ich rede von dem kleinen Scherz mit Vaters Hammer!“ fuhr Andy aufgebracht fort. „Verdammt, bist du völlig wahnsinnig geworden? Du hättest Yenom umbringen können!“ „Ach was“, antwortete Kitt gleichmütig. „Ein kleiner Schrecken tut dem aufgeblasenen Burschen ganz gut. Außerdem hat er mein tapferes Schiffchen beleidigt. Und niemand“, fügte er hinzu, jetzt wieder mit hohler Geisterstimme, „beleidigt das Boot, mit dem wir gegen die Franzosen gesegelt sind!“ „Du bist anscheinend ein bißchen zu heftig gegen irgendeine Laterne gesegelt!“ antwortete Andy wütend. „Bist du völlig verrückt geworden? Der Kerl bringt es fertig, unseren Vater ins Gefängnis zu werfen. Und das ist gar nicht mehr lustig!“
„Wem sagst du das?“ Kitt seufzte. „Ich war zweihundert Jahre eingesperrt. Und ich kann Yenom nicht leiden.“ „Das kann ich auch nicht“, versetzte Andy wütend. „Aber das ist kein Grund, sich so aufzuführen. Du hörst mit dem Unsinn auf, ist das klar?“ Kitt funkelte ihn trotzig an. „Was erdreistest du dich, sterblicher Wurm!“ donnerte er. „Niemand erteilt dem schrecklichen Käpt'n Kitt Befehle, noch dazu auf seinem eigenen Schiff!“ Er fuchtelte drohend mit seinem Säbel und versuchte mit dem Fuß aufzustampfen. Aber er versuchte es nur. Anscheinend hatte er vergessen, daß auch sein Bein nur eine Illusion war - sein rechter Fuß glitt jedenfalls widerstandslos durch den Boden hindurch, und eine halbe Sekunde später verlor er vollends das Gleichgewicht und stürzte nach vorne. Andy verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr, bis sich Kitt fluchend wieder aus dem Boden hervorgearbeitet hatte und aufrecht vor ihm stand. „Ein für allemal“, sagte Andy noch einmal, „du hörst mit dem Unsinn auf, oder...“ „Oder?“ fragte Kitt lauernd. Andy blickte einige Sekunden lang direkt auf Kitts Seekiste hinab. „Oder ich sorge dafür, daß dieses Ding in Hendricksens Lagerhaus verschwindet“, sagte er. „In der dunkelsten Ecke. Dann kannst du dort herumspuken und die Spinnen erschrecken.“ „Oh“, sagte Kitt sehr kleinlaut; schließlich hatte Andy ihn an seiner einzigen verwundbaren Stelle getroffen. Die Seekiste war der Ort, an dem er vor zwei- oder dreihundert Jahren gestorben war, und wie es nun einmal Gespensterart war, mußte er in ihrer Nähe bleiben - ganz egal, wo sie hingebracht wurde. Letztendlich war das auch die Art und Weise, auf die er an Bord der Witchcraft gekommen war. „Das würdest du tun?“ fragte er ungläubig.
Andy nickte. „Darauf kannst du Gift nehmen.“ Kitt seufzte. „Nicht, daß das etwas nutzen würde“, sagte er. „Aber nett ist es nicht, mich so zu behandeln.“ „Es ist auch nicht nett, unserem Vater einen solchen Schrecken einzujagen“, sagte Tim, der bisher schweigend dabeigestanden und dem Streit zugehört hatte. „Genau das finde ich auch“, sagte eine Stimme hinter ihnen. Andy und Tim fuhren entsetzt herum, während Kitt sich auf seine ihm eigene Art aus der Affäre zog - er verschwand. Aber das bemerkte Andy kaum. Er war ganz damit beschäftigt, aus aufgerissenen Augen abwechselnd seinen Vater und Klaus Yenom anzustarren, die unbemerkt hinter ihnen in den Laderaum herabgestiegen waren. Vater blickte sie sehr ernst an, während Yenom - der in eine alte Wolldecke eingewickelt war, aber noch immer beständig vor sich hintropfte abwechselnd ihn, seinen Bruder und die Seekiste anblickte. Der Ausdruck, der sich dabei auf seinem Gesicht ausbreitete, gefiel Andy nicht. Ganz und gar nicht. „Darf ich fragen, mit wem ihr da gerade gesprochen habt?“ fragte Vater lauernd. „Gesprochen?“ Andy versuchte zu lächeln. „Mit... mit wem sollen wir denn gesprochen haben?“ „Spiel nicht den Dummen, Kleiner“, sagte Yenom gehässig. „Ihr habt mit jemandem geredet, oder etwa nicht?“ Andy fragte sich verzweifelt, wie lange Yenom und sein Vater schon unbemerkt hinter ihnen gestanden und wie viel von ihrem Gespräch sie mitbekommen hatten. Außerdem schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, daß Kitt nicht schon wieder irgendeinen Blödsinn anstellte - wie zum Beispiel den Schiffsboden unter Yenom einbrechen zu lassen... „Ach das“, sagte Tim plötzlich. Er grinste und trat verlegen von einem Bein auf das andere. „Das war... nur ein Spiel.“
„Ein Spiel?“ Sowohl Yenoms als auch Vaters Gesichtsausdruck machten sehr deutlich, daß diese Antwort in ihren Ohren nicht besonders überzeugend klang. „Sicher“, fuhr Tim fort. „Wir spielen Gespenst, weißt du! Wir tun so, als ob in dieser alten Kiste hier ein Geist wäre.“ Er versetzte Kitts Kiste einen Tritt, bei dem Andy schon wieder erschrocken die Luft anhielt, aber zu seiner Erleichterung passierte diesmal nichts. „Ist ganz harmlos.“ „Harmlos?“ sagte Yenom. „Für mich hört sich das eher verrückt an.“ Er schüttelte den Kopf, griff unter seine Decke und zog eine vollkommen aufgeweichte Zigarette aus der Jackentasche. Sein Blick wurde noch ein bißchen finsterer, als sich das weiße Stäbchen in seinen Fingern traurig durchbog und dann einfach auseinanderfiel. „Aber irgendwie paßt das auch“, murrte er. Vater starrte ihn ärgerlich an. „Werden Sie nicht beleidigend.“ „Wer erzählt denn hier etwas von Gespenstern?“ fragte Yenom patzig, hob aber rasch die Hand, als Vater auffahren wollte. „Schon gut. Ich habe nicht vor, mich mit Ihnen zu streiten. Ich erwarte Sie dann heute nachmittag im Goldenen Anker.“ Und damit wandte er sich auf der Stelle um und stieg die Leiter hinauf. Aber auf der letzten Sprosse hielt er noch einmal an und sah in die Tiefe, und es war dieser Blick, der Andy für die nächsten Nächte unruhige Träume bescheren sollte. Denn er sah weder ihn noch Tim oder ihren Vater an, sondern Kitts Seekiste. Sehr lange. Und sehr, sehr nachdenklich.
3 Die Herausforderung „Sag mal - du hast unser Schiff wirklich zur Regatta nächste Woche angemeldet?“ Mutters Stimme drückte Zweifel am klaren Geisteszustand ihres Mannes aus. Sie saßen schon im Lokal, obwohl ihre Verabredung mit Yenom später war, aber nach dem, was am Vormittag geschehen war, hatte keiner von ihnen mehr so rechte Lust gehabt, an der Witchcraft weiterzubasteln. Vor allem Vaters Energie war schlagartig auf den Nullpunkt gesunken, kaum daß Yenom das Schiff verlassen hatte. „Nun ja“, dachte Andy, „jetzt ist mir auch klar, warum er wie ein Wilder gebastelt und gewerkelt hat - aus keinem anderen Grund nämlich, um die Witchcraft bis zum Ende der Woche seetüchtig zu bekommen.“ Aber das hatte sich nach dem Brief, den ihr „freundlicher“ Nachbar gebracht hatte, ja wohl erledigt. „Ja“, knurrte Herr Berger schließlich, zwar mit einiger Verspätung, aber doch als Antwort auf Mutters Fragen. „Warum auch nicht?“ „Weil es... ziemlich unwahrscheinlich ist, daß wir sie gewinnen, nicht wahr?“ sagte Andy vorsichtig. „Ich meine, es nehmen einige Schiffe daran teil, die... ähm... ein bißchen schneller sein dürften.“ Vaters Blick sprühte vor Zorn. Er wußte genau, was sein Sohn eigentlich sagen wollte. „Na und?“ schnappte er. „Man muß doch nicht immer gewinnen, oder?“ Er griff zornig nach der Speisekarte, blätterte eine Weile hektisch darin herum und blickte Andy und Tim über ihren Rand hinweg scharf an. „Ich habe es halt für eine gute Idee gehalten, mit unserem Schiff auch einmal zu fahren, statt nur daran herumzusägen.“ Er schwieg einen Moment, klappte die Karte mit einem Knall zu und seufzte tief. Dann schüttelte er den Kopf. Als er weitersprach, klang seine Stimme fast niedergeschlagen. „Wenn ich ganz ehrlich sein soll“, sagte er, „weiß ich selber
nicht, warum ich es getan habe. Ich hatte einfach das Gefühl, es wäre eine gute Idee. Ich war selbst ein bißchen überrascht, als ich den Brief plötzlich abgeschickt habe.“ „Unser Nachbar offensichtlich auch“, sagte Mutter. Andy und Tim sahen sich an. Natürlich konnte Vater es nicht wissen, aber es war ganz gut möglich, daß ein ganz bestimmter Jemand hinter Vaters plötzlichem Einfall steckte. Käpt'n Kitt war immer für eine Überraschung gut - auch für die, jemanden Dinge sagen oder tun zu lassen, die er eigentlich gar nicht wollte. Die beiden Jungen hatten das schon am eigenen Leibe erfahren. „Da kommt er übrigens“, sagte Mutter mit einer Kopfbewegung zur Tür. Alle drehten sich herum und sahen Klaus Yenom, in eine frische Phantasie-Kapitänsuniform gekleidet und das übliche unverbindliche Lächeln auf dem Gesicht. Er steuerte auf sie zu und ließ sich am Kopfende des Tisches nieder. Ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, winkte er den Ober herbei und rasselte eine Bestellung herunter; erst dann wandte er sich an Herrn Berger und rang sich wenigstens zu einem Nicken durch. Und dann tat er etwas, was nicht nur Andy überraschte: Er entschuldigte sich! „Ich war wohl ein bißchen heftig heute morgen“, sagte er kleinlaut. „Tut mir leid, Herr Nachbar. Aber es war ein bißchen viel - erst das Brett, das mir auf den Fuß gefallen ist, und dann noch das unfreiwillige Bad...“ Vaters Gesichtsausdruck spiegelte deutlich das Erstaunen, das Yenoms so ungewohnter Tonfall in ihm wachrief. Aber schließlich rang auch er sich zu einem Lächeln durch. „Schon gut“, sagte er. „Ich bin es, der sich entschuldigen muß. Ich hätte eine Warntafel aufstellen müssen - die Witchcraft ist nun mal ein altes Schiff, nicht wahr?“ „Und das birgt Gefahren“, sagte Yenom und nippte an seinem Whisky, den ihm der Ober gebracht hatte. „Und das
eine oder andere Geheimnis, nicht wahr?“ fügte er mit einem Augenzwinkern in Andys Richtung hinzu. In Andys Gehirn begann eine ganze Batterie von Warnlampen zu blinken, aber er sagte nichts, sondern lächelte nur gezwungen und starrte an Yenom vorbei aus dem Fenster. Verdammt, warum mußte Yenom wieder davon anfangen? Er und sein Bruder waren heilfroh gewesen, daß Vater nicht weiter auf ihr „Geisterspiel“ eingegangen war! Yenom lachte leise, dann wechselte er das Thema. „Aber im Ernst“, sagte er, „Sie haben ganz schön in die Hände gespuckt, wie? Noch ein paar Wochen harte Arbeit, und das Schiffchen ist nicht wiederzuerkennen. Sie wollen es wirklich seetüchtig machen?“ „Unser tapferer Kreuzer ist seetüchtig!“ sagte Tim in einer Lautstärke und Betonung, die Yenom verwirrt blinzeln und den Zorn in Vaters Augen zurückkehren ließ.
