Marc Tannous
Die gestohlene Residenz Bad Earth Band 18
ZAUBERMOND VERLAG
Das Relikt war fast vergessen. Vor Jahrzeh...
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Marc Tannous
Die gestohlene Residenz Bad Earth Band 18
ZAUBERMOND VERLAG
Das Relikt war fast vergessen. Vor Jahrzehntausenden wurde es zuletzt gesichtet … und betreten. Dort nahm alles seinen Anfang. Aber das uralte Vermächtnis hat sich verändert und beherbergt nun ein schreckliches Geheimnis, das es zu ergründen gilt. Zur gleichen Zeit geistert ein Ungeheuer durch die RUBIKON, entstanden aus den Leichen Dutzender Fraktaler, jenen Soldaten also, mit denen Reuben Cronenberg das Universum aus den Angeln heben möchte …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte
umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet
auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Die RUBIKON aber kehrt in die Milchstraße, ins Angksystem zurück und informiert die Bractonen über ihre besorgniserregende Entdeckung. Eine Expedition ins galaktische Zentrum bringt es dann an den Tag: Der kosmische Bereich, in dem die Menschen siedeln, steht vor dem Kollaps, vielleicht das ganze bekannte Universum. Den verwaisten Platz der von Kargor mobil gemachten CHARDHIN-Station hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes hat eine Negaperle eingenommen. Im Heimatkontinuum der ERBAUER scheint man beschlossen zu haben, das EXPERIMENT (unser Universum!) rigoros zu beenden. Nur unter Einsatz fast aller vorrätigen Tridentischen Kugeln gelingt es schließlich, die Negaperle zu eliminieren und eine neue »gesunde« CHARDHIN-Station im Milchstraßen-Black-Hole zu installieren. Die Gefahr scheint gebannt, doch wieder einmal haben auch die Treymor von sich reden gemacht. Bis zum letzten Moment versuchten sie, die Negaperle zu schützen. Ihre Motive sind mysteriöser denn je. Erst recht, als die RUBIKON Zeuge wird, wie eine ganze Flotte von X-Schiffen ein einzelnes bekämpft und schließlich vernichtet. Herrscht Uneinigkeit unter den Treymor? Aus den Trümmern des X-Wracks werden die Reste mehrerer Fraktaler geborgen, die sich an Bord der RUBIKON zu einem monströsen Wesen verbinden … und dem Zugriff der Crew entziehen.
Die Jagd auf den Fraktalen beginnt, während die RUBIKON der abziehenden X-Flotte folgt.
Prolog Er war nicht tot, auch wenn er sie das glauben machen wollte. War nicht verloschen, wie es für sie den Anschein haben mochte. Sie, die ihn erst zum Leben erweckt, die seine neue Existenz begründet hatten, als alles verloren schien und Dunkelheit das kalte Feuer in ihm ersetzte. Hatte er sie wirklich genarrt? Sie waren schlau, das spürte er. Sie hofften, dass von ihm keine Gefahr mehr drohte, aber deshalb wiegten sich noch lange nicht in Sicherheit. Sie suchten nach ihm, durchkämmten jeden Winkel ihres Schiffes, durchstöberten Gänge und Kanäle, in der verzweifelten Hoffnung, einen Anhaltspunkt auf seinen Verbleib zu finden. Gedankenfetzen … ein Gemenge von Erinnerungen, gespeichert im kollektiven Bewusstsein eines Wesens, das einst viele gewesen war. Dieses Schiff und seine Besatzung würden bald ihm gehören – auch wenn dies noch jenseits ihrer Vorstellungskraft lag …
1. Für einen kurzen Moment war Jelto sich sicher, dass er nicht mehr alleine war. Es war kein Laut, der ihm dieses Gefühl vermittelte, kein fremder Schatten, der über ihn fiel. Es war mehr wie ein Vibrieren in der Luft. So, als würden Moleküle beiseite rücken, um Platz für etwas zu schaffen, das sich dem bloßen Auge verbarg. Plötzlich war ihm, als streife ihn ein eisiger Hauch. Er war sich jedoch nicht sicher, ob dies nicht nur auf einer Einbildung beruhte, die seinem letzten Gedanken entsprungen war. Jelto hob seinen Kopf, sah sich um und sondierte seine Umgebung. Er verzichtete darauf, sich aus seiner knienden Haltung zu erheben oder gar den Schössling vom Planeten der Vilaner, den er in seinen Händen hielt und gerade pflanzen wollte, beiseite zu legen. Sein Blick wanderte über das Grün der erst seit kurzem entstandenen Vegetation und streifte die Häuser der Angks, die wie zufällig hingewürfelt den Dorfplatz umrahmten. Irgendwo in der Ferne hörte er Stimmen spielender Kinder, doch ansonsten lag eine gespenstische Stille über dem Dorf, die – hätte er es nicht besser gewusst – den Florenhüter hätte glauben machen können, er sei ganz alleine auf der Welt. Er musste sich getäuscht haben. Vermutlich war es nur ein Windhauch gewesen, mit der die KI des Rochenraumers, auf der sich Lichtung und Dorf in Wahrheit befanden, die Simulation einer fast grenzenlosen Landschaft umso realistischer erscheinen lassen wollte. Und dann war das Gefühl auch schon wieder weg, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Jelto schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Werk zu, das er in den letzten Tagen geschaffen hatte – und worum ihn die
Bewohner des Angk-Dorfes gebeten hatten. Die Flora war auf dem besten Wege Gestalt anzunehmen und das in einer beachtlichen Geschwindigkeit. Auf herkömmlichem Wege hätte es Wochen und Monate gedauert, um zu erreichen, wofür Jelto nur Tage gebraucht hatte. Er wandte sich wieder dem Schössling zu, den er in der rechten Hand hielt, während er ihn mit der Linken abschirmte, als müsse er ihn vor jedem noch so leichtem Windhauch beschützen. Das Pflänzchen bewegte sich leicht, legte die Blätter an, als wolle es signalisieren, wie geborgen es sich in der Obhut des Florenhüters fühlte. Eine Reaktion, die niemanden überraschte, der um die Konditionierung wusste, die Jelto von seinen einstigen Herren, den Keelon-Mastern, erhalten hatte. Jelto war ein genetisch optimierter Klon, erschaffen alleine zu dem Zweck, sich um die exotische Pflanzenwelt in einem eigens dafür eingerichteten Reservat zu kümmern. Doch das war lange her. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben … Langsam ließ Jelto den Schössling in die eigens dafür gegrabene Kuhle gleiten, bedeckte das Loch mit etwas Erde, bis die Pflanze ausreichenden Halt besaß, um auch einem stärkeren Windstoß trotzen zu können. Der Kontakt mit seinem Element, dem Erdreich, zeigte alsbald die erhoffte Wirkung. Der Schössling entfaltete sich, breitete seine Blätter aus, um die wärmenden Sonnenstrahlen willkommen zu heißen. Unter normalen Umständen hätte es Monate gedauert, bis der kleine Wicht die Größe der ihn umgebenden Sträucher erreichte. Unter dem Einfluss von Jeltos besonderer Aura, würde dies innerhalb einer Woche der Fall sein. »Du hast viel erreicht, in den letzten Tagen. Ich bin beeindruckt.« Jelto hob abrupt den Kopf, als er die Stimme vernahm. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er die Gestalt nicht bemerkt hatte, die sich ihm unvermittelt genähert hatte. Als er die Augen gegen das grelle Licht der künstlichen Sonne abschirmte, fiel sein Blick auf einen gedrungenen Körper sowie zwei kleine Augen, die aus ei-
nem seltsam eigenschaftslosen Gesicht auf ihn schauten. Sooks. Jelto seufzte innerlich. Es verging kaum ein Tag, ja kaum eine Stunde, zu der der Angk ihn nicht aufsuchte, ihm Löcher in den Bauch fragte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Hilfe anbot. Eigentlich hätte Jelto dem Angk gegenüber dankbar sein müssen. Schließlich war er es gewesen, der die Idee gehabt hatte, Jeltos Garten zu einer Signalempfangsstation umzufunktionieren, die letztlich zur Entdeckung der Pflanzenzivilisation auf Rof geführt hatte. Doch genau das war der Knackpunkt. Jelto wünschte sich inzwischen, diese Entdeckung nie gemacht zu haben. Was er auf Rof gesehen und erlebt hatte, verfolgte den sensiblen Florenhüter inzwischen bis in seine Träume. Er fühlte sich, als habe er die Büchse der Pandora geöffnet, als sei in diesem Moment alles Schlechte dieser Welt auf ihn eingeströmt, sodass es ihm kaum noch möglich war, über irgendetwas ungetrübte Freude zu empfinden. Und das, fand er, war Sooks Schuld. Manche Fragen blieben eben besser unbeantwortet. »Was willst du?«, fragte Jelto – eine Spur zu forsch, wie er im nächsten Moment selbst zugeben musste. »Ich wollte fragen, ob ich dir zur Hand gehen kann«, fragte Sooks, wenig überraschend. Dieses Mal nahm Jelto sich von vorneherein vor, seine Antwort nicht zu abweisend klingen zu lassen. »Wird deine Hilfe nicht an anderer Stelle benötigt?« Sooks musste wissen, was Jelto damit meinte. Ein Großteil der Angk-Bevölkerung an Bord der RUBIKON war abbeordert worden, um bei der Suche nach jener unheimlichen Kreatur zu helfen, die durch Unachtsamkeit entwischt war. Wobei der letzte Punkt nicht hundertprozentig geklärt war. Die Kreatur, entstanden aus mehreren fraktalen Leichenfetzen, hatte sich dem Zugriff durch die RUBIKON und ihrer Besatzung entzogen, als sie sich vor ihren Augen buchstäblich in Luft aufgelöst hatte. Was tatsächlich mit ihr geschehen war, wusste indes keiner. Mög-
licherweise war dieses Wesen von vorneherein gar nicht überlebensfähig gewesen und tatsächlich vergangen. Schließlich konnte nicht einmal Sesha, die allgegenwärtige Bordinstanz, seinen Aufenthaltsort bestimmen oder auch nur seine weitere Existenz registrieren. Vielleicht war die Sorge wirklich unbegründet, und das Problem hatte sich längst von selbst gelöst. Womit auch die Mühe der Angks vergebens gewesen wäre. Andererseits … wenn dieses Ding doch noch am Leben war, hatten sie eine tickende Zeitbombe an Bord. Mit den Fraktalen, jenen von Reuben Cronenberg, dem neuen Herren über eine bizarr veränderte Erde, geschaffenen und nahezu unbezwingbaren Elitesoldaten war – untertrieben ausgedrückt – nicht gut Kirschen essen. Und wozu ein Wesen fähig war, das sich wirr aus mehreren dieser Geschöpfe zusammensetzte, daran wollte der Florenhüter nicht einmal denken. Aus diesem Grund hatte der Commander sich dazu entschlossen, die Hilfe der Angks in Anspruch zu nehmen. Aufgrund ihrer mentalen Veranlagung, ihrer Fähigkeit, ihren Geist mit dem Schiffes auf eine Art und Weise zu verschmelzen, wie es nicht einmal Cloud selbst vergönnt war, waren sie für die Jagd auf dieses Geschöpf geradezu prädestiniert. Und das war eben auch der Grund, weshalb es so ruhig war im Dorf. Die meisten seiner Bewohner hatten sich in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, drangen mit ihren geistigen Fühlern in jeden noch so abgelegenen Bereich des Schiffes vor und forschten nach jeder Art von Leben, das nicht als offizielles Besatzungsmitglied registriert war. Sooks schüttelte auf Jeltos Frage hin eifrig den Kopf. »Ich konnte meine Freunde davon überzeugen, dass ich hier an deiner Seite von weitaus größerem Nutzen sein kann. Schließlich hat unsere letzte gemeinsame Mission beachtliche Früchte getragen.« Ein grimmiger Ausdruck schlich sich auf Jeltos Gesicht. Ein Ausdruck, wie man ihn selten in den meist gütig dreinblickenden Augen des Florenhüters sah. Aufgrund seiner Prädisposition war er nicht nur ein Meister im Umgang mit pflanzlichem Leben aller Art,
sondern darüber hinaus ein gebürtiger Empath, der sich in die Lage fast jedes Lebewesens versetzen konnte und deshalb jedem zunächst einmal wohlwollend gegenübertrat. Bei Sooks verhielt es sich anders. Von ihm fühlte er sich mehr und mehr … genervt. Sicher, ihm war klar, dass der es, bei allem was er tat, nur gut meinte. Er wollte helfen, wollte sich nützlich machen, sich in die Gesellschaft einbringen, und doch rief er bei Jelto in zunehmendem Maße ein Gefühl der Ablehnung hervor. Jelto atmete tief durch, wollte Sooks gerade eröffnen, dass seine Hilfe nicht erwünscht war, als sich eine wesentlich mildere Stimme in ihm zu Wort meldete. Eine Stimme, die ihn daran erinnerte, dass Sooks ihm nicht bewusst Schaden zugefügt hatte. Dass all die schlimmen Dinge, die er im Zuge seiner Experimente erlebt und erfahren hatte, und die er mehr oder weniger unbewusst in den Angk hineinprojizierte, nicht unmittelbar von ihm zu verantworten waren. Lass ihn dir doch zur Hand gehen, sagte diese Stimme. Was kann es denn schaden? Jelto wollte gerade einlenken, als er mit einem Mal stutzte. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass er eine ähnliche Situation schon einmal erlebt hatte. Auch da hatte Jelto auf eine Bitte von Sooks erst abweisend reagiert – und sich dann, von einem Moment auf den anderen, eines Besseren besonnen. Schon da hatte er sich gefragt, ob diese Stimme der Besonnenheit wirklich seinem eigenen Denken entsprang oder ihm von außen eingepflanzt worden war. Jelto wusste ja, dass die Angks über ein beeindruckendes Maß psionischer oder metaphysischer Fähigkeiten verfügten. Die Kraft der mentalen Suggestion war für diese Wesen vermutlich nicht mehr als eine Fingerübung. Ließ er sich also von Sooks plumper Vertraulichkeit, seiner fast schon kindlich-naiven Art blenden, sodass er gar nicht merkte, wie dieser ihm seinen Willen aufzwang? Jelto räusperte sich, schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, beherbergten sie wieder jenen Ausdruck von Unnachgiebigkeit und Härte, der ihm einen Moment lang abhanden gekommen war. »Ihr habt mich gebeten für die Begrünung eures Dorfes zu sorgen,
weil euch meine Fähigkeiten und Methoden unbekannt sind. Wenn ich Hilfe benötigen würde, hätte ich längst darum ersucht. Geh jetzt zurück zu deinesgleichen und steh mir nicht länger im Weg rum!« Das hatte gesessen. Die Worte waren angekommen, daran bestand kein Zweifel. Sooks senkte enttäuscht den Blick, hauchte ein Wort der Entschuldigung, dann drehte er sich um und schlich den Weg zurück, den er gekommen war. Einen Moment lang hatte Jelto erneut so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Doch dann schob er auch diesen Zweifel beiseite. Es gab einfach Menschen, und das schloss selbstverständlich die Angks mit ein, bei denen man mit sanften Andeutungen nicht viel erreichte. Sooks war so ein Fall. Wenn man ihm nicht klare Schranken setzte, bekam man ihn nicht mehr los. Jelto verharrte in regungsloser Haltung, bis Sooks gegangen war, dann erst wandte er sich wieder dem Schössling zu seinen Füßen zu. Er streckte seine Hand danach aus, legte sie schützend über ihn, schloss die Augen und aktivierte seine Aura neu. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine Lippen. So schwach und zerbrechlich der Setzling auch aussah, war er doch stark und strotzte so vor Lebensenergie, dass Jelto seine Einflussnahme auf das Wesentliche beschränken konnte. Der Florenhüter war zuversichtlich, dass der Baum, der daraus erwachsen würde, ihn schon in wenigen Monaten überragen und seine Schatten spendenden Wipfel über die Lichtung ausbreiten würde. Für heute, beschloss er, hatte er genug getan. Es war Zeit, sich zu den anderen Besatzungsmitgliedern zu gesellen und sich über den Stand der Dinge zu informieren. Obwohl Jelto für ein schlichtes Leben in der Natur geschaffen war, nahm er in letzter Zeit wieder mehr und mehr Anteil an den Problemen außerhalb seines kleinen Reiches – auch dies sicherlich eine Folge seiner jüngsten Erlebnisse. Er erhob sich, wandte sich um und wollte gerade zurück zum Dorf gehen, als er in der Bewegung verharrte. Da war es wieder, das Gefühl, aus der Deckung heraus beobachtet zu werden! Das Herz des Florenhüters schlug schneller. Diesmal war es keine
Einbildung, das spürte er. Etwas war bei ihm, lauerte in unmittelbarer Nähe. Etwas, das nicht hierher gehörte, das nicht Teil dieser Lichtung, nicht einmal Teil der RUBIKON war. Jeltos Blick streifte Büsche, Sträucher und Gewächse, die er in den letzten Tagen gepflanzt hatte. Jede Menge Verstecke …, durchfuhr es ihn, ohne genau zu wissen, wovor er sich auf einmal dermaßen fürchtete. Jeltos Herzschlag beschleunigte sich. Den Blick noch immer zurückgewandt, setzte er sich in Bewegung – als etwas ihn aufhielt, ihn stolpern ließ und er hart zu Boden stürzte. Stechender Schmerz zuckte von seinem Steiß ausgehend durch seine Wirbelsäule. Sein Fuß hatte sich in etwas verfangen. Vermutlich einem Pflanzenstrang. Wie recht er damit hatte, wurde ihm klar, als er plötzlich wie von der Hand eines Riesen in die Höhe gewuchtet wurde. Kopfüber in der Luft hängend richtete Jelto seinen Blick auf den Strang, der sich um seinen Knöchel gewickelt, ihn dann in die Höhe gehievt hatte und nun knapp drei Meter über dem Boden baumeln ließ. Jelto stöhnte auf. Die Pflanze!, durchzuckte es ihn siedend heiß. Sie richtet sich gegen mich. Weshalb? Was habe ich getan? Jelto kam nicht mehr dazu, den verblüffenden Vorgang zu analysieren. Er bemerkte eine schnelle Bewegung, nur wenige Meter entfernt. Wieder hatte er das Gefühl, die Luft würde vor seinen Augen vibrieren, als würde etwas die Moleküle verdrängen. Und noch schlimmer: Dieses Etwas bewegte sich direkt auf ihn zu! Noch im selben Moment, in dem er das realisierte, fühlte Jelto sich ruckartig herumgerissen. Himmel und Erde vertauschten erneut die Plätze, und ein Schwindelgefühl erfasste den Florenhüter, als der Pflanzenstrang ihn wie
eine Gliederpuppe durch die Luft wirbelte. Obwohl Jelto die Augen am liebsten geschlossen hätte, riss er sie fast zwanghaft auf. Sein Blick fiel dabei auf den Erdboden, der ihm entgegenraste. Jelto kam sich vor wie ein Fallschirmspringer im freien Fall, wohl wissend, dass er auf den Luxus eines ihn sanft zu Boden tragenden Schirms würde verzichten müssen. Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, stoppte der Fall auch schon, sodass Jelto erneut zwischen Himmel und Erde hängen blieb – um dann sanft wie ein Blatt im Wind abwärts getragen zu werden. Er hätte am liebsten den Boden geküsst, als er das Erdreich unter sich spürte. Allein, er kam nicht mehr dazu. Ein Schatten legte sich über ihn, verdunkelte die Sonne und machte ihn frösteln. Er wollte sich gerade umdrehen, als es ihn auch schon erreicht hatte. Jelto schloss die Augen. Er musste nichts sehen, um zu wissen, was da buchstäblich wie eine Naturgewalt über ihn hereinbrach. Er spürte die Äste und Zweige, die durch seine Kleidung stachen, die Blätter, die ihn bedeckten und Wurzelstränge, die ihn in Sekundenschnelle wie in einen Kokon hüllten. Warum tut ihr das?, rief Jelto in Gedanken aus, in der Hoffnung, zu ihnen vorzudringen. Ich habe euch das Leben geschenkt – und ihr …? Nun geschah alles ganz schnell. Dunkelheit legte sich innerhalb weniger Sekunden über ihn, umhüllte ihn und ließ keine Stelle seines Körper frei. Und dann, ganz plötzlich, kehrte Ruhe ein. Auf einmal war alles still, als habe sich ein gewaltiger Sturm gelegt, um ihn in seinem Elend allein zu lassen. Jelto versuchte, den Klopf zu heben, doch es misslang. Und da verstand er, dass sie ihn mit ihrem Geäst und mit ihrem Blattwerk tatsächlich zur Gänze eingehüllt hatten. Ich bin lebendig begraben, dachte Jelto mit einer Mischung aus Entsetzen und Unverständnis. Besiegt von meinen eigenen Kindern? Warum …? Wieder schloss er die Augen, tastete zögernd nach ihrer Aura, erfüllt von Angst vor dem, was er darin finden mochte. Dann war der Kontakt hergestellt. Mit seinen mentalen Sinnen lauschte Jelto in das
ihn umgebende Blattwerk hinein. Und er verstand.
Sie hatten sich in der Zentrale versammelt. Commander John Cloud; Jarvis, der Mann mit dem unverwüstlichen Nanokörper; Scobee, die GenTec und neben Jarvis Clouds langjährigste Gefährtin; Aylea, die sie vor langer Zeit im Pekinger Ghetto aufgelesen hatten, und deren wacher Geist – Jarvis hätte altkluges Gehabe dazu gesagt – sowie ihr herausragender Intellekt ihr Alter von gerade mal zwölf Jahren eindrucksvoll relativierten; Algorian, der spindeldürre Aorii, dem man auf den ersten Blick wenig zutraute, dessen telepathischen Fähigkeiten ihn aber zu einem unersetzbaren Gefährten machten; und zu guter Letzt Cy, das zierliche Pflanzenwesen, lebender Beweis für die vielseitigen Ausprägungen, die intelligentes Leben annehmen konnte. Zwei Mitglieder der »Kernbesatzung« fehlten: der Narge Jiim und Jelto, der genoptimierte Pflanzenhüter. Keiner der anderen nahm den beiden ihre Abwesenheit übel. Alle wussten um die Aufgaben, die sie zu erfüllen hatten. Der Rest hatte sich versammelt, um sich zu beraten. Zu besprechen gab es viel, seit den jüngsten Ereignissen, die zur Entdeckung der treymorschen Brutschiffe geführt hatten – und zur Erkenntnis, dass diese den Plan verfolgten, eine Vielzahl von bewohnten Planeten der Milchstraße unter ihre Knute zu zwingen und zur Aufzucht ihrer Brut zu verdammen. Aylea, Algorian und Cy hatten in den Sarkophagsitzen Platz genommen, John, Scobee und Jarvis hatten sich vor ihnen aufgebaut, um jene Neuigkeiten zu verkünden, die sich in den letzten Stunden ergeben hatten. »Der Unterlichtantrieb der treymorschen Diskusschiffe weist eine charakteristische Emission auf, die sich nachverfolgen lässt. Und genau das«, beendete John seinen knappen Exkurs, »haben wir getan.« »Ja, und weiter?«, beschwerte sich Aylea in die Sekunden andauernde Stille hinein – womit sie sich einen tadelnden Blick ihres Kom-
mandanten einhandelte, sowie einen bissigen Kommentar von Jarvis. »Die heutige Jugend … Kein Sinn mehr für kunstvoll gesetzte, dramatische Pausen.« Schnell ergriff Scobee das Wort, bevor sich die beiden noch in einem ihrer von allen anderen Bordmitgliedern gefürchteten Wortgefechte verloren. »Um es kurz zu machen: Sesha hat einen Radius von rund 500 Lichtjahren gescannt und dabei tatsächlich Spuren entdeckt, die auf weitere Brutschiffe hindeuten. Einige davon müssen ihre Ziele bereits erreicht haben.« Wieder breitete sich Stille unter den Anwesenden aus – und dieses Mal verharrte auch Aylea in stummer Andacht. Sie alle hatten in der letzten Zeit genug gesehen und gehört, um zu wissen, was diese Neuigkeit zu bedeuten hatte. Wo die Treymor auftauchten, hinterließen sie nichts als verbrannte Erde. Dies war spätestens auf Rof, dem Planeten, den Algorian im Andenken an seinen verstorbenen Hassbruder so hatte nennen dürfen, deutlich geworden. »Worauf warten wir dann noch?«, meldete sich erneut Aylea zu Wort. »Wir müssen irgendetwas unternehmen!« John Cloud räusperte sich, während er und Scobee sich einen knappen Seitenblick zuwarfen. »Ich glaube nicht«, meinte er dann vorsichtig, »dass wir für die Welten, die bereits infiziert sind, noch sonderlich viel ausrichten können. Unsere Macht ist begrenzt, dieser Wahrheit müssen wir uns einfach mal stellen.« »Das heißt«, versetzte Aylea empört, »ihr wollt das Vorgehen dieses … dieses Ungeziefers einfach ignorieren? Dabei zusehen, wie es seinen Siegeszug fortsetzt und ein Volk nach dem anderen auslöscht?« »Keineswegs«, wies Cloud den Vorwurf zurück. »In der Tat halten wir es für sinnvoll, Kurs auf die Koordinaten zu nehmen, bei denen wir eines der Ziele der Brutschiffe vermuten. Wir werden allerdings nicht unmittelbar eingreifen. Wir werden beobachten, versuchen,
mehr über unsere Gegner in Erfahrung zu bringen und eventuelle Schwachstellen ausloten. Für die Ureinwohner der betroffenen Welten können wir nichts tun, aber wir können versuchen, die weitere Ausbreitung der Käferartigen zu verhindern. Die Treymor sind eine Bedrohung für die gesamte Galaxie. Vielleicht gelingt es uns, Allianzen zu schmieden, Informationen zu sammeln und dies gegen die Käferartigen einzusetzen.« Cloud hielt inne, sah in die Runde und wusste sofort, dass sein Vorschlag auch bei den anderen Besatzungsmitgliedern auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde. Er kannte seine Gefährten lange genug, hatte genügend Abenteuer und Gefahren mit ihnen überstanden, um ihre nonverbalen Reaktionen deuten zu können. Algorian setzte an, um noch etwas zu sagen – als plötzlich eine Gestalt durch das Türschott der Zentrale hereinstürmte. Cloud dachte zunächst an Jiim, der es sich möglicherweise doch nicht nehmen lassen wollte, der Konferenz beizuwohnen, doch als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf einen Mann, den er am wenigsten auf der Rechnung gehabt hatte. Es war einer der Angks, der keuchend und abgehetzt knapp hinter der Türschwelle zum Stehen kam und mit flackerndem Blick in die Runde sah. Sooks war sein Name. Cloud und die anderen kannten ihn gut, seit er gemeinsam mit Jelto die Sende- und Empfangsanlage gebaut hatte, die zur Entdeckung des einst von pilzartigen Pflanzenwesen bevölkerten – und von den Treymor zu einem Brutplaneten umfunktionierten – Planeten Rof geführt hatte. »Etwas … Entsetzliches … ist passiert«, stieß der unscheinbare Angk zwischen hektischen Atemstößen aus. Cloud und die anderen tauschten knappe, verwunderte Blicke. Jeder schien zu ahnen, was Sooks plötzliches Auftauchen zu bedeuten hatte. Bestimmt hatte es etwas mit dem flüchtigen Fraktalengeschöpf zu tun, das nach seinem spurlosen Verschwinden möglicherweise noch immer an Bord herumgeisterte und Gott weiß was im Schilde führte. Immerhin war es Cloud selbst gewesen, der den Angks die Suche nach dem bizarren Geschöpf aufgetragen hatte.
»Atme doch erst einmal durch«, empfahl er Sooks schließlich, der noch immer um Luft rang und sich offenbar nicht entscheiden konnte, ob er diese vorrangig der eigenen Sauerstoffversorgung oder der Formulierung verständlicher Worte zuführen wollte. Sooks nickte, folgte dem Vorschlag des Commanders, setzte dann erneut an. Was er sagte, überraschte jeden der Anwesenden, denn damit hatte keiner gerechnet. »Es ist Jelto!«, schnappte Sooks. Und, hörbar von seinen eigenen Worten bewegt, fügte er hinzu: »Ich glaube, … er ist tot …«
»Hier ist es!«, erklärte Sooks mit bebender Stimme, während er auf den Wust der Pflanzenstränge deutete, die sich wie eine bizarre Skulptur aus der von Jelto eigenhändig angelegten Vegetation erhoben und dabei grob menschenähnliche Umrisse andeuteten. Es sieht tatsächlich aus wie ein Grab, ging es John durch den Kopf, begleitet von einem unangenehmen Schauder. Noch während er sie ins Dorf geführt hatte, hatte Sooks erklärt, was er beobachtet hatte. Nachdem Jelto sein Hilfsangebot abgelehnt hatte, war er zunächst schmollend zurück ins Dorf getrottet, hatte dort hin und her überlegt und dann doch einen Grund gefunden, warum Jelto auf gar keinen Fall auf seine Hilfe verzichten konnte. Er war sofort zurück zur Lichtung geeilt. Und dort, aus einer Entfernung von rund zweihundert Metern, hatte er den unheimlichen Vorgang beobachtet. John Cloud musste einige Male nachfragen, ehe er den wirren Worten des Angks einen Sinn entnehmen konnte, aber es war wohl so gewesen, dass mehrere der von Jelto gehüteten Pflanzen aus heiterem Himmel eine Attacke auf den Florenhüter gestartet hatten. Wenn Sooks nicht übertrieb und seine Fantasie nicht mit ihm durchging, dann war Jelto zunächst von einem frei liegenden Wurzelstrang gepackt, in die Höhe geschleudert und rund zwanzig Meter weiter zu Boden geworfen worden. Als wäre das noch nicht ab-
surd genug gewesen, war danach die eigentliche Attacke erfolgt. Diese wiederum hatte Sooks in solch ausschweifenden Worten beschrieben, dass Cloud es sich plastisch vorstellen konnte. Anscheinend hatten sich mehrere Äste, Zweige und Pflanzenstränge der Umgebung blitzschnell in Bewegung gesetzt, sich auf den am Boden liegenden Florenhüter gestürzt und diesen in Sekundenschnelle wie einen Kokon eingehüllt. »Was ist nur in sie gefahren?«, hatte Sooks auf dem Weg ins Dorf immer wieder geseufzt. Und obwohl er den seltsamen Pflanzenkokon bisher als Einziger gesehen hatte, schien ihn sein erneuter Anblick am meisten zu schockieren. Vielleicht, weil es den anderen, zu Hilfe geilten Besatzungsmitgliedern schwerer fiel, sich vorzustellen, dass es tatsächlich ihr Freund und Gefährte Jelto war, der unter dem undurchdringlich erscheinenden Dickicht lag. Cloud und Scobee tauschten einen ratlosen Blick, während Aylea ein ungläubiges Keuchen ausstieß. »Jelto?« Den Namen des Freundes rufend, warf sie sich vor der bizarren Pflanzenskulptur auf die Knie. Erst sah es so aus, als wolle sie sich mit bloßen Fingern einen Weg durch das Geäst bahnen. Doch dann besann sie sich eines Besseren, drehte sich um und musterte Jarvis mit einem flehenden Blick. »Du musst etwas unternehmen. Wenn er wirklich da drunter ist, hat er nicht mehr viel Sauerstoff.« Wenn er überhaupt noch lebt, fügte Cloud stumm hinzu, biss sich jedoch im selben Moment auf die Zunge. Dabei war der Gedanke durchaus berechtigt. Nach allem, was Sooks erzählt hatte, war Jelto von der Vegetation regelrecht attackiert worden. Und welchen Zweck hätte die außer Kontrolle geratene Natur damit verfolgen sollen, wenn nicht den, Jelto zu töten? Jarvis zögerte noch, unschlüssig, wie er dieses abstruse Phänomen einordnen sollte. »Was, denkst du, ist hier passiert?« »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Cloud, ohne den Blick von dem Pflanzengrab zu nehmen, und wandte sich dann übergangslos
an Sooks. »Was, zur Hölle, hat Jelto hier nur gemacht?« Sooks zuckte mit den Achseln und sah dabei so elend aus, als habe er selbst Jeltos Malheur zu verantworten. »Jelto hat mir keine Einblicke in seine Arbeit gegeben. Ich habe ihm immer wieder meine Hilfe angeboten, aber er hat nur abgelehnt.« Cloud runzelte die Stirn. Der Florenhüter hatte lebenslange Erfahrung im Umgang und der Aufzucht selbst exotischster, ja sogar potenziell gefährlicher Pflanzen. Oft unbeholfen in der Kommunikation mit seinen eigenen Artgenossen, hatte er stets den Eindruck vermittelt, dass er genau wusste, was er tat, wenn es um seine grünen Freunde ging. Cloud hatte ihm gar einen eigenen Bereich an Bord der RUBIKON überlassen, an dem er nach eigenem Gutdünken schalten und walten konnte. Jelto hatte einen hydroponischen Garten darin errichtet, in dem er nach Herzenslust experimentieren konnte. Nie zuvor war es zu einem derartigen Missgeschick gekommen. Hatte er dieses Mal den Bogen überspannt? Hatte ihn seine Arbeit zu irgendwelchen gefährlichen Experimenten verleitet? Sie würden es nie erfahren, wenn es ihnen nicht gelang, den Pechvogel aus seiner misslichen Lage zu befreien. Cloud drehte sich um und wandte sich an Jarvis. »Könntest du versuchen, die Pflanzendecke zu durchstoßen? So, dass du Jelto nicht Gefahr bringst?« »Unter normalen Umständen schon«, gab der ehemalige GenTec zurück, während er das wuchernde Dickicht misstrauisch beäugte. »Dieses Gemüse hier scheint mir allerdings alles andere als normal zu sein …« Cloud ahnte, worin Jarvis Sorge bestand. Wenn er versuchte, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, konnten die Pflanzen dies als Aggression werten und sich ebenso gewaltsam zur Wehr setzen. Gegen Jarvis, gegen Cloud und gegen alle anderen, vielleicht aber auch gegen Jelto, der, wenn er noch lebte, der Gewalt des Dickichts schutzlos ausgeliefert war.
»Versuchen müssen wir's«, beschied Scobee, die diesem Phänomen ebenso ratlos gegenüberstand wie ihre Gefährten. »Wir können ihn ja schlecht da drin lassen.« »Nee, geht gar nicht«, stimmte Jarvis flapsig zu. »Wenn's unsere Miss Vorlaut wäre, würde ich's mir noch mal überlegen, aber Jelto brauchen wir noch …« »Idiot!«, zischte Aylea ihm zu, und auch John signalisierte mit einem Stirnrunzeln, dass er diese Bemerkung als überflüssig betrachtete. Dann wandte er sich an Algorian. »Kannst du versuchen, telepathisch Kontakt zu ihm aufzunehmen? Herauszufinden, ob er noch lebt?« »Genau das versuche ich seit unserer Ankunft«, versetzte der Aorii, der in den letzten Minuten verdächtig still geworden war. »Und?«, fragte Aylea ungeduldig. Algorian atmete tief durch, zuckte dann die kantigen Schultern in einer Geste, die er sich bei den menschlichen Besatzungsmitgliedern abgeschaut hatte. »Nichts … Entweder, seine Gehirnströme werden von diesem Pflanzenkokon abgeschirmt, oder …« Oder, sein Gehirn hat seine Funktion bereits eingestellt, beendete Cloud in Gedanken den Satz. Erneut wandte er sich an Jarvis. »Wie's scheint, haben wir wenig zu verlieren.« »Na gut, packen wir's an.« Jarvis war gerade dabei, seine Extremitäten zu messerscharfen Häckselgeräten auszubilden, als es geschah. Als würde der bloße Anblick der Schneidwerkzeuge ausreichen, um das Pflanzendickicht in Angst und Schrecken zu versetzen, zog es sich augenblicklich von ganz alleine zurück. Schnell, aber ohne besondere Eile, löste sich ein Strang nach dem anderen aus dem Verbund, kroch über den Boden und zog sich in seine ursprüngliche Position zurück. »Was geht denn jetzt ab?«, zischte Aylea ungläubig, während die anderen das seltsame Treiben mit stummer Verwunderung beobachteten. Minuten vergingen, bis sich das Dickicht vollständig entfernt hat-
te, und jenen leblosen Körper freigab, den es bis eben verborgen hatte. Sooks hatte nicht gelogen. Es war tatsächlich Jelto, der bäuchlings vor ihnen lag, die Augen geschlossen hatte und durch nichts zu erkennen gab, dass er noch lebte. Während die anderen sich vorsichtig näherten, gab es für Aylea kein Halten mehr. Den Namen des Freundes rufend, sank sie vor ihm zu Boden, legte ihr Ohr an seinen Körper, um seinen Puls zu überprüfen. Sekundenlang verharrte sie in dieser Position, dann erhob sie sich wieder und wandte sich mit tränenfeuchten Augen den anderen zu. »Er ist tot …« »O nein …!«, rief Sooks erschrocken aus. »Ich hab's doch gesagt! Ich hab's gesagt!« Cloud und Scobee stürzten gleichzeitig zu Jelto, ließen sich neben Aylea nieder, um ihre Diagnose zu überprüfen – als plötzlich ein Schütteln durch den Körper des Florenhüters ging, dicht gefolgt von einem krächzenden Husten, mit dem er schließlich den Kopf hob, um sich kurz darauf umständlich auf den Rücken zu drehen. »Was ist denn hier los?«, fragte Jelto, als er die Blicke der anderen sah. »Ist jemand gestorben?« »Jelto!« Da hatte sich Aylea auch schon auf ihn geworfen – ungeachtet eventueller Rippenbrüche oder Verstauchungen, die er sich bei seinem unfreiwilligen Sturz und der anschließenden Attacke zugezogen haben mochte. »Hey, hey …!«, rief Jelto halb erfreut, halb verdutzt, als Ayleas Gewicht ihn zurück auf den Boden drückte. »Ich glaube, ich muss mich öfter mal rar machen.« »Was ist denn nur passiert?«, fragte Scobee, nachdem Ayleas Wiedersehensfreude so weit abgeklungen war, dass Jelto wieder halbwegs frei atmen konnte. In knappen Worten schilderte er, was ihm widerfahren war. Seine Erzählung deckte sich größtenteils mit der von Sooks, der seine Worte mit zustimmendem Nicken begleitete. »Und du hast keine Ahnung, was in sie gefahren ist?«, fragte
Cloud, nachdem Jelto geendet hatte. »Zunächst nicht«, erwiderte Jelto. »Auch auf mich hat es erst mal so gewirkt, als würden sich die Pflanzen gegen mich wenden. Mich hat das sofort irritiert, weil ich keinerlei Aggression in ihrer Aura wahrgenommen habe. Dann, während sie mich umhüllten, erinnerte ich mich an das, was ich kurz vor der Attacke gesehen hatte.« »Du meinst, dieses Flimmern in der Luft, das du zu Beginn deiner Ausführungen kurz erwähntest?«, fragte Algorian. »Ganz genau. Erst glaubte ich, dass mir meine Sinne einen Streich spielten. Immerhin habe ich heute ziemlich lange gearbeitet, war mental etwas ausgelaugt … Nun ja … Aber als ich dalag und mich dieser Pflanzenteppich fast vollständig umhüllt hatte, da habe ich noch mal kurz aufgeblickt. Durch eine Lücke im Blattwerk habe ich es dann gesehen. Ich habe mich nicht getäuscht. Etwas hat sich mir unsichtbar genähert. Wahrscheinlich hat es mich schon eine ganze Weile beobachtet und dann beschlossen, zuzuschlagen. Wenn mich dieser provisorisch errichtete Schutzpanzer nicht vor seinem Zugriff bewahrt hätte, dann …« »Du meinst«, fragte Scobee verwundert, »Sinn der Pflanzenattacke war es, dich vor etwas anderem zu beschützen …?« »Genau das will ich damit sagen. Ich weiß nicht, ob die Pflanzen aus eigenem Antrieb heraus gehandelt haben. Möglicherweise war es mein Einfluss, mein Instinkt, der die Gefahr witterte, bevor mein Verstand sie wahrnehmen konnte – und sich dann der Vegetation bedient hat, um mich zu beschützen.« »Was war es denn nun, was du gesehen hast?«, fragte Aylea ungeduldig. Jelto wollte zu einer Antwort ansetzen, als Cloud ihm bereits zuvor kam. »Es war der Fraktale …« Die anderen starrten ihn fassungslos an, doch Cloud ignorierte sie und hielt Blickkontakt mit dem Florenhüter. »Richtig …?« Jelto öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hielt dann inne und nickte lediglich. Cloud schloss kurz die Augen.
»Ich wusste es. Wir haben also einen Feind an Bord. Und wie es aussieht«, fügte er grimmig hinzu, »hat er den Waffenstillstand nunmehr aufgekündigt …«
2. Commander John Cloud dachte noch lange über seine letzten Worte auch. Auch dann, als er der RUBIKON den Befehl gab, die von der KI georteten Zielkoordinaten des Diskus-Raumers anzusteuern. Und selbst dann noch, als er am Abend in Assurs Bett lag, eng an sie geschmiegt, und ihre Haare ihn in der Nase kitzelten. Es dauerte nicht lange, bis die Angk seine Abwesenheit bemerkte. Sie erhob sich, ließ das Laken von ihren nackten Schultern gleiten und sah ihn besorgt an. »Was ist los mit dir? Wo bist du gerade?« »Wieso, ich bin doch schon die ganze Zeit hier bei dir.« Cloud zwang ein Lächeln in sein Gesicht, musste sich jedoch eingestehen, dass ihm diese Mimik fast schon Schmerzen bereitete und auf seine Gefährtin alles andere als glaubhaft wirken konnte. »Dir lastet doch irgendetwas auf der Seele. Gib dir keine Mühe! Ich kenne dich inzwischen zu gut, als dass du etwas vor mir verbergen könntest.« Cloud atmete tief durch. Er, Scobee und die anderen Mitglieder der Kernbesatzung hatten beschlossen, den anderen zunächst nichts von Jeltos unheimlicher Begegnung zu erzählen. Sie sahen vorerst keinen Sinn darin, die Pferde scheu zu machen, zumal der angkstämmige Teil der Bordbesatzung ohnehin bereits in Alarmbereitschaft versetzt war. Wenn sich die Bestie wirklich im Dorf der Angks aufgehalten hatte – wofür der letzte Beweis längst nicht erbracht war – hatte sie sich höchstwahrscheinlich ohnehin wieder aus dem Staub gemacht, sich vermutlich in weit entfernte Teile des Schiffes zurückgezogen. »Ist es wegen den Treymor? Du hast Angst vor dem, was uns an unserem Zielort erwartet, nicht wahr?« Cloud überlegte kurz.
»Ja«, sagte er dann mit belegter Stimme. Die Antwort schien Assur zufrieden zu stellen. Nickend ließ sie sich zurück in die Laken sinken, schwang ihre Arme um den Gefährten und drückte sich an ihn. »Wir leben in einer kalten und grausamen Zeit«, sagte sie dann leise, als würde es ihr gerade erst selbst so richtig bewusst werden. »Die Mächtigen setzen ihre Interessen rücksichtslos durch. Alleine, weil sie es können und sich ihnen niemand in den Weg stellt.« »Das«, meinte Cloud trocken, »war schon immer so. Was die gegenwärtige Situation von vergleichbaren in der Vergangenheit unterscheidet, sind die Ausmaße, in denen dieses geschieht. Die Treymor sind ausgesprochen stark …« … wenn auch hoffentlich nicht unbesiegbar, fügte Cloud in Gedanken hinzu. Unwillkürlich kam ihm Cronenbergs Armee in den Sinn, die mehrere der Treymor-Schiffe gekapert hatte und nun für ihre Zwecke nutzte. Glücklich war Cloud darüber allerdings nicht. Nur noch eine weitere Partei im Kampf um die Vorherrschaft in diesem Abschnitt des Universums. Dieser Krieg wird an mehreren Fronten geführt, und wir befinden uns mittendrin. Der Gedanke an Cronenberg und seine Machtspielchen brachte ihn zurück zu den Fraktalen und von dort aus wieder zu dem Monstrum, das sie durch ihre eigene Unachtsamkeit erst erschaffen hatten. Damit schloss sich der Kreis. Cloud lächelte, und diesmal musste er sich nicht dazu zwingen. Das Gespräch mit Assur hatte Ordnung in seine sich überschlagenden Gedanken gebracht. Seine Stimmung war deshalb nicht besser, aber zumindest fühlte er sich nun weniger aufgewühlt als noch zuvor. Wortlos erwiderte er Assurs Liebkosungen. Kurz darauf versanken sie in einem Taumel, der ihn für kurze Zeit all die Probleme, die sich vor ihm auftürmten, vergessen ließ.
