Der siebenjährige Henry läuft von zu Hause fort. Abends wird er in einem hohlen Baum gefunden. Überglücklich schließen ...
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Der siebenjährige Henry läuft von zu Hause fort. Abends wird er in einem hohlen Baum gefunden. Überglücklich schließen die Eltern den Sohn in die Arme. Niemand bemerkt, dass nicht dasselbe Kind zurückgekehrt ist. Geheimnisvolle Waldbewohner haben Henry ausgetauscht. Äußerlich gleicht er fast bis aufs Haar dem echten Sohn. Doch in Wahrheit ist er ein vor langer Zeit gestohlenes Menschenkind, ein altersloser Kobold, der nun aus der Schattenwelt zu den Menschen zurückkehrt. Vorsichtig tastet er sich in die unbekannte Familie hinein. Nur Henrys Vater beobachtet ihn manchmal ein wenig irritiert. Der wirkliche Henry, der nun Aniday heißt, erlebt wie im Fieber seine erste Zeit bei den Waldwesen. Er begreift nicht, was ihm geschieht, lernt aber schließlich, wie die Kobolde zu leben. Er beginnt wie sie zu sprechen und zu denken. Beide wachsen in ihre neue Welt hinein, und irgendwann scheinen die Bilder des alten Lebens gelöscht. Aber die tiefen Verbindungen sind nicht gekappt. Bei Henry ist es die Musik, die etwas in ihm zum Klingen bringt und eine namenlose Sehnsucht weckt. Bei Aniday sind es Traumspuren und das schmerzliche Gefühl, etwas unwiederbringlich verloren zu haben. Ohne dass sie voneinander wissen, treibt sie etwas aufeinander zu. Keith Donohue hat eine phantastische Geschichte von der Suche nach der eigenen Identität geschrieben. Dabei entführt er seine Leser an den Rand der Wirklichkeit, wo die märchenhafte Welt des Möglichen beginnt. Keith Donohue lebt mit seiner Familie in der Nähe von Washington D.C. Er war lange für die nationale Kulturstiftung der Vereinigten Staaten tätig, bevor er freier Schriftsteller wurde. Das gestohlene Kind ist sein erster Roman, eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
Keith Donohue
Das gestohlene Kind Roman
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The Stolen Child« Für Dorothy uni Thomas. Ich wollte, ihr wärt hier. »Wir schauen einmal auf die Welt, in der Kindheit. Der Rest ist Erinnerung.« LOUISE GLÜCK, »NOSTOS«
Kapitel I Bezeichnet mich nicht als Feenwesen. Wir wollen nicht mehr als Feenwesen bezeichnet werden. Vor langer Zeit war das ein vollkommer akzeptabler Sammelbegriff, aber heute hat er zu viele Bedeutungen angenommen. Etymologisch betrachtet sind wir verwandt mit den Najaden oder Wassernymphen, und was das Geschlecht angeht, sind wir von ganz eigener Art. Das Wort Fee ist abgeleitet vom altfranzösischen ße, das wiederum vom lateinischen/ßto, Schicksalsgöttin, abstammt. Die Feen lebten in Gruppen in einem Reich, Feenland genannt, zwischen den himmlischen und irdischen Sphären. In dieser Welt existiert eine ganze Reihe sublunarer Teufel oder Geister, die carminihus coelo possunt deducere lunam [durch ihre Beschwörungen können sie den Mond vom Himmel herabhexen]. Seit Vorzeiten unterteilt man sie in sechs Arten: in feurige, luftige, erdige, wässrige und unterirdische Teufel, wozu noch die Feen und Nymphen kommen. Von den Feuer-, Wasserund Luftgeistern weiß ich so gut wie nichts. Aber die irdischen und unterirdischen Teufel kenne ich nur allzu gut, sie gibt es in unendlicher Vielfalt, ebenso wie die mit ihnen einhergehenden Sagen über ihr Verhalten, ihre Gebräuche und ihre Kultur. Auf der ganzen Welt kennt man sie unter verschiedensten Namen — Laren, 3 Genien, Faune, Satyrn, foliots, Elben, Pucks, Wichtelmännchen, Pukas, Sidhe, Trolle —, und die wenigen, die es heute noch gibt, leben so versteckt in den Wäldern, dass der Mensch ihnen nur selten begegnet. Wenn ihr mir denn unbedingt einen Namen geben müsst, so nennt mich einen Kobold. Oder besser noch: Ich bin ein Wechselbalg, ein Changeling — ein Wort, das erklärt, wozu wir gezwungen sind, was wir beabsichtigen zu tun. Der Kobold wird zum Kind, und das Kind wird zum Kobold. Nicht jeder Junge oder jedes Mädchen kommt für diesen Austausch in Frage, sondern nur die einsamen Seelen, die ratlos vor ihrem jungen Leben stehen oder auf die Welt als Jammertal eingestimmt sind. Die Wechselbälger wählen sorgfältig aus, denn eine solche Gelegenheit bietet sich ihnen vielleicht nur ein einziges Mal im Laufe eines Jahrzehnts. Ein Kind, das Teil unserer Gemeinschaft geworden ist, muss vielleicht ein ganzes Jahrhundert warten, ehe es im Kreislauf unserer Ordnung an ihm ist, uns zu verlassen und wieder in die menschliche Welt einzutreten. Die Vorbereitungen sind aufwändig, sie fordern eine genaue Beobachtung des Kindes sowie seiner Freunde und Familie. Dies muss selbstverständlich unbemerkt vonstatten gehen, und am besten wählt man das Kind aus, ehe es zur Schule geht. Später wird es komplizierter, da man über die engste Familie hinaus sich unendlich viele Informationen einprägen und diese verarbeiten muss. Zudem muss man fähig sein, sich nicht nur die Persönlichkeit und Geschichte des Kindes anzueignen, sondern auch seinen Körperbau und seine Gesichtszüge. Mit Säuglingen geht das am leichtesten, doch für sie zu sorgen,
ist für die Kobolde ein Problem. Am besten sollten die Kinder sechs oder sieben Jahre alt sein. Ist das Kind älter, hat es bereits ein stärker entwickeltes io Ich-Gefühl. Doch gleichgültig, wie alt oder jung es ist, das Ziel besteht darin, die Eltern so zu täuschen, dass sie glauben, der Wechselbalg sei ihr Kind. Was leichter ist, als es sich die meisten vorstellen. Nein, die Schwierigkeit liegt nicht darin, sich die Geschichte eines Kindes zu eigen zu machen, sondern im schmerzhaften körperlichen Vorgang des Wechsels. Zuerst dehnt man seine Knochen und die Haut, bis man zitternd bei der annähernd richtigen Größe und Körperform einrastet. Dann beginnen die anderen mit der Arbeit am neuen Kopf und Gesicht, was ihnen die Fähigkeiten eines Bildhauers abverlangt. Da ist beträchtliches Zerren und Ziehen am Knorpel vonnöten, als wäre der Schädel ein weicher Lehm- oder Karamellklumpen, und dann die tückische Sache mit den Zähnen, das Entfernen der Haare und das mühsame Einweben der neuen. Die gesamte Prozedur verläuft ohne ein Gramm Schmerzmittel, nur einige wenige trinken widerlichen Alkohol aus vergorenem Eichelbrei. Ein scheußliches, aber äußerst lohnendes Unterfangen, wobei mir die komplizierte Umgestaltung der Genitalien erspart blieb. Am Ende ist man die exakte Kopie eines Kindes. Vor dreißig Jahren, 1949, war ich ein Wechselbalg, der wieder ein menschliches Wesen wurde. Ich habe mit Henry Day das Leben getauscht, einem Jungen, der außerhalb der Stadt auf einem Bauernhof lebte. An einem Spätsommernachmittag lief der siebenjährige Henry von zu Hause weg und versteckte sich in einer hohlen Kastanie. Die Spione unter uns Wechselbälgern folgten ihm und gaben Alarm, und ich verwandelte mich in sein perfektes Faksimile. Wir packten ihn, und ich schlüpfte in den hohlen Stamm, um mein Leben gegen seins auszutauschen. Als der Suchtrupp mich in dieser Nacht fand, waren alle glücklich, erleichtert und stolz — gar 4 nicht wütend, wie ich erwartet hatte. »Henry«, sprach mich ein rothaariger Mann in einer Feuerwehruniform an, als ich in meinem Versteck so tat, als schliefe ich. Ich schlug die Augen auf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Der Mann wickelte mich in eine dünne Decke und trug mich aus dem Wald bis zu einer gepflasterten Straße, wo ein Feuerwehrwagen wartete, dessen rotes Licht wie ein Herzschlag pulsierte. Die Feuerwehrmänner brachten mich nach Hause zu Henrys Eltern, zu meinem neuen Vater und meiner neuen Mutter. Als wir in jener Nacht über die Straße fuhren, war mein steter Gedanke: Sollte ich diese erste Prüfung bestehen, würde die Welt wieder mir gehören. Eine weit verbreitete Legende besagt, in der Tierwelt erkenne die Mutter ihr Junges und lehne ein fremdes, das sich in den Bau oder ins Nest drängt, ab. Das stimmt nicht. Der Kuckuck legt seine Eier immer in fremde Nester, und obwohl das Kuckucksjunge auffallend groß ist und einen unbändigen Appetit zeigt, bekommt es genauso viel, nein, tatsächlich noch mehr mütterliche Zuwendung, die oft sogar so weit geht, dass sie die anderen Jungen aus ihrem
luftigen Heim stößt. Manchmal lässt die Vogelmutter ihre eigene Brut wegen der unersättlichen Ansprüche des Kuckucks darben. Meine erste Aufgabe bestand darin, den Anschein zu erwecken, ich wäre Henry Day. Leider sind Menschen gegenüber Eindringlingen in ihr Nest viel misstrauischer und weniger tolerant. Die Rettungsleute wussten nur, dass sie nach einem kleinen Jungen suchten, der sich im Wald verirrt hatte, also konnte ich stumm bleiben. Schließlich hatten sie einen gefunden und waren darüber sehr froh. Als der Feuerwehrwagen in die Auffahrt zum Haus der Days schlingerte, erbrach ich ein buntes Gemisch aus 5 Eichelbrei, Brunnenkresse und kleinen Insektenpanzern gegen die leuchtend rote Tür. Der Feuerwehrmann tätschelte mir den Kopf und hob mich mitsamt der Decke hoch, als wäre ich nichts weiter als ein gerettetes Kätzchen oder ein ausgesetztes Baby. Henrys Vater sprang von der Veranda, um mich in die Arme zu schließen, und mit einer kräftigen Umarmung und liebevollen, nach Rauch und Alkohol riechenden Küssen hieß er mich als seinen einzigen Sohn zu Hause willkommen. Die Mutter würde sehr viel schwerer zu täuschen sein. Ihr Gesicht verriet all ihre Gefühle: die fleckige, von salzigen Tränen rissige Haut, die blassblauen Augen rot gerändert, das Haar matt und zerzaust. Sie berührte mich mit zittrigen Händen und stieß einen kleinen schrillen Schrei aus, so wie ein Hase, der schmerzvoll in eine Falle gegangen ist. Sie trocknete sich die Augen an ihrem Blusenärmel und hüllte mich in das quälende Schaudern einer liebenden Frau. Dann begann sie in dieser tiefen Koloratur zu lachen. »Henry? Henry?« Sie schob mich zurück und hielt mich auf Armeslänge an den Schultern fest. »Lass mich dich anschauen. Bist du es wirklich?« »Es tut mir leid, Mom.« Sie strich mir die Strähnen, hinter denen sich meine Augen versteckten, aus der Stirn und drückte mich wieder an ihre Brust. Ihr Herz klopfte gegen meine Backe, und mir war heiß und unbehaglich zumute. »Du musst dir keine Sorgen machen, Schätzchen. Du bist zu Hause, gesund und munter, das allein zählt. Du bist zu mir zurückgekommen.« Vater legte seine große Hand auf meinen Hinterkopf, und ich dachte, diese Wiedersehensszene könnte ewig so weitergehen. *3 Ich entwand mich ihnen und zog das Taschentuch aus Henrys Hosentasche, wobei Krümel auf den Boden fielen. »Es tut mir leid, Mom, dass ich das Brötchen gestohlen habe.« Sie lachte, und ein Schatten verschwand aus ihren Augen. Vielleicht hatte sie sich bis jetzt gefragt, ob ich tatsächlich ihr eigen Fleisch und Blut sei, aber das Erwähnen des Brötchens führte zum gewünschten Erfolg. Henry hatte es vom Tisch gestohlen, ehe er von zu Hause weglief, und als ihn die anderen zum Fluss zerrten, hatte ich es ihm geklaut und eingesteckt. Die Krümel waren der Beweis, dass ich zu ihr gehörte.
Weit nach Mitternacht brachten sie mich ins Bett, und so ein Möbel ist vielleicht die größte Erfindung der Menschheit. Auf jeden Fall ist es weit bequemer, als in einem kalten Erdloch zu schlafen, mit einem modrigen Hasenfell als Kopfkissen und dem ängstlichen Stöhnen und Seufzen von einem Dutzend träumender Wechselbälger. Stocksteif streckte ich mich zwischen den kühlen Laken aus und sann über mein Glück nach. Es gibt viele Geschichten von Wechselbälgern, die gescheitert sind und von ihren vermeintlichen Familien entlarvt wurden. Ein Kind, das in einem Fischerdorf in Neuschottland aufgetaucht war, hatte seine armen Eltern so geängstigt, dass sie bei heftigem Schneesturm aus dem eigenen Haus flüchteten und man später ihre erfrorenen Leichen in den Wellen des Hafenbeckens auf und ab tanzend fand. Ein sechsjähriges Wechselbalgmädchen schockierte seine neuen Eltern dermaßen, als es den Mund zum Sprechen öffnete, dass sie sich in höchster Angst gegenseitig heißes Wachs in die Ohren gössen und nie mehr wieder einen Ton vernahmen. Andere Paare, die herausgefunden hatten, dass ihr Kind gegen einen Wechselbalg ausgetauscht worden war, bekamen über Nacht schlohweißes Haar, verfielen in ein irres Muskelzucken, erlitten Herzanfälle oder starben plötzlich. Schlimmer noch war — auch wenn es nur selten vorkam —, dass manche Familien das Wesen exorzierten, vertrieben, aussetzten oder umbrachten. Vor siebzig Jahren verlor ich einen guten Freund, weil er vergessen hatte, sich älter aussehend zu machen, als er heranwuchs. Da seine Eltern überzeugt waren, er sei ein Teufel, schnürten sie ihn wie ein unerwünschtes Kätzchen in einen Jutesack und warfen ihn in einen Brunnen. Doch meistens sind die Eltern über die plötzliche Veränderung ihres Sohns oder ihrer Tochter nur verblüfft, oder aber ein Ehepartner gibt dem anderen die Schuld an deren sonderbarem Wesen. Es ist ein riskantes Unterfangen, nichts für Feiglinge. Dass ich so weit gekommen war, ohne enttarnt zu werden, machte mich schon sehr zufrieden, dennoch war ich nicht völlig entspannt. Eine halbe Stunde nachdem ich zu Bett gegangen war, öffnete sich mit einem Mal langsam meine Zimmertür. Vom Flurlicht umrahmt, steckten Mr. und Mrs. Day die Köpfe durch den Spalt. Ich kniff die Augen zusammen und tat, als schliefe ich. Sie schluchzte leise, aber beharrlich. Niemand konnte mit solcher Gewandtheit weinen wie Ruth Day. »Wir müssen uns bessern, Billy. Du musst dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht.« »Ich weiß, ich verspreche es«, flüsterte er. »Schau doch, wie er schläft. >Den unschuldigen Schlaf, der des Grams verworren Gespinst entwirrte« Er zog die Tür zu und ließ mich in der Dunkelheit zurück. Da meine KoboldFreunde und ich den Jungen monatelang ausspioniert hatten, kannte ich bereits mein neues Zuhause am Wald'5 rand von außen. Henrys Blick auf die wenigen Acres und die Welt dahinter war zauberhaft. Uber die Tannenwipfel hinweg fiel das Licht der Sterne durch das Fenster. Durch seine offenen Flügel wehte eine Brise über die Laken, und Nachtfalter flatterten auf dem Rückzug von ihren Schlupfwinkeln gegen das Fliegengitter. Der fast runde Mond warf genügend Licht in das Zimmer,
sodass ich das blasse Muster der Tapete erkennen konnte, das Kreuz über meinem Kopf und Blätter aus Illustrierten und Zeitungen, die an die Wand geheftet waren. Ein Baseball und der passende Handschuh lagen auf dem Schreibtisch, und auf dem Waschtisch standen ein Krug und eine Schüssel, die weiß leuchteten. An der Schüssel lehnte ein kleiner Stoß Bücher, und ich konnte meine Aufregung bei dem Gedanken, sie lesen zu können, sobald es Morgen würde, kaum zügeln. Bei Tagesanbruch begannen die Zwillinge zu schreien. Dem Geräusch folgend, lief ich über den Flur, vorbei am Zimmer meiner neuen Eltern. Als die Babys mich sahen, waren sie auf der Stelle ruhig. Und hätten Mary und Elizabeth die Gabe der Vernunft und der Sprache besessen, hätten sie in dem Augenblick, als ich ihr Zimmer betrat, sicherlich gesagt: »Du bist nicht Henry.« Doch sie waren nur Knirpse, mit mehr Zähnen als Sätzen, und konnten die Erkenntnisse ihres jungen Verstands nicht in Worte fassen. Mit ihren klaren, großen Augen beobachteten sie jede meiner Bewegungen mit stiller Aufmerksamkeit. Ich versuchte es mit einem Lächeln, doch sie lächelten nicht zurück. Ich zog Grimassen, kitzelte sie unter ihrem speckigen Kinn, tanzte wie eine Puppe und zwitscherte wie eine Spottdrossel, doch sie betrachteten mich nur kühl und ohne jede Regung wie zwei stumme Kröten. Als ich mir den Kopf zermarterte, wie ich zu ihnen durchdringen könnte, erinnerte ich mich an andere Situa16 tionen, wo ich im Wald etwas ebenso Hilflosem und Gefährlichem wie diesen beiden Menschenkindern begegnet war. Als ich einmal durch eine einsame Klamm wanderte, war mir plötzlich ein junger Bär begegnet, der seine Mutter verloren hatte. Das verängstigte Tier stieß einen so gottverlassenen Schrei aus, dass ich schon nahezu darauf gefasst war, bald von allen Bären der Umgebung umzingelt zu sein. Trotz meiner magischen Kräfte bei Tieren konnte ich gegen ein Ungeheuer, das mich mit einem einzigen Hieb zerfetzen würde, nichts ausrichten. Mit Summen hatte ich es dann beruhigt, und als ich mich daran erinnerte, machte ich es mit meinen neuen Schwestern genauso. Der Klang meiner Stimme begeisterte sie, und plötzlich begannen sie zu gurren und ihre Patschehändchen zusammenzuschlagen, wobei ihnen lange Spuckefäden über das Kinn rannen. »Funkle, funkle, kleiner Stern« und »Schlaf, Kindchen, schlaf« beruhigten sie oder überzeugten sie davon, dass ich ihr Bruder sein könnte oder gar ihrem Bruder vorzuziehen war, aber wer weiß schon mit Bestimmtheit zu sagen, welche Gedanken ihnen durch ihre ahnungslosen Köpfchen huschten? Sie glucksten und kieksten. Um einen Kontrapunkt zu setzen, sprach ich zwischen den Liedern mit Henrys Stimme zu ihnen, und allmählich fingen sie an, es zu glauben — oder gaben ihre Ungläubigkeit auf. Mrs. Day eilte summend und trällernd in das Babyzimmer. Ihr Leibesumfang und ihre Fülle verblüfften mich; ich hatte sie schon oft gesehen, aber nie aus nächster Nähe. Vom sicheren Wald aus hatte sie mehr oder weniger wie alle erwachsenen Menschen gewirkt, aber so leibhaftig strahlte sie eine einzigartige Weichheit aus, obwohl sie etwas säuerlich — nach Milch und Hefe — roch.
Sie tänzelte durch den Raum und zog schwungvoll die Vorhänge auf, sodass goldenes Morgenlicht hereinflutete. 8 Und die Mädchen, erfreut, sie zu sehen, zogen sich aus eigener Kraft an den Gittern ihrer Kinderbettchen hoch. Auch ich lächelte sie an. Es war das Einzige, das ich tun konnte, um nicht in jubelndes Gelächter auszubrechen. Sie lächelte zurück, als wäre ich ihr einziger Sohn. »Hilf mir mit deinen Schwestern, Henry.« Ich hob das nächstliegende Mädchen hoch und verkündete meiner neuen Mutter sehr treffend: »Ich nehme Elizabeth.« Sie war schwer wie ein Dachs. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein Kind auf dem Arm zu halten, ohne dass man die Absicht hat, es zu rauben; die ganz Kleinen strahlen eine wunderbare Zartheit aus. Die Mutter der Mädchen hielt inne und starrte mich an, für die Dauer eines Herzschlags sah sie verwirrt und unsicher aus. »Woher weißt du, dass es Elizabeth ist? Du hast sie doch nie auseinanderhalten können.« »Das ist einfach, Mom. Elizabeth hat zwei Grübchen, wenn sie lächelt, und ihr Name ist länger, und Mary hat nur eins.« »Bist du aber schlau.« Sie hob Mary hoch und ging die Treppe hinunter. Elizabeth schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter, als wir unserer Mutter folgten. Der Küchentisch bog sich unter einem üppigen Festmahl — Pfannkuchen und Speck, ein Kännchen warmen Ahornsirups, ein glänzender Krug mit Milch und Schüsseln voller Bananenstückchen. Nach meinem langen Leben im Wald, wo ich gegessen hatte, was ich finden konnte, erschien mir diese einfache Kost wie eine bunte Mischung exotischer Delikatessen, reichhaltig, üppig, eine Garantie fürs Sattwerden. »Schau, Henry, ich habe all deine Lieblingsspeisen gemacht.« Ich hätte sie auf der Stelle küssen können. War sie bereits mit 8 sich zufrieden, weil sie sich die Mühe gemacht hatte, Henrys Lieblingsessen zuzubereiten, musste sie sich durch die Art und Weise, wie ich freudig das Frühstück verdrückte, äußerst belohnt gefühlt haben. Da ich nach vier Pfannkuchen, acht Scheiben Speck und fast der gesamten Milch aus dem Krug noch über Hunger klagte, machte sie mir noch drei Eier und toastete einen halben Laib selbstgebackenen Brots. Mein Stoffwechsel hatte sich offenbar umgestellt. Ruth Day deutete meinen Hunger als ein Zeichen der Liebe zu ihr, und die nächsten elf Jahre — bis ich das Haus verließ, um aufs College zu gehen — verwöhnte sie mich. Mit der Zeit sublimierte sie ihre Ängste und begann genauso viel zu essen wie ich. Jahrzehnte als Wechselbalg hatten meinen Appetit und meine Kräfte geprägt, sie jedoch war überaus menschlich und wurde mit jeder Jahreszeit, die verging, dicker. Im Laufe der Jahre habe ich mich oft gefragt, ob sie sich mit ihrem echten Erstgeborenen auch so sehr verändert hätte oder ob sie ihren nagenden Verdacht mit Nahrung zu ersticken suchte. An diesem ersten Tag hielt sie mich im Haus. Und wer konnte es ihr verdenken, nach allem, was geschehen war? Ich blieb dichter bei ihr als ihr
eigener Schatten und beobachtete sie mit äußerster Aufmerksamkeit, um noch besser zu lernen, wie ich ihr Sohn sein könnte, während sie Staub wischte, fegte, den Abwasch machte und den Babys die Windeln wechselte. Das Haus wirkte sicherer als der Wald, aber doch sonderbar und fremd. Kleine Überraschungen lauerten. Das Tageslicht fiel schräg durch die Fenster mit den Vorhängen, kroch über die Wände und warf seine Muster auf die Teppiche in einer völlig anderen Geometrie als unter einem Blätterbaldachin. Besonders interessant waren die kleinen Universen aus Staubkörnchen, die man nur in den Sonnenstrahlen sah. Im Gegensatz zum gleißenden Sonnenlicht '9 draußen hatte das Licht im Haus eine einschläfernde Wirkung, insbesondere auf die Zwillinge. Kurz nach dem Mittagessen — noch ein Festmahl mir zu Ehren — wurden sie müde und hielten am frühen Nachmittag ein Schläfchen. Als meine Mutter auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer schlich, fand sie mich geduldig am selben Fleck wartend, wo sie mich zurückgelassen hatte, wie ein Wächter stand ich im Flur. Ich war wie verhext von einem Stecker, der mir zuschrie, ich solle meinen kleinen Finger in ihn hineinstecken. Obwohl die Zimmertür der Zwillinge geschlossen war, klang ihr rhythmisches Atmen wie ein Sturm, der durch Bäume braust, denn mir fehlte noch die Übung, nicht hinzuhören. Mutter nahm mich bei der Hand, und ihr sanfter Griff erfüllte mich mit einer großen Wärme. Allein durch ihre Berührung vermittelte die Frau meinem Innersten einen tiefen Frieden. Mir fielen die Bücher auf Henrys Waschtisch ein, und ich fragte sie, ob sie mir eine Geschichte vorlesen wolle. Wir gingen in mein Zimmer und krabbelten gemeinsam ins Bett. In den letzten hundert Jahren waren mir Erwachsene völlig fremd geworden, und das Leben unter den Kobolden hatte meine Perspektive verschoben. Sie, die mehr als doppelt so groß war wie ich, schien mir zu stabil und robust, um echt zu sein, vor allem im Vergleich mit dem mageren Jungenkörper, den ich angenommen hatte. Meine Lage schien prekär und unberechenbar. Würde sie sich herüberrollen, konnte sie mich wie ein Reisigbündel zerbrechen. Andererseits bildete ihre bloße Größe einen Schutzwall gegen die Außenwelt. Sie würde mich vor all meinen Widersachern beschützen. Während die Zwillinge schliefen, las sie mir aus den Brüdern Grimm vor — »Das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«, »Der Wolf und die sieben 9 jungen Geißlein«, »Hansel und Gretel«, »Der singende Knochen«, »Das Mädchen ohne Hände« und viele andere bekannte und unbekannte Geschichten. Meine Lieblingsmärchen waren »Aschenputtel« und »Rotkäppchen«, die sie mit wunderschönem Ausdruck in ihrem Mezzosopran las, in einem Singsang, viel zu heiter für diese grausamen Märchen. In ihrer melodiösen Stimme klang ein Echo aus alter Zeit an, und wie ich so neben ihr lag, schmolzen die Jahrzehnte dahin. Ich hatte diese Märchen schon einmal gehört, vor langer, langer Zeit, in Deutschland, aber auf Deutsch von meiner richtigen Mutter (ja, auch ich hatte vor langer, langer Zeit einmal eine Mutter), die mich mit Aschenputtel und Rotkäppchen aus dem Buch der Kinder- und Hausmärchen vertraut gemacht
hatte. Ich hatte vergessen wollen, glaubte, ich hätte vergessen, und dennoch vernahm ich recht deutlich ihre Stimme in meinem Kopf. »Es war einmal im tiefen, tiefen Wald.« Obwohl ich die Gemeinschaft der Wechselbälger bereits vor langer Zeit verlassen habe, bin ich in gewissem Sinne in diesem dunklen Wald geblieben, denn ich verberge meine wahre Identität vor denen, die ich liebe. Erst nach diesen merkwürdigen Ereignissen im vergangenen Jahr finde ich jetzt den Mut, die Geschichte zu erzählen. Dies ist mein viel zu lange hinausgeschobenes Geständnis, das ich Angst hatte abzulegen und das ich wegen der Gefahren, die nun auch meinem Sohn drohen, erst jetzt mache. Wir verändern uns. Ich habe mich verändert. 10 Kapitel 2 Ich bin weggegangen. Dies ist kein Märchen, sondern die wahre Geschichte meines Doppellebens, die ich da zurücklasse, wo alles begann, für den Fall, dass man mich wiederfindet. Meine Geschichte nimmt ihren Anfang, als ich ein siebenjähriger Junge war und von meinen jetzigen Wünschen noch nichts wusste. An einem Augustnachmittag vor fast dreißig Jahren lief ich von zu Hause fort und kehrte nie mehr zurück. Belanglose, längst vergessene Gründe führten dazu, dass ich wegrannte, aber ich weiß noch, dass ich mich auf eine lange Reise vorbereitete, denn ich stopfte meine Taschen mit Brötchen voll, die vom Mittagessen übrig geblieben waren, und schlich so leise aus dem Haus, dass meine Mutter womöglich gar nicht merkte, dass ich weggelaufen war. Unser Hof war von der Hintertür der Farm bis zum fließenden Übergang zum Wald in grelles Licht getaucht, es war, als überquerte man einen Grenzstreifen. Nachdem ich die Wildnis erreicht hatte, fühlte ich mich im tiefen, tiefen Wald sicher und geborgen, und als ich weiterging, legte sich Stille zwischen die Bäume. Die Vögel sangen nicht mehr und die Insekten verstummten. Ein Baum, müde von der Gluthitze, ächzte auf, als verschöbe 10 er seine Wurzeln. Das grüne Blätterdach über mir säuselte bei jedem seltenen, flüchtigen Windhauch. Als die Sonne hinter den Bäumen versank, kam ich an eine mächtige Kastanie, deren Stamm ein Loch hatte. Es war so groß, dass ich hineinklettern, mich darin verstecken und dort auf die Suchenden warten konnte. Und als sie nah genug waren und ich ihnen ein Zeichen hätte geben können, rührte ich mich nicht. Die Erwachsenen riefen immerzu »Henry« in den schwindenden Nachmittag, in das Halbdunkel der Abenddämmerung und in die kalte, sternenklare Nacht. Ich weigerte mich zu antworten. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten wie irre zwischen den Bäumen, und der Suchtrupp, der durch das Unterholz brach, über Baumstümpfe und umgefallene Stämme stolperte, lief an mir vorbei. Bald verklangen ihre Rufe in der Ferne, verebbten zu Echos, zu Flüstern und dann Stille. Ich war fest entschlossen, mich nicht finden zu lassen.
Ich verkroch mich tiefer in meine Höhle, presste das Gesicht gegen das Innere des Baums, sog seinen süßen Moder und seine Feuchtigkeit ein, die Maserung rau an meiner Haut. In der Ferne erhob sich ein leises Säuseln und verdichtete sich zu einem Surren. Als es näher kam, wurde es zu einem lauten Geraune und nahm an Tempo zu. Reisig knackte und Blätter raschelten, als es auf den hohlen Baum zujagte und kurz vor meinem Versteck zum Stillstand kam. Keuchendes Atmen, Gewisper, Schritte. Ich rollte mich ganz klein zusammen, als etwas halb in das Loch hineinkrabbelte und an meine Füße stieß. Kalte Finger umschlossen meine nackten Knöchel und zogen. Sie zerrten mich aus dem Loch und drückten mich auf den Boden. Ich stieß einen Schrei aus, ehe mir eine kleine Hand den Mund zuhielt und dann zwei andere Hände mir einen Knebel hineinschoben. In der Dunkelheit waren ihre Gesichter nicht zu erkennen, aber an Größe und Gestalt waren sie wie ich. Rasch zogen sie mir die Kleider aus und wickelten mich wie eine Mumie in ein hauchdünnes Spinnennetz. Kleine Kinder, ungewöhnlich starke Jungen und Mädchen, hatten mich entführt. Sie hoben mich hoch und rannten los. Von mehreren Händen und knochigen Schultern gehalten, schwebte ich in halsbrecherischer Geschwindigkeit, auf dem Rücken liegend, durch den Wald. Am Himmel zeigten sich die ersten Sterne, die wie ein Sternschnuppenregen vorbeisausten, und in der Dunkelheit wirbelte die Welt rasend schnell davon. Trotz ihrer Last kamen die muskulösen Geschöpfe behände voran; ohne zu straucheln oder zu stolpern liefen sie durch das dunkle Gelände, vorbei an Bäumen, die im Weg waren. Als ich wie eine Eule durch den nächtlichen Wald glitt, fühlte ich mich beschwingt und ängstlich zugleich. Derweil sprachen sie miteinander in einem Kauderwelsch, das sich wie das Fauchen eines Eichhörnchens oder das raue Husten eines Hirschs anhörte. Eine heisere Stimme flüsterte etwas, das wie »hierher« oder »Henry Day« klang. Die meisten schwiegen nun, nur hin und wieder heulte einer von ihnen auf wie ein Wolf. Als hätte jemand ein Signal gegeben, verfielen sie in einen langsameren Galopp und liefen über das, was ich später als ausgetretene Wildpfade der Bewohner des Waldes kennen lernen sollte. Mücken setzten sich auf meine nackte Haut, im Gesicht, auf Hände und Füße, stachen mich, wie es ihnen gefiel, und saugten sich mit meinem Blut voll. Es fing an zu jucken, und verzweifelt wollte ich mich kratzen. Uber das Zirpen der Grillen und Zikaden und das Quäken der Frösche hinweg plätscherte und gurgelte Wasser in der Nähe. Die kleinen Teufel sangen im Gleich 11 klang, bis die ganze Mannschaft plötzlich stehen blieb. Ich hörte den Fluss rauschen. Und gefesselt, wie ich war, warfen sie mich ins Wasser. Ertrinken ist eine schreckliche Art zu sterben. Es war nicht der hohe Bogen durch die Luft, der mir Angst machte, oder der Aufprall auf dem Wasser, sondern das Geräusch meines Körpers, der die Oberfläche durchstieß. Die abrupte Abfolge von warmer Luft und kaltem Wasser erschreckte mich am meisten. Der Knebel löste sich nicht aus meinem Mund; die Fesseln an meinen Händen lockerten sich nicht. Unter Wasser konnte ich nichts mehr sehen, und
einen Moment lang versuchte ich, die Luft anzuhalten, doch als sich meine Lungen rasch füllten, spürte ich den schmerzhaften Druck in der Brust und den Nebenhöhlen. Mein Leben blitzte nicht in Bildern vor meinem inneren Auge auf — ich war erst sieben —, und ich rief auch nicht nach meiner Mutter, meinem Vater oder nach Gott. Mein letzter Gedanke war nicht »Ich sterbe«, sondern »Ich bin tot«. Das Wasser umschloss mich, sogar meine Seele, die Tiefe umfing mich, und Seegras schlang sich um meinen Kopf. Als viele Jahre später die Geschichte meiner Wandlung und Reinigung zur Legende geworden war, hieß es, als sie mich wiederbelebten, sei ein Wasserstrahl mit Kaulquappen und winzigen Fischen aus mir herausgeschossen. Meine erste Erinnerung ist, dass ich in einer Art Bett aufwachte, mit krustigem Rotz in Nase und Mund, und unter einer Decke aus Schilf lag. Um mich herum saßen auf Gesteinsbrocken und Baumstümpfen die Elben, wie sie sich selbst nannten, und sprachen in aller Ruhe miteinander, als wäre ich gar nicht da. Ich zählte sie, und mit mir waren wir genau ein Dutzend. Einer nach dem anderen bemerkte, dass ich wach und am Leben war. Ich verhielt mich still, aus 12 Angst und ebenso aus Scham, denn ich war völlig nackt unter der Decke. Die ganze Szene kam mir wie ein Wachtraum vor, oder als wäre ich gestorben und neu geboren. Sie zeigten auf mich und sprachen ganz aufgeregt. Zuerst klang ihre Sprache völlig unmelodiös, voll gurgelnder Konsonanten und abgehacktem Rauschen. Doch nach und nach hörte ich ein moduliertes Englisch heraus. Vorsichtig näherten sich die Elben, um mich nicht zu verschrecken, so wie man sich einem aus dem Nest gefallenen Vögelchen nähert oder einem Kitz, das seine Mutter verloren hat. »Wir haben schon geglaubt, du schaffst es nicht.« »Hast du Hunger?« »Hast du Durst? Möchtest du Wasser?« Sie krochen näher, und ich konnte sie besser sehen. Sie sahen aus wie eine Schar verwilderter Kinder. Sechs Jungen und fünf Mädchen, geschmeidig und dünn, ihre Haut dunkel von der Sonne und überzogen mit einer Schicht aus Staub und Asche. Fast nackt waren sie, nur mit schlecht sitzenden, kurzen Hosen bekleidet oder mit altmodischen Bundhosen, drei oder vier trugen fadenscheinige Hemden. Keiner hatte Schuhe an, und ihre Fußflächen waren wie ihre Hände schwielig und hart. Ihr Haar war lang und struppig, wild gelockt oder knotig verheddert. Einige hatten ein komplettes Milchgebiss, während andere dort, wo ihnen Zähne ausgefallen waren, Lücken vorzeigten. Nur einer, der ein paar Jahre älter aussah als die anderen, hatte zwei neue Zähne im Oberkiefer. Ihre Gesichter waren sehr fein und zart. Als sie mich so eingehend musterten, zeigten sich leichte Krähenfüße in den Winkeln ihrer stumpfen, leeren Augen. Sie sahen nicht wie Kinder aus, die ich kannte, sondern wie Greise in Körpern wilder Kinder. 12
Sie waren Elben, wenn auch nicht von der Art, wie man sie aus Büchern, von Gemälden und aus Filmen kennt. Nicht wie die sieben Zwerge, die Wichtelmänner, die Dreikäsehochs, der Däumling, die Heinzelmännchen, Elfen oder diese nahezu nackten, fliegenden Geister am Anfang von Fantasia. Nicht wie die rothaarigen Männchen in grünen Kleidern, die einen an das Ende des Regenbogens führen. Weder wie die Helfer des Weihnachtsmanns noch wie die Ungeheuer, Trolle oder andere Scheusale der Brüder Grimm oder aus Mother Goose. Die Jungen und Mädchen waren in der Zeit stecken geblieben, ohne erkennbares Alter, unbändig wie eine Meute wilder Hunde. Ein nussbraunes Mädchen hockte sich zu mir und zeichnete Muster in den Staub neben meinem Kopf. »Ich heiße Speck.« Sie lächelte und sah mich an. »Du musst etwas essen.« Sie winkte ihre Freunde näher heran, die drei Schalen vor mich hinstellten: einen Salat aus Löwenzahnblättern, Brunnenkresse und wilden Pilzen; einen Berg Brombeeren, vor Morgengrauen von stachligen Ranken gepflückt; und verschiedene geröstete Käfer. Letztere verweigerte ich, aber die Früchte und das Grünzeug spülte ich mit klarem, kaltem Wasser aus einem ausgehöhlten Kürbis herunter. In Grüppchen beobachteten sie mich aufmerksam, flüsterten sich etwas zu, sahen mir immer wieder ins Gesicht und lächelten, wenn sie meinen Blick auffingen. Drei Elben kamen, um die leeren Schalen fortzunehmen; eine andere brachte mir eine Hose. Sie kicherte, während ich mich unter meiner Schilfdecke abmühte, und als ich dann versuchte, den Hosenschlitz zuzuknöpfen, ohne meine Blöße zu zeigen, brach sie in schallendes Gelächter aus. Ich war nicht in der Lage, die ausgestreckte Hand des Anführers zu schütteln, als er sich und seine Gefährten vorstellte. 2- 1 »Ich bin Igel«, sagte er und strich sich das blonde Haar zurück. »Das ist Beka.« Beka, ein Junge mit Froschgesicht, war einen Kopf größer als die anderen. »Und das ist Onions.« In einem gestreiften Jungenhemd und einer kurzen Hose, die von Hosenträgern gehalten wurde, trat sie nach vorne. Während sie mit einer Hand ihre Augen vor der Sonne schützte, blinzelte sie und lächelte mich an, und ich wurde rot bis zum Hals. Ihre Fingerspitzen waren grün, da sie immer wilde Zwiebeln ausbuddelte, die sie so gerne aß. Als ich fertig angezogen war, stützte ich mich auf die Ellbogen, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. »Ich bin Henry Day«, krächzte ich mit vom Schmerz rauer Stimme. »Hallo, Aniday.« Onions lächelte, und alle lachten bei diesem Namen. Die Elbenkinder begannen zu singen, »Aniday, Aniday«, und ein Schrei hallte in meinem Herzen. Von nun an wurde ich Aniday gerufen, und mit der Zeit vergaß ich meinen richtigen Namen, obwohl er manchmal als Andy Day oder Anyway auftauchen sollte. Neu getauft, schwand meine alte Identität, wie bei einem Säugling, der sich nicht an all das erinnert, was vor seiner Geburt geschah. Seinen Namen zu verlieren ist der erste Schritt ins Vergessen. Als der Jubel sich gelegt hatte, stellte mir Igel jeden Elb vor, doch der Namenswirrwarr dröhnte mir in den Ohren. Zu zweit, zu dritt gingen sie weg,
verschwanden in verborgenen Erdlöchern, die rundum die Lichtung säumten, und tauchten mit Seilen und Rucksäcken wieder auf. Einen Moment lang befürchtete ich, dass sie mich festbinden und noch einmal taufen wollten, die meisten nahmen jedoch kaum Notiz von meiner Panik. Sie liefen ¿14 umher und wollten gerne aufbrechen. Igel trat an mein Bett. »Wir gehen auf eine Schnitzeljagd, Aniday. Aber du musst hierbleiben und dich ausruhen. Du hast eine ziemliche Quälerei hinter dir.« Als ich versuchte, aufzustehen, spürte ich den Widerstand seiner Hand auf meiner Brust. Auch wenn er wie ein Sechsjähriger aussah, hatte er die Kraft eines ausgewachsenen Mannes. »Wo ist meine Mutter?«, fragte ich. »Beka und Onions bleiben bei dir. Ruh dich aus.« Er bellte einmal auf, und wie der Blitz sammelte sich die Meute um ihn. Ohne einen Laut und ehe ich protestieren konnte, verschwanden sie im Wald wie ein geisterhaftes Wolfsrudel. Speck, die ihnen hinterhereilte, drehte sich um und rief mir zu: »Du bist jetzt einer von uns.« Dann lief sie in großen Sprüngen davon, um die anderen einzuholen. Ich legte mich wieder zurück und kämpfte, in den Himmel starrend, gegen meine Tränen an. Wolken zogen über die Sommersonne, überrollten mit ihren Schatten die Bäume und das Lager der Elben. Früher war ich allein oder mit meinem Vater durch diesen Wald gestreift, aber nie war ich so tief zu einem so stillen, einsamen Ort vorgedrungen. Die vertrauten Kastanien, Eichen und Ulmen wuchsen hier höher, und der Wald, der die Lichtung umgab, schien dicht und undurchdringlich. Hie und da sah ich abgewetzte Baumstümpfe, Holzklötze und die Reste eines Lagerfeuers. Eine Glattechse sonnte sich auf dem Stein, auf dem Igel gesessen hatte. Eine Schildkröte schob sich durch das trockene Laub und zog sich in ihren Panzer zurück, als ich mich aufsetzte, um sie genauer zu betrachten. Aufzustehen erwies sich als Fehler und verursachte mir Übelkeit und Schwindel. Ich wollte zu Hause in meinem Bett liegen, 14 wollte den Trost meiner Mutter, wollte sie meinen Schwesterchen vorsingen hören, doch stattdessen spürte ich den kalten, kalten Blick von Beka. Neben ihm summte Onions, die sich auf ein Fadenspiel in ihren flinken Fingern konzentrierte, leise vor sich hin. Sie hypnotisierte mich mit ihren Mustern. Erschöpft legte ich mich wieder zurück und schlotterte trotz der schwülen Hitze. Der Nachmittag wollte kaum vergehen und machte mich schläfrig. Meine beiden Begleiter beobachteten mich, wie ich sie beobachtete, doch sie sagten nichts. Mal bei Bewusstsein, mal nicht, konnte ich meine müden Knochen nicht bewegen, während ich an die Geschehnisse zurückdachte, die mich in diesen Wald geführt hatten, mir Gedanken über die Probleme machte, die mir bevorstünden, wenn ich nach Hause käme. Mitten im Dämmerschlaf nahm ich plötzlich merkwürdige Bewegungen wahr und schlug die Augen auf. Beka und Onions rangen unter einer Decke miteinander. Er lag auf ihrem Rücken, stieß und ächzte, und sie lag auf dem Bauch und hatte mir ihr Gesicht
zugewandt. Ihr grüner Mund öffnete sich, und als sie merkte, dass ich hinüberspähte, warf sie mir ein zahniges Grinsen zu. Ich schloss die Augen und drehte mich weg. Faszination und Abscheu überlagerten sich in meinem verwirrten Kopf. Der Schlaf kehrte erst zurück, als die beiden ruhig wurden, sie summte leise vor sich hin, während das Froschgesicht zufrieden schnarchte. Mein Magen ballte sich zusammen wie eine Faust, und Übelkeit kam über mich wie ein Fieberkrampf. Angsterfüllt und voller Heimweh wollte ich weglaufen und diesen befremdlichen Ort verlassen. Kapitel 3 In den letzten beiden Sommerwochen bei meiner neuen Mutter Ruth Day brachte ich mir das Lesen und Schreiben wieder bei. Sie hatte beschlossen, mich im Haus zu halten oder in Rufweite oder in ihrem Blickfeld, und ich tat ihr den Gefallen von Herzen gerne. Natürlich ist Lesen nur das bloße Verbinden von Zeichen mit Klängen, das Einprägen von Kombinationen, Regeln und deren Auswirkungen, und, sehr wichtig auch, der Abstände zwischen den Wörtern. Schreiben erwies sich als deutlich schwieriger, weil man etwas zu sagen haben muss, ehe man sich vor das weiße Blatt setzt. Aber auch das eigentliche Malen des Alphabets stellte sich als ermüdende Aufgabe heraus. An den meisten Nachmittagen übte ich mit einem Griffel und einem Schwämmchen auf einer Schiefertafel, die ich über und über mit meinem neuen Namen voll schrieb. Da sich meine Mutter zunehmend Sorgen über mein zwanghaftes Verhalten machte, hörte ich schließlich damit auf, aber nicht, ehe ich so reinlich wie möglich niedergeschrieben hatte: »Ich liebe meine Mutter.« Sie freute sich riesig, als sie es später sah, und diese Geste trug mir einen ganzen Pfirsichkuchen ein, nicht ein einziges Stück für die anderen, nicht einmal für meinen Vater. Der Reiz des Neuen, in die zweite Klasse zu gehen, verschliss 3' sich rasch zu einer dumpfen Pein. Die Aufgaben fielen mir leicht, obwohl ich meinen Klassenkameraden beim Verstehen dieses anderen Systems zeichenhafter Logik etwas hinterherhinkte: dem Rechnen. Ich kämpfe bis heute mit den Zahlen, nicht so sehr bei den Grundrechenarten — Addition, Subtraktion, Multiplikation — als vielmehr bei abstrakteren Anordnungen. Die Naturwissenschaften und Geschichte offenbarten mir eine Art, über die Welt zu denken, die sich von meinen Erfahrungen bei den Wechselbälgern sehr unterschied. Zum Beispiel hatte ich keine Ahnung, dass George Washington, metaphorisch gesprochen, der Vater unseres Landes ist, auch wusste ich nicht, dass eine »Nahrungskette« aus einem System von Organismen einer ökologischen Gemeinschaft besteht, die der räuberischen Ordnung entspricht, in der jeder die nächsten, für gewöhnlich die untergeordneten Glieder, als Nahrungsquelle nutzt. Solche Erklärungen der natürlichen Ordnung erschienen mir zunächst höchst unnatürlich. Die Dinge im Wald waren weitaus existenzieller. Das Leben hing vom Schärfen der Instinkte ab, nicht vom Auswendiglernen von Fakten. Seit die letzten Wölfe getötet oder von
Prämienjägern vertrieben worden waren, blieb nur noch der Mensch als Feind. Blieben wir in Deckung, konnten wir überleben. Unsere Schwierigkeit bestand darin, das richtige Kind zu finden, mit dem sich der Platz tauschen ließe. Die Wahl durfte nicht dem Zufall überlassen bleiben. Ein Wechselbalg muss sich für ein Kind entscheiden, das genauso alt ist wie er selbst zur Zeit seiner Entführung. Ich war sieben, als sie mich verschleppten, und sieben, als ich sie verließ, obwohl ich fast hundert Jahre im Wald verbracht hatte. Die Qual jener Welt besteht nicht allein darin, in der Wildnis zu überleben, sondern vor allem im lan 16 gen, unerträglichen Warten, bis man in diese Welt zurückkehren kann. Nach meiner Rückkehr erwies sich diese gelernte Geduld als Tugend. Meine Klassenkameraden achteten jeden Nachmittag darauf, wie die Zeit dahinkroch, und warteten eine Ewigkeit auf das Drei-Uhr-Klingeln. Wir Zweitklässler saßen von September bis Mitte Juni in demselben geisttötenden Raum, und außer an den Wochenenden und während der glorreichen Freiheit in den Ferien erwartete man von uns, dass wir um acht Uhr morgens da waren und uns die nächsten sieben Stunden anständig benahmen. Spielte das Wetter mit, durften wir zweimal am Tag für eine kurze Pause und zur Mittagszeit auf den Schulhof. Rückblickend verblassen die Momente, die wir gemeinsam verbrachten, gegenüber der Zeit, die jeder für sich war, doch manches misst man am besten an der Qualität und nicht an der Quantität. Meine Klassenkameraden ließen mir jeden Tag zu einer Tortur werden. Ich rechnete mit einem gewissen Maß an Zivilisiertheit, doch sie waren schlimmer als die Kobolde. Die Jungen mit ihren schmuddeligen blauen Fliegen und blauen Schuluniformen waren durch die Bank weg grässlich — Nasenpopler, Daumenlutscher, Schnarcher, Nichtsnutze, Pupser, Rülpser, ungewaschen und heruntergekommen. Ein Raufbold namens Hayes hatte Freude daran, die anderen zu quälen, er klaute ihnen das Pausenbrot, drängelte sich vor, pinkelte auf Schuhe und rangelte auf dem Schulhof. Entweder schloss man sich den Schleimern an, die ihn anfeuerten, oder man wurde zum Opfer. Einige Jungen wurden ständig schikaniert. Sie reagierten schlecht, weil sie sich entweder ganz in sich zurückzogen oder, schlimmer noch, bei der geringsten Provokation weinten und schrien. Schon in jungen Jahren waren sie so für ihr ganzes Leben geprägt und würden 16 sicherlich als Verkäufer, als Geschäftsleiter, als Systemanalytiker oder Berater enden. Mit den Zeichen ihrer Demütigung — einem Veilchen, einer blutigen Nase und verquollenen, rot geweinten Augen — kamen sie aus der Pause zurück, und obwohl ich es vielleicht hätte tun sollen, kam ich ihnen nicht zu Hilfe. Hätte ich meine wahre Kraft eingesetzt, hätte ich die Raufbolde mit einem einzigen, gut platzierten Schlag leicht erledigen können. Die Mädchen litten auf ihre Art unter noch schlimmeren Kränkungen. Auch sie zeigten viele der gleichen enttäuschenden Angewohnheiten und mangelnde Hygiene. Sie lachten zu schrill oder gar nicht. Boshaft konkurrierten sie untereinander und mit ihren Gegnern, oder sie entwischten wie Mäuse. Die
Schlimmste von allen, sie hieß Hines, machte Tag für Tag das schüchternste Mädchen mit Spötteleien und Nichtbeachten zur Schnecke. Erbarmungslos erniedrigte sie ihre Opfer, wenn sie zum Beispiel während der Stunde in die Hose machten, wie es am ersten Tag kurz vor der Pause der darauf nicht gefassten Tess Wodehouse passierte. Sie lief feuerrot an, und zum allerersten Mal empfand ich fast so etwas wie Mitgefühl für das Missgeschick eines anderen. Bis zum Valentinstag wurde die Arme wegen dieses Vorfalls gehänselt. Um ihre Kämpfe zu gewinnen, verließen sich die Mädchen in ihren karierten Pullundern und weißen Blusen eher auf Worte statt auf Körperkraft. Im Vergleich mit den Kobold-Mädchen schnitten sie schlecht ab, denn die waren einerseits gerissen wie Raben und andererseits wild wie Luchse. Diese Menschenkinder waren insgesamt schwächer. In so mancher Nacht wünschte ich mir, ich könnte wieder durch den Wald streifen, schlummernde Vögel von ihren Schlafplätzen verscheuchen, Kleider von der Wäscheleine stehlen, unbeschwert in den Tag hinein leben, statt mich Seite für Seite durch meine Haus 17 aufgaben zu quälen und mich über meine Mitschüler zu ärgern. Doch trotz all dieser Kalamitäten glänzte die wirkliche Welt, und ich nahm mir vor, die Vergangenheit zu vergessen und wieder ein richtiger Junge zu werden. Mein Leben zu Hause entschädigte mich reichlich für die Ärgernisse in der Schule. Mutter wartete jeden Nachmittag auf mich, wobei sie so tat, als wischte sie Staub oder kochte, wenn ich triumphierend durch die Vordertür trat. »Da ist ja mein Junge«, sagte sie dann und schob mich rasch in die Küche, wo ein Imbiss mit Brot und Marmelade und einem Becher Ovomaltine wartete. »Wie war dein Tag, Henry?« Ihr zuliebe ließ ich mir ein, zwei erbauliche Lügen einfallen. »Hast du etwas Neues gelernt?« Ich sagte dann all das auf, was ich auf dem Heimweg eingeübt hatte. Sie schien überaus neugierig und erfreut, aber schließlich überließ sie mich den grässlichen Hausaufgaben, die ich für gewöhnlich kurz vor dem Abendessen fertig hatte. In der kurzen Zeit, bis mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, bereitete sie unser Essen zu, wobei ich ihr am Tisch sitzend Gesellschaft leistete. Im Hintergrund spielte das Radio ihre Lieblingssongs, und da ich die alle schon beim ersten Hören auswendig lernte, konnte ich sie, da sie ständig wiederholt wurden, beim nächsten Mal mitsingen. Bewusst oder unbewusst machte ich die Stimmen der Sänger perfekt nach und konnte Ton für Ton, Takt für Takt, Phrase für Phrase genauso singen wie Bing Crosby, Frank Sinatra, Rosemary Clooney oder Jo Stafford. Mutter deutete mein musikalisches Talent als eine natürliche Erweiterung meiner allgemeinen Großartigkeit, meines Charmes und meiner angeborenen Intelligenz. Da sie mir liebend gerne zuhörte, drehte sie oft das Radio ab und bat mich, ihr das Lied noch einmal vorzusingen. 17 »Sei ein braver Junge und sing uns noch einmal >There's a Train out for Dreamland<.«
Als mein Vater mich zum ersten Mal singen hörte, reagierte er nicht so freundlich. »Wo hast du das denn aufgeschnappt? Noch vor Kurzem konntest du keinen Ton halten, und heute trällerst du wie eine Lerche.« »Weiß nicht. Vielleicht habe ich früher nicht hingehört.« »Machst du dich über mich lustig? Tag und Nacht hört sie dieses Gedudel mit eurem Nat King Cole und dem ganzen Jazz, und >Kannst du mich nicht mal zum Tanzen ausführend Als ob eine Mutter von Zwillingen. . . Was soll das heißen, du hast nicht hingehört?« »Nicht so konzentriert, meine ich.« »Du sollst dich auf deine Hausaufgaben konzentrieren und deiner Mutter bei der Hausarbeit helfen.« »Wenn man genau zuhört, statt das Lied nur einfach so vorbeiplätschern zu lassen, hat man sich die Melodie ruckzuck eingeprägt.« Er schüttelte den Kopf und zündete sich eine neue Camel an. »Etwas mehr Respekt vor deinen Eltern, wenn ich bitten darf, Caruso.« Von da an hütete ich mich, den perfekten Stimmenimitator abzugeben, wenn mein Vater in der Nähe war. Mary und Elizabeth hingegen waren zu klein, um sich irgendwelche Fragen zu stellen, sie akzeptierten mein knospendes Imitationstalent einfach. Ja, sie bettelten immer um bestimmte Lieder, vor allem wenn sie in ihren Bettchen lagen, und wenn ich »Over the Rainbow« sang, schliefen sie ein, als hätte man sie bewusstlos geschlagen. Ich gab eine ziemlich gute Judy Garland ab. >18 Meine Tage bei den Days gingen schnell in eine behagliche Routine über, und solange ich mich im Haus oder in der Schule aufhielt, lief alles gut. Mit einem Mal wurde es draußen kälter, und fast im Handumdrehen nahmen die Blätter grelle Gelb- und Rottöne an, die so kräftig waren, dass der bloße Anblick der Bäume mir in den Augen schmerzte. Ich hasste diese strahlenden Erinnerungen an das Leben im Wald. Der Oktober erwies sich als Aufruhr für die Sinne und heizte diese schwindelerregenden letzten Wochen vor Halloween an. Ich wusste, dass dieser Tag mit Partys einhergehen würde, mit dem Erbetteln von Nüssen und Süßigkeiten, mit Feuern auf den Plätzen und mit Streichen, die den Städtern gespielt wurden. Glauben Sie mir, wir Kobolde waren an diesem Unfug immer bestens beteiligt — wir haben Tore ausgehängt, Kürbisse zerschmettert und die Fenster der Bibliothek mit Teufelskarikaturen beschmiert. Noch nicht erlebt hatte ich den Schabernack unter den Kindern, und dass sogar die Schulen mitmischten, wusste ich auch nicht. Zwei Wochen vor dem großen Tag begannen die Nonnen, ein Fest im Klassenzimmer mit Unterhaltungsprogramm und Getränken zu planen. Sie hängten orangefarbene und schwarze Krepppapiergirlanden oben über den Rand der Tafel und hefteten Kürbisse und schwarze Katzen aus Papier an die Wände. Gehorsam schnitten wir schaurige Dinge aus Bastelpapier aus und klebten unsere künstlerischen Ergüsse, so kläglich sie auch waren, zusammen. Mütter wurden angehalten, Plätzchen und Brownies zu backen, sowie Kugeln aus Popcorn und kandierte Äpfel zu machen. Kostüme waren erlaubt — ja, sie
wurden sogar erwartet. Ich erinnere mich genau an das Gespräch mit meiner Mutter über dieses Thema. »Wir feiern eine Halloween-Party in der Schule, und die Leh 19 rerin sagt, wir sollen statt der Schuluniform unsere Gruselkostüme anziehen. Ich möchte ein Kobold sein.« »Was war das?« »Du weißt schon, ein Kobold.« »Ich weiß nicht genau, was das ist. Ist das so etwas wie ein Monster?« »Nein.« »Oder ein Gespenst? Ein Unhold?« »Nein, das nicht.« »Vielleicht ein kleiner Vampir?« »Ich bin kein Blutsauger, Mutter.« »Ist das vielleicht ein Elb?« Ich heulte auf. Zum ersten Mal seit fast zwei Monaten verlor ich die Geduld und schrie mit meiner natürlichen, wilden Stimme. Das Gebrüll erschreckte sie. »Um Himmels willen, Henry. Du hast mich zu Tode erschreckt, heulst los wie diese Todesfee, diese Banshee. Es gibt kein Halloween für dich.« Der Schrei der Banshee, wollte ich ihr sagen, ist ein Jammern und Klagen, aber sie heult nie auf. Stattdessen fing ich an zu weinen und flennte wie die Zwillinge. Sie zog mich an sich und drückte mich an ihren Bauch. »Nicht doch, ich hab doch nur Spaß gemacht.« Sie hob mein Kinn an und schaute mir in die Augen. »Ich weiß einfach nicht, was ein Kobold ist. Wie wäre es, wenn du als Pirat gingest? Das würde dir doch gefallen.« Und so kam es, dass ich schließlich in Hosen und einem Hemd mit Puffärmeln, mit einem Tuch um den Kopf und einem Ohrring wie Errol Flynn gekleidet war. So stand ich am Halloween-Tag als einziger Pirat der ganzen Schule, womöglich des 19 ganzen Landes, vor einer Klasse aus Gespenstern, Hexen und Landstreichern. Die Lehrerin hatte mich auserkoren, »The Teddy Bears' Picnic« als Teil unseres Gruselprogramms zum Besten zu geben. Die Stimme, mit der ich normalerweise sprach, war piepsig wie die von Henry Day, doch als ich »If you go out in the woods tonight« sang, klang ich ganz genauso wie der sonore Bass von Frank DeVol auf der Platte. Diese Imitation schreckte fast alle. Das ganze Lied über schluchzte Caroline Hines voller Angst in der hintersten Ecke. Die meisten Kinder starrten mit sperrangelweit offenem Mund durch ihre Maske und Schminke und wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. Ich weiß noch, dass Tess Wodehouse dasaß und mich ohne zu blinzeln ansah, als wüsste sie, dass hier eine grundlegende Täuschung vorliegen müsse, ohne den Trick dahinter enträtseln zu können. Doch die Nonnen wussten es besser. Am Ende des Lieds flüsterten sie sich wie verschworene Pinguine etwas zu, nickten dann übereinstimmend und bekreuzigten sich. Das Süßigkeiten-Sammeln ließ zu wünschen übrig. Bei Dämmerung fuhr mich mein Vater in die Stadt und wartete auf mich, während ich an den Häusern der Main Street entlangging und hier und dort ein anderes Kind in einem jämmerlichen Kostüm erspähte. Kein Kobold erschien, nur eine schwarze Katze machte Anstalten, meinen Weg zu kreuzen. In perfekter Katzensprache
zischelte ich dem Tier etwas zu, woraufhin es kehrtmachte und in Panik davonsprang, um sich unter einem Geißblattstrauch zu verstecken. Ein hämisches Grinsen flog mir übers Gesicht. Es war gut zu wissen, dass ich noch nicht all meine Tricks verlernt hatte. 20 Kapitel 4 In der Dämmerung kamen die Krähen herbeigeflogen, um sich für die Nacht in den kahlen Eichen zu sammeln. Vogel für Vogel schwebte heran, schwarze Schatten im schwindenden Licht. Meine Entführung, die mir noch frisch in Erinnerung war, hatte mich ängstlich gemacht und tief erschüttert, daher traute ich nicht einer einzigen Seele im Wald. Ich vermisste meine Familie, nun da schon Tage und Wochen, nur gegliedert vom täglichen Auftauchen der Vögel, vergangen waren. Ihr Heran- und Wegfliegen sorgte für eine beruhigende Stetigkeit. Als die Bäume mit der Zeit die Blätter abwarfen und ihre Äste sich nackt zum Himmel reckten, ängstigten mich die Krähen nicht mehr. Ich freute mich auf ihren anmutigen Anflug und ihre Silhouetten am Winterhimmel, die ein selbstverständlicher Teil meines neuen Lebens geworden waren. Die Elben nahmen mich als einen der Ihren auf und brachten mir bei, im Wald zu leben, und sie alle wuchsen mir ans Herz. Außer Speck, Igel, Beka und Onions waren da noch sieben andere. Die drei Mädchen waren unzertrennlich—Kivi und Blomma, blond, sommersprossig, ruhig und selbstsicher, und ihre ständige Begleiterin, das Plappermaul Chavisory, die aussah, als wäre sie 20 kaum fünf Jahre alt. Wenn sie grinste, schimmerten ihre Milchzähne wie ein Perlenstrang, und lachte sie, bebten und zuckten ihre mageren Schultern. Fand sie etwas wirklich lustig oder aufregend, so sprang sie los wie eine übermütige Fledermaus und tanzte Kreise und Achten über die ganze Lichtung. Die Jungen bildeten, abgesehen vom Anführer Igel und dem Einzelgänger Beka, zwei Paare. Ragno und Zanzara erinnerten mich, so wie ich sie vor Augen habe, an die beiden Söhne der italienischen Lebensmittelhändler in der Stadt. Die beiden dünnen, leicht dunkelhäutigen Jungen hatten wilde schwarze Locken auf dem Kopf, waren schnell in Rage zu bringen und verziehen noch schneller. Die anderen beiden, Smaolach und Luchog, verhielten sich wie Brüder, obwohl sie nicht unähnlicher hätten sein können. Smaolach, der alle außer Beka überragte, konzentrierte sich genauso unbeirrt und ernst auf eine bevorstehende Aufgabe wie eine Drossel, die einen Wurm aus der Erde zerrt. Sein guter Freund Luchog, der Kleinste von uns, strich sich immer wieder eine nicht zu bändigende, nachtschwarze Locke zurück, die sich wie ein Mäuseschwanz auf seiner Stirn ringelte. Seine Augen, so blau wie der Sommerhimmel, verrieten seine innige Zuneigung zu seinen Freunden, sogar wenn er versuchte, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Igel, der Älteste und der Anführer der Bande, übernahm die Aufgabe, mir das Leben im Wald zu erklären. Er zeigte mir, wie man Frösche und Fische mit
einem Spieß erlegt, wie man Wasser findet, das sich über Nacht in einer Laubmulde gesammelt hat, wie man essbare Pilze von tödlichen unterscheidet und Dutzende andere Überlebenstricks. Weil aber selbst der beste Lehrer kein Ersatz für eigene Erfahrung ist, wurde ich in meiner Anfangszeit sehr behütet. Mindestens zwei hatten mich unter stän 21 diger Beobachtung, man ermahnte mich, in der Nähe des Lagers zu bleiben und mich beim leisesten Hinweis auf Menschen zu verstecken. »Wenn sie dich fangen, werden sie dich für einen Teufel halten«, sagte mir Igel. »Dann sperren sie dich ein. Oder schlimmer noch, sie werden überprüfen wollen, ob sie recht haben, und werfen dich ins Feuer.« »Und du wirst brennen wie Kleinholz«, meinte Ragno. »Und es bleibt nur noch ein Rauchwölkchen von dir übrig«, ergänzte Zanzara, was Chavisory mit ihrem Tanz um das Lagerfeuer, der sie in großen Kreisen bis an den Rand der Finsternis trug, veranschaulichte. Als der erste harte Frost einsetzte, wurde eine kleine Gruppe auf nächtliche Exkursion ausgesandt, und sie kam mit Bündeln von Pullovern, Jacken und Schuhen zurück. Wir anderen, die wir zurückgeblieben waren, bibberten unter unseren Hirschfellen. »Da du der Jüngste bist«, sprach Igel zu mir, »darfst du dir als Erster Kleider und Stiefel aussuchen.« Smaolach, der vor dem Schuhberg stand, winkte mich heran. Ich bemerkte, dass seine eigenen Füße nackt waren. Ich stöberte in dem Sortiment aus Kinderlederschuhen, derben breiten Straßenschuhen, Leinenschuhen und dem sonderbaren einzigen Paar Stiefel, bis ich mich letztlich für ein Paar nagelneue schwarzweiße Schnürschuhe entschied, die meine Größe zu haben schienen. »Die werden dir die Knöchel aufreiben.« »Wie ist es mit denen hier?«, fragte ich und hielt ein Paar Tennisschuhe hoch. »Da könnte ich mich hineinzwängen.« Meine Füße fühlten sich feucht und kalt an auf dem gefrorenen Boden. 21 Smaolach wühlte herum und zog die hässlichsten braunen Schuhe hervor, die ich je gesehen hatte. Das Leder ächzte, als er die Sohle bog, und die Schuhbänder wanden sich wie Schlangen. Die Spitzen waren mit kleinen Stahlplatten beschlagen. »Glaub mir, die hier werden dich den ganzen Winter warm und trocken halten, außerdem sind sie robust.« »Aber die sind mir zu klein.« »Weißt du denn nicht, dass du geschrumpft bist?« Mit einem verstohlenen Grinsen zog er ein Paar dicke Wollsocken aus seiner Hosentasche. »Und die hier habe ich ganz speziell für dich mitgebracht.« Die ganze Schar japste anerkennend. Sie gaben mir den Zopfmusterpullover und eine Öljacke, die mich selbst an den nassesten Tagen trocken halten sollte. Als die Nächte länger und zunehmend kälter wurden, tauschten wir unsere Grasmatten und Einzelbetten gegen viele Tierhäute und gestohlene Decken ein. Nun schliefen wir alle zwölf zusammen, eng verschlungen zu einem wirren
Knäuel. Diese Behaglichkeit gefiel mir recht gut, auch wenn die meisten meiner Freunde einen fauligen Atem hatten oder einen üblen Geruch verströmten. Das lag sicherlich zum Teil an der veränderten Ernährung, von der sommerlichen Fülle über die Kargheit des Spätherbsts hin zu den Entbehrungen des Winters. Doch manche der armen Wesen hausten schon so lange im Wald, dass sie jegliche Hoffnung auf menschliche Gesellschaft aufgegeben hatten. Da einige sogar nicht einmal mehr den Wunsch danach verspürten, lebten sie wie Tiere, nur selten nahmen sie ein Bad oder reinigten sich die Zähne mit einem Stöckchen. Selbst ein Fuchs leckt sich das Hinterteil, doch manche Elben waren schmutzstarrende Biester. 4? Im ersten Winter sehnte ich mich danach, mit den Jägern und Sammlern morgens auf die Suche nach Nahrung und anderem Proviant zu gehen. Wie die Krähen, die sich im Morgengrauen und in der Abenddämmerung sammelten, genossen diese Diebe die Freiheit fern unserer Schlafstelle. Ich, der zurückblieb, musste Babysitter ertragen wie diese Kröte Beka und seine Freundin Onions oder die beiden Alten, Zanzara und Ragno, die sich den ganzen Tag zankten und Nussschalen und Steine nach Vögeln und Eichhörnchen warfen, die um unsere Vorräte herumstöberten. Mir war langweilig und kalt, und ich sehnte mich nach Abenteuern. An einem grauen Morgen hatte Igel sich entschlossen, im Lager zu bleiben und über mich zu wachen, und wie es das Glück wollte, leistete ihm mein Freund Smaolach Gesellschaft. Sie brauten einen Tee aus getrockneter Rinde und Minze, und wie wir so dem kalten Regen zuschauten, brachte ich hervor, was mir auf der Seele lag. »Warum lasst ihr mich nicht mit den anderen gehen?« »Meine große Angst ist, dass du davonläufst und versuchst, dorthin zurückzukehren, von wo du gekommen bist. Aber du kannst nicht zurück, Aniday. Du bist jetzt einer von uns.« Igel schlürfte seinen Tee und starrte auf einen entlegenen Punkt. Nach einer angemessenen Zeit, in der seine Weisheit in meinen Kopf sickern sollte, fuhr er fort: »Andererseits hast du dich als wertvolles Mitglied unseres Clans erwiesen. Du sammelst Brennholz, knackst Eicheln und gräbst ein neues Kloloch, wenn man dich darum bittet. Du lernst wahren Gehorsam und Ehrerbietung. Ich habe dich beobachtet, Aniday, du bist ein guter Schüler unserer Lebensart.« Smaolach sah in das erlöschende Feuer und sagte etwas in 22 einer Geheimsprache, in der alle Vokale und harten Konsonanten phlegmatisch klangen. Igel sann über jenen geheimen Satz nach, brütete dann über seinen eigenen Gedanken, bis er sie ausspuckte. Wie heute zerbrach ich mir schon damals ewig den Kopf, wie Leute denken, durch welchen Prozess sie die Rätsel des Lebens lösen. Nach Ende ihrer Beratung nahm Igel wieder die Erforschung des Horizonts auf. »Du kommst heute Nachmittag mit Luchog und mir«, ließ mich Smaolach mit einem komplizenhaften Zwinkern wissen. »Sobald die anderen zurückkehren, zeigen wir dir die nähere Umgebung.«
»Du solltest dich warm anziehen«, riet mir Igel. »Der Regen wird bald umschlagen.« Wie aufs Stichwort mischten sich die ersten Schneeflocken unter die Regentropfen, und innerhalb weniger Minuten fiel dichter Schnee. Wir saßen noch immer an unseren Plätzen, als die Elben-Schar, vom plötzlichen Wetterumschwung gejagt, sich zurück ins Lager schlängelte. Manchmal brach in unserem Landesteil der Winter früh ein, aber normalerweise hatten wir vor Weihnachten keinen Schnee. Als heftige Windstöße aufkamen, fragte ich mich zum ersten Mal, ob Weihnachten schon vorbei oder zumindest Thanksgiving schon verstrichen war, und bestimmt war Halloween schon gewesen. Ich dachte an meine Familie, die noch jeden Tag nach mir im Wald suchen würde. Vielleicht glaubten sie, ich wäre tot, was mich traurig stimmte und den Wunsch in mir weckte, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, dass es mir gut ginge. Zu Hause würde Mutter Schachteln mit Dekorationen auspacken, den Stall und die Krippe aufbauen und Girlanden um das Treppengeländer winden. Vor dem letzten Weihnachtsfest 23 hatte mich mein Vater mitgenommen, eine kleine Tanne für zu Hause zu schlagen, und ich überlegte, ob er nun ohne mich, ohne dass ich ihm dabei half, den richtigen Baum auszusuchen, traurig sein würde. Sogar meine Schwesterchen fehlten mir. Liefen sie schon, sprachen und träumten sie vom Weihnachtsmann; fragten sie sich, was aus mir geworden war? »Welcher Tag ist heute?«, fragte ich Luchog, als ich wärmere Sachen anzog. Er leckte an seinem Finger und hielt ihn in den Wind. »Dienstag?« »Nein, ich meine, welcher Tag des Jahres, welcher Tag des Monats?« »Keine Ahnung. Nach den Zeichen zu urteilen, könnte es Ende November, Anfang Dezember sein. Aber mit der Erinnerung ist es eine knifflige Sache. Wenn es um Zeit oder um das Wetter geht, kann man sich nicht auf sie verlassen.« Letztendlich war Weihnachten noch nicht vorbei. Ich nahm mir vor, von nun auf die Tage zu achten und die Feste auf angemessene Weise zu begehen, auch wenn die anderen sich um Feiertage und so etwas nicht scherten. »Weißt du, woher ich Papier und einen Stift bekommen könnte?« Er zwängte sich mühsam in seine Stiefel. »Was willst du denn damit?« »Ich möchte einen Kalender machen.« »Einen Kalender? Warum? Du brauchtest eine Menge Papier und unzählige Stifte, um hier draußen einen Kalender zu führen. Ich werde dir beibringen, wie man die Sonne am Himmel verfolgt und die Zeichen der Natur liest. Das reicht, um die Zeit zu erkennen.« 23 »Wenn ich aber ein Bild malen oder jemandem einen Brief schreiben will?« Luchog zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Schreiben? Wem? Die meisten hier haben völlig vergessen, wie man schreibt, und die es nicht vergessen haben, haben es überhaupt erst gar nicht gelernt. Es ist besser, zu
reden und nicht unentwegt aufzuschreiben, was du denkst und fühlst. Darin liegt eine Gefahr, Schätzchen.« »Aber ich male doch so gerne.« Wir gingen über die Lichtung auf Smaolach und Igel zu, die dort wie zwei hohe Bäume standen und sich berieten. Weil Luchog der Kleinste von uns allen war, hatte er Schwierigkeiten, mit mir Schritt zu halten. Während er neben mir herhopste, fuhr er mit seiner Rede fort. »Dann bist du also ein Künstler? Kein Stift, kein Papier? Weißt du, dass die Künstler früher ihr Papier und ihre Stifte selbst gemacht haben? Aus Tierhäuten und Vogelfedern. Und Tinte aus Ruß und Spucke. Genauso haben sie es gemacht, und noch früher haben sie in Steine geritzt. Ich bringe dir bei, wie du deine Spuren hinterlassen kannst, und dann beschaffe ich dir dieses Papier, wenn du willst, aber erst zu gegebener Zeit.« Als wir beim Anführer Igel angekommen waren, klopfte mir dieser auf die Schulter und sagte: »Du hast dir mein Vertrauen verdient, Aniday. Höre und beherzige, was die beiden dir sagen.« Als ich mit Luchog und Smaolach aufbrach, schaute ich mich noch einmal um und winkte. Die anderen Elben hockten eng beieinander, zusammengekauert wegen der Kälte, und ließen den Schnee auf sich herabrieseln, verrückte, der Natur ergebene Stoiker. 24 Endlich außerhalb des Lagers zu sein, war aufregend für mich, doch meine Begleiter gaben sich größte Mühe, meine Neugierde unter Kontrolle zu halten. Sie ließen mich eine Weile über die Pfade stolpern, bis meine Ungeschicklichkeit einen Taubenschwarm aus seiner Ruhe aufschreckte. Die Vögel stoben auf, ganz Kreischen und Federn. Smaolach legte einen Finger auf die Lippen, und ich verstand den Hinweis. Als ich ihre Bewegungen nachahmte, lief ich fast so anmutig wie sie, und wir schlichen so leise, dass ich das Fallen des Schnees lauter hörte als unsere Schritte. Die Stille hat ihren ganz eigenen Reiz, alle Sinne werden geschärft, vor allem das Gehör. Knackte ein Zweig in der Ferne, reckten sie sofort die Köpfe in die Richtung des Geräuschs und machten seine Ursache aus. Sie zeigten mir Verborgenes, das nur in der Stille zu entdecken war: einen Fasan, der sich den Hals verrenkte, um uns aus dem Dickicht zu beobachten, eine Krähe, die von Ast zu Ast hüpfte, und einen Waschbären, der in seiner Höhle schlummerte. Ehe das Tageslicht völlig schwand, stapften wir durch sumpfiges Gebiet zum moorigen Flussufer. Am Rande des Wassers sammelten sich Eiskristalle, und als wir genauer lauschten, hörten wir, wie es beim Gefrieren knisterte. Etwas weiter paddelte eine einsame Ente den Fluss hinunter, und jede Schneeflocke zischte, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Die Helligkeit löste sich auf wie ein Raunen und verschwand. »Hör doch.« Smaolach hielt den Atem an. Plötzlich ging der Schnee in Graupel über, die auf das Laub am Boden, auf Steine und tropfnasse Äste aufschlugen, eine kleine Symphonie der Welt der Natur. Wir ließen den Fluss hinter uns und suchten Schutz in einem immergrünen Gehölz. Das Eis umschloss jede einzelne Nadel mit einer
durchsichtigen Hülle. Luchog zog einen Lederbeutel hervor, der an einem Bänd 25 chen um seinen Hals hing, zuerst kam ein winziges Stück Papier zutage und dann eine dicke Prise getrockneter, brauner, grasähnlicher Fasern, die wie Tabak aussahen. Mit geschickten Fingern und einem flinken Lecken rollte er eine dünne Zigarette. Aus einem anderen Fach des Beutels zog er ein paar Zündhölzer hervor, zählte sie in seiner Hand und steckte alle bis auf eines zurück in das wasserdichte Beutelfach. Sein Daumennagel setzte das Zündholz in Brand, und eine Flamme flackerte auf, die er an das Ende der Zigarette hielt. Smaolach hatte ein Loch gegraben, das so tief war, dass es eine Schicht trockener Nadeln und Zapfen freilegte. Vorsichtig nahm er das brennende Zündholz aus den Fingerspitzen seines Freundes entgegen, hielt es in das Loch, und kurz darauf hatten wir ein Feuer, an dem wir unsere Handflächen und Finger wärmen konnten. Luchog reichte die Zigarette an Smaolach weiter, der einen tiefen Zug nahm und den Rauch lange im Mund behielt. Als er schließlich ausatmete, setzte die Wirkung so jäh und schlagartig ein wie die Pointe eines Witzes. »Lass den Jungen mal ziehen«, schlug Smaolach vor. »Ich weiß nicht, wie man raucht.« »Mach' es einfach so wie ich«, sagte Luchog etwas steif. »Aber was auch immer du tust, erzähl Igel nichts davon. Erzähl niemandem etwas davon.« Ich zog an der glimmenden Zigarette und musste wegen des Rauchs husten und würgen. Sie kicherten, und lange nachdem der letzte Rest inhaliert war, lachten sie noch immer. Die Luft unter den Zweigen des Immergrüns war von einem sonderbaren Duft erfüllt, der mich benommen, wirr machte und mir leichte Übelkeit bereitete. Luchog und Smaolach waren dem gleichen Rausch erlegen, aber sie wirkten nur zufrieden, wa25 ren aufgeweckt und friedvoll zugleich. Allmählich hörte es auf zu graupeln, und die Stille kehrte zurück wie ein verlorener Freund. »Hast du das gehört?« »Was ist das?«, fragte ich. Luchog machte mir Zeichen, still zu sein. »Zuerst horchen, ich will wissen, ob du das hörst.« Und Sekunden später drang das Geräusch an mein Ohr, und obwohl es mir vertraut war, stellten mich das Gehörte und sein Ursprung vor ein Rätsel. Luchog sprang auf und trieb seinen Freund an. »Das ist ein Auto, Schätzchen. Bist du schon einmal einem Wagen hinterhergejagt?« Ich schüttelte den Kopf und dachte, er müsse mich mit einem Hund verwechselt haben. Meine beiden Begleiter griffen nach meinen Händen, und los ging's, wir rannten schneller, als ich es je für möglich gehalten hatte. Die Welt schwirrte vorbei, flecken-und schattenartige Dunkelheit, wo zuvor Bäume gestanden hatten. Matsch und Schnee wirbelten auf und besprenkelten unsere Hosen, als wir über einen irrsinnig glitschigen Pfad flitzten. Als das Unterholz immer dichter wurde, ließen sie meine Hände los, und wir jagten
hintereinander über diesen Pfad. Äste schlugen mir plötzlich ins Gesicht, ich strauchelte und fiel in den Matsch. Als ich mich kalt, nass und schmutzig wieder aufrappelte, merkte ich, dass ich zum ersten Mal seit Monaten allein war. Angst überfiel mich, ich starrte und horchte angestrengt in die Welt und suchte verzweifelt nach meinen Freunden. Ein stechender Schmerz der Konzentration schoss mir durch den Kopf, ich drängte ihn aber weg, und dann hörte ich sie in der Ferne durch den Schnee laufen. Ich verspürte eine neue, magische Kraft in meinen Sinnen, denn ich konnte sie ganz genau sehen, obwohl mir im selben 5o Moment bewusst war, dass sie viel zu weit voraus und außer Sichtweite waren. Ich nahm die Verfolgung auf, indem ich den Weg vor mir visualisierte, und die Bäume und Zweige, die mich zuvor noch beirrt hatten, waren mir nun kein Hindernis mehr. Ich jagte durch den Wald wie ein Spatz, der durch eine Lücke im Zaun fliegt und ohne nachzudenken im rechten Augenblick die Flügel anlegt und hindurchgleitet. Als ich sie eingeholt hatte, fand ich sie hinter den rauen Kiefern kurz vorm Waldrand. Vor uns lag eine Straße, und auf dieser Straße hatte ein Auto angehalten, dessen Lichter die neblige Dunkelheit durchschnitten, abgebrochene Teile des metallischen Kühlergrills glänzten auf dem Asphalt. Durch die offene Fahrertür schien ein kleines Licht im leeren Wagen. Das Ungewöhnliche an dem Wagen zog mich zu ihm hin, doch die starken Arme meiner Freunde hielten mich zurück. Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf und trat ins Licht, eine dünne junge Frau in einem leuchtend roten Mantel. Sie hielt sich eine Hand an die Stirn, beugte sich langsam nieder und streckte ihren anderen Arm aus, mit dem sie fast eine dunkle Masse, die auf der Straße lag, berührte. »Sie hat einen Hirsch angefahren«, flüsterte Luchog, in dessen Stimme Traurigkeit mitschwang. Sie grübelte über dem hingestreckten Tier, strich sich das Haar aus dem Gesicht, während sie die andere Hand auf den Mund gepresst hielt. »Ist er tot?«, fragte ich. »Der Trick ist«, sagte Smaolach leise, »ihm ins Maul zu atmen. Er ist überhaupt nicht tot, sondern nur im Schock.« Luchog wisperte mir zu: »Wir warten, bis sie weg ist. Dann kannst du ihm Luft einflößen.« »Ich?« 5i »Weißt du es denn nicht? Du bist jetzt ein Elb, so wie wir, und du kannst alles, was wir können.« Der Begriff überwältigte mich. Ein Elb? Ich wollte auf der Stelle wissen, ob es stimmte; ich wollte meine Kräfte ausprobieren. Darum riss ich mich von meinen Freunden los und näherte mich aus dem Dunkel dem Hirsch. Die Frau stand mitten auf der verlassenen Straße und hielt in beide Richtungen Ausschau nach einem anderen Wagen. Sie bemerkte mich erst, als ich schon da war, mich über das Tier duckte und meine Hand auf seine warme Flanke
legte, dessen Puls genauso schnell raste wie meiner. Ich legte meine Hände um das heiße Maul des Hirschs und atmete hinein. Fast unmittelbar darauf hob er den Kopf, stieß mich beiseite und kam schwankend zum Stehen. Einen Augenblick lang schaute er mich an; dann schnellte zur Warnung sein Stummelschwanz wie eine weiße Standarte in die Höhe, und er sprang in die Nacht. Wenn man sagt, wir — das Tier, die Frau und ich — seien vom Lauf der Dinge überrascht gewesen, wäre das eine kolossale Untertreibung. Da sie fassungslos aussah, lächelte ich sie an. In diesem Augenblick riefen meine Gefährten laut zischelnd nach mir. »Wer bist du?« Sie schlang ihren roten Mantel enger um sich. Oder zumindest dachte ich, dies seien ihre Worte gewesen, denn ihre Stimme klang fremdartig, als spräche sie durch Wasser. Ich schaute zu Boden, da ich merkte, dass ich die richtige Antwort nicht wusste. Ihr Gesicht kam mir so nah, dass ich den Ansatz eines Lächelns auf ihren Lippen und das blasse Blaugrün ihrer Iris hinter ihren Brillengläsern erkennen konnte. Ihre Augen waren wunderschön. »Wir müssen gehen.« Aus der Dunkelheit griff eine Hand nach meiner Schulter. Smaolach zerrte mich in die Büsche, und 27 mir blieb nur die Frage, ob all das wohl ein Traum gewesen war. Wir verbargen uns in einem Dickicht, solange sie nach uns suchte, und endlich gab sie auf, stieg in ihren Wagen und fuhr davon. Damals wusste ich es nicht, aber sie war der letzte Mensch, den ich für über ein Dutzend Jahre sehen sollte. Die Rücklichter leuchteten im Zickzack über die Berge und durch die Bäume hindurch, bis nichts mehr zu sehen war. In mürrischem Schweigen machten wir uns auf den Rückweg zum Lager. Auf halber Strecke riet mir Luchog: »Du darfst niemanden erzählen, was heute Nacht geschehen ist. Halte dich von den Menschen fern, und begnüge dich mit dem, was du bist.« Unterwegs dachten wir uns eine Geschichte aus, die unsere lange Abwesenheit erklären sollte, erfanden etwas über das Wasser und die Wildnis, und einmal erzählt, hielt unsere Story stand. Aber das Geheimnis mit der Frau im roten Mantel habe ich nie vergessen, und zweifelte ich später an der obigen Welt, so rief mir die Erinnerung an jene strahlende, einsame Begegnung ins Gedächtnis, dass sie kein Märchen war. 27 Kapitel 5 Das Leben mit der Familie Day hatte zu einem ruhigen Gleichmaß gefunden. Mein Vater ging zur Arbeit, ehe einer von uns aus dem Schlaf erwachte, und diese goldene Morgenstunde zwischen seinem Weggehen und meinem Fußmarsch zur Schule war herrlich. Meine Mutter rührte am Herd den Haferbrei oder brutzelte ein Frühstück in der Pfanne; und die Zwillinge erkundeten auf unsicheren Beinen die Küche. Die großen Fenster rahmten die Außenwelt und hielten sie fern. Das Zuhause der Days war früher eine bewirtschaftete Farm, und obwohl sie die Landwirtschaft vor langer Zeit aufgegeben hatten, waren noch Spuren davon vorhanden. Eine alte Scheune, in Rot gestrichen, das zu einem dunklen Mauve aussäuerte, diente nun als Garage. Der Holzzaun um
das Grundstück fiel Latte für Latte in sich zusammen. Das Feld, ungefähr ein Acre groß, das früher im Grün der Maispflanzen leuchtete, lag brach und war nun ein Dickicht aus Dornengestrüpp, das Vater sich nur einmal im Jahr, im Oktober, die Mühe machte zu mähen. Die Days waren die Ersten in der Gegend, die die Landwirtschaft aufgegeben hatten, und im Laufe der Jahre machten es ihnen die umliegenden Nachbarn nach, sie verkauften Höfe und Ackerflächen an Bauunternehmer. Doch in meiner Kindheit war der Ort noch still und einsam. 28 Der Trick beim Heranwachsen ist, das Wachstum nie zu vergessen. Der geistige Part, Henry Day zu werden, forderte von mir höchste Aufmerksamkeit für jedes Detail seines Lebens, aber keine noch so große Vorbereitung auf den Wechsel kann die Familiengeschichte des Kindes bis ins kleinste Detail ergründen — Erinnerungen an vergangene Geburtstagsfeiern und andere Intimitäten, an die man vorgeben muss, sich zu erinnern. Eine Vorgeschichte ist recht leicht aufzuspüren; hält man sich nur lang genug in der Nähe eines Menschen auf, kann man alles über jedes Ereignis in Erfahrung bringen. Doch Zufälle und andere Schwachstellen decken die Risiken auf, wenn man die Identität eines anderen heuchelt. Zum Glück hatten wir nur wenig Besuch, denn das alte Haus lag einsam auf einem kleinen Stück Farmland. Kurz vor meinem ersten Weihnachtsfest, als meine Mutter sich gerade oben um die schreienden Zwillinge kümmerte und ich faul am Kamin saß, klopfte es an der Vordertür. Im Windfang stand ein Mann mit seinem Filzhut in der Hand, der Geruch einer kürzlich gerauchten Zigarre mischte sich mit dem leicht medizinischen Duft seines Haaröls. Er grinste, als erkenne er mich auf der Stelle. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. »Henry Day«, sagte er. »Wie er leibt und lebt.« Ich stand wie angewurzelt auf der Türschwelle und suchte in meinem Gedächtnis nach einem Anhaltspunkt, wer dieser Mann sein könnte. Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich leicht, dann ging er an mir vorbei in den Flur und warf einen verstohlenen Blick die Treppe hoch. »Ist deine Mutter da? Ist sie präsentabel?« Fast nie erschien jemand mitten am Tag zu Besuch, außer hin und wieder Farmersfrauen aus der Nachbarschaft oder Mütter 28 meiner Klassenkameraden, die mit einem frisch gebackenen Kuchen und dem neuesten Klatsch aus der Stadt kamen. Als wir Henry ausspioniert hatten, betrat nie ein anderer Mann als sein Vater oder der Milchmann das Haus. Er schleuderte seinen Hut auf das Sideboard und wandte mir wieder sein Gesicht zu. »Wie lang ist es her, Henry? Vielleicht am Geburtstag deiner Mutter? Du siehst nicht so aus, als wärest du auch nur ein Haarbreit gewachsen. Gibt dir dein Vater nichts zu essen?« Ich schaute den Fremden an und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Lauf die Treppe hoch und sag deiner Mama, dass ich hier bin. Mach schon, mein Junge.« »Wen soll ich ihr ankündigen?« »Was? Deinen Onkel Charlie natürlich.« »Aber ich habe doch gar keine Onkel.«
Der Mann lachte; dann runzelte sich seine Stirn, und sein Mund wurde ein schmaler Strich. »Geht es dir gut, Henry, Junge?« Er beugte sich zu mir herunter, um mir in die Augen zu sehen. »Ich bin nicht dein richtiger Onkel, mein Junge, sondern der älteste Freund deiner Mutter. Ein Freund der Familie sozusagen.« Meine Mutter rettete mich, da sie unaufgefordert die Treppe herunterkam. Kaum sah sie den Fremden, warf sie die Arme in die Luft und stürzte auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Ich nutzte die Gelegenheit und stahl mich davon. Eine knappe Sache, aber nicht so schlimm wie der Schrecken einige Wochen später. In diesen ersten Jahren besaß ich noch alle Kräfte eines Wechselbalgs und hörte wie ein Fuchs. Von jedem Zimmer des Hauses aus konnte ich die ungestörten Gespräche 29 meiner Eltern belauschen und hörte zufällig Daddys Argwohn bei einem ihrer Kopfkissengespräche mit an. »Hast du in letzter Zeit irgendetwas Seltsames an dem Jungen beobachtet?« Sie schlüpfte neben ihn ins Bett. »Etwas Seltsames?« »All dieses Gesinge im Haus.« »Er hat eine hübsche Stimme.« »Und diese Finger.« Ich schaute auf meine Hände, und im Vergleich mit den Fingern anderer Kinder waren meine unverhältnismäßig lang. »Ich glaube, er wird Pianist, Billy, wir sollten ihm Unterricht geben lassen.« »Und diese Zehen.« In meinem Bett liegend, richtete ich die Zehen auf. »Und er scheint den ganzen Winter über nicht einen Zentimeter gewachsen zu sein, und zugenommen hat er auch nicht.« »Er braucht nur ein wenig Sonne, das ist alles.« Der alte Mann rollte sich zu ihr. »Er ist ein seltsamer Kerl, kommt mir vor.« »Billy. . . halt.« In dieser Nacht fasste ich den Beschluss, ein richtiger Junge zu werden, und achtete von nun an mehr darauf, wie ich als normal gelten könnte. Hatte sich erst einmal ein solcher Fehler eingeschlichen, konnte man nicht mehr viel tun. Ich konnte ja wohl schlecht meine Finger und Zehen kürzer machen und weitere Skepsis auf mich ziehen, aber ich konnte jede Nacht meinen übrigen Körper etwas dehnen und genauso groß werden wie all die anderen Kinder. Auch machte ich es mir zum Prinzip, Dad nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Der Gedanke an das Klavier faszinierte mich als Möglichkeit, 29 mich bei meiner Mutter einzuschmeicheln. Hörte sie im Radio nicht die Schlager, drehte sie auf Klassik, vor allem sonntags. Bach ließ in meinem Kopf verschüttete Träumereien aufwirbeln, die das Echo einer fernen Vergangenheit heraufbeschworen. Aber ich musste einen Weg ausknobeln, mein Interesse zu bekunden, ohne dass Mutter merkte, dass ihre privaten Gespräche, wie leise oder intim sie auch waren, belauscht wurden. Zum Glück lieferten die Zwillinge die Lösung. Zu Weihnachten schickten ihnen meine weit entfernt lebenden Großeltern ein Spielzeugklavier. Es war zwar nicht
größer als ein Brotkorb, brachte aber dennoch eine blecherne Oktave zustande, und vom Neujahrstag an überzog dicker Staub die Tasten. Ich rettete das Spielzeug und saß im Kinderzimmer, wo ich fast erkennbare Melodien aus ferner Erinnerung spielte. Wie üblich waren meine Schwestern begeistert, und wie zwei verzückte Yogis saßen sie da, während ich mein Gedächtnis auf der begrenzten Klaviatur auf die Probe stellte. Mit dem Staubwedel in der Hand kam meine Mutter hinzu, blieb im Türrahmen stehen und lauschte aufmerksam. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie mich beobachtete, und als ich mit einem Tusch endete, kam ihr Applaus nicht ganz unerwartet. In der kurzweiligen Zeit zwischen den Hausaufgaben und dem Abendessen klimperte ich mir auf den Tasten so etwas wie eine Melodie zusammen und ließ allmählich mein angeborenes Talent durchschimmern, doch sie brauchte noch mehr Ermutigung. Mein Plan war locker und simpel. Ich ließ die Bemerkung fallen, ein halbes Dutzend Kinder meiner Schule hätte privaten Musikunterricht, auch wenn es in Wahrheit nur ein oder zwei gewesen sein mochten. Auf Autofahrten tat ich so, als wäre der Rand unter meinem Fenster eine Klaviatur, und spielte mit den 30 Fingern Takte, bis mein Vater mir befahl, damit aufzuhören. Grundsätzlich pfiff ich die ersten paar Takte von etwas Bekanntem, wie zum Beispiel Beethovens Neunter, wenn ich Mutter beim Abtrocknen des Geschirrs half. Ich bettelte nicht, sondern wartete ab, bis sie glaubte, es wäre ihre eigene Idee. Mein Plan ging auf, als meine Eltern am Samstag vor Henrys achtem Geburtstag mit mir in die große Stadt fuhren, um dort wegen Klavierstunden einen Mann aufzusuchen. An diesem Frühlingsmorgen ließen wir die Zwillinge bei den Nachbarn und setzten uns zu dritt in unseren Sonntagskleidern in Vaters Coupé. Wir fuhren an dem Städtchen vorbei, in dem ich die Schule besuchte, wo wir einkaufen und zur Messe gingen, und bogen auf den Highway in Richtung Großstadt. Glänzende Autos rauschten über den Asphalt, als wir beschleunigten und uns in das Band reiner Energie, das in beide Richtungen floss, einreihten. Wir fuhren schneller, als ich je in meinem Leben gefahren war, und schon fast hundert Jahre war ich nicht mehr in der Großstadt gewesen. Billy lenkte den '49er De Soto wie einen alten Freund, eine Hand am Steuer und den anderen Arm hinter den Sitz mit meiner Mutter und mir gelegt. Der Eroberer blickte uns von der Mitte des Lenkrads an, und wenn Dad in eine Kurve fuhr, schienen uns die Augen des Eroberers zu verfolgen. Als wir uns dem Rand der großen Stadt näherten, tauchten zuerst die Fabriken auf. Deren hohe Schlote stießen dunkle Rauchwolken aus, in deren Innerem glühten Hochöfen. Dann eine Biegung der Straße — und mit einem Mal ein Blick auf Gebäude, die sich bis in den Himmel erstreckten. Die unermessliche Größe der Innenstadt raubte mir den Atem, und je näher wir ihr kamen, desto höher ragte sie auf, bis wir plötzlich in verstopften Straßen standen. Die Schatten wurden intensiver und 30
dunkler. In einer Querstraße quälte sich ein Trolleybus voran, aus dessen Leitungsmasten Funken nach oben zu den Drähten stoben. Seine Türen öffneten sich wie ein Blasebalg, und heraus strömte eine Menschenschar in Frühlingsmänteln und mit Hüten; sie standen auf einer Betoninsel mitten auf der Straße und warteten, dass die Ampel umsprang. In den Schaufenstern des Warenhauses überlagerten sich Spiegelungen von Einkäufern und Verkehrspolizisten mit den neuesten Waren: Damenkleider und Herrenanzüge auf Kleiderpuppen, von denen ich mich anfangs täuschen ließ, da sie so lebendig wirkten, obwohl sie vollkommen unbeweglich dastanden. »Ich weiß gar nicht, warum du es für nötig hältst, wegen dieser Sache den ganzen Weg in die Stadt zu machen. Du weißt doch, dass ich ungern in die Stadt fahre. Hier finde ich nie einen Parkplatz.« Mutters rechter Arm schnellte vor. »Da ist einer. Haben wir ein Glück.« Als uns der Aufzug nach oben trug, langte mein Vater in seine Manteltasche, um eine Camel herauszuziehen, die er, kaum öffneten sich im fünften Stock die Türen, anzündete. Wir waren einige Minuten zu früh, und während die beiden darüber debattierten, ob sie schon hineingehen sollten oder nicht, schritt ich auf die Tür zu und trat ein. Mr. Martin war vielleicht kein Elb, aber er wirkte übersinnlich. Der große, dünne Mann, dessen weißes Haar sich in eine zottelige Jungenfrisur legte, trug einen abgewetzten, pflaumenfarbenen Anzug. Ein ausgewachsener und vornehm heruntergekommener Christopher Robin ohne seinen Bären Pu. Hinter ihm stand das schönste Instrument, das ich je gesehen hatte. Der prachtvolle, schwarz lackierte Flügel zog die gesamte Vitalität des Raums auf sich. Seine hellen Tasten bargen 31 das Versprechen der schönsten Klänge in sich. Ich war so sprachlos, dass ich erst einmal seine Frage nicht beantworten konnte. »Kann ich etwas für dich tun, junger Mann?« »Ich heiße Henry Day, und ich bin hier, um alles von Ihnen zu lernen, was Sie wissen.« »Mein lieber junger Mann«, entgegnete er mit einem Seufzer. »Ich fürchte, das ist unmöglich.« Ich ging zum Flügel und setzte mich auf den Hocker, Der Anblick der Tasten löste eine ferne Erinnerung an einen strengen deutschen Lehrer aus, der mir befahl, ich solle das Tempo erhöhen. Ich spreizte meine Finger so weit wie möglich, prüfte meine Spanne und legte sie nun, ohne einen zufälligen Ton hervorzurufen, auf das Elfenbein. Mr. Martin glitt hinter mich, schaute mir über die Schulter und betrachtete meine Handhaltung. »Hast du schon einmal gespielt?« »Vor langer Zeit. . . « »Spiel mir das mittlere C, Mr. Day.« Und ohne zu überlegen, drückte ich die Taste mit der Seite meines linken Daumens. Als meine Eltern den Raum betraten, machten sie mit einem höflichen Räuspern auf sich aufmerksam. Mr. Martin wirbelte herum und ging auf sie zu, um sie zu begrüßen. Wahrend sie sich die Hände schüttelten und sich
einander vorstellten, spielte ich Tonleitern von der Mitte nach auswärts. Die Töne des Flügels weckten Erinnerungen an Partituren, die ich auswendig kannte. Eine Stimme in meinem Kopf forderte »heißblütig, heißblütig« — mehr Leidenschaft, mehr Gefühl. »Sie sagen, er sei Anfänger.« »Ja«, erwiderte meine Mutter. »Ich glaube nicht, dass er je ein richtiges Klavier gesehen hat.« 32 »Dieser Junge ist ein Naturtalent.« Aus Spaß klimperte ich »Funkle, funkle, kleiner Stern«, wie ich es für meine Schwestern spielte. Ich war darauf bedacht, nur einen einzigen Finger einzusetzen, als wäre der Flügel nichts anderes als ein Spielzeug. »Das hat er sich selber beigebracht«, erzählte meine Mutter. »Auf einem winzigen Klavier, das man vielleicht in einem Elfenorchester finden könnte. Und er kann auch singen, singen wie ein Vogel.« Dad warf mir rasch einen schrägen Blick zu. Mr. Martin, der allzu sehr damit beschäftigt war, meine Mutter zu taxieren, entging dieser wortlose Austausch. Meine Mutter plapperte über all meine Talente, aber es hörte ihr niemand zu. In extrem langsamen und zerdehnten Takten übte ich meinen Chopin, der aber so getarnt war, dass selbst der alte Martin die Melodie nicht erkannte. »Mr. Day, Mrs. Day, ich bin bereit, Ihren Sohn aufzunehmen. Meine Mindestvoraussetzung ist aber acht Wochen Unterricht am Stück, mittwochnachmittags und samstags. Ich kann diesen Jungen unterrichten.« Dann nannte er mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, sein Honorar. Mein Vater zündete sich eine neue Camel an und trat ans Fenster. »Doch für Ihren Sohn«, wandte er sich nun an meine Mutter, »für Henry, einen geborenen Musiker, wenn ich denn je einen gehört habe, für ihn fordere ich nur den halben Stundensatz, aber Sie müssen sich für sechzehn Wochen verpflichten. Für vier Monate. Dann wissen wir, wie weit wir es bringen können.« Ich klimperte die Grundmelodie von »Happy Birthday«. Mein 6z Vater drückte seine Zigarette aus und klopfte mir auf die Schulter, um anzudeuten, dass wir uns nun verabschieden würden. Er ging zu meiner Mutter und zwickte sie sanft in den fleischigen Teil ihres Arms über dem Ellbogen. »Ich rufe Sie am Montag an«, sagte er. »Um halb vier. Wir werden darüber nachdenken.« Mr. Martin deutete eine Verbeugung an und sah mir gerade in die Augen. »Du hast Talent, junger Mann.« Auf dem Heimweg beobachtete ich im Rückspiegel, wie die Stadt zurückwich und schließlich verschwand. Mutter plauderte ohne Unterlass, erträumte eine Zukunft und plante unser Leben. Billy, dessen Hände das Steuer umschlossen, konzentrierte sich auf die Straße und sagte nichts. »Ich kaufe ein paar Legehennen, genauso mache ich es. Erinnerst du dich, dass du immer gesagt hast, du wolltest unser Haus wieder zu einer richtigen
Farm machen? Ich starte mit der Aufzucht von Küken, und dann verkaufen wir die Eier, damit geht die Rechnung bestimmt auf. Und Henry kann den Schulbus bis zur Straßenbahn nehmen, und die Straßenbahn bis in die Stadt. Könntest du ihn samstags zur Straßenbahn bringen?« »Ich könnte Hausarbeiten übernehmen, um die Fahrtkosten zu verdienen.« »Merkst du, Billy, wie gerne er lernen möchte? Er hat Talent, das hat Mr. Martin gesagt. Und der ist so kultiviert. Hast du jemals in deinem Leben so etwas wie diesen Flügel gesehen? Er muss ihn wohl jeden Tag polieren.« Mein Vater kurbelte sein Fenster ein Stück herunter, um tosende Frischluft hereinzulassen. »Hast du gehört, wie er >Happy Birthday< gespielt hat, so als 33 würde er schon immer spielen? Das ist es, was er will. Das ist es, was ich will. Liebling.« »Wann soll er üben, Ruth? Sogar ich weiß, dass man jeden Tag spielen muss, und ich kann mir vielleicht die Klavierstunden leisten, aber ein Klavier bestimmt nicht.« »In der Schule steht ein Klavier«, sagte ich. »Niemand spielt darauf. Ich bin sicher, wenn ich frage, ob ich bleiben dürfte nach. . . « »Was ist mit deinen Hausaufgaben und den Dingen im Haushalt, die du versprochen hast zu erledigen? Ich will nicht, dass deine Zensuren absacken.« »Neun mal neun ist einundachtzig. Separat buchstabiert sich S-E-P-A-R-A-T. Oppenheimer hat uns die Bombe gebaut, die die Japaner erledigt hat. Der Vater unseres Landes ist George Washington. Die heilige Dreifaltigkeit ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, und es ist ein heiliges Mysterium, das niemand kapiert.« »Gut, Einstein. Du kannst es versuchen, aber nur für acht Wochen. Nur um sicher zu sein. Und deine Mutter muss das Eiergeld dazulegen, und du musst ihr bei der Aufzucht der Hühner helfen. Bringen sie dir in deiner Schule auch so etwas bei?« Mit einem selten liebevollen und verwunderten Blick sah ihm Ruth ins Gesicht. Beide verzogen den Mund zu einem vertraulichen, verlegenen, angedeuteten Lächeln, dessen Bedeutung sich mir entzog. Zwischen ihnen sitzend, sonnte ich mich in der Wärme des Augenblicks und verspürte keinerlei Schuld, dass ich nicht ihr Kind war. Als die glücklichste aller glücklichen kleinen Familien brausten wir dahin. Als wir über eine hohe Brücke fuhren, die nicht weit von 33 unserem Zuhause den Fluss überspannte, sah ich weit unten am Ufer blitzartig sich etwas bewegen. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich eine Schar Kobolde, die hintereinander her über eine Lichtung liefen, mit den Bäumen und Büschen verschmolzen und dann im Nu verschwanden. Diese merkwürdigen Kinder bewegten sich wie Rehe. Meine Eltern waren dafür blind, doch bei dem Gedanken an jene Wesen dort unten wurde mir heiß, und Schweiß brach mir aus, der mich rasch frösteln ließ. Dass es sie noch immer gab, versetzte mir einen Schreck, denn ich hatte sie fast vergessen. Dass sie meine Vergangenheit
aufdecken könnten, verursachte mir Übelkeit. Und ich war kurz davor, meinen Vater zu bitten, am Straßenrand anzuhalten. Doch er zündete sich eine weitere Camel an und kurbelte das Fenster weiter herunter, und die frische Luft linderte meinen Brechreiz, wenn nicht gar meine Angst. Mutter brach den Bann. »Hat Mr. Martin nicht von uns verlangt, dass wir uns für vier Monate verpflichten?« »Ich rufe ihn am Montag an und werde es mit ihm aushandeln. Lass es uns erst einmal zwei Monate ausprobieren. Wir müssen doch sehen, ob es dem Jungen gefällt.« Ich hatte die nächsten acht Jahre Klavierunterricht, und es war die glücklichste Zeit all meiner Leben. Wenn ich früh zur Schule kam, ließen mich die Nonnen freudig am Piano im Speisesaal üben. Später durfte ich auch in die Kirche, um Orgelspielen zu lernen, und ich wurde der jüngste Ersatzorganist, den die Gemeinde je hatte. Das Leben bekam eine Ordnung, die Disziplin bereitete mir Freude. Jeden Morgen schlüpfte meine Hand unter die warmen Hühnerbäuche und sammelte die Eier ein, und jeden Nachmittag perfektionierte ich mit den Fingern auf den Tasten meine Technik. Die Fahrten in die Stadt mittwochs und sams 34 tags, fern der Farm und der Familie, hinein in die Zivilisation, erwiesen sich als erfrischend. Ich war nun nicht mehr verwildert, sondern ein kultiviertes Geschöpf auf seinem Weg, ein weiteres Mal ein Virtuose zu werden. 34 Kapitel 6 Beim Niederschreiben dieser Erinnerungen an meine frühen Jahre, bislang aus ihrer weiteren Entwicklung herausgelöst, hält mich — und so geschieht es jedem — die Zeit zum Narren. Meine Eltern, die meine Welt schon längst verlassen haben, leben wieder. Die Frau im roten Mantel, die ich nur ein einziges Mal gesehen habe, ist mir gegenwärtiger als alles, was ich gestern gemacht habe, oder ob ich zum Frühstück Disteln mit Honig oder Holunderbeeren gegessen habe. Meine Schwestern, nun im mittleren Alter, sind für mich noch immer kleine Kinder, zwei gleich aussehende Engelchen, mit Ringellöckchen, pausbäckig und hilflos wie junge Tiere. Die Erinnerung, die unser Leben mittels Vorahnungen und Gewissensbissen durcheinanderbringt, ist wohl unser einzig wahrer irdischer Trost, wenn die Zeit aus den Fugen gerät. Mein erster nächtlicher Ausflug in den Wald hatte mich erschöpft. Ich verkroch mich unter einen Berg aus Mänteln, Decken und Fellen, und am Mittag des nächsten Tages glühte ich vor Fieber. Zanzara brachte mir eine Tasse heißen Tee und eine Schale mit ekligem Gebräu und befahl mir: »Trink, trink, schlürf es rein.« Doch ich konnte nicht einen einzigen Schluck hinunterwürgen. Ganz gleich, wie viele Schichten sie auf mich häuften, 34 mir wurde nicht warm. Als die Nacht anbrach, verfiel ich durch den Schüttelfrost in unkontrollierbares Zittern. Meine Zähne klapperten, und meine Knochen schmerzten.