Auch Andy drehte sich überrascht zu Tim herum - und fuhr zusammen wie unter einem elektrischen Schlag, als er die
Verwirrung im Blick seines Bruders sah. „Nein!“ dachte er entsetzt, „nicht schon wieder! Halt um Gottes willen die Klappe, Kitt!“ „Das... mag sein“, sagte Yenom verstört. Auch ihm war natürlich aufgefallen, daß Tim ganz und gar nicht wie ein zehnjähriger Junge gesprochen hatte. „Aber das ändert nichts daran, daß die Witchcraft... sagen wir... reichlich betagt ist, nicht wahr?“ Er lächelte, wandte sie wieder an Vater und kam endlich zur Sache: „Jedenfalls ein bißchen zu alt, um an einer Regatta teilzunehmen, finden Sie nicht auch, Herr Nachbar?“ „Wieso?“ fragte Vater verärgert. „Nun, die Konkurrenz ist groß“, erwiderte Yenom. „Nehmen Sie zum Beispiel nur mein Boot - ich habe einen FünfhundertPS-Motor unter der Haube. Und es liegen noch ein paar Schiffe im Hafen, die schneller sein dürften. Sie glauben doch nicht, daß Ihr Kahn da eine Chance gehabt hätte?“ Tim öffnete den Mund, aber er kam nicht dazu, irgend etwas zu sagen, denn in diesem Moment trat ihm Andy unter dem Tisch kräftig vors Schienbein. „Haben Sie deshalb dafür gesorgt, daß unsere Anmeldung abgelehnt wurde?“ fragte Vater. Yenom kicherte. „Nicht doch, Herr Nachbar“, sagte er. „Ich habe nichts damit zu tun, heiliges Indianerehrenwort. Trotzdem sollten Sie froh sein, daß man Sie nicht mitfahren läßt. Auf diese Weise ersparen Sie sich nur eine Riesenblamage. Stellen Sie sich nur vor, was passiert wäre, wenn Sie diesen Schrottkahn wirklich zu Wasser lassen und er nach ein paar Metern absauft wie ein Stein.“ „Wir hatten niemals vor zu gewinnen“, sagte Vater eisig. „Manchmal macht das Dabeisein schon genug Spaß.“ Yenom zog eine Grimasse. „Der alte olympische Geist, wie? Blödsinn. Wenn man an einem Wettkampf teilnimmt, will man auch gewinnen, basta. Ich jedenfalls habe vor, mir am nächsten
Sonntag die Siegerschärpe umzulegen.“ „Und um das zu erreichen, scheuen Sie vor keinem unfairen Zug zurück, wie?“ fragte Mutter. „Unfair?“ Yenoms linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. „Unfair, meine Liebe“, sagte er betont, „wäre es allerhöchstens gewesen, nichts zu unternehmen. Es grenzt an Mord, jemanden mit einem Schiff wie dem Ihren in See stechen zu lassen.“ Das war zuviel. Andy sah, wie es in Tims Augen aufblitzte, aber der Zorn darin war nicht der seines Bruders. Verzweifelt holte er zu einem neuen Tritt gegen Tims Schienbein aus. Aber er führte die Bewegung nicht aus. Statt dessen drehte er sich in aller Ruhe zu Yenom um und hörte sich Worte sagen, die er gar nicht sagen wollte. „Ihr habt doch nur Angst, Ihr elende Landratte“, sagte er. „Ihr fürchtet, Euer mit Tand und Flitterkram herausgeputzter Kahn könnte jämmerlich hinter unser prächtiges Schiff zurückfallen.“ Yenoms Augen wurden groß und rund vor Erstaunen, während Andy verzweifelt versuchte, die Worte zurückzuhalten, die über seine Lippen kamen. Er versuchte sogar, sich auf die Zunge zu beißen, aber es gelang ihm nicht. „Ihr wißt genau“, fuhr Kitt mit seiner Stimme und aus seinem Mund fort, „daß Ihr in einem fairen Wettkampf keine Chance gegen aufrechte Seeleute wie uns hättet, Ihr Hundsfott!“ „Andreas!“ sagte Vater scharf, aber Yenom brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Schweigen. „Lassen Sie ihn reden!“ sagte er. „Das interessiert mich. Du meinst also, euer lächerlicher Kahn hätte mein Schiff geschlagen?“ „Geschlagen? Ha!“ Andys Hand klatschte so heftig auf den
Tisch herab, daß die Gläser hüpften. „In Grund und Boden hätten wir Euch gesegelt, Sie Landratte!“ „So?“ Yenoms Blick wurde lauernd. „Würdest du darauf wetten?“ „Zehnmal!“ versicherte Andy. „Wir setzten die Witchcraft gegen Euer Angeberboot, daß wir mit zehn Schiffslängen Vorsprung gewinnen!“ Vater hielt vor Schrecken die Luft an, und Mutter wurde blaß wie eine Leiche, aber Yenom schnappte nach dem Angebot wie eine ausgehungerte Kobra nach einer Maus. „Topp!“ sagte er. „Die Wette gilt!“ „Aber...“ Vater suchte verzweifelt nach Worten, „Das... das ist...“ „Ein faires Angebot, nicht?“ sagte Yenom grinsend. „Ich nehme es an. Heute abend haben Sie die Zulassung, Herr Nachbar.“ Er legte den Kopf schräg. „Oder wollen Sie einen Rückzieher machen? Ich nehme doch nicht an, daß Sie zu denen gehören, die nicht zu ihrem Wort stehen.“ Vater schwieg. „Also gut“, sagte Yenom noch einmal. „Die Wette gilt. Mein Schiff läuft gegen die Witchcraft. Wer gewinnt, bekommt das Schiff des anderen.“ Vater schwieg weiter.
4 Piraten an Bord! Aber das Donnerwetter kam. Vater schwieg beharrlich während des ganzen Mittagessens und auch noch danach, als sie zusammensaßen und gemeinsam einen Kaffee tranken, den Yenom auf die abgeschlossene Wette hin spendiert hatte. Er sagte auch während des Rückweges zum Schiff hin nichts, sondern bedachte seinen Sohn nur mit zornsprühenden Blicken, und er schwieg sogar, als sie schon auf der Witchcraft waren und über das Deck gingen. Aber sie waren kaum unter Deck, da brüllte er los, daß man ihn wahrscheinlich noch fünf Schiffe weiter hören konnte: „Seid ihr eigentlich vom wilden Affen gebissen, ihr zwei?“ Andy duckte sich wie unter einem Schlag, und sein Bruder tat das, was er meistens tat, wenn es brenzlig wurde - er wich unauffällig ein paar Schritte zurück und ging hinter seinem großen Bruder in Deckung. „Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid? Müßt ihr denn jede Gelegenheit ergreifen, um uns vor aller Welt zu blamieren?“ „Bitte“, mischte sich Mutter ein, „nicht so laut! Es muß ja nicht gleich der ganze Hafen hören...“ „... daß unsere Söhne komplett den Verstand verloren haben?“ fiel ihr Vater gereizt ins Wort. „Oh, natürlich nicht“, fuhr er höhnisch fort. „Das war ganz in Ordnung so, wie? Sie fordern diesen Yenom mit seinem Superschiff heraus, und ich habe den Mund zu halten, wie? Wir werden das Schiff verlieren, ist dir das klar?“ Natürlich war es Mutter klar, aber sie sah nicht so aus, als mache sie dieser Gedanke sehr unglücklich - bisher hatte ihnen die Witchcraft zwar eine Menge Geld, aber auch eine ebensolche Menge Ärger und vor allem Arbeit eingebracht. Von erholsamen Ferien war zumindest für sie keine Rede gewesen, seit sie nach Hamburg gekommen waren.