Der Flug zu den Zielkoordinaten gestaltete sich dermaßen ereignis-
los, dass Cloud sich fast wünschte, es käme endlich zu einer alles entscheidenden Konfrontation mit dem fraktalen Biest – ganz gleich, wie diese auch ausgehen mochte. Das Wissen um eine Bedrohung, die sich verbarg, die im Hintergrund lauerte, zerrte an den Nerven und zehrte an der Stimmung. Die Angks hatten auf seinen Wunsch hin die Suche nach der Bestie ausgeweitet, obwohl Cloud ihnen noch immer nichts von Jeltos Begegnung erzählte. Algorian, bemühte sich, ihnen mit seinen telepathischen Fähigkeiten behilflich zu sein. Aber was konnte ein einzelner Aorii schon ausrichten, wie er selbst immer wieder betonte. Jelto hatte sich trotz allem rasch wieder der Begrünung des Angk-Dorfes zugewandt – dieses Mal jedoch, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, in der Gesellschaft von Sooks, der wissbegierig jeden Handgriff seines Lehrmeisters studierte. Doch auch Jelto war rasch zur Stelle, als der Commander die Kernbesatzung der RUBIKON in die Zentrale rief, um sie von ihrer Ankunft bei den Zielkoordinaten zu informieren. Alle waren auf das Schlimmste gefasst. Die Angst vor dem, was sie dort vorfinden mochten, stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als Cloud verkündete: »Wir haben unser Ziel erreicht.« »Und?«, fragte Jiim in die folgende Stille hinein. »Was befindet sich nun bei den abgemessenen Koordinaten, dem Ziel der Diskusschiffe?« Clouds warf noch einen ausgiebigen Blick in die Runde, bevor er eine Antwort gab, die Ratlosigkeit hinterließ: »Nichts …«
Stille machte sich breit, fragende Blicke wurden ausgetauscht, bis wieder einmal Aylea das Schweigen brach. »Was meinst du mit – nichts?« Cloud räusperte sich, warf einen kurzen Seitenblick ins Scobees Richtung, bevor er sich wieder der Zwölfjährigen zuwandte. »Am Zielort der Diskusschiffe befindet sich kein Planet, kein Raumschiff
– buchstäblich nichts.« »Wohin«, fragte Algorian irritiert, »sind die Diskusse dann aufgebrochen? Und vor allem: Wohin sind sie verschwunden?« »Die ganze Sache ist uns ein einziges Rätsel«, sagte Scobee. »Und nicht nur uns, wohlgemerkt. Auch die KI hat bislang keinen Vorschlag, was es damit auf sich haben könnte.« »Ich arbeite daran«, ließ Sesha wie auf Kommando vernehmen. »Das war's fürs Erste«, beendete Cloud das Treffen. »Wie jetzt?« fragte Aylea ungläubig. »Das soll alles gewesen sein? Sollten wir nicht alles unternehmen, um das Rätsel zu lösen?« »Du kannst gerne eine Arbeitsgruppe bilden und uns dann Bericht erstatten«, ätzte Jarvis, dem das altkluge Gehabe manchmal zu viel wurde, obwohl er selbst leidenschaftlich gerne Nerven strapazierte. John Cloud ergriff das Wort, bevor die Situation eskalieren konnte. Die Nerven lagen ohnehin schon blank, und es genügte ein kleiner Funke, um einen handfesten Streit zu entzünden. »Selbstverständlich sind uns eure Vorschläge stets willkommen. Im Moment halte ich es jedoch für sinnvoll, dass wir Seshas Analyse abwarten und dann entscheiden, wie wir mit dieser Situation umgehen. Wir …« »Ortungsergebnis!«, vermeldete Sesha wie aus heiterem Himmel. Cloud hatte Mühe, seine Mimik unter Kontrolle zu halten, denn mit einer so plötzlichen Rückmeldung der KI hatte er nicht gerechnet. Alle drehten sich um, wandten sich der Holosäule zu, in der just in diesem Moment zu sehen war, was die KI mit ihren Sensoren geortet hatte. Staunen zeichnete sich auf den Gesichtern der Anwesenden ab. Es war Jarvis, der es in Worte fasste. »Ich fürchte«, sagte er leise, »wir bekommen Besuch …«
Sekundenlang starrten alle wie gebannt auf das Raumschiff, das unvermittelt in der Holosäule aufgetaucht war. Und das unverkennbar die charakteristische X-Form der Treymor-Schiffe aufwies.
»Wo ist es nur her gekommen?«, fragte Aylea. »Ich weiß nur, wo es eben noch nicht war«, gab Cloud zurück. In der Tat. Das Schiff war buchstäblich aus dem Nichts gekommen. »Zweifellos haben wir es hier mit einer Art Tarnfeld zu tun«, sprach Scobee das Offensichtliche aus. »Die Frage ist nur, welcher Natur es ist …« Cloud dachte sekundenlang darüber nach. Der Begriff Tarnfeld löste eine wahre Assoziationskette in ihm aus. Schließlich wandte er sich erneut an die KI. »Sesha, hast du schon versucht, die Umgebung nach derselben Manier zu scannen, wie damals im Heimatbereich unseres Freundes Boreguir?« »Nein«, gab die KI unverwandt zurück. »Du hast mich bisher nicht dazu aufgefordert.« »Dann tu es jetzt.« Sekunden vergingen, wurden zu Minuten, in denen die Anwesenden schweigend ausharrten, bis Sesha erneut Rückmeldung erstattete. »Operation ausgeführt. Ortung erfolgreich.« »Geht es auch etwas genauer?« »An den Zielkoordinaten befindet sich ein Himmelskörper. Dieser wird tatsächlich von einem saskanischen Tarnfeld verborgen gehalten.« »Versuch, dich dem Wahrscheinlichkeitslevel des Objektes anzupassen.« »Verstanden.« Alle starrten gebannt in die Holosäule, in der außer dem sich immer weiter entfernenden X-Schiff nach wie vor nichts zu sehen war. Bis es geschah. Die Holosäule vibrierte kurz wie ein Wasserfall, der von einer Erschütterung erfasst wurde. Der Schleier lüftete sich. Und gab sein Geheimnis preis.
Geradezu ehrfurchtsvoll nahmen die Anwesenden wahr, was der von Sesha überwundene Tarnschirm preisgab. Es war ein Planet von ungefährer Erdgröße, wie die ersten Ortungsdaten verrieten, die Sesha in die Holosäule einspielte. Oberflächenscans der ihnen zugewandten Seite ließen zwei von Ozeanen umspülte Landmassen erkennen. Einige Gebirge waren darauf auszumachen. Doch für derartige Einzelheiten hatte John momentan keinen Blick. Was seine Aufmerksamkeit bannte, war das, was sich im Orbit des Planeten abspielte. Treymoreinheiten! Unzählige von ihnen. Sie umschwärmten den Planeten wie Fliegen einen verwesenden Kadaver. Wahrlich kein schlechter Vergleich … Cloud wurde bei diesem Gedanken die Brust eng. Für ihn bestand kein Zweifel, dass die Treymor sich auch diesen Planeten nur zu einem Zweck Untertan gemacht hatten. Um ihn zu einem ihrer Brutplaneten umfunktionieren, genauso wie sie es mit Rof, dem Planeten der pilzartigen Wiederkeimer, gemacht hatten. Und, als hätte es eines weiteren Beweises bedurft, hatte er am Rande des Bildbereichs der Holosäule auch schon ein auf die Entfernung winzig kleines Objekt ausgemacht, dessen charakteristische Form er dennoch zu erahnen glaubte. Er bat Sesha, es näher heranzuzoomen. Ein kleinerer Bildausschnitt entstand, in dessen Zentrum sich genau das manifestierte, womit Cloud gerechnet hatte. Ein Diskusraumer. Eines jener verfluchten Schiffe, in denen die Treymor ihre Brut zu weit entfernten Welten transportierten, die sie dann in Beschlag nahmen, deren Einwohner sie versklavten, sie als Ressource zur Aufzucht missbrauchten! Cloud biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er das Diskusschiff attackiert, es zum Abschuss frei gegeben. Aber wem hätte dies genutzt? Den saskanischen Bewohnern des Planeten gewiss nicht. Cloud benötigte keine weiteren Informatio-
nen, um zu erkennen, dass seine Inbesitznahme durch die Käferartigen weit fortgeschritten war. »Verdammt!« Es war Jarvis, der diesen Fluch ausstieß. »Machen diese Typen denn vor nichts halt?« Cloud schüttelte bedauernd den Kopf. »Ihr Plan ist bereits weiter fortgeschritten, als ich befürchtet habe. Hier jedenfalls können wir nichts ausrichten. Wir können nur versuchen, ihnen weiterhin Steine in den Weg zu legen. Ihre weitere Ausbreitung in der Milchstraße zu verhindern.« »Sollen wir nicht wenigstens eine Sonde runterschicken, um Informationen einzuholen«, fragte Aylea Cloud überlegte kurz. Es war riskant, die Gefahr einer Entdeckung nicht ausgeschlossen. Dennoch, Aylea hatte recht. Wenn sie den aussichtslosen Kampf wirklich aufnehmen wollten, konnten sie über gar nicht genug Informationen verfügen. Er gab Sesha den Befehl, die Sonde bei nächstbester Gelegenheit auszusenden. Die Bilder, die sie wenig später in die Holosäule gespielt bekamen, bestätigten Johns schlimmste Befürchtungen. Die Treymor hatten den Planeten vollständig in ihrer Gewalt, hatten die saskanischen Ureinwohner versklavt, die ihnen nur noch als Ressource für ihre heranwachsende Brut diente. Jene Brut, die aus den während des Fernflugs an Bord der Diskusraumer in Stasis gehaltenen Eiern hervorgegangen war. Schreckliche Szenen spielten sich vor den Augen der Anwesenden ab. Bilder, die von einer Verachtung allen Lebens zeugten, das nicht treymorscher Natur war. Und da wusste Cloud, dass auch dieser Welt nicht mehr zu helfen war. Er wies Sesha an, die Holosäule auszuschalten. Dann bat er alle anderen, die Zentrale zu verlassen. Er hatte fürs Erste genug Zeit damit verbracht, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die er mit seinen Möglichkeiten ohnehin nicht ändern konnte. Er beschloss ganz spontan, sich als nächstes einem völlig anderen, ihn wesentlich unmittelbarer betreffenden Problem zuzuwenden …
3. Wo bist du? Die Worte hallten in seinen Gedanken nach. Wie ein Echo, das von den Wänden des ihn umgebenen Sarkophags zurückgeworfen wurde. Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf. Erzeugt von jenem künstlichen Bewusstsein, das eins war mit ihm und seinen Gedanken. Das Bewusstsein der KI, das ihm nach unzähligen mentalen Verschmelzungen mittlerweile fast so vertraut wie sein eigenes war. Jedes Mal wenn er glaubte, das Schiff in all seinen Eigenheiten durchschaut zu haben, gab es Momente, in denen es ihm wiederum fremd, fast schon bedrohlich erschien. So wie jetzt. In immer schnellerer Abfolge tauchten Räume und Gänge vor ihm auf. Orte, die er noch nie gesehen hatte. Die ihm so fremd waren, dass sie sich auch auf einem anderen Planeten hätten befinden können. Die unglaublichen Ausmaße der ehemaligen Arche machten es fast unmöglich, sie in ihrer Gesamtheit zu erkunden. Auch heute noch gab es selbst für den alteingesessenen Kern der Ursprungsbesatzung viele weiße Flecken, die zu erforschen Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde. Und genau das war ihnen jetzt zum Verhängnis geworden. Ein Feind war unter ihnen. Sie hatten ihn selbst an Bord geholt. Ein Wesen, von dem sie geglaubt hatten, es kontrollieren zu können – und das sie trotz aller Vorsicht doch unterschätzt hatten. Eine Kreatur, deren Existenz so widernatürlich war, dass es Cloud schwer fiel, sie überhaupt als Lebewesen anzuerkennen. Wo bist du? Der Fluss der Bilder, der sein Bewusstsein durchströmte, war mittlerweile so schnell geworden, dass es schwer fiel, ihn noch als Kette
von Einzelaufnahmen wahrzunehmen, geschweige denn irgendwelche auszumachen. Räume, so leer und steril wie Krankenzimmer, wechselten sich ab mit Zimmern, die mit ihrer prunkvollen Ausstattung an Paläste erinnerten. Der sprunghafte Anstieg der Besatzung verlangte seinen Tribut. Ein paar der neuen Besatzungsmitglieder hatten sich mit seinem Einverständnis aus dem Dorf entfernt und andere Teile des Schiffes besiedelt; sie formten die dortigen Gegebenheiten nach ihren Bedürfnissen um und schufen sich eigene kleine Lebensräume, die John Cloud oft kaum weniger fremd waren als die der Foronen, jener uralten Spezies, die das Schiff einst erbaut hatte. Ein Schwindelgefühl stieg in ihm auf, während er versuchte, sich auf das sich vor ihm entfaltende Kaleidoskop zu konzentrieren, als plötzlich … »Stopp!« Obwohl ein bloßer Gedankenimpuls genügt hätte, um die KI zum Handeln zu bewegen, brüllte John ihr den Befehl förmlich entgegen. Die Schiffsinstanz reagierte umgehend und ohne jede Irritation. Übergangslos fror die Bildspur ein, verharrte auf einem Raum, der John an ein römisches Dampfbad erinnerte. Er hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Wie bei einer Doppelprojektion sah er noch immer jenes Bild vor sich, das ihn zum Stoppen der Bildspur bewegt hatte. Sein Puls raste. Eine dünne Schweißschicht breitete sich trotz des atmungsaktiven Anzugs auf seiner Haut aus, während er unwillkürlich den nächsten Befehl formulierte, diesmal jedoch auf einer rein mentalen Ebene. Zurück! Wieder setzte sich die Bildspur in Bewegung. Langsamer diesmal, fast im Zeitlupentempo, als würde die KI damit auf die kaum zu übersehende Erregung ihres Befehlshabers reagieren und versuchen, ihn auf diese Weise zu schonen. Schneller!, befahl Cloud, im Bewusstsein, dass es andernfalls Minuten dauern würde, bis er zu jenem Raum zurückgelangte, in dem er seine Entdeckung gemacht zu haben glaubte.
Die KI reagierte. Nun wieder im Sekundentakt ließ sie die einzelnen Räume an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Wobistduwobistduwo …? Clouds Mantra wurde jäh unterbrochen, als er erneut in das Antlitz des Geschöpfes starrte, das wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Der Geschöpfe, verbesserte er sich, denn in Wahrheit waren es wohl Dutzende, die sich in diesem absurden Organismus vereinten. Dutzende von Cronenbergs Elitesoldaten, seiner mit Abstand stärksten Waffe. Cloud hatte sie bereits zu spüren bekommen, als er nach dem Durchbrechen der Gesteinsschale, die wie ein Wall um die heutige Erde lag, durch Angehörige einer neuen, nun herrschenden Menschheit, entführt worden war. In einem der Residenztürme der ehemaligen Master hatte John zum ersten Mal die wahre Natur dieser Geschöpfe zu spüren bekommen. In Cronenbergs Domizil. Cronenberg … Johns Nemesis, die ihm, vulgär ausgedrückt, seit den Tagen der Invasion der Äskulapschiffe wie Scheiße an den Hacken klebte. Cronenberg der unerbittliche Massenmörder, der in Arabims Auftrag das Pekinger Ghetto dem Erdboden gleich gemacht hatte und der auf bizarre Art und Weise die Zeit überlistet hatte. Er, der in seiner Schaltzentrale hockte, wie die Spinne in ihrem Netz, hatte einen Fraktalen benutzt, um John unsägliche Schmerzen zu bereiten. Wie ein mittelalterliches Folterinstrument hatte der sich um seinen Brustkorb gelegt, hatte langsam zugedrückt … Cloud brach erneut der Schweiß aus, als er nur daran dachte. Dieser ziehende Schmerz, das langsame Brechen der Knochen … John wischte die Bilder beiseite. Nein, seine erste unmittelbare Begegnung mit einem Fraktalen war kein Erlebnis gewesen, das man irgendwann einmal seinen Enkeln erzählte. Nicht zuletzt deshalb war Cloud skeptisch gewesen, als Scobee ihn
gebeten hatte, die im Wrack des X-Schiffes geborgenen fraktalen Einzelteile an Bord bringen zu dürfen, um sie Tests zu unterziehen. Einerseits war es sicher hilfreich, Natur und Beschaffenheit dieser Kreaturen zu ergründen. Nicht nur, um eine bloße Neugier zu befriedigen, (von der sich auch Cloud trotz seiner unheimlichen Begegnung nicht befreien konnte), sondern um sich zu wappnen für weitere Begegnungen mit diesen Geschöpfen, was John für unausweichlich hielt. Cronenberg war nie zu unterschätzen. Das hatte er zum wiederholten Male bewiesen, als es ihm und seinen Schergen gelungen war, mehrere X-Schiffe der Treymor zu kapern, die völlig unvermittelt einen Angriff auf die neue Erde gestartet hatten. Clouds Sorge bezüglich der zu untersuchenden Fraktalen-Splitter hatte sich jedenfalls als begründet erwiesen, denn die einzelnen Teile waren in Sekundenschnelle zu einem bizarren Ganzen verschmolzen, das jeden Kommunikationsversuch verweigert und sich scheinbar in Luft aufgelöst hatte. Und jetzt war es wieder da. Sekundenlang schien es, als würden sich John und der Fraktale über die Distanz hinweg taxieren. So, als sei der Fraktale ebenso wie John selbst in der Lage, die Kanäle des Schiffes anzuzapfen und eine unsichtbare Verbindung zu dem Mann im Sarkophagsitz zu knüpfen. Das Ganze dauerte nur Sekunden, doch es genügte, um dem Mann von der Erde ein Gefühl zu vermitteln, als würde dieses Geschöpf ihn noch über die Entfernung hinweg mit seinem Wahnsinn vergiften. Dann war es auch schon wieder weg, ohne dass es auch nur einen Hinweis darauf gab, wohin es verschwunden war. Schweißgebadet und zitternd gab der Commander der KI den Befehl, den Sarkophagsitz zu öffnen. Sekunden später gab er Alarm.
Rotak hielt inne, ließ den Blick schweifen, wandte sich dann seinen beiden Begleitern zu, die ihn abwartend ansahen.
»Hier muss es sein«, meinte der Angk leise, aber voller Überzeugung. »Das ist die Stelle, die der Commander uns beschrieben hat. Die Stelle, an der ihm das Monstrum erschienen ist …« Algorian, der telepathisch begabte Aorii, sah sich unbehaglich in dem kargen Raum um. »Aber hier ist nichts«, meinte er dann so leise wie möglich, als könne er ihre Anwesenheit vor einem unsichtbaren Beobachter verbergen, wenn er nur im Flüsterton sprach. »Die Bestie tarnt sich«, entgegnete Rotak. »Sie tarnt sich gut. Sonst wäre es ihr nicht gelungen, der allwissenden Instanz des Schiffes ihren Tod vorzutäuschen …« Algorian nickte, während er ein leichtes Frösteln verspürte. Er dachte an Jelto, der die Macht des Wesens am eigenen Leibe zu spüren bekommen hatte. Er hatte berichtet, dass er kurz vor dem Auftauchen der Bestie ihre Anwesenheit gespürt hatte. Vielleicht lag es daran, dass auch der Florenhüter hochsensibel war, wenn auch auf eine andere Art und Weise als der Aorii. Vielleicht hätte Commander Cloud lieber ihn mitschicken sollen, als mich, dachte Algorian. Er selbst hatte bisher völlig versagt, wann immer er versucht hatte, einen Gedankenimpuls dieses sonderbaren Wesens zu empfangen. Andererseits … weshalb sollte ausgerechnet er etwas vollbringen, das Hunderten, nein Tausenden Angks und einer fast allmächtigen KI bisher nicht gelungen war? Dennoch … Angesichts der immensen Bedrohung, die irgendwo in den Tiefen des Rochenschiffes lauerte, war es angebracht, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Commander Cloud hatte dies zur vorrangigen Aufgabe erhoben, alles andere war zweitrangig geworden. Deshalb hatte sich John, unmittelbar nachdem er Alarm gegeben hatte, wieder in den Sarkophagsitz zurückgezogen, von wo aus er die Jagd überwachte und weiter Ausschau hielt, in der vagen Hoffnung, einen weiteren Blick auf die Bestie zu erhaschen – oder wenigstens irgendeinen Hinweis auf ihren Verbleib zu finden. Gleichzeitig war nahezu die gesamte Angk-Besatzung ausgeschwärmt, hatte sich an allen neuralgischen Punkten rund um den
Kernbereich der RUBIKON verteilt und arbeitete sich nun von dort aus in die Tiefen des Schiffes voran. Die Jagd war eröffnet, und Algorian war bereit, seinen Teil dazu beizutragen, so spärlich der auch ausfallen mochte. Der Aorii schloss die Augen, lauschte und versuchte das Gedankengewirr auszuschalten, das er von Rotak und anderen Crewmitgliedern empfing. Doch sosehr er sich anstrengte, darüber hinaus empfing er … nichts. Wenn die Bestie tatsächlich noch im Verborgenen lauerte, so hatte sie aus dem Erlebnis mit Jelto gelernt und ihre Tarnung weiter verbessert. Keine guten Aussichten … »Sie ist weg«, sagte Rotak, der normalerweise zu ausschweifenden Reden neigte, sich seit dem Betreten des Raumes jedoch erstaunlich wortkarg gegeben hatte. »Woher weißt du das?«, erkundigte sich Algorian, unschlüssig, ob er über diese Eröffnung nun erfreut oder enttäuscht sein sollte. Rotak antwortete nicht, sondern schloss die Augen, streckte seinen Arm aus und legte seine flache Hand auf die glatt polierte Wand zu seiner Linken. So verharrte er, horchte … Algorian wusste, dass die Angks über besondere mentale Fähigkeiten verfügten, die es ihnen erlaubten, auf eine Art und Weise mit dem Schiff zu verschmelzen, wie es nicht einmal Commander Cloud im Sarkophagsitz vergönnt war. So war es nicht verwunderlich, dass Cloud die neuen Besatzungsmitglieder gebeten hatte, die Speerspitze bei der Suche nach dem Fraktalengeschöpf zu bilden. Minutenlang geschah nichts, doch plötzlich ging ein Zucken durch Rotaks schlanke Gestalt. Es sah aus, als habe er einen kurzen, heftigen Stromschlag erhalten. Auf seinem Gesicht war jedoch nicht zu erkennen, ob diese Zuckungen mit Schmerzen verbunden waren. Es blieb vollkommen regungslos. Algorian sandte dem zweiten Angk, einem hageren Burschen mit struppigem Haar und einer auffälligen Hakennase, einen fragenden Blick zu, doch dieser winkte beschwichtigend ab. Algorian nickte verstehend, denn er wusste, was dieser ihm damit sagen wollte.
Rotak war eins geworden mit dem Schiff.
Noch im selben Moment, in dem Rotak sich in das künstliche, aber hochkomplexe Bewusstsein des Schiffes versenkt hatte, stürmte eine Flut an Bildern auf ihn ein. Sie alle zeigten Szenen diverser Ereignisse, die sich an Bord ereignet hatten. Manche lagen nur Minuten zurück, andere hatten sich vor Jahren ereignet, zu einem Zeitpunkt, an dem das Schiff noch im Besitz seiner Erbauer gewesen war. Das Gedächtnis der Instanz, der fast unbegrenzte Speicher der KI, vergaß nichts. Alles war abrufbar, wenn man nur wusste, welche Kanäle man anzapfen musste. Rotak hatte genügend Zeit gehabt, sich mit Seshas Bewusstsein vertraut zu machen. Ein Großteil der Jagd nach dem Monster hatte bisher darin bestanden, mit dem Schiff zu verschmelzen, es zu erforschen. Mittlerweile glaubte er, fast jeden Winkel zu kennen. Rotak versuchte, Einfluss zu nehmen auf die Bilder, die Sesha bereitwillig mit ihm teilte. Er versuchte, sie zu sortieren, zeitlich und räumlich einzuordnen. Nach und nach gelang es ihm, alles auszublenden, was sich nicht unmittelbar in dem Raum, in dem sie sich gerade befanden, abgespielt hatte – und den Rest nach seinem zeitlichen Ablauf zu sortieren. Und plötzlich sah er es! Für den Bruchteil einer Sekunde nur, dafür ganz deutlich und ohne jede Verzerrung. Es sah abscheulich aus, genau wie Commander Cloud es ihnen geschildert hatte. Seltsam verwachsen, alle Körperteile und Gliedmaßen vorhanden, aber irgendwie saß alles am falschen Fleck. Und obwohl es sich dabei um eine Aufzeichnung, um eine bloße Erinnerung der KI handelte, obwohl er und das Monster durch einen zeitlichen Graben von über einer Bordstunde voneinander getrennt waren, kam es Rotak so vor, als würde dieses Ding nur ihn anstarren. Und dann, im nächsten Moment, war es verschwunden. Als hätte es sich in Luft aufgelöst. Wieso?, fragte sich Rotak. Wieso hat es sich so offen gezeigt, wenn es
doch über die Fähigkeit verfügt, sich unserer Wahrnehmung – und der des Schiffes – zu entziehen? Sofort kam ihm der Gedanke an eine Falle in den Sinn, er verwarf ihn jedoch gleich wieder. Wenn die Kreatur plante, sich an der Besatzung zu vergreifen, wäre es wesentlich aussichtsreicher gewesen, ohne jede Vorwarnung aus dem Verborgenen heraus zuzuschlagen. Rotak ließ sich die Kreatur noch einmal zeigen. In Zeitlupe diesmal, darauf bedacht, jede Einzelheit ihres Verhaltens mit der Akribie eines Naturforschers zu studieren. Dabei interessierte ihn vor allem der Moment, in dem sich das Biest scheinbar in Luft auflöste, was in Wahrheit natürlich nur eine Täuschung sein konnte. Dass es dem Biest gelang, sich seiner eigenen Wahrnehmung und der der anderen Besatzungsmitglieder zu entziehen, konnte Rotak ja gerade noch verstehen. Dass jedoch nicht einmal die KI in der Lage war, es zu orten, war schwer zu begreifen. Er ließ sich das Verschwinden des Biestes noch einmal zeigen. Und ein weiteres Mal … Er versenkte sich dabei tiefer in das Schiff, als jemals zuvor, ließ sein Bewusstsein mit ihm verschmelzen und erlebte das Verschwinden der Bestie immer und immer wieder aufs Neue. Und plötzlich fiel ihm etwas auf. Etwas, das er die Dutzend Male zuvor übersehen hatte. Weil es nicht zu sehen war. Rotak spürte es mit den Sinnen des Schiffes. Es war wie eine schwache Emission, ein Vibrieren in der Luft, eine Verdichtung molekularer Teile an einer ganz bestimmten Stelle des Raumes. Jener Stelle, an der eben noch die Bestie gestanden hatte. Rotaks Herzschlag beschleunigte sich. Die Bedeutung dieser Entdeckung war gar nicht hoch genug einzuschätzen. Welchen Mechanismus, welches Tarnfeld das Monster auch immer nutzte, um sich unsichtbar zu machen, es hinterließ eine Spur! Eine Spur, bei der herkömmliche Messgeräte und Ortungssensoren versagten – nicht jedoch die mentale Fähigkeit eines Angks im geistigen Verbund mit dem Schiff. Rotak nahm alle Konzentration zusammen, ließ sich fallen, gab sich einen Moment lang vollständig auf. Es war wie eine außerkör-
perliche Erfahrung, in der sein Geist den Körper verließ und eins wurde mit seiner Umgebung, jeden Winkel des Schiffes beseelte. Und da sah er sie, längst vergangen, aber gespeichert in Seshas Erinnerung: die Emissionsspur, die das Monster beim Verlassen des Raumes hinter sich herzog! Rasch ließ er die Zeitspur weiterlaufen, immer schneller, folgte der Fährte in einem wahren Zickzackkurs bis in die entlegensten Winkel des Schiffes. Bis er das vorläufige Ende erreichte. Den Ort, an dem die Fährte aktuell endete. Und mit einem Mal wusste er, wo sich die Bestie versteckt hielt!
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Algorian leise. Obwohl sein besorgter Blick auf den in aufrechter Pose verharrten Rotak gerichtet war, galt die Frage dem Angk an seiner Seite. Die Frage war mehr als berechtigt. Algorian hatte in den letzten Minuten vergeblich versucht, in Rotaks Gedanken zu lesen. Es war als würde er gegen eine Barriere prallen. Eine unsichtbare Wand, die sich zwischen dem Angk und seiner Umgebung aufgebaut hatte. Und auch sein Äußeres gab Anlass zu Sorge. In Rotaks inzwischen weit geöffneten Augen war nur noch das Weiße zu sehen, und sein Körper wurde nach wie vor in regelmäßigen Abständen von spasmischen Zuckungen erfasst. Dies alles schien seinen Begleiter wenig zu beunruhigen, denn er schüttelte als Antwort auf Algorians Frage nur den Kopf. »Er hat Kontakt bekommen, das ist alles. Er zapft die Kanäle des Schiffes an und entlockt ihnen Informationen, die dem herkömmlichen Betrachter verborgen bleiben.« Algorian nickte, obwohl er sich unter den Worten des Angks nur wenig vorstellen konnte. Seit er an Bord der RUBIKON lebte, war Commander John Cloud der Einzige, der zu einer solch innigen Verschmelzung in der Lage war. Er konnte sich kaum vorstellen, dass es den Angks möglich war, in Bereiche vorzudringen, die selbst dem Commander verborgen blieben.
Sie waren schon ein seltsames und überaus faszinierendes Völkchen, diese im Angksystem beheimateten Nachkommen von Prosper Mérimée und dessen Gefolgschaft. Algorian fragte sich gerade, wie lange Rotaks Trance wohl noch andauern würde, als der Angk abrupt die Augen öffnete und sich dann den beiden Begleitern zuwandte, die ihn gespannt ansahen. »Ich weiß jetzt, wie wir die Bestie finden können …!«
John Cloud, Jarvis und Algorian hatten Mühe, mit den beiden vorauseilenden Angks Schritt zu halten. Es war, als würden die beiden von einer unsichtbaren Macht angetrieben, die ihnen Flügel verlieh. Und im Grunde war es ja auch so ähnlich. Cloud dachte kurz noch einmal an das Gespräch zurück, das er und Rotak vor wenigen Minuten in der Bordzentrale geführt hatten. Der Angk hatte ihm von der Emission erzählt, die er dank seiner außersinnlichen Wahrnehmung beim Verschwinden des Fraktalen angemessen hatte. Eine schwache – eine sehr schwache – elektronische Ausdünstung, die selbst Sesha entgangen war. Wobei man der KI zugute halten musste, dass ihre Sensoren nach den Spuren eines Lebewesens gesucht hatten und auf eine derart schwache künstliche Strahlung nicht wirklich geeicht waren. Cloud wusste schon, warum er die Angks um Hilfe gebeten hatte. Wie auch immer das Fraktalengeschöpf es anstellte, offenbar verfügte es über eine eingebaute Tarnkappe, die es jederzeit aktivieren konnte. Jetzt, da sie endlich wussten, wonach sie suchen mussten, würde ihm das nicht mehr viel nützen. Die Jagd, davon war John überzeugt, war in die entscheidende Phase getreten. Im Laufen hielt er seinen Blick auf das Peilgerät in seiner Hand gerichtet, in das Sesha im Sekundentakt die neusten Ortungsdaten einspielte. Dabei kristallisierte sich heraus, dass die Emissionsspur, die das Geschöpf hinter sich herzog, keineswegs lückenlos war, sondern immer wieder kurz unterbrochen wurde. Es schien, als würde sich die Spur umso rascher verflüchtigen, je schneller das Wesen durch
den Bauch des Schiffes jagte. Und im Augenblick war es sehr schnell. Gerade eben hatte der rote Punkt, der auf dem Display seinen aktuellen Standort markierte, noch in unmittelbarer Nähe des AngkDorfes aufgeblinkt, um kurz darauf hakenschlagend tiefer ins Innere des Schiffes vorzudringen. Sesha hatte mehrfach versucht, ihm auf seiner Flucht Steine in den Weg zu legen. Barrieren, etwa in Form von blitzschnell aus dem Boden schießenden Wänden, um ihm ein Weiterkommen zu erschweren. Einen Erfolg hatte sie damit bisher jedoch nicht erzielt. Das Wesen schien die Hindernisse vorauszuahnen, noch bevor sie überhaupt entstanden, sodass es ihm gelang, sie zielsicher zu umschiffen. John bekam allmählich eine Ahnung von den Fähigkeiten ihres Gegners, die die eines »gewöhnlichen« Fraktalen um ein Vielfaches zu übersteigen schienen. Es war, als habe sich durch die widernatürliche Verschmelzung ihre Macht potenziert und im Körper einer einzelnen, nahezu unbesiegbaren Kreatur vereint. Johns Sorgen waren jedenfalls nicht kleiner geworden, auch wenn sie jetzt wussten, wie sie das Wesen aufspüren konnten. Denn mit einer Frage hatten sie sich bisher noch überhaupt nicht beschäftigt: Was, wenn wir es gestellt haben? Mit Grausen dachte John an die erste Begegnung zurück. Die Kreatur hatte sich auf Scobee gestürzt und hätte wer weiß was mit ihr angestellt, hätte sich nicht Jarvis aufopferungsvoll dazwischen geworfen. Jarvis und sein Nanokörper waren es wahrscheinlich auch gewesen, was die Kreatur in den Untergrund gedrängt hatte. Wahrscheinlich hatte sie gespürt, dass die vermeintlich so leichte Beute sich durchaus zu wehren wusste und über Fähigkeiten verfügte, mit denen sie selbst ihr gefährlich werden konnte. Cloud war jedoch davon überzeugt, dass das Biest in der Zwischenzeit dazugelernt hatte. Möglicherweise hatte es sie aus der Deckung heraus beobachtet, sie studiert, um mehr über sie in Erfahrung zu bringen.
Auf leisen Sohlen hatte es sich dann Jelto genähert. Aber warum? Hatte es wirklich vorgehabt, ihn anzugreifen? Und wenn ja, weshalb hatte es das nicht schon früher getan? »Ich wollte ja schon immer mal an einem Marathon teilnehmen«, meinte Jarvis, nachdem sie den beiden Angks eine ganze Weile hinterhergehetzt waren. »Aber bringt das etwas?« Jarvis hatte mit seinem Einwand nicht ganz unrecht. Tatsächlich schien es, als sei ihnen der Fraktale stets einen Schritt voraus. Und nicht nur das. John hatte allmählich den Eindruck, als spiele er bewusst Katz und Maus mit ihnen. Als sei in Wahrheit nicht er der Gejagte, sondern die Dutzendschaft, die sich an seine Fersen geheftet hatte. »Ich weiß es auch nicht«, antwortete John dann wahrheitsgemäß. »Hast du eine bessere Idee?« »Na ja … Ich will nicht den Klugscheißer raushängen lassen …«, gab Jarvis zurück. »Wäre mir nie in den Sinn gekommen.« »Aber wenn dieses Biest weiß, dass wir hinter ihm her sind, könnte es dann nicht sein, dass es will, dass wir ihm folgen?« John nahm seinen Blick vom Peilgerät und sah den Gefährten verwundert an. »Du denkst an eine Falle?« Er verzichtete darauf zu erwähnen, dass ihm ein ähnlicher Gedanke auch schon gekommen war. »Wäre das denn so abwegig? Sieh dir doch nur mal an, in welche Richtung seine Flucht bisher geführt hat.« In die Untiefen der RUBIKON …, ging es Cloud durch den Kopf. »Schnurstracks weg vom Kernbereich des Schiffes«, sagte er laut, während sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. War es ein Fehler gewesen, die Zentrale nahezu unbewacht zu lassen? Handelte es sich bei der Flucht des Fraktalen tatsächlich nur um ein Ablenkungsmanöver? »Ich habe jedenfalls kein gutes Gefühl bei der Sache.« »Denkst du, ich? Bei der nächstbesten Gelegenheit heuere ich einen erfahrenen Fraktalenjäger an. Bis dahin müssen wir uns auf
unser Bauchgefühl verlassen und …« John hielt inne, als er im Augenwinkel mehrere Gestalten auftauchen sah, die ihnen an einer Kreuzung des Ganges entgegenkamen. Es handelte sich bei ihnen um einen weiteren Suchtrupp, bestehend aus Scobee und drei Angks, deren Namen er leider nicht kannte. »Hey, das hat ja bisher super geklappt«, ließ Scobee mit säuerlicher Miene vernehmen. Sie hielt ebenfalls ein Peilgerät in der Hand. »Wieso habt ihr euren Weg verlassen?«, erkundigte sich John, während er die ratlosen Blicke bemerkte, die sich Rotak und die anderen Angks zuwarfen. »Das fragst du?«, entgegnete Scobee aufbrausend. »Das Monster hat die Richtung geändert! Eigentlich müsste es an euch vorbeigekommen sein!« John ballte die Fäuste. Verärgert stellte er fest, dass er sich durch das Gespräch mit Jarvis hatte ablenken lassen und nicht mehr auf das Peilgerät geachtet hatte. Andererseits hatte er sich zu sehr auf Rotaks Ortungs-Sinn verlassen, der als eine Art lebendes Peilgerät die Vorhut übernommen hatte. Er warf einen schnellen Blick auf das Display – und erstarrte. Rasch hob er den Kopf und sah Scobee entgeistert an. »Es gibt keine Ortung mehr!« »Was du nicht sagst«, erwiderte Scobee. »Wenn du dein Peilgerät im Auge behalten hättest, wüsstest du, dass die Emissionsspur geendet hat. Und zwar …« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden unter sich. »… genau hier!« Clouds sagte nun nichts mehr, sondern wandte sich Rotak zu. Er verzichtete darauf, Scobees Worte zu wiederholen, die der Angk ohnehin gehört haben musste, auch wenn er einige Schritte entfernt bei seinen Gefährten stand. Jetzt löste er sich aus dem Pulk und kam achselzuckend auf John zu. »Wir haben ihn verloren.« »Er hat uns ausgetrickst«, meinte John. »Während wir ihm seit Stunden durch das Schiff hinterherrennen, hat er uns in eine Falle
gelockt. Wir …« Cloud kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, da ihm die KI ins Wort fiel. »Ich unterbreche nur ungerne, Commander …« »Was ist denn?«, blaffte Cloud in Richtung Decke, obwohl die Stimme von überall her gleichzeitig kam. »Es geht um den Gesuchten. Ich habe ihn soeben entdeckt …«
4. Minuten zuvor Jelto fiel auf, dass Aylea sich immer wieder unbehaglich umsah, während sie ihm beim Umsetzen eines kleinen Baumes half, der am Rande des hydroponischen Gartens eine neue Heimat gefunden hatte. Unwillkürlich hielt er in seiner Arbeit inne und warf seiner kleinen Freundin einen beruhigenden Blick zu. »Du musst keine Angst haben. Hier drin sind wir sicher. Deshalb hat John uns ja auch gebeten, erst einmal hier zu bleiben und den Garten nicht zu verlassen bis …« Bis sie die Bestie bezwungen haben. »Ich habe keine Angst«, protestierte Aylea. »Ich frage mich nur, wie lange wir uns noch hier verkriechen sollen!« Verwundert zog Jelto eine Augenbraue in die Höhe. »Ich dachte, du liebst es, mir hier Gesellschaft zu leisten. Sonst kannst du dich immer kaum trennen. Die Zeit im Garten ist jedes Mal wie ein Kurzurlaub, hast du immer gesagt.« »Schon … Sonst tue ich es ja auch freiwillig. Jetzt …« »Jetzt hast du das Gefühl, dass du es tun musst, weil man es dir gesagt hat.« Jelto nickte verstehend. »Du hast ein Problem mit Autorität.« »Schon klar, dass du das nicht verstehen kannst«, versetzte sie schnippisch. »Du hast ja dein Leben lang nur getan, was andere dir gesagt haben!« Jelto merkte, dass ihr die Worte bereits in dem Moment leid taten, in dem sie ihren Mund verließen. Sie sah aus, als hätte sie sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen. »Hey, das kam jetzt irgendwie falsch rüber«, versuchte sie zu be-
schwichtigen. Zu ihrer Überraschung lächelte Jelto nur sanftmütig. Ayleas Worte hatten ihn nicht beleidigt. In Wahrheit machte es ihm nichts aus, an seine Zeit als Befehlsempfänger im Dienste der Keelon-Master erinnert zu werden. Dieses Kapitel war ein Teil seines Lebens. Ein wichtiger Teil, der ihn erst zu dem gemacht hatte, der er heute war, mit all seinen Fähigkeiten und Empfindungen. Nichts davon wollte er missen, auch wenn er selten über sein altes Leben sprach – was darin begründet lag, dass er es hinter sich gelassen hatte, seit er sich als vollwertiges Mitglied der RUBIKON empfand. Lange genug hatte es gedauert, bis er sich damit abgefunden hatte, an Bord eines Raumschiffes zu leben, umgeben von kalter Technik – und der eisigen, trostlosen Weite des Alls. Auch sein Garten war anfangs nur ein schwacher Ersatz gewesen für den Urwald, für den er auf der Erde verantwortlich gewesen war. Mittlerweile hatte sich das geändert. Aus dem zunächst spärlichen Bewuchs war im Laufe der Zeit ein stattlicher Park geworden. Eine grüne Lunge, angereichert mit den exotischsten Zier- und Nutzpflanzen fast aller Welten, denen die RUBIKON auf ihren Reisen einen Besuch abgestattet hatte. Zuletzt dem Planeten Vil, wo er nicht nur die Bekanntschaft der Ureinwohner gemacht, sondern – dank Kargors Kristall, den Jarvis ihm geborgt hatte – einige Tage unerkannt und in fremder Gestalt unter ihnen gelebt hatte. Der Gedanke an die Vilaner schnürte ihm die Kehle zu, auch wenn er sich mittlerweile mit ihrem zu erwartenden Schicksal abgefunden hatte. Er wusste, dass eines der Brutschiffe der Treymor auf dem Weg zu ihrem Planeten waren, diesen nach ihrer Ankunft unterjochen würde, wie sie es mit Rof getan hatten. Gut, dies würde bei der Geschwindigkeit der Diskusschiffe erst in etwa hundert Jahren geschehen. Dennoch war es entsetzlich zu wissen, was diesem friedfertigen Volk bevorstand, und nichts dagegen unternehmen zu können. Ein Eingreifen von Seiten der RUBIKON, wie etwa das Zerstören des Diskusses, hätte die Treymor hellhörig werden, sie möglicherweise erst recht auf die Vilaner aufmerksam werden lassen. Im schlimmsten Falle würden sie annehmen, dass
die RUBIKON in irgendeiner Beziehung mit ihnen stand, sich blutig an ihnen rächen und ihre Zivilisation dem Erdboden gleich machen – etwas, das ohne das Eingreifen des Rochenschiffes erst in hundert Jahren geschehen würde. »Hey, bist du jetzt sauer, oder was?« Jelto hob erschrocken den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er in Gedanken abgedriftet war – und dass es so aussehen musste, als ob die Trauer in seinem Blick auf Ayleas unbedachte Äußerung zurückzuführen war. Bevor er die Situation aufklären konnte, senkte Aylea den Kopf. »Ich bin total gerne hier bei dir, das weißt du. Aber ich hasse das Gefühl, gefangen zu sein und mich nicht frei bewegen zu können.« »Ich weiß, was du meinst. Ich frage mich jedoch, ob du dich draußen wirklich freier fühlen würdest, mit diesem …« … diesem Monstrum, das die RUBIKON zu seinen Jagdgründen auserkoren hat und im Verborgenen die Krallen wetzt. »… mit der Gefahr, die draußen lauert.« Jelto bemerkte, dass Aylea sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte. Er war sich nicht sicher, was der Grund dafür war: Das Gefühl, gerade ihren besten Freund zutiefst zu verletzt zu haben, die Angst vor der Bestie, oder die allgemeine Anspannung, in der sie sich alle befanden. »Hey, denkst du, ich habe Bock, diesem Fraktalendingsbums in die Fänge zu laufen? Dieses verdammte Vieh ist echt das Letzte, was wir jetzt noch gebrauchen können! Als hätten wir nicht schon genug Mist an den Hacken! Und jetzt lass uns weitermachen!« Jelto schluckte. Aylea hatte schon immer dazu geneigt, das Herz auf der Zunge zu tragen, aber so aufbrausend hatte er die Zwölfjährige lange nicht erlebt. Er beschloss, es dabei bewenden zu lassen, und wollte gerade wieder nach dem Spaten greifen, den er neben dem Vil-Baum in den Boden gerammt hatte, als er abrupt inne hielt. Auf einmal war ihm, als würden sich alle Härchen in seinem Nacken gleichzeitig aufstellen. Sein Herz wummerte in seiner Brust wie ein flatternder Vogel. Er
legte den Kopf schief und sah sich um. Es fühlte sich genauso an, wie vor einigen Tagen im Dorf der Angks. Als er mit einem Mal das Gefühl gehabt hatte, nicht mehr alleine zu sein! Aylea schürzte die Lippen, als sie seine plötzliche Unruhe bemerkte. Zu deuten wusste sie sie offenbar nicht, wie ihre nächsten Worte bewiesen. »Hey, ich habe gesagt, es tut mir leid! Was willst du denn noch hören?« Jelto hob die Hand, um ihr signalisieren, dass sie den Schnabel halten sollte. Aylea verstummte abrupt, und im selben Moment zeichnete sich ein Ausdruck tief empfundener Sorge auf ihrem Gesicht ab. Jelto verharrte, sah sich gehetzt um. Hatte er sich vielleicht doch getäuscht? Hatte ihm das Erlebnis im Angk-Dorf dermaßen zugesetzt, dass er jetzt schon Gespenster sah? Objektiv gesehen, gab es keinen Grund, anzunehmen, dass die Bestie den Weg in den hydroponischen Garten gefunden hatte. Immerhin war die Tarnung des Fraktalen aufgeflogen. Die Angks wussten jetzt, wie sie ihn aufspüren konnten, und auch die KI hatte ihn auf dem Schirm, verfolgte seine Spur und ließ ihn keine Sekunde lang aus den Augen. Und wenn das alles stimmt, fragte eine böse Stimme in ihm, wieso dauert es dann so lange, bis sie ihn schnappen? Unwillkürlich fragte sich Jelto, wie er auf diese Situation reagieren sollte. Schließlich hatte er Aylea erst vor einer Minute einen Vortrag darüber gehalten, wie sicher sie hier im Garten waren. Seine Ansprache war zumindest ansatzweise erfolgreich gewesen – und nun sollte er das aufkeimende Gefühl von Sicherheit wieder zerstören? Andererseits … Wenn er recht hatte mit seinem Verdacht, dann schwebten sie in einer kaum zu unterschätzenden Gefahr! Jelto nahm den Spaten, hob ihn leicht an und wog ihn in seiner Hand. Dabei war ihm klar, dass diese Drohgebärde angesichts eines so mächtigen Gegners geradezu lächerlich anmuten musste. »Jelto …?« »Aylea, dreh jetzt bitte nicht durch!«
»Warum sollte ich?« »Ich glaube, wir haben Gesellschaft bekommen …«
Sie flogen den Weg fast zurück, John Cloud, Jarvis, Scobee und die Angks, die sich an der Suche beteiligt hatten. Inzwischen gab es kaum noch einen Zweifel daran, welches Ziel die Bestie angesteuert hatte. John wusste nicht, wie sie unbemerkt an ihnen vorbeigekommen war, aber irgendwie war es ihr wohl gelungen, die Emission des Tarnfeldes für kurze Zeit zu unterdrücken und sich in rasender Geschwindigkeit auf den Weg zu ihrem eigentlichen Ziel zu machen. Der hydroponische Garten!, zuckte es Cloud immer wieder durch den Kopf. Ausgerechnet jener Ort, an den er Jelto und Aylea eigenhändig verfrachtet, an dem er sie sicher geglaubt hatte … Aber weshalb? Warum hatte das Biest es ausgerechnet auf den Florenhüter abgesehen? Oder wollte es einfach nur zu Ende bringen, woran es im Dorf der Angks gehindert worden war? John wusste es nicht, und er bezweifelte, dass der Fraktale selbst ihm jemals Auskunft darüber erteilen würde. Egal. Die Motive des Monsters durften vorerst im Dunkeln bleiben. Im Augenblick ging es vorrangig darum, Jelto und Aylea vor ihm zu schützen. Nicht auszudenken, was der Fraktale mit ihnen anstellen mochte, wenn er sie vor die Krallen bekam. Sie hatten etwa die halbe Strecke zurückgelegt, als er noch einmal Kontakt zur KI aufnahm. »Sesha, wie ist die Lage im hydroponischen Garten?« »Keine Ahnung, Commander …« »Das ist doch keine Antwort! Was soll denn das heißen?« Blut schoss ihm heiß in den Kopf. »Das soll heißen«, antwortete Sesha, »dass ich keinen Zugriff mehr auf den Bereich des Schiffes habe, in dem sich der Garten befindet.« »Das wird ja immer toller«, mischte sich Scobee ein, die etwas versetzt hinter Cloud lief. »Bist du eigentlich zu irgendetwas zu gebrauchen?«
»Positiv«, antwortete Sesha vollkommen ernst und gelassen. In diesem Moment erreichten sie auch schon das Trennschott, das zum hydroponischen Garten führte. Jarvis, der dank der »Sieben-Meilen-Stiefel« seines Kunstkörpers Begriffe wie Puste und Ausdauer gar nicht kannte und deshalb vorausgeeilt war, hieß sie mit ratlosem Blick willkommen. Das Schott war verschlossen – und offensichtlich gab es keine Möglichkeit, es von außen zu öffnen, sonst hätte der GenTec es mit Sicherheit schon getan. »Nichts zu machen«, sagt er dann auch. »Das Ding ist so brauchbar wie 'ne Sardinenbüchse ohne Öffner …« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hämmerte er kräftig mit der Faust dagegen. »Sesha hat auch keinen Zugriff mehr«, informierte ihn Cloud. »Dieses Biest muss irgendwie Einfluss auf das System genommen haben.« Cloud wandte sich den Angks zu, von denen sich bereits einige in einen tranceartigen Zustand versetzt hatten, in dem hilflosen Versuch, die Barriere mental zu überwinden. Rotaks fast schon schmerzhaft verzerrtes Gesicht verriet ihm, dass ihre Anstrengung bislang erfolglos geblieben war. Da entspannte sich der Angk auch schon wieder und schüttelte frustriert den Kopf. »Nichts zu machen. Wir dringen nicht durch.« Algorian begleitete Rotaks Worte mit einem Nicken. Jarvis erwiderte Clouds düsteren Blick, sah dann grimmig in die Runde. »Bleibt wieder alles an Papa hängen …« Er wandte sich dem Türschott zu, inspizierte es eingehend. »Denkst du, du kommst da irgendwie rein?«, erkundigte sich John hoffnungsvoll. »Keine Ahnung. Wir wissen ja nicht, was diese Missgeburt angerichtet hat. Einen Versuch ist es wert.« »Ist das nicht zu riskant?«, fragte Scobee besorgt. »Wir wissen nichts, aber auch gar nichts über die Kräfte dieses Wesens. Nur dass sie die eines herkömmlichen Fraktalen um ein Vielfaches übersteigen.«
»Mehr finden wir auf die Schnelle auch nicht heraus«, versetzte Jarvis. »Ihr könnt ja mal googeln oder bei Wikipedia nach FraktalenBestie suchen. Mir dauert das zu lange. Sosehr mir das Gör und der Öko-Heini auf die Nerven gehen, würden sie mir doch fehlen.« Scobee verzog das Gesicht, angesichts Jarvis Ausdrucksweise. Cloud hielt sich damit gar nicht erst auf, sondern machte seiner Funktion als Befehlshaber alle Ehre. Er traf eine Entscheidung. »Sieh zu, was du tun kannst. Aber pass, um Himmels willen, auf …!«
Ayleas Besorgnis war nackter Angst gewichen, wie Jelto unschwer erkennen konnte. Das Mädchen mochte oft altklug, manchmal sogar großspurig daherreden, doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie tief im Herzen noch ein unsicheres, schutzbedürftiges Kind war. Jelto wurde bewusst, dass er sich zusammenreißen musste, er sie seine eigene Angst nicht spüren lassen durfte. Er war hier der Erwachsene. Seine Aufgabe war es, die Dinge im Griff zu haben und diese Sicherheit auch auszustrahlen – auch wenn ihm dies im Moment nur leidlich gelang, wie er sich eingestehen musste. Den Spaten in der Hand hatte er sich in den letzten Minuten bestimmt ein Dutzend Mal umgedreht, jedes Mal mit der festen Überzeugung, ein bedrohliches Knurren, den heißen Atem einer Bestie in seinem Nacken gespürt zu haben. Inzwischen wusste er selbst nicht mehr genau, was eigentlich Einbildung war und was real. »Wäre das nicht der Moment, um deine Pflanzenfreunde zu Hilfe zu rufen? So, wie du es im Dorf der Angks getan hast?« Ein guter Plan. Wenn ich nur wüsste, wie … In Wahrheit war sich Jelto bis jetzt noch nicht vollends sicher, was bei seiner ersten Begegnung mit dem Fraktalen genau geschehen war. Schließlich hatte er die Vorgänge nicht bewusst gesteuert, war vielmehr von ihnen überrascht worden und hatte sich ihnen lediglich gefügt. Aylea schien ihn nun endgültig für den Herrn über alles Pflanzli-
che zu halten, dabei war sein Einfluss auf seine grünen Freunde wesentlich subtiler. Natürlich war er in der Lage, ihre Aura zu spüren, mit ihr in Kontakt zu treten, ihr Wachstum zu begünstigen. Aber das war es dann auch schon. Zumindest unter normalen Bedingungen … Jelto schloss die Augen, konzentrierte sich, tastete nach den Auren der Vegetation, die sich in seiner außersinnlichen Wahrnehmung in einem überirdisch leuchtenden Farbspektrum manifestierte – als ihn ein eisige Kälte erfasste, die ihn dazu brachte, gehetzt um sich zu blicken. »Jelto, was ist denn? Du machst mir Angst!« »Sei leise!«, zischte der Florenhüter zurück, nun nicht einmal mehr ansatzweise darauf bedacht, Normalität und Sicherheit auszustrahlen. »Wir müssen sehen, dass wir hier rauskommen! Wir …« Ein leises Rascheln in unmittelbarer Umgebung ließ beide aufschrecken. »Du hast recht!«, schrie Aylea panisch. »Das ist jemand …« Etwas. »Komm mit!« Den Spaten noch immer drohend erhoben, deutete er mit einem Kopfnicken in die Richtung, in der der Ausgang lag. Zu sehen war er von hier aus nicht. So prächtig gedieh die Vegetation des Gartens mittlerweile, dass sie ein undurchdringliches Dickicht bildete. Ein effizienter Blickschutz – und eine riesige Auswahl an Verstecken für jeden, der es darauf anlegte, sich ihnen ungesehen zu nähern. Mit geschärften Sinnen wagten sie sich den schmalen Weg entlang, der Richtung Ausgang führte. Sie waren kaum drei Schritte gegangen, als sie ein weiteres Rascheln vernahmen, diesmal unmittelbar neben ihnen – und dann ein weiteres, in entgegengesetzter Richtung! Aylea schrie auf. Erschrocken klammerten sie sich aneinander, als könnten sie sich dem Zugriff des Feindes auf diese Art entziehen. Gleichzeitig dreh-
ten sie sich im Kreis, um alle Richtungen im Auge zu behalten. Wir haben keine Chance, wurde es Jelto in diesem Moment bewusst. Es weiß, dass wir da sind. Es kreist uns ein, spielt mit uns … Vielleicht sondierte es auch nur die Lage, in bester Erinnerung an den Fehlschlag im Dorf der Angks, fest entschlossen, dieses Mal keinen Fehler zu machen. Wie auch immer. Früher oder später würde es zuschlagen. Und wie es bisher aussah, konnte sich Jelto heute nicht auf die Hilfe seiner grünen Freunde verlassen. Er versuchte es noch einmal, schloss die Augen, versuchte Kontakt herzustellen … »Jelto!«, Ayleas schriller Ruf riss in aus seiner gerade erst einsetzenden Trance. Er sah sie fragend an, dann folgte sein Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger bis zu einem Busch, der nur drei Schritte von ihnen entfernt in wallende Bewegung geraten war. Und dann, mit der brachialen Gewalt eines Raubtiers, brach es daraus hervor …
Im ersten Moment hatte Jarvis das Gefühl, dass die Transition misslang. Es fühlte sich nicht richtig an, als würde irgendetwas, ein unbekanntes Energiefeld, ihn davon abhalten, das Türschott zu überwinden. So, als müsse er sich durch eine elastische Membran zwängen, um auf die andere Seite zu gelangen. Doch dann, fast schon überraschend, klärte sich sein Blickfeld und er sah das schillernde Grün des hydroponischen Gartens. Von Jelto und Aylea war indes nichts zu sehen. Andererseits war der Bewuchs stellenweise so dicht, dass er sich wie eine Wand vor ihm auftürmte und nicht einmal erahnen ließ, was sich dahinter abspielen mochte. Jarvis wollte sich gerade in Bewegung setzen, um den Garten zu durchforsten, als er ein ohrenbetäubendes Geräusch vernahm. Es hörte sich an, als würden zwei Metallplatten unter immensem Druck aneinander gerieben werden! Dieser Laut klang so zutiefst
unmenschlich und grauenerregend, dass es an Bord der RUBIKON nur ein Wesen gab, das ihn ausgestoßen haben konnte! Jarvis nahm sich genau zwei Sekunden Zeit, um die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren, dann setzte er sich auch schon in Bewegung.