Der Schlaf brachte mir sonderbare, schreckliche Albträume, in denen alles gleichzeitig zu geschehen schien. Meine Familie drang in meine Träume ein. Hand in Hand stehen sie im Halbkreis um ein Loch im Boden herum, stumm wie Steine. Mein Vater umfasst meinen Knöchel und zieht mich aus dem hohlen Baum, in dem ich mich verstecke, und setzt mich auf den Boden. Dann greift er noch einmal hinein und reißt beide Zwillinge an den Knöcheln heraus und hält sie in die Luft, wobei die Mädchen vor Angst und Vergnügen kichern. Und meine Mutter ermahnt ihn: »Geh mit dem Jungen nicht so hart um. Wo bist du gewesen, wo bist du nur gewesen?« Dann bin ich auf der Straße, stehe im Scheinwerferlicht eines alten Fords, der Hirsch liegt ausgestreckt auf der Fahrbahn, er atmet flach, und ich stimme meinen Atem auf seinen Rhythmus ein, und die Frau im roten Mantel mit den blassgrünen Augen fragt: »Wer bist du?« Und sie neigt sich zu meinem Gesicht hinunter, nimmt mein Kinn in ihre Hand, um mich auf die Lippen zu küssen, und ich bin wieder ein Junge. Bin ich. Aber ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern. Aniday. Ein Mädchen namens Speck, ein verwildertes Kind wie ich, beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn, und ihre Lippen kühlen meine heiße Haut. Die Eichenblätter hinter ihr verwandeln sich in tausend Krähen, die sich alle gleichzeitig in die Lüfte schwingen und mit großen, wirbelnden, sirrenden Flügelschlägen davonfliegen. Stille kehrt wieder ein, nachdem der dröhnende Schwärm zum Horizont entschwindet und der Morgen anbricht. Ich jage den Vögeln hinterher, ich renne so schnell 35 und so verbissen, dass meine Haut auf beiden Seiten aufreißt und mein Herz gegen die Rippen trommelt, bis mich der totenähnliche Anblick eines trüb schwarzen Flusses bremst. Ich konzentriere mich mit ganzer Kraft und sehe auf die andere Seite hinüber, und dort am Ufer stehen Hand in Hand um ein Loch im Boden herum mein Vater und meine Mutter, die Frau im roten Mantel, meine beiden Schwestern und der Junge, der nicht ich bin. Sie stehen dort wie Steine, wie Bäume, und starren auf die Lichtung. Wenn ich meinen Mut zusammenreiße und ins Wasser springe, kann ich zu ihnen. Schwarzes Wasser hat mich einmal mitgerissen, daher bleibe ich am Ufer stehen und schreie mit einer Stimme, die man nicht hört, Worte, die niemand verstehen kann. Ich weiß nicht, wie lange ich im Fieberdelirium war. Eine Nacht, einen Tag oder zwei, eine Woche, ein Jahr? Oder länger? Als ich unter einem dampfigen, stählernen Himmel zu mir kam, fühlte ich mich geborgen und in Sicherheit, auch wenn meine Arme und Beine vor Steifheit pochten und meine Eingeweide sich kratzig rau und hohl anfühlten. Ragno und Zanzara, die über mich wachten, spielten Karten, wobei ihnen mein Bauch als Tisch diente. Weil es ihnen nicht gelungen war, ein vollständiges Kartendeck zu klauen, spielten sie ohne jede Logik. Sie hatten die Reste mehrerer Spiele zusammengeworfen, sodass sie letztendlich fast hundert Karten hatten. Beide hielten sie eine Unmenge in der Hand, die übrigen lagen wirr durcheinander auf meinem Bauch.
»Hast du eine cinque"!«, fragte Ragno. Zanzara kratzte sich am Kopf. Ragno, fünf Finger in die Luft haltend, rief ihm zu: »Cinque, cinque.« 36 »Fisch sie raus.« Und tatsächlich, er fischte, indem er Karte für Karte umdrehte, bis er die passende gefunden hatte, die er dann triumphierend hochhielt, bevor es wieder an Zanzara war zu spielen. »Du bist ein Schwindler, Ragno.« »Und du bist ein Blutsauger.« Ich hüstelte, um ihnen zu zeigen, dass ich bei Bewusstsein war. »Hey, sieh mal, unser Kleiner ist wach.« Zanzara legte seine feuchtkalte Hand auf meine Stirn. »Ich hole dir etwas zu essen. Vielleicht eine Tasse Tee?« »Du hast lange geschlafen, Kleiner. Das hast du davon, wenn du mit diesen Jungs einen Ausflug machst. Diese irischen Jungs taugen nichts.« Ich schaute mich um und suchte nach meinen Freunden, doch wie üblich waren zur Mittagszeit alle weg. »Welcher Tag ist heute?«, fragte ich. Zanzara ließ seine Zunge hervorschnellen und prüfte die Luft. »Ich würde sagen, Dienstag.« »Nein, ich meine, welcher Tag im Monat.« »Kleiner, ich weiß nicht einmal genau, welchen Monat wir haben.« Ragno warf ein: »Es muss auf das Frühjahr zugehen. DieTage werden länger, Zentimeter für Zentimeter.« »Habe ich Weihnachten verpasst?« Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten verspürte ich Heimweh. Die Jungen zuckten mit den Schultern. »Habe ich den Weihnachtsmann verpasst?« »Wen?« »Wie komme ich von hier weg?« 7" Ragno deutete auf einen Weg im Schatten zweier Immergrün. »Wie komme ich nach Hause?« Ihre Augen wurden glasig, sie nahmen sich bei der Hand, drehten sich um und hüpften davon. Ich wollte weinen, doch es kamen keine Tränen. Von Westen erhob sich ein Sturm, der dunkle Wolken über den Himmel jagte. Unter meine Decken gekauert, beobachtete ich das unbeständige Wetter, alleingelassen mit meinen Problemen, bis der Wind die anderen nach Hause wehte. Sie schenkten mir nicht mehr Beachtung als irgendeinem Klumpen am Boden, an dem man jeden Tag vorbeigeht. Igel machte ein kleines Feuer, indem er einen Feuerstein schlug, bis ein Funke das Anzündhölzchen in Brand setzte. Zwei der Mädchen, Kivi und Blomma, buddelten die beinahe leere Vorratsecke auf und zogen unsere kärgliche Kost hervor. Mit einigen wenigen geschickten Schnitten mit einem extrem scharfen Messer häuteten sie fein säuberlich ein halb gefrorenes Eichhörnchen. Speck bröselte getrocknete Kräuter in unsere alte Teekanne und füllte sie mit Wasser aus einer Zisterne. Chavisory röstete
Pinienkerne auf einem flachen Blech. Die Jungen, die nicht mit Kochen beschäftigt waren, zogen ihre nassen Schuhe und Stiefel aus und tauschten sie gegen die vom Vortag ein, die nun trocken und hart waren. Diese häuslichen Abläufe gingen ohne jede Hektik und mit spärlichster Unterhaltung einher; sie hatten aus den Vorbereitungen für die Nacht eine Kunst gemacht. Während das Eichhörnchen auf einem Spieß briet, sah Smaolach nach mir und war überrascht, als er mich wach und munter vorfand. »Aniday, du bist von den Toten zurückgekehrt.« Er reichte mir die Hand und zog mich auf die Beine. Als wir uns umarmten, drückte er mich so fest, dass meine Rippen 7i schmerzten. Den Arm um meine Schulter gelegt, führte er mich zum Feuer, wo einige der Elben mich mit Verwunderung und Erleichterung begrüßten. Beka warf mir ein höhnisches Grinsen zu, Igel zuckte bei meinem Hallo nur die Achseln und wartete, die Arme vor der Brust verschränkt, dass ihm serviert würde. Wir machten uns an das Eichhörnchen und die Pinienkerne, wobei unser Mahl wohl kaum den knurrenden Hunger aller Versammelten stillen konnte. Nach den ersten zähen Bissen schob ich meinen Blechteller beiseite. Alle Gesichter erglühten im Feuerschein, und das Fett auf den Lippen zauberte einen Glanz auf ihr Lächeln. Nach dem Abendessen gab mir Luchog ein Zeichen, ich solle näher rücken, und flüsterte mir ins Ohr, er habe eine Überraschung für mich versteckt. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen, die unseren Weg rosa färbten, verließen wir das Lager. Zwischen zwei großen Steinen klemmten vier kleine Umschläge. »Nimm sie«, ächzte er mit dem oberen schweren Stein im Arm, und schnell griff ich nach den Briefen, eher er seine Last wieder hinplumpsen ließ. Aus dem Inneren seines geheimen Beutels zog er einen gespitzten Bleistiftstummel, den er mir mit schicklicher Bescheidenheit überreichte. »Fröhliche Weihnachten, Schätzchen. Damit du anfangen kannst.« »Ist denn heute Weihnachten?« Luchog sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. »Du hast es nicht verpasst.« »Fröhliche Weihnachten«, sagte auch ich und riss meine Geschenke auf, wobei ich die wertvollen Umschläge ruinierte. Im Laufe der Jahre habe ich zwei dieser vier Briefe verloren, aber sie waren an sich und in sich nicht so wertvoll. In einem befand sich der Kontrollabschnitt eines Pfandbriefs mit einer Zahlungs 37 anweisung, und auf sein flehentliches Bitten hin bekam Luchog den Scheck, um ihn als Papierchen für seine selbst gedrehten Zigaretten verwenden zu können. Die andere verloren gegangene Post war ein geharnischter Brief an den Herausgeber der örtlichen Tageszeitung, in dem Harry Truman angeprangert wurde. Da Vorder- und Rückseite von Rand zu Rand mit einer unleserlichen Handschrift voll gekritzelt waren, erwiesen sie sich als nutzlos. Die beiden anderen boten viel mehr weißen Raum, und bei einem waren die Zeilen so weit auseinander, dass ich dazwischen schreiben konnte.
2. Febr. 1930 Liebster, unsere gemeinsame Nacht bedeutet mir so viel, dass ich nicht verstehen kann, warum du mir seit jener Nacht nicht geschrieben oder mich angerufen hast. Ich bin verwirrt. Du hast gesagt, dass du mich liebst, und ich liebe dich auch, aber dennoch hast du meine letzten drei Briefe nicht beantwortet, und bei dir zu Hause geht niemand ans Telefon und auch nicht im Büro. Es entspricht nicht meiner Gewohnheit zu tun, was wir im Auto getan haben, sondern weil du mir gesagt hast, du liebst mich und leidest solche Pein und Höllenqualen, wie du es immer wieder gesagt hast. Ich wollte dich wissen lassen, dass ich nicht eine solche Art Mädchen bin. Ich bin die Art Mädchen, die dich liebt, und die Art Mädchen, die auch von einem Gentleman erwartet, dass er sich wie ein Gentleman benimmt. Bitte schreib mir zurück, oder besser noch, ruf mich an. Ich bin nicht wütend, eher verwirrt, aber ich werde verrückt, wenn ich nichts von dir höre. Ich liebe dich, weißt du das? In Liebe Martha 38 Damals betrachtete ich diesen Brief als den wahrhaftigsten Ausdruck echter Liebe, der mir je begegnet war. Er war schwer zu entziffern, da Martha schräg schrieb, aber zum Glück in großen Buchstaben, die der Druckschrift ähnelten. Der zweite Brief verblüffte mich mehr als der erste, aber auch er nutzte nur drei Viertel der Vorderseite des Blatts. . Februar 1910 Liebe Mutter, lieber Vater, nur unzulänglich können Worte dem Kummer und dem Mitgefühl Ausdruck verleihen, die ich euch zum Verlust der lieben Nana übersende. Sie war eine gute Frau, und eine nette, und nun ist sie an einem besseren Ort. Es tut mir leid, dass ich nicht nach Hause kommen kann, aber ich habe nicht genügend Geld für die Reise. Daher muss ich euch all meinen aufrichtigen Schmerz durch diesen höchst unzureichenden Brief mitteilen. Kalt und unglücklich rückt das Ende des Winters näher. Das Leben ist nicht gerecht, denn ihr habt Nana verloren und ich nahezu alles. Euer Sohn Als die Mädchen im Lager von den beiden Briefen erfuhren, bestanden sie darauf, dass sie laut vorgelesen würden. Sie waren nicht nur neugierig auf ihren Inhalt, sondern auch auf meine angebliche Lesefähigkeit, denn fast niemand im Lager gab sich noch die Mühe zu lesen oder zu schreiben. Einige hatten es nie gelernt, und andere hatten es lieber vergessen. Wir saßen im Kreis um das Feuer herum, und ich las vor, so gut ich konnte, auch wenn ich nicht alle Wörter ganz begriff oder ihre Bedeutung verstand. »Was denkt ihr über >Liebster«, fragte Speck in die Runde, nachdem ich fertig gelesen hatte. 38 »Er ist ein Schuft. Er ist ein Schweinehund«, antwortete Onions.
Kivi, deren Gesicht im Schein des Feuers erstrahlte, strich sich die blonden Locken zurück und seufzte. »Ich verstehe nicht, warum >Liebster< nicht an Martha zurückschreiben will. Aber das ist nichts im Vergleich mit den Problemen von >Euer Sohn<.« »Ja«, warf Chavisory ein. »Vielleicht sollten >Euer Sohn< und Martha heiraten, und dann leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage.« »Na, ich hoffe, Mutter und Vater finden Nana«, fügte Blomma an. Bis in die Nacht dauerte dieses angeregte, verwirrende Gespräch. Sie dachten sich poetische Geschichten über die andere Welt aus. Die Rätselhaftigkeit ihrer Anteilnahme, ihrer Sorgen und Kümmernisse verblüffte mich, zumal die Mädchen Einfühlungsvermögen zeigten für Dinge, von denen wir keine Ahnung hatten. Dennoch lag mir daran, dass sie weggingen, damit ich mich endlich dem Schreiben widmen könnte. Doch die Mädchen blieben, bis das Feuer zu Asche verfiel; dann kuschelten sie sich zusammen unter die Decken, wo sie ihr Gespräch fortsetzten und über das Schicksal der Schreibenden, ihre Themen und ihre anvisierten Leser sinnierten. Ich würde etwas warten müssen, bevor ich die Blätter benutzen konnte. Die Nacht wurde bitterkalt, und schon bald schmiegten wir alle zwölf uns zu einem dichten Knäuel aus Körpergliedern zusammen. Als der Letzte von uns sich Po wackelnd unter die Matte schob, fiel mir plötzlich wieder ein, welcher Tag heute war. »Fröhliche Weihnachten«, sagte ich, doch mein Festtagsgruß erntete nur Gespött. »Klappe!« und »Schlaf jetzt endlich«. In den langen Stunden bis zum Morgengrauen traf mich ein Fuß am Kinn, bohrte sich 39 ein Ellbogen in meine Leiste, und ein Knie stieß gegen meine schmerzenden Rippen. In einer dunklen Ecke des Gewirrs stöhnte ein Mädchen auf, als Beka sich auf sie legte. Mit den Briefen an meine Brust gedrückt wartete ich, ihre Ruhelosigkeit ertragend, auf den Morgen. Die aufgehende Sonne warf ihr Licht auf hohe Zirruswolken und färbte sie in einem Spektrum, das am östlichen Rand weiß strahlend begann und sich zu sanften Pastellfarben auffächerte. Aste teilten den Himmel wie ein Kaleidoskop in Segmente. Als die Sonne rot glühend hochstieg, veränderten sich die Farbschattierungen, bis sich alles in Blau und Weiß auflöste. Wach und auf den Beinen, genoss ich das Licht, das nun hell genug war, um zu zeichnen und zu schreiben. Ich zog meine Blätter und den Bleistift hervor, legte mir einen kalten, flachen Stein auf den Schoß und faltete den Pfandbrief bescheid in Viertel. An den Kniffen entlang zeichnete ich ein Kreuz und erhielt so Felder für vier Zeichnungen. Der Stift in meiner Hand fühlte sich merkwürdig und doch vertraut an. In das erste Feld ließ ich aus der Erinnerung meine Mutter, meinen Vater, meine beiden Schwesterchen und mich wieder erstehen, Ganzkörperbildnisse in gerader Linie nebeneinander. Als ich das Ergebnis prüfend betrachtete, sahen sie eher plump aus, und ich war von mir enttäuscht. In das nächste Feld zeichnete ich die Straße im Wald mit dem Hirsch, der Frau, dem Auto und Smaolach und Luchog aus einer Perspektive. Das Licht zum Beispiel stellte ich durch zwei gerade Striche dar, die von einem Kreis am Auto ausgingen und sich bis zu den gegenüberliegenden Ecken des
Rands fortsetzten. Der Hirsch sah eher wie ein Hund aus, und ich wünschte mir sehnlichst, der gelbe Bleistift hätte einen Radiergummi. In das dritte Feld: einen flachen, üppig geschmückten Christbaum und einen Haufen Ge 40 schenke, die auf dem Boden verstreut lagen. In das letzte Feld malte ich das Bild eines ertrinkenden Jungen. Rundum verschnürt, versinkt er in einer Wellenlinie. Als ich später am Nachmittag Smaolach das Blatt zeigte, nahm er mich bei der Hand und zerrte mich schnell in ein Versteck hinter einem wild wuchernden Ilexdickicht. Er spähte in alle Richtungen, um sicher zu sein, dass wir allein waren, dann faltete er das Blatt sorgsam zusammen und gab es mir zurück. »Du musst vorsichtiger sein mit dem, was du zeichnest.« »Wieso?« »Wenn Igel es herausfindet, wirst du wissen, wieso. Du musst dir klarmachen, Aniday, dass er keinerlei Kontakt mit der anderen Seite duldet, und diese Frau...« »Die im roten Mantel?« »Er fürchtet, wir könnten entdeckt werden.« Smaolach griff nach dem Blatt und stopfte es mir in die Manteltasche. »Manches sollte man besser für sich behalten«, sagte er, winkte mir zu und ging pfeifend davon. Das Schreiben erwies sich als noch quälender als das Zeichnen. Bei manchen Buchstaben — B, G, R, W — bekam ich Krämpfe in der Hand. In diesen frühen Schriftbildern neigte sich mein K nach hinten, das S geriet auf Abwege, das F wurde manchmal zufällig ein E, und ich machte andere Fehler, die mich heute, wo ich auf meine ersten Jahre zurückblicke, amüsieren. Doch damals löste meine Handschrift in mir viel Scham und Verlegenheit aus. Doch schlimmer noch als das Alphabet waren die Wörter. Ich hatte keinen Schimmer, wie man sie buchstabierte, und von Zeichensetzung hatte ich auch keine Ahnung. Mein Wortschatz ärgerte mich, ganz zu schweigen vom Stil, von der Ausdrucksweise, 40 der Satzstruktur, den Varianten, Adjektiven und Adverbien und ähnlichen Dingen. Der Akt des Schreibens selbst dauerte ewig. Sätze mussten Bruchstück für Bruchstück zusammengebaut werden, und waren sie fertig, schienen sie nicht mehr als eine grobe Andeutung dessen, was ich empfand oder ausdrücken wollte, ein jämmerlicher Zaun quer über ein weißes Feld. Doch unbeirrt fuhr ich an jenem Morgen fort, mit irgendwelchen Worten, über die ich verfügte, alles aufzuschreiben, an das ich mich erinnerte. Gegen Mittag enthielten die weißen Seiten der Briefe die Geschichte meiner Entführung und meine Abenteuer sowie die verschwommensten Erinnerungen an mein Leben, bevor ich an diesen Ort kam. Ich hatte bereits mehr vergessen, als mir in Erinnerung geblieben war — meinen eigenen Namen, die Namen meiner Schwestern, mein geliebtes Bett, meine Schule, meine Bücher, jede Ahnung von dem, was ich einmal werden wollte, wenn ich erwachsen sein würde. All das sollte mir zu gegebener Zeit wieder zurückgegeben werden, aber ohne Luchögs Briefe wäre ich für immer verloren gewesen. Kaum hatte ich das
letzte Wort in die letzte freie Ecke gequetscht, suchte ich nach ihm. Da ich nun ohne Papier war, stellte sich mir die Aufgabe, Nachschub aufzutreiben. 7» Kapitel 7 Mit zehn Jahren fing ich an, vor normalen Leuten aufzutreten. Aus Wertschätzung für die Nonnen, die mir erlaubten, das Schulklavier zu benutzen, stimmte ich zu, als Auftakt bei der jährlichen Weihnachtsfeier zu spielen. Meine Musik sollte die Eltern zu ihren Plätzen geleiten, während die Kinder ihre Mäntel und Schals ablegten und ihre Elfen-und Dreikönigskostüme anzogen. Mein Lehrer Mr. Martin und ich stellten ein Programm mit Bach, Strauss und Beethoven zusammen, das zu Ehren von Arnold Schönberg, der im Jahr zuvor gestorben war, mit einem der »Sechs kleinen Klavierstücke« endete. Wir hatten das Gefühl, dass dieses letzte, »moderne«, Stück, das unserem Publikum wohl kaum vertraut war, meine ganze Bandbreite zeigte, ohne allzu großtuerisch zu wirken. Am Tag vor der Weihnachtsfeier ging ich nach der Schule mit den Nonnen das DreißigMinuten-Programm durch, und die Stückeauswahl brachte mir nur Stirnrunzeln und finstere Blicke von unterhalb ihrer Schleier ein. »Das ist wunderbar, Henry, wirklich ganz außergewöhnlich«, sagte die Direktorin. Sie war die Mutter Oberin dieser Krähenbande, die den Laden schmiss. »Aber dieses letzte Lied...« »Von Schönberg?« 41 »Ja, sehr interessant.« Sie stand auf, lief vor den Schwestern hin und her und suchte nach dem richtigen, feinfühligen Ton. »Kennst du nicht noch irgendetwas anderes?« »Etwas anderes, ehrwürdige Mutter?« »Ja. Etwas, das vielleicht mehr zur Jahreszeit passt?« »Zur Jahreszeit passt, ehrwürdige Mutter?« »Etwas, das die Leute vielleicht kennen?« »Ich glaube, ich verstehe nicht.« Sie drehte sich um und fragte mich nun direkt: »Kennst du nicht irgendwelche Weihnachtslieder} Ein Kirchenlied? >Stille Nacht< vielleicht? Oder >Hark! The Herald Angels<, ich glaube, das ist von Mendelssohn. Wenn du Beethoven spielen kannst, kannst du auch Mendelssohn spielen.« »Sie wollen Weihnachtslieder?« »Nicht nur Kirchenlieder.« Noch immer ging sie hin und her und strich dabei ihr Gewand glatt. »Du könntest doch >Jingle Bells< oder >White Christmas< spielen.« »Das ist aus Holiday Inn«, warf eine der Nonnen ein. »Bing Crosby, Fred Astaire und Marjorie Reynolds. Oh, aber dafür bist du zu jung.« »Habt ihr Beils of St. Mary gesehen?«, fragte die Lehrerin der dritten Klasse ihre Mitschwestern. »War er da nicht hervorragend?« »Boys Town hat mir wirklich gut gefallen — ihr wisst schon, der mit Mickey Rooney.« Die Mutter Oberin, mit den Perlen ihres Rosenkranzes klickend, unterbrach sie. »Du wirst doch bestimmt ein paar Weihnachtslieder kennen.«
Niedergeschlagen ging ich an jenem Abend nach Hause und lernte die leichte Kost, indem ich auf der Klaviatur übte, die 42 mir mein Vater aus Papier ausgeschnitten hatte. Bei der Feier am nächsten Abend kürzte ich mein ursprüngliches Programm um die Hälfte und ergänzte es am Ende um einige Weihnachtslieder. Den Schönberg behielt ich bei, selbstverständlich schlug er wie eine Bombe ein. Die Weihnachtssachen spielte ich brillant und erntete donnernden Applaus. »Kretins«, flüsterte ich vor mich hin, als ich ihre Lobhudelei entgegennahm. Während meiner wiederholten Verbeugungen wallte in mir Abscheu auf über ihr lautes Klatschen und Pfeifen. Doch als ich dann in das Gesichtermeer sah, erkannte ich allmählich meine Eltern und Nachbarn, alle glücklich und fröhlich, die mir ihre aufrichtige Anerkennung für die Feiertagsstimmung zollten, die durch die vorhersehbaren Klänge ihrer alten Lieblingslieder entstanden war. Kein Geschenk wird so freudig aufgenommen wie das erhoffte. Und je länger der Applaus anhielt, desto schwindliger wurde mir. Mein Vater sprang auf, ihm stand ein echtes Lächeln im Gesicht. Ich wurde beinahe ohnmächtig. Ich wollte mehr. Der Glanzpunkt dieser Erfahrung bestand in der einfachen Tatsache, dass mein musikalisches Talent ein menschliches war. Im Wald gab es keine Klaviere. Und in dem Maße, wie mir meine magischen Kräfte allmählich schwanden, nahm meine Kunstfertigkeit zu. Ich fühlte mich immer entfernter von denen, die mich hundert Jahre lang gefangen gehalten hatten, und meine einzige Hoffnung und flehentliche Bitte war, dass sie mich in Ruhe ließen. Seit dem Abend meines ersten Auftritts kam es mir vor, als wäre ich zwiegespalten: Die eine Hälfte von mir machte weiter mit Mr. Martin und seinem Schwerpunkt auf dem klassischen Kanon, ich spielte die alten Komponisten, bis ich sie hämmern konnte wie Thor oder aber den Tasten mit leichtestem Anschlag ein Flüstern entlockte. Meine andere Hälfte erweiterte 42 mein Repertoire und überlegte, was das Publikum wohl gerne hören wolle, wie etwa die schmachtenden Schlager im Radio, die meine Mutter so sehr mochte. Ich liebte sowohl die Fugen des Wohltemperierten Klaviers als auch »Heart and Soul«, und sie gingen nahtlos ineinander über. Da ich jedoch Experte für Gassenhauer war, konnte ich Gelegenheitsjobs annehmen, wenn sie sich boten, und bei Schul- und Geburtstagsfesten spielen. Mr. Martin protestierte zunächst gegen die Bastardisierung meines Talents, doch ich erzählte ihm die rührselige Geschichte, dass ich das Geld für die Unterrichtsstunden bei ihm brauchte. Auf der Stelle kürzte er sein Honorar um ein Viertel. Mit dieser Ersparnis und dem Geld, das ich verdiente, sowie dem zunehmend lukrativeren Eier-und Hühnerhandel meiner Mutter konnten wir es uns leisten, pünktlich zu meinem zwölften Geburtstag ein gebrauchtes Klavier zu kaufen. »Was ist das denn?«, fragte mein Vater, als er an dem Tag nach Hause kam, an dem das Klavier, dessen schöne Mechanik in einem Rosenholzkorpus steckte, angeliefert wurde.
»Das ist ein Klavier«, entgegnete meine Mutter. »Das sehe ich. Wie kommt es hierher?« »Klaviertransport.« Er schnippte eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie mit einer einzigen flinken Bewegung an. »Ruthie, ich weiß, dass es jemand hergebracht hat. Aber wie kommt es, dass es hier ist?« »Für Henry. Damit er üben kann.« »Wir können uns kein Klavier leisten.« »Wir haben es gekauft. Ich und Henry.« »Mit dem Geld, das ich mit Spielen verdient habe«, fügte ich hinzu. 43 »Und mit den Hühnern und Eiern.« »Ihr habt es gekauft?« »Auf Mr. Martins Rat. Zu Henrys Geburtstag.« »Tja, dann — herzlichen Glückwunsch«, sagte er und verließ den Raum. Ich spielte, wann immer ich konnte. Von der Mathematik der Noten verzaubert, verbrachte ich in den nächsten Jahren jeden Tag Stunden an den Tasten. Die Musik riss mich mit wie die Strömung eines Flusses und trieb mein Ichbewusstsein immer tiefer in mein Inneres, als gäbe es in der Welt keine anderen Klänge als diese. In diesem ersten Sommer dehnte ich meine Beine um einige Zentimeter mehr als nötig, damit ich die Pedale des Klaviers leichter erreichen konnte. Zu Hause, in der Schule, in der Stadt übte ich, die Finger zu spreizen, so weit es nur irgend ging. Meine Fingerkuppen wurden geschmeidig und äußerst empfindsam. Meine Schultern bogen sich nach unten und nach vorn. Ich träumte in Wogen von Tonleitern. Je mehr mein Können und mein Verständnis sich entwickelten, desto mehr spürte ich die Kraft der musikalischen Phrasierung in meinem Alltagsleben. Der Trick besteht darin, die Leute dazu zu bringen, die verhaltenen Taktschläge und die anscheinend unbedeutenden Pausen zwischen den Noten zu hören, die Abwesenheit von Tönen zwischen den Tönen. Wenn man mit einer skrupellos präzisen Logik phrasiert, kann man alles spielen — oder sagen. Die Musik lehrte mich große Selbstbeherrschung. Mein Vater konnte es nicht ausstehen, mir beim Üben zuzuhören, vielleicht weil ihm die Meisterhaftigkeit bewusst wurde, die ich erreicht hatte. Er verließ den Raum, zog sich in die entfernteste Ecke des Hauses zurück oder fand einen Vorwand, um wegzugehen. Wenige Wochen, nachdem Mutter und ich das Kla 8^ vier gekauft hatten, brachte er unseren ersten Fernseher mit nach Hause, und eine Woche später kam ein Mann und installierte eine Antenne auf dem Dach. Abends sah mein Vater You Bet Your Life oder The fache Gleason Show und befahl mir, das Klavierspielen zu unterlassen. Doch immer öfter ging er einfach weg. »Ich fahre 'ne kleine Runde.« Er hatte bereits seinen Hut auf. »Du wirst doch hoffentlich nichts trinken.« »Vielleicht mache ich unterwegs Halt und trink einen mit den Jungs.« »Komm nicht so spät.«
Weit nach Mitternacht taumelte er herein, singend oder etwas vor sich hin murmelnd oder fluchend, wenn er auf ein Spielzeug der Mädchen trat oder sich im Vorbeigehen das Schienbein am Klavierhocker stieß. Sobald es das Wetter erlaubte, arbeitete er jedes Wochenende draußen, erneuerte die Fensterläden, strich das Haus und zog einen neuen Zaun um den Hühnerstall. Er hielt sich fern vom häuslichen Herd, war nicht bereit, der Musik zuzuhören. Mit Mary und Elizabeth spielte er den vernarrten Vater, schaukelte sie immer noch auf seinen Knien, machte viel Aufhebens um ihre Locken und Kleider, schwänzelte vor dem neuesten gekritzelten Bild herum oder der Hütte aus Eisstielen, setzte sich an den Tisch, um mit ihnen Tee zu trinken, und Ähnliches. Doch mich sah er kühl an, und da ich keine Gedanken lesen kann, vermute ich, dass er mit meiner Leidenschaft für die Musik haderte. Womöglich hatte er das Gefühl, die Kunst verderbe mich und lasse mich weniger Junge sein. Wenn wir zusammen sprachen, tadelte er mich meist für eine versäumte Arbeit im Haushalt oder schimpfte wegen einer nicht ganz erstklassigen Note in einem Test oder für einen Aufsatz. 44 Als er mich eines Samstags von der StraßenbahnhÄltestelle nach Hause fuhr, bemühte er sich, mit mir ins Gespräch zu kommen und zu verstehen. Im Radio wurde ein Footballspiel zwischen den Fighting Irish of Notre Dame und der Navy übertragen. Einer der Mannschaften gelang auf spektakuläre Weise ein Touchdown. »Wie steht's damit? Hast du das gehört?« Ich sah zum Fenster hinaus und klimperte mit meiner rechten Hand eine Melodie auf die Armlehne. »Magst du Football überhaupt?« »Weiß nicht. Ist schon in Ordnung.« »Magst du denn irgendeinen Sport? Baseball? Basketball? Möchtest du eines Tages auf die Jagd gehen?« Ich sagte nichts. Der bloße Gedanke, allein mit Billy Day und einem Gewehr unterwegs zu sein, ängstigte mich. Da draußen im Wald gibt es Teufel. Wir schwiegen ein paar Meilen. »Wie kommt es nur, dass es Tag und Nacht für dich nichts anderes gibt als das Klavier?« »Ich mag Musik. Und ich bin gut.« »Ja, das bist du. Aber ehrlich, hast du nie daran gedacht, zur Abwechslung mal etwas anderes auszuprobieren? Weißt du denn nicht, dass es im Leben mehr gibt als Musik?« Wäre er mein richtiger Vater gewesen, hätte er mich auf ewig enttäuscht. Der Mann hatte keine Vision, keine Leidenschaft für das Leben, und ich war dankbar, dass wir nicht richtig verwandt waren. Der Wagen fuhr unter schattigen Bäumen hindurch, und die Windschutzscheibe verdunkelte sich. Ich sah in meinem eigenen Abbild das gespiegelte Bild von Henrys Vater, aber es hatte nur den Anschein, als wäre ich sein Sprössling. Vor langer Zeit hatte ich einen richtigen Vater. Ich konnte seine Stimme hören: 8>
»Ich erkenne dich! Du willst nur meinen Sohn!« Seine Augen tanzten wild hinter seinen eulenhaften Brillengläsern. Und dann verschwand die phantomartige Erinnerung. Ich spürte, dass Billy Day mich aus den Augenwinkeln beobachtete und sich wohl fragte, was um Himmels willen geschehen war. Wie bin ich nur zu einem solchen Sohn gekommen? »Ich glaube, ich fange an, Mädchen zu mögen«, preschte ich vor. Er lächelte und strubbelte mir durchs Haar. Er zündete sich eine neue Camel an, ein untrügliches Zeichen, dass ihm meine Äußerung gefiel. Das Thema meiner Männlichkeit kam nie wieder zur Sprache. Zufällig war mir eine grundlegende Wahrheit rausgerutscht. Mädchen spielten in allen Lebenslagen eine Rolle. Ich bemerkte sie in der Schule, liebäugelte mit ihnen in der Kirche und spielte für sie bei jedem öffentlichen Konzert. Plötzlich waren die Mädchen da, als wären sie aus dem Dunkel hervorgesprungen, und nichts war mehr wie zuvor. Ich verliebte mich zehnmal am Tag: in eine ältere Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit einem grauen Mantel an einer grauen Straßenecke; in die Buchhändlerin mit dem rabenschwarzen Haar, die jeden Dienstagmorgen kam, um ein Dutzend Eier zu kaufen. In seilspringende Mädchen mit Pferdeschwanz. In Mädchen mit charmantem Akzent. In Mädchen mit Söckchen und Petticoat-Röcken. In der sechsten Klasse inTess Wodehouse, die ihre Zahnklammer hinter einem Lächeln zu verbergen versuchte. In Blondie auf der Witzseite; in Cyd Charisse; in Paulette Goddard; in Marilyn Monroe. In alles, was Kurven hatte. Anziehungskraft geht über den äußeren Schein hinaus, sie hat etwas damit zu tun, wie man der Welt entgegentritt. Manche Frauen scheinen durch einen inneren Kreisel angetrieben zu werden. Andere gleiten durchs Leben wie auf Schlitt 45 schuhen. Manche Frauen teilen ihr qualvolles Leben durch den Blick mit; andere kreisen einen mit ihrem melodiösen Lachen ein. Mit der Art, wie sie zu ihren Kleidern werden. Rothaarige, Blondinen, Brünette. Ich liebte sie alle. Frauen, die mit einem flirten: Wo hast du nur so lange Wimpern her? Vom Milchmann. Mädchen, zu scheu, auch nur ein Wort zu sagen. Die besten Mädchen waren jedoch die, die Musik liebten. Praktisch bei jedem Auftritt konnte ich im Publikum die wirklich Zuhörenden ausmachen, wie umgekehrt die endlos Gelangweilten oder bloß Desinteressierten. Die Mädchen, die zurückschauten, nervten mich, aber zumindest hörten sie zu, genau wie die, die die Augen schlossen, das Kinn hoben und nur auf mein Spiel achteten. Andere im Publikum pulten mit dem Fingernagel zwischen den Zähnen herum, bohrten mit dem kleinen Finger in den Ohren, ließen ihre Fingerknöchel knacken, gähnten, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten, checkten die anderen Mädchen (oder Jungen) oder warfen einen prüfenden Blick auf die Uhr. Nach den Konzerten kamen immer viele aus dem Publikum auf mich zu, um ein paar Worte zu wechseln, mir die Hand zu schütteln oder auch nur neben mir zu stehen. Diese Begegnungen waren höchst lohnend, und es freute mich, Komplimente entgegenzunehmen und so lange wie möglich Fragen zu beantworten, weil ich währenddessen die Schwärmerei der Frauen und Mädchen entlarven konnte.
Leider fanden die Konzerte und Soloauftritte selten und in großen Abständen statt, und die öffentliche Nachfrage nach klassischer Musik auf Festen und bei Shows nahm ab, als ich der Pubertät näher rückte. Viele begeisterte Anhänger hatten Interesse an einem zehnjährigen Wunderkind gezeigt, aber der Reiz des Außergewöhnlichen schwand, sobald ich als Teenager ganz 46 Ellbogen und Akne war. Und um ehrlich zu sein: Hanon und Czerny und immer dieselbe fade Chopin-Etüde zu üben, um die mein Lehrer Jahr für Jahr Aufhebens machte, hing mir zum Hals raus. Während ich mich weiter veränderte, spürte ich, dass meine alten Kräfte in dem Maße verebbten, wie meine Hormone tobten. Als wäre über Nacht mein Wunsch, einfach ein Junge zu sein, in den Wunsch übergegangen, ein erwachsener Mann zu werden. Mitten in meinem ersten Jahr an der Highschool, nach Monaten der Seelensuche und trotziger Auseinandersetzungen mit meiner Mutter, kam ich plötzlich darauf, dass es eine Möglichkeit gab, meine Leidenschaft für die Musik und mein Interesse an Mädchen miteinander zu verbinden: Ich würde eine eigene Band gründen. 46 Kapitel 8 »Ich habe etwas für dich.« Die letzten bitterkalten Wintertage hielten die ganze Bande gefangen. Ein Schneesturm und Minusgrade machten Ausflüge außerhalb des Lagers unmöglich. Die meisten von uns verbrachten Tag und Nacht unter Decken in einem Dämmerzustand, den die Kombination von Kälte und Hunger hervorrief. Speck stand lächelnd über mir und hielt eine Überraschung hinter ihrem Rücken versteckt. Eine Windböe wehte ihr das lange schwarze Haar ins Gesicht, und mit ungeduldiger Hand strich sie es wie einen Vorhang beiseite. »Wach auf, Schlafmütze, und schau, was ich gefunden habe.« Mit dem Rehfell, das ich gegen die Kälte eng um mich geschlungen hielt, stand ich auf. Sie streckte mir einen weißen Umschlag hin, dessen Farbe sich scharf gegen ihre aufgesprungenen Hände abhob. Ich nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn und zog eine Grußkarte mit einem großen roten Herzen vorne drauf heraus. Geistesabwesend ließ ich den Umschlag zu Boden fallen, sie bückte sich rasch und hob ihn auf. »Sieh doch, Aniday«, sagte sie, und ihre steifen Finger arbeiteten sich an den Nähten entlang, um vorsichtig das Siegel abzu 46 lösen. »Wenn du ihn aufklappst, hast du zwei Seiten — auf der Vorderseite sind nur eine Briefmarke und eine Adresse, und auf der Rückseite hast du ein leeres Blatt.« Sie nahm mir die Karte aus der Hand. »Sieh, auch hier kannst du auf die Vorder- und Rückseite malen, und innen auch, um das Geschriebene herum.« Speck hüpfte auf den Zehen im Schnee, vielleicht aus Freude, vielleicht auch, um die Kälte zu vertreiben. Ich war sprachlos. Normalerweise war sie hart wie Stein, als könnte sie den Kontakt mit uns anderen nicht ertragen.
»Bitte sehr. Du könntest dankbarer sein. Ich habe mich durch den Schnee gekämpft, um dir das zu bringen, während du und all die anderen Trottel es in eurem Winterschlaf schön warm und gemütlich hattet.« »Wie kann ich dir danken?« »Wärme mich.« Sie stellte sich vor mich, und ich öffnete die Rehfelldecke, sodass sie sich hineinkuscheln konnte, und sie umschlang mich und machte mich mit ihren eisigen Händen und Gliedern munter. Wir schlüpften neben der schlummernden Gruppe unter den Deckenberg und fielen in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte ich mit meinem Kopf an ihrer Brust. Speck hatte einen Arm um mich gelegt, und mit der anderen Hand hielt sie die Karte fest umklammert. Als sie aufwachte, blinzelte sie mit ihren smaragdgrünen Augen, um den Morgen zu begrüßen. Ihre erste Bitte war, ich möge ihr das Geschriebene innen auf der Karte vorlesen: Doch, Liebster, wenn zu dir mein Sinnen geht, ist der Verlust getilgt, der Gram verweht. Shakespeare, Sonett jo 47 Es gab keine weitere Unterschrift, keinen Empfänger, und welche Namen auch immer auf dem Umschlag mit Tinte geschrieben gestanden hatten — sie waren vom nassen Schnee dem Vergessen übergeben worden. »Was, glaubst du, soll das bedeuten?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Wer ist Shakespeare?« Der Name hatte etwas vage Vertrautes. »Sein >Liebster< setzt all seinen Schwierigkeiten ein Ende, wenn er an ihn denkt... oder an sie.« Die Sonne stieg über die Baumwipfel und wärmte unser friedvolles Lager. Die hörbaren Zeichen für Tauwetter setzten ein: Schnee rutschte von den Fichten, Eisflächen brachen auf, Eiszapfen begannen zu schmelzen und tröpfelten. Ich wollte mit der Karte allein sein, und mein Bleistift brannte wie ein glühendes Kohlestück in meiner Tasche. »Was wirst du schreiben?« »Ich möchte einen Kalender machen, aber ich weiß nicht, wie. Weißt du, welcher Tag heute ist?« »Ein Tag ist wie der andere.« »Bist du denn nicht neugierig, welcher Tag heute ist?« Speck schlängelte sich in ihren Mantel und forderte mich auf, es ihr nachzutun. Sie führte mich über die Lichtung zum höchsten Punkt in der Umgebung des Lagers, zu einem Berggrat, der entlang des nordwestlichen Rands verlief und nur über eine schwierige Passage über einen steilen Hang mit Schiefergeröll zu erklettern war. Meine Beine taten weh, als wir am Gipfel anlangten, und ich war außer Atem. Sie hingegen stampfte mit dem Fuß auf und sagte mir, ich solle leise sein und hinhören. Wir waren ruhig und warteten. Bis auf die abtauenden Berge war es still. »Was soll ich denn hören?« 47 »Konzentriere dich.«
Ich versuchte es, doch außer dem gelegentlichen Rufen eines Kleibers und dem Knacken von Asten und Zweigen drang nichts an mein Ohr. Ich zuckte mit den Schultern. »Streng dich an.« Ich horchte so aufmerksam, dass ein grimmiger Kopfschmerz in meinem Schädel pochte: ihr gleichmäßig entspanntes Atmen, ihr Herzschlag und ein weit entferntes, rhythmisches Vibrieren, das zuerst wie das Raspeln einer Feile klang, aber kurz darauf einen eindeutigeren Charakter annahm. Ein Brummen wechselnder Geschwindigkeiten, ein leises Spritzen, hin und wieder eine Hupe, Reifen auf Asphalt, und mir wurde klar, wir lauschten dem Verkehr in der Ferne. »Prima«, meinte ich. »Autos.« »Gib genau Acht. Was hörst du?« Mein Kopf platzte, doch ich konzentrierte mich noch mehr. »Viele Autos?«, riet ich. »Richtig!« Sie grinste. »Viele, viele Autos. Morgendlicher Verkehr.« Ich begriff es noch immer nicht. »Die Leute fahren zur Arbeit. In die Stadt. Schulbusse und Kinder. Viele Autos am Morgen. Das bedeutet, es ist ein Werktag und kein Sonntag. Die Sonntage sind ruhig, und es rasen nicht so viele Autos vorbei.« Sie hielt ihren nackten Finger in die Luft und prüfte einen Moment seinen Geschmack im Mund. »Ich glaube, es ist Montag«, sagte sie. »Ich habe diesen Trick schon einmal gesehen. Woher weißt du das?« »All diese Autos machen Rauch, und die Fabriken machen 9* Rauch. Aber sonntags sind nicht so viele Autos auf der Straße, und die Fabriken sind geschlossen. Da schmeckt man den Rauch kaum. Montags ein bisschen mehr. Und freitagabends schmeckt die Luft wie ein Haufen Kohle.« Wieder leckte sie an ihrem Finger. »Ganz klar, Montag. Jetzt lass mich mal deinen Brief sehen.« Ich reichte ihr den Valentinsgruß und den Umschlag, den sie eingehend betrachtete, dann zeigte sie auf den Stempel über der Briefmarke. »Erinnerst du dich, an welchem Datum der Valentinstag ist?« »Am vierzehnten Februar.« Ich war so stolz, als hätte ich im Matheunterricht die richtige Antwort gegeben. Das Bild einer Frau, schwarz-weiß gekleidet, die Zahlen an eine Tafel schreibt, blitzte auf. »Das ist richtig. Und siehst du das hier?« Sie zeigte auf das Datum des Poststempels, das einen Halbkreis bildete: MON 13. FEB '50. »Da hat ihn dein Shakespeare in den Briefkasten geworfen. An einem Montag. Das bedeutet, er ist Montagmorgen gestempelt worden.« »Ist dann heute Valentinstag? Alles Liebe zum Valentinstag.« »Nein, Aniday. Du musst die Zeichen lesen und verstehen lernen. Schlussfolgerung. Wie kann heute Valentins tag sein, wenn doch heute ein Montag ist? Wie können wir einen Brief einen Tag, ehe er verloren geht, finden? Wenn ich den Brief doch gestern gefunden habe und heute Montag ist, wie kann da heute Valentinstag sein?«
Ich war verwirrt und müde. Mein Kopf tat mir weh. »Der dreizehnte Februar war letzten Montag. Hätte diese Karte mehr als eine Woche draußen gelegen, wäre sie heute ruiniert. Ich habe sie gestern gefunden und dir gebracht. Gestern 49 war ein ruhiger Tag — nicht viele Autos —, ein Sonntag. Heute muss der nächste Montag sein.« Sie ließ mich meine Fähigkeit, vernünftig zu denken, voll und ganz in Frage stellen. »Es ist einfach. Heute ist Montag, der 20. Februar 1950. Du brauchst wirklich einen Kalender.« Sie streckte ihre Hand nach meinem Bleistift aus, den ich ihr gerne überließ, und zeichnete auf die Rückseite der Karte sieben Kästchen nebeneinander, die sie mit S-M-D-M-D-F-S für die Wochentage überschrieb. Dann schrieb sie auf den einen Rand alle Monate des Jahres in einer Spalte untereinander und auf den gegenüberliegenden Rand die Zahlen von 1 bis 31. Während sie sie schrieb, fragte sie mich nach der richtigen Anzahl von Tagen eines jeden Monats und sang dazu ein bekanntes Lied, damit ich mich besser erinnerte, doch wir vergaßen die Schaltjahre, was mich im Laufe der Zeit durcheinanderbrachte. Sie zog drei Metallringe aus ihrer Tasche und führte mir vor, dass ich, wenn ich die Zeit verfolgen wolle, nichts weiter tun müsse, als jeden Morgen die Ringe auf die nächste Stelle des Kalenders zu rücken und daran zu denken, am Ende einer Woche und eines Monats wieder vorne anzufangen. Speck sollte mir noch oft etwas zeigen, das sich als nächstliegende Lösung herausstellte, Dinge, für die niemand sonst eine solch klare Vorstellungskraft und Kreativität besaß. In solchen Momenten der Erkenntnis fixierte sie mich, und das Zittern in ihrer Stimme verschwand. Ein einzelnes Haar machte sich nun selbstständig und teilte ihr Gesicht in zwei Hälften. Sie raffte mit ihren rauen roten Händen ihre Mähne zusammen und klemmte sie hinter die Ohren, während sie unentwegt über meine Verblüffung lächelte. »Und solltest du es je vergessen, Aniday, komm zu mir.« Sie lief durch den Wald davon, über den Grat, 49 weg vom Lager, und ließ mich mit meinem Kalender zurück. Ich spähte ihrer Gestalt nach, die sich rasch zwischen den Bäumen bewegte, bis sie mit der Natur verschmolz. Als sie verschwunden war, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an das Datum: 20. Februar 1950. Ich hatte so viel Zeit verloren. Weit unten im Lager schlummerten die anderen unter einem Haufen stinkender Decken und Felle. Wenn ich auf den Verkehr horchte und dem Geräusch bis an seinen Ursprung folgte, könnte ich wieder unter Menschen sein, und eines dieser Autos würde bestimmt anhalten und mich nach Hause bringen. Der Fahrer sähe einen Jungen am Straßenrand stehen und hielte vor mir auf dem Seitenstreifen an. Ich würde auf sie warten, auf die Frau im roten Mantel, dass sie käme und mich rettete. Ich würde nicht davonlaufen, sondern stehen bleiben und versuchen, sie nicht zu ängstigen wie damals. Sie würde
sich zu mir bis auf Augenhöhe herunterbeugen und sich das Haar aus dem Gesicht streichen. »Wer bist du?« Ich würde mir die Gesichter meiner Eltern und meiner kleinen Schwestern in Erinnerung rufen und der Frau mit den blassgrünen Augen erzählen, wo ich wohnte und wie man zu mir nach Hause fände. Sie würde mich auffordern, in ihr Auto zu steigen. Neben ihr sitzend, würde ich ihr meine Geschichte erzählen, und sie würde ihre Hand auf meinen Hinterkopf legen und sagen, alles werde gut. Ich würde aus dem Auto springen, wenn wir vor meinem Haus anhielten. Meine Mutter würde gerade Wäsche auf die Leine hängen, meine Schwestern in ihren gelben Kleidern würden mit wedelnden Ärmchen auf mich zuwanken. »Ich habe Ihren Jungen gefunden«, würde die Frau sagen, und mein Vater führe in einem roten Feuerwehrwagen vor. »Wir haben so lange überall nach dir gesucht.« Später, nach gebratenem Hühnchen und Brötchen, führen wir zurück in den Wald und 50 retteten meine Freunde Smaolach, Luchog und Speck, die bei uns leben, zur Schule gehen und ein warmes, sicheres und intaktes Zuhause finden könnten. Ich musste nichts weiter tun, als mich auf die Geräusche der Zivilisation konzentrieren und ihnen folgen. Ich schaute so weit wie möglich zum Horizont — und sah kein Zeichen. Ich lauschte — und hörte nichts. Ich versuchte mich zu erinnern — und wusste nicht einmal meinen Namen. Ich steckte meine drei Metallringe in die Tasche, drehte den Kalender um und las mir den Shakespeare laut vor: »Doch, Liebster, wenn zu dir mein Sinnen geht...« Die Leute, die dort unten in der Senke schliefen, waren meine Freunde. Ich zog meinen Bleistift hervor und begann alles aufzuschreiben, an das ich mich erinnerte. Manch ein Jahr ist zwischen damals und heute vergangen, und ich habe diese Geschichte mehr als einmal niedergeschrieben, doch damals alleine oben auf dem Grat, das war der Anfang. Meine Finger wurden in der Kälte steif. Als ich hinunter ins Lager lief, lockten mich die Bettdecken mit dem Versprechen wohliger Träume. Nicht lange nach Specks Valentinsgeschenk fiel mir ein weiteres Geschenk in den Schoß. Luchog brachte es von einem seiner Raubzüge mit. Wie der Weihnachtsmann vor dem Christbaum packte er seinen Sack aus. »Und das hier, Schätzchen, ist für dich. Das ein und alles deiner irdischen Wünsche. Hier ist genügend Platz für all deine Träume. O Wunder aller Wunder, und trocken dazu. Papier.« Er reichte mir ein gebundenes schwarzes Kollegheft, wie es Schulkinder für ihre Unterrichtsstunden benutzen, die Seiten liniert, um sicherzugehen, dass die Wörter und Sätze am richtigen Platz stehen. Vorne drauf standen der Name der Schule 50 und der Titel LINIERTES AUFS ATZHEFT. Auf der Rückseite befand sich ein Kästchen mit diesem gedruckten Warnhinweis: Im Falle eines Atomangriffs: Schließe die Fensterläden, lege dich unter dein Pult. Gerate nicht in Panik. Innen hatte der Autor des Buchs seinen Namen, Thomas Mclnnes, auf das Vorsatzblatt geschrieben. Die verwitterten Seiten waren voll mit seinen
praktisch unleserlichen Schreibkünsten, die Tinte von einem rostigen Braun. So weit ich es sagen konnte, war es eine Geschichte oder Teil einer Geschichte, denn auf der letzten Seite endete das Geschreibsel mitten im Satz mit dem recht kryptischen Siehe anderes Buch, was auf der Innenseite des hinteren Umschlags stand. Im Laufe der Jahre versuchte ich, sie zu lesen, aber worum es in dieser Geschichte ging, entzog sich mir. Die Schönheit des Aufsatzhefts bestand für mich in Mclnnes' Maßlosigkeit. Er hatte jeweils nur die eine Seite der achtundachtzig Blätter beschrieben. Ich drehte das Buch auf den Kopf und schrieb meine ganz andere Geschichte in die entgegengesetzte Richtung. Obwohl dieses Tagebuch nun mit vielem anderem in Flammen aufgegangen ist, kann ich seinen wesentlichen Inhalt beschwören: das Tagebuch eines Naturforschers, in dem ich meine Beobachtungen des Lebens im Wald festhielt, samt Zeichnungen von gefundenen Gegenständen — ein Tagebuch der besten Jahre meines Lebens. Meine Aufzeichnungen und mein Kalender halfen mir, die vergehende Zeit, die zu einem ruhigen Rhythmus fand, zu verfolgen. Jahrelang hielt ich die Hoffnung aufrecht, doch nie kam jemand für mich. Kummer war wie eine Unterströmung der Zeit, aber die Verzweiflung kam und ging wie die Schatten der Wolken. In diese Jahre mischte sich die Fröhlichkeit, die meine Freunde und Gefährten mit sich brachten, und als ich innerlich alterte, ertränkte ein zufälliges Nichts den Jungen in mir. 51 In den meisten Jahren hörte es Mitte März auf zu schneien, und einige Wochen später schmolz das Eis, frisches Grün spross, Insekten schlüpften, die Vögel kamen zurück, und wir konnten wieder Fische und Frösche fangen. Mit dem Frühling kehrte auf der Stelle unsere Kraft zurück, und so wie die Tage länger wurden, wuchs unser Interesse an Erkundungen. Wir warfen unsere Hüllen und verrotteten Decken von uns, legten unsere Jacken und Schuhe ab. Am ersten warmen Tag im Mai gingen neun von uns hinunter zum Fluss, wo wir unsere stinkenden Körper wuschen, das Ungeziefer, das sich in unseren Haaren eingenistet hatte, ertränkten und die Dreckkrusten und Schmutzschichten abschrubbten. Einmal hatte Blomma ein Stück Seife von einer Tankstelle geklaut, und wir brauchten es in einem einzigen erfrischenden Bad bis auf einen winzigen Rest auf Blasse Körper an einem Kiesufer, rosig und sauber gescheuert. Nun begann der Löwenzahn zu blühen, und die Frühlingszwiebeln schössen auf den Wiesen. Unsere Onions stopfte sich voll, aß Knollen und Blätter, die ihre Zähne und ihren Mund grün färbten, sie verströmten einen üblen, trägen Geruch, sogar ihre Haut roch schließlich beißend und bittersüß. Luchog und Smaolach destillierten aus dem Löwenzahn ein starkes Gebräu. Dank meines Kalenders konnte ich die Abfolge der Beeren verfolgen: Erdbeeren im Juni, dann die wilden Blaubeeren, Stachelbeeren, Holunderbeeren und andere. An einer Stelle im Wald jenseits des Grats fanden Speck und ich ein rotes Heer aus Himbeeren, die einen ganzen Hang überwucherten, und wir brachten so manchen Julitag damit zu, Süßes zwischen den Dornen zu sammeln. Die Brombeeren reiften zuletzt, und ich bin immer wieder traurig, wenn ich die
erste Schüssel davon bei unserem Abendessen sehe, denn diese schwarzen Juwelen künden das Ende des Sommers an. 52 Die Insektenesser unter uns frohlockten über die Fülle der warmen Jahreszeit, obwohl Insekten bestimmt nur etwas für Kenner sind. Jeder Elb hatte seine besonderen Vorlieben und bevorzugten Fangmethoden. Ragno aß nur Fliegen, die er von Spinnennetzen zupfte. Beka war ein Vielfraß, der alles verdrückte, was ihm in die Quere kam, ob es nun kreuchte, fleuchte, glitschte oder zappelte. Er machte eine Termitenkolonie in einem verrottenden Baumstamm ausfindig oder Schnecken im Sumpf oder eine tote Made, er schaufelte alles in sich hinein und verspeiste diese abstoßenden Kreaturen roh. Geduldig an einem Feuerchen sitzend, schnappte er mit der Zunge Falter aus der Luft, wenn sie zu nah an seinem Gesicht vorbeiflogen. Auch Chavisory war eine notorische Insektenesserin, aber sie garte sie wenigstens. Die Larven und Königinnen, die sie auf einem erhitzten Stein buk, bis sie braun und kross wie gebratener Speck aufplatzten, konnte ich hinnehmen. Grillenbeine neigen dazu, sich zwischen die Zähne zu setzen, und Ameisen, wenn man sie nicht zuerst röstet, beißen einen in die Zunge und in die Kehle, wenn man sie schluckt. Bevor ich in den Wald gekommen war, hatte ich nie etwas Lebendiges getötet, aber wir waren Jäger und Sammler, und ohne eine gelegentliche Portion Protein in unserer Nahrung litten wir alle. Wir erlegten Eichhörnchen, Maulwürfe, Mäuse, Fische und Vögel, Eier aus dem Nest zu stehlen war ein zu großer Umstand. Größeres — etwa ein totes Reh — lasen wir auf. Ich mache mir nichts aus Tieren, die schon seit Langem tot sind. Vor allem im Spätsommer und Frühherbst aßen wir gemeinsam eine unglückselige, am Spieß gegrillte Kreatur. Nichts geht über einen Hasen unterm Sternenhimmel. Aber, wie Speck stets sagte, die Idylle ist dem Begehren immer unterlegen. 52 Ein Moment dieser Art in meinem vierten Jahr im Wald übertrumpfte alle anderen. Speck und ich streunten außerhalb des Lagers herum, und sie zeigte mir den Weg zu dem Wäldchen, in dem Honigbienen ihren Stock versteckt hatten. Wir blieben an einem alten grauen Hartriegelbaum stehen. »Klettre hoch, Aniday, greife hinein, und du wirst den süßesten Nektar finden.« Wie befohlen, erklomm ich den Stamm und schob mich trotz der schwirrenden Bienen Zentimeter um Zentimeter näher ans Loch. Von hoch oben in den Ästen sah ich ihr Gesicht, ihre erwartungsvoll glühenden Augen. »Höher!«, rief sie von unten. »Sei vorsichtig. Mach sie nicht wild!« Der erste Stachel überraschte mich wie ein Nadelstich, der zweite und dritte taten weh, doch ich war zielstrebig. Ich konnte den Honig riechen, ehe ich ihn fühlte, und ich konnte ihn fühlen, ehe ich ihn sah. Mit vom Gift geschwollenen Händen und Handgelenken, mit roten Striemen im Gesicht und auf nackter Haut fiel ich vom Ast auf den Waldboden, doch mit Honigwaben in der Hand. Voll Entsetzen und Dankbarkeit schaute sie auf mich herab. Wir rannten vor dem wütenden Schwärm davon und schüttelten ihn ab an einem Hang, der
schräg zur Sonne stand. Wir lagen im frischen hohen Gras, saugten jeden Honigtropfen in uns hinein und aßen die wächsernen Waben, bis unsere Lippen, das Kinn und die Hände ganz klebrig waren. Trunken von dem Zeug, mit dem Nektar schwer in unseren Bäuchen, schwelgten wir im süßen Schmerz. Nachdem wir den Honig säuberlich aufgeschleckt hatten, fing sie an, mir die verbleibenden Stacheln aus Gesicht und Händen zu ziehen; jedes Mal, wenn ich zusammenzuckte, lächelte sie. Als Speck den letzten Dolch aus IOO meiner Hand entfernt hatte, drehte sie sie um und küsste meine Handfläche. »Du bist ein solcher Idiot, Aniday.« Doch ihre Augen widersprachen ihren Worten, und ihr Lächeln leuchtete kurz auf wie ein Blitz, der den Sommerhimmel aufreißt. IOI Kapitel 9 Hör dir das an.« Mein Freund Oscar legte eine Platte auf den Plattenteller und senkte vorsichtig die Nadel. Die 45er knackte und zischte; dann ertönte die Melodie, gefolgt von einem vierstimmigen doo-wop, »Earth Angel« von The Penguins oder »Gee« von The Crows, und er lehnte sich auf dem Bett zurück, schloss die Augen und zog diese verschiedenen Harmonien auseinander, sang zuerst Tenor und so weiter bis zum Bass. Oder er legte eine neue Jazzscheibe von Miles oder vielleicht Dave Brubeck auf, suchte sich den Kontrapunkt, wobei er die Ohren für das hinter den Blasinstrumenten beinahe nicht zu hörende Klavier spitzte. Während unserer ganzen Highschool-Zeit verbrachten wir endlose Stunden in diesem Zimmer, lauschten träge seiner umfangreichen, vielseitigen Plattensammlung, analysierten und debattierten über die subtileren Stellen der Kompositionen. Oscar Loves Leidenschaft für Musik stellte meine Ambitionen weit in den Schatten. In der Highschool hatte er den Spitznamen »The White Negro«, weil er so anders war als der übrige Haufen, so cool, so kopflastig die ganze Zeit. Oscar war ein dermaßen großer Außenseiter, dass ich mich im Vergleich zu ihm normal fühlte. Und obwohl er ein Jahr älter war als ich, hieß er mich in seinem Leben willkommen. Mein Vater 53 hielt Oscar für wilder als Brando, doch meine Mutter sah hinter die Fassade und liebte ihn wie einen Sohn. Er war der erste Mensch, mit dem ich über die Gründung einer Band sprach. Oscar stand mir von den ersten Anfängen der Henry Day Five und durch alle Varianten zur Seite: The Henry Day Four, The Four Horsemen, Henry and the Daylight, The Daydreamers und schließlich ganz einfach Henry Day. Leider konnten wir ein und dieselbe Besetzung immer nur wenige Monate zusammenhalten: Unser erster Drummer flog von der Highschool und meldete sich freiwillig zur Marineinfanterie; unser bester Gitarrist zog weg, als sein Vater nach Davenport, Iowa, versetzt wurde. Die meisten Jungens hörten auf, weil sie als Musiker nicht mithalten konnten. Nur Oscar und seine Klarinette hatten Bestand. Wir blieben aus zwei Gründen zusammen: Erstens konnte er auf jedem Horn einen Lick spielen, insbesondere auf seiner geliebten Tröte;
und zweitens war er alt genug, um fahren zu dürfen, und hatte ein eigenes Auto — einen makellosen rot-weißen 54er Bei Air. Wir spielten bei allen möglichen Gelegenheiten, von Highschool-Tanzveranstaltungen bis hin zu Hochzeiten und ab und zu mal einen Abend in einem Club. Da allein unser Ohr die Auswahl bestimmte und nicht irgendeine vorgefertigte Auffassung von cool, konnten wir jede Art von Musik für jedes Publikum spielen. Nach einem Jazzabend, an dem wir die Zuhörer ganz besonders begeistert hatten, fuhr Oscar uns nach Hause, das Radio plärrte, und wir Jungens waren in großartiger Stimmung. Nachdem er die anderen abgesetzt hatte, hielten wir spät in dieser Sommernacht vor meinem Elternhaus. Falter tanzten wie irre im Scheinwerferlicht, und rhythmisches Grillengezirpe unterlegte die Stille. Sterne und ein Halbmond sprenkelten den matten 54 Himmel. Wir stiegen aus, setzten uns auf die Haube des Bei Air, schauten in die Nacht und wünschten, sie würde nie enden. »Mann, wir waren große Klasse«, meinte er. »Wir haben sie erschlagen. Hast du den Typen gesehen, als wir >Hey Now< gespielt haben? Als hätte er noch nie so einen Sound gehört.« »Ich bin ziemlich kaputt, Mann.« »Ach, du warst so klasse, so klasse.« »Du bist auch nicht gerade schlecht.« Ich rückte auf der Haube weiter nach hinten, um nicht wieder von ihr herunterzurutschen. Da meine Beine nicht bis zum Boden reichten, ließ ich sie zu einer Melodie in meinem Kopf baumeln. Oscar zog die Zigarette hervor, die er sich hinters Ohr geklemmt hatte, zündete sie mit einem Klick seines Feuerzeugs an und blies Ringe in den Nachthimmel, die jeweils den vorhergehenden durchdrangen. »Wo hast du spielen gelernt, Day? Ich meine, du bist doch noch ein Kind. Erst fünfzehn, oder?« »Übung, Mann, Übung.« Er wendete den Blick von den Sternen, drehte sich und schaute mir gerade ins Gesicht. »Du kannst üben, so viel du willst. Aber Üben gibt dir noch keine Seele.« »Ich habe in den letzten Jahren Unterricht genommen. In der Stadt. Bei einem Typen namens Martin, der früher mit den Philharmonikern gespielt hat. Die Klassiker und so. Das macht es leichter, die drunter liegende Musik zu begreifen.« »Verstehe.« Er reichte mir die Zigarette, und obwohl ich wusste, dass er sie mit Marihuana versetzt hatte, nahm ich einen tiefen Zug. »Aber manchmal fühle ich mich ganz zerrissen. Meine Eltern wollen, dass ich weiter Stunden bei Mr. Martin nehme. Du weißt schon, das Symphonieorchester oder eine Solistenkarriere.« 54 »Wie Liberace.« Oscar kicherte. »Halt die Klappe.« »Tunte.« »Klappe.« Ich boxte ihm auf die Schulter.
»Ist ja gut, Mann.« Er rieb sich den Arm. »Aber du könntest es doch schaffen, egal, was du willst. Ich bin gut, aber du bist einsame Spitze. Als spieltest du schon dein ganzes Leben oder wärest so geboren.« Vielleicht hatte mich das Dope dazu gebracht, es zu erzählen, vielleicht war es auch die Kombination aus dieser Sommernacht und dem Hochgefühl nach unserer Vorstellung, oder es lag daran, dass Oscar mein erster richtiger Freund war. Oder ich wollte es unbedingt jemandem, irgendjemandem erzählen. »Ich muss dir was gestehen, Oscar. Ich bin gar nicht Henry Day, sondern ein Kobold, der lange, lange im Wald gelebt hat.« Er kicherte so ausgelassen, dass ihm der Rauch aus den Nasenlöchern quoll. »Im Ernst, Mann, wir haben den echten Henry Day geraubt, gekidnappt, und ich habe mich in ihn verwandelt. Wir haben den Platz getauscht, aber das weiß niemand. Ich lebe sein Leben und er vermutlich meins. Und vor langer, langer Zeit war ich, ehe ich ein Wechselbalg wurde, ein anderer. Ich war ein Junge in Deutschland oder irgendwo, wo Deutsch gesprochen wurde. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber manchmal kommen da so Bruchstücke hoch. Und dort habe ich vor sehr langer Zeit Klavier gespielt, bis die Kobolde kamen und mich raubten. Und jetzt, wo ich wieder unter den Menschen bin, erinnere ich mich an kaum etwas aus der Vergangenheit, aber es ist, als wäre ich zum Teil Henry Day und zum Teil der, der ich früher war. Und damals vor 55 langer Zeit muss ich ein verdammt starker Musiker gewesen sein, das ist die einzige Erklärung.« »Das ist ziemlich gut, Mann. Aber wo ist der echte Henry Day?« »Irgendwo im Wald. Oder vielleicht tot. Er könnte tot sein. Das passiert manchmal. Doch wahrscheinlich versteckt er sich im Wald.« »So, dass er uns in diesem Augenblick beobachten könnte?« Er sprang vom Wagen und raunte in die Nacht: »Henry? Bist du das?« »Halt die Klappe, Mann. Es wäre immerhin möglich. Aber sie fürchten sich vor Menschen, das weiß ich genau.« »Wer, sie?« »Die Kobolde.« »Warum fürchten sie sich denn vor uns? Sieht so aus, als sollten wir uns eher vor ihnen fürchten.« »Früher war das so. Aber die Leute glauben nicht mehr an Mythen und Märchen.« »Aber was ist, wenn Henry da draußen ist, uns genau in diesem Augenblick beobachtet und seinen alten Körper zurückhaben will und sich anschleicht, um dich zu packen?« Seine Hand schnellte vor und schnappte meinen Knöchel. Ich schrie auf, peinlich berührt, dass ich auf so einen blöden Scherz hereingefallen war. Oscar fläzte sich wieder auf die Haube und lachte mich aus. »Du hast zu viele Horrorfilme gesehen, Mann.« »Nein, die Wahrheit ist...« Ich verpasste ihm einen Schlag auf den Arm. »Und den Kobolden stellst du was Leckeres in deinen Keller, stimmt's?« 55 Ich wollte ihn wieder knuffen, doch dann wurde mir bewusst, wie lächerlich meine Geschichte klang, und ich lachte mit. Falls Oscar sich überhaupt an jene
Nacht erinnerte, so schnitt er dieses Thema nie mehr wieder an, und vielleicht glaubte er, ich hätte halluziniert. Er fuhr, vor sich hin gackernd, davon, und ich fühlte mich leer, nachdem die Wahrheit nun ausgesprochen war. Meine Verwandlung in Henry Day war so gut gelungen, dass niemand die wahre Geschichte ahnte. Sogar mein Vater, ein geborener Skeptiker, glaubte an mich oder verbarg zumindest seine Zweifel tief in seinem Herzen. Das Erdgeschoss unseres Hauses war so dunkel und still wie ein Keller. Oben schliefen sie fest. Ich knipste das Küchenlicht an und trank ein Glas Wasser. Nachtfalter, angezogen von der Helligkeit, stießen gegen das Fliegengitter am Fenster und flatterten an ihm auf und ab, ein bedrohliches Geräusch, das Schlimmes ahnen ließ. Ich knipste das Licht aus, und sie flogen davon. Wieder in der Dunkelheit, hielt ich Ausschau nach einem huschenden Schatten, lauschte auf Schritte zwischen den Bäumen, doch es rührte sich nichts. Ich schlich die Treppe hinauf, um nach meinen Schwestern zu sehen. Als Mary und Elizabeth noch klein waren, hatte ich oft gefürchtet, die Kobolde könnten sie rauben und statt ihrer zwei Wechselbälger zurücklassen. Ich kannte ihre Methoden, ihre Tricks und Irreführungen, und ich wusste auch, dass sie dieselbe Familie zweimal heimsuchen konnten, wenn nicht sogar dreimal. Nicht weit von hier, so erzählt man sich, seien um 1770 der Familie Church sieben Kinder geraubt und durch Wechselbälger ersetzt worden, eines nach dem anderen, alle im Alter von sieben Jahren, bis es überhaupt keine kleinen Churchs mehr gab, sondern nur noch Doppelgänger — diese bedauernswerten 56 Eltern mit ihrer fremden Brut. Auch meine Schwestern waren gefährdet, und ich lauerte auf verräterische Veränderungen ihres Verhaltens oder Aussehens — auf einen plötzlichen Liebreiz, eine gewisse Distanz zum Leben —, dies konnte auf einen möglichen Austausch hinweisen. Ich ermahnte die Zwillinge, sich vom Wald oder anderen finsteren Orten fernzuhalten. »Gefährliche Schlangen, Bären und Wildkatzen warten ganz in der Nähe von unserem Stück Land auf euch. Sprecht nicht mit fremden Leuten. Warum draußen spielen«, fragte ich, »wenn doch etwas Tolles und Interessantes im Fernsehen läuft?« »Ich gehe aber gerne auf Entdeckungsreisen«, sagte Elizabeth. »Wie sollen wir denn je den Heimweg finden, wenn wir unser Zuhause nie verlassen?«, ergänzte Mary. »Habt ihr schon mal eine Waldklapperschlange gesehen? Ich ja, und Mokassinschlangen und Wassermokassinschlangen. Ein Biss, und du bist gelähmt, die Glieder werden schwarz, und dann bist du tot. Glaubt ihr, ihr könntet schneller rennen als ein Bär oder höher klettern als er? Die können besser auf Bäume klettern als Katzen, und dann packen sie euch am Bein und verschlingen euch. Habt ihr schon mal einen Waschbären mit Schaum vor dem Maul gesehen?« »Ich krieg nie was zu sehen!«, schrie Elizabeth auf. »Wie sollen wir die Gefahr meiden, wenn wir doch gar nicht wissen, was Gefahr ist?«, fragte Mary.
»Sie ist da draußen. Ihr könntet stolpern, über einen alten Baumstamm fallen und euch das Bein brechen. Und niemand findet euch. Oder ihr könntet in einen heftigen Schneesturm geraten, bei dem der Wind so heftig aus allen Richtungen bläst, 57 dass ihr die eigene Haustür nicht mehr seht, und dann findet man euch am nächsten Morgen, gefroren wie ein Eis am Stiel, nicht mal drei Meter von zu Hause entfernt.« »Genug!«, schrien sie wie aus einem Mund und trotteten davon, um Howdy Doody oder Romper Room zu sehen. Doch ich wusste, wenn ich in der Schule war oder mit der Band probte, schlugen sie meine Warnungen in den Wind. Dann kamen sie mit Grasflecken an den Knien und am Hosenboden, mit Zecken in der Haut, mit Ästchen in den Locken, mit Fröschen in ihren Overalls und dem Geruch nach Gefahr in ihrem Atem nach Hause. Aber in dieser Nacht schliefen sie wie Lämmchen, und zwei Türen weiter schnarchten meine Eltern. Im Schlaf rief mein Vater meinen Namen, doch zu dieser späten Stunde wagte ich nicht zu antworten. Es wurde übernatürlich still im Haus. Da ich mein dunkelstes Geheimnis ohne jede Konsequenz preisgegeben hatte, ging ich zu Bett, so ungefährdet wie immer. Es heißt, seine erste Liebe vergesse man nicht; aber ich muss tief betrübt zugeben, dass ich mich nicht an ihren Namen erinnere oder an irgendetwas anderes von ihr — an nichts, außer dass sie das erste Mädchen war, das ich nackt gesehen habe. Der Geschichte wegen will ich sie Sally nennen. Vielleicht war das sogar ihr richtiger Name. Nach dem Sommer, in dem ich Oscar mein Geständnis gemacht hatte, nahm ich meine Stunden bei Mr. Martin wieder auf, und da war sie. Am Ende des Schuljahrs war sie gegangen und kehrte nun als ein völlig neues Wesen zurück — begehrenswert, ein Fetisch, eine Obsession. Wie jedermann mache ich mich der anonymen Lust schuldig, doch sie war es, die mich erwählte. Pausenlos nahm ich dankbar die Zeichen ihrer 57 Zuneigung entgegen. Monatelang hatte ich ihre Kurven beäugt, ehe sie ihren ganzen Mut zusammennahm und mich beim Vorspielabend im Winter ansprach. Wir standen in unseren feinen Klamotten hinter der Bühne und warteten qualvoll auf unsere Auftritte am Klavier. Die jüngsten Kinder traten zuerst auf, denn Höllenqualen serviert man am besten als Aperitif. »Wo hast du spielen gelernt?«, flüsterte Sally bei einem schmerzlich langsamen Menuett. »Hier. Ich meine, bei Mr. Martin.« »Du spielst wie nicht von dieser Welt.« Sie lächelte, und von ihrer Bemerkung angespornt, gab ich meinen inspiriertesten Klaviervortrag. In den folgenden Wochen und Monaten lernten wir uns besser kennen. Wir fädelten ein, dass wir an den Samstagen gemeinsam zu Mittag aßen. Über Sandwiches auf Wachspapier gebeugt, sprachen wir über die Klavierstunden des Tages. Sie blieb im Raum und hörte zu, wie ich wieder und wieder dasselbe Stück spielte und Mr. Martin barsch »adagio, adagio« zischelte. Normalerweise hatte ich von meinen Auftritten ein paar Dollar in der Tasche, sodass wir ins Kino gehen
oder uns ein Eis oder ein Getränk gönnen konnten. Unsere Gespräche drehten sich um die Themen, über die Fünfzehnjährige eben reden: um Schule, Freunde, unverständliche Eltern und in unserem Fall um das Klavierspielen. Oder besser, ich sprach über Musik: über Komponisten, Mr. Martin, Platten, die Verwandtschaft des Jazz mit der Klassik und über allerhand geschwätzige Theorien von mir. Es war kein Gespräch, eher ein Monolog. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr zuhören, wie ich ihr etwas entlocken oder wie ich still sein und mich an ihrer Gesellschaft erfreuen sollte. Dabei war sie bestimmt ein netter Mensch. Als die Sonne die Frühlingsluft langsam erwärmte, schlenderten HO wir durch den Park — einen Ort, den ich normalerweise wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Wald mied. Doch die Osterglocken blühten, und es war total romantisch. Die Stadt hatte die Brunnen wieder in Gang gesetzt, ein weiteres Anzeichen für den Frühling, und wir hockten uns an den Rand und schauten lange der Wasserkaskade zu. Ich wusste nicht, wie ich tun sollte, was ich tun wollte, wie ich sie fragen, was ich sagen, nicht einmal, wie ich das Thema anschneiden sollte. Sally rettete mich. »Henry?«, fragte sie, wobei ihre Stimme um eine Oktave anstieg. »Henry, wir haben Spaziergänge gemacht, haben zusammen gegessen und sind ins Kino gegangen, und das schon seit über drei Monaten. Und die ganze Zeit frage ich mich: Magst du mich?« »Aber klar doch.« »Wenn du mich magst, wie du sagst, wie kommt es dann, dass du nie versuchst, meine Hand zu halten?« Ich nahm ihre Hand in meine, überrascht von der Hitze ihrer Finger und dem Schweiß ihrer Handfläche. »Und wie kommt es, dass du nie versucht hast, mich zu küssen?« Zum ersten Mal sah ich ihr gerade in die Augen. Sie schaute, als versuchte sie, eine metaphysische Frage zu stellen. Da ich nicht wusste, wie man küsst, tat ich es in aller Eile und bedaure heute, dass ich mir nicht mehr Zeit gelassen habe, und sei es nur, um mich an das Gefühl zu erinnern. Sie strich mir durch mein Brillantinehaar, was eine unerwartete Wirkung hatte, und während ich es ihr gleichtat, schössen mir ungelöste Fragen durch den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Wäre ihr nicht plötzlich eingefallen, sie müsse unbedingt die Straßenbahn bekommen, so säßen wir womöglich noch im iii mer dort und sähen uns einfältig an. Auf dem Weg zum Treffpunkt mit meinem Vater zerpflückte ich meine Gefühle. Während ich meine Familie in meinem menschlichen Leben mittlerweile »liebte«, hatte ich noch nie jemand Fremden »geliebt«. Ein ungeheures Risiko, das man aus eigenen Stücken eingeht. Zudem wird das Gefühl durch das Lustempfinden in die Irre geführt. Ich zählte die Stunden zwischen den Samstagen, begierig, sie zu sehen. Gott sei Dank übernahm sie die Initiative. Als wir auf dem dunklen Balkon des Penn-Kinos knutschten, griff sie nach meiner Hand und legte sie auf ihre
Brust, und ihr ganzer Körper bebte bei meiner Berührung. Sie war es, die alles anregte, die den Einfall hatte, an meinen Ohren zu knabbern, und als Erste ihren Oberschenkel an mir rieb. Wir sprachen kaum noch miteinander, wenn wir uns sahen, und ich wusste nicht, was Sally vorhatte, oder ob sie überhaupt irgendetwas dachte. Kein Wunder, dass ich dieses Mädchen, wie auch immer sie hieß, liebte, und als sie vorschlug, ich solle, um Mr. Martins Unterricht zu schwänzen, vorgeben, ich wäre krank, fügte ich mich freudig. Wir fuhren mit der Straßenbahn zu ihrem Elternhaus im Süden der Stadt. Als wir im strahlenden Sonnenschein den Hügel, der zu ihrem Zuhause führte, hinaufgingen, begann ich zu schwitzen, doch Sally, die an die Wanderung gewöhnt war, hüpfte auf dem Gehweg und neckte mich, ich könne nicht mithalten. Ihr Zuhause glich einem winzigen Hochsitz, der sich an die Seite eines Felsens schmiegt. Ihre Eltern seien weggefahren, versicherte sie mir, sie machten den ganzen Tag eine Tour durchs Land. »Wir haben das Haus für uns allein. Möchtest du eine Limonade?« 59 Sie hätte genauso gut eine Schürze tragen und ich eine Pfeife rauchen können. Sie brachte die Getränke und setzte sich aufs Sofa. Ich trank mein Glas in einem einzigen Zug aus und setzte mich in den Sessel ihres Vaters. Wir saßen; wir warteten. In meinem Kopf erklang ein Tusch. »Warum setzt du dich nicht neben mich, Henry?« Wie ein gehorsamer junger Hund tapste ich mit wedelndem Schwanz und hängender Zunge hinüber zu ihr. Unsere Finger verschränkten sich ineinander. Ich lächelte. Sie lächelte. Ein langer Kuss — wie lang kannst du küssen? Meine Hand auf ihrem nackten Bauch unter ihrer Bluse löste einen angestauten Urtrieb aus. Kreisend suchte ich den Weg nach Norden. Hastig umfasste sie mein Handgelenk. »Henry, Henry. Das ist alles zu viel.« Sally keuchte und fächerte sich mit der Hand Luft zu. Ich rollte mich auf die Seite, spitzte die Lippen und pustete. Wie konnte ich ihre Signale nur so missverstanden haben? Sally zog sich so rasend schnell aus, dass ich den Übergang fast verpasste. Als hätte sie auf einen Knopf gedrückt, flogen ihre Bluse und ihr BH davon, der Rock, der Slip, die Söckchen. Während der ganzen Zeit lächelte sie mich glückselig und schamlos zugleich an. Ich liebte sie wirklich. Natürlich hatte ich Bilder im Museum, Pinup-Fotos von Bettie Page und französische Postkarten gesehen, aber Bildern fehlt es an Breite und Tiefe, und die Kunst ist nicht das Leben. Ein Teil von mir drängte vorwärts mit dem unbändigen Wunsch, meine Hände auf ihre Haut zu legen, doch allein schon die bloße Möglichkeit hielt mich zurück. Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Nein, nein, nein. Ich habe dir meinen Körper gezeigt. Nun musst du mir deinen zeigen.« Seit ich als kleiner Junge beim Schwimmen war, hatte ich mich nicht mehr vor jemandem ausgezogen, geschweige denn vor einem Fremden, und diese Aussicht machte mich verlegen. Aber eine solche Bitte abzulehnen, wenn sie ein nacktes Mädchen äußert, ist schwer. Also streifte ich meine Kleider ab, beobachtete sie, wie sie mich beobachtete. Ich war bis zu meinen Boxershorts
vorgedrungen, als ich bemerkte, dass sie ein kleines haariges Dreieck an ihrer Scham hatte, und ich war völlig kahl. In der Hoffnung, diese Besonderheit träfe nur auf das weibliche Geschlecht zu, zog ich meine Unterhose herunter, und ein Ausdruck des Entsetzens und der Bestürzung jagte über ihr Gesicht. Sie schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund. Ich schaute an mir herunter und dann zutiefst verwirrt wieder zu ihr. »O mein Gott, Henry«, sagte sie. »Du siehst aus wie ein kleiner Junge.« Rasch bedeckte ich mich. »Das ist der Kleinste, den ich je gesehen habe.« Wütend klaubte ich meine Kleider vom Boden auf. »Es tut mir leid, aber du siehst aus wie mein achtjähriger Cousin.« Sally begann, ihre Kleider vom Boden aufzusammeln. »Henry, sei jetzt nicht verärgert.« Doch ich war verärgert, nicht so sehr ihret- als vielmehr meinetwegen. In dem Moment, als sie angesetzt hatte zu sprechen, wusste ich, was ich vergessen hatte. In vielerlei Hinsicht wirkte ich wie ein normaler Fünfzehnjähriger, doch eines der bedeutenderen Teile hatte ich außer Acht gelassen. Während ich mich tief beschämt anzog, musste ich an all die Schmerzen und Leiden der letzten Jahre denken. An die Milchzähne, die ich mir aus dem Mund gerissen hatte, an das Dehnen, Ziehen und Drücken 60 von Knochen, Muskeln und Haut, um in das Teenageralter hineinzuwachsen. Doch die Pubertät hatte ich vergessen. Sie flehte mich an zu bleiben, entschuldigte sich dafür, mich ausgelacht zu haben, sagte sogar in einem Moment, die Größe spiele keine Rolle und dass er eigentlich süß sei. Doch nichts, was sie hätte sagen oder tun können, hätte mich von meiner Scham erlöst. Ich sprach nie wieder mit ihr, außer knappsten Begrüßungsworten. Sie verschwand aus meinem Leben, als wäre sie geraubt worden, und ich frage mich heute, ob sie mir wohl vergeben oder jenen Nachmittag vergessen hat. Dehnen half meinem Missstand ab, aber es tat weh und verursachte unerwartete Folgen. Die Erste war das seltsame Gefühl, das üblicherweise auf die gleiche chaotische Weise endete, doch interessanterweise fand ich heraus, sobald ich an Sally oder an andere verführerische Dinge dachte, war das Ergebnis vorprogrammiert. Dachte ich jedoch an Unerfreuliches — an den Wald, an Baseball, an Arpeggios —, konnte ich das Ende hinauszögern oder gar ganz vermeiden. Von der zweiten Folge zu erzählen, ist mir etwas peinlicher. Vielleicht lag es an den quietschenden Sprungfedern, die ihn zu ärgern begannen, jedenfalls stürmte mein Vater eines Nachts in mein Zimmer und ertappte mich sozusagen auf frischer Tat, obwohl ich vollkommen zugedeckt war. Er verdrehte die Augen zur Decke. »Henry, was tust du?« Ich hielt inne. Es gab eine unschuldige Erklärung, die ich ihm aber nicht sagen konnte. »Glaub ja nicht, dass ich es nicht weiß.« Was weißt du?, wollte ich ihn fragen. »Du wirst blind, wenn du so weitermachst.« Ich blinzelte.