Trotzdem sagte sie: „Warum gehst du nicht einfach zu Yenom und machst alles rückgängig? Du warst es doch schließlich nicht, der den Vorschlag gemacht hat.“ „Aber meine famosen Herren Söhne!“ polterte Vater. „In einem hat dieser Angeber recht - ich stehe zu meinem Wort. Und zu dem meiner Kinder - auch wenn sie den Verstand verloren zu haben scheinen! Was habt ihr euch dabei gedacht?!“ Die letzte Frage galt wieder Andy und Tim. Andy war klug genug, nicht zu antworten - was hätte er auch schon sagen sollen? -, aber Tim ließ wie üblich keine Gelegenheit aus, alles noch ein bißchen schlimmer zu machen. „Das... das waren wir nicht“, stotterte er. „Oh!“ Vaters Augen wurden rund vor Staunen. „Wer denn dann, bitte schön?!“ Andy verdrehte verzweifelt die Augen und starrte seinen Bruder an, aber es war zu spät - Tim hatte einmal angefangen, und selbst, wenn er jetzt nicht weitersprach, würde Vater die Sache nicht auf sich beruhen lassen. „Kitt“, sagte er schließlich kleinlaut. „Wer?“ „Käpt'n Kitt“, wiederholte Tim. „Der... der Schiffsgeist, von dem ich dir erzählt habe.“ Vater schnappte sichtbar nach Luft. Für zehn endlos lange Sekunden sagte er gar nichts, sondern starrte seine beiden Söhne nur abwechselnd und aus hervorquellenden Augen an, während sein Gesicht allmählich die Farbe einer überreifen Tomate anzunehmen begann. „Der... was?“ krächzte er endlich. „Der... der Schiffsgeist“, antwortete Tim kleinlaut. „Ich weiß, ich hab' erzählt, daß es nur ein Spiel ist, aber... aber das stimmt nicht. Es... es gibt wirklich einen Schiffsgeist hier. Er heißt Kitt, und er... er...“
„Das reicht!“ Vaters Stimme war nur noch ein halbersticktes Flüstern, aber es war ein Ton darin, der Tim verstummen ließ. „Das reicht endgültig! Was ihr heute morgen abgezogen habt, war schon genug, aber das... das geht zu weit!“ Er schnappte ein paarmal nach Luft und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, als hätte er plötzlich nicht einmal mehr die Kraft, auf den eigenen Beinen zu stehen. „Nichts gegen euer Geisterspiel, aber wenn ihr anfangt, uns damit in aller Öffentlichkeit zu blamieren, dann...“ „Aber es ist kein Spiel!“ protestierte Tim. „Es ist wahr! Kitt war es, der uns damals verraten hat, wo der Schatz liegt, und er war es auch, der...“ Weiter kam er nicht, denn sein Vater sprang so heftig auf, daß der Stuhl umflog. „Kein Wort mehr!“ brüllte er. „Ihr habt schon genug Schaden angerichtet, und jetzt seid ihr auch noch zu feige, um dafür geradezustehen! Geht mir aus den Augen! RAUS!“ Das letzte Wort hatte er mit solcher Lautstärke gebrüllt, daß tatsächlich die Gläser im Regal hinter ihm klirrten. Andy hielt seinem Blick noch eine Sekunde lang stand, dann fuhr er herum und stürmte aus der Kajüte und die Treppe hinauf. Sein Bruder folgte ihm. Erst als sie auf dem Deck angelangt waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, wagte es Andy, stehenzubleiben und seinen Bruder anzusehen. Sein Blick schien dabei nur wenig freundlicher zu sein als der seines Vaters, denn Tim starrte betreten zu Boden, als suche er nach einer Ritze in den Decksplanken, in die er hineinkriechen konnte. „Bist du völlig verrückt geworden, Vater von Kitt zu erzählen?“ fauchte er. Tim schürzte trotzig die Lippen. „Na und? Irgendwas mußte ich doch sagen, oder? Außerdem - wer hat denn diese Wahnsinnswette vorgeschlagen? Du oder ich?“
„Ich“, gestand Andy wütend. „Aber du weißt ganz genau, daß ich das nicht war. Das war Kitt!“ Er drehte sich ärgerlich herum, als sein Zorn plötzlich ein anderes Ziel bekam. „Aber warte. Dem werd' ich was erzählen!“ Mit weit ausgreifenden Schritten überquerte er das Deck, stieg die Leiter zum Laderaum herab und stapfte auf die Seekiste zu. Diesmal hielt er sich nicht zurück, sondern tat das, wozu er schon seit dem frühen Morgen Lust hatte - er versetzte ihr einen kräftigen Fußtritt, der den Deckel auffliegen ließ. „Komm raus!“ sagte er wütend. „Komm raus und zeige dich, du Feigling!“ Kitt erschien tatsächlich - wenn auch auf etwas andere Art als gewohnt. Statt grün flimmernd aus der Kiste emporzusteigen, erschien er in einer Wolke aus Feuer und Pulverdampf, die plötzlich die vordere Hälfte des Laderaumes ausfüllte. „Schiff ahoi!“ brüllte er. „Piraten an Luv! Alle Mann bereit zum Entern!“ „Hör mit dem Blödsinn auf!“ sagte Andy ärgerlich. „Was ist in dich gefahren? Bist du völlig verrückt geworden?“ Kitt blinzelte ihn über den Rand seines rot-weiß getupften Tuches hinweg an. Seine rechte Hand, die den Säbel hoch erhoben hatte, erstarrte mitten in der Bewegung. „Was erdreistest du dich, sterblicher Wurm?“ donnerte er. „Niemand spricht so mit dem schrecklichen Käpt'n Kitt, der Geißel des Meeres und...“ „Wohl eher der Geißel unserer Familie“, unterbrach ihn Andy. Herausfordernd trat er auf Kitt zu und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Habe ich dir heute morgen nicht deutlich genug gesagt, daß du Yenom in Ruhe lassen sollst?“ „Aber das habe ich doch“, sagte Kitt in perfekt geschauspielerter Überraschung. „Ich hab' ihm nichts getan, obwohl ich gute Lust hatte, ihn kielholen zu lassen!“
„Nichts getan?“ keuchte Andy. „Und was war das vorhin im Lokal? Jetzt behaupte bloß nicht, daß du nichts mit dieser verrückten Wette zu tun hattest!“ Kitt senkte endlich seinen Säbel, zog das Tuch vom Gesicht - und grinste so unverschämt, daß sich Andy nur schwer zurückhalten konnte, ihm nicht kurzerhand eine zu schmieren. „Doch“, sagte er fröhlich. „Das habe ich. War doch eine gute Idee, oder?“ „Eine gute Idee?“ Andy schnappte vor lauter Überraschung nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Bist du wahnsinnig geworden? Wir werden das Schiff verlieren, dank deiner guten Idee!“ „Ach i wo“, sagte Kitt kopfschüttelnd, „Unser tapferer Kreuzer wird das Rennen natürlich gewinnen.“ „Oh, sonst nichts“, spottete Andy. „Fünfzig Quadratmeter zerfetzte Segel gegen fünfhundert PS, das ist ja gar kein Problem.“ Kitts Grinsen wurde noch breiter. „Ich gebe euch mein Ehrenwort, daß wir siegen werden“, sagte er. „Nur keine Angst, ihr Landratten. Vertraut einfach auf mein seemännisches Können. Und vielleicht“, er kicherte, „habe ich ja auch noch ein paar Tricks auf Lager. Immerhin...“ „Immerhin sind wir mit deinen Tricks bisher fast immer auf die Nase gefallen“, fiel ihm Andy ins Wort. Nicht, daß er Kitt nicht glaubte. Er war sogar ziemlich sicher, daß sie mit Hilfe eines leibhaftigen Geistes sogar ein Rennen gegen die Queen Mary gewonnen hätten. Aber sein Zorn verrauchte nun einmal nicht so schnell, wie er gekommen war. Außerdem dachte er an die Woche, die vor ihnen lag. Selbst wenn sie mit Kitts Hilfe das Rennen gewannen, konnte Vater davon natürlich nichts wissen. Für ihn - wie für alle anderen - mußte einfach feststehen, daß sie das Rennen und damit auch die Witchcraft verlieren würden. Er würde ihnen - gelinde gesagt - die Hölle
heiß machen. Von seinem Standpunkt aus sogar mit Recht. „Ihr zweifelt an meiner Macht?“ fragte Kitt beleidigt. „Ha! Immerhin habe ich gerade auch die frechen Piraten vertrieben. Obwohl sie Zauberer waren.“ „Piraten?“ Andy tauschte einen verwirrten Blick mit seinem Bruder. Er erinnerte sich erst jetzt wieder an die etwas sonderbare Art, wie Kitt vor ein paar Minuten erschienen war. „Was für Piraten?“ „Die hier waren“, antwortete Kitt. „Das war doch überhaupt der Grund, aus dem ich zu euch gekommen bin. Um euch zu warnen.“ „Wovor?“ „Na, vor dem Piratenpack!“ ereiferte sich Kitt. „Ihr wart kaum von Bord, da haben sie das Schiff geentert! Zwei Mann hoch, und schreckliche Kerle, sage ich euch. Ha, war das ein Kampf!“ „Kampf?“ echote Tim und sah sich im Laderaum um. Von einem Kampf war nicht die kleinste Spur zu sehen. Kitt nickte heftig und fuchtelte schon wieder mit seinem Säbel herum. „Sie waren Zauberer“, behauptete er. „Zweifellos mit dem Klabautermann im Bunde. Sie haben mich angegriffen, mit Blitz und Donner!“ Er deutete auf seine Kiste. „Aber ich habe sie vertrieben. Ihr hättet nur sehen sollen, wie sie gelaufen sind!“ Andy starrte ihn einen Moment lang ungläubig an, dann drehte er sich niedergeschlagen zu seinem Bruder herum. „Jetzt hat er endgültig den Verstand verloren“, sagte er.
5 Die segelnde Bettwäsche Die nächsten vier Tage vergingen rasend schnell, weil Vater Tim und Andy so sehr mit Arbeit eindeckte, daß sie mit vierundzwanzig Stunden pro Tag kaum auskamen. Trotz allem hatte er nämlich ganz und gar nicht vor, so einfach kampflos aufzugeben, sondern wollte - wie er oft und laut genug verkündete - wenigstens mit fliegenden Fahnen untergehen, wenn es denn schon sein mußte. Und das Glück schien ihnen ausnahmsweise einmal hold zu sein - wenngleich Andy und sein Bruder ziemlich genau zu wissen glaubten, wie dieses Glück aussah: nämlich nicht besonders groß, in eine schäbige schwarze Jacke gekleidet, einen dreieckigen Hut auf, und mit einem rotgetüpfelten Tuch vor dem Gesicht. Sie hüteten sich allerdings, davon auch nur ein Wort verlauten zu lassen - seit dem Zwischenfall im Goldenen Anker reagierte Vater empfindlich auf alles, was mit dem angeblichen Schiffsgeist zu tun hatte. Aber die Arbeit auf dem Schiff ging gut voran, zumal sie sich jetzt auf die Dinge konzentrierten, die wirklich nötig waren, und nicht mehr nur auf reine Schönheitsoperationen. Schon am Freitag, also noch zwei Tage vor der Regatta, war die Witchcraft - übrigens zum ersten Mal seit mindestens zwanzig Jahren - wieder halbwegs seetüchtig: Die ärgsten Löcher im Rumpf waren geflickt, das Steuerruder repariert und wieder gängig gemacht und der Mast so weit verstärkt, daß er nicht wie ein morsches Streichholz brechen würde, sobald ihn der erste Windstoß traf. Und genau da lag der Hase im Pfeffer. Vater hatte, optimistisch, wie er war, am frühen Nachmittag verkündet, daß er in die Stadt fahren und ein Segel kaufen wollte. Aber er blieb ziemlich lange. Es war nach acht, als er zurückkam, und er brachte zwar eine schon von weitem zu erkennende miserable Laune, aber kein Segel mit.