Es war kein simples Geschöpf, das vor ihnen aus dem Dickicht brach. Es war eine bebende, pulsierende Masse, die sich ihnen amöbenhaft in den Weg schob, dabei immer wieder tentakelartige Ausläufer bildete, die unkontrolliert, wie die Gliedmaßen einer von spasmischen Zuckungen geplagten Missgeburt, um sich griffen. Doch das war nicht alles. Wenn Jelto genau hinsah, konnte er Gesichter erkennen, die sich in der Masse bildeten, teilweise nur für Sekundenbruchteile zu sehen waren, dann wieder in sich zusammenfielen. Dies mussten die Gesichter der fraktalen Elitesoldaten sein, aus denen dieses Wesen entstanden war … Jelto wurde bewusst, dass er eine zutiefst gepeinigte Kreatur vor sich sah. Ein Monster, das im buchstäblichen Sinne hochgradig schizophren, dessen Geist schon im Moment seiner Entstehung dem Wahnsinn zum Opfer gefallen war. Was trieb ein solches Wesen an? Welche Ziele verfolgte es? Warum hatte es sich so lange versteckt gehalten? Und warum, in aller Welt, war es ausgerechnet zu ihm gekommen? All diese Fragen stürmten gleichzeitig auf ihn ein, ohne dass er Zeit hatte, sich auch nur mit einer von ihnen näher zu beschäftigen. Er schrie leise auf, als ein schmerzhaftes Brennen durch seinen rechten Unterarm zuckte. Erschrocken blickte er an sich herab, und erkannte dass es Aylea war, die sich völlig verstört und mit angsterfülltem Blick in ihn verkrallt hatte. »Was tut es da? Warum tut es das …?« Jelto nahm ihre Hand, drückte sie – und hatte im selben Moment das Gefühl, als würde irgendetwas nach seinem Innersten tasten. Es lotet mich aus, dachte er. Aus irgendeinem Grund schien Jelto
das Interesse der Bestie geweckt zu haben. Hatte sie sich ihm deshalb genähert, im Dorf der Angks? Ihn aus dem Verborgenen heraus studiert? Jelto erinnerte sich daran, dass er sich bereits Minuten vor dem Auftauchen des Fraktalen gemustert gefühlt hatte. War es Jeltos besondere Gabe, die das Interesse dieses Monster geweckt hatte? In jenem Sekundenbruchteil, in dem er in eine der Fratzen starrte, die sich aus der wogenden Masse herausbildeten, hatte er das Gefühl, dass es genau so war. Diese Kreatur verfügte über die geballte Macht Dutzender Elitesoldaten, doch was ihr fehlte, war ein empathisches Verständnis für Geschöpfe, die anders waren als es. Etwas, das der Klon zur Genüge besaß. Jelto hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als unruhige Bewegung in die Masse kam, sie innerhalb weniger Sekunden zusammenfloss und eine Kreatur formte, wie sie abscheulicher nicht sein konnte. Dieses Wesen ging auf zwei Beinen, hatte eine kurzen Hals und ein weit aufgerissenes Maul mit messerscharfen Zähne. Und es setzte zum Sprung an … »Hey!« Der Ruf erklang plötzlich, und Jelto wusste nur eins: dass weder er noch Aylea ihn ausgestoßen hatten. Tatsächlich hielt der Fraktale inne. Und in dem Moment, in dem er sich dem Rufer zuwandte, ahnte Jelto, um wen es sich dabei handelte. Hätte es noch eines weiteren Hinweises bedurft, so erhielt er ihn mit den folgenden Worten des Lebensretters: »Vergreif dich an jemandem von deiner Größe …!«
Jarvis war quer durch den Garten geeilt und erblickte das Wesen just in jenem Moment, in dem es sich auf die beiden zu Salzsäulen erstarrten Menschen stürzen wollte. Der ehemalige GenTec hatte keinen Plan, lediglich einen festen Entschluss: Er wollte das Biest daran hindern, sich an den beiden zu vergreifen!
Das Ablenkungsmanöver zeigte Wirkung! Schwerfällig drehte sich die Kreatur zu ihm um, fauchte ihn an, zweifelsohne wütend über die plötzliche Störung. Dann stieß sie sich ab und sprang auf ihn zu. Jarvis hatte kaum Zeit, um zu reagieren. Innerhalb von Sekundenbruchteilen ließ er seinen Körper zerfließen, kroch dann wie ein wandelnder Ölfleck unter dem sich noch im Sprung befindenden Fraktalengeschöpf hindurch und auf direktem Wege auf Jelto und Aylea zu, die kaum wussten, wie ihnen geschah. Vermutlich waren sie sich nicht einmal sicher, ob es wirklich Jarvis war oder ein Ausläufer des Fraktalen, der in rasend schneller Geschwindigkeit auf sie zufloss, sie umhüllte … und dann mit ihnen verschwand …
Commander John Cloud glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als die Gefährten wie aus dem Nichts heraus neben ihm vor dem Türschott materialisierten, umhüllt von Jarvis Kunstkörper, der sich sofort zurückzog und die beiden frei gab. Diese waren sichtlich erschöpft und mitgenommen von dem, was sie soeben erlebt hatten. Ayleas Lippen bebten regelrecht, und die bläuliche Farbe ließ vermuten, dass ein Großteil des Blutes aus ihnen gewichen war. Jelto machte einen etwas gefassteren Eindruck, doch sein Blick ließ erahnen, dass die vergangenen Minuten auch für ihn kein Zuckerschlecken gewesen waren. Cloud nahm sie kurz beiseite und erkundigte sich bei ihnen, ob alles in Ordnung war. Danach bat er einen der Angks, der in unmittelbarer Nähe Position bezogen hatte, sich um sie zu kümmern und sie, um Himmels willen, keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Erst dann wandte er sich Jarvis zu, der von Scobee bereits ins Kreuzverhör genommen wurde. »Das Biest ist da drin«, bestätigte er ihre bohrendste Frage und zeigte mit dem Finger über seine Schulter auf das Türschott. »Und seit letztem Mal ist es keinen Deut schöner geworden.« Cloud wandte sich an die umstehenden Angks.
»Okay, das ist vielleicht unsere einzige Chance, das Biest zu schnappen. Wir müssen allerdings schnell sein. Wer weiß, was es in diesem Moment schon wieder ausheckt.« »Ich will kein Spielverderber sein«, hielt Scobee dagegen. »Aber wie gedenkst du, in den Garten zu gelangen? Die Tür ist noch immer verschlossen. Soll Jarvis …?« Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als etwas geschah, womit Cloud zuletzt gerechnet hätte. Das Türschott glitt auf. Und gab den Weg frei …
Sekundenlang tauschten die Anwesenden überraschte Blicke. »Das sieht mir ganz nach einer Einladung aus«, murmelte Jarvis, der als Erster die Sprache wiedergefunden hatte. »In der Tat«, versetzte Cloud nickend. »Aber nach einer vergifteten …« Rasch wandte er sich Rotak zu, der skeptisch dreinblickte. »Glaubt du, du und deine Leute, ihr schafft es zu verhindern, dass das Biest sich erneut aus dem Staub macht?« »Davon, Commander, gehe ich fest aus. Wir stehen noch immer mit den Sensoren der KI in Verbindung. Sollte das Biest erneut seine Tarnung aktivieren, bekommen wir es mit.« John drehte sich um. Sein Blick wanderte durch das Türschott, das offen, fast schon einladend, vor ihm lag, in das Dickicht des Gartens, das in einem diffusen Zwielicht verborgen blieb, als weigere sich selbst das Licht, sich einen Raum mit dieser Kreatur zu teilen. »Waidmannsheil, würde ich sagen …«
Sie einigten sich darauf, gestaffelt in den weitläufigen Garten vorzudringen. Jarvis, der sich am besten gegen das unheimliche Geschöpf zu wehren wusste, bildete die Vorhut, dicht gefolgt von Rotak und drei weiteren Angks, die die Umgebung sondierten und dabei mehr wahrnehmen konnte, als alle anderen.
Commander John Cloud und Scobee bildeten die dritte Reihe, vor einer weiteren Angk-Staffel, die ihnen den Rücken frei hielt. Alle waren mit Energiestrahlern bewaffnet, doch John bezweifelte, dass diese etwas gegen das Wesen ausrichten konnten. Die ganze Aktion hatte etwas Militärisches und erinnerte John an diverse Übungsmanöver während seiner Zeit bei der US-Army. Eine Zeit, die so lange zurücklag, dass sie eigentlich schon gar nicht mehr real war, sondern nur ein Traum, der allmählich verblasste. Zum ersten Mal seit langer Zeit musste John wieder an seinen Vater denken, dessen Verschwinden während der legendären ersten Mission zum Mars der Auslöser für Johns unfreiwillige Reise in die Zukunft, und im Grunde für alles war, das John in den Folgejahren erlebt hatte. Seinen Vater hatte er schließlich gefunden. Heute wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Hätte ihn so in Erinnerung behalten, wie er ihn bei seinem Abschied gekannt hatte. Schwamm drüber … Cloud sammelte seine ganze Aufmerksamkeit und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Mit hellwachen Augen sondierte er seine Umgebung, achtete dabei auf jede Bewegung, auf jedes Geräusch, auf alles, was ihm ungewöhnlich erschien. So ähnlich musste es damals in Vietnam gewesen sein. Dieser Krieg hatte lange vor Johns Geburt stattgefunden, aber die Situation, unterwegs auf unbekanntem Terrain, gegen einen Feind, der ihm auf diesem weit überlegen war, nicht wissend, wann und wie er zuschlagen würde, ähnelte der jetzigen frappierend. Was, wenn der Fraktale wieder flieht? Wenn er sich erneut in die Tiefen des Schiffes zurückzieht, dieses Katz-und-Maus-Spiel bis in alle Ewigkeit fortsetzt? Ein beunruhigender Gedanke, an den Cloud jedoch nicht so recht glauben mochte. Er spürte vielmehr, dass auch sein Feind die Absicht hatte, allmählich eine Entscheidung herbeizuführen, wie immer diese auch aussehen mochte. Was die ganze Sache so überaus schwierig machte, war die Tatsache, dass sie ihren Gegner nicht einmal ansatzweise verstanden.
Was mochte ein Wesen wie dieses antreiben? Welche Ziele verfolgte es? War es überhaupt in der Lage, Pläne zu schmieden, oder handelte es rein instinktiv? Diese Fragen schossen Cloud durch den Kopf, als die Angks vor ihm urplötzlich stoppten. Er und Scobee hielten den Atem an, lauschten. Keiner wagte es, eine Frage zu stellen, um die Konzentration der Mentalbegabten keine Sekunde zu stören. Rotak war es schließlich, der sich zu ihnen umdrehte und sie mit festem Blick ansah. »Es ist ganz in der Nähe«, sagte er leise, und seine Worte klangen wie eine Drohung. »Wo?«, fragte Cloud mit angespannter Miene. »Kannst du es lokalisieren?« »Es … ist überall. Es kreist uns ein. Es …« In diesem Moment passierte es auch schon. Es brach durch das Geäst mit einer Urgewalt, eine schillernde, pulsierende Masse, die nichts Menschliches an sich hatte. In derselben Sekunde, ging der Stoßtrupp in Abwehrposition. Cloud und Scobee brachten ihre Energiestrahler fast zeitgleich in Anschlag, zielten, drückten ab … Die Ladung traf ins Schwarze. Bläulich züngelnde Blitze hüllten das Wesen sekundenlang ein, sorgten dafür, dass die schillernde Haut in wilde Zuckung geriet und beulengroße Metastasen ausbildete. Doch das war es dann auch. Das Wesen schien die tödliche Ladung mühelos zu absorbieren, sie in sich aufzunehmen wie ein trockener Schwamm es mit Wasser getan hätte. Als es vorbei war, schien es sogar noch gestärkt aus der Attacke hervorzugehen. Mit offenem Mund beobachtete John, wie sich sein Körper veränderte, sich neu formierte, Gliedmaßen ausbildete und annäherungsweise menschliche Gestalt annahm. Cloud hatte keine Zeit, sich das alles genauer anzusehen, weil sich die Bestie da auch schon abstieß und … … mit einem nervzerfetzenden Schrei zusammenbrach. Cloud, Scobee und Jarvis tauschten einen überraschten Blick, dann wandten sie sich wieder der Kreatur zu, deren Körper sich erneut
veränderte. Zwar wies sie noch immer menschenähnliche Konturen auf, doch diese wirkten seltsam verformt und eingedrückt, als sei ein schwerer Gegenstand aus größerer Höhe darauf gefallen. Und da bemerkte Cloud eine Gestalt, die in einigem Abstand hinter dem Wesen Position bezogen hatte. Es war einer der Angks, die gemeinsam mit Rotak die zweite Vorhut gebildet hatten. Und dann sah er einen zweiten, einige Meter vom ersten entfernt. Und noch einen. Und … Unbemerkt von Cloud, und offenbar auch ohne Wissen des Fraktalen, hatten die Angks blitzschnell einen Kreis um das unheimliche Wesen gezogen. Und dann …? Cloud konnte nur Vermutungen anstellen, aber die tranceartige Haltung, in der Rotak und die anderen versunken waren, deutete darauf hin, dass sie ihre Bewusstseine miteinander verschmolzen hatten und – möglicherweise unter Zuhilfenahme bestimmter Ressourcen, die sie von der KI angezapft hatten – ein mentales Netz um den Fraktalen geschlungen hatten. Dieser schien von der Situation völlig überrumpelt. Wahrscheinlich hatte er den Trupp angesichts seiner spärlichen Bewaffnung als nahezu wehrlos eingeschätzt, deshalb überhaupt erst seine Deckung verlassen und einen Angriff gestartet. Die Fähigkeiten der Angks schien er unterschätzt zu haben. Mittlerweile war er zu einem unförmigen Klumpen mutiert, der kaum noch etwas Menschenähnliches an sich hatte. Das ohrenbetäubende kreissägenartige Geräusch, das er ausgestoßen hatte, war indes zu einem leisen Ächzen, ähnlich dem eines quietschenden Türscharniers, abgeebbt. Andernfalls hätte John Scobees Worte wahrscheinlich gar nicht verstanden: »Es stirbt«, sagte sie leise. »Die Angks sind kurz davor, ihm den Todesstoß zu versetzen.« Cloud sah sich um. Scobee hatte recht. Die Entschlossenheit auf den Gesichtern der Angks ließ kaum einen anderen Schluss zu. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie noch gar nicht darüber gesprochen hatten, wie mit dem Fraktalen im Fall seiner Gefangennahme zu
verfahren war. Weil sie die Wahrscheinlichkeit einer Gefangennahme nicht hoch genug eingeschätzt hatten, um sich schon vorab damit zu beschäftigen? Und jetzt war alles ganz schnell gegangen. Dennoch … diese Entwicklung gefiel John nicht. Es war eigentlich nicht seine Art, Herr über Leben und Tod zu spielen. Warum töten, wenn man auch Gefangene machen konnte? Andererseits … an Bord der Rubikon gab es wahrscheinlich kein Gefängnis, das diese Kreatur auf Dauer bannte. Sie war zu gefährlich. Eine tickende Zeitbombe, die, selbst wenn sie kurzzeitig entschärft war, nur darauf wartete, erneut aktiviert zu werden. Sie hatten schon einmal den Fehler gemacht, sie zu unterschätzen. Aber noch etwas anderes als bloße Barmherzigkeit ließ Cloud einen Moment lang inne halten und sich fragen, ob es richtig war, dem Wesen jetzt schon den Todesstoß zu versetzen. Schließlich verfügte es über etwas, das für sie überaus wertvoll war: Wissen. Das gesammelte Wissen mehrerer Dutzend fraktaler Elitesoldaten, gespeichert in jenem bemitleidenswerten Körper, der noch eben so bedrohlich gewesen war, und nun nur noch aussah wie ein in der Sonne schmelzender Schneemann. Dieser Gedanke war nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht verfügte er tatsächlich über Informationen, die ihnen noch nützlich sein konnten. John wandte sich Rotak zu, doch der Angk sah nicht so aus, als wäre er so einfach aus seiner Trance zu wecken. Und selbst wenn … was würde geschehen, wenn die mentale Kette zerbrach? Es war zu riskant. Sein Blick wanderte erneut zu dem im Sterben liegenden Fraktalen, und ihm wurde klar, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wenn er wirklich noch etwas aus ihm herausbekommen wollte. Mit entschlossenem Blick wandte er sich an die KI. »Sesha! Schick Algorian her! Schnell …!«
Es verging höchstens eine halbe Minute, bis der Aorii über das Tür-
transmittersystem eintraf. Er näherte sich zunächst vorsichtig, den Blick ehrfurchtsvoll auf den Fraktalen gerichtet. Offenbar schien er dem Braten nicht recht zu trauen. »Ist er …?« »Noch nicht«, entgegnete Cloud, »aber lange wird es nicht mehr dauern.« »Dann … ist es vorbei?« John bemerkte die Erleichterung auf Algorians Gesicht – und bestärkte ihn, indem er entschlossen nickte. »Genau deshalb habe ich dich hergebeten. Was du hier vor dir siehst, ist nicht nur eine im Sterben begriffene Bestie, sondern ein Pool an Informationen, der uns in Zukunft von Nutzen sein könnte. Ich möchte, dass du dich in den Geist dieses Wesens versenkst und versuchst, so viel wie möglich aus ihm herauszubekommen. Denkst du, du schaffst das?« Algorian nickte eifrig, sichtlich erfreut, dass auch er sich am Ende noch nützlich machen konnte. Sofort machte er sich ans Werk, streckte seine mentalen Fühler aus, verbannte die Gedankenmuster der anderen Besatzungsmitglieder in den Hintergrund und tastete nach dem Geist des Fraktalen. Im ersten Moment zuckte er zurück, als habe er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. John sah ihn besorgt an. »John, ich glaube, das ist zu gefährlich«, meinte Scobee. »Wer weiß, welche Auswirkungen ein verwirrter Geist wie der des Fraktalen auf einen Telepathen haben kann …« Cloud musste nichts entgegnen. Es war Algorian, der Scobees Einwand mit einer knappen Handbewegung zurückwies. Er konnte es schaffen. Er wusste es. Tatsächlich war er im ersten Moment abgestoßen gewesen von dem, was er im Bewusstsein des Fraktalen gelesen hatte. Es waren zutiefst wirre und kranke Gedanken, die einen selbst in den Wahnsinn treiben konnten, wenn man sich nicht gut genug dagegen abschirmte. Vielleicht wurde die Wirkung dadurch abgeschwächt, dass die Kreatur in ihren letzten Atemzügen lag und nur noch wenig Gehirn-
tätigkeit aufwies. Beim zweiten Anlauf war es jedenfalls schon etwas einfacher. Algorian tastete sich noch langsamer vor, als beim ersten Mal. Und dann … war der Kontakt hergestellt. Plötzlich ging alles ganz schnell. Eine Flut fremder Bilder stürmte auf den Aorii ein, überwältigte ihn, ließ ihn taumeln. Es war, als würde der sterbende Fraktale sein Bewusstsein in den Aorii entleeren. Vielleicht war es auch nur die natürliche Reaktion eines Sterbenden, der sich an den letzten Strohhalm klammerte, der ihm noch Halt bot. Einen Moment lang hatte Algorian tatsächlich das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Als würde er selbst hinabgerissen in den Schlund des Wahnsinns, der vor ihm klaffte und mit unsichtbaren Klauen an ihm zerrte. Und dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Die Bilder verblassten, und um ihn herum wurde es schwarz. Er bekam nicht mit, wie er taumelte, wie starke Arme ihn auffingen und zu Boden legten. Erst als er flackernd die Lider hob, als er die Gesichter von John, Scobee und Jarvis über seinem eigenen schweben sah, wusste er, dass es vorbei war. »Hey, gute Show!«, grinste Jarvis. »Hast uns grad 'nen richtigen Schreck eingejagt.« »Tut mir leid«, entgegnete Algorian und lächelte schwach. Er konnte nur vermuten, welchen Eindruck sein Kampf mit dem kranken Geist des Fraktalen auf die Umstehenden gemacht hatte. »Hast du irgendetwas herausgefunden?«, erkundigte sich Cloud. Algorian legte den Kopf schief, als müsse er darüber noch nachdenken. Tatsächlich war er sich im ersten Moment nicht sicher, wie er die Frage beantworten sollte. Er hatte viel gesehen, als er im Geist des Fraktalen geforscht hatte. Aber hatte er wirklich etwas erfahren? Die Informationen waren wirr und bruchstückhaft. Und doch … Je länger er darüber nachdachte, desto mehr fügten sie sich zu einem Bild zusammen. »Gebt mir noch etwas Zeit, mich sammeln«, bat er, während er sich aufrichtete. »Und dann lasst uns an einen gemütlicheren Ort gehen.« »Du machst es aber spannend«, entgegnete Jarvis, während er ihm die Hand reichte und ihm aufhalf.
»Aus gutem Grund«, gab der Aorii zurück und genoss einen kurzen Moment lang den Wissensvorsprung, den er vor den anderen hatte. »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum das X-Schiff der Fraktalen, das wir gesehen haben, hinter den Treymor her war …«
5. Vergangenheit Der Raum war erfüllt von pulsierendem Zwielicht, das die Schatten in wechselnden Phasen an- und wieder abschwellen ließ, Details seiner Ausstattung mal offenbarte, dann wieder gnädig verhüllte. Eigentlich hatte sich nur wenig verändert, seit die Invasoren vor Tausenden von Jahren mit diesem Wunderwerk der Hochtechnologie in den Großstädten der Erde gelandet waren und eine Kette von Stützpunkten errichtet hatten. Wenn man bedachte, wie viel Zeit seitdem vergangen war, wie vieles sich seitdem verändert hatte, erschien der ehemalige Residenzturm schon beinahe wie ein Monolith inmitten eines tosenden Meeres, der der Macht der Gezeiten beharrlich trotzte und die Geschichte der Menschheit in den letzten Jahrtausenden wie ein Mahnmal begleitet hatte. Die Residenz eines Gottes, dachte der Mann, der inmitten des Raumes auf einem perlmuttartig schimmernden Thron saß und schon lange nicht mehr am Leben hätte sein dürfen. Der sich seine widernatürliche Existenz buchstäblich gestohlen hatte, als er beschloss, sich mit dem Gigahirn der Metrop Washington zu koppeln und die darin schlummernde Parakraft zur ständigen eigenen Erneuerung zu nutzen. In der Tat war Reuben Cronenberg kein Mensch mehr. Er war mehr als das, hatte erreicht, wonach er immer gestrebt hatte: ewiges Leben und uneingeschränkte Macht. Ein gottgleiches Wesen in der Gestalt einer Missgeburt. Cronenberg machte sich keinerlei Illusionen über die Wirkung, die seine äußere Erscheinung auf einen Außenstehenden haben musste. Hätte es diesbezüglich einen Zweifel gegeben, so wäre er spätestens durch das jüngste Aufeinandertreffen mit John Cloud ausgeräumt
worden. Die Abscheu, mit der Cloud ihn taxiert hatte, war kaum zu übersehen gewesen, und Reuben konnte es ihm nicht einmal verdenken. Er war kaum noch als menschliches Wesen wahrzunehmen, war kaum mehr als ein degenerierter Zellhaufen, der nur noch entfernt und mit viel gutem Willen seitens des Betrachters eine Ähnlichkeit mit dem Menschen Reuben Cronenberg aufwies. Ihm selbst entlockte eine derart oberflächliche Betrachtungsweise höchstens ein müdes Lächeln – hätten seine wulstartigen Lippen ein solches noch zustande gebracht. Früher, weit vor seiner Verwandlung, hätte auch er noch anders gedacht. In den vielen Jahren, die vergangen waren, seit er in eine weit entfernte Zukunft verschlagen wurde, hatte er eine innere Entwicklung vollzogen, die wohl nur ein Wesen nachvollziehen konnte, das ebenso lange auf Erden weilte wie er. Und ein solches gab es nicht, zumindest nicht nach Cronenbergs eigenen Erkenntnissen Das Türschott des überschaubaren Raumes öffnete sich, und eine humanoide Gestalt zeichnete sich schattenhaft davor ab. Tritt ein, forderte Cronenberg den Tunikaträger auf telepathischem Wege auf. Dieser folgte der Aufforderung und betrat die Schaltzentrale gemessenen Schrittes, während sich das Türschott lautlos hinter ihm schloss. Wenige Schritte von Cronenbergs Thron entfernt blieb der Kahlköpfige stehen und sah Cronenberg abwartend an. Dieser nahm sich einige Sekunden Zeit, um die Autorität zu genießen, die er auf den anderen ausstrahlte, wohl wissend, dass dieser sich hüten würde, ohne vorherige Aufforderung das Wort zu ergreifen. Was gibt es, Paladin?, erkundigte er sich dann. »Einen weiteren Angriff«, antwortete der Gefragte mit tonloser Stimme. »Den schwersten bisher. Er konnte jedoch erfolgreich abgewehrt werden. Mehrere Schiffe wurden gekapert, nur wenigen gelang die Flucht.« Cronenberg nickte zufrieden.
Der Bericht seines Helfershelfers war rein formeller Natur, das musste er seinem Gegenüber nicht erst erklären. Für einen unwissenden Beobachter mochte es aussehen, als sei Cronenberg untrennbar an seinen Thron gebunden, für alle Zeiten eingekerkert in diesem goldenen Käfig, den er sich selbst erschaffen hatte. Doch in Wahrheit gab es für ihn durchaus Möglichkeiten, die Mauern seines Gefängnisses zu überwinden und teilzuhaben an den Ereignissen in seinem weitläufigen Reich. So wusste er um die schweren Kämpfe, die sich seit Tagen außerhalb der Schale ereigneten, wusste um die Armada der X-Schiffe, die in unermüdlicher Ausdauer immer neue Angriffe startete, obwohl ihr die Überlegenheit des Gegners doch mittlerweile mehr als deutlich vor Augen geführt worden war. Die Angriffe hatten begonnen, seit sein Erzfeind John Cloud mithilfe des von ihm einst erbeuteten Rochenschiffs jene Gesteinskruste durchbrochen hatte, die eine genetisch veränderte Menschheit in einem Jahrtausende währenden Kraftakt mithilfe ihrer mentalen Fähigkeiten errichtet hatte. Um jene auszusperren, die bleich und höhnend vom Himmel auf sie herabstarrten und denen sie die Schuld an der Katastrophe gaben, in die die Menschheit über Nacht gestürzt wurde. Die Stummen Götter. Der Mann in der Mitte des Raumes verzog die Lippen. Die Menschen mochten sich physisch und geistig weiterentwickeln, doch manche Dinge änderten sich nie. Cronenbergs Gedanken wanderten zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Die Ereignisse hatten sich in den letzten Tagen überschlagen. Sein Erzfeind, den er bereits so gut wie tot gewähnt hatte, war ihm im letzten Moment durch die Lappen gegangen. Nun gut, dieser Verlust war fürs Erste verschmerzbar. Cronenberg war überzeugt davon, dass dies nicht ihre letzte Begegnung gewesen war. Johns vorläufige Flucht war nur eine Fußnote angesichts der wesentlich gravierenderen Ereignisse, die die Flucht der RUBIKON und ihrer Besatzung begleitet hatten.
Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht, hatten das Loch in der Oortschale durchbrochen und die neue Erde und ihre Bewohner unter Beschuss genommen: bis an die Zähne bewaffnete X-Schiffe, die jede Form der Kontaktaufnahme verweigert hatten und sofort zum Angriff übergegangen waren. Zunächst war Cronenberg überzeugt gewesen, dass die Angriffe mit dem Auftauchen der RUBIKON in Verbindung stehen musste. Zu unglaublich erschien ihm ein zufälliges Auftauchen gleich zweier verschiedener Parteien in dieser Welt, die seit so vielen Jahrtausenden von der Außenwelt abgeschottet und völlig autark existierte. Dieser erste Angriff war nicht der letzte geblieben. Es folgten weitere, in unregelmäßigen Abständen und an unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Koordinaten, doch immer völlig unvermittelt und ohne jede Vorwarnung. Bisher waren alle Angriffe erfolgreich pariert worden. Der Armee der Fraktalen hatten die X-Schiffe wenig entgegenzusetzen. Mit ihnen hatte er eine nahezu unbesiegbare Waffe in der Hand, mit deren Hilfe er die Angreifer nicht nur zurückgeschlagen, ihre Schiffe nicht nur zerstört, sondern viele von ihnen gekapert und in seinen Besitz gebracht hatte. So war es ihm gelungen, das vermeintlich drohende Unheil zu seinen Gunsten zu wenden. Cronenberg wähnte sich bereits am Beginn eines neuen Zeitalters. Des Zeitalters der Sterne. Ein teuflischer Masterplan, mit dem Ziel, mit Fraktalen bemannte X-Schiffe in die Weiten jenseits der Oortschen Schale zu entsenden und die außersolare Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern. So weit, so gut. Freilich hatte er damit gerechnet, dass die Angreifer ihrer eigenen Zermürbungstaktik alsbald müde werden und die Angriffe allmählich einstellen, sich zurückziehen würden. Es war eine Taktik der Nadelstiche. Eine Serien permanenter Angriffe, mit dem Ziel, den Gegner mürbe zu machen, ihn unvorsichtig werden zu lassen, seine Verteidigung nach und nach aufzuweichen. Wie viele Verluste konnte eine solche Armee verkraften, ehe sie sich geschlagen geben musste?
Viele, sehr viele, schien die Antwort zu sein. Nun, da selbst nach Wochen ständiger Angriffe kein Einlenken erfolgte, musste er sich wohl allmählich auf eine längere Belagerung einstellen. Was bedeutete, dass er seinen Masterplan auf unbestimmte Zeit auf Eis legen musste. Der Mann auf dem Thron mahlte hörbar mit den schief aus seinem Maul wachsenden Zähnen. Die Möchtegern-Invasoren wurden allmählich zu einem kleinen Ärgernis. Eine Endlösung musste her. Er konnte es sich nicht leisten, sich länger zum Narren halten zu lassen. Womöglich war es ein Fehler gewesen, sich in die Defensive zurückzuziehen und darauf zu hoffen, dass die Fremden irgendwann von selbst das Interesse verloren. Er hätte viel früher damit beginnen sollen, ihr Geheimnis zu ergründen, ihre Herkunft und vor allem ihre Ziele auszukundschaften. Dabei konnte er sich nicht im Mindesten vorstellen, worauf es die fremdartigen Wesen abgesehen haben konnten. Die Menschheit hatte lange Jahre keinen Kontakt zur Welt jenseits der Oortschale gepflegt. Wie die Besatzungen der X-Schiffe von ihrer Existenz erfahren hatten, war ihm ein Rätsel. Was sie sich von den unprovozierten Angriffen erhofften, umso mehr. Zu lange hatte er sich auf die Fähigkeiten seiner Fraktalen-Armee verlassen, deren Bemühungen nicht weiter verfolgt, sich nur sporadisch Bericht erstatten lassen und sich selbst auf die Ausarbeitung seines Masterplanes konzentriert. Details langweilten ihn. Was für ihn zählte, waren Ergebnisse, war das große Ganze, das aus ihnen erwuchs. Doch allmählich war es an der Zeit, dass er wieder aus dem Hintergrund trat, selbst ins Geschehen eingriff, aktiv dabei half, mögliche Schwachstellen des Gegners auszuloten. Die ganze Angelegenheit zog sich ansonsten länger als nötig hin. Mit einer knappen Geste forderte er seinen Paladin auf, den Raum zu verlassen. Dieser deutete eine Verbeugung an und kam der Bitte nach. Kaum hatte sich das Türschott hinter dem Lakaien geschlossen,
schloss Cronenberg die Augen und ließ die Informationen fließen, die er über die unsichtbare Verbindung zu seinen Fraktalen-Kriegern pausenlos empfing, die er jedoch nach eigenem Gutdünken filterte, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Auf diese Weise stellte er eine direkte Verbindung zum Ort des jüngsten Gefechtes her. Was er sah, erregte sein Wohlgefallen. Wie bei einer Mehrfachbelichtung fand er sich auf zahlreichen der erbeuteten X-Schiffe gleichzeitig wieder, sah durch die Augen einer Hundertschaft, die ihm diente und die wieder einmal ganze Arbeit geleistet hatte. Die Fraktalen hatten an Bord der feindlichen Schiffe entsetzlich gewütet, hatten keine Gefangenen gemacht, waren in einem Rausch der Zerstörung über den Gegner gekommen, hatten ihn in einem Sturm vernichtet, wateten in seinem Blut, wie eine Horde vorsintflutlicher Barbaren. Cronenberg war zufrieden, mehr als zufrieden. Er wollte sich bereits entspannt zurücklehnen, als das Alarmsignal ertönte. Es war kein Ton, mehr ein gleißendes Brennen, das durch das Gigahirn und damit auch durch sein eigenes zuckte. Cronenberg wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. Jemand hatte die Barrieren durchbrochen und war zu Erde gelangt. Der Feind stand vor den Toren und niemand hatte ihn bemerkt. Alle hatten sich zu sehr auf das Offensichtliche konzentriert, während der wahre Angriff auf leisen Sohlen durch die Hintertür erfolgte. Der jüngste Angriff war eine Finte!, wurde es dem monströsen Herrscher schlagartig klar. Ein Ablenkungsmanöver! Der eigentliche Angreifer war vermutlich nur ein einzelnes Schiff, das fernab des Kampfgetümmels die Barriere durchbrochen hatte. Darauf deuteten zumindest die Informationen hin, die pausenlos durch das Gigahirn auf ihn einströmten. Vermutlich hatte es eine spezielle Tarnung benutzt, die bei den
bisherigen Angriffen, warum auch immer, nicht zum Einsatz gekommen war. Bebend vor Wut trat Cronenberg in Kontakt mit seiner Armee und gab den Befehl zum Angriff. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Invasor bereits mit seinem zerstörerischen Werk begonnen. Und war gerade dabei, entsetzlich zu wüten …
Zur selben Zeit an anderem Ort Was tust du, Yamira? Die junge Farmerin schrak aus ihren Gedanken hoch, als sie die Stimme vernahm. Ihr entgeisterter Blick tastete über den Pflanzenstrang, der wie die Hand eines anderen in ihrer eigenen lag, wanderte dann weiter zu dem Gewächs, das sie um Armeslänge überragte und an dessen schlanken Ästen nussartige Hülsenfrüchte gediehen? Energiespender ganz besonderer Art. Eigens für den Zweck gezüchtet, das Leben in der Dunkelheit erträglicher zu machen. Im ersten Moment glaubte Yamira, der Busch selbst habe zu ihr gesprochen. Immerhin hatte sie die letzten Minuten damit verbracht, in stummer Meditation die Aura der Pflanze zu ergründen, sie in Gleichklang mit ihrer eigenen zu bringen und so ihre momentane Befindlichkeit zu erfühlen. Was für Uneingeweihte wie esoterischer Unfug klingen musste, war für die junge Farmerin nur alltäglich. Mit den Pflanzen des Vakuums zu kommunizieren war für sie keine Besonderheit. Sie tat es täglich, während sie sie sorgsam hegte, sie aufzog wie eine Mutter ihren Nachwuchs. Bisher war diese Art der Kommunikation jedoch nonverbaler Natur – weitergegebene Energie, die sich in einem Prickeln in ihrem rechten Arm oder einem leichten Glühen ihrer Wangen äußerte. Eine in derart flüssigen und klar verständlichen Worten artikulierte Äußerung hätte sie dann doch überrascht.