Als er aus dem Zimmer gegangen war, rollte ich mich auf die Seite und drückte mein Gesicht auf das kühle Kissen. Mit der Zeit ließen meine Kräfte nach. Sehen in weite Ferne, Hören auf große Distanz, hohe Geschwindigkeit zu Fuß — alles war mir praktisch abhanden gekommen, und meine Fähigkeit, mein Äußeres zu manipulieren, hatte sich verschlechtert. Mehr und mehr wurde ich zu dem menschlichen Wesen, das ich hatte sein wollen, doch statt darüber zu frohlocken, ließ ich mich, versteckt unter meinem Laken, auf die Matratze zurücksinken. Eine bequeme Position suchend, schlug ich auf mein Kissen ein und marterte die Zudecke, doch vergeblich. Alle Hoffnungen auf Genuss verklangen zusammen mit meiner Erektion. An die Stelle des Genusses trat lumpige Einsamkeit. Ich fühlte mich in einer nicht enden wollenden Kindheit gefangen, dazu verdammt, unter der Kontrolle meiner falschen Eltern zu leben, mit einem Dutzend misstrauischer Blicke jeden Tag. Im Wald hatte ich mir die Zeit notieren und als Wechselbalg mich auf den Wechsel vorbereiten müssen, aber die Jahre waren mir wie Tage vorgekommen. In den beklemmenden Jugendjahren waren die Tage wie Jahre. Und die Nächte konnten endlos sein. Einige Stunden später erwachte ich schweißgebadet und warf die Decke beiseite. Als ich zum Fenster ging, um frische Luft hineinzulassen, entdeckte ich draußen auf der Wiese in tiefster Nacht die rote Glut einer Zigarette und erkannte die dunkle Gestalt meines Vaters, der in den Wald hineinstarrte, als wartete er auf etwas, das aus der Finsternis zwischen den Bäumen hervorspringen müsse. Als Dad sich umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, schaute er zu meinem Zimmer hoch und sah, wie ich ihn vom Fenster aus anstarrte, doch er verlor nie ein Wort darüber. 61 Kapitel 10 Der Vollmond bildete einen Halo um Igels Kopf und weckte in mir vage Erinnerungen an Heilige und Ikonen in der Kirche. Neben ihm stand Luchog. Beide waren für einen Ausflug angezogen, mit Jacken und Schuhen, um der Kälte zu trotzen. »Aniday, steh auf und zieh dich an. Du kommst heute Morgen mit uns.« »Heute Morgen?« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Es ist mitten in der Nacht.« »Die Sonne geht gleich auf. Du solltest dich beeilen«, riet mir Luchog. Wir stahlen uns über versteckte Pfade durch den Wald, sprangen wie Hasen, krabbelten durch Gestrüpp und jagten in hoher Geschwindigkeit und ohne Pause über den Waldboden. Wolken zogen vor den Mond, die Landschaft verdunkelte sich und erstrahlte dann wieder. Der Pfad kreuzte leere Straßen, auf deren Asphalt unsere Schritte hallten. Wir flitzten übers offene Land, über gerodete Flächen, durch ein Maisfeld, dessen Stängel raschelten und surrten, als wir durch die Reihen wirbelten, vorbei an einer Scheune, riesig vor dem dunklen Himmel, und an einem Bauernhof, den das launische Mondlicht gelb färbte. Eine Kuh 61
muhte in ihrem Stall, als wir vorbeihuschten. Ein Hund bellte einmal auf. Hinter dem Hof wieder Bäume, wieder eine Straße, dann überquerten wir einen Fluss über eine schwindelerregend hohe Brücke. Auf der anderen Seite führte uns Igel in einen Graben, der parallel zur Straße verlief und in den wir uns duckten. Der Himmel lichtete sich zu einem dunklen Violett. Ein Motor stotterte, und kurz darauf fuhr oben auf der Straße ein Milchwagen an uns vorbei. »Wir sind zu spät aufgebrochen«, meinte Igel. »Jetzt wird er vorsichtiger sein müssen. Aniday, heute Morgen wollen wir prüfen, wie weit du es geschafft hast, einer von uns zu werden.« Ich schaute die Straße entlang und spähte den Milchwagen aus, der vor einem tristen Bungalow am Stadtrand anhielt. Daneben befand sich ein kleiner Gemischtwarenladen mit einer einzigen Zapfsäule davor. Der Milchmann, ganz in Weiß, stieg aus dem Lieferwagen, trug seinen Drahtkorb zur Seitentür und kam flott mit zwei leeren Flaschen, die gegen das Metall klirrten, zurück. Ganz gefangen genommen von der Szene, vergaß ich fast, meinen Gefährten zu folgen, die voraussausten. Ich holte sie keine zehn Meter vor der Tankstelle in einem Kanalrohr ein, wo sie in unheilvoller Verschworenheit miteinander flüsterten und auf etwas deuteten. Das Objekt der Begierde nahm im heller werdenden Licht Form an. Oben auf der Zapfsäule glänzte wie ein weißes Leuchtsignal ein Kaffeebecher. »Hol diesen Becher«, ordnete Igel an. »Und lass dich nicht erwischen.« Die höher steigende Sonne verdrängte die dunkleren Schattierungen der Nacht. Jegliches Zögern meinerseits barg das Risiko in sich, entdeckt zu werden. Es war eine simple Aufgabe, durch das Gras und über das Pflaster zu spurten, den Becher zu schnap 62 pen und zurück zu unserem Versteck zu flitzen. Angst hielt mich zurück. »Zieh deine Schuhe aus«, riet Igel. »Die hören dich nie.« Ich schlüpfte aus meinen knöchelhohen Stiefeln und rannte zur Zapfsäule, auf der sich ein rot geflügeltes Pferd gen Himmel schwang, griff nach dem Becher und wollte gerade umkehren, als ein unerwartetes Geräusch mich auf der Stelle erstarren ließ. Glas gegen Glas. Ich hatte die Vorstellung, der Tankstellenbesitzer greife in seinen Milchkorb, bemerke eine besondere Bewegung an der Zapfsäule und brülle, um mich aufzuhalten. Doch nichts dergleichen geschah. Eine Fliegengittertür knarzte und schlug mit einem Knall zu. Ich schluckte und lief, den Becher triumphierend in der Luft schwenkend, zurück zu meinen Freunden. »Gut gemacht, Schätzchen.« »Während du da draußen herumgetrödelt hast« — Igel sah mich ungerührt an —, »habe ich schon mal die Milch geholt.« Die Flasche war bereits offen. Ohne die zwei Zentimeter dicke Rahmschicht aufzuschütteln, goss Igel mir zuerst ein, und wie drei Säufer schütteten wir die halbe Gallone in uns hinein und tranken auf den Tagesanbruch. Kalte Milch senkte sich in meinen Magen und ließ meinen Bauch anschwellen, sodass ich
in Ohnmacht fiel und mit meinen Komplizen in einem Graben den Vormittag verschlief. Gegen Mittag erwachten wir aus unserem Schlummer und näherten uns gemessenen Schrittes der Stadt, wobei wir uns im Schatten verborgen hielten und beim kleinsten Hinweis auf Menschen still verharrten. Nur an Orten, die leer zu sein schienen, oder in Häusern, in denen niemand war, guckten wir uns um, schnüffelten und stöberten. Alle drei kletterten wir über 63 eine niedrige Steinmauer und stahlen Unmengen von Birnen vom Baum. Jeder Bissen war eine süße Sünde, und wir nahmen viel mehr mit, als wir essen konnten. Obwohl ich nur ungern auf die Birnen verzichten wollte, warfen wir die meisten über die Mauer zurück in den Obstgarten, wo sie in der Sonne verfaulen würden. Von einer Wäscheleine nahmen wir uns jeder ein sauberes frisches Hemd, und ich klaute noch einen weißen Pullover für Speck. Luchog steckte eine Socke von einem Paar, das dort hing, in seine Tasche. »Tradition.« Er grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Das Geheimnis der fehlenden Socke nach jedem Waschtag.« Als das Tageslicht langsam nachließ, tauchten die Kinder mit ihren Büchern und Schultaschen auf, und ein, zwei Stunden später kamen die Väter in ihren dicken Autos. Wir warteten, bis die Sonne versank, betrachteten das An- und Ausgehen der Lichter. Gutenachtwünsche wurden ausgetauscht, dann verschwanden die Häuser plötzlich in der Dunkelheit wie geplatzte Seifenblasen. Hier und da brannte noch ein Licht, verriet vielleicht eine einsame Seele, die nach Mitternacht noch las, einen umherwandernden Schlaflosen oder einen achtlosen Junggesellen. Wie ein General auf dem Schlachtfeld studierte Igel all diese Signale, ehe wir uns hinaus auf die Straßen wagten. Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal in das Schaufenster des Spielzeugladens geschaut oder die raue Oberfläche von Ziegelmauern gefühlt hatte. Die Stadt wirkte wie aus dem Jenseits, doch ich konnte nicht an einer einzigen Stelle vorbeigehen, ohne dass eine Flut von Gedanken und Erinnerungen in mir aufstieg. An der Pforte der katholischen Kirche hörte ich einen Geisterchor lateinisch jubilieren. Die rot-weiß-rote Stange vor dem Friseurladen brachte den Duft von Zaubernuss und das 63 Geräusch klappernder Scheren zurück. Briefkästen an den Straßenecken erinnerten mich an Karten zum Geburts- und Valentinstag. Meine Schule beschwor das Bild von Kindern herauf, die zu Dutzenden aus der Doppeltür quollen und laut schreiend die Sommerferien begrüßten. Doch trotz all ihrer Vertrautheit verwirrten mich die Straßen mit ihren ordentlichen Ecken und geraden Linien, mit der unglaublichen Wucht der Mauern und den klar umgrenzten Fenstern. Die sich ewig wiederholende Bauweise war erdrückend wie ein ummauerter Irrgarten. Die Schilder, Wörter und Hinweise - STOP; ESSEN SIE BEI UNS; REINIGUNG INNERHALB EINES TAGES; SIE VERDIENEN EINEN FARBFERNSEHER — erklärten kein Geheimnis, sondern ließen mich nur gleichgültig für ihre beharrliche Botschaft. Schließlich erreichten wir unser Ziel.
Luchog kletterte zu einem Fenster hinauf und wand sich durch einen Spalt, der viel zu klein und eng zu sein schien. Er machte sich flach wie eine Maus, die unter einer Tür durchschlüpft. Igel und ich standen auf der Straße Schmiere, bis das Schloss der Vordertür leise klickte, dann gingen wir, Igel voraus, die Treppe zum Supermarkt hoch. Als Luchog uns die Tür öffnete, grinste er uns blass an, und Igel wuschelte ihm durchs Haar. Leise gingen wir an den Reihen mit Waren entlang, vorbei an der Ovomaltine und dem Kakaopulver, den Frühstücksflocken in leuchtenden Schachteln, Dosen mit Gemüse, Früchten, Fisch und Fleisch. Jede neue Entdeckung lockte mich, aber Igel duldete keine Verzögerung und zischte mir im Befehlston zu: »Komm sofort hierher.« Sie hockten am untersten Regal vor Tüten, von denen Igel eine mit seinem scharfen Daumennagel aufschlitzte. Er leckte seine Fingerspitze ab, drückte sie in den Puder und kostete dann. 64 »Bäh. . . Mehl.« Er ging ein paar Schritte weiter und wiederholte den Vorgang»Noch schlimmer. . . Zucker.« »Das Zeug bringt dich um«, sagte Luchog. »Entschuldigt«, unterbrach ich ihn, »aber ich kann lesen. Was sucht ihr denn?« Luchog sah mich an, als wäre meine Frage das Blödeste, was er je gehört hatte. »Salz, Mann, Salz.« Ich deutete auf das untere Fach und meinte, dass man selbst ohne Sprachtalent das Bild des altmodischen Mädchens unter einem Regenschirm, das eine Salzspur hinter sich lässt, deuten könne. Wir packten so viel davon in unsere Rucksäcke, wie wir nur tragen konnten, und verließen den Laden durch die Vordertür, ein ernüchternder Abgang in Anbetracht der verlockenden Leckereien. Unsere Last machte den Heimweg länger und mühsamer, sodass wir unser Lager erst im Morgengrauen erreichten. Das Salz nutzten wir, wie ich später entdecken sollte, um Fleisch und Fisch für die mageren Monate einzulegen, doch damals hatte ich das Gefühl, wir hätten die Weiten des Meeres nach einem Schatz abgesucht und wären mit einer Kiste voll Sand in den Hafen zurückgesegelt. Als ich Speck den neuen Pullover überreichte, gingen ihr vor Überraschung und Freude die Augen über. Sie schälte sich aus ihrer löchrigen Strickjacke, die sie monatelang getragen hatte, hob den Pullover über den Kopf und ließ ihre Arme wie zwei Aale hineingleiten. Der rasche Blick auf ihre nackte Haut versetzte mich in Unruhe, und ich sah weg. Sie hockte auf einer Decke, hatte die Beine unter den Körper gezogen und lud mich ein, mich neben sie zu setzen. 64 »Berichte mir, o großer Jäger, von deinem Besuch in der alten Welt. Erzähle mir in allen Einzelheiten deine Missgeschicke und Heldentaten. Gib uns eine Geschichte zum Besten.« »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir sind wegen des Salzes in den Laden gegangen. Aber ich habe eine Schule gesehen und eine Kirche, und wir haben
eine Flasche Milch geklaut.« Ich griff in meine Tasche und zog eine weiche, überreife Birne heraus. »Die habe ich auch mitgebracht.« Sie legte die Birne auf den Boden. »Erzähl mir mehr. Was hast du sonst noch gesehen? Welche Gefühle hat die Welt in dir ausgelöst?« »Als würde ich mich erinnern und zugleich alles vergessen. Wenn ich ins Lampenlicht getreten bin, erschien mein Schatten, manchmal gleich mehrere Schatten. Doch war ich außerhalb des Lichtkreises, sind sie alle verschwunden.« »Du hast schon früher Schatten gesehen. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.« »Es ist ein sonderbares Licht, und die Welt ist voll gerader Linien und Kanten. Die Ecken ihrer Mauern sind so scharf wie Messer. Das ist unwirklich und ein bisschen beängstigend.« »Das ist nur ein Trick deiner Phantasie. Schreib deine Eindrücke in dein Buch.« Speck fingerte am Saum ihres Pullovers. »Wo wir gerade von Büchern sprechen — hast du die Bibliothek gesehen?« »Die Bibliothek?« »Wo sie die Bücher aufheben, Aniday. Du hast die Bibliothek nicht gesehen?« »Das hatte ich alles vergessen.« Doch während wir sprachen, kehrte die Erinnerung an die Stapel zerlesener Bücher zurück, an die zur Ruhe mahnende Bibliothekarin, an stille Männer und 65 aufmerksame Frauen, die sich vornüberbeugten und lasen. Meine Mutter hatte mich dorthin mitgenommen. Meine Mutter. »Ich bin früher oft dort gewesen, Speck. Ich durfte Bücher mit nach Hause nehmen, die ich, wenn ich sie ausgelesen hatte, zurückgebracht habe. Ich habe ein Kärtchen bekommen und meinen Namen auf einen Streifen auf der Rückseite des Buchs geschrieben.« »Du erinnerst dich.« »Aber ich erinnere mich nicht, was genau ich geschrieben habe. Ich habe nicht >Aniday< geschrieben.« Sie nahm die Birne in die Hand und untersuchte ihre weichen Stellen. »Hol mir ein Messer, Aniday, ich schneide sie in zwei Hälften. Und wenn du lieb bist, nehme ich dich mit in die Bibliothek und zeige dir die Bücher.« Statt mitten in der Nacht aufzubrechen wie zuvor, verließen wir an einem frischen Oktobertag erst gegen Mittag das Lager mit nicht viel mehr als einem »Bis später«. Luchog, Speck und ich nahmen denselben Weg in die Stadt, aber wir ließen uns Zeit, als schlenderten wir durch einen Park, da wir nicht vor Einbruch der Dunkelheit die Straßen erreichen wollten. Eine breite Schnellstraße durchschnitt den Wald, und wir mussten auf eine große Lücke im Verkehr warten. Ich sah mir jedes Auto genau an, ob vielleicht zufällig die Frau im roten Mantel an uns vorbeifuhr, aber wir standen zu weit von der Straße entfernt, um die Fahrer zu erkennen. An der Tankstelle am Stadtrand umkreisten zwei Jungen auf ihren Fahrrädern die Zapfsäule, fuhren langsame Bögen und genossen ihren letzten Spaß im letzten Licht. Ihre Mutter rief sie zum Abendessen, doch noch ehe ich ihr
Gesicht sehen konnte, verschwand sie wieder hinter einer zuschlagenden Tür. Mit 66 Luchog vorneweg überquerten wir die Straße im Gänsemarsch. Mitten auf dem Asphalt erstarrte er und spitzte die Ohren gen Westen. Ich hörte nichts, spürte aber in meinen Knochen das spannungsgeladene Herannahen einer Gefahr, die so rasch wie ein Sommergewitter auf uns zustürmte. Ein Moment der Unentschlossenheit, und unser Vorsprung war dahin. Zwei Hunde, die aus dem Dunkel auf uns zurasten, sprangen schon fast auf uns, als Speck meine Hand griff und brüllte: »Lauf!« Mit gebleckten Zähnen trennten sich die beiden, um uns mit tumultartigem Gebell und Geknurre zu jagen. Der größere, ein muskulöser Schäferhund, setzte Luchog nach, der in Richtung Stadt spurtete. Speck und ich flitzten zurück in den Wald, mit einem kläffenden Hund an den Fersen. Als wir die Bäume erreichten, riss sie mich nach vorne und schleuderte mich hoch, sodass ich schon fast zwei Meter über dem Boden war, bevor ich merkte, dass ich auf eine Platane kletterte. Speck wirbelte herum und stellte sich dem Hund, der an ihr hochsprang, blitzschnell machte sie einen Schritt zur Seite, packte das Biest am Nackenfell und donnerte es ins Gebüsch. Der Hund jaulte in der Luft auf, schnappte nach Asten, als er zu Boden fiel, und rappelte sich mühsam unter großen Schmerzen und völlig verwirrt wieder auf Mit eingekniffenem Schwanz schaute er sich noch einmal nach diesem Mädchen um und schlich davon. Aus der anderen Richtung kommend, trottete der Deutsche Schäferhund neben Luchog über die Straße, als wäre er seit ewigen Zeiten sein Schoßhündchen. Als sie wie auf Kommando gleichzeitig stehen blieben, wedelte der Hund mit dem Schwanz und leckte Luchog die Finger ab. »Erinnerst du dich an den letzten Wechselbalg, Speck? An den deutschen Jungen?« »Du sollst doch nicht. . . « 66 »Er hat sich als nützlich erwiesen bei diesem verdammten Köter. Ich bin um mein Leben gerannt, als ich mich plötzlich an dieses alte Wiegenlied erinnert habe, das unser Mann immer gesungen hat.« »>Guten Abend« Er sang »Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht«, und der Hund winselte. Luchog kraulte den Schäferhund zwischen den Ohren. »Es zeigt sich, dass Musik die wilde Brut besänftigt.« »Die Brust«, korrigierte sie ihn. »Das Zitat heißt richtig: >Der Musik wohnt der Zauber inne, die wilde Brust zu besänftigen.<« »Sag es ihm bloß nicht«, entgegnete Luchog und brach in schallendes Gelächter aus. Und dem Schäferhund befahl er: »Auf Wiedersehen, Schätzchen. Lauf nach Hause.« Die Bestie trottete davon. »Das war beängstigend«, sagte ich. Mit gespielter Nonchalance drehte sich Luchog eine Zigarette. »Hätte schlimmer kommen können. Hätten Menschen sein können.«
»Falls wir jemanden treffen, tu so, als wärst du stumm«, wies mich Speck an. »Sie werden denken, wir wären normale Kinder, und werden uns nach Hause schicken. Nick mit dem Kopf, wenn ich spreche, und sag kein einziges Wort.« Ich schaute mich auf der leeren Straße um und hoffte fast auf eine Begegnung, doch es schien, als wären alle Leute zu Hause, äßen zu Abend, badeten die Kinder oder machten sich bettfertig. Aus vielen Häusern drang ein unheimliches blaues Flimmern. Die Bibliothek stand würdevoll in der Mitte eines von Bäu 67 men umgebenen Blocks. Speck bewegte sich, als wäre sie diesen Weg schon oft gegangen, und das Problem verschlossener Türen war leicht gelöst. Luchog führte uns hinter dem Haus zu einer Treppe und zeigte auf einen Spalt, wo sich der Beton ein Stück von der Mauer gelöst hatte. »Ich glaube nicht, dass ich da durch passe. Mein Kopf ist zu groß, und so mager bin ich nicht.« »Luchog ist eine Maus«, sagte Speck. »Sieh zu und lerne.« Er enthüllte mir das Geheimnis, wie man seine Knochen erweicht. Wesentlich ist, dass man wie eine Maus oder eine Fledermaus denkt und sich einfach der eigenen Biegsamkeit bewusst wird. »Beim ersten Mal wird es wehtun, Kumpel, wie alle guten Dinge, aber es ist kein Trick dabei. Eine Sache des Glaubens. Und der Übung.« Er verschwand im Mauerriss, und Speck folgte ihm nach, wobei sie einen einzigen lang gezogenen Seufzer ausstieß. Sich durch diesen engen Spalt zu zwängen, schmerzte mehr, als ich mit Worten sagen kann. Die Abschürfungen an meinen Schläfen brauchten Wochen, um zu heilen. Nachdem ich mich weich gemacht hatte, musste ich daran denken, einen Moment die Spannung in den Muskeln zu halten, oder ich liefe Gefahr, dass ein Arm oder ein Bein lahm würde. Doch Luchog hatte recht — mit der Zeit wurde mir das Sichhindurchzwängen zur zweiten Natur. Der Raum unter der Bibliothek war finster und unheimlich, sodass, als Speck ein Streichholz anzündete, die Flamme hoffnungsvoll aufzuckte. Mit der Flamme berührte sie einen Kerzendocht, und mit der Kerze entzündete sie eine Sturmlaterne, die nach Moder und Petroleum stank. Je heller sie schien, desto besser leuchtete sie die Ausmaße und Besonderheiten dieses Orts 67 aus. Der Zwischenraum zog sich an der Innenseite der Rückwand des Gebäudes entlang und war darum eher lang als breit. Es war an einem sanft geneigten Hang gebaut, sodass man an unserem Eingang ganz bequem stehen konnte und der Boden zur gegenüberliegenden Wand anstieg, wo man sich nur sitzend aufhalten konnte. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich mir den Kopf an der hinteren Decke gestoßen habe. Der Raum hatte sich zufällig ergeben, eine Art Hohlraum unter einem neuen Anbau an die alte Bibliothek. Da er nicht auf denselben Fundamenten ruhte, war es dort im Sommer heißer als draußen und im Winter klirrend kalt. Im Lampenschein sah ich, dass jemand für ein paar Requisiten gesorgt hatte — zwei kleine Teppiche, einige Gläser und in der nordwestlichen Ecke eine Art Sessel, der aus alten Decken
bestand. Kaum begann Luchog, an seinem Tabaksbeutel herumzunesteln, als ihm Speck befahl hinauszugehen, wenn er rauchen müsse. Empört grummelnd machte er sich durch den Spalt davon. »Na, Aniday, was denkst du? Ein bisschen rustikal, aber eben doch... Zivilisation.« »Großartig.« »Das Beste hast du noch nicht gesehen. Den Hauptgrund, warum ich dich hergebracht habe.« Speck winkte mir, ich solle ihr folgen, und wir krochen die Steigung zur hinteren Wand hoch. Sie langte nach oben, drehte einen Knauf, und ein Paneel fiel von der Decke. Blitzschnell schwang sie sich durch das Loch und war verschwunden. Ich blieb auf den Knien hocken, und als ich darauf wartete, dass sie zurückkäme, schaute ich hoch zur Öffnung, in der plötzlich ihr Gesicht erschien. »Kommst du endlich?«, flüsterte sie. 68 Ich folgte ihr in die Bibliothek. Obwohl nur das schwache Licht von unten in den Raum schien, konnte ich — und mein Herz machte einen Satz bei dem Anblick — Regalreihen hinter Regalreihen erkennen, Fach an Fach, vom Boden bis zur Decke, eine Stadt der Bücher. Speck drehte sich zu mir um und fragte: »Na, was sollen wir zuerst lesen?« 68 Kapitel 11 Das Ende kam in jeder Hinsicht zur richtigen Zeit. Ich hatte nicht nur alles gelernt, was Mr. Martin zu bieten hatte, ich hatte auch alles satt — das Üben, das Repertoire, die Disziplin und die Langeweile der achtundachtzig Tasten. Als ich sechzehn wurde, suchte ich schon nach einem Vorwand aufzuhören, nach einem Ausweg, der meiner Mutter nicht das Herz bräche. Fakt ist, dass ich, obwohl ich ein sehr guter Pianist bin, sogar ein vorzüglicher, doch nie grandios war. Ja, bei weitem der Beste in unserem abgelegenen Weiler, zweifellos in unserer Ecke des Staates, vielleicht der Beste von einer Grenze zur anderen, aber darüber hinaus, nein. Mir fehlte die Leidenschaft, das verzehrende Feuer, um ein Weltklassepianist zu werden. Der Blick in die Zukunft bot mir eine erbärmliche Alternative. Sollte ich etwa wie Mr. Martin enden und nach einer zweitklassigen Karriere andere unterrichten? Eher würde ich in einem Bordell spielen. Als wir eines Morgens beim Frühstück saßen, eröffnete ich mit diesem Schachzug: »Mom, ich glaube nicht, dass ich noch besser werden kann.« »Besser als was?«, fragte sie und verquirlte die Eier. »Am Klavier, in der Musik. Weiter komme ich nicht.« 68 Sie goss den Eierteig in eine Bratpfanne, und es spritzte und zischte, als er mit der Butter und dem heißen Eisen in Berührung kam. Sie sagte nichts, starrte nur vor sich hin. Sie servierte mir einen Teller mit Rührei und Toast, und ich aß schweigend. Mit der Kaffeetasse in der Hand saß sie mir gegenüber. »Henry«, sagte sie, leise, damit ich aufmerksam zuhören musste. »Erinnerst
du dich an den Tag, als du noch ein kleiner Junge warst und von zu Hause weggelaufen bist?« Ich erinnerte mich nicht, aber ich nickte zwischen zwei Bissen. »Es war ein strahlender Tag, heiß, höllisch heiß. Ich wollte ein Bad nehmen, um mich abzukühlen. An die Hitze kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Und ich habe dich gebeten, dich um Mary und Elizabeth zu kümmern, aber du verschwandst im Wald. Erinnerst du dich daran?« Ich konnte mich natürlich auch daran nicht erinnern, aber ich nickte wieder, als ich meinen letzten Schluck Orangensaft trank. »Ich habe die Mädchen ins Bett gebracht und bin wieder runtergekommen, doch du warst weg.« Ihre Augen wurden feucht, als sie diese Begebenheit erzählte. »Wir haben überall nach dir gesucht, aber konnten dich nicht finden. Später am Tag habe ich deinen Vater angerufen, damit er nach Hause kommt, und dann haben wir die Polizei und die Feuerwehr verständigt, und alle zusammen haben wir dich stundenlang gesucht und deinen Namen in die Nacht hinausgebrüllt.« Sie schaute an mir vorbei, als durchlebte sie diese Erfahrung noch einmal vor ihrem geistigen Auge. »Gibt's noch Rührei, Mom?« Sie deutete mit ihrer Gabel in Richtung Herd, und ich bediente mich selbst. »Als es dunkel wurde, hatte ich große Angst um dich. Wer weiß schon, was da draußen im Wald lebt? Ich habe mal eine Frau in Donegal gekannt, der man das Baby geraubt hatte. Sie war hinausgegangen, um Brombeeren zu pflücken, und hatte ihr schlafendes Kind an einem strahlenden Sommertag auf einer Decke zurückgelassen. Und als sie zurückkam, war das Baby verschwunden, es wurde nie wieder gefunden, armes Kind, nicht eine Spur. Das Einzige, was von ihm übrig geblieben war, war ein Abdruck im Gras.« Ich pfefferte mein Rührei und schaufelte es in mich hinein. »Ich sah dich vor mir, verirrt im Wald und nach deiner Mutter rufend. Und ich konnte nicht zu dir. Und ich betete zu Gott, dass du wieder nach Hause kommst. Als sie dich gefunden haben, war es wie eine zweite Chance. Wenn du aufhörst, ist es so, als würdest du deine zweite Chance, dein gottgegebenes Talent, wegwerfen. Es ist eine Gnade, und du solltest dein Talent nutzen.« »Ich komme zur spät zur Schule.« Ich wischte den Teller mit einer Brotkante sauber, küsste sie auf den Kopf und ging. Noch ehe ich die Vordertreppe hinuntergegangen war, bedauerte ich schon, nicht überzeugender gewesen zu sein. Ein Großteil meines Lebens war von Unentschlossenheit beherrscht, und ich bin dankbar, wenn das Schicksal eingreift und mir die Wahl und die Verantwortlichkeit für mein Handeln abnimmt. Als im Winter jenes Jahres der Vorspielabend bevorstand, verursachten mir allein schon der Anblick und der Klang des Klaviers Magenschmerzen. Ich konnte meine Eltern nicht enttäuschen, indem ich bei Mr. Martin aufhörte, also tat ich so, als wäre alles in Ordnung. Wir trafen früh an der Konzerthalle ein, und ich trennte mich an der Tür von meiner Familie, die sich auf 69 ihre Plätze begeben wollte, während ich mich hinter die Bühne trollte. Der ganze Zirkus um das Vorspielen war unverändert. In den Kulissen der Bühne
irrten Schüler umher, die sich mental auf ihr Stück vorbereiteten und ihre Fingersätze auf irgendeiner flachen Oberfläche übten. Mr. Martin lief zwischen uns hin und her, zählte Köpfe, beruhigte die Lampenfiebrigen, die Unfähigen und den Widerwilligen. »Du bist mein Spitzenschüler«, sagte er. »Der Beste, den ich je unterrichtet habe. Der einzige wirkliche Klavierspieler in diesem ganzen Haufen. Bring sie zum Weinen, Henry.« Bei diesen Worten steckte er mir eine Nelke ans Revers. Er wirbelte herum und teilte den Vorhang, sodass er im Rampenlicht stand, um das Publikum zu begrüßen. Da mein Auftritt das große Finale sein würde, hatte ich Zeit zu entwischen und eine Camel zu rauchen, die ich aus dem Päckchen meines Vaters geklaut hatte. Eine Winternacht war hereingebrochen, klar und kalt. Eine Ratte, überrascht von meiner Anwesenheit in der Gasse, blieb stehen und schaute mich an. Ich zeigte dem Biest die Zähne, zischte und starrte es finster an, aber ich konnte ihm keine Angst einjagen. Vor langer, langer Zeit hatten solche Tiere eine Höllenangst vor mir gehabt. In dieser eiskalten Nacht fühlte ich mich durch und durch menschlich, und der Gedanke an das warme Theater munterte mich auf. Wenn dies also meine Abschiedsvorstellung sein sollte, dann wollte ich ihnen etwas bieten, an das sie sich lange erinnern würden. Ich preschte vor wie ein Einpeitscher, sauste über die Tasten, ließ es donnern und fließen und gab immer den richtigen Druck auf alle halben Noten. Leute im Publikum sprangen von ihren Stühlen und klatschten schon, noch ehe die Saiten aufgehört hatten nachzuklingen. Begeistert überschütteten sie mich so sehr mit ihren Hurras, dass ich beinahe vergaß, wie abgrundtief 70 ich die ganze Chose hasste. Hinter der Bühne beglückwünschten mich zuerst Mr. Martin, mit Tränen in den Augen und »bravo« rufend, dann die anderen Schüler, von denen die eine Hälfte ihren Groll kaum verbergen konnte und die andere Hälfte von Neid zerfressen war, da sie mit widerwilliger Freundlichkeit anerkennen mussten, dass ich ihre Darbietungen weit in den Schatten gestellt hatte. Eltern, Geschwister, Freunde, Nachbarn und ausgesuchte Musikliebhaber strömten herbei. Sie scharten sich um die Spieler, doch ich zog die größte Menge an, und die Frau im roten Mantel bemerkte ich erst, als die meisten Gratulanten bereits gegangen waren. Meine Mutter wischte mir gerade mit einem feuchten Taschentuch Lippenstift von der Backe, als die Frau in mein Blickfeld geriet. Sie wirkte normal und freundlich, um die Vierzig. Dunkelbraunes Haar rahmte ihr intelligentes Gesicht, doch die Art und Weise, wie mich ihre blassgrünen Augen fixierten, verwirrte mich. Sie schaute, schaute genauer, prüfte und grübelte, als grabe sie ein altes Rätsel aus. Sie war mir absolut unbekannt. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Sie sind also Andrew Day?« »Henry Day«, korrigierte ich sie. »Richtig, Henry. Sie spielen wundervoll.« »Danke.« Ich drehte mich wieder zu meinen Eltern, die mir zu verstehen gaben, sie seien bereit zu gehen.
Vielleicht sah sie mein Profil, oder vielleicht war es auch nur die einfache Bewegung, als ich mich abwandte, die etwas in ihrem Kopf auslöste, denn sie stockte und legte die Finger auf den Mund. »Du bist es«, sagte sie. »Du bist der kleine Junge.« Ich blinzelte sie an und lächelte. »Du bist es, den ich damals in der Nacht im Wald gesehen habe. Auf der Straße. Mit dem Hirsch.« Sie hob die Stimme. 71 »Erinnerst du dich denn nicht? Ich habe dich auf der Straße mit diesen anderen Jungen gesehen. Es muss jetzt acht oder neun Jahre her sein. Du bist jetzt zwar schon groß und so, aber du bist der kleine Junge von damals, kein Zweifel. Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht.« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Madam.« Ich wollte gehen, doch sie packte mich am Arm. »Du bist es. Ich habe mir den Kopf am Armaturenbrett angeschlagen, als ich den Hirsch angefahren habe. Und zuerst habe ich geglaubt, du wärest ein Traum. Du bist aus dem Wald gekommen...« Ich stieß ein Kreischen aus, das alle im Raum zum Schweigen brachte, einen reinen rohen Schrei, der alle aufschreckte, mich inbegriffen. Ich wusste nicht, dass ich noch immer zu einem solch unmenschlichen Laut fähig war. Meine Mutter mischte sich ein. »Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe. Sie tun ihm weh am Arm.« »Sehen Sie, Lady«, sagte ich. »Ich kenne Sie nicht.« Mein Vater trat zwischen uns drei. »Was ist hier los?« Die Augen der Frau blitzten wütend auf. »Ich habe Ihren Jungen gesehen. Ich bin eines Nachts vom Land nach Hause gefahren, und dieser Hirsch sprang direkt vor meinem Wagen auf die Straße. Ich habe das Steuer herumgerissen, wollte ihm ausweichen, doch ich habe ihn mit der Stoßstange erwischt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also bin ich ausgestiegen, um zu sehen, ob ich helfen könnte.« Statt weiter meinen Vater anzusehen, sprach sie nun direkt zu mir. »Und aus dem Wald kommt dieser Junge hier, etwa sieben oder acht Jahre alt. Ihr Sohn. Und er hat mich mehr erschreckt 71 als der Hirsch. Er kommt aus dem Nichts, geht geradewegs auf den Hirsch zu, als wäre es das Normalste von der Welt. Dann beugt er sich über seine Schnauze oder Nase oder wie immer man das nennt. Kaum zu glauben, aber er umschließt das Maul mit seiner Hand und atmet hinein. Es war Magie. Der Hirsch rollte sich auf die Seite, streckte die Beine, stand und sprang davon. Das ist das Unglaublichste, das mir je passiert ist.« Da wurde mir klar, dass sie eine Begegnung gehabt hatte. Aber ich wusste auch, dass ich sie nie zuvor gesehen hatte, und obwohl manche Elben gerne wilden Tieren Atem einhauchen, habe ich mich mit solchen Albernheiten nie abgegeben.
»Ich konnte den Jungen im Licht der Scheinwerfer wirklich gut sehen«, sagte sie, »seine Freunde im Wald hingegen nicht so gut. Du warst es. Wer bist du wirklich?« »Ich kenne die Frau nicht.« Meine Mutter, völlig gebannt von ihrer Geschichte, präsentierte ihr ein Alibi. »Henry kann es nicht gewesen sein. Hören Sie, als er sieben Jahre alt war, ist er von zu Hause weggelaufen, und in den darauffolgenden Jahren habe ich ihn nicht aus den Augen gelassen. Er war nachts nie allein unterwegs.« Die Stimme der Frau verlor an Nachdruck, und ihr Blick suchte nach einem Anhaltspunkt, dies glauben zu können. »Er hat mich angesehen, und als ich ihn nach seinem Namen gefragt habe, ist er weggerannt. Seit jener Nacht habe ich mich gefragt...« Mein Vater schlug einen sanften Ton an, was nur selten geschah. »Es tut mir leid, aber Sie müssen sich irren. Jeder hat einen Doppelgänger auf der Welt. Vielleicht haben Sie jemanden gesehen, der Ähnlichkeit mit meinem Sohn hat. Es tut mir leid, dass Sie Unannehmlichkeiten hatten.« Sie sah ihm in die Augen, 72 suchte nach einer Bekräftigung, doch er bot ihr als Trost nur seine Gelassenheit. Er nahm ihr den roten Mantel vom Arm und hielt ihn offen vor sie hin. Sie schlüpfte hinein und verließ ohne ein Wort, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Raum, die kläglichen Überreste von Wut und Angst im Schlepptau. »Hast du so was schon mal erlebt?«, fragte meine Mutter. »Welch eine Geschichte. Und kaum zu glauben, dass sie auch noch den Nerv hatte, sie zu erzählen.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Vater mich beobachtete, und das ging mir auf die Nerven. »Können wir jetzt gehen? Können wir jetzt endlich hier verschwinden?« Als wir im Wagen saßen und außerhalb der Stadt waren, verkündete ich meinen Entschluss. »Ich gehe nicht mehr zurück. Kein Vorspielen, keinen Unterricht, keine Fremden mehr, die mir ihre wilden Geschichten erzählen. Ich höre auf.« Einen Moment glaubte ich, mein Vater käme von der Straße ab. Er zündete sich eine Zigarette an und überließ es meiner Mutter, das Gespräch zu führen. »Henry, du weißt, was ich vom Aufhören halte...« »Habt ihr gehört, was die Lady gesagt hat?«, fiel ihr Mary ins Wort. »Sie hat geglaubt, du würdest im Wald leben.« »Dabei stehst du nicht einmal gern neben einem Baum«, sagte Elizabeth lachend. »Es geht hier nicht um dich, Mom, sondern um mich.« Mein Vater schaute stur auf den weißen Mittelstreifen. »Du bist zwar ein feinfühliger Junge«, setzte meine Mutter wieder an. »Aber du kannst doch nicht zulassen, dass eine Frau mit einer Geschichte dein Leben ruiniert. Du willst mir doch nicht weismachen, dass du acht Jahre Arbeit wegen eines Märchens hinschmeißt.«
73 »Es ist nicht wegen der Frau im roten Mantel. Ich habe einfach die Nase voll. Ich bin so weit gekommen, wie ich kommen konnte.« »Bill, sag doch auch mal was.« »Dad, ich habe es satt, dieses Üben, Üben, Üben. Satt, meine Samstage zu vergeuden. Ich glaube, ich sollte selbst über mein Leben bestimmen dürfen.« Er nahm einen tiefen Zug und trommelte mit den Fingern auf das Steuer. Dieses Signal verstanden alle Days. Auf dem ganzen Heimweg herrschte Schweigen. In dieser Nacht hörte ich sie reden, konnte aber nur das Anschwellen und Abebben einer lauten, emotionsgeladenen Auseinandersetzung ausmachen, meine Fähigkeit, aus der Ferne zu lauschen, hatte ich völlig verloren. Ab und zu hörte ich, wie er ein »verdammt« oder ein »saumäßig« herausschleuderte, und sie hat womöglich geweint — ich vermute, dass sie geweint hat —, aber das war es auch schon. Gegen Mitternacht stürmte er aus dem Haus, und das Geräusch des vom Hof fahrenden Autos weckte ein Gefühl der Trostlosigkeit in mir. Ich ging hinunter, um zu sehen, ob Mutter die Tortur überlebt hatte, und ich fand sie ruhig am Küchentisch sitzend, mit einem offenen Schuhkarton vor sich. »Henry, es ist spät.« Sie schnürte ein Band um einen Packen Briefe und legte ihn in die Schachtel. »Dein Vater hat, als er in Nordafrika war, jede Woche geschrieben.« Ich kannte die Geschichte schon auswendig, doch sie spulte sie noch einmal ab. Schwanger, mit einem Ehemann im Krieg auf der anderen Seite des Meeres, damals ganze neunzehn Jahre alt, habe sie bei seinen Eltern gewohnt. Als Henry geboren wurde, sei sie noch immer allein gewesen, und ich sei jetzt fast genauso alt wie sie damals, als sie dieses ganze Elend habe durchmachen müssen. Wenn ich 73 aber mein Leben als Kobold dazuzähle, hätte ich ihr Großvater sein können. Unbezwingbares Alter hatte sich unaufhaltsam in ihr Herz geschlichen. »Wenn du jung bist, glaubst du, das Leben sei einfach, und weil deine Gefühle so stark sind, kannst du beinahe alles ertragen. Geht es dir gut, schwebst du in den Wolken, und geht es dir schlecht, hockst du ganz tief unten im Keller. Doch obwohl ich mittlerweile alt bin...« Nach meiner Berechnung war sie fünfunddreißig. »...heißt das nicht, dass ich vergessen habe, wie es ist, jung zu sein. Natürlich musst du in deinem Leben tun, was du für richtig hältst. Ich hatte nur so große Hoffnungen auf dich als Pianisten gesetzt, Henry, aber du kannst werden, was du willst. Wenn es nicht dein Herzenswunsch ist, verstehe ich es.« »Möchtest du eine Tasse Tee, Mom?« »Das wäre wunderbar.« Zwei Wochen später, es war der Nachmittag vor Weihnachten, fuhren Oscar Love und ich in die Stadt, um meine neu gewonnene Unabhängigkeit zu feiern. Seit der Episode mit Sally quälte mich die Frage, ob ich überhaupt fähig war, Geschlechtsverkehr zu haben, daher war unser Trip nicht ganz sorglos. Als ich noch im Wald lebte, war nur eines dieser Ungeheuer dazu in der Lage. Er war zu spät geraubt worden, als die Pubertät bereits voll im Gange war, und er
machte den armen Mädchen nichts als Ärger. Wir anderen waren körperlich nicht so weit, den Akt vollziehen zu können. Doch an diesem Abend war ich so weit, dass ich Sex haben wollte. Oscar und ich kippten eine Flasche billigen Wein in uns hinein. So gestärkt, näherten wir uns bei Einbruch der Dunkelheit dem Haus, als die Frauen die Geschäfte gerade aufnahmen. Zu gern würde ich berichten, dass der Verlust meiner Unschuld exotisch und erotisch war, doch in Wahrheit war es vorwiegend freudlos, grob und sehr viel rascher vorbei, als ich erwartet hatte. Sie war hellhäutig und hatte ihre besten Jahre schon hinter sich, ihr platinblonder Schopf war nicht echt und eine ihrer Anweisungen lautete: nicht küssen. Als ich eine zögerliche Unsicherheit zeigte, nach dem Motto: »Wo und wie stelle ich es an?«, packte sie mich und rückte mich in Position. Wenig später blieb mir nur, mich anzuziehen, zu bezahlen und ihr frohe Weihnachten zu wünschen. Am nächsten Morgen, als die Geschenke um den Baum herum lagen und die Familie in Schlafanzügen und Bademänteln herumsaß, hatte ich das Gefühl, ein gänzlich neues Leben breche an. Mutter und die Zwillinge waren blind für jede Veränderung, während sie fröhlich der Aufgabe nachgingen, sich aufrichtige Zuneigung und gegenseitige Wertschätzung zu schenken. Mein Vater hingegen könnte meine Ausschweifung in der Nacht zuvor geahnt haben. Als ich gegen zwei Uhr morgens nach Hause gekommen war, hatte das Wohnzimmer nach Cameis gerochen, als hätte er auf mich gewartet und wäre erst zu Bett gegangen, als Oscars Auto in die Einfahrt fuhr. An diesem ganzen schläfrigen Feiertag schlich mein Vater durch das Haus wie ein Bär, der durch sein Revier streift, wenn er ein anderes männliches Tier wittert. Es fielen keine Worte, nur einige schräge Blicke, Schroffheiten, ein, zwei Anraunzer. In unserer verbleibenden gemeinsamen Zeit kamen wir nicht gut miteinander aus. Ich musste noch anderthalb Jahre auf der Highschool verbringen, bis ich irgendwohin auf ein College gehen konnte, und so schlichen wir umeinander herum und wechselten bei unseren seltenen Zusam 74 mentreffen kaum ein Wort. Die meiste Zeit behandelte er mich wie einen Fremden. Ich erinnere mich an zwei Situationen, in denen er aus sich herausging, und beide waren beunruhigend. Einige Monate nach der Szene beim Wintervorspiel kam er auf die Frau in Rot und auf ihre merkwürdige Geschichte zu sprechen. Wir waren gerade dabei, den Hühnerstall meiner Mutter einzureißen, da sie nun, nachdem sie hübsche Gewinne gemacht hatte, alle Vögel verkauft und das Geschäft mit den Eiern und Hühnchen aufgegeben hatte. Seine Fragen kamen in Intervallen zwischen den Hebelaktionen mit dem Stemmeisen, dem Quietschen der Nägel und dem Herunterreißen der Holzbalken. »Du erinnerst dich also an die Frau und ihre Geschichte von dem Jungen und dem Hirsch?« Er riss einen weiteren Balken ab. »Was hältst du davon? Glaubst du, dass so etwas wirklich passieren kann?«
»Hat für mich unvorstellbar geklungen, aber vermutlich war es so. Sie schien sich ganz sicher.« Er ächzte vor Anstrengung, als er einen weiteren rostigen Nagel zog. »Dann könnte es also tatsächlich so gewesen sein? Wie erklärst du dir, dass sie glaubte, du seiest es gewesen?« »Ich habe nicht gesagt, dass es tatsächlich so war. Sie schien davon überzeugt, dass es so war. Aber das ist doch unwahrscheinlich, oder? Und selbst angenommen, ihr ist so etwas widerfahren, dann täuscht sie sich, was mich angeht. Ich war nicht dort.« »War es vielleicht jemand, der so aussah wie du?« Er wandte seine ganze Kraft auf, und die restliche Mauer brach in sich zusammen, sodass nur noch das Skelett starr in den Himmel ragte. »Das wäre eine Möglichkeit«, entgegnete ich. »Ich habe sie an jemanden erinnert, den sie vor langer Zeit gesehen hat. Hast du 75 ihr nicht gesagt, jeder habe einen Doppelgänger auf der Welt? Vielleicht hat sie meinen bösen Zwilling gesehen.« Er musterte den Unterbau. »Ein paar gute Schläge und das Ding fällt um.« Er hieb den Rahmen zusammen, lud die Teile auf einen Laster und fuhr davon. Die zweite Situation ergab sich etwa ein Jahr später. Beim ersten Tageslicht weckte mich seine Stimme, ich folgte ihr, ging aus meinem Zimmer und durch die Hintertür. Fedriger Nebel stieg aus der Wiese, und er stand mit dem Rücken zu mir mitten im feuchten Gras, rief meinen Namen, während er gebannt auf einige Tannen schaute. Dunkle Fußspuren führten zehn Meter vor ihm in den Wald. Er stand wie angewurzelt da, als hätte er ein wildes Tier aufgeschreckt, das ängstlich geflohen war. Aber ich sah kein Lebewesen. Als ich näher kam, schwebte der Nachklang einiger heiserer Schreie nach »Henry« in der Luft. Dann fiel er auf die Knie, neigte den Kopf zu Boden und weinte still in sich hinein. Ich schlich zurück ins Haus und tat so, als läse ich die Sportseiten, als er hereinkam. Mein Vater schaute mich an, wie ich, über die Zeitung gebeugt, dasaß und meine langen Finger die Kaffeetasse umfassten. Der nasse Gürtel seines Bademantels schleifte über den Boden wie eine Kette. Tropfnass, zerzaust und unrasiert, wirkte er sehr viel älter, doch vielleicht war mir nur vorher nicht aufgefallen, dass er alterte. Seine Hände zitterten, als hätte er Schüttellähmung, und er fingerte eine Camel aus seiner Tasche. Die Zigarette war zu feucht und ließ sich trotz wiederholter Versuche nicht anzünden, daraufhin knüllte er das ganze Päckchen zusammen und schleuderte es in den Abfall. Ich stellte eine Tasse Kaffee vor ihn hin, und er starrte auf den aufsteigenden Dampf, als hätte ich ihm Gift vorgesetzt. 75 »Dad, geht es dir gut? Du siehst fürchterlich aus.« »Du.« Er richtete seinen Finger auf mich wie ein Gewehr, aber das war alles, was er sagte. Dieses Wort hing den ganzen Vormittag in der Luft, und ich glaube nicht, dass er mich jemals wieder »Henry« genannt hat. 75 Kapitel 12
Wir wollten in die Kirche gehen, um Kerzen zu stehlen. Selbst in tiefster Nacht beherrschte das Bauwerk aus Schiefer und Glas die Main Street. Das von einem schmiedeeisernen Gitter umfriedete Gotteshaus war in Kreuzform angelegt, und von welcher Seite man sich ihm auch näherte, seiner Symbolträchtigkeit entging man nicht. Zwölf nach oben führende Stufen, riesige Pforten aus Kastanienholz, bunte Fenster mit biblischen Glasmosaiken, in denen sich das Mondlicht spiegelte, Simse unterm Dach, auf denen lauernde Engel kauerten — das ganze Gemäuer schien wie ein Schiff, das uns, als wir uns heranschlichen, zu überrollen drohte. Smaolach, Speck und ich huschten über den Friedhof neben dem Ost-flügel der Kirche und betraten diese durch eine Seitentür, die die Priester nie verschlossen. Die langen Reihen der Kirchenbänke und die Deckenwölbung schufen einen Raum, der uns in der Dunkelheit zu erdrücken schien; seine Leere wirkte schwer und gewichtig. Doch als sich unsere Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, wirkte er nicht mehr so bedrückend. Die bedrohliche Größe schrumpfte, und die hohen Wände und Deckengewölbe neigten sich hernieder, als wollten sie uns umarmen. Wir teilten uns auf, Smaolach und Speck suchten große Kerzen rechts in der 76 Sakristei und ich die kleineren Votivkerzen in einer Nische jenseits des Altars. Eine flüchtige Präsenz schien mir um die Altarschranken herum zu folgen, und echte Furcht stieg in mir auf. Aufgereiht wie Soldaten, standen auf einem schmiedeeisernen Gestell Dutzende Kerzchen in Glasbehältern. In einem Opferstock klapperten die Pennys, als ich mit den Fingernägeln gegen das Metallgehäuse klopfte, abgebrannte Streichhölzer lagen herum. Ich strich ein neues Streichholz an der rauen Reibefläche an, und eine kleine Flamme schoss wie ein Fingerschnalzen auf. Plötzlich bereute ich das Flämmchen, denn über mir entdeckte ich das Gesicht einer Frau, die auf mich niederschaute. Ich schüttelte das Hölzchen aus und kroch unter die Schranke, in der Hoffnung, unsichtbar zu sein. Panik und Angst verflogen genauso schnell, wie sie gekommen waren, und was mich heute verblüfft, ist, wie viel einem in kürzester Zeit durch den Kopf schwirrt. Als ich ihren auf mir ruhenden Blick sah, erinnerte ich mich an die Frau in Rot, an meine Schulkameraden, an die Leute in der Stadt und in der Kirche, an Weihnachten, Ostern, Halloween, an das Kidnapping, das Ertrinken, an Gebete, an die Jungfrau Maria, an meine Schwestern, meinen Vater und meine Mutter. Beinahe hätte ich das Rätsel meiner Identität gelöst. Doch ebenso rasch, wie man »Verzeihung« sagt, verflüchtigten sie sich wieder und mit ihnen meine wahre Geschichte. Es hatte den Anschein, als flackerten die Augen der Figur im Licht des Streichholzes. Ich schaute in das rätselhafte, von einem unbekannten Bildhauer idealisierte Gesicht der Jungfrau Maria, auf den Gegenstand unermesslicher Verehrung, Hingabe, Andacht, Vorstellungskraft und inbrünstiger Gebete. Während ich meine Taschen mit Kerzen voll stopfte, empfand ich quälende Schuld. 76
Hinter mir öffnete sich ächzend die schwere Holztür des Haupteingangs, als ein Bußfertiger oder ein Priester eintrat. Wir entwischten durch die Seitentür und rannten im Zickzack zwischen den Grabsteinen her. Obwohl dort Tote begraben lagen, weckte der Friedhof in mir nur halb so viel Angst wie die Kirche. An einem Grabstein blieb ich stehen, fuhr mit den Fingern über die eingravierten Buchstaben und war versucht, ein Streichholz anzuzünden, um den Namen lesen zu können. Doch da die anderen bereits über die schmiedeeiserne Umfriedung sprangen, hastete ich hinter ihnen her, und wir jagten quer durch die Stadt, bis wir alle wieder unter der Bibliothek in Sicherheit waren. Jedes Rufen in der Nähe elektrisierte uns, und kichernd wie Kinder hockten wir auf unseren Decken. Wir zündeten viele Kerzen an, um Glanz in unsere Zuflucht zu bringen. Smaolach jedoch kroch in eine dunkle Ecke, rollte sich zusammen wie ein Fuchs und steckte die Nase unter seinen schützenden Arm. Speck und ich hingegen suchten die Helligkeit, mit unseren neuesten Büchern in den Händen saßen wir nebeneinander, und nur am Rascheln des Umblätterns war zu erkennen, dass die Zeit verging. Seit sie mir diesen geheimen Ort gezeigt hatte, ging ich liebend gern in die Bibliothek. Anfangs wegen der Bücher, die ich aus meiner Kindheit kannte, wegen dieser alten Geschichten — Grimms Märchen und Mother Goose, Bilderbüchern wie Mike Mulligan, Make Wayjor Ducklings und Homer Price —, von denen ich mir einen weiteren Hinweis auf meine schwindende Identität versprach. Doch statt mir zu helfen, die Vergangenheit zurückzuerobern, entfernten mich die Geschichten noch mehr von ihr. Als ich die Bilder anschaute und mir laut den Text vorlas, hoffte ich, die Stimme meiner Mutter wieder zu hören, aber sie war verschwunden. Nach meinen ersten Besuchen in der Bibliothek schob ich 77 diese kindischen Sachen zurück ins Regal und schaute sie nie wieder an. Stattdessen begab ich mich auf eine Reise, zu der Speck die Route ausarbeitete, sie wählte — oder half mir auszuwählen — Geschichten, die mein jugendliches Interesse fesselten: Bücher wie Der Ruf der Wildnis und Wolfsblut, Geschichten voller Abenteuer und Tollkühnheiten. Sie half mir, Wörter zu ergründen, die ich nicht entziffern konnte, und erklärte mir Charaktere, Symbole und Handlungsabläufe, die für meine Vorstellungskraft zu verwegen und zu tiefgründig waren. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich zwischen den Bücherregalen und durch zahllose Romane bewegte, weckte in mir das Vertrauen in meine eigene Lesefähigkeit und Phantasie. Hätte ich sie nicht gehabt, wäre ich genauso wie Smaolach, der nur Comichefte wie Speed Carter oder Mickymaus am Kiosk klaute. Oder schlimmer noch, ich läse überhaupt nicht. Ganz bequem lagerten wir in unserer Höhle, sie mit einem dicken Shakespeare-Band in winziger Schrift auf dem Schoß, und ich bereits in der Mitte von Der letzte Mohikaner. Das flackernde Kerzenlicht verschwor sich mit der Stille, und wir unterbrachen unsere Lektüre nur, um uns ab und zu gegenseitig eine köstliche Fundstelle vorzulesen.
»Speck, hör dir das an: >Diese Kinder des Waldes standen eine kleine Weile beisammen, zeigten auf das einstürzende Gebäude und sprachen in der unverständlichen Sprache ihres Stammest« »Klingt so wie bei uns. Wer sind diese Leute?« Ich hielt das Buch hoch, damit sie den Umschlag sah, den Titel in goldenen Lettern auf grünem Leinen. Wir vertieften uns wieder in unsere Geschichten, und etwa eine Stunde verging, bis sie wieder sprach. »Hör dir das an, Aniday. Ich lese hier gerade Hamlet, und diese 78 beiden Burschen kommen herein, Rosenkranz und Güldenstern. Hamlet begrüßt sie: >Ah, meine werthen guten Freunde. . . Wie geht es euch beyden?< Und Rosenkranz antwortet: >Wie es so unbedeutenden Erden-Söhnen zu gehen pflegt.< Und Güldenstern sagt: >Eben darin glücklich, dass wir nicht gar zu glücklich sind. Wir sind eben nicht der Knopf auf Fortunens Kappe.<« »Will er damit sagen, sie sind unglücklich?« Sie lachte. »Nein, eben nicht, eben nicht. Eher: Jage nicht einem besseren Schicksal hinterher.« Ich verstand zwar nicht die Hälfte von dem, was sie sagte, aber ich lachte mit ihr und versuchte dann, meine Stelle mit Hawkeye und Unkas wiederzufinden. Als der Morgen sich ankündigte und wir unsere Sachen zusammenpackten, um aufzubrechen, sagte ich ihr, wie sehr mir gefallen habe, was sie mir über das Schicksal vorgelesen hatte. »Schreib es auf, Junge. Wenn du beim Lesen auf eine Passage stößt, die du in Erinnerung behalten möchtest, schreib sie in dein Büchlein. Dann kannst du sie nachlesen, sie dir einprägen und hast sie parat, wann immer du willst.« Ich nahm meinen Stift und eine Karte von dem Stapel, den ich aus der Kartothek geklaut hatte. »Was haben sie gesagt?« »Rosenkranz und Güldenstern: die unbedeutenden Erden-Söhne.« »Die letzten Mohikaner.« »Das sind wir.« Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln, bevor sie in die Ecke ging, um unseren schlummernden Freund Smaolach zu wecken. Wir stibitzten immer einige Bücher, nahmen sie mit nach Hause, um an einem kalten Wintermorgen bei fahlem Sonnenlicht, zu 78 frieden im Bett liegend, einen schmalen Band hervorzuziehen und ihn in Muße zu lesen. Zwischen den Buchdeckeln kann die Sünde liegen. Ich habe viele Stunden in solch einem Tagtraum verbracht, und nachdem ich einmal gelernt hatte zu lesen, konnte ich mir mein Leben nicht mehr anders vorstellen. Die unbedeutenden Erden-Söhne um mich herum teilten meine Begeisterung für das geschriebene Wort nicht. Manche hörten vielleicht bei einer gut erzählten Geschichte zu, aber hatte ein Buch keine Bilder, zeigten sie nur mageres Interesse. Ging ein Stoßtrupp in die Stadt, kam er oft mit verschiedenen Illustrierten zurück — Time, Life oder Look —, und dann drängten wir uns in den Schatten einer alten Eiche, um die Fotos zu betrachten. Ich erinnere mich an Sommertage, an denen Unmengen von Knien, Ellbogen und Schultern um die
beste Sicht rangelten und ihre nackte Haut sich feucht an meine presste. Wir klumpten zusammen wie die Hochglanzseiten, die in der Feuchtigkeit zusammenklebten und knitterten. Nachrichten und Berühmtheiten hatten für sie keinen Reiz. Castro oder Chruschtschow, Monroe oder Mantle bedeuteten ihnen nicht mehr als eine vorübergehende Laune, ein interessantes Gesicht; doch Bilder von Kindern, insbesondere in ausgefallenen oder lustigen Situationen, und jedes Naturfoto, insbesondere exotischer Tiere im Zoo oder im Zirkus oder in den unberührten Weiten eines entlegenen Landes, faszinierten sie zutiefst. Ein Junge auf dem Rücken eines Elefanten sorgte für eine Sensation, aber ein Junge mit einem Elefantenbaby lieferte Gesprächsstoff für mehrere Tage. Höchster Beliebtheit erfreuten sich Aufnahmen, auf denen Eltern und Kindern gemeinsam zu sehen waren. »Aniday«, bat Onions, »erzähl uns die Geschichte von dem Daddy und seinem Baby.« 79 Ein kleines Mädchen mit strahlenden Augen lugt neugierig aus einem Babykorb auf seinen freudig grinsenden Vater. Ich las ihnen die Bildunterschrift vor. »>Kleiner Wonneproppen: Senator Kennedy bewundert seine neue kleine Tochter Caroline in ihrem Haus in Georgetowns« Als ich die Seite umblättern wollte, legte Blomma ihre Handfläche auf die Fotografie. »Warte. Ich will noch mal das Baby sehen.« Chavisory fiel ein: »Und ich will den Mann sehen.« Sie besaßen eine ausgesprochene Neugier für die andere Welt — vor allem aus der Distanz, die ein Foto mit sich bringt —, für den Ort, wo Menschen aufwuchsen, sich verliebten, Kinder bekamen, alt wurden und der Kreislauf sich fortsetzte, ganz anders als in unserer unerbittlichen Zeitlosigkeit. Ihr ständig sich veränderndes Leben faszinierte uns. Denn trotz unserer vielen notwendigen täglichen Arbeiten litten wir unter einer hartnäckigen Langeweile im Lager. Über lange Zeitspannen taten wir nichts, als die Zeit vergehen zu lassen. Kivi und Blomma konnten einen ganzen Tag damit zubringen, sich gegenseitig die Haare zu flechten, die Zöpfe wieder zu lösen und von Neuem zu beginnen. Oder sie spielten mit den Puppen, die sie gestohlen oder aus Stöckchen und Stofffetzen gebastelt hatten. Insbesondere Kivi wurde zur kleinen Mutter, wenn sie sich eine Stoffpuppe an die Brust hielt und ihr Spielzeugbaby in eine Wiege legte, die sie aus einem vergessenen Picknickkorb gebaut hatte. Ein Baby bestand aus den abgetrennten oder zerbrochenen Gliedern von vier anderen Puppen. Als Kivi und Blomma an einem feuchten Morgen ihre Puppen am Ufer des Flusses badeten, gesellte ich mich zu ihnen und half ihnen, das Nylonhaar auszuspülen, bis es platt an den Plastikköpfen klebte. 79 »Warum spielt ihr so gerne mit euren Babys?« Kivi schaute nicht auf, aber ich merkte dennoch, dass sie weinte. »Wir üben«, sagte Blomma, »für später, wenn es an uns ist, ein Wechselbalg zu werden. Wir üben, eines Tages Mutter zu sein.« »Warum bist du so traurig, Kivi?«
Sie sah mich an, alle Heiterkeit war ihr nun aus den Augen geflossen. »Weil es so lange dauert.« Ja, tatsächlich, es dauerte lang. Denn obwohl wir alle älter wurden, veränderten wir uns körperlich nicht. Wir wurden nicht erwachsen. Die schon seit Jahrzehnten im Wald lebten, litten am meisten darunter. Die wahrhaft Bösartigen kämpften gegen die Monotonie an, indem sie Schwierigkeiten kreierten, eingebildete Probleme lösten oder einer Unternehmung nachgingen, die oberflächlich betrachtet sinnlos erschien. Igel hatte das letzte Jahrzehnt damit zugebracht, zu unserem Schutz im Lager ein ausgeklügeltes System aus Tunneln und unterirdischen Gängen zu schaufeln. Und Beka, der als Nächster an die Reihe käme, schlich immer herum, um ein argloses Mädchen zu schnappen und ins Gebüsch zu zerren. Ragno und Zanzara versuchten beinahe in jedem Frühjahr, Wein anzubauen, in der Hoffnung, unsere gegorene Maische durch einen selbst gekelterten Wein zu ersetzen. Natürlich widerstand der Boden jeder Anreicherung, den Tagen fehlte es an ausreichend Sonne, Milben, Spinnen und Käfer fielen ein, und meine Freunde hatten kein Glück. Ein oder zwei Weinstöcke schlugen aus, und ihre Ranken wanden und ringelten sich um das von Ragno gebaute Spalier, doch in all diesen Jahren erschien nicht eine einzige Traube. Wenn es September wurde, verfluchten ' 5' sie ihr Pech, rissen die Überreste ab, nur um wieder von vorne anzufangen, sobald der März neckische Träume herauskitzelte. Als ich das siebte Mal miterlebte, wie sie den harten Boden aufbrachen, fragte ich Zanzara, warum sie trotz dauernder Fehlschläge unbeirrt damit fortführen. Er hörte auf zu graben und stützte sich auf den geborstenen alten Spaten. »Als wir Kinder waren, haben wir jeden Abend ein Glas Wein zum Essen getrunken. Ich würde so gerne noch einmal den Geschmack auf der Zunge haben.« »Aber ihr könntet doch in der Stadt ein, zwei Flaschen stehlen.« »Mein Papa hat Wein angebaut und davor seiner, und das seit Generationen.« Er wischte sich die Stirn mit seiner erdverkrusteten Hand ab. »Eines Tages werden wir Wein lesen. Hier lernt man Geduld.« Ich verbrachte viel Zeit mit Luchog und Smaolach, die mir beibrachten, einen Baum zu fällen, ohne von ihm erschlagen zu werden, sie lehrten mich die Geometrie und Physik, die für eine Todesfalle nötig waren, und den besten Haken, um im Laufen einen Hasen zu fangen. Doch meine liebsten Tage waren die mit Speck. Und die allerbesten waren meine Geburtstage. Ich führte noch immer meinen Kalender und hatte mir den 23. April, Shakespeares Geburtstag, zu meinem erwählt. Im zehnten Jahr meiner Zeit im Wald fiel das Datum auf einen Samstag, und Speck lud mich ein, mit ihr die Nacht in der Bibliothek zu verbringen und dort in Ruhe zu lesen. Als wir ankamen, war unsere Höhle wie verwandelt. Dutzende kleine Kerzen tauchten den Raum in einen bernsteinfarbenen Glanz, der Erinnerungen an das Licht eines Lagerfeuers unterm Sternenhimmel wachrief. Beim Mauerspalt an unserem Eingang hatte sie mit Kreide in
81 einer selbst erdachten Schnörkelschrift Geburtstagswünsche geschrieben. Die sonst herrschende Schäbigkeit — die Spinnweben, die schmutzigen Decken und die fadenscheinigen Vorleger — war beseitigt, sodass unser Platz jetzt sauber und gemütlich war. Sie hatte ein kleines Festessen mit Brot und Käse bereitgestellt, aber unter Verschluss wegen der Mäuse, und schon bald kochte fröhlich das Wasser im Kessel für echten Tee in unseren Tassen. »Das ist unglaublich, Speck.« »Gott sei Dank haben wir beschlossen, dass heute dein Geburtstag ist, sonst hätte ich all den Wirbel umsonst gemacht.« An diesem Abend sah ich dann und wann von meinem Text auf, um ihr beim Lesen an meiner Seite zuzuschauen. Licht und Schatten flackerten auf ihrem Gesicht, und mechanisch wie ein Uhrwerk strich sie sich immer wieder eine Strähne aus der Stirn. Ihre Gegenwart brachte mich durcheinander; ich kam nicht viel weiter in meinem Buch, und viele Sätze musste ich mehrmals lesen. Tief in der Nacht erwachte ich in ihren Armen. Und nicht wie üblich, wenn ich wach wurde und jemand auf mir lag, kickte und schubste ich sie weg, sondern schmiegte mich an sie und wünschte mir, der Augenblick würde nie enden. Die meisten kürzeren Kerzen waren niedergebrannt, und traurig wurde mir bewusst, dass unsere Zeit fast vorüber war. »Speck, wach auf.« Sie murmelte im Schlaf und zog mich an sich. Ich entwand mich ihren Armen. »Wir müssen gehen. Spürst du nicht, wie sich die Luft auf der Haut verändert? Es dämmert bald.« »Leg dich wieder schlafen.« Ich sammelte meine Siebensachen zusammen. »Wir können nicht mehr weg, wenn wir nicht sofort aufbrechen.« 15? Sie stützte sich auf die Ellbogen. »Wir können bleiben. Es ist Sonntag, und die Bibliothek ist geschlossen. Wir können den ganzen Tag hierbleiben und lesen. Es kommt niemand. Wir können zurückgehen, wenn es wieder dunkel wird.« Eine flüchtige Sekunde lang erwog ich ihren Vorschlag, doch allein schon der Gedanke, am helllichten Tag in der Stadt zu sein, das Risiko, von Leuten entdeckt zu werden, jagte mir einen heiligen Schrecken ein. »Das ist zu gewagt«, flüsterte ich. »Stell dir vor, jemand kommt zufällig herein. Ein Polizist. Ein Wächter.« Sie ließ sich zurück auf die Decke fallen. »Vertrau mir.« »Kommst du jetzt?«, fragte ich sie von der Tür aus. »Geh doch. Manchmal bist du ein solcher Kindskopf.« Als ich mich durch den Spalt hinaus quetschte, fragte ich mich, ob ich einen Fehler machte. Ich stritt nicht gerne mit Speck und ließ sie auch nicht gerne allein zurück, aber sie hatte schon viele Tage allein außerhalb des Lagers verbracht. Meine Gedanken schwankten zwischen beiden Möglichkeiten hin und her, und womöglich hatten meine Sorgen um Speck meinem Orientierungssinn zugesetzt, denn schon bald, nachdem ich sie verlassen hatte,
verlief ich mich heillos. Hinter jeder neuen Ecke stieß ich auf mir unbekannte Straßen und fremde Häuser, und in meiner Hektik, zu entkommen, verirrte ich mich immer mehr. Am Rande der Stadt bot mir ein Wäldchen seinen wärmenden Schutz, und dort entschied ich mich für einen von drei möglichen Wegen und folgte seinen Biegungen und Windungen. Rückblickend hätte ich an Ort und Stelle bleiben sollen, bis die Sonne hoch am Himmel gestanden hätte, mir als Kompass hätte dienen können, doch damals war mein Denken durch all die Fragen umnebelt. Was hatte sie für meinen Geburtstag gedacht, geplant, 82 gemacht? Wie sollte ich älter, ein Mann werden, wenn ich ewig in diesem kleinen nutzlosen Körper steckte? Der verblassende Silbermond neigte sich und verschwand. An einem Bächlein, nicht breiter als ein Rinnsal, teilte sich der Trampelpfad. Ich beschloss, dem Wasser zu folgen. Im Morgengrauen an einem Bach entlangzulaufen, kann ein friedvolles Erlebnis sein, und dieser Wald war mir so oft in meinen Träumen erschienen, als wäre er mir so vertraut wie mein Name. Der Bach plätscherte unterhalb eines steinigen Wegs, und dieser Weg führte mich zu einer einsam gelegenen Farm. Vom Bachdurchlass aus sah ich das Dach, und ich lief zur Rückseite des Hauses, als die ersten Sonnenstrahlen die Veranda in Gold tauchten. Ein Schnippchen des Lichteinfalls ließ das Haus unfertig aussehen, als hätte es sich in einem Traum zwischen Tag und Nacht verfangen. Ich erwartete fast, meine Mutter durch die Tür treten zu sehen, um mich zum Essen zu rufen. Als mehr Licht auf das Haus fiel, nahm es einen einladenderen Charakter an, die Fenster verlorenen ihren bedrohlichen Blick, und die Tür erschien immer weniger wie ein gefräßiges Maul. Ich lief aus dem Wald auf die Wiese und ließ eine dunkle Spur hinter mir im nassen Gras. Als plötzlich die Tür aufschwang, erstarrte ich. Ein Mann kam die Treppe herunter und blieb auf der vorletzten Stufe stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, dann machte die Gestalt in ihrem blauen Bademantel einen Schritt nach vorne, und erschrocken über die Feuchtigkeit, hob er einen Fuß. Er lachte und fluchte leise. Der Geist sah mich noch immer nicht, obwohl wir uns gegenüberstanden — er am Rand des Hauses und ich am Rand des Waldes. Ich wollte mich umdrehen und nachsehen, wonach er Ausschau hielt, aber still wie ein Hase rührte ich mich nicht, ' 82 während um uns herum der Tag anbrach. Aus der Wiese stieg die kalte Luft in Nebelschwaden auf. Er kam näher, und ich hielt den Atem an. Nicht einmal ein Dutzend Schritte vor mir blieb er stehen. Ihm fiel die Zigarette aus der Hand. Er machte noch einen Schritt auf mich zu. Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. Sein schütteres Haar wehte im Wind. Eine Ewigkeit tanzten seine Augen in den Höhlen. Seine Lippen zitterten, als er den Mund öffnete und sprach. »Und wie? Enwie?« Die Worte, die mich erreichten, ergaben keinen Sinn. »Pistezu? Issewar? Kannezeintuson?«
Die Laute, die er von sich gab, schmerzten in meinen Ohren. In diesem Moment wünschte ich mir, wieder in Specks Armen zu liegen. Er kniete sich ins feuchte Gras und streckte die Arme aus, als erwartete er, ich würde auf ihn zulaufen. Aber ich war ganz durcheinander, und da ich nicht wusste, ob er mir etwas Böses antun wollte, drehte ich mich um und spurtete davon, so schnell ich konnte. Das grässliche Gurgeln aus seinem Hals verfolgte mich bis tief in den Wald hinein, und obwohl die befremdlichen Worte plötzlich abbrachen, rannte ich den ganzen Weg nach Hause. 83 Kapitel 13 Das Klingeln des Telefons klang bereits wie ein zorniges Lied, als jemand gnädig abhob. Ich war in jener Nacht mit einer Studentin in meinem Zimmer am Ende des Flurs und versuchte, mich weiter auf ihre nackte Haut zu konzentrieren. Kurz darauf ein Klopfen an meiner Tür, eine merkwürdige Pause, und dann ein Klopfen, das zu einem Donnern aus-wuchs und das arme Mädchen so sehr ängstigte, dass es beinahe von mir herunterfiel. »Was ist los? Ich bin beschäftigt. Siehst du denn nicht das Schild an der Türklinke?« »Henry Day?« Die Stimme auf der anderen Seite der Tür brach und zitterte. »Deine Mutter ist am Telefon.« »Sag ihr, ich bin nicht da.« Die Stimme senkte sich um eine Oktave. »Es tut mir wirklich leid, Henry, aber du musst diesen Anruf unbedingt entgegennehmen.« Ich zog rasch eine Hose und einen Pullover über, öffnete die Tür und sauste an dem Jungen vorbei, der zu Boden sah. »Ein Angehöriger ist gestorben.« Mein Vater. Meine Mutter erwähnte den Wagen, sodass ich in meinem Schock ganz selbstverständlich annahm, er hätte einen '83 Unfall gehabt. Als ich dann zu Hause war, erfuhr ich die wahre Geschichte, hier ein Wort, da eine gehobene Augenbraue und eine Andeutung. Er hatte sich in den Kopf geschossen, als er im Wagen saß und vor einer Ampel stand, nicht einmal vier Blocks vom College entfernt. Es gab keinen Brief, keine Erklärung. Nur meinen Namen und die Nummer meines Zimmers auf der Rückseite einer Visitenkarte, die in einem Zigarettenpäckchen mit einer letzten verbleibenden Camel steckte. In den Tagen vor der Beerdigung versuchte ich, seinen Selbstmord zu verstehen. Seit jenem schrecklichen Morgen, als er auf dem Hof irgendetwas gesehen hatte, trank er immer mehr. Doch meines Wissens ziehen Alkoholiker das langjährige und langsame Sichzuschütten dem schnellen, unwiderruflichen Schuss vor. Nicht das Trinken hatte ihn umgebracht, sondern etwas anderes. Auch wenn er einen Verdacht gehegt haben mochte, konnte er unmöglich die Wahrheit über mich herausgefunden haben. Meine Täuschungen waren zu umsichtig und zu schlau. Doch seit ich wegen des Colleges zu Hause ausgezogen war, hatte er sich bei unseren seltenen Zusammentreffen kalt, distanziert und unnachgiebig verhalten. Irgendwelche geheimen Dämonen hatten ihn geplagt, doch ich empfand kein Mitgefühl. Mit
einer einzigen Kugel hatte er meine Mutter und meine Schwestern im Stich gelassen, und das konnte ich ihm nie verzeihen. Diese wenigen Tage bis zur Beerdigung und auch die Trauerfeier bestärkten mich in meiner Überzeugung, sein Egoismus habe unsere Familie zerstört. Bereitwillig übernahm meine Mutter, eher verwirrt als verzweifelt, die Hauptlast, die Vorkehrungen für die Beerdigung zu treffen. Sicherlich begünstigt durch ihren jahrelangen wöchentlichen Besuch des Gottesdiensts, überzeugte sie den Priester des 84 Orts davon, dass mein Vater trotz seines Selbstmords auf dem kirchlichen Friedhof beerdigt werden durfte. Natürlich konnte für ihn keine Messe gelesen werden, was sie heftig aufbrachte, doch ihre Wut schützte sie vor anderen Gefühlen. Die mittlerweile vierzehnjährigen Zwillinge neigten schon eher zu Tränen, in der Leichenhalle wehklagten sie über dem geschlossenen Sarg wie zwei irische Todesfeen. Ich weinte nicht um ihn. Schließlich war er nicht mein Vater. Und außerdem kam mir sein Tod höchst ungelegen, da er in das Frühjahrssemester meines zweiten Collegejahrs fiel. Ich verfluchte das schöne Wetter am Tag, als wir ihn beerdigten, und mich erstaunte der Pulk von Leuten, die von weit her angereist waren, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Wie es den Sitten unserer Stadt entsprach, liefen wir von der Leichenhalle über die ganze Main Street bis zur Kirche. Ein strahlend neuer Leichenwagen fuhr im Schneckentempo vor dem Trauerzug aus über hundert Menschen. Meine Mutter, meine Schwestern und ich führten die düstere Prozession an. »Wer sind all diese Leute?«, raunte ich meiner Mutter zu. Sie sah stur geradeaus und sprach mit lauter, klarer Stimme. »Dein Vater hatte viele Freunde. Aus der Zeit in der Armee, von der Arbeit, Leute, denen er auf ihrem Weg geholfen hat. Du kennst nur einen Teil seiner Geschichte. An einem Lachs ist mehr dran als nur Flossen.« Im Schatten frischen Grüns senkten wir ihn in die Grube und warfen Erde auf ihn. Rotkehlchen und Drosseln zwitscherten in den Büschen. Meine Mutter weinte nicht hinter ihrem schwarzen Schleier, sondern stand stoisch wie ein Soldat in der Sonne. Als ich sie so sah, konnte ich ihn nur dafür hassen, ihr, den Mädchen, unseren Freunden, der Familie und mir das angetan zu haben. Wir sprachen nicht über ihn, als ich meine Mutter und J84 die Schwestern zurück zum Haus fuhr, wo wir wenig später Beileidsbesuche empfangen würden. Frauen von der Kirchengemeinde begrüßten uns mit gedämpfter Stimme. Das Haus wirkte kälter und stiller als sonst in tiefster Nacht. Auf dem Esszimmertisch standen Zeichen gemeinschaftlicher Verbundenheit— Schüsseln mit Nudeln, Schweinebraten im Teigmantel, kaltes gebratenes Huhn, Eiersalat, Tomatensalat, Sülze mit Möhren und ein halbes Dutzend Pasteten. Auf der Anrichte befanden sich neue Cocktailshaker und Sodaflaschen neben Gin, Scotch, Rum und einem Behälter mit Eiswürfeln. Blumen aus der Trauerhalle verströmten ihren Duft, und die Kaffeemaschine blubberte wie verrückt. Meine Mutter sprach mit den Nachbarn, erkundigte sich nach
jedem Gericht und machte den jeweiligen Köchinnen freundliche Komplimente. Mary saß an einem Ende des Sofas und zupfte Fusseln von ihrem Rock, Elizabeth hockte am anderen Ende und behielt der Besucher wegen die Eingangstür im Auge. Eine Stunde nachdem wir wieder zu Hause angekommen waren, trafen die ersten Gäste ein — Männer, die mit meinem Vater gearbeitet hatten, steif und förmlich in ihren guten Anzügen. Einer nach dem anderen drückten sie meiner Mutter Briefumschläge mit Geld in die Hand und umarmten sie linkisch. Charlie, der Freund meiner Mutter, kam von Philadelphia angeflogen, das Begräbnis hatte er jedoch verpasst. Als ich seinen Hut entgegennahm, beäugte er mich wie einen Fremden. Einige ehemaligen Soldaten schauten vorbei, Schatten der Vergangenheit, die niemand kannte. Sie drängten sich in die Ecke und beklagten den guten alten Billy. Ich hatte sie rasch alle satt, denn dieses Zusammenkommen erinnerte mich an das Gerede nach den Vorspielabenden, nur dass es düsterer und weniger witzig war. Draußen auf der Veranda 85 zog ich mein schwarzes Sakko aus, lockerte die Krawatte und trank bedächtig ein Glas Cola-Rum. Die Bäume mit ihrem frischen Grün säuselten hin und wieder im Wind, und eine milde Sonne erwärmte den sich dahinschleppenden Nachmittag. Aus dem Haus drang das Gemurmel der Gäste, an- und abschwellend wie das Meer, und ab und zu erhob sich ein kurzes schallendes Lachen, um uns daran zu erinnern, dass niemand unersetzlich ist. Ich zündete eine Camel an und schaute auf das junge Gras. Nach Jasmin duftend, trat sie neben mich, ein Geruch, der ihr heimliches Anschleichen zunichte machte. Ein rascher Seitenblick und ein noch rascheres Lächeln, dann nahmen wir zu zweit die Betrachtung der Wiese und des dunklen Walds dahinter wieder auf. Ihr schwarzes Kleid war am Kragen und an den Ärmeln weiß paspeliert, denn sie folgte der neuen Mode, auch wenn sie an Mrs. Kennedys Haute Couture nicht heranreichte. Aber Tess Wodehouse schaffte es, diesen Stil zu kopieren, ohne idiotisch auszusehen. Vielleicht war es ihre stille Gelassenheit, als wir so am Geländer standen. Jedes andere Mädchen meines Alters hätte es für nötig gehalten, etwas zu sagen, doch sie überließ es mir, den richtigen Moment für ein Gespräch zu wählen. »Nett, dass du gekommen bist. Seit wann habe ich dich nicht mehr gesehen? Seit der Grundschule?« »Es tut mir so leid, Henry.« Ich schnippte die Zigarette in den Hof und trank einen Schluck. »Ich habe dich einmal bei einem Konzert in der Stadt gehört«, sagte sie. »Vor vier oder fünf Jahren. Da gab es anschließend einen großen Wirbel mit einer geifernden Frau in einem roten Mantel. Erinnerst du dich, wie freundlich dein Vater mit ihr war? Als wäre sie überhaupt nicht verrückt, sondern ein 85 Mensch, dessen Erinnerung sich getrübt hat. Mein Vater hätte ihr bestimmt gesagt, sie solle abschwirren, und meine Mutter hätte ihr wahrscheinlich eins auf die Nase gegeben. Ich habe deinen Vater an jenem Abend sehr bewundert.«
Während ich mich an die Frau in Rot klar erinnerte, hatte ich keinerlei Erinnerung an Tess an jenem Abend, seit Ewigkeiten hatte ich sie nicht gesehen oder an sie gedacht. In meinem Kopf war sie noch immer ein kleiner Wildfang. Ich stellte mein Glas ab und bot ihr mit einer schwungvollen Geste einen Stuhl an. Mit zurückhaltender, schicklicher Anmut setzte sie sich neben mich, unsere Knie berührten sich beinahe, und ich sah sie an, als wäre ich in Trance. Sie war das Mädchen, das in der zweiten Klasse in die Hose gemacht und mich in der sechsten im Fünfzig-Meter-Lauf geschlagen hatte. Als ich damals auf die Highschool in der Stadt wechselte, nahm sie den Bus zur katholischen Mädchenschule, die in der anderen Richtung lag. Vorbei. In der Zwischenzeit war sie eine hübsche junge Frau geworden. »Spielst du noch Klavier?«, erkundigte sie sich. »Ich habe gehört, du bist jetzt auf dem College in der Stadt. Studierst du Musik?« »Komposition«, entgegnete ich. »Für Orchester- und Kammermusik. Ich habe aufgehört, öffentlich aufzutreten. Habe mich nie wohl gefühlt vor Publikum. Und du?« »Ich bin fast fertig mit meiner Ausbildung zur Krankenpflegerin. Aber ich würde gerne noch einen Abschluss in Sozialarbeit machen. Alles hängt davon ab.« »Von was?« Sie sah weg, zur Tür. »Ob ich heirate oder nicht. Hängt von meinem Freund ab, schätze ich mal.« 86 »Du klingst nicht gerade begeistert.« Sie neigte sich zu mir, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter vor meinem, und formte die Worte: Bin ich auch nicht. »Warum ist das so?«, flüsterte ich zurück. Als wäre ein Licht hinter ihren Augen angegangen, strahlte sie plötzlich. »Es gibt so vieles, das ich tun möchte. Den Bedürftigen helfen. Die Welt sehen. Mich verlieben.« Als ihr Freund kam und nach ihr suchte, fiel hinter ihm die Fliegengittertür laut zu. Wie er so grinste, weil er sie gefunden hatte, wirkte er unheimlich auf mich, als hätte ich ihn vor langer Zeit schon einmal irgendwo getroffen, aber ich konnte sein Gesicht nicht einordnen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir uns kannten, doch er war von der anderen Seite der Stadt. Sein Aussehen war mir nicht geheuer, als sähe ich einen Geist oder einen Fremden, der einem anderen Jahrhundert entstammte. Tess sprang auf und schmiegte sich an ihn. Er streckte mir seine Hand entgegen und wartete einen Augenblick darauf, dass ich sie ergriff. »Brian Ungerland«, sagte er. »Herzliches Beileid.« Ich murmelte einen Dank und nahm wieder die Betrachtung der unveränderten Wiese auf. Nur Tess' Stimme führte mich zurück in die Welt. »Viel Glück für deine Kompositionen, Henry«, sagte sie. »Ich werde im Plattenladen nach dir suchen.« Sie schob Brian zur Tür. »Tut mir leid, dass wir unsere Freundschaft unter diesen Umständen auffrischen mussten.«
Als sie gingen, rief ich: »Ich hoffe, du bekommst, was du willst, Tess, und bekommst nicht, was du nicht willst!« Sie lächelte mir über die Schulter zu. Nachdem sich alle Gäste verabschiedet hatten, kam meine Mutter zu mir auf die Veranda. In der Küche fuhrwerkten Mary 87 und Elizabeth mit den schmutzigen Tellern und leeren Gläsern im Spülbecken herum. Im letzten Licht des Beerdigungstags schauten wir zu, wie die Krähen sich vor Einbruch der Dunkelheit in den Baumwipfeln sammelten. Sie kamen von irgendwoher angeflogen, stolzierten wie Priester in Soutanen über die Wiese, ehe sie sich in die Aste verzogen und nicht mehr zu sehen waren. »Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, Henry.« Sie saß im Schaukelstuhl und schaute mich nicht an. Ich trank eine weitere Cola mit Rum. In meiner Phantasie spielte leise ein Trauerlied. Sie seufzte, als ich nichts entgegnete. »Wir haben genug, um über die Runden zu kommen. Das Haus ist fast abgezahlt, und die Ersparnisse deines Vaters reichen für eine Weile. Ich muss eine Arbeit finden, aber wie, das weiß nur der liebe Gott.« »Die Zwillinge könnten dir helfen.« »Die Mädchen? Wäre ich auf die Hilfe der beiden angewiesen, um ein Glas Wasser zu bekommen, müsste ich verdursten. Sie sind ein einziges Problem im Augenblick.« Als wäre dieser Gedanke ihr gerade erst gekommen, schaukelte sie schneller in ihrem Stuhl. »Es reicht schon, sie davon abzuhalten, ihren Ruf zu ruinieren. Diese beiden!« Ich trank mein Glas aus und fischte eine verkrumpelte Zigarette aus meiner Tasche. Sie schaute weg. »Du musst vielleicht für eine Weile zu Hause bleiben. Nur bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Meinst du, du könntest bleiben?« »Na ja, eine Woche könnte ich noch fehlen.« Sie trat auf mich zu und fasste mich an den Armen. »Henry, ich brauche dich hier. Bleib ein paar Monate, und wir können 87 das Geld sparen. Dann kannst du zurückgehen und fertig studieren. Du bist jung. Es mag dir lang erscheinen, ist es aber nicht.« »Mom, es ist mitten im Semester.« »Ich weiß, ich weiß. Aber du bleibst doch bei deiner Mutter?« Sie sah mich an, bis ich nickte. »Guter Junge.« Letztendlich blieb ich viel länger als nur ein paar Monate. Meine Rückkehr nach Hause währte einige Jahre, und die Unterbrechung meines Studiums veränderte mein Leben. Die Hinterlassenschaft meines Vaters war zu gering, als dass ich das College hätte abschließen können, und meine Mutter strampelte sich mit den Mädchen ab, die noch zur Highschool gingen. Also fing ich an zu arbeiten. Mein Freund Oscar Love, zurück von einer Pflichtrunde bei der Navy, kaufte von seinen Ersparnissen und mit einem Darlehen der Farmers & Merchants einen leer stehenden Laden in einer
Seitenstraße der Linnean Street. Mithilfe seines Vaters und Bruders verwandelte er ihn in eine Bar mit einer Bühne, die gerade eben einer Vierercombo Platz bot, und wir holten das Klavier aus dem Haus meiner Mutter. Ein paar Jungs aus der Gegend waren gut genug, um eine Band zusammenzustellen. Jimmy Cummings spielte die Drums, George Knoll war am Bass oder an der Gitarre. Wir nannten uns die Coverboys, denn wir spielten nichts anderes als Coverversionen, und wenn ich nicht so tat, als wäre ich Gene Pitney oder Frankie Valli, arbeitete ich einige weitere Abende in der Woche hinterm Tresen. Dank der Auftritte in Oscars Bar kam ich vor die Tür; außerdem konnte ich mit den Extradollars meine Familie unterstützen. Meine alten Freunde kamen vorbei, und auch wenn sie meine Rückkehr ans Klavier beklatschten, trat ich nur ungern auf. Im ersten Jahr 88 tauchte einige Male Tess mit Brian oder einer Freundin auf. Sie dort zu sehen, erinnerte mich an die Träume, die ich verdrängt hatte. »Du warst ein geheimnisvoller Typ«, erzählte mir Tess eines Nachts zwischen zwei Musiksessions. »Oder besser, ein geheimnisvoller Junge, damals in der Grundschule. Als wärst du völlig woanders gewesen als wir anderen.« Ich zuckte mit den Schultern und spielte die ersten Takte von »Strangers in the Night«. Sie lachte und rollte die Augen. »Doch, ernsthaft, Henry, du warst ein Fremder. Ganz abgehoben. Standst über allem.« »Ist das wahr? Ich hätte vielleicht netter zu dir sein sollen.« »Ach, komm schon.« Sie war beschwipst und grinste. »Du warst immer in einer anderen Welt.« Ihr Freund winkte, und sie ging. Schon fehlte sie mir. Sie war in etwa das einzig Gute, das sich aus meiner erzwungenen Heimkehr und meiner widerwilligen Rückkehr ans Klavier ergeben hatte. Als ich in jener Nacht spät nach Hause ging, dachte ich über sie nach, fragte mich, wie ernst ihre Beziehung wohl sei und wie ich sie dem Typen mit dem Dejä-vu-Gesicht ausspannen könne. Die Arbeit hinterm Tresen und das Klavierspielen ließen mich immer erst tief in der Nacht nach Hause kommen. Weil meine Mutter und meine Schwestern dann längst schliefen, aß ich allein um drei Uhr morgens etwas Kaltes. In jener Nacht bewegte sich etwas vor dem Küchenfenster, draußen im Hof. Ein Aufblitzen durch die Scheibe, einen winzigen Augenblick war etwas zu sehen, das wie ein Haarschopf aussah. Ich trug meinen Teller ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an, wo gerade als spä 88 ter Nachtfilm Der dritte Mann lief. Nach der Szene, in der Holly Martin anfangs Harry Lime in der Toreinfahrt beobachtet, schlief ich im Sessel meines Vaters ein, nur um kurz vor Morgengrauen verschwitzt und frierend aufzuwachen — starr vor Angst, ich könnte wieder im Wald mitten unter diesen Teufeln leben. 88 Kapitel 14
Als ich weit vor mir den Pfad überblickte, erspähte ich sie auf ihrem Weg zurück ins Lager, was mich beruhigte. Sie tauchte zwischen den Bäumen auf und lief wie ein Reh über den Grat. Weil ich mich wegen des Vorfalls in der Bibliothek unbedingt bei ihr entschuldigen wollte, nahm ich eine Abkürzung durch den Wald, um ihr den Weg abzuschneiden. Mir schwirrte diese Geschichte mit dem Mann auf der Wiese im Kopf herum. Ich hoffte, sie ihr erzählen zu können, bevor sich Wichtiges davon in der Verwirrung auflöste. Speck würde wütend sein, zu Recht, aber ihr Mitgefühl würde ihren Ärger besänftigen. Sie musste mich gesehen haben, denn als ich ihr näher kam, raste sie davon. Hätte ich nicht kurz gezögert, bis ich ihr hinterher jagte, hätte ich sie vielleicht noch eingeholt, aber das holprige Gelände ließ kein höheres Tempo zu. In der Eile verfing sich mein Fuß in einem heruntergefallenen Ast, und ich landete kopfüber im Dreck. Als ich Blätter und Zweige ausspuckte, sah ich, dass Speck bereits das Lager erreicht hatte und mit Beka sprach. »Sie will nicht mit dir reden«, sagte das alte Ekel, als ich kam, und umklammerte meine Schulter mit festem Griff. Einige der Älteren — Igel, Ragno, Zanzara und Blomma — hatten sich neben ihn geschlichen und standen da wie eine Mauer. 89 »Ich muss aber mit ihr reden.« Luchog und Kivi gesellten sich zu den anderen. Smaolach trat rechts von mir mit geballten, zitternden Fäusten zur Gruppe. Onions kam von links, mit einem bedrohlichen, zahnigen Lächeln auf dem Gesicht. Neun umzingelten mich. Igel trat in den Kreis und stieß mir mit dem Finger an die Brust. »Du hast unser Vertrauen missbraucht.« »Wovon sprichst du?« »Sie ist dir gefolgt, Aniday. Sie hat dich mit dem Mann gesehen. Du darfst keinerlei Kontakt zu ihnen haben, und doch warst du da und hast versucht, mit einem von ihnen Verbindung aufzunehmen.« Igel warf mich so heftig zu Boden, dass eine Wolke aus moderndem Laub aufstob. Gedemütigt sprang ich rasch wieder auf. Meine Angst wuchs, als auch die anderen Beschimpfungen brüllten. »Weißt du, wie gefährlich das war?« »Erteil ihm eine Lektion.« »Kapierst du nicht, dass wir nicht entdeckt werden dürfen?« »Dann vergisst er es nie wieder.« »Sie könnten kommen und uns schnappen, und dann werden wir nie wieder frei sein.« »Bestraf ihn.« Nicht Igel versetzte mir den ersten Schlag. Eine Faust oder ein Knüppel traf mich in die Nieren, sodass sich mein Rücken hintenüberbog. Igel boxte genau auf meinen somit ungeschützten Solarplexus, und ich klappte vornüber. Spucke rann mir aus dem offenen Mund. Plötzlich stürzten sich alle auf mich, wie eine Meute wilder Hunde verwundetes Wild zu Fall bringt. Die Schläge trommelten von allen Seiten auf mich ein, und der anfängliche Schock wich dem Schmerz. Sie zerkratzten mir das 89
Gesicht mit ihren Nägeln, rissen mir Haarbüschel vom Kopf und verbissen sich in meiner Schulter, bis Blut floss. Ein klebriger Arm schloss sich um meinen Hals und drückte mir die Luft ab. Ich würgte und spürte, wie mir übel wurde. Ihre Augen loderten in wildem Zorn, und purer Hass verzerrte ihre Gesichter. Einer nach dem anderen zog kampfesmüde ab, sodass das Gewicht auf mir nachließ, doch die Verbleibenden traten mir in die Rippen, höhnten, ich solle aufstehen, knurrten und zischten, ich solle doch zurückschlagen. Die Kraft konnte ich nicht aufbringen. Bevor Beka von mir abließ, trampelte er mir auf die Finger, und Igel versetzte mir zu jedem Wort seiner abschließenden Ermahnung einen Tritt. »Sprich nie wieder mit Menschen.« Ich schloss die Augen und blieb still liegen. Die Sonne, die durch die Äste fiel, wärmte mich. Meine Gelenke schmerzten von der Keilerei, und meine Finger schwollen an und pochten. Ein Auge war blauschwarz unterlaufen, Blut sickerte aus den Wunden und sammelte sich unter pflaumengroßen Beulen. Mein Mund schmeckte nach Erbrochenem und Dreck, und ohnmächtig fiel ich in mich zusammen. Kaltes Wasser auf meinen Platzwunden und Prellungen ließ mich hochschrecken, und als erstes sah ich Speck, die sich über mich beugte und mir das Blut aus dem Gesicht wischte. Unmittelbar hinter ihr standen mit zerknirschten Mienen Smaolach und Luchog. Meine Blutstropfen hinterließen einen roten Fleck auf Specks weißem Pullover. Als ich versuchte, etwas zu sagen, drückte sie mir das feuchte Tuch auf die Lippen. »Aniday, es tut mir so leid. Ich habe nicht gewollt, dass so etwas passiert.« »Uns tut es auch leid«, murmelte Smaolach. »Aber das Gesetz hat eine unbarmherzige Logik.« 90 Chavisory streckte den Kopf über Specks Schulter. »Ich habe mich rausgehalten.« »Du hättest nicht von mir weggehen sollen, Aniday. Du hättest mir vertrauen sollen.« Langsam setzte ich mich auf und sah meine Peiniger an. »Warum habt ihr es dann getan?« »Ich hab mich rausgehalten«, wiederholte Chavisory noch einmal. Luchog kniete sich neben Speck und sprach für alle. »Wir mussten es tun, damit du es nie vergisst. Du hast mit einem Menschen gesprochen, und hätte er dich geschnappt, wärst du für immer weg.« »Und angenommen, ich gehe noch einmal hin?« Niemand sah mir in die Augen. Chavisory summte vor sich hin, die anderen schwiegen. »Ich glaube, das könnte mein richtiger Vater gewesen sein, Speck. Aus der anderen Welt. Oder es war vielleicht ein Gespenst und ein Traum. Aber es wollte, dass ich in sein Haus komme. Ich war da schon mal.« »Spielt keine Rolle, wer er war«, sagte Smaolach. »Vater, Mutter, Schwester, Bruder, der Onkel deiner Tante Fanny. All das spielt überhaupt keine Rolle. Wir sind deine Familie.«
Ich spie Dreck und Blut aus. »Die Familie schlägt einen nicht zusammen, selbst wenn sie guten Grund dazu hätte.« Chavisory brüllte mir ins Ohr: »Ich hab dich nicht mal berührt!« Sie tanzte in Spiralen um die anderen herum. »Wir haben die Gesetze befolgt«, meinte Speck. »Hier bleib ich nicht. Ich will wieder zurück zu meiner richtigen Familie.« »Aniday, das kannst du nicht«, sagte Speck. »Sie glauben, du 91 wärst die letzten zehn Jahre tot gewesen. Du magst zwar noch so aussehen, als wärst du acht, aber du bist fast achtzehn. Wir stecken in der Zeit fest.« Luchog setzte hinzu: »Du würdest ihnen wie ein Geist vorkommen.« »Ich will nach Hause.« Speck sah mir in die Augen. »Hör zu, es gibt nur drei Möglichkeiten, und nach Hause zurückzukehren ist keine davon.« »Richtig«, stimmte Smaolach zu. Er setzte sich auf einen modernden Baumstumpf und zählte die drei Möglichkeiten an seinen Fingern ab. »Eine ist, dass du, obwohl du hier nicht älter oder todkrank wirst, durch einen Unfall sterben kannst. Ich erinnere mich an einen Gefährten, der an einem Wintertag auf Streifzug ging. Er hat sich bei seinem Sprung oben von der Brücke hinunter zum Flussufer ganz dumm verschätzt, sein Sprung hatte nicht genügend Sprungkraft. Er ist in den Fluss gefallen, hat das Eis durchbrochen und ist erfroren und ertrunken.« »Unfälle können immer mal passieren«, sagte Luchog. »Vor langer Zeit hat uns die Gefahr gedroht, aufgefressen zu werden. Wölfe und Berglöwen sind hier durch die Gegend gestreift. Hast du schon einmal von dem Mann oben aus dem Norden gehört, der in einer Höhle überwintert hat und im Frühling neben einem hungrigen Grizzly aufgewacht ist? Man kann durch jeden nur denkbaren Zufall zu Tode kommen.« »Die zweite Möglichkeit, uns loszuwerden«, fuhr Smaolach fort, »besteht darin, dass du einfach weggehst. Du stehst auf, schlenderst davon und lebst irgendwo allein. Allerdings missbilligen wir so eine Haltung, denn wir brauchen dich hier, damit du uns hilfst, das nächste Kind zu finden. So zu tun, als wäre man ein anderer, ist härter, als du denkst.« 91 »Und im Übrigen ist es ein einsames Leben«, meinte Chavisory. »Stimmt«, bejahte Speck. »Aber man kann sich auch mit einem Dutzend Freunden einsam fühlen.« »Entscheidest du dich für diese Möglichkeit, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dir etwas zustößt«, erklärte Luchog. »Stell dir vor, du fällst in eine Grube und kannst nicht mehr heraus. Was machst du dann?« Und Smaolach meinte: »Scheitern solche Gefährten nicht in der Regel schon an irgendeiner überraschenden Wendung, die sich ihnen in den Weg stellt? Du verirrst dich in einem Blizzard. Eine Schwarze Witwe zwickt dich in den Daumen, während du schläfst. Und niemand ist da, der dir das Gegengift besorgt, nämlich Schlüsselblumen oder gekochten Froschlaich.«
»Abgesehen davon, wo willst du hin? Wo sollte es denn besser sein als hier?«, fragte Luchog. »Ich würde verrückt, wenn ich die ganze Zeit allein wäre«, warf Chavisory ein. »Dann müsstest du«, sagte Luchog zu ihr, »den Wechsel vollziehen«. Speck schaute über mich hinweg auf die Bäume. »Das ist die dritte Möglichkeit. Du findest das richtige Kind auf der anderen Seite und nimmst seinen Platz ein.« »Jetzt verwirrst du den Jungen«, mahnte Smaolach. »Zuerst einmal musst du ein Kind finden und alles über es in Erfahrung bringen. Wir alle beobachten und analysieren es. Aus der Entfernung wohlgemerkt.« »Es muss jemand sein, der nicht glücklich ist«, sagte Chavisory. Smaolach schaute sie finster an. »Das ist egal. Wir beobachten das Kind in Grüppchen. Während die einen seine Gewohnheiten auskundschaften, erforschen die anderen seine Stimme.« »Angefangen mit dem Namen«, sagte Speck, »müssen alle Fakten zusammengetragen werden: Alter, Geburtstag, Brüder, Schwestern. . . « Chavisory fiel ihr ins Wort. »Ich würde mich von Jungen mit Hunden fernhalten. Hunde sind von Natur aus misstrauisch.« »Du musst unglaublich gut Bescheid wissen«, sagte Speck, »damit die Leute glauben, du wärst einer von ihnen. Ihr eigenes Kind.« Luchog, der sich bedächtig eine Zigarette drehte, sagte: »Ich habe mir beizeiten überlegt, nach einer großen Familie Ausschau zu halten, mit vielen Kindern und so, und dann schnappe ich mir das mittlere, das niemand vermisst oder bei dem es nicht auffällt, wenn es einen Moment verschwunden ist. Oder sollte ich mal ein Detail vergessen haben oder leicht danebenliegen mit meiner Imitation, gibt es niemanden, der es besser weiß. Vielleicht den sechsten von dreizehn oder den vierten von sieben. Das ist aber nicht mehr so leicht, wie es früher einmal war, wo doch heute die Moms und Dads nicht mehr so viele Babys bekommen.« »Ich würde gerne wieder ein Baby sein«, plärrte Chavisory. »Ist erst einmal die Entscheidung gefallen«, sagte Smaolach, »greifen wir uns das Kind. Aber es muss allein sein, sonst könnte man uns erwischen. Hast du mal die Geschichte von unseres-gleichen in Russland oder irgendwo da gehört, wo die meisten geschnappt wurden, als sie einen winzigen Kosakenjungen mit '92 spitzen Zähnen rauben wollten und die Kosaken all unsere Jungs aus dem Wald getrieben und verbrannt haben?« »Feuer ist eine teuflische Art zu sterben«, sagte Luchog. »Habe ich euch je von dem Wechselbalgmädchen erzählt, das man gepackt hat, als es in dem Zimmer eines Mädchens herumschnüffelte, dessen Platz es einnehmen wollte? Sie hört die Eltern hereinkommen und hüpft in den Schrank, um den Wechsel gleich an Ort und Stelle zu vollziehen. Zuerst haben sich die Eltern nichts gedacht, als sie die Schranktür öffneten und sie da im Dunkeln spielen sahen. Später am Tag kommt das richtige Mädchen nach Hause, und was glaubt ihr? Da stehen die beiden nebeneinander, und unsere Freundin hätte es schaffen können, aber sie hatte noch nicht gelernt, wie das kleine Mädchen zu
sprechen. Als die Mutter fragt, »wer von euch beiden ist Lucy?«, antwortet die richtige Lucy, »ich bin es«, und die andere Lucy gibt nur ein Gekreische von sich, mit dem man Tote erweckt. Sie musste aus dem Fenster im zweiten Stock springen und wieder ganz von vorne anfangen.« Während sein Freund die Geschichte erzählte, guckte Smaolach verdutzt und kratzte sich am Kopf, als versuchte er, sich an ein wichtiges Detail zu erinnern. »Ah, da ist natürlich etwas Magie dabei. Wir wickeln das Kind in ein Netz und bringen es ans Wasser.« Sich auf den Fersen drehend, rief Chavisory: »Und dann ist da die Zauberformel. Das darfst du nicht vergessen.« »Wie ein Täufling geht er hinein«, erzählte Smaolach weiter. »Und als einer von uns kommt er wieder heraus. Um niemals wieder zurückzukehren, außer durch eine der drei Methoden, und bei den ersten beiden möchte ich nicht in deiner Haut stecken.« 93 Chavisory malte mit dem nackten Zeh einen Kreis in den Staub. »Erinnert ihr euch an den deutschen Jungen, der Klavier gespielt hat? An den vor Aniday?« Mit einem kurzen Zischeln packte Speck Chavisory bei den Haaren und zerrte das arme Wesen zu sich heran. Sie setzte sich auf ihre Brust, und in rasender Geschwindigkeit massierten und kneteten ihre Hände Chavisorys Gesichtshaut, als wäre sie ein Teigklumpen. Das Mädchen schrie und heulte wie ein Fuchs in der Falle. Als Speck fertig war, zeigte sie uns eine passable Kopie ihres eigenen süßen Gesichts auf dem von Chavisory. Sie sahen wie Zwillinge aus. »Du verwandelst mich sofort zurück«, winselte Chavisory. »Du verwandelst mich sofort zurück«, ahmte Speck sie perfekt nach. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. »Das ist deine Zukunft, Schätzchen. Sieh ihn dir an, den Wechselbalg«, sagte Smaolach. »Als du selbst in die Vergangenheit zurückzukehren, ist keine Option. Doch wenn du als eine verwandelte Person wieder in ihre Welt gehst, dann bleibst du dort, wächst auf wie einer von ihnen, lebst mehr oder weniger wie einer von ihnen und wirst so alt, wie es die Zeit erlaubt. Und das tust du, wenn du an die Reihe kommst.« »Wenn ich an die Reihe komme? Ich will auf der Stelle wieder nach Hause. Wie mach ich das?« »Gar nicht«, entgegnete Luchog. »Du musst warten, bis wir anderen gegangen sind. Unsere Welt hat eine natürliche Ordnung, die nicht durcheinandergebracht werden darf. Ein Kind gegen einen Wechselbalg. Wenn deine Zeit kommt, wirst du ein anderes Kind einer anderen Familie finden, das dann hier im 93 Wald lebt. Du kannst nicht dorthin zurück, von wo du gekommen bist.« »Ich fürchte, Aniday, du bist der Letzte in der Reihe. Du wirst sehr geduldig sein müssen.« Ohne Speck zogen Luchog und Smaolach Chavisory hinter das Geißblatt und begannen, ihr Gesicht zu verformen. Alle drei lachten, und das während der
ganzen Prozedur. »Macht mich wieder hübsch«, und »lasst uns eine der Illustrierten mit den Frauenbildern holen«, und »hey, jetzt sieht sie aus wie Audrey Hepburn«. Schließlich fixierten sie ihr Gesicht, und wie eine Fledermaus entflog sie ihren Greifern. Speck war den Rest des Tages ungewöhnlich nett zu mir, vielleicht aus verlegenem Schuldgefühl wegen der Prügel, die ich bezogen hatte. Ihre Sanftheit erinnerte mich an die Berührungen meiner Mutter oder an das, was ich meinte, in Erinnerung zu haben. Das Gespenst hätte genauso gut meine Mutter gewesen sein können, oder jede andere heraufbeschworene Einbildung. Und wieder vergaß ich, weil der Unterschied zwischen Erinnerung und Phantasie verschwamm. Könnte der Mann, den ich gesehen hatte, mein Vater sein?, fragte ich mich. Er schien mich erkannt zu haben, aber ich war nicht sein Sohn, nur ein Schatten aus den Wäldern. Tief in der Nacht schrieb ich die Geschichte der drei Möglichkeiten in Mclnnes' Aufsatzheft und hoffte, in der Zukunft alles zu verstehen. Speck leistete mir Gesellschaft, während die anderen schliefen. Im Licht der Sterne waren alle Sorgen aus ihrem Gesicht gewichen; sogar ihre Augen, die sonst immer so müde waren, strahlten Mitgefühl aus. »Es tut mir so leid, dass sie dir wehgetan haben.« »Es hat nicht wehgetan«, flüsterte ich steif und wund. 94 »Man wird entschädigt für das Leben hier. Hör doch.« Mit ausgebreiteten Flügeln schwebte eine jagende Eule tief zwischen den Bäumen hindurch. Speck erstarrte vor Spannung, die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. »Du wirst nie alt werden«, sagte sie. »Du wirst dir keine Gedanken machen müssen, wen du heiratest, ob du Kinder haben willst oder wie du eine Arbeit findest. Keine grauen Haare und Falten, keine Zähne, die dir ausfallen. Du wirst keinen Stock oder Krücken brauchen.« Wir hörten, wie die Eule zu Boden ging und zustieß. Die Maus piepste einmal, dann hauchte sie ihr Leben aus. »Wie Kinder, die nie erwachsen werden«, sagte ich. »>Die unbedeutenden Erden-Söhne.<« Sie ließ ihre Worte nachklingen. Ich heftete meinen Blick auf einen einzelnen Stern und hoffte, die Erde wahrzunehmen oder zu sehen, wie der Himmel sich bewegte. Dieser Trick, in den Himmel zu starren und mit ihm davonzutreiben, war in all den Jahren oft ein gutes Rezept gegen meine Schlaflosigkeit, doch nicht in dieser Nacht. Diese Sterne standen still, und dieser Erdball ächzte, als steckte er in seiner Umdrehung fest. Mit nach oben gerichteten Augen und einem Kinn, das zum Mond zeigte, betrachtete Speck die Nacht, und ich hatte keine Vorstellung, was sie dachte. »War es mein Vater, Speck?« »Das kann ich dir nicht sagen. Lass die Vergangenheit los, Aniday. Mach es so, als hieltest du eine Pusteblume in den Wind. Warte auf den richtigen Augenblick, und die Samen werden davonfliegen.« Sie sah mich an. »Du solltest schlafen.«
»Ich kann nicht. Es ist lauter Getöse in meinem Kopf.« Sie legte ihre Hand auf meine Lippen. »Hör doch.« 95 Nichts rührte sich. Da waren nur sie und ich. »Ich höre nichts.« Doch sie nahm ein Geräusch in der Ferne wahr, und ihr Blick kehrte sich nach innen, als wäre sie an seiner Quelle. 95 Kapitel 15 Nachdem ich vom College nach Hause zurückgekehrt war, erfüllte so etwas wie Stumpfsinn mein Leben am Tage, und meine Nächte wurden zum Wachtraum. Wenn ich nicht gerade wieder eine Coverversion auf dem Klavier klimperte, stand ich hinter dem Tresen und bediente die üblichen Gäste mit ihren eigenen Dämonen. Ich war schon ganz routiniert im Oscar's, als der merkwürdigste Gast von allen auftauchte und einen Schuss Whiskey bestellte. Er schob das Glas an die Kante des Tresens und starrte es an. Ich ging zum nächsten Gast, goss ein Bier ein, schnitt eine Zitrone an und kam zurück zu dem Typen, und sein Drink stand da unangerührt. Er war ein koboldartiger Kerl, sauber, unauffällig, in einem billigen Anzug und mit billiger Krawatte, und soweit ich es sagen konnte, hatte er seine Hände nicht von seinem Schoß genommen. »Was ist los, Mister? Sie haben Ihren Drink nicht angerührt.« »Würden Sie ihn mir spendieren, wenn ich es schaffe, das Glas zu bewegen, ohne dass ich es berühre?« »Was meinen Sie mit >bewegen Wie weit?« »Wie weit müsste es sich denn bewegen, dass Sie mir glauben?« 95 »Nicht weit.« Ich hatte angebissen. »Bewegen Sie es, und Sie haben gewonnen.« Er streckte die Hand aus, rüttelte sie über dem Glas und darunter glitt das Glas langsam über die Theke, bis es ungefähr fünfzehn Zentimeter weiter links stehen blieb. »Ein Magier erklärt niemals das Geheimnis seines Tricks. Tom Mclnnes.« »Henry Day«, sagte ich. »Ich bekomme hier allerhand Tricks geboten, aber das war bisher der beste.« »Ich bezahle ihn«, sagte Mclnnes und legte einen Dollar auf den Tresen. »Aber Sie schulden mir einen. In einem frischen Glas, bitte, Mr. Day.« Er stürzte den zweiten Whiskey hinunter und stellte das erste Glas wieder vor sich hin. In den nächsten Stunden legte er vier Leute mit demselben Trick herein. Doch das erste Glas rührte er nicht an. Er trank die ganze Nacht umsonst. Als Mclnnes gegen elf Uhr aufstand und nach Hause gehen wollte, ließ er den ersten Whiskey auf dem Tresen stehen. »Hey, Mac, Ihr Drink!«, rief ich ihm nach. »Dieses Zeug rühr ich nicht an«, sagte er und schlüpfte in seinen Regenmantel. »Und auch Ihnen empfehle ich dringend, es nicht zu trinken.« Ich hob das Glas an die Nase, um daran zu riechen.