„Was ist los?“ begrüßte ihn Andy, der ihm eigentlich hatte entgegenlaufen wollen, aber vorsichtshalber stehengeblieben war, als er den Gesichtsausdruck seines Vaters bemerkte. „Nichts ist los“, grummelte Vater. Ohne seinen ältesten Sohn auch nur eines Blickes zu würdigen, stapfte er an ihm vorüber, ging zur Kajüte und knallte die Tür hinter sich zu, daß das ganze Schiff erbebte. Andy drehte sich verwirrt zu seinem Bruder um, der ihm gefolgt war, erntete aber wie üblich nur ein Achselzucken und beeilte sich, seinem Vater nachzulaufen. Rein zufällig streifte sein Blick dabei die weiße Superyacht, die auf der anderen Seite des Steges vertäut war. Klaus Yenom stand an Deck seines Angeberschiffes, sog an einer Zigarette und grinste so breit, daß Andy nicht weiter überrascht gewesen wäre, wenn er dabei seine eigenen Ohrläppchen verschluckt hätte. Andy blickte ihn einen Moment lang feindselig an und lief dann schnell die Treppe hinunter und in die Kajüte. Sein Vater hatte am Tisch Platz genommen und beide Ellbogen aufgestützt. Sein Gesicht war blaß, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Zorn und Resignation schwankte, vielleicht auch ein bißchen von beidem hatte. „Was... was ist passiert?“ fragte Andy vorsichtig. „Wo ist das Segel? Liefern sie es nach?“ „Nein“, sagte Vater erstaunlich ruhig. Andy wartete einige Sekunden lang vergeblich darauf, daß Vater von sich aus weitersprach. Er sah seine Mutter an, aber die zuckte ebenfalls nur mit den Schultern. „Aber wieso nicht?“ fragte Tim schließlich. Vater sah auf. Seine Lippen preßten sich zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen. „Es gibt keines“, seufzte er. „Tut mir leid, aber das ist die Wahrheit.“
„Was... was soll das heißen?“ fragte Andy ungläubig. „In einer Stadt wie Hamburg muß es doch...“ „... an jeder Ecke Segeltuch zu kaufen geben?“ unterbrach ihn Vater spöttisch. Er nickte. „Tja, das habe ich mir auch eingebildet. Aber es stimmt nicht.“ Er hob rasch die Hand, als Andy widersprechen wollte. „Okay, ich weiß, was du sagen willst. Natürlich gibt es Segeltuch zu kaufen, soviel wir haben wollen. Genug, um dieses ganze verdammte Schiff darin einzuwickeln und nach Timbuktu zu verschicken.“ „Wo ist dann das Problem?“ fragte Andy. Vater lachte humorlos. „Es ist eben nicht damit getan, in ein Geschäft zu gehen und ein Segel zu kaufen“, seufzte er. „Ich bin von Pontius zu Pilatus gerannt, das könnt ihr mir glauben, aber...“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und seufzte wieder. „Es dauert Wochen, ein Schiff wie die Witchcraft aufzutakeln“, sagte er. „Die Dinger gibt es nicht von der Stange. So ein Segel kostet ein Vermögen, und es muß speziell angefertigt werden. Allein das Ausmessen dauert eine Woche.“ „Aber ohne Segel...“, begann Tim. „... können wir die Regatta vergessen“, ergänzte sein Vater. „Und die Witchcraft auch“, fügte Andy düster hinzu. Sein Vater starrte ihn an, aber in seinem Blick war kein Vorwurf. Nur Trauer und so etwas wie eine große Müdigkeit, die er nicht verstand. „Und... und wenn wir es selbst nähen?“ fragte Tim schüchtern. Vater schüttelte traurig den Kopf. „Woraus?“ fragte er. „Und selbst, wenn wir den Stoff hätten - keiner von uns hat eine Ahnung, wie man so etwas macht. Und wir haben auch gar nicht mehr die Zeit dazu.“ Er seufzte wieder und schüttelte traurig den Kopf. „Tut mir leid, Freunde, aber das war's. Jetzt
kann uns allerhöchstens noch euer Schiffsgeist helfen.“ Tim wollte etwas sagen, aber Andy warf ihm im letzten Moment einen warnenden Blick zu. Ein Gefühl von Bitterkeit machte sich in ihm breit, das er noch nie zuvor im Leben verspürt hatte. „Und... und wenn ich zu Yenom gehe und ihm alles erkläre?“ fragte er. „Immerhin ist... ist ja alles meine Schuld.“ „Das kommt gar nicht in Frage“, sagte seine Mutter scharf. „Ich finde euren Streit mit Yenom zwar reichlich albern, aber ich lasse nicht zu, daß du zu ihm gehst und bettelst. Früher oder später“, fügte sie hinzu, „hätte er das Schiff ja doch bekommen.“ „Vielleicht ist es gut so“, sagte Vater ruhig. „Das Schiff hätte uns sowieso nur Ärger eingebracht. Wir sind nun mal keine Seeleute.“ Keiner der Familie Berger hatte rechten Appetit, obwohl das Essen wirklich hervorragend war. Aber selbst Mutter stocherte nur lustlos in ihrem Essen herum, und Andy, der seine Eltern scharf im Auge behielt, registrierte die traurigen Blicke sehr wohl, die Vater und Mutter tauschten, immer dann, wenn sie glaubten, die beiden Jungen bemerkten es nicht. Ihre Eltern hingen an der Witchcraft, auf ihre Art ebenso wie Andy und Tim, obwohl sie das Schiff erst seit knapp drei Wochen besaßen. Aber der Gedanke, es zu verlieren - und noch dazu an Klaus Yenom! -, mußte ihnen unerträglich sein. Trotzdem sprach keiner von ihnen mehr über das Schiff, die Regatta oder gar das nicht vorhandene Segel, weder während des Abendessens noch hinterher. „So, meine Herren“, sagte Vater schließlich, „das war's dann für heute. Ab in die Federn.“ Er stand auf - genauer gesagt: er wollte es tun. Denn in diesem Moment begann die Witchcraft so heftig zu schaukeln, daß er mit einem überraschten Ausruf auf seinen Stuhl zurückplumpste. „Was...“, stammelte Vater
überrascht, „was war das?!“ Niemand antwortete, aber in diesem Moment legte sich die Witchcraft in einer behäbigen Bewegung auf die andere Seite, und beinahe gleichzeitig erklang irgendwo über ihren Köpfen ein sonderbares, knatterndes Geräusch, wie es keiner von ihnen bisher gehört hatte. Das hieß... so ganz stimmte das nicht. Sie hatten dieses Geräusch schon gehört. Oft sogar. In Piratenfilmen. Oder vergangene Woche, als sie gemeinsam die Gorch Fock besichtigt hatten, die gerade im Hafen lag. Es war das Geräusch eines großen Segels, das im Wind knatterte... Irgendwo draußen erscholl ein ungläubiger, ja, beinahe entsetzt klingender Schrei, und plötzlich waren sie alle vier auf den Beinen und versuchten gleichzeitig, die schmale Treppe zum Deck hinaufzustürmen - mit dem Ergebnis natürlich, daß sie sich hoffnungslos ineinander verkeilten. Vater war der erste, der das Deck erreichte. Aber er machte nur einen einzigen Schritt, dann blieb er so abrupt stehen, daß Andy glatt in ihn hineinrannte und ihn um ein Haar von den Füßen gerissen hätte. Allerdings schien er das kaum zu bemerken - was auch nicht weiter verwunderlich war, denn er war damit beschäftigt, Mund und Augen aufzusperren und ungläubig das riesige, trapezförmige Segel anzustarren, das sich über ihren Köpfen spannte... Es dauerte sehr lange, bis er wieder ein Wort sagte. „Aber das... das ist doch... das ist doch vollkommen unmöglich!“ krächzte er schließlich. „Das gibt es doch nicht. Ich muß übergeschnappt sein! Ich habe den Verstand verloren!“ „Wenn es so ist“, sagte Mutter sehr leise und mit zitternder Stimme, „dann sind wir gemeinsam verrückt geworden.“
Vater fuhr herum. Er war bleich wie die sprichwörtliche Wand. „Du... du siehst es also auch?“ keuchte er. Seine Frau sagte gar nichts, sondern starrte das Segel noch eine Sekunde lang an, dann drehte sie sich auf dem Absatz herum und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten in der Kajüte. Andy hörte sie unten herumpoltern. Erst jetzt fiel ihm der Schrei wieder ein, den er gehört hatte. Neugierig drehte er sich herum und sah nach rechts. Trotz der schier unglaublichen Situation konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen nicht ganz verkneifen, als er sah, wer da geschrien hatte: niemand anders als ihr Lieblingsfeind Yenom nämlich, der am Bug seiner Yacht stand und aus hervorquellenden Augen auf das Segel starrte, das vor Augenblicken noch nicht dagewesen war. Mutter kam zurück, und Andy wandte sich wieder ihr zu. „Also doch“, sagte sie. Aus einem Grund, den sich Andy nicht erklären konnte, klang ihre Stimme ziemlich aufgebracht. „Also doch was?“ fragte Vater. Mutter deutete anklagend nach oben. „Ich hatte gleich den Verdacht“, sagte sie. „Wißt ihr, was das ist?“ Andy, Tim und Vater nickten gleichzeitig und riefen im Chor: „Ein Segel.“ Frau Berger schüttelte zornig den Kopf. „O nein,“ sagte sie. „Das ist die neue Bettwäsche, die ich vorige Woche gekauft habe!“ Andy blinzelte, trat ein bißchen näher an den Mast heran und kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Tatsächlich - wenn er genau hinsah, dann erkannte er die (übrigens nicht sehr sauberen) Nähte, mit denen Mutters funkelnagelneue Damast-Bettwäsche zusammengenäht war. „Oh“, sagte er leise. „Aber wie ist das möglich?“ fragte Vater fassungslos.