Yamira hob den Kopf und drehte sich um. Im flirrenden, alles umgebenden Licht sah sie eine Gestalt, die unbemerkt hinter sie getreten war. Noch ehe sie ihn erkannte, wusste sie, dass es sich dabei um Soran handelte. Die Stimme, die noch in ihren Gedanken nachhallte, war nun deutlich als die seine zu erkennen. Obwohl sie und alle Angehörigen ihrer Kaste telepathisch miteinander kommunizierten, war sie in der Lage, verschiedene Sprachmuster voneinander zu unterscheiden. Mit fragendem Blick beobachtete sie, wie Soran durch das Vakuum auf sie zukam, dabei Äste und Pflanzenstränge, die seinen Weg kreuzten, beiseite schob. Er tat dies behutsam, mit fast schon väterlicher Vorsicht. Um nichts in der Welt hätte er einem von ihnen Schaden zugefügt. Die Vaku-Farmer waren eins mit der Natur und speziell für diesen Zweck konditioniert: im Vakuum zu existieren und zu ernten, was nur hier gedeihen konnte. Beseelt von einer sonderbaren Lebensenergie, für deren Nachschub eine weitere Kaste, die der Schläfer, verantwortlich war. Yamira hatte nie einen Gedanken an die Natur dieser Mechanismen verloren. Sie hatte ihre Aufgabe, auf die sie sich konzentrierte und die sie mit unermüdlicher Gewissenhaftigkeit erfüllte. Genau genommen war sie dankbar für diese ihr zugedachte Aufgabe, erlaubte sie ihr doch, der grauen Wirklichkeit, in der ein Großteil der Menschen ihr Leben fristete, zu entkommen. Dort unten, auf der Oberfläche der Erde, wo es öd und kahl war und immerwährende Dunkelheit das Entstehen einer wie auch immer gearteten Vegetation bereits im Ansatz erstickte. Hier oben, das war ihre Welt. Hier, unter ihresgleichen und den ihr anvertrauten Schützlingen, fühlte sie sich wohl. Hier, wo sie von ständiger Lebensenergie umgeben war. Wo es ihr vergönnt war, Leben zu züchten und zu umhegen, es zu ernten, um es schließlich seinem eigentlichen Zweck zuzuführen: als nie versiegende Nahrungsquelle für Abertausende ihrer Artgenossen, die sich in einer deutlich weniger glücklichen
Lage befanden. Sie mit allem zu versorgen, was sie zum Leben brauchten, war eine Aufgabe, die sie gemeinsam mit zahlreichen anderen Farmern erfüllte, die hier oben im Vakuum ihren Dienst taten. Und dennoch war sie nicht wie die anderen. Das hatte sie bereits an jenem Tage verspürt, an dem ihre Konditionierung abgeschlossen gewesen war und man sie hierher gebracht hatte, um als eine von vielen ihren Dienst zu versehen. Es dauerte nicht lange, bis auch den anderen klar geworden war, dass sie ein besonders glückliches Händchen im Umgang mit der lebenspendenden Vakuum-Vegetation hatte. Sie erinnerte sich noch genau an jenen Tag, an dem Roaan, ihr Lehrmeister, sie in ihrer kargen Behausung aufgesucht und dabei ertappt hatte, wie sie einen Schössling umhegte, den sie nach getanem Tagwerk heimlich mit nach Hause genommen hatte. Was sie da tue, wollte Roaan wissen, und Yamira erklärte es ihm. Wie sie aus der Pflanze durch Kreuzung mit einer völlig anderen eine neuartige Spezies hervorgebracht hatte, die besonders wohlschmeckende und energiespendende Früchte trug. Als Roaan von ihr wissen wollte, wie sie darauf gekommen sei, antwortete Yamira nur augenzwinkernd, die Pflanze hätten es ihr ins Ohr geflüstert. In Wahrheit konnte sie selbst nicht so genau sagen, was sie zu dieser Kreuzung veranlasst hatte. Sie hatte die beiden Pflanzen gesehen und dabei instinktiv gewusst, was mit ihnen zu tun sei, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten. Als hätte sich ein genetischer Bauplan vor ihr ausgebreitet, dessen Schritten sie nur noch folgen musste. Wenig später hatte Roaan sie von ihren eigentlichen Aufgaben entbunden und ihr einen Bereich innerhalb des Vakuums zur Verfügung gestellt, in dem sie schalten und walten konnte, wie es ihr gefiel. Zunächst hatte sich Yamira ein wenig überfordert gefühlt. – Was erwartete Roaan von ihr? Und was geschah, wenn sie seine Erwartungen am Ende enttäuschte? Experimentiere!, hatte er sie aufgefordert und lachend ihre Bedenken zerstreut.
Und genau das hatte Yamira dann auch getan. Durch immer neue Kreuzungen des zur Verfügung stehenden Genmaterials hatte sie nach und nach einen eigenen kleinen Garten erschaffen, in dem neuartige Nutzpflanzen entstanden, um schließlich ausgewildert zu werden und im Massenanbau dem Gemeinwohl zugute zu kommen. Es hätte perfekt sein können, doch in letzter Zeit war alles anders als sonst. Etwas drohte die Idylle ihrer Welt zu zerstören. Eine fremde Macht, die von außen kam. Von jenseits des Schutzwalls, aus dem Reich der Stummen Götter, die sie bis vor kurzem nur aus Erzählungen gekannt hatte. Yamira spürte, dass diese Ereignisse auch der Grund für Sorans plötzliches Auftauchen waren. Grundlos hätte er sie nicht in ihrer Lichtung aufgesucht, in der sie über ihr eigenes kleines Reich herrschte. Was hast du?, fragte sie ihn, als der Artgenosse vor ihr verharrte und sie auf eine Art und Weise musterte, als bedürfe seine Anwesenheit keiner weiteren Erklärung. Ja, hörst du es denn nicht?, herrschte Soran sie auf telepathischem Wege an, nachdem Yamira ihm nur ratlose Blicke schenkte. Die Farmerin kam nicht umhin, die Panik in seinen Worten zu vernehmen, die sich als leichtes Vibrieren unter ihrer Schädeldecke bemerkbar machte. Dies und der sorgenvolle Blick, mit dem Soran sie musterte, machten ihr deutlich, dass der Grund seines Kommens ein überaus ernster sein musste. Yamira schloss die Augen, konzentrierte sich, lauschte – und verstand, worauf Soran sie schon die ganze Zeit über hinweisen wollte. Es war wie eine Erschütterung. Eigentlich nur ein leichtes Vibrieren, das in ihrer geschärften Wahrnehmung rasch zu einem Beben anschwoll. Ein unheimlicher Vorbote dessen, was sie in kürzester Zeit erwarten würde. Was … geschieht? Die Worte formten sich noch in ihren Gedanken, als sie bereits eine Ahnung überkam.
Was hier geschah, erinnerte sie an ein Ereignis, das sich hinter vorgehaltener Hand wie ein Lauffeuer unter den Farmern verbreitet hatte. Es war wie an jenem Tag, an dem der Himmel eingestürzt war, ein Tor zum Reich der Stummen Götter geschaffen wurde und die Fremden gekommen waren. Als Freunde hatten sie sich ausgegeben und am Ende doch nur Tod und Zerstörung gebracht. Komm mit!, fuhr Soran sie an und deutete mit seinen Blicken die Richtung an, die ihm für einen Fluchtweg am geeignetsten erschien. Yamira reagierte auf seine Aufforderung mit einem Kopfschütteln. Ich kann nicht, entfuhr es ihr. Ich kann nicht fort von hier. Geh ohne mich! Der Ausdruck in Sorans Augen wechselte von Besorgnis zu blankem Entsetzen. Du verlangst von mir, dich deinem Schicksal zu überlassen? Yamira sah ihm starr in die Augen, dann schüttelte sie den Kopf. Noch wissen wir doch gar nicht, wo es passieren wird, entgegnete sie und wandte sich von ihm ab, um ihm ob dieser offensichtlichen Lüge nicht in die Augen sehen zu müssen. Sie wusste es besser. Das Epizentrum der Erschütterungen war deutlich auszumachen. Es lag genau unter ihr. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis die unheimlichen Angreifer die Kruste durchbrechen und dabei unweigerlich alles Leben auslöschen würden, das sich dahinter verbarg. Ich kann nicht, wiederholte Yamira die Worte. Ich kann nicht einfach so fliehen und aufgeben, was ich zeitlebens geschaffen habe. Es ist nicht so schlimm, wie es dir scheint!, widersprach Soran. Deine Arbeit ist nicht verloren. Du kannst wieder von Neuem beginnen. An einem anderen Ort … Yamira drehte sich wieder zu ihrem Artgenossen um. Die Erschütterungen hatten mittlerweile eine Stärke erreicht, die es überflüssig machte, in sich zu gehen, um sie wahrzunehmen. Ohne die Blickrichtung zu ändern, fokussierte sie das Blatt eines Farngewächses, das sich keck in die Schneise zwischen ihr und Soran reckte. Man musste genau hinsehen, um es wahrzunehmen, aber
wenn man es einmal erkannt hatte, war es schwer, die Vibrationen, die es erfasst hatten, zu ignorieren. Komm!, forderte Soran sie ein weiteres Mal auf. Noch ist Zeit. Yamira nickte. Dies war keine Zeit, um die Heldin zu spielen. Sie hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Heute mehr denn je. Eine Spur von Erleichterung stahl sich in Sorans Gesicht. Er setzte sich in Bewegung, drückte sich sanft an ihr vorbei und schlug die Richtung ein, die er vorhin angedeutet hatte. Yamira sah ihm kurz nach, wandte sie sich noch einmal dem Farngewächs zu, dessen Zittern nun auch einem ungeübten Auge kaum mehr entgehen konnte. Es tut mir leid, gab sie ihm auf mentalem Wege zu verstehen, stellvertretend für jeden anderen ihrer Schützlinge, die sie ihrem Schicksal überlassen würde. KOMM! Sorans Stimme war drängender denn je. Yamira löste ihre Blick, dann wandte sie sich um, wollte Soran nacheilen, als plötzlich … Erst war es wie ein stechender Schmerz, der heiß und sirrend ihren Kopf durchzuckte, sie schwindeln ließ und in die Knie zwang. Die Welt um sie herum, ihr Laboratorium – der heiß geliebte Garten – versanken hinter einem Schleier aus blendender Helligkeit. Nur am Rande ihres Bewusstsein bekam Yamira mit, wie sie zu Boden ging und ihre Hände auf ihre Ohren presste, als könne sie den schrecklichen Ton damit aus ihrer Wahrnehmung bannen, ihn zumindest mildern. Noch während sie die Bewegungen ausführte, wusste sie, dass dieser Akt der Verzweiflung keine Linderung verschaffen würde. Dieser Schmerz, dieses Geräusch, das ihn auslöste, war direkt in ihrem Kopf erklungen, hörbar für niemanden außer sie selbst. Hätte daran ein Zweifel bestanden, der Anblick Sorans hätte genügt, um sie eines Besseren zu belehren. Yamira sah auch ihn nur noch verschwommen und schemenhaft, doch sie erkannte, wie er langsam auf sie zukam, sich zu ihr herunterbeugte und verzweifelt versuchte, mit ihr in Kontakt zu treten.
Seine Mühen waren vergebens. Es gab kein Durchkommen. Yamiras mentale Kanäle waren verstopft von jenem infernalischen Lärm, der einer Luftschutzsirene gleich in ihr toste, dabei ihre gesamte Schädeldecke in Vibration versetzte. Die junge Farmerin richtete sich halb auf, wandte sich mit gehetztem Blick um. Obwohl sie das Geräusch in sich selbst ausgemacht hatte, war sie auf einmal davon überzeugt, dass die Quelle woanders zu finden sein musste. Irgendjemand nahm auf mentalem Wege Kontakt zu ihr auf, genauso wie Soran es noch immer versuchte. Ihr Blick flog über ihre Schöpfung, die vor ihr liegende Pflanzenwelt, die sie einst aus winzigen Schösslingen herangezüchtet hatte und deren dichtes Blattwerk sie nun umgab und überragte. Und da ahnte, nein, wusste sie, wer – nein, was – diesen schrillen Ton in ihr Bewusstsein pflanzte. Ihre Augen tasteten über den Schatten, der wenige Schritte vor ihr in die Höhe ragte. Der Busch. Ihr Busch. Durch ihre verzerrte Wahrnehmung wirkte er tatsächlich wie eine Gestalt. Ein humanoides Wesen, ein geliebter Mensch, der seine Arme ausgebreitet hatte und nur darauf wartete, sie darin willkommen zu heißen. Yamira stand auf, taumelte durch das Vakuum auf ihn zu. Wie aus weiter Ferne bekam sie mit, wie Soran sie mit fragendem Blick umtänzelte, dann nach ihrem Arm griff und versuchte, sie gewaltsam mit sich zu zerren – bis sie ihn abschüttelte wie ein lästiges Insekt. Schritt für Schritt ging sie auf den diffusen Schatten des Busches zu, dessen Schrei sie mit jeder Sekunde als weniger unangenehm empfand. Als sie ihn schließlich erreichte, die Arme ausstreckte und ihn berührte, war leises Wehklagen alles, was sie nunmehr vernahm. Es ist gut, ließ sie ihn auf telepathischen Wegen wissen. Erleichtert bemerkte sie, wie um sie herum Ruhe einkehrte. Yamira wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatte, mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen, bis sie schließlich die Berührung bemerkte, mit der etwas – jemand – an ihrer Schulter
zerrte. Soran!, wurde es ihr schlagartig bewusst. Der treue Freund musste außer sich sein, nicht wissend, von welcher fremden Macht sie auf einmal beseelt war. Stockend versuchte sie, sich aus der Umklammerung des Busches zu lösen. Erst als sie ihn spüren ließ, dass sie ihn nicht im Stich lassen würde, ließ er von ihr ab. Yamira drehte sich um, sah Soran tief in die Augen. Geh!, sandte sie ihm telepathisch zu. Lauf weg! Soran sah sie ungläubig an. Obwohl Yamira versuchte, ihren Entschluss vor ihm zu verbergen, schien er zu wissen, was in ihr vorging. Was ist mit dir?, fragte er dann auch schon. Ich bleibe hier. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Selbst, wenn ich es wollte … Was meinst du damit, selbst wenn du wolltest? Dass sie mich nicht gehen lassen, gab Yamira unumwunden zurück. Ich lebe schon zu lange unter ihnen, bin eine von ihnen. Sorans Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ich verstehe nicht … Das musst du auch nicht, drängte Yamira. Gehe einfach. Und sag den anderen, dass es mein Wille war! Mittlerweile hatten die Erschütterungen ein Ausmaß erreicht, dass Soran Probleme hatte, das Gleichgewicht zu wahren. Seine vibrierende Gestalt sah aus, als würde Yamira sie durch einen Wasserfall hindurch betrachten. GEH! Hätte Yamira ihm ihre Bitte entgegengebrüllt, Soran hätte sie ihr von den Lippen ablesen müssen. Das Tosen und Donnern, das die Erschütterungen begleitete, war mittlerweile zu einer Lautstärke angeschwollen, die jede Kommunikation unmöglich gemacht hätte. Soran kam nicht mehr dazu, darauf zu antworten. Die Erschütterungen erreichten ihren vorläufigen Höhepunkt – und entluden sich in einer Explosion aus Erde, Steinen, Pflanzenteilen. Sorans Gestalt verschwand aus Yamiras Blickfeld. Es war, als hätte
sich ein Vorhang zugezogen, um das Entsetzliche, das dahinter geschah, vor ihren Blicke zu verbergen. Staub drang in ihre Nase, legte sich auf ihre Lungenflügel. Ein salziger erdig-metallischer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Yamira ließ es geschehen. Wie in Trance ließ sie sich fallen, tastete mental nach der Aura des Busches, der irgendwo, nicht weit entfernt, in dem tobenden Inferno auf sie wartete. Dann, ganz plötzlich, war der Kontakt hergestellt. Warmes Licht ersetzte die Dunkelheit um sie herum, lieblicher Singsang das Brechen der Äste und Grollen des sich aufwerfenden Erdreichs. Yamira lächelte, während um sie herum die Welt unterging. Und dann, kaum einen Lidschlag später – war nur noch Stille.
Der Mann auf dem Thron bebte, als er auf seinem Schirm sah, was ihm die vorausgeschickten Sonden übermittelten. Der Feind hatte zugeschlagen. Dieses Mal nicht nur mit roher Gewalt, sondern mit einer perfiden List. Cronenberg sah es deutlich vor sich. Ähnlich wie erst vor kurzem John Clouds RUBIKON, waren drei der X-Schiffe bis zu Oortschen Kruste vorgedrungen, die die Erde wie ein Mantel umgab, sie vor der Außenwelt verbarg und vor äußeren Übergriffen schützen sollte. Und so wie auch das foronische Rochenschiff hatten sie die zerstörerische Kraft ihrer Bordkanonen eingesetzt, um ein kraterähnliches Loch in die Kruste zu brennen. Groß genug, um die Schiffe in sich aufzunehmen. Alles ging ganz schnell. Die X-Raumer waren längst im Vakuum unter der Gesteinskruste verschwunden, als Cronenberg den Sonden den Befehl gab, die Verfolgung aufzunehmen. Gleichzeitig gab er seiner Fraktalenarmee die Order, sich neu formieren, um den Feind an der soeben entstandenen Front zu stellen. Leichter gesagt als getan, wie sich alsbald herausstellte. Die Kampfverbände des Feindes dachten gar nicht daran, ihr Ab-
lenkungsmanöver zu beenden und sich zurückzuziehen. Unnachgiebig stellten sie sich den von den Fraktalen erbeuteten und nun von ihnen bemannten Schiffen entgegen und nahmen sie unter Beschuss. Ein ums andere Mal drohte Cronenberg, im Kampfgetümmel den Überblick zu verlieren. Als eines der X-Schiffe getroffen und in einem Flammenball vernichtet wurde, glaubte er im ersten Moment an einen Treffer seiner eigenen Leute. Bis er die mentalen Todesschreie Dutzender Fraktaler vernahm, die in der Explosion ihr Leben aushauchten. Verdammt! Das kam davon, wenn man versuchte, an zwei Fronten gleichzeitig den Überblick zu behalten. Wie um diesen Gedanken zu bestätigen, wandte sich Cronenberg der Übertragung der Sonden zu, die die Verfolgung der in die Kruste eingedrungenen X-Schiffe aufgenommen hatten. In schneller Geschwindigkeit klickte er sich durch die von ihnen aufgezeichneten Momentaufnahmen, sah das Chaos, das die eindringenden Flugkörper im Vakuum unterhalb der Oortschen Kruste angerichtet hatten, folgte ihnen bis zur Erde, bis zu jenem Punkt, der offenbar das Ziel der X-Schiffe darstellte. Er verstand nicht, weshalb, hatte keine Ahnung, was es dort geben konnte, das für die Angreifer von solch außerordentlicher Wichtigkeit war, dass sie dieses aufwändige Ablenkungsmanöver inszenierten – und dabei zahlreiche Verluste in Kauf nahmen. Er verstand es auch dann noch nicht, als er das Ziel vor Augen sah und das Ausmaß der Zerstörung begriff, das die feindlichen Bordkanonen angerichtet hatten. Dort unten, in der Metrop Moskau. Auch dann nicht, als er sah, was das wirkliche Ziel des X-Schiffes war.
Metrop Moskau Als Mitja, der alte Totengräber, die blinkenden Lichter am Himmel sah, dachte er sich zunächst nichts dabei. Auch als er die charakteristische X-Form erkannte, konnte ihn das nicht aus der ihm eigenen
Ruhe bringen. Immerhin wusste er um die Eindringlinge, die von jenseits des Himmels gekommen waren. Aus dem Reich der Stummen Götter, das durch den legendären und vor vielen Generationen geschaffenen Grenzwall von ihrer Welt abgeschirmt wurde. Obwohl es bisher nur die Farmer gewesen waren, die das Wirken der Eindringlinge und die Auswirkungen des daraufhin entflammten Krieges am eigenen Leibe zu spüren bekommen hatten, machten ihre Berichte auch in den Metrops die Runde. Bekannt war auch, dass die Armee des Herrschers den Kampf aufgenommen, zahlreiche Fluggeräte zerstört und einige von ihnen erbeutet hatte. Nicht weit von Mitjas Behausung befand sich eine Stätte, in der ein halbes Dutzend der kreuzförmigen Flugkörper gelagert, inspiziert und für die weitere Verwendung nutzbar gemacht wurde. Mitja hatte sie gesehen, wenn auch nur aus der Entfernung und mit großer Ehrfurcht. Er verstand nicht, welcher Zauber es war, der sie zum Fliegen brachte, doch zweifelte er keine Sekunde daran, dass es die Magie der Götter selbst war, die sie beseelte. Umso beeindruckender war es für ihn, dass die Armee des Herrschers es geschafft hatte, sich diese Magie nutzbar zu machen und sie für ihre Zwecke einzusetzen. Beeindruckend – und ein wenig unheimlich. Mitja reckte den Kopf in die Höhe und schirmte die Augen ab. Da sonst nur ein ständiges Zwielicht über der Stadt hing, geschaffen aus dem lebenspendenden Licht des Vakuums, empfand er die ankommenden Lichter als unerträglich hell. Mitja verfügte wie alle Bewohner der Metrops über eine Nachtsichtigkeit, verbunden mit einer starken Lichtempfindlichkeit, die die Augen schmerzen und tränen ließ, sobald sie mit direkter Helligkeit konfrontiert wurden. Vor dem gelblichen Schleier des Vakuumlichtes zeichnete sich die charakteristische Form dreier Flugkörper schattenhaft ab. Mitja wunderte sich. Sollten die Schiffe etwa zur nicht weit entfernten Lagerstätte am Rande der Stadt gebracht werden? Wenn ihn nicht alles täuschte, platzte das umzäunte Areal bereits aus allen Nähten, andererseits war er schon länger nicht mehr dort gewesen.
Der Alte stützte sich auf seinen knorrigen Stock, mit dessen Hilfe er seinen verwachsenen Körper in einer aufrechten Position hielt, schob den Hut in den Nacken und ließ den Blick über seine Umgebung schweifen. Hier, auf dem Hügel, einige hundert Schritte jenseits seines bescheidenen Heimes, hatte er einen hervorragenden Überblick über die Stadt, die wie ein Moloch vor ihm lag. Und immer wenn er sie aus der Ferne sah, wusste Mitja wieder, warum er ein Leben in Einsamkeit bevorzugte, so wie sein Vater und wie dessen Vater vor ihm. Die Stadt wirkte trostlos, wie sie da im Dämmerlicht vor ihm lag. Wie ein alter Mann, der schon längst dem Tod anheim gefallen war, und dessen verwesender Körper von Maden und Parasiten, die sich in seinem schwärenden Fleisch eingenistet hatten, künstlich am Leben gehalten wurde. Angewidert wandte Mitja sich um, als er das Dröhnen der Triebwerke vernahm. Ihm fiel auf, dass er die X-Raumer fast schon vergessen hatte, diese jedoch innerhalb der letzten Minuten ungebremst Kurs gehalten hatten und sich jetzt in einer Dreierformation auf die Stadt hinabsenkten, wie gewaltige Insekten auf einen schlafenden Riesen. Komisch, dachte Mitja, als er erneut die Augen abschirmte und sich gen Himmel wandte. Das Auffanglanger für die erbeuteten Feindesschiffe lag in einer ganz anderen Richtung. An jener Stelle, an der sich die X-Raumer herabsenkten befand sich lediglich … Mitjas Gedankenfluss stoppte, als er die Erschütterungen bemerkte, die sich mit einem Mal durch das Erdreich pflanzten. Nun beidhändig auf seinen Stock gestützt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wandte er sich um, in die Richtung, in der er das Epizentrum der Erschütterungen vermutete. Im selben Moment sah er den massigen Körper, der sich dort in die Lüfte erhob. Es handelte sich um eines der erbeuteten, kreuzförmigen Schiffe, die auf dem umzäunten Gelände gelagert wurden. Eben noch wie festgewachsen auf dem Boden ruhend, jagte es nun in die Höhe, nahm Kurs auf die sich der Metrop nähernden Flugkör-
per – und eröffnete unvermittelt das Feuer! Was tut er da?, ging es Mitja durch den Kopf. Auch wenn er nicht verstand, was genau da los war, so ahnte er doch, dass hier etwas verdammt schief lief. Der angegriffene X-Raumer wich der tödlichen Salve aus, ein anderer erwiderte das Feuer. Sie kämpfen gegeneinander! Noch während Mitja dies dachte, wurde das aufsteigende Schiff von der Salve des Angreifers getroffen und explodierte in einem Feuerball. Mitja wandte sich ab, als würde er die Hitze des Feuers auch noch über diese Entfernung hinweg auf seinem Gesicht spüren. Die plötzliche Helligkeit brannte in seinen Augen und raubte ihm sekundenlang die Sicht. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich den Donner der Explosion vernahm. Und noch einmal so lange, bis sich sein Sichtfeld klärte und er sich wieder der Metrop zuwenden konnte. Dort war mittlerweile hektisches Treiben ausgebrochen. Die glühenden Trümmerstücke des vernichteten Raumers hatten einige Gebäude in Brand gesteckt. Heiß loderten die Flammen in die Höhe und griffen bereits auf benachbarte Gebäude über. Aus weiter Ferne vernahm Mitja entsetzte Schreie, die der aufkommende Wind an sein Ohr trug. Eine leichte Kälte legte sich auf seinen Nacken. Ein fröstelndes Gefühl, von dem er nicht genau wusste, ob es von dem Anblick rührte, der sich ihm bot, oder von dem eisigen Nachtwind in seinem Nacken, den er jetzt, im Widerschein der Flammen, noch intensiver wahrnahm, als noch kurz zuvor. Und dann geschah etwas, das ihn das chaotische Inferno in der Stadt zu seinen Füßen vergessen ließ. Etwas, das zugleich die Antwort auf die Frage war, welches Ziel die ankommenden X-Schiffe verfolgten, die offensichtlich nicht von Soldaten des Herrschers bemannt waren. Mit abgeschirmten Augen beobachtete Mitja, wie sie eine Schleife flogen, zunächst wieder an Höhe gewannen, dann einen bestimmten Punkt im Zentrum der Stadt ansteuerten – und sich langsam darauf
hinabsenkten. Es war der Turm der alten Herrscher. Jener Ort, an dem sie residiert hatten, als der Zorn der stummen Götter über sie alle hereingebrochen war. Und was dann geschah, verstand Mitja nicht einmal ansatzweise. Die Flugschiffe nahmen den Turm, der auf einmal zu vibrieren begann, in ihre Mitte. Seine Spitze löste sich im nächsten Moment vom Unterbau, verharrte zwischen den X-Schiffen in der Schwebe – und erhob sich schließlich mit ihnen in die Lüfte. Dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Erst jetzt begriff Mitja, was er gerade beobachtet hatte. Die Schiffe haben den Turm geklaut!
Das Geschöpf, das einmal Reuben Cronenberg gewesen war, beobachtete das Geschehen im Zentrum der Metrop, ohne es auch nur ansatzweise zu verstehen. Es bestand kein Zweifel mehr daran, was der eigentliche Grund für den Angriff der Käferartigen gewesen war. Ihr Ziel war der uralte Residenzturm gewesen, in dem einst einer der Keelon-Master residiert hatte. Doch weshalb? Seit der Katastrophe war er verwaist und diente keinem anderen Zweck als dem eines Mahnmals aus der Vergangenheit. Ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das über die Einwohner der Metrop wachte und wie so vieles im Laufe der Zeit von ihren Einwohnern mystisch verbrämt worden war. Die eingedrungenen X-Schiffe hatten ihn eingekreist, den oberen Bereich, in dem einst der Keelon-Master residiert hatte, herausgeschnitten, und alsbald mit ihrer Beute im Schlepptau die Flucht angetreten. Schäumend vor Wut hatte er beobachtet, wie die Invasoren eines der erbeuten X-Schiffe mit einem gezielten Schuss ausgelöscht hatten und mit ihrer Beute auf demselben Wege verschwunden waren, den sie gekommen waren. Fassungslos nahm Cronenberg Kontakt zu jenen X-Schiffen auf, die noch immer in einem sinnlosen Scharmützel mit den angreifen-
den Treymor-Schiffen gefangen waren, von dem er nun wusste, dass es nur ein Ablenkungsmanöver war. Wie um dies zu bestätigen, formierten sich die verbliebenen Treymor-Schiffe zum Rückzug. Cronenberg setzte sich mit den Fraktalen in Verbindung und befahl ihnen, sie ziehen zu lassen. Es gab wichtigere Aufgaben. Was immer die Treymor mit der erbeuteten Residenz im Schilde führten, er war fest entschlossen, es herauszufinden. Sie würden es bereuen, in sein Reich eingedrungen zu sein. Er hatte nun nicht mehr vor, sie an ihrer Flucht zu hindern, ganz im Gegenteil. Der Treymorverband würde freies Geleit erhalten. Und würde ihn schnurstracks dorthin führen, woher er gekommen war …
Die Kernbesatzung der RUBIKON hatte sich auf der Brücke versammelt und gebannt der Erzählung ihres Telepathen gelauscht. Algorian hatte so ausschweifend und farbenfroh erzählt, dass es zuweilen den Eindruck machte, als sei er selbst dabei gewesen. Ein Gedanke, der wahrscheinlich gar nicht so falsch war. Schließlich hatte ihm das fraktale Geschöpf im Augenblick seines Todes seine ganz persönlichen Eindrücke und Gefühle übermittelt. Was sie mit dem soeben Erfahrenen anfangen sollten, dessen war Cloud sich noch unschlüssig. »Um dich richtig zu verstehen: Ein Verband der treymorschen XSchiffe ist durch die Oortsche Schale gebrochen, hat die Metrop Moskau angesteuert und die dortige Residenz entführt?« »Den oberen Teil der Residenz«, konkretisierte der Aorii. John und Scobee tauschten ratlose Blicke. Jarvis nahm die Sache etwas gelassener. »Dieses Ungeziefer hat einen an der Klatsche, wenn ihr mich fragt. Trau keinem mit mehr als vier Beinen, kann ich da nur sagen.« »Was wollen sie mit der Residenz? Und wieso wussten sie, wo sie sie finden?« »Das hat Cronenberg sich wohl auch gefragt.« Cronenberg … Schon die bloße Erwähnung des Namens ließ Johns
Stimmung in den Keller rutschen. »Das dumme Gesicht hätte ich gerne gesehen«, meinte dagegen Jarvis. »Dafür müsste man den Krabblern fast schon wieder einen Orden verleihen.« Cloud nickte versonnen. Der Gedanke, dass Cronenberg die Grenzen seiner Macht vor Augen geführt bekam, hatte etwas Versöhnliches. Allerdings wäre er nicht der ausgebuffte Hund, als den John ihn seit buchstäblich einer Ewigkeit kannte, wäre es ihm nicht gelungen, aus dieser scheinbaren Niederlage irgendeinen Nutzen zu ziehen. »Wie hat Cronenberg reagiert?«, hakte John nach. Dies war aus Algorians ziemlich wirrer und diffuser Erzählung noch nicht so ganz hervorgegangen. »Er hat einem der X-Schiffe befohlen, die Residenzdiebe zu verfolgen.« »Hatte er damit Erfolg?« Algorian legte den Kopf schief, als müsste er noch einmal in sich hineinhorchen, um die gewünschten Informationen abrufen zu können, dann machte er eine verneinende Geste. »Jedenfalls nicht den, den Cronenberg sich erhofft hat«, fügte er hinzu.
Vergangenheit Durch die Augen der Fraktalen erlebte Reuben Cronenberg die Verfolgung der Residenzdiebe quer durch die Milchstraße hautnah mit. Er hatte das Gefühl als habe er persönlich im Kommandositz Platz genommen, von wo aus er die Mission leitete. Allmählich hatte er eine grobe Ahnung davon, wohin die Reise der Residenzdiebe führte. Ihr Ziel lag irgendwo im Orion-Arm, wohin das fraktale X-Schiff die Käferartigen verfolgt hatte. Bald würde es sich entscheiden. Bald würde er ihre Basis gefunden haben, und dann sollte ihnen …
Er kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu führen. Eben hatte er die X-Schiffe noch deutlich vor sich gesehen. Und dann, von einem Moment auf den anderen … waren sie weg … Wie vom Erdboden verschluckt.
»Der Pulk der Residenzdiebe war … verschwunden?« »Nun … In der Wahrnehmung seiner Verfolger hatte er sich in Luft aufgelöst«, erwiderte Algorian fast schon entschuldigend. »Das ist leider alles, was ich den Bewusstseinssplittern des Fraktalen entnehmen konnte.« Cloud nickte versonnen. Mit dem Verschwinden war das so eine Sache, wie sie in letzter Zeit häufiger am eigenen Leibe erfahren hatten. Wenn man etwas nicht sah, konnte man daraus nicht automatisch ableiten, dass es nicht existierte. Vielleicht tarnte es sich einfach nur gut genug. »Du hast deine Entscheidung getroffen, sehe ich das richtig?«, fragte Scobee, nachdem sie Johns nachdenklichen Gesichtsausdruck interpretiert hatte. »Du willst zu den Koordinaten reisen, zu denen Cronenbergs Schergen die Residenzdiebe verfolgt haben. Bevor sie ihre Verschwindibus-Nummer abgezogen haben.« Cloud schürzte die Lippen und wiegte den Kopf. »Nun … es wäre zumindest interessant zu sehen, was wir dort vorfinden. Mit unseren ganz eigenen Möglichkeiten. Ich sage nur, Schleier des Vergessens …« »Aber wir wissen doch gar nicht, wo diese Koordinaten genau sind«, warf Jarvis ein. Alle Blicke wandten sich Algorian zu, der entschuldigend die Schultern hob. »Derart genaue Information lassen sich aus den Erinnerungsfetzen nicht so ohne weiteres ableiten. Ihr könnt froh sein, dass ich überhaupt so vieles retten konnte.« »Keine Sorge«, beschwichtigte ihn Cloud. »Niemand macht dir einen Vorwurf. Aber vielleicht können wir aus den Informationen, die dir zur Verfügung stehen, abstrahieren, wo die Stelle ungefähr
ist. Ich denke da an Details wie die ungefähre Länge des Fluges, die Flugrichtung, Planetenkonstellationen …« Scobee sah Cloud verwundert an. »Findest du nicht, dass du dich jetzt an Strohhalme klammerst? Selbst wenn wir grob abschätzen können, wohin die Reise ging, bleibt immer noch ein Areal übrig, das wir unmöglich komplett durchforsten können. Wir wissen ja nicht einmal genau, wonach wir eigentlich suchen.« »Das müssen wir auch nicht. Wir füttern die KI mit allen Details, die Algorian aus der Erinnerung des Fraktalen zutage fördern konnte und lassen sie das Gebiet für uns eingrenzen.« Das klang nach einem Plan, mit dem sich alle anfreunden konnten.
Algorian machte sich alsbald daran, Sesha mit den zur Verfügung stehenden Informationen zu füttern. Die Berechnungen, die die KI auf ihrer Grundlage anstellte, würden allerdings noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die die KI mit einer Präsentation überbrückte. Auf Clouds Bitte hin hatte sie die Methode, mit der sie die Saskanentarnung der Treymorwelten im Zentrum der Milchstraße überlistete, auf die gesamte Milchstraße angewandt. Schließlich war anzunehmen, dass die Treymor den »Schleier des Vergessens« nicht nur über die zentrumsnahen Sonnensysteme gestülpt hatten, sondern auch entferntere Bereiche miteinbezogen. Das Ergebnis, ein aus den Ortungsdaten abgeleitetes Modell, war nun für aller Augen in dreidimensionaler Darstellung in der Holosäule der Zentrale zu sehen. Es war erschreckend … Wie erschreckend, das ließ sich aus den Gesichtern der Anwesenden – und das waren von der Stammcrew alle bis auf Aylea und Jelto, die sich eine Auszeit genommen hatten und sich noch immer von ihrem Erlebnis im hydroponischen Garten erholten – deutlich ablesen. Sie alle hatten in den Sarkophagsitzen, die kreisförmig um die Ho-
losäule angeordnet waren, Platz genommen, und das war wohl auch gut. Dem einen oder anderen hätte es ansonsten möglicherweise den Boden unter den Füßen weggerissen. Jetzt, ohne die schützende Tarnung, wurde das Ausmaß, das die treymorsche Ausbreitung in der Milchstraße erreicht hatte, erst richtig ersichtlich. So war die Zahl der Systeme, die von Diskusschiffe angesteuert und von X-Schiffen umlagert wurden, mit dem bloßen Auge kaum noch zählbar. Und noch etwas war erschreckend: Das Solare System war quasi umschlossen von Treymorzentren. Sie erinnerten an ein Krebsgeschwür, das sich in einem Organismus unaufhaltsam ausbreitete und immer neue Metastasen bildete. »Wenn man nicht rechtzeitig den Kammerjäger ruft«, ätzte Jarvis, aber sein Gesicht war dabei alles andere als amüsiert. »Das Solare System ist nahezu eingekesselt«, fasste Commander Cloud zusammen, was sie in der schematischen Darstellung sahen. »Die Erde befindet sich regelrecht im Würgegriff dieser Extraterrestrier!« »Aber wieso?«, fragte Scobee kopfschüttelnd. »Welches spezielle Interesse könnten sie ausgerechnet an unserer einstigen Heimat haben?« Die Worte verklangen im Raum, ohne dass sich einer von ihnen berufen fühlte, eine Antwort zu geben. »Sie verfolgen einen Plan, so viel steht fest«, äußerte Cloud sich schließlich. »Und die Erde scheint darin eine zentrale Rolle zu spielen …« »Warum haben Sie sie denn dann nicht schon viel früher angegriffen?«, fragte Scobee, die Johns Erklärungsansatz sichtlich unbefriedigend fand. »Vielleicht«, schlug Algorian vor, »haben sie sie bisher nicht gefunden …« John dachte einen Moment lang darüber nach. Was der Aorii da sagte, war nicht ganz verkehrt. Möglicherweise war die Hohlwelterde zu unauffällig gewesen, weil sie keine verwertbaren Ortungssignale ausgesandt hatte. Und wann war denn der erste Angriff der
Käferartigen erfolgt? Kurz nach der Ankunft der RUBIKON … Konnte es sein, dass sie die Belagerer überhaupt erst auf den Standort der Erde aufmerksam gemacht hatten? »Gut möglich«, antwortete er. »Offenbar haben sie das Gebiet zuvor eingegrenzt. Das, wonach sie gesucht haben, konnten sie jedoch bis dahin nicht genau lokalisieren.« »Bleibt die Frage, welches Ziel sie verfolgen?« Cloud dachte so angestrengt nach, dass sich seine Gedanken fast überschlugen. Die Ausbreitung der Treymor im ganzen Milchstraßensystem. Der Angriff auf die Erde. Der Diebstahl der Moskauer Residenz … Wie passte das alles zusammen? Vor allem Letzteres stellte ihn vor ein Rätsel. Hatten die Treymor schon zuvor Kenntnis von der Residenz gehabt, oder waren sie nur durch Zufall darauf gestoßen und aus einer irrwitzigen Überlegung heraus zu der Überzeugung gelangt, dass der ehemalige Herrschaftssitz eines Keelon-Masters irgendeinen Nutzen für sie haben könnte? Nein, alles, was sie wussten, deutete darauf hin, dass sie von Anfang an alleine darauf aus gewesen waren, den ganzen Aufwand nur deshalb betrieben hatten. Je mehr er darüber nachdachte, desto überzeugter war er von der Richtigkeit seines Entschlusses, die Koordinaten aufzusuchen, zu denen Cronenberg und die Fraktalen die Residenzdiebe verfolgt hatten. Dort, so vermutete er, würden sie die Antwort auf die meisten ihrer Fragen finden. Wenn es ihnen – anders als Cronenbergs Armee – denn gelang, herauszufinden, wohin die Schiffe plötzlich verschwunden waren. »Sesha, wie weit bist du mit deinen Berechnungen?« »Nach Analyse der mir zur Verfügung gestellten Daten, kann ich den Zielort mittlerweile grob eingrenzen …« Es folgten Details. »Na, das ist doch schon etwas«, zeigte sich Jarvis zufrieden. Cloud war derselben Meinung. Ohne weitere Überlegung gab er Sesha den Befehl, das besagte Gebiet anzusteuern. Bis sie es errei-
chen würden, hatte Sesha ihre Berechnungen hoffentlich noch weiter konkretisiert. Tatsächlich stellte sich bei der weiteren Auswertung der Daten heraus, dass die Koordinaten, die der Fraktale in sich getragen hatte, mit einem weiteren Echo übereinstimmten, das Sesha bei ihrem Milchstraßenscan gefunden hatte. Das Versteck der Treymor, zu dem sie die gestohlene Residenz gebracht hatten, war enttarnt, die Koordinaten bekannt. Nun konnte so gut wie nichts mehr schief gehen. So dachten alle …
6. Die Besatzung nutzte den Flug, um sich von der Hatz auf den Fraktalen zu erholen. Vor allem den Angks hatte ihr außergewöhnlicher mentaler Einsatz an den physischen und psychischen Kräften gezehrt. Sie verbrachten die meiste Zeit innerhalb der Grenzen ihres »Dorfes«, wo sie die beachtenswerten Fortschritte, die Jelto bei der Begrünung des Areals machte, in vollen Zügen genossen, wie sich Cloud bei einem seiner Besuche selbst überzeugen konnte. Genau genommen war auch John angetan von dieser zweiten grünen Lunge, die hier inmitten des Schiffes heranwuchs. In Gedanken machte er sich die Notiz, Jelto nach getaner Arbeit mit der Errichtung weiterer Parkanlagen zu betrauen. Irgendwie musste man sich die Existenz eines schiffseigenen Gärtners doch zunutze machen … So verging die Zeit buchstäblich wie im Fluge, bis Sesha ihre Ankunft bei den Zielkoordinaten vermeldete. Sofort fand sich fast die komplette Stammcrew in der Zentrale ein: John, Scobee, Jarvis, Aylea, Jiim, Algorian. Selbst Jelto unterbrach seine Arbeit für einen kurzen Moment, um seine Neugier zu stillen. Dieses Mal war keiner der Anwesenden überrascht, als Sesha verkündete, dass ein oberflächlicher Scan ihrer Zielkoordinaten ergebnislos geblieben war. Cloud hatte die KI ganz bewusst angewiesen, den Schleier des Vergessens erst in seiner und der Anwesenheit der Gefährten zu lüften. Er wollte dabei sein, wenn es geschah, wollte den Moment, in dem das Rätsel gelöst wurde, persönlich erleben. Und dass dies gleich geschehen würde, stand außer Frage. Schon alleine die Anwesenheit zahlreicher X-Schiffe, die immer wieder teils wie aus dem Nichts auftauchten, teils wie im Nichts verschwanden, war ein Hinweis darauf, dass sie es auch hier mit dem Saskanen-Phänomen zu tun hatten. John räusperte sich, dann erteilte er der KI den Befehl, den hochs-
peziellen Scan durchzuführen. Der Vorhang fiel. Und was dahinter zum Vorschein kam, war mehr als nur eine Sensation. Es war eine Unmöglichkeit.