»Verbleit.« Er hielt einen kleinen Magneten hoch, den er in seiner linken Hand versteckt hatte. »Aber Sie haben es gewusst, oder?« Als ich das Glas schwenkte, sah ich die Bleispäne auf dem Grund. »Teil meiner Untersuchung über die Menschheit«, sagte er, »und unsere Bereitschaft, an etwas zu glauben, das man nicht sehen kann.« Mclnnes wurde Stammgast im Oscar's, in den nächsten Jahren kam er vier-, fünfmal die Woche, immer mit der kuriosen Absicht, andere Stammgäste mit neuen Tricks oder Geduldsspielen zum Narren zu halten. Manchmal bestand ein Rätsel oder eine schwierige Rechenaufgabe darin, sich eine Zahl auszusuchen, sie zu verdoppeln, sieben zu addieren, das eigene Alter abzuziehen und so weiter, bis das Opfer wieder bei der ursprünglichen Zahl ankam. Oder ein Spiel bestand aus Streichhölzern, einem Kartenspiel und Geschicklichkeit. Die Drinks, die er gewann, hatten nur geringe Folgen, denn sein Vergnügen ergab sich aus der Leichtgläubigkeit seiner Mittrinker. Und auch auf andere Weise war er mysteriös. An den Abenden, an denen die Coverboys auftraten, saß Mclnnes nahe bei der Tür. Manchmal kam er zwischen den Sets auf die Bühne, um mit uns Jungs zu plaudern. Am besten verstand er sich mit Jimmy Cummings, der ein gutes Beispiel für einen schlichten Denker abgab. Spielten wir jedoch das falsche Lied, konnte man absolut sicher sein, dass er verschwand. Als wir in den Jahren 1963 oder 1964 anfingen, BeatlesSongs nachzuspielen, ging er jedes Mal schon bei den ersten Takten von »Do YouWant to Know a Secret?«. Wie viele Trinker fand Mclnnes mehr zu sich selbst, wenn er ein paar gekippt hatte. Aber er war nie besoffen. Er wurde nicht redseliger oder mürrischer, sondern einfach insgesamt entspannter und bekam schärfere Konturen. Und er vertrug Unmengen von Alkohol an einem Abend, mehr als alle anderen, die ich kennen gelernt habe. Oscar fragte ihn eines Nachts nach seinem ungewöhnlichen Fassungsvermögen. »Der Geist muss stärker sein als die Materie. Ein billiger Trick, der mit einem kleinen Geheimnis zusammenhängt.« »Und was könnte das sein?« 96 »Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es ist eine Gabe, wirklich, und auch ein Fluch. Aber ich sag euch, wenn man so viel trinkt, muss irgendetwas hinter dem Durst stecken.« »Was macht Sie also so durstig, Sie altes Kamel?« Cummings lachte. »Die unerträgliche Frechheit der heutigen Jugend. Ich hätte heute eine feste Anstellung, gäbe es nicht so viele unausgegorene College-Studenten und bestünde nicht der Druck zu publizieren.« »Sie waren Professor?«, fragte ich. »Für Anthropologie. Mein Spezialgebiet war die Anwendung von Mythologie und Theologie als kulturelle Rituale.« Cummings unterbrach ihn. »Nun mal langsam, Mac. Ich war nicht auf dem College.« »Wie Leute den Mythos und Aberglauben als Erklärung für menschliches Schicksal einsetzen. Ich war insbesondere interessiert an der Vorpsychologie
von Elternschaft und habe mal angefangen, ein Buch zu schreiben über ländliche Riten auf den Britischen Inseln, in Skandinavien und Deutschland.« »Dann trinken Sie also wegen einer alten Flamme?«, fragte Oscar und brachte das Gespräch zurück auf den Ausgangspunkt. »Ich wünschte bei Gott, es wäre wegen einer Frau.« Er beäugte die ein, zwei Frauen in der Bar und senkte die Stimme. »Nein, Frauen waren immer sehr gut zu mir. Es ist der Geist, Jungs. Die unbarmherzige Denkmaschine. Die permanenten Anforderungen von morgen und der vergangenen Tage, die wie ein Leichenberg aufgeschichtet sind. Es ist dieses Leben und all die anderen davor.« Oscar kaute auf einem Strohhalm. »Leben vor dem Leben?« 97 »So etwas wie Reinkarnation?«, fragte Cummings. »Darüber weiß ich nichts. Aber was ich weiß, ist, dass einige wenige besondere Leute sich an Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern, an Ereignisse, die zu weit zurückliegen. Verzaubert sie, und ihr würdet staunen über die Geschichten, die aus ihrem tiefsten Innern aufsteigen. Sie reden über Dinge, die vor einem Jahrhundert geschehen sind, als wären sie gerade gestern passiert. Oder heute.« »Verzaubern?«, fragte ich. »Hypnose, Mesmers Bann, der Wachschlaf. Die transzendente Trance.« Oscar schaute misstrauisch. »Hypnose. Noch so einer Ihrer Partytricks.« »Ich war bekannt dafür, dass ich einige Leute in diesen Zustand versetzt habe«, sagte Mclnnes. »Sie haben Geschichten aus ihrem träumenden Gehirn erzählt, die zu unglaublich waren, als dass man sie ihnen hätte glauben können. Da sie es aber mit so viel Gefühl und solcher Bestimmtheit taten, war ich überzeugt, dass sie die Wahrheit gesagt haben. Die Leute tun und sehen merkwürdige Dinge, wenn sie in Hypnose sind.« Cummings warf ein: »Ich möchte gerne hypnotisiert werden.« »Bleib nach Schließung der Bar da, und ich mach es.« Nachdem um zwei Uhr morgens alle Gäste gegangen waren, wies Mclnnes Oscar an, das Licht zu dämpfen, und bat mich und George, uns absolut ruhig zu verhalten. Er saß vor Jimmy und forderte ihn auf, die Augen zu schließen; dann sprach Mclnnes mit leiser, getragener Stimme, beschrieb gemütliche Plätze und friedvolle Umstände mit so intensiven Details, dass es mich überraschte, dass wir nicht alle einschliefen. Mclnnes machte einige Tests, um zu überprüfen, o b Jimmy in Hypnose war. 97 »Hebe deinen rechten Arm und strecke ihn vor dir aus. Er ist aus dem härtesten Stahl der Welt, und wie sehr du dich auch bemühst, du kannst ihn nicht beugen.« Cummings streckte den rechten Arm und konnte ihn nicht krumm machen; auch Oscar, George und mir gelang es tatsächlich nicht, als wir es versuchten, denn er fühlte sich wie eine echte Eisenstange an. Mclnnes machte noch weitere Tests, dann stellte er die ersten Fragen, auf die Cummings matt und monoton antwortete. »Wer ist dein Lieblingsmusiker, Jimmy?«
»Louis Armstrong.« Wir lachten über dieses geheime Eingeständnis. Im Wachzustand hätte er einen Rockdrummer wie Charlie Watts von den Stones genannt, aber niemals Satchmo. »Gut. Wenn ich deine Augen berühre, wirst du sie öffnen, und in den nächsten Minuten wirst du Louis Armstrong sein.« Jimmy war ein magerer weißer Junge, aber kaum schlug er seine babyblauen Augen auf, vollzog sich die Verwandlung unmittelbar. Sein Mund, den er ab und zu mit einem imaginären Tuch abwischte, verzog sich zu Armstrongs berühmtem breitem Lächeln, und er sprach mit heiser rollender Stimme. Obwohl Jimmy nie auch nur eine Nummer von ihm gesungen hatte, legte er eine passable Interpretation eines alten Songs ab, der »III Be Glad When You're Dead, You Rascal You« hieß, und dann legte er mit seinem Daumen als Mundstück und seinen Fingern als Trompete ein fetziges Jazzstück hin. Normalerweise saß Cummings hinter seinem Schlagzeug, doch nun sprang er auf einen Tisch und hätte den Saal weiter unterhalten, wäre er nicht in einer Bierlache ausgerutscht und zu Boden gefallen. Mclnnes lief rasch zu ihm. »Wenn ich bis drei zähle und mit den Fingern schnippe«, sagte er zu dem schlaffen Körper, »wirst 98 du aufwachen und dich frisch fühlen, als hättest du in dieser Woche jede Nacht anständig geschlafen. Jimmy, ich möchte, dass du dich an Folgendes erinnerst: Solltest du jemanden >Satchmo< sagen hören, wirst du das unkontrollierbare Verlangen verspüren, einige Takte wie Louis Armstrong zu singen. Wirst du dich daran erinnern?« »Uh-huh«, antwortete Cummings in Trance. »Gut, aber du wirst dich an nichts anderes erinnern als an diesen Traum. Jetzt werde ich mit den Fingern schnippen, und du wirst glücklich und erfrischt aufwachen.« Mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht kam er zu sich und blinzelte jeden Einzelnen von uns an, als könnte er sich nicht vorstellen, warum wir ihn alle anschauten. Als wir ihn ausfragten, erinnerte er sich an nichts von der letzten halben Stunde. »Und du erinnerst dich nicht an Satchmo?«, fragte Oscar. Cummings fing an zu singen »Hello, Dolly!« und brach unvermittelt ab. »Mr. Jimmy Cummings, der angesagteste Mann der Welt«, frotzelte George und lachte. Wir alle nervten Cummings in den nächsten Tagen, weil wir immer wieder ein »Satchmo« fallen ließen, bis sich das magische Wort verbraucht hatte. Doch die Ereignisse jener Nacht entwickelten ein Eigenleben in meinem Kopf. Wochen später traktierte ich Mclnnes mit Fragen, da ich wissen wollte, wie Hypnose funktioniert. Doch alles, was er mir sagen konnte, war, dass »das Unbewusste an die Oberfläche steigt und verdrängten Neigungen und Erinnerungen freien Lauf lässt«. Da mich seine Antworten nicht zufriedenstellten, fuhr ich an meinen freien Tagen hinüber in die Stadt zur
Bibliothek und vertiefte mich in die Recherche. Von den Schlaftempeln des alten Ägypten über 99 Mesmer bis hin zu Freud gibt es Hypnose in der einen oder anderen Form seit Jahrtausenden, und seitdem diskutieren Philosophen und Wissenschaftler über ihre Stichhaltigkeit. Ein Artikel aus The International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis klärte die Debatte für mich: »Der Patient — und nicht der Therapeut — hat die Kontrolle über die Tiefe, in welcher der Geist das Unbewusste erreicht.« Ich riss das Zitat aus der Seite, steckte es in mein Portemonnaie und las es immer wieder, als wiederholte ich ein Mantra. Da ich der Überzeugung war, ich könnte meinen Geist und mein Unbewusstes steuern, bat ich schließlich Mclnnes, mich zu hypnotisieren. Er wusste vielleicht den Weg zurück in ein vergessenes Land, könnte mein verdrängtes Leben erschließen und mir sagen, wer ich war und woher ich kam. Und entspräche es der Wahrheit und förderte meine deutschen Wurzeln zutage, würde die Geschichte von jedem, der sie hörte, bloß als überspannte Wahnvorstellung verlacht. Wir alle hatten schon mal gehört: In einem früheren Leben war ich Kleopatra, Shakespeare, Dschingis Khan. Schwieriger zu erklären oder mit einem Lachen abzutun, wäre mein Leben als Kobold im Wald — vor allem jene schreckliche Nacht im August, als ich zum Wechselbalg wurde und den Jungen raubte. Seit ich bei den Days lebte, hatte ich sorgfältig jede Spur meines Daseins als Wechselbalg getilgt. Es könnte gefährlich werden, wenn ich mich in der Hypnose nicht an Dinge aus Henry Days Kindheit erinnerte, die vor seinem siebten Lebensjahr geschehen waren. Meine Mutter hatte so oft aus Henrys Kindheit erzählt, dass ich nicht nur glaubte, sie spräche über mich, sondern manchmal sogar meinte, ich selbst würde mich 99 an dieses Leben erinnern. Solche angenommenen Erinnerungen sind wie Glas. Mclnnes kannte nur einen Teil meiner Geschichte, das, was er bei seinen Barbesuchen aufgeschnappt hatte. Er hatte mich über meine Mutter, meine Schwestern und über meine abgebrochene Collegekarriere reden hören. Ich hatte ihm sogar gestanden, dass ich für Tess Wodehouse schwärmte, seit sie eines Abends mit ihrem Freund aufgetaucht war. Aber von der anderen Seite meiner Lebensgeschichte hatte er nicht die geringste Ahnung. Sollte ich also zufällig etwas ausplaudern, müsste ich es mit einer Erklärung beiseite wischen. Doch mein Wunsch, die Wahrheit über den deutschen Jungen zu erfahren, war stärker als meine Angst, als Wechselbalg entlarvt zu werden. Der letzte Betrunkene wankte hinaus in die Nacht, Oscar schloss die Kasse und hing seine Schürze auf. Auf dem Weg zur Tür warf er mir die Schlüssel zu, damit ich abschlösse, gleichzeitig machte Mclnnes alle Lichter aus, mit Ausnahme einer Lampe am Ende des Tresens. Die Freunde verabschiedeten sich, und Mclnnes und ich waren allein. Panik und dunkle Vorahnungen überfielen mich. Wenn ich nun etwas über den echten Henry Day sagte und mich selbst verriet? Was wäre, wenn er versuchte, mich zu erpressen, oder mir drohte, mich den Behörden zu übergeben? Ein Gedanke ging mir durch den
Kopf: Ich könnte ihn umbringen, und es würde nicht einmal jemandem auffallen, dass er tot wäre. Zum ersten Mal seit vielen Jahren spürte ich, dass ich wieder wild wurde — ein Tier, ganz Instinkt. Doch kaum fing er an, verflüchtigte sich meine Panik. Der dringende Wunsch zu wissen, wer ich war, kämpfte meine Ängste nieder. In der dunklen, leeren Bar saßen wir uns an einem kleinen 100 Tisch gegenüber, und als ich Mclnnes' leiernder Stimme lauschte, die von weit oben und von der Seite zu mir drang, fühlte ich mich wie aus Stein. Er kontrollierte meine Handlungen und Gefühle mit seinen Worten, die genau mein Sein bestimmten. Sich seiner Stimme hinzugeben war in etwa so, wie sich zu verlieben. Füge dich, lass los. Eine ungeheure Schwerkraft zog an meinen Gliedern, als würde ich aus Raum und Zeit gesaugt. Das Licht verschwand und wich dem plötzlichen Aufblitzen eines Projektionsstrahls. Auf der weißen Wand meines Geistes hatte ein Film begonnen. Doch dem Film fehlte sowohl ein erzählender als auch ein klarer visueller Stil, der es mir ermöglicht hätte, Schlussfolgerungen zu ziehen. Keine Geschichte, kein Plot, nur Zeichen und Gefühl. Ein Gesicht erscheint, spricht, und ich empfinde Angst. Eine kalte Hand umschließt meinen Knöchel. Ein Schrei, auf den disharmonische Klavierklänge folgen. Meine Wange gegen einen Brustkorb gepresst, eine Hand, die meinen Kopf eng an die Brust drückt. Mit gewisser Bewusstheit fiel mein Blick auf einen Jungen, der rasch sein Gesicht abwendete. Was auch immer als Nächstes geschah, es war das Ergebnis aus dem Zusammenprall von Trägheit und Chaos. Die Dur-Akkorde wurden gänzlich ignoriert. Das Erste, was ich tat, als Mclnnes mich mit einem Fingerschnippen aus der Trance weckte, war, auf die Uhr zu schauen — vier Uhr morgens. So wie Cummings es beschrieben hatte, fühlte auch ich mich seltsam erfrischt, als hätte ich acht Stunden geschlafen, doch mein verschwitztes Hemd und das feuchte Haar an den Schläfen widerlegten diese Möglichkeit. Mclnnes wirkte völlig erschöpft und ausgewrungen. Er bediente sich selbst mit einem Drink und stürzte ihn hinunter wie ein Mensch, der aus der Wüste kommt. Im Schummerlicht der leeren Bar sah er mich 100 ungläubig und fasziniert an. Ich bot ihm eine Camel an, und zu dieser frühen Morgenstunde saßen wir rauchend da. »Habe ich irgendetwas Aufschlussreiches gesagt?«, fragte ich. »Kannst du Deutsch?« »Nur ganz wenig«, antwortete ich. »Zwei Jahre auf der Highschool.« »Du hast Deutsch gesprochen wie die Brüder Grimm.« »Was habe ich gesagt? Sind Sie daraus klug geworden?« »Ich weiß es nicht genau. Was ist ein Wechselbalg}« »Nie gehört, dieses Wort.« »Du hast geschrien, als würde dir etwas Entsetzliches zustoßen. Etwas mit dem Teufel.« »Habe den Mann nie getroffen.« »Und die Feenwesen} Sind das Dämonen?« »Kann sein.«
»Kobolde} Du hast gellende Schreie ausgestoßen, als du sie gesehen hast, was auch immer sie sein mögen. Irgendeine Idee?« »Nein.« »Entführung}« »Keine Ahnung.« »Ich weiß nicht, was du versucht hast zu sagen. Es war ein Sprachenwirrwarr. Du warst, glaube ich, mit deinen Eltern oder hast nach ihnen gerufen, und alles auf Deutsch, so etwas wie mit. Du wolltest mit ihnen gehen?« »Aber meine Eltern sind keine Deutschen.« »Die, an die du dich erinnert hast, waren Deutsche. Irgendjemand kam, die Feen oder die Teufel oder die Kobolde, und sie wollten dich Wegzerren.« Ich schluckte. Allmählich kehrte die Erinnerung an dieses Geschehen zurück. 101 »Wer oder was auch immer dich packte, du hast laut nach Mama und Papa und dem Klavier gerufen.« »Dem Klavier...« »So etwas habe ich noch nie gehört, und du hast gesagt, man habe dich geraubt. Und da habe ich dich gefragt, >wann<, und du hast etwas auf Deutsch geantwortet, das ich nicht verstehen konnte, also habe ich dich noch einmal gefragt, und du hast geantwortet, >neunundfünfzig<, und ich habe gesagt, >das kann nicht sein, das ist ja erst sechs Jahre her<. Und dann hast du glasklar gesagt, >nein. . . 1859c« Mclnnes blinzelte und sah mich eindringlich an. Ich zitterte, darum zündete ich mir noch eine Zigarette an. Wir sahen dem Rauch nach und sprachen kein Wort. Er hatte als Erster fertig geraucht und drückte seine Kippe so kraftvoll aus, dass beinahe der Aschenbecher zu Bruch gegangen wäre. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Weißt du, was ich glaube?«, sagte Mclnnes. »Ich glaube, du hast dich an ein früheres Leben erinnert. Ich glaube, du bist womöglich vor langer Zeit ein deutscher Junge gewesen.« »Das ist kaum zu glauben.« »Hast du mal vom Mythos des Wechselbalgs gehört?« »Ich glaube nicht an Märchen.« »Nun ja. . . als ich dich nach deinem Vater gefragt habe, hast du nur gesagt, >er weiß es<.« Mclnnes gähnte. Es war kurz vor Morgengrauen. »Was, Henry, denkst du, wusste er? Glaubst du, er wusste von deiner Vergangenheit?« Ich wusste es, aber sagte es nicht. Am Tresen gab es Kaffee, und in einem Minikühlschrank lagen Eier. Hinten auf der Kochplatte bereitete ich uns ein Frühstück zu und versuchte, meine unberechenbaren Gedanken zu beruhigen, indem ich mich auf 101 einfache Aufgaben konzentrierte. Diesiges, graues Licht drang bei Tagesanbruch durch die Fenster. Ich stand hinter dem Tresen; er saß vor mir auf seinem angestammten Barhocker, und wir aßen unser Rührei und tranken unseren schwarzen Kaffee. Zu dieser Stunde sah der Raum mitleiderregend schäbig aus, und Mclnnes' Augen wirkten müde und leer, so wie die meines Vaters, als wir uns das letzte Mal sahen. Er setzte seinen Hut auf und zog sich seinen Mantel an. Die peinliche Stille zwischen uns sagte mir, dass er nicht wiederkäme. Diese Nacht war zu hart
und zu sonderbar für den alten Professor gewesen. »Auf Wiedersehen, und viel Glück.« Als seine Hand den Türknauf drehte, rief ich ihm zu, er solle warten. »Wie war mein Name in diesem so genannten früheren Leben?« Er machte sich nicht die Mühe, sich umzusehen. »Oh, ich habe nicht daran gedacht, dich danach zu fragen.« 102 Kapitel 16 Wenn ein Gewehr an einem kalten Wintertag losgeht, dröhnt das Echo meilenweit durch den Wald, und alle Lebewesen halten inne, um zu schauen und zu lauschen. Der erste Gewehrschuss der Jagdsaison schreckte die Kobolde auf und versetzte sie in Alarmbereitschaft. Ein Suchtrupp schwärmte aus in Richtung Berggrat, hielt Ausschau nach orange- oder tarnfarbenen Westen und Hüten und lauschte auf stapfende Männer, die sich an Rehe, Fasane, Truthähne, Moorhühner, Hasen, Füchse oder Schwarzbären heranpirschten. Manchmal hatten die Jäger blöde, schöne Hunde dabei — gefleckte Pointer, langhaarige Setter, Blueticks, Black-and-Tans und Retriever —, die uns gefährlicher werden konnten als ihre Herrchen. Tarnten wir nicht auf jedem unserer Wege unseren Geruch, spürten sie uns auf. Wenn ich mich allein auf den Weg machte, fürchtete ich immer, ich könnte auf einen Köter stoßen, oder auf Schlimmeres. Jahre später, als unsere Gruppe kleiner geworden war, witterte eine Meute unsere Spur und überraschte uns bei einer Rast an einem schattigen Plätzchen. Die Hunde rasten auf uns zu, ein Strom blitzender scharfer Zähne und geifernder Bedrohung. Instinktiv stürzten wir alle gleichzeitig auf das sichere Dornen 102 dickicht zu. Mit jedem Schritt, der uns unserem Rückzugsort näher brachte, holten die Hunde zwei auf. Sie waren wie eine Armee, die mit gezücktem Messer ihren urzeitlichen Kampfschrei ausstieß, und nur weil wir unsere nackte Haut dem Dornengestrüpp opferten, konnten wir uns retten. Wir waren heilfroh, als sie verblüfft winselnd vor dem Dickicht stehen blieben. Doch an diesem Wintertag waren die Hunde weit weg. Alles, was wir hörten, war das Aufschreien, den einzelnen Schuss, die gemurmelte Verwünschung — oder das Töten. Einmal sah ich eine Ente vom Himmel fallen, die sich plötzlich von einer nach vorn gestreckten Silhouette in ein gefiedertes Windrad verwandelte, das laut auf dem Wasser aufklatschte. Weil es seit Mitte des Jahrzehnts in unserer Berg- und Tallandschaft keine Wilderer mehr gab, mussten wir uns nur während der Jagdsaison, die ungefähr mit dem Spätherbst und den Winterferien zusammenfiel, in Acht nehmen. Wenn die Pracht der Bäume der Kargheit und dann der bitteren Kälte wich, horchten wir auf Menschen in den Schluchten und auf das Krachen eines Schusses. Zwei, drei von uns gingen hinaus, während wir anderen uns unter unsere mit einer Laubschicht getarnten Decken kauerten, in Erdlöcher schlüpften oder uns in hohlen Bäumen versteckten. Wir gaben unser Bestes, unsichtbar zu werden, so als existierten wir gar nicht. Der frühe Einbruch der Dunkelheit oder Tage mit heftigem Regen waren unsere einzigen Ruhepausen im angespannten
Stumpfsinn des Sichversteckens. Der Geruch unserer ständigen Angst vermischte sich mit dem des Novembermoders. Rücken an Rücken an Rücken saßen Igel, Smaolach und ich in Kleeblattformation und sahen bei einer Morgensonne, die von niedrigen, dichten Wolken gepuffert war, und einer Luft, die nach Schnee roch, auf den Bergkamm. Normalerweise wollte 103 Igel mit mir nichts zu tun haben, nicht mehr seit jenem Tag vor etlichen Jahren, als ich beinahe unseren Clan verraten hätte, weil ich versucht hatte, mit dem Mann zu sprechen. Schritte näherten sich von Süden: die einen schwer, als sie sich laut durch das Unterholz kämpften, die anderen leicht. Die beiden Menschen traten auf eine Wiese. Ein Hauch Ungeduld umgab den Mann, und der Junge, etwa sieben, acht Jahre alt, machte den Eindruck, als gäbe er sich alle Mühe, es ihm recht zu machen. Der Vater trug sein Gewehr schussbereit. Das Gewehr des Sohns war abgeknickt und unhandlich zu tragen, als er aus dem Unterholz stolperte. Sie hatten gleiche Karojacken an und Schirmmützen mit wegen der Kälte heruntergezogenen Ohrenklappen. Wir beugten uns vor, um in der Stille ihr Gespräch zu belauschen. Durch Übung und Konzentration in all den Jahren konnte nun auch ich ihre Worte verstehen. »Mir ist kalt«, sagte der Junge. »Das härtet dich ab. Übrigens haben wir nicht gefunden, was wir gesucht haben.« »Wir haben den ganzen Tag nicht einen Einzigen gesehen.« »Sie sind hier aber irgendwo, Ose.« »Ich kenne sie nur von Bildern.« »Wenn du sie in natura siehst«, sagte der Mann, »ziele auf das Herz dieser kleinen Scheißerchen.« Er winkte dem Jungen, er solle ihm folgen, und sie verschwanden in östlicher Richtung im Dunkeln. »Los«, sagte Igel, und wir schlichen hinter ihnen her, immer auf Abstand und gut gedeckt. Legten sie eine Rast ein, rasteten wir auch, und bei unserer zweiten Pause dieser Art zupfte ich Smaolach am Ärmel. »Was machen wir hier?« 1 03 »Igel glaubt, er habe vielleicht eins gefunden.« Wir gingen weiter, und als unsere Beute stehen blieb, blieben auch wir wieder stehen. »Ein was?«, fragte ich. »Ein Kind.« Uber einsame Pfade führten sie uns zu einer Umgehungsstraße. Kein Opfer begegnete ihnen, sie feuerten ihre Waffen nicht ab, und sie wechselten nur wenige Worte. Bei ihrem Imbiss verharrten sie in einem unangenehmen Schweigen, und ich konnte nicht verstehen, wieso diese beiden irgendwie von Interesse waren. Das mürrische Gespann ging zurück zu einem grünen Pickup, der auf dem Hang neben der Straße parkte, und der Junge stieg auf der Beifahrerseite ein. Als er vor dem Wagen herging, murmelte sein Vater: »Das war ein verdammter Fehler.« Igel musterte die beiden mit ungezähmter Intensität, und als der kleine Laster davonfuhr, las er laut das Nummernschild vor, um es sich einzuprägen. Auf dem Heimweg trödelten Smaolach und ich
hinter Igel her, der sich schnellen Schrittes seinen geheimen Grübeleien hingab. »Warum haben wir sie den ganzen Tag verfolgt? Was soll das heißen: >Er hat ein Kind gefundene« »Gleich gibt es einen Wolkenbruch.« Smaolach betrachtete den sich verfinsternden Himmel. »Man kann es schon riechen.« »Was wird er tun?«, brüllte ich. Vor uns blieb Igel wie angewurzelt stehen und wartete, bis wir aufgeschlossen hatten. »Seit wann bist du bei uns, Aniday? Was sagt dein Steinkalender?«, fragte er. Seit jenem Tag, als sie sich auf mich gestürzt hatten, war ich vorsichtig mit Igel, und ich hatte gelernt, mich unterwürfig zu zeigen. »Ich weiß es nicht. Dezember? November? 1966?« 104 Er verdrehte die Augen, biss sich auf die Lippe und fuhr fort: »Seitdem du da bist, halte ich Ausschau und warte, und nun bin ich dran, und dieser Junge könnte der Richtige sein. Wenn du und Speck in der Stadt bei euren Büchern seid, achtet auf diesen grünen Pick-up. Solltet ihr ihn sehen oder den Jungen oder den Vater, lasst es mich wissen. Wenn ihr den Mut habt, ihm zu folgen, und herausfindet, wo er wohnt, wo er zur Schule geht oder wo sein Vater arbeitet oder ob er Mutter, Schwester, Bruder hat, lasst es mich wissen.« »Aber klar, Igel. Es wird mir ein Vergnügen sein, ihm in der Bibliothek nachzuspionieren.« Er forderte Smaolach auf, neben ihm zu gehen, und ich bildete die Nachhut. Bitterkalter Eisregen setzte ein, und um nicht völlig nass zu werden, rannte ich das letzte Stück. Das Tunnellabyrinth, das Igel und Luchog in all den Jahren gegraben hatten, erwies sich in solch stürmischen Nächten als ideale Zuflucht, auch wenn mich die Klaustrophobie meist schnell wieder nach draußen zwang. Die Kälte und die Nässe trieben mich in die Tunnel, und mit den Händen tastete ich mich durch die Dunkelheit vor, bis ich die Anwesenheit anderer spürte. »Wer ist da?«, rief ich. Keine Antwort, nur ein flüchtiges, gedämpftes Geräusch. »Hau ab, Aniday.« Das war Beka. »Hau du ab, du alter Furzer. Ich bin gerade erst dem Regen entkommen.« »Geh dahin zurück, wo du herkommst. Dieses Loch ist besetzt.« Ich versuchte, mit ihm zu reden. »Lass mich doch vorbei, ich schlafe irgendwo anders.« 104 Ein Mädchen schrie auf und dann er. »Sie hat mir, verdammt noch mal, in den Finger gebissen.« »Wer ist da bei dir?« Speck rief im Dunkeln: »Geh schon raus, Aniday. Ich komme nach.« »Miststück!« Beka fluchte und ließ sie gehen. Ich streckte den Arm in die Finsternis, und sie fand meine Hand. Gemeinsam krochen wir zurück an die Oberfläche. Schneidend kalter Regen fiel auf ihr Haar, sodass es platt an ihrem Schädel klebte. Wie ein Helm legte sich eine dünne Eisschicht über ihren Kopf, Tropfen sammelten sich auf ihren Wimpern und liefen ihr übers Gesicht.
Schweigend standen wir da, nicht fähig, dem anderen irgendetwas zu sagen. Sie sah aus, als wollte sie etwas erklären oder sich entschuldigen, aber ihre Lippen zitterten und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Sie griff nach meiner Hand und zog mich in einen anderen schützenden Tunnel. Wir krochen hinein und kauerten uns nahe der Erdoberfläche hin, sodass wir dem Regen entronnen, aber nicht zu tief in der kalten Erde waren. Da ich das Schweigen nicht ertrug, erzählte ich bedrückt von dem Vater und seinem Sohn, denen wir gefolgt waren, und von Igels Anordnungen. Speck nahm alles auf, ohne ein Wort zu sagen. »Drück dir das Wasser aus den Haaren«, sagte sie. »Dann trocknen sie schneller, und es tropft dir nicht mehr auf die Nase.« »Was bedeutet es, wenn er sagt, er habe ein Kind gefunden?« »Mir ist kalt, mir ist schlecht, ich bin müde, ich bin brummig. Können wir nicht morgen früh darüber reden, Aniday?« »Was hat er gemeint, wenn er sagt, er warte, seit ich hierher gekommen bin?« 105 »Er ist der Nächste. Er wird den Platz mit diesem Jungen tauschen.« Sie zog ihren Mantel aus. Sogar im Finstern warf ihr weißer Pullover genügend Licht zurück, sodass ich sie besser sah. »Ich verstehe nicht, warum es an ihm ist zu gehen.« Sie lachte über meine Naivität. »Das entspricht der Hierarchie. Oben der Älteste, unten der Jüngste. Igel trifft alle Entscheidungen, weil er am längsten hier ist, und er wird als Nächster gehen.« »Wie alt ist er?« Sie rechnete im Kopf. »Ich weiß es nicht genau. Er ist wahrscheinlich etwa hundert Jahre hier.« »Du spinnst.« Diese Zahl sprengte mir fast das Hirn. »Wie alt sind die anderen? Wie alt bist du?« »Würdest du mich bitte schlafen lassen? Das können wir morgen besprechen. Komm und wärme mich.« Am nächsten Morgen sprachen Speck und ich ausführlich über die Geschichte der Elben, und ich schrieb alles auf, doch diese Aufzeichnungen sind heute — wie viele andere — verbrannt. Das Beste, was ich nun tun kann, ist aus der Erinnerung zu schildern, was wir damals schriftlich festhielten und was, um es gleich vorweg zu sagen, alles andere als exakt war, da selbst Speck nicht die ganze Geschichte kannte und nur grob zusammenfassen oder Vermutungen anstellen konnte. Dennoch wünschte ich, ich hätte noch meine Notizen von damals, denn das Gespräch liegt viele Jahre zurück, und mein ganzes Leben scheint nur darin zu bestehen, Erinnerungen zu rekonstruieren. Dass meine guten Freunde eines Tages gehen könnten, stimmte mich tieftraurig. Tatsächlich ist die Besetzung der Gruppe einem ständigen Wandel unterworfen. Da er sich aber über die Jahre 105 hinweg so langsam vollzieht, schien sie eine Dauerbesetzung zu sein. Igel war der Älteste, gefolgt von Beka, Blomma, Kivi und den Zwillingen Ragno und Zanzara, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts dazugestoßen waren. Onions
kam im verheißungsvollen Jahr 1900. Smaolach und Luchog waren die Söhne zweier Familien, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aus demselben irischen Dorf ausgewandert waren. Und Chavisory war eine Frankokanadierin, deren Eltern bei der großen Grippeepidemie von 1918 ihr Leben gelassen hatten. Neben mir war Speck die Jüngste, sie war als Vierjährige im zweiten Jahr der Weltwirtschaftskrise geraubt worden. »Ich war sehr viel jünger als die meisten anderen, als ich den Wechsel durchgemacht habe«, erklärte sie. »Mit Ausnahme der Zwillinge. Von Anfang an gab es Zwillinge in dieser Linie, und die kann man nur kidnappen, wenn sie noch sehr klein sind. Aber Babys nehmen wir nie. Viel zu problematisch.« Vage Erinnerungen rührten sich in meiner Gedankensoße. Wo hatte ich schon einmal Zwillinge gesehen? »Luchog gab mir meinen Namen, weil ich ein speckiges kleines Mädchen war, als sie mich entführt haben. Alle anderen sind mit dem Wechsel vor mir an der Reihe, nur du nicht. Du bist ganz unten am Totempfahl.« »Und Igel wartet wirklich schon ein ganzes Jahrhundert auf seinen Wechsel?« »Er hat bereits ein Dutzend den Wechsel vollziehen sehen und musste seine Zeit abwarten. Und wir stehen alle hinter ihm Schlange.« Als sie die unendlich lange Wartezeit ansprach, musste sie unwillkürlich die Augen schließen. Ich lehnte mich an einen Baumstamm, empfand Hilflosigkeit für sie und Hoffnungslosigkeit für mich. Ich dachte nicht ständig an Flucht, aber hin 106 und wieder erlaubte ich mir zu träumen, ich verließe die Gruppe und kehrte wieder zu meiner Familie zurück. Niedergeschlagen ließ Speck den Kopf hängen, ihr dunkles Haar fiel ihr über die Augen, ihr Mund stand offen, und sie sog nach Luft, als wäre jeder Atemzug eine große Anstrengung. »Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte ich. Sie blickte auf. »Igel helfen.« Ich bemerkte, dass ihr früher einmal weißer Pullover am Kragen und an den Ärmeln aufribbelte, und nahm mir vor, für Ersatz zu sorgen, wenn wir nach dem Jungen suchten. OSCAR'S BAR stand in roten Leuchtbuchstaben an der Fassade, und Beka entdeckte den grünen Pick-up des Jägers, der einsam auf dem Parkplatz hinter dem Haus stand. Er und Onions sprangen auf die Ladefläche und fuhren, ohne dass es der betrunkene Fahrer bemerkte, mit ihm nach Hause aufs Land. Sie lachte, als sie den Namen auf dem Briefkasten las: LOVE. Sie prägten sich den Ort gut ein und erzählten uns spät in der Nacht die guten Neuigkeiten. Dank dieser Informationen setzte Igel unseren Spähtrupp in Marsch und wies schichtweise wechselnde Grüppchen an, den Jungen und seine Familie im Auge zu behalten und ihre Wege und Gewohnheiten auszukundschaften. Er schärfte uns ein, den Charakter des Jungen und sein Verhalten genau zu beobachten. »Ich will einen detaillierten Bericht über sein Leben. Hat er Brüder oder Schwestern? Onkel oder Tanten? Oma und Opa? Hat er Freunde? Welche Spiele spielt er? Irgendwelche Hobbys oder Freizeitaktivitäten? Findet alles
Wissenswerte über die Beziehung zu seinen Eltern heraus. Wie gehen sie mit ihm um? Neigt er zu Tagträumen? Oder geht er gerne allein durch den Wald?« 107 Ich schrieb seine Worte in Mclnnes' Aufsatzheft und fragte mich, wie wir eine solche Aufgabe wohl lösen würden. Igel kam näher und blieb, auf mein Gekritzel starrend, vor mir stehen. »Du«, sagte er, »du bist unser Schreiber. Ich will einen ausführlichen Bericht. Du wirst sein Biograph. Alle können Aniday erzählen, was sie in Erfahrung bringen. Nervt mich bloß nicht mit jedem Detail. Erst wenn die Geschichte vollständig ist, erzählst du sie mir. Das wird der perfekteste Wechsel in unserer Geschichte. Findet mir ein neues Leben.« Noch ehe ich das Kind wiedersah, hatte ich das Gefühl, es ebenso gut zu kennen wie mich selbst. Chavisory zum Beispiel fand heraus, dass es nach seinem Onkel Oscar hieß. Smaolach konnte bereits recht passabel seine Stimme nachahmen, und Kivi hatte eine unbekannte Rechenart angewandt, um seine Größe, sein Gewicht und den allgemeinen Körperbau zu bestimmen. Nach Jahren der bloßen Selbsterhaltung und -Versorgung grenzten die Geschäftigkeit und der Feuereifer, mit dem die Elben sich dieser Aufgabe widmeten, schon an Fanatismus. Ich hatte den Auftrag, ihm in der Bibliothek aufzulauern, doch nur selten machte ich mir die Mühe, dort nach ihm zu sehen, und dass er überhaupt dort auftauchte, war einem Zufall zu verdanken. Die Mutter hatte den armen Jungen mitgeschleppt und ließ ihn draußen auf dem kleinen Spielplatz allein. Da es von meinem Versteck aus nicht möglich war, ihn direkt zu beobachten, überwachte ich sein Spiegelbild in der Fensterscheibe auf der anderen Straßenseite, die ihn verzerrt wiedergab, ihn kleiner und irgendwie durchsichtig machte. Während der dunkelhaarige Junge mit den dichten Augenbrauen immer wieder die Rutsche hinaufkletterte und hinuntersauste, sang er leise vor sich hin. Ihm lief die Nase, und jedes 107 Mal, wenn er die Stufen erklomm, wischte er sich mit dem Handrücken den Rotz ab, den er dann an die dreckige Cordhose schmierte. Als er keine Lust mehr hatte zu rutschen, schlenderte er hinüber zu den Schaukeln und schwang sich vor und zurück in den klaren blauen Himmel. Sein leerer Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, und sein leises Singen stockte nie. Ich beobachtete ihn fast eine Stunde, und in dieser ganzen Zeit zeigt er keinerlei Gefühlsregung, er war zufrieden mit seinem einsamen Spiel, bis seine Mutter kam. Als sie auf ihn zuging, überzog ein schmales Lächeln sein Gesicht, und wortlos sprang er von der Schaukel, nahm ihre Hand, und sie gingen davon. Ihr Verhalten und ihr Umgang miteinander verblüfften mich. Eltern und Kinder sehen einen alltäglichen Moment wie diesen als selbstverständlich an, als gäbe es davon unbegrenzt viele. Hatten meine Eltern mich völlig vergessen? Der Mann, der mir an jenem Morgen vor langer Zeit hinterherschrie, war bestimmt mein Vater, und ich beschloss, ihn, meine Mutter und meine kleinen Schwestern bald zu besuchen.
Vielleicht nachdem wir den armen, bedauernswerten Blödmann vom Spielplatz entführt hätten. Die Schaukel hing nun wieder ruhig, und der frühe Junitag neigte sich seinem Ende zu. Eine Schwalbe tauchte auf und jagte in der Luft über den Eisenstangen Insekten, und all meine Wünsche schienen von den Flügeln sacht berührt zu werden, als der Vogel scherenartig in den milchigen Dunst hinaufflog. Ich empfand Mitleid mit dem armen Jungen, obwohl ich wusste, dass es der natürlichen Ordnung entsprach, die Plätze zu tauschen. Seine Gefangennahme würde für Igel Befreiung bedeuten und für mich einen Schritt weiter nach vorne in der Rangfolge. Das Kind war ein leichtes Opfer; seine Eltern würden den 108 Austausch wohl kaum bemerken. Er hatte nur wenige Freunde, als Schüler gab er weder Anlass zu Begeisterung noch zu Beunruhigung, und er war so normal, dass er fast unsichtbar war. Ragno und Zanzara, die sich monatelang in der Mansarde der Familie eingenistet hatten, berichteten, der Junge esse außer Erbsen und Möhren alles, trinke zu den Mahlzeiten am liebsten Kakao, schlafe auf einer Gummiunterlage und bringe im Wohnzimmer viel Zeit damit zu, in einen kleinen Kasten zu schauen, der einen wissen ließ, wann man lachen musste und wie man die Zeit des Zubettgehens festlegte. Unser Junge schlief auch gut, an Wochenenden bis zu zwölf Stunden am Stück. Kivi und Blomma berichteten, er spiele gerne draußen in einem Sandkasten neben dem Haus, wo er eine ausgeklügelte Szenerie mit blaugrauen Plastikpüppchen aufgebaut habe. Der trübsinnige kleine Kerl schien damit zufrieden, sein Leben so fortzuführen, wie es nun mal war. Ich beneidete ihn. Gleichgültig, wie sehr wir Igel bedrängten, er weigerte sich, unseren Bericht anzuhören. Über ein Jahr hatten wir Oscar ausspioniert, und alle waren bereit für den Wechsel. Ich hatte fast keine freie Seite mehr in Mclnnes' Heft, und jeder weitere Feldrapport bedeutete nicht nur eine Verschwendung an Zeit, sondern auch an wertvollem Papier. Überheblich, zerstreut und mit der Last der Verantwortung des Anführers, blieb Igel für sich, als sehnte er sich nach der möglichen Freiheit und schräke gleichzeitig vor ihr zurück. Seine sonst stoische Haltung verwandelte sich in eine allgemeine Griesgrämigkeit. Eines Tages erschien Kivi zum Abendessen mit einem roten Striemen unter dem Auge. »Was ist mit dir passiert?« »Dieser Kotzbrocken. Igel hat mich geschlagen, dabei habe 108 ich ihn nur gefragt, ob er bereit sei. Er dachte, ich meine, bereit, uns zu verlassen, aber ich meinte nur, bereit fürs Abendessen.« Niemand wusste, was er ihr daraufhin sagen sollte. »Ich kann es kaum abwarten, bis er weg ist. Ich habe den alten Knacker so satt. Vielleicht ist der neue Junge ja netter.« Ich stand vom Essen auf, stürmte durch das Lager und suchte Igel, ich wollte ihn zur Rede stellen, doch an seinen üblichen Plätzen war er nicht. Ich steckte den Kopf in den Eingang eines seiner Tunnel und rief nach ihm, aber keine Antwort. Vielleicht war er unterwegs und spionierte dem Jungen nach. Da
niemand wusste, wo er sein könnte, zog ich mehrere Stunden durch den Wald, bis ich ihn zufällig allein unten am Fluss fand, wo er sein Spiegelbild auf der unruhigen Wasseroberfläche anstarrte. Er sah so einsam aus, dass ich meine Wut vergaß und mich still neben ihn hockte. »Igel? Bist du okay?«, befragte ich das Bild auf dem Wasser. »Erinnerst du dich an dein Leben vor diesem Leben?«, entgegnete er. »Nur vage. In meinen Träumen, manchmal an meinen Vater, meine Mutter und an eine Schwester oder vielleicht auch an zwei. Und an eine Frau in einem roten Mantel. Aber nein, eigentlich nicht.« »Ich bin schon so lange weg. Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, wie man zurückkehrt.« »Speck sagt, es gebe drei Möglichkeiten, aber nur ein Ende für uns alle.« »Speck!« Er stieß ihren Namen aus. »Sie ist ein idiotisches Kind, fast so idiotisch wie du, Aniday.« »Du solltest unseren Bericht lesen. Er wird dir helfen, den Wechsel zu vollziehen.« 109 »Ich bin froh, wenn ich solche Idioten wie euch endlich los bin. Sie soll morgen früh zu mir kommen. Mit dir, Aniday, will ich nicht reden. Beka soll deinen Bericht vortragen.« Er stand auf, klopfte sich den Dreck vom Hosenboden und ging davon. Ich hoffte, er würde für immer verschwinden. 109 Kapitel 17 Meine seit langem vergessene Geschichte lugte hinter dem Vorhang hervor. Die Fragen, die Mclnnes mir in der Hypnose gestellt hatte, hatten Erinnerungen freigeschaufelt, die über ein Jahrhundert verdrängt gewesen waren, und Bruchstücke dieser unbewussten Erinnerungen begannen sich in mein Leben zu drängen. Wir sangen gerade zweitklassig Simon and Garfunkel nach, als mir völlig unerwartet deutsche Worte über die Lippen kamen. Die Jungens der Band dachten, ich wäre aus dem Konzept gekommen, und nach einer kurzen Entschuldigung ans Publikum mussten wir noch einmal von vorne anfangen. Oder ich verführte gerade eine Frau und meinte plötzlich, ihr Gesicht habe die Züge eines Wechselbalgs angenommen. Ein Baby schrie, und ich fragte mich, ob es menschlich sei oder ein Bündel des heiligen Schreckens, das man auf die Türschwelle gelegt hatte. Ein Foto vom ersten Schultag des sechsjährigen Henry Day erinnerte mich an all das, was ich nicht war. Mein Bild überblendete seins, mein Gesicht, das sich im Glas spiegelte, legte sich auf sein Gesicht, und ich fragte mich, was aus ihm, was aus mir geworden war. Kein Ungeheuer mehr, aber auch nicht mehr Henry Day. Qualvoll versuchte ich, mich an meinen früheren Namen zu erinnern, doch wann immer ich diesem deutschen Jungen näher kam, stahl er sich davon. 109 Das einzige Rezept gegen diese Obsession war, sie durch eine andere zu ersetzen. Wann immer meine Gedanken bei der fernen Vergangenheit verweilten, zwang ich mich, an Musik zu denken, alternative Fingersätze und
den Quintenzirkel in meinem Kopf durchzuspielen, vor mich hin zu summen und finstere Gedanken mit einem Lied beiseitezuschieben. Ich liebäugelte wieder mit dem Gedanken, Komponist zu werden, selbst als meine Collegehoffnungen schwanden, da mittlerweile zwei weitere Jahre verstrichen waren. Aus den scheinbar zufälligen Klängen des Alltags begann ich, Motive zu abstrahieren, die zu Takten, die zu Sätzen wurden. Oft ging ich nach wenigen Stunden Schlaf zurück ins Oscar's, machte mir eine Kanne Kaffee und schrieb eilig die Noten auf, die in meinem Kopf hallten. Da ich einzig ein Klavier zur Verfügung hatte, musste ich mir in dieser leeren Bar ein ganzes Orchester vorstellen; und diese frühen Partituren spiegelten mein inneres Chaos, mein Wissen darum, dass ich nicht wusste, wer ich war. Die unvollendeten Kompositionen waren vorsichtig tastende Schritte zurück in die Vergangenheit, zurück zu meiner wahren Natur. Ich brachte Ewigkeiten damit zu, die richtigen Klänge zu finden, sie umzuschreiben und dann zu verwerfen, denn das Komponieren war für mich zu der Zeit genauso schwer zu fassen wie mein früherer Name. An den meisten Vormittagen war die Bar mein Studio. Oscar tauchte gegen Mittag auf, und George und Jimmy kamen normalerweise im Laufe des Nachmittags, um zu proben und ein paar Bier zu trinken — kaum genug Zeit für mich, meine Arbeit zu vertuschen. Halbherzig brach ich an einem frühen Nachmittag im Sommer 1967 meine Arbeit am Klavier ab, bevor unsere Probe beginnen sollte. George, Jimmy und Oscar experimentierten mit einigen Akkordwechseln und Rhythmen, aber sie 110 rauchten und tranken hauptsächlich. Die Kinder der Gegend hatten seit zwei Wochen Schulferien, und es langweilte sie bereits, mit ihren Fahrrädern die Main Street auf und ab zu fahren. Ihre Köpfe und Schultern glitten draußen an den Fenstern vorbei. Lewis Loves grüner Pick-up fuhr vor. Als sich kurz darauf die Tür zur Bar öffnete, drang ein Schwall feuchter Hitze herein. Lewis, dessen Schultern vor Erschöpfung zusammengesunken waren, blieb starr und stumm auf der Schwelle stehen. Oscar legte seine Trompete zur Seite und ging auf seinen Bruder zu. Ihr Gespräch war zu leise, um es mithören zu können, aber Lewis' Körper verriet sein Unglück. Er senkte den Kopf und griff sich mit der Hand an den Nasenrücken, als hielte er seine Tränen zurück. George, Jimmy und ich beobachteten die beiden von unseren Stühlen aus und wussten nicht so recht, was wir sagen oder tun sollten. Oscar führte seinen Bruder an den Tresen und schenkte ihm einen großen Schluck ein, den Lewis in einem runterkippte. Als er sich den Mund an seinem Ärmel abgewischt hatte und wie ein Fragezeichen vornübersackte, mit der Stirn auf der Theke, scharten wir uns um unsere Freunde. »Sein Sohn wird vermisst«, erklärte Oscar. »Seit gestern Abend. Polizei, Feuerwehr und Rettungsleute suchen ihn, aber sie haben ihn noch nicht gefunden. Er ist erst acht Jahre alt, Mann.« »Wie sieht er aus?«, fragte George. »Wie heißt er? Seit wann ist er weg? Wo hast du ihn zuletzt gesehen?«
Lewis' Schultern strafften sich. »Er heißt Oscar, hier nach meinem Bruder. Er sieht aus wie das durchschnittlichste Kind, das man sich denken kann. Braune Haare, braune Augen, ungefähr so groß.« Er hielt die Hand in die Höhe und senkte sie schätzungsweise bis einen Meter zwanzig über dem Boden. 111 »Wann ist er verschwunden?«, fragte ich. »Er hat ein Baseballshirt an und eine kurze Hose, dunkelblau — glaubt seine Mutter. Und knöchelhohe Chuck Taylors. Er war draußen hinter dem Haus, hat dort gestern nach dem Abendessen noch gespielt. Es war noch hell. Und dann war er plötzlich verschwunden.« Er drehte sich zu seinem Bruder. »Ich habe überall versucht, dich zu erreichen.« Oscar schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mann. Ich war aus und hab mich zugedröhnt.« George ging zur Tür. »Keine Zeit für Vorwürfe. Wir müssen ein vermisstes Kind finden.« Und schon fuhren wir zum Wald. Oscar und Lewis saßen vorne im Wagen und George, Jimmy und ich auf der Ladefläche, wo ein von der Hitze eingebrannter Restgeruch nach Mist hing. Der Pick-up rumpelte und holperte über eine Feuerschneise an der Baumgrenze entlang und kam mit quietschenden Reifen in einer Staubwolke zum Stehen. Die Such- und Rettungsmannschaft hatte in einer Schlucht, etwa eine Meile westlich von meinem Zuhause, geparkt; sie hatte den einzigen Feuerwehrwagen der Stadt so weit in den Wald hinein gelenkt, wie es nur irgend möglich war. Der Feuerwehrhauptmann lehnte an dem großen Sattelzug. Mit einem Gesicht, das gegen sein gestärktes weißes Hemd wie ein Alarmsignal wirkte, trank er gierig eine Flasche Cola. Als wir aus dem Pick-up stiegen, überwältigte mich der süße Geißblattduft. Bienen patrouillierten um die Blüten herum, und als wir auf den Hauptmann zugingen, inspizierten sie uns träge. Heuschrecken, in Panik durch unsere Schritte, hüpften vor uns durch das hohe Gras. Am Rande der Lichtung erinnerte mich ein Dickicht aus wilden Himbeeren und Giftsumach an die zweischneidige Natur des Waldes. Ich folgte den 111 Freunden über einen kaum vorhandenen Weg und warf einen Blick zurück auf den Hauptmann und seinen roten Löschzug, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Ein Suchhund, der offenbar Witterung aufgenommen hatte, schlug in der Ferne an. Mühsam kämpften wir uns hintereinander einige hundert Meter voran; das dunkle Blätterdach über uns gab dem ausgehenden Nachmittag den Anstrich von Abenddämmerung. Alle paar Meter rief jemand nach dem Jungen, und sein Name hallte durch die Luft, bis er im warmen Dämmerlicht verklang. Wir jagten Schatten hinterher, wo man keine Schatten sehen konnte. Auf einer Anhöhe angekommen, blieben wir stehen. »Das führt zu nichts«, sagte Oscar. »Warum teilen wir uns nicht auf ?« Obwohl ich den Gedanken, allein durch den Wald zu streifen, abscheulich fand, konnte ich seiner Logik, wenn ich nicht als Feigling dastehen wollte, nichts entgegensetzen.
»Lasst uns uns hier um neun Uhr wieder treffen.« Mit dem Ausdruck nüchterner Entschlossenheit sah er auf seine Uhr, die er mit der anderen Hand umgriff, und zählte kurz leise vor sich hin. Wir warteten einen Moment und sahen zu, wie unsere Zeit verstrich. »Halb fünf«, sagte er schließlich. »Ich habe fünf Minuten nach halb fünf«, sagte George. Und fast gleichzeitig sagte ich: »Zwanzig nach.« »Fünfundzwanzig vor fünf«, sagte Jimmy. Lewis schüttelte das Handgelenk, nahm seine Uhr ab und hielt sie ans Ohr. »Merkwürdig — meine Uhr ist stehen geblieben.« Er starrte aufs Zifferblatt. »Halb acht. Das ist genau die Zeit, als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.« 112 Alle sahen einander an, um dieses Zeitchaos aufzulösen. Oscar schaute wieder auf seine Uhr. »Okay, okay, stellt eure Uhren auf mein Zeichen. Es ist jetzt genau vier Uhr fünfunddreißig.« Wir hantierten an den Kronen und drehten die Zeiger. Ich fragte mich, ob die Uhrzeit wirklich so ein Problem war. »Hier mein Plan. Lewis und ich nehmen diesen Weg. Henry, du gehst in die entgegengesetzte Richtung. George und Jimmy, ihr geht auch in jeweils entgegengesetzte Richtungen.« Mit Handzeichen deutete er in die vier Himmelsrichtungen. »Markiert euren Weg, damit ihr zurückfindet. Brecht etwa alle dreißig Meter einen Zweig in Laufrichtung ab. Wir treffen uns dann hier um neun wieder. Dann wird es dunkel. Und klar, wenn ihr ihn vorher findet, geht ihr zum Feuerwehrwagen.« Jeder schlug seinen Weg ein, und die Geräusche meiner durch das Unterholz marschierenden Freunde wurden immer leiser. Seit ich mit Henry Day das Leben getauscht hatte, hatte ich mich nicht mehr in den Wald gewagt. Die großen Bäume machten den Pfad sehr eng, und die feuchte Luft fühlte sich wie eine nach Fäulnis und Moder stinkende Decke an. Jeder meiner Schritte führte mich mit knackenden Zweigen und raschelnden Blättern, meinen eigenen Geräuschen, tiefer in meine Einsamkeit. Blieb ich stehen, war es still. Ich rief nach dem Jungen, aber nur halbherzig, und erwartete keine Antwort. Die Stille weckte ein vergessenes Gefühl in mir, die Erinnerung an mein Leben in der Wildnis, und dazu den Schmerz, in dieser gefahrvollen Welt ohne Zeit gefangen gewesen zu sein. Nachdem ich zwanzig Minuten gesucht hatte, setzte ich mich auf den umgestürzten Stamm einer verkümmerten Kiefer. Mein schweißnasses Hemd klebte mir am Körper, und ich zog ein Taschentuch hervor, mit dem ich mir die 112 Stirn trocknete. In der Ferne hämmerte ein Specht, und Kleiber liefen, ihr Stakkato piepsend, die Bäumstämme hinunter. Auf einem Ast der toten Kiefer liefen Ameisenkolonnen hin und her, die einen trugen eine mysteriöse Last in die eine Richtung, während die anderen zurück zur Futterquelle steuerten. Inmitten des herumliegenden Laubs reckten rote Blümchen ihre stecknadelgroßen Köpfe aus silbrigen Moospolstern. Als ich ein Stück Holz aufhob, war
fauliger Moder darunter, Asseln rollten sich zu Kugeln zusammen, und langbeinige Spinnen spielten bei der plötzlichen Störung ihres Lebens verrückt. Fette, glitzernde Würmer verkrochen sich in Löchern auf der Unterseite des Holzstücks, und ich versuchte mir vorzustellen, welche verborgenen Kammern der Verfall schuf, welches mir gänzlich unbekannte Leben sich darin abspielte. Ich verlor das Gefühl für die Zeit. Der Blick auf meine Uhr verblüffte mich, beinahe zwei Stunden hatte ich vertan. Ich stand auf, rief einmal den Namen des Jungen, ohne eine Antwort zu bekommen, und nahm meine Suche wieder auf. Als ich tiefer in das Dunkel eindrang, umfing mich die Zufallsordnung aus Stämmen, Zweigen und grünen Blättern, die von ungeheurer Üppigkeit war. Jeder meiner Schritte war neu und doch vertraut, und ich rechnete damit, dass mich etwas Unvermutetes erschrecken könnte, doch alles war so still wie im tiefen Schlaf. Im Wald war nichts, kein Zeichen meiner entbehrungsreichen Vergangenheit, außer wachsenden Bäumen und Pflanzen und vereinzeltem Gekrabbel unergründlicher, winziger Tierchen, die sich in Fäulnis und Verwesung verbargen. Zufällig stieß ich auf ein Flüsschen, das über Steine hinweggurgelte und sich ins Nirgendwo schlängelte. Plötzlich sehr durstig, tauchte ich meine Hände ins Wasser und trank. Im Flussbett lagen Steine und Felsen. Auf der Oberfläche 113 waren die Steine trocken, stumpf und undurchdringlich, doch an der Wasserkante und darunter veränderte das Wasser sie, enthüllte ihre Facetten, ihre ungewöhnlich reiche Farbigkeit und ihre unendliche Vielfalt. Jahrtausendelanges Wechselspiel hatte sie abgeschmirgelt, poliert und ihnen ihre Schönheit gegeben. Und die Steine hatten auch das Wasser beeinflusst, seinen Verlauf und sein Tempo verändert, seine Neigung zur Stille ins Ungestüme gewandelt. Symbiose hatte das Flüsschen zu dem gemacht, was es war. Das eine ohne das andere würde alles verändern. Ich war aus diesem Wald gekommen, hatte dort sehr, sehr lange gelebt, aber ich lebte auch als eine sehr reale Person in der Welt. Mein Leben als Mensch und mein Leben unter den Wechselbälgern machten mich zu dem, der ich war. Wie das Wasser und die Steine war ich dies und das. Henry Day. So wie die Welt ihn kennt, es gibt keinen anderen, und diese Entdeckung erfüllte mich mit Wärme und Freude. Mit einem Mal erschienen mir die Steine auf dem Grund des Flüsschens wie eine Tonfolge, deren Melodie ich in meinem Kopf hörte. Als ich in meinen Taschen nach einem Stift suchte, um die Noten aufzuschreiben, ehe sie verschwänden, nahm ich wahr, wie sich hinter mir zwischen den Bäumen etwas bewegte, Schritte sausten durch das Unterholz. »Wer ist da?«, fragte ich, und was immer es auch war, es rührte sich nicht mehr. Ich kauerte mich in die Windung, die das Flüsschen gekerbt hatte, wollte mich klein und unsichtbar machen, doch von meinem Versteck aus war die Quelle der Gefahr unmöglich zu sehen. Die vorauseilende Angst verstärkte die Geräusche, die bisher unbemerkt geblieben waren. Grillen zirpten unter Steinen. Eine Zikade sang und verstummte. Ich war unschlüssig, ob ich wegrennen oder bleiben und die im Wasser ver 113
borgenen Noten notieren sollte. Ging ein Windhauch durch die Blätter oder atmete da etwas? Die Schritte setzten wieder ein, erst langsam, und dann sprang das Wesen davon, raschelte durch das Laub, rannte von mir weg, dass die Luft wisperte, dann Stille. Als es fort war, redete ich mir ein, ich hätte ein Reh aufgescheucht oder ein Jagdhund hätte vielleicht irrtümlicherweise meine Spur aufgenommen. Weil mich meine innere Unruhe zermürbte, lief ich rasch zur Lichtung zurück. Eine Viertelstunde vor unserem verabredeten Treffen war ich als Erster dort. Als Nächster kam George, mit vor Anstrengung hochrotem Kopf und einer Stimme, die von den Rufen nach dem Jungen nur noch ein Reibeisen war. Als er erschöpft zusammensank, stieg Staub aus seiner Jeans auf. »Kein Glück?«, fragte ich ihn. »Was glaubst du? Ich suche wie irre und finde verdammt gar nichts. Hast du vielleicht eine Kippe?« Ich zog zwei Zigaretten heraus und zündete sie an, erst seine, dann meine. Er schloss die Augen und rauchte. Dann tauchten Oscar und Lewis auf, auch sie völlig erschlagen. Sie waren zu erschöpft, um etwas zu sagen. Doch die Sorge machte ihre Schritte schwer, senkte ihre Köpfe und umschattete ihre Augen. Wir warteten eine weitere Viertelstunde auf Jimmy Cummings, und als er nicht kam, fragte ich mich, ob womöglich die nächste Suche anstünde. Um halb zehn fragte George: »Wo ist Cummings?« Das letzte Zwielicht wich einer sternenklaren Nacht. Ich wollte, wir hätten daran gedacht, Taschenlampen mitzunehmen. »Vielleicht sollten wir zurückgehen, zu den Polizisten.« Oscar lehnte ab. »Nein, wir sollten hier auf Jimmy warten. Aber du gehst, Henry. Es ist immer geradeaus, stur geradeaus.« 114 »Komm, George, geh mit mir.« Mühsam kam er auf die Beine. »Geh du voran, Macduff.« Oben am Weg sahen wir rotes und blaues Licht, das vor den Baumwipfeln aufblitzte und in den Nachthimmel blinkte. Trotz seiner schmerzenden Füße trieb George uns zur Eile an, und als wir fast da waren, hörten wir die Rufe und Störgeräusche aus den Walkie-Talkies und spürten, dass irgendetwas nicht stimmte. Wir rannten in eine surreale Szenerie hinein, die Lichtung hell erleuchtet, Feuerwehrautos im Leerlauf, ein Dutzend umherlaufender Leute. Ein Mann mit einer roten Baseballkappe lud zwei Suchhunde auf die Ladefläche seines Pick-ups. Ich fuhr zusammen, als ich Tess Wodehouse erkannte, deren weiße Schwesternkleidung im Halbdunkeln leuchtete. Sie umarmte eine andere junge Frau und streichelte ihr übers Haar. Zwei Männer stemmten ein tropfendes Paddelboot auf das Dach eines Autos und banden es fest. Bilder ergaben sich, als stünde die Zeit still und als könnte man alles gleichzeitig sehen. Feuerwehrleute und Polizisten standen mit dem Rücken zu uns im Halbkreis um das Heck des Krankenwagens herum. Der Chef drehte sich langsam zu uns um, als wollte er seinen Blick von der düsteren Realität abwenden. Matt sagte er zu uns: »Tja. . . wir haben eine Leiche gefunden.«
115 Kapitel 18 Trotz unserer sorgfältigen Planung waren uns Fehler unterlaufen. Bis zum heutigen Tag bin ich verstört über meinen, wenn auch geringen, Part bei dieser Aufeinanderfolge von Missgeschicken und Irrtümern, die zu seinem Tode führten. Mehr noch bedaure ich die Auswirkungen dieser beiden Junitage, deren Folgen uns über Jahre zutiefst verwirrten. Dass niemand von uns beabsichtigte, ihm etwas an-zutun, ist dabei völlig ohne Belang. Wir sind verantwortlich für unser Handeln, selbst wenn sich Unfälle ereignen, und wenn auch nur wegen der Schritte, die wir versäumt oder nicht genügend beachtet haben. Rückblickend gesehen, war unser Plan vielleicht zu ausgeklügelt. Man hätte in das Haus der Loves schleichen, den schlafenden Oscar ergreifen und ganz harmlos Igel unter die Decke stecken können. Der Junge hatte immer stundenlang unbeaufsichtigt gespielt. Wir hätten ihn am helllichten Tag schnappen und statt seiner Igel zum Abendessen ins Haus schicken können. Oder wir hätten das Reinigungsritual im Wasser auslassen können. Wer glaubt denn noch an dieses alte Märchen? Es hätte nicht auf so herzzerreißende Art enden müssen. An einem Juniabend kam Oscar Love, bekleidet mit blauen Shorts und einem T-Shirt mit einem Schriftzug auf der Brust, 115 zum Spielen aus dem Haus. Er trug Sandalen, zwischen seinen Zehen klebte Dreck, und er kickte einen Ball kreuz und quer über die Wiese. Luchog und ich waren auf einen Ahorn geklettert und hockten, wie es uns vorkam, seit Stunden in den Ästen, beobachteten sein unbekümmertes Spiel und bemühten uns, ihn in den Wald zu locken. Wir ließen die Laute einer ganzen Menagerie erklingen: die eines jungen Hundes, eines miauenden Kätzchens, von Vögeln in Not, einer weisen alten Eule, einer Kuh, eines Pferdes, eines Schweins, eines Huhns und einer Ente. Doch er nahm kaum Notiz von unseren Stimmimitationen. Luchog schrie wie ein Baby; ich gab Töne von mir, erst mit der Stimme eines Mädchens, dann mit der eines Jungen. Oscar war für all das taub, stattdessen hörte er die Musik in seinem Kopf. Wir riefen seinen Namen, versprachen ihm eine Überraschung, taten so, als wären wir der Weihnachtsmann. Ratlos kletterten wir vom Baum, plötzlich hatte Luchog die glänzende Idee zu singen, und sofort folgte der Junge der Melodie bis in den Wald hinein. Solange das Lied erklang, suchte er wie von Neugierde geblendet nach dessen Ursprung. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass Märchen so nicht sein sollten, sie waren nicht für ein trauriges Ende gedacht. Hinter den Bäumen an einem Flüsschen lag die Bande im Hinterhalt, während Luchog den Jungen tiefer in den Wald lockte. Oscar stand am Ufer, schaute auf das Wasser und die Steine, und erst als die Musik aufhörte, wurde ihm bewusst, wie sehr er sich verlaufen hatte, denn er begann zu blinzeln und unterdrückte die Tränen. »Sieh ihn dir an, Aniday«, flüsterte Luchog in unserem Versteck. »Er erinnert mich an den Letzten von uns, der zum Wechselbalg geworden ist. Etwas stimmt nicht mit ihm.«
116 »Was meinst du mit >etwas stimmt nicht mit ihm« »Schau ihm in die Augen. Als wäre er nicht ganz da.« Ich musterte das Gesicht des Jungen, und tatsächlich, er wirkte wie entrückt. Er stand reglos da, den Kopf zum Wasser geneigt, als verdutzte ihn sein Spiegelbild. Ein Pfiff war das Signal für die anderen, aus dem Gebüsch zu stürmen. Vögel, durch das plötzlich ausbrechende Getümmel aufgeschreckt, kreischten und flogen auf. Ein im Farn hockender Hase geriet in Panik und hüpfte mit gereckter weißer Blume davon. Doch Oscar stand teilnahmslos, in sich gekehrt da und reagierte nicht, bis die Elben fast vor ihm waren. Er hob die Hand an den Mund, um seinen Schrei zu unterdrücken, und sie stürzten sich auf ihn und warfen ihn mit geschickter Grausamkeit zu Boden. Er verschwand fast in dem Wirbel aus dreschenden Armen, wilden Augen und gefletschten Zähnen. Hätte man mir nicht zuvor erklärt, wie die Gefangennahme vor sich geht, so hätte ich geglaubt, sie brächten ihn um. Insbesondere Igel hatte seine wahre Freude an dieser Attacke, er drückte den Jungen mit den Knien auf den Boden und stopfte ihm ein Tuch in den Mund, um seine Schreie zu ersticken. Dann band er ihm eine Liane um den Bauch, und zwar so, dass die Arme seitlich festgezurrt waren. Anschließend zerrte er Oscar über den Pfad in unser Lager, und wir alle hinterher. Erst Jahre später erklärte mir Chavisory, wie sehr Igels Verhalten sich vom normalen Ablauf unterschieden hatte. Ein Wechselbalg sollte eigentlich vor dem Kidnapping seinen Körper und sein Gesicht modellieren, um so auszusehen wie das Kind. Doch Igel zeigte sich dem Jungen, wie er war. Statt sofort den Wechsel zu vollziehen, verhöhnte er das Kind. Zanzara fesselte Oscar an einen Baum und zog ihm den Knebel aus dem Mund. Vielleicht hatte ihn der Schock stumm gemacht, denn Oscar tat 116 nichts anderes, als in sprachlosem Schrecken das Geschehen zu beobachten, das sich vor seinen Augen abspielte; seine dunklen Augen waren feucht, aber fixierten unentwegt seine Peiniger. Igel ließ den Jungen zuschauen, wie er sein Gesicht marterte, bis es zu dessen Ebenbild wurde. Ich konnte die qualvollen Fratzen, das Krachen der Knorpel und das Rucken an den Knochen nicht ertragen. Ich kotzte hinter einen Baum und hielt mich abseits, bis Igel die fertige Kopie des Jungen war. »Verstehst du das, Oscar?«, verspottete Igel ihn und stand Nase an Nase vor ihm. »Ich bin du und nehme jetzt deinen Platz ein, und du bleibst bei denen hier.« Das Kind starrte ihn an, als blickte es in einen Spiegel und erkennte nicht sein eigenes Abbild. Ich kämpfte gegen mein Bedürfnis an, auf Oscar zuzugehen, ihm Freundlichkeit entgegenzubringen und ihm etwas Sicherheit zu geben. Speck schlich sich zu mir und zischte: »Das ist grausam.« Igel, der nun von seinem Opfer abließ, sprach zu uns: »Jungs und Mädels. Ich war viel zu lange bei euch, und nun verabschiede ich mich. Meine Zeit in dieser Hölle ist vorüber, ihr könnt sie geschenkt haben. Euer Paradies geht langsam unter. Jeden Morgen höre ich mehr Autos brummen und spüre das
Beben der Flugzeuge über mir. Ruß ist in der Luft, Schmutz im Wasser, und alle Vögel fliegen davon und kommen nicht mehr zurück. Die Welt verändert sich, und man muss gehen, solange man kann. Es gefällt mir zwar nicht sonderlich, den Platz dieses Dummkopfs einzunehmen, aber immerhin besser, als hier zu bleiben.« Er riss die Arme hoch zu den Bäumen und dem sternenübersäten Himmel. »Denn all dies wird es bald nicht mehr geben.« Igel ging zu Oscar, band ihn los und nahm seine Hand. Sie sahen absolut gleich aus; unmöglich, den echten vom Abbild zu 117 unterscheiden. »Ich gehe jetzt hinunter zum Tunnel und werde diesem erbärmlichen Idioten eine Geschichte erzählen. Ich nehme seine Kleider und diese scheußlichen Schuhe, dann könnt ihr den Wasserritus vornehmen. Ein Bad würde ihm nicht schaden. Ich werde auf der anderen Seite herauskriechen. Adieu. Komm hinfort, o Menschenkind!« Als Oscar weggeführt wurde, sah er sich mit einem Blick, der keine Gefühlsregung verriet, noch einmal um. Kurz darauf gingen die Elben zum Tunneleingang, um den nackten Oscar daraus hervorzuziehen. Wir umwickelten ihn mit seidigen Spinnennetzen und Ranken. Während der ganzen Prozedur blieb er ruhig, nur seine Augen wirkten wacher, als setzte er alles daran, die Ruhe zu bewahren. Wir hievten ihn auf unsere Schultern und sausten durch das Unterholz zum Fluss. Erst als wir das Ufer erreicht hatten, fiel mir auf, dass Speck zurückgeblieben war. Beka, unser neuer Anführer, sprach die Beschwörungsformel, als wir unser Paket hoch in die Luft stemmten und ins Wasser warfen. Mitten im Flug klappte sein Körper wie ein Taschenmesser zusammen und fiel mit dem Kopf zuerst ins Wasser. Die Hälfte unserer Gruppe würde ihn suchen und retten, wie es die Zeremonie vorschrieb. Sie würden ihn an Land ziehen, wie sie es Jahre zuvor mit mir gemacht hatten und es auch allen anderen widerfahren war. Entschlossen, dem Jungen bei seinem Übergang eine verständnisvolle und geduldige Hilfe zu sein, stand ich da. Alle Hoffnungen dieser Art wurden fortgespült. Die Retter standen am Ufer bereit, um den Jungen aus dem Wasser zu fischen, doch er kam nicht an die Oberfläche. Trotz ihrer entsetzlichen Angst, zu ertrinken, wateten Smaolach und Chavisory in den Fluss. Bald standen wir alle hüfttief im Wasser und suchten verzweifelt nach unserem Bündel. Onions tauchte immer wieder, 117 bis sie völlig erschöpft und nach Luft schnappend kaum noch das Ufer erklimmen konnte. Beka stürmte flussabwärts zu einer Furt, wo Oscar sich höchstwahrscheinlich an einer seichten Stelle verfangen würde. Aber wir fanden ihn nicht. Die ganze Nacht bis weit in den Vormittag hinein wachten wir dort, suchten zwischen Steinen und Ästen, wo sein Körper hätte hängen bleiben können, hielten Ausschau nach einem Anzeichen, doch das Wasser gab seine Geheimnisse nicht preis. Der Junge blieb verschwunden. Gegen Mittag jaulte unten im Tal aufgeregt ein Hund. Kivi und Blomma wurden ausgesandt, sie sollten die Eindringlinge belauern. Mit roten Gesichtern und keuchend
kamen sie eine halbe Stunde später zurück und riefen uns von unseren verschiedenen Posten entlang des Ufers zusammen. »Sie kommen mit zwei Suchhunden«, erzählte Blomma. »Feuerwehrleute, Polizisten«, ergänzte Kivi. »Sie werden unser Lager finden.« »Igel hat den Geruch des Jungen bis in unser Lager gebracht.« Hundegekläff hallte durch den Wald. Die Rettungsmannschaft kam näher. Beka, der die erste Krise als unser neuer Anführer bestehen musste, verlangte unsere Aufmerksamkeit. »Schnell, zurück ins Lager. Alles verstecken. Wir bleiben in den Tunneln, bis sie wieder gehen.« Kivi rief schrill uns anderen zu: »Aber es kommen doch so viele.« »Die Hunde«, setzte Blomma hinzu. »Die rennen doch hinein und lassen sich nicht durch ein paar Zweige vor den Tunneleingängen in die Irre führen.« Beka guckte perplex und lief mit hinter dem Rücken geballten Fäusten und einer pochenden Zornesader auf der Stirn hin und her. »Ich sage, wir verstecken uns und warten ab.« 118 »Wir müssen weg.« Smaolach sprach mit ruhiger Eindringlichkeit. Die meisten von uns stimmten ihm zu. »Sie sind uns in all den Jahren noch nie so nah gekommen.« Luchog ging auf Beka zu und hielt ihm entgegen: »Dieser Mob ist bereits tiefer im Wald als irgendein anderer Mensch je zuvor. Du irrst dich, wenn du denkst. . . « Beka hob den Arm, wollte ihn schlagen, doch Onions packte seine Hand. »Was ist denn mit dem Jungen?« Unser neuer Anführer wandte sich von uns ab und erklärte: »Oscar ist weg. Igel ist weg. Was geschehen ist, ist geschehen, jetzt müssen wir uns in Sicherheit bringen. Klaubt zusammen, was ihr tragen könnt, und versteckt den Rest. Aber beeilt euch, denn wir müssen schneller sein als sie.« Wir überließen Oscars Leiche dem Wasser und flitzten nach Hause. Während andere Nützliches taten — Töpfe und Messer vergraben, Essen und Kleider verscharren —, packte ich meine Notizen zusammen und schnürte einen Sack, um sie hineinzutun. Während manche meiner Besitztümer unter der Bibliothek in Sicherheit waren, hatte ich hier noch immer mein Tagebuch und die Sammlung von Bleistiftstummeln, die Zeichnung meiner Familie und der Traumfrau im roten Mantel sowie einige Schätze — Geschenke von Speck. Rasch war ich fertig und beeilte mich, sie zu suchen. »Wo warst du?«, fragte ich. »Warum bist du nicht mit zum Fluss gekommen?« »Was ist geschehen?« »Wir haben ihn nicht gefunden. Was ist mit Igel passiert?« »Er ist hinausgekrochen und hat angefangen zu weinen.« »Er hat geweint?« Ich half ihr, Zweige über den Tunnelöffnungen aufzuschichten. 118 »Wie ein Baby«, sagte sie. »Er ist benommen herausgekrochen, und als er gesehen hat, dass ich dahinter stehen geblieben war, ist er davongerannt. Vielleicht versteckt er sich noch irgendwo hier in der Nähe.«
Wir nahmen unsere Habseligkeiten und stiegen mit den anderen auf den Bergkamm. Nun waren wir eine Bande von Flüchtlingen. Unter uns lag eine einfache Lichtung, die vielleicht die Männer täuschen könnte, jedoch keinesfalls die Hunde. »Wir werden nie mehr zurückkommen«, sagte Speck. Beka schnüffelte in die Luft. »Hunde. Menschen. Weg hier.« Nun nur noch elf an der Zahl, rannten wir davon, während das heisere Gebell der Suchhunde durch die Berge schallte und immer lauter wurde. Wir rochen ihr Herannahen und hörten die aufgeregten Männerstimmen. Als die Sonne blutrot am Horizont hing, rückte uns die Suchmannschaft so nahe, dass wir zwei stämmige Kerle ausmachen konnten, die keuchend an den Leinen zerrten, um mit ihren Hunden mithalten zu können. Ragno, der auf dem Weg gestrauchelt war, warf sein Gepäck ab und streute seine Siebensachen auf das bewachsene Geröll. Als ich mich umdrehte und ihn gerade seinen Spaten aufheben sah, blitzte hinter ihm eine rote Kappe auf, doch der Mann nahm uns nicht wahr. Zanzara streckte seinen Arm aus, packte Ragno bei der Hand, und schon sausten wir in hohem Tempo davon, den anderen hinterher, und ließen diese paar Indizien zurück. Wir rannten stundenlang, überquerten wie ein gejagter Fuchs ein Flüsschen, um keine Duftspuren zu hinterlassen, bis wir uns schließlich im Schutz eines Brennnesselgestrüpps niederließen. Die Sonne versank hinter den Bäumen, als die Geräusche von Menschen und Hunden leiser wurden. Sie waren auf dem Rückweg. Wir schlugen an Ort und Stelle unser Nachtlager auf, legten 119 unsere Lasten ab und griffen unsere Ängste auf. Kaum hatte ich meine Aufzeichnungen beiseite gelegt, trat Beka mit geschwollener Brust und in Kommandolaune vor mich. »Geh zurück und sieh nach, wann wir gefahrlos zurückkehren können.« »Ich ganz allein?« »Nimm einen mit.« Nachdem er mit prüfendem Blick seine Schützlinge gemustert hatte, sah er mich anzüglich an. »Nimm Speck.« Wir wateten durch das sich dahinschlängelnde Flüsschen auf unsere Verfolger zu, blieben hin und wieder stehen, horchten und hielten, Blick voraus, Ausschau nach möglichen Schwierigkeiten. Auf der Hälfte des Flusses hüpfte Speck aus dem Wasser auf einen Felsbrocken. »Aniday, willst du immer noch weg?« »Weg? Wohin könnte ich gehen?« »Einfach weg, jetzt auf der Stelle. Wir könnten weglaufen. Ich weiß nicht. Nach Westkalifornien und auf das tiefblaue Meer schauen.« Ein Glucksen im Wasser ließ uns verstummen. Vielleicht ein Mensch, der durch den Fluss ging, oder wasserspritzende Hunde, die ihn durchquerten, oder vielleicht ein Hirsch, der seinen abendlichen Durst löschte. »Du wirst doch nicht weggehen, Speck, oder?« »Hast du das gehört?« Wir erstarrten und lauschten gebannt. Dann schlichen wir durchs Unterholz, um dem Geräusch vorsichtig auf den Grund zu gehen. Einige hundert Meter
flussabwärts ein ganz spezieller Geruch — nicht menschlich, nicht tierisch, sondern etwas dazwischen. Ich hatte Bauchweh, als wir am Ufer entlang huschten. An 120 einer Biegung und im Dämmerlicht, das durch die Bäume fiel, standen wir schon fast vor ihm, ehe wir den Mann entdeckten. »Wer ist da?«, fragte die Gestalt, dann duckte sie sich und versuchte, sich zu verstecken. »Speck«, flüsterte ich. »Das ist mein Vater.« Sie blieb auf Zehenspitzen stehen und spähte zu dem zu-sammengekauerten Mann. Dann legte sie einen Finger auf den Mund. Ihre Nasenlöcher blähten sich, als sie tief einatmete. Sie griff nach meiner Hand und führte mich davon, so leise wie Nebel. 120 Kapitel 19 Obwohl die Leiche einen Tag im Wasser gelegen hatte, wurde sie als die des jungen Oscar Love identifiziert. Als das Laken beiseite gezogen war, bot sich uns der schockierende Anblick des aufgedunsenen Ertrunkenen, und er war es, ohne Zweifel, auch wenn es in Wahrheit keiner von uns aushielt, näher hinzusehen. Wäre da nicht das merkwürdige Geflecht um seinen aufgeblähten Körper gewesen, hätte wahrscheinlich niemand an etwas anderes als an einen tragischen Unfall gedacht. Er wäre unter zwei Meter guter Erde begraben worden, und seine Eltern wären ihrem Kummer überlassen gewesen. Aber schon als man ihn aus dem Fluss zog, wurden Verdachtsmomente wach. Die Leiche wurde für eine richtiggehende Obduktion und eine Untersuchung in das zwölf Meilen entfernte Leichenhaus des Landkreises gebracht. Die Gerichtsmediziner suchten nach einer Todesursache, fanden aber nur Befremdliches. Allem äußeren Anschein nach war er ein kleiner Junge, doch als die Ärzte ihn aufschnitten, entdeckten sie einen alten Mann. Das Unheimliche stand nicht im Bericht, doch Oscar erzählte mir später von den atrophierten inneren Organen, von der Nekrose des Herzens, den dehydrierten Lungen und Nieren, der verkümmerten Leber und Milz und dem Gehirn eines dem Tode trotzenden Hundertjährigen. 120 Die Merkwürdigkeiten und der Kummer, die mit dieser Entdeckung einhergingen, wurden noch durch das Verschwinden von Jimmy Cummings gesteigert. Er war an jenem Abend mit den Männern der Suchmannschaft in den Wald gegangen, doch nicht zurückgekehrt. Als Jimmy nicht im Krankenhaus aufkreuzte, hatten wir alle angenommen, er wäre früher nach Hause gegangen oder habe einen anderen Weg eingeschlagen, und erst am nächsten Abend begann George unruhig zu werden. Am dritten Tag waren wir alle in Sorge um Jimmy und warteten verzweifelt auf ein Lebenszeichen. Wir hatten geplant, an diesem Abend noch einmal in den Wald zu gehen, wenn das Wetter gut bliebe. Doch gerade als ich mich mit meiner Familie zum Abendessen hinsetzte, klingelte das Telefon in der Küche. Elizabeth und Mary sprangen gleichzeitig von ihren Stühlen auf, weil sie hofften, irgendein Junge
würde sie sprechen wollen, doch meine Mutter befahl ihnen, sich wieder zu setzen. »Ich mag es nicht, wenn eure Freunde zur Essenszeit anrufen.« Mutter nahm den Hörer vom Gerät, das an der Wand hing, und nachdem sie hallo gesagt hatte, spiegelte ihr Gesicht die ganze Bandbreite von Überraschung, Schock, Ungläubigkeit und Verblüffung. Sie drehte sich halb weg, um das Gespräch zu beenden, sodass wir nur ihren Hinterkopf sahen. Während sie den Hörer mit der linken Hand auflegte, bekreuzigte sie sich mit der rechten, dann wandte sie sich an uns, um uns die Neuigkeit zu berichten. »Es ist ein Wunder. Das war Oscar Love. Jimmy Cummings geht es gut, und er hat ihn lebend gefunden.« Meine Schwestern hielten mit in der Luft schwebenden Gabeln mitten im Kauen inne und starrten sie an. Ich bat meine Mutter, sie möge diese Nachricht noch einmal wiederholen, und 121 als sie es tat, wurde ihr die eigentliche Bedeutung ihrer Sätze bewusst. »Sie sind gemeinsam aus dem Wald gekommen. Er ist am Leben. Er hat ihn in einem Loch gefunden. Den kleinen Oscar Love.« Elizabeths Gabel fiel und landete klirrend auf dem Teller. »Du machst Witze. Er ist am Leben?«, sagte Mary. »Ganz unmöglich«, sagte Elizabeth. Verwirrt nestelte Mutter an den Haarklämmerchen an ihren Schläfen. Nachdenklich stand sie hinter ihrem Stuhl. »Ist er denn nicht tot?«, fragte ich. »Mmm. . . das muss ein Irrtum sein.« »Ein mordsmäßiger Irrtum, Mom«, sagte Mary. Elizabeth stellte die nicht unbedingt rhetorische Frage, die uns alle umtrieb. »Ja, aber wer liegt dann im Leichenhaus?« Mary fragte ihre Zwillingsschwester: »Gibt es etwa noch einen Oscar Love? Das ist ja der Wahnsinn.« Meine Mutter ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Mit ihrem Blick, der sich auf dem Teller mit dem gebratenen Hühnchen verlor, schien sie tief in Gedanken versunken bei dem Versuch, das, von dem sie wusste, dass es stimmte, in Einklang zu bringen mit dem, was sie gerade gehört hatte. Die Zwillinge übertrafen sich mit Hypothesen, die in ihrer Absurdität unglaublich waren. Da ich zu nervös war, irgendetwas zu essen, zog ich mich auf die Veranda zurück, um zu rauchen und nachzudenken. Bei meiner zweiten Camel hörte ich ein Auto kommen. Ein kirschroter Mustang bog von der Straße ab und preschte so rasant in unsere Auffahrt, dass der Kies aufwirbelte und der Wagen schleudernd zum Stehen kam. Noch ehe Cummings ausgestiegen war, schlug die Gittertür zweimal knallend zu, und die Zwil 121 linge kamen auf die Veranda gerannt. Mit seinen zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren und der rosafarbenen Brille auf der Nase riss er die Hand zum Victory-Zeichen hoch, und ein breites Grinsen ging über sein Gesicht. Mary und Elizabeth erwiderten seinen Gruß mit ihren Peace-Zeichen und lächelten ihn scheu an. Mit großen Schritten setzte Jimmy über den Hof, nahm
mit zwei Sprüngen die Stufen zur Veranda, stand dann direkt vor mir und erwartete, wie ein Held begrüßt zu werden. Wir schüttelten uns die Hände. »Willkommen zurück von den Toten, Mann.« »Mann, du weißt es schon? Hast du die Nachrichten gehört?« Seine Augen waren blutunterlaufen, und ich wusste nicht genau, ob er betrunken, bekifft oder nur völlig erschöpft war. Mutter rauschte durch die Tür, schlang die Arme um meinen Freund und drückte ihn an sich, bis sein Gesicht ganz rot wurde. Meine Schwestern, die sich nicht einen Moment länger bezähmen konnten, taten es ihr gleich, sodass sie ihn beinahe in ihrer Begeisterung umrissen. Ich stand abseits und beobachtete, wie sie sich langsam wieder voneinander lösten. »Erzähl uns alles«, sagte meine Mutter. »Möchtest du etwas trinken? Ich hole dir einen Eistee.« Während sie sich in der Küche zu schaffen machte, verteilten wir uns auf den Rattanmöbeln. Jimmy, der sich nicht für eine der beiden Schwestern entscheiden konnte, ließ sich auf die Couch plumpsen, und die Zwillinge drängten sich gemeinsam auf die Schaukel. Ich blieb am Geländer stehen, und als meine Mutter wieder herauskam, setzte sie sich neben Jimmy und strahlte ihn an, als wäre er ihr eigener Sohn. »Haben Sie jemals irgendwen von den Toten zurückkehren sehen, Mrs. Day?« 122 »Oh, die Engel und Gesandten des Herrn schützen uns davor.« »Genau das haben die Loves gedacht, als sie ihn gesehen haben«, sagte Jimmy. »Als wäre Oscar vom Himmel herabgestiegen oder aus der Hölle ausgespuckt worden. Sie konnten nicht fassen, was sie mit eigenen Augen sahen. Weil sie doch schon kurz davor waren, die Leiche zum Beerdigungsinstitut zu überführen. Da sie meinten, der kleine Oscar wäre tot und müsste beerdigt werden. Und dann kam ich mit ihrem kleinen Sohn an der Hand herein. Lewis sah aus, als hätte er einen Herzanfall, Mann, und Libby kam und fragte: >Bist du echt? Kann ich dich berühren? Was bist du? Kannst du mit mir reden?< Und der Junge stürzte auf sie zu und schlang seine Arme um ihre Taille, und da wusste sie, dass er kein Geist war.« Zwei identische Wesen, eines tot, das andere am Leben — der Wechselbalg und das Kind. »Auch alle Ärzte und Schwestern sind ausgeflippt. Ach, apropos Krankenschwestern, Henry, da war eine, die meinte, sie habe dich letztens in der Nacht gesehen, als der andere Junge gefunden wurde.« Das war kein Junge. »Lewis hat nicht aufgehört, mir die Hand zu schütteln, und Libby sagte etwa tausendmal: >Gott segne dich.< Und einige Minuten später ist Oscar, der große Oscar, gekommen, der die ganze übliche Prozedur mit seinem Neffen durchspielt, und dann, Mann, ist er froh, auch mich zu sehen. Die Fragen überschlugen sich nur so, und natürlich hatte ich die ganze Geschichte schon den Feuerwehrmännern und der Polizei erzählt. Sie haben uns ins Krankenhaus gebracht, seinetwegen, denn schließlich war er drei Tage da draußen im Wald. So weit sie es sagen können,
123 fehlt dem Jungen nichts. Ein bisschen überreizt, als hätte er einen Trip hinter sich, und wir waren reichlich müde, dreckig und durstig.« Ein kräftiges Gewitter braute sich im Westen zusammen. Im Wald würden die Wesen sich eilig in Deckung b«geben. Die Kobolde hatten in ihrem alten Lager ein unterirdisches Labyrinth angelegt, ein Tunnelgewirr, das sie vor dem rauen Wetter schützte. »Das musst du doch alles wissen, Mann, darum bin ich in meine Karre gesprungen und schnell vorbeigekommen.« Er stürzte seinen Eistee mit einem einzigen Schluck herunter, und sofort schenkte ihm meine Mutter nach. Wie wir alle war sie beunruhigt, dass es gleich losgehen könnte, und ich fragte mich, ob seine Geschichte schneller sein würde als der Regen. Da sie sich nicht länger zurückhalten konnte, fragte sie: »Wie hast du Klein Oscar denn gefunden?« »Hey, Henry, habe ich dir überhaupt schon gesagt, dass ich diese Krankenschwester, Tess Wodehouse, getroffen habe? Du sollst sie anrufen, Alter. Also letztens abends habe ich so eifrig nach dem Kind gesucht, dass ich völlig die Zeit vergaß. Ungefähr um halb sieben war meine Uhr stehen geblieben. Was mich ausrasten ließ, denn es muss schon nach neun gewesen sein. Nicht, dass ich an Gespenster oder so was glaube, es war nur so dunkel.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr, sah auf das heranrollende Gewitter und versuchte, seine Geschwindigkeit zu berechnen. Sollten ein oder zwei von ihnen außerhalb des Lagers sein, wenn der Regen losprasselte, müssten sie in einer Höhle oder einem hohlen Baum unterschlüpfen, um dort abzuwarten, bis das Schlimmste vorüber wäre. 123 »Ich hatte mich also total verlaufen. Und von da an hatte ich die Sorge, wieder zurückzufinden. Ich komme zu dieser Lichtung im Wald, und es ist sternenklar und gespenstisch. Da sind so platt gedrückte Stellen im Gras, als hätte da vielleicht ein Reh gelegen. Dann sehe ich einen Kreis dieser flachen Ovale um die ganze Lichtung herum, und ich denke mir, hier wird wohl ein ganzes Rudel übernachten.« In warmen Sommernächten schliefen wir überirdisch. Jeden Morgen suchten wir den Himmel nach irgendwelchen Anzeichen für schlechtes Wetter ab. Als Jimmy kurz Luft holte, meinte ich wieder die Noten von den Steinen im Fluss zu hören. »Da ist dieser Aschekreis und abgebranntes Holz von einem Lagerfeuer, von irgendwelchen verrückten Jägern oder Rucksacktouristen, und wenn ich die Nacht im Wald verbringen muss, wäre dies ein guter Ort, denn offensichtlich war ja schon jemand vor mir dagewesen. Ich habe mir auch ein kleines Feuer gemacht, und die Flammen hypnotisieren mich, denn das Nächste, das ich weiß, ist, dass ich schlafe und die merkwürdigsten Träume habe. Halluzinationen. Schlechtes LSD. Eine Stimme ganz in der Ferne, ein kleiner Junge, ruft immer wieder, >Mom<, aber ich kann ihn nicht sehen, und ich bin viel zu müde, um aufzustehen. Habt ihr schon mal so einen Traum gehabt, wo ihr glaubt, der Wecker klingle im Traum, dabei klingelt er neben deinem Bett?