„Keiner von uns hat die Kajüte während der letzten anderthalb Stunden verlassen!“ Tim grinste. „Na“, sagte er fröhlich, „glaubt ihr immer noch, daß Andy und ich gesponnen haben?“ Niemand antwortete. Aber ihre Eltern sahen plötzlich weniger erschüttert aus als noch vor einer Sekunde, sondern eher erschrocken. Sehr erschrocken, um ganz genau zu sein.
6 Die Falle Was Andy nach diesem Abend am allermeisten erstaunte, war der Umstand, daß weder sein Vater noch seine Mutter auch nur ein einziges weiteres Wort über das aus dem Nichts erschienene Segel oder gar Käpt'n Kitt verloren. Es war fast so, als hätten seine Eltern Angst davor, die Wahrheit zu erfahren und zugeben zu müssen, daß er und Tim recht gehabt hatten und es wirklich einen Geist auf der Witchcraft gab. Aber Vaters Arbeitseifer war wiederhergestellt, und der nächste Tag - der letzte vor der Regatta - war bis auf die allerletzte Minute vollgestopft mit Arbeit. Trotz allem gab es noch eine Unmenge von Dingen, die getan und erledigt werden mußten, und als sie schließlich gegen Mitternacht erschöpft in ihre Betten sanken, dachte keiner mehr an Käpt'n Kitt, nicht einmal Andy. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seine schmerzenden Knochen zu zählen und sich in sein Kissen zu kuscheln. Die Nacht war schnell zu Ende. Obwohl die Regatta erst um eins gestartet werden sollte, war die ganze Familie bereits vor sechs wieder auf den Beinen, um ein letztes Mal Hand an die Witchcraft zu legen. Mutter ließ es sich nicht nehmen, das Schiff vom Heck bis zum Bug zu putzen, Vater hämmerte irgendwo unter Deck herum, und die beiden Jungen kraxelten bis in die Mastspitze hinauf, um die schwarze Flagge anzubringen, die sie eigens für diesen Tag angefertigt hatten eine schwarze Piratenflagge mit einem grellweißen Totenkopf, unter dem sich zwei Kochlöffel kreuzten, wo eigentlich Knochen sein sollten; ein Scherz, den außer ihnen allenfalls noch Käpt'n Kitt verstand, gegen den ihre Eltern aber nichts einzuwenden gehabt hatten. Der entscheidende Augenblick rückte heran, aber es sollte noch eine unerwartete Unterbrechung geben: Zwei Stunden, bevor sich die Schiffe zum Start sammelten, klopfte es an die Tür der Kajüte, und ein wie immer ziemlich affig
herausgeputzer Klaus Yenom trat ein, ohne auf ein „Herein“ gewartet zu haben. „Ahoi, Herr Nachbar!“ rief er fröhlich. „Fleißig, fleißig, wie ich sehe.“ Er grinste, kam, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und sah sich mit schon fast unverschämter Neugier um. Vater musterte ihn feindselig. „Was verschafft uns die Ehre?“ fragte er kalt. Yenom beendete in aller Ruhe die Inspektion seines zukünftigen Eigentums - was er nicht sagte, was dafür aber um so deutlicher auf seinem Gesicht geschrieben stand. „Oh, nichts Besonderes“, sagte er. „Oder doch, wie man's nimmt. Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.“ „Entschuldigen?“ Vater fiel fast die Kinnlade auf den Tisch. Eine Entschuldigung - wofür auch immer - war so ziemlich das letzte, was er von Klaus Yenom erwartet hatte. Der Berufsmillionär nickte. Er schaffte es sogar, einen zerknirschten Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern. „Ich glaube, ich war vor ein paar Tagen ziemlich unhöflich zu Ihnen und Ihrer Familie“, sagte er. „Und da dachte ich mir, es wäre nur fair, Sie zu einem kleinen Umtrunk einzuladen, bevor das Rennen losgeht. Eine Art flüssiger Friedenspfeife, wenn Sie so wollen.“ Vaters Mißtrauen stieg durch diese Worte eher, und auch Andy ging es so. Aber er war klug genug, sich diesmal nicht einzumischen. „Ich... glaube nicht...“, begann Vater, wurde aber sofort wieder von Yenom unterbrochen. „Ach, sei'n Sie kein Frosch, Herr Nachbar. Wer immer das Rennen gewinnt - ich will mir nicht nachsagen lassen, daß böses Blut zwischen uns geherrscht hat, bevor es losgeht. Es ist noch Zeit genug. Begleiten Sie mich in den Goldenen Anker,
und wir begraben unseren Streit - einverstanden?“ Er lächelte, trat auf Vater zu und streckte die Hand aus. Für zwei, drei Sekunden war es so still, daß man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Aber dann stand Vater auf, griff zögernd nach Yenoms Hand und drückte sie, so kräftig, daß Yenoms Mundwinkel vor Schmerz zuckten. Aber er sagte kein Wort. „Meinetwegen“, sagte Vater. „Ich bin der letzte, der einen Streit nicht gütlich beilegt, Herr Nachbar. Fairplay, wie man so schön sagt.“ Yenom lächelte so freundlich wie eine Schlange. „Sicher doch. Und jetzt lassen Sie uns gehen. Es bleibt gerade noch Zeit für ein Bier und ein gutes Glas Wein für die Gemahlin, ehe der Spaß losgeht.“ Kurz darauf verließen sie zu fünft die Witchcraft. Yenom hatte darauf bestanden, daß auch Andy und Tim mit in den Goldenen Anker kamen - schließlich wollte er mit der ganzen Familie Frieden schließen, wie er betonte. Keiner von Bergers hatte ein gutes Gefühl dabei, Andy am allerwenigsten. Aber er hatte es nicht einmal gewagt zu protestieren. Und eigentlich bestünde ja auch kein Grund zur Besorgnis, dachte er. Ganz gleich, was Yenom plante - daß er etwas plante, stand für ihn völlig außer Frage -, die Witchcraft hatte einen Beschützer, gegen den er mit all seiner Heimtücke nicht ankommen würde. Trotzdem ertappte er sich im Laufe der nächsten dreiviertel Stunde mehr als einmal dabei, sich den Hals zu verrenken, um durch die große Panoramascheibe des Goldenen Ankers zum Liegeplatz der Witchcraft hinabzublicken. Und er war sehr froh, als Vater schließlich auf die Uhr blickte und bemerkte, daß es Zeit sei zurückzugehen. Andy fragte sich sowieso, warum sie überhaupt hierhergekommen waren. Sein Vater und Yenom hatten jede Menge belangloses Zeug geredet, aber von der großen Versöhnung war im Grunde keine Spur gewesen:
Yenom machte nach wie vor kein Hehl daraus, daß er auf Leute wie sie noch immer herabblickte, und Vater nicht aus der Tatsache, daß er ihren Hafennachbar nicht ausstehen konnte. Alles in allem war es eine verlorene Stunde gewesen... Um so mehr freute sich Andy auf die Regatta, und ganz besonders auf das dumme Gesicht, das ein gewisser Millionär und Berufsangeber machen würde, wenn er feststellen mußte, daß seine supermotorisierte Yacht keine Chance gegen ihr altes Segelschiff hatte. Sie waren kaum an Bord, da wollte er den Laderaum ansteuern, um mit Kitt alles Notwendige zu besprechen. Er platzte nämlich vor lauter Neugier fast aus den Nähten, wie und auf welche Weise Kitt Yenom aufzuhalten gedachte. Aber es kam anders. Ihnen blieb noch eine knappe Stunde, und Vater sprudelte nur so über von Befehlen und Anordnungen. Andy hätte gut zehn Arme gebrauchen können, um all das zu erledigen, was er von ihm verlangte. Trotz allem wagte er es nicht, sich bei Vater damit zu entschuldigen, daß er noch einiges mit dem Schiffsgeist zu besprechen hätte... Zehn Minuten, bevor sie ablegten, kam Tim zu ihm. Ganz anders als gewohnt wirkte er sehr ernst, und Andy spürte schon, daß irgend etwas passiert sein mußte, noch bevor er auch nur ein Wort sprach. „Komm mit“, sagte Tim. „Was ist los?“ fragte Andy. „Ich habe...“ „Verdammt, komm mit!“ unterbrach ihn Tim. „Es ist wichtig!“ Andy warf einen vorsichtigen Blick in die Runde, sah, daß Vater gerade in eine andere Richtung blickte, und schloß sich seinem Bruder an. Tim schwieg beharrlich, bis sie die Leiter heruntergestiegen waren und vor Kitts Seekiste standen.
„Also?“ begann Andy ungeduldig. „Was ist los?“ Tim deutete auf die Seekiste. „Kitt ist fort.“ Es dauerte einen Moment, bis Andy überhaupt begriff, was sein Bruder gerade gesagt hatte. Aber dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. „Was... hast du gesagt?“ keuchte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte er sich nach der Kiste, klappte den Deckel hoch - und schrie vor Schrecken auf! Es war nicht Käpt'n Kitts Seekiste. Es war eine Kiste, die ganz genauso aussah - eine schäbige, mit rostigen Eisenstreifen beschlagene Truhe mit halbrundem Deckel, in die Salzwasser und endlose Jahrzehnte ihre Spuren gegraben hatten. Aber nur von außen. Innen drin war das Holz so frisch, als wäre es nagelneu! „Ich habe es gerade gemerkt“, sagte Tim niedergeschlagen. „Ich... ich wollte mit Kitt noch einmal alles durchsprechen, aber er hat nicht geantwortet, und da... da habe ich nachgesehen. Und das da habe ich hinten in einer Ecke gefunden.“ Er griff in die Hosentasche und förderte etwas Kleines, Helles zutage. Andys Augen wurden rund vor Staunen, als er sah, was sein Bruder ihm hinhielt. Es war ein ausgebrannter Blitzwürfel, wie man ihn für billige Pocket-Kameras verwendete. Und plötzlich begriff er! „Yenom!“ keuchte er fassungslos. „Das war Yenom!“ Sein Bruder blickte ihn an und schwieg, aber mit einem Mal sprudelten die Worte nur so über Andys Lippen. „Natürlich!“ rief er. „Versteh doch! Kitt hat nicht gesponnen, als er von Piraten erzählt hat!“ „Wie bitte?“ fragte Tim, der jetzt offensichtlich gar nichts mehr verstand. Andy schlug sich wuchtig mit der flachen Hand vor die Stirn. „Wir Idioten!“ rief er. „Dabei war alles so klar! Mensch, kapier doch! Irgendwie hat er gemerkt, was hier los ist!“ „Du meinst, er weiß von Kitt?“ fragte Tim entsetzt.