»Eine … Sonne?« Aylea war es, die den Anblick als Erste in Worte fasste. Für die Dauer einiger Sekunden war John tatsächlich sprachlos. Wie alle anderen Besatzungsmitglieder hatte er mit einem weiteren, verpuppten Planeten gerechnet. Was sonst hätte sich hinter dem Schleier verbergen sollen? Da erschien ihm das Bild, das nun in der Holosäule zu sehen war, schon fast wie ein Hohn. Wie ein grausamer Scherz, den die KI sich auf ihre Kosten erlaubte. Nein, ein Zweifel war ausgeschlossen. Bei dem glutroten Himmelskörper, den Sesha hinter dem Saskanenschleier sichtbar gemacht hatte, handelte es sich definitiv um eine Sonne. Hatte ihre Verblüffung die Mannschaftsmitglieder in den ersten Sekunden die Sprache gekostet, so begannen sie nach und nach damit, ihrer Verwunderung Ausdruck zu verleihen. »Da denkt man, man hätte schon alles gesehen, und dann sowas«, murmelte Jarvis vor sich hin. Scobee war die Einzige, die voller Überzeugung den Kopf schüttelte. »Es kann nicht sein! Was wir da sehen, ist nur ein weiteres Trugbild. Seht doch nur! Die X-Schiffe lassen sich davon überhaupt nicht beeindrucken!« Tatsächlich tauchte in diesem Moment ein ganzer Schwarm von ihnen auf, der ungebremst auf den ominösen Glutball zusteuerte. Schon flogen die Ersten von ihnen in die Korona ein und – verschwanden! »Sesha, irgendein Hinweis, was mit den Schiffen passiert?« »Negativ«, gab die KI nur eine Sekunde später zurück. »Keine messbare Explosion? Nichts, das auf die Zerstörung der Schiffe hinweist?«
»Nichts dergleichen. Sie verschwinden einfach im Nichts …« »Im Nichts«, wiederholte John die letzten Worte mit nachdenklichem Blick. Scobee hatte völlig recht, mit dem was sie gerade gesagt hatte. Es war ein Trugbild. Eine weitere Absicherung, die etwas beschützen sollte, was sich dahinter verbarg. »Dieses Etwas muss deutlich mehr sein, als nur ein weiterer Brutplanet«, meinte Jiim, nachdem John seine Gedanken mit den anderen geteilt hatte. »Sehr viel mehr … Weshalb sonst dieser Aufwand.« »So ist es, Jiim«, entgegnete John, ohne seinen Blick von dem glutroten Objekt in der Holosäule zu nehmen. »Und wir werden herausfinden, was es ist …!« »Du meinst …?« Cloud nickte entschlossen. »Wir wagen den Vorstoß …«
Erst nachdem John alle Besatzungsmitglieder von seinem Entschluss informiert hatte, gab er dem Schiff die Anweisung, diesen in die Tat umzusetzen. Die Kernbesatzung befand sich geschlossen in der Zentrale, als es endlich so weit war. Kein einziger der Sarkophagsitze blieb diesmal unbesetzt. In der Zentrale herrschte eine knisternde Spannung, als John endlich den Befehl gab, den Beobachtungsposten zu verlassen und langsam Kurs zu setzen. Alle Blicke waren wie hypnotisiert auf den feuerroten Glutball gerichtet, der inzwischen die halbe Holosäule einnahm. Ein Himmelfahrtskommando, dachte John. Und alle haben sich widerspruchslos bereit erklärt, mir zu folgen. Was für eine Truppe, ging es ihm stolz durch den Kopf, dicht gefolgt von einem anderen, wesentlich beunruhigenderen Gedanken: Was, wenn ich mich geirrt habe? Rasch schob er den Einwand beiseite und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Wäre er nicht hundertprozentig von der Richtigkeit seiner Überlegungen, die zu dieser Entscheidung geführt hatten, überzeugt gewesen, er hätte dem Schiff auf der Stelle
den Befehl zur Umkehr erteilt. Nein, er wusste genau, was er da tat. Die Besatzungen der treymorschen X-Schiffe waren schließlich nicht lebensmüde. Vielmehr waren sie Meister der Tarnung, wie John uneingeschränkt anerkennen musste. Mithilfe der Saskanen hatten sie ganze Sonnensysteme hinter einem Schleier verborgen, und auch der Glutball war nichts als bloße Mimikry. Alles andere ergab keinen Sinn. »Sesha, wie ist die Lage?« Die KI hatte seit geraumer Zeit keine Meldung erstattet. »Alle Systeme laufen auf Hochtouren.« »Aber sie laufen«, murmelte Scobee neben ihm. John wandte sich zu ihr um. Auch im rötlichen Widerschein der Holo-Sonne war die Anspannung auf ihrem Gesicht kaum zu übersehen. »Kurs halten!«, wies Cloud an. Ein Befehl, der weniger an die KI gerichtet war, sondern mehr dazu diente, seine Entscheidung sich selbst gegenüber zu bestätigen. Der Glutball rückte unaufhaltsam näher, wie die ständig eintrudelnden Flugkoordinaten bestätigten. Zunächst blieb an Bord alles stabil. Bis die erste Warnmeldung eintraf. »Systeme nähern sich ihrer kritischen Belastung! Eine Umkehr wird dringend empfohlen!« »Kurs halten!«, gab John mit steinerner Miene zurück, während sich die beunruhigten Blicke der anderen auf ihn richteten Verdammt, er wusste, was er ihnen schuldig war. Auf keinen Fall durfte er ihre Sicherheit gefährden. Wenn es auch nur ansatzweise Grund zu der Annahme gab, dass er sich geirrt hatte … »Systeme nähern sich ihrer Belastungsgrenze!« »Mein Gott!« Es war Jelto der es ausstieß und sich im nächsten Moment die Hände vor die Augen riss. John blieb unnachgiebig. »Kurs halten!« »John, irgendetwas stimmt nicht«, sagte Scobee mit belegter Stimme. Sie hatte ihren Blick starr auf die Systemdaten gerichtet, die permanent in den unteren Rand der Holosäule eingespielt wurden. »Ich
glaube, wir haben uns geirrt!« »Genau das wollen Sie doch, dass wir denken!«, gab Cloud zurück. »Du hast es doch selbst gesagt. Das Ganze ist nur ein Trick.« »Registriere erste Systemausfälle!«, gab Sesha nüchtern, aber doch mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme bekannt. »Kurs halten!«, bestätigte John ein weiteres Mal! Wie hypnotisiert starrte er auf die Flugkoordinaten. Der Eintritt in die Korona stand kurz bevor. »Ausfälle betragen über 80 Prozent!« Das rötliche Blinken eines Warnlichtes durchzog nun die Zentrale. Scobee sah John nun nicht mehr nur eindringlich, sondern fast flehentlich an. »Wir müssen umkehren!«, sagte sie leise, dafür umso drängender. »Dafür«, murmelte Cloud, »ist es zu spät …« Er presste die Lippen so fest zusammen, dass diese einen dünnen weißen Strich bildeten. Einen Moment lang war er sich nicht mehr sicher, ob es noch pure Rationalität war, die ihn zu seinem Handeln bewegte, oder doch Wahnsinn. War er wirklich bereit, seine Mannschaft zu opfern, nur um ihr – und sich – etwas zu beweisen? »Systemausfälle betragen 90 Prozent. Aktiviere alle verbleibenden Reserven!« »Shit!« Jarvis hatte den Fluch lange zurückgehalten, aber jetzt musste er einfach raus. John sah, dass nun alle wie hypnotisiert auf die Holosäule starrten, die Hände in die Außenseiten der Sarkophagsitze gekrallt, als würde sie das vor der möglicherweise eintretenden Katastrophe beschützen. »Sesha, wie weit noch?«, rief Cloud mit erhobener Stimme, obwohl auch ein Flüstern genügt hätte, um mit der KI in Kontakt zu treten. »Der Eintritt in die Korona in zehn … neun … acht …« »John, wir schaffen es nicht!«, rief Scobee, den Blick weiter auf die Systemdaten gerichtet. »vier … drei … zwei … eins …!« Und dann, buchstäblich auf einen Schlag, war alles vorbei. Das rote Blinken erstarb abrupt, die Systemdaten normalisierten sich in
Sekundenschnelle – und das Bild der Sonne verschwand und wurde durch die Außenansicht ihrer neuen Umgebung ersetzt. »Wir haben es …« … geschafft, wollte Cloud noch sagen, doch das Wort fror buchstäblich auf seinen Lippen ein, als er erkannte, was das Trugbild der Sonne verborgen hatte.
Ein Raunen ging durch die Reihen der Besatzungsmitglieder, als diese nach und nach verstanden, was die Darstellung der Holosäule ihnen da präsentierte. »Das ist Wasser! Wir gleiten durch Wasser!«, rief Aylea aus und deutete mit Zeigefinger in Richtung Holosäule, als müsse sie die anderen erst darauf aufmerksam machen. Teufel auch!, dachte Cloud. Er hatte zwar geglaubt, nein, er war überzeugt davon gewesen, dass diese Biester sie mit der angeblichen Sonne zum Narren gehalten hatten, aber damit, mit diesem Irrsinn, hatte er nicht einmal ansatzweise gerechnet. Die Holosäule die die Ergebnisse der Ortungssensoren in eine maßstabstreue, schematische Darstellung übersetzte, ließ keinen Zweifel an dem Element, in das sie sich mit ihrem Eintritt in die Sonnenkorona begeben hatten. Es handelte sich dabei tatsächlich um Wasser! Wasser, in dem unzählige Planetenkugeln schwammen, wie unschwer zu erkennen war! »Leute, ihr dürft mich gerne für verrückt halten«, meinte Jarvis nach einer Weile. »Aber hatten wir so etwas Ähnliches nicht schon einmal?« Jarvis musste nicht aussprechen, woran er dachte. Jedem von ihnen geisterte der Begriff in diesem Moment durch den Kopf: Tovah'Zara. Der Aquakubus! Dieser Würfel aus Wasser, einst geschaffen von den Foronen, um ihr Volk vor ihren Feinden zu beschützen, gehörte zu den bizarrsten Phänomen, mit denen sich die Gefährten seit ihrer Reise in die Zukunft konfrontiert gesehen hatten. Hier hatte im Grunde alles be-
gonnen. Hier waren sie auf die Foronen gestoßen, hatten ihre Bekanntschaft mit dem von ihnen erschaffenen Rochenraumer gemacht, und ihre Reise an Bord der SESHA angetreten. Zunächst noch als geduldete, aber kaum geachtete Gäste der Foronen. Das alles schien so lange her. Eine kleine Ewigkeit, wenn man in Betracht zog, was seitdem alles geschehen war. Algorian, Cy, Aylea und Jelto waren damals noch gar nicht bei ihnen gewesen. Sie hatten sie erst später in ihrer Mitte willkommen geheißen. Aber natürlich wussten die vier bestens über den sagenhaften Kubus Bescheid, hatten ihnen die drei Menschen aus der Vergangenheit doch längst alles über den Beginn ihrer Reise an Bord des Rochenraumers erzählt. Dennoch waren die vier Anderen natürlicher noch beeindruckter von dem Anblick, der sich ihnen da bot, als John, Scobee und Jarvis, die das alles schon einmal gesehen hatten. »Ich habe immer versucht, ihn mir vorzustellen«, hauchte Aylea, ohne ihre Blicke von der bizarren Unterwasserwelt zu lösen. »Aber das übertrifft wirklich alles …« Cloud sah sich plötzlich in der Pflicht, den Spielverderber zu spielen: »Noch wissen wir nicht, ob es wirklich der Kubus ist«, wandte er ein. »Wie viele fliegende Aquarien kennst du denn noch?«, gab Jarvis gewohnt flapsig zurück. »Alles was ich damit sagen will ist, dass wir zunächst einige Zeit dafür aufwenden sollten, unsere Umgebung kennenzulernen. Sesha?« »Ich habe bereits mit einer Analyse begonnen. Erste Ergebnisse folgen in Kürze.« »Ich verstehe schon, was du meinst, John«, sagte Scobee. »Eigentlich kann es fast nicht sein. Es kann sich dabei nicht um denselben Kubus handeln. Ich meine … Wie sollte er Darnoks Wüten entgangen sein …?« Sie kamen nicht mehr dazu, Scobees Frage näher zu erörtern, da Sesha in diesem Moment eine weitere schematische Darstellung ein-
spielte. Sie zeigte das Objekt, in dem sie sich befanden, als Ganzes. Tatsächlich handelte es sich dabei um ein würfelförmiges Konstrukt, bestehend aus Wasser – und den darin eingebetteten Planetensystemen. Nach und nach wurden weitere Daten eingespielt, die Aufschluss über Größe und Beschaffenheit des Quaders gaben. »Ich muss mich korrigieren«, gab Scobee sich einsichtig. »Es ist der Kubus … Oder zumindest ein baugleiches Objekt …« »Sesha, kannst du das bestätigen?«, fragte John. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Positiv, Commander. Es handelt sich dabei um die Heimat der Ewigen Stätte …« Ein Ruck ging durch die drei Menschen aus der Vergangenheit. Die Ewige Stätte … Sie erinnerten sich noch zu gut an jenen Ort, der von den Vaaren beschützt worden war. Die vorübergehende Heimat der in der jahrtausendelanger Stasis schlafenden Foronen, die von den Vaaren als Götter verehrt worden waren. Gab es sie noch? Die Geschöpfe dieser absonderlichen Welt? Die herrschenden Vaaren und die ihnen dienenden Heukonen? Die Luuren, die über die Protowiesen bestimmten, und die über eine so genau festgelegte Lebensspanne verfügten, dass sie den Zeitpunkt ihres Todes von ihrer Geburt an kannten? All das war schon so lange her, dass es Cloud zutiefst überraschen würde, noch eine Spur von ihnen zu finden. Andererseits … Wenn es den Kubus noch gab, vielleicht waren auch seine Welten und deren Bewohner darin konserviert. Unbeeinflusst vom Darnoks Zeitmanipulation … Doch selbst wenn … Da es offensichtlich die Treymor waren, die mittlerweile über den Kubus herrschten, konnte er sich ausmalen, was das für alle hier noch existierenden Völker bedeutete … »Also, ich verstehe nur noch Bahnhof«, kommentierte Jarvis, nachdem sie die Ortungsdaten eingehend studiert hatten. »Was haben die Treymor mit dem Kubus zu tun?« »Möglicherweise ist es ihnen gelungen, dieses einzigartige Relikt
zu bewahren«, gab John zurück. »Und es für ihre Zwecke einzusetzen.« Was diese auch immer sein mochten. »Erst der Diebstahl der Residenz, jetzt das …«, murmelte Scobee, mehr zu sich selbst. »Haben diese Biester ihre Fühler denn überall drin?« »Sieht ganz danach aus«, meinte Cloud. »Sie sind offenbar die herrschende, alles bestimmende Rasse in der Galaxis geworden …« Fakt war, die Treymor hatten den Kubus nicht nur in Besitz genommen, sie hatten ihn für ihre Zwecke verändert, wie eine genauere Analyse der Ortungsdaten bestätigte. Zum einen hatten sie die Generatoren, die früher den Schutzschirm erzeugt hatten, gegen Projektorstationen ausgetauscht, die nach außen hin eine Sonne vorgaukelten. Eine nahezu perfekte Tarnung. Das sie verfolgende Schiff von Cronenbergs Elitesoldaten hatten sie damit genarrt. Dieses war umgekehrt, war aber von den Treymor verfolgt und von ihnen gestellt worden – wobei die RUBIKON sie beobachtet hatte. Die Puzzleteile fügten sich zusammen, ergaben ein immer vollständigeres Bild. Dennoch existierten noch immer viele weiße Flecken, die John nach wie vor Rätsel aufgaben. »Etwas stimmt nicht …« Scobees Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich wieder den Analysedaten zu. »Was meinst du …?« »Das Wasser … Es ist … seltsam verändert.« John starrte auf die Daten der Analyse des sie umgebenden Elements. Scobee hatte Recht. Den Daten zufolge handelte es dabei nicht mehr um reines H2O. Vielmehr wies es chemische Eigenschaften auf, die auch ihm Rätsel aufgaben. John wandte sich Rat suchend an die KI, doch auch diese musste passen, was eine genauere Analyse anging. Fakt war, dass das Wasser um unbekannte chemische Substanzen ergänzt worden war – und auch dies war gewiss nicht zufällig passiert. Wie sie es drehten und wendeten … sie kamen immer wieder zu ihrem derzeit größten Widersacher zurück.
Die Treymor. Wie hatten sie all das vollbracht …? Und was führten sie damit im Schilde? Im Grunde gab es nur eine Möglichkeit, Antworten auf diese Fragen zu finden. »Wir müssen ins Zentrum des Kubus«, sprach John Cloud es schließlich aus. »Wir sind weit gekommen. Zu weit, um jetzt umzukehren. Wir sind einem Geheimnis der Treymor auf der Spur, und ich möchte es lüften.« Die Ansprache verfehlte ihre Wirkung nicht. Beim Blick in die Gesichter der anderen wusste er, dass diese es ganz genauso sahen. »Wir müssen«, setzte er deshalb nach, um seinen Plan unmissverständlich zusammenzufassen, »wohl zur Ewigen Stätte!« Sofern sie noch existiert. Aber diesen Zweifel fügte er nur in Gedanken hinzu.
Der Vorstoß erfolgte mit aller gebotenen Vorsicht. Mit voll aktiviertem Tarnschirm und stark gedrosselter Geschwindigkeit, wagte sich das Rochenschiff in das ihr eigentlich bekannte, aber doch seltsam fremd gewordene Terrain vor. Dabei hatte es keine Probleme, sich in dem ungewohnten Element zurechtzufinden. Die ergonomischen Eigenschaften, die Form des Rochens, waren bestens dafür geeignet, buchstäblich wie ein Fisch durchs Wasser zu gleiten. John Cloud verbrachte einen Teil der Zeit damit, die immer neusten Wasseranalysen, die die KI permanent anstellte, zu studieren – und zu versuchen, sich einen Reim darauf zu machen. Vergeblich. Sicher war nur, dass die Zusammensetzung des Wassers bewusst manipuliert worden war. Von wem, das konnte Cloud sich lebhaft vorstellen. Zu welchem Zweck, blieb ihm hingegen ein Rätsel. Sie hatten etwa ein Drittel ihres Weges hinter sich gelassen, als Sesha die Ortung eines künstlichen Objektes bekannt gab. Bei näherer Betrachtung erwies es sich als eine Art Station, die frei schwebend den Weg der Rubikon kreuzte. Cloud ließ kaum Zeit vergehen, ehe er die Kernbesatzung zu sich rief. Wie zu erwarten stieß die Entdeckung bei allen auf ungeteilte
Aufmerksamkeit. Bei dem Objekt, das nun deutlich in der Holosäule zu sehen war, handelte es sich um einen annähernd ovalen Bau, der an den Polen etwas spitzer zulief. Ein ringförmiger Wulst umgab die Station, die aus einem für die Sensoren der Rubikon nicht zu identifizierenden Material gefertigt war. »Es ist wunderschön«, meinte Aylea, als Cloud die Versammelten nach ihrer Meinung gefragt hatte. Cloud runzelte die Stirn. Es war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, aber jetzt, wo er das Objekt noch einmal begutachtete, musste er Aylea recht geben. Es war ihm zuvor nicht aufgefallen, wahrscheinlich, weil er nicht darauf gepolt war, auf derartige Dinge zu achten, aber die Station sah tatsächlich aus wie ein zu immenser Größe aufgeblasener Ziergegenstand. Ihre Oberfläche war zudem von einer perlmuttfarbenen und offenbar fluoreszierenden Schicht überzogen, die ihre Umgebung in ein überirdisches Leuchten tauchte. Cloud konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Objekt treymorschen Ursprungs war. Es passte irgendwie so überhaupt nicht zu der von den Käferartigen bevorzugten Zweckmäßigkeit. Er teilte diesen Verdacht mit den anderen. »Vielleicht haben wir es hier mit einer Hinterlassenschaft der Vaaren zu tun«, mutmaßte Scobee. »Oder der Heukonen«, fügte Jarvis hinzu. »Mich würde interessieren, ob die Fischköppe noch existieren.« Cloud fragte sich, ob überhaupt noch Leben in Tovah'Zara existierte – und wie dieses beschaffen war. Zeit, sehr viel Zeit, war vergangen, seit sie dereinst aus dem Kubus geflüchtet waren. Spätestens in diesem Moment reifte sein Entschluss. »Wir sehen nach. Oder hat einer von euch einen Einwand?« »Ist das nicht gefährlich?«, ließ Jelto unsicher verlautbaren. »Die bloße Existenz ist gefährlich«, gab Jarvis zurück. »Wenn diese Käferplage sich weiter so schnell ausbreitet, gibt's bald keinen Ort mehr in der Milchstraße, an dem du noch sicher sein kannst.«
Nachdem kein anderer einen Einwand hatte, machten sie sich daran, ein Team zusammenzustellen. Cloud schlug vor, dass Jarvis zusammen mit Algorian, dessen telepathische Fähigkeiten bei der Mission von Nutzen sein konnten, die Vorhut bildete. Erst nachdem Scobee vehementen Protest anmeldete, erklärte er sich einverstanden, dass sie die beiden begleitete. Scobee war eine Frau voller Tatendrang. Cloud war schon vor längerer Zeit aufgefallen, dass ihr an Bord des Schiffes allmählich die Decke auf den Kopf fiel. Zwar würde er es sich nie verzeihen, wenn ihr irgendetwas zustieß, aber er wusste auch um ihre zähe Natur, die sie ihrer Konditionierung verdankte. Als eine für Einsätze unter erschwerten Bedingungen genetisch optimierte GenTec, wusste sie sich durchaus zu wehren. Wahrscheinlich sogar besser als Cloud selbst. Also war alles klar. Sesha hatte inzwischen mithilfe eines aufwändigen Komplettscans Aktivitäten intelligenten Lebens in der Station angemessen – und dabei vor allem auch Bereiche ermittelt, die davon ausgespart wurden. An einen solchen würde das Dreierteam dank Jarvis besonderer Fähigkeiten transitieren – und hoffen, dass sich die KI nicht geirrt hatte.
7. Nach Scobees Empfinden verging kaum ein Lidschlag, ehe sie sich an Bord der mysteriösen Station wiederfanden. Dass es sich bei ihrer Umgebung um eine Art Maschinenraum handelte, war auf Anhieb zu erkennen. Die Blicke der Gefährten fielen auf geschlossene metallene Blöcke, deren Sinn und Zweck bei rein äußerlicher Betrachtung verborgen blieb. Sie füllten den Raum fast vollständig aus, gaben dabei keine Geräusche, dafür jedoch ein leichtes Vibrieren von sich. Der Raum selbst war aufgrund der zahlreichen Hindernisse in seiner Größe kaum überschaubar und wurde von einer nicht zu ortenden Lichtquelle erhellt. Scobee, Jarvis und Algorian sahen sich an, nickten sich zu, um dem jeweils anderen zu bestätigen, dass sie die Transition gut überstanden hatten. Wenn alles geklappt hatte, befanden sie sich im äußeren, unteren Bereich der Station. Ihr zuvor gefasster Plan sah vor, sich langsam bis zum Kern vorzutasten. Und das möglichst, ohne dabei entdeckt zu werden. »Irgendein Vorschlag, wo hier der Ausgang sein könnte?«, fragte Scobee und sah sich dabei um. Sie waren in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Metallblöcken gelandet, die jeden von ihnen deutlich überragten. In beiden Richtungen kreuzte er sich nach wenigen Metern mit einem weiteren Durchgang. Jarvis gab als Erster seinen Tipp ab. »Wenn mich meine Sensoren nicht im Stich lassen, ist das da die Richtung, die weiter ins Innere der Station führt«, sagte er und streckte die Hand aus. »Na dann …« Der Durchgang war so schmal, dass sie im Entenmarsch gehen
mussten. Bald hatten sie eine weitere Abzweigung erreicht, ohne dass der Ausgang in sichtbare Nähe gerückt war. Sie hatten sich gerade dazu entschlossen, die Kreuzung Kreuzung sein zu lassen und die zuvor eingeschlagene Richtung beizubehalten, als sie ein leises Geräusch vernahmen. Es klang wie ein Schnarren in einer hohen Tonlage, leicht blechern und mechanisch, weniger wie eine menschliche Stimme, mehr wie ein künstlich erzeugter Ton. Die Gefährten sahen sich an, schweigend und sich nur mit Gesten verständigend. Sie waren sich recht schnell einig, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Jarvis wandte sich an Algorian und machte eine Handbewegung, die den Bereich rund um seinen Kopf einschloss – offenbar das universelle Zeichen für: »Nimmst du irgendwelche fremden Hirnströme wahr?« Der Telepath verstand. Er versenkte sich kurz in sich selbst, streckte seine mentalen Fühler aus – und wurde tatsächlich fündig. Da war jemand, in unmittelbarer Nähe. Wirkliche Gedanken konnte er nicht entnehmen. Die Ströme waren umstrukturiert und wirr, mehr wie bei einem Tier als bei einem denkenden Wesen. Algorian überlegte kurz, wie er diese Information in eine nonverbale Sprache packen sollte, kapitulierte jedoch, nickte nur und deutete in die Richtung des Singsangs. Sie verließen ihren Weg und wandten sich nach rechts, wobei Jarvis wiederum die Vorhut bildete. Als sie den nächsten Quergang erreichten, hatte der Singsang bereits deutlich an Lautstärke zugenommen. Die Gefährten verlangsamten ihren Schritt, tasteten sich langsam an die Biegung des Ganges heran und spähten um die Ecke. Und da sahen sie sie – die Quelle des Geräuschs. Es war ein kleines, humanoides Wesen, etwa einen Meter groß. Seine Extremitäten endeten in flossenförmigen Ausläufern, die an Greifwerkzeuge erinnerten. Sein schmaler Kopf war mit türkisfarbenem Flaum bedeckt, es hatte zwei überdimensional hervortretende
Augen und ein wulstiges Fischmaul. Der Körper steckte in einem eng anliegenden, farbenfroh leuchtenden Anzug. »Da brat mir doch einer einen Storch«, murmelte Jarvis leise vor sich hin. »Ein Heukone …« »Zweifellos«, pflichtete Scobee ihm bei, ohne den Blick vom dem seltsamen Wesen zu nehmen. »Aber wie ist das möglich? Heukonen sind Wasseratmer!« »Das hat diesem Exemplar offenbar noch keiner gesagt …« Algorian ließ während dieses Wortwechsels seine Blicke verwundert zwischen den beiden hin- und herschweifen. Scobee weihte ihn in knappen Worten ein, erzählte ihm von diesen Wesen, deren Bekanntschaft sie während ihres ersten Besuchs des Kubus gemacht hatten. »Wenn die Heukonen noch existieren, dann vielleicht auch die Vaaren«, fasste Jarvis schließlich zusammen. »Was macht der da?«, fragte Algorian, während er das muntere Treiben des Heukonen weiter beobachtete. Wie bereits vermutet, war es nicht der Heukone selbst, der dieses Schnarren von sich gab. Vielmehr hatte er eine Luke innerhalb des metallenen Blocks, vor dem er stehen geblieben war, geöffnet und hantierte mit etwas darin herum, das entfernt an einen elektrischen Schraubenzieher erinnerte. »Er nimmt wohl irgendwelche Wartungsarbeiten vor«, meinte Scobee, ohne ihren Verdacht zu konkretisieren. Das Treiben des kleinen Burschen dauerte etwa fünf Minuten, dann schloss er die Luke wieder und zog von dannen. Mit Blicken verständigten sich die Gefährten darauf, dem Heukonen zu folgen – in der Hoffnung, dass dieser sie auf schnellstem Wege aus diesem Labyrinth herausführen würde. Und tatsächlich, nach einem mehrminütigen Zickzackkurs durch die seltsame Räumlichkeit, folgten sie ihm zu einem Türschott. Aus der Entfernung beobachteten sie, wie der Heukone seinen Kopf in eine Einbuchtung neben der Tür steckte. Nach einigen Sekunden erklang eine schrilles Pfeifen, dann glitt das Schott in die Höhe.
»Wenn wir da auch durchwollen, müssen wir uns wahrscheinlich ranhalten«, flüsterte Jarvis. Sie warteten, bis der Heukone die Öffnung passiert hatte, dann sprinteten sie auch schon los. Dummerweise war das Schott bereits wieder dabei, sich zu schließen. Jarvis, der es als Erster erreichte, riss die Arme in die immer kleiner werdende Lücke und fing das auf ihn herabsausende Tor auf halbem Wege ab. Ein durchdringender Ton hallte augenblicklich durch den Gang. Vermutlich irgendein Alarmsignal, das verriet, dass mit der Schleuse irgendetwas nicht in Ordnung war. Scobee und Algorian erreichten Jarvis zehn Sekunden später, gingen vor dem halb geöffnete Schott in die Hocke und schlüpften neben Jarvis auf die andere Seite. Als beide das Tor passiert hatte, folgte der GenTec ihnen, ließ dabei das Tor los, das langsam seinen Weg fortsetzte, bis seine Unterkante mit dem Boden abschloss. Jarvis nahm sich einige Sekunde Zeit, um sich in seiner neuen Umgebung zu orientieren. Sie befanden sich jetzt in einem wabenförmigen, schmucklosen Gang, der sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien und dabei in regelmäßigen Abständen von ihn kreuzenden Quergängen unterbrochen wurde. Die Gefährten kamen nicht mehr dazu, sich auf ihr weiteres Vorgehen zu einigen, da sie ein sich rasch näherndes, trippelndes Geräusch vernahmen. Treymor! Sie mussten auf das Warnsignal des Türschotts reagiert haben. Vermutlich eilten sie gerade den ersten Quergang entlang und würden das Schott gleich erreicht haben. Scobee und Algorian sahen sich hektisch um, obwohl bereits auf den ersten Blick zu erkennen war, dass sich ihnen in dem kahlen Gang keine Versteckmöglichkeit bot. Jarvis fing die Blicke der beiden anderen auf, signalisierte ihnen, dass er sich darum kümmern würde. Schon im nächsten Moment begann sein Körper sich zu verformen, wurde flacher, bildete mehrere dünne Beinpaare aus, bis er die unverwechselbare Käfergestalt eines Treymor angenommen hatte.
Dann setzte er sich auch schon in Bewegung. Keine Sekunde zu früh! Er bog in jenem Moment in dem Gang ein, in dem die beiden heraneilenden Treymor die Biegung ebenfalls erreichten und wäre dabei fast mit ihnen zusammengestoßen. Im perfekt imitierten Idiom der Käferartigen gab er ihnen zu verstehen, dass er sich des Problems des Türschotts bereits angenommen habe – und dass alles in Ordnung sei. Ein temporärer technischer Ausfall, nichts, was ihre persönliche Anwesenheit erforderlich machte. Die Treymor berieten sich kurz, doch Jarvis erkannte bereits an ihrer Fühlerhaltung, dass ihnen die Erklärung des vermeintlichen Artgenossen genügte. Die Tatsache, dass das Alarmsignal mittlerweile verstummt war, trug sicherlich seinen Teil zu ihrer Beruhigung bei. Schließlich bedankten sie sich bei ihm, drehten sich um und huschten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Kaum waren sie hinter der nächsten Gangbiegung und damit aus seinem Blickfeld verschwunden, nahm Jarvis wieder menschliche Gestalt an und drehte sich kurz darauf zu Scobee und Algorian um, die bereits gemerkt hatten, dass die Luft rein war und hinter ihn getreten waren. »Du bist echt 'ne Allzweckwaffe, das muss man dir lassen«, lobte Scobee und legte die Hand auf seine Schulter. Jarvis antwortete mit einem Grinsen. »Man nennt mich auch das Schweizer Taschenmesser unter den Gen-Tecs.« Scobee ignorierte die Bemerkung und wandte sich umgehend an Algorian. »Hast du versucht, in den Gedanken der Treymor zu lauschen?« Der Aorii nickte, dämpfte jedoch sofort ihre Erwartungshaltung. »Viel war nicht zu erfahren. Die beiden sind stolz darauf, an Bord dieser Station ihren Dienst verrichten zu dürfen. Sie sind sich der Bedeutung ihrer Aufgabe bewusst, ganz darauf bedacht diese gewissenhaft zu erledigen und waren deshalb erleichtert, dass sich das defekte Türschott als ›falscher Alarm‹ herausgestellt hat und sie sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuwenden können.«
»Die da wäre?«, hakte Scobee nach. Algorian zuckte mit den Schultern. Eine Geste, die bei dem schlaksigen Aorii noch immer unfreiwillig komisch wirkte. »Das finden wir schon noch heraus«, winkte Jarvis ab. »Ich schlage vor, wir nehmen den Weg, den auch die beiden Treymor genommen haben. Mal sehen, wohin er uns führt.« Wohin wohl?, dachte Scobee bei sich. Direkt in die Höhle des Löwen. Statt es auszusprechen, nickte sie nur. »Gehen wir!«
Sie waren gut eine Stunde durch das Labyrinth äußerlich völlig identischer Gängen geschlichen, ohne dass ihnen ein Treymor oder irgendein anderes Lebewesen begegnet wäre. Scobees Gedanken schweiften immer wieder zu dem seltsamen Fischwesen ab, das entfernt an einen Heukonen erinnert hatte, vermutlich jedoch eine verbesserte Version derselben war. Eine, die auch an Land atmen konnte. War sie eigens zu diesem Zwecke gezüchtet worden? Und wenn ja, wer zeichnete dafür verantwortlich? Die Treymor? Hatte es gar mit den veränderten chemischen Eigenschaften des Wassers zu tun? Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war Scobee, hier, an Bord dieser seltsamen Station, erste Antworten auf ihre drängendsten Fragen zu finden. Mit leeren Händen würden sie die Station nicht verlassen. Die Frage war eher, ob sie sie überhaupt wieder verlassen würden … Einen kurzen Moment lang wunderte sich die GenTec über sich selbst. Düstere Gedanken wie dieser entsprachen eigentlich überhaupt nicht ihrem Naturell. Dennoch … ein Vorstoß in den direkten Wirkungsbereich eines so mächtigen und gnadenlosen Gegners, wie es die Treymor zweifellos waren, stellte immer ein unwägbares Risiko dar. Diese Tatsache zu leugnen, hatte nichts mit Optimismus zu tun, sondern wäre schlicht und ergreifend töricht gewesen. Aus diesem Grund sprachen sie auch nur das Nötigste, während sie durch die Gänge huschten. Wohl auch deshalb kam ihr Jarvis' plötzliches »Stopp!« überlaut vor, obwohl er mit Sicherheit nur ge-
flüstert hatte. Der ehemalige GenTec war bereits ein Stück vorausgeeilt, hatte eine weitere Gangbiegung erreicht, um die er nun spähte. Und was er da sah, schien ihm nicht zu gefallen, denn er drehte sich mit missmutigem Blick zu den beiden Gefährten um. »Treymor!«, sagte er so leise, dass Scobee es fast von seinen Lippen ablesen musste. »Ein halbes Bataillon von diesen Biestern …« Scobee beugte sich leicht nach vorne und spähte an ihm vorbei. Tatsächlich! Jarvis hatte nicht übertrieben. Im Gegenteil. Scobees Blick fiel auf ein knappes Dutzend Käferartiger, die sich in Reih und Glied aufgestellt hatten und nacheinander durch ein zweiflügeliges Schott traten, das jeweils nur einen von ihnen aufnahm, bevor es sich wieder schloss. Offenbar benötigte jeder Einzelne von ihnen eine gesonderte Legitimation, die wohl mithilfe eines Ganzkörperscans überprüft wurde. Darauf deutete jedenfalls die Lampe hin, die über dem Schott angebracht war und jedes Mal ihr rötliches Licht auf den vor dem Tor Wartenden warf, kurz bevor die Türflügel auseinander glitten und ihn passieren ließen. Rasch zog sich Scobee zurück, bevor sie Gefahr lief, von einem der in bunte Gewänder gehüllten Treymor entdeckt zu werden. »Offenbar haben wir es hier mit einem Sammelpunkt zu tun«, meinte sie dann. »Einer Zentrale oder so etwas in der Art.« »Ich wette, hinter diesem Schott wird's interessant. So hermetisch wie der Bereich dahinter abgeriegelt ist.« Scobee nickte bedächtig. »Da reinzukommen, wird nicht einfach«, gab sie zu bedenken, doch Jarvis winkte grinsend ab. »Einfach wäre ja auch langweilig. Was wäre das Leben ohne Herausforderungen?« Scobee wollte gerade etwas erwidern, als ihr Blick auf Algorian fiel. Der Telepath wirkte in sich gekehrt, als würde er einer Melodie lauschen, die nur er vernahm. Sowohl Scobee als auch Jarvis war klar, dass er versuchte, in den Gedanken der durch das Tor tretenden Treymor zu lesen, deshalb vermieden sie es zunächst, ihn anzusprechen. Erst als er von sich aus den Kopf hob und vorsichtig nickte; rang Scobee sich ein ge-
spanntes »Und?« ab. »Ihr habt recht. Es scheint sich hierbei tatsächlich um einen der Zugänge in den Kernbereich der Station zu handeln. Irgendetwas verbirgt sich dahinter. Etwas, das die Treymor als überaus schützenswert erachten. Und als überaus … gefährlich!« Scobee und Jarvis tauschten einen überraschten Blick. »Du meinst, diese Typen haben vor irgendetwas … Angst?«, fragte Jarvis. »Angst würde ich nicht sagen«, gab der Telepath zurück. »Nennen wir es … Respekt.« »Die Sache gefällt mir immer weniger«, meinte Scobee, nachdem sie Jarvis Worte hatte sacken lassen. »Was wir auch tun, wir müssen ab jetzt noch um einiges vorsichtiger sein, als wir es bisher waren.« Jarvis, der mit dem Rücken an der Wand stand, warf einen weiteren Blick um die Ecke. Zu den bereits zuvor wartenden Treymor hatten sich inzwischen weitere gesellt, die sich ebenso gesittet in die Schlange einreihten. »Das nimmt ja gar kein Ende mehr«, knurrte er, nachdem er sich wieder zurückgezogen hatte. »Man könnte denken, da gibt's was umsonst.« »Tja, sieht so aus«, meinte Scobee, »als könnten wir ewig warten.« »Könnten wir nicht einfach mal versuchen, auf die andere Seite des Schotts zu transitieren?« »Ungerne«, gab Jarvis zurück. »So lange ich nicht weiß, was uns auf der anderen Seite erwartet.« Jarvis galt zwar gemeinhin als Draufgänger, der im Zweifel auch gerne mal mit dem Kopf durch die Wand ging – und das durchaus im buchstäblichen Sinne –, doch eines war er nicht: lebensmüde. Erst recht nicht, wenn er nicht nur sich selbst, sondern auch anderen gegenüber verantwortlich war. »Trotzdem …«, warf Scobee ein und sah sich unbehaglich um. »Wir können hier nicht ewig rumstehen. Das ist doch mindestens genauso riskant. Außerdem ist es genau das, weswegen wir überhaupt erst hergekommen sind.« »Ich habe ja nicht gesagt, dass wir unverrichteter Dinge wieder ab-
ziehen«, gab Jarvis zurück. »Ich will ja auch wissen, was sich hinter der Schleuse verbirgt. Wir brauchen allerdings einen guten Plan.« »Verwandele dich doch einfach wieder in einer Treymor und stelle dich hinten an«, schlug Algorian vor. »Ich bezweifele, dass dieser Ganzkörperscanner sich davon täuschen lässt«, meinte Scobee, während Jarvis über den Vorschlag noch nachdachte. »Für mich sieht das so aus, als ob der wirklich jede Pore durchleuchtet und auf jede Abweichung des Musters achtet.« »Scobee hat recht«, nickte Algorian. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob überhaupt jeder Treymor zutrittsberechtigt ist. Wenn es sich hierbei wirklich um einen hochsensiblen Sicherheitsbereich handelt …« »Also doch mit dem Kopf durch die Wand«, meinte Scobee, die zunehmend ungeduldiger wurde. »Ich denke, ich wage einen Orientierungssprung«, bestätigte Jarvis. »Hier bleibt hier. Dauert nicht lange …« Scobee und Algorian hatten keine Zeit, einen Einwand zu erheben. Einen Lidschlag später hatte sich Jarvis bereits entmaterialisiert …
… und fand sich in einem von unwirklichem, bläulichgrünlichem Licht durchdrungenen Gang wieder. Jarvis orientierte sich anhand seiner Sensoren. Offenbar handelte sich bei dem passierten Schott um eine Art Schleuse, die nach wenigen Metern an einem weiteren Schott endete. Sein Blick huschte zurück zum Eingang, der nur wenige Schritte entfernt war – und sich in diesem Moment öffnete. Rasch gab er seinem Körper den Befehl, zusammenzufließen und mit der Wand in seinem Rücken zu verschmelzen. Im nächsten Moment trat einer der Treymor durch das Türschott, eilte hektisch an Jarvis vorbei, ohne ihn zu bemerken, und trat durch das zweite Schott, das sich widerstandslos vor ihm öffnete. Noch bevor sich das Eingangsschott ein weiteres Mal öffnen konnte, transitierte Jarvis zurück zu Scobee und Algorian, die ihn erwartungsvoll ansahen.
In knappen Worten berichtete er, was auf der anderen Seite des Schotts gesehen hatte. »Das heißt«, schloss Scobee, »wir müssen schnell sein. Und dann wissen wir immer noch nicht, was wir auf der anderen Seite der Schleuse vorfinden.« »Ich denke, das Risiko können wir eingehen«, meinte Jarvis. »Das zweite Schott scheint leicht passierbar zu sein.« »Die Frage ist, was uns dahinter erwartet …«
Sie warteten nicht lange, ehe sie den gemeinsamen Transitionssprung vollzogen. Diesmal visierte Jarvis sofort einen Punkt jenseits des zweiten Schleusenschotts an. Nur einen Lidschlag, nachdem er den Sprung eingeleitet hatte, fanden sie sich im Inneren dieses streng abgeriegelten Bereichs wieder. Jarvis sah sich um. Und was er sah, beeindruckte ihn zutiefst. Er fand sich in einem Rundgang wieder, der komplett mit einem bläulich fluoreszierenden Material ausgekleidet war, das für Helligkeit sorgte. Es sah aus, als würde er im freien Raum schweben, umgeben von zahllosen Sternen. Sein Blick streifte Algorian, der neben ihm stand und seine Umgebung ebenso fasziniert begutachtete. Die Faszination der beiden währte nicht lange. Jarvis bemerkte als Erster, dass etwas nicht stimmte, und als er sich um die eigene Achse drehte und seine Blicke in alle Richtungen schweifen ließ, wusste er auch, was es war. Erneut wandte er sich Algorian zu, der es ebenfalls bemerkt hatte und die Frage, die in Jarvis Gedanken aufgeblitzt war, in Worte fasste: »Wo ist Scobee …?«
8. Irgendetwas stimmt nicht … Dieses Gefühl übermannte Scobee bereits während des nur Millisekunden dauernden Transitionssprungs. Sie hatte sich schon häufiger von Jarvis transitieren lassen, und jedes Mal hatte es sich anders angefühlt. Dieses Mal war ihr, als würde sie auf eine Barriere treffen, davon abprallen und in die Luft geschleudert werden. Meilenweit von ihrem eigentlichen Ziel entfernt … Das alles geschah ganz schnell, dauerte nicht länger als ein normaler Sprung. Doch hätte Scobee noch eines Hinweises bedurft, dass irgendetwas grandios schief gegangen war, bekam sie ihn spätestens jetzt. Als sie die Augen öffnete, sich umsah … Sekunden vergingen. Sekunden, in denen sie Zeit hatte, sich das Entsetzliche einzugestehen: Sie befand sich unter Wasser! Instinktiv vollführte Scobee einige Schwimmbewegungen, um nicht tiefer zu sinken. Sie musste hinauf, musste an die Oberfläche und ihre Lungen mit Luft füllen sonst … Hektisch sah sie sich um – so schnell es unter Wasser eben ging. Sehen konnte sie kaum etwas. Ein dünner Streifen Licht sorgte für grünliche Helligkeit, die durch ihre Nachsichtigkeit noch verstärkt wurde. Dennoch sah sie in diesem trüben Wasser lediglich genug, um zu wissen, dass sie sich noch an Bord der Station befand – und nicht etwa außerhalb davon gelandet war. Das ist doch schon mal etwas, versuchte sie sich zu motivieren, während sie sich mit starken Schwimmstößen in die Richtung beförderte, in der sie die Lichtquelle vermutete. Scobee kam es vor, als würde sie eine halbe Ewigkeit für die Distanz benötigen.