Weil ihr denkt, es wäre nur ein Traum, steht ihr nicht auf und stellt ihn ab, sondern schlaft weiter, und wenn ihr dann wirklich wach werdet, erinnert ihr euch, dass ihr geträumt habt, er habe geklingelt.« »Ich glaube, das träume ich jeden Morgen«, sagte Mary. »Verstehe. Weil ich den kleinen Oscar nicht sehen, aber hören kann, wie er nach seiner Mom ruft, mache ich mich auf die Su 124 che nach ihm. >Oscar? Deine Mom und dein Daddy haben mich hergeschickt, damit ich dich finde.< Und er ruft: >Ich bin hier drunter!< Wo drunter? Ich kann ihn nicht sehen, und wo drunter ist er denn? >Ruf nach mir< . . . und ich versuche, seiner Stimme zu folgen. Und dann falle ich in dieses verdammte Loch. Krache durch die Zweige und so'n Zeug, die jemand über die Öffnung gelegt hat, als wäre es eine Falle. Ich stecke in diesem Loch bis zu den Achselhöhlen fest, in tiefster Nacht, und der Junge heult sich ganz in meiner Nähe die Augen aus dem Kopf. Eine üble Szene, Mann, richtig übel.« Die Mädchen hörten auf zu schaukeln. Meine Mutter beugte sich vor. Ich vergaß das sich zusammenbrauende Gewitter und konzentrierte mich auf die flüchtige Melodie, doch in dem Redeschwall entschwand sie. »Ich war eingeklemmt, Mann. Meine Arme wurden gegen die Wände des Lochs gedrückt. Und schlimmer noch, meine Füße berührten nicht den Boden dieser Grube, sondern baumelten über dem Grund. Oder vielleicht ist da unten etwas, das mich schnappen will.« Er beugte sich rasch zu den Mädchen vor, die aufschrien und kicherten. V »Ich hing fest und dachte über meine Lage nach, Mrs. Day, und ich rufe dem kleinen Oscar zu, mal Ruhe zu geben mit diesem Geschrei, denn es ging mir langsam auf die Nerven. Und ich sage: >Ich stecke in einem Loch fest, aber sobald ich weiß, wie ich hier wieder rauskomme, hole ich dich.< Und er sagt, er glaube, es sei ein Tunnel. Also sage ich ihm, er soll herumkriechen, und wenn er ein Paar große Füße in der Luft hängen sehe, dann seien es meine, und vielleicht könne er mir helfen, mich zu befreien.« In der Ferne rumpelte ein leiser Donner. Ich sprang von der Veranda und rannte zu Jimmys Wagen, um die Fenster hochzu 124 kurbeln. Die Kobolde würden sich eng zusammendrängen, nur Ellbogen und Knie, und sich über einen plötzlich aufzuckenden Blitz ängstigen. Wieder war mir die Melodie entwischt. »Es wird Morgen, nun kann ich sehen, wo ich bin, also immer noch gefangen in diesem Loch. Doch mit einem bisschen mehr Platz auf der linken Seite, ich muss mich nur drehen, und schon geht's abwärts. Es stellt sich heraus, dass ich kaum einen halben Meter über dem Boden hing. Aber meine Füße sind eingeschlafen, und die Arme tun mir weh, und ich muss pinkeln — verzeihen Sie die Ausdrucksweise, Mrs. Day. Ich war hundemüde, aber dieser Junge. . . « Als ein Donner krachte und geisterhaftes Licht den Horizont erhellte, sprangen wir auf. Die Luft roch nach Elektrizität und herannahender Sintflut. Als die ersten dicken Tropfen wie Münzen auf dem Boden aufschlugen, hasteten wir ins Haus. Cummings setzte sich nun zwischen Mary und
Elizabeth auf das Sofa, und Mutter und ich hockten uns auf die unbequemen Stühle. »Unten im Loch«, fuhr Jimmy, das Donnergrollen übertönend, fort, »Tunnel in drei verschiedene Richtungen. Ich habe in alle drei hineingerufen, doch keine Antwort. Ich fragte mich schon, ob Oscar wirklich am anderen Ende eines dieser Tunnel sein könnte oder ob ich das Ganze nur geträumt hätte. Ihr solltet diese Tunnel sehen, Mann, der Wahnsinn. Weiß der Himmel, wer oder was sie ausgehoben hat. Oder warum. Krabbelt man da hindurch, werden sie wirklich sehr eng, als hätten vielleicht Kinder sie gegraben. Du robbst auf dem Bauch voran, bis du ein Ende und eine Kammer erreichst, manche sind groß genug, dass sogar ich mich hineinhocken konnte. Und von jeder dieser Kammern gehen weitere Tunnel ab. Da fällt mir gerade ein, dass 125 ich etwas Ähnliches im Fernsehen bei Cronkite gesehen habe. Wie beim Vietcong. Ob es vielleicht ein vietnamesisches Lager ist?« »Glaubst du wirklich«, fragte ich, »dass die Vietcong in Amerika eingefallen sind und mitten im Niemandsland ein Lager aufbauen?« »Nein, Mann. Glaubst du, ich bin verrückt? Vielleicht ist das der Ort, wo sie unsere Jungs trainieren, in die Tunnel hineinzugehen, um deren Jungs zu finden. Wie in einem Bienenstock. Ein verrücktes Labyrinth. Ich bin in alle Richtungen gekrochen, habe mir Mühe gegeben, mich nicht zu verirren, als mir plötzlich auffiel, dass ich den ganzen Tag nichts von Oscar gehört hatte. Als ich gerade denke, er ist vielleicht tot, kommt er angekrabbelt wie ein Maulwurf und reckt den Kopf. Das Ding ist — und ich habe es anfangs wegen all der Erde und des Drecks nicht: bemerkt —, er war nackt wie ein Wurm.« »Was ist mit seinen Kleidern geschehen?«, fragte Mutter. Die Wechselbälger haben ihn ausgezogen, ihn in ein Geflecht aus Spinnennetzen gehüllt und dann in den Fluss geworfen, damit er einer der Ihren würde. Das zumindest hatten sie gedacht. »Mrs. Day, ich habe keinen Schimmer. Als Erstes mussten wir aus diesem Erdloch herauskommen. Und Oscar hat mir diese Mulden in den Wänden gezeigt, wo diese Griffe für die Hände und Tritte für die Füße eingemeißelt waren. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, und schon ist er hochgeflitzt, als kletterte er auf eine Leiter.« Ich hatte den Gutteil eines Monats damit zugebracht, diese Griffe aus der Wand zu meißeln, und ich hatte den Kobold, der unentwegt an diesem Labyrinth grub, bildlich vor Augen. 125 »Es war schon spät, als ich ihn gefunden habe, und das Kind war müde und hungrig und nicht in der Verfassung, durch den Wald zu marschieren. Und ich war überzeugt, alle würden noch nach uns suchen. Also haben wir uns hingesetzt und überlegt, was wir als Nächstes tun könnten, als er mich fragt, ob ich hungrig sei. Er läuft zum Rand der Lichtung und rollt eine alte schmutzige Decke beiseite, die dort liegt. Darunter verbirgt sich ein ganzes Vorratslager. Wie ein Lebensmittelladen mitten in diesem übergeschnappten Wald. Erbsen, Birnen, Apfelmus, Bohnen, eine Tüte Zucker, eine Packung
Salz, getrocknete Pilze, Rosinen, Äpfel. Als hätten wir einen vergrabenen Schatz gefunden.« Ich sah aus dem Fenster. Das Gewitter hatte nachgelassen. Wo waren sie hingegangen? »Während ich unser Essen vorbereite, stöbert Oscar ein wenig in diesem Lager herum, will es erkunden, während ich einen Weg suche, diese Büchsen zu öffnen. Das Kind kommt zurück und hat diese tolle altmodische Hose an, wie eine Bundhose, und einen schäbigen weißen Pullover. Er sagt, er habe einen ganzen Stapel Sachen gefunden. Es ist unglaublich, was da draußen für Zeug liegt — Kleider, Schuhe, Handschuhe, Hüte, Fäustlinge. Wir gehen rum und buddeln überall diesen Kram aus, Knöpfe, einen Beutel mit erstklassigem Dope — entschuldigen Sie, Mrs. Day —, eine Steinsammlung, alte Karten und Zeitungen mit irgendwas darauf Gekritzeltem, als würde ein Kind seine ersten Schreibübungen machen. Irgendjemand hat ein Knäuel Kordel aufgehoben, einen Kamm, eine rostige Schere. Diese verrückte Babypuppe. Wie eine Kommune da draußen, Mann. Als ich der Polizei davon erzählt habe, meinten sie, sie würden sich gleich auf den Weg machen und alles untersuchen, weil sie solche Typen nicht in der Nähe unserer Stadt haben wollen.« 126 »Das will ich auch nicht.« Meine Mutter schürzte die Lippen. Elizabeth raunzte sie an. »Was ist denn so schlecht daran, im Einklang mit der Natur zu leben?« »Uber die Natur habe ich nicht gesprochen.« »Wer auch immer da draußen lebt«, fuhr Jimmy fort, »muss abgehauen sein, bevor ich dort hingekommen bin, denn sie waren weg. Beim Abendessen erzählt mir Oscar, wie es dazu kam, dass er nackt in ein Erdloch mitten im Wald geraten ist. Diese Gruppe von Kindern, die so taten, als wären sie Piraten, haben ihn gekidnappt und an einen Baum gefesselt. Ein Junge hat eine Maske aufgesetzt, die genauso aussah wie Oscars Gesicht, und hat ihm dann befohlen, in ein Loch zu springen. Der andere hat sich ausgezogen und dann Oscar aufgefordert, sich ebenfalls auszuziehen. Ich raste fast aus, aber das andere Kind sagt zu Oscar, er solle alles vergessen, was geschehen sei, und er klettert hinauf und legt einen Deckel auf den Tunnel.« Er hatte sich entschieden, den Wechsel nicht zu vollziehen. Ich versuchte mich zu erinnern, wer das gewesen sein könnte. »Alle Kinder sind weggerannt, mit Ausnahme eines Mädchens, das zu ihm gesagt hat, es wolle ihm helfen, nach Hause zu finden. Aber als sie einen Hund bellen hörte, ist auch sie weggerannt. Als am Morgen niemand kam, der nach ihm suchte, hat er Angst bekommen und ist fast ausgeflippt, und dann hat er mich gehört. Ich glaube kein Wort von all dem, aber es erklärt einiges. Zum Beispiel die alten Kinderklamotten.« »Und dieser Junge, den man im Fluss gefunden hat?«, fragte Mutter. »Vielleicht ist das der, den er gesehen hat«, sagte Elizabeth. 126 »Vielleicht sah dieser Junge genauso aus wie er, und darum hat Oscar geglaubt, er trüge eine Maske.«
Mary brachte ihre eigene Theorie an. »Vielleicht war es sein Doppelgänger. Daddy hat doch immer gesagt, dass jeder einen hat.« Mutter hatte das letzte Wort zu diesem Thema. »Für mich klingt das nach Elben.« Alle lachten, doch ich wusste es besser. Ich legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe und suchte die Landschaft ab nach denen, die ich versucht hatte zu vergessen. Die Pfützen im Hof versickerten langsam im Erdreich. 127 Kapitel 20 Wir verloren unser Zuhause und kehrten nie mehr zurück. Zuerst kamen Spurenleser und Hunde, durchsuchten unser Lager und entdeckten alles, was wir bei unserem überstürzten Aufbruch zurückgelassen hatten. Dann kamen Männer in schwarzen Anzügen und fotografierten die Erdlöcher und unsere Fußabdrücke, die sie auf dem Boden gefunden hatten. Ein Hubschrauber schwebte über der Steile, filmte das ovale Areal und die gut sichtbaren Trampelpfade in den Wald. Dutzende Soldaten in grünen Uniformen sammelten all unsere Besitztümer auf, die liegen geblieben waren, und karrten sie in Kartons und Säcken weg. Einige wenige stiegen hinab, unter die Erde, krochen durch das Höhlensystem und tauchten blinzelnd wieder auf, als wären sie unter Wasser gewesen. Wochen später traf eine andere Crew ein, ihr schweres Gerät rumpelte den Berg hinauf und schnitt eine Schneise durch die alten Bäume. Sie zerstörte die Tunnel, legte sie zuerst frei, um sie dann wieder zuzuschütten, wobei die Erde wieder und wieder gewendet wurde, sodass zum Schluss die Oberfläche vom dicken nassen Lehm orange glänzte. Dann übergössen sie die Lichtung mit Benzin und setzten sie in Brand. Am Ende des Sommers waren von unserem Lager nur noch ein wenig Asche und schwarze Baumgerippe übrig. 127 Dieses Werk der Zerstörung nahm uns nicht unsere Sehnsucht nach unserem Zuhause. Ich konnte nicht einschlafen ohne das vertraute, von Asten gerahmte Sternenmuster am Himmel über meinem Kopf. Jedes nächtliche Geräusch — ein knackender Zweig oder eine Waldratte, die durch das Unterholz huschte — weckte mich aus dem Schlaf, und morgens schmerzten mich Kopf und Nacken. Zudem hörte ich die anderen in ihren Träumen aufstöhnen oder sich hinter den Büschen seufzend vom zunehmenden Druck in den Eingeweiden befreien. Smaolach sah sich jede Stunde ein Dutzend Mal um. Onions kaute an den Nägeln und flocht knifflige Ketten aus Grashalmen. Auf jedes Anschwellen der Rastlosigkeit folgte tiefste Teilnahmslosigkeit. Obwohl wir wussten, dass unser Zuhause nicht mehr existierte, suchten wir noch immer nach ihm, als könnte uns allein schon die Hoffnung unser altes Leben zurückgeben. Mit schwindender Hoffnung setzte eine morbide Neugier ein. Immer wieder gingen wir an unseren alten Ort zurück und machten uns Gedanken über die Überreste. In den Wipfeln hoher Eichen verborgen oder verteilt auf den Felsnischen entlang des Berggrats, flüsterten wir miteinander, wenn wir den Verlust und Untergang in Augenschein nahmen. Die Himbeersträucher vom Bagger platt
gewalzt, die Traubenkirsche von einem Bulldozer umgestoßen, die Pfade und Wege unserer Trinkgelage und verrückten Ekstasen ausgelöscht, so wie man eine Zeichnung ausradiert oder eine Seite zerreißt. Dieses Lager hatte es seit dem Eintreffen der ersten französischen Pelzhändler gegeben, die hier auf die alteingesessenen Stämme getroffen waren. Bedrückt schlichen wir davon und drängten uns, für immer heimatlos, in notdürftige Zufluchten. Bis zum Herbstanfang machten wir schlimme Zeiten durch. 128 Da es wegen des Zustroms von Menschen, Hunden und Maschinen für uns gefährlich war umherzustreifen, verbrachten wir gelangweilt und hungrig harte Tage und Nächte miteinander. Wenn sich einer zu weit von der Gruppe entfernte, wurde es für uns riskant. Ragno und Zanzara wurden von einem Landvermesser entdeckt, als sie in das Blickfeld seines Fernglases gerieten. Der Mann brüllte und jagte hinter ihnen her, doch meine Freunde waren zu schnell. Kipper brachten Kiesladungen, mit denen die lehmige Schneise von der Landstraße bis zu unserer alten Lichtung befestigt wurde. Chavisory und Onions machten sich ein Spiel daraus, unter den Schottersteinen Prachtstücke zu suchen; jeder ungewöhnliche Stein kam in die Sammlung. Bei Mondlicht durchsuchten sie jede neu planierte Schicht, bis zu jener Nacht, in der sie von einem Fahrer, der in seinem Lastwagen übernachtete, überrascht wurden. Er schlich sich an die Mädchen heran und packte sie am Kragen. Hätte Onions sich nicht frei gestrampelt und ihn nicht bis aufs Blut gebissen, wären sie geschnappt worden. Dieser Fahrer ist bestimmt der einzige Mensch auf der Welt, der zwischen Daumen und Zeigefinger eine Narbe von einem Elben hat, die wie aufgereihte Perlen aussieht. Auf der Baustelle, wo Männer Keller aushoben, erspähte Luchog auf dem Fahrersitz eines leeren Lastwagens ein angebrochenes Päckchen Zigaretten. Leise wie ein Mäuschen jagte er hin, doch als er sich innen reckte, um die Zigaretten zu stibitzen, stieß er mit dem Knie an die Hupe. Schnell schnappte er sich die Lucky Strikes, als auch schon polternd die Tür eines danebenstehenden kleinen Schuppens aufging. Ein Mann, der sich fluchend und Verwünschungen ausstoßend die Hose hochzerrte, wollte nachsehen, wer sich unbefugt an seinem Laster zu schaffen machte. Er eilte zur Fahrerkabine und sah unter das Armatu 128 renbrett. Am Waldrand konnte Luchog sich nicht länger beherrschen und zündete in der schwebenden Dunkelheit ein Streichholz an. Schon nach dem ersten Zug musste er in Deckung gehen, denn Schrotkörner pfefferten über seinen Kopf hinweg. Wieder schoss der Mann, doch mein Freund verschwand lachend und hustend im tiefen Wald. Nach diesen Zwischenfällen beschnitt Beka unsere Freiheit massiv. Wir durften weder allein umherstreifen noch uns bei Tageslicht auf irgendeiner Straße aufhalten. Aus Angst, wir könnten entdeckt werden, untersagte er uns die üblichen Beutezüge in die Stadt, bei denen wir uns früher mit Vorräten eingedeckt hatten. Tagsüber dröhnten das Motorengebrumm und das Hammer-stakkato von unserem alten Zuhause bis in jede Ecke des Waldes, wo
auch immer wir unser Lager aufschlugen. Und nachts machte sich beklemmende Stille breit. Ich sehnte mich danach, mit Speck in die Bibliothek zu gehen und ihre wohltuende Ruhe zu genießen. Ich vermisste meine Bücher, meine Aufzeichnungen und meine wenigen Unterlagen: Mclnnes' fast vollgeschriebenes Aufsatzheft, eine Zeichnung von der Frau im roten Mantel und einige Briefe. Abgestumpft, wie ich war, schrieb ich nichts, und die Zeit verging ohne Notizen. In gewisser Hinsicht existierte ich überhaupt nicht mehr. Um uns Nahrung zu beschaffen, nähten Ragno, Zanzara und ich ein grobes Netz, und nach vielen vergeblichen Versuchen fingen wir schließlich zwei Waldhühner, die wir töteten und zum Abendessen mitbrachten. Wir alle machten eine Zeremonie daraus, sie zu rupfen, die Federn zu Büscheln zu binden und diese wie die Huronen im Haar zu tragen. Wir bereiteten die Vögel vor und wagten unser erstes großes Feuer der Saison, um sie zu braten und uns in dieser kalten Nacht ein wenig Behaglichkeit zu 129 gönnen. Zu einem engen Kreis zusammengedrängt, glühten unsere Gesichter im flackernden Licht mit angsterfülltem Überdruss in unseren müden Augen, doch unser Mahl weckte neue Kräfte in uns. Als das Feuer verglühte und unsere Bäuche gut gefüllt waren, senkte sich eine stille Zufriedenheit auf uns herab, als legten uns abwesende Mütter eine Decke um die Schultern. Nachdem Beka sich seinen fettigen Mund am Ärmel abgewischt hatte, räusperte er sich, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das Plaudern und Aussaugen der Knochen hatte sofort ein Ende. »Wir haben die Leute wütend gemacht, und lange, lange Zeit wird es keine Ruhe geben. Es war ein Fehler, dass wir diesen Jungen verloren haben. Aber noch viel schlimmer ist, dass wir ihn zuerst ins Lager gebracht haben.« Diese Rede hatten wir schon oft gehört, aber Onions, sein Liebling, spielte den Narren neben ihrem Lear. »Aber sie haben doch Igel. Warum sind sie dann so außer sich?«, fragte sie. »Sie hat recht. Sie haben Igel. Er ist ihr Oscar«, sagte Kivi. »Und wir haben unseren Jungen nicht. Warum sollten sie also aufgebracht sein? Schließlich sind wir diejenigen, die einen Verlust zu beklagen haben.« »Es ist nicht wegen des Jungen. Sie haben unser Zuhause entdeckt, das sie jetzt unter Asphalt begraben. Sie werden nicht aufhören, auch nach uns zu suchen, bis sie uns gefunden und aus diesem Wald vertrieben haben. Vor hundert Jahren lebten hier in den Bergen Kojoten, Wölfe und Löwen. Der Himmel wurde jedes Frühjahr von riesigen Schwärmen von Wandertauben verdunkelt. Blauhüttensänger lebten unter uns, und die Bäche und Flüsse waren reich an Fischen, Kröten und Schildkröten. Damals war es nicht ungewöhnlich, einen Mann mit hundert Wolfshäu 129 ten zu sehen, die er an seiner Hütte trocknen ließ. Seht euch um. Heute kommen sie, jagen, holzen ab und zerstören alles. Igel hatte recht: Nichts wird mehr so sein wie früher, und als Nächstes müssen wir dran glauben.« Die mit dem Essen fertig waren, warfen die Knochen ins Feuer, das frische Fett zischte und knisterte. Schwermut und Trübsinn drückten uns nieder.
Während ich den Worten unseres neuen Anführers lauschte, sah ich, dass einige unter uns seinen Sermon nicht akzeptierten. Geflüster und Gemurmel machte die Runde. Smaolach, auf der anderen Seite des Feuers, achtete überhaupt nicht auf ihn, sondern zeichnete etwas mit einem Stock auf den Boden. »Glaubst du etwa, du wärst schlauer als ich?«, brüllte Beka ihn an. »Weißt du denn, was wir tun müssen und wie wir überleben können?« Smaolach hielt den Blick gesenkt und rammte den Stock in den Boden. »Ich bin der Älteste«, setzte Beka wieder an. »Rechtmäßig bin ich der neue Anführer, und ich werde nicht hinnehmen, dass man meine Autorität untergräbt.« Abwehrend hob Speck die Stimme. »Niemand stellt die Gesetze infrage . . . oder deine Führerschaft.« Smaolach, der weiter an seiner Landkarte zeichnete, sprach leise, so als wollte er überhaupt nicht gehört werden. »Ich zeige doch bloß meinen Freunden hier unsere neue Position, wie ich sie anhand der Zeit, die wir unterwegs sind, und der Sterne am Himmel ungefähr errechnen kann. Du hast dir das Recht verdient, unser Anführer zu sein und uns zu sagen, wohin wir gehen sollen.« Murrend griff Beka Onions' Hand und verschwand mit ihr 130 hinter den Büschen. Während die anderen sich zurückzogen, hockten Smaolach, Luchog, Speck, Chavisory und ich uns um die Karte. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor eine Karte gesehen zu haben. Neugierig, wie man so etwas handhabte und was all die Symbole darauf bedeuteten, beugte ich mich vor und betrachtete die Zeichnung. Sogleich verstand ich, dass die Wellenlinien für Wasserstraßen standen — für den Fluss und den Bach. Doch was fing man mit der absolut geraden Linie an, die den Fluss querte, was mit den diversen Rechtecken, die ein Gittermuster ergaben, und was mit dem zackigen Rand zwischen einem großen Oval und einem X im Sand? »So wie ich es sehe«, Smaolach deutete auf die rechte Hälfte der Karte, »befindet sich hier Bekanntes und Unbekanntes. Im Osten liegt die Stadt. Und ich kann nur vermuten, dass der Geruch in der Luft bedeutet, dass sich die Stadt in diese Richtung ausdehnt. Der Osten ist also ausgeschlossen. Es stellt sich die Frage: Überqueren wir den Fluss im Süden? Falls ja, schneiden wir uns selbst von der Stadt ab.« Er zeigte mit dem Stöckchen auf die Rechtecke. »Gehen wir in Richtung Süden, müssten wir immer wieder den Fluss überqueren, um uns Vorräte, Kleider und Schuhe zu besorgen. Der Fluss ist gefährlich.« »Sag das mal Oscar Love«, warf Chavisory ein. Luchog machte einen anderen Vorschlag. »Wir wissen doch gar nicht, ob nicht vielleicht drüben auf der anderen Seite eine andere Stadt ist. Niemand hat bisher nachgesehen. Ich meine, wir schicken einen Trupp auf die andere Flussseite, um sie zu erkunden.« »Wir müssen in der Nähe des Wassers bleiben«, wagte ich mich vor und legte einen Finger auf die Wellenlinie. 130
»Aber doch nicht im Wasser«, führte Speck an. »Ich sage, nordwestlich, dicht am Bach, oder wir folgen dem Flusslauf bis zur Biegung.« Sie nahm das Stöckchen aus Smaolachs Hand und zeichnete ein, wo der Fluss im Norden eine Kurve machte. »Woher weißt du eigentlich, dass er sich krümmt?«, fragte Chavisory. »Ich bin schon mal dort gewesen.« Wir sahen Speck ehrfürchtig an, als hätte sie das Ende der Welt gesehen. Sie erwiderte unseren Blick, als wollte sie jedem Widerspruch oder jedem Zweifel die Stirn bieten. »Zwei Tage von hier. Oder aber wir sollten einen Ort nahe am Bach finden. Er trocknet zwar in manchen Jahren im August und September aus, aber wir könnten eine Zisterne bauen.« Da ich an unser Versteck unter der Bibliothek denken musste, ergriff ich das Wort. »Ich stimme für den Bach. Wir folgen ihm von den Bergen hinunter bis in die Stadt, wann immer wir Vorräte oder so etwas brauchen. Wenn wir uns zu weit entfernen. . . « »Er hat recht, wisst ihr«, sagte Luchog, der sich an die Brust und an den leeren Beutel unter seinem Hemd klopfte. »Wir brauchen immer wieder Dinge aus der Stadt. Wir sagen Beka, dass wir am Bach bleiben wollen. Einverstanden?« Schnarchend lag er da, mit offenem Mund, und hatte einen Arm um Onions, die neben ihm lag, geschlungen. Als sie hörte, dass wir näher kamen, schlug sie blitzschnell die Augen auf, lächelte und legte einen Finger auf die Lippen, um uns Stillschweigen zu signalisieren. Wären wir ihrem Rat gefolgt, hätten wir ihn vielleicht zu einem günstigeren Zeitpunkt, in großzügigerer Laune erwischt. Doch Speck hatte nie Geduld. Sie trat gegen seinen Fuß und riss ihn aus seinem Schlummer. 131 »Was wollt ihr denn jetzt?«, raunzte Beka gähnend. Seit er die Position des Anführers übernommen hatte, bemühte er sich, größer zu wirken, als er war. Um eine Drohung anzudeuten, sprang er auf. »Wir haben dieses Leben satt«, klagte Speck. »Satt, nie mehr als zwei Nächte im selben Bett zu verbringen«, sagte Chavisory. Luchog fügte an: »Seitdem mir dieser Mann fast den Kopf weggeschossen hat, habe ich nicht mehr geraucht.« Beka rieb sich das Gesicht und nahm unsere Klagen im Halbschlaf auf. Er begann, vor uns auf und ab zu gehen, zwei Schritte nach links, Drehung, zwei Schritte nach rechts. Als er stehen blieb und seine Arme hinterm Rücken verschränkte, zeigte er, dass er ein solches Gespräch lieber nicht führen wollte, aber wir achteten nicht auf diese stille Ablehnung. Eine Brise brachte die höheren Äste der Bäume zum Rascheln. Smaolach trat auf ihn zu. »Zuerst einmal, niemand respektiert und bewundert deine Anführerposition mehr als ich. Du hast uns vor Leid bewahrt und uns aus der Dunkelheit geführt, aber wir brauchen ein neues Lager und nicht dieses ziellose Umherwandern. Mit Wasser in der Nähe und einem Weg in die zivilisierte Welt. Wir haben entschieden. . . «
Beka stieß zu wie eine Schlange und erstickte den Rest des Satzes. Er schloss seine Finger um Smaolachs Hals und drückte zu, bis mein Freund auf die Knie sank. »Ich allein entscheide. Ihr entscheidet euch, mir zuzuhören und zu folgen. Das ist alles.« Chavisory wollte Smaolach zu Hilfe eilen, doch ein einziger Schlag mit dem Handrücken in ihr Gesicht fegte sie beiseite. Als Beka seinen Griff lockerte, fiel Smaolach nach Luft schnappend zu Boden. Sich an uns drei wendend, die wir noch dastanden, 132 hob Beka den Zeigefinger gen Himmel und sagte: »Ich werde uns ein neues Zuhause finden. Und nicht ihr.« Er packte Onions an der Hand und ging mit ihr in die Nacht. Ich schaute Speck an, um mich zu beruhigen, doch sie sah unverwandt auf die Stelle, wo die gewaltsame Szene stattgefunden hatte. Als wollte sie Rache dafür in ihr Gedächtnis einbrennen. 132 Kapitel 21 Ich bin der einzige Mensch, der ganz genau weiß, was im Wald geschah. Jimmys Geschichte erklärte mir das Geheimnis des ertrunkenen Oscar Love und seiner wundersamen Rückkehr einige Tage später. Natürlich waren es die Wechselbälger, und alle Anzeichen bestätigten meinen Verdacht, dass es sich um einen fehlgeschlagenen Versuch handelte, das Kind zu rauben. Die Leiche war ein Wechselbalg, einer meiner alten Freunde. Ich hatte das Gesicht des Nächsten in der Reihe vor Augen, doch all die Namen hatte ich aus meinem Gedächtnis gelöscht. Mein Leben dort hatte ich damit zugebracht, mir den Tag auszumalen, an dem ich mein Leben in der Menschenwelt beginnen würde. Im Laufe der Jahrzehnte hatten die Elben gewechselt, denn einer nach dem anderen wurde zu einem Wechselbalg, fand ein Kind und nahm dessen Platz ein. Mit der Zeit waren sie mir zunehmend auf die Nerven gegangen, ich beachtete die neu hinzukommenden Mitglieder unseres Stamms gar nicht mehr. Ganz bewusst versuchte ich, sie alle zu vergessen. Habe ich gesagt, einer meiner Freunde sei gestorben? Ich hatte keine Freunde. Einerseits freute mich die Perspektive, dass es einen Teufel weniger im Wald gab, andererseits verunsicherte mich Jimmys Bericht über den kleinen Oscar Love zutiefst, und ich träumte in 132 jener Nacht von einem einsamen Jungen, wie er wohl einer war, in einem altmodischen Salon. Ein Finkenpärchen hüpft in einem schmiedeeisernen Käfig hin und her. Ein Samowar glitzert. Auf dem Kaminsims steht eine Reihe in Leder gebundener Bücher, deren fremdländische Titel in Fraktur geprägt sind. Die Wände des Salons schmücken karmesinrote Tapeten, schwere dunkle Vorhänge schließen die Sonne aus, ein merkwürdiges Sofa mit einem gehäkelten Überwurf im Gittermuster. An einem Nachmittag ist der Junge allein im Zimmer, und trotz der feuchten Hitze trägt er halblange Wollhosen, geknöpfte Stiefel, ein gestärktes blaues Hemd und eine Krawatte, die wie eine Weihnachtsschleife aussieht. Sein langes Haar fällt ihm in Wellen und Locken
auf die Schultern, er beugt sich über das Klavier, hingerissen von denTasten, und übt verbissen eine Etüde. Von hinten kommt ein anderes Kind, das gleiche Haar, der gleiche Körperbau, aber nackt, es schleicht sich auf Zehenspitzen heran. Ohne der Gefahr gewahr zu sein, übt der Klavierspieler weiter. Weitere Kobolde kriechen hinter den Vorhängen und unter dem Sofa hervor; sie quellen aus der Holztäfelung und aus der Tapete wie Rauch. Die Finken schreien und hüpfen gegen die schmiedeeisernen Stangen. Der Junge hält bei einer Note inne und dreht den Kopf. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Sie stürzen sich gemeinsam auf ihn, arbeiten Hand in Hand, der eine hält dem Jungen die Nase und den Mund zu, ein anderer klammert sich an seine Beine, ein Dritter verdreht dem Jungen die Arme hinter dem Rücken. Hinter der geschlossenen Tür tönt die Stimme eines Mannes: » Was ist los?« Ein lautes Klopfen, und die Tür wird aufgerissen. Im Türrahmen steht ein großer Mann mit einem abscheulichen Backenbart. »Gustav?« Der Vater schreit auf, als einige Kobolde sich auf ihn stürzen und ihn zurückhalten, wäh 133 rend die anderen seinen Sohn mitnehmen. »Ich erkenne dich! Du willst nur meinen Sohn!« Noch immer konnte ich die Wut in ihren Augen, die Heftigkeit ihres Angriffs spüren. Wo ist mein Vater? Eine Stimme, die »Henry, Henry« ruft, drang in meinen Traum, und ich erwachte auf einem schweißnassen Kissen und zerwühlten Laken. Mit unterdrücktem Gähnen rief ich nach unten, ich sei müde und sie sollten es gut sein lassen. Meine Mutter rief zurück, da sei ein Anruf für mich, und sie sei nicht meine Sekretärin. Ich warf meinen Bademantel über und lief nach unten. »Henry Day«, brummte ich in den Hörer. Sie lachte. »Hey, Henry. Hier ist Tess Wodehouse. Wir haben uns kürzlich im Wald gesehen.« Sie konnte die Gründe für mein peinlich berührtes Schweigen nicht ahnen. »Als wir den Jungen gefunden haben. Den ersten. Ich bin mit dem Krankenwagen gekommen.« »Ja, richtig, die Krankenschwester. Tess, Tess, wie geht es dir?« »Jimmy Cummings meinte, ich solle dich anrufen. Wollen wir uns später irgendwo treffen?« Wir verabredeten uns nach ihrer Schicht, und sie beschrieb mir den Weg zu ihrem Haus. Unten auf das Blatt kritzelte ich ganz in Gedanken den Namen »Gustav«. Sie öffnete die Tür und ging direkt hinaus auf die Veranda, wo die Nachmittagssonne helle Tupfen auf ihr Gesicht und das gelbe Sonnenkleid zauberte. Außerhalb des Schattens blendete sie. Mit einem Mal, so erscheint es mir im Rückblick, entdeckte ich an ihr, was ich immer mehr lieben lernen sollte: die ungleichmäßi 133 gen Farbsprenkel in ihren Augen, eine blaue Ader, die sich ihre rechte Schläfe hinaufschlängelte und mir Leidenschaftlichkeit signalisierte, und die
ansteckende Fröhlichkeit ihres schrägen Lächelns. Tess sprach meinen Namen aus und machte ihn dadurch real. Wir fuhren weg, und der Wind, der durch das offene Fenster wehte, verfing sich in ihrem Haar und blies es ihr ins Gesicht. Wenn sie lachte, warf sie den Kopf in den Nacken, das Kinn himmelwärts, und ich sehnte mich danach, ihren schönen Hals zu küssen. Ich fuhr, als hätten wir ein Ziel, doch in unserer Stadt gab es keinen bestimmten Ort, wo man hingehen konnte. Tess drehte das Radio leiser, und wir redeten den ganzen Nachmittag. Sie erzählte mir alles über ihr Leben in der staatlichen Schule und später auf dem College, wo sie Krankenpflege gelernt hatte. Und ich erzählte ihr alles über die katholische Schule und mein abgebrochenes Musikstudium. Ein paar Meilen außerhalb der Stadt hatte vor kurzem ein neuer Fried-Chicken-Laden aufgemacht, wo wir uns reichlich eindeckten. Dann hielten wir an Oscars Bar und klauten eine Flasche Apfelwein. Gemütlich picknickten wir auf einem Schulhof, der wegen der Ferien völlig verlassen war bis auf ein Kardinalspärchen, das auf dem Klettergerüst saß und uns mit seinem Acht-Ton-Lied eine Serenade darbrachte. »Ich habe dich immer für einen seltsamen Vogel gehalten, Henry Day. Als wir zusammen in der Grundschule waren, hast du vielleicht zwei Worte mit mir gesprochen. Oder mit irgendjemand anderem. Du warst so zerstreut, als hättest du ein Lied in deinem Kopf, das außer dir niemand hören konnte.« »Ich bin immer noch so«, sagte ich ihr. »Manchmal, wenn ich die Straße entlanggehe oder ganz allein bin, spiele ich eine 134 Melodie. Dann stelle ich mir meine Finger auf den Tasten vor und höre ganz deutlich die Töne.« »Du scheinst mit deinen Gedanken woanders zu sein, meilenweit entfernt.« »Nicht immer. Jetzt nicht.« Ihr Gesicht strahlte auf und nahm plötzlich einen anderen Ausdruck an. »Merkwürdig, nicht? Diese Geschichte mit Oscar Love, diesem Jungen. Oder sollte ich sagen, diesen zwei kleinen Jungen, die sich ähneln wie ein Ei dem anderen.« Ich versuchte, das Thema zu wechseln. »Meine Schwestern sind Zwillinge.« »Wie erklärst du dir das?« »Schon ziemlich lange her diese Biostunden auf der Highschool, aber wenn sich ein Ei teilt...« Sie leckte sich die Finger ab. »Nein, nicht Zwillinge. Ich meine den ertrunkenen Jungen und den, der sich verirrt hat.« »Ich hatte mit keinem von beiden etwas zu tun.« Tess nahm einen Schluck Wein und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Du bist wirklich ein komischer Kauz, aber das habe ich schon immer an dir gemocht, bereits als wir klein waren. Seit dem ersten Tag, als ich dich im Kindergarten gesehen habe.« Ich wünschte mir aufrichtig, ich wäre an jenem Tag dort gewesen.
»Und schon als kleines Mädchen wollte ich dein Lied hören, das da, das im Moment in deinem Kopf spielt.« Sie beugte sich über die Decke und küsste mich. Bei Sonnenuntergang brachte ich sie zurück, küsste sie einmal vor der Tür und fuhr in milder Euphorie nach Hause. Das Haus hallte wie das Innere einer leeren Muschel. Die Zwillinge 135 waren nicht zu Hause, und meine Mutter saß allein im Wohnzimmer und sah sich den Spielfilm der Woche im Fernsehen an. Die Füße mit den Pantoffeln auf dem Sofa übereinandergeschlagen, den Morgenrock bis zum Kragen zugeknöpft, grüßte sie mich mit einem Drink in der rechten Hand. Ich setzte mich auf das Sofa neben dem Sessel und sah sie zum ersten Mal seit Jahren genau an. Kein Zweifel, wir wurden älter, aber sie war schön gealtert. Sie war viel dicker als damals, als ich sie zum ersten Mal sah, aber noch immer hübsch. »Wie war deine Verabredung, Henry?«, fragte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Prima, Mom, klasse.« »Wirst du sie wieder sehen?« »Tess? Na, hoffe ich doch.« Als eine Werbung den Film unterbrach, drehte sie sich zu mir und lächelte mich zwischen zwei Schlucken an. »Mom, bist du manchmal...« »Was denn, Henry?« »Ach, ich weiß nicht. Fühlst du dich nicht manchmal einsam? Möchtest du dich nicht auch mal verabreden und ausgehen?« Sie lachte und wirkte um Jahre jünger. »Welcher Mann würde denn mit einer alten Schachtel wie mir ausgehen wollen?« »Du bist doch gar nicht so alt. Und außerdem siehst du zehn Jahre jünger aus, als du bist.« »Spar dir deine Komplimente für die Krankenschwester.« Der Film ging weiter. »Ich dachte...« »Henry, ich schaue mir jetzt schon seit einer Stunde diesen Streifen an. Lass ihn mich zu Ende sehen.« 135 Tess veränderte mein Leben, sie veränderte alles. Nach unserem improvisierten Picknick sahen wir uns in jenem wundervollen Sommer jeden Tag. Ich erinnere mich, dass wir nebeneinander auf einer Parkbank saßen, mit unserem Mittagessen auf dem Schoß, und uns im strahlenden Sonnenschein unterhielten. Sie drehte sich zu mir, ihr Gesicht im gleißenden Licht, sodass ich meine Augen abschirmen musste, um sie anzusehen, und sie erzählte mir Geschichten, die mein Verlangen nach mehr Geschichten weckten, weil ich sie ganz und gar kennen lernen und keine einzige Kleinigkeit je vergessen wollte. Ich liebte jede zufällige Berührung, ihre Wärme und die Art und Weise, wie sie mir das Gefühl gab, lebendig und durch und durch menschlich zu sein. Am 4. Juli schloss Oscar die Bar und lud beinah die halbe Stadt zu einem Picknick am Flussufer ein. Er hatte das Fest aus Dankbarkeit für all die Leute
organisiert, die bei der Suche und der Rettung seines Neffen geholfen hatten, für die Polizisten, Feuerwehrmänner, Ärzte und Krankenschwestern, für alle Klassenkameraden und Lehrer des kleinen Oscar, für die Freiwilligen — wie mich, Jimmy und George —, für die Loves und alle dazugehörigen Verwandten, für ein, zwei Priester in Zivil und die unvermeidlichen Schnorrer. Ein großes Festmahl war bestellt. Im Erdofen gebackenes Schwein, Hühnchen, Hamburger, Hot-dogs. Mais und Wassermelonen waren aus dem Süden herangekarrt worden. Bierfässer, Flaschen mit Hochprozentigem, Bottiche mit Eiscreme und Wasser für die Kleinen, ein Kuchen, der in der Stadt speziell für diesen Anlass gebacken wurde — so groß wie ein Picknicktisch, glasiert in Rot, Weiß und Blau mit einem goldfarbenen DANKE in Glitzerschrift. Die Party begann am Nachmittag um vier und dauerte die ganze Nacht. Als es dunkel 136 genug geworden war, schoss eine Gruppe von Feuerwehrmännern ein prachtvolles Feuerwerk ab, mit verglühenden Flämmchen und Kerzen, die knallten und zischten, wenn sie im Fluss aufschlugen. Wie so viele Orte in Amerika zu der Zeit war auch unsere Stadt wegen des Kriegs gespalten, aber für diese Feier schoben wir Vietnam und die Protestmärsche beiseite. Trotz der schwülen Hitze sah Tess an diesem Abend wunderbar aus, mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen und einem Strahlen in den Augen. Ich lernte alle ihre Kollegen kennen, die gut betuchten Arzte, eine Schar Krankenschwestern und viel zu viele braun gebrannte, umherstolzierende Feuerwehrmänner und Polizisten. Nach dem Feuerwerk entdeckte sie ihren ehemaligen Liebsten in Begleitung eines neuen Mädchens und bestand darauf, dass wir die beiden begrüßten. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn aus meinem früheren Leben kannte. »Henry, erinnerst du dich an Brian Ungerland?« Wir schüttelten uns die Hand, und er stellte uns seine neue Freundin vor. Die Frauen machten ein paar Schritte zur Seite, um miteinander zu plaudern. »Ungerland, das ist ein ungewöhnlicher Name.« »Ein deutscher.« Er nahm einen Schluck Bier und schaute zu den beiden Frauen, die auf eine allzu vertrauliche Art lachten. »Stammt deine Familie aus Deutschland?« »Ja, ist aber schon lange da weg. Seit hundert Jahren lebt sie hier in der Stadt.« Ein paar vereinzelte Raketen knallten plötzlich mit einem lauten Rat-ta-ta los. »Sie stammt aus einem Ort namens Eger, glaube ich. Aber wie schon gesagt, das war in einem anderen Leben. Wo kommt denn deine Familie her, Henry?« 136 Ich erzählte ihm die Lügengeschichte und musterte ihn, während er mir zuhörte. Seine Augen kamen mir bekannt vor, ein Zug um das Kinn, die gebogene Nase. Man klebe ihm einen Walrossschnurbart an, mache ihn um ein paar Jahrzehnte älter, und er wäre das genaue Ebenbild des Mannes in meinen Träumen. Der Vater. Gustavs Vater. Ich tat den Gedanken ab als seltsame Verquickung meiner aufreibenden Albträume mit der Befangenheit, Tess' ehemaligem Liebhaber gegenüberzustehen.
Jimmy Cummings schlich sich von hinten heran und hätte mir beinahe einen tödlichen Schreck eingejagt. Er lachte über meine Überraschtheit und zeigte auf das Band, das ihm um den Hals hing. »Held des Tages!«, rief er, und ich musste unwillkürlich grinsen. Klein Oscar wirkte wie üblich etwas verblüfft bei all der Aufmerksamkeit, aber er lächelte Fremde an, die ihm übers Haar strichen, und würdige Damen, die sich zu ihm hinunterbeugten und ihn auf die Wange küssten. In vergnügter Stimmung verging der warme Abend in Zeitlupe, es war einer dieser Tage, an die man sich gerne zurückerinnert, wenn man niedergeschlagen ist. Jungen und Mädchen jagten in aberwitzigen Haken Glühwürmchen hinterher. Missmutige Teenager mit langem Haar spielten Ball gegen eine Mannschaft aus Polizisten, deren Gesichter unter ihrem Bürstenschnitt rot glühten. Mitten in der Nacht, als bereits viele nach Hause gegangen waren, redete Lewis Love lange auf mich ein. Die Hälfte von dem, was er sagte, bekam ich nicht mit, da ich Tess beobachtete, die unter einer dunklen Ulme ein angeregtes Gespräch mit ihrem alten Freund führte. »Ich habe eine Theorie«, meinte Lewis. »Er hatte Angst, richtig? Er war die ganze Nacht draußen und hat etwas gehört. Ich weiß nicht, vielleicht einen Waschbären oder einen Fuchs, rich 137 tig? Darum versteckt er sich in einem Loch. Aber da drin ist es echt heiß, und er bekommt Fieber.« Sie berührte Ungerland am Arm, sie lachten, nur dass ihre Hand noch auf seinem Arm war. »Und dann hat er diesen verrückten Traum...« Sie sahen sich an, und der große Oscar, völlig weggetreten, marschierte zu ihnen und mischte sich in ihr Gespräch. Er war betrunken und glücklich, doch Tess und Brian sahen sich noch immer in die Augen, ihr Gesichtsausdruck war von besonderem Ernst, als wollten sie sich etwas ohne Worte mitteilen. »Ich persönlich glaube, es war nur der alte Campingplatz eines Hippies.« Ich wollte ihm sagen, er solle die Klappe halten. Nun lag Ungerlands Hand auf ihrem Oberarm, und alle lachten. Sie fuhr sich durchs Haar und nickte zu allem, was er sagte. ».. . andere Kind war ein Ausreißer, aber auch da muss man Mitgefühl haben...« Sie schaute in meine Richtung, lächelte und winkte mir zu, als wäre nichts geschehen. Einen Moment lang erwiderte ich ihren Blick, ehe ich mich wieder auf Lewis einstimmte. ».. . aber es glaubt doch keiner an Märchen, oder?« »Du hast völlig recht, Lewis. Ich glaube, deine Theorie ist absolut richtig. Die einzig mögliche Erklärung.« Bevor er die Möglichkeit hatte, mir zu danken oder irgendetwas anderes zu sagen, war ich schon fünf Schritte auf sie zugegangen. Aus den Gesichtern von Oscar und Brian, die mich kommen sahen, verschwand das Grinsen. Sie sahen zu den Sternen hoch, da sie nichts Besseres fanden, das sie hätten bewundern
können. Ich ignorierte die beiden und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie einen Arm hinten unter mein 138 Hemd schob und mit ihren Nägeln Kreise auf meine Haut malte. »Worüber habt ihr Jungens geredet? Uber was Lustiges?« »Wir haben über dich geredet«, entgegnete Brian. Oscar betrachtete seine Flasche und grunzte. Ich führte Tess von ihnen weg, und sie legte ihren Kopf an meine Schulter, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie brachte mich in den Wald, an eine Stelle, wo wir allein waren, und legte sich in das hohe Gras und in den Farn. Stimmen drangen durch die milde, schwere Luft, doch deren Nähe machte den Moment nur noch aufregender. Sie schlüpfte aus ihren Shorts und schnallte meinen Gürtel auf. Ich hörte Männer unten am Fluss lachen. Sie küsste mich auf den Bauch und zerrte mir die Hose vom Leib. Der Wind wehte eine Melodie herüber, eine Frau sang für ihren Liebsten irgendwo in der Ferne. Ich fühlte mich leicht betrunken, und plötzlich war mir sehr heiß, und einen kurzen Augenblick meinte ich zu hören, jemanden käme zwischen den Bäumen auf uns zu. Tess setzte sich auf mich, lenkte uns beide, ihr langes Haar fiel herab und rahmte ihr Gesicht, und sie sah mir in die Augen, als sie sich vor und zurück wiegte. Das Gelächter und die Stimmen verloren sich, Autos wurden gestartet, und Leute verabschiedeten sich, auf Wiedersehen, gute Nacht. Ich langte unter ihre Bluse. Sie wandte ihren Blick nicht ab. »Weißt du, wo du bist, Henry Day?« Ich schloss die Augen. »Weißt du, wer du bist, Henry Day?« Ihr Haar strich über mein Gesicht. Jemand drückte auf eine Autohupe und raste davon. Sie kippte ihr Becken und ließ mich tief eindringen. »Tess.« 138 Und wieder sagte ich ihren Namen. Jemand warf eine Flasche in den Fluss und kam durch das Unterholz. Sie duckte sich, entlastete ihre Arme, und wir lagen aufeinander, heiß bei der Berührung. Ich küsste ihren Nacken. Jimmy Cummings rief vom Picknickplatz: »Bis dann, Henry!« Tess kicherte, rollte von mir herunter und schlüpfte wieder in ihre Kleider. Ich schaute ihr beim Anziehen zu und merkte nicht, dass ich mich zum ersten Mal seit Urzeiten nicht vor dem Wald fürchtete. 138 Kapitel 22 Wir befürchteten weiteres Ungemach. Unter Bekas Führung streiften wir im Wald umher und schliefen nie mehr als drei Nächte hintereinander am selben Ort. Das Warten auf eine Entscheidung von Beka säte Zwietracht unter uns. Wir stritten um das Essen, um Wasser, um den besten Schlafplatz. Ragno und Zanzara verzichteten auf die grundlegendste Körperpflege; ihr Haar glich verhedderten Weinranken, ihre Haut war von einer Dreckschicht dunkel geworden. Chavisory, Blomma und Kivi versanken in grimmigem Schweigen, manchmal sprachen sie tagelang kein Wort. Luchog, verzweifelt ohne seine
Zigaretten und Vergnügungen, rastete bei der winzigsten Provokation aus und hätte sich selbst mit seinem Freund Smaolach geprügelt, wenn der nicht ein so sanftes Gemüt gehabt hätte. Oft fand ich Smaolach nach einer ihrer Auseinandersetzungen mit gesenktem Blick büschelweise Gras ausreißen. Speck wurde distanzierter, sie hatte sich ganz in ihre Phantasiewelt zurückgezogen, und schlug sie mir mal vor, eine Weile mit ihr weitab von den anderen zu verbringen, schloss ich mich ihr freudig an. In jenem Spätsommer waren die Tage trotz des matter werdenden Lichts ziemlich warm, und dieser zweite Frühling ließ nicht 139 nur die Heckenrosen und andere Blumen neue Blüten treiben, auch die Sträucher setzten späte Beeren an. Dank dieses unerwarteten Angebots blieben die Bienen und andere Insekten länger am Leben und setzten ihre übermütige Suche nach Süßem fort. Die Vögel verschoben ihren Aufbruch in den Süden. Und die Bäume verzögerten das Abwerfen ihrer Blätter, deren sattes Dunkelgrün sich in blassere Farbtöne wandelte. »Aniday«, sagte sie. »Hör doch. Sie kommen.« Wir saßen am Rande der Lichtung und taten nichts weiter, als die ungewöhnliche Sonne zu genießen. Speck hob den Kopf zum Himmel, um die schattenschlagenden Flügel anzusehen. Als alle Schwarzdrosseln gelandet waren, fächerten sie ihre Schwanzfedern auf, stolzierten zu den Himbeeren und hüpften in das Rankengewirr, um gierig zu schlemmen. Die Schlucht hallte wider von ihrem Gezwitscher. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter, dann lehnte sie ihren Kopf an mich. Das Sonnenlicht warf durch die im Wind sich wiegenden Blätter tanzende Muster auf den Boden. »Schau dir die an.« Sie sprach leise und deutete auf eine einzelne Drossel, die sich abmühte, eine pralle rote Beere am Ende eines wippenden Zweigs zu erreichen. Hartnäckig setzte der Vogel sein Bemühen fort, drückte den Zweig zu Boden, hielt ihn mit seinen Krallen fest und machte sich mit drei raschen Schnabelhieben über die Beere her. Nach seinem Mahl begann er zu singen, flog im gesprenkelten Licht davon, und schon hob der ganze Schwärm ab und zog ihm in den Oktoberanfang hinterher. »Zu Anfang meiner Zeit hier«, gestand ich ihr, »hatte ich Angst vor den Krähen, die jeden Abend in die Bäume um unser Zuhause flogen.« 139 »Du hast immer geweint wie ein Baby.« Ihre Stimme klang jetzt weicher, und sie sprach langsamer. »Ich wüsste gerne, wie es sich anfühlt, ein Baby auf dem Arm zu halten und eine erwachsende Frau zu sein, statt nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Ich erinnere mich an meine Mutter, so weich an unvermuteten Stellen — runder, voller, kräftiger. Stärker, als man bei ihrem Anblick vermuten würde.« »Erzähl mir, wie sie war, meine Familie. Was ist mit mir geschehen?« »Als du ein kleiner Junge warst«, begann sie, »habe ich über dich gewacht. Du warst mein Schützling. Ich kannte deine Mutter; sie legte dich gerne in ihren Schoß, wenn sie dir alte irische Märchen vorlas und dich ihr >Männlein< nannte. Aber du warst ein selbstsüchtiger Junge, wolltest ständig mehr und
warst verzweifelt über jede kleinste Aufmerksamkeit, die deinen Schwesterchen galt.« »Schwestern?«, fragte ich, da ich mich nicht erinnerte. »Ja, Zwillinge. Zwillingsschwesterchen.« Ich war dankbar, dass sie mir bestätigte, dass es zwei waren. »Du warst voll Widerwillen, wenn du dich um sie kümmern solltest, wütend, dass du in deiner Zeit nicht nur das tun konntest, was dir Spaß machte. Oh, so ein Balg! Deine Mutter sorgte für die Zwillinge, machte sich Gedanken um deinen Vater, und niemand unterstützte sie dabei. Sie war oft völlig erschöpft, und das machte dich noch wütender. Ein unglückliches Kind...« Sie verstummte einen Moment und legte ihre Hand auf meinen Arm. »Er hat auf dich gewartet wie ein Fuchs am Ufer eines Teichs und hat derweil auf dem Hof allerhand Unsinn angestellt — einen Zaun umgestoßen, eine Henne geklaut, die zum Trocknen 140 aufgehängten Laken von der Leine gezerrt. Er wollte dein Leben, und derjenige, der an der Reihe ist, duldet keinen Einwand. Monatelang waren die Augen aller auf dich gerichtet, lauerten auf einen Moment gereizter Stimmung. Und dann bist du von zu Hause weggelaufen.« Speck zog mich enger an sich, strich mir durchs Haar und drückte meinen Kopf sanft in ihre Halsbeuge. »Sie hat dich gebeten, die Babys nach dem Frühstück sauberzumachen, damit sie rasch ein Bad nehmen könnte, aber du hast die beiden ganz allein gelassen, stell dir das mal vor. >Bleibt schön hier und spielt mit euren Püppchen. Mom ist in der Wanne, und ich bin hier draußen, macht also kein Theater.< Und schon bist du hinausgegangen und hast einen Ball in den strahlend gelben Himmel gekickt und die Grashüpfer beobachtet, die vor deinen flinken Füßen über die Wiese stoben. Ich wollte mit dir spielen, aber einer musste ja auf die Kinderchen aufpassen. Ich schlüpfte ins Haus, kauerte mich auf die Arbeitsplatte in der Küche und hoffte, sie würden mich weder bemerken noch sich verletzen. Sie waren in dem neugierigen Alter und hätten Schränke öffnen, mit Bleichmittel und Möbelpolitur spielen, Rattengift befingern oder die Besteckschublade öffnen können, um mit Messern zu jonglieren. Oder sie hätten an den Alkohol geraten und den ganzen Whiskey austrinken können. Sie waren in Gefahr, während sie sich den Morgenrock überwarf und sich singend die Haare föhnte. Währenddessen bist du am Waldrand entlang gestrolcht und hast darauf gehofft, etwas Überraschendes zu entdecken. Etwas Großes bewegte sich im trockenen Laub und zwischen den schattigen Asten, sodass Zweige knackten, als es durch das Halbdunkel huschte. Ein Hase? Vielleicht ein Hund oder ein kleines Reh? 140 Deine Mutter ist die Treppe heruntergekommen, hat in aller Ruhe gerufen und die Mädchen ganz allein auf dem Tisch tanzend vorgefunden. Du hast auf die lichtgesprenkelten Wege gespäht. Von hinten hat dich eine starke Hand an der
Schulter gepackt und dich herumgewirbelt. Da stand deine Mutter, mit klatschnassem Haar und wutverzerrtem Gesicht. >Wie konntest du einfach so verschwindend, hat sie dich gefragt. Hinter ihr konntest du die Zwillinge über die Wiese wanken sehen. Mit der einen Hand umklammerte sie einen Holzlöffel, und da du wusstest, was dir blühte, bist du weggerannt und sie lachend hinter dir her. Am Rande deiner Welt hat sie dich am Arm gezerrt und dir so fest auf den Hintern geschlagen, dass der Löffel in der Mitte durchgebrochen ist.« Speck hielt mich noch fester. »Aber du warst schon immer ein Schelm. Dein Hintern tat dir weh, und das hast du ihr gezeigt. Sie bereitete das Mittagessen zu, das du dich weigertest anzurühren. Nur eisiges Schweigen. Als sie die Babys zum Mittagschlaf hinlegte, hat sie gelächelt, und du hast finster dreingeblickt. Dann hast du etwas zu essen in ein Taschentuch gewickelt, hast es in deine Tasche gestopft und bist lautlos aus dem Haus geschlichen. Ich bin dir den ganzen Nachmittag gefolgt.« »Hatte ich Angst, so allein?« »Ich würde sagen, du warst neugierig. Ein ausgetrockneter Bach verlief ein paar hundert Meter parallel zur Straße, bis er sich dann in den Wald hineinschlängelte, und du hast diesen Weg eingeschlagen, hast ab und zu dem Vogelgezwitscher gelauscht und die Streifenhörnchen beobachtet, die durch den Abfall jagten. Ich habe gehört, wie Igel Beka Signal gab, der unserem Anführer zupfiff. Als du an der Uferböschung eines deiner Bröt 141 chen und die übrig gebliebenen kalten Eier aßt, haben sie sich um dich geschart, um dich zu ergreifen.« »Immer wenn sich die Blätter bewegten«, sagte ich, »war ein Ungeheuer unterwegs, das mich packen wollte.« »Östlich des Bachbetts stand eine alte Kastanie, gespalten und mit absterbenden Wurzeln. Ein Tier hatte eine große Höhle hineingekerbt, und du musstest hineinklettern und sie dir ansehen. Die Feuchtigkeit und die Dunkelheit müssen dich gleich in Schlaf versetzt haben. Ich habe die ganze Zeit davorgestanden, habe mich versteckt, als die Suchmannschaft fast über dich gestolpert wäre. Hin und her wischendes Licht von Taschenlampen, dem die dunklen Gestalten, die sich wie Gespenster durch die Gewitterluft schoben, folgten. Sie gingen vorbei, und bald verklangen ihre Rufe in der Ferne, wichen dann der Stille. Nicht lange, nachdem die Leute verschwunden waren, kamen die Elben aus allen Richtungen herangelaufen und blieben vor mir, der Wächterin des Baums, stehen. Der Wechselbalg hat gekeucht. Er hat dir so ähnlich gesehen, dass ich die Luft anhielt und aufschreien wollte. Er kroch halb in das Loch, hat dich an deinem nackten Knöchel gepackt und gezogen.« Sie umarmte mich und küsste mich auf den Kopf. »Wenn ich den Wechsel in die andere Richtung vollziehe«, fragte ich sie, »werde ich dich dann wiedersehen?«
Trotz meiner Fragen erzählte sie mir nicht mehr, als ich ihrer Meinung nach wissen sollte; und kurz darauf machten wir uns daran, Beeren zu pflücken. Auch wenn die Tage sehr an Hochsommer erinnerten, lässt sich die Drehung der Erde weg von der Sonne nicht aufhalten. Plötzlich brach die Nacht herein. Unter den aufgehenden Planeten und Sternen und dem blass aufstei 142 genden Mond liefen wir zurück. Bei unserer Rückkehr wurden wir mit zögerlichem Lächeln begrüßt, und ich fragte mich, warum die mageren Kinder unseres vorübergehenden Zuhauses nicht auch Drosseln beobachteten und ihre Träume träumten. Der Haferbrei blubberte auf dem Feuer, und unsere Truppe aß aus hölzernen Schalen mit hölzernen Löffeln, die wir sauber abschleckten. Aus unseren Hemdzipfeln schütteten wir Himbeeren aus, wobei den zerdrückten Früchten der Duft von Ambrosia entstieg. Und die anderen stopften sie sich lächelnd in den Mund und mampften, bis sich ihre Lippen rot wie Küsse färbten. Am nächsten Tag verkündete Beka, er habe unser neues Zuhause gefunden, »einen Ort, der selbst für die furchtlosesten Menschen unerreichbar ist, eine Zuflucht, wo wir in Sicherheit sind«. Er führte uns einen steilen, öden Hang hinauf, wobei wir über Schiefertafeln und loses Geröll krabbelten, so ein unwirtlicher Berg, wie man ihn sich kaum vorstellen kann. Kein Zeichen von Leben, keine Bäume oder irgendwelche Pflanzen außer etwas Unkraut, das sich durch den Schotter gekämpft hatte. Kein Vogel setzte sich nieder, nicht einmal für eine kurze Rast, auch keinerlei fliegende Insekten, obgleich wir schon bald Fledermäuse entdecken sollten. Keinerlei Fußspuren außer denen unseres Anführers. Eine dürftige Ausbeute für unsere müde Truppe. Während wir hinaufstiegen, fragte ich mich, was Beka wohl geritten haben mochte, diesen Ort ausfindig zu machen, geschweige denn, ihn zu unserem Zuhause zu erklären. Jeder andere wäre nach einem einzigen Blick auf diese Ödnis mit einem Schaudern weitergegangen. Kahl wie der Mond, fehlte es der Landschaft an jeglichem Reiz, und erst als wir fast oben angelangt waren, sah ich den Spalt im Felsen. Einer nach dem anderen drängte sich unsere Kohorte durch die Öffnung und wurde vom Stein verschluckt. 142 Sich aus der strahlenden Spätsommerwärme in die feuchte Kälte dieses Eingangs zu begeben, vermittelte das Gefühl, als tauchte man plötzlich in einen kalten Tümpel ein. Als sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, sah ich nicht einmal, an wen ich meine Frage richtete. »Wo sind wir hier?« »Das ist ein Mine«, entgegnete Speck. »Ein altes, verlassenes Bergwerk, wo man Kohle gefördert hat.« Ein schwacher Schein entströmte einer eben entzündeten Fackel. Mit einem Gesicht voll seltsamer, unnatürlicher Schatten grinste Beka uns an und krächzte: »Willkommen zu Hause.« 142 Kapitel 23
Ich hätte Tess gleich zu Anfang alles gestehen sollen, aber wer weiß denn schon, wann die Liebe anfängt? Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen zwei gegensätzlichen Impulsen. Ich wollte sie nicht mit der Geschichte vom Wechselbalg verschrecken, und gleichzeitig sehnte ich mich danach, ihr all meine Geheimnisse anzuvertrauen. Doch es schien mir, als beschattete mich ein Teufel, als verschlösse er mir den Mund, damit ich die Wahrheit für mich behielte. Sie bot mir viele Gelegenheiten, ihr mein Herz zu öffnen, und ein-, zweimal war ich kurz davor, doch jedes Mal zögerte ich und tat es doch nicht. Labor Day verbrachten wir im Baseball-Stadion in der Stadt und sahen uns an, wie es die heimische Mannschaft mit Chicago aufnahm. Wegen des gegnerischen Runners an der zweiten Base war ich abgelenkt. »Wie sehen jetzt die Pläne für die Coverboys aus?« »Pläne? Welche Pläne?« »Ihr solltet wirklich ein Album aufnehmen. Ihr seid so gut.« Sie biss in einen Hotdog mit Sauce. Unser Pitcher erzielte ein Strike out gegen ihren Batter, und sie ließ einen Freudenschrei los. Tess liebte Baseball, und ich ertrug es ihr zuliebe. »Was denn für ein Album? Coverversionen von Liedern an 143 derer? Glaubst du denn wirklich, die Leute kaufen eine Kopie, wenn sie doch auch das Original haben könnten?« »Da hast du recht«, meinte sie zwischen zwei Bissen. »Vielleicht könntet ihr etwas Neues und Anderes machen. Schreib doch deine eigenen Lieder.« »Tess, was wir singen, entspricht nicht der Art Lieder, die ich schreiben würde.« »Okay, angenommen, du hättest die Möglichkeit, irgendeine Musik zu schreiben, welche wäre das?« Ich wandte mich ihr zu. Sie hatte einen Klecks Sauce im Mundwinkel, den ich ihr gerne abgeleckt hätte. »Ich würde dir eine Symphonie schreiben, wenn ich könnte.« Ihre Zunge schnellte vor und leckte die Lippen sauber. »Was hält dich davon ab, Henry? Ich hätte gerne eine eigene Symphonie.« »Ja, vielleicht, wenn ich ernsthaft weiter Klavier gespielt oder die Musikhochschule zu Ende gemacht hätte.« »Was hält dich davon ab, wieder aufs College zu gehen?« Gar nichts. Die Zwillinge hatten die Highschool beendet und arbeiteten. Meine Mutter brauchte die paar Kröten, die ich dazuverdiente, bestimmt nicht mehr, und Onkel Charlie aus Philadelphia rief sie fast jeden Tag an und bekundete sein Interesse daran, hier seinen Ruhestand zu verbringen. Die Coverboys kamen als Band nicht von der Stelle. Ich suchte nach einer glaubhaften Entschuldigung. »Ich bin zu alt, um wieder aufs College zu gehen. Ich werde sechsundzwanzig im kommenden April, und die anderen Studenten sind gerade mal achtzehn. Die leben in einer völlig anderen Szene.« »Du bist so alt, wie du dich fühlst.« Im Augenblick fühlte ich mich 125 Jahre alt. Sie lehnte sich 143
zurück und verfolgte den Rest des Spiels, ohne noch ein Wort über das Thema zu verlieren. Als wir an diesem Nachmittag heimfuhren, verstellte sie das Radio vom Rocksender auf klassische Musik, und als das Orchester Mahler spielte, lehnte sie den Kopf an meine Schulter und lauschte mit geschlossenen Augen. Tess und ich gingen hinaus auf die Veranda und setzten uns auf die Schaukel, schwiegen lange und tranken zusammen eine Flasche Pfirsichwein. Da sie mich gerne singen hörte, sang ich für sie, und dann fanden wir nichts, über das wir hätten reden können. Ihr sanftes Atmen neben mir, der Mond und die Sterne, die zirpenden Grillen, die Falter, die zum Licht der Veranda drängten, die leichte Brise, die sich durch die feuchte Luft schwang — dieser Augenblick hatte eine seltsame Wirkung auf mich; es war, als riefe er mir entfernte Träume in Erinnerung, nicht aus diesem Leben, nicht aus dem Wald, sondern aus dem Leben vor dem Wechsel. Als brächte ein außer Acht gelassenes Schicksal oder Verlangen die Illusion in Gefahr, die ich mit viel Mühe aufgebaut hatte. Wollte ich durch und durch menschlich sein, musste ich meiner wahren Natur, meinem ersten Impuls, nachgeben. »Glaubst du, ich bin verrückt, weil ich in der heutigen Zeit Komponist werden will?«, fragte ich sie. »Ich meine, wer würde denn meine Symphonie hören wollen?« »Träume existieren nun mal, Henry. Und du kannst sie nicht willentlich abschaffen, genauso wenig wie du sie lebendig machen kannst. Du musst dich entscheiden, ob du etwas für sie tun willst oder sie sich in Luft auflösen lässt.« »Wenn ich es nicht schaffe, könnte ich vermutlich wieder zurück nach Hause gehen. Einen Job finden. Ein Haus kaufen. Ein Leben führen.« 144 Sie nahm meine Hand in ihre. »Wenn du nicht mit mir kommst, wird es mir sehr fehlen, dich nicht jeden Tag zu sehen.« »Was meinst du mit >mit dir kommen« »Ich habe auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um es dir zu sagen. Ich habe mich eingeschrieben. Das Semester beginnt in zwei Wochen. Ich will meinen Master machen. Ehe es zu spät ist. Ich will nicht als alte Jungfer enden, die nie das getan hat, was sie sich wirklich gewünscht hat.« Ich wollte ihr sagen, Alter spiele keine Rolle, dass ich sie jetzt liebte und in zwei, zwanzig oder auch zweihundert Jahren immer noch lieben würde. Doch ich sagte kein einziges Wort. Sie tätschelte mein Knie, schmiegte sich eng an mich, und ich atmete den Duft ihres Haars ein. Wir ließen den Abend vergehen. Ein Flugzeug flog durch das Blickfeld zwischen uns und dem Mond, sodass ganz kurz die Illusion entstand, es klebe auf der Mondoberfläche. Sie schlummerte in meinen Armen und schreckte nach elf auf. »Ich muss gehen«, meinte sie. Sie küsste mich auf die Stirn, und wir schlenderten zu ihrem Wagen. Das Gehen schien sie aus der weinseligen Benommenheit zu wecken. »Hey, wann sind deine Unterrichtsstunden? Ich könnte dich ab und zu, zumindest tagsüber, hinfahren.« »Gute Idee. Vielleicht inspiriert dich das, selbst wieder zu studieren.«
Sie warf mir eine Kusshand zu, setzte sich hinters Steuer und fuhr weg. Das alte Haus schaute mich an, und die Bäume im Hof reckten sich zum gelben Mond. Ich ging die Treppe hinauf, ganz versunken in die Musik in meinem Kopf, und legte mich in Henrys Bett, in Henrys Zimmer, zum Schlafen nieder. 145 Was Tess dazu gebracht haben mag, Kindstötung zu wählen, ist mir ein Rätsel. Es hätte auch andere Optionen gegeben: Geschwisterrivalität, die Last des Erstgeborenen, der ödipale Sohn, der abwesende Vater und so weiter. Doch sie hatte sich Kindstötung als Referatsthema für ihr Seminar in Familiensoziologie ausgesucht. Und da ich an den meisten Tagen nichts zu tun hatte, außer auf dem Campus zu warten oder durch die Stadt zu fahren, während sie ihre Kurse hatte, half ich ihr selbstverständlich gerne bei den Recherchen. Nach ihrer letzten Stunde gingen wir irgendwo einen Kaffee oder Ahnliches trinken, anfangs um auszutüfteln, wie man die Seminararbeit zur Kindstötung aufbauen sollte, doch im Laufe unserer Treffen nahm das Gespräch abrupt die Wendung zu meiner Rückkehr an die Schule und meiner noch nicht begonnenen Symphonie. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte Tess. »Du hast keine Disziplin. Du möchtest ein großer Komponist sein, aber du schreibst nicht einmal ein Lied. Henry, wahre Kunst hat weniger mit diesem >Ich-möchte-aber<-Scheiß zu tun, sondern eher mit Üben. Mach doch einfach Musik, Baby.« Ich spielte mit dem Porzellanhenkel meiner Kaffeetasse. »Es ist an der Zeit, loszulegen, Chopin, oder aufzuhören, dir selbst etwas vorzumachen, und erwachsen zu werden. Komm hinter dem Tresen hervor und geh wieder aufs College.« Ich bemühte mich, meinen Frust und Groll vor ihr zu verheimlichen, aber sie hatte mich wie ein lahmes Tier von der Herde getrennt. Sie schlug zu. »Ich weiß alles über dich. Deine Mutter ist im Bilde, wie es um den echten Henry Day steht.« »Du hast mit meiner Mutter über mich gesprochen?« »Sie hat gemeint, du seiest über Nacht von einem unbeschwer 145 ten kleinen Jungen zu einem ernsten alten Mann geworden. Liebling, du musst aufhören, in deinem Kopf zu leben. Du musst in der Welt leben, so wie sie ist.« Ich erhob mich von meinen Stuhl, lehnte mich über den Tisch und küsste sie. »Jetzt erzähl mir mal deine Theorie, warum Eltern ihre Kinder umbringen.« Viele Wochen arbeiteten wir an ihrem Projekt, trafen uns in der Bibliothek oder setzten unsere Gespräche über das Thema fort, wenn wir zum Tanzen, ins Kino oder zum Abendessen gingen. Mehr als einmal zogen wir die erstaunten Blicke fremder Menschen auf uns, wenn wir über das Töten von Kindern diskutierten. Tess kümmerte sich um den historischen Kontext des Problems und vertiefte sich in verfügbare Statistiken. Mein Part war, eine plausible Theorie auszugraben. In manchen Gesellschaften wurden die Jungen den Mädchen vorgezogen, da sie Landarbeit machen konnten oder den Reichtum weitergaben, und viele Töchter wurden ganz selbstverständlich umgebracht,
da sie unerwünscht waren. Doch in weniger patriarchalischen Kulturen erklärte sich die Kindstötung dadurch, dass Familien in Zeiten großer Kinderzahl und geringer Ressourcen nicht in der Lage waren, für ein weiteres Kind zu sorgen — eine brutale Methode der Bevölkerungskontrolle. Wochenlang rätselten Tess und ich darüber, wie Eltern die Entscheidung trafen, welches Kind sie verschonen und welches sie aufgeben würden. Dr. Laurel, der das Seminar leitete, gab den Hinweis, Mythos und Volkstum könnten vielleicht interessante Antworten bieten. Und so stieß ich zufällig auf den Artikel. Als ich eines Abends spät in der Bibliothek um die Regale strich, fand ich das dort einzige Exemplar des Journal of Myth and 146 Society, eine recht neue Publikation, von der insgesamt nur drei Nummern erschienen waren. Ich blätterte in dem Heft, stand ziemlich entspannt allein da, als mir der Name von der Seite entgegensprang und mich an der Kehle packte. Thomas Mclnnes. Der Titel seines Artikels traf mich wie ein Messer ins Herz: »Das gestohlene Kind«. Scheißkerl. Mclnnes vertrat die Theorie, dass im mittelalterlichen Europa Eltern, die ein krankes Kind bekamen, die bewusste Entscheidung trafen, ihr Kind als etwas anderes als menschlich »zu reklassifizieren«. Sie behaupteten, Teufel oder »Kobolde« seien mitten in der Nacht gekommen, hätten das richtige Kind geraubt und dafür eines der ihren, ein krankes, verunstaltetes oder verkrüppeltes, zurückgelassen, und nun war es an den Eltern, den Teufel großzuziehen oder auszusetzen. Diese Teufelskinder — in England nannte man sie »fairy children« oder »changelings«, in Frankreich »enfants changes« und in Deutschland »Wechselbälger« — waren reine Fiktion und Rationalisierungen, wenn ein Säugling nicht gedieh oder mit körperlichen oder geistigen Defekten zur Welt gekommen war. Hatte jemand einen Wechselbalg zu Hause, erwartete man von ihm nicht, dass er ihn behielt und wie ein eigenes Kind großzog. Eltern hatten das Recht, sich dieses deformierten Wesens zu entledigen, sie konnten das Kind nachts draußen im Wald aussetzen. Sollten die Kobolde sich weigern, es wieder aufzunehmen, würde der arme Unglückswurm aufgrund der Aussetzung sterben oder vielleicht von einem wilden Tier weggeschleppt werden. Der Artikel referierte verschiedene Versionen der Sage, darunter auch den französischen Kult des heiligen Windhunds aus dem 12. Jahrhundert. Eines Tages kommt ein Mann nach Hause 146 und sieht Blut an der Schnauze des Hundes, dem er aufgetragen hatte, sein Kind zu hüten. Wütend prügelt der Mann den Hund zu Tode, um dann nur wenig später sein Baby unversehrt und eine tote Viper auf dem Boden vor der Wiege vorzufinden. Als ihm sein Irrtum bewusst wird, errichtet der Mann einen Schrein für den »heiligen Windhund«, der seinen Sohn vor der Giftschlange beschützt hatte. Aus dieser Geschichte entwickelte sich die Legende, Mütter könnten Babys mit einer »Kinderkrankheit« zu solchen Schreinen im
Wald bringen und sie dort mit einer Nachricht für den Schutzheiligen und Kinderheiler zurücklassen: »A Saint Guinefort, pour la vie ou pour la mort.« »Diese Form des Infantizids, der absichtlichen Tötung eines Kindes, basierend auf dessen geringen Überlebenschancen«, schrieb Mclnnes, »wurde Teil des Mythos und des Brauchtums, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in Deutschland, auf den Britischen Inseln und anderen europäischen Ländern überdauerten, und der Aberglaube reiste mit den Emigranten in die Neue Welt. In den 185oer-Jahren berichtete eine kleine Bergbaugemeinde in Westpennsylvania über das Verschwinden von einem Dutzend Kindern aus verschiedenen Familien in die umliegenden Berge. Und in abgelegenen Nestern in Appalachia, von New York bis Tennessee, nährte eine lokale Legende den Volksglauben, dass diese Kinder bis heute durch die Wälder streifen. Ein zeitgenössischer Fall, der die psychologischen Wurzeln dieser Legende unterstreicht, handelt von einem jungen Mann, >Andrew<, der unter Hypnose behauptete, von >Kobolden< entführt worden zu sein. Die kürzliche, unerklärliche Entde 147 ckung eines nicht zu identifizierenden Kindes, das man ertrunken in einem nahen Fluss fand, wurde als Machenschaft dieser Ghuls, dieser leichenfressenden Dämonen, angesehen. Er berichtete, viele der vermissten Kinder in dieser Region seien von Kobolden geraubt worden und lebten unversehrt im nahe gelegenen Wald, während ein Wechselbalg den Platz dieses Kindes einnehme und dessen Leben in der Gemeinschaft lebe. Solche Wahnvorstellungen wie das Aufkommen des Mythos vom Wechselbalg haben offensichtlich soziale Schutzfunktion für das traurige Problem verschollener oder geraubter Kinder.« Nicht nur, dass er die Geschichte falsch wiedergab, er hatte auch meine eigenen Worte gegen mich gekehrt. Eine hochgestellte Zahl neben »Andrew« führte die Leser zu der klein gedruckten Fußnote: »Andrew (Name geändert) spulte eine komplizierte Geschichte über eine Subkultur der Kobolde ab, die, wie er behauptete, in einer nahe gelegenen Waldregion lebten und seit über einem Jahrhundert Jagd auf Kinder der Stadt machten. Er beteuerte, einst ein menschliches Kind namens Gustav Ungerland gewesen zu sein, der als Sohn deutscher Immigranten Mitte des 19. Jahrhunderts in die Gegend gekommen sei. Noch unglaubwürdiger ist, wenn Andrew behauptet, in seinem anderen Leben ein musikalisches Wunderkind gewesen zu sein, eine Fähigkeit, die ihm zurückgegeben wurde, als er Ende der 194oer-Jahre den Wechsel zurück vollzog. Seine kunstvolle Geschichte weist auf tiefe pathologische Entwicklungsstörungen hin, die möglicherweise Missbrauch, 147 Trauma oder Vernachlässigung im frühkindlichen Stadium überdecken.« Den letzten Satz musste ich mehrere Male lesen, bis ich dessen Aussage begriff. Ich wollte losbrüllen, Mclnnes ausfindig machen und ihm seine Worte ins Maul stopfen. Ich riss die Seiten aus dem Journal und warf das ruinierte
Heft in den Abfall. »Lügner, Fälscher, Dieb«, murmelte ich unentwegt, während ich zwischen den Bücherregalen hin und her lief. Zum Glück begegnete mir niemand, denn wer weiß, wie ich meiner Rache Luft gemacht hätte. Nicht-Gedeihen. Pathologische Probleme. Ausgesetzte Kinder. Er schenkte uns Wechselbälgern überhaupt keinen Glauben und hatte die ganze Geschichte umgedreht. Wir gingen hin und rissen sie aus ihren Betten. Wir waren genauso real wie Albträume. Das Pling des Fahrstuhls klang wie ein Gewehrschuss, und in der sich öffnenden Tür erschien die Bibliothekarin, eine schlanke Frau mit Schmetterlingsbrille und einem Dutt. Sie erstarrte, als sie mich in meinem aufgelösten Zustand sah, doch sie bändigte mich mit ihren Worten. »Wir schließen«, rief sie. »Sie müssen gehen.« Ich duckte mich hinter ein Bücherregal, wo ich Mclnnes' Seiten ganz klein zusammenfaltete und in meine Jeansjacke steckte. Sie kam mit klackernden Absätzen auf mich zu, und ich versuchte, mein Aussehen zu verändern, aber die alte Zauberkraft wirkte nicht mehr. Ich konnte mir nur schnell durchs Haar fahren, mich aufrichten und meine Kleidung glatt streichen. »Haben Sie mich nicht gehört?« Sie stand direkt vor mir wie ein starres Schilfrohr. »Sie müssen gehen.« Sie beobachtete jeden meiner Schritte. Ich drehte mich am Fahrstuhl noch einmal 148 um und winkte ihr zum Abschied, und sie lehnte an einer Säule mit einem Blick, als kennte sie meine ganze Geschichte. Kühler Regen fiel, und ich kam zu spät zu meiner Verabredung mit Tess. Ihr Unterricht war schon seit Stunden vorbei, und wir sollten bereits auf dem Heimweg sein. Als ich die Treppen hinuntereilte, fragte ich mich, ob sie wohl sauer auf mich sein würde, doch solche Ängste waren ein Witz im Vergleich zu meiner Wut auf Mclnnes. Tess stand vor der Laterne an der Ecke unter einen Schirm. Sie kam auf mich zu, nahm mich unter ihr Dach und hakte sich bei mir ein. »Henry, bist du okay? Du zitterst ja, Baby. Ist dir kalt? Henry! Henry?« Sie zog mich näher an sich, wärmte mich und hielt uns trocken. Sie legte ihre warme Hand auf mein Gesicht, und ich wusste, dieser kalte, nasse Abend wäre die beste Gelegenheit, alles zu beichten. Unter dem Schirm sagte ich ihr, dass ich sie liebte. Das war alles, was ich herausbrachte. 148 Kapitel 24 Wir lebten in dem dunklen Loch, und das aufgelassene Bergwerk erwies sich als ein wirklich sehr übles Zuhause. In diesem Jahr fiel ich in einen tieferen Winterschlaf als je zuvor, erwachte nur alle paar Tage, um eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken, und legte mich dann wieder ins Bett. Auch die meisten anderen dämmerten in einem narkoseähnlichen Zustand dahin, in einem Nebel gewissermaßen, der von Dezember bis März anhielt. Die Dunkelheit hielt uns in ihrer feuchten Umarmung, und viele Wochen lang erreichte uns nicht ein einziger Sonnenstrahl. Der Schnee verschloss fast unseren Eingang,
der jedoch so porös war, dass er die Kälte hereinließ. Die Wände trieften und gefroren zu glatten Krusten, die unter Druck splitterten. Im Frühling schlüpften wir, mager und hungrig, hinaus in die grüne Welt. In dieser uns nicht vertrauten Gegend nach Nahrung zu suchen, wurde zu unserer Hauptbeschäftigung. Der Berg selbst bestand nur aus Schlacke und Schiefer, und sogar zur besten Jahreszeit fanden nur die widerstandsfähigsten Gräser und Moose dürftigen Halt. Kein Tier suchte hier nach Futter. Beka ermahnte uns, uns nicht zu weit zu entfernen, also begnügten wir uns mit dem, was wir in der Nähe auftreiben konnten — Heu 149 schrecken, Larven, Rinde für Tee, Rotkehlchenbrust, einem gebratenen Stinktier. Und all das, was wir entbehren mussten, weil wir nicht in die Stadt kamen, ließen wir in unserer Phantasie auferstehen. »Ich würde meinen Eckzahn geben für einen Happen Eiscreme«, sagte Smaolach, als er gerade eine ärmliche Suppe ausgelöffelt hatte. »Oder für eine schöne gelbe Banane.« »Für Himbeermarmelade auf einem warmen, knusprigen Toast«, sagte Speck. Onions stimmte ein: »Für Sauerkraut und Schweinshaxe.« »Für Spaghetti«, setzte Zanzara an, und Ragno ergänzte: ».. . mit Parmesan.« »Für eine Cola und eine Zigarette.« Luchog klopfte auf seinen leeren Beutel. »Warum lässt du uns nicht gehen, Beka?«, fragte Chavisory. »Es ist doch schon so lange her.« Der schlaksige Despot saß über uns auf einer leeren Dynamitkiste, seinem Thron. Bisher hatte er alle unsere Bitten um mehr Bewegungsfreiheit abgelehnt, aber vielleicht war auch er, da nun die Tage heller wurden, besser gelaunt. »Onions, nimm Blomma und Kivi heute Nacht mit, aber seid vor dem Morgengrauen zurück. Haltet euch von den Straßen fern und vermeidet jedes Risiko.« Er lächelte über seine Güte. »Und bringt mir eine Flasche Bier mit.« Die drei Mädchen sprangen auf und machten sich unverzüglich auf den Weg. Beka hätte die Anzeichen erkennen oder den bevorstehenden Wetterwechsel in den Knochen spüren müssen, doch womöglich übertraf sein Durst sein Urteilsvermögen. Eine Kältewelle rollte über die Berge im Westen heran und stieß auf die warme Mailuft, sodass innerhalb weniger Stunden dicker 149 Nebel sich über den Wald senkte und an der Dunkelheit klebte wie die Haut an einem Pfirsich. Wir konnten nicht weiter sehen als einen großen Schritt, und der unsichtbare Mantel, der sich um die Bäume schmiegte, bereitete uns wegen unserer abwesenden Freundinnen allgemeines Unbehagen. Nachdem die anderen in die Dunkelheit gekrochen waren, um sich schlafen zu legen, leistete mir Luchog am Eingang des Bergwerks bei der stillen Wache Gesellschaft. »Mach dir keine Sorgen, Schätzchen. Können sie nichts sehen, werden sie auch nicht gesehen. Sie werden ein gutes Versteck finden, bis die Sonne durch diese Finsternis bricht.« Wir hielten Ausschau und verschmolzen mit dem Nichts. Mitten in der Nacht weckte uns ein Krachen zwischen den Bäumen. Das Geräusch erhob sich in einer einzigen verzweifelten Welle. Zweige knackten und brachen, ein
unmenschlicher Schrei ertönte und wurde rasch erstickt. Wir spähten in den Nebel in die Richtung des Aufruhrs. Luchog strich ein Zündholz an und entzündete die Fackel am Eingang des Bergwerks. Aste tröpfelten vor Feuchtigkeit und glitzerten im Licht. Ermutigt durch das Feuer, gingen wir vorsichtig auf die Stelle zu, von der das Geräusch gekommen war und von der ein schwacher Blutgeruch heranwehte. Vor uns spiegelte sich unsere Fackel in zwei glühenden Augen, die uns abrupt anhalten ließen. Ein Fuchs schnappte seine Beute und trug sie davon, und wir gingen hinüber zum Tatort. Aufgefächert wie die Glasstückchen eines Kaleidoskops lagen verstreut auf dem Laub schwarz-weiß gestreifte Federn. Der Fuchs, der sich mit dem schweren Truthahn abmühte, trottete davon, und über uns in den Bäumen schmiegten sich die überlebenden Vögel aneinander und kollerten sich gegenseitig Trost zu. 150 Onions, Kivi und Blomma waren noch immer nicht zurückgekehrt, als ich Speck die Stelle zeigte, wo der Fuchs das Tier getötet hatte. Sie hob zwei längere Federn auf und steckte sie sich ins Haar. »Der letzte Mohikaner«, sagte sie, und als sie jauchzend in den hellen Morgen lief, rannte ich hinter ihr her, und so spielten wir den ganzen Tag. Als Speck und ich am späten Nachmittag zurück zum Bergwerk kamen, fanden wir einen wütenden, auf und ab schreitenden Beka. Die Mädchen waren noch immer nicht zurück, und er war ganz unentschlossen, ob er einen Suchtrupp aussenden oder wir alle im Schacht ausharren sollten. »Was denkst du dir dabei, uns hier festzuhalten?«, fragte Speck. »Du hast ihnen gesagt, sie sollten bei Morgengrauen zurück sein. Glaubst du etwa, Onions würde dir nicht gehorchen? Sie hätten seit Stunden zurück sein sollen. Warum suchen wir nicht nach ihnen?« Sie teilte uns acht in Zweiergruppen ein und zeichnete vier verschiedene Wege in die Stadt auf. Um Beka zu beruhigen, schlug sie mit ihm den direktesten Weg ein. Smaolach und Luchog suchten im Umkreis unseres alten Reviers, und Ragno und Zanzara folgten ausgetretenen Wildpfaden. Chavisory und ich nahmen einen alten, vielleicht von Indianern angelegten Weg, der parallel zum Fluss verlief. Er wand sich, senkte sich und stieg dem Wasserlauf entsprechend an. Es schien uns wahrscheinlicher, dass Onions, Kivi und Blomma einen anderen Weg mit besserer Deckung genommen hatten, und dennoch achteten wir auf jede Bewegung oder andere Anzeichen dafür, dass sie hier gewesen wären — wie frische Fußspuren oder abgeknickte Äste. Manchmal versperrte uns dichtes Gebüsch den Weg, und wir wichen ein kurzes Stück auf das ungeschützte Ufer aus. Jeder, der über die hohe Brücke fuhr, die den Highway 150 mit der Stadt verband, hätte uns im Dämmerlicht entdecken können, und ich fragte mich immer wieder, während wir da hergingen, wie wir wohl von so hoch oben aussahen. Wahrscheinlich wie Ameisen oder kleine Kinder, die sich verirrt hatten. Chavisory sang und summte eine wortlose Melodie vor sich hin, vertraut und fremd zugleich.