Andy nickte. „Er hat uns belauscht, schon vergessen?“ sagte er. „Und Yenom ist vielleicht ein ausgewachsenes Ekelpaket, aber kein Dummkopf! Er hat uns nur von Bord gelockt, damit jemand in seinem Auftrag hierherkommen und die Kiste in aller Seelenruhe fotografieren konnte! Das waren die Piraten mit ihrem Blitz und Donner, von denen Kitt gesprochen hat!“ Tim wurde noch bleicher. „Und vorhin...“
„... haben sie die Kiste ausgetauscht“, bestätigte Andy grimmig. „Klar. Die ganze Versöhnung galt nur dem Zweck, uns von Bord zu schaffen. Er hat eine Kopie von Kitts Kiste anfertigen lassen! Und wenn du nicht nachgesehen hättest, hätte es keiner gemerkt! Nicht, bevor es zu spät ist!“ „Aber das ist es doch schon“, sagte Tim leise. In seinen Augen schimmerten plötzlich Tränen. „Das war's, Andy. Ohne Käpt'n Kitt haben wir nicht die geringste Chance gegen Yenoms Schiff.“ Plötzlich spürte Andy einen rasenden Zorn. „Noch nicht“, sagte er wütend. „Die Kiste kann nicht...“ Er sprach nicht
weiter, sondern fuhr auf der Stelle herum und begann die Leiter hinaufzusteigen. „Wo willst du hin?“ rief Tim aufgeregt. „Zu Yenom“, antwortete Andy. „Verdammt, ich fresse meine Schuhe, wenn die Kiste nicht an Bord seiner Yacht ist. Er hatte nicht genug Zeit, sie wegschaffen zu lassen!“ Mit einem Sprung war er auf Deck, rannte die schwankende Planke zum Steg hinunter und näherte sich Yenoms Schiff. Sein Bruder lief, keuchend hinter ihm her und hielt ihn am Arm zurück. „Moment, Moment!“ rief er aufgeregt. „Du kannst doch nicht einfach...“ Aber Andy konnte. Und er tat! Wütend riß er sich los, nahm Anlauf - und sprang mit einem gewagten Satz auf das Deck von Klaus Yenoms schnittiger Motoryacht.
7 Auf frischer Tat ertappt „Verdammt, Andy, komm zurück!“ schrie Tim fast verzweifelt. „Das geht doch nicht!“ Andy machte seinem Bruder ein Zeichen, den Mund zu halten, und sah sich aufmerksam um. Alles war ruhig. Die Tür zur Kabine stand einen Spaltbreit offen, aber trotz Tims Gebrüll regte sich dort drinnen nichts; ganz offensichtlich war Klaus Yenom nicht an Bord. Andy atmete erleichtert auf, drehte sich noch einmal zu seinem Bruder um und legte den Zeigefinger über die Lippen. „Paß auf, daß niemand kommt“, sagte er. „Ich sehe mich ein bißchen unter Deck um.“ Er gab Tim keine Gelegenheit, weitere Einwände vorzubringen, sondern warf einen letzten sichernden Blick nach rechts und links und huschte dann geduckt auf die offenstehende Kabinentür zu. Sein Herz begann zum Zerreißen zu hämmern. Die Tür knarrte leise, als er sie aufstieß. Das Schiff war leer, und Tim würde gut aufpassen, daß er nicht von Yenom überrascht wurde. Aber das änderte nichts daran, daß seine Handflächen vor Aufregung feucht wurden und seine Knie zu zittern begannen, während er sich in der kleinen Kajüte umsah. Mit ein bißchen bösem Willen - den er Yenom getrost unterstellen konnte - konnte man das, was er hier tat, als Einbruch bezeichnen... Andy verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich statt dessen lieber darauf, nach einer bestimmten Kiste Ausschau zu halten. Er durchsuchte die Kabine zweimal von einem Ende zum anderen - aber er fand nichts. Yenoms Schiff war sehr viel kleiner als die Witchcraft, und seine Kabine bot kaum mehr Platz als ein durchschnittlicher Wohnwagen. Andy brauchte kaum fünf Minuten, um jedes Versteck zu untersuchen, das
auch nur annähernd groß genug war, eine Seekiste wie die von Kitt aufzunehmen. Enttäuscht wollte er sich schon wieder umdrehen und das Schiff verlassen, als sein Blick auf eine kleine Tür am hinteren Ende der Kabine fiel; eigentlich nur eine Klappe, gerade hoch genug, einen erwachsenen Mann in der Hocke hindurchkriechen zu lassen. „Andy!“ drang Tims Stimme von außen herein. „Beeil dich. Da kommt einer.“ Andy zögerte. Seine Gedanken überschlugen sich fast. Wenn er Kitts Kiste dort unten nicht fand und Yenom ihn überraschte, dann war, gelinde gesagt, der Teufel los. Andererseits... Entschlossen fuhr er herum, ging in die Hocke und kroch durch die Klappe, die zu seiner großen Erleichterung nicht verschlossen war. Im ersten Moment war er fast blind, denn der Raum war sehr dunkel, aber dann stießen seine tastenden Hände auf Widerstand, etwas klickte, und unter der Decke flackerte eine Neonröhre auf. Es war der Maschinenraum, in den er hineingekrochen war, ein enger, schlauchförmiger Verschlag, der fast zur Gänze von den beiden riesigen Dieselmotoren des Schnellbootes ausgefüllt wurde. Und direkt vor ihm, so nahe, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren, stand Käpt'n Kitts Seekiste! „Also doch!“ flüsterte Andy. „Dieser verdammte Gauner!“ „Darf ich vielleicht erfahren, wen du damit meinst, mein Freund?“ sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm. Andys Herz schlug bis in seinen Hals hinauf. Ein lähmender Schrecken durchfuhr ihn, und für einen Moment hatte er das Gefühl, von einer eiskalten, prickelnden Hand im Nacken berührt zu werden. Ganz langsam, als müsse er gegen unsichtbare Fesseln ankämpfen, drehte er sich herum.
Er hatte gewußt, wen er sehen würde, und trotzdem fuhr er bei Klaus Yenoms Anblick ein zweites Mal zusammen, so heftig, daß er fast das Gleichgewicht verloren und auf dem Hosenboden gelandet wäre. „Na, wen haben wir denn da?“ fuhr Yenom in gespieltem Erstaunen fort. „Wenn das nicht ein frecher Dieb und Einbrecher ist...“ Er schüttelte den Kopf, lächelte so kalt und schadenfroh, wie Andy es niemals zuvor bei einem Menschen gesehen hatte, und machte eine befehlende Handbewegung. „Komm da raus!“ Andy gehorchte. Auf Händen und Knien kroch er aus dem Maschinenraum heraus, richtete sich auf und funkelte Yenom mit einer Mischung aus Angst und Zorn an. „Ich bin kein Einbrecher“, fauchte er. „Und der Dieb sind ja wohl eher Sie.“ Yenoms linke Augenbraue hob sich. „Kein Einbrecher?“ wiederholte er. „Ja, vielleicht. Möglicherweise bist du ja auch nur hier, um ein bißchen Sabotage zu betreiben, wie? Oder was hast du sonst im Maschinenraum gesucht?“ „Das wissen Sie ganz genau“, antwortete Andy mit einem Mut, der ihn selbst ein wenig überraschte. „Sie haben Käpt'n Kitts Kiste gestohlen, und...“ „Käpt'n Kitt?“ unterbrach ihn Yenom. „Wer soll das denn sein?“ Er machte eine unwillige Handbewegung, als Andy antworten wollte, und sah auf seine Armbanduhr. „Na, klären wir das später.“ „Das klären wir sofort!“ sagte Andy aufgebracht. „Ich gehe zu meinem Vater und erzähle ihm alles!“ Er wollte an Yenom vorbei und zur Tür stürmen, aber er kam nur einen Schritt weit, denn Yenom packte ihn kurzerhand beim Kragen und zerrte ihn reichlich unsanft zurück. „Du gehst nirgendwo hin, junger Mann“, sagte er. „Oder glaubst du vielleicht, ich will deinetwegen zu spät zum Start kommen?“
Andy versuchte sich loszureißen, aber natürlich hatte er keine Chance. Yenom war viel zu stark für ihn. „Lassen Sie mich los!“ schrie er. „Ich muß zurück aufs Schiff. Das ist Kidnapping!“ „Blödsinn“, sagte Yenom und versetzte Andy einen Schubs, der ihn quer durch die Kabine stolpern und aufs Bett fallen ließ. „Da bleibst du liegen und rührst dich nicht!“ sagte er scharf. „Ich bringe dich zurück zu deinen Eltern, sobald die Regatta vorbei ist. Und bis dahin solltest du dir eine verdammt gute Ausrede für deinen Einbruch einfallen lassen, mein Freund, sonst verliert dein Vater mehr als nur ein Schiff.“ Andy rappelte sich mühsam hoch, aber Yenom hatte sich schon herumgedreht und die Tür hinter sich ins Schloß geworfen. Andy hörte das Klicken eines Schlüssels, der mindestens dreimal hintereinander umgedreht wurde. Augenblicke später polterten Yenoms Schritte auf dem Deck über seinem Kopf, und dann, nach kaum einer Minute, jaulte ein elektrischer Anlasser, und die beiden riesigen Dieselmotoren im Rumpf der Yacht sprangen dröhnend an. Andy warf sich verzweifelt gegen die Tür und begann mit den Fäusten dagegenzuhämmern, aber wenn Yenom das Geräusch unter dem Brüllen der Motoren überhaupt hörte, so reagierte er nicht darauf. Andy spürte, wie sich das Schiff von seinem Platz löste und schwankend ins offene Wasser hinausglitt. Vor den Bullaugen begann der Landungssteg zurückzuweichen, dann, als das Schiff eine halbe Drehung vollführte, kam ein Teil der Witchcraft in Sicht. Ganz kurz erkannte Andy seinen Vater und Tim, die aufgeregt miteinander redeten, wobei Tim immer wieder in seine Richtung deutete. Aber auch Klaus Yenom hatte die beiden gesehen, und er zog offensichtlich die richtigen Schlüsse aus Tims Aufregung.