Dank ihrer Konditionierung war es ihr zwar möglich, länger als jeder normale Mensch ohne Luft auszukommen, aber irgendwann würde auch ihr Reservoir unweigerlich erschöpft sein. Und sie spürte, dass es bald so weit war. Immerhin war sie von der Situation völlig überrumpelt worden, hatte keine Zeit gehabt, vorher noch Luft zu holen. Schon zerplatzten Sterne vor ihren Augen, ließ der Luftmangel sie schwindeln. Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Helligkeit immer stärker wurde, sie schließlich blendete … Dann hatte sie die Lichtquelle fast erreicht, streckte die Arme dorthin aus, wo sie die Wasseroberfläche vermutete – und stieß abrupt auf ein Hindernis. Am liebsten hätte sie einen Fluch ausgestoßen. Ungläubig blickte sie hinauf zur Oberfläche, tastete sich langsam heran, streckte die Hand danach aus … Tatsächlich. Dicht oberhalb der Wasseroberfläche – so dicht, dass sie lückenlos mit ihr abschloss – befand sich eine Wand, mit einer darin eingelassenen Lampe, die diese diffuse Helligkeit schuf. Okay, dachte Scobee, das war's dann. Ihr Anfall von Lethargie hielt jedoch nur wenige Sekunden an. Wenn die GenTec etwas war, dann eine Kämpferin. Dazu war sie konditioniert worden und dies würde sie bis zum letzten Atemzug bleiben. Sie wusste nicht, welchem Zweck dieses seltsame Becken diente, aber irgendwo musste ein Ausgang sein. Ihr blieb nicht viel Zeit, ihn zu finden, das war ihr klar. Erneut spürte sie, wie ihre Kräfte schwanden, wie dunkle Schatten an ihr zerrten, um sie in den Abgrund zu reißen. Sie kämpfte dagegen an, tastete dabei hektisch an der Wasseroberfläche entlang, fest entschlossen, dieses verfluchte Becken nicht zu ihrem Grab werden zu lassen. Sie … Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus, als die Kreatur vor ihr auftauchte. Wie aus dem Nichts war sie plötzlich erschienen. Wie ein Dämon aus der Hölle … Und so ähnlich sah dieses Wesen auch aus. Es hatte
einen breiten Kopf und riesige, kalte Glubschaugen. Was Scobee jedoch am meisten erschreckte, war das überdimensionale Maul, in dem mehrere messerscharfe Zahnreihen hintereinander aufblitzen. Von einer Schockwelle erfasst, ließ Scobee sich fallen, vollführte dabei noch eine Rolle und schwamm blitzschnell dem Grund entgegen. Wohin sie floh wusste sie nicht. Hauptsache weg, weg von dieser Bestie, die sie mit ihren kalten Augen angestarrt hatte, wie ein Raubtier sein Mittagessen. Sie nahm sich auch keine Zeit, zurückzublicken. Sie durfte nichts tun, was ihre Flucht verlangsamt hätte. Dennoch war sie sich sicher, dass ihr die Bestie folgte, ihr dicht auf den Fersen war und ihr hier, in ihrem Element, ihrem »Wohnzimmer«, haushoch überlegen war. Tatsächlich spürte sie kurz darauf, wie irgendetwas Glitschiges ihre Beine berührte. Dann sah sie einen Schatten, der sich über sie legte. Jetzt hielt Scobee die Ungewissheit nicht länger aus. Noch im Schwimmen drehte sie sich auf den Rücken. Und tatsächlich. Die Bestie hatte sie fast erreicht. Silhouettenhaft und überdeutlich zeichnete sich ihre Gestalt gegen die unwirkliche Lichtquelle über der Wasseroberfläche ab. Hatte sie es zuvor für einen Fisch gehalten, wurde sie nun eines Besseren belehrt. Das Wesen besaß einen fast schon humanoiden Körper mit unterdimensionierten Ärmchen und Beinchen, sowie einem breiten ausladenden, panzerbewehrten Schwanz, mit dem es hektische Schwimmbewegungen vollführte. Auf bizarre Weise erinnerte es Scobee an ein Krokodil auf zwei Beinen. Mit dem Kopf eines Piranhas … Das Wesen sank tiefer, belauerte sie, kreiste sie mit wenigen Schwimmbewegungen ein. Es spielt mit mir, dachte Scobee. Es ist die Katze, ich die Maus. Während ihr dies durch den Kopf ging, fiel ihr auf, dass sie von dem Wesen ganz automatisch wie von einem Individuum dachte, nicht wie von einem wilden Tier. Irgendwie hatte sie schon vorhin, beim Blick in diese großen kalten Augen, gespürt, dass es intelligent
war, nicht nur instinktgesteuert. Vielleicht, dachte sie, kann ich mit ihm kommunizieren … Vielleicht … Mit wummerndem Herzen beobachtete sie, wie das Wesen sie weiter umkreiste, sie begutachtete. Scobee achtete darauf, ihm nie den Rücken zuzukehren. Schließlich hielt das Biest inne. Und Scobee tat es ihm gleich. Sekundenlang standen sich Mensch und Bestie gegenüber, nur eine Handbreit voneinander entfernt. So nah, dass Scobee jeden einzelnen Zahn in dem halb geöffneten Maul erkennen konnte. Jetzt ist es auch schon egal, dachte Scobee. Erneut zogen sich schwarze Schlieren vor ihren Augen zusammen, verdichteten sich zu einem Nebel. Komischerweise spürte sie in diesem Moment nicht einmal mehr so etwas wie Panik. Über dieses Stadium war sie offenbar hinaus. Inzwischen war ihr alles egal. Na los, beiß zu!, dachte sie noch. Im nächsten Moment schwanden ihr die Sinne.
»Ich frage mich, wie das passieren konnte«, sagte Jarvis zum wiederholten Male. Er und Algorian hatten sich aus dem unmittelbaren Bereich der Schleuse zurückgezogen und kauerten nun in einer etwas abseits gelegenen Nische, in der sie vom Hauptgang aus nicht gesehen werden konnten. Hier konnten sie die Situation in Ruhe erörtern und überlegen, was weiter zu tun war. Algorian antwortete nicht. Er hatte den Kopf schief gelegt und lauschte. Versuchte, geistigen Kontakt zu Scobee herzustellen. Ihre Gedankenmuster zu empfangen. Wenn sie, wie zu erwarten, nicht weit von ihnen materialisiert war, bestand durchaus Hoffnung, sie auf diesem Wege zu finden. Jarvis schwieg, um den Telepathen nicht weiter zu stören. Ihm war anzusehen, dass er sich schwere Vorwürfe machte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es seine Schuld war. Er hatte gemerkt, dass etwas anders gewesen war als sonst. Da war ein Hindernis gewesen. Nicht so sehr eine Wand, mehr eine Art zähe Membran. Er hätte den
Sprung abblasen müssen. Wenn Scobee irgendetwas passiert war, dann … Er vergaß seinen Gedanken, als er Algorians Kopfschütteln bemerkte. »Keine Spur von ihr?«, hakte Jarvis überflüssigerweise nach. »Keine, die ich wahrnehmen könnte«, entgegnete Algorian. »Etwas ist seltsam …« »Geht's auch etwas genauer?« »Nun … ich nehme erhebliche Störgeräusche wahr. Auch habe ich das Gefühl, als zerreiße es mir fast den Kopf, wenn ich meine mentalen Kanäle länger geöffnet habe und … lausche. Dieser ganze Bereich der Station ist erfüllt von einem starken Kraftfeld.« Jarvis nickte verstehend, auch wenn er sich nur einen ganz groben Reim darauf machen konnte. Vermutlich war dieser Ort, der Kernbereich der Station, tatsächlich in besonderer Weise abgeschirmt. Und vermutlich war es genau das, was den Sprung beeinflusst und ihnen Scobee entrissen hatte. Und genauso gut war es möglich, dass Algorian dem Phänomen dank seiner eigenen Para-Fähigkeiten widerstanden hatte. Doch wohin hatte es Scobee nun verschlagen? War sie innerhalb dieses Kraftfeldes gelandet? Oder war sie von ihm abgestoßen worden? Jarvis schüttelte den Kopf. Es half alles nichts … »Wir müssen sie suchen.« Sie einigten sich darauf, tiefer in den Kernbereich vorzudringen. So lange sie nicht wussten, was genau mit Scobee passiert war, war dieser Plan so gut wie jeder andere. Außerdem war Jarvis jetzt erst recht fest entschlossen, zu ergründen, was es mit dieser Station auf sich hatte. Sie diente irgendeinem bestimmten Zweck. Einem absonderlichen Zweck … Was führten die Treymor im Schilde? Warum hatten sie sich hier breit gemacht? Wozu das alles? Antworten auf diese Fragen würden sie nur im tiefsten Innern der Station finden. Irgendetwas wurde dort bewacht, davon war Jarvis überzeugt. Wozu sonst der ganze Aufwand, wie etwa die strikte Abschottung dieses Bereichs.
Sie haben vor irgendetwas einen Heidenrespekt … Abrupt hallten Algorians Worte in Jarvis Gedanken nach. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, völlig unvorbereitet in den Kernbereich der Station vorzudringen. Andererseits … wenn es Scobee dorthin verschlagen hatte, dann hatten sie kaum eine andere Wahl. Er und Algorian sahen sich an. Und obwohl momentan keine telepathische Verbindung bestand, war Jarvis überzeugt, dass sie gerade dasselbe gedacht hatten. »Gehen wir«, sprach er es aus.
Als Scobee erwachte, fand sie sich auf hartem feuchtem Untergrund wieder. Mehr als das überraschte sie aber die Tatsache, dass sie überhaupt wieder erwacht war. Was war geschehen? Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, was gar nicht so leicht war. Ihre Gedanken überschlugen sich. Der missglückte Transitionssprung … Das seltsame Unterwasserbecken … Das Monstrum … Schließlich gelang es ihr, ihre Erinnerungen bis zu dem Moment zu rekonstruieren, in dem ihr die Sinne geschwunden waren. Was war danach passiert? Hatte das Wesen gedacht, sie sei tot und sie deshalb in Ruhe gelassen? Unwahrscheinlich. Wie wäre sie dann hierher gekommen? Wo war sie überhaupt? Scobee richtete sich auf und genoss das Gefühl, frei atmen zu können, Luft in ihre Lunge zu bekommen … Es war fast dunkel, aber dank ihrer Nachtsichtigkeit genügte das wenige vorhandene Restlicht, um sich einigermaßen zu orientieren. Sie befand sich in einer Art Höhle, wenn sie sich nicht täuschte. Der Untergrund, auf dem sie lag, war hart und zerklüftet, ebenso wie die niedrige Decke, die so dicht über ihr war, dass sie beim Aufstehen aufpassen musste, sich nicht den Kopf anzuschlagen. Es war feucht, es war kalt, und es war …
… eine Illusion, ging es Scobee durch den Kopf. Die Höhle war nicht echt, sondern künstlichen Ursprungs! Sie spürte es ganz deutlich, als sie die Hand ausstreckte und ihre Finger über die Oberfläche gleiten ließ. Sie fühlte sich seltsam an. Hart und kalt zwar, wie echter Stein, dennoch war irgendetwas anders. Sie wollte sich gerade zur Gänze aufrichten, als sie ein Geräusch vernahm. Ein angestrengtes Schnauben. Und behäbige, klatschende Schritte, die sich genau in ihre Richtung bewegten. Das Monstrum!, dachte sie panisch. Es ist hier. Es hat mich in seine Höhle verschleppt, um … Ja, um was zu tun? Sie hatte keine Zeit, es herauszufinden. Sie musste sich verstecken. Ihre Blicke durchsuchten ihre Umgebung, fielen dann auf einen Felsvorsprung, der ihr zumindest so viel Schutz bieten konnte, dass sie vom Eingang der Höhle aus nicht sofort gesehen wurde. Eilig schlüpfte sie dahinter. Schon kurz darauf zeichnete sich die massige Gestalt des monströsen Geschöpfes im diffusen Zwielicht ab. Scobee presste ihren Rücken dicht an den Felsen und hielt den Atem an. Die klatschenden Schritte kamen näher, verharrten dort, wo Scobee bei ihrem Erwachen gelegen hatte. Ein Laut der Verwunderung löste sich von den wulstigen Fischlippen. Das Wesen schien höchst erstaunt über Scobees plötzliches Verschwinden. Gehl, dachte die GenTec inständig und schloss dabei die Augen. Hau ab! Verlass die Höhle und sieh draußen nach! Sekunden vergingen. Und dann, als hätte das Geschöpf ihre Worte tatsächlich empfangen, machte es auf der Stelle kehrt, drehte sich um und steuerte die Richtung an, aus der es gekommen war. Scobee atmete erleichtert aus. Vielleicht eine Spur zu laut. Das Geschöpf verharrte, drehte sich wieder und wandte sich neugierig dem Fels zu, hinter dem das ungewöhnliche Geräusch erklungen war. Scobee biss sich in ihre Fingerknöchel, wütend auf sich selbst und ihre eigene Unvorsichtigkeit, die sie sich nur damit erklären konnte,
dass sie vorhin noch in die Hölle gegangen war. Denk nach!, schalt sie sich selbst. Du musst etwas unternehmen! Das Geschöpf, bei dem es sich offensichtlich um ein Amphibienwesen handelte, schien an Land behäbig und unbeweglich. Das war möglicherweise ihre Chance. Sie musste nur schnell sein, durfte keine weitere Zeit verlieren. Jetzt! Scobee gab sich selbst das Startsignal, dann löste sie sich vom Fleck, schnellte aus ihrem Versteck hervor und wischte wendig an den Beinen des Wesens vorbei. Dann war sie auch schon auf dem Weg Richtung Ausgang. Das Wesen stieß einen neuerlichen Laut der Verwunderung aus, dann drehte es sich auch schon um und folgte Scobee mit watschelnden Schritten – wie sie noch im Laufen mit einem kurzen Blick über ihre Schulter feststellte. Sekunden später hatte sie den Durchgang erreicht, durch den das Wesen die Grotte betreten haben musste. Er mündete in einem röhrenartigen Gang, der gerade groß genug war, dass Scobee sich darin aufrecht bewegen konnte. Unweigerlich fragte sie sich, wie es dem Geschöpf gelang, den Gang zu passieren. Die Antwort erbrachte ein weiterer Blick über ihre Schulter. Das Wesen hatte den Korridor jetzt ebenfalls erreicht, wechselte vom aufrechten Gang auf alle Viere und zwängte sich hinter Scobee in den engen Schacht. Das reinste Multitalent, dachte Scobee beeindruckt, während sie sich weiter durch den Schacht zwängte. Dieser teilte sich kurz darauf. Mangels Zeit, eine Münze zu werfen, entschied sie sich spontan für die rechte Alternative. Das Schnauben ihres Verfolgers rückte derweil immer näher. Das Biest ließ sich einfach nicht abschütteln, kam auf allen vieren sogar wesentlich schneller voran, als auf zwei Beinen. Plötzlich sah Scobee einen hellen Schimmer vor sich in der Dunkelheit. Licht! Irgendwo vor ihr lag ein Ausgang …! Derweil verbreiterte sich der Schacht allmählich wieder, bis er fast übergangslos in einer weiteren kleinen Grotte mündete. Und dort,
nur noch wenige Schritte entfernt, war tatsächlich ein Ausgang, durch den schwaches Licht sickerte. Scobee rannte darauf zu, ohne ein weiteres Mal zurückzublicken, passierte den breiten Durchgang – und blieb abrupt stehen. Unter ihr ging es rund drei Meter in die Tiefe. Doch das war nicht das eigentliche Problem. Dor unten erwartete sie kein fester Boden, sondern – Wasser. Nichts als Wasser, so weit das Auge blickte. Gehetzt drehte sie sich um, als sie das Knurren vernahm, das nun ganz dicht hinter ihr zu vernehmen war. Tatsächlich war die Kreatur nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und sah sie aus glasigen Augen an. Und wieder hatte Scobee das Gefühl, es nicht mit einer blutgierigen Fressmaschine zu tun zu haben, sondern mit einem zumindest halbintelligenten Wesen. Vielleicht war es ja wirklich möglich, mit ihm in Kontakt zu treten. Scobee hob die Arme, um zu signalisieren, dass sie wehrlos und unbewaffnet war. Zu ihrem Erstaunen tat das Wesen es ihr gleich. Scobee musste sich in diesem Moment ein Grinsen verkneifen. Trotz seiner furchteinflößenden Erscheinung hatte es fast schon etwas Komisches an sich, wie es die verkümmerten Ärmchen hob und die vier Finger an jeder Hand spreizte. Versuchen wir mal etwas anderes, dachte sie, klopfte sich mit der flachen Hand auf die Brust und artikulierte ihren Namen. »Scobee.« Das Geschöpf sah sie sekundenlang nur an, neugierig und verständnislos wie ein kleines Kind, das dem Verhalten seines Gegenübers einen Sinn zu entlocken versuchte. Und jetzt, wo Scobee in seine glasigen Augen sah, kam ihr das Wesen plötzlich überhaupt nicht mehr furchteinflößend vor. Vielmehr machte es einen traurigen, fast schon gepeinigten Eindruck. Schließlich senkte es ebenfalls seine rechte Hand, klopfte damit in einer tapsig anmutenden Geste auf die Brust und gab ein gurgelndes Geräusch von sich. »Gortsch …«
Zielsicher, wie von einem Kompass geführt, drangen Jarvis und Algorian in den Kernbereich der mysteriösen Station vor. Angesichts der übersichtlichen Anordnung fiel ihnen das nicht schwer. Vom Rundgang aus, der den inneren Bereich offensichtlich begrenzte, führte in regelmäßigen Abständen strahlenartig eine Vielzahl schmalerer Gänge kerzengerade ins Innere, wo sie sich, so vermutete Jarvis, irgendwo im Zentrum trafen. Unterbrochen wurden sie immer wieder von schleusenartigen Türschotts, die jedoch nicht allzu schwierig zu passieren waren. Käferartige begegneten ihnen auf ihrem Weg kaum. Die wenigen von ihnen, die Zutritt zu diesem Bereich hatten, verteilten sich recht großzügig auf dem weitläufigen Areal, sodass die beiden Eindringlinge sehr weite Strecken zurücklegen konnten, ohne auch nur einem von ihnen über den Weg zu laufen. Umso auffälliger war das plötzlich massierte Auftreten in einem ganz bestimmten Sektor, den sie vor kurzem betreten hatten. Nachdem sie das Treiben eine Weile aus einem sicheren Versteck heraus beobachtet hatten, stand für sie fest, dass sich das Zentrum ihres Interesses in einem der vor ihnen liegenden Quergänge befand. »Da scheint irgendwo ein Nest zu sein«, fasste Jarvis es treffend zusammen. Nach einer kurzen Beratung mit dem Aorii einigten sie sich, das Geheimnis zu ergründen. Vielleicht, so Jarvis dumpfe Vermutung, hatte es ja sogar etwas mit Scobee zu tun. Hoffen wollte er das jedoch nicht, denn dies hätte unweigerlich bedeutet, dass die GenTec entdeckt worden war. Und wie die Treymor mit Eindringlingen in diesem streng abgeschotteten Bereich verfuhren, das wollte Jarvis lieber nicht am eigenen Leibe erfahren. Sie warteten, bis das Treymoraufkommen etwas abgeklungen war, dann pirschten sie sich vorsichtig in den Quergang vor. Sie mussten nicht lange gehen, bis sie eine ovale Tür erreichten, die das Hauptziel der Käferartigen in diesem Sektor zu sein schien. Die rote Sen-
sorlampe, die darüber angebracht war, bekräftigte ihren Verdacht. Seit der allerersten Schleusentür, die in den inneren Bereich geführt hatte, war dies der erste weitere Durchgang, der auf diese Weise bewacht wurde. Sie warteten, bis die Luft rein war, dann transitierte Jarvis sie auf die andere Seite. Diesmal mit einem leicht mulmigen Gefühl. Scobees bis dato ungeklärtes Schicksal hatte ihm die Lust am »Springen« deutlich vermiest. Zu seiner Erleichterung ging dieses Mal alles glatt, und sie fanden sich beide in einem spärlich beleuchteten, achteckigen Raum wieder, von dem drei weitere Türen abzweigten. Anders als auf den Gängen, herrschte hier ein violettfarbenes Zwielicht. Sekundenlang pendelten Jarvis' Blicke zwischen den drei Eingängen hin und her. Nur mühsam widerstand er der Versuchung, Algorian vorzuschlagen, sich zu trennen, um zumindest zwei der Türen gleichzeitig erkunden zu können. Bei nochmaliger Überlegung – und wieder in Hinblick auf Scobees Verbleib – hielt er es dann für doch keine so gute Idee. Das Risiko, dass sie sich auch noch aus den Augen verloren, war einfach zu groß. »Was denkst du?«, fragte er Algorian stattdessen. »Ich würde die mittlere wählen«, entgegnete der Aorii. »Frag mich nicht, wieso.« »Kannst du irgendetwas erlauschen?«, erkundigte sich Jarvis, doch Algorian schüttelte sofort den Kopf. »Das Energiefeld ist noch immer vorhanden. In diesem Bereich sogar noch stärker als in allen anderen …« Jarvis nickte verstehend, dann traten sie auf die Tür zu, die sich widerstandslos vor ihnen öffnete. Damit war auszuschließen, dass auch sie von einem Sensor bewacht wurde. Jarvis trat als Erster in den dahinterliegenden Gang, der vom selben perlmuttfarbenen Licht erfüllt war wie der Raum davor. Er war sehr kurz, nur einige Meter lang, und endete an einer weiteren Tür, in die auf Augenhöhe eines auf seinen Hinterbeinen stehenden Treymor ein kleines Fenster eingelassen war.
Jarvis näherte sich vorsichtig, spähte durch das durchsichtige Glas – und erstarrte. Was er sah, hätte ihm zu Lebzeiten das Blut in den Adern gerinnen lassen …
Scobee stand dem Geschöpf so nah gegenüber, dass sie nur ihre Hand auszustrecken brauchte, um die schuppige Haut zu berühren. Sie widerstand der Versuchung, obwohl ein Blick in die gepeinigten Augen des seltsamen Wesens genügte, um sicher zu sein, dass es ihr alles andere als feindlich gesinnt war. Es war eine Vielzahl von Gefühlen, die sie darin zu erkennen glaubte. Trauer, Verzweiflung, Sorge, Neugier … Hass war nicht darunter. Scobee spürte, dass sie eine Tür geöffnet hatte, die sie nur noch weiter aufstoßen musste, um zu dem Wesen vorzudringen, es für ihre Zwecke einzuspannen. »Scobee …«, wiederholte sie noch einmal, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht getäuscht und dieses Wesen ihr wirklich seinen Namen genannt hatte. »Gortsch«, wiederholte es übergangslos. Scobees Augen blitzten erfreut auf. »Kannst du mich verstehen?« Die GenTec hielt gespannt den Atem an. Der ihr eingepflanzte Translatorchip hatte ihr bisher die mühelose Kommunikation mit den fremdartigsten Rassen ermöglicht, denen sie auf ihren bisherigen Reisen begegnet war. Wenn das Geschöpf sich irgendeiner Form von Sprache bediente, würde der Chip dies in verständliche Worte umsetzen. Zu ihrer Enttäuschung sah das Fischwesen sie nur fragend an. Die Augen vergrößerten sich, die ohnehin schon wulstigen Lippen wölbten sich noch weiter vor. Ein Verhalten, das größtes Unverständnis zum Ausdruck brachte. Scobee sank innerlich in sich zusammen. Offenbar hatte sie das Wesen überschätzt. Zweifelsohne verfügte es über eine gewisse Intelligenz, aber nicht genug, um diese
verbal zum Ausdruck zu bringen. »Ich habe mich verirrt«, versuchte Scobee es ein weiteres Mal und unterstrich ihre Worte mit engagierter Zeichensprache. »Ich suche den Ausgang …« Sekunden vergingen. Momente, in denen die Verwirrung in den glänzenden Fischaugen fast noch größer wurde. Dann, ganz unvermittelt, hellte sich sein Gesicht auf. Plötzlich drehte es sich um, wandte Scobee den Rücken zu und ging dabei in die Hocke. Es will, dass ich mich auf seinen Rücken setze, wurde es Scobee bewusst. Sie zögerte einen Moment, doch dann wischte sie ihre Bedenken beiseite. Wenn sie sich einer Sache sicher war, dann der, dass ihr das Wesen niemals bewusst Schaden zufügen würde. Beherzt überwand sie die Distanz, die sie von Gortsch trennte, dann schwang sie sich auf seinen Rücken, schlang gleichzeitig ihre Arme um seine Brust und klammerte sich fest. Erst als sichergestellt war, dass sie einen guten Halt hatte, stand das Fischwesen auf, drehte sich langsam um, watschelte bis zum Rand der Klippe und sprang hinab in die Tiefe. Toll, dachte Scobee noch, während sie eilig Luft in ihre Lungen sog. Wenn das so weitergeht, wachsen mir irgendwann Schwimmflossen. Dann durchbrachen sie auch schon die Wasseroberfläche.
Jarvis traute seinen Augen nicht. Sein Blick fiel auf ein bizarr anmutendes Wesen, das auf eine schräg stehende Pritsche gespannt war. Und schon im ersten Moment kam ihm ein eigenartiger Gedanke: Ein solches Geschöpf existiert nicht. Tatsächlich sah dieses … Ding nicht aus wie etwas, das von der Natur geschaffen worden war. Es erinnerte mehr an ein Fabelwesen, das aus verschiedenen ganz unterschiedlichen Geschöpfen zusammengesetzt war. Auf den ersten Blick schien das Wesen insektoid. Es hatte einen Panzer, ein paar Fühler auf dem Kopf und zwei große, in allen Farben des Regenbogens schillernde Facettenaugen. Wanderte der Blick nur etwas tiefer, so sprangen der gedrungene
Körper ins Auge, der sich unter dem Insektenpanzer verbarg. Eine derartige Schöpfung hätte nach Jarvis Ansicht einen wahren Amoklauf der Natur vorausgesetzt, was ihn unwillkürlich zu der Vermutung brachte, dass hier ganz andere Kräfte am Werk gewesen waren. Sofort dachte er an die Heukonen-Kreatur, die ihnen kurz nach ihrer Ankunft im Maschinenraum begegnet war. »Was siehst du?«, fragte Algorian, der neben ihm stand und allmählich ungeduldig wurde. »Frankensteins Schreckenslabor«, entgegnete Jarvis, während er sich abwandte und einen Schritt zur Seite trat. Unwahrscheinlich, dass Algorian wusste, wer Frankenstein war. Was Jarvis mit diesem Vergleich auszudrücken gedachte, musste ihm jedoch klar geworden sein. Kaum hatte er sich dem Sichtfenster zugewandt, zuckte er auch schon mit angewidertem Gesicht davor zurück. »Hübscher Bursche, oder?« Der Aorii verzog das Gesicht. »Was ist das? Und was machen die da mit ihm?« Gute Frage, dachte Jarvis und riskierte einen weiteren Blick, mit dem er die Apparatur in Augenschein nahm, auf die das Wesen geschnallt war. Wie gesagt, war es eine Art Pritsche, mit metallenen Spangen, die um den Oberkörper des Wesens geschlungen waren und es darauf fixierten. Mehrere kanülenartige Schläuche steckten in der ledrigen Haut und endeten irgendwo außerhalb von Jarvis Blickfeld. Die Schläuche waren durchsichtig und mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllt. In welche Richtung diese gepumpt wurde – ob aus dem zuckenden Körper heraus oder in ihn hinein, war für Jarvis nicht zu erkennen. Obwohl ihm der Anblick der gepeinigten und offenbar unter immensen Schmerzen leidenden Kreatur eine Gänsehaut bereitete, zwang Jarvis sich, den Blick zu halten und jede Einzelheit in sich aufzunehmen. Wohl nur deshalb fiel ihm die haubenartige Vorrichtung auf, die halb über den Kopf der Kreatur gestülpt und möglicherweise der Grund für seine spasmischen Zuckungen war. Zuerst
hatte er sie für einen Teil der Kreatur selbst gehalten, doch bei genauerem Hinsehen bemerkte er die haarfeinen Drähte, die von dieser Vorrichtung aus in den Insektenkopf führten. Bekam die Kreatur in regelmäßigen Abständen Stromstöße verabreicht? »Wir müssen ihm irgendwie helfen«, unterbrach Algorian seine Überlegungen. »Ich fürchte, wir können nicht viel für ihn tun«, gab Jarvis zurück, ohne den Blick von der Kreatur abzuwenden. »Wir könnten versuchen, ihn zu befreien …« »Und dann? Selbst wenn es uns gelingt, ihn ungesehen von Bord zu bringen … Irgendwann würden die Treymor sein Verschwinden bemerken und sämtliche Artgenossen in Alarmbereitschaft versetzen. Dieser Sektor würde dann vermutlich komplett abgeschirmt und jeder Quadratzentimeter einzeln durchkämmt werden. Und was dann mit Scobee passieren würde, muss ich dir ja wohl nicht erst erklären. Mal ganz davon abgesehen, dass dieser Bursche da wahrscheinlich nicht der Einzige ist, der in diesem Schreckenskabinett gefangen gehalten wird …« Algorian runzelte die Stirn, als müsse er sich das Gesagte erst durch den Kopf gehen lassen. Schließlich nickte er. »Du hast natürlich recht. Auch wenn es schwer fällt, das einzusehen.« Wem sagst du das?, dachte Jarvis, dem in diesem Moment klar wurde, dass seine Ansprache nicht nur Algorian, sondern auch ihm selbst gegolten hatte. Er kehrte zwar gerne den gefühlskalten Zyniker heraus, doch hätte er lügen müssen, hätte er behauptet, dass ihn ein Schicksal wie das dieses Wesens auch nur ansatzweise kalt lassen konnte. »Am besten, wir setzen unseren Weg fort, wenn wir doch nichts ausrichten können«, schlug Algorian schließlich vor. Jarvis zögerte. Dies war ihre erste richtige Chance, mehr über den Sinn und Zweck der Station in Erfahrung zu bringen. Die Antworten auf ihre drängenden Fragen waren vielleicht nur wenige Schritte entfernt, verborgen hinter einer gepanzerten Tür.
Jarvis teilte seinen Einfall mit dem Gefährten. »Ich soll da rein und versuchen, seine Gedanken zu lesen?« Algorian wirkte auf einmal höchst verunsichert. Die Idee schien ihm nicht zu behagen. Es fiel ihm ja schon schwer, das Geschöpf auch nur anzusehen, geschweige denn, sich in seinen Kopf zu begeben. »Du musst es nicht tun, wenn du nicht willst«, sagte Jarvis, um den Gefährten nicht unter Druck zu setzen. Algorian überlegte kurz, dann nickte er entschlossen. »Ich mach's …« Die Tür stellte kein Hindernis dar, war von außen mittels eines Hebels leicht zu öffnen. Bereits wenige Sekunden, nachdem Algorian seine Entscheidung kundgetan hatte, schwang sie vor ihnen auf, sodass ihr Blick nun ungehindert auf den Insassen der kleinen Kammer fiel. Und, anders als zuvor, vernahmen sie nun auch die Laute, die er ausstieß. Ein mehrstimmiges Fiepen und Schnarren, wie von einem guten Dutzend Grillen. Wenn das Wesen sie bemerkte, ließ es sie das zumindest durch keine äußere Reaktion erkennen. Dazu war es wahrscheinlich auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Jarvis ließ Algorian vortreten, nicht zuletzt deshalb, weil der Raum fast schon zu klein war, um beide gleichzeitig aufzunehmen. Der Aorii näherte sich dem Insektenwesen mit erkennbarem Respekt. Dann streckte er seine mentalen Fühler nach ihm aus, tastete vorsichtig in seinen Gedanken … Und spätestens in dem Moment wusste er, dass es ein Fehler gewesen war. Es kam ihm vor, als würde ein glühend heißer Haken in seinen Eingeweiden wühlen und versuchen, sein Inneres nach außen zu kehren. So in etwa war die Schmerzwelle zu beschreiben, die wie eine Naturgewalt über ihn hereinbrach. Gleichzeitig sah er eigenartige Bilder, sah Treymor, die sich näherten, ihn mit seltsamen Werkzeugen malträtierten … Und er sah andere, die so waren wie jenes Wesen, durch dessen Augen er blickte. Nein, das war nicht ganz richtig. Er sah Wesen, die so ähnlich waren wie er, sich jedoch alle in wenigen, aber deutlich erkennbaren Details unterschieden. Dutzende von ihnen, aufbewahrt in durch-
sichtigen, mit einer bläulicher Flüssigkeit gefüllten Tanks, die einen endlos erscheinenden, von flackerndem Licht erhellten Gang flankierten. Das alles währte nur wenige Sekunden, dann wurde der Druck der albtraumhaften Bilder zu groß. Algorian schwanden die Sinne, er wankte, taumelte an Jarvis vorbei aus der Kammer, beide Hände gegen seine Schläfen gepresst. Jarvis sah ihm nach, dann wandte sich sein Blick noch einmal dem Insektenwesen zu, das aus der Nähe betrachtet wie eine elektronisch animierte Puppe wirkte. Schließlich trat auch er aus dem Raum und schloss die Tür.
Während sie auf Gortschs Rücken durch ein endlos erscheinendes Höhlensystem ritt, fragte sich Scobee, ob die Fischkreatur überhaupt wusste, dass es ihr nicht möglich war, unter Wasser zu atmen. Sicher, dieses Mal hielt ihr Sauerstoffvorrat um einiges länger. Zum einen, weil sie auf dieses Unterwasserabenteuer vorbreitet war, zum anderen, weil sich ihre körperliche Anstrengung darauf beschränkte, sich an dem schuppigen Leib festzuklammern und aufzupassen, dass sie nicht den Halt verlor. Letzteres war gar nicht so einfach. Seit Gortsch ins Wasser eingetaucht war, jagte er wie ein Torpedo voran. Scobee hoffte, dass er wusste, wohin er da schwamm. Das Wasser war stellenweise so trüb, dass sie kaum noch die eigene Hand vor Augen sah. Möglich, dass Gortsch über eine Art eingebauten Sonar verfügte, mit dessen Hilfe er jedem Hindernis auswich und sich zielsicher durch das enge Röhrensystem schlängelte. Mitunter sah Scobee sich gezwungen, den Kopf einzuziehen und sich so eng wie möglich an Gortschs Körper zu pressen, um sich nicht an einem plötzlich auftauchenden Felsvorsprung den Schädel zu stoßen. Irgendwann, Scobee hatte mittlerweile die Augen geschlossen und sich ganz auf Gortschs Ortskundigkeit verlassen, sickerte plötzlich ein Lichtschimmer durch ihre Augenlider. Abrupt hob sie den Kopf und sah sich um. Schon im nächsten Moment durchbrachen sie die
Wasseroberfläche. Scobee holte tief Luft, nicht wissend, ob es gleich wieder in feuchte Tiefen gehen würde. Doch diese Befürchtung erwies sich als unbegründet. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie an ihrem vorläufigen Ziel angekommen waren, auch wenn sie sich nur in einer weiteren Grotte befanden. Eine Woge der Enttäuschung erfasste sie, als sie sich umsah und auf den ersten Blick keinen Weg fand, der aus der Grotte hinaus führte. Gortsch hatte doch nicht verstanden, worum sie ihn gebeten hatte, wurde ihr klar, während der Koloss sie an Land trug und erneut in die Hocke ging, um sie absteigen zu lassen. Sie tat es, sah Gortsch dann fragend an – um kurz darauf seiner Blickrichtung zu folgen. Und da sah sie einen schwachen Umriss, der fast mit dem ihn umgebenden Feld verschmolz, sich nur schattenhaft davon abhob. Ein Durchgang! Gortsch hatte sie also doch verstanden. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen drehte sie sich um, hätte ihm dabei am liebsten dankend den Kopf getätschelt. Allerdings fürchtete sie, dass dies als respektlos aufgefasst werden könnte. Stattdessen hob sie lediglich ihren Arm in einer Geste des Abschieds, die Gortsch so verlässlich imitierte wie ihr eigenes Spiegelbild. Er sah ihr nach, als sie sich umdrehte und auf den Durchgang zuging. So, als wollte er sicherstellen, dass sie ihn auch wirklich fand. Erst als sie ihn erreicht hatte, ging er zurück ins Wasser und tauchte schließlich unter. Als Scobee einen letzten Blick über ihre Schulter warf, sah sie noch einige Luftblasen, die auf der gekräuselten Wasseroberfläche zerplatzten. Dann drehte sie sich um und ging auf den Tunnel zu, der so dunkel vor ihr lag, wie die ungewisse Zukunft, in die er führte.
Es dauerte eine Weile, bis Algorian die Kraft fand, über das Erlebte zu sprechen. Sie hatten ihren Weg durch die Gänge des »inneren Bereichs« fortgesetzt und dabei die meiste Zeit schweigend zuge-
bracht, als Algorian nach einiger Zeit von sich aus das Wort ergriff. »Etwas war seltsam …«, setzte er an, ließ den Satz sekundenlang in der Luft hängen, bis Jarvis nicht an sich halten konnte und nachhakte. »Was meinst du?« »Ich habe durch die Augen des Wesens gesehen. Bilder aus seiner Erinnerung. Ich hatte das Gefühl, dass ein Teil davon auf dieser Station stattgefunden hat.« »Und was ist daran so seltsam?« »Nun, was ich da gesehen habe, war der Zugang zu einem komplexen Höhlensystem, das komplett unter Wasser verborgen ist.« »Ein Höhlensystem, an Bord dieser Station?«, fragte Jarvis verwundert. Der Telepath nickte. »Ich weiß, es klingt merkwürdig. Aber ich habe gesehen, wie sie das Wesen von dort weggeholt und dann in die Kammer gebracht haben, in der wir es schließlich gefunden haben. Irgendwo war ein Zugang, eine weitere Schleuse. Dahinter verbarg sich eine Welt, die so völlig anders ist als alles, was wir bisher an Bord dieser Station gefunden haben. Ich glaube sogar«, fügte er nachdenklich hinzu, »dass es sich dabei um das eigentliche Herz der Station handelt.« Jarvis hielt inne, sah den Gefährten verwundert an. »Und das alles hast du in den Gedanken von diesem … diesem … gelesen? Und das fällt dir erst jetzt ein?« »Ich habe es nicht wirklich gelesen«, wehrte Algorian sogleich ab. »Es ist mehr so, als sei ein Teil seiner Erinnerung auf mich übergegangen. Erst jetzt, nachdem ich Gelegenheit hatte, das Gesehene sacken zu lassen, fange ich so langsam an, es zu verstehen.« »Okay …«, entgegnete Jarvis stirnrunzelnd. »Du hast vorhin etwas von durchsichtigen Tanks erzählt, in denen Dutzende dieser Wesen untergebracht waren. Sind die auch hier in der Station?« Algorian horchte prüfend in sich hinein, dann schüttelte er energisch den Kopf. »Nein … Die Tanks waren an einem anderen Ort. Dem seiner Geburt …«
Jarvis verzog das Gesicht. »Du machst mir allmählich Angst, weiß du das.« Algorian sah ihn verwundert an, doch Jarvis winkte nur ab. »Und du hast keine Ahnung, wo das ist? Der Ort seiner Geburt?« Der Aorii verneinte. »Das habe ich nicht erkannt. Möglicherweise war das Wesen bewusstlos, als man es von dort fortbrachte …« »Na gut«, überlegte der GenTec. »Vielleicht sollten wir versuchen, den Zugang zu diesem Höhlensystem zu finden. Wenn es wirklich das eigentliche Zentrum der Station darstellt, finden wir vielleicht dort, wonach wir die ganze Zeit suchen.« Algorian reagierte skeptisch. »Ich habe dir doch gesagt: Die Höhlen waren komplett unter Wasser. Für dich ist das vielleicht kein Problem, aber ich bräuchte mindestens einen Taucheranzug, um mich dort gefahrlos bewegen zu können.« »Um das Problem kümmern wir uns, wenn es sich uns stellt«, beschwichtigte Jarvis. »Also wenn wir es gefunden haben. Überleg noch mal: Kannst du dich nicht an irgendwelche Details in der Nähe des Zugangs erinnern, durch den sie das Wesen gebracht haben?« »Hm … Da war ein Dreieck …« »Ein … Dreieck?«, papageite Jarvis Stirn runzelnd. »Eine dreieckförmige Tür«, konkretisierte Algorian. »Gefolgt von einem gläsernen Raum …« »Und wo soll das sein?« Algorian legte den Kopf schief, löste sich dann vom Fleck und ging langsam, aber zielstrebig auf eine Tür zu, die knapp zwanzig Meter weiter in die Wand eingelassen war. Jarvis folgte ihm, unsicher, was der Aorii mit dieser Aktion bezweckte. »Dahinter …«, murmelte der Aorii. »Wir müssen hinter diese Tür …« »Ähm … Ohne deine Fähigkeiten infrage stellen zu wollen«, setzte Jarvis vorsichtig an. »Sagtest du nicht gerade eben erst etwas von einer dreieckigen Tür?« Der Aorii sah ihn mit überzeugtem Blick an. »Ich weiß nicht genau warum, aber ich bin mir sicher, dass sich das Höhlensystem irgend-
wo dahinter verbirgt.« Jarvis, der eigentlich schon vor geraumer Zeit beschlossen hatte, sich über nichts mehr zu wundern, zuckte mit den Schultern. »Na gut. Sehen wir nach …«
9. Scobee hatte jegliches Zeitgefühl verloren, nachdem sie eine halbe Ewigkeit lang durch die finstere Röhre gestolpert war, die zwar aus der Grotte heraus, aber bisher nirgendwo hin geführt hatte. Allmählich fragte sie sich, ob sie überhaupt jemals einen Ausgang finden würde, der nicht nur in eine andere Grotte oder ein anderes Höhlensystem überleitete, sondern sie tatsächlich hinaus in die Freiheit entließ. Wohin hatte es sie nur verschlagen? Was war das für ein absonderlicher Ort, zu dem die missglückte Transition sie umgeleitet hatte? Scobee hielt unwillkürlich inne, als ihr ein Gedanke kam. Eine Idee, die eigentlich auf der Hand lag, ihr jedoch im rasanten Fluss der Ereignisse, die sie in den letzten Stunden auf Trab gehalten hatte, nicht gekommen war. Abrupt stoppte sie, um nachzuholen, was sie seit ihrer Trennung von den beiden Gefährten versäumt hatte. Sie schloss die Augen, sammelte all ihre Konzentration und bündelte sie in einem geistigen Hilfeschrei, den sie gezielt an Algorian zu adressieren versuchte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er sie in dem Wust der mentalen Störgeräusche, auf die der Aorii sie zuvor hingewiesen hatte, überhaupt wahrnehmen konnte, aber einen Versuch war es wert. Sie hielt die Anspannung so lange, bis sie ein dumpfes Pochen hinter ihren Schläfen spürte und sich ein stechender Schmerz durch ihr Gehirn bohrte. Dann entspannte sie sich wieder, atmete angestrengt aus und hoffte inständig, dass irgendetwas von ihrem lautlosen Hilferuf bei dem Telepathen angekommen war. Wenn nicht, das musste sie sich eingestehen, war es ziemlich fraglich, ob sie aus eigener Kraft den Weg aus diesem verfluchten Labyrinth finden würde. Mit solch düsteren Gedanken im Gepäck setzte sie ihren Weg fort. Wäre sie nicht zu äußerster, fast übermenschlicher Ausdauer kondi-
tioniert worden, wäre sie wahrscheinlich unter all den Strapazen und dem psychischen Druck, der auf ihr lastete, längst zusammengebrochen. So gelang es ihr, zumindest zu »funktionieren«, sich aufrecht zu halten, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich in der sie umgebenden Finsternis voranzutasten. Irgendwann erreichte sie eine weitere Weggabelung, bei der sie sich ohne lange zu überlegen für die rechte Alternative entschied. Was spielte es noch für eine Rolle? Die Orientierung hatte sie ohnehin längst verloren und würde sie auch durch intensives Nachdenken nicht wiedererlangen. Wenn sie nicht für immer hier unten verrotten wollte, war Handeln angesagt. Sie wusste nicht, wie lange sie seitdem unterwegs war, schätzte aber, dass es mindestens eine halbe Stunde gewesen sein musste, bis sie ein leises Rauschen vernahm. Sofort hielt sie inne, legte den Kopf schief und versuchte, das Geräusch einzuordnen. Einen Moment lang war sie sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt existierte, oder ob sie drauf und dran war, den Verstand zu verlieren. Doch dann hörte sie es ganz deutlich. Es war keine Einbildung – und wurde mit jeder Sekunden lauter. Wasser!, blitzte es panisch in ihr auf. Die Röhre wird unterspült! Hektisch tastete sie um sich, suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte – als es sie auch schon erreicht hatte! Die Woge traf sie mit der Gewalt eines Tsunami, fegte sie von den Beinen, riss sie mit sich wie einen ausgerissenen Baum. Bald wusste sie nicht mehr, wo oben und wo unten war, überschlug sich, prallte immer wieder hart gegen die Wände des Tunnels, sodass eine Schmerzwelle nach der anderen sie durchzuckte. Krampfhaft versuchte sie, einigermaßen die Kontrolle zu behalten, als irgendetwas hart gegen ihre Schläfe prallte. Gleißende Sterne blitzten vor ihren Augen auf, gefolgt von Dunkelheit, die übergangslos nach ihr griff. Nicht das Bewusstsein verlieren, dachte sie noch. Nicht das … Am Rande ihres Denkens bekam sie noch mit, dass der Tunnel endete. Wie eine Kanonenkugel schoss sie über die Kante hinweg, wir-
belte durch die Luft, befand sich zwei, drei Sekunden im freien Fall, bis sie mit einem klatschenden Geräusch die Wasseroberfläche durchbrach. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Fluten an, die an ihr zerrten, sie in die Tiefe rissen. Mit hektischen Schwimmbewegungen versuchte sie, aufzutauchen, der Wasseroberfläche entgegenzustreben, während sich noch viel dunklere Fluten über ihr Bewusstsein ergossen. Verdammt, dachte sie noch. So verbissen gekämpft und doch verloren. Dann erlosch ihr Bewusstsein.
Kurz zuvor Binnen eines Lidschlags fanden sich Jarvis und Algorian hinter der Tür und in einem Antigravlift wieder, der in nur eine Richtung führte: nach unten. Der Bedienungsmechanismus war schnell gefunden. Er bestand aus einem Sensorfeld und war durch eine bloße Handbewegung auszulösen. Jarvis aktivierte ihn beinahe aus Versehen, als er die glatte Wand danach abtastete. Im letzten Moment zuckte er davor zurück und sah Algorian fragend an. Dieser nickte nur schwach. Jarvis ließ seine Hand an dem Sensor vorbeigleiten, und schon im nächsten Moment trug das Antigravfeld sie wie auf Wolken nach unten. Die Reise dauerte eine knappe Minute, dann setzte sie das Feld in einem schmalen Gang ab, der geradeaus führte und nach wenigen Metern vor einem weiteren Türschott endete. Jarvis trat als Erster aus dem Antigravfeld und wollte schon weitergehen, als er bemerkte, dass Algorian zurückblieb. Er drehte sich um und sah den Aorii verwundert an, der auf einmal einen erschrockenen Eindruck machte. »Was hast du?«, erkundigte er sich besorgt.