»Was ist das für ein Lied?«, fragte ich sie, als wir stehen blieben, um unsere Lage zu peilen. Weit flussabwärts drückte ein Schlepper eine Reihe von Schuten auf die Stadt zu. »Chopin, glaube ich.« »Was ist Chopin?« Sie kicherte und wickelte sich eine Haarsträhne um zwei Finger. »Nicht was, du Dummkopf. Chopin hat die Musik komponiert, oder zumindest hat er das gesagt.« »Wer hat das gesagt? Chopin?« Sie lachte laut auf und versteckte ihren Mund hinter der anderen Hand. »Chopin ist tot. Der Junge, der mir das Lied beigebracht hat. Er hat gesagt, Chopin sei Mayonnaise.« »Was ist das für ein Junge? Mein Vorgänger?« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, und sie schaute in die Ferne auf die kleiner werdenden Lastkähne. Selbst im Dämmerlicht konnte ich sehen, dass sie rot geworden war. »Warum willst du es mir nicht sagen? Warum spricht denn keiner über ihn?« »Aniday, wir sprechen nie über Wechselbälger, wenn sie uns erst einmal verlassen haben. Wir versuchen, alles über sie zu vergessen. Es ist nicht gut, Erinnerungen hinterherzulaufen.« In der Ferne gellte ein Schrei, ein kurzes Signal, das uns zur Eile antrieb. Wir unterbrachen unser Gespräch und rannten in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Ragno und Zanzara 151 waren die Ersten, die sie allein und weinend in einer einsamen Klamm fanden. Sie war den halben Tag umhergelaufen, war aber zu verstört und bestürzt, um den Heimweg zu finden. Die anderen Zweiergruppen waren innerhalb weniger Minuten vor Ort, um zu erfahren, was geschehen war. Beka setzte sich neben Onions und drapierte seinen Arm um ihre Schulter. Kivi und Blomma waren fort. Die drei Mädchen hatten den Nebel heranwabern sehen und sich beeilt, in die Stadt zu kommen; als sie die leeren Straßen am Stadtrand erreichten, war er besonders dicht. Die Laternen und beleuchteten Geschäftsschilder durchbrachen die neblige Dunkelheit und dienten ihnen als Leuchtsignale, um sich zurechtzufinden. Blomma hatte den anderen beiden gesagt, sie sollten unbesorgt sein, sie könnten von den Leuten in ihren Häusern nicht gesehen werden. »Wir sind unsichtbar in diesem Nebel«, hatte sie gesagt, und vielleicht war ihr törichtes Vertrauen ihr Untergang. Nachdem sie Zucker, Salz, Mehl und ein Netz mit Orangen aus dem Supermarkt gestohlen hatten, bunkerten sie die Beute in einer Gasse vor dem Drugstore. Sie schlichen sich durch die Hintertür hinein und waren überrascht über all das, was sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatte. »Alles ist anders«, erzählte uns Onions. »Die Eisbar ist weg, der gesamte Tresen und all diese runden Stühle, auf denen man herumwirbeln konnte. Es gibt auch keine Nischen mehr. Keine Theke mit Süßigkeiten und keine großen Gläser mit Bonbons für ein paar Pennys. Stattdessen gibt es jetzt allerhand
anderes. Seife und Shampoo, Schnürsenkel, eine ganze Wand mit Comicheften und Illustrierten. Und eine ganze Reihe von Dingen nur für Babys. Plastikwindeln, die man wegwirft, Babyfläschchen und Milchdosen. Und Hunderte von diesen Gläschen mit pürierter 152 Nahrung, und auf jedem das gleiche Bild des niedlichsten Babys der Welt. Apfelbrei, Birnen und Bananen. Spinat und grüne Bohnen. Süßkartoffeln, die aussehen wie roter Matsch. Und verquirlte Pute und Hühnchen mit Reis. Kivi wollte von allem kosten, und darum waren wir stundenlang dort.« Ich konnte mir die drei bestens vorstellen, wie sie sich mit Blaubeerbrei verschmierten Gesichtern und dicken Bäuchen zwischen den Regalen fläzten, umgeben von Dutzenden leeren Gläschen. Draußen fuhr ein Wagen vor und hielt vor den großen Schaufenstern. Das Licht einer Taschenlampe leuchtete durch die Scheibe, und ihr Strahl tastete langsam das Ladeninnere ab, und als er den Mädchen näher kam und sie aufsprangen, glitten sie in den Pfützen aus Erbsen und Möhrenbrei aus, sodass die Gläschen laut klirrend über den Linoleumboden rollten. Die Vordertür ging auf, und zwei Polizisten traten ein. Einer von ihnen sagte: »Hier, hat er gesagt, müssen sie sein.« Onions brüllte den beiden anderen zu, sie sollten wegrennen, doch Kivi und Blomma rührten sich nicht vom Fleck. Sie standen nebeneinander mitten im Gang mit der Babynahrung, hatten sich bei der Hand genommen und warteten auf die Männer, um sich festnehmen zu lassen. »Ich weiß nicht, warum«, jammerte Onions. »Das war das Schrecklichste, das ich je erlebt habe. Ich habe mich hinter die Männer geschlichen und konnte sehen, wie der Lichtstrahl Kivi und Blomma genau ins Gesicht traf. Sie sahen aus, als warteten sie darauf, dass es geschieht. Der Polizist sagte: >Er hat recht. Hier ist jemand.< Und der andere sagte: >Stehen bleiben.< Kivi kniff die Augen zusammen, und Blomma legte eine Hand auf die Stirn, aber sie sahen überhaupt nicht ängstlich aus. Eher, als wären sie irgendwie froh.« 152 Onions entwischte durch die Tür und lief davon, ohne sich noch weiter um das Diebesgut zu kümmern. Ihr Instinkt setzte ein, und sie rannte durch die leeren Straßen, achtete nicht auf den Verkehr und sah sich nicht ein einziges Mal um. Der Nebel nahm ihr die Orientierung, und sie rannte den ganzen Weg bis zur anderen Seite der Stadt. Schließlich fand sie ein Versteck in einer gelben Scheune, wo sie fast den ganzen Tag abwartete, um sicher nach Hause laufen zu können. Sie schlug einen Weg ein, der alle Straßen umging. Als Ragno und Zanzara sie fanden, war sie völlig erschöpft. »Warum hat der Mann das gesagt?«, fragte Beka sie. »Was hat er gemeint mit >Hier, hat er gesagt, müssen sie sein« »Jemand muss den Polizisten gesagt haben, wo wir waren.« Onions zitterte. »Jemand, der über uns Bescheid weiß.« Beka nahm sie bei den Händen und zog sie vom Boden hoch. »Wer sonst könnte es gewesen sein?« Er schaute mir ins Gesicht, als klagte er mich eines ruchlosen Verbrechens an. »Aber ich habe doch nichts...«
»Nein, du nicht, Aniday«, fauchte er. »Sondern der, der deinen Platz eingenommen hat.« »Chopin«, sagte Chavisory, und einer oder zwei lachten bei diesem Namen, ehe sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatten. Schweigend trotten wir nach Hause und dachten an unsere verschwundenen Freundinnen Kivi und Blomma. Jeder fand einen ganz eigenen Weg zu trauern. Wir holten ihre Puppen aus dem Erdloch und beerdigten sie in einem gemeinsamen Grab. Smaolach und Luchog schichteten zwei Wochen lang einen Steinhaufen auf, während Chavisory und Speck die Habseligkeiten unserer verschwundenen Freundinnen unter uns verbleibenden neun aufteilten. Nur Ragno und Zanzara zeigten sich stoisch 153 und ungerührt, nahmen ihren Anteil an Kleidung und Schuhen entgegen, sagten aber so gut wie nichts. Während dieses ganzen Sommers bis in den Herbst hinein drehten sich unsere Gespräche darum, eine vernünftige Erklärung für die Kapitulation der Mädchen zu rinden. Onions gab ihr Bestes, uns davon zu überzeugen, sie seien verraten worden, und Beka stimmte ihr zu, bestätigte die Verschwörung, argumentierte, die Menschen setzten alles daran, uns einzufangen, und es sei nur eine Frage der Zeit, bis Kivi und Blomma alles geständen. Die Männer in den schwarzen Uniformen würden wieder zurückkommen, die Soldaten, die Polizisten mit ihren Hunden, und sie alle würden uns zur Strecke bringen. Andere vertraten bedächtigere Ansichten. Luchog meinte: »Sie wollten weg, und es war nur eine Frage der Zeit. Ich hoffe nur, dass die armen Dinger in der Welt ein Zuhause finden und nicht in einen Zoo gesteckt werden oder unter dem Mikroskop eines verrückten Wissenschaftlers landen.« Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Sie blieben verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Mehr denn je bestand Beka darauf, dass wir im Dunkeln lebten. Doch ab und zu erlaubte er uns, die Nacht fern von unserem kleiner gewordenen Clan zu verbringen. Wann immer sich in den nächsten Jahren die Möglichkeit bot, stahlen Speck und ich uns fort, um in relativem Frieden und Luxus unter der Bibliothek zu schlafen. Wir stürzten uns auf die Bücher und unsere Aufzeichnungen. Wir lasen die Griechen in Übersetzung, lasen von Klytämnestra in ihrem Schmerz und von Antigone, die die Ehre mit einer dünnen Erdschicht rettet. Von Grendel, der durch die raue dänische Nacht streift. Von den Pilgern von Canterbury und ihrem Wanderleben. Wir beschäftigten uns mit den 153 Maximen von Pope und dem Allzumenschlichen in den Werken Shakespeares, mit Miltons Engeln und Auerochsen, dem großen kleinen Gulliver, den Yahoos. Mit Keats' wilden Verzückungen. Shelleys Frankenstein. Mit Rip van Winkle, der alles verschläft. Speck bestand auf Austen, Eliot, Emerson,Thoreau, den Schwestern Bronte, Aleott, Nesbitt, Rossetti, auf beiden Brownings und insbesondere auf Alice in der Kaninchenhöhle. So
arbeiteten wir uns bis in die Gegenwart vor und fraßen uns durch die Bücher wie zwei Silberfische. Manchmal las Speck mir etwas vor. Oder ich reichte ihr eine Geschichte, die ihr bisher entgangen war, und im Handumdrehen machte sie sie sich zu eigen. Mit Poes »Der Rabe« jagte sie mir ab dem Wort »einst« Angst ein. Mit Thomas Grays ertränkter Katze rührte sie mich zu Tränen. Sie ließ die Hufe dröhnen in »Die Attacke der leichten Brigade« und die Wellen tosen im »Ulysses« von Tennyson. Ich liebte den melodischen Klang ihrer Stimme und sah ihr gerne ins Gesicht, wenn sie las, das ganze Jahr über. Im Sommer tönte die Sonne ihre nackte Haut dunkler und ihr dunkles Haar heller. Wurde es draußen kalt, verschwand sie unter einer Schicht Decken, sodass ich manchmal nur ihre breite Stirn und die dunklen Brauen sah. In Winternächten strahlten ihre Augen in diesem Raum voller Kerzenlicht. Obwohl wir bereits zwanzig Jahre zusammen verbracht hatten, besaß sie noch immer die Fähigkeit, mich zu erschrecken oder zu überraschen und mir mit einem Wort das Herz zu brechen. 154 Kapitel 25 Ich hatte einen Namen, auch wenn mir damals Gustav Ungerland nicht realer erschien als Henry Day. Die einfache Lösung wäre gewesen, Tom Mclnnes aufzuspüren und ihn nach den Einzelheiten zu befragen, die ich unter Hypnose gesagt hatte. Nachdem ich in der Bibliothek auf den Artikel gestoßen war, versuchte ich seinen Autor ausfindig zu machen, hatte aber keinen anderen Anhaltspunkt als die Adresse der Zeitschrift. Mehrere Wochen nachdem er meinen Brief erhalten hatte, antwortete mir der Herausgeber des eingestellten Journal o f Myth and Society, er leite ihn gerne an den Professor weiter, aber ich hörte nichts mehr. Als ich die Universität anrief, sagte mir der Dekan seiner Fakultät, Mclnnes sei an einem Montagmorgen verschwunden, mitten im Semester, und habe keine Adresse hinterlassen. Meine Versuche, Brian Ungerland zu kontaktieren, waren ebenso erfolglos. Ich konnte ja schlecht Tess mit Fragen über ihren ehemaligen Freund löchern. Als ich dann in der Stadt herumfragte, sagte mir jemand, Brian sei in Fort Sill, Oklahoma, bei der Armee und würde lernen, wie man so manches in die Luft jagt. In unserem örtlichen Telefonbuch gab es keine Ungerlands. Zum Glück war ich mit anderem beschäftigt. Tess hatte mir zugeredet, wieder aufs College zu gehen, im Januar würde ich 154 loslegen. Sie veränderte sich, als ich ihr von meinen Plänen erzählte, wurde aufmerksamer und liebevoller. Wir feierten meine Anmeldung, indem wir Geld bei einem Abendessen und bei Weihnachtseinkäufen in der Stadt verprassten. Arm in Arm schlenderten wir durch die Innenstadt. In den Schaufenstern von Kaufmanns Warenhaus spielten bewegliche Figuren endlos immer wieder dieselben Szenen. Der Weihnachtsmann und seine Elfen hämmerten an einem hölzernen Fahrrad. Schlittschuhläufer kreisten für alle Ewigkeit auf einem eisigen Spiegel. Wir blieben stehen und verweilten vor
einer Szene — eine Familie, ein Baby in der Wiege, stolze Eltern, die sich unter Mistelzweigen küssten. Unser Spiegelbild auf der Scheibe legte sich über das häusliche Glück der mechanischen Puppen. »Ist das nicht allerliebst? Schau doch mal, wie lebensecht sie das Baby gemacht haben. Wünschst du dir da nicht selbst eins?« »Na klar, aber nur wenn es so ruhig und brav ist wie dieses da.« Wir spazierten durch den Park, wo eine bunt gemischte Kinderschar an einem Stand für heiße Schokolade Schlange stand. Wir kauften uns zwei Tassen und setzten uns auf eine kalte Bank. »Du magst doch Kinder, oder?« »Kinder? Darüber denke ich nie nach.« »Aber hättest du nicht gerne einen Sohn, mit dem du zelten gehen, oder eine Tochter, die du dein eigen nennen könntest?« »Mein eigen nennen? Kinder gehören einem nicht.« »Manchmal nimmst du die Dinge wirklich zu wörtlich.« »Ich denke nicht...« »Nein, tust du nicht. Die meisten Leute bekommen Anspielungen mit, aber du schwebst in einer anderen Dimension.« 155 Natürlich wusste ich, was sie meinte. Was ich nicht wusste, war, ob es mir möglich sein würde, ein richtiges menschliches Kind zu zeugen. Würde es halb Mensch und halb Kobold sein? Ein Monster? Ein grauenerregendes Wesen mit riesigem Kopf und winzigem Körper oder mit toten Augen, die unter einem Sonnenhütchen hervorstarrten? Oder ein unheilvolles Wesen, das sich gegen mich richten und mein Geheimnis offenbaren würde? Doch Tess' warme Hand auf meinem Arm hatte einen merkwürdigen Einfluss auf mein Bewusstsein. Ein Teil von mir verspürte den Wunsch, mich von der Last der Vergangenheit zu befreien, und ihr alles über Gustav Ungerland und mein Leben im Wald zu erzählen. Doch andererseits war so viel Zeit seit meinem Wechsel vergangen, dass ich zuweilen selbst an jenem Leben zweifelte. All meine Kräfte und Fähigkeiten, die ich vor einem Menschenleben gelernt hatte, waren mir abhanden gekommen, hatten sich verloren, während ich endlos Klavier gespielt hatte, waren verblasst im Komfort warmer Betten, gemütlicher Wohnzimmer und in der Gegenwart dieser wunderbaren Frau. Ist die Vergangenheit ebenso real wie die Gegenwart? Vielleicht wünsche ich mir, ich hätte alles erzählt, und die Wahrheit hätte Einfluss auf den Verlauf meines Lebens gehabt. Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich sehr gut an mein Gefühl an jenem Abend, an diese Mischung aus großer Hoffnung und tiefgründigen bösen Vorahnungen. Tess beobachtete Kinder, die auf einer improvisierten Eisbahn Schlittschuh liefen. Sie pustete auf die heiße Schokolade und blies den Dampf in die Luft. »Ich wollte schon immer ein Baby.« Ausnahmsweise verstand ich einmal, was ein anderer mir zu sagen versuchte. Zur Melodie von Vogelgezwitscher, die sich har 155 monisch mit dem Lachen der Kinder unter dem Sternenhimmel vereinte, fragte ich sie, ob sie mich heiraten wolle.
Wir warteten bis zum Ende des Frühlingssemesters und wurden im Mai 1968 in derselben Kirche getraut, wo Henry Day als Kind getauft worden war. Als ich vor dem Altar stand, fühlte ich mich wieder beinahe wie ein richtiger Mensch, und in unseren Gelöbnissen klang die Möglichkeit eines Happy Ends an. Als wir den Mittelgang entlang schritten, erkannte ich in den lächelnden Gesichtern all unserer Freunde und Familienmitglieder eine arglose Freude für Mr. und Mrs. Henry Day. Während der Zeremonie war ich halb darauf gefasst gewesen, dass, wenn sich die Doppeltür zum Tageslicht öffnete, dort eine Truppe von Wechselbälgern stehen würde, um mich wegzuschleppen. Ich gab mir größte Mühe, meine Vergangenheit zu vergessen und den Gedanken, dass ich ein Schwindler war, zu verbannen. Beim Empfang waren meine Mutter und Onkel Charlie die Ersten, die uns beglückwünschten, und sie hatten nicht nur die Feier bezahlt, sondern schenkten uns auch noch Flitterwochen in Europa. Während wir in Deutschland waren, sollten sie gemeinsam durchbrennen, doch an diesem Nachmittag kam es mir seltsam vor, ihn an ihrer Seite zu sehen, wo doch eigentlich Bill Day hätte stehen sollen. Die Sehnsucht nach meinem Vater verflüchtigte sich, denn wir ließen die Vergangenheit hinter uns und forderten das Leben ein. Es sollte sich so vieles ändern im Laufe der nächsten Jahre. Wenige Wochen nach unserer Hochzeit verließ George Knoll die Stadt, um ein Jahr lang kreuz und quer durchs Land zu wandern und schließlich in San Francisco zu landen, wo er mit einer älteren Spanierin ein Straßenbistro eröffnete. Da Oscar nun auf die Coverboys verzichten musste, 156 kaufte er in diesem Herbst eine Jukebox, und die Gäste strömten noch immer in Scharen herein, um etwas zu trinken und Popmusik zu hören. Jimmy Cummings übernahm meinen alten Job hinterm Tresen. Selbst meine kleinen Schwestern waren nun erwachsen. Mary und Elizabeth brachten ihre neuesten Freunde, langhaarige Zwillinge, mit zum Empfang, und als unsere Party in vollem Gange war, gab Onkel Charlie den Gästen sein neuestes Projekt zum Besten. »Diese Häuser oben auf dem Bergkamm sind nur der Anfang. Die Leute wollen nicht bloß aus den Städten ziehen; sie wollen so weit wie möglich raus ziehen. Mein Unternehmen sitzt auf einer Goldgrube in diesem Landkreis.« Meine Mutter tänzelte an seine Seite, und er legte einen Arm um ihre Taille und ließ die Hand auf ihrer Hüfte ruhen. »Als ich gehört habe, dass es oben im Wald Probleme gegeben hat und dass die National Guard hingeschickt wurde, tja, da war mein erster Gedanke, würde die Regierung da erst einmal die Sache abgeschlossen haben, würde das Land spottbillig sein.« Sie lachte so freudig über seinen Satz, dass ich zurückschreckte. Tess zwickte mich in den Arm, damit ich nicht aussprach, was ich dachte. »Landleben. Moderate Preise, sicher und geborgen, perfekt für junge Paare, die eine Familie gründen wollen.« Wie aufs Stichwort sahen er und meine Mutter auf Tess' Bauch. Sie waren schon ganz erwartungsvoll.
Unwissenheit heuchelnd, fragte Elizabeth: »Und wie steht es mit euch beiden, Onkel Charlie?« Tess piekste mich in den Hintern, und mir entfuhr ein leiser Juchzer, gerade als Jimmy Cummings zu uns trat. »Mann, ich würde da oben nicht wohnen wollen.« 157 »Natürlich nicht, Jimmy«, entgegnete Mary. »Nach all dem, was du da im Wald durchgemacht hast.« »Irgendetwas ist da oben«, meinte er zu den anderen. »Habt ihr von den Gerüchten über diese beiden wilden Mädchen gehört, die man vor kurzem nachts aufgegriffen hat?« Die Gäste wandten sich ab und begannen sich über andere Themen zu unterhalten. Seit Jimmy den kleinen Oscar Love gerettet hatte, ging ihm der Ruf voraus, er erzähle immer wieder dieselbe langweilige Geschichte, wobei er einige Details stark übertrieb, bis sie zu einem unglaublichen Märchen geworden war. Da er immer wieder eine neue Version vom Stapel ließ, wurde er bald zum bloß Aufmerksamkeit heischenden Märchenerzähler abgestempelt. »Nein, wirklich«, sagte er zu uns wenigen, die stehen geblieben waren. »Ich habe gehört, der örtliche Bulle hat diese beiden Mädchen gefunden, etwa sechs oder sieben Jahre alt. Sie sollen mitten in der Nacht in den Drugstore eingebrochen sein und alles, was ihnen in die Finger gekommen ist, zerdeppert haben. Die Polizisten hatten Angst vor den beiden, haben gesagt, sie seien schreckhaft wie Katzen. Mann, sie konnten kaum ein Wort Englisch oder irgendeine andere bekannte Sprache. Überlegt doch mal. Sie haben oben im Wald gelebt — erinnert ihr euch an die Stelle, wo ich Oscar gefunden habe? Vielleicht gibt es da noch mehr. Macht euch das mal klar. So etwas wie ein ganzer vergessener Stamm wilder Kinder. Das ist vielleicht ein Trip, Mann.« Elizabeth sah mich an, als sie ihn fragte: » Was ist mit ihnen geschehen? Wo sind diese beiden Mädchen jetzt?« »Ich will kein Gerücht bestätigen oder dementieren«, meinte er. »Und ich habe sie noch nicht mit eigenen Augen gesehen, aber das muss ich gar nicht. Habt ihr gewusst, dass das FBI gekom 157 men ist und sie mitgenommen hat? Nach Washington, D.C., in seine geheimen Labors, um sie zu untersuchen.« Ich wandte mich an Oscar, der mit offenem Mund dastand und Jimmy zuhörte. »Bist du sicher, dass du diesen Jungen an deinem Tresen willst, Oscar? Hört sich so an, als hätte er den Shaker ein bisschen zu kräftig geschüttelt.« Jimmy drängte sein Gesicht an meines und zischelte mir zu: »Weißt du, was das Problem mit dir ist, Henry? Du hast keine Phantasie. Aber sie sind da oben, Mann. Du solltest es verdammt noch mal glauben.« Während des Flugs nach Deutschland unterbrachen Träume von Wechselbälgern das bisschen Schlaf, das ich im Flugzeug zustande brachte. Als Tess und ich im feuchttrüben Frankfurt landeten, hatten wir zwei
unterschiedliche Erwartungen an unsere Flitterwochen. Die Arme, sie wollte Abenteuer, Spannung und Romantik. Zwei junge Liebende, die durch Europa reisen. Bistros, Wein und Käse, Spritztouren mit dem Motorrad. Ich suchte nach einem Gespenst und nach Beweisen für meine Vergangenheit, aber das, was ich wusste, hatte auf einer Cocktailserviette Platz: Gustav Ungerland, 1859, Eger. Auf der Stelle verunsichert durch diese Stadt, fanden wir ein kleines Zimmer in einer Pension in der Mendelssohnstraße. Wie betäubt waren wir von dem rußig schwarzen, elefantösen Hauptbahnhof, der Stunde für Stunde Züge ausspie, und der hinter ihm wieder auferstandenen Stadt, den neuen Hochhäusern aus Stahl und Beton, die sich aus der Asche der Ruinen erhoben hatten. Überall waren Amerikaner. Soldaten, die das große Glück hatten, ihre Pflicht an der Grenze nach Osteuropa erfüllen zu können, statt in Vietnam kämpfen zu müssen. Ausgemergelte 158 Gestalten an der Konstablerwache, die sich am helllichten Tag einen Schuss setzten oder uns um unser mageres Kleingeld anbettelten. In unserer ersten gemeinsamen Woche fühlten wir uns zwischen den Soldaten und Junkies völlig fehl am Platz. Am Sonntag schlenderten wir zum Römer, einer Pappmacheversion der mittelalterlichen Altstadt, die von den Alliierten in den letzten Kriegsmonaten zerbombt worden war. Zum erstenmal auf dieser Reise war das Wetter klar und sonnig, und wir hatten unseren Spaß auf einer Frühlingskirmes. Auf dem Karussell in der Mitte des Volksfests ritt Tess auf einem Zebra und ich auf einem Greif; dann saßen wir nach dem Mittagessen Händchen haltend in einem Café, als umherziehende Straßenmusikanten, ein Quartett, ein Lied für uns spielten. Als hätten die Flitterwochen nun endlich begonnen, wurde unser winziges Zimmer, als wir uns in dieser Nacht liebten, zu einem behaglichen Paradies. »Das entspricht schon eher dem«, flüsterte sie im Dunkeln, »wie ich mir unser Zusammensein vorgestellt habe. Ich wünschte, jeder Tag könnte so sein wie heute.« Ich setzte mich auf und zündete eine Camel an. »Dabei habe ich überlegt, ob wir vielleicht morgen jeder seiner eigenen Wege gehen könnten. Du weißt schon, Zeit für sich haben. Denk doch nur, über wie vieles mehr wir reden können, wenn wir uns später wiedersehen. Es gibt ein paar Dinge, die ich gerne tun möchte und die für dich sicher nicht interessant sind. Darum dachte ich, ich könnte vielleicht etwas früher aufstehen und sie erledigen, und wahrscheinlich bin ich schon zurück, wenn du aufwachst. Ich möchte die Deutsche Bibliothek besichtigen. Du würdest dich tödlich langweilen.« »Nun mal ganz ruhig, Henry.« Sie rollte sich weg und starrte 158 die Wand an. »Das klingt ja großartig. So wie: Ich habe es ein wenig satt, jede Minute mit dir zu verbringen.« Ich brauchte den ganzen Morgen, um die richtige Straßenbahn zu finden, dann die richtigen Straßen und die Adresse der Deutschen Bibliothek und dann
noch einmal eine Stunde, bis ich die Kartensammlung ausfindig gemacht hatte. Eine charmante junge Bibliothekarin mit brauchbarem Englisch half mir mit dem historischen Atlas und den anscheinend tausendfachen Grenzverschiebungen, die hunderte Jahre Krieg und Frieden mit sich gebracht hatten, von den letzten Tagen des Heiligen Römischen Reichs über den Reichstag der hessischen Fürstentümer bis hin zu den Teilungen am Ende beider Weltkriege. Sie war verunsichert, wollte sich aber nicht geschlagen geben. »Wissen Sie«, fragte sie mich schließlich, »ob es vielleicht in Ostdeutschland liegt?« Ich warf einen Blick auf meine Uhr und sah, dass es bereits kurz nach halb fünf am Nachmittag war. Die Bibliothek schloss um fünf, und mich würde eine wütende junge Ehefrau erwarten. Sie suchte die Karte ab. »Ach, jetzt hab ich's. Es ist ein Fluss, keine Stadt. Eger hier an der Grenze.« Sie deutete auf einen Punkt, an dem Cheb (Eger) stand. »Die Stadt, die Sie suchen, heißt nicht mehr Eger, und sie liegt nicht in Deutschland, sondern in der Tschechoslowakei.« Sie leckte an ihrem Finger und blätterte im Atlas zurück, um eine andere Karte aufzuschlagen. »Böhmen. Sehen Sie hier, 1859 war all das Böhmen, von hier bis hier. Und Eger genau da. Ich muss gestehen, der alte Name gefällt mir viel besser.« Lächelnd legte sie mir die Hand auf die Schulter. »Aber wir haben es gefunden. Ein Ort mit zwei Namen. Eger ist Cheb.« »Und wie komme ich in die Tschechoslowakei?« 159 »Wenn Sie nicht die richtigen Papiere haben, gar nicht.« Sie sah mir meine Enttäuschung an. »Sagen Sie mir, was ist so wichtig an Cheb?« »Ich suche nach meinem Vater«, erwiderte ich. »Gustav Ungerland.« Das Strahlen in ihrem Gesicht erlosch. Sie sah auf den Boden zwischen ihren Füßen. »Ungerland. Ist er ihm Krieg gefallen? Hat man ihn ins Lager geschickt?« »Nein, nein. Wir sind katholisch. Er stammt aus Eger, ich meine, Cheb. Das heißt, seine Familie. Sie sind im letzten Jahrhundert nach Amerika ausgewandert.« »Sie könnten es vielleicht mit den Kirchenbüchern versuchen, wenn Sie hineinkommen.« Sie hob eine ihrer dunklen Augenbrauen. »Es gibt da vielleicht eine Möglichkeit.« Wir tranken ein paar Gläser in einem Café, und sie erzählte mir, wie man die Grenze überquert, ohne entdeckt zu werden. Als ich spät an diesem Abend auf dem Rückweg zur Mendelssohnstraße war, dachte ich mir eine Geschichte aus, die meine lange Abwesenheit erklären sollte. Tess schlief, als ich nach zehn ins Zimmer kam, und ich schlüpfte neben ihr ins Bett. Sie schreckte auf, rollte sich dann zu mir und sah mich vom Kopfkissen aus an. »Tut mir leid. Bin in der Bibliothek verloren gegangen.« Ihr vom Mond beschienenes Gesicht sah verquollen aus, als hätte sie geweint. »Ich möchte raus aus dieser grauen Stadt und das Land sehen. Wandern gehen, unter den Sternen schlafen. Möchte echte Deutsche kennen lernen.«
»Ich weiß einen Ort«, flüsterte ich. »Mit vielen alten Schlössern und dunklen Wäldern nahe der Grenze. Lass uns da herumschleichen und all ihre Geheimnisse entdecken.« 160 Kapitel 26 Der Vormittag ist mir bestens in Erinnerung, ein Spätsommertag, dessen blauer Himmel die bevorstehende herbstliche Frische ahnen ließ. Speck und ich waren ganz nah beieinander in einem Büchermeer erwacht und hatten dann die Bibliothek zu einer dieser magischen leeren Zeiten verlassen, zu denen sich Eltern zur Arbeit oder Kinder zur Schule aufmachen und ehe die Geschäfte und Firmen ihre Pforten öffneten. Laut meinem Steinkalender waren fünf lange, elende Jahre vergangen, seit unser kleiner gewordener Stamm in das neue Zuhause übergesiedelt war, und wir waren der Finsternis mittlerweile überdrüssig. Jeder Moment außerhalb des Bergwerks hellte unweigerlich Specks Laune auf, und als ich an diesem Morgen als Erstes ihr friedvolles Gesicht sah, sehnte ich mich danach, ihr zu sagen, wie sehr sie mein Herz zum Klopfen bringe. Aber ich habe es nie getan. In diesem Sinne schien der Tag wie jeder andere, aber es sollte ein ganz besonderer Tag werden. Uber unseren Köpfen zog ein Jet einen Dunststreifen hinter sich her, der vor der Septemberblässe ganz weiß war. Wir fielen in den Gleichschritt und sprachen über unsere Bücher. Vor uns zeigten sich kurz Schatten zwischen den Bäumen, eine leichte Brise wehte, und ein paar Blätter trudelten zu Boden. Einen Mo 160 ment lang schien es mir, als spielten vorne auf dem Weg in einem Sonnenflecken Kivi und Blomma. Das Trugbild löste sich sehr rasch auf, aber die Sinnestäuschung durch das Licht rief das Geheimnis, das hinter ihrem Verschwinden lag, in Erinnerung, und ich erzählte Speck von meiner kurzen Erscheinung unserer fehlenden Freundinnen. Ich wollte von ihr wissen, ob sie sich je die Frage gestellt habe, ob die beiden wirklich geschnappt werden wollten. Speck blieb am Rande der Deckung vor der freien, ungeschützten Fläche stehen, die zum Eingang des Bergwerks führte. Der lose Schiefer unter ihren Füßen rutschte und knirschte. Ein fahler Mond stand schon am wolkenlosen Himmel, und bevor wir uns vorsichtig an den Aufstieg machten, warfen wir einen Blick in die Luft, ob uns vielleicht ein Flugzeug entdecken könnte. Sie zerrte an meiner Schulter und wirbelte mich so rasch herum, dass ich höchste Gefahr fürchtete. Sie starrte mir in die Augen. »Du versteht es nicht, Aniday. Kivi und Blomma konnten es keinen Augenblick länger ertragen. Sie haben sich verzweifelt nach der anderen Seite gesehnt. Danach, bei denen zu sein, die im Licht und in der überirdischen Welt leben, nach einer richtigen Familie, nach richtigen Freunden. Willst du denn nicht auch immer weglaufen, willst du denn nicht auch als Kind von Menschen zurück in die Welt? Oder mit mir weggehen?« Ihre Fragen quollen wie Zucker aus einer geplatzten Tüte. Die Vergangenheit hatte mich nicht mehr so fest im Griff, und die Albträume über jene Welt
hatten aufgehört. Erst als ich mich daranmachte, dieses Buch zu schreiben, kehrten die Erinnerungen zurück, wie frisch poliert. Aber an jenem Morgen fand mein Leben dort statt. Mit ihr. Ich sah ihr in die Augen, aber sie 161 schien tief in Gedanken, als könnte sie nicht mich vor ihr sehen, sondern nur einen entfernten Raum und eine Zeit, die in ihrer Phantasie lebendig waren. Ich hatte mich in sie verliebt. Und in diesem Moment formten sich die Worte, und das Geständnis drängte hin zu meinen Lippen. »Speck, ich muss dir etwas ... « »Warte. Hör doch.« Das Geräusch umfing uns: ein leises Rumpeln aus dem Innern des Bergs, das im Zickzack über den Boden lief, hin zu der Stelle, wo wir standen, sodass es unter unseren Füßen vibrierte, bis es sich fächerartig im Wald ausbreitete. Im nächsten Augenblick ein Krachen und Purzeln, gedämpft von der Erdoberfläche. Mit einem Seufzer stürzte der Grund in sich zusammen. Sie griff nach meiner Hand und zog mich mit, als sie blitzgeschwind zum Eingang des Bergwerks rannte. Aus dem Spalt stieg eine Staubwolke auf, so wie es an einem Winterabend sanft aus einem Kamin raucht. Kurz vor dem Eingang wurde der Staub immer dichter und ätzender und nahm uns den Atem. Wir versuchten, uns hindurchzukämpfen, mussten aber im Windschatten abwarten, bis der Qualm abzog. Aus dem Innern des Spalts entwich ein Quäken, das in der Luft verebbte. Ehe der Ruß niederging, tauchte der Erste auf. Eine einzelne Hand umschloss den Rand des Felsens, dann die andere, und der Kopf, der den Körper ins Freie schleppte, stieß hindurch. Im fahlen Licht rannten wir durch die Wolke zu dem hingestreckten Körper. Speck drehte ihn mit dem Fuß um: Beka. Kurz darauf folgte Onions, keuchend und japsend, warf sich neben ihm zu Boden und legte ihren Arm um seine Brust. Speck beugte sich hinunter, fragte: »Ist er tot?« »Einsturz«, flüsterte Onions. »Gibt es Überlebende?« 3°3 »Weiß ich nicht.« Sie strich Beka die dreckigen Haare aus seinen blinzelnden Augen. Wir zwangen uns, in das finstere Bergwerk zu steigen. Speck tastete nach dem Feuerstein, schlug ihn an und setzte die Fackeln in Brand. Das flammende Licht reflektierte Partikelchen, die in der Luft schwebten und sich wie Sediment in einem Glas, in dem man gerührt hat, setzten. Ich rief nach den anderen, und mein Herz klopfte wie wild vor Hoffnung, als eine Stimme antwortete: »Hier drüben, hier drüben!« Als bewegten wir uns durch einen schneeigen Albtraum, folgten wir der Stimme den Hauptstollen entlang und bogen nach links in die Kammer, wo die meisten des Clans für gewöhnlich die Nacht verbrachten. Luchog stand an der Schwelle, feiner Schluff hing in seinen Haaren, klebte an seiner Haut und an seinen Kleidern. Seine Augen strahlten klar und feucht, und auf seinem schmutzigen Gesicht hatten Tränen ihre nassen Spuren hinterlassen. Seine Finger, rot und aufgesprungen, zitterten, als er auf uns wartete. Ascheteilchen schwebten im Lichtschein der Fackeln. Ich konnte Smaolachs breiten Rücken erkennen, der dort, wo zuvor unser
Schlafraum war, vor einer Wand aus Geröll stand. In rasender Geschwindigkeit schleuderte er Steine beiseite, versuchte, Stück für Stück den Berg abzutragen. Ich sah niemanden sonst. Rasch gingen wir ihm zur Hand, zerrten Trümmer vom Wall, der sich bis zur Decke türmte. »Was ist passiert?«, fragte Speck. »Sie sitzen in der Falle«, erwiderte Luchog. »Smaolach meint, er habe Stimmen von der anderen Seite gehört. Ganz plötzlich ist die Decke eingestürzt. Wir wären auch drunter, hätte ich nicht heute früh nach dem Aufwachen das unbändige Verlangen nach einer Zigarette gehabt.« 162 »Beka und Onions sind bereits raus. Wir haben sie draußen gesehen«, sagte ich. »Seid ihr da?«, fragte Speck den Felsen. »Haltet durch, wir holen euch da raus.« Wir gruben, bis sich eine Öffnung ergab, groß genug, dass Smaolach seinen Arm bis zum Ellbogen hindurchstecken konnte. Unter Hochdruck arbeiteten wir weiter, schleppten Steinbrocken beiseite, bis Luchog durch das Loch krabbeln konnte und verschwand. Wir anderen drei hielten inne und warteten — endlos, wie uns schien — auf ein Geräusch. Schließlich rief Speck durch die Öffnung: »Maus, siehst du was?« »Grabt weiter«, brüllte er zurück. »Ich kann Atemgeräusche hören.« Ohne ein Wort lief Speck plötzlich davon, und Smaolach und ich strengten uns weiter an, das Loch zu vergrößern. Auf der anderen Seite hörten wir Luchog, der durch den Stollen krabbelte wie ein kleines Tier in den Wänden eines Hauses. Alle paar Minuten murmelte er jemandem aufmunternde Worte zu, dann ermahnte er uns, weiterzugraben, und verzweifelt arbeiteten wir noch besessener, mit brennenden Muskeln und staubtrockenen Kehlen. So unvermittelt, wie sie verschwunden war, tauchte Speck plötzlich wieder auf, mit einer zweiten Fackel in der Hand, damit mehr Licht auf unsere Arbeit fiele. Mit wutverzerrtem Gesicht packt sie einen Stein. »Beka, dieser Mistkerl«, zischte sie. »Sie sind weg. Hilft keinem außer sich selbst.« Nachdem wir so viel Geröll abgetragen hatten, dass das Loch groß genug war, schob ich mich hindurch. Beinahe wäre ich auf dem Gesicht gelandet, wenn Luchog meinen Fall nicht gebremst hätte. »Hierher«, sagte er leise, und wir beugten uns beide über die auf dem Rücken liegende Gestalt. Halb unter Gesteinsbro 162 cken begraben lag Chavisory da, sie rührte sich nicht und fühlte sich kalt an. Völlig mit Asche bestäubt, sah sie aus wie ein Geist, und ihr Atem roch sauer nach Tod. »Sie lebt«, raunte mir Luchog zu. »Aber nur gerade eben noch. Ich glaube, ihre Beine sind gebrochen. Ich kann diese dicken Brocken nicht allein heben.« Sein Gesicht war von Angst und Erschöpfung gezeichnet. »Du musst mir helfen.«
Stein für Stein räumten wir sie frei. Unter dem Gewicht des letzten Trümmerbrockens ächzend, fragte ich ihn: »Hast du Ragno und Zanzara gesehen? Sind sie heil hier rausgekommen?« »Keine Spur von ihnen.« Er deutete nach hinten auf unsere Schlafecken, die nun unter einer Tonne Stein verschüttet waren. Die Jungen mussten dort geschlafen haben, als die Decke einstürzte, und ich betete, dass sie nicht wach geworden und so leicht vom Schlaf in den Tod hinübergegangen waren, als hätten sie sich in ihren Betten umgedreht. Doch wir mussten unentwegt an sie denken. Die Möglichkeit, dass weitere Stollen einstürzen könnten, trieb uns zur Eile an. Chavisory stöhnte, als wir den letzten Brocken von ihrem linken Knöchel beiseite räumten, ein offener Bruch, die Knochen und die Haut aufgerissen und breiig. Ihr Fuß knickte in einem üblen Winkel ab, als wir sie hochhoben, und ihr Blut hinterließ eine dicke glitschige Schicht auf unseren Händen. Bei jedem Schritt schrie sie auf, und sie verlor das Bewusstsein, als wir uns hoch zum Stollen durchkämpften, halb hoben wir sie, halb schoben wir sie hindurch. Als Smaolach ihr Bein sah, der Knochen hatte sich durch die Haut gebohrt, drehte er sich weg und kotzte in die Ecke. Als wir uns vor der letzten Anstrengung kurz ausruhten, fragte Speck: »Hat sonst noch jemand überlebt?« »Ich glaube, nicht«, antwortete ich ihr. 163 Sie schloss einen Moment die Augen, dann gab sie Anweisungen, wie wir schnell diesem Ort entrinnen konnten. Der schwierigste Part war, aus dem Bergwerk herauszukommen, und Chavisory kam zu sich und schrie, als wir sie durch den Spalt quetschten. In diesem Augenblick wünschte ich mir, wir wären alle im Stollen gewesen, hätten alle nebeneinander geschlafen, wären alle für immer verschüttet, und unser Leid hätte ein Ende. Erschöpft legten wir sie vorsichtig auf den Hang. Keiner von uns wusste, was er tun, sagen oder denken sollte. Ein weiter Einsturz erschütterte den Berg, und das Bergwerk stieß wie ein sterbender Drache ein letztes Röcheln aus. Vom Kummer matt und verstört, warteten wir auf den Anbruch der Nacht. Niemand von uns dachte daran, dass die Bewohner der Stadt den Einsturz womöglich gehört hatten oder dass er möglicherweise die Menschen dazu bewegte, Nachforschungen anzustellen. Als Erster entdeckte Luchog den Lichtpunkt, ein kleines Feuer, das an der Baumgrenze brannte. Ohne zu zögern oder zu diskutieren, hoben wir vier Chavisory auf unsere zu einer Trage verschränkten Arme und liefen dem Licht entgegen. Obwohl wir Sorge hatten, dieses Feuer könnte von Fremden entzündet worden sein, entschieden wir, es wäre letztendlich wichtiger, dass uns geholfen würde. Vorsichtig balancierten wir über das Schiefergestein, was der armen Chavisory noch mehr Schmerzen bereitete, doch wir hofften, dass am Feuer ein Platz für uns wäre, wo wir der kriechenden Kälte der Nacht entkommen und ihre Wunden verbinden könnten. Der Wind brauste durch die knotigen Baumwipfel und schüttelte die oberen Äste wie klappernde Finger. Beka hatte das Feuer gemacht. Er entschuldigte
sich nicht und gab auch keinerlei Erklärungen ab, auf unsere Fragen brummte er nur wie ein alter 164 Bär, dann schlurfte er davon, um allein zu sein. Onions und Speck bastelten eine Schiene für Chavisorys gebrochenen Knöchel, die sie mit Luchogs Jacke festbanden. Dann bedeckten sie ihre Freundin mit Laub und schmiegten sich die ganze Nacht an sie, um sie zu wärmen. Smaolach ging weg, um nach langer Zeit mit einem wassergefüllten Kürbis wiederzukommen. Wir saßen da, starrten ins Feuer, zogen uns den getrockneten Dreck aus den Haaren, klopften ihn von den Kleidern und warteten darauf, dass die Sonne aufging. In diesen stillen Stunden betrauerten wir unsere Toten. Ragno und Zanzara waren ebenso von uns gegangen wie Kivi und Blomma und Igel. Statt der strahlenden Glut der frühen Morgenstunde setzte ein stetiger Nieselregen ein. Nur das gelegentliche Zwitschern eines einsamen Vogels zeigte an, dass die Zeit verstrich. Gegen Mittag durchbrach ein gellender Schmerzensschrei die Stille. Chavisory erwachte und mit ihr der Schmerz, sie verfluchte den Felsen, das Bergwerk, Beka und uns alle. Wir konnten ihre angsterfüllten Schreie nicht zum Schweigen bringen, bis Speck ihre Hand nahm und sie durch unentwegtes Bemühen dazu brachte, still zu sein. Wir anderen sahen nicht zu ihr hin, warfen uns aber heimliche Blicke zu, sahen in unsere maskenhafte Gesichter voll Überdruss und Leid. Wir waren jetzt sieben. Ich musste zweimal zählen, bis ich es glauben konnte. 164 Kapitel 27 Tess musste nicht dazu überredet werden, über die Grenze zu schleichen, der Gedanke an einen Gesetzesverstoß versetzte unseren Flitterwochen sogar einen erotischen Kick. Je näher wir der Tschechoslowakei kamen, desto ausgelassener wurde unser Sex. Am Tag, für den wir unsere heimliche Grenzüberschreitung geplant hatten, hielt sie mich bis weit in den Vormittag im Bett fest. Ihr Begehren nährte meine Neugierde auf mein geheimes Erbe. Ich wollte unbedingt wissen, woher ich stammte, wer ich gewesen war. Bei jedem Schritt auf unserem Weg hatte ich das Gefühl heimzukehren. Die Landschaft erschien mir vertraut und wie aus meinen Träumen bekannt, als wären die Bäume, Seen und Berge immer schon tief in meinen Sinnen verankert. Die Fachwerkhäuser sahen genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte, und auch die Leute in den Restaurants und Cafés schienen mir mit ihren kräftigen Körpern, fein gemeißelten Zügen, klaren blauen Augen und üppigem blonden Haar vertraut. Ihre Gesichter lockten mich noch mehr nach Böhmen. Wir beschlossen, beim deutschen Grenzort Hohenberg das verbotene Land zu betreten. Seit der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1222 war die Burg in der Mitte des Orts mehrere Male zerstört und wieder 164 aufgebaut worden, zuletzt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. An einem sonnigen Samstag hatten Tess und ich das Städtchen fast für uns allein, nur eine junge deutsche Familie mit kleinen Kindern folgte uns von Gebäude zu
Gebäude. Sie holten uns an den unebenen weißen Wällen ein, die sich um die hintere Stadtgrenze ziehen, ein Wehrgang gegen Angriffe aus dem Wald und von der Eger auf der anderen Seite. »Pardon me«, sagte die Mutter zu Tess auf Englisch. »You are American, right? Would you take a photograph? Of my family, on my camera?« Dass wir so leicht als Amerikaner zu erkennen waren, irritierte mich. Tess lächelte mir zu, nahm ihren Rucksack ab und legte ihn auf den Boden. Die sechsköpfige Familie baute sich vor einer der alten Brustwehren auf. Die Kinder hätten meine Brüder und Schwestern sein können, so ähnlich sahen sie mir, und während sie posierten, packte mich der Gedanke, dass ich einst Teil einer solchen Familie gewesen war, dann verflüchtigte er sich wieder. Tess machte einige Schritte nach rückwärts, um sie alle aufs Bild zu bekommen, als die kleinen Kinder plötzlich schrien: »Vorsicht, der Igel! Der Igel!« Der Junge, der sicher nicht älter als fünf war, lief mit einem wilden Ausdruck in seinen blauen Augen direkt auf Tess zu. Vor ihren Füßen blieb er stehen, griff zwischen ihren Knöcheln hindurch in ein kleines Blumenbeet und schaufelte mit seinen Händchen etwas vorsichtig in die Höhe. »Was hast du da?« Tess beugte sich zu ihm hinunter. Er öffnete seine Hände, und ein Igel krabbelte über seine Finger. Alle lachten über das kleine Drama, dass Tess beinahe auf das stachlige Junge getreten wäre, aber ich zitterte so sehr, dass ich kaum in der Lage war, mir eine Zigarette anzuzünden. Igel. 165 Seit zwanzig Jahren hatte ich diesen Namen nicht mehr gehört. Sie alle hatten Namen getragen, ich hatte sie nicht ganz vergessen. Ich berührte Tess, um die Erinnerung aus meinem Kopf zu vertreiben. Nachdem die Familie sich verabschiedet hatte, liefen wir der Karte nach zu den Wanderwegen hinter der Burg. Auf einem Pfad stießen wir auf eine kleine Höhle und davor Anzeichen eines Feldlagers, das für mich wie ein aufgegebener Kreis aussah. Rasch führte ich uns nach Osten und hügelabwärts in den dichten Wald. Unser Weg endete an einer zweispurigen Straße ohne jeden Verkehr. An der Kurve wies ein Schild, auf dem EGER STEG stand, nach rechts zu einem Feldweg. Und wir kamen zu trägen Stromschnellen eines Flusses, der nicht viel mehr war als ein breiter, aber seichter Wasserlauf. Die Wälder auf dem gegenüberliegenden Ufer gehörten zur Tschechoslowakei, und dahinter in den Bergen lag Cheb. Keine Menschenseele war zu sehen, und die Grenze war — vielleicht wegen des Flusses oder der Berge — nicht mit Stacheldraht gesichert. Tess nahm mich bei der Hand, und wir gingen hinüber. Die Steinbrocken, die aus dem Wasser ragten, boten uns einen sicheren Tritt, dennoch mussten wie auf unsere Schritte achten. Als wir die tschechische Seite erreichten, jagte mir ein Schauer durch den Körper. Wir hatten es geschafft. Ich war zu Hause angekommen oder zumindest beinahe. In diesem Augenblick war ich bereit, den Wechsel zu vollziehen — oder zurückzuwechseln — und auf meine wahre Identität zu pochen. Tess und ich hatten uns an diesem Morgen bestmöglich getarnt, hatten unseren Haaren und Kleidern eine europäische Nachlässigkeit verliehen, und doch fürchtete ich, man könnte
unsere List durchschauen. Rückblickend hätte ich mir nicht solche Sorgen machen 3» brauchen, denn 1968 war das Jahr des Prager Frühlings, als Dubcek versuchte, den überraschten Tschechen und Slowaken einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu bieten. Die russischen Panzer sollten erst im August anrollen. Tess genoss die Gefahr unseres Grenzübertritts und schlich wie ein entlaufener Häftling über den mit Laub bedeckten Boden. Ich versuchte, mit ihr Schritt zu halten, nahm sie an die Hand und schützte gelassene Schlauheit vor. Nachdem wir etwa einen Kilometer marschiert waren, fielen vereinzelte Regentropfen durch die grünen Blätter, dann ging ein richtiger Schauer nieder. Der Regen prasselte auf das Blätterdach über uns und floss stetig herab, doch abgesehen von dieser Melodie vernahm ich unregelmäßige Schritte. Es war zu dunkel, um irgendjemanden sehen zu können, aber ich hörte sie hinter uns durch das Unterholz laufen. Ich packte Tess am Arm und drängte sie vorwärts. »Henry, hörst du das?« Tess starrte angestrengt in alle Richtungen und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Noch immer kamen sie hinter uns her, und wir rannten los. Sie warf einen letzten Blick zurück und schrie auf. Sie schnappte mich am Ellbogen, bremste unsere wilde Hatz und wirbelte mich herum, damit ich unseren Peinigern ins Gesicht sähe. Sie schauten trübsinnig durch den Regen. Drei Kühe, zwei gefleckte und eine weiße, starrten zurück und käuten ungerührt wieder. Triefend nass flohen wir aus dem Wald und fanden eine Straße. Wir mussten einen erbarmungswürdigen Anblick geboten haben, denn ein Bauer hielt seinen Lastwagen an und machte mit seinem fleischigen Daumen Zeichen, dass wir auf der Ladefläche mitfahren könnten. Tess rief ihm durch den Regen »Cheb?« zu, und als er nickte, stiegen wir auf und fuhren auf einem Berg Kartoffeln eine halbe Stunde bis in das anheimelnde tschechische 166 Städtchen. Ich heftete meinen Blick auf den kleiner werdenden Wald und die kurvige Straße, denn ich war überzeugt, dass wir verfolgt wurden. Die Häuser und Läden waren in blassen Pastellfarben gestrichen, wie Blumen in einem Frühlingsgarten, die alten Gebäude in Weiß und Gelb oder in Maulwurfsgrau und Kupfergrün. Da viele Teile von Cheb alterslos wirkten, schlugen die Häuser und Sehenswürdigkeiten keine Saiten in meinem Gedächtnis an. Eine schwarze Limousine mit einer Sirene aus rotem Glas stand in einem wahnwitzigen Winkel vor dem Rathaus. Um der Polizei aus dem Weg zu gehen, liefen wir in die entgegengesetzte Richtung und hofften, auf jemanden zu treffen, der unser gebrochenes Deutsch verstand. Um das rosafarbene Hotel Hvezda machten wir einen Bogen, denn es wurde von einem gestrengen Polizisten bewacht, der uns ganze dreißig Sekunden lang anstarrte. Hinter dem Marktplatz, vorbei an der Statue des Wilden Mannes, lag nahe der Ohre ein baufälliges Hotel. Ich hatte gehofft und war davon ausgegangen, die Sehenswürdigkeiten würden in mir Erinnerungen von Gustav Ungerland
wachrufen, aber nichts war mir vertraut. Meine überhöhten, die ganze Reise über weiter hochgeschraubten Erwartungen erwiesen sich als eine Luftblase. Es war so, als wäre ich nie zuvor hier gewesen oder als hätte es die Kindheit in Böhmen nie gegeben. In einer dunklen, rauchigen Bar bestachen wir den Geschäftsführer mit amerikanischen Dollar, sodass er uns ein Abendessen aus Bratwürsten und gekochten Kartoffeln servierte und eine halbe Flasche kalten ostdeutschen Wein. Nach dem Essen führte man uns eine schiefe Treppe hinauf in ein winziges Zimmer, in dem es nur ein Bett und eine Waschschüssel gab. Ich verschloss die Tür, und Tess und ich ließen uns rücklings mit unseren Jacken 3*3 und Stiefeln auf die schäbigen Decken fallen, zu angespannt, zu müde und zu aufgeregt, um uns zu bewegen. Die Dunkelheit siegte langsam über das Licht, und die Stille wurde nur von unserem Atem und dem rasenden Herzklopfen durchbrochen. »Was machen wir hier eigentlich?«, fragte sie schließlich. Ich setzte mich auf und begann mich auszuziehen. In meinem früheren Leben hätte ich sie im Dunkeln ebenso gut sehen können wie am helllichten Tag, aber nun war ich auf meine Vorstellungskraft angewiesen. »Ist das nicht ein Knaller? Diese Stadt hat einmal zu Deutschland gehört und davor zu Böhmen.« Sie streifte ihre Stiefel ab und schälte sich aus ihrer Jacke. Während sie sich auszog, schlüpfte ich unter die Wolldecke und die groben Laken. Schlotternd und nackt robbte Tess an mich heran und rieb ihren kalten Fuß an meinem Bein. »Ich habe Angst. Stell dir vor, die Geheimpolizei klopft an unsere Tür.« »Mach dir keine Sorgen, Baby«, sagte ich in meiner besten James-BondTonlage. »Ich habe die Lizenz zum Töten.« Ich rollte mich auf sie, und wir gaben unser Bestes, unser gefährliches Leben restlos zu genießen. Nachdem wir am nächsten Morgen spät aufgewacht waren, eilten wir hinüber in die große alte Sankt-Nikolaus-Kirche und kamen etwas zu spät in eine lateinisch-tschechische Messe. Ganz vorne vor dem Altar saßen einige ältere Frauen, die in ihren gefalteten Händen Rosenkränze hielten, und hie und da hockten vereinzelt kleine Familien beisammen, benommen und argwöhnisch wie Schafe. Am Eingang schienen wir von zwei Männern in schwarzen Anzügen in Augenschein genommen zu werden. Ich bemühte mich, die Lieder mitzusingen, aber ich konnte nur so tun, als kennte ich die Worte. Auch wenn ich diesen Gottesdienst nicht verstand, spiegelten seine Riten und Rituale die Messen, 167 die ich vor langer Zeit mit meiner Mutter besucht hatte — Ikonen über Kerzen, prächtig gewandete Priester und strahlend unschuldige Messdiener, der Rhythmus des Aufstehens, Hinkniens, Hinsetzens, die durch Glöckchen angekündigte Wandlung. Obwohl ich schon damals wusste, dass es nur eine romantische Torheit war, konnte ich mir ausmalen, wie ich früher aussah, herausgeputzt in Sonntagskleidern neben ihr in der Kirchenbank, mit meinem widerstrebend seufzenden Vater und den Zwillingen, die in ihren Röckchen
hin und her rutschten. Was mich am meisten beeindruckte, war die Orgelmusik, die von der Empore herab drang und sich, wie ein Fluss über Steine, in Kaskaden ergoss. Beim Hinausgehen blieben die Gemeindemitglieder einen Moment stehen, um einige Worte miteinander zu wechseln und den verhutzelten Pfarrer zu grüßen, der im funkelnden Sonnenschein vor dem Portal stand. Ein blondes Mädchen wandte sich ihrer beinahe identischen Schwester zu, zeigte auf uns, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und Hand in Hand rannten sie davon. Tess und ich betrachteten ausgiebig die kunstvoll gearbeiteten Statuen der Maria und des heiligen Nikolaus, die den Eingang flankierten, sodass wir die Letzten waren, die das Gotteshaus verließen. Als Tess dem Pfarrer ihre Hand hinstreckte, war sie überrascht, wie fest er zugriff und dass er sie zu sich heranzog. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, dann drehte er sich mit einem sonderbaren Blick zu mir, als kennte er meine Geschichte. »Und Gott segne dich, mein Sohn.« Tess setzte ein glückseliges Lächeln auf. »Ihr Englisch ist perfekt. Woher wussten Sie, dass wir Amerikaner sind?« »Ich war fünf Jahre in New Orleans in der Saint Louis Cathedral, damals, kurz nach meiner Priesterweihe. Pfarrer Karel Hlinka. Sind Sie wegen des Festivals hier?« 168 »Welches Festival?« Tess strahlte bei der Aussicht. »Prazske Jaro. Das Internationale Musikfestival Prager Frühling.« »Oh, nein. Davon haben wir nichts gewusst.« Sie beugte sich vor und sagte leise und vertraulich: »Wir sind schwarz über die Grenze gekommen.« Als Hlinka lachte, da er ihre Bemerkung für einen Scherz hielt, wechselte sie rasch das Thema und fragte ihn nach seinen Erlebnissen in Amerika und dem Leben in den Cafes von New Orleans. Während sie plauderten und scherzten, stellte ich mich in eine Ecke, um mir eine Zigarette anzuzünden, und schaute dem blauen Rauch nach, der kräuselnd in den Himmel stieg. Die beiden blonden Schwestern waren wieder da, diesmal als Anführerinnen einer ganzen Bande von Kindern, die sie auf den Straßen zusammengetrommelt hatten. Wie eine Vogelschar auf einem Telefondraht standen sie hinter dem Tor, ein Dutzend Köpfe spähte über die niedrige Mauer. Ich hörte sie Tschechisch reden, ein Ausdruck, der wie podvrzene dite klang, tauchte leitmotivisch in ihrem geplapperten Singsang immer wieder auf. Nach einem Blick zu meiner Frau, die Pfarrer Hlinka in verzückter Spannung hielt, ging ich hinüber zu den Kindern, die, kaum kam ich ihnen nahe, wie Tauben auseinanderstoben. Kehrte ich ihnen den Rücken zu, flogen sie wieder heran, und juchzend und schreiend rannten sie davon, wenn ich mich umdrehte. Als ich vor das Tor trat, sah ich ein Mädchen, das hinter der Mauer hockte. Wir sprachen Deutsch miteinander, und ich sagte ihr, sie müsse keine Angst haben. »Warum rennen alle weg und lachen?« »Sie hat uns erzählt, da sei ein Teufel in der Kirche.« »Aber ich bin doch kein Teufel. . . nur ein Amerikaner.« 168
»Sie hat gesagt, du kommst aus dem Wald. Ein Elb.« Hinter den Straßen der Stadt strotzte der alte Wald vor Leben. »So etwas wie Elben gibt es doch gar nicht.« Das Mädchen stand auf und sah mich an, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie, drehte sich um und rannte zu ihren Freunden. Ich stand da und schaute ihr nach, völlig verwirrt und in Sorge, ich könnte einen Fehler gemacht haben. Aber wir waren schon zu weit gekommen, als dass ich mir von bloßen Kindern oder drohender Polizei Angst einjagen ließe. Eigentlich waren sie nicht anders als andere Leute. Misstrauen lag mir im Blut, und ich fühlte mich durchaus imstande, die Fakten vor jedermann zu verstecken. Tess stürmte durch das Tor und fand mich auf dem Bürgersteig. »Wie würde dir eine private Führung gefallen, Baby?« Pfarrer Hlinka war an ihrer Seite. »Frau Day hat mir erzählt, dass Sie Musiker, Komponist, sind. Sie müssen auf unserer Orgel spielen. Die Beste von ganz Cheb.« Auf der Empore, hoch oben in der Kirche, setzte ich mich an die Manuale, vor mir erstreckten sich die leeren Kirchenbänke, der goldene Altar, das riesige Kruzifix, und ich spielte wie ein Besessener. Um die Pedale zu treten und der mächtigen Orgel den richtigen Ton zu entlocken, musste ich mich hin und her wiegen und mein ganzes Gewicht auf die Tasten legen, aber als ich erst einmal die Komplexität der Ventile und Windladen begriffen hatte und im Rausch der Musik versunken war, wurde es so etwas wie ein Tanz. Ich spielte ein einfaches Stück aus der Berceuse von Louis Vierne, und zum ersten Mal seit Jahren spürte ich mich wieder. Im Spiel wurde ich zu etwas ganz Losgelöstem, nahm niemanden und nichts wahr außer der Musik, die wie heißes Eis in mich floss und auf mich fiel wie wundersamer, sonder3*7 barer Schnee. Pfarrer Hlinka und Tess, die bei mir auf der Empore saßen, beobachteten, wie meine Hände sich bewegten, mein Kopf hin und her pendelte, und lauschten der Musik. Als sie die heftigen Klänge nicht mehr ertragen konnte, küsste mich Tess auf die Wange und ging die Treppe hinunter, um sich den Rest der Kirche anzusehen. Da ich nun mit dem Pfarrer allein war, sprach ich rasch den Grund meines Besuchs in Cheb an. Ich erzählte ihm von meinen Nachforschungen in Sachen Familiengeschichte und dass die Bibliothekarin in Frankfurt mir geraten habe, die Kirchenbücher durchzusehen, denn es bestehe nur eine geringe Hoffnung, dass mir Zugang zu den zentralen Archiven der Regierung gewährt werde. »Das ist eine Überraschung für sie«, sagte ich. »Ich möchte Tess' Familienstammbaum aufstellen, und das fehlende Glied ist ihr Großvater, Gustav Ungerland. Wenn ich doch nur seinen Geburtstag oder irgendeine andere Information über ihn ausfindig machen könnte, würde es mir gelingen, ihre Familiengeschichte zu vervollständigen.« »Das klingt wunderbar. Kommen Sie morgen wieder. Ich werde mich durch die Archive arbeiten, und Sie können für mich musizieren.«
»Sie dürfen aber meiner Frau nichts davon erzählen.« Er blinzelte mir zu, und wir waren Verbündete. Beim Abendessen erzählte ich Tess vom musikalischen Teil des Angebots von Pfarrer Hlinka, und sie freute sich für mich, dass ich noch einmal das Glück haben würde, auf der Empore an der Orgel zu sitzen. Montagnachmittag saß sie unten in der mittleren Kirchenbank und hörte etwa die erste Stunde zu, doch dann ging sie. Nachdem sie die Kirche verlassen hatte, flüsterte Pfarrer Hlinka: »Ich habe hier etwas für Sie.« Mit gekrümmtem 170 Finger gab er mir den Wink, ihm in einen kleinen Alkoven abseits der Empore zu folgen. Ich vermutete, er habe Aufzeichnungen über die Ungerlands gefunden, und meine Vorfreude wuchs, als der Pfarrer eine Holzkiste auf einen wackligen Tisch hob. Er blies den Staub vom Deckel und öffnete grinsend wie ein Elb den Kasten. Statt der Kirchendokumente, die ich erwartet hatte, sah ich Musik. Partitur über Partitur für Orgelmusik, und nicht einfache Kirchenlieder, sondern symphonische Meisterwerke, die dem Instrument Leben und Präsenz gaben — jede Menge Händel, Mahlers Auferstehungssymphonie, Liszts Hunnenschlacht, die Fantaisie sym-phonique von Francois-Joseph Fetis und zwei Orgelkonzerte von Guilmant. Da waren Stücke von Gigout, Langlais, Chaynes sowie Poulencs Konzert für Orgel, Streicher uni Pauke. Langspielplatten mit Aaron Coplands First Symphony, Barbers Toccata Festiva, Rheinberger, Franck und dreizehn Stücken von Bach. Ich war überwältigt und inspiriert. All das nur anzuhören — ganz zu schweigen davon, mich selbst am großen Manual zu probieren — würde Monate, wenn nicht Jahre dauern, und wir hatten nur wenige Stunden. Ich wollte meine Taschen mit Beute vollstopfen, meinen Kopf mit Liedern füllen. »Mein einziges Laster und meine einzige Leidenschaft«, sagte Hlinka zu mir. »Genießen Sie es. Wie sind gar nicht so verschieden, Sie und ich. Sonderbare Wesen mit seltenen Vorlieben. Nur dass Sie, mein Freund, spielen können, und ich nur zuhören.« Ich spielte den ganzen Tag für Pfarrer Hlinka, der in der Zwischenzeit in alten Kirchenbüchern Taufen, Eheschließungen und Beisetzungen überprüfte. Ich verblüffte ihn mit meiner Inbrunst und Zügellosigkeit, legte mich in die besonders kräftige Bassoktave und hämmerte das wahnsinnige Finale von Joseph Jon 170 gens Symphonie Concertante. Ein Wandel überkam mich an dieser Klaviatur, und ich begann, eigene Kompositionen in den Zwischenspielen zu hören. Die Musik wühlte Erinnerungen in mir auf, die nichts mit der Stadt zu tun hatten, und ich erprobte Variationen und war so im Rausch an diesem glorreichen Nachmittag, dass ich Pfarrer Hlinka vergaß, bis er um fünf Uhr mit leeren Händen zurückkehrte. Verzweifelt über seinen erfolglosen Versuch, Aufzeichnungen über die Ungerlands zu finden, rief er seine Kollegen in der Sankt-Wenzels-Kirche an, und die setzten sich mit den Archivaren der Sankt-
Bartholomäus- und der Sankt-Klara-Kirche in Verbindung, damit sie beim Durchstöbern der Einträge behilflich seien. Ich geriet in Zeitnot. Wir konnten uns relativ frei bewegen, liefen aber Gefahr, nach unseren Papieren gefragt zu werden, und wir hatten kein Visum für die Tschechoslowakei. Tess hatte beim Frühstück geklagt, dass die Polizei ihr hinterherspioniert habe, als sie den Schwarzen Turm besichtigte, und ihr ins Kunstzentrum auf der Ruzovy kopecek gefolgt sei. Schulkinder würden auf den Straßen mit dem Finger auf sie zeigen. Auch ich hatte gesehen, wie sie wegrannten und sich in dunklen Ecken versteckten. Am Mittwochmorgen jammerte sie, dass sie so viel Zeit unserer Flitterwochen allein verbringen müsse. »Nur noch einen Tag«, bat ich. »Es geht einfach nichts über den Klang in dieser Kirche.« »Okay, aber ich bleibe heute im Hotel. Möchtest du nicht auch lieber wieder ins Bett gehen?« Als ich an diesem Nachmittag spät auf die Empore kam, war ich überrascht, dass der Pfarrer an der Orgel auf mich wartete. »Sie müssen es mich Ihrer Frau sagen lassen.« Er schmunzelte. »Wir haben ihn gefunden. Oder zumindest glaube ich, er müsste 171 ihr Großvater sein. Die Jahreszahlen sind etwas anders, aber wie viele Ungerlands kann es schon gegeben haben?« Er überreichte mir eine grobkörnige Fotokopie der Passagierliste des deutschen Schiffs Albert, das am 20. Mai 1851 von Bremen nach Baltimore, Maryland, in See gestochen war. Die Namen und Altersangaben waren in einer gestochenen Handschrift geschrieben. 212 Abram 41 Musikant Eger Böhmen Ungerland 113 Clara 40 V Ungerland 114 Friedrich " H » » 21 j Josef 216 Gustav 21 j Anna
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H 9
»Wird sie nicht begeistert sein? Welch ein schönes Hochzeitsgeschenk.« Ich konnte keine Antwort geben auf seine Fragen. Mit den Namen setzte ein Sturm der Erinnerung ein. Josef — mein Bruder —, wo in der Welt bist du? Anna war die, die auf der Überfahrt starb, das abwesende Kind, das meiner Mutter das Herz brach. Meine Mutter Clara. Mein Vater Abram, der Musiker. Namen, die zu meinen Träumen passten. »Ich weiß, Sie sagten, er sei 1859 hier gewesen, doch manchmal ist die Vergangenheit etwas rätselhaft. Aber ich glaube, 1851 ist zutreffend für Herrn Ungerland, nicht 1859«, meinte Pfarrer Hlinka. »Geschichten verblassen mit der Zeit.«
Einen Moment lang wurden die sechs lebendig. Natürlich hatte ich keine Erinnerung an Eger oder Cheb. Ich war ein Baby, nicht einmal ein Jahr alt, als wir in Amerika ankamen. Dort war 172 ein Haus, ein Salon, ein Klavier. Ich war dort entführt worden und nicht hier an diesem Ort. »Keinerlei Einträge in den Kirchenbüchern, aber ich dachte, wir sollten es bei den Auswandererarchiven versuchen. Wird Mrs. Day nicht begeistert sein? Ich kann es gar nicht abwarten, ihr Gesicht zu sehen.« Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es in meine Tasche. »Natürlich, ja, Sie sind es, der es Ihr sagen sollte. Wir sollten feiern . . . heute Abend, wenn Sie wollen.« Das Vergnügen, das in seinem Lächeln lag, ließ mich beinahe bedauern, dass ich ihn anlog. Und auch die wunderbare Orgel zurückzulassen machte mich todunglücklich. Doch ich beeilte mich, die Nikolauskirche mit der Geschichte in meiner Brusttasche zu verlassen. Als ich bei Tess angelangt war, erfand ich eine Story von der Polizei, die an der Kirche hinter zwei Amerikanern herschnüffle. Und heimlich machten wir uns davon und kehrten auf dem Weg, den wir gekommen waren, zurück zur Grenze. Als wir im Wald in die Nähe des Flusses kamen, war ich erschüttert, einen kleinen Jungen zu sehen, vielleicht sieben Jahre alt, der allein neben einem dicken Baum stand. Er beachtete uns nicht, sondern bewegte sich kaum, als versteckte er sich vor jemandem. Ich konnte mir nur ausmalen, was ihn verfolgte, und etwas in mir wollte ihn retten. Als wir fast vor ihm waren, fuhr er zusammen und mit einem Finger, den er auf die Lippen legte, machte er uns Zeichen, still zu sein. »Sprichst du Deutsch?«, flüsterte Tess ihm zu. »Ja. Bitte, ruhig sein. Sie sind hinter mir her.« Ich schaute von Baum zu Baum und fürchtete schon eine Schar von Wechselbälgern. »Wer ist hinter dir her?« 172 »Versteckspiel«, zischelte er. Und ein kleines Mädchen, das ihn gehört hatte, brach durch das grüne Gestrüpp, jagte auf ihn zu und schlug ihm auf die Schulter. Als die anderen Kinder aus ihren Verstecken auftauchten, wurde mir klar, dass sie wirklich nur spielten. Doch als ich von Junge zu Junge und von Mädchen zu Mädchen, von Gesicht zu Gesicht schaute, musste ich mich unweigerlich daran erinnern, wie leicht sie ihr Aussehen verändern konnten. Tess meinte, sie seien süß, und wollte einen Weile bleiben, aber ich drängte sie weiter. Am Fluss hüpfte ich von Stein zu Stein und überquerte das Wasser, so schnell ich konnte. Tess ließ sich Zeit, enttäuscht und verärgert, dass ich nicht auf sie gewartet hatte. »Henry, Henry, wovor läufst du weg?« »Beeil dich, Tess. Sie sind hinter uns her.« Sie bemühte sich, auf den nächsten Stein zu springen. »Wer?«
»Sie«, sagte ich und machte ein paar Schritte zurück, um sie auf die andere Seite zu ziehen. Nach unserer Hochzeitsreise wurde das Leben rasch viel zu kompliziert, um meine Nachforschungen über die Ungerlands fortzusetzen oder eine andere Orgel zu suchen. Uns blieb ein letztes anstrengendes Semester, und als das Examen näher rückte, drehten sich unsere Gespräche um neue Perspektiven. Tess lag in der heißen Badewanne, aus der kräuselige Dampfschwaden aufstiegen. Ich hockte auf dem Rand des Wäschekorbs, tat so, als vertiefte ich mich in den Entwurf einer neuen Partitur, aber eigentlich war es nur aus purem Vergnügen, ihr beim Baden zuzusehen. »Henry, ich habe gute Neuigkeiten. Es sieht so aus, als würde es klappen mit dem Job beim Landkreis.« 173 »Prima«, sagte ich, blätterte um und summte ein paar Takte. »Was genau wirst du da machen?« »Hauptsächlich Einzelfallhilfe. Leute kommen mit ihren Problemen, ich beruhige sie, und dann geben wir ihnen all die richtigen Empfehlungen.« »Gut. Ich habe ein Vorstellungsgespräch an dieser neuen Mittelschule.« Ich ließ die Komposition sinken und sah auf ihren nackten, halb im Wasser liegenden Körper. »Sie suchen einen Leiter für die Musikgruppe und einen Musiklehrer für die siebte und die achte Klasse. Das wäre eine verdammt gute Sache und ließe mir genug Zeit zum Komponieren.« »Es lässt sich gut für uns an, Baby.« Sie hatte recht, und in diesem Moment traf ich die Entscheidung. Mein Leben wurde rund. Entgegen allen Erwartungen und trotz der Unterbrechung wegen des Todes meines Vaters würde ich das Studium abschließen, und eine neue Karriere würde beginnen. Eine wunderschöne junge Frau lag in meiner Badewanne. »Warum lächelst du, Henry?« Ich knöpfte mein Hemd auf. »Mach Platz, Tess. Ich muss dir etwas ins Ohr flüstern.« 173 Kapitel 28 Das Erbarmungsloseste auf der Welt ist die Liebe. Geht die Liebe, bleibt als Trost nichts als die Erinnerung. Unsere Freunde waren entweder fort oder tot; das Beste, was wir Armen tun konnten, um die Liebeslücke zu füllen, war, ihren Geist heraufzubeschwören. Bis zum heutigen Tag gehen mir all die, die wir vermissten, durch den Kopf. Kivi, Blomma, Ragno und Zanzara verloren zu haben, zerriss auch Speck das Herz. Grimmig und verbissen ging sie ihren Aufgaben nach, als könnte sie durch ständige Beschäftigung die Gespinste bannen. Nach der Katastrophe im Bergwerk setzten wir Beka mit seinem Einverständnis ab, und unser verkleinerter Clan wählte Smaolach zum neuen Anführer. Seit vielen Jahren lebten wir zum ersten Mal oberirdisch, und wegen Chavisorys Unbeweglichkeit war unser Radius auf eine einzige kleine Waldlichtung begrenzt. Der Drang, in unser altes Zuhause zurückzuschlüpfen,
nagte an uns allen. Fünf Jahre waren vergangen, seit wir unser Lager verlassen hatten, und wir waren der Meinung, zurückzukehren sei ungefährlich. Als das letzte Mal einer unserer Gefährten unserem früherem Zuhause einen Besuch abgestattet hatte, war rundherum alles gerodet, doch mittlerweile war es bestimmt wieder 174 zugewuchert — wo schwarze Asche gewesen war, würden gewiss junge Bäume zwischen wilden Blumen und frischem Gras in die Höhe schießen. Und im gleichen Maße, wie die Natur sich aus der Zerstörung regeneriert, würden die Leute diesen Jungen, der im Fluss ertrunken war, und die beiden Elben, die man im Supermarkt aufgegriffen hatte, vergessen haben. Sie würden wollen, dass das Leben so bleibt, wie sie dachten, dass es sei. In dem Glauben, es stelle keine Gefahr da, wieder umherzustreifen, machten Luchog, Smaolach und ich uns auf und ließen die anderen drei, die für Chavisory sorgten, in unserem provisorischen Lager zurück. Obwohl an diesem Tag ein kalter Wind wehte, waren wir ganz beglückt von der Aussicht, unseren alten Schlupfwinkel wiederzusehen. Wie Rehe flitzten wir über die Pfade und lachten, wenn einer den anderen überholte. In unserer Vorstellung versprach das alte Lager eine strahlende Erlösung. Als wir den Bergkamm im Westen erklommen, hörte ich ein Lachen in der Ferne. Wir verlangsamten unser Tempo, und als wir den Grat erreicht hatten, weckten die von unten heraufdringenden Geräusche unsere Neugierde. Hinter Asten und Zweigen kam das Tal in Sicht. Häuserreihen und Rasenflächen schlängelten sich an sauberen Sträßchen entlang. Genau an der Stelle, wo unser Lager gewesen war, standen fünf neue Häuser an einem offenen kreisförmigen Platz. Weitere sechs lagen zu beiden Seiten einer breiten Straße, die den Wald durchschnitt. Von ihren Verzweigungen zogen sich weitere Straßen und Häuser den Abhang hinunter bis zur Hauptstraße, die in die Stadt führte. »Und sei es noch so bescheiden, nichts geht über ein eigenes Zuhause«, sagte Luchog. Aus der Ferne beobachtete ich geschäftiges Treiben. Eine Frau hob aus dem Kofferraum eines Kombis Pakete heraus, die mit 174 Bändern und Schleifen verschnürt waren. Zwei Jungen kickten einen Fußball herum. Ein gelbes Auto, das die Form eines Käfers hatte, tuckerte eine kurvige Straße hinauf. Wir hörten ein Radio, in dem vom Army-Navy-Spiel die Rede war, und einen Mann, der Flüche murmelte, während er eine Lichterkette unter den Sims seines Dachs nagelte. Gebannt von all dem, was ich sah, hatte ich nicht bemerkt, wie der Tag in die Nacht sank. Wie auf ein plötzliches Signal gingen Lichter in den Häusern an. »Sollen wir nachschauen, wer an unserer ehemaligen Lichtung wohnt?«, fragte Luchog. Wir schlichen uns hinunter zu dem Asphaltplatz. Zwei der Häuser schienen leer. Bei den anderen waren Zeichen von Leben festzustellen: Autos in den Einfahrten oder vom Licht angeleuchtete Gestalten, die an den Fenstern
vorbeihuschten, als ginge es um lebenswichtige Aufgaben. Hinter jedem Fenster sahen wir die gleiche Szenerie. Eine Frau rührte in einer Küche in einem Topf. Eine andere zog einen riesigen Vogel aus dem Ofen, während im Zimmer daneben ein Mann auf winzige spielende Figuren in einer leuchtenden Kiste starrte, sein Gesicht vor Aufregung oder Ärger ganz rot. Sein Nachbar nebenan, taub für die Geräusche und blind für die Flimmerbilder, schlief in einem Sessel. »Er kommt mir bekannt vor«, flüsterte ich. Ein kleines Kind, bis zu den Zehen in blaues Frottee gekleidet, saß in einem kleinen Käfig in der Ecke des Raums. Es spielte selbstvergessen mit leuchtend buntem Plastikspielzeug. Einen Moment lang dachte ich, der schlafende Mann ähnele meinem Vater, aber ich konnte nicht begreifen, wie er einen anderen Sohn haben konnte. Eine Frau ging von einem Zimmer in das andere, und ihr langes blondes Haar wippte hinter ihr her wie ein Schweif. 175 Sie kräuselte die Lippen, ehe sie sich herunterbeugte und dem Mann etwas zuflüsterte, einen Namen womöglich, woraufhin er aufschreckte und etwas peinlich berührt aussah, dass sie ihn beim Schlafen überrascht hatte. Als er die Augen aufschlug, sah er meinem Vater noch ähnlicher, doch sie war definitiv nicht meine Mutter. Sie warf ihm ein schräges Lächeln zu und hob ihr Baby über die Gitterstäbe, und das Kind gurrte und lachte und schlang die Arme um den Hals der Mutter. Diese Laute hatte ich früher schon einmal gehört. Der Mann stellte den Fernseher ab, doch bevor er sich zu den anderen gesellte, trat er ans Fenster, wischte mit beiden Händen an der beschlagenen Scheibe einen Kreis frei und spähte hinaus in die Dunkelheit. Er hatte uns sicherlich nicht bemerkt, aber ich war mir ganz sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Wir liefen zurück in den Wald und warteten, bis der Mond hoch am Nachthimmel stand und die meisten Lichter erloschen waren. In den Häusern am Rondell war es dunkel und still. »Mir gefällt das nicht«, sagte ich, und mein Atem schwebte ins violette Licht. »Du versaust dir dein ganzes Leben mit deinen ewigen Sorgen«, meinte Smaolach. Er gab einen bellenden Laut von sich, und wir folgten ihm hinunter zu der Sackgasse. Smaolach entschied sich für ein Haus ohne Wagen in der Einfahrt, wo wir wahrscheinlich keinem Menschen begegnen würden. Vorsichtig, um niemanden zu wecken, schlüpften wir ohne Schwierigkeiten durch die unverschlossene Vordertür hinein. Auf der einen Seite des Flurs standen Schuhe ordentlich in Reih und Glied, und Luchog probierte sofort einige Paare, bis er ein passendes fand. Der Sohn würde am Morgen bestürzt sein. Die Küche lag in Sichtweite des Flurs, 175 hinter einem recht kleinen Esszimmer. Wir drei packten Obst-und Gemüsekonserven, Mehl, Salz und Zucker in einen unserer Rucksäcke. Luchog stopfte Teebeutel in seine Hosentaschen, und auf dem Weg hinaus klaute er noch von der Kommode eine Packung Zigaretten und eine
Streichholzschachtel. Innerhalb weniger Minuten waren wir drin und wieder draußen, ohne jemanden gestört zu haben. Das zweite Haus — in dem das Baby in Blau wohnte — erwies sich als widerspenstig. Alle Türen und Fenster des Erdgeschosses waren verschlossen, sodass wir uns durch einen Spalt unter einer Tür in eine Kammer zwängen mussten, in der sich ein Gewirr aus Rohren befand. Wir folgten ihnen, fanden schließlich den Weg ins Innere des Hauses und landeten im Keller. Um weniger Lärm zu machen, zogen wir unsere Schuhe aus und hängten sie uns um den Hals, bevor wir die Treppe hinaufschlichen und langsam die Tür zur Küche öffneten. Dort hing der Duft nach Brot in der Luft. Während Smaolach und Luchog die Speisekammer plünderten, schlich ich auf der Suche nach der Vordertür und einem bequemen Fluchtweg auf Zehenspitzen durch die Räume. An den Wänden des Wohnzimmers hing eine ganze Fotogalerie, Porträts, die sich hauptsächlich als uninteressante Schatten darstellten, doch als ich an einem vorbeihuschte, das vom weißen Mondlicht angeleuchtet wurde, erstarrte ich. Zwei Gesichter, eine junge Mutter und ihr kleines Kind, das sie über ihre Schulter hielt, damit es in die Kamera blickte. Das Baby sah wie jedes andere Baby aus, rund und glatt wie ein Knopf. Die Mutter schaute nicht direkt in die Linse, sondern aus den Augenwinkeln auf ihren Sohn. Ihre Frisur und ihre Kleidung ließen auf eine andere Zeit schließen, und mit ihrem betörenden Lächeln und 176 hoffnungsvollen Blick wirkte sie kaum älter als ein Kind mit einem Kind. Sie reckte das Kinn, als bräche sie gleich vor Freude über das Baby auf ihrem Arm in Lachen aus. Das Foto löste heftige chemische Reaktionen in meinem Gehirn aus. Schwindlig und verwirrt erkannte ich ihre Gesichter, konnte sie aber nicht einordnen. Es gab noch weitere Fotos — ein langes weißes Kleid neben einem Schatten, einen Mann mit einer Schirmkappe —, doch ich ging immer wieder zurück zu der Mutter mit dem Kind, legte meine Finger auf das Glas und fuhr die Umrisse der Abgebildeten ab. Ich wollte mich erinnern. Törichterweise ging ich zur Wand und machte das Licht an. In der Küche schnappte jemand nach Luft, als die Bilder an der Wand plötzlich hell erleuchtet waren. Zwei ältere Leute mit strengen Brillen. Ein fettes Baby. Doch nun konnte ich das Foto, das mich so verzückt hatte, klar erkennen, und ein weiteres daneben, das mich noch mehr verwirrte. Darauf ein Junge, die Augen zum Himmel gerichtet, in Erwartung von etwas Unsichtbarem. Als das Bild aufgenommen wurde, war er sicherlich nicht älter als sieben, und wäre der Schnappschuss nicht in Schwarz-Weiß gewesen, hätte ich sein Gesicht schneller erkannt. Denn es war meins, und ich mit Jacke und Mütze und Augen wartete — auf was? Auf Schnee, einen gekickten Fußball, auf Gänse in V-Formation, auf Hände von oben? Welch Merkwürdigkeit widerfuhr da einem kleinen Jungen, an der Wand dieses fremden Hauses zu landen. Der Mann und die Frau auf dem Hochzeitsfoto boten keinen Schlüssel zu diesem Rätsel. Es war mein Vater mit einer anderen Braut. »Aniday, was tust du da?«, zischte Luchog. »Knips sofort das Licht aus.« Oben ächzte eine Matratze, als jemand aus dem Bett auf-'
33° stand. Schnell löschte ich das Licht und verduftete. Die Flurdielen knarzten. Eine Frauenstimme murmelte etwas in hoher, ungeduldiger Tonlage. »In Ordnung«, entgegnete der Mann. »Ich sehe nach. Aber ich habe nichts gehört.« Er steuerte oben auf den Treppenabsatz zu und kam langsam, Stufe für Stufe, herunter. Wir drückten die Klinke der Hintertür in der Küche, brachten jedoch das Schloss nicht auf. »Das verdammte Ding bewegt sich nicht«, raunte Smaolach. Die Gestalt kam näher, erreichte das Erdgeschoss und schaltete das Licht ein. Sie trat in das Wohnzimmer, das ich erst Sekunden zuvor verlassen hatte. Luchog hantierte an einem Drehriegel, und endlich löste sich der Bolzen mit einem leisen Klicken. Wir erstarrten bei dem Geräusch. »Hey, wer ist da?«, rief der Mann vom Zimmer nebenan. Barfuß trottete er auf uns zu. »So eine Scheiße!«, stieß Smaolach aus, drehte den Knauf und drückte. Die Tür öffnete sich etwa fünfzehn Zentimeter weit, hing aber dann an einer dünnen Metallkette über unseren Köpfen fest. »Bloß weg hier«, zischelte er, und wir zwängten uns einer nach dem anderen durch den Spalt, eine Spur aus verschüttetem Zucker und Mehl hinter uns lassend. Ich bin mir sicher, dass er den Letzten von uns gesehen hat, denn der Mann rief noch einmal »hey«. Aber wir waren bereits auf und davon und flitzten über die eisige Wiese. Blitzartig leuchtete Flutlicht auf, aber wir waren schon außerhalb des Lichtkegels. Vom Bergkamm aus beobachteten wir, wie nacheinander in allen Räumen das Licht anging, bis die Fenster wie eine Kette aus Irrlichtern glühten. Mitten in der Siedlung fing ein Hund wie irre an zu jaulen, für uns das Signal, den Rückzug nach Hause anzutreten. Der Boden war frostig unter unseren nackten Füßen, aber munter wie Teufelchen entwischten wir mit unseren Schätzen und lachten unter den kalten Sternen. Auf der Spitze des Bergkamms blieb Luchog stehen, um eine seiner stibitzten Zigaretten zu rauchen, und ich schaute ein allerletztes Mal auf die ordentliche Siedlung zurück, auf den Ort, wo früher unser Zuhause gewesen war. Das ist der Ort, wo sich alles zugetragen hatte — ein Griff nach wildem Honig hoch oben im Baum, ein Stück Landstraße, wo ein Auto einen Hirsch angefahren hatte, die Lichtung, wo ich die Augen zum ersten Mal aufschlug und elf dunkle Kinder sah. Aber irgendjemand hatte all das ausradiert, wie ein Wort oder eine Zeile, und an dieselbe Stelle einen anderen Satz geschrieben. Es schien, als stünden all diese Häuser seit Ewigkeiten dort. Es ließ einen an der eigenen Geschichte zweifeln. »Der Mann da eben«, sagte ich, »der schlafende. Er hat mich an jemanden erinnert.« »Für mich sehen die alle gleich aus«, entgegnete Luchog. »An jemanden, den ich kenne. Oder gekannt habe.« »Könnte es dein seit langem vermisster Bruder sein?« »Ich habe keinen.«
»Vielleicht ein Mann, der ein Buch geschrieben hat, das du in der Bibliothek gelesen hast?« »Ich habe doch keine Ahnung, wie die aussehen.« »Vielleicht der Mann, der dieses Buch geschrieben hat, das du immer von einem Ort zum anderen trägst?« »Nein, nicht Mclnnes. Ich kenne Mclnnes nicht.« »Ein Mann aus einer Illustrierten? Ein Foto aus der Zeitung?« »Es ist jemand, den ich gekannt habe.« 178 »Könnte es der Feuerwehrmann sein? Der Mann, den du am Flüsschen gesehen hast?« Er zog an seiner Zigarette und blies wie eine alte Dampfmaschine Rauch aus. »Ich dachte, er könnte mein Vater sein, aber das kann nicht stimmen. Da waren diese fremde Frau und ihr Kind in dem blauen Strampelanzug.« »Welches Jahr haben wir, Schätzchen?«, fragte Luchog. Es könnte 1972 gewesen sein, obwohl ich mir, ehrlich gesagt, nicht mehr sicher war. »Du musst inzwischen ein junger Mann Ende dreißig sein. Und wie alt war der Mann hinterm Fenster?« »Schätzungsweise genauso alt.« »Und wie alt müsste sein Vater sein?« »Doppelt so alt«, antwortete ich und lächelte wie ein Idiot. »Dein Vater wird mittlerweile ein alter Mann sein, fast so alt wie ich.« Ich hockte mich auf den kalten Boden. So unglaublich viel Zeit war vergangen, seit ich meine Eltern zum letzten Mal gesehen hatte; ihr richtiges Alter war nun ein gelöstes Rätsel. Luchog setzte sich neben mich. »Nach einem Weilchen vergisst jeder. Ich kann dir kein Bild meiner goldenen Jugendzeit zeichnen. Die alten Erinnerungen sind nicht real — nur Figuren in einem Märchen. Meine Mom könnte genau in diesem Moment auf mich zukommen und >Sonnyboy< zu mir sagen, und ich müsste entgegnen: >Tut mir leid, Lady, ich kenne Sie nicht.< Auch mein Vater könnte eine Märchengestalt sein. Verstehst du, in gewisser Weise hast du keinen Vater und keine Mutter, oder wenn du sie hattest, erkennst du sie nicht mehr, und sie dich auch nicht, das ist der Jammer.« »Aber der Typ, der im Sessel eingeschlafen ist! Wenn ich 178 mich anstrenge, kann ich mich an das Gesicht meines Vaters erinnern.« »Könnte genauso gut jemand anderer sein. Oder überhaupt niemand.« »Und das Baby?« »Sind doch alle gleich. Eine Plage ohne Zähne, aber ständig hungrig. Können nicht laufen, können nicht sprechen, können keine Zigarette mit einem teilen. Geschenkt. Manche sagen, die sicherste Bank für einen Wechselbalg sei, ein Baby zu stehlen — da muss man weniger lernen —, aber das halte ich für einen Rückschritt. Du solltest vorwärtsgehen. Und der Himmel stehe uns bei, wenn wir je ein Baby haben sollten, um das wir uns ein ganzes Jahrhundert kümmern müssten.«
»Ich will doch gar kein Kind stehlen. Ich frage mich nur, wessen Baby das ist. Was ist mit meinem Vater geschehen? Wo ist meine Mutter?« Um die kalte Jahreszeit durchzustehen, klauten wir zehn Decken und sechs Kindermäntel aus dem Laden der Heilsarmee, und wir aßen wenig. Hauptsächlich ernährten wir uns von schwachen Tees, die wir aus Rinde und Zweigen brauten. Im trüben Januar-und Februarlicht rührten wir uns oft überhaupt nicht, sondern saßen da, entweder allein oder zu zweit oder zu dritt, tropfnass oder eisig kalt, warteten auf die Sonne und die Fortsetzung un-, seres Lebens. Chavisory kam allmählich wieder zu Kräften, und als die wilden Zwiebeln und Narzissen sprossen, konnte sie am Arm ein paar Schritte laufen. Tag für Tag drängte sie Speck einen schmerzhaften Schritt weiter voran. Als es ihr gut genug ging, dass wir weiterziehen konnten, flohen wir von diesem elenden Misthaufen aus Erinnerungen. Trotz der Risiken fanden wir ein 179 Versteck in Wassernähe, das als Zuhause geeigneter war, etwa eine Meile nördlich der neuen Häuser. In manchen Nächten trug der Wind die Laute der Familien bis in unser neues Lager, und obwohl es nicht so sehr abgelegen war, bot es uns hinreichend Schutz. Als wir es uns an diesem ersten Tag bequem machten, überkam mich Ruhelosigkeit. Smaolach setzte sich neben mich und legte den Arm um meine Schultern. Die Sonne versank am Horizont. »Ni mar a siltar a bitear«, sagte er. »Smaolach, selbst wenn ich tausend Jahre alt werden sollte, werde ich deine alte Sprache nicht verstehen. Sprich Englisch mit mir.« »Denkst du an unsere Freunde, die verstorbenen und beklagten? Dort, wo sie jetzt sind, haben sie es besser, und sie leiden nicht unter diesem ewigen Warten. Oder geht dir etwas anderes durch den Kopf, Schätzchen?« »Warst du je verliebt, Smaolach?« »Früher, und nur ein einziges Mal, Gott sei Dank. Wir waren uns sehr nahe, wie alle Mütter und Söhne.« »Luchog hat gesagt, meine Mutter und mein Vater seien tot.« »Ich erinnere mich kaum noch an etwas von ihr. An den Geruch nach Wolle vielleicht und an eine raue Seife. An den Pfefferminzgeruch ihres Atems. An einen großen Busen, an den ich meinen. . . Nein, das stimmt nicht. Sie war eine gertenschlanke Frau, nur Haut und Knochen. Ich erinnere mich nicht.« »Jedes Mal, wenn wir einen Ort verlassen, verschwindet ein Teil von mir.« »Tja. . . mein Vater, ein strammer Bursche mit einem mächtigen schwarzen Schnurrbart, den er an den Enden hochzwir 179 belte, oder vielleicht war es mein Großvater, denke ich gerade. Ist schon lange her, und ich weiß nicht genau, wo es war und wann.« Nun war es völlig dunkel. »So ist das Leben. Alles vergeht und macht Platz für etwas Neues. Ist nicht klug, zu sehr an einer Welt oder ihren Leuten zu hängen.« Verblüfft über Smaolachs Philosophie, wankte ich in mein neues Bett, wälzte die Fakten hin und her und überlegte, was sich dahinter verbarg. Ich versuchte, mir meine Mutter und meinen Vater vorzustellen, konnte mir aber
weder ihre Gesichter noch ihre Stimmen in Erinnerung rufen. Das erinnerte Leben schien mir genauso falsch wie mein Name. Sichtbar waren Schatten: der schlafende Mann, die hübsche Frau und das weinende, lachende Kind. Aber genauso viel des wirklichen Lebens, das ich mir nicht bloß aus Büchern angelesen habe, bleibt mir fremd. Eine Mutter summt einem schläfrigen Kind ein Wiegenlied vor. Ein Mann mischt ein Kartenspiel und legt Patiencen. Zwei Liebende knöpfen einander die Kleider vom Leib und purzeln ins Bett. Unwirklich wie ein Traum. Ich gestand Smaolach nicht den Grund meiner Unruhe. Speck hatte unsere Freundschaft so gut wie aufgegeben und sich in ein festes, einsames Schneckenhaus zurückgezogen. Nachdem wir umgezogen waren, setzte sie alles daran, unser neues Lager in ein richtiges Zuhause zu verwandeln, und die hellen Stunden des Tages brachte sie damit zu, Chavisory wieder das Laufen beizubringen. Von all den Anstrengungen erschöpft, fiel Speck am frühen Abend in tiefen Schlaf. An den kalten, nassen Märztagen blieb sie in ihrem Erdloch und zeichnete ein kompliziertes Muster auf eine Pergamentrolle, und als ich sie nach ihrer Zeichnung 180 fragte, blieb sie stumm und unnahbar. In den frühen Morgenstunden sah ich sie am westlichen Rand des Lagers, in ihren wärmsten Sachen, mit kräftigen Schuhen an den Füßen, grübelnd den Horizont anstarren. Ich erinnere mich, dass ich von hinten an sie herantrat und ihr die Hand auf die Schulter legte. Zum allerersten Mal zuckte sie bei meiner Berührung zusammen, und als sie mir ihr Gesicht zuwandte, bebte sie, als müsste sie die Tränen zurückhalten. »Was ist los, Speck? Bist du okay?« »Ich habe zu viel gearbeitet. Da hängt ein letzter Schnee in der Luft.« Sie lächelte und griff nach meiner Hand. »Sobald das Schneegestöber losbricht, stehlen wir uns davon.« Als endlich Tage später der Schnee fiel, war ich unter einem Stoß Decken eingeschlafen. Sie weckte mich mit weißen Flocken auf ihrem dunklen Haar. »Es ist Zeit«, flüsterte sie mir zu, so leise wie das sanfte Säuseln in den Kiefern. Speck und ich schlenderten über vertraute Wege, achteten auf gute Deckung und warteten am Waldrand ganz in der Nähe der Bibliothek, bis die Dämmerung einsetzte. Der Schneefall verschleierte den Sonnenuntergang, und die Scheinwerferlichter der wenigen Autos verleiteten uns dazu, zu früh loszugehen. Wir zwängten uns in unseren Raum, nur um über uns die Schritte der Bibliothekarinnen zu hören, die die Abendschließung vorbereiteten. Um warm und ruhig zu bleiben, kuschelten wir uns unter eine Decke, und rasch schlief sie an meiner Brust ein. Der Rhythmus ihres Herzschlags, ihrer Atmung und die Wärme ihrer Haut wiegten auch mich bald in den Schlaf. Als wir aufwachten, war es pechschwarz. Sie zündete die Lampen an, und wir machten uns an unsere Bücher. Speck las gerade Flannery O'Connor, und ich hatte mich mit Wallace Stevens in tiefe Wasser begeben. Doch ich konnte mich 180
nicht auf seine Abstraktionen konzentrieren und schaute über den Buchrand hinweg auf Speck. Ich musste es ihr sagen, aber Worte waren unzulänglich, unvollkommen und vielleicht unverständlich — und doch gab es kein anderes Mittel. Sie war meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt, und seit Jahren hatte mich das große Verlangen nach mehr begleitet. Ich konnte das nicht durch Vernunft vertreiben oder mich auf einen späteren Augenblick herausreden. Speck war in Gewalt tun vertieft. Mit angewinkeltem Arm, der ihren Kopf stützte, lag sie quer auf dem Boden, wobei das Haar ihr Gesicht verdeckte. »Speck, ich muss dir etwas sagen.« »Gleich. Noch einen Satz.« »Speck, leg doch bitte das Buch einen Moment beiseite.« »Bin gleich soweit.« Sie steckte den Finger zwischen die Seiten und schloss den Roman. Sie sah mich an, und sekundenschnell schlug meine Stimmung von Hochgefühl in Angst um. »Ich habe lange, lange darüber nachgedacht, Speck, über dich. Ich möchte dir sagen, was ich empfinde.« Ihr Lächeln erlosch. Ihre Augen suchten meinen ruhelosen Blick. »Aniday«, hakte sie nach. »Ich muss dir sagen, wie. . . « »Nein.« » . . . dir sagen, Speck, wie sehr ich. . . « »Bitte nicht, Henry.« Ich hielt inne, öffnete den Mund, um die Worte auszusprechen, und hielt wieder inne. »Was hast du gesagt?« »Ich weiß nicht, ob ich das gerade jetzt hören möchte.« »Wie hast du mich genannt?« Sie schlug die Hand vor den Mund, als wollte sie den Na 181 men, der ihr gerade herausgerutscht war, wieder zurücknehmen. »Du hast mich Henry genannt.« Im Handumdrehen entwirrte sich alles. »Das bin ich. Ich bin Henry. Das war es doch, was du gesagt hast, oder?« »Es tut mir so leid, Aniday.« »Henry. Nicht Aniday. Henry Day.« »Henry Day. Das solltest du eigentlich nicht wissen.« Uber den Schock, meinen Namen erfahren zu haben, vergaß ich, was ich ihr hatte sagen wollen. Unzählige Gedanken und Gefühle überstürzten sich in meinem Kopf. Bilder, Erklärungen für allerlei Bruchstücke, Rätsel und unbeantwortete Fragen. Sie legte ihr Buch beiseite, durchschritt den Raum und umarmte mich liebevoll. Die meiste Zeit hielt sie mich umschlungen, wiegte mich, besänftigte meine fiebrige Phantasie und streichelte mit sanftesten Berührungen mein Chaos weg. Und dann erzählte sie mir meine Geschichte. Die Geschichte auf diesen Seiten ist alles, an das sie sich erinnern kann. Sie erzählte mir, was sie wusste, und meine Erinnerungen an Träume, Visionen und Begegnungen füllten den Rest aus. Sie erzählte mir, warum sie alle es so lange geheim gehalten hatten. Weil es besser sei, nicht zu wissen, wer man wirklich ist. Um die Vergangenheit zu vergessen. Den Namen auszulöschen. All dies enthüllte sie mit geduldiger,
himmlischer Stimme, bis alles, was beantwortet werden konnte, beantwortet war und nichts offen blieb. Bis die Kerzen niedergebrannt waren, hatten wir gesprochen, und auch im Dunkeln ging unser Gespräch weiter. Und das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich in ihren Armen einschlief 182 Ich träumte, dass wir in dieser Nacht wegliefen und einen Ort fanden, um gemeinsam heranzuwachsen, um zu der Frau und zu dem Mann zu werden, die wir eigentlich sein sollten. Im Traum küsste sie mich auf den Mund, und ihre nackte Haut schob sich unter meine Fingerspitzen. Eine Drossel sang. Doch am Morgen war sie nicht dort, wo ich sie vermutete. Während unserer langen Freundschaft hatte sie mir nicht einen einzigen Brief geschrieben, doch neben mir, wo eigentlich sie sein sollte, lag ein Zettel mit ihrer Handschrift. Jeder einzelne Buchstabe ist in mein Gedächtnis eingeätzt. Auch wenn ich nicht alles preisgeben will, so doch den Schluss: »Auf Wiedersehen, Henry Day«, hatte sie geschrieben. Es war für sie Zeit zu gehen. Speck ist fort. 182 Kapitel 29 Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich zu ängstlich, um irgendetwas zu sagen, und zu sehr von Ehrfurcht ergriffen, um ihn zu berühren. Er war weder eine Missgeburt noch ein Teufel, sondern in jeder Hinsicht vollkommen, ein wunderschöner Junge. Nachdem ich so lange hatte warten müssen, ihm zu begegnen, überwältigte mich die plötzliche Veränderung — nicht so sehr seine körperliche Anwesenheit, seine Geburt, nach der langen Zeit im Verborgenen —, sondern die Veränderung in mir, hin zu etwas erhaben Menschlichem. Tess lächelte über meine Verwirrtheit und den Ausdruck meiner Augen, als ich ihn betrachtete. »Du zerbrichst ihn schon nicht«, sagte sie. Mein Sohn. Unser Kind. Zehn Finger, zehn Zehen. Gute Farbe, kräftige Lungen, ein Naturtalent an der Brust. Ich hielt ihn auf dem Arm und erinnerte mich an die Zwillinge in ihren gleichen gelben Strampelanzügen, an meine Mutter, die mir etwas vorsang, wenn sie meinen Rücken in der Badewanne schrubbte, an meinen Vater, der mich an die Hand nahm, als wir bei einem herbstlichen Fußballspiel die Tribüne hochstiegen. Dann erinnerte ich mich an Clara, an meine erste Mutter, wie ich es liebte, unter ihre vielen Röcke zu krabbeln, und an den Duft nach Zau 182 bernuss auf den Wangen meines Vaters Abram, an seinen kitzeligen Schnurrbart, wenn er seine Lippen auf meine Haut drückte. Ich küsste unseren Jungen und dachte über das alltägliche Wunder der Geburt nach, über das Wunder meiner Frau, und war dankbar für das menschliche Kind. Wir nannten ihn Edward, und er gedieh. Da er 1970 zwei Wochen vor dem Weihnachtsfest zur Welt gekommen war, wurde er unser Christkind, und in diesen ersten Monaten zogen wir drei in das Haus, das Mutter und Charlie für uns in der Siedlung oben im Wald gekauft hatten. Anfangs konnte ich den
Gedanken, dort zu wohnen, nicht ertragen, doch sie hatten uns an unserem zweiten Hochzeitstag damit überrascht, Tess war schwanger, und Rechnungen türmten sich, so konnte ich nicht Nein sagen. Da das Haus mehr Platz bot, als wir brauchten, insbesondere bevor das Baby kam, richtete ich mir ein kleines Studio ein, in das ich das alte Klavier hineinstellte. Ich unterrichtete Siebtklässler in Musik und leitete das Schülerorchester der Mark-TwainMittelschule, und an den Abenden und Wochenenden, wenn ich mich nicht um das Baby kümmern musste, arbeitete ich an meiner Musik und träumte von einer Komposition, die den fließenden Übergang von einem Leben zum anderen heraufbeschwören würde. Zur Inspiration entfaltete ich hin und wieder die Fotokopie der Passagierliste und studierte die Namen. Abram und Clara, ihre Söhne Friedrich, Josef und Gustav. Die legendäre Anna. Bruchstückhaft erschienen mir ihre Geister. Ein Arzt lauscht meinem Herzschlag, während Mutter sich hinter seiner Schulter grämt. Gesichter beugen sich zu mir herunter und sprechen besorgt in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ihr dunkelgrüner Rock, als sie Walzer tanzt. Scharfer Geruch nach Apfelwein, 183 Sauerbraten im Ofen. Durch ein Eisblumenfenster sehe ich meine Brüder an einem Winter tag auf das Haus zukommen, ihr Atem wird zu Wölkchen, als sie sich einen geheimen Witz erzählen. Im Wohnzimmer steht das Klavier, das ich wieder berühre. Das Musizieren ist die einzig klare Erinnerung an das andere Leben. Nicht nur, dass ich mich an die vergilbten Tasten erinnere, an die kunstvoll verschlungenen Reben am verschnörkelten Notenhalter, an die Weichheit des polierten Rosenholzes, sondern ich höre wieder diese Melodien und empfinde das Gefühl, das er empfand, wenn er spielte — diese Tasten anschlug, diese Noten aus der Tiefe des Klaviers erklingen hörte. Aus der Verknüpfung von Noten entsteht die Melodie. Die Symbole der Partitur auf die entsprechenden Tasten zu übertragen und das richtige Tempo zu halten, macht das Lied aus. Meine einzig richtige Verbindung zu meiner ersten Kindheit ist dieses Gefühl, den Traum aus Noten lebendig werden zu lassen. Das Lied, das in meinem Kopf ertönt, wird zum Lied, das in der Luft erklingt. Als Kind war das meine Methode, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, und nun, etwa ein Jahrhundert später, versuchte ich, mit meiner Komposition den gleichen übergangslosen Ausdruck zu schaffen. Doch es kam mir so vor, als hätte ich den Schlüssel gefunden und das Schlüsselloch verloren. Ich war genauso hilflos wie Edward in seinem vorsprachlichen Leben und musste noch einmal ganz von vorne lernen, meine Wünsche mitzuteilen. Der Umgang mit unserem winzigen sprachlosen Jungen weckte in mir Erinnerungen an dieses verlorene Leben und ließ mich all die Erinnerungen lieb gewinnen, die Edward mit jedem Tag, der verging, schuf. Er krabbelte, er stand, er bekam Zähne, sein Haar wuchs, er entdeckte seine Liebe zu uns. Eine Zeit lang waren wir die vollkommen glückliche Familie. 183
Meine Schwestern ruinierten dieses Idealbild. Mary, die ein kleines Mädchen hatte, und Elizabeth, die ihr erstes Kind erwartete, waren die Ersten, die auf die Merkwürdigkeit hinwiesen. Der erweiterte Familienkreis hatte sich im Haus meiner Mutter zu einem Abendessen eingefunden. Edward war ungefähr achtzehn Monate alt, denn ich erinnere mich, dass ich ihn aufmerksam im Blick hatte, als er wieder und wieder die Stufen der Veranda hinauf- und hinunter watschelte. Charlie und die Ehemänner der Zwillinge sahen den letzten Minuten des Spiels vor dem Essen zu, und meine Mutter undTess kümmerten sich um die heißen Bratpfannen, daher war ich zum ersten Mal seit ewigen Zeiten mit den Mädchen allein, als eine der beiden ungefragt ihre Meinung äußerte. »Ich finde, er sieht dir überhaupt nicht ähnlich.« »Und von ihr hat er auch kaum etwas.« Ich warf einen Blick auf Edward, der Grashalme ausriss und sie in die unbewegte Luft warf. »Sieh doch nur sein Kinn«, sagte Liz. »Keiner von euch beiden hat da so eine Kerbe.« »Und seine Augen haben weder deine noch ihre Farbe«, meinte Mary. »Grün wie die einer Katze. Und diese Wimpern hat er auch nicht von unserer Familie. Du hast so wunderbar lange Wimpern, ja, hast du. Zu dumm, dass er kein Mädchen ist.« »Es sind aber auch nicht die Wimpern der Wodehouses. Sieh dir doch mal Tess genau an.« »Alles Mascara.« »Und die Nase. Jetzt noch nicht so groß, aber später, du wirst schon sehen. Das wird ein Zinken, armer kleiner Mann. Hoffentlich bekommt mein Kind nicht auch so eine Nase.« 184 »Kein Day hatte je so eine Nase.« »Was redet ihr beiden da?« Meine Stimme war so laut, dass ich meinen Sohn erschreckte. »Nichts.« »Irgendwie seltsam, findest du nicht, dass er keine Ähnlichkeit mit seinen Eltern hat.« Bei Sonnenuntergang saßen meine Mutter, Charlie und ich auf der Veranda und sahen dem Tanz der Motten zu. Wieder kam das Thema auf Edwards Aussehen. »Hör nicht auf das Gerede der beiden«, sagte meine Mutter. »Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, mit vielleicht ein bisschen Tess um die Augen herum.« Onkel Charlie saugte an seiner Bügelflasche und rülpste leise. »Der Junge sieht genauso aus wie ich. So wie alle meine Enkel.« Eddie wankte über die Holzdielen und warf sich an Charlies Beine, und als er um sein Gleichgewicht kämpfte, brüllte er wie ein Tiger. Als Edward älter wurde, sah er mehr wie ein Ungerland aus als ein Day, aber ich gab mein Bestes, die Wahrheit zu verbergen. Womöglich hätte ich Tess alles erklären sollen, vielleicht hätten dann meine Qualen ein Ende gehabt. Doch sie trug die spöttischen Bemerkungen über ihren Sohn mit Würde.