Das Dröhnen der Motoren wurde noch einmal leiser, und plötzlich hörte Andy Yenoms Stimme, durch ein elektrisches Megaphon so verstärkt, um sicherlich auch auf der Witchcraft noch deutlich genug zu verstehen zu sein. „Ahoi, Herr Nachbar!“ rief Yenom. „Wenn Sie sich Sorgen um Ihren Sohn machen, der ist bei mir! Sieht so aus, als hätte er sich verlaufen.“ „Was soll das heißen?“ rief Vater zurück. Andy konnte ihn nicht mehr sehen, aber seine Stimme zitterte vor Aufregung. „Sie lassen Andreas auf der Stelle frei, oder ich hetze Ihnen die Polizei auf den Hals. Yenom!“ „Ich halte ihn ja gar nicht fest“, antwortete Yenom ruhig, „Tut mir leid - ich habe zu spät gemerkt, daß er an Bord ist. Jetzt muß er hierbleiben, bis die Regatta vorüber ist. Aber keine Sorge - er ist bei mir so sicher wie in Abrahams Schoß. Ich muß jetzt los. Viel Glück, Herr Nachbar. Und geben Sie gut auf mein Schiffchen acht!“ Das Megaphon wurde abgeschaltet, und Vaters wütende Antwort ging im neuerlichen Dröhnen der Motoren unter, als Yenom den Gashebel mit einem Ruck nach vorne schob und das Schiff einen solchen Satz machte, daß Andy das Gleichgewicht verlor und reichlich unsanft auf dem Hosenboden landete.
8 Die Regatta Draußen vor den kleinen runden Bullaugen machten sich die Boote startklar. Das Wasser des Hamburger Yachthafens schien zu kochen, aufgewühlt von den vielen Schiffsrümpfen, und die aufgeregte, fröhliche Stimmung, die dort draußen herrschte, war selbst hier drinnen deutlich zu spüren. Wie zum Ausgleich war Andy dafür so deprimiert und niedergeschlagen wie selten zuvor in seinem Leben. „Es ist aus“, dachte er düster. Schluß, Ende, Finito, Sense - ganz egal, mit welchem Wort man es bedachte, es lief auf dasselbe hinaus: Yenom hatte gewonnen. Ohne die Hilfe Käpt'n Kitts konnte sein Vater heilfroh sein, wenn er die Witchcraft überhaupt ins Ziel brachte, mit anderthalb bis zwei Stunden Rückstand zu den anderen Schiffen, optimistisch geschätzt. Und er würde sie nur zurück an ihren Liegeplatz steuern, um sie anschließend ihrem neuen Besitzer zu übergeben - niemand anderem als Yenom! Und das war ungerecht! Wenn er nur etwas tun könnte. Wenn er nur nicht so verdammt allein und... Allein? Es war, als hätte jemand das Wort ganz leise hinter ihm wiederholt, und Andy „hörte“ das Fragezeichen dahinter mehr als deutlich. Aber er war ja gar nicht allein! Er hatte ganz im Gegenteil den besten Verbündeten bei sich, den er sich überhaupt nur wünschen konnte! Andys Niedergeschlagenheit wich plötzlich einer ebenso heftigen Aufregung. Er fuhr vom Bullauge herum, durchquerte mit zwei großen Schritten die Kabine und kroch in den Maschinenraum hinein. Hastig schaltete er das Licht ein, kroch zu Kitts Seekiste und versuchte den Deckel zu öffnen. Es ging nicht. Andy rüttelte eine ganze Weile vergeblich an der schweren Truhe, bis er begriff, daß der Deckel so unverrückbar fest saß, als wäre er festgeschweißt. Enttäuscht ließ er die Hände sinken,
beugte sich über die Kiste und sah sie sich genauer an. Was er entdeckte, überraschte ihn nicht einmal besonders; es ärgerte ihn höchstens, daß er nicht von selbst auf die Idee gekommen war. Die antike Schließe war verschwunden und durch ein funkelnagelneues, sehr stabil aussehendes Vorhängeschloß ersetzt worden. „Was tust du da unten, mein Sohn?“ fragte eine fröhliche Stimme hinter ihm. Andy drehte sich in der Hocke herum und entdeckte Klaus Yenom, der wieder heruntergekommen war und ihn schadenfroh durch die offene Luke hindurch angrinste. „Also nicht doch“, sagte er spöttisch. „So schlau wie du bin ich schon lange. Hast du wirklich gedacht, ich lasse dich allein hier unten mit diesem Klappergespenst?“ „Warum tun Sie das?“ fragte Andy, den Tränen nahe. Yenom runzelte mit gespielter Verwirrung die Stirn. „Was? Gewinnen wollen? Das tut doch jeder. Schließt du eine Wette ab, um sie zu verlieren?“ „Das meine ich nicht“, antwortete Andy. „Sie... Sie haben vom ersten Moment an versucht, uns das Schiff wegzunehmen. Sogar jetzt noch. Es ist doch längst wertlos. Was wollen Sie damit?“ „Es verschrotten“, antwortete Yenom ernsthaft. „Ich werde mir einen großen Hammer nehmen und es eigenhändig Stück für Stück auseinanderschlagen. Mein Wort darauf. Du kannst mir sogar dabei helfen, wenn du willst.“ „Aber warum?“ fragte Andy verzweifelt. Er deutete auf die Kiste. „Wenn es das ist, was Sie wollten, dann...“ „Wer sagt, daß mich ein vergammelter alter Geist interessiert?“ fiel ihm Yenom ins Wort. Seine Augen blitzten zornig. „Ich will dir sagen, warum ich das Schiff haben will: Dein Vater und ihr, ihr habt mich blamiert. Ihr habt mir eine Niederlage bereitet, und das vertrage ich nicht. Ich verliere nicht gerne.“
„Dann... dann ist es nur Rache?“ fragte Andy ungläubig. „Sie wollen uns die Witchcraft nur wegnehmen, um sich an meinem Vater zu rächen?!“ „Wenn du es so nennen willst“, antwortete Yenom kalt. „Aber jetzt habe ich anderes zu tun, als mich mit dir herumzustreiten!“ Er machte eine rasche, befehlende Handbewegung. „Komm mit.“ Andy sah zögernd zu Kitts Seekiste zurück. „Aber ich dachte, daß...“ „... daß du hierbleiben und ein bißchen an meinen Motoren herumfummeln kannst?“ unterbrach ihn Yenom höhnisch. Er schüttelte den Kopf. „Nichts da. Du kommst mit nach oben. Schließlich“, fügte er grinsend hinzu, „will ich dich doch nicht um das Vergnügen bringen, meinen Sieg mitzuerleben!“ Er wiederholte seine befehlende Geste, und diesmal beeilte sich Andy, ihm zu gehorchen, ehe Yenom ihn einfach am Kragen packen und hinter sich herschleifen konnte. Nach der kleinen Ewigkeit, die er unter Deck verbracht hatte, blendete ihn das grelle Sonnenlicht, so daß er für Augenblicke fast blind war. Immerhin sah er, daß sich die Boote entlang einer imaginären Linie aufgereiht hatten. Eine kleine rote Boje markierte den Start- und Zielpunkt, zu dem die Schiffe nach einer Strecke von gut zehn Seemeilen zurückkehren würden. Yenom versetzte Andy einen Stoß, der ihn reichlich unsanft dicht neben dem Steuerruder gegen das Holz prallen ließ. Drohend deutete er auf einen großen, rot-weißen Rettungsring, den er bereitgelegt hatte. „Wenn du irgendwelche Dummheiten machst“, sagte er, „dann darfst du mit diesem Ding zurückschwimmen. Ist das klar?“ Andy nickte. Er glaubte Yenom aufs Wort. „Es geht los!“ sagte der Berufsmillionär aufgeregt. Spielerisch betätigte er
den Gashebel. Die fünfhundert PS seiner Yacht brüllten auf, aber noch bewegte sich das Boot nicht von der Stelle. „Kitt!“ dachte Andy verzweifelt, „hilf mir!“ Nein, er rechnete nicht ernsthaft damit, daß der Schiffsgeist auf seinen gedanklichen Hilferuf reagieren würde. Zum einen konnte Käpt'n Kitt seine Gedanken nicht lesen, und zum anderen war er in seiner Kiste eingesperrt. Andy bezweifelte, daß er irgend etwas tun konnte, solange der Deckel der Seekiste nicht geöffnet wurde. Irgendwo vor ihnen erklang ein Pistolenschuß - das Startsignal! Yenom jauchzte vor Aufregung, warf dem Jungen einen triumphierenden Blick zu und schob den verchromten Gashebel mit einer wuchtigen Bewegung bis zum Anschlag vor. Unter ihren Füßen heulten die beiden Dieselmotoren auf, und rechts und links von ihnen schossen die anderen Schiffe los; manche, wie die Witchcraft, die ja ursprünglich nur mitgemacht hatte, um dabei zu sein, dümpelten auch nur gemächlich über die unsichtbare Startlinie. Aber sie bewegten sich wenigstens. Yenoms Schiff nicht. Die Motoren heulten auf, als wollten sie jeden Moment zerplatzen, unter dem Heck der Yacht, wo die Schrauben das Wasser peitschten, sprudelte eine gewaltige weiße Schaumwolke, aber das Schiff saß so unverrückbar fest, als wäre es angenagelt! Yenom sperrte Mund und Augen auf, starrte einen Moment lang verblüfft auf den Gashebel, auf dem seine Hand noch immer ruhte - und fuhr mit einem Schrei zu Andy herum. „Du!“ kreischte er. „Das warst du! Du hast an den Maschinen herumgefummelt, du kleines Miststück! Dafür werde ich dich...“ Was immer er Andy antun wollte - er kam weder dazu, es zu
sagen, noch, es gar in die Tat umzusetzen, denn in diesem Moment passierte das, worauf er seit einer halben Minute vergeblich gewartet hatte: Die unsichtbare Kraft, die die Yacht hielt, erlosch jäh, und das schnittige Motorboot schoß wie ein übergroßer Pfeil los. Seine Geschwindigkeit war so groß, daß es sich ein Stück aus dem Wasser hob und in einer gewaltigen Flutwelle zurückklatschte, wobei Klaus Yenom glatt hinschlug. Der Millionär kreischte vor Schmerz und Wut, rappelte sich hoch und versuchte nach Andy zu greifen, überlegte es sich dann aber im letzten Augenblick doch noch anders und hastete wieder zum Steuer. Das Schiff raste mit heulenden Motoren hinter den anderen Booten her und hatte einige der langsameren Segler bereits überholt. Yenom griff hastig ins Ruder, um einen Beinahe-Zusammenstoß zu vermeiden, fluchte lautstark und nahm etwas Gas weg. Mit einer wütenden Bewegung drehte er das Steuer nach rechts. Die Yacht legte sich in eine enge Linkskurve. Klaus Yenom verlor durch die unerwartete Bewegung beinahe ein zweites Mal das Gleichgewicht. Im letzten Moment hielt er sich am Steuerruder fest - wodurch das Boot prompt in die andere Richtung schoß und wild zu schlingern begann. Er fluchte noch lauter und legte nun alle möglichen Hebel auf seinem Steuerpult um. Das Boot begann nun wild zu bocken, fuhr schneller, langsamer, drehte sich ein paarmal fast auf der Stelle und machte immer wieder wilde Sätze, ganz egal, ob er nun Gas gab oder wegnahm. Auch Andy mußte sich mit aller Kraft festklammern, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Aber er genoß den Anblick. Er hatte keine Ahnung, wie Kitt es fertiggebracht hatte, aus seiner verschlossenen Kiste herauszukommen, aber daß er es geschafft hatte, war unübersehbar. Yenom tobte wie ein Wilder an seinen Hebeln herum, aber er erreichte damit eher das Gegenteil dessen, was