Algorians Antwort bestand aus einem einzigen Wort: »Scobee …« Sofort war Jarvis hellwach. »Du meinst …?« »Ich habe einen Impuls von ihr empfangen. Glaube ich …« »Was soll das heißen, du glaubst?« Jarvis Frage klang unfreundlicher als beabsichtigt. »Er war ganz schwach. So, als würde er stark gedämpft.« »Hat sie dir eine gezielte Nachricht zukommen lassen?« Der Aorii wiegte zögernd den Kopf. »Ich habe keinen genauen Wortlaut verstanden. Aber einer Sache bin ich mir sicher: Es war ein Hilferuf …« Jarvis kräuselte die Lippen. »Hast du wenigstens irgendeine Ahnung, woher dieser Hilferuf kam?« Der Aorii zuckte nur mit den kantigen Schultern. Es war offensichtlich, dass der Telepath wirklich nicht mehr wusste, sonst hätte er sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen lassen. Umso wichtiger, dass sie ihren Weg so rasch wie möglich fortsetzten. Im Entenmarsch gingen sie durch den schwach beleuchteten Gang auf das Schott zu, das wie von Geisterhand bewegt vor ihnen in die Wand glitt. Jarvis registrierte noch, dass es dreieckig war … Als sein Blick dann in den Raum fiel, der sich dahinter verbarg, stockte ihm symbolisch der Atem. Der Raum war wabenförmig und in etwa so groß, dass ein gutes Dutzend Humanoide darin Platz gefunden hätten. Wirklich erstaunlich war jedoch etwas ganz anderes: Der Raum war durchsichtig! Das war das Erste, das Jarvis ins Auge sprang. Zunächst glaubte er gar, direkt in einen Abgrund zu blicken. Der Raum war umgeben von Wasser, so trüb, dass man keine drei Meter weit sehen konnte. »Ein riesiges Schwimmbecken«, ließ Algorian hinter ihm vernehmen. Auch er schien tief beeindruckt. »Na ja, schwimmen möchte ich in dieser Brühe eigentlich nicht«, gab Jarvis schief grinsend zurück. »Ich glaube, das müssen wir auch nicht«, meinte der Aorii und deutete auf den Boden der eigenartigen Glaskammer. Genauer gesagt auf ein seltsames Objekt, das darunter verborgen war. Es war annähernd eiförmig, lief an seiner Vorderseite jedoch spitz zu.
»Was soll das sein? Ein Wasserfahrzeug?« »Finden wir's raus …« Noch während er das sagte, wandte sich der Aorii einer ebenfalls durchsichtigen Armatur zu, die linkerhand in die Wand eingelassen war. Sie war augenscheinlich dafür gemacht, von den Extremitäten der Käferartigen bedient zu werden, doch auch Algorian mit seinen feingliedrigen Fingern, hatte keine Mühe, die winzigen Knöpfe zu bedienen. Er probierte einige von ihnen aus, bis er den richtigen gefunden hatte. Eine bis dahin nicht wahrzunehmende Luke öffnete sich in dem gläsernen Boden, unmittelbar oberhalb des metallisch glänzenden Eis, das sich ebenfalls in Bewegung setzte. Es wurde in einer lautlosen vertikalen Bewegung nach oben geschoben, bis es das Niveau des Bodens erreicht hatte. »Eigenartige Konstruktion«, wunderte sich Jarvis, während er es von allen Seiten begutachtete. »Ich sehe keine Tür und auch keinen Öffnungsmecha…« Er kam nicht mehr dazu, zu Ende zu sprechen. Abrupt öffnete sich an seiner Oberseite eine ebenfalls annähernd ovale Luke und gab den Blick auf zwei Sarkophagsitze frei, die ganz auf die Physis der Treymor abgestimmt waren. Jarvis und Algorian würden bequem Platz darin finden, daran bestand für den GenTec kein Zweifel. Als er den Kopf hob, sah er den skeptischen Blick, mit dem der Aorii das Gefährt begutachtete. Jarvis grinste ihn schief an. »Lust auf 'ne Bootsfahrt?« Der Aorii erwiderte das Grinsen, doch bei ihm wirkte es deutlich bemühter. »Gern. Aber nach dir …«
Scobee hatte nicht mehr daran geglaubt, jemals wieder zu erwachen. Als sie das Bewusstsein verlor, während sie dem Grund des Wasserbeckens entgegentrudelte, war sie davon überzeugt gewesen, dass ihr Schicksal damit besiegelt war.
Umso überraschter war sie, als sie die Augen aufschlug und Licht sah. Es war gleißend hell und allgegenwärtig. Schnell schloss sie die Augen wieder, um sie kurz darauf erneut, dafür jedoch etwas langsamer öffnen. Sofort war ihr klar, dass es eine Weile dauern würde, bis sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse anpassten. Im selben Moment schoss ihr eine Vielzahl von Fragen durch den Kopf. Wo war sie? Warum konnte sie atmen. Und wo war das Wasser, das sie noch eben umspült hatte? Ganz kurz war sie sogar davon überzeugt, dass sie doch tot und im Jenseits war. Dass all die Geschichten über Himmel und Hölle wahr waren und sie sogleich ihrem Schöpfer gegenübertreten würde … Schon im nächsten Moment aber wischte sie den Gedanken beiseite. Sie war nicht tot, sie befand sich noch immer in ihrem Körper, spürte den harten Untergrund und die Schmerzen aufgrund der zahlreichen Prellungen, die sie sich bei ihrem unkontrollierten Sturz durch die überflutete Höhle zugezogen hatte. Nein, der Himmel war das wahrlich nicht – und vermutlich auch nicht die Hölle oder eine Art Fegefeuer. Irgendetwas war während ihrer Bewusstlosigkeit passiert. Etwas, das sich ihrer Wahrnehmung entzogen hatte. Etwas Absonderliches … Und sie war fest entschlossen, herauszufinden, was es war. Als ihre Augen sich einigermaßen an die grelle Helligkeit gewöhnt hatten, richtete sie sich auf, drehte sich dann langsam um die eigene Achse. Die Sicht wurde ihr dabei nicht nur durch die Helligkeit erschwert, sondern auch durch einen leichten Nebel, der ihre Umgebung wie ein Gespinst durchzog. Handelte es sich dabei um Wasserdampf? Möglich. Nur ein Rätsel mehr, das es zu ergründen galt. Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung, immer bereit, auf eine plötzliche Veränderung in ihrer Umgebung zu reagieren. Jetzt, da sie ihre Sinne wieder beisammen hatte, erschienen sie ihr sogar noch geschärft. Sie achtete auf jede Bewegung, war bereit, auf jedes plötz-
liche Geräusch zu reagieren. Sie ging in gebückter Haltung, jeden Muskel ihres Körpers angespannt. Sie war hier auf feindlichem Gebiet, das durfte sie nicht vergessen. Mitten in der Höhle des Löwen. Auch wenn sie lange keinem Käferartigen mehr begegnet war, musste sie doch damit rechnen, jederzeit mit einem oder gar mehreren von ihnen konfrontiert zu werden. Sie hielt abrupt inne, als sich der Nebel langsam lichtete, die Helligkeit dadurch noch intensiver wurde. Scobee schirmte ihre Augen mit ihrer rechten Hand ab, um zu erspähen, was sich hinter dem Nebel befand. Dann ging sie noch einige Schritte weiter, nervös und mit klopfendem Herzen. Nicht, weil sie auf einmal Angst bekommen hätte. Nein, es war pure Neugier, die diese Körperreaktionen bei ihr auslöste. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, nach all den Strapazen endlich am Ziel angekommen zu sein. Dass sie kurz davor war, das Geheimnis dieser Station zu ergründen. Ihren Sinn und Zweck. Sie ging noch einen weiteren Schritt, dann stoppte sie so abrupt, als wäre sie gegen eine Mauer gerannt. Die letzten Nebelfetzen hatten sich verzogen und gaben den Blick frei auf jenes Objekt, das noch etwa zwanzig Schritte entfernt war. Scobees Augen weiteten sich. Ihr Atem stockte. Sie konnte kaum glauben, was sie da sah. Schlagartig wurde ihr klar, welchem Zweck diese Station diente. Es ist ein Gefängnis …!
Wie erwartet fanden Jarvis und Algorian bequem Platz in dem ovalen Objekt. Immerhin war es für die wesentlich ausladendere Physis der Käferartigen geschaffen worden. Auch die Bedienung war denkbar einfach, vergleichbar mit der eines der zahlreichen Beiboote der RUBIKON. Nach einigem Ausprobieren senkte sich das Gefährt zurück ins Wasser, um sich auf Knopfdruck in Bewegung zu setzen.
Gewöhnungsbedürftig war lediglich, dass das Gefährt keine Fenster besaß – lediglich einen kleinen, in die Armaturen eingearbeiteten Monitor, auf dem ein glasklares Bild ihrer Umgebung zu sehen war, welches sich allerdings per Knopfdruck um 360 Grad drehen ließ. Unwillkürlich fühlte sich Jarvis an ein Miniatur-U-Boot erinnert. »Wohin geht die Reise eigentlich?«, erkundigte sich Algorian, nachdem sie die Funktionen des Unterwasserfahrzeugs hinreichend getestet hatten. »Keine Ahnung«, erwiderte Jarvis. »Ich bin auch nicht von hier. Am besten wir halten an der nächsten Tanke und fragen uns durch.« Algorian ignorierte den Spruch des GenTec. Wie alle anderen Mannschaftsmitglieder der RUBIKON hatte auch er im Laufe der Zeit gelernt, die flotten Kommentare des Kameraden nicht in den falschen Hals zu bekommen. Sie waren geraume Zeit unterwegs, als Jarvis eine Veränderung ihrer Umgebung bemerkte. Das Wasser war stetig trüber geworden, die Sicht damit immer schlechter. Fast war es, als habe sich ein Schatten über die Umgebung gelegt. Abrupt drosselte Jarvis die Fahrt. Algorian sah ihn fragend an. »Was tust du?« Der GenTec zuckte mit den Schultern. »Wonach sieht's denn aus? Ich passe unsere Geschwindigkeit den Sichtverhältnissen an …« Algorian warf einen weiterten Blick auf den Monitor, nickte dann zögernd. »Stimmt. Ich habe auch allmählich ein ungutes Gefühl. Dass dieser Bereich der Station dermaßen abgeschottet ist, hat sicher seinen Grund. Vielleicht waren wir etwas voreilig. Wir …« »Shit!« Jarvis unfeiner Fluch riss Algorian die Worte von den Lippen. Jetzt zahlte es sich aus, dass er das Schiff mit stark gedrosselter Geschwindigkeit hatte treiben lassen. Andernfalls wären sie wohl unweigerlich an dem Hindernis zerschellt, das sich ohne jede Vorwarnung aus der Dunkelheit schälte. Es war wie eine Wand, die sich plötzlich vor ihnen in die Höhe schob. Jarvis reagierte blitzschnell, riss das Schiff um neunzig Grad in die Höhe, sodass es nur wenige Millimeter an der massiven Wand ent-
lang jagte. »Himmel …!« Algorian wurde in seinem Sitz herumgerissen, verlor fast den Halt und konnte sich nur mit äußerster Mühe abstützen. Jarvis steuerte das Schiff derweil weg von dem mysteriösen Objekt, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Als er glaubte, einen ausreichenden Abstand erreicht zu haben, stoppte er das Schiff, parkte es in der Schwebe und richtete das Objektiv der Außenkamera in die Richtung, in der das Hindernis lag. Das Wasser war immer noch viel zu trübe, um Details auszumachen. Erst nachdem Jarvis Schärfe und Helligkeit des Monitorbildes justiert hatte, erkannte er einen Schemen, der sich aus dem Dunkel hervorhob. Er hatte eine annähernd runde Form, sah fast so aus wie ein kleiner Planet. Eine felsige Kugel, die schwerelos inmitten dieses künstlich angelegten Wasserbeckens schwebte. »Was ist das?« Ein Krächzen kam über Algorians Lippen. Es war deutlich herauszuhören, dass er von Überraschungen allmählich die Nase gestrichen voll hatte. »Keine Ahnung«, gab Jarvis zurück. »Sehen wir es uns doch einfach mal aus der Nähe an …«
Sie wünschte sich Jarvis und Algorian an ihrer Seite. Oder irgendeine Person, die sie kneifen und davon überzeugen konnte, dass das, was sie sah, real war und keine bloße Ausgeburt ihrer Fantasie. Auf den ersten Blick sah das Objekt aus wie eine überdimensionale Seifenblase. Es war rund, hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern, war durchsichtig und schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Es war nicht leer, sondern bis zum Rand mit einer Flüssigkeit – vermutlich Wasser – gefüllt. Ein Beweis dafür, dass die so zerbrechlich wirkende Haut in Wahrheit äußerst tragfähig sein musste, sonst hätte sie kaum dem immensen Druck standgehalten. Doch all das hätte Scobee nicht dermaßen aus der Fassung ge-
bracht, wie es der Fall war. Nein, was sie so sehr erschütterte, war das, was die Flüssigkeit dieser eigenartigen Blase beherbergte. Es war ein Lebewesen. Ein zerbrechlich wirkendes humanoides Geschöpf mit eindeutig weiblichen Zügen. Ein Vaare! Scobee hatte tatsächlich nicht den geringsten Zweifel, dass es sich bei dem Wesen um einen der sagenumwobenen Herrscher über Tovah'Zara handelte. Jene Wesen, die die Foronen als Götter verehrt und ihre Schlafstätte im für sie heiligen Zentrum des Kubus bewacht hatten. Zahllose Gedanken schossen Scobee durch den Kopf, während sie das Wesen betrachtete. Unzählige Erinnerungen an ihren ersten Besuch Tovah'Zaras, ihre erste Begegnung mit den Vaaren, die sie als Feinde angesehen hatten. Was war davon zu halten, dass ausgerechnet einer von ihnen im hermetisch abgeschirmten Zentrum der Station gefangen gehalten wurde? Darauf gab es eigentlich nur eine Antwort. Und Scobee war fest entschlossen, sie sich bestätigen zu lassen. Wie in Trance löste sie sich vom Fleck und ging langsam näher. Ob die Insassin des Würfels sie bemerkt hatte, ließ sich nicht ohne weiteres sagen. Sie hatte ihr den Rücken zugewandt, schien zu schlafen, aber das konnte auch nur ein Trick sein. Scobee hatte die Vaaren als ein stolzes Volk kennengelernt. Keins, das sich widerstandslos einer Versklavung beugen würde. Wenige Schritte vor der Blase blieb Scobee stehen, den Blick auf die irisierende Außenhaut der Blase gerichtet. Gab es einen Weg, auf sich aufmerksam zu machen, ohne die Vaarin in Alarmbereitschaft zu versetzen? Da diese Wesen telepathisch kommunizierten, genügte es vielleicht, einen mentalen Impuls an sie zu richten. Scobee wollte dieses gerade tun, als sich das Wesen abrupt umdrehte. Blitzschnell bildete es mehrere Nesselfäden aus, die sie in die Richtung der ungebetenen Besucherin schickte. Die GenTec zuckte leicht zurück, hielt es jedoch für unwahrschein-
lich, dass die Vaarin in der Lage war, die Außenschale ihres Gefängnisses zu durchdringen. Und tatsächlich. Die Fäden prallten daran ab, ohne dass sich auch nur ein Riss in der stabilen Hülle abzeichnete. Die Vaarin, sichtlich überrascht von Scobees demonstrativer Gelassenheit, löste sich vom Fleck und schwamm in ihre Richtung, bis sie die Außenwandung erreichte. Scobee kam sich vor wie die Besucherin eines Aquariums, als sie das Wesen durch die gläserne Hülle hindurch betrachtete. Die Vaarin sah anders aus als ihre Artgenossen, deren Bekanntschaft sie damals gemacht hatte. Der Stolz und die Unnahbarkeit waren zwar selbst jetzt, in dieser fast schon demütigenden Situation, nicht aus ihrem Blick verschwunden, aber etwas anderes war dazu gekommen. Ein Ausdruck von Trauer, Hilflosigkeit und … Verzweiflung. Scobee tat einen weiteren Schritt nach vorne, um dem bizarren Wasserwesen, das offenbar ebenfalls interessiert daran war, mit ihr in Kontakt zu treten, entgegenzugehen. Im selben Moment streckte die Vaarin die Arme aus, sodass ihre Handflächen die Innenseite der Blase berührten. Scobee runzelte die Stirn. Erwartete sie, dass sie es ihr gleich tat? Zögernd imitierte sie das Verhalten ihres Gegenübers, streckte die Hände aus und legte ihre Handflächen auf die der Vaarin. Das Erste, was sie Spürte, war die Haut der »Seifenblase«. Sie war kalt, etwas glitschig und gab unter dem Druck leicht nach. Dies bekam die GenTec jedoch nur am Rande mit, denn bereits im nächsten Moment geschah genau das, worauf sie gehofft hatte. Sie bekam Kontakt. Es war zunächst wie ein Kribbeln, das ihren ganzen Körper erfasste, dann hörte sie auch schon eine hallende Stimme, direkt in ihrem Kopf. Du bist keiner der Invasoren. Wer aber dann …? Du hast recht, entgegnete Scobee. Ich komme von einer anderen Welt, jenseits von Tovah'Zara. Die Treymor, wie wir die Invasoren nennen, sind auch die Feinde meines Volkes. Ich bin tief in ihr Reich eingedrungen, um den Kampf gegen sie aufzunehmen. Mein Name ist Scobee … Scobee hielt den Atem an. Sie hatte all ihre innere Überzeugung in
diese Ansprache gelegt und hoffte nun, irgendeinen Eindruck damit erzielt zu haben. Sekunden vergingen, in denen die Präsenz der Vaarin sie fast durchbohrte, ihr Innerstes ausleuchtete, es förmlich auf den Kopf stellte. Dann kam die Antwort. Ich bin Salena die Dritte. Letzte Königin des Volkes der Vaaren. Tovah'Zara war einst meine Heimat …
Erneut pirschten sie sich, langsam und mit äußerster Vorsicht, an das kugelförmige Objekt heran, das mysteriös blieb, obwohl sie es jetzt deutlich auf dem Monitor sehen konnten. Aber wer vermochte schon zu sagen, was es mit diesem Ding auf sich hatte? Als sie es fast erreicht hatten, drosselte Jarvis die Fahrt, ließ das Kameraobjektiv langsam über die Oberfläche schwenken. Diese war rau und zerklüftet, wies an einigen Stellen Risse auf, und war über und über von Moos überwuchert. »Ein Felsbrocken …«, murmelte Algorian leise vor sich hin. Jarvis sah ihn kurz an, wandte seinen Blick dann wieder dem Monitor zu. »Auf den ersten Blick, ja. Das Ding ist allerdings künstlichen Ursprungs, wenn du mich fragst. Irgendjemand hat es geschaffen und bewusst in diesem Bassin versenkt.« »Na gut … Aber zu welchem Zweck?« Jarvis gab keine Antwort, sondern ließ das Boot langsam weiter treiben, steuerte es dicht an der Oberfläche des Objektes entlang und begann damit, es langsam zu umrunden. Es erwies sich als gewaltiger, als es aus der Entfernung den Eindruck gemacht hatte. Es dauerte geraume Zeit, bis Algorian den Kameraden auf etwas aufmerksam machte, das dieser fast übersehen hätte. Es war eine Öffnung – groß genug, um selbst das Boot in sich aufzunehmen. »Ich glaube«, meinte Jarvis, »du hast soeben den Eingang gefun-
den …«
Scobee zuckte innerlich zusammen, als die Vaarin ihr ihren Namen nannte. Sofort musste sie an Lovrena denken, die Vaarenkönigin, die damals geherrscht hatte. Als es sie, John und Jarvis zum ersten Mal in den Kubus verschlagen hatte. Dies war lange her. Eine endlos lange Zeit, die längst in Vergessenheit geraten sein musste. Oder doch nicht? Der Gedanke an Lovrena schien etwas in der Vaarin auf der anderen Seite der Blase auszulösen. Scobee registrierte ein Gefühl der Verwunderung, das sie ergriff. Du … kennst meine Vorgängerin? Ich war schon einmal hier, beeilte sich Scobee, ihr Wissen zu erklären. Eure Vorfahren haben meine Freunde und mich ausgesprochen gastfreundlich empfangen. Das war eine glatte Lüge. Scobee konnte nur hoffen, dass Salena sie nicht durchschaute. Die schien jedoch eher nachdenklich als misstrauisch. Erzähl mir davon!, forderte sie. Und Scobee tat es. Obwohl sie ziemlich viele Details aussparte, dauerte es eine ganze Weile, bis die Umstände, die sie nach Tovah'Zara verschlagen hatten, zu Salenas vollster Zufriedenheit dargelegt waren. Ich freue mich, eine so alte Freundin meines Volkes willkommen zu heißen, sagte sie dann, und wirkte dabei trauriger und niedergeschlagener denn je. Was ist seitdem passiert?, nahm Scobee den Faden sofort auf. Ich erkenne Tovah'Zara kaum wieder. Die Traurigkeit in Salenas Blick nahm augenblicklich an Intensität zu. Es gab Krieg, erklärte sie knapp. Sie kamen wie aus dem Nichts. Überrollten uns und alle Völker des Kubus. Wir wehrten uns. Viele meines Volkes wurden getötet. Ich geriet in Gefangenschaft. Seitdem bin ich hier. Mei-
ne Langlebigkeit wurde zum Fluch. Jahr um Jahr wartete ich auf den Tag meiner Befreiung. Scobee nickte nachdenklich. Sie hatte nicht sehr viel mehr erfahren, als sie sich ohnehin bereits zusammengereimt hatte. Dass die Treymor nicht einmal vor dieser bizarren Welt, die so gar nicht ihrem Element entsprach, halt gemacht hatten, erschütterte sie zutiefst. Es unterstrich einmal mehr die Gefahr, die von den Käferartigen ausging. Du sagst, dass du und deine Freunde den Kampf gegen die Invasoren aufnehmen wollen?, hakte Salena noch einmal nach. Als Scobee bejahte, zeigte sich die Königin zutiefst beeindruckt. Ihr müsst sehr stark sein, müsst über mächtige Waffen verfügen, wenn ihr euch zutraut, was meiner gesamten Armee nicht gelungen ist. Darauf gab Scobee lieber keine direkte Antwort, sondern wechselte geschickt das Thema. Wir werden den Kampf nicht alleine aufnehmen. Wir sind dabei, Allianzen zu schmieden und haben gehofft, dass auch euer Volk seinen Teil dazu beitragen kann. Jetzt stieß Salena ein Geräusch aus, das entfernt an ein schrilles Lachen erinnerte und Scobee Schmerz bereitete. Sieh mich doch nur einmal an! Denkst du, dass es den Niedereren meiner Art anders ergeht? Wir waren einmal ein stolzes Volk. Ein Volk von Kriegern, das nichts und niemanden fürchten musste, sondern selbst gefürchtet war. Wir waren die Herren über Tovah'Zara. Wir hatten die Macht, und unser Wort war Gesetz. Das alles liegt lange zurück. Ich kann nur in meinem Gefängnis verharren und darauf warten, dass mich der Tod ereilt … Noch während Salena sprach, spürte Scobee ein leichtes Schwindelgefühl in sich aufsteigen. Es musste mit der Beschaffenheit dieser Blase zusammenhängen, wurde vermutlich durch den direkten Kontakt mit dem eigenartigen Material hervorgerufen. Wahrscheinlich verfügte es über irgendeine energetische Barriere, die die Vaaren-Königin in ihrem Gefängnis bannte. Scobee dachte krampfhaft nach. Es gab noch so viele Fragen, die in ihr bohrten und darauf drängten, gestellt zu werden. Was wollen die Treymor von euch? Welchen Zweck haben sie mit der Er-
oberung Tovah'Zaras verfolgt? Wieder stieß Salena dieses schaurige mentale Lachen aus. Du überschätzt meine Macht. Wie sollte ich dir diese Fragen beantworten, wenn ich doch seit einer halben Ewigkeit ihre Gefangene bin? Scobee wollte noch etwas entgegnen, doch die Übelkeit wurde zu stark. Plötzlich spürte sie ein schmerzhaftes Klopfen in ihren Schläfen. Erst nur leicht, dann immer stärker, als würde jemand die Innenseite ihre Schädels mit einem Hammer malträtieren. Augenblicklich unterbrach sie den Kontakt, wankte zurück und presste ihre Handflächen an ihren Kopf, der von einer wahren Welle an Vibrationen erfasst wurde. Scobee wankte einige Schritte weiter, die »Seifenblase« und die darin eingesperrte Vaaren-Königin verschwammen zunehmend in ihrem Blickfeld. Dann spürte sie etwas Feuchtes auf der Lippe, hatte kurz darauf einen metallischen Geschmack im Mund. Blut! Aus ihrer Nase sickerte ein dünner Blutfaden. Ich muss hier weg, wurde es ihr klar. Sie musste sich dem Einfluss des Kraftfeldes entziehen, das das gläserne Gefängnis offenbar umgab. Wer wusste, was sonst geschehen würde? Die Hände noch immer an die Schläfen gepresst, drehte sie sich um und rannte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Zurück in den Nebel.
Tatsächlich waren die Öffnung und der sich anschließende Tunnel gerade groß genug, um das eiförmige U-Boot passieren zu lassen. Die Fahrt dauerte eine Weile, da Jarvis weiterhin darauf bestand, sie nur im Schleichtempo fortzusetzen. Wer wusste schon, mit welchen Gefahren, mit welch plötzlich auftauchenden Hindernissen sie in dem seltsamen Tunnelsystem rechnen mussten? Mittlerweile waren sie davon überzeugt, dass dies dasselbe Höhlenlabyrinth war, das Algorian gesehen hatte, als er das Gedächtnis des Wesens im Labor angezapft hatte. War Scobee tatsächlich hier, in einer der Höhlen, die offenbar die gesamte Kugel durchzogen?
Und wenn ja, wie war es ihr möglich gewesen, unter Wasser zu überleben? Denn einer Sache war Jarvis sich hundertprozentig sicher: Sie lebte, sonst hätte Algorian nicht Stunden nach ihrem Verschwinden mentale Muster von ihr empfangen. Den Blick starr auf den Monitor gerichtet, tasteten sich also weiter durch die Finsternis vor – und erschraken, als plötzlich ein riesenhaftes Maul im Bereich der Außenkamera auftauchte. Das Wesen, dem es gehörte, ähnelte einer Muräne, war jedoch, wenn die Dimensionen nicht täuschten, mindestens fünfmal so groß. Jarvis ging sofort in Alarmstellung, doch das Wesen schien größere Angst vor dem Boot, als sie vor ihm zu haben, denn nur Sekunden, nachdem es vor ihnen aufgetaucht war, ergriff es auch schon in schlängelnden Bewegungen die Flucht. Irgendwann – Jarvis hatte aufgehört, die Sekunden zu zählen – erreichten sie einen Ausgang, der direkt in ein größeres Becken mündete. Dieses Bassin war schwach beleuchtet, doch die Trübheit des Wassers verhinderte weiterhin eine klare Sicht. Sie hatten während der Fahrt wenig gesprochen, doch jetzt wandte Jarvis sich an Algorian. »Erkennst du hier irgendwas wieder?« Algorian dachte kurz nach, ging in sich, schüttelte dann den Kopf. »Auch kein weiteres Signal von unserer Verschollenen?«, hakte der GenTec nach, wohl wissend, dass Algorian eine derartige Neuigkeit kaum für sich behalten hätte. »Leider nein …« Die Stimme des Aorii klang zerknirscht, als sei es seine Schuld, dass er im Moment keine große Hilfe war. Jarvis ließ das Boot tiefer sinken, dem Grund entgegen, den sie auch kurz darauf erreichten. Nach einigem Suchen fanden sie eine Röhre, die in den Boden des Bassins eingelassen war und senkrecht in die Tiefe führte. Auch sie war groß genug, um das Boot aufzunehmen, doch es bedurfte einigem Geschick, es hineinzubugsieren. Die Röhre war nicht besonders lang, nur wenige Meter, und endete in einem weiteren Bassin, das sich kaum von dem unterschied, aus dem sie gerade gekommen waren. »Wow«, machte Jarvis, ohne seine Enttäuschung zu verhehlen.
»Das ist ja das reinste Erlebnisbad. Ich frage mich nur, wie wir hier jemals eine Spur von Scobee finden sollen …«
Scobee wusste nicht, wie lange sie durch den Nebel gerannt war, doch mit jedem Schritt nahm der Druck in ihrem Kopf ab. Am liebsten wäre sie umgekehrt, hätte der gefangenen Vaarin noch so viele Fragen gestellt. Doch da sie mittlerweile sicher war, dass diese sie ohnehin nicht beantworten konnte, war ihr das Risiko einfach zu groß. Nein, ihr Entschluss stand fest: Sie musste hier weg, musste Jarvis und Algorian finden, mit ihnen diese monströse Station verlassen und John und die anderen darüber informieren, was sie herausgefunden hatte. Irgendwann, sie konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten, lichtete sich der Nebel wieder. Sie hatte zunächst Angst, im Kreis gelaufen zu sein und dass ihr Weg sie zurück zum Gefängnis der Vaaren-Königin gebracht hatte. Doch schon im nächsten Moment erkannte sie, dass zu dieser Befürchtung kein Anlass bestand. Was sie sah, war jedoch um keinen Deut besser. Wobei … zuerst konnte sie das Gesehene gar nicht richtig einordnen. Ihr Blick fiel auf eine durchsichtige, wie gläserne Wand, die vor ihr in die Höhe ragte. Doch beim Näherkommen erkannte sie, dass es kein Glas war, keine feste Materie, die da vor ihr aufragte. Es war Wasser. Eine Wand aus Wasser? Verwundert streckte sie Hand danach aus, davon überzeugt, gleich eine feste Barriere zu berühren, die das Wasser zurückhielt. Umso verwunderter war sie, als ihre Hand mühelos hindurchglitt und sie im nächsten Moment die Nässe spürte, die sie umspülte. Schnell zog sie die Hand wieder zurück, drehte sie und begutachtete sie von allen Seiten wie ein ihr völlig fremdes Objekt. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf die Wassersäule, die wie eingefroren in der Luft stand.
Welche mysteriöse Kraft auch immer dahintersteckte, Scobee ahnte, dass sich das Wasser in alle Richtungen rund um das Vaarengefängnis erstreckte. Wie eine Glocke. Ich sitze in der Patsche …
Jarvis und Algorians Weg hatte durch zahllose weitere Gänge, Becken und Röhren geführt. Sie kämpften sich gerade durch einen neuen Tunnel, als sich etwas in ihrer Umgebung veränderte. Algorian bemerkte es als Erster. »Da vorne ist Licht!«, meinte er, während er auf den Monitor tippte. Tatsächlich. War es bisher stockfinster gewesen, so nahmen sie nun einen Schimmer wahr, einen bläulichen Lichtschein, der die Wände der engen Höhle wie mit einer Glasur überzog. Kurz darauf erreichten sie den Ausgang. Jarvis bugsierte das U-Boot vorsichtig über die Kante und in ein weiteres riesiges Bassin, dessen trübes Wasser von diesem bläulichen Licht durchdrungen war. »Wo kommt es her?«, fragte Algorian, während Jarvis die Quelle bereits auszumachen glaubte. »Vom Grund, glaube ich …« Tatsächlich schien es in tieferen Lagen immer intensiver zu werden. Irgendwo dort unten musste eine starke Lichtquelle sein. Jarvis ließ das Boot langsam absinken, immer dem Ursprung des Lichtes entgegen. Und dann sahen sie, woher das Leuchten stammte. Es war eine flach gewölbte Kuppel, die fast den gesamten Boden bedeckte, dabei diesen diffusen, matt leuchtenden Schimmer absonderte. Leider war nicht zu erkennen, was sich in der Kuppel befand, da diese von einem Nebel erfüllt war, der alles, was sich darin abspielte, wie hinter einem Vorhang verbarg. »Schaurig …«, ließ sich der Aorii mit gebanntem Blick vernehmen. »Welchem Zweck mag es dienen?«
»Du fragst Sachen …« Jarvis ließ das Boot tiefer sinken – als er plötzlich etwas bemerkte. Auf dem Monitor war es nur ein winziger Punkt, doch er bewegte sich. Rasch aktivierte Jarvis die Zoom-Funktion, holte den Punkt näher heran … und hätte fast einen überraschten Schrei ausgestoßen, wäre Algorian ihm nicht zuvorgekommen. »Scobee!« Tatsächlich, es war die verlorene Gefährtin, die wie orientierungslos aus dem Nebel gestolpert war und jetzt vor der Innenwand der mysteriösen Kuppel stehen blieb.
Scobee bemerkte das seltsame eiförmige Objekt, das sich ihr näherte viel zu spät, sonst hätte sie schon früher die Flucht ergriffen. Zwar hatte sie keinen Anhaltspunkt, was es beherbergte, war sich jedoch verdammt sicher, dass es dem Arsenal der Treymor entstammte. Im besten Falle war es unbemannt, im schlechtesten befanden sich einer oder mehrere Käferartige an Bord. Wenn dem so war, dann hatten sie sie bemerkt, denn sie kamen genau in ihre Richtung! Scobee löste sich vom Fleck. Widerstandslos würde sie sich nicht ergeben. Sie drehte sich um und rannte los.
»Was macht sie denn da?«, fragte Algorian mit bebender Stimme, während er auf dem Monitor beobachtete, wie Scobee zurück in den Nebel lief. »Warum flüchtet sie denn?« »Wahrscheinlich weil sie uns für den Feind hält«, gab Jarvis unzufrieden zurück. »Du hast recht. Wir müssen uns irgendwie bemerkbar machen!« »Kannst du keinen telepathischen Kontakt zu ihr aufnehmen?« Algorian schüttelte den Kopf. »Ich kann espern, aber keine Gedanken zu einem Nichttelepathen schicken. Zudem ist da eine Barriere. Es muss mit dieser Kuppel zusammenhängen.«
»Na gut«, meinte Jarvis. »Dann eben anders. Übernimmst du mal die Steuerung?« Der Aorii sah den GenTec überrascht an. »Wieso, was hast du vor?« »Ich gehe runter …«
Scobee rannte, was das Zeug hielt. Egal wohin, Hauptsache zurück in den Nebel, der sie den Blicken ihrer Feinde entzog. Sie … … stoppte abrupt, als sich urplötzlich eine Gestalt vor ihr aus dem Nebel schälte. Ein Treymor!, schoss es ihr durch den Kopf, während sie Abwehrhaltung einnahm. Doch dann erkannte sie ihren Irrtum. Die Gestalt, die ihr da wie aus dem Nichts entgegentrat, war unverkennbar humanoider Natur. Ungläubig verengte sie die Augen zu Schlitzen, behielt ihre Haltung jedoch bei – bis sie den Mann erkannte, der im nächsten Moment ihren Namen aussprach. »Scobee!« »Jarvis …?«
Es war riskant gewesen, das war Jarvis bewusst, als er aus dem Schiff in die Kuppel transitierte. Deren Außenhülle schien rein energetisch zu sein, und es war schwer zu sagen, inwiefern das den Sprung beeinflussen würde. Doch als er sich binnen eines Lidschlags im Nebel wiederfand, wusste er, dass alles gut gegangen war. Schon hörte er schnelle Schritte und den keuchenden Atem einer Person, die genau in seine Richtung kam … und schon im nächsten Moment schemenhaft aus dem Nebel auftauchte. Er breitete die Arme aus, während er auf sie zuging. Sie fielen sich in die Arme wie ein lange voneinander getrenntes Paar. Scobee konnte ihr Glück kaum fassen. Gerade eben war ihr ihre Situation noch völlig ausweglos erschie-
nen, und schon im nächsten Moment war alles ganz anders. Und Jarvis, der schon nicht mehr daran geglaubt hatte, die verlorene Freundin in absehbarer Zeit wiederzufinden, ging es genauso. »Wo kommst du denn so plötzlich her?«, wollte Scobee wissen, als sie die überschwängliche Begrüßungsarie hinter sich gebracht hatten. »Und wo ist Algorian?« »Du hast doch bestimmt das schwimmende Ei gesehen, das sich der Kuppel näherte.« »Klar, deshalb bin ich weggelaufen. Ich dachte …« Sie stoppte, sah Jarvis verstehend an. »Du meinst …« »Wir sind seit kurzem motorisiert«, nickte Jarvis. »Die Gegend hier war uns auf Dauer dann doch zu nass.« »Wem sagst du das«, gab Scobee augenrollend zurück. »Mein Bedarf an Wasser ist für die nächste Zeit gedeckt …« »Ich will nicht drängen«, meinte Jarvis, »aber wir sollten vielleicht doch zusehen, dass wir hier wegkommen.« »Gute Idee. Wenn ihr so viel zu erzählen habt wie ich, freue ich mich schon tierisch auf Johns Gesicht …«
Nachdem sie zurück ins U-Boot transitiert waren, stellte sich heraus, dass es für drei ausgewachsene Humanoide dann doch etwas zu eng war. Ein Grund mehr, sich so schnell wie möglich auf den Rückweg zu machen. Sie folgten dem Weg, den sie gekommen waren. Offenbar war das Fehlen des Bootes noch nicht bemerkt worden, sonst wäre längst Alarm ausgelöst worden. Jarvis vermutete, dass es zahlreiche Zugänge in den mit Wasser gefüllten Kern der Station gab und ebenso zahlreiche Boote, mit denen dieser bequem befahren werden konnte. Kaum hatten sie den energetisch abgeriegelten Bereich der Station hinter sich gelassen, wagten sie es und transitierten zurück zur RUBIKON. Obwohl Jarvis nichts sagte, war er doch irgendwie erleichtert – um nicht zu sagen heilfroh –, als er sich versichern konnte, dass beide Gefährten neben ihm auf der Brücke des Rochenschiffs materialisiert
waren.
Der Bericht des Missionsteams löste ungläubiges Staunen aus, das sich unverkennbar in den Gesichtern der Anwesenden abzeichnete, die die Brücke belagerten. Neben der Kernbesatzung waren auch zahlreiche Angks gekommen, darunter Assur und Rotak, der Assurs Nähe allerdings bewusst mied. John Cloud, der sich zuvor bereits im kleinen Kreis eine kurze Einführung hatte geben lassen, ergriff das Wort, kaum dass Scobee geendet hatte. »Die Vaaren-Königin … Sie hat dir nicht erzählt, wie sie in Gefangenschaft geraten ist?« Scobee schüttelte den Kopf. »Mir schien, dass sie selbst nicht so ganz wusste, wie ihr geschah.« Kein Wunder, dachte Cloud. Die Vaaren, die er damals kennengelernt hatte, waren ein herrschsüchtiges und grausames Volk gewesen, und beides hatte auf die damalige Königin Lovrena in potenzierter Form zugetroffen. Kaum zu glauben, dass sich ein solches Wesen einfach so einkerkern ließ. Je mehr John über das wahre Ausmaß der Macht erfuhr, über die die Treymor offenbar verfügten, desto häufiger fragte er sich, ob es sich überhaupt lohnte, den Kampf aufzunehmen. »Die ganze Station ist also ein einziges Gefängnis?«, hakte Aylea nach. »Erbaut nur zu dem Zweck, die Vaarenkönigin gefangen zu halten?« »Dies scheint in der Tat ihr primärer Zweck zu sein«, entgegnete Scobee. »Die Station ist nach dem Prinzip einer Zwiebelschale aufgebaut. Der äußerste Bereich unterliegt keinen besonderen Sicherheitsbestimmungen, sondern wird selbst von einfachen Bediensteten frequentiert.« »So wie diesem merkwürdigen Heukonen«, bemerkte Cloud. Scobee nickte. »Was uns zur zweiten Schale der Station führt.« Wie auf Stichwort übernahm Jarvis ihre Rede. »Dort werden irgendwelche kranken Experimente durchgeführt. Ich bin mir sicher,
dass es dort zahlreiche dieser Schreckenskammern gibt, deren Insassen buchstäblich auf Herz und Nieren getestet werden.« »Und du hast keine Ahnung, was das für ein seltsames Wesen war?« »Wir wissen nur«, ergriff Algorian das Wort, »dass es mehrere von ihnen gibt. Sie scheinen keiner der Welten Tovah'Zaras zu entstammen, sondern von den Treymor gezüchtet worden zu sein …« »Aber zu welchem Zweck?«, wollte Aylea wissen. »Nur, um sie foltern zu können?« »Ich denke schon«, meinte Jarvis, »dass die Experimente einen Zweck verfolgen. Es ist kein Sadismus, der die Treymor zu ihren Schandtaten treibt. Sie scheinen mir vielmehr hochgradig pragmatisch veranlagt.« »Nun gut«, unterbrach Cloud die Diskussion. »Scobee, denkst du, dass es sich bei dem Wesen, das dir das Leben gerettet hat, um eine solche Züchtung handelt?« »Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Die Wesen scheinen die meiste Zeit in diesem Wasserbecken verwahrt zu werden, das den innersten Kernbereich der Station umschließt. Ich bin mir sicher, dass es in Höhlen und Grotten noch viele wie Gortsch gibt.« »Das Wasserbecken beherbergt also wiederum diese künstliche Gesteinskugel, die innen ausgehöhlt ist.« »Nicht ganz«, meinte Algorian. »Ihr äußerer Bereich besteht aus einem Labyrinth von Höhlen, Grotten und Wasserbassins – wohingegen ihr Kern vollständig ausgehöhlt ist.« »Dieser wiederum«, erklärte Scobee, »stellt gleichzeitig das eigentliche Herz der Station dar. In ihm wird Königin Salena unter einer energetischen Kuppel gefangen gehalten …« Jiim runzelte die Stirn. »Was für ein Aufwand, nur um eine einzige Person einzukerkern.« »Keine Person«, widersprach Scobee mit ernstem Blick. »Eine Vaaren-Königin …« »Sie wissen um die Bedeutung ihrer Gefangenen«, stimmte John Cloud ihr zu. »Und um ihre Gefahr. Vermutlich haben sie ihre Macht selbst schon zu spüren bekommen.«
»Und was jetzt?«, fragte Aylea. »Sollten wir nicht versuchen, sie zu befreien?« Zustimmendes Gemurmel machte sich breit, doch John widersprach. »Diese Station ist im Moment nur ein Nebenschauplatz, die Vaaren-Königin selbst nur von untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger wäre es, herauszufinden, was die Treymor in Tovah'Zara zu tun beabsichtigen. Und weshalb sie das gestohlene Gigahirn hierher gebracht haben …« Scobee stimmte ihm zu. »Du hast recht. Zumal die Biester einen ziemlichen Aufwand betreiben, dieses Versteck geheim zu halten. Wenn ich da an die falsche Sonne denke …« Die Diskussion drehte sich noch eine Weile im Kreis. Aylea widersprach, wie sie es gerne tat, um am Ende dann doch einzulenken. »Also steht die Entscheidung fest«, fasste John schließlich zusammen. »Wir setzen unseren Weg zur Ewigen Stätte fort.« »Und ich beantrage, dass wir uns sputen«, fügte Scobee hinzu. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Krabbler unsere Anwesenheit bemerken …«
10. Im weiteren Verlauf der Reise, die sie weiterhin in Schleichfahrt fortsetzten, nutzten sie jede sich bietende Gelegenheit, zumindest aus der Ferne einen Blick auf die zahlreichen Welten zu werfen, die ihren Weg kreuzten. Cloud ließ eine Sonde nach der anderen ausschleusen. Sesha war unablässig damit beschäftigt, die Daten auszuwerten und ihm und dem Rest der Besatzung in regelmäßigen Abständen Bericht zu erstatten. Nach und nach vervollständigte sich das Bild, das sie von diesem seltsam veränderten Kubus erhielten. Wie sich zeigte, waren nahezu alle Welten bewohnt, doch bisher hatten sie keine gefunden, die nicht von den Treymor in Beschlag genommen worden war. Schreckliche Szenen spielten sich in der Holosäule ab, in die Sesha regelmäßig die von den Sonden aufgefangenen Bilder projizierte. Bilder der versklavten Ureinwohner, die unter der Knute ihrer Besatzer entsetzlich zu leiden hatten. Waren es in alten Zeiten die Vaaren gewesen, deren Schreckensherrschaft die Bewohner Tovah'Zaras unter ihre Knute gezwungen hatte, so waren es heute die Käferartigen, deren Vorgehen sich um einiges skrupelloser erwies. Verändert hatte sich so gut wie nichts, zumindest nicht zum Besseren. Auch Clouds Gefährten machten die Schreckensbilder sichtlich zu schaffen. Nach und nach verabschiedeten sie sich aus der Zentrale, meist unter dem Vorwand, Kraft für die vor ihnen liegenden Aufgaben tanken zu wollen. Irgendwann saßen John, Scobee und Jarvis alleine vor der großen Holosäule, in der gerade das Bild einer fast völlig zerstörten Unterwasserstadt zu sehen war. Das legendäre Dreiergespann, dachte Cloud – die Keimzelle der heutigen RUBIKON-Besatzung, die damals durch Zufall nach Tovah'Zara gekommen war und kaum hatte glauben können, was sich ihren
Augen hier offenbarte. Cloud registrierte ein leichtes Kribbeln in seinem Bauch, das in dem Moment eingesetzt hatte, in dem er den Befehl gegeben hatte, Kurs ins Zentrum des Würfels zu nehmen, und das seitdem stetig stärker geworden war. Zunächst konnte er sich keinen Reim darauf machen. Schließlich hatten sie so vieles erlebt, dass er überzeugt war, von kaum noch etwas aus der Fassung gebracht werden zu können. Das hier ist aber anders!, wurde es ihm schlagartig bewusst. Er hatte bisher wenig Zeit gehabt, darüber nachzudenken, doch nun, da er es tat, fragte er sich, wie er es hatte übersehen können. Von den Gefahren, die an ihrem Ziel auf sie warteten, einmal abgesehen, war dies keine Mission wie jede andere. Nicht einmal annähernd. Es war eine Reise zurück an den Ursprung! Hier hatte im Grunde genommen alles begonnen. Im Zentrum des Würfels, der Ewigen Stätte, wie die Vaaren sie genannt hatten, waren sie auf den Rochenraumer gestoßen, der im Zuge der darauffolgenden Ereignisse zu ihrer neuen Heimat geworden war. Das Schiff, das dem vor einem furchterregenden Feind geflohenen Volk der Foronen als eine Art Arche gedient hatte. Es geht zurück nach Hause, altes Mädchen, dachte Cloud. Ein Gedanke, der freilich an Sesha, die ominöse Bordinstanz des Schiffes, gerichtet war. Cloud war einen Moment lang so in sich gekehrt, dass er zunächst nicht bemerkte, dass Scobee ihn mit einem verwunderten Blick musterte. Offenbar hatte sie das versonnene Lächeln bemerkt, das seine Lippen umspielte und das so gar nicht zu den Schreckensbildern passen wollte, die in der Holosäule zu sehen waren. Cloud räusperte sich, dann erklärte er den beiden Gefährten, woran er gerade gedacht hatte. »Es ist in der Tat ein seltsames Gefühl«, stimmte ihm Scobee schließlich zu. »Ich dachte nicht, dass ich jemals hierher zurückkehren würde.« »Und ich habe das Denken mittlerweile komplett aufgegeben«,
versetzte Jarvis mit schiefem Grinsen. »Was heißt denn hier ›mittlerweile‹?«, konterte Scobee. Ihr Tonfall war dabei weder provokant noch gehässig. »Touché«, gab Jarvis deshalb nur augenzwinkernd zurück, griff dann das auf, was John gerade gesagt hatte. »Ich frage mich, was wir heute im Zentrum der Ewigen Stätte vorfinden werden …« Cloud nickte. Diese Frage beschäftige natürlich auch ihn seit geraumer Zeit. Seine Gedanken glitten zurück in die Vergangenheit. Zu dem Objekt, das sie damals im Zentrum des Kubus vorgefunden hatte. Er sah ihn noch deutlich vor sich, den karmesinfarben leuchtenden Energieball, der wie eine glühend rote Sonne inmitten des Wassers gestanden hatte. Es hatte sich dabei um ein engmaschiges, aber durchaus lückenhaftes Energienetz gehandelt, das die Vakuumzone im Inneren geschützt hatte. Lücken mit einer Größe von bis zu hundert Kilometern!, erinnerte er sich. So war es ihnen relativ mühelos gelungen, durch eines dieser Löcher ins Innere vorzudringen. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, als er sich an die Schwärze erinnerte, die das Vakuum beherrscht hatte. Es war keine reine Dunkelheit gewesen, sondern eine fast stoffliche Finsternis, die wie ein Gift in seinen Geist geflossen war, ihn fast gelähmt hatte. Ein Frösteln durchlief seinen Körper, sodass er die Schultern zusammenzog. Scobee nickte ihm erschöpft zu. Offenbar ahnte sie, woran er gerade dachte. Sie sprach ihn nicht darauf an, sondern klatschte nur leicht in die Hände, erhob sich dann aus dem Sarkophagsitz. »Ich werde mich dann auch mal noch eine Runde aufs Ohr hauen«, kündigte sie an. Cloud, der sich ohnehin schon darüber gewundert hatte, woher sie nach all den Strapazen in der rätselhaften Station noch die Kraft nahm, sich auf den Beinen zu halten, nickte verstehend und wünschte ihr eine gute Nacht.