Einige Tage nach seinem zweiten Geburtstag kamen Oscar Love und Jimmy Cummings zum Abendessen zu uns. Nach dem Essen hatten wir unseren Spaß mit einem Arrangement, das ich geschrieben hatte in der Hoffnung, ein Kammermusikquartett der Stadt könnte sich dafür interessieren. Natürlich fehlte uns ein Musiker, denn George lebte nun schon lange in Kalifornien. Doch nach einigen Jahren wieder mit ihnen zusammen zu spielen, klappte problem 185 los und machte Freude. Tess entschuldigte sich, sie müsse in der Küche nach dem Zitronenbaiserkuchen sehen. Als Edward merkte, dass sie nicht mehr im Raum war, schrie er in seinem Laufstall und rüttelte mit den Fäusten an den Stäben. »Glaubst du nicht, dass er ein bisschen zu groß dafür ist?«, fragte Oscar. »Nach dem Essen kann er schon eine kleine Plage sein. Und übrigens ist er gerne da drin. Da fühlt er sich sicher.« Oscar schüttelte den Kopf, fischte Edward aus dem Ställchen, schaukelte ihn auf den Knien und ließ ihn die Tasten seiner Klarinette befingern. Als ich sah, wie meine Single-Freunde auf meinen Sohn reagierten, hatte ich unwillkürlich den Eindruck, dass sie ihre Freiheit gegen die Verlockungen einer Familie abwogen. Sie mochten den Jungen, hatten aber doch etwas Angst vor ihm und vor all dem, was mit einem Kind einherging. »Fasziniert von der Tröte«, sagte Oscar. »Wirklich ein tolles Kind. Du wirst nicht Klavier spielen wollen. Zu schwer, um es herumzutragen.« »Bist du sicher, dass er von dir ist?«, fragte Cummings. »Er sieht eigentlich überhaupt nicht aus wie du oder Tess.« Auch Oscar machte sich jetzt lustig. »Ja, jetzt, da du es sagst. . . sieh doch diese Kerbe im Kinn und die großen Augen.« »Jungs, hört auf damit.« »Entspann dich«, flüsterte Oscar. »Sie kommt.« Tess servierte das Dessert und achtete nicht auf das, was wir redeten. Ich hätte meinen nagenden Zweifel vorbringen, einen Scherz darüber machen, in ihrer Gegenwart etwas dazu sagen sollen, aber ich tat es nicht. »Na, Tess«, fragte Jimmy, der seinen Kuchenteller auf den Knien balancierte, »was glaubst du: Wem ähnelt Eddie?« 185 »Du hast ein bisschen Baiser am Mundwinkel.« Sie nahm unseren Sohn hoch, setzte ihn sich auf den Schoß, strich über sein Haar und drückte seinen Kopf an ihre Brust. »Wie geht es meinem Männlein?« Edward patschte mit der Hand mitten in den Kuchen, griff einen Klumpen des gelben, klebrigen Zeugs und stopfte es sich in den Mund. Sie lachte. »Genau wie sein Vater.« »Danke dir, meine Liebste.« Sie warf mir ein Lächeln zurück. Nachdem die Jungs sich verabschiedet hatten und Edward in seinem Bettchen schlief, spülten Tess und ich gemeinsam das Geschirr und sahen dabei zum Küchenfenster hinaus. Am kalten schwarzen Himmel funkelten die Sterne wie Nadelstiche, das heiße Wasser in der Spüle und der bullernde Ofen gaben dem
Raum eine dämpfige Schwüle. Ich legte das Geschirrtuch beiseite, schlang von hinten meine Arme um sie und küsste ihren feuchtwarmen Nacken, dass sie erbebte. »Ich hoffe, du warst nicht allzu sauer, wie Jimmy immer wieder davon geredet hat, dass Eddie nicht so viel Ähnlichkeit mit uns beiden hat.« »Ich weiß«, entgegnete sie. »Es ist gruselig.« Den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, sie habe den Verdacht, etwas stimme nicht, doch sie drehte sich zu mir um und nahm mein Gesicht zwischen ihre Gummihandschuhhände. »Du machst dir Sorgen über die blödesten Dinge.« Sie küsste mich, und wir sprachen über etwas anderes. Einige Nächte später lagen Tess und ich schlafend im Bett und Edward am Ende des Flurs in seinem Zimmer. Sie weckte mich, indem sie an meiner Schulter rüttelte und schrill in einer Art 186 schreiendem Flüstern zu mir sagte: »Henry, Henry, wach auf. Ich habe unten Geräusche gehört.« »Was ist los?« »Hör doch. Unten ist jemand.« Ich grummelte, es sei nichts. »Und ich sage dir, es ist jemand im Haus. Sieh doch mal nach.« Ich rollte mich aus dem Bett, und nachdem ich einen Moment gestanden und versucht hatte, alle meine Sinne zu wecken, ging ich an Edwards geschlossener Zimmertür vorbei zur Treppe. Ich sah es zwar nicht, aber ich hatte den Eindruck, unten sei ein Licht ausgegangen, und etwas Schattenhaftes bewege sich von einem Raum zum anderen. Angstlich ging ich in einer Art hypnotischer Trance Stufe für Stufe hinunter und durchlitt verschiedenste Gefühlsregungen, während es dunkler und dunkler wurde. Unten am Treppenabsatz angekommen, ging ich ins Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. Der Raum sah unverändert aus, mit Ausnahme von ein paar Fotos an der Wand, die leicht schief hingen. Wir hatten eine Art Familiengalerie aufgehängt, Bilder unserer Eltern, Fotos von Tess und mir aus Kinderzeiten, ein Hochzeitsfoto und eine Reihe von Porträts, auf denen Edward zu sehen war. Ich stupste die Rahmen wieder gerade, und im selben Augenblick hörte ich, wie sich der Riegel an der Küchentür drehte. »Hey, wer ist da?«, rief ich und rannte hinüber. Im letzten Moment erhaschte ich noch einen Blick auf den Rücken eines Kobolds, der sich durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen quetschte. Drei Gestalten flitzten draußen in der kalten, dunklen Nacht über den eisigen Rasen und lösten die Flutlichter aus, ich schrie ihnen nach, sie sollten stehen bleiben, aber da waren sie schon verschwunden. Die Küche war ein Chaos, die Speise 186 kammer geplündert, es fehlten Konserven, Frühstücksflocken, Zucker und eine kleine Kupferkasserolle, aber nicht viel mehr. Eine Tüte Mehl war geplatzt, als sie sich durch die Tür gezwängt hatten, und hatte eine staubige Spur mit ihren Fußabdrücken hinterlassen. Die sonderbarste Art eines Einbruchs einer Bande hungriger Diebe. Tess kam die Treppe herunter und war arg mitgenommen von der Aufregung, doch sie schob mich aus der Küche, um sie wieder in Ordnung zu bringen. Zurück im Wohnzimmer, überprüfte ich
noch einmal unsere Besitztümer: Alles war da — der Fernseher, die Stereoanlage, nichts Wertvolles fehlte. Ich betrachtete die Fotos näher. Tess sah fast noch genauso aus wie am Tag unserer Hochzeit. Sergeant William Day blickte in seiner Armeeuniform weiterhin stur geradeaus. Ruth Day sah aus den Augenwinkeln auf ihren Sohn, kaum älter als ein Kind mit einem Kind, doch voller Liebe und Stolz. Auf dem nächsten Bild war ich, wieder Junge, den Blick hoffnungsvoll nach oben gerichtet. Aber natürlich war es nicht ich. Der Junge war zu jung. Und in diesem Augenblick wurde mir bewusst, wer hier gewesen war und aus welchem Grund. Tess kam herein und legte mir die Hand auf den Rücken. »Sollen wir die Polizei rufen? Fehlt irgendetwas?« Ich konnte nicht antworten, denn mein Herz raste, und ein überwältigendes Grauen lähmte mich völlig. Wir hatten noch nicht nach unserem Sohn gesehen. Ich spurtete die Treppe hoch in sein Zimmer. Er schlief, hatte die Knie an die Brust gezogen und träumte, als wäre nichts geschehen. Als ich sein unschuldiges Gesicht ansah, wusste ich plötzlich, dass er Blut meines Blutes war. Er sah beinahe wie der Junge aus, den ich noch immer in meinen Albträumen sehe. Der Junge am Klavier. 187 Kapitel 30 Ich steckte Specks Brief in mein Buch und machte mich auf die Suche nach ihr. Die Panik gewann die Oberhand über die Logik, und ich rannte hinaus auf die Wiese vor der Bibliothek, in der Hoffnung, sie wäre erst wenige Momente zuvor aufgebrochen. Der Schnee war in kalten Regen übergegangen und löschte die Spuren, die sie hinterlassen haben könnte. Keine Menschenseele war zu sehen. Niemand antwortete, wenn ich ihren Namen rief, und die Straßen waren merkwürdig leer, als die Kirchenglocken einen weiteren Sonntag einläuteten. Ich war verrückt, mich mitten am Vormittag in die Stadt zu wagen. Auf meinem Weg durch das Labyrinth der Bürgersteige hatte ich keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Ein Auto kam langsam um die Kurve und bremste, als die Fahrerin mich durch den Regen laufen sah. Sie hielt an, kurbelte das Fenster herunter und rief: »Soll ich dich mitnehmen? Du holst dir den Tod bei dieser Kälte.« Zum Glück dachte ich daran, meine Stimme verständlich zu machen — das einzig Gute an diesem elenden Tag. »Nein, vielen Dank, Madam. Ich laufe nach Hause.« »Nenn mich nicht Madam«, sagte sie. Sie hatten einen blonden Pferdeschwanz wie die Frau in dem Haus, das wir einige 187 Monate zuvor ausgeräubert hatten, und ein schiefes Lächeln. »Es ist ein fürchterlicher Morgen für einen Spaziergang. Und du hast keine Mütze und keine Handschuhe.« »Ich wohne um die Ecke, danke.« »Kenne ich dich?« Ich schüttelte den Kopf, und sie begann, das Fenster wieder hochzukurbeln.
»Sie haben nicht zufällig ein kleines Mädchen gesehen?«, rief ich schnell. »Bei diesem Regen?« »Meine Zwillingsschwester«, log ich. »Ich suche sie. Sie ist ungefähr so groß wie ich.« »Nein. Ich habe niemanden gesehen.« Sie sah mich prüfend an. »Wo wohnst du? Wie heißt du?« Ich zögerte und hielt es für das Beste, das Gespräch zu beenden. »Ich heiße Billy Speck.« »Du gehst besser nach Hause, Junge. Sie wird schon auftauchen.« Der Wagen bog um die nächste Ecke und fuhr davon. Entmutigt ging ich zum Fluss, weg von all diesen verwirrenden Straßen und dem Risiko, dem nächsten Menschen zu begegnen. Es fiel ein stetiger Niesel, nicht kalt genug, um wieder in Schnee umzuschlagen, und so war ich durchnässt, und ich fror. Da die Sonne hinter Wolken versteckt war und ich Schwierigkeiten hatte, mich zu orientieren, nutzte ich den Fluss als Kompass und folgte seinem Lauf den ganzen trüben Tag lang bis in die langsam einfallende Dunkelheit hinein. Ich suchte sie so verzweifelt, dass ich erst spätnachts aufgab. Unter einem immergrünen Gebüsch, in dem Scharen von Spatzen und Hähern saßen, ruhte ich mich aus und wartete darauf, dass der Regen aufhörte. 188 Hier, außerhalb der Stadt, hörte ich nichts, nur das Plätschern des Flusses gegen das steinige Ufer. Kaum hatte ich meine Suche abgebrochen, stürmten die Fragen, die ich mir bis dahin vom Leib gehalten hatte, auf mich ein. Nicht zu lösende Ungewissheiten, die mich in ruhigen Momenten der nächsten Jahre peinigen sollten. Warum hatte sie uns verlassen? Warum hatte Speck mich verlassen? Sie war wohl kaum ein Risiko eingegangen, wie Kivi und Blomma. Sie hatte sich dafür entschieden, allein zu sein. Obwohl Speck mir meinen richtigen Namen preisgegeben hatte, hatte ich keine Ahnung von ihrem. Wie konnte ich sie nur finden? Hätte ich schweigen oder ihr alles sagen sollen, damit sie einen Grund gehabt hätte zu bleiben? Ein spitzer Schmerz wallte hinter meinen Augen auf und quälte meinen pochenden Schädel. Und sei es nur, um der Qual ein Ende zu setzen, stand ich auf, stolperte weiter durch die regennasse Nacht — und fand nichts. Durchgefroren, müde und hungrig erreichte ich nach zwei Tagen Fußmarsch die Flussbiegung. Speck war bisher die Einzige von uns gewesen, die so weit gekommen war, und irgendwie war sie auf die andere Seite des Wassers gelangt, das saphirblau dahinpreschte und sich über verborgenen Steinen und Baumstümpfen in glitzernden Schaumkronen brach. Sollte sie auf der anderen Seite sein, so hatte sie den Fluss mit viel Mut überquert. Am gegenüberliegenden Ufer tauchte plötzlich aus meinen tiefen, wild gewordenen Erinnerungen ein Bild auf — ein Mann, eine Frau und ein Kind, die flinke Flucht eines weißen Hirschs, eine Frau in einem roten Mantel. »Speck«, rief ich über das Wasser, aber sie war nirgends. Hinter dieser Flusskrümmung erstreckte sich die ganze Welt, zu groß und zu unbekannt. Hoffnung und Mut verließen mich. Da ich nicht wagte, den Fluss zu
189 überqueren, setzte ich mich an die Uferböschung und wartete. Am dritten Tag ging ich ohne sie nach Hause. Erschöpft und niedergeschlagen taumelte ich ins Lager und hoffte, kein Wort sagen zu müssen. Die anderen hatten sich an den ersten Tagen keine Sorgen gemacht, doch gegen Ende der Woche waren sie ängstlich und unruhig geworden. Nachdem sie ein Feuer gemacht und mir Nesselsuppe aus einem Kupfertopf eingeflößt hatten, brach die ganze Geschichte aus mir heraus — mit Ausnahme der Enthüllung meines Namens, mit Ausnahme dessen, was ich ihr nicht gesagt hatte. »Kaum hatte ich bemerkt, dass sie weg war, habe ich mich auf die Suche nach ihr begeben und bin bis zur Flussbiegung gegangen. Vielleicht ist sie für immer fort.« »Schätzchen, leg dich hin und schlaf«, sagte Smaolach. »Wir werden uns bis zum Morgen einen Plan überlegen. Kommt Zeit, kommt Rat.« Es gab keinen Plan oder Rat am nächsten oder an irgendeinem anderen Morgen. Tage kamen und vergingen. Ich deutete jeden spannungsgeladenen Moment, jedes Knacken und Knirschen, jedes Wispern, jedes Morgengrauen als ihre Rückkehr. Die anderen respektierten meinen Kummer und hielten sich zurück, versuchten, mich einzubeziehen, und ließen mich dann wieder wegdriften. Auch ihnen fehlte sie, aber die Trauer der anderen kam mir armselig vor. Und ich verübelte ihnen ihre vagen Reminiszenzen und ihre Unfähigkeit, sich richtig zu erinnern. Ich hasste sie alle fünf dafür, dass sie sie nicht aufgehalten, dass sie mir dieses Leben aufgezwungen hatten, und für die tosende Hölle meiner Phantasie. Immer wieder dachte ich, ich sähe sie. Hielt ich irrtümlich einen der anderen für sie, raste mein Herz und sackte wieder in sich zusammen, wenn sich heraus 189 stellte, dass es bloß einer von uns war. Oder ich meinte, ihr dunkles Haar im Flügel eines Raben zu erkennen. Am Ufer des Flüsschens, wo ich dem Wasser zusah, wie es über die Steine plätscherte, entdeckte ich ihre vertraute Gestalt, mit unter den Körper gezogenen Beinen. Das Bild stellte sich als ein Rehkitz heraus, das an einem sonnenbeschienenen Plätzchen verweilte und sich ausruhte. Sie war überall, immerzu. Aber nie hier. Ihre Abwesenheit hinterlässt eine Leere in meiner Geschichte. Ich verbrachte eine Ewigkeit mit dem Versuch, sie zu vergessen, und eine weitere, mich wieder an sie zu erinnern. Für eine solche Wunde gibt es keinen Balsam. Die anderen hielten sich daran, in meiner Gegenwart nicht von ihr zu sprechen, doch eines Nachmittags, als ich vom Fischen kam, überraschte ich sie bei einem Gespräch, das nicht für meine Ohren bestimmt war. »Nein, nicht unsere Speck«, sagte gerade Smaolach zu den anderen. »Sollte sie noch am Leben sein, käme sie nicht unseretwegen zurück.« Die Elben warfen mir verstohlene Blicke zu, da sie nicht wussten, wie viel ich gehört hatte. Ich legte meine Angel ab und fing an, die Fische zu schuppen, wobei ich so tat, als hätte mir ihr Gespräch nichts ausgemacht. Doch Smaolachs Worte gaben mir zu denken. Es war zwar möglich, dass sie nicht überlebt hatte, doch ich dachte lieber, sie sei in die obere Welt gegangen oder
säße nun an ihrem geliebten Meer. Das Bild des Ozeans rief mir die leuchtende Farbe ihrer Augen in Erinnerung, und ein kurzes Lächeln huschte mir übers Gesicht. »Sie ist weggegangen«, eröffnete ich der schweigenden Runde. »Ich weiß es.« Den nächsten Tag brachten wir damit zu, Steine im Bett des 190 Flüsschens umzudrehen und versteckte Molche und Salamander aufzuklauben, die wir zu einem Eintopf kochten. Es war ein heißer Tag, und die Arbeit forderte ihren Tribut. Ausgehungert, wie wir waren, genossen wir ein üppiges, schleimiges Mahl, voller winziger Knöchelchen, die knirschten, wenn wir sie zerkauten. Als die Sterne am Himmel erschienen, gingen wir alle mit vollem Bauch und schmerzenden Muskeln von der langen Tagesarbeit zu Bett. Am nächsten Morgen erwachte ich erst ziemlich spät und musste noch etwas benommen feststellen, dass sie mir am Tag zuvor, als wir unsere Nahrung sammelten, nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen war. Ich atmete tief durch. Ich war im Begriff zu vergessen. Dumpfheit trat an die Stelle von Specks Gegenwart. Ich saß herum und starrte in den Himmel oder sah den hin und her krabbelnden Ameisen zu, und diese Übung vertrieb sie aus meinem Kopf. Alles, was eine Erinnerung heraufbeschwor, konnte seiner persönlichen, verankerten Bedeutung entledigt werden. Eine Himbeere ist eine Himbeere. Die Drossel ist eine Metapher für gar nichts. Worte haben die Bedeutung, die man ihnen gibt. Auch Henry Day versuchte ich zu vergessen und akzeptierte meinen Platz als der Letzte meiner Art. Wir alle warteten auf nichts. Smaolach sagte es zwar nicht, aber ich wusste, dass er keinerlei Anstalten machte, seinen Wechsel vorzubereiten. Und er heckte keine Pläne aus, ein Kind zu stehlen. Vielleicht meinte er, wir seien zu wenige für die vielschichtigen Vorbereitungen, oder aber er spürte, dass die Welt im Begriff war, sich zu verändern. Zu Igels Zeiten kam das Thema mit einer gewissen Unerbittlichkeit ständig zur Sprache, unter Beka schon weniger und unter Smaolach nie. Keine Erkundungsgänge in die Stadt, keine Suche nach dem einsamen, vernachläs 190 sigten oder verlorenen Kind. Kein Zerren am Gesicht, keine Verrenkungen, keine Berichte. Als hätten wir resigniert, gingen wir unseren ewiggleichen Beschäftigungen nach, in der Gewissheit, dass uns eine weitere Katastrophe oder ein weiterer Verzicht bevorstand. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich war von einer gewissen Furchtlosigkeit und zögerte nicht, allein in die Stadt zu laufen, und sei es nur, um eine Stange Zigaretten für Luchog oder eine Tüte Süßigkeiten für Chavisory zu klauen. Ich stahl unnützes Zeug: eine Taschenlampe und Batterien, einen Zeichenblock und Kohlestifte, einen Baseball und sechs Angelhaken und einmal zu Weihnachten einen köstlichen Kuchen, der die Form eines Holzscheits hatte. An den Waldrändern vertrödelte ich die Zeit mit müßigen Aufgaben — eine grimmige Fledermaus auf die Spitze eines Hickorystocks zu schnitzen, einen Ring aus Steinen um unser Lager zu legen oder alte Schildkrötenpanzer zu
suchen und daraus eine Halskette zu basteln. Ich stieg allein den Schlackeberg zum aufgegebenen Bergwerk hinauf, das noch genauso unberührt dalag, wie wir es verlassen hatten, und legte die Schildpattkette an die Stelle, wo Ragno und Zanzara verschüttet worden waren. Meine Träume weckten mich nicht mehr mitten in der Nacht, aber nur weil das Leben ein wandelnder Albtraum geworden war. Einige Jahreszeiten waren vergangen, als mir eine zufällige Begegnung klarmachte, dass es mir unmöglich war, Speck zu vergessen. Wir jäteten gerade den Boden rund um zarte Sämlinge, die wir auf einem Sonnenhang einige hundert Meter von unserem Lager entfernt angepflanzt hatten. Onions hatte Saatgut gestohlen, und schon nach wenigen Wochen sprossen die ersten feinen Schösslinge — Erbsen, Karotten, Schalotten, eine Wassermelonen 191 ranke und eine Reihe mit Bohnen. Chavisory, Onions, Luchog und ich jäteten unseren Garten an diesem Frühlingsmorgen, als wir uns wegen des Geräuschs herannahender Schritte wie Wild reckten und die Nase in den Wind hielten, bereit zu fliehen oder uns zu verstecken. Die Eindringlinge waren Wanderer, die sich verirrt hatten, sie gingen abseits des Wegs und kamen direkt auf uns zu. Seitdem die Siedlung gebaut worden war, war uns nur höchst selten jemand in die Quere geraten, aber unser kultiviertes Fleckchen würde wohl für diese Fremden mitten im Niemandsland etwas seltsam aussehen. Wir deckten es mit Kieferzweigen ab und versteckten uns hinter Bäumen. Zwei junge Männer und eine junge Frau, mit Kappen auf den Köpfen und riesigen Rucksäcken auf den Schultern, spazierten heiter und selbstvergessen daher. Sie schlenderten an den Gemüsereihen und an uns vorbei. Der erste Mann hatte die Welt voraus im Auge. Die zweite Person — die Frau — hatte ihn im Auge, und der dritte hatte ihren Hintern im Auge. Obwohl sie sich verirrt hatten, schien er ganz konzentriert auf das eine. Wir folgten ihnen im sicheren Abstand, bis sie sich schließlich am nächsten Hügel niederließen, wo sie aus ihren Wasserflaschen tranken, ihre Schokoriegel auspackten und ihre Last abwarfen. Der erste Mann zog ein Buch heraus und las der jungen Frau etwas vor, während der andere Mann in den Büschen verschwand, um sich zu erleichtern. Er blieb lange verschwunden, denn der Mann mit dem Buch hatte nicht nur Gelegenheit, sein Gedicht ganz vorzulesen, sondern auch noch das Mädchen zu küssen. Als ihr kleines Intermezzo beendet war, schnallten sich die drei die Rucksäcke wieder auf und marschierten weiter. Wir verharrten einen Augenblick, bis wir dann zu der Stelle rannten, wo sie Rast gemacht hatten. 191 Luchog schnappte sich die beiden leeren Wasserflaschen, die sie achtlos liegen gelassen hatten, und fand die Verschlüsse ganz in der Nähe. Die Zellophanverpackungen ihrer Riegel hatten sie weggeworfen, und der eine hatte seinen schmalen Gedichtband im Gras vergessen. Chavisory reichte ihn mir, The Blue Estuaries von Louise Bogan. Ich blätterte ein wenig durch die Seiten und hielt inne bei dem Vers »Mögen mehr Dinge sich bewegen/als nur das Blut im Herzen«.
»Speck«, sagte ich vor mich hin. Seit Ewigkeiten, seit Jahrhunderten hatte ich ihren Namen nicht mehr laut ausgesprochen. »Was ist los, Aniday?«, wollte Chavisory wissen. »Ich versuche gerade, mich zu erinnern.« Wir vier machten uns auf den Rückweg zu unserem Garten. Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, ob meine Gefährten denselben Weg nahmen wie ich, nur um überrascht zu entdecken, dass Luchog und Chavisory sich bei ihren schwungvollen Schritten an der Hand hielten. Speck beherrschte wieder meine Gedanken. Ich verspürte den unbändigen Wunsch, sie zu finden, und sei es nur, um zu verstehen, warum sie gegangen war. Um ihr zu sagen, dass ich in Gedanken heimlich noch immer mit ihr sprach. Ich hätte sie bitten sollen, nicht zu gehen, hätte die richtigen Worte finden müssen, um sie zu überzeugen, hätte ihr alles gestehen müssen, was mein Herz bewegte. Und in der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät war, entschloss ich mich, die Suche wieder aufzunehmen. 192 Kapitel 31 Ich möchte nicht wieder Kind sein, denn ein Kind lebt in Unsicherheit und Gefahr. Wir können nicht umhin, um unser Fleisch und Blut zu fürchten, genauso wie wir hoffen, dass es seinen Weg in diesem Leben findet. Nach dem Einbruch war ich in ständiger Sorge um unseren Sohn. Edward ist nicht der, für den wir ihn ausgeben, denn sein Vater ist ein Schwindler. Er ist kein Day, sondern das Kind eines Wechselbalgs. Ich hatte ihm meine ursprünglichen Gene weitergereicht, die ihm das Gesicht und die Züge eines Ungerland verliehen, und wer weiß, welche anderen Eigenheiten noch von Generation zu Generation übergesprungen waren. Von meiner eigenen Kindheit weiß ich nur wenig mehr als den Namen auf einem Stück Papier: Gustav Ungerland. Ich wurde vor langer Zeit gestohlen. Und als die Wechselbälger wiederkamen, glaubte ich, sie sähen Edward als einen der Ihren an und wollten ihn sich holen. Das Chaos, das sie in der Küche hinterlassen hatten, war nur eine Täuschung für ein weit unheilvolleres Ziel gewesen. Die verschobenen Fotos an der Wand waren der Hinweis darauf, dass sie jemanden suchten. Böses schwebte im Hintergrund und schlich durch den Wald mit der Absicht, unseren Sohn zu rauben. An einem Sonntag im Frühling verloren wir Edward. An die 192 sem herrlich warmen Nachmittag waren wir zufällig in der Stadt, denn ich hatte in einer Kirche in Shadyside eine annehmbare Orgel entdeckt, und nach den Gottesdiensten erlaubte mir der für die Musik zuständige Pfarrer, eine Stunde lang auf dem Instrument zu spielen, wo ich ausprobierte, welche neuen Klänge mir durch den Kopf jagten. Danach führten Tess und ich Edward in den Zoo, damit er zum ersten Mal leibhaftige Elefanten und Affen sehen konnte. Viele Menschen hatten dieselbe Idee gehabt, und die Gehwege waren gesteckt voll mit Paaren, die Kinderwagen schoben, mit vereinzelten Teenagern, sogar mit einer Familie mit sechs rothaarigen Kindern, die mit
einem Jahr Altersunterschied gestaffelt waren, eine verschworene, sommersprossige und blauäugige Truppe. Viel zu viele Leute für meinen Geschmack, doch wir ließen uns vorwärtsschubsen, ohne zu klagen. Edward war fasziniert von den Tigern und tummelte sich vor dem Eisengitter, wobei er an seiner Zuckerwatte zupfte und die Tiere anbrüllte, um sie aus ihrer Schläfrigkeit aufzuscheuchen. Versunken in seine schwarzorangefarbenen Träume, zuckte ein Tiger mit dem Schwanz, er fühlte sich gestört durch das flehentliche Bitten meines Sohns. Tess nutzte Edwards Abgelenktheit, um mich anzusprechen. »Henry, ich will mit dir über Eddie reden. Findest du, dass mit ihm alles in Ordnung ist? Seit einiger Zeit hat sich etwas verändert, und etwas . . . ich weiß nicht. . . ist da nicht normal.« Ich sah ihn über ihre Schulter hinweg. »Er ist vollkommen normal.« »Oder vielleicht liegt es an dir«, meinte sie. »Du bist in letzter Zeit anders mit ihm. Du bist überfürsorglich, du lässt ihn nicht Kind sein. Er sollte draußen Kaulquappen fangen und auf Bäume klettern, aber es ist, als hättest du Angst um ihn, wenn du 193 ihn nicht im Blick hast. Er muss die Chance bekommen, selbstständiger zu werden.« Ich zog sie zur Seite, außer Hörweite unseres Sohns. »Erinnerst du dich an die Nacht, als bei uns eingebrochen wurde?« »Ich wusste es«, sagte sie. »Du hast gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, dabei machst du dir deswegen Gedanken, oder?« »Nein, nein, ich habe mich nur erinnert, als ich mir in jener Nacht die Fotos an der Wand angesehen habe. Ich musste an die Träume meiner Kindheit denken — Jahre am Klavier, auf der Suche nach der richtigen Musik als Ausdruck meiner selbst. Ich habe nach Antworten gesucht, Tess, und sie befanden sich genau unter meinen Fingerkuppen. Heute in der Kirche klang die Orgel genauso wie die in der Sankt-Nikolaus-Kirche in Cheb. Die Orgel ist die Antwort auf die Symphonie. Orgel und Orchester.« Sie schlang ihre Arme um mich und drückte sich an meine Brust. Ihre Augen waren voll Licht und Hoffnung, und in meinen verschiedenen Leben hatte nie jemand so großes Vertrauen in mich gezeigt, in den Kern dessen, als den ich mich selbst sah. Ich liebte sie so sehr in diesem Augenblick, dass ich die Welt und alles um mich herum vergaß, und da bemerkte ich, über ihre Schulter hinweg, dass unser Sohn weg war. Verschwunden von der Stelle, wo er gerade noch stand. Mein erster Gedanke war, dass ihn die Tiger gelangweilt hätten und er nun zu unseren Füßen oder neben uns sei und uns gleich bitten würde, ihn für eine Umarmung zu dritt in unsere Mitte zu nehmen. Diese Hoffnung trog und wurde von der Horrorvision abgelöst, Edward habe sich irgendwie zwischen den Gitterstäben hindurchgezwängt und sei auf der Stelle von den Tigern gefressen worden, doch ein rascher Blick in deren Käfig zeigte nichts außer zwei trägen, im milden Sonnenschein ausgestreckte, schlafende Katzen. In mei 193
ner tumultartigen Phantasie tauchten Wechselbälger auf. Ich sah wieder zu Tess und fürchtete, ihr das Herz zu brechen. »Er ist weg«, sagte ich und rückte von ihr ab. »Edward!« Sie schnellte herum und lief zu der Stelle, wo wir ihn zuletzt gesehen hatten. »Eddie!«, schrie sie. »Wo um alles in der Welt bist du?« Wir gingen zu den Löwen und Bären, riefen seinen Namen. Jedes Mal stieg ihre Tonlage um eine Oktave und beunruhigte die anderen Eltern. Tess hielt ein älteres Ehepaar an, das in die entgegengesetzte Richtung ging. »Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen? Allein. Drei Jahre alt. Zuckerwatte.« »Aber hier gibt es doch nur Kinder«, sagte der alte Mann und deutete mit magerem Finger in die hinter uns liegende Ferne. Eine lachende, eilende Kinderschar jagte etwas über einen schattigen Weg. Vor der Rasselbande hetzte ein Tierpfleger, der sich bemühte, die Kinder zurückzuhalten und gleichzeitig seiner Beute hinterherzulaufen. An der Spitze der Gruppe rannte Edward in seinem gewissenhaften, schwerfälligen Trab und jagte einem schwarzfüßigen Pinguin hinterher, der aus seinem Gehege entwischt war und nun frei und unbeirrt vielleicht zurück zum Meer watschelte oder einen frischen Fisch suchte. Der Mann raste an Edward vorbei und holte den Vogel ein, der wie ein Esel schrie. Den Schnabel mit einer Hand umschließend und den Vogel an seine Brust pressend, lief der Pfleger an uns vorbei, als wir gerade bei unserem Sohn angelangt waren. »So ein Tohuwabohu«, meinte er zu uns. »Der hier schlüpft aus dem Gehege und haut ab, wohin immer es ihm gefällt. Manche Geschöpfe haben so einen starken Willen.« Wir nahmen Edwards Hände in unsere und waren entschlossen, ihn nie mehr wieder loszulassen. 194 Edward war ein Drachen an einer Schnur, der ständig drohte, sich loszureißen. Bevor er auf die Schule ging, war er zu Hause in Sicherheit. Morgens passte Tess auf ihn auf, und an den Nachmittagen während der Woche war ich zu Hause und hütete ihn. Als er vier war, nahm ich Eddie auf meinem Weg zur Arbeit mit. Ich setzte ihn an der Vorschule ab und machte dann nach dem Twain, wenn mein Musikunterricht vorbei war, wieder einen Schlenker. In unseren wenigen Stunden zu zweit brachte ich ihm Tonleitern bei, doch wenn er das Klavier satt hatte, trollte er sich zu seinen Klötzen und Dinosauriern, erfand Phantasiespiele und Freunde, um sich die einsamen Stunden zu vertreiben. Hin und wieder brachte er für den Nachmittag einen Spielkameraden mit, aber diese Kinder schienen nie ein zweites Mal zu kommen. Mir gefiel das, da ich seinen Spielkameraden nie ganz traute. Jeder hätte ein verkleideter Wechselbalg sein können. Merkwürdigerweise gedieh meine Musik in dieser Splendid Isolation, die wir uns selbst zurechtgemeißelt hatten. Während er sich mit seinen Spielsachen und Büchern beschäftigte, komponierte ich. Tess ermutigte mich, meinen eigenen Klang zu finden. Fast jede Woche brachte sie ein Album mit Orgelmusik mit, das sie in einem staubigen Secondhand-Plattenladen aufgetrieben hatte. Sie erbettelte Eintrittskarten für Konzerte in der Heinz Hall, grub irgendwo Notenblätter und Bücher über Orchestrierung und
Instrumentation aus und bestand darauf, dass ich in die Stadt ging und die Musik in meinem Kopf in wohlwollenden Kirchen und im College ausarbeitete. Im Wesentlichen versuchte sie das Repertoire der Schatztruhe von Cheb zusammenzubekommen. Ich schrieb Dutzende Stücke, auch wenn meine Mühen nur mit wenig Erfolg oder Aufmerksamkeit belohnt wurden — mal eine Pflichtaufführung eines neuen Arran 195 gements durch einen Chor der Stadt oder einen Abend an der Hammondorgel mit einem Bläserensemble aus dem Hinterland. Ich tat alles, damit meine Musik gehört wurde, schickte Tonbänder und Partituren an Verleger und Künstler im ganzen Land, erhielt aber in der Regel eine Standardabsage, wenn überhaupt etwas kam. Jeder große Komponist durchläuft so etwas wie eine Lehrzeit, sogar Mittelschullehrer, doch in meinem Innern wusste ich, dass die Kompositionen noch nicht dem entsprachen, was ich mir vorgenommen hatte. Ein Telefonanruf veränderte alles. Ich war gerade mit Edward, den ich von der Vorschule abgeholt hatte, zur Tür hereingekommen. Die Stimme am anderen Ende klang wie aus einer anderen Welt. Ein viel versprechendes Quartett aus Kalifornien, das auf experimentelle Musik spezialisiert war, zeigte tatsächlich Interesse, eine meine Kompositionen aufzunehmen, ein atonales Stück, das ich kurz nach dem Einbruch komponiert hatte. George Knoll, mein alter Freund von den Coverboys, hatte meine Partitur weitergereicht. Als ich ihn anrief, um ihm zu danken, lud er uns für ein paar Tage zu sich sein, so könnte ich bei der Aufnahme dabei sein. Also flogen Tess, Edward und ich in diesem Sommer 1976 zu den Knolls nach San Francisco und verbrachten wunderbare Tage mit George und seiner Familie. Sein bescheidenes Cafe in North Beach war das einzige echt andalusische Restaurant unter einer Vielzahl von italienischen, und seine umwerfende Frau und Chefköchin kam uns bei unserer Arbeit nicht in die Quere. Es machte Freude, die beiden zu sehen, und die wenigen Tage fern von zu Hause linderten meine Ängste. In Kalifornien schlich nichts Unheimliches herum. Der Pastor der Grace Cathedral in San Francisco gestattete uns, an einem Nachmittag die Aufnahme zu machen, und die 195 Orgel konnte es in Klang und Ausgewogenheit mit dem alten Instrument aufnehmen, auf dem ich in Cheb gespielt hatte. Ebenso wie dort überfiel mich hier, als ich die Pedale trat, das Gefühl, nach Hause zu kommen, und schon bei den ersten Klängen wurde ich ganz süchtig nach der Klaviatur. Das Quartett änderte wenige Takte und Noten, und nachdem wir meine Fuge für Orgel und Streicher zum siebten Mal gespielt hatten, waren alle mit dem Klang sehr zufrieden. In neunzig Minuten war meine Begegnung mit dem Ruhm vorüber. Als wir uns verabschiedeten, schienen alle trotz unserer beschränkten Erfolgsaussichten ganz zuversichtlich. Tausend Leute würden vielleicht die Platte kaufen und mein Stück hören, doch der Reiz, endlich an einem Album mitzuwirken, verdrängte alle Bedenken hinsichtlich der Anzahl der Hörer. Da der Cellist des Quartetts uns geraten hatte, uns keinesfalls Big Sur entgehen zu lassen, mieteten wir am letzten Tag vor unserem Heimflug einen
Wagen und fuhren über den Pacific Coast Highway nach Süden. Obwohl an diesem Vormittag die Sonne meist hinter Wolken verschwand und immer nur kurz wieder auftauchte, war die Felsküste hinreißend schön. . . Weil Tess schon immer das Meer hatte sehen wollen, beschlossen wir, vom Highway abzufahren und an einer Bucht der Ventana Wilderness Rast zu machen. Als wir zum Strand wanderten, kam leichter Nebel auf, der den Pazifik dunkel färbte. Statt umzukehren, entschieden wir uns für ein Picknick an einem kleinen, sichelförmigen Strand neben den McWay Falls, wo Wasser von der etwa fünfundzwanzig Meter hohen Granitklippe ins Meer stürzt. Auf dem Weg dahin sahen wir keine anderen Autos und glaubten, wir hätten den Ort für uns allein. Nach dem Essen streckten Tess und ich uns auf einer Decke aus, und Eddie, mittlerweile fünf 196 Jahre alt und voller Energie, rannte über den Strand. Ein paar Möwen lachten uns von den Felsen herab aus. Und in unserer Abgeschiedenheit fühlte ich mich zum ersten Mal seit ewigen Zeiten ruhig. Vielleicht war es der Rhythmus der Wellen oder die frische Luft, die uns müde machte. Tess und ich dösten auf der Decke ein. Ich hatte einen sonderbaren Traum, der mich schon seit langer, langer Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Ich war wieder bei den Kobolden, und wir pirschten uns an den Jungen heran wie Löwen an die Beute. Ich griff in einen hohlen Baum und zog an seinem Bein, bis er sich wie ein verletztes Baby herauswand. Seine Augen waren voll Entsetzen, als er sein lebendes Spiegelbild erblickte. Unsere wilde Horde stand drum herum, sah zu und sang ein übles Lied. Ich war im Begriff, ihm sein Leben zu nehmen und ihm meins zu geben. Der Junge schrie. Eine über uns schwebende Möwe, die sich vom Aufwind tragen ließ, kreischte und flog dann auf das Meer hinaus. Tess lag schlafend, wunderschön in ihrer Entspanntheit, neben mir, und Lust stieg in mir auf Ich vergrub meinen Kopf in ihrem Nacken und liebkoste sie wach. Sie schlang die Arme um meinen Rücken, fast wie um sich zu schützen. Nachdem ich die Decke um uns geschlagen hatte, lag ich auf ihr und knöpfte ihre diversen Schichten auf. Wir lachten und wiegten uns gegenseitig durch unsere Gluckser. Mit einem Mal hielt sie inne und flüsterte mir zu: »Henry, weißt du, wo wir sind?« »Ich bin bei dir.« »Henry, Henry, halt. Henry, wo ist Eddie?« Ich rollte mich von ihr herunter und schaute mich um. Der Nebel war ein bisschen dichter geworden und verschleierte die Umrisse einer kleinen felsigen Halbinsel, die ins Meer ragte. Ei 196 nige widerstandsfähige Koniferen klammerten sich an ihren Granitschädel. Hinter uns stürzte der Wasserfall bei einsetzender Ebbe auf den Sand. Es war nichts zu hören, nur das Meer, das gegen die Küste brandete. »Eddie?« Sie stand bereits. »Eddie!« Ich stand neben ihr. »Edward, wo bist du? Komm her.« Ein dünner Ruf drang durch die Bäume, dann unerträgliches Warten. Ich befürchtete schon das Schlimmste, als er endlich heruntergeklettert kam und
mit von salziger Gischt feuchten Kleidern und Haaren über den Strand auf uns zurannte. »Wo warst du?«, fragte Tess. »Ich bin ganz nach vorne auf die Insel gelaufen, so weit, wie es geht.« »Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist?« »Ich wollte wissen, wie weit man sehen kann. Ein Mädchen ist da hinten.« »Auf diesem Felsen?« »Sie saß da und hat aufs Meer geschaut.« »Ganz allein? Wo sind denn ihre Eltern?« »Echt, Mom. Sie ist ganz, ganz weit gegangen, um hierher zu kommen. So wie wir.« »Edward, du sollst nicht solche Geschichten erfinden. Hier ist meilenweit kein Mensch.« »Echt, Dad. Komm gucken.« »Ich klettere nicht auf diese Felsen. Es ist kalt, nass und rutschig.« »Henry!« Tess deutete auf die Nadelbäume. »Sieh doch.« Mit wehendem dunklem Haar tauchte zwischen den Bäumen ein junges Mädchen auf, schmächtig und geschmeidig wie eine Brise, und sprang wie eine Ziege den Abhang hinunter. Aus die 197 ser Entfernung sah sie unwirklich, wie ein Nebelgespinst, aus. Sie blieb stehen, als sie uns sah, und obwohl sie nicht näher kam, war sie mir nicht fremd. Wir guckten uns über das Wasser hinweg an, einen Moment nur, der nicht länger dauerte als das Knipsen eines Fotos. Kaum da, und schon vorbei. Sie drehte sich zum Wasserfall, rannte los und verschwand im Dunst hinter Felsen und Gebüsch. »Warte!«, schrie Tess. »Geh nicht weg!« Sie lief zu dem Mädchen. »Lass sie!«, brüllte ich und jagte meiner Frau hinterher. »Sie ist fort. Offensichtlich kennt sie sich hier gut aus.« »Das ist doch mörderisch, Henry. Du lässt sie gehen, hier draußen am Ende der Welt?« Eddie zitterte in seinen feuchten Sachen. Ich wickelte ihn in die Decke und setzte ihn in den Sand. Wir forderten ihn auf, uns alles über sie zu erzählen. Und während ihm wärmer wurde, sprudelten die Worte aus ihm heraus. »Ich habe mich zu einem Abenteuer aufgemacht und kam zu dem großen Felsen da am Rand. Und da saß sie, genau hinter diesen Bäumen, und sah auf die Wellen. Ich sagte hallo, und sie sagte hallo. Und dann hat sie gesagt: >Möchtest du dich zu mir setzen?<« »Wie heißt sie?«, fragte Tess. »Habt ihr schon mal gehört, dass ein Mädchen Speck heißt? Sie kommt gerne im Winter hierher und beobachtet die Wale.« »Eddie, hat sie gesagt, wo ihre Eltern sind? Oder wie sie alleine hierher gekommen ist?« »Sie ist gelaufen, und es hat über ein Jahr gedauert. Dann hat sie mich gefragt, wo ich herkomme, und ich habe es ihr gesagt. Dann hat sie mich nach meinem Namen gefragt, und ich habe
198 gesagt, Edward Day.« Plötzlich wandte er sich von uns ab und starrte zum Felsen und auf das ablaufende Wasser, als erinnerte er sich an ein verborgenes Gefühl. »Hat sie sonst noch etwas gesagt?« »Nein.« Er schlang sich die Decke enger um die Schultern. »Gar nichts mehr?« »Sie hat gefragt, >Wie ist das Leben in der großen weiten Welt?<, und ich habe gedacht, das ist komisch.« »Hat sie etwas . . . Besonderes gemacht?«, fragte ich. »Sie kann lachen wie eine Möwe. Dann habe ich euch rufen hören. Und sie hat gesagt, >auf Wiedersehen, Edward Day<, genau so. Und ich habe ihr gesagt, sie solle da einen Moment warten, damit ich meine Mom und meinen Dad holen kann.« Tess umarmte unseren Sohn und rubbelte seine nackten Arme durch die Decke hindurch. Wieder schaute sie dorthin, wo das Mädchen verschwunden war. »Sie ist einfach entschlüpft. Wie ein Geist.« Von diesem Moment an bis zu dem Augenblick, als unser Flugzeug zu Hause landete, konnte ich an nichts anderes als an dieses verschwundene Mädchen denken. Und dabei irritierten mich nicht so sehr ihr geheimnisvolles Auftauchen und Verschwinden, sondern vielmehr, dass sie mir so vertraut vorgekommen war. Kaum wieder daheim, sah ich mit einem Mal überall Wechselbälger. Als ich an einem Samstagmorgen mit Edward in der Stadt beim Friseur war, brachte mich ein Junge mit blondem Schopf ganz durcheinander. Während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam, leckte er in aller Ruhe an seinem Lutscher und starrte ungerührt meinen Sohn an. Als im Herbst die Schule wieder 198 anfing, irritierte mich ein Zwillingspaar in der sechsten Klasse mit seiner unheimlichen Ähnlichkeit und der Fähigkeit, die Sätze des jeweils anderen zu vollenden. Auf der Heimfahrt nach einem Konzertabend mit der Band in finsterer Nacht sah ich drei Kinder auf dem Friedhof und überlegte einen Moment, was sie wohl zu so später Stunde ausheckten. Auf Partys oder wenn wir gelegentlich mal ausgingen, versuchte ich, mit versteckten Andeutungen auf die Legende der beiden Elben-Mädchen mit den Babygläschen zu sprechen zu kommen, in der Hoffnung, noch jemanden zu finden, der sie glaubte oder die Gerüchte bestätigen konnte. Doch alle hatten nur Spott übrig, sobald ich die Geschichte erwähnte. Alle Kinder mit Ausnahme meines eigenen Jungen wurden mir leicht suspekt. Sie konnten verschlagene Wesen sein. Hinter den strahlenden Augen eines jeden Kindes lauert eine verborgene Welt. »Tales of Wonder«, das Album des Quartetts, kam zu Weihnachten heraus, und wir verschlissen beinahe die Rille, da wir es immer und immer wieder unseren Freunden und Verwandten vorspielten. Edward liebte die Dissonanz der Geigen über der gleich bleibenden Melodie des Cellos und das tosende Einsetzen der Orgel. Selbst wenn man den Einsatz ahnte, war diese Phrase ein
Schock, gleichgültig, wie oft man die Scheibe bereits gehört hatte. An Silvester, weit nach Mitternacht, das Haus so still wie ein Gebet, schreckte ich durch das plötzliche Schmettern meiner Musik aus dem Schlaf. Auf das Schlimmste gefasst, ging ich im Schlafanzug mit einem gezückten Baseballschläger die Treppe hinunter, nur um meinen Sohn mit weit aufgerissenen Augen vor den Boxen zu finden, gebannt von der Musik. Als ich die Lautstärke herunterdrehte, blinzelte er mehrmals 199 rasch und schüttelte den Kopf, als erwachte er gerade aus einem Traum. »Hey, Partner«, sagte ich behutsam. »Weißt du, wie spät es ist?« »Ist es schon 1977?« »Schon seit Stunden. Die Party ist vorbei, Kumpel. Warum hast du dieses Lied aufgelegt?« »Ich hatte einen schlechten Traum.« Ich zog ihn auf meinen Schoß. »Willst du ihn mir erzählen?« Statt zu antworteten, kuschelte er sich enger an mich, und ich umschlang ihn fester. Als der letzte lang gezogene Ton nachhallte und in der Stille versank, beugte ich mich vor und schaltete die Stereoanlage ab. »Dad, weißt du, warum ich dein Lied aufgelegt habe? Weil es mich an etwas erinnert.« »An was erinnert, Edward? An unsere Reise nach Kalifornien?« Er drehte den Kopf, bis wir uns direkt in die Augen sahen. »Ja, an Speck«, sagte er. »An das Mädchen auf dem Felsen.« Mit einem leisen Seufzen drückte ich ihn noch fester an mich, sodass ich in seiner warmen Brust sein schneller schlagendes Herz spüren konnte. 199 Kapitel 32 Speck liebte es, an bewegtem Wasser zu sein. Meine lebhafteste Erinnerung an sie ist, wie die Strömung sie, die ganz eins war mit dem Fließen, hin und her schaukelte. Vor Jahren sah ich sie einmal splitternackt mit untergezogenen Beinen dasitzen, das Wasser umspülte ihre Taille, und die Sonne streichelte ihre Schultern. Unter normalen Umständen wäre ich in das Flüsschen gesprungen, und wir hätten uns nass gespritzt, doch wie gebannt von der Anmut ihres Nackens, ihrer Glieder und der Konturen ihres Gesichts, konnte ich mich nicht rühren. Ein anderes Mal, als die Stadtbewohner ein Feuerwerk in die Nacht schössen, sahen wir flussaufwärts dem Schauspiel zu, wobei das Fließen des Wassers sie mehr zu entzücken schien als die krachenden Blumen am Himmel. Die Leute schauten hoch, doch sie beobachtete die Spiegelungen des Lichts in den Schnellen und die zischelnden Funken auf der Wasseroberfläche. Von Anfang an hatte ich geahnt, wohin sie gegangen war und warum, aber da mir der Mut fehlte, war ich dieser Intuition nicht gefolgt. Die gleichen Ängste, die mich daran gehindert hatten, den Fluss an der Biegung zu überqueren, hatten mich auch meine Suche abbrechen und ins Lager zurückkehren lassen. Ich hätte dem Wasserlauf folgen sollen. 199
Der Weg zur Bibliothek kam mir nie so lang und unheilvoll vor wie in jener Nacht, als ich zum ersten Mal wieder dorthin ging. Der Weg hatte sich verändert seitdem. Der Wald war an den Rändern licht geworden, rostige Dosen, Flaschen und anderer Abfall verschmutzten das Unterholz. Niemand von uns war hier gewesen, seit Speck uns verlassen hatte. Die Bücher lagen genau dort, wo wir sie liegen gelassen hatten, doch Mäuse hatten an den Rändern meiner Aufzeichnungen geknabbert und ihren Kot in unseren alten Kerzenständern und Kaffeebechern hinterlassen. Ihr Shakespeare wimmelte von Silberfischchen. Mein Stevens war durch die Feuchtigkeit aufgequollen. Bei schwachem Kerzenlicht machte ich die ganze Nacht Ordnung, entfernte Spinnweben, verscheuchte Heimchen und verweilte bei Gegenständen, die sie mal in Händen gehalten hatte. In die schimmelige Decke gehüllt, die schon lange nicht mehr nach ihr duftete, schlief ich ein. Schwingungen über mir kündeten den Morgen an. Die Bibliothekarinnen begannen ihren Tag, Dielen ächzten unter dem Gewicht ihrer Schritte. Ich konnte mir ihre Wege ausmalen: vom Einstempeln übers Hallo sagen bis zum Niederlassen an ihrem Arbeitsplatz. Etwa eine Stunde verging, bis sich die Türen öffneten und Menschen hineinschlurften. Als sich der Rhythmus normalisierte, begann ich mit meiner Arbeit. Eine dünne Staubschicht hatte sich auf meine Aufzeichnungen gelegt, und ich verbrachte den Großteil des ersten Tages damit, die Absätze und Blätter in der richtigen Reihenfolge zu lesen und lose Blätter mit Einträgen in Mclnnes' Kollegheft zu verbinden. So vieles war liegen geblieben, verloren und verschütt gegangen, nachdem wir das erste Mal vertrieben worden waren. Meine Notizen, die zu einem kleinen Stapel geschrumpft waren, dokumentierten mit großen Lücken und Abschnitten gähnenden Schweigens die ver 200 gangene Zeit. Nur sehr wenig gab es zum Beispiel über meine ersten Tage bei den Wechselbälgern — nur einige plumpe Zeichnungen und mitleiderregende Sätze. Jahre waren ohne eine einzige Zeile vergangen. Nachdem ich alle Aufzeichnungen durchgesehen hatte, verstand ich die langwierige Aufgabe über mir. Als die Bibliothekarinnen am Abend gingen, stieß ich die Falltür unter der Kinderbuchabteilung auf. Ganz anders als bei früheren Streifzügen verspürte ich nicht den Wunsch, ein neues Buch herauszunehmen, ich wollte vielmehr neues Schreibpapier stehlen. Hinter dem Schreibtisch der Chefbibliothekarin lag der Schatz: fünf längliche, gelbe Schreibblocks und so viele Stifte, dass ich den Rest meines Lebens schreiben könnte. Um eine kleine Verwirrung zu stiften, stellte ich auch den Wallace Stevens, der als verloren galt, zurück ins Regal. Worte quollen aus dem Stift, und ich schrieb, bis meine Hand krampfte und schmerzte. Das Ende — die Nacht, als Speck sich wegschlich — wurde der Anfang. Von hier entwickelte sich die Geschichte rückwärts bis zu dem Punkt, wo ich mir klar wurde, dass ich mich in sie verliebt hatte. Ein ganzer Stoß des ursprünglichen Manuskripts, das zum Glück vernichtet ist, handelte von den physischen Spannungen, die ein erwachsener Mann im Körper eines kleinen
Jungen aushalten muss. Mitten in einem Satz über das Begehren hielt ich inne. Und wenn sie gewollt hätte, dass ich mit ihr gegangen wäre? Ich hätte sie angefleht zu bleiben, hätte ihr gesagt, dass mir der Mut fehle wegzulaufen. Schon bedrängte mich ein gegenteiliger Gedanke. Vielleicht hatte sie nie beabsichtigt, dass ich sie fand. Sie war meinetwegen weggelaufen und hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich sie liebte. Ich legte den Stift beiseite und wünschte, Speck wäre da, um mit mir zu reden und mir Antwort geben zu können auf all die ungeklärten Fragen. 201 Wie Parasiten bohrten sich diese Ungewissheiten durch mein Hirn, und ich warf mich auf dem harten Boden hin und her. In der Nacht wachte ich auf, und mit dem festen Entschluss, meine finstersten Gedanken loszuwerden, fing ich an, auf einem sauberen Block alles aufzuschreiben. Die Stunden rasten, und Tage schoben sich ineinander. In den nächsten sechs Monaten pendelte ich zwischen unserem Lager und der Bibliothek hin und her, versuchte, die Geschichte meines Lebens zusammenzusetzen, um sie Speck zu geben. Unser Winterschlaf bremste mein Vorankommen. Im Dezember wurde ich müde und schlief bis in den März hinein. Ehe ich zu meinem Buch zurückkehren konnte, kam das Buch zu mir. Mit ernster Miene traten eines Morgens, als ich gerade an meinem Haferplätzchen kaute und meinen Tee abseihte, Luchog und Smaolach auf mich zu. Sehr bedächtig ließen sie sich rechts und links von mir im Schneidersitz für ein langes Gespräch nieder. Luchog fingerte an einem jungen Roggentrieb, der sich durch die modrigen Blätter gebohrt hatte, und Smaolach schaute in den Himmel und tat so, als beobachtete er durch die Aste hindurch das Spiel von Licht und Schatten. »Guten Morgen, Jungs. Was habt ihr auf dem Herzen?« »Wir waren in der Bibliothek«, antwortete Smaolach. »Waren ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr da«, fügte Luchog hinzu. »Wir wissen, was du vorhast.« »Haben deine Lebensgeschichte gelesen.« Smaolach drehte sich zu mir und sah mir in die Augen. »Hunderttausend Mal Entschuldigung, aber wir mussten es wissen.« »Wer hat euch das Recht dazu gegeben?«, fragte ich. 201 Sie wandten sich wieder ab, und ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. »Du hast ein paar Dinge falsch dargestellt«, sagte Luchog. »Darf ich dich fragen, warum du dieses Buch geschrieben hast? An wen richtet es sich?« »Was habe ich falsch dargestellt?« »Nach meinem Verständnis schreibt ein Autor nicht, ohne einen oder mehrere Leser im Sinn zu haben«, meinte Luchog. »Man nimmt nicht so viel Zeit und Mühe auf sich, wenn man selbst der einzige Leser seines Buches ist. Sogar der Tagebuchschreiber rechnet damit, dass das Schlösschen geknackt wird.« Smaolach zupfte an seinem Kinn, als wäre er tief in Gedanken. »Ich glaube, es wäre ein großer Fehler, ein Buch zu schreiben, das dann niemand liest.«
»Da hast du ganz recht, alter Freund. Ich habe mich zuweilen gefragt, warum der Künstler sich traut, etwas Neues in eine Welt zu bringen, wo doch alles bereits getan ist und alle Antworten bestens bekannt sind.« Ich stand auf, um dem Gespräch ein Ende zu setzen. »Würdet ihr mir bitte sagen«, brüllte ich, »was falsch ist an diesem Buch?« »Ich fürchte, dein Vater«, sagte Luchog. »Mein Vater, was ist mit ihm? Ist ihm etwas zugestoßen?« »Er ist nicht der, der du glaubst, dass er ist.« »Mein Freund will sagen, dass der Mann, den du für deinen Vater hältst, gar nicht dein Vater ist. Dieser Mann ist ein anderer Mann.« »Komm mit uns«, forderte mich Luchog auf. Auf dem Weg bemühte ich mich, die vielen Verwicklungen, die sich für mich aus ihrem Überfall auf mein Buch ergaben, zu entwirren. Zuerst einmal hatten sie immer gewusst, dass ich 202 Henry Day war, und nun wussten sie, dass ich es wusste. Sie hatten von meinen Gefühlen für Speck gelesen und ahnten sicherlich, dass ich für sie schrieb. Und ebenso wussten sie, was ich über sie dachte. Zum Glück hatte ich sie im Großen und Ganzen als sympathische Jungs geschildert, etwas exzentrisch, klar, aber unerschütterliche Verbündete meiner Abenteuer. Doch die Abfolge ihrer Fragen warf eine verblüffende Sache auf, denn ich hatte mir keinerlei Gedanken gemacht, wie ich Speck das Buch zukommen lassen könnte, und, noch wichtiger, auch nicht über die Gründe, die hinter meinem Wunsch steckten, alles niederzuschreiben. Smaolach und Luchog, die vor mir gingen, lebten bereits seit Jahrzehnten im Wald und schwebten durch die Ewigkeit, ohne dass sie die Sorge oder das Bedürfnis verspürten, ihr Leben aufzuschreiben und es verstehen zu wollen. Sie schrieben keine Bücher, malten nichts auf die Wände, tanzten keine neuen Tänze, sondern lebten in Frieden und Harmonie mit der natürlichen Welt. Warum war ich nicht wie sie? Bei Sonnenuntergang wagten wir uns aus der Deckung und gingen an der Kirche vorbei zu vereinzelten Gräbern auf einem grünen Geviert, das neben dem ummauerten Friedhof lag. Vor vielen Jahren war ich schon einmal dort gewesen, als ich glaubte, es wäre eine Abkürzung zurück in die sichere Deckung oder auch bloß ein gutes Versteck. Wir schlüpften zwischen den Eisenstäben hindurch in einen stillen überwucherten Garten. Viele Inschriften auf den Grabsteinen waren verwittert und verblasst, denn die Toten ruhten schon seit langer Zeit unter ihren schwindenden Namen. Meine Freunde führten mich im Zickzack um die Gräber herum, und zwischen den Ehrenmälern und dem Unkraut blieben wir kurz stehen. Smaolach führte mich an eine Stelle und zeigte mir den Stein: WILLIAM DAY, 1917-1962. Ich 202 kniete mich ins Gras, fuhr mit den Fingern über die eingemeißelten Buchstaben und sah auf die Jahreszahlen. »Was ist geschehen?« Luchog sagte sanft: »Wir haben keine Ahnung, Henry Day.«
»Diesen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Smaolach legte mir die Hand auf die Schulter. »Aniday gefällt mir noch immer besser. Du bist einer von uns.« »Wie lange wisst ihr das schon?« »Wir dachten, du solltest es wissen, damit dein Buch stimmt. In jener Nacht, als wir aus unserem alten Lager aufgebrochen sind, hast du nicht deinen Vater gesehen.« »Und du verstehst nun«, erklärte Luchog, »dass der Mann in dem neuen Haus mit dem Baby nicht dein Vater sein kann.« Ich setzte mich hin und lehnte mich an den Stein, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Natürlich, sie hatten recht. Laut meinem Kalender waren seit dem Todesjahr auf dem Grabstein vierzehn Jahre vergangen. Wenn er doch schon vor so langer Zeit gestorben war, konnte William Day nicht der sein, für den ich ihn gehalten hatte, und dieser Mann war nicht William Day, sondern sein Doppelgänger. Ich überlegte still, wie so etwas möglich sein konnte. Luchog öffnete seinen Beutel, drehte eine Zigarette und rauchte sie ruhig inmitten der Grabsteine. Die Sterne gingen auf und steckten den Himmel ab — wie weit entfernt, vor wie langer Zeit? Meine Freunde sahen aus, als wären sie kurz davor, weitere Geheimnisse zu lüften, doch da sie nichts sagten, würde ich sie selbst ergründen müssen. »Kommt, wir gehen, Jungs«, sagte Smaolach. »Lasst uns morgen darüber nachdenken.« Wir sprangen über das Tor an der Ecke, und auf unserem 203 Rückweg sprachen wir über die kleineren Fehler in meiner Geschichte. Die meisten ihrer Hinweise entgingen mir, denn meine Gedanken schwirrten auf lang vernachlässigten Bahnen. Speck hatte mir alles erzählt, an das sie sich erinnerte, dennoch blieb vieles geheimnisvoll. Vor meinem geistigen Auge erschien mir mal mehr, mal weniger verschwommen meine Mutter, doch die Gesichter meiner Zwillingsschwestern konnte ich nun recht deutlich erkennen. Von meinem Vater hingegen konnte ich mir so gut wie gar kein Bild machen. Bereits vor diesem Leben gab es ein Leben, und ich hatte im Fluss meines Unterbewussten nicht tief genug geschürft. Spät in der Nacht hockte ich, als die anderen längst schliefen, noch wach in meinem Erdloch. Das Bild von Oscar Love kristallisierte sich in meinem Kopf. Monatelang hatten wir diesem Jungen nachspioniert, hatten bis ins quälendste Detail hinein seine Lebensweise und Lebensform, seine Familiengeschichte und seine Charaktereigenschaften ausgekundschaftet — all das, um Igel bei seinem Wechsel zu unterstützen. Wenn wir Oscar so gut kannten, dann mussten die anderen meine Geschichte gekannt haben — und zwar unendlich viel besser, als ich sie selbst kannte. Da ich nun meinen richtigen Namen wusste, bestand doch für die anderen kein Grund mehr, weiterhin die Wahrheit vor mir zu verbergen. Sie hatten sich verschworen, um mir das Vergessen zu erleichtern, und jetzt konnten sie mir helfen, mich zu erinnern. Ich kroch aus meinem Loch und ging zu Luchögs Versteck, nur um es leer vorzufinden. In der Erdhöhle nebenan lag er, in Chavisorys Arme geschmiegt, und ich zögerte einen Moment, ihre Ruhe zu stören.
»Luch«, flüsterte ich. Er blinzelte. »Wach auf und erzähl mir meine Geschichte.« »Aniday, bei aller Liebe ... siehst du nicht, dass ich schlafe?« 204 »Ich muss es wissen.« Auch sie regte sich mittlerweile. Ich wartete, bis sie ihre Glieder entflochten hatten, dann stand er auf Augenhöhe vor mir. »Was ist los?«, fragte er. »Du musst mir alles erzählen, was du noch von Henry Day weißt.« Er gähnte und warf einen Blick zu Chavisory, die sich zu einem Knäuel zusammengerollt hatte. »Jetzt? Jetzt gehe ich wieder ins Bett. Frag mich morgen früh, dann helfe ich dir bei deinem Buch. Aber jetzt zurück zu meinem Kissen und meinen Träumen.« Ich weckte Smaolach und Beka und Onions mit der gleichen Bitte und wurde von allen auf beinahe die gleiche Weise abgewiesen. Trotz meiner Aufgeregtheit zog ich beim Frühstück am nächsten Morgen nur wütende Blicke auf mich. Und erst nachdem die ganze Mannschaft sich satt gegessen hatte, wagte ich, erneut zu fragen. »Ich schreibe ein Buch über Henry Day«, erklärte ich. »Ich kenne die Geschichte in groben Zügen, so wie sie mir von Speck erzählt worden ist, bevor sie uns verlassen hat. Und nun brauche ich euch, um die Lücken zu füllen. Nehmen wir doch mal an, ich würde mich auf den Wechsel vorbereiten, und ihr würdet mir über Henry Day Bericht erstatten.« »Oh, ich erinnere mich an dich«, setzte Onions an. »Du warst ein kleines Findelkind im Wald. Deine Mutter hatte dich in Windeln gehüllt und auf den Schrein des Windhunds gelegt.« »Nein, nein, nein«, warf Beka ein. »Da täuschst du dich. Der echte Henry Day war überhaupt kein Henry, sondern eines von zwei gleich aussehenden Zwillingsmädchen, Elspeth und Maribel.« 204 »Ihr habt beide unrecht«, protestierte Chavisory. »Er war ein Junge, ein süßer, kluger Junge, der mit seinen Eltern und zwei kleinen Zwillingsschwestern in einem Haus am Waldrand wohnte.« »Das stimmt«, bestätigte Luchog. »Mary und Elizabeth. Zwei kleine Lockenköpfe, fett wie Lammkoteletts.« »Du warst sicher nicht älter als acht oder neun«, sagte Chavisory. »Sieben«, sagte Smaolach. »Er war sieben, als wir ihn gepackt haben.« »Bist du sicher?«, zweifelte Onions. »Ich könnte schwören, er war noch ein Baby.« Das Gespräch setzte sich den ganzen Tag auf diese Weise fort, Informationshäppchen, die infrage gestellt wurden, und die Wahrheit am Ende des Gesprächs war der entfernte Cousin der Wahrheit vom Anfang. Den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein traktierte ich sie einzeln und alle zusammen mit meinen Fragen. Passte eine Antwort zu meinen wieder auftauchenden Erinnerungen oder zu einer Zeichnung oder einer Notiz, setzte sie sich als Tatsache in meinem Kopf fest. Mit der Zeit entstand allmählich ein
Bild, und meine Kindheit kehrte in mein Bewusstsein zurück. Doch ein Geheimnis blieb. Vor dem langen Winterschlaf machte ich mich auf, um auf den höchsten aller Berge zu steigen, die das Tal umgaben. Die Bäume hatten ihre Blätter abgeworfen und reckten ihre nackten Äste zum grauen Himmel. Im Osten sah die Stadt wie aus Spielzeugklötzen gebaut aus. Gen Süden drängte sich das Städtchen, das der Fluss zweiteilte. Im Westen erstreckten sich die Biegung des Flusses und dahinter das weite Land. Im Norden ein lichter Wald und ein oder zwei Farmen inmitten von Bäumen und Fei 38i sen. Ich ließ mich am Gipfel nieder und las, und in der Nacht träumte ich von zwei Specks und zwei Days, was wir waren und was wir sein würden. Außer einer Flasche Wasser nahm ich nichts zu mir und dachte über das Rätsel der Existenz nach. Am dritten Tag hatten sich meine Gedanken geklärt und ließen die Antwort zu. Wenn der Mann, der mir als mein Vater erschien, nicht mein Vater war, wer war er dann? Wen hatte ich im Nebel gesehen? Wer war der Mann am Flüsschen in der Nacht, als wir Igel und Oscar Love verloren? Wer war uns durch die Küchentür hinterhergejagt? Er sah aus wie mein Vater. Ein Hirsch, den das Klicken in meinem Kopf aufgeschreckt hatte, sprang durch das trockene Laub davon. Ein Vogel kreischte einmal; der Laut schwebte durch die Luft, dann löste er sich auf. Die Wolken zogen ab und enthüllten eine fahle Sonne. Wer hatte meinen Platz eingenommen, als sie mich gestohlen hatten? Ich wusste es. Dieser Mann lebte, was meine Zukunft gewesen wäre. Der Räuber meines Namens, der Dieb meiner Geschichte und meines Lebens: Henry Day. 205 Kapitel 33 Ich war einmal einer der Ihren. Mein Sohn hatte einem von ihnen auf der anderen Seite des Kontinents von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, und niemand konnte wissen, wie weit sie gehen würden, um uns zu folgen. In jener Nacht vor Jahren waren die Wechselbälger Edwards wegen dagewesen, und weil ich die Treppe hinuntergetappt war, hatte ich sie verscheucht. Aber sie würden wiederkommen. Sie beobachteten uns und warteten auf meinen Sohn. Solange sie um unser Haus strichen, war er in Gefahr. Edward war so lange in Gefahr, wie es sie auf der Welt gab. Hatten sie erst einmal ein Kind für den Wechsel im Visier, war es so gut wie verloren. Ich durfte Edward nicht aus den Augen lassen und fing an, abends die Türen abzuschließen und unsere Fenster zu verriegeln. Sie beherrschten meine Gedanken, ließen mich keine Ruhe finden. Einzig das Klavier verschaffte mir Erleichterung. Durch das Komponieren hoffte ich, meinen Verstand zu behalten. Auf einen falschen Anfang folgte ein falscher Anfang. Ich kämpfte, um diese beiden Welten auseinanderzuhalten.
Zum Glück hatte ich Tess und Edward, die mich erdeten. An meinem Geburtstag bog ein Lieferwagen in unsere Sackgasse, und Edward, am Fenster, rief: »Es ist hier, hier ist es!« Sie be 206 standen darauf, dass ich im Schlafzimmer blieb, mit zugezogenen Vorhängen, bis mein Geschenk ins Haus gebracht worden wäre, und gehorsam fügte ich mich, ganz verrückt vor Liebe über die aufgeregte Ausgelassenheit meines Sohns und Tess' wissendes Lächeln, das so sexy war. Als ich im Dunkeln auf dem Bett saß, schloss ich die Augen und überlegte, ob ich eine solche Liebe überhaupt verdient hatte, und es überkam mich die Sorge, sie könnte mir gestohlen werden, sollte die Wahrheit je an den Tag kommen. Edward sprang die Treppe hoch und hämmerte gegen die geschlossene Tür. Er zerrte mit seinen Händchen an meinem Arm und zog mich ins Studio. Eine große grüne Schleife war vor die Tür gespannt, und mit einem Knicks überreichte mir Tess die Schere. »Als Bürgermeister dieser Stadt«, hob ich feierlich an, »möchte ich meinen bemerkenswerten Sohn bitten, mit mir die Ehre zu teilen.« Gemeinsam durchschnitten wir das Band und öffneten die Tür. Die kleine Orgel war nicht neu oder kunstvoll, doch sie war ein wundervolles Geschenk der Liebe. Und sie sollte sich als ausreichend erweisen, mich den Klängen anzunähern, nach denen ich auf der Suche war. Edward spielte an den Saiten herum, und ich nahm Tess beiseite und fragte sie, wie sie das Geld für einen solchen Luxus hatte aufbringen können. »Seit San Francisco oder eigentlich schon seit der Tschechoslowakei wollte ich dies für dich tun. Einen Penny hier, einen Dollar da, und ich bin eine Frau, die hart feilscht. Eddie und ich haben sie in einer alten Kirche oben in Coudersport gefunden, wo sie zum Verkauf stand. Deine Mutter und Charlie haben noch etwas draufgelegt, musst du wissen, denn wir alle 206 wollten, dass du sie bekommst. Ich weiß, sie ist nicht perfekt, aber...« »Es ist das größte Geschenk...« »Mach dir keine Gedanken über den Preis. Spiel einfach, Baby.« »Ich habe mein Taschengeld dazugegeben«, sagte Edward. Ich schloss sie beide in die Arme und, überwältigt vom Glück, drückte ich sie an mich, dann setzte ich mich hin und spielte aus Bachs Kunst der Fuge, wieder ohne jedes Zeitgefühl. Noch immer völlig vernarrt in das neue Instrument, kam ich mit Edward einige Tage später vom Kindergarten in ein leeres, stilles Haus. Ich gab ihm eine Kleinigkeit zu essen, schaltete die Sesamstraße ein und machte mich in meinem Studio an die Arbeit. Auf den Orgeltasten lag ein zusammengefaltetes Blatt, das mit einem gelben Klebezettel befestigt war. »Lass uns reden!«, hatte sie darauf gekritzelt. Sie hatte die Passagierliste mit den Namen der Ungerlands gefunden, die ich versteckt und zwischen meinen Unterlagen weggeschlossen hatte. Ich konnte mir nur ausmalen, wie sie in Tess' Finger geraten war.
Quietschend öffnete sich die Vordertür und fiel laut knallend ins Schloss. Einen finsteren Augenblick lang tanzte der Gedanke durch meinen Kopf, sie wären wegen Edward gekommen. Ich stürmte zum Eingang, als Tess sich gerade voll beladen mit Lebensmitteln ins Esszimmer schob. Um ihr die Last zu erleichtern, nahm ich ihr ein paar Tüten ab, die wir in die Küche trugen. Dort tanzten wir einen Pas de deux umeinander, als wir die Einkäufe verstauten. Sie wirkte nicht sonderlich besorgt, außer um die Erbsen- und Möhrenkonserven. Nachdem wir fertig waren, rieb sie sich eingebildeten Staub von den Händen. »Hast du meinen Zettel gesehen?« 207 »Wegen der Ungerlands? Woher hast du die Liste?« Sie blies sich die Ponysträhnen aus den Augen. »Was meinst du, woher ich sie habe? Du hast sie auf der Kommode neben dem Telefon liegen lassen. Die Frage ist doch: Wo hast du sie her?« »Aus Cheb. Erinnerst du dich an Pfarrer Hlinka?« »Cheb? Das ist doch neun Jahre her. Das also hast du dort gemacht. Was hat dich geritten, den Ungerlands hinterher zuschnüffeln?« Totales Schweigen verriet mich. »Warst du so eifersüchtig auf Brian? Aber im Ernst, das ist doch ein bisschen verrückt, findest du nicht?« »Nein, nicht eifersüchtig, Tess. Wir waren nun mal zufällig da, und ich habe nur versucht, ihm bei der Aufstellung seines Stammbaums behilflich zu sein. Seinen Großvater zu finden.« Sie nahm die Passagierliste in die Hand, und ihre Augen tasteten sie bis zum Ende ab. »Das ist unglaublich. Wann hast du denn je mit Brian Ungerland gesprochen?« »Ach, das ist eine ganz alte Geschichte, Tess. Ich habe ihn mal zufällig im Oscars getroffen, als wir verlobt waren. Ich habe ihm erzählt, dass wir nach Deutschland reisen, und da hat er mich gebeten, falls ich die Zeit hätte, ins Nationalarchiv zu gehen und nach seiner Familie zu forschen. Da ich sie dort nicht gefunden habe, dachte ich, seine Leute stammten vielleicht von woanders her, also habe ich Pfarrer Hlinka gefragt, als wir in Cheb waren. Er hat sie gefunden. Keine große Sache.« »Henry, ich glaube dir kein einziges Wort.« Ich machte einen Schritt auf sie zu, wollte sie in die Arme schließen, wollte unbedingt dieses Gespräch beenden. »Tess, ich habe dir immer die Wahrheit gesagt.« 207 »Aber warum hat Brian nicht ganz einfach seine Mutter gefragt?« »Seine Mutter? Ich wusste nicht, dass er eine Mutter hat.« »Jeder hat eine Mutter. Sie lebt hier in der Stadt. Noch immer, glaube ich. Du kannst ihr erzählen, wie eifersüchtig du warst.« »Aber ich habe doch im Telefonbuch nach ihr gesucht.« »Du machst Scherze.« Sie verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf »Sie hat vor Jahren, als Brian auf der Highschool war, wieder geheiratet. Lass mich
nachdenken. Ihr Name ist Blake, Eileen Blake. Und sie erinnert sich bestimmt an den Großvater. Er ist hundert Jahre alt geworden, und sie hat ständig über den verrückten alten Mann gesprochen.« Sie gab auf und lief zur Treppe. »Gustav?« rief ich ihr hinterher. Sie drehte sich um, legte die Stirn in Falten und fand den Namen in ihrem Gedächtnis. »Nein, nein... Joe. Der verrückte Joe Ungerland ist Brians Großvater. Aber in dieser Familie sind ja alle verrückt, auch die Mutter.« »Bist du sicher, dass wir nicht von Gustav Ungerland reden?« »Ab sofort nenne ich dich den verrückten Henry Day... Du hättest mich all das fragen können. Wenn du wirklich so interessiert bist, warum sprichst du nicht mit Brians Mutter? Eileen Blake.« Oben am Treppenabsatz angekommen, beugte sie sich über das Geländer, wobei ihr wie Rapunzel das blonde Haar über die Schulter fiel. »Es ist süß, dass du so eifersüchtig warst, aber du musst dir wirklich keine Gedanken machen.« Ihr schräges Lächeln blitzte auf, und ich war von meiner Unruhe befreit. »Grüß das alte Mädchen mal von mir.« 208 Bis zum Hals unter Blättern begraben, starrte sie ohne ein Blinzeln stur geradeaus, und erst als ich zum dritten Mal an ihr vorbeikam, sah ich, dass es eine Puppe war. Eine andere war mit einem roten Springseil an einen Baumstumpf gebunden, und einzelne Arme und Beine lugten in merkwürdigem Winkel aus dem hohen, ungemähten Gras. Am Ende einer Schnur, die von einer Zierkirsche hing, baumelte und drehte sich ein Kopf im Wind, und der kopflose Körper steckte in Erwartung des samstäglichen Postboten im Briefkasten. Die Drahtzieher hinter diesem Gemetzel kicherten auf der Veranda, als ich den Wagen vor ihrem Haus parkte, doch als ich über den Bürgersteig auf sie zuging, guckten sie fast emotionslos. »Könnt ihr Mädchen mir helfen? Ich glaube, ich habe mich verirrt«, sagte ich von der untersten Stufe aus. Das ältere Mädchen legte schützend einen Arm um die Schulter seiner Schwester. »Ist eure Mom oder euer Dad zu Hause? Ich suche jemanden, der hier irgendwo wohnt. Kennt ihr das Haus der Blakes?« »Dort spukt's«, antwortete die jüngere Schwester. Ihr fehlten zwei Schneidezähne, und sie lispelte. »Sie ist eine Hexe, Mister.« Die ältere Schwester mochte etwa zehn sein, spindeldürr, mit rabenschwarzem Haar und dunklen Ringen um die Augen. Wenn irgendjemand etwas über Hexen wusste, dann sie. »Warum wollen Sie zu dieser Hexe, Mister?« Ich setzte einen Fuß auf die nächsthöhere Stufe. »Weil ich ein Kobold bin.« Sie grinsten bis über beide Ohren. Die Ältere sagte, ich müsse auf eine Abzweigung vor der nächsten Kurve achten, dort sei ein versteckter Weg, nicht viel mehr als ein Durchgang. »Er heißt Asterix, denn für einen richtigen Namen ist er zu klein.« 208 »Wirst du sie fressen?«, fragte die Kleinere.
»Ich werde sie fressen und die Knochen ausspucken. Ihr könnt ja in der Halloweennacht vorbeikommen und euch ein Gerippe daraus bauen.« Sie schauten sich an und lächelten schadenfroh. Unmengen von Gerbersträuchern und wuchernden Buchsbäumen verschatteten den Asterix-Weg. Als das Auto beidseitig an den Hecken entlang schrabbte, stieg ich aus und ging zu Fuß weiter. Ich sah vereinzelte, halb versteckte Häuser, und schließlich hing zur Linken ein verwittertes, viereckiges Schild am Briefkasten, auf dem BLAKE stand. Im Schatten der Sträucher blitzten zwei nackte Beine vor mir auf und rannten über den Hof, dann raschelte es plötzlich in den Büschen. Ich dachte, die schrecklichen kleinen Schwestern wären mir gefolgt, doch als ich eine dritte Bewegung in den Büschen wahrnahm, wurde ich unruhig. Ich griff nach meinem Autoschlüssel und wäre beinahe von diesem finsteren Ort geflohen. Doch da ich schließlich schon so weit gekommen war, klopfte ich an die Haustür. Eine elegante Frau mit einem dicken weißen Schopf öffnete. Groß und aufrecht, einfach in frisches Leinen gekleidet, stand sie im Eingang. Mit strahlendem, durchdringendem Blick bat sie mich in ihr Haus. »Henry Day. Haben Sie es gut gefunden?« New England klang leicht in ihrem Tonfall an. »Kommen Sie herein, kommen Sie herein.« Mrs. Blake besaß einen alterslosen Charme, eine physische Präsenz und eine Art, mit der man sich sofort wohl fühlte. Bei der Verabredung zu diesem Gespräch hatte ich sie belogen, ich hatte ihr erzählt, ich sei mit ihrem Sohn Brian in die Highschool gegangen, unsere Klasse plane ein Treffen und suche noch nach Mitschülern, die weggezogen seien. Da sie darauf beharrte, plauderten wir bei einem Lunch, den sie gerichtet hatte. Und sie 209 erzählte mir das Neueste über Brian, seine Frau und die beiden Kinder und über all das, was er in den letzten Jahren erreicht hatte. Unsere Sandwiches mit Eiersalat überdauerten ihren Bericht, und ich versuchte vorsichtig, unsere Unterhaltung auf den eigentlichen Grund meines Besuchs zu lenken. »Also, Mrs. Ungerland...« »Nennen Sie mich Eileen. Mrs. Ungerland bin ich schon lange nicht mehr. Nicht mehr, seit mein erster Mann gestorben ist. Und dann hatte der unglückselige Mr. Blake diesen merkwürdigen Unfall mit der Mistgabel. Hinter meinem Rücken nennt man mich >die schwarze Witwe<. Ach, diese schrecklichen Kinder.« »Eigentlich die Hexe... Es tut mir so leid, Eileen. Wegen Ihrer beiden Ehemänner, meine ich.« »Nein, das muss Ihnen nicht leid tun. Mr. Blake habe ich seines Geldes wegen geheiratet, Gott hab ihn selig. Und was Mr. Ungerland angeht, er war viel, viel älter als ich, und er war...« Sie tippte sich mit ihrem langen, hageren Finger an die Stirn. »Ich bin auf die katholische Grundschule gegangen und habe Brian erst in der neunten Klasse kennen gelernt. Wie sah er als Junge aus?« Sie strahlte übers ganze Gesicht und stand so rasch auf, dass ich fürchtete, sie würde vornüberkippen. »Haben Sie Lust, Fotos zu sehen?«
In jeder Lebensetappe — vom Tag seiner Geburt und während der ganzen Grundschulzeit — sah Brian Ungerland so aus, als könnte er mein Sohn sein. Seine Ähnlichkeit mit Edward war unheimlich, die gleichen Züge, die gleiche Körperhaltung, selbst die Art, wie sie an Maiskolben knabberten oder einen Ball 210 warfen. Als wir Seite für Seite das Album betrachteten, wuchs meine Überzeugung mit jedem Bild. »Brian hat mir immer wilde Familiengeschichten erzählt. Über die Ungerlands, meine ich, über die deutschen.« »Hat er ihnen von Opa Josef erzählt? Von seinem Großvater Joe? Gut, Brian war noch ein Baby, als er starb, aber ich erinnere mich gut. Er war ein verrückter Kerl. Das waren sie alle.« »Sie sind doch von Deutschland rübergekommen, oder?« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sammelte ihre Erinnerungen. »Ach, diese Familie, wirklich eine sehr traurige Geschichte.« »Traurig? Wieso?« »Da gab es den verrückten Joe, meinen Schwiegervater. Zu Anfang unserer Ehe lebt er bei uns, das ist Ewigkeiten her. Wir hatten ihn in einer Kammer im Dachgeschoss untergebracht. Oh, er muss neunzig gewesen sein, vielleicht auch schon hundert, und er wütete und wetterte gegen Dinge, die nicht da waren. Gespenster oder etwas in der Art, als käme etwas, ihn zu holen, der Arme. Und er murmelte immer etwas von seinem jüngeren Bruder Gustav, behauptete, er sei gar nicht sein Bruder, und der richtige Gustav sei von den Wechselbälgern gestohlen worden. Mein Mann meinte, es sei wegen der Schwester. Wenn ich mich recht erinnere, starb die Schwester auf der Überfahrt von Deutschland, und ihr Tod stürzte die ganze Familie in tiefe Trauer. Sie haben das nie überwunden. Sogar Josef hat nach all den Jahren noch immer Gespenster gesehen.« Es wurde ungewöhnlich heiß im Raum, und es rumpelte in meinem Magen. Mein Kopf tat mir weh. »Lassen Sie mich nachdenken. Ja, da waren die Mama und der Papa, auch so ein armer Mann. Abram hieß er. Und die Brüder. 210 Über den ältesten weiß ich nichts; nur dass er im Bürgerkrieg bei Gettysburg starb. Aber da war Josef, der fast bis zum seinem Fünfzigsten Junggeselle blieb, und dann dieser schwachsinnige Bruder, der jüngste. So eine traurige Familie.« »Schwachsinnig? Was meinen sie mit schwachsinnig?« »Nun, heute nennt man sie anders, aber damals hat man sie so bezeichnet. Immer wieder betonten sie, wie wunderbar er Klavier spielen könne, aber das war alles ein Mätzchen seines Gehirns. Er war, was man einen wissenden Idioten<, einen >Insel-begabten<, nennen könnte. Gustav war sein Name, armes Kind. Konnte spielen wie Chopin, hat Josef behauptet, war aber ansonsten still und extrem in sich gekehrt. Vielleicht war er autistisch, wenn es so was damals schon gab.«
Das Blut schoss mir in den Kopf, und ich fühlte mich der Ohnmacht nahe. »Oder vielleicht vollkommen überspannt. Doch nach diesem Ereignis mit den so genannten Wechselbälgern hat er sogar aufgehört, Klavier zu spielen, und war komplett abgehoben, er hat den Rest seines Lebens kein Wort mehr gesprochen, und auch er ist sehr alt geworden. Es heißt, der Vater sei verrückt geworden, als Gustav aufhörte, Klavier zu spielen, und die Welt nur noch einfach an sich vorbeigleiten ließ. Ich habe ihn ein-, zweimal in der Anstalt besucht, den Ärmsten. Ich bin sicher, dass er etwas dachte, aber was, das weiß nur der liebe Gott. Als wäre er weggegangen, um in seiner eigenen kleinen Welt zu leben. Er starb, als ich gerade frisch vermählt war. Das muss um 1934 gewesen sein, aber er sah älter aus als Moses.« Sie beugte sich über das Fotoalbum und blätterte zurück bis nach vorne. Sie zeigte auf einen Mann mittleren Alters mit einem grauen Filzhut. »Das ist mein Mann, Harry — der Sohn vom 211 verrückten Joe. Er war schon so alt, als wir geheiratet haben, und ich war noch ein junges Mädchen.« Dann deutete sie auf einen verhutzelten Mann, der so aussah, als wäre er der älteste Mensch der Welt. »Gustav.« Einen Augenblick dachte ich, das wäre ich, doch dann merkte ich, dass der alte Mann auf dem Foto gar kein Verwandter war. Unter ihm befand sich ein zerkratztes Bild einer älteren Frau mit einem hohen Kragen. »La belle dame sans merci. Lange vor meiner Zeit gestorben, aber hätte es nicht seine Mutter gegeben, die alles zusammenhielt, wäre es das Ende der Ungerlands gewesen. Und dann säßen wir heute wohl nicht hier.« »Aber wie«, stammelte ich, »wie haben sie es nur geschafft, nach so viel Unglück weiterzuleben?« »So wie wir alle. So wie ich weitergelebt habe, nachdem ich zwei Ehemänner verloren hatte und Gott weiß was sonst noch alles geschehen ist. An einem bestimmten Punkt, Junge, musst du die Vergangenheit loslassen. Sei offen für das Leben, das da kommt. Damals in den Sechzigern, als alle etwas verunsichert waren, sprach Brian immer davon, er wolle weggehen, um sich selbst zu finden. Er sagte immer wieder: >Werde ich je mein wahres Ich kennen? Werde ich je wissen, wer ich sein soll?< Solch törichte Fragen fordern klare Antworten — glauben Sie nicht, Henry Day?« Ich fühlte mich der Ohnmacht nahe, gelähmt, wie erschlagen. Ich kroch vom Sofa, wankte zur Haustür hinaus und schleppte mich nach Hause und ins Bett. Sollten wir uns verabschiedet haben, dann verflüchtigte sich die Erinnerung daran rasch im Schock über ihre Geschichte. Um mich am nächsten Morgen aus meinem tiefen Schlummer zu wecken, kochte Tess eine Kanne Kaffee und bereitete ein spätes Frühstück mit Eiern und Brötchen, das ich verschlang wie 211 ein ausgehungertes Kind. Die verwirrende Nachricht, Gustav sei ein »Idiot savant« gewesen, hatte mir meine ganze Kraft und meinen Willen aufgezehrt. Zu viele Gespenster im Oberstübchen. Wir setzten uns auf die Veranda und tauschten die Teile der Sonntagszeitung aus. Ich gab vor, zu lesen, doch mit
meinen Gedanken war ich woanders. Verzweifelt versuchte ich, die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen, als in der Nachbarschaft ein Tumult ausbrach. Hunde fingen an zu jaulen, einer nach dem anderen, als etwas vor ihren Häusern vorbeiging, eine Kettenreaktion von einer Lautstärke zum Verrücktwerden. Tess stand auf und spähte hinunter auf die Straße, nach links und nach rechts. »Ich halte das nicht aus«, sagte sie. »Ich gehe ins Haus, bis sie damit aufhören. Möchtest du noch frischen Kaffee?« »Immer.« Ich lächelte und reichte ihr meine Tasse. In der Sekunde, in der sie hineinging, sah ich, was die Hunde verrückt gemacht hatte. Da auf der Straße, im hellen Licht des Sonntagvormittags liefen zwei Teufel im Zickzack über die Rasenflächen der Nachbargrundstücke. Eine Elbin humpelte vorbei, während er, ein mausähnliches Monster, sie zur Eile antrieb. Die beiden blieben zwei Häuser vor mir stehen, als sie mich auf der Veranda entdeckten, und schauten mich einen Moment direkt an. Scheußliche Kreaturen mit abscheulichen Löchern statt Augen und knolligen Köpfen auf ihren verkrüppelten Körpern. Voller Dreck und Schweiß. Weil der Wind aus ihrer Richtung wehte, roch ich ihren barbarischen Gestank nach Fäulnis und Moder. Die Humpelnde deutete mit einem knochigen Finger auf mich, und der andere führte sie geschwind durch eine Lücke zwischen den Häusern weg. Tess kam mit dem Kaffee zu spät zurück, um sie weglaufen zu sehen. Und kaum waren die Wesen verschwunden, be 212 ruhigten sich die Hunde und legten sich an lockeren Leinen wieder in ihre Hütten. »Hast du herausgefunden, warum es diese Aufregung gab?« »Zwei Dinger sind durch die Nachbarschaft gerannt.« »Dinger?« »Ich weiß nicht.« Ich trank einen Schluck. »Kleine Monster.« »Monster?« »Riechst du nicht ihren schrecklichen Gestank? Als hätte jemand ein Stinktier überfahren.« »Henry, wovon sprichst du? Ich rieche gar nichts.« »Ich weiß nicht, was die Hunde so in Rage gebracht hat. Massenhysterie, eine Einbildung ihres Hundehirns? Eine Maus und eine Fledermaus? Ein paar Kinder?« Sie legte ihre kühle Hand auf meine Stirn. »Fühlst du dich gut, Henry? Du scheinst heute nicht ganz du selbst zu sein.« »Bin ich auch nicht«, antwortete ich. »Vielleicht sollte ich mich wieder hinlegen.« Als ich in den Schlaf fiel, spukten die Wechselbälger in meinen Träumen herum. Ein Dutzend schlich sich aus dem Wald, hinter jedem Baum trat einer hervor. Eine Bande ausgemergelter Kinder kam stetig auf mich zu, umzingelte mein Haus, näherte sich Fenster und Türen. Und ich, der ich in der Falle saß, rannte von Etage zu Etage, lugte durch Gucklöcher hinaus und hinter Vorhängen hervor, während sie still vorandrängten. Ich rannte über den Flur
in Eddies Zimmer, und er war wieder ein Baby, das sich in seinem Bettchen zu einer Kugel zusammengerollt hatte. Ich rüttelte ihn, damit er aufwachte und mit mir wegliefe, doch als das Kind sich umdrehte, hatte es das Gesicht eines ausgewachsenen Mannes. Ich schrie und schloss mich im Badezim 213 mer ein. Vom kleinen Fenster aus sah ich die Monster die Verandapfeiler hinaufklettern, wie Spinnen erklommen sie die Wände, ihre schrecklichen Gesichter sahen mich an, aus ihren glühenden Augen sprühten Hass und Drohung. Fensterscheiben splitterten in den anderen Räumen; das Glas barst und fiel mit einem sonderbar sachten Crescendo zu Boden. Ich sah in den Spiegel, sah, wie sich mein Abbild zu dem meines Vaters, meines Sohnes und zu Gustavs verwandelte. Hinter mir im Spiegel erschien eines dieser Wesen, das seine Klauen ausstreckte, um sie um meinen Hals zu schlingen. Tess saß auf dem Bettrand und rüttelte mich an der Schulter. Ich war schweißgebadet, und obwohl mir höllisch heiß war, sagte sie, ich würde mich klamm anfehlen. »Du hast schlecht geträumt. Es ist alles gut, alles gut.« Ich verbarg mein Gesicht an ihrer Brust, und sie strich mir übers Haar und wiegte mich, bis ich wieder ganz bei Sinnen war. Einen Augenblick lang wusste ich nicht, wo ich war, wusste nicht, wer ich jetzt oder überhaupt war. »Wo ist Edward?« Sie schien völlig überrascht über meine Frage. »Bei meiner Mutter, erinnerst du dich nicht? Er verbringt das Wochenende bei ihr. Was ist los mit dir?« Ich zitterte in ihrer Umarmung. »War es die ekelhafte alte Mrs. Ungerland? Du musst dich auf das konzentrieren, was wichtig ist, und aufhören, der Vergangenheit nachzujagen. Weißt du denn nicht, dass du es bist, den ich liebe? Und den ich immer geliebt habe?« Jeder hat ein unaussprechliches Geheimnis, das zu entsetzlich ist, als dass man es einem Freund oder Geliebten, einem Priester oder Psychiater gestehen könnte, und das mit dem Innersten zu 213 verwoben ist, um es ohne Schaden herauszuschneiden. Mancher beschließt, es zu ignorieren; andere versenken es tief in sich und nehmen es unausgesprochen mit ins Grab. Wir tarnen es so gut, dass selbst der Körper manchmal vergisst, dass es dieses Geheimnis gibt. Ich will nicht unser Kind verlieren, und ich will Tess nicht verlieren. Meine Angst, als Wechselbalg entlarvt und von Tess zurückgewiesen zu werden, hat mein restliches Leben zu einem Geheimnis gemacht. Nachdem ich Gustavs wahre Geschichte erfahren hatte, ist es nicht verwunderlich, dass ich mich nur an so wenig aus jener Zeit erinnerte. Ich war in meiner Gedankenwelt eingeschlossen gewesen, allein die Musik diente mir als Mittel, meine Persönlichkeit auszudrücken. Wäre ich nicht geraubt worden, hätte ich nie bei den Wechselbälgern gelebt und hätte nie die Chance gehabt, Henry Day zu werden. Und hätte ich nicht den Platz mit dem Jungen getauscht, dann hätte ich nie Tess kennen gelernt, hätte ich nie ein Kind gehabt und hätte ich nie den Weg zurück in diese Welt gefunden. In gewisser
Weise hatten mir die Wechselbälger eine zweite Chance gegeben, und ihr Wiederauftauchen — der Einbruch in unser Haus, die Begegnung, die Edward in Kalifornien hatte, die beiden, die über den Rasen flitzten — war zum einen eine Bedrohung und zum anderen eine Mahnung, was alles auf dem Spiel stand. Als ich plötzlich wieder Wechselbälger gesehen hatte, schob ich es anfangs auf die Belastung, die es für mich bedeutete, meine Vergangenheit aufzudecken. Sie schienen mir Halluzinationen, Albträume oder nicht mehr als Trugbilder meiner Phantasie zu sein, doch dann tauchten die Wesen wirklich auf und hinterließen ihre Zeichen. Sie neckten mich: eine Orangenschale mitten auf dem Esstisch; eine offene Bierflasche oben auf dem Fernse 214 her; Zigarettenkippen, die im Garten verglühten. Oder es fehlten plötzlich Dinge. Mein verchromter Pokal vom innerstaatlichen Klavierwettbewerb. Fotografien, Briefe, Bücher. Einmal hörte ich um zwei Uhr morgens, als wir alle im Bett lagen, wie die Tür des Kühlschranks zugeworfen wurde, ich ging hinunter und fand einen halb gegessenen gebratenen Schinken auf der Küchentheke. Möbelstücke, die seit Ewigkeiten nicht verrückt worden waren, standen mit einem Mal an offenen Fenstern. Am Weihnachtsabend im Haus meiner Mutter dachten die kleineren Kinder, sie würden das Getrappel von Rentieren oben auf dem Dach hören, und liefen hinaus, um nachzuschauen. Zwanzig Minuten später kamen die Kinder atemlos zurück und schworen, sie hätten zwei Elben in den Wald springen sehen. Ein anderes Mal kroch einer von ihnen durch eine Lücke unterm Tor, die nicht größer war als ein Kaninchenloch, in unseren Garten. Als ich hinauslief, um das Wesen zu fangen, war es fort. Sie wurden unverschämt, hartnäckig. Und ich wollte nur, dass sie weggingen und mich in Ruhe ließen. Irgendetwas musste mit meinen alten Freunden geschehen. 214 Kapitel 34 Ich machte mich daran, alles in Erfahrung zu bringen, was man über den anderen Henry Day wissen konnte. Meine Lebensgeschichte und ihre Darstellung waren mit seiner verknüpft, und nur, indem ich verstand, was ihm widerfahren war, würde ich all das wissen, was mir entgangen war. Meine Freunde versprachen, mich dabei zu unterstützen, denn wir waren von Natur aus Spione und Geheimagenten. Da die Fähigkeiten der Elben schon seit dem verpfuschten Wechsel mit Oscar Love brachlagen, hatten sie besondere Freude daran, Henry Day auszuspionieren. Vor langer, langer Zeit war er einer von ihnen gewesen. Luchog, Smaolach und Chavisory verfolgten ihn auf seinem Weg zu einer älteren Frau auf der anderen Seite der Stadt, wo er durch die Straßen kurvte, als hätte er sich verirrt. Er hielt an und sprach mit zwei reizenden kleinen Mädchen, die im Vorgarten mit ihren Püppchen spielten. Nachdem Chavisory ihn hatte wegfahren sehen, ging sie auf die Mädchen zu, da sie dachte, es könnten vielleicht Kivi und Blomma in menschlicher Gestalt sein. Die Schwestern errieten auf der Stelle, dass Chavisory ein Elb war, und sie rannte
lachend und kreischend zu unserem Versteck oben in einem Brombeergebüsch. Kurz darauf entdeckten 215 unsere Spione Henry Day im Gespräch mit einer Frau, die ihn aus der Fassung gebracht zu haben schien. Als er ihr altes Haus verließ, sah Henry gehetzt aus, und er blieb unendlich lange in seinem Wagen sitzen, hatte den Kopf über das Steuer gebeugt, und seine Schultern bebten, als schluchzte er. »Er sah ganz kaputt aus, als hätte ihm die Frau den Saft ausgesaugt«, erzählte uns Smaolach später. »Ich habe außerdem bemerkt«, berichtete Luchog, »dass er sich in letzter Zeit verändert hat, als fühlte er sich schuldig für seine Vergangenheit und machte sich Sorgen um die Zukunft.« Ich fragte sie, ob sie glaubten, diese ältere Frau wäre meine Mutter gewesen, aber sie versicherten mir, sie sei die Mutter eines anderen. Luchog drehte sich eine Zigarette. »Er kam als ein völlig anderer heraus, als er hineingegangen ist.« Chavisory stocherte im Lagerfeuer. »Vielleicht gibt es ihn zweimal.« Onions stimmte zu. »Oder er ist nur ein halber Mann.« Luchog zündete seine Zigarette an und ließ sie an der Unterlippe kleben. »Er ist ein Puzzle, dem ein Teilchen fehlt. Er ist eine Uhr ohne Pendel.« »Wir werden das Schloss seiner Gedanken knacken«, sagte Smaolach. »Habt ihr mehr über seine Vergangenheit herausfinden können?«, wollte ich von ihnen wissen. »Nicht viel«, entgegnete Luchog. »Er hat in deinem Haus gewohnt, mit deiner Mutter, deinem Vater und deinen zwei kleinen Schwestern.« »Unser Chopin hat viele Musikpreise gewonnen«, ergänzte Chavisory. »Da steht ein winziges, blank geputztes Klavier auf 215 dem Kaminsims, oder zumindest stand es da.« Und sie griff hinter sich und zeigte uns die Trophäe, damit wir sie bewundern konnten, während ihre Saiten den Feuerschein zurückwarfen. »Ich bin ihm an einem Tag zur Schule gefolgt«, erzählte Smaolach. »Er bringt Kindern bei, wie man musiziert, aber wenn ihre Leistung ein Gradmesser ist, dann ist er nicht sehr gut. Die Bläser blasen schrill, und die Geiger können nicht geigen.« Wir alle lachten. Mit der Zeit erzählten sie mir noch viele Geschichten über den Mann, aber in der Darstellung klafften große Lücken, und eigentümliche Fragen erhoben sich. Lebte meine Mutter noch, oder lag sie nun neben meinem Vater unter der Erde? Ich wusste nichts über meine Schwestern und fragte mich, wie sie aufgewachsen waren. Mittlerweile könnten sie selbst Mütter sein, aber in meiner Vorstellung bleiben sie immer Babys. »Habe ich dir erzählt, dass er uns gesehen hat?«, fragte Luchog. »Wir waren an unserem alten Lagerplatz an seinem Haus, und ich bin mir sicher, dass Chavisory und ich ihm aufgefallen sind. Er sieht nicht gerade umwerfend aus.« »Sag die Wahrheit«, fügte Chavisory hinzu. »Er ist ziemlich grässlich. So wie damals, als er mit uns gelebt hat.«
»Und alt.« »Und erschöpft. Mit uns bist du besser dran. Immer jung.« Das Feuer knackte, Aschefunken stoben in die Höhe und flogen in die Dunkelheit. Ich malte mir aus, wie er mit seiner Frau gemütlich im Bett lag, und dieser Gedanke rief mir Speck in Erinnerung. Ich schleppte mich in mein Erdloch und versuchte, auf dem harten Boden etwas Behaglichkeit zu finden. Im Schlaf kletterte ich eine aus tausend Stufen bestehende Treppe hinauf, die in einen Berg geschlagen war. Der schwindel 216 erregende Blick nach unten nimmt mir den Atem, und mein Herz hämmert gegen die Rippen. Nur blauer Himmel und noch einige wenige Stufen liegen vor mir. Mühsam steige ich sie hinauf, bis ich den Gipfel erreicht habe, doch auch auf der anderen Seite des Bergs gibt es Stufen, sie führen unglaublich steil hinab und sind noch angsteinflößender als der Weg hinauf. Gelähmt, kann ich weder vor noch zurück. Von der Seite taucht aus dem Nichts Speck auf und steht mit einem Mal neben mir auf dem Gipfel. Sie ist wie verwandelt. Ihre Augen sprühen vor Leben; sie grinst mich an, als wäre keine Zeit vergangen. »Sollen wir zusammen den Berg hinunterkullern? Wie Jack und Till?« Ich bringe kein Wort heraus. Würde ich mich bewegen, blinzeln oder den Mund öffnen, verschwände sie, und ich würde fallen. »Es ist nicht so schwierig oder gefährlich, wie es aussieht.« Sie schlingt ihre Arme um mich, und im nächsten Moment stehen wir sicher am Fuß des Berges. Als sie die Augen schließt, verändert sich die Traumlandschaft, und ich falle in einen tiefen Brunnen. Ich harre dort unten allein aus und warte, dass oben über meinem Kopf etwas geschieht. Eine Tür geht auf, Licht erfüllt den Schacht. Ich schaue auf und erkenne Henry Day, der auf mich herabblickt. Zuerst sieht er aus wie mein Vater, dann wird er er selbst. Er ruft mir etwas zu und droht mit der Faust. Die Tür knallt zu, und das Licht erlischt. Unter meinen Füßen füllt sich der Brunnen plötzlich mit Wasser, wie ein Fluss strömt es hinein. In Panik trete ich um mich und merke, dass meine Glieder mit einem starken Seil aus Spinnfäden gefesselt sind. Das Wasser reicht mir bis zur Brust, bis zum Kinn, schlägt über mir zusammen, und ich bin darunter. Ich kann die Luft nicht 216 länger anhalten, ich öffne den Mund, und Wasser füllt meine Lungen. Nach Luft ringend, wachte ich auf. Einige Sekunden vergingen, ehe ich die Sterne erkannte, die überhängenden Aste und den Rand meines Erdlochs, der wenige Zentimeter über meinem Gesicht war. Ich schlug die Decke zurück, stand auf und kletterte hinaus an die Oberfläche. Alle anderen schliefen in ihren Höhlen. Wo zuvor das Feuer gebrannt hatte, sah man nur noch ein schwaches, orangefarbenes Glimmen unter schwarzen Holzscheiten. Der sternenhelle Wald war so still, dass ich das regelmäßige Atmen der wenigen Elben hörte, die an diesem Ort verblieben waren. Die kühle Luft nahm mir meine Bettwärme, und der Angstschweiß trocknete und verflüchtigte sich von meiner Haut. Wie lange ich dort reglos stand, weiß ich nicht, doch ich erwar-
tete fast, dass in der Dunkelheit jemand Gestalt annahm, entweder um mich zu packen oder um mich zu umarmen. Ich machte mich wieder an die Arbeit an meinem Buch und hielt mitten im Satz inne, als es um Igel ging, der mit dem kleinen Oscar Love den Platz tauschen sollte. Bei meinem ersten Besuch unter der Bibliothek las ich noch einmal die Seiten im Lichte dessen, was wir über Henry Day herausgefunden hatten und was mir die anderen Clanmitglieder über mein früheres Leben und die Ereignisse erzählt hatten. Selbstredend, dass meine Geschichte mit falschen Vermutungen gespickt war. Ich nahm mir meine Papiere und das Manuskript vor, in dem es von Fehlern wimmelte, und durchdachte das Problem. In meiner ursprünglichen Version war ich nicht davon ausgegangen, dass meine Eltern tot waren, und ich glaubte, sie hätten ihr Leben damit zugebracht, ihren einzigen Sohn zu vermissen. Von 217 den wenigen zufälligen Begegnungen mit meinem natürlichen Vater war womöglich nur eine richtig. Und natürlich hatte ich den ersten Entwurf verfasst, ohne von dem Schwindler und Betrüger zu wissen, der meinen Platz eingenommen hatte. Wieder beobachteten wir ihn und sahen einen verwirrten Mann, der dauernd hitzige Debatten mit sich selbst ausfocht. Vor langer Zeit hatte er einige Freunde, doch je merkwürdiger er sich verhielt, desto mehr verschwanden sie aus der Geschichte. Henry verbrachte die meiste Zeit in einem Zimmer, las Bücher, spielte auf einer donnernden Orgel oder kritzelte Noten auf liniertes Papier. Seine Frau lebte am Rande, erledigte die Hausarbeit, fuhr jeden Morgen weg und kehrte Stunden später zurück. Onions glaubte, eine verräterische Traurigkeit laste schwer auf der Frau, da sie, wenn sie allein war, oft in die Ferne starrte, als könnte sie der Luft die Antwort auf ihre unausgesprochenen Fragen entlocken. Der Junge, Edward, war ein idealer Kandidat für den Wechsel, denn er war allein, völlig fern von den Dingen des Lebens, in seine eigene Gedankenwelt versunken und lief durch sein Elternhaus, als suchte er einen Freund. Als ich in einer Vollmondnacht aufwachte, hörte ich zufällig Beka und Onions über den Jungen flüstern. Gemütlich in ihrer Höhle liegend, glaubten sie, sie sprächen unter vier Augen, doch ihr verschwörerisches Gemurmel surrte über den Boden wie das weit entfernte Geräusch eines sich nähernden Zugs. »Glaubst du, wir beiden könnten es? Auch allein?«, fragte Onions. »Wenn wir ihn im richtigen Moment schnappen. Vielleicht, wenn der Vater abgelenkt ist oder jedes andere bekannte Geräusch mit dieser teuflischen Orgel übertönt.« »Aber wenn du mit Edward Day den Platz tauschst, was 4°4 geschieht dann mit mir?«, fragte sie trauriger denn je. Ich hüstelte, um sie auf mich aufmerksam zu machen, und ging zu ihrem Erdloch, wo sie eng aneinander gekuschelt lagen und so taten, als schliefen sie, unschuldig wie neugeborene Kätzchen. Sie könnten verwegen genug sein, es zu versuchen,
und ich beschloss, sie genauer im Auge zu behalten und jeden Plan zu durchkreuzen, noch ehe er ausgeheckt war. Früher hatten sich die Elben geweigert, jemandem nachzuspionieren, der die Gruppe verlassen hatte. Der Wechselbalg wurde in Ruhe gelassen, vergessen, und man gab ihm die Chance, sein menschliches Leben zu leben. Die Gefahr, von solchen Personen entlarvt zu werden, ist groß, denn haben sie den Wechsel vollzogen, entwickeln sie zunehmenden Groll gegen die Zeit, die sie unter uns verbracht haben, und fürchten, andere Menschen könnten ihr dunkles Geheimnis aufdecken. Aber diese einstmals großen Bedenken verloren für uns an Bedeutung. Wir waren im Begriff zu verschwinden. Unsere Zahl hatte sich von einem Dutzend auf nunmehr sechs reduziert. Wir beschlossen, von nun an unsere eigenen Regeln aufzustellen. Ich bat sie, meine Mutter und meine Schwestern ausfindig zu machen, und an Weihnachten war es endlich so weit. Während die anderen vor sich hin dösten, stahlen sich Chavisory und Luchóg in die Stadt, die vor blinkenden Lichtern nur so glänzte, während Weihnachtslieder in den Straßen erklangen. Als Geschenk für mich beschlossen sie, das Haus meiner Kindheit zu erkunden, in der Hoffnung, dort fehlende Anhaltspunkte zu finden, die meiner Vergangenheit einen größeren Sinn geben könnten. Das alte Haus stand nicht mehr so einsam wie früher auf der Lichtung. Nahe gelegene Farmen waren nach und nach verkauft worden, und die Rohbauten neuer Häuser schössen 218 überall aus dem Boden. Ein paar Autos parkten in der Einfahrt und ließen sie vermuten, in meinem früheren Zuhause würde gefeiert. Sie schlichen an die Fenster, um die versammelte Mannschaft zu sehen. Henry Day, seine Frau und ihr Sohn waren da. Und Mary und Elizabeth. In der Mitte der Feierlichkeiten saß eine grauhaarige Frau in einem Sessel neben einem funkelnden Tannenbaum. Ihr Verhalten erinnerte Luchog an meine Mutter, die er vor vielen Jahren ausspioniert hatte. Er kletterte auf eine nahe stehende Eiche und schwang sich von ihren ausgestreckten Ästen auf das Dach, kroch hinauf zum Kamin, dessen Steine sich noch warm anfühlten. Da das Feuer darunter erloschen war, fiel es ihm leichter zu horchen. Meine Mutter, erzählte er, habe den Kindern im alten Stil vorgesungen, ohne Musikbegleitung. Wie gerne hätte ich ihr wieder zugehört. »Spiel uns ein Lied, Henry«, sagte sie, als sie fertig war, »so wie jedes Jahr.« »Weihnachten ist kein richtiger freier Tag, wenn man Klavier spielen muss«, meinte er. »Was darf's denn sein, Mutter? >Christmas in Killarney< oder ein anderer Hit?« »Henry, du sollst dich nicht über uns lustig machen.« »>Angels We Have Heard on High<«, schlug ein unbekannter alter Mann vor, dessen Hand auf ihrer Schulter ruhte. Henry spielte das Lied und setzte zu einem weiteren an. Als Luchog genug gehört hatte, sprang er zurück auf die Eiche und kletterte hinunter zu Chavisory. Sie warfen einen letzten heimlichen Blick auf das Fest, studierten die Anwesenden und prägten sich die Szenerie für mich ein, dann kehrten sie nach Hause zurück. Als sie mir am nächsten Tag die Geschichte erzählten,
freute ich mich sehr, etwas über meine Mutter zu erfahren, so verwirrend die Details auch sein mochten. Wer war dieser alte Mann? 219 Wer waren all diese anderen Kinder? Selbst das winzigste Fitzelchen, das ich erfuhr, rief mir diese Vergangenheit wieder in Erinnerung. Ich hatte mich in einem hohlen Baum versteckt. Sie war böse mit mir, und ich wollte weglaufen und nie mehr zurückkommen. Wo sind deine Schwestern? Wo sind meine Babys? Ich erinnerte mich, dass ich zwischen ihren gegrätschten Beinen saß und ihrer Geschichte von der Wanderschaft des Oisin in Tir na nOg gelauscht hatte. Es ist nicht gerecht, jemanden über so viele Jahre entbehren zu müssen. Aber es ist ein Doppelleben. Ich setzte mich hin, um an der wahren Geschichte meiner Welt und der Welt von Henry Day zu arbeiten. Die Worte formten sich langsam und qualvoll, manchmal nur Buchstabe für Buchstabe. Ganze Vormittage gingen dahin, ohne dass ich auch nur einen einzigen Satz schrieb, der es wert gewesen wäre, stehen zu bleiben. Ich zerknüllte und warf so viele Blätter weg, dass ich immer wieder nach oben in die Bibliothek huschte, um neues Papier zu stehlen, und schon bald drohte der Abfallberg in der Ecke den ganzen Raum zu beherrschen. Ich merkte, dass mich das Zusammenschreiben meines Berichts meist schon früh am Tag ermüdete; gelang es mir, fünfhundert Worte aneinanderzureihen, hatte das Schreiben über das Zögern und Zaudern gesiegt. Zuweilen bezweifelte ich, dass ich meine Existenz durch Schreiben beweisen könnte. Als Kind erschienen mir Geschichten ebenso real wie alles andere im Leben. Ich hörte Hans die Bohnenranke hinaufklettern und grübelte später, wie ich wohl die hohen Pappeln vor meinem Fenster erklimmen könnte. Hansel und Gretel waren tapfere Helden, und mir schauderte bei dem Gedanken an die Hexe in ihrem Ofen. In meinen Tagträumen kämpfte ich gegen Drachen und rettete Rapunzel, die im Turm 219 gefangen gehalten wurde. Wenn ich wegen all der wilden Begebenheiten und außerordentlichen Großtaten, die ich in meiner Phantasie vollbrachte, nicht einschlafen konnte, weckte ich meinen Vater, der ausnahmslos sagte: »Es ist doch nur eine Geschichte.« Als würde sie durch diesen Satz weniger real. Doch ich glaubte ihm damals nicht, denn die Geschichten waren schließlich aufgeschrieben, und die Worte auf der Seite waren ein hinreichender Beweis. Fixiert und für immer festgeschrieben, gaben, wenn überhaupt, die Worte den Menschen und Orten mehr Realität als die ständig im Wandel begriffene Welt. Mein Leben mit den Elben erscheint mir realer als mein Leben als Henry Day. Und ich schrieb es auf, um zu zeigen, dass wir mehr sind als eine Sage, ein Märchen für Kinder, ein Albdruck oder ein Tagtraum. So, wie wir ihre Geschichten brauchen, um existieren zu können, brauchen die Menschen uns, um ihrem Leben Form zu geben. Ich schrieb es auf, um meinem Wechsel und den Erlebnissen mit Speck einen Sinn zu geben. Indem ich dies statt jenes sagte, hatte ich die Kontrolle über das, was von Bedeutung war. Und konnte die Wahrheit zeigen, die unter der Oberfläche des Lebens liegt.
Schließlich fasste ich den Entschluss, dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Ich hatte Henry Day zwar Jahre zuvor schon einmal gesehen, doch erst jetzt wusste ich, dass er früher einmal ein Wechselbalg war, der mich, als ich sieben Jahre alt war, gekidnappt hatte. Wir hatten ihn durchschaut, waren ihm überallhin gefolgt und hatten einen Überblick über seinen Alltag gewonnen. Die Elben waren in seinem Haus gewesen, hatten aufs Geratewohl eine Partitur des Musikstücks, das er komponierte, mitgenommen und hatten ihm ein Zeichen ihrer Possen hinter 220 lassen. Doch ich wollte ihm gegenübertreten, und sei es auch nur, um durch ihn meiner Mutter und meinen Schwestern Lebewohl zu sagen. Ich befand mich kurz vor der Bibliothek, wo ich meine Geschichte zu Ende schreiben wollte. Ein Mann stieg aus einem Wagen und betrat durch die Vordertür das Gebäude. Er sah alt und müde aus, von Sorgen aufgerieben. Keinesfalls wie ich, oder wie ich mir vorstellte, dass ich sein würde. Er ging mit hängendem Kopf, den Blick zum Boden gesenkt, mit leicht eingefallenen Schultern, als würden ihn die einfachsten Dinge zutiefst aufwühlen. Er ließ einen Packen Blätter fallen, und als er sich bückte, um sie wieder aufzusammeln, fluchte er leise vor sich hin. Ich überlegte kurz, hinter den Bäumen hervorzuspringen, aber er sah zu gebrechlich aus, als dass ich ihn an diesem Abend durch einen Spuk erschrecken wollte. Stattdessen quetschte ich mich durch den Mauerspalt und begab mich an meine Arbeit. In diesem Sommer war er des Öfteren in der Bibliothek aufgetaucht, manchmal an mehreren Tagen hintereinander, wobei er Passagen seiner Symphonie summte, die wir ihm gestohlen hatten. An heißen, schwülen Nachmittagen, wenn empfindliche Leute zum Baden gingen oder bei zugezogenen Vorhängen im Bett lagen, saß Henry oft als Einziger an einem sonnengesprenkelten Tisch und las. Ich spürte seine Anwesenheit über mir, nur die dünne Decke trennte uns, und wenn die Bibliothek abends schloss, kletterte ich durch die Falltür und spionierte. Er hatte an einem ruhigen Plätzchen in der hinteren Ecke gearbeitet. Auf seinem Arbeitstisch lag ganz ordentlich ein Stapel Bücher, aus denen akkurate Papierstreifen wie Zungen heraushingen. Ich setzte mich auf den Platz, wo er gesessen hatte, und betrachtete die wilde Mischung an Titeln über Kobolde und Teufel bis hin zu 220 einem dicken Buch über »wissende Idioten«. Diese Titel schienen nichts Gemeinsames zu haben, doch er hatte winzige Notizen auf Lesezeichen gekritzelt. Nicht Elben, sondern Kobolde. Gustav — wissend? Hat mein Leben zerstört. Henry Day finden. Diese Formulierungen waren abgelegte Teile zu verschiedenen Puzzles, und ich steckte die Notizen ein. Am Morgen war Henrys Bestürzung durch den Boden hindurchzuhören. Er murmelte etwas über fehlende Lesezeichen, und ich empfand Freude und Gewissensbisse, sie ihm gemopst zu haben. Er
geiferte über die Bibliothekarinnen, doch schließlich fasste er sich und begab sich wieder an die Arbeit. Ich war froh über die Ruhe, weil ich in den stillen Stunden mein Buch fertig schreiben konnte. Bald würde ich von Henry Day befreit sein. An diesem Abend packte ich die Blätter in eine Pappschachtel, legte einige alte Zeichnungen auf das Manuskript, faltete dann sorgsam Specks Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Nach einem kurzen Abstecher ins Lager wollte ich ein letztes Mal zurückkehren, meine Sachen zusammensuchen und dem lieb gewonnenen Raum ein letztes Ade sagen. In meiner Eile vergaß ich, an die Zeit zu denken. Es war die letzte helle Stunde des Tages, als ich mich ins Freie zwängte. In Anbetracht des Risikos hätte ich es nicht wagen sollen, aber dennoch wollte ich mich von der Hintertreppe aus auf den Heimweg machen. Henry Day stand nicht einmal einen halben Meter vor mir, er guckte genau auf mich und den Spalt unter der Bibliothek. Wie ein in die Enge getriebener Hase reagierte ich aus dem Instinkt heraus, rannte direkt auf ihn zu und schlug dann einen 221 scharfen Haken Richtung Straße. Er rührte sich nicht vom Fleck. Seine schwerfälligen Reflexe versagten. Ich lief durch die Stadt, ohne auch nur im Geringsten auf die Leute zu achten, rannte über Rasenflächen, auf denen Sprenger das trockene Gras berieselten, hüpfte über Maschendrahtzäune und flitzte ein-, zweimal vor einem fahrenden Auto über die Straße. Ich blieb erst stehen, als ich im tiefen Wald war, wo ich mich zu Boden warf, japste und lachte, bis mir die Tränen herabkullerten. Dieser Ausdruck von Erstaunen, Wut und Angst in seinem Gesicht. Er hatte keine Ahnung, wer ich war. Ich müsste nichts anderes tun, als später des Buches wegen noch einmal zurückgehen, und das wäre das Ende der Geschichte. 221 Kapitel 35 Das Monster atmet nie«, soll der Komponist Berlioz über die Orgel gesagt haben, doch ich fand heraus, dass das Gegenteil richtig war. Wenn ich spielte, fühlte ich mich lebendig und eins mit dem Instrument, als atmete ich mit der Musik. Tess und Edward kamen in mein Studio, um sich die längere Version meiner Komposition anzuhören, und am Ende meines Spiels sagte mein Sohn zu mir: »Du hast genauso gespielt, wie ich geatmet habe.« Uber ein ganzes Jahr arbeitete ich jede Stunde, die ich mir abringen konnte, an meiner Symphonie, überarbeitete sie ständig in dem Wunsch, ein Bekenntnis abzulegen, strebte danach, ein Gefüge zu schaffen, das mir ermöglichte, mich zu erklären. Ich hatte das Gefühl, wenn Tess meine Geschichte aus der Musik nur heraushören könnte, würde sie mich sicherlich verstehen und mir verzeihen. In meinem Studio konnte ich Zuflucht bei den Tasten suchen. Die Tür verschließen und die Vorhänge zuziehen, um mich wieder sicher und unversehrt zu fühlen. Um mich in der Musik zu verlieren, mich in ihr zu finden.
Im Frühjahr hatte ich ein kleines Orchester zusammengestellt — ein Bläserensemble von der Duquesne- und Pauker von der Carnegie-MellonUniversität sowie einige Musiker aus der 222 Stadt —, um das Werk aufzuführen, wenn es vollendet wäre. Nachdem Edward im Juni das erste Schuljahr hinter sich hatte, fuhr Tess mit ihm für zwei Wochen zu ihrer Cousine Penny, damit ich in Ruhe allein zu Hause meine Symphonie fertigkomponieren konnte — ein Werk über ein Kind, das in seinem Schweigen gefangen war, das nie die Klänge seiner Phantasie nach außen bringen konnte, das in zwei Welten lebte, dessen Innenleben gegen jede Kommunikation mit der äußeren Realität verschlossen war. Nachdem ich jahrelang um die Musik für dieses gestohlene Kind gerungen hatte, wurde ich endlich fertig. Die Partitur lag auf der Orgel ausgebreitet, die hingeschmierten Noten auf den Notenlinien ein Wunderwerk von mathematischer Schönheit und Präzision. Zwei Geschichten, gleichzeitig erzählt — das Innenleben und die äußere Welt als Kontrapunkt. Meine Methode bestand nicht darin, jeden Akkord mit seinem Gegenstück hintereinanderzusetzen, denn das entspricht nicht der Wirklichkeit. Manchmal sind unsere Gedanken und Träume realer als unser übriges Erleben, und in anderen Momenten überschattet das, was uns geschieht, alles, was wir uns vorstellen. Es war mir nicht gelungen, schnell genug zu schreiben, um die Klänge in meinem Kopf einzufangen, Noten, die aus meinem tiefen Innern herausflossen. Es war so, als hätte eine Hälfte von mir komponiert und die andere Hälfte als Schreibgehilfe agiert. Ich hatte noch die musikalische Kurzschrift zu transkribieren und die gesamte Instrumentation festzulegen — Aufgaben, die monatelanges Proben erfordern können, um sie zu vervollkommnen —, doch der anfängliche Prozess, das Niederschreiben des Gerüsts der Symphonie, hatte mich so schwindlig gemacht, mich so erschöpft, als lebte ich einen Wachtraum. Ihre unerbittliche Logik, 222 die den gewöhnlichen Regeln der Sprache fremd ist, schien mir dem zu entsprechen, was ich mir immer erhofft hatte zu komponieren. Um fünf Uhr an diesem Nachmittag ging ich heiß und ausgelaugt in die Küche, um eine Flasche Bier zu holen, die ich auf der Treppe trank. Ich wollte eine Dusche nehmen, ein weiteres Bier zum Abendessen trinken und mich wieder an die Arbeit setzen. Im Schlafzimmerschrank erinnerten mich Tess' fehlende Kleider an sie, und ich wünschte, sie wäre da, um den plötzlichen Ausbruch an Kreativität und Erfüllung mit mir zu teilen. Kurz nachdem ich unter dem heißen Wasser stand, hörte ich unten ein lautes Krachen. Ohne das Wasser abzudrehen, stieg ich aus der Dusche, schlang mir ein Handtuch um die Hüften und eilte hinunter, um nachzuschauen. Eine der Fensterscheiben im Wohnzimmer war eingeschlagen, und der ganze Teppich war voller Glassplitter. Ein Windhauch bewegte die Vorhänge. Halb nackt und tropfnass stand ich da und rätselte, bis mich ein plötzliches dissonantes Hämmern der Orgeltasten aufschreckte, als wäre eine Katze über sie gelaufen, doch das Studio war leer und still. Ich sah mir alles gründlich an.
Die Partitur war weg — war nicht auf dem Tisch, wo ich sie liegen gelassen hatte, war nicht auf den Boden gefallen, war nirgends. Das Fenster stand einen Spalt weit offen, und schnell warf ich einen Blick auf den Rasen. Eine einsame Seite flog, von einem schwachen Windhauch getrieben, über das Gras, aber sonst war nichts zu sehen. Als ich vor Wut schrie und im Zimmer hin und her ging, stieß ich mir den Zeh an der Orgel, sodass ich kreuz und quer über den Teppich hopste, wobei ich mir beinah einen Glassplitter tief in den Fuß getreten hätte, als ich oben ein weiteres Krachen hörte. Mit schmerzendem Fuß ging ich die Stufen 223 bis zum Treppenabsatz hoch, voller Angst, was sich da wohl in meinem Haus tue, und voller Sorge um mein Notenmanuskript. Mein Schlafzimmer war leer. Im Zimmer unseres Sohns war ein weiteres Fenster kaputt, doch es lag kein Glas auf dem Boden. Scherben auf dem Dach waren ein Hinweis, dass das Fenster von innen nach außen zerschlagen worden war. Um einen klaren Kopf zu bekommen, setzte ich mich einen Augenblick auf sein Bett. Sein Zimmer sah genauso aus wie an dem Tag, an dem er in die Ferien gefahren war, und Gedanken an Tess und Edward erfüllten mich mit plötzlicher Traurigkeit. Wie sollte ich ihnen erklären, dass die Symphonie weg war? Wie sollte ich ohne sie meine wahre Natur bekennen? Ich raufte mir die nassen Haare, bis die Kopfhaut schmerzte. In meinen Gedanken waren meine Frau, mein Sohn und meine Musik zu einer Kette verflochten, die sich nun aufzulösen drohte. Im Badezimmer lief und lief das Wasser. Eine Dunstwolke wogte in den Flur, und ich tastete mich durch den Nebel, um das Wasser abzudrehen. Jemand hatte mit dem Finger auf den beschlagenen Spiegel geschrieben: »Wir kännen dein Geheimmniss.« Darunter stand Note für Note der erste Takt meiner Partitur. »Ihr kleinen Arschlöcher«, fluchte ich vor mich hin, während die Botschaft vom Spiegel langsam verschwand. Nach einer ruhelosen und einsamen Nacht fuhr ich bei Tagesanbruch zu meiner Mutter. Als sie nicht sofort auf mein Klopfen reagierte, glaubte ich, sie schliefe vielleicht noch, und ging zum Fenster, um ins Haus zu sehen. Von der Küche aus sah sie mich, lächelte und winkte mich zu sich. »Die Tür ist nie abgeschlossen«, sagte sie. »Was führt dich denn mitten in der Woche hierher?« 223 »Guten Morgen. Kann denn ein Mann nicht sein liebstes Mädel besuchen?« »Ach, du bist ein schrecklicher Lügner. Möchtest du eine Tasse Kaffee? Was hältst du davon, wenn ich dir zwei Spiegeleier brate?« Sie machte sich am Herd zu schaffen, und ich setzte mich an den Küchentisch, dessen Platte von abgesetzten Töpfen und Pfannen, von Messerkerben und dem Abdruck von Buchstaben, die an ihm geschrieben worden waren, gezeichnet war. Das morgendliche Licht rüttelte Erinnerungen an unser erstes gemeinsames Frühstück wach.
»Tut mir leid, dass ich nicht sofort an die Tür gekommen bin«, sagte sie über das Brutzeln hinweg. »Ich hatte Charlie am Telefon. Er ist nach Philadelphia gefahren, muss ein paar Dinge erledigen. Ist alles in Ordnung bei dir?« Ich war versucht, ihr alles zu erzählen, angefangen mit der Nacht, als wir ihren Sohn gekidnappt hatten, und weiter zurück von einem kleinen deutschen Jungen, den Wechselbälger mit sich gerissen hatten, um dann mit der Geschichte meiner gestohlenen Partitur zu enden. Aber sie sah zu abgehärmt aus für solche Geständnisse. Tess würde vielleicht damit umgehen können, doch meiner Mutter würde diese Geschichte das Herz brechen. Aber dennoch musste ich jemandem, zumindest vorläufig, von meinen Irrtümern in der Vergangenheit und den Sünden, die ich im Begriff war zu begehen, erzählen. »Ich war sehr unter Druck in letzter Zeit. Sehe Dinge, bin nicht ich selber. Als verfolgte mich ein schlechter Traum.« »Wenn einen Kümmernisse verfolgen, ist das ein Zeichen für ein schlechtes Gewissen.« »Ja, sie setzen mir zu. Und ich muss sie aus der Welt schaffen.« 224 »Du warst mein lang ersehntes Wunschkind. Und als du ein kleiner Junge warst, erinnere dich, habe ich dich jeden Abend in den Schlaf gesungen. Du warst allerliebst, hast versucht mitzusingen, aber du konntest nie einen Ton halten. Das hat sich zweifellos geändert. Und du auch. Als wäre an jenem Abend, als du weggelaufen bist, etwas mit dir geschehen.« »Als würden die Teufel mich beobachten.« »Glaub doch nicht an diese Märchen. Das Problem ist in dir, Henry. Es ist in deinem Kopf.« Sie tätschelte meine Hand. »Eine Mutter kennt doch ihren Sohn.« »War ich ein guter Sohn, Mom?« »Henry.« Sie legte ihre Hand an meine Wange, eine Geste aus meinen Kindertagen, und der Kummer über den Verlust meiner Partitur ließ nach. »Du bist, der du bist, das ist nun mal so, und es hat keinen Sinn, dass du dich mit deinen Hirngespinsten quälst. Teufelchen.« Sie lächelte, als wäre ihr ein neuer Gedanke in den Sinn gekommen. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, ob du für sie real bist? Verbanne diese Albträume aus deinem Kopf.« Ich stand auf, wollte gehen, dann beugte ich mich zu ihr hinunter und küsste sie zum Abschied. Sie hatte mich die ganzen Jahre so gut behandelt, als wäre ich ihr eigener Sohn. »Ich habe es immer gewusst, Henry.« Ich verließ das Haus, ohne nachzuhaken. Ich fasste den Entschluss, ihnen gegenüberzutreten und herauszufinden, warum sie mich quälten. Um diese Monster aufzustöbern, würde ich sogar in den Wald gehen. Beim Forstamt beschaffte ich mir grafische Karten der Region, auf denen die Wälder in Grün und die Wege mit kleinsten Details eingezeich 224
net waren. Ich legte ein Raster über die infrage kommenden Areale, mit dem ich die Wildnis in überschaubare Abschnitte einteilte. Zwei Tage lang durchkämmte ich trotz meines Abscheus vor dem Wald und meiner Aversion gegen die Natur mehrere dieser Quadrate und suchte ihr Versteck. Der Wald war leerer als zu der Zeit, als ich in ihm lebte — hin und wieder das Hämmern eines Spechts, Echsen, die sich auf Steinen sonnten, der aufgerichtete weiße Schwanz eines flüchtenden Hirschs und das einsame Surren der Schmeißfliegen. Nicht viel Leben, aber viel Müll — ein aufgequollener Playboy, eine Herz-vier-Karte, ein zerfetzter weißer Pullover, ein kleiner Berg leerer Zigarettenschachteln, eine Feldflasche, eine Schildpattkette auf einem Steinhaufen, eine stehen gebliebene Uhr und ein Buch mit dem Stempel »Eigentum der Landesbibliothek«. Abgesehen vom Schmutz auf dem Umschlag und dem leichten Modergeruch war das Buch unversehrt. Auf den schimmeligen Seiten ging es um einen religiösen Fanatiker namens Tarwater oder Tearwater. Schon in meiner Kindheit hatte ich aufgehört, Romane zu lesen, denn ihre künstlichen Welten verbergen eher die Wahrheit, statt sie aufzudecken. Romanautoren konstruieren kunstvolle Lügen, um Leser von der Entdeckung der Bedeutung hinter den Wörtern und Symbolen abzuhalten, als wären sie bekannt. Doch das Buch, das ich gefunden hatte, mochte für einen vierzehnjährigen Teufelsbraten oder einen religiösen Eigenbrötler genau das Richtige sein. Ich brachte es in die Bibliothek zurück. Es war eigentlich niemand da an diesem Hochsommertag, mit Ausnahme einer hübschen jungen Frau hinter dem Schalter. »Ich habe das hier im Wald gefunden. Es gehört Ihnen.« Sie schaute auf das Buch, als wäre es ein verlorener Schatz, 225 wischte den Dreck ab und öffnete das Deckblatt. »Einen Augenblick.« Sie blätterte durch einen Stapel gestempelter Karteikarten. »Vielen Dank, aber es war gar nicht ausgeliehen. Haben Sie es vergessen?« »Nein«, erklärte ich. »Ich habe es gefunden und wollte es dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen. Eigentlich habe ich etwas anderes gesucht.« »Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.« Ihr Lächeln rief mir so viele andere Bibliothekarinnen in Erinnerung, und ein kleines Schuldgefühl durchzuckte mich. Ich neigte mich vor und lächelte sie an. »Haben Sie Bücher über Kobolde?« Sie stockte kurz. »Uber Kobolde?« »Ja, oder über Elben, Teufelchen, Trolle, Feen, Wechselbälger oder so etwas in der Art.« Die Frau sah mich an, als spräche ich eine fremde Sprache. »Sie sollten sich nicht so auf den Tresen stützen. Da drüben ist der Katalog. Alphabetisch nach Thema, Titel oder Autoren.« Statt kurze Abrisse nützlicher Informationen zu liefern, führt die eine Suche zur nächsten. Und je neugieriger ich wurde, desto mehr Fragen taten sich auf. Meine Suche nach Elben ergab zweiundvierzig Titel, von denen vielleicht etwa
ein Dutzend hilfreich waren. Aber diese Suche verwies mich weiter zu Wichteln und Kobolden, was wiederum zu Verweisen auf die abnormale Psychologie, auf Wunderkinder und den Autismus führte. Die Mittagszeit stand bevor, dann war sie vorbei, und ich fühlte mich leicht wirr und hatte das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. In einem nahe gelegenen Imbiss kaufte ich ein Sandwich und eine Flasche Limo. Damit setzte ich mich auf dem leeren Spielplatz auf eine Bank und sann über die Aufgabe nach, die vor mir 226 lag. Es gab so vieles zu wissen, und so vieles, das ich bereits vergessen hatte. Ich schlief in der gnadenlosen Sonne ein, bis ich drei Stunden später mit einem bösen Sonnenbrand auf einem Arm und auf der linken Seite meines Gesichts aufwachte. Vom Spiegel in den Toiletten der Bibliothek schaute mich ein zweigeteilter Mensch an, die eine Hälfte meines Gesichts war bleich, die andere krebsrot. Als ich an der jungen Bibliothekarin vorbei zum Ausgang ging, bemühte ich mich, mein Profil nur zweidimensional zu zeigen. In jener Nacht suchte mich wieder mein Traum in allen Einzelheiten heim. Auf der Terrasse eines örtlichen Schwimmbads sprach ich leise mit Tess darüber. Einige wenige andere Leute liefen im Hintergrund herum, sonnten sich oder tauchten in das kühle Wasser. Am Rand der Mauer: Jimmy Cummings, Oscar Love, Onkel Charlie, Brian Ungerland. Und alle Bibliothekarinnen im Bikini. »Wie ist es dir ergangen, Liebling?«, scherzte sie. »Jagen dir immer noch die Monster nach?« »Tess, das ist nicht komisch.« »Tut mir leid, aber niemand außer dir kann sie sehen. Nur du.« »Aber sie sind genauso real wie du und ich. Was ist, wenn sie wegen Edward kommen?« »Sie wollen nicht Eddie, sie wollen dich.« Sie stand auf, zupfte den Beinausschnitt ihres Badeanzugs zurecht und sprang in den Pool. Ich stürmte ihr hinterher, und geschockt über die Kälte des Wassers, strampelte ich bis in die Mitte des Beckens. Als Tess auf mich zuschwamm, wirkte ihr Körper noch stromlinienförmiger und anmutiger, und als ihr Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, schmiegte sich ihr Haar eng an den Schädel. Sie 226 stellte sich hin, und Wasser rann ihr übers Gesicht. Wie ein Vorhang teilte es sich, aber nicht, um ihr, sondern das schreckliche und furchterregende Gesicht eines Kobolds zu enthüllen. Ich wurde bleich und brüllte unwillkürlich auf; sofort nahm sie wieder ihr vertrautes Aussehen an. »Was ist denn los, Liebling? Weißt du nicht, dass ich weiß, wer du bist? Sag mal.« Ich ging wieder in die Bibliothek, suchte nach einigen meiner Titel und setzte mich an einen Tisch in der Ecke. Die Forschung, insbesondere über Kobolde, war praktisch in allen Einzelheiten falsch und hatte nicht mehr zu bieten als Sagen oder Fiktionen. Niemand schrieb Zutreffendes über ihre Lebensweise und Gebräuche, darüber, wie sie in der Dunkelheit lebten, Menschenkinder ausspionierten und nach der richtigen Person Ausschau hielten, deren Platz sie einnehmen könnten. Da stand kein einziges Wort, wie man unerwünschte Besucher loswurde. Oder wie man sein Kind vor allen Risiken und Gefahren
schützte. In diese Märchen vertieft, wurde ich hypersensibel für die Ruhe meiner Umgebung, mit der sich die Geräusche, die durch die Stille drangen, nicht vertrugen. Zuerst glaubte ich, sie seien das zufällige Schlurfen eines anderen Besuchers, der träge durch die Seiten blätterte, oder eine der Bibliothekarinnen, die zu Tode gelangweilt über die Flure lief oder nach draußen schlich, um zu rauchen. Doch in der geistbetäubenden Stille verstärkte sich das Geräusch von Minute zu Minute. Jemand atmete tief und regelmäßig, als schliefe er, das Geräusch kam aus unbestimmter Richtung. Später hörte ich ein Raspeln in den Wänden. Und als ich die niedliche Bibliothekarin fragte, meinte sie, das seien nur die Mäuse. Doch das Scharren war kratziger, wie von einem Füller, der über einen Stoß Papier fuhr. An diesem Abend begann plötzlich jemand in der 227 Tiefe unmelodisch zu summen. Ich ging dem Klang bis in die Kinderbuchabteilung nach. Da keine Menschenseele zu sehen war, hockte ich mich hin, drückte mein Ohr auf den Boden und strich mit der Hand über den alten Teppich, bis mein Daumen an einer harten Unebenheit hängen blieb wie an einem Scharnier oder einem verbogenen Nagel. Ein Viereck, sorgsam und beinahe unsichtbar in den Teppich geschnitten, war hier festgeklebt, es verdeckte eine darunterliegende Diele oder eine Bodenluke, und ich hätte sie aufgestemmt, wenn mich nicht die vorbeikommende Bibliothekarin mit einem Hüsteln aufgeschreckt hätte. Mit einem dämlichen Grinsen stand ich auf, murmelte eine Entschuldigung und ging zurück in meine Ecke. Völlig überzeugt, dass da etwas unter dem Gebäude lebte, grübelte ich, wie ich es fangen und zum Reden bringen könnte. Am nächsten Morgen waren meine Bücher durcheinander, die Titel lagen nicht mehr in alphabetischer Ordnung, und alle meine Lesezeichen fehlten. Sie hatten mir schon wieder nachspioniert. Den Rest des Tages tat ich so, als würde ich lesen, während ich in Wirklichkeit auf jedes Geräusch von unten lauschte und einmal zur Kinderbuchabteilung ging. Das Teppichviereck lag nicht ganz flach. Auf allen vieren klopfte ich den Boden ab und merkte, dass unter den Dielen ein Hohlraum war. Vielleicht mühten sich da unten ein oder mehrere Unholde, Pläne und Tricks auszuhecken, um mir noch übler mitzuspielen. Als ein rothaariger Junge hinter mir pfiff, stand ich rasch auf, stampfte den Teppich fest und ging ohne ein Wort weg. Dieser Junge machte mich unruhig. Also ging ich hinaus und blieb auf dem Spielplatz, bis die Bibliothek schloss. Die junge Bibliothekarin sah mich auf der Schaukel sitzen, wandte sich aber ab und kümmerte sich nicht weiter um mich. Als ich wieder 227 allein war, suchte ich den Boden nach Beweisen ab. Wenn sie mir in die Bibliothek gefolgt waren, mussten sie ein Loch gegraben oder einen geheimen Zugang ins Gebäude gefunden haben. Auf meiner dritten Runde um das Gebäude sah ich ihn im Schatten der Sonne. Hinter der Hintertreppe zwängte er sich wie ein Baby, das zur Welt kommt, durch einen Mauerspalt und stand einen Moment im Dämmerlicht blinzelnd da. Aus Angst, er könnte mich
angreifen, suchte ich mit einem Blick nach rechts und links einen Fluchtweg. Er rannte direkt auf mich zu, als wollte er seine Zähne in meine Kehle rammen, und dann flitzte er so schnell davon wie ein Vogel im Flug, zu schnell, um ihn deutlich zu sehen, aber es gab keinen Zweifel, wer er war. Ein Kobold. Als die Gefahr vorüber war, musste ich einfach lachen. Stundenlang fuhr ich nervös durch die Gegend und fand mich gegen Mitternacht vor dem Haus meiner Mutter wieder. Während sie oben schlief, schlich ich umher und sammelte Utensilien zusammen: ein Teppichmesser, eine eiserne Brechstange und ein dickes Seil. Aus der ehemaligen Scheune nahm ich die alte Petroleumlampe meines Vaters, deren Drahthenkel staubig war und sich kalt anfühlte. Der Docht zischte, als ich versuchte, ihn anzuzünden, doch er erholte sich und erfüllte die schon lang außer Acht gelassene Ecke mit einem schaurigen Schimmer. Schlaflosigkeit packte mich in diesen letzten Stunden, mein Kopf und mein Körper verweigerten die Ruhe, bis die Tat vollbracht wäre. Noch vor dem ersten Tageslicht fuhr ich zurück, prägte mir die Anlage des Gebäudes ein und stellte mir Schritt für Schritt vor, was ich tun würde. Ich konnte mich kaum gedulden. Da der Kobold womöglich herumgeisterte, setzte ich mich an die Bücher, als wäre nichts geschehen. Den ganzen Tag las ich über außergewöhnliche Kinder, über Inselbegabte, deren Gehirn 228 so beeinträchtigt war, dass sie die Welt einzig durch einen Filter des Klangs, der Mathematik oder eines anderen abstrakten Systems wahrnehmen konnten. Ich würde aus dem Kobold herausquetschen, was wirklich mit Gustav Ungerland und mir passiert war. Doch mehr als jede Erklärung wollte ich einfach und unbedingt meine Symphonie zurück, denn ich brachte keine einzige Note zu Papier, nun, da sie weg war. Nichts könnte mich davon abhalten, ihn zu zwingen, mir die Partitur zurückzugeben. Ich würde argumentieren, wenn ich es könnte, flehen, wenn ich es müsste, oder sie ihm entreißen, wenn es nötig sein sollte. Inzwischen war ich nicht mehr etwas Wildes und Gefährliches, vielmehr musste ich mein Leben in Ordnung bringen. Den ganzen Tag waren von unterhalb des Bodens unverkennbare Geräusche zu hören. Er war wieder da. Als sich die Bibliothek leerte, hielt ich auf dem Vordersitz meines Autos ein Nickerchen. Schwüle Augusthitze drang durch die Scheiben, und ich schlummerte länger, als ich es vorgehabt hatte. Die Sterne standen am Himmel, und das Schläfchen hatte mich erfrischt. Ich schlang das Seil wie einen Patronengurt um mich, nahm das Werkzeug und schlich zum Seitenfenster. Ich hatte keine Ahnung, wie weit unten ihre Unterwelt lag. Nachdem ich meine Faust mit einem Handtuch umwickelt hatte, schlug ich die Scheibe ein, entriegelte das Fenster und kroch hinein. Die Büchermagazine schimmerten wie ein Gewirr aus Tunneln, und die Bücher beobachteten jede meiner Bewegungen in der Dunkelheit, als ich in die Kinderbuchabteilung schlich. Da ich vor Angst bebte, brauchte ich drei Streichhölzer, um die Petroleumlampe anzuzünden. Der ölige Docht rauchte erst, dann endlich flammte er auf. Mir klebte das Hemd am schweißigen Rücken, und in der Ge
229 witterluft fiel mir das Atmen schwer. Mit dem Messer schnitt ich das Teppichviereck weg und sah, dass es auf eine kleine Falltür geklebt war, die sich mit dem Brecheisen ohne Weiteres aufstemmen ließ. Ein perfektes Viereck trennte unsere beiden Welten. Licht drang nach unten und ließ einen geduckten Raum voller Decken, Bücher, Flaschen und Teller erkennen. Um ihn besser in Augenschein nehmen zu können, bückte ich mich und steckte den Kopf durch die Luke. Blitzschnell wie eine zuschlagende Schlange erschien sein Gesicht vor mir, nur wenige Zentimeter von meiner Nase entfernt. Ich erkannte ihn sofort, denn er sah genauso aus wie ich damals als kleiner Junge. Mein Abbild in einem alten Spiegel. Seine Augen verrieten ihn, ganz Seele, aber ohne Substanz, und er rührte sich nicht, sondern starrte ohne ein Blinzeln zurück, sein Atem vermischte sich mit meinem. Er zeigte keinerlei Emotion, als hätte auch er auf diesen Moment gewartet und darauf, dass alles endlich ein Ende hätte. Dieses Kind und ich waren aneinandergekettet. So wie Jungen davon träumen, erwachsene Männer zu werden, und Männer von dem Jungen träumen, der sie früher einmal waren, musterten wir die jeweils andere Hälfte. Er rief diesen lang vergangenen Albtraum in mir wach, als ich geraubt worden war, und plötzlich brachen meine unterdrückten Ängste und meine Wut aus mir heraus. Der Ring der Laterne schnitt sich mir in den Finger, und mein linkes Auge zuckte vor Anspannung. Der Junge las in meinem Gesicht und schreckte zurück. Er hatte Angst vor mir, und zum ersten Mal empfand ich Bedauern für das, was ich ihm genommen hatte, und spürte, dass ich durch das Mitgefühl für ihn um mein eigenes geraubtes Leben trauerte. Um Gustav. Um den richtigen Henry Day. Um sein unbekanntes Leben. Um all das, was ich mit Tess und Edward haben konnte. Um meinen 229 Traum von der Musik. Und was war ich anderes in dieser Gleichung als das Produkt meiner Spaltung? Wie fürchterlich, was einem solchen Jungen zugestoßen war. »Es tut mir leid«, sagte ich, und er verschwand. Jahrelange Wut löste sich auf, als ich den Raum sah, in dem er sich aufhielt. Er war fort, doch in diesem kurzen Augenblick, als wir uns angesehen hatten, hatte sich tief in meinem Innern meine Vergangenheit abgespult, und nun konnte ich sie gehen lassen. Eine Art Euphorie erfasste mich, ich holte tief Luft und spürte mich wieder. »Warte!«, rief ich ihm hinterher, und ohne nachzudenken, drehte ich mich um, glitt mit den Füßen zuerst durch die Luke und landete im Staub. Der Raum unter der Bibliothek war niedriger, als ich vermutet hatte, und ich stieß mit dem Kopf an die Decke, als ich mich aufrichtete. Da ihre Höhle nur ein düsteres Loch war, holte ich die Lampe von oben, um mehr sehen zu können. Vornübergebeugt suchte ich im Lichtschein nach dem Jungen und hoffte, er würde mir einige Fragen beantworten. Ich wollte nichts anderes, als mit ihm reden, ihm vergeben, und dass er mir vergab. »Ich tue dir nichts!«, rief ich in die Dunkelheit. Nachdem ich mich aus dem Seil gewunden hatte, legte ich es
zusammen mit dem Teppichmesser auf den Boden. Die rostige Lampe quietschte in meiner Hand, als das Licht durch den Raum schweifte. Er kauerte in der Ecke und kläffte mich an wie ein Fuchs in der Falle. Sein Gesicht zeigte meine Angst. Er zitterte, als ich näher kam, seine rastlosen Augen suchten einen Fluchtweg. Kerzenschein beleuchtete die Wände, und um ihn herum lagen Stapel von Papier und Büchern auf dem Boden. Zu seinen Füßen befand sich neben einem dicken, verschnürten Packen 230 beschriebener Blätter meine gestohlene Partitur. Meine Musik hatte überlebt. »Kannst du mich verstehen?« Ich streckte ihm meine Hand entgegen. »Ich will mit dir reden.« Der Junge sah noch immer in die gegenüberliegende Ecke, als wartete dort etwas oder jemand, und als ich mich umdrehte, um nachzusehen, raste er an mir vorbei und stieß gegen die Lampe. Der rostige Draht knackte, und die Lampe flog mit berstendem Glas gegen die Steinwand. Die Decken und das Papier fingen sofort Feuer, ich riss meine Musik aus den Flammen, schlug sie gegen mein Bein, um die am Rand leckenden Feuerzungen zu ersticken. Ich hastete zurück zum Ausstieg über meinem Kopf. Er stand da wie angewurzelt und schaute amüsiert hoch, und kurz bevor ich aus dem Loch kletterte, rief ich ihn ein letztes Mal: »Henry...« Seine Augen weiteten sich und suchten die Decke ab, als entdeckten sie eine neue Welt. Er drehte sich zu mir, lächelte und sagte dann etwas, das nicht zu verstehen war. Bis ich oben war, stieg von unten eine Rauchwolke auf. Sie folgte mir bis zum eingeschlagenen Fenster, als die Flammen bereits an den Bücherregalen züngelten. Nach dem Feuer rettete mich Tess. Verzweifelt über den Schaden, den ich angerichtet hatte, blies ich tagelang Trübsal im Haus. Die Zerstörung der Kinderbuchabteilung war nicht meine Schuld, obwohl ich zutiefst den Verlust all dieser Bücher bedauerte. Die Kinder würden neue Geschichten und Märchen brauchen, um durch sie ihre Alb- und Tagträume zu verstehen, um ihre Kümmernisse und Ängste, nicht für immer Kinder bleiben zu können, auf eine andere Ebene zu heben. 230 Tess und Edward kamen just in dem Augenblick von ihrer Cousine zurück, als die Polizei wegfuhr. Man hielt mich zunächst für einen Verdächtigen, denn die Bibliothekarinnen hatten meine häufigen Besuche und mein »merkwürdiges Verhalten« zu Protokoll gegeben. Die Feuerwehr hatte die Petroleumlampe in der Asche gefunden, aber es bestand keine Möglichkeit das, was früher einmal meinem Vater gehört hatte, mit mir in Verbindung zu bringen. Tess akzeptierte meine kläglichen Erklärungen, und als die Polizei erneut auftauchte, erzählte sie ihnen die kleine Notlüge, wir hätten in jener Nacht, als es brannte, telefoniert und sie erinnere sich ganz genau, dass sie mich aus tiefem Schlaf geweckt habe. Da es keine Beweise gab, verlief die Sache im Sande. Die Untersuchung wegen Brandstiftung blieb, soweit ich weiß, ohne Ergebnis, und das Feuer ging in die Geschichte des Ortes ein, als wären die Bücher plötzlich von allein ein Raub der Flammen geworden.
Tess und Edward in diesen Wochen, bevor die Ferien zu Ende waren, wieder zu Hause zu haben, war beruhigend und entnervend zugleich. Ihre bloße Anwesenheit im Haus beruhigte meine brüchige Psyche nach dem Feuer, doch es gab Zeiten, wo ich Tess kaum in die Augen gucken konnte. Voller Schuldgefühl wegen ihrer Komplizenschaft suchte ich nach einem Weg, ihr die Wahrheit zu sagen, und vielleicht ahnte sie die Gründe für meine zunehmende Ängstlichkeit. »Ich fühle mich mitverantwortlich«, sagte Tess beim Abendessen. »Und irgendwie hilflos. Wir sollten etwas für den Wiederauf bau tun.« Uber unseren Lammkoteletts entwickelte sie einen Plan, wie man Geld für die Bibliothek sammeln könnte. Die Einzelheiten kamen in solchen Wellen, dass mir klar wurde, sie hatte schon seit dem Tag ihrer Rückkehr über die Sache nachge 231 dacht. »Wir starten auch eine Buchsammelaktion, und du könntest ein Benefizkonzert für Kinder geben.« Erstaunt und erleichtert erhob ich keine Einwände, und in den nächsten Wochen überrannte der Ausbruch von Aktivitäten meinen Sinn für Zurückhaltung und Ungestörtheit. Die Leute packten ihre Märchen- und Kinderliederbücher zusammen, schwärmten zu jeder Stunde mit Bücherkartons durch unser Haus, stapelten sie im Studio und in der Garage. Was meine Einsiedlerklause gewesen war, wurde ein Taubenschlag für die Wohlmeinenden. Permanent gab es Telefonanrufe mit Hilfsangeboten. Neben dem Bücherchaos störte die Planung für mein Konzert unsere Ruhe. Ein Künstler kam vorbei, um Plakatentwürfe für das Konzert zu zeigen. Der Vorverkauf der Eintrittskarten fand in unserem Wohnzimmer statt. An einem Samstagmorgen fuhren Lewis Love und sein halbwüchsiger Sohn Oscar mit einem Pick-up vor, und wir luden die Orgel hinten drauf, um sie in der Kirche aufzustellen. An drei Abenden pro Woche wurden Proben angesetzt, und die Studenten und Musiker übten Takt für Takt. Das schwindelerregende Tempo und das dröhnende Leben erschöpften mich zu sehr, als dass ich über meine widersprüchlichen Gefühle nachdenken konnte. Vom Schwung, den Tess in Gang gesetzt hatte, mitgerissen, konnte ich wahrhaftig nur funktionieren, indem ich mich auf die Musik konzentrierte, da das Datum des Konzerts näher rückte. Aus den Kulissen beobachtete ich, wie die Menschen an diesem Abend Ende Oktober für das Benefizkonzert und die Uraufführung von Das gestohlene Kind in die Kirche drängten. Da ich die Orgel spielte, hatte ich den Dirigentenstab Oscar Love überge 231 ben, und unser alter Drummer der Coverboys, Jimmy Cummings, stand an der Pauke. Oscar hatte sich für diesen Anlass einen Smoking geliehen, Jimmy hatte sich die Haare schneiden lassen, wir sahen aus wie die viel zu soliden Ausgaben unserer früheren Ichs. Einige meiner Lehrerkollegen vom Twain saßen zusammen in den hinteren Reihen, und sogar eine der letzten noch lebenden Nonnen unserer Grundschule war gekommen. Meine Schwestern,
quirlig wie immer, kreuzten in förmlicher Kleidung und mit Perlen am Hals auf, sie hatten meine Mutter und Charlie in die Mitte genommen, und er winkte mir zu, als wollte er mir eine Dosis seines überreichen Vertrauens zuwedeln. Ich war höchst überrascht, Eileen Blake in Begleitung ihres Sohns Brian, der einige Tage in der Stadt weilte, zu entdecken. Als sie hereinkamen, jagte er mir kurzfristig einen Schrecken ein, doch je genauer ich ihn betrachtete, desto weniger Ähnlichkeit mit Edward war objektiv zu erkennen. Eigentlich kommt mein Sohn, Gott sei Dank, in jeder Hinsicht nach seiner Mutter, mit Ausnahme des Aussehens. Mit seinem gebändigten Haar und in seinem ersten Anzug mit Schlips sah Edward ganz und gar wie alle anderen Jungen aus, und den Mann ahnend, der mein Sohn eines Tages sein würde, empfand ich Stolz und Bedauern über die kurze Spanne der Kindheit. Tess konnte gar nicht aufhören, ihr schräges Lächeln zu lächeln, und zu Recht, denn die Symphonie, die ich vor vielen Jahren versprochen hatte zu komponieren, war im Grunde ihre. Um an diesem klaren Herbstabend ein wenig frische Luft hereinzulassen, hatten die Pfarrer die Fenster geöffnet, und eine leichte Brise strich über den Altar und durch das Mittelschiff. Die Orgel war wegen der Akustik in der Apsis aufgestellt worden, und mein Rücken war dem Publikum und dem kleinen 232 Orchester zugewandt, als wir unsere Plätze einnahmen; aus den Augenwinkeln sah ich nur Oscar, wie er mit dem Dirigentenstab klopfte und ihn dann gespannt in der Luft hielt. Von den allerersten Noten an war ich fest entschlossen, die Geschichte zu erzählen, wie das Kind gestohlen und durch ein anderes ersetzt wird und wie von nun an beide, das Kind und der Wechselbalg, weiterleben. Statt der üblichen Distanz und Getrenntheit vom Publikum entwickelte sich durch das Spiel ein Gefühl der Verbundenheit. Sie waren ruhig, leise, erwartungsvoll, und ich spürte zweihundert Augenpaare auf mir ruhen. Ich konzentrierte mich in dem Maße, dass ich loslassen und für sie spielen konnte, statt mich selbst überzeugen zu wollen. Die Ouvertüre ließ die vier Sätze der Symphonie anklingen: Bewusstheit, Verfolgung, Wehklage und Erlösung. Und in dem Augenblick, als ich die Hände von den Tasten hob und die Streicher das Pizzicato spielten, das das Kommen der Wechselbälger anzeigte, spürte ich ihn ganz in meiner Nähe. Den Jungen, den ich nicht retten konnte. Und als Oscar mir den Einsatz gab für das Zwischenspiel der Orgel, sah ich das Kind durch ein offenes Fenster. Er sah mir zu, wie ich für ihn spielte, und lauschte unserer Musik. Als das Tempo im zweiten Satz langsamer wurde, konnte ich es öfter riskieren, ihn zu betrachten, wie er uns ansah. Er schaute feierlich drein und hörte aufmerksam der Musik zu. Beim Tanz im dritten Satz erkannte ich, dass er einen Beutel über der Schulter trug, als hätte er sich auf eine Reise vorbereitet. Da die einzige uns verfügbare Sprache die Musik war, spielte ich allein für ihn und vergaß mich in den Klängen. Den ganzen Satz über fragte ich mich, ob irgendjemand sonst in der Kirche dieses merkwürdige Gesicht im Fenster gesehen hatte. 232
Doch als ich wieder aufschaute, war da nichts als die dunkle Nacht. Bei der Kadenz wurde mir klar, dass er mich in dieser Welt allein gelassen hatte und nicht mehr zurückkehren würde. Die Zuhörer sprangen alle gleichzeitig auf, als der letzte Klang der Orgel verhallte, und sie klatschten und trampelten für uns. Als ich mich vom Fenster zu den heftig applaudierenden Freunden und Familienmitgliedern umdrehte, überflog ich die Gesichter in der Menge. Ich war fast einer von ihnen. Tess hatte Edward hochgehoben, sodass auch er freudig »Bravo« rufen konnte, und überrascht von ihrer ausgelassenen Begeisterung wusste ich, was zu tun war. Mit dem Schreiben dieses Geständnisses, Tess, bitte ich dich um Verzeihung, damit ich den ganzen Weg zurück zu dir schaffen kann. Die Musik hat mir einen Teil des Wegs abgenommen, aber der letzte Schritt ist die Wahrheit. Ich bitte dich zu verstehen und zu akzeptieren, dass, egal unter welchem Namen, ich bin, was ich bin. Ich hätte es dir bereits vor langer Zeit erzählen sollen, und ich hoffe inständig, es ist nicht zu spät. Die Jahre, in denen ich darum kämpfe, wieder Mensch zu werden, hängen ab von deinem Glauben an mich und an meine Geschichte. Dem Jungen gegenüberzutreten hat mir die Freiheit gegeben, mir selbst gegenüberzutreten. So wie ich die Vergangenheit loslasse, lässt die Vergangenheit mich los. Sie haben mich gestohlen, und ich habe lange, lange Zeit unter den Wechselbälgern im Wald gelebt. Als endlich der Moment kam, in diese Welt zurückzukehren, akzeptierte ich die natürliche Ordnung. Wir fanden den jungen Day, und ich vollzog den Wechsel. Ich habe mein Bestes getan, ihn um Verzeihung zu bitten, aber vielleicht sind das Kind und ich zu weit 233 voneinander entfernt, um uns noch zu erreichen. Ich bin nicht mehr der Junge, der ich vor langer Zeit war, und er ist ein anderer, jemand Neuer, geworden. Er ist fort, und nun bin ich Henry Day. 233 Kapitel 36 Henry Day. Egal, wie oft ausgesprochen oder niedergeschrieben, diese beiden Wörter bleiben mir ein Rätsel. Die Elben hatten mich so lange Aniday gerufen, dass ich letztlich Aniday geworden war. Henry Day ist ein anderer. Nachdem wir ihn monatelang beobachtet hatten, empfand ich am Ende keine Missgunst gegen ihn, nur so etwas wie ein verhaltenes Mitleid. Er war so alt geworden, und Verzweiflung beugte seine Schultern und zeichnete sein Gesicht. Henry hatte mir den Namen genommen und das Leben, das ich hätte leben können, zwischen seinen Fingern zerrinnen lassen. Wie durch und durch merkwürdig, sich auf der Oberfläche der Erde niederzulassen, an die Zeit gebunden zu sein und sich zu seiner wahren Natur zu begeben. Ich ging zurück wegen meines Buchs. Da mich unsere Begegnung draußen vor der Bibliothek geängstigt hatte, wartete ich die Nacht ab, glitt vor dem Morgengrauen durch die Ritze in den alten dunklen Raum und zündete nur eine einzige Kerze an. Ich las meine Geschichte und war zufrieden. Dann versuchte ich, das Lied von Henrys Notenblatt zu singen. Mein Manuskript,
Aufzeichnungen aus meiner Anfangszeit und Specks Brief schnürte ich zu einem Bündel und Henrys Partitur zu einem 234 anderen Bündel. Das letzte Notenblatt wollte ich ihm auf seinen Tisch in der Ecke legen. Vorbei diese Possen, nun war die Zeit gekommen, es wieder gutzumachen. Uber mir zerbrach Glas, als wäre ein Fenster eingeschlagen worden und zersplittert. Ein Fluch, ein dumpfes Aufschlagen auf dem Boden, dann Schritte, die sich der geheimen Falltür näherten. Vielleicht hätte ich bei der ersten Gelegenheit weglaufen sollen. Meine Gemütsregung wechselte von Angst zu Aufregung, ein Gefühl, nicht unähnlich dem vor langer Zeit, als ich an der Tür auf die tägliche Heimkehr meines Vaters von der Arbeit wartete, damit er mich in die Arme schloss, oder dem in den ersten Tagen, als ich hoffte, Speck würde gleich kommen und mich in meiner Einsamkeit trösten. Keinerlei Illusionen dieser Art mit Henry Day, denn er würde sich mir gegenüber nach all den Jahren sicher nicht freundlich zeigen. Aber ich hasste ihn nicht. Ich legte mir Worte zurecht, wie ich ihm verzeihen, ihm seine gestohlene Musik überreichen, ihm meinen Namen schenken und ihm Lebewohl sagen würde. Er säbelte am Teppich, um herauszufinden, wie er in den unteren Hohlraum gelangen könnte, während ich unten hin und her ging und überlegte, ob ich ihm zu Hilfe kommen sollte. Nach einer Ewigkeit fand er die Falltür und schlug sie auf. Ein Lichtstrahl flutete von oben herein, wie Sonnenschein, der einen dunklen Wald durchdringt. Ein perfektes Viereck trennte unsere beiden Welten. Plötzlich schob er seinen Kopf durch den Rahmen und starrte in die Finsternis. Ich flitzte zur Öffnung und sah ihm direkt in die Augen, seine Nase kaum fünfzehn Zentimeter von meiner entfernt. Sein Anblick versetzte mich in Unruhe, denn in seinen Zügen war kein Zeichen der Freundlichkeit oder des Erkennens zu entdecken, nur nackter Abscheu, der sei 234 nen Mund zu einem Zähnefletschen verzerrte, und Wut, die ihm aus den Augen stach. Wie ein Irrer kletterte er durch das Loch in unsere Welt — ein Licht in der einen Hand, ein Messer in der anderen, ein Seil um die Brust geschlungen — und jagte mich in die Ecke. »Bleib auf Abstand«, warnte ich ihn. »Ich kann dich mit einem einzigen Schlag aus dieser Welt befördern.« Dennoch kam er immer näher. Henry sagte, er bedaure, was er nun tun müsse, und als er die Lampe über meinen Kopf hob, rannte ich direkt an ihm vorbei. Er schleuderte die Lampe hinter mir her. Das Lampenglas zerbrach, und wie Wasser floss eine Flamme über einen Stapel Decken, und die Wolle glimmte und brannte, die Flammen rasten direkt auf meine Aufzeichnungen zu. Wir sahen uns in dem glimmenden Licht an. Als das Feuer lodernder und heller brannte, stürzte er vor und griff sich alle Papiere. Seine Augen weiteten sich, als er seine Partitur und meine Zeichnungen sah. Ich streckte mich nach dem Buch, war nur begierig auf Specks Brief, und er schleuderte es in die Ecke, damit ich es mir dort holte. Als ich mich umdrehte, war Henry Day weg, und seine Waffen — das Seil, das Messer, das Brecheisen — lagen auf dem Boden. Die Falltür klappte zu, und ein langer,
schmaler Riss tat sich über mir auf. Die Flammen loderten empor und tauchten den Raum in ein Licht, als hätte sich die Sonne durch die Wände gebohrt. In dem hellen Schein zeigte sich plötzlich an der Decke ein Bild. In der normalen Dunkelheit schienen die Linien nichts anderes zu sein als zufällige Risse und Unebenheiten im Fundament, doch als das Feuer mehr Kraft bekam, leuchteten und flackerten die Umrisse auf. Die Formen waren mir ein Rätsel, doch als ich mit einem Mal einzelne Teile erkannte, wurde das Ganze 235 einleuchtend: die zerklüftete Ostküste der Vereinigten Staaten, die fischähnlichen Umrisse der Großen Seen, die weiten, leeren Ebenen, die Rockies, der Pazifik. Direkt über meinem Kopf teilte der schwarze Pinselstrich des Mississippi das Land, und irgendwo in Missouri überquerte ihr Pfad den Fluss und führte nach Westen. Speck hatte ihren Fluchtweg markiert und eine Landkarte des Weges aufgezeichnet, den man von unserem Tal bis zum Meer im Westen gehen musste. Sie musste monate- oder jahrelang hier allein im Dunkeln daran gearbeitet haben, mit zur Decke gestreckten Armen, den Stein ausmeißelnd oder mit einem groben Pinsel, hat es niemandem gezeigt und auf den Tag gehofft, an dem ihr Geheimnis entdeckt würde. Sie hatte um die Umrisse des Landes eine ganze Reihe von Zeichnungen in den rauen Beton gekratzt oder gemalt, die viele Jahre unsichtbar geblieben waren. Hunderte von Beschriftungen, primitiv und kindlich, Bilder überlagerten andere Bilder, jede Geschichte die vorhergehende. Manche Zeichnungen sahen alt aus; als wäre ein prähistorisches Wesen hier gewesen und hätte auf den Höhlenwänden seine Erinnerungen in Form von Malereien hinterlassen: eine Krähenschar, die sich von einem Baum in die Lüfte schwingt, ein Wachtelpaar, ein Hirsch in einem Fluss. Sie hatte Wildblumen gemalt, Schlüsselblümchen, Veilchen und Thymian. Auch Gestalten ihrer Träume, gehörnte Männer mit Gewehren und grimmigen Hunden. Elfen, Teufelchen und Kobolde. Ikarus, Vishnu, den Erzengel Gabriel. Andere Bilder waren modern wie ein Comicstrip: Ignatz wirft einen Ziegelstein auf Krazy Kat, Little Nemo schwebt durchs Schlummerland, Koko schlüpft aus dem Tintenfass. Eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm. Eine Walherde, die geschmeidig durch die Wellen taucht. Spiralen, die sich zu Knoten winden, eine Girlande aus Ackerwinden. Die 235 Bilder enthüllten sich selbst in den tanzenden Flammen. Die Temperatur stieg an wie in einem Ofen, aber ich konnte mich nicht losreißen von ihren wilden Zeichnungen. In die dunkelste Ecke hatte sie eine linke und eine rechte Hand gemalt, deren Daumen verschränkt waren. Ihr Name und meiner in einem Dutzend Schriftarten. Zwei Gestalten rennen über einen Berg; ein Junge, dessen Hand in einem Bienenstock steckt; zwei Lesende beugen sich nach hinten, um sich an einen Bücherberg zu lehnen. In die Decke über dem Ausgang zur Außenwelt hatte sie eingekerbt: Komm, spiel mit mir. Das Feuer sog den Sauerstoff an, und die brausende Luft umfing mein Herz und sprengte es auf. Ich musste gehen.
Ich sah mir Specks Weg gen Westen sorgfältig an und hoffte, ihn mir einprägen zu können. Warum war ich nicht früher auf die Idee gekommen, nach oben zu schauen? Ein Stückchen Asche knallte und flog mir wie der Teufel unter das Augenlid. Da der Raum voll Rauch und Hitze war, griff ich rasch Mclnnes' Buch und ein paar andere Schriftstücke und rannte zum Ausgang, doch mein Packen wollte nicht durch den Spalt passen. Den brennenden Decken entstieg eine Hitzewelle, die mich auf die Knie warf. Ich riss mein Bündel auf, sodass Blätter zu Boden fielen. Zur Hand hatte ich Specks Brief und einzelne Zeichnungen aus meiner Kindheit, die ich fest an meine Brust drückte; dann zwängte ich mich durch den Mauerspalt in die kühle Nacht. Die Sterne waren aufgegangen, und die Grillen zirpten wie verrückt. Meine Kleider rochen nach Ruß, viele Blätter hatten angebrannte Ecken. Meine Haarspitzen waren versengt, und jeder Zentimeter nackter Haut pochte und war rot wie bei einem Sonnenbrand. Bei jedem Schritt schoss mir der Schmerz durch 236 die nackten Fußsohlen, doch ich wusste, dass es besser war, von einem brennenden Gebäude wegzulaufen. Ich ließ noch ein paar Blätter an der Tür fallen, als ich auf den Wald zurannte. Die Bibliothek stöhnte ein einziges Mal auf, dann krachte der Boden über unserer Höhle zusammen, und tausende Geschichten gingen in Flammen auf. Von meinem Versteck im Gebüsch hörte ich die Sirenen der Feuerwehrwagen, die kamen, um den Kampf gegen das Feuer aufzunehmen. Ich steckte die Blätter in mein Hemd und machte mich auf den langen Heimweg, auf dem ich mich an den irren Blick in Henrys Augen erinnerte und an alles, das nun verloren war. In der völligen Finsternis ließen Glühwürmchen ihre Sehnsuchtssignale aufblitzen. Speck hatte es von hier nach da geschafft, dessen war ich mir sicher, und lebte an einer Felsenküste mit dem strahlenden Pazifik als ihrem täglichen Begleiter, wenn sie Muscheln und Krabben aus den Prielen sammelte und am Strand schlief. Sie würde braun gebrannt sein, ihr Haar ein einziges Gewirr, ihre Arme und Beine stark wie Seile vom Schwimmen im Meer. In einem langen Atemzug würde sie die Geschichte ihrer Reise durch das Land erzählen, durch die Wälder von Pennsylvania, durch die Korn- und Weizenfelder, die Sojabohnen des Mittelwestens, durch die Sonnenblumen von Kansas, hoch durch die steilen Abhänge der Berge, durch den sommerlichen Schnee in den Rockies, durch die Painted Desert und schließlich das Meer in Sicht, welche Freude! Und dann: Warum hast du so lange gebraucht? Und ich würde ihr meine Geschichte erzählen, diese Geschichte und die von Henry Day, bis ich wieder in ihren Armen einschliefe. Nur durch die Bilder meiner Phantasie konnte ich den Schmerz aushalten. Dieser Traum zog mich einen qualvollen Schritt nach dem anderen heimwärts. 236 Die anderen Elben kümmerten sich liebevoll um mich, als ich am nächsten Morgen im Lager eintraf. Onions und Beka durchkämmten den Wald nach einem Balsam, der meinen geschundenen, mit Blasen bedeckten Füßen Linderung verschaffen sollte. Chavisory humpelte zur Zisterne, zog einen Krug
mit kaltem Wasser herauf, um meinen Durst zu löschen und mir die Asche von der Haut und aus den Haaren zu waschen. Meine alten Freunde saßen neben mir, hörten an, was ich erlebt hatte, und halfen mir, meine literarischen Überbleibsel zu retten. Ich erzählte ihnen alles, was mir von Specks Landkarte an der Decke und ihrer Kunst, die sie zurückgelassen hatte, in Erinnerung war, und hoffte, sie im kollektiven Gedächtnis unserer Gruppe zu verankern. »Du musst dich ganz einfach nur erinnern«, meinte Luchog. »Vertrau deinem Gehirn, denn du hast da eine komplizierte Maschine in deinem Schädel«, sagte Smaolach. »Ich kann mich noch heute genau daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als ich dich zum ersten Mal sah.« »Was das Gedächtnis vergisst, erschafft die Phantasie neu.« Chavisory verbrachte viel zu viel Zeit mit meinem alten Freund. »Manchmal weiß ich nicht, ob die merkwürdigen Wechselfälle des Lebens wirklich geschehen sind oder ich sie geträumt habe, oder ob sich mein Gedächtnis daran erinnert, was real und was Traum ist.« »Oft schaffen sich die Gedanken eine eigene Welt«, meinte Luchog. »Das hilft, damit die Zeit schneller vergeht.« »Ich brauche Papier. Luchog, erinnerst du dich, wie du mir zum ersten Mal Papier besorgt hast? Das werde ich dir nie vergessen.« Aus dem Gedächtnis übertrug ich Specks Landkarte auf die 237 Rückseite ihres Briefs, und in den folgenden Wochen bat ich Smaolach, für mich eine detailgenaue Landkarte und jedes Buch aufzutreiben, das er über Kalifornien und den Pazifik nur finden könnte. Sie konnte überall irgendwo an der nördlichen Küste sein. Es gab keine Gewissheit, dass ich sie in dem großen weiten Land finden würde, aber die Möglichkeit hielt mich aufrecht, als ich die Suche wieder aufnahm. Meine Füße heilten, während ich ruhig in unserem Lager saß, jeden Tag draußen schrieb und die Hitze des Augusts allmählich den kühleren Wochen des Frühherbsts wich. Als die Ahornblätter sich gelb-rot verfärbten und die Eichen lebhaft braun, hallte hin und wieder von der Stadt ein merkwürdiger Klang über die Hügel bis in unser Lager. In ruhigen Nächten erreichte uns die Musik, die von der Kirche herrührte, in Bruchstücken, hin und wieder von anderen Geräuschen übertönt — vom Verkehr auf dem Highway, von Fans, die bei den FootballSpielen am Freitagabend brüllten, und vom Lärm, der zum modernen Leben dazugehörte. Wie ein Fluss suchte sich die Musik einen Weg durch den Wald und ergoss sich vom Grat hinunter in unsere Schlucht. Hingerissen vom unvermuteten Klang, ließen wir alles liegen und stehen, nur um zu lauschen, und von der Neugierde getrieben, machten sich Luchog und Smaolach auf die Suche nach seinem Ursprung. Eines späten Oktoberabends kamen sie atemlos mit Neuigkeiten zurück. »Bleib noch ein Weilchen, a stoirin, bald wird es fertig sein.« Im Schein des Feuers knüpfte ich ein Lederband an meinen Reisebeutel. »Und was, lieber Freund, wird fertig sein?«
Er räusperte sich, und da er noch immer nicht meine Aufmerksamkeit geweckt hatte, hüstelte er noch einmal, aber diesmal lauter. Als ich aufschaute, sah ich ihn grinsen und Luchog mit einem 238 entrollten Plakat in der Hand, das fast so groß war wie er. Alles außer seinen Fingern und Füßen verschwand hinter der Breitseite. »Du hältst es verkehrt herum, Luch.« »Egal, wie rum, du kannst es doch lesen«, maulte er, ehe er das Plakat richtig herum drehte. Das Konzert in der Kirche war für den übernächsten Tag angekündigt, und nicht nur der Titel überraschte mich, sondern auch, knapp darunter, ein kleiner Holzschnitt, der zwei flüchtende und einander nachjagende Gestalten zeigte. »Wer von beiden ist der Elb und wer das Kind?« Smaolach betrachtete das Bild. »Ganz egal, was du glaubst, die Chance, richtig zu tippen, ist genauso groß wie die, falsch zu liegen. Aber du bleibst doch bis zur Symphonie hier, oder? Komponiert von Henry Day und von ihm selbst an der Orgel gespielt.« »Das darfst du nicht verpassen«, wollte mich Luchog überzeugen. »Auch wenn du ein, zwei Tage später aufbrichst, bleibt die Reise doch genauso lang.« Wir stapften durch den dunklen Wald, machten ein letztes Mal zusammen Unfug und hatten eine kecke Freude daran, dass wir uns annäherten, ohne dass man uns sah. Am Abend des Konzerts versteckten wir uns auf dem Friedhof, als die Menschen in die Kirche strömten, die Eröffnungsklänge schwebten hoch durch das Fenster hinaus und hallten zwischen den Grabsteinen nach. Das Präludium kündete eindrucksvolle Themen an und endete mit einem langen Orgelsolo. Ich gebe zu, er spielte wunderschön, und einer nach dem anderen standen wir hinter den Grabsteinen auf und drängten uns ganz dicht an die Kirchenfenster. Beka schlang die Arme um Onions und flüsterte ihr et 238 was ins Ohr. Als sie bei seinem Scherz zu lachen anfing, drückte er ihr eine Hand auf den Mund, bis sie nach Luft rang und dann ruhig war. Chavisory mimte mit schwingenden und wogenden Armen den Dirigenten. Meine alten Kumpane Luchog und Smaolach lehnten an der Kirchenmauer, rauchten und schauten in die Abendsterne. Mit meinem Beutel über der Schulter — ich nahm jetzt mein Buch überallhin mit — schlich ich mich zu einem hinteren Fenster und warf einen Blick hindurch. Henry saß mit dem Rücken zum Publikum und wiegte sich beim Orgelspiel vor und zurück, äußerste Konzentration stand ihm im Gesicht. Als er die Augen schloss und sich zu den auf- und abschwellenden Klängen bewegte, schwebte er davon. Die Saiten übernahmen allein die nächsten Takte, und er sah mich durchs Fenster, doch sein Blick blieb friedvoll. Henry war verwandelt, war jünger als zuvor, war mehr Mensch als Monster. Ich wollte nicht mehr länger an ihn denken und würde bald fort sein, aber ob er bemerkte, dass ich die Absicht hatte wegzugehen, oder nicht, würde ich nie erfahren.
Die Menschen in den Kirchenbänken starrten gebannt auf das kleine Orchester, aber ich bin mir recht sicher, hätte mich einer am Fenster entdeckt, so wären sie am Altar vorbei hinaus auf den Kirchhof gerannt. So hatte ich das seltene Glück, ihre Gesichter von fern eingehend betrachten zu können; plötzlich erkannte ich Henrys Frau und seinen Sohn Edward in der ersten Reihe. Zum Glück hatte ich Beka und Onions davon überzeugen können, das Kind in Ruhe zu lassen. Die meisten anderen Leute kannte ich nicht. Ich hoffte, auch meine Schwestern zu sehen, aber natürlich waren sie in meinem Kopf noch immer Kinder. Eine ältere Frau, die beim Zuhören die Finger an die Lippen legte, schien ein-, zweimal in meine Richtung zu sehen, und dabei er 239 innerte sie mich an meine Mutter; das war das Letzte, das ich von ihr sehen sollte. Ein Teil von mir hatte den drängenden Wunsch, durch das offene Fenster zu klettern und auf sie zuzulaufen, ihre Hand auf meiner Wange zu spüren, von ihr in den Arm genommen und erkannt zu werden, doch mein Platz ist nicht unter ihnen. Lebe wohl, meine Liebe, wisperte ich ihr zu, wohl wissend, dass sie mich nicht hörte, aber dennoch in der Hoffnung, dass sie mich irgendwie verstand. Henry lächelte und spielte, und wie ein Buch erzählte seine Musik eine Geschichte, die zum Teil ein Geschenk an mich zu sein schien — als wollte er in unserer einzigen gemeinsamen Sprache etwas zum Ausdruck bringen, das ihm auf der Seele lag. Kummer vielleicht, Gewissensbisse. Das genügte mir. Die Musik trug uns in zwei verschiedene Richtungen, so wie nach oben und nach unten; und bei den Zwischenspielen dachte ich, auch er wolle mir in den Pausen zwischen den Noten Lebewohl sagen, ein Lebewohl auch dem Doppelleben. Die Orgel atmete ein und legte Klang über Klang, und dann atmete sie in die Stille aus. »Aniday«, zischelte Luchog, und ich sprang vom Fenster auf den Boden. Sekunden später tobte der Applaus wie ein Gewittersturm los. Einer nach dem anderen standen wir Elben auf, schlichen uns an den Grabsteinen vorbei zurück in den Wald und verschwanden in der Dunkelheit, als wären wir nie unter den Menschen gewesen. Nun, da ich mich mit Henry Day ausgesöhnt habe, bin ich bereit, am morgigen Tag aufzubrechen. Diese Version meiner Geschichte hat nicht annähernd so lange gedauert, wie sie wieder zusammenzusetzen. Es war mir nicht daran gelegen, alle Fakten niederzuschreiben oder eine detaillierte Beschreibung des Magi 239 sehen abzugeben, soweit ich von diesen Dingen überhaupt etwas verstehe, oder von den Wesen, die im Geheimen und unter der Erde leben. Es gibt nur noch wenige unserer Art, und wir werden nicht mehr für notwendig erachtet. Für die Kinder der modernen Welt gibt es heute weit größere Probleme, und mir schaudert bei dem Gedanken an die wirklich lauernden Gefahren. Wie andere Sagen auch werden unsere Geschichten eines Tages nicht mehr erzählt oder geglaubt. Nun, hier am Ende angelangt, trauere ich um alle verlorenen Seelen und all die lieben Freunde, die ich zurücklasse. Onions, Beka, Chavisory und meine alten Kumpel Smaolach und Luchog, die froh sind, so zu
bleiben, wie sie sind, gleichmütige Kinder der Erde. Es wird ihnen auch ohne mich gut gehen. Wir alle gehen eines Tages fort. Sollte jemand zufällig meiner Mutter begegnen, so sagt ihr, dass ich jeder ihrer Liebestaten ein ehrendes Andenken bewahre und ich sie noch immer vermisse. Grüßt meine Schwesterchen. Küsst sie auf die Pausbäckchen. Und wisst, dass ich euch alle mitnehme, wenn ich morgen früh starte. Auf in den Westen, so weit die Flüsse reichen, um sie zu suchen. Mehr Hämmern als Blut im Herzen. Ein Name, Liebe, Hoffnung. Dies lasse ich hier für dich, Speck, für den Fall, dass du zurückkehrst und wir uns irgendwie verpassen. Sollte dies der Fall sein, ist dieses Buch für dich. Ich bin fort und komme nicht zurück, doch ich erinnere mich an alles. 240 Dank Mein Dank gilt Peter Steinberg und Coates Bateman. Auch Nan Talese, Luke Epplin und allen Mitarbeitern von Doubleday, Joe Regal und der Respekt einflößenden Bess Reed bin ich zu Dank verpflichtet. Dank ebenfalls an Melanie für ihre einfühlsame Lektüre, ihre Anregungen und für jahrelange Ermutigung. Und Dank an meine Kinder. Für ihren Rat und ihre Inspiration danke ich Sam Hazo, David Low, Cliff Becker, Amy Stolls, Ellen Bryson, Gigi Bradford, Allison Bawden, Laura Becker und Sharon Kangas. Und für den geschickten Tritt in Whale Rock möchte ich mich bei Jane Alexander und Ed Sherin bedanken. Sarah Blaffer-Hrdys Buch Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution hat mir als Inspiration für den Zeitschriftenartikel über die anthropologischen Wurzeln des Wechselbalg-Mythos gedient.