er wollte: Die Yacht taumelte immer unkontrollierter hin und her, und ein paarmal konnte nur die Aufmerksamkeit anderer Bootsführer einen Zusammenstoß verhindern. „Übertreib es nicht, Kitt“, sagte Andy leise. „Es reicht, wenn er hinter der Witchcraft ins Ziel kommt. Du mußt ihn nicht gleich versenken.“ Er bekam keine Antwort, aber für einen kurzen Moment glaubte er einen schattenhaften Umriß hinter Yenom zu erkennen und etwas wie einen enttäuschten Seufzer zu hören. Aber Kitt reagierte. Das unberechenbare Bocken und Schlingern des Schiffes hörte auf, und aus seinem wilden Hinund Hertorkeln wurde wieder eine gleichmäßige Fahrt. Allerdings ging sie nicht unbedingt in die Richtung, die Yenom vorgeschwebt hatte... Klaus Yenom brüllte vor Zorn auf, als er sah, wie sich der Bug seines Schiffes wieder dem Hafen zudrehte und schließlich zielsicher auf die rote Leuchtboje deutete. Die imaginäre Startlinie war längst verwaist - bis auf ein einziges Schiff, einen großen, plumpen Segler, auf dessen zerschrammtem Rumpf die Buchstaben Witchcraft glänzten und der sich nur sehr langsam von der Stelle bewegte. Andy konnte deutlich die verblüfften Gesichter seiner Eltern und seines Bruders erkennen, als sie das Schiff passierten, und hob grinsend die Hand. Dann waren sie vorbei, und Yenoms Yacht näherte sich mit brüllenden Motoren der Boje. Als Andy schon befürchtete, sie würden das Ding kurzerhand rammen, begannen die Motoren etwas langsamer zu laufen, und das Schiff legte sich wieder in eine große Linkskurve. Sie umkreisten die Boje. Immer und immer wieder. „Altes Klappergespenst, so“, sagte eine Stimme aus dem Nichts. „Vergammelter alter Geist, wie? Dir werd' ich's geben, du Lump!“
Yenom hörte die Worte nicht, und er hätte wahrscheinlich auch nicht darauf reagiert, denn er war damit beschäftigt, wie ein Tobsüchtiger abwechselnd am Steuer wie am Gashebel herumzureißen - ohne damit auch nur die geringste Reaktion zu erzielen. Das Schiff tat einfach, was es wollte - genauer gesagt, was Kitt wollte. „Gott sei Dank, Kitt“, flüsterte Andy. „Das war Rettung in letzter Sekunde. Wie bist du aus der Kiste herausgekommen?“ „Herausgekommen?“ Für einen Moment erschien der Umriß des Schiffsgeistes wieder für Andy deutlich sichtbar hinter Yenom, und trotz des Tuches vor seinem Gesicht konnte der Junge deutlich erkennen, wie er grinste. „Wer sagt denn, daß ich überhaupt drin war, du Landratte?“ sagte er. „Als ich die Piraten gesehen habe, da habe ich vorsichtshalber den Rückzug angetreten. Und jetzt laß mich - ich habe ein Rennen zu verlieren!“
Und damit wandte er sich wieder dem Schiff zu. Die Motoren heulten stärker auf, als das Boot schneller wurde; gleichzeitig wurden die Kreise kleiner, die es um die Boje zog. Yenom starrte fassungslos auf das Steuer, das sich gehorsam in seiner Hand drehte, ohne daß das Boot indessen damit aufhörte, gleichmäßige schnelle Kreise um die Boje zu ziehen. Schließlich keuchte er, griff mit einer zögernden Bewegung nach dem Zündschlüssel, zog ihn ab und steckte ihn in die Jackentasche. Die Motoren liefen weiter. Und die Yacht zog weiterhin ihre Kreise um die Boje. Immer und immer und immer wieder.
9 Eine großmütige Geste Es wurde Abend, bis die Witchcraft wieder in ihrer Nähe war. Sie war, wie nicht anders zu erwarten, als letztes Schiff über die Ziellinie gelaufen, nicht sehr viel schneller als eine Schildkröte, aber wesentlich uneleganter. Andy erschrak ein bißchen, als er das Schiff sah. Kitts Bettwäschesegel war an zahlreichen Stellen gerissen - nähen schien nicht unbedingt zu den Stärken des Schiffsgeistes zu gehören -, und das Schiff hatte eine deutliche Schlagseite. Später sollte er erfahren, daß der Rumpf nicht ganz so dicht war, wie sie bisher geglaubt hatten, und der Laderaum knietief unter Wasser stand. Im Moment allerdings dachten weder er noch seine Familie an solche Kleinigkeiten. Die Witchcraft kroch an Yenoms Yacht und der Boje vorüber, bewegte sich zitternd einen halben Meter weit über die Startlinie des Rennens und drehte dann bei. Es verging noch einmal eine gute Viertelstunde, bis Vater das schwerfällige Schiff längsseits der Yacht gebracht hatte und Andy eine Leine zuwarf. „Ahoi, Herr Nachbar!“ rief er fröhlich. „Der Kapitän der Witchcraft bittet, an Bord kommen zu dürfen.“ Yenom warf ihm einen finsteren Blick zu und rührte sich nicht. Überhaupt war er während der letzten drei oder vier Stunden scheinbar zur Salzsäule erstarrt. Das Boot war immerzu im Kreis um die Boje herumgefahren, bis das Benzin verbraucht war und die Motoren einfach ausgingen. Aber selbst danach hatte sich die Yacht nicht von der Stelle gerührt, sondern war, Ebbe und Flut und natürliche Strömungen hin oder her, einfach liegengeblieben. „Wie von Geisterhand gehalten“, dachte Andy grinsend. Sein Vater zögerte einen Moment, begriff dann offenbar, daß Yenom auch dann nicht antworten würde, wenn er bis zur nächsten Eiszeit warten würde, und kam mit einem federnden Satz auf das Deck der niedrigeren Yacht heruntergesprungen.
Einen Augenblick später folgte ihm Tim, während Mutter den gewagten Satz lieber nicht riskierte, sondern die Szene von Bord der Witchcraft aus verfolgte. „Alles in Ordnung?“ fragte Vater Andy. Der nickte und setzte zu einer Erklärung an, aber sein Vater machte eine fast erschrockene Handbewegung. „Schon gut, mein Sohn“, sagte er. „Wir haben gesehen, was passiert ist. Aber ehrlich gesagt, ich will gar nicht genau wissen, wie es passiert ist. Hauptsache, du bist in Ordnung.“ „Das war Betrug“, sagte Yenom. Aber er sah Vater dabei nicht einmal an. Seine Stimme klang, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Betrug?“ fragte Vater verwundert. „Was, Herr Nachbar? Daß Sie unser Eigentum von Bord der Witchcraft gestohlen haben, während wir mit Ihnen im Goldenen Anker saßen?“ Yenom starrte ihn wütend an und schwieg, während Andy einen raschen Blick mit seinem Bruder tauschte. Tim nickte fast unmerklich. Wahrscheinlich hatte er seinem Vater alles erzählt - Zeit genug hatten sie ja gehabt. Und den Rest hatten sie mit eigenen Augen gesehen. „Tja, mein Lieber“, fuhr Vater aufgeräumt fort. „Dann ist ja wohl alles klar, nicht? Wie es aussieht, haben wir die Wette gewonnen.“ Yenom preßte die Lippen aufeinander, griff in die Tasche und zog den Zündschlüssel heraus. Wütend warf er ihn Vater vor die Füße. „Da“, fauchte er. „Die Papiere gebe ich Ihnen später. Vielleicht besitzen Sie die Freundlichkeit, mich in den Hafen zu schleppen.“ Vater machte keine Anstalten, sich nach dem Schlüsselbund zu bücken. „Selbstverständlich“, sagte er. „Aber wissen Sie, Herr Nachbar - meine Frau und ich haben uns die Sache überlegt. Ich glaube nicht, daß wir Ihr Schiff haben wollen.“
„Nicht?“ Yenom blinzelte. Vater schüttelte den Kopf. „Nein. Ein Schiff wie Ihres ist viel zu groß für uns. Und viel zu teuer im Unterhalt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir lassen die Witchcraft von einem Fachmann instand setzen, und Sie übernehmen die Kosten. Dafür können Sie Ihre Yacht behalten. Einverstanden?“ Drei, vier endlose Sekunden lang starrte Yenom ihn ungläubig an, dann nickte er, bückte sich nach seinem Schlüsselbund und hob ihn auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht schwankte zwischen Zorn und ungläubiger Erleichterung. Vater wandte sich an Andy. „Und wir“, sagte er, „suchen uns heute abend ein gemütliches Hotelzimmer in der Stadt. Wenn das Schiff fertig ist, kommen wir wieder - und dann machen wir richtigen Urlaub. Okay?“ Andy zögerte. „Ich... würde lieber auf der Witchcraft bleiben“, sagte er nach einer Weile. „Und ich auch“, fügte Tim hinzu. Ihr Vater schien ein wenig überrascht, aber dann nickte er, wenn auch sehr zögernd. „Wenn ihr wollt...“, murmelte er. „Aber überlegt es euch. Es kann eine Woche dauern, bis das Schiff klar ist. Ihr wollt wirklich so lange allein auf dem Boot bleiben?“ „Allein?“ murmelte Andy. „Aber wer sagt denn, daß wir allein sind?“ Sein Vater blinzelte. Dann blickte er lange und sehr nachdenklich zur Witchcraft hinüber. Aber er sagte kein Wort mehr... Scan and Layout by Larentia / corrected by zerwas