Nachdem sie gegangen war, warf Jarvis seinem langjährigen Freund einen wehmütigen Blick zu. »Weißt du, an wen ich auch schon die ganze Zeit denken muss?« Cloud dachte kurz nach, nickte dann, überließ es jedoch Jarvis, den Namen auszusprechen. »Resnick …« In der Tat. Der GenTec, neben Jarvis und Scobee der Dritte im Bunde der ursprünglichen Marsmission, hatte damals noch gelebt, hatte ihnen in zahlreichen Abenteuern zur Seite gestanden und war natürlich auch bei der Mission Aquakubus mit von der Partie gewesen. »Denkst du oft an ihn?«, erkundigte sich John. Jarvis zuckte mit den Achseln. »Nicht so oft, wie ich vielleicht sollte.« John Cloud nickte verstehend. »Mach dir deswegen keine Vorwürfe. Unsere Gegenwart ist einfach zu ereignisreich, als dass wir Zeit hätten, der Vergangenheit nachzuhängen.« »Sicher«, erwiderte Jarvis und erhob sich ebenfalls. »Du entschuldigst? Ich muss zwar nicht schlafen, aber ich wäre gerne einen Moment allein.« »Klar. Wie sehen uns später.« Nachdem auch Jarvis gegangen war, wies John die KI an, die Holosäule zur bloßen Wiedergabe der unmittelbaren Umgebung zu nutzen. Er hatte genug gesehen. Genug, um seinen Entschluss zu bekräftigen, sich der Ausbreitung der Treymor in den Weg zu stellen. Diese Galaxie hatte bereits zu viel Leid erlebt. Zu viele selbstsüchtige Herrscher, die ihr Wohl über das von Abermilliarden gestellt hatten. Genug war genug … Cloud schloss die Augen. Nur für einen kurzen Moment, wie er sich selbst vornahm. Doch dann geschah etwas, das ihm während seiner gesamten Zeit als Kommandant des Rochenraumers noch kein einziges Mal passiert war, während er sich in der Kommandozentrale in seinem Sarkophagsitz aufhielt.
Er schlief ein.
11. Es war eine angenehme, weibliche Stimme, die ihn schließlich weckte. »Commander Cloud? Bitte melden!« Sofort schrak er aus dem Schlaf hoch, brauchte danach erst einige Sekunden, um sich zu orientieren und dann erstaunt festzustellen, dass er sich noch immer in voller Montur in der Zentrale befand. Mit einem schnellen Blick auf das Bordchronometer stellte er fest, dass er mehrere Stunden geschlafen hatte. Dies war nicht wirklich ein Problem – zumindest so lange es keine unvorhergesehen Vorkommnisse gab, die eine schnelle menschliche Entscheidung erforderten. Das Schiff folgte selbstständig dem ihm vorgegebenen Kurs. »Sesha, was gibt's?«, meldete sich Cloud zurück und bemühte sich, ausgeschlafener zu klingen, als er in Wahrheit war. Als ob das für die KI einen Unterschied gemacht hätte … Wieder einmal ertappte er sich dabei, dass er die Bordinstanz wie ein gleichberechtigtes menschliches Gegenüber behandelte – was durch Seshas nachfolgende Worte fast schon berechtigt schien. »Guten Morgen, Commander. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« »Na klar«, knurrte Cloud ungehalten. »Warum hast du mich nicht früher geweckt?« »Dazu bestand kein Anlass. Ich hielt es für wichtiger, dass du deine Kraftreserven auftankst …« »Wie umsichtig. Und warum hast du mich ausgerechnet jetzt geweckt?« Darauf gab die KI zunächst keine Antwort – zumindest keine verbaler Natur. Stattdessen aktivierte sie den Holoschirm, den sie aufs Johns Wunsch hin abgeschaltet hatte. Der Anblick des Objekts, das kurz darauf den gesamten Schirm ausfüllte, sorgte dafür, dass auch der letzte Rest von Müdigkeit wie mit einem Fingerschnippen von ihm abfiel.
Er sah eine glühend rote Kugel, genau wie er sie in Erinnerung hatte. Das Energiefeld, das die Vakuumzone umgab. John war so von dem Anblick gebannt, dass er zunächst gar nicht mitbekam, wie hinter seinem Rücken das Türschott geöffnet wurde und Scobee, gefolgt von Jarvis, in die Zentrale stürmte. Offenbar hatte die KI auch sie benachrichtigt. »Was ist …« … los?, wollte Scobee noch sagen, doch da fiel ihr Blick auch schon auf die Energiekugel der Ewigen Stätte. Abrupt blieb sie stehen, dicht hinter dem Sarkophagsitz, in dem John sich mittlerweile aufgerichtet hatte. Jarvis tat es ihr gleich. Keiner von ihnen sagte etwas. Bis John schließlich aufstand, sich umdrehte und ihnen entschlossen zunickte. »Wir sind da.«
Es dauerte nicht lange, bis sich die Ankunft bei der Ewigen Stätte wie ein Lauffeuer verbreitete. Eine emsige Geschäftigkeit brach an Bord aus, mit jener vergleichbar, die während der Suche nach dem Fraktalen geherrscht hatte. John ließ es sich nicht nehmen, via Bordfunk eine kleine Ansprache zu halten, in der er Bezug auf die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks nahm. Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, sowie ihr weiteres Vorgehen, erörterte er hingegen lieber im Kreis seiner engsten Vertrauten. »Was gibt's da zu diskutieren?«, fragte Aylea gleich zu Beginn ihrer kleinen Konferenz. »Wir müssen nachsehen, was drin ist!« »Kleine, das ist kein Überraschungsei!«, bremste Jarvis ihren Überschwang. »Auch wenn mir das letzte Spielzeug ziemlich gut gefallen hat …«, fügte er lächelnd hinzu. John verdrehte die Augen. Bevor das Wortgefecht wieder außer Kontrolle geriet, ergriff er lieber selbst das Wort. »Natürlich sind wir nicht hergekommen, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen«,
begann er. »Allerdings hielte ich es für einen Fehler, gleich zu Beginn mit dem gesamten Schiff in die innere Zone vorzustoßen.« »Du denkst daran, eine Vorhut zu entsenden.« »In der Tat.« »Das klingt mal wieder verdammt nach 'ner Außenmission«, ließ Aylea vernehmen. »Also, ich bin dabei«, erklärte Jarvis sofort. »Ich auch«, stimmte Scobee ihm zu. Da sie John dabei ansah, bemerkte sie das Kopfschütteln, mit dem er auf ihre Worte reagierte. »Scobee, du hast eine Phase der Erholung bitter nötig.« Scobee wollte widersprechen, doch John ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Außerdem«, fügte er rasch hinzu, »würde ich mir gerne selbst mal wieder die Beine vertreten. Und ich möchte, dass du so lange meinen Platz einnimmst.« Scobee nickte bedächtig. Es war eher ungewöhnlich, dass sich der Commander selbst auf Außenmission begab. Da die KI nur ihn uneingeschränkt als Befehlshaber akzeptierte, hielt er für gewöhnlich an Bord die Stellung. Aber sie konnte sich vorstellen, was es mit dieser Abweichung des Protokolls auf sich hatte. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, selbst einen Blick in die Ewige Stätte zu werfen. Den Ort seiner ersten Begegnung mit dem Schiff, mit dem er heute fast schon so etwas wie eine unzertrennliche Einheit bildete … Scobee verzichtete auf jede weitere Diskussion und erklärte sich augenzwinkernd einverstanden. »Ich werde versuchen, dich würdig zu vertreten, John …«
Jemand, auf den John nicht verzichten wollte, war Algorian. Der Telepath hatte sich gottlob ausreichend erholt, um den Strapazen einer weiteren Mission gewachsen zu sein – wie auch die KI nach einem kurzen Gesundheitscheck bestätigte. Nachdem alle Formalitäten geklärt waren, beschlossen sie, keine weitere Zeit zu verlieren, sondern schnellstmöglich aufzubrechen. Ins Allerheiligste von Tovah'Zara.
Ins – betrachtete man die sonstigen Veränderungen innerhalb des Kubus – möglicherweise völlig Unbekannte …
Sie näherten sich der rötlich leuchtenden Energiekugel mit aller gebotenen Vorsicht. Wer konnte schon sagen, was die Treymor damit angestellt hatten? Wie sie sie manipuliert und zu ihren eigenen Zwecken umfunktioniert hatten, so wie sie es mit dem gesamten Würfel gemacht hatten. Als sie die Grenze schließlich erreichten und passierten, war John bereits darauf gefasst, wieder von dieser Schwärze übermannt zu werden, die ihm schon beim ersten Mal fast den Verstand geraubt hatte. Zu seiner Überraschung geschah nichts dergleichen. Genau genommen war die Dunkelheit gar nicht vorhanden, wie sie feststellten, nachdem sie durch eine der Strukturlücken auf die andere Seite gelangt waren. Ganz im Gegenteil. Schon während des Eintritts bemerkte John ein seltsames silberfarbenes Licht, das die gesamte Vakuumzone erfüllte. Und auf den zweiten Blick erkannte er dessen Quelle. Es war eine … Stadt!
»Heilige Scheiße!«, entwich es Jarvis. Und John fügte hinzu: »Öfter mal Neues …« Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das seltsame Objekt in seiner Gesamtheit erfasst hatten. Es füllte die ehemalige Ewige Stätte fast zur Hälfte aus und bestand aus so vielen unterschiedlichen Komponenten, dass es schwer war, das Gebilde als solches zu beschreiben. Es erinnerte ein wenig an etwas, das ein Kind aus einem Steckbaukasten zusammengebaut hatte. Da waren Quader, ovale Gebäude, verwinkelte Türme mit eigenartigen Aufsätzen, die an Antennen erinnerten. Verbunden war alles durch eine Art Röhrensystem, mit dessen Hilfe das Gebilde vermutlich jederzeit um weitere Komponenten erweitern werden konnte,
bis es irgendwann an die Grenzen der Ewigen Stätte stoßen würde. Im direkten Umfeld des Gebildes herrschte reger Verkehr. Winzige Roboter umschwirrten es wie neugierige Fliegen und waren offenbar am laufenden Band damit beschäftigt, irgendwelche Wartungsarbeiten vorzunehmen, und die Anordnung der diversen Elemente umzuorganisieren. Wie diese Stadt in der Schwebe gehalten wurde, war von außen nicht zu erkennen, doch Cloud hatte es sich angesichts der physikalischen Unmöglichkeiten des gesamten Kubus längst abgewöhnt, derartige Fragen zu stellen. Nachdem sie ihre erste Überraschung verdaut hatten, einigten sie sich darauf, dass Jarvis und John ins geschlossene Innere der silbernen Stadt transitierten, während Algorian im Beiboot die Stellung hielt. »Wir werden nicht lange brauchen«, versicherte John. »Wir verschaffen uns einen kurzen Eindruck und sind in Nullkommanix wieder da.« Gesagt, getan. Jarvis nahm sich vor, zunächst in einen der Quader am äußersten Rande der Stadt einzudringen, der am wenigsten von Raumfahrzeugen frequentiert wurde. Nachdem er das Steuer des Beibootes übernommen hatte, verloren John und er keine weitere Zeit. Sie sprangen …
… und fanden sich schon in der nächsten Sekunde in einer Art Lager wieder. Als Cloud sich eilig umsah, fiel sein Blick auf eine Vielzahl von Metallzylindern, die fast den gesamten Raum ausfüllten. Das Nächste, was er wahrnahm, waren die eisigen Temperaturen, die hier herrschten, auch wenn diese vom Material seines Raumanzuges neutralisiert wurden. »Was, denkst du, ist drin?«, fragte er Jarvis, der vor einem dieser Metallzylinder stehen geblieben war und ihn neugierig beäugte. »Mal sehen …«, murmelte der ehemalige GenTec und näherte sei-
nen Zeigefinger einem Knopf, der an der Oberseite des Zylinders angebracht war. »Warte!«, hielt John ihn zurück. »Hältst du das für eine gute Idee?« Jarvis zuckte mit den Schultern. »Eine Bombe wird's schon nicht sein …« Wieso eigentlich nicht?, dachte Cloud noch, doch da hatte Jarvis den Knopf auch schon gedrückt. Ein, zwei Sekunden vergingen, dann löste sich etwas aus dem Inneren des Zylinders und schob sich daraus hervor in die Höhe. Es war ein zweiter, kleinerer Zylinder, der sich wie ein Puzzleteil in den ersten einfügte. In seine Vorderseite war ein schmales Sichtfenster eingelassen, durch das man einen Blick auf seinen Inhalt werfen konnte, was John und Jarvis dann auch stirnrunzelnd taten. »Was ist das?« Das Ding, das in einer gelblichen Flüssigkeit schwamm, erinnerte John im ersten Moment an die Miniaturausgabe einer Mumie. Ein bräunlich verschrumpeltes Etwas, das regungslos in sich zusammengekauert in der Flüssigkeit schwamm. Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Ich glaube, das ist ein Embryo …« Jarvis sah ihn verwundert an, richtete seinen Blick dann wieder auf das Etwas im Zylinder und nickte zustimmend. »Damit könntest du recht haben. Aber welche Spezies?« »Keine Ahnung. Irgendeine, die die zahllosen Welten des Kubus bevölkert.« Jarvis ließ sich die Worte kurz durch den Kopf gehen, stimmte dann zu. »Das passt zu dem, was wir in der Station gefunden haben«, meinte er nachdenklich. »Zu den Experimenten, die dort durchgeführt werden …« »Aber was bezwecken die Treymor denn nur damit?« Jarvis kam nicht mehr dazu, darauf zu antworten, da plötzlich das Eingangsschott des Lagerraumes geöffnet wurde. Sie hatten gerade noch Zeit, hinter eine der Zylinderreihen abzutauchen, als auch ein
schon ein Käferartiger hereinkam. Aus ihrem Versteck heraus beobachtete John, wie der in eine militärisch anmutende Montur gekleidete Treymor die erste Reihe der Zylinder abschritt, sich einen davon griff und damit den Raum verließ. Das Türschott schloss sich sogleich hinter ihm. John atmete aus und warf Jarvis einen erleichterten Blick zu. »Das war knapp. Ich fürchte, hier lebt man gefährlich …« »Du willst doch nicht etwa schon wieder abhauen?« John schüttelte nachdenklich den Kopf. Sein Blick hatte sich in etwas verfangen, das er gut zwei Meter über dem Kopf des Freundes erspäht hatte. Den Zugang zu einem Lüftungsschacht. Jarvis folgte seinem Blick und verstand sofort. »Denkst du wir passen da rein?«, wollte John wissen. »Ich schon«, entgegnete Jarvis. »Bei dir bin ich mir nicht so ganz sicher. Du hast in letzter Zeit etwas zugenommen. Assurs Küche scheint dir ein bisschen zu gut zu bekommen.« »Wenn du mit deinem Schwachsinn fertig bist, könntest du mal versuchen, ob du die Abdeckung auf bekommst.« Jarvis, der sich des Ernstes ihrer Situation offenbar wieder bewusst wurde, verlor keine weitere Zeit. Eine wellenartige Bewegung erfasste seinen Nanokörper, dessen Arme sich kurz darauf verformten, länger wurden und teleskopartig der Abdeckung des Lüftungsschachtes näherten. Es ging leichter als gedacht. Mit einem Ruck löste sich die Abdeckung. John begutachtete prüfend das quadratische Loch, das sich dahinter auftat. »Na, das müsste doch breit genug sein …« »Denke ich auch«, stimmte Jarvis ihm zu. »Soll ich dir assistieren?« »Wäre nicht verkehrt«, gab Cloud zurück, der vor der glatten Wand des Raumes stehen geblieben war und daran entlang in die Höhe blickte. Jarvis schlang seine Arme um Johns Hüfte, hievte ihn dann wie eine Hebebühne in die Höhe, sodass John bequem in die Öffnung kriechen konnte.
Sein Blick fiel auf eine finstere, lang gestreckte Röhre, die nach einigen Metern einen scharfen Knick markierte. »Und, wie sieht's aus?«, rief Jarvis ihm zu. »Platzangst sollte man keine haben«, rief John über die Schulter zurück. »Davon abgesehen sicherlich machbar.« »Dann rutsch mal zur Seite, Dickerchen«, frotzelte der GenTec, während er sich mit seinen Teleskoparmen bereits an der Kante des Einstiegs festklammerte. John tastete sich auf allen vieren in den Schacht vor, wartete dann auf seinen Gefährten. Nachdem Jarvis nachgekommen war, schloss er die Abdeckung wieder. Finsternis hüllte sie ein. »Findest du dich zurecht?«, erkundigte sich Jarvis. Immerhin besaß John nicht dieselbe Nachtsichtigkeit, über die er in seinem Nanokörper verfügte. »Klar«, meinte dieser nur und wechselte wieder auf alle viere. »Immer der Nase nach …«
Scobee hatte die Brücke. Und sie bemühte sich, die ihr zugeteilte Aufgabe mit der nötigen Konzentration zu erfüllen. Was gar nicht so einfach war, seit Aylea es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr zu assistieren. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist«, hatte Scobee entgegnet, als die 12-jährige ihr von ihrem Entschluss erzählt hatte. »Nötig oder nicht«, gab Aylea trotzig zurück. »Es wird Zeit, dass Sesha endlich lernt, meine Autorität anzuerkennen.« Fast hätte Scobee laut aufgelacht, doch als sie erkannte, wie ernst es dem Mädchen damit war, verkniff sie es sich im letzten Moment. »Das leuchtet mir ein …«, entgegnete sie stattdessen bierernst. »Ich wüsste allerdings nicht, was du tun könntest.« »Sieh mich einfach als eine Art … Praktikantin an«, gab Aylea zurück. »Lass mich ein paar Befehle geben.« »Na gut«, entgegnete Scobee nachsichtig lächelnd. »Dein Kommando …«
Aylea lehnte sich im Sarkophagsitz zurück, räusperte sich und wollte gerade ansetzen – als die Bord-KI unvermittelt Alarm schlug. Aylea hob erschrocken die Hände und sah Scobee entsetzt an. »Ich habe doch noch gar nichts gemacht!« Doch da gab Sesha auch schon den Grund des Alarms bekannt: Es waren mehrere torpedoförmige Schiffe, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und eindeutig Kurs auf die RUBIKON nahmen. »Ich glaube«, meinte Scobee mit grimmigem Blick, »wir sind entdeckt …«
Es war ein beschwerlicher Weg, den John und Jarvis zurücklegten. Vor allem für den Commander, der an diese Art der Fortbewegung nicht gerade gewöhnt war und auch nicht über die Biegsamkeit seines Gefährten verfügte. »Alles klar bei dir«, fragte Jarvis, als er bemerkte, dass John zunehmend langsamer wurde. »Geht schon. Aber soll ich dir was sagen? Ich bin zu alt für diesen Mist!« »Beschwer dich nicht. Du hast selbst darauf bestanden, heute mal die Rolle der Klette an meinem Bein zu spielen. Alleine wäre ich längst wieder draußen. Ich …« Plötzlich bemerkte John einen hellen Lichtstreifen, der scharf in die vor ihm liegende Dunkelheit schnitt. Rasch nahm er wieder Tempo auf, krabbelte weiter. »Whoa …«, stieß Jarvis beeindruckt aus. »Hat da jemand Spinat gefuttert?« »Siehst du es denn nicht? Da vorne ist ein Spalt!« John kroch weiter darauf zu und hielt erst inne, als er ihn erreicht hatte. Sofort spähte er hindurch. Sein Blick fiel in eine riesige Halle. Eine Art Werft von kaum fassbaren Ausmaßen. Es war unmöglich, sie in ihrer Gesamtheit zu überblicken. Die Halle war erfüllt von wuselndem Leben. Treymor! Und das in einer Zahl, wie John sie noch nie auf einem Haufen gesehen hatte.
Es mussten Hunderte von ihnen sein. Und jeder schien eine spezielle Aufgabe zu erfüllen. Es war nicht schwer zu erraten, was sie da taten. John musste sich nur die gigantischen stromlinienförmigen Objekte ansehen, die in zigfacher Ausfertigung die Halle füllten. Manche waren schon fast fertig, andere befanden sich noch im Bau. Nun bestand kaum noch ein Zweifel daran, was hier im Entstehen begriffen war. »Eine Raumflotte …«, sagte Jarvis leise, nachdem John ihm Platz gemacht hatte und ihn an seiner Entdeckung teilhaben ließ. »Was ist das für ein Material, aus dem die Schiffe gefertigt werden?«, fragte John, nachdem er das Treiben eine Weile beobachtet hatte. »Es sieht fast aus wie … eine Art Gestein …« »Keine Ahnung«, meinte Jarvis. »Ich sehe mir das mal aus der Nähe an …« John hatte kaum Zeit, etwas zu erwidern, denn da hatte sich Jarvis Nanokörper auch schon verformt, floss zu einer Pfütze zusammen, die im Zwielicht des Lüftungsschachtes entfernt an eine Öllache erinnerte, und kroch dann langsam durch den Spalt auf die andere Seite. Minutenlang blieb er aus Johns Blickfeld verschwunden. Der Commander nahm an, dass er an der Wand entlang in die Tiefe glitt, sich somit von Johns Position aus betrachtet im toten Winkel befand. John verengte die Augen zu Schlitzen, bemühte sich, den Freund – beziehungsweise, das Ding, zu dem er mutiert war – irgendwo inmitten der Treymor auszumachen. Vergeblich. Entweder hielt Jarvis sich weiterhin außerhalb seines doch sehr eingeschränkten Sichtfeldes auf, oder er verschmolz so perfekt mit seiner Umgebung, dass er selbst dann nicht zu entdecken war, wenn man gezielt nach ihm suchte. Es verging einige Zeit, dann kam Jarvis zurück in den Schacht. Als er wieder die vertraute, menschliche Form angenommen hatte, bemerkte John einen Gegenstand, den der GenTec in seiner Hand hielt. Es handelte sich dabei um einen unförmigen grauen Klumpen. »Was ist das? Wo hast du das her?«
»Das ist eine Probe des Materials aus dem die Schiffe gefertigt werden. Wir nehmen es mit zur RUBIKON und lassen es analysieren.« »Mann …«, stieß John aus und fuhr sich durch die nass geschwitzten Haare. »Das war ganz schön riskant.« »Ein Risiko, das ich einschätzen konnte«, widersprach Jarvis. »Sonst hätte ich es nicht in Kauf genommen. Oder denkst du, ich bringe dich unnötig in Gefahr?« Dem hatte John nichts entgegenzusetzen.
»Uh-oh …«, machte Aylea, als sie bemerkte, dass immer mehr Schiffe vor ihnen auftauchten. Eine kleine Armada. Scobee wandte sich augenblicklich an die KI. »Alle Schutzschirme auf Höchstleistung!« »Schutzschirme aktiviert«, gab Sesha zurück. Scobee nickte zufrieden.
Nachdem der Luftschacht kein Ende zu nehmen schien, spielten John und Jarvis bereits mit dem Gedanken, umzukehren und ihr weiteres Vorgehen an Bord der RUBIKON zu erörtern. Die Entscheidung wurde ihnen jedoch abgekommen, als sich der Schacht auf einmal so sehr verengte, dass es zumindest für John ohnehin kein Weiterkommen mehr gab. Jarvis schlug bereits vor, den Rest des Weges alleine zu erkunden, als John unter sich eine Klappe bemerkte, die sich mühelos öffnen ließ. Genau das tat er dann auch, mit aller Vorsicht und bereit, sie jeden Moment wieder zu schließen. Sein Blick fiel in eine finstere Kammer, eine Art Abstellraum, wo zahlreiche Gerätschaften unbekannter Natur lagerten. Sie berieten sich kurz. Jarvis vertrat die Auffassung, dass sie doch eigentlich genug gesehen hatten. Sie wussten jetzt, dass die Treymor diesen Ort zum Bau einer neuartigen Raumflotte nutzten. John war
jedoch anderer Meinung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das alles war. Wozu die Embryos, die sie in den Metallzylindern gefunden hatten? Wozu die bizarren Experimente, die diese seltsamen Kreaturen hervorbrachten? Und was bezweckten sie mit dem gestohlenen Residenzturm der Moskauer Metrop, den sie aller Wahrscheinlichkeit nach hierher verbracht hatten? Schließlich gab Jarvis sich geschlagen. Wenn er ganz ehrlich war, beschäftigten ihn diese Fragen natürlich auch. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl dabei, dass John sich einer Gefahr aussetzte, die kaum abzuschätzen war. Zumal er das am schwersten zu ersetzende Besatzungsmitglied der RUBIKON war. Fast lautlos ließen sie sich in die Kammer hinab. Erst John, danach Jarvis, der kurz darauf die Lüftungsklappe wieder schloss, um keinerlei Beweis für ihre Anwesenheit zu hinterlassen. Cloud sondierte die Umgebung mit hastigen Blicken, dann nickte er in die Richtung, in der er den Ausgang erspäht hatte. Sie hatten sich ihm bereits zur Hälfte genähert, als ihnen ihre mangelnde Vorsicht zum Verhängnis wurde. Das Türschott öffnete sich zischend. Jemand betrat den Raum. John warf Jarvis, der neben ihm stand, einen unmissverständlichen Blick zu. Dieser reagierte blitzschnell, klammerte sich an ihn – und sprang …
»Was machen die da! Was soll das?«, rief Aylea nach einer Weile. Mittlerweile hatten auch Jiim und Algorian die Zentrale betreten. Alle starrten auf den Holoschirm – und auf die Feindschiffe, die ihnen drohend gegenüberstanden. »Sie beobachten«, meinte Algorian einsilbig. »Sie studieren uns, da sie nicht wissen, wie sie uns einordnen sollen …« Scobee wandte sich Aylea mit besorgtem Blick zu. »Vielleicht solltest du lieber Jelto Gesellschaft leisten. Er ist ganz alleine in seinem Garten und …« »Unsinn!«, blaffte die 12-jährige zurück. »Wenn du mich loshaben
willst, dann sag es doch einfach!« »Du weißt genau, dass das nicht der …« Scobee verstummte abrupt. Für Aylea sah es zunächst so aus, als habe sie den Faden verloren und vergessen, was sie gerade sagen wollte. Dass dem nicht so war, wurde der 12-jährigen klar, als die GenTec auf einmal auf die Knie sank, in spasmische Zuckungen verfiel und dann auf dem Boden zusammenbrach. Mit fassungslos geweiteten Augen blickte Aylea in die Runde – und sah, dass es Jiim ebenso erging. Auch er wand sich in Krämpfen auf dem Boden, hatte seine Flügel ausgebreitet, mit denen er unkontrolliert um sich schlug. Dabei hielt er sich den Magen, als habe er etwas Verdorbenes gegessen. Genau wie Scobee hatte er von einem Moment auf den anderen die Kontrolle über seine Körperfunktionen verloren. Alle hatten das, bis auf … »Mein Gott!« Mit einem Schlag war sich Aylea der Tragweite der Ereignisse bewusst. Die Treymor schienen irgendeine Art von Strahlung eingesetzt zu haben, die die Schutzschirme der RUBIKON durchdrang und auf das vegetative Nervensystem der Besatzungsmitglieder Einfluss nahm. Aus irgendeinem Grund war Aylea dagegen immun. Vielleicht hing es mit ihrem Alter zusammen. Damit, dass sie sich noch in der Entwicklung befand. Und das wiederum bedeutete, dass das Schicksal des Schiffes jetzt in ihrer Hand lag. Dieser Gedanke alleine hätte fast ausgereicht, sie in einen ähnlichen Zustand zu versetzen, wie ihre Freunde um sie herum.
Sie landeten in einem Gang, irgendwo im Zentrum der seltsamen Stadt. Jarvis hatte kaum Zeit gehabt, die Richtung des Transitionssprungs genauer zu bestimmen, aber irgendetwas hatte ihn während des Sprungs fast schon magnetisch hierher gezogen. Er sah sich um und registrierte erleichtert, dass John an seiner Seite war. Der Commander nickte ihm anerkennend zu. »Das war knapp. Aber wohin hast du uns gebracht?« »Gute Frage«, entgegnete Jarvis. »Es war der berühmte Sprung ins
kalte Wasser.« »Zum Glück nur bildlich gesprochen«, knurrte John, der unwillkürlich an Scobees Erlebnis in der ominösen Station denken musste. Es musste ein Schock sein, unmittelbar nach dem Transitionssprung unter Wasser zu sich zu kommen – orientierungslos und ohne die Möglichkeit, in absehbarer Zeit auftauchen zu können. Umso bewundernswerter, wie gut Scobee dieses albtraumhafte Erlebnis verdaut hatte. »Wo wir schon mal da sind, können wir uns auch umsehen«, meinte John. Sie schlichen den Gang entlang, der mit einem silbern glänzenden Material ausgekleidet war und dadurch ausgesprochen kalt und steril wirkte. Mehrere Türen zweigten von ihm ab. Ganz spontan entschieden sie sich für eine von ihnen. Diese war durch ein Schloss gesichert, doch Jarvis, der seine rechte Hand zu einem spitzen Werkzeug verformte, knackte es mühelos. Die Tür öffnete sich. Und ein eisiger Hauch wehte ihnen entgegen. »Eine Kältekammer!«, stellte John fest, während er den Raum betrat und ihn mit faszinierten Blicken durchmaß. »Kalt ist definitiv richtig«, kommentierte Jarvis, der dicht hinter ihm blieb. »Kammer halte ich für eine Untertreibung …« Cloud nickte versonnen, denn Jarvis hatte es definitiv auf den Punkt gebracht. Was sich da vor ihnen erstreckte, war eine Halle, von Ausmaßen, die auf den ersten Blick kaum zu überschauen waren. Sie schien sich fast endlos fortzusetzen, war dabei von frostigen Schwaden durchzogen, die diesen Eindruck noch verstärkten. Seltsam war jedoch vor allem der Inhalt, der hier gelagert wurde. Es waren Eier … Unzählige von ihnen, so weit das Auge reichte. »Das sind Treymor-Eier«, meinte Jarvis, der eines von ihnen in die Hand nahm, es von allen Seiten begutachtete. »Bist du sicher?« »Hey, ich kenne die Dinger!«, gab Jarvis zurück. Das war zweifellos richtig. Der GenTec hatte bereits an Bord eines treymorschen Brutschiffes die Möglichkeit gehabt, sie ausreichend zu studieren.
»Ich frage mich, zu welchem Zweck sie hier lagern«, murmelte Cloud, während sie die Reihen des Käfernachwuchses abschritten. »Vielleicht warten sie auf ihren Abtransport zu einem der Brutplaneten«, schlug Jarvis vor. John nickte nachdenklich. Er wollte gerade etwas entgegnen, als sie ein schnarrendes Geräusch in ihrem Rücken vernahmen. Ein Treymor! Er hatte soeben die Kammer betreten! Und natürlich war sein Blick sofort auf die beiden Eindringlinge gefallen. Verdammte Unvorsicht!, schalt John sich, dann wandte er sich auch schon an seinen Gefährten. »Jarvis, schnapp ihn dir!« In diesem Moment hatte sich der Treymor bereits in Bewegung gesetzt, zog sich mit hektischen Bewegungen auf den Gang zurück und wollte die Tür der Kammer gerade schließen, als Jarvis sie erreichte und seine Hand dazwischen schob. Die Tür prallte dagegen und schwang zurück, ohne dass Jarvis jeglichen Schmerz empfand. Der Treymor war sichtlich überrascht über den Mann aus Stahl. Er stellte sich auf seine Hinterbeine und stieß ein fiependes Geräusch aus, als Jarvis sich auch schon auf ihn stürzte, wie eine Welle über ihn kam, ihn mit seinem Nanokörper förmlich umfloss und ihn zurück ins Kühllager zog. Dort floss er sich von ihm zurück und nahm in Sekundenschnelle wieder menschliche Gestalt an. Der Treymor indes lag regungslos vor ihnen auf dem Boden. »Ist er …?«, setzte John besorgt an, doch Jarvis schüttelte sofort den Kopf. »Nein, ich habe ihn nur ausgeknockt. Der Bursche darf 'ne Runde pennen. Hoffentlich verkühlt er sich nicht.« »Darauf können wir keine Rücksicht nehmen«, entgegnete John. »Wir könnten ihn auf dem Gang ablegen und die Biege machen. Es wird jetzt ohnehin nicht mehr lange dauern, bis sein Fehlen bemerkt wird und irgendjemand Alarm auslöst.« »In der Tat …«, meinte John. »Und die Zeit bis dahin sollten wir
sinnvoll nutzen. Wer weiß, wann wir mal wieder in die Gegend kommen …?«
Aylea saß mit durchgedrücktem Kreuz im Sarkophagsitz und starrte gebannt auf die Holosäule. Sie wusste, dass nun alles von ihr abhing. Alle anderen Besatzungsmitglieder waren außer Gefecht gesetzt. Das weitere Schicksal der RUBIKON hing alleine davon ab, dass sie die richtigen Entscheidungen traf. Ich bin doch noch ein Kind, verdammt!, schoss er ihr durch den Kopf, während sie sich angestrengt über die spröde Lippen leckte. Sie atmete tief durch, schloss die Augen und sammelte all ihre Konzentration, um gegen die aufwallende Panikattacke anzukämpfen. Ruhe, ganz ruhig. Du machst das. Du hast alles im Griff. Dann wandte sie sich mit fester Stimme an die KI. »Sesha, hast du die Strahlung analysiert?« »Teilweise«, antwortete die freundliche Stimme der KI. »Ihre genaue Zusammensetzung ist unbekannt, aber sie greift direkt ins vegetative Nervensystem ein.« Na toll, dachte Aylea. Das habe ich mir inzwischen auch schon zusammengereimt. Sie verkniff sich den Kommentar, bemühte sich stattdessen um eine professionellere Tonlage. »Gibt es nicht irgendeinen Schutz dagegen, den du aktivieren kannst?« »Schwierig, so lange die genaue Analyse noch nicht abgeschlossen ist. Ich könnte höchstens versuchen, die Strahlung zu bündeln und abzulenken.« »Dann tu das!«, verlangte Aylea. »Worauf wartest du noch …?«
Nachdem sie den Treymor in der Kältekammer zurückgelassen und den Gang betreten hatten, fielen ihre Blicke auf die geöffnete Tür eines Antigravlifts am Ende des Ganges. Mit ihm musste der Käferartige gekommen sein.
Eilig, aber auf leisen Sohlen, steuerten sie ihn an, und berieten sich kurz. Konnten sie es riskieren, den Lift zu nehmen? Wohin würde er sie führen? Unmittelbar in die Arme des Feindes? Sie wurden sich rasch einig, dass die Informationen, die sie an diesem Ort sammeln konnten, es wert waren, ein Risiko einzugehen. Beide hatten das Gefühl, dass sie dem Geheimnis der mysteriösen Stadt dicht auf der Spur waren. Dies war vermutlich bis auf weiteres ihre einzige Chance, es zu ergründen. Bei ihrem nächsten Eindringen würden die Treymor gewarnt sein. Der Lift führte sie einige hundert Meter in die Tiefe, wie John glaubte, es grob schätzen zu können. Er stoppte in einem wabenförmigen Gang, der in beide Richtungen eine leichte Krümmung beschrieb und eine Halle umschloss, die sich groß wie eine Arena hinter einer Verglasung ausbreitete. »Mein Gott, was ist das denn?« Sie verließen den Lift und wagten sich vorsichtig an die Fensterfront heran. Eine drückende Spannung lag über ihnen. Noch war alles still, noch hatte niemand Alarm geschlagen. Noch … Der Boden der Halle lag gut zwanzig Meter unterhalb des Rundganges, auf dem sie sich befanden. Und auch dort, ähnlich wie in der Werft, wo die Flotteneinheiten gefertigt wurden, herrschte wuselnde Betriebsamkeit. Treymor. Dutzende von ihnen. John hatte keine Ahnung, was es mit den mannigfaltigen Gerätschaften auf sich hatte, die die Halle beherbergte, doch bei genauerem Hinsehen verstand er, dass es sich um eine Art gigantisches Labor handeln musste. Er hatte Mühe, die vielen Eindrücke auf einmal zu verarbeiten. In diesem Augenblick ertönte eine schrille Sirene, und sofort gerieten die Treymor in der Halle in hektische Aufregung. Schon waren klackenden Schritte aus beiden Richtungen des Ganges zu hören, in dem sich John und Jarvis aufhielten. John klammerte sich eng an seinen Gefährten, der schon einen Moment später transitierte …
Seshas Strategie zeigte Wirkung. Kurz nachdem sie damit begonnen hatte, die lähmenden Strahlen abzufangen, zu bündeln und ins Wasser abzustrahlen, begannen sich Scobee und Jiim zu beruhigen. Ihre krampfartigen Zuckungen verebbten schlagartig. Mit fragenden Blicken rappelten sie sich auf und sahen dabei aus, wie gerade aus tiefem Schlaf erwacht. »Was ist passiert?«, fragte Scobee benommen. »Dreimal darfst du raten. Die Praktikantin hat euch den Arsch gerettet!« Der fragende, ungewohnt dümmliche Ausdruck auf Scobees Gesicht war die ganze Aktion wert gewesen. Fand zumindest Aylea, die, das nahm sie sich bereits vor, noch häufig von diesem Moment erzählen würde.
Jarvis entschied sich für einen Doppelsprung, der ihn zunächst wieder zu ihrem Ausgangspunkt in der silbernen Stadt, und von dort aus zurück in das Beiboot beförderte, an dessen Steuer Algorian noch immer auf die Rückkehr der beiden wartete. »Na endlich!«, kommentierte dieser die lange Abwesenheit der Gefährten. »Fast hätte ich einen Suchtrupp losgeschickt.« Das, dachte Cloud mit immer noch klopfendem Herzen, wäre auch beinahe nötig geworden. Scobees Verwunderung steigerte sich ins Unermessliche, als Aylea ihr und den anderen unter die Nase rieb, was während ihres Blackouts geschehen war. »Ihr hättet euch sehen sollen«, sagte sie vorlaut. »Schade, dass ich keine Kamera zur Hand hatte …« »Und was ist mit den Feindschiffen?«, unterbrach Scobee besorgt. »Sehen genauso dumm aus der Wäsche«, entgegnete Scobee. »Ihre tolle Strahlenwaffe ist jetzt jedenfalls für den …« »Das Beiboot kehrt zurück!«, rief Jiim mitten in Ayleas Worte hinein.
Alle Blicke richteten sich auf den Holoschirm, auf dem in diesem Moment zu sehen war, wie das Boot durch eine Strukturlücke im Energiegeflecht zurück ins Wasser des Aquakubus stieß …
Scobee ordnete die Entsendung eines Leitstrahls an, der das Boot in rasender Geschwindigkeit an Bord holte, ohne dass ihnen eines der Feindschiffe gefährlich werden konnte. Zurück auf der RUBIKON verloren John und seine beiden Begleiter nur wenig Zeit mit Erklärungen. Als er hörte, was in seiner Abwesenheit passiert war, ordnete er den sofortigen Rückzug an. Auch wenn die erste Attacke missglückt war – wer konnte schon sagen, welche Geschütze die Käferartigen als nächstes auffuhren? Mittlerweile war ihnen alles zuzutrauen. Immerhin waren sie offenbar schon seit längerer Zeit im Kubus aktiv, hatten sich auf die hiesigen Gegebenheiten einstellen können und hielten bestimmt noch so manche unschöne Überraschung parat. Die torpedoartigen Schiffe nahmen zunächst die Verfolgung auf, drehten jedoch kurz vor der Grenze des Kubus ab. Nachdem die RUBIKON Tovah'Zara verlassen hatte, befahl John der KI, die Geschwindigkeit zu drosseln und im Ortungsschatten einer Sonne Wartestellung zu beziehen, die knappe drei Lichtjahre von der vermeintlichen entfernt lag. Hier wollte er sich die weitere Vorgehensweise überlegen. Denn so viel war klar: Das Unternehmen Aquakubus war noch längst nicht zu Ende. Es hatte gerade erst begonnen. Ungeklärt war nach wie vor, wozu die Treymor die Metrop-Residenz entführt und nach Tovah'Zara verschleppt hatten. John schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis er das Rätsel um diese Entführung gelöst hatte. Die Treymor taten nichts ohne Hintersinn. Und die immensen Anstrengungen, die sie in den Bau eines für sie neuartigen Schiffstyps steckten, ließen Böses erahnen. Ein lange unterschätztes Volk rüstete auf. Dass dahinter ein perfider Plan steckte, bezweifelte der Commander der RUBIKON nicht eine Sekunde.
Epilog »Was ist das?«, fragte Algorian und deutete auf den klumpigen Gegenstand, den Jarvis nachdenklich in seinen Händen drehte. Der GenTec saß in einer bequem gestalteten Sitzecke, in einem der loungeartigen Aufenthaltsräume, die Sesha in John Clouds Auftrag rund um die Zentrale eingerichtet hatte. Jetzt sah er überrascht zu dem Aorii auf. Er war so vertieft in seinen Fund gewesen, dass er dessen Eintreten gar nicht bemerkt hatte. Sofort hielt er ihm den Klumpen in seiner geöffneten Handfläche entgegen. »Das ist das Material, aus dem die Treymor ihre neue Flotte fertigen«, erklärte er. »Genaueres wird wohl erst die labortechnische Untersuchung …« »Es lebt!«, unterbrach der Aorii ihn mit ernstem Blick. Jarvis sah ihn verwundert an. »Wie meinst du das?« Algorian antwortete nicht, sondern griff nach dem Klumpen, betastete ihn und umschloss ihn schließlich mit seiner Faust. Dann nickte er voller Überzeugung. »Das ist keine tote Materie, sondern …« … beseelte, vollendete Jarvis den Satz für sich in den Gedanken. Beseelte, anorganische Materie. Ganz nach dem Vorbild der … Jay'nac? Mit einem Mal überkam ihn ein Gefühl, das er in seinem künstlichen Nanokörper lange nicht mehr verspürt hatte. Ihm wurde kalt. Unglaublich kalt … ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht, wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die
Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat. Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 12-jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennenlernte und ins sogenannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto Jiim
vollwertiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt.
Vorschau Die Ozeanische Sonne von Manfred Weinland
Die vermeintliche Sonne wurde enttarnt, Gefilde durchstreift, die die RUBIKON zuletzt vor Jahrzehntausenden durchpflügte … so viel Zeit ist durch Darnoks Manipulationen in der Milchstraße real vergangen. Zeit genug für die Treymor, Tovah'Zara vollständig auf den Kopf zu stellen und umzumodeln. Welches Geheimnis die Käferartigen tatsächlich behüten, will John Cloud mit allen Mitteln herausfinden. Und so kommt es zum erneuten Vorstoß in die »ozeanische Sonne